Konstellationen negativ-utopischen Denkens: Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren 9783495808122, 9783495487563


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Inhalt
I. Einleitung
I.1. Zur Forschung, Thematik und Aktualität der Untersuchung
I.2. Aufbau und Thesen der Arbeit
I.3. Methode
II. Totalität und Utopie
II.1. Aufriss
II.2. Bann – negative Totalität
II.2.1. Bann: Macht und Ohnmacht
II.2.2. Formen des Banns: Gesellschaftlicher Zwang und identifizierendes Denken
II.2.3. Vorrang des Subjekts
II.2.4. Identifizierendes Denken als geschichtlich Gewordenes
II.2.5. Aporie des Banns
II.2.6. Der gebannte Widerspruch
II.3. Kritik und Negativität
II.3.1. Aufriss
II.3.2. Das negative Vorgehen von Kritik
II.3.3. Erfahrung des Leidens
II.3.4. Dialektik im Widerspruch
II.3.5. Denken gegen das Denken
II.4. Exkurs und Zusammenfassung: Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung
II.4.1. Die negativistische Ausgangslage
a. Das Denken in Selbstwidersprüchen angesichts einer Totalität des Falschen
b. Leid und Schein als Grundbestimmungen des Ganzen
c. Metaphysische Erfahrung als Grundlage negativistischer Theorie angesichts des falschen Ganzen
d. Das falsche Ganze bei Schopenhauer und Adorno
e. Das radikale Nein zur Welt als Akt immanenter Transzendenz – ›Bewusstsein der Unmöglichkeit um der Möglichkeit willen‹
f. Verzweiflung und Resignation
II.4.2. Erfahrung
a. Metaphysische Erfahrung
b. Leiberfahrung
c. Erfahrung des Mitleids
d. Erfahrung von Auschwitz
II.4.3. Resignation: metaphysischer Pessimismus und negative Utopie
II.5. Anfangendes Denken
II.5.1. Prima philosophia als anfangendes Denken
II.5.2. Die nachträgliche Vorrangigkeit bei Hegel
II.5.3. Utopische Ganzheit
II.5.4. Adornos Stellung zum Ganzen ausgehend von Kants Erkenntniskritik
II.5.5. Selbstnegation als Transzendenz
II.5.6. Monade, Fragment und Konstellation als Vollzugsformen von Versöhnung
II.5.6.1. Monade
II.5.6.2. Fragment und Gespräch
II.5.6.3. Konstellation
III. Die Schuld des Selbst angesichts der Utopie vom neuen Menschen
III.1. Aufriss
III.2. Schuld als Beziehungsmodalität des Menschen
III.3. Selbst-Setzung, Selbst-Überwindung, Selbst-Begrenzung
III.3.1. Die Schuld des Unverantwortbaren und Verantwortung aus Schuld im utopischen Anspruch der Aufklärung
III.3.2. Aporien des Fortschritts
III.3.3. Nietzsches Selbstüberwindung im Lichte des utopischen Denkens
III.3.3.1. Die ja-sagende Schuld des Herrn
III.3.3.2. Die ökonomische Schuld des Christen
III.3.3.3. Die Schuld der Verdrängung
III.3.3.4. Zusammenfassung und Konsequenz
III.3.4. Selbstbegrenzung
III.3.4.1. Zusammenfassung und Zuspitzung auf den Ansatz Adornos
III.3.4.2. Adornos Kritik am Freiheitsbegriff als monadologische Struktur
III.3.4.3. Adornos utopische Wendung des kantschen Freiheitsbegriffs
III.3.4.4. Widerstand als Freiheitsvollzug
III.3.4.5. Selbstbegrenzung angesichts des Anderen. Adorno und Kierkegaard
III.3.4.6. Schuld und utopischer Anspruch
III.4. Ethisch-aporetische Modelle negativ-utopischen Denkens
III.4.1. Aufriss
III.4.2. Ungeheure Verantwortung. Die utopische Dimension der Verantwortung ausgehend von Walter Benjamin
III.4.2.1. Benjamins Auseinandersetzung mit Recht und Gerechtigkeit
III.4.2.2. Adornos Radikalisierung von Benjamins Begriff der Verantwortung
III.4.2.3. Der Begriff utopischer Gerechtigkeit
III.4.3. Muße als Friede
III.4.3.1. Muße als Selbstkritik des Denkens
III.4.3.2. Muße als Versenkung
III.4.3.3. Muße als Stilllegung der Dialektik des Falschen
III.4.3.4. Muße und Humanität
III.4.3.5. Muße als Friede
III.5. Exkurs: Zum Wahrheitsbegriff negativ-utopischen Denkens
III.5.1. Das utopische und theologische Moment der Wahrheit
III.5.2. Das Messianische und die Spannung zwischen Geschichte und Erlösung
III.5.3. Spannung ohne Standort: Die Unmöglichkeit umwillen der Möglichkeit
III.5.4. Das Versprechen als Versuch
IV. Schluss
V. Literatur
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Konstellationen negativ-utopischen Denkens: Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren
 9783495808122, 9783495487563

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Jochen Gimmel

Konstellationen negativ-utopischen Denkens Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren

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ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495808122

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Jochen Gimmel Konstellationen negativ-utopischen Denkens

ALBER THESEN

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https://doi.org/10.5771/9783495808122 .

»Der Versöhnung dient Dialektik.« Das Konzept der negativen Dialektik lässt sich als das Vorhaben verstehen, Dialektik durch dialektische Mittel zu überwinden. Doch wie geht die radikale Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und traditioneller Denkformen, eine Fundamentalkritik des »falschen Ganzen«, zusammen mit einem emphatischen Begriff von Utopie, mit der Idee einer Versöhnung von Menschheit und Natur? In dieser Frage kommt ein Spannungsverhältnis zum Ausdruck, das das gesamte Werk Adornos prägt und sich in paradoxalen und aporetischen Gedankenfiguren ausdrückt. Diese Untersuchung rekonstruiert das negativ-utopische Denken Adornos, indem es dessen Leitmotive in ideengeschichtlichen Konstellationen transparent macht.

Der Autor: Jochen Gimmel ist seit 2013 akademischer Mitarbeiter beim SFB 1015 Muße. Konzepte, Räume, Figuren an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er hat in Freiburg und Berlin Philosophie, Soziologie und Historische Anthropologie studiert.

https://doi.org/10.5771/9783495808122 .

Jochen Gimmel

Konstellationen negativ-utopischen Denkens Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808122 .

Alber-Reihe Thesen Band 64

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, Sonderforschungsbereich 1015 ›Muße. Konzepte, Räume, Figuren‹ Teilprojekt A3: Die gesellschaftliche und ethische Relevanz des Begriffs der Muße

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48756-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80812-2

https://doi.org/10.5771/9783495808122 .

Inhalt

I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I.1. Zur Forschung, Thematik und Aktualität der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2. Aufbau und Thesen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . I.3. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 22 31

II. II.1. II.2.

II.3.

II.4.

Totalität und Utopie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bann – negative Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.1. Bann: Macht und Ohnmacht . . . . . . . . . . . II.2.2. Formen des Banns: Gesellschaftlicher Zwang und identifizierendes Denken . . . . . . . . . . . . . II.2.3. Vorrang des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . II.2.4. Identifizierendes Denken als geschichtlich Gewordenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.5. Aporie des Banns . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.6. Der gebannte Widerspruch . . . . . . . . . . . . Kritik und Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.1. Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.2. Das negative Vorgehen von Kritik . . . . . . . . II.3.3. Erfahrung des Leidens . . . . . . . . . . . . . . II.3.4. Dialektik im Widerspruch . . . . . . . . . . . . II.3.5. Denken gegen das Denken . . . . . . . . . . . . Exkurs und Zusammenfassung: Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . II.4.1. Die negativistische Ausgangslage . . . . . . . . II.4.2. Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.4.3. Resignation: metaphysischer Pessimismus und negative Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

II.5. Anfangendes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . II.5.1. Prima philosophia als anfangendes Denken . II.5.2. Die nachträgliche Vorrangigkeit bei Hegel . . II.5.3. Utopische Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . II.5.4. Adornos Stellung zum Ganzen ausgehend von Kants Erkenntniskritik . . . . . . . . . . . . II.5.5. Selbstnegation als Transzendenz . . . . . . . II.5.6. Monade, Fragment und Konstellation als Vollzugsformen von Versöhnung . . . . . . II.5.6.1. Monade . . . . . . . . . . . . . . . II.5.6.2. Fragment und Gespräch . . . . . . . II.5.6.3. Konstellation . . . . . . . . . . . .

III.

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Die Schuld des Selbst angesichts der Utopie vom neuen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

III.1. Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2. Schuld als Beziehungsmodalität des Menschen . . . . III.3. Selbst-Setzung, Selbst-Überwindung, SelbstBegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1. Die Schuld des Unverantwortbaren und Verantwortung aus Schuld im utopischen Anspruch der Aufklärung . . . . . . . . . . . III.3.2. Aporien des Fortschritts . . . . . . . . . . . . III.3.3. Nietzsches Selbstüberwindung im Lichte des utopischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . III.3.3.1. Die ja-sagende Schuld des Herrn . . . III.3.3.2. Die ökonomische Schuld des Christen . III.3.3.3. Die Schuld der Verdrängung . . . . . III.3.3.4. Zusammenfassung und Konsequenz . III.3.4. Selbstbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . III.3.4.1. Zusammenfassung und Zuspitzung auf den Ansatz Adornos . . . . . . . . . III.3.4.2. Adornos Kritik am Freiheitsbegriff als monadologische Struktur . . . . . . . III.3.4.3. Adornos utopische Wendung des kantschen Freiheitsbegriffs . . . . . . III.3.4.4. Widerstand als Freiheitsvollzug . . . .

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Inhalt

III.3.4.5. Selbstbegrenzung angesichts des Anderen. Adorno und Kierkegaard . . . III.3.4.6. Schuld und utopischer Anspruch . . . .

III.4. Ethisch-aporetische Modelle negativ-utopischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.1. Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2. Ungeheure Verantwortung. Die utopische Dimension der Verantwortung ausgehend von Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.1. Benjamins Auseinandersetzung mit Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . III.4.2.2. Adornos Radikalisierung von Benjamins Begriff der Verantwortung . . . . . . . III.4.2.3. Der Begriff utopischer Gerechtigkeit . . III.4.3. Muße als Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.3.1. Muße als Selbstkritik des Denkens . . . III.4.3.2. Muße als Versenkung . . . . . . . . . . III.4.3.3. Muße als Stilllegung der Dialektik des Falschen . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.3.4. Muße und Humanität . . . . . . . . . . III.4.3.5. Muße als Friede . . . . . . . . . . . . . III.5. Exkurs: Zum Wahrheitsbegriff negativ-utopischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.1. Das utopische und theologische Moment der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5.2. Das Messianische und die Spannung zwischen Geschichte und Erlösung . . . . . . . . . . . . . III.5.3. Spannung ohne Standort: Die Unmöglichkeit umwillen der Möglichkeit . . . . . . . . . . . . III.5.4. Das Versprechen als Versuch . . . . . . . . . . .

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266 266 273 279 285 287 291 294 299 306 310 310 316 320 322

IV.

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

V.

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

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I. Einleitung

I.1. Zur Forschung, Thematik und Aktualität der Untersuchung Theodor W. Adorno ist zu den Klassikern der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu rechnen. Dies lässt sich nicht bloß an der Menge an Publikationen festmachen, die zu seiner Philosophie verfasst wurden 1, sondern erweist sich auch daran, dass die Kritische Theorie zum festen Inventar des theoretischen Instrumentariums geworden ist – auf dem Felde der politischen Philosophie, der Ethik, der Metaphysikkritik, der Ästhetik und auch der Erkenntniskritik kommt kaum eine Arbeit daran vorbei, den Ansatz Adornos zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch scheint gerade heute eine Arbeit, die sich ausschließlich der Philosophie Adornos widmet, befremdlich. Schon in den 1980er Jahren kam das Bedürfnis zum Ausdruck, Adorno auch im Widerspruch zu seiner eigenen Theorie nach seiner Aktualität zu befragen. In Frankfurt wurde darum 1983 eine Adorno-Tagung abgehalten, die explizit darauf verzichtete, mit verbrieften Adorno-Schülern aufzuwarten. Dieser Konferenz haben wir solche folgenreichen Interpretationen wie die Theunissens zur ›Negativität bei Adorno‹ 2 oder Schnädelbachs zur ›Dialektik als Vernunftkritik‹ 3 zu verdanken. Die darin formulierte Grundsatzkritik, wie auch die Aufstellung der Tagung selbst, riefen aber auch entschiedenen Protest hervor, wie er sowohl Vgl. dazu die kaum vollständige internationale Adorno-Bibliographie aus dem Jahre 2012 (http://www.philosophie.uni-oldenburg.de/download/Forschung/Internationale Adorno-Bibliographie, zuletzt hier eingesehen am 2. 9. 2012) und das aktuelle Adorno-Handbuch (Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Adorno Handbuch. Leben Werk Wirkung, Stuttgart 2011). 2 Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, aus: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt a. M. 1983, S. 41–65. 3 Herbert Schnädelbach, Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, aus: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt a. M. 1983, S. 66–94. 1

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Einleitung

in den Einzelbeiträgen als auch in der abschließenden ›Kritik der Frankfurter »Adorno-Konferenz 1983«‹ 4 bei dem ›Hamburger Adorno-Symposion‹ von 1984 zum Ausdruck kam. Die Auseinandersetzungen kreisten um die Frage nach der radikal gesellschaftskritischen bzw. negativen Haltung Adornos innerhalb seines interdisziplinären Ansatzes. Sie systematisch aufzuarbeiten wäre wohl lohnenswert, ist aber nicht Absicht dieser Arbeit. Hier kommt es dagegen darauf an, den Finger auf einen wunden Punkt zu legen, danach zu fragen: Ist Adornos Ansatz noch aktuell und von mehr als bloß philosophiegeschichtlicher Relevanz? und: Ist seine Aktualität nicht gerade in der Aporie zu suchen, an der sich die Kritik an seinem Denken entspann? Die oben skizzierten Fragen, an denen sich die Kontroverse entfachte, bestimmten mehr oder minder unterschwellig auch im Weiteren die Diskussionen zu Adorno. Davon zeugen nicht zuletzt die Versuche, Adornos Philosophie mit durchaus ganz disparaten, zeitgenössischen Theorieansätzen in Verbindung zu bringen. Dabei wäre auf die Verbindung zur analytischen Sprachphilosophie zu verweisen, der im Werk Habermas’ eine fundierende Stellung zukommt und die in immer wieder neuen Variationen versucht wird herzustellen. 5 Ein anderes Beispiel ist der Abgleich mit dem Ansatz der Dekonstruktion. 6 Diese beiden Beispiele für eine Re-Kontextualisierung des adornoschen Denkens habe ich nicht von Ungefähr gewählt, sondern darum, weil sich gerade in ihnen eine spezifische Problemlage aufweist. Will man Adorno mit der analytischen Philosophie zusammenbringen, so hat man dafür einen Preis zu zahlen, der den Kern seines Ansatzes betrifft. Die Sprachauffassungen und mithin die Auffassung, was bzw. wie Wahrheit und Vernunft sei, klaffen derart auseinander, dass Adorno hierfür nur noch in Versatzstücken in Anschlag zu bringen wäre. 7 Es sind Einzelmomente, die aus ihrem konzeptionellen Christoph Türcke, Claudia Kalasz, Hans-Ernst Schiller, Kritik der Frankfurter »Adorno-Konferenz 1983«, aus: Hamburger Adorno-Symposion, Hrsg. Michael Löbig und Gerhard Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 148–169. 5 Vgl. z. B. Andrea Kern, Freiheit zum Objekt. Eine Kritik der Aporie des Erkennens, aus: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, hrsg. v. Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2005, S. 53–83. 6 Vgl. Waniek, Eva L., Vogt, Erik M. (Hrsg.): Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule 2008. 7 Zu Adornos Auffassung von Sprache vgl.: Philip Hogh, Kommunikation und Aus4

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Zur Forschung, Thematik und Aktualität der Untersuchung

Zusammenhang gerissen wurden, die solche Bemühungen, die kritische Theorie mit der analytischen Philosophie in Verbindung zu bringen, überhaupt erlauben. Ich möchte dabei zwei solcher Momente nennen: 1. Die Verknüpfung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, wie sie von Adorno in beispielloser Konsequenz vorgenommen wurde, lässt sich formal auf den sprachanalytischen Ansatz anwenden, insofern er gerade Wahrheit und Erkenntnis in den expliziten Sprachformen analysieren will, die wiederum auf einen kommunikativen und mithin gesellschaftlichen Raum verwiesen sind. 2. Die adornosche Utopie ist auch und wesentlich eine sprachliche. Dies erweist sich an Beschreibungen der Utopie als ›gewaltlose Kommunikation des Unterschiedenen‹ u. ä., wie auch an den Formen, dieser Utopie im Denken selbst nachzugehen, z. B. dem konstellativen Denken, das laut Adorno auf Sprache angewiesen ist. 8 Eine solche Kommunikations-Utopie scheint nun auf den ersten Blick den analytischen Ansatz, der meist nur beschreibend aufgetreten war, um eine emanzipativ-sozialkritische Perspektive zu bereichern. Zu beiden Punkten gilt es zu sagen, dass sie am Kern des adornoschen Denkens vorbeigehen – und fraglich bleibt darum, ob sich solche Verknüpfung lohnt. Die Verbindung von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik beruht bei Adorno auf einem derart gewandelten Verständnis von Erkenntnis und Wahrheit, dass es geradezu als Gegenbild eines sprachanalytischen Ansatzes verstanden werden muss. Adornos Kritik richtet sich vehement gegen ein Verständnis von Sprache, wie es der analytischen Philosophie zu Grunde liegt, nämlich einem formalen und funktionalem, das wiederum gesellschaftlicher Verdinglichung Vorschub leistet. Ebenso geht die Rezeption der sprachlichen Fassung des Utopischen im analytischen Korsett am Utopiebegriff Adornos vorbei. Utopie unter dem Bilderverbot, wie sie Adorno anvisierte, lässt sich eben kaum auf eine kommunikative druck. Sprachphilosophie nach Adorno, Weilerswist 2015. Erik Thormann, Die Entmündigung des Menschen durch die Sprache: … und die Suche nach authentischer Subjektivität, Wien 2004. Desw.: Gabriele Stilla-Bowman, Darstellung und Ausdruck in der Philosophie Th. W. Adornos: rhetorische Strategien zwischen Subversion und Anklage, Berlin 2002. Desw.: Friedrich Glauner, Sprache und Weltbezug: Adorno, Heidegger, Wittgenstein, Freiburg 1998. U. a. 8 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften Band 6, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1984, S. 164 ff. (Alle Weiteren Zitate aus den Gesammelten Schriften Adornos werden im Weiteren wie folgt zitiert: GS) Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Einleitung

Strategie gelungener Gesellschaft reduzieren, sondern meint im emphatischen Sinne eine Erkenntnis als Gespräch mit den Sachen selbst. 9 Das blieb auch kaum unbemerkt, so dass gerade die Versuche, diesen Aspekt des Denkens Adornos mit sprachanalytischen Mitteln zu verbinden, mit der Aufgabe eines emphatischen Begriffs der Utopie einhergehen. Ähnlich verhält es sich mit den Versuchen, die negative Dialektik mit Derridas Dekonstruktion in Bezug zu setzen. Im negativen Verfahren wohl verwandt bleibt dennoch eine Diskrepanz der Ansätze, die inhaltlicher Natur ist. Auch hier ist die Crux im Begriff des Utopischen zu suchen. Wo sich Dekonstruktion bescheiden muss, das ungenannte Zentrum der Theoriebildung durch dekonstruktive Analyse einzukreisen und dabei deren Aporie hervorzukehren, da geht Adornos Ansatz über diese insofern hinaus, als er gerade im kritischen Aufweis aporetischer Strukturen auf ein Zentrum weist, von dem her sich Kritik allererst legitimiert: die Utopie als konkreter Wertmaßstab von Kritik. Als Maßstab von Kritik ist utopisches Denken mehr als ein dekonstruktives Verfahren, nämlich Positionierung und Wertsetzung im gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Frage nach der Aktualität des Denkens Adornos scheint von einer spezifischen Problematik begleitet zu sein, die diesem Ansatz selbst innewohnt und es erschwert, sich positiv auf Adorno zu beziehen. Ich verfolge dabei folgende These: Die Aktualität des Denkens Adornos ist gerade in dem Sachverhalt zu suchen, der es erschwert ihn aktuell zu kontextualisieren, d. i. sein radikal aporetisches Denken, bzw. sein Denken angesichts der Aporie. Dass wir sein Denken zugleich als ein aporetisches Denken und als Denken angesichts von Aporien bezeichnen dürfen, führt dabei zum Kernpunkt meiner These. Wir können diese Stellung zur Aporie in drei Schichten unterscheiden: Diese Verbindung von Negativer Dialektik und analytischer Sprachphilosophie offenbart ihre Schwächen genau an dieser Verkennung des utopischen Fundaments im Denken Adornos. Ein Beispiel dafür stellt ein Aufsatz von Andrea Kern da, die Adornos Philosophie sachgerecht entwickelt und dann jäh hinter diesem entwickelten Anspruch zurückbleibt, wo sie versucht eine Brücke zu McDowell zu schlagen. Der ganze Aufsatz ist dem Versuch geschuldet den aporetischen Charakter des Denkens Adornos aufzulösen, womit ihm seine eigentliche Substanz geraubt wird. Vgl. Andrea Kern, Freiheit zum Objekt. Eine Kritik der Aporie des Erkennens, aus: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Hrsg. Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2005, S. 53–83.

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Zur Forschung, Thematik und Aktualität der Untersuchung

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Die Aporie negativer Dialektik: Die negative Dialektik ist selbst ein Vollzug aporetischer Gedankenfiguren, insofern sie sich verbietet, die dialektischen Widersprüche aufzuheben. Sie verbleibt im Widerspruch und widerspricht sich darum stets selbst. Sie nimmt die Form von paradoxalen Gedankenfiguren an, die in konjunktivistischen Aussagen 10 stets dahin drängen, über sich selbst und den eigenen Gedankenkreis hinauszuweisen. Negative Dialektik als philosophische ›Methode‹ gehört dann wohl zu den wenigen Theorien, die ihre eigene Setzung (als Dialektik) aufzuheben trachten, – negative Dialektik versucht durch dialektische Mittel ein Ende der Dialektik herbeizuführen. Diese Aufhebung ist allerdings keine hegelscher Manier als Vollzugsform von Geist selbst, sondern eine Selbstaufhebung der Immanenzstruktur des Denkens. Schon dadurch ist sie ein bis ins Innerste aporetisches Verfahren. Denken angesichts realer Aporien: Genötigt zu solch dialektischaporetischer Form ist das Denken für Adorno durch eine reale Aporie, in die sowohl das Denken als auch die geschichtliche Wirklichkeit verstrickt ist. Der herrschaftlich-identifizierende Zugang des Menschen zu seiner Lebenswelt führt laut Adorno in eine scheinbar notwendige Bewegung, die sich sowohl auf geschichtlicher als auch erkenntnistheoretischer Ebene als eine Dialektik des Falschen verstehen lässt. Der Drang zu vollständiger Identifikation des Gegenstands führt nach Adorno in eine Einkerkerung des Subjekts, der Herrschaftsdrang über Natur zur Verfallenheit gegenüber der Zweiten Natur. Der Zirkel solcher realgeschichtlicher Dialektik ist derart geschlossen, dass tatsächlich von einer Aporie, einer Ausweglosigkeit, gesprochen werden kann, die Adorno nicht allzu selten den Vorwurf eines verabsolutierenden Pessimismus einbrachte. Doch gerade angesichts solcher objektiver Aporien spitzt Adorno sein eigenes Denken zu einem radikal aporetischen zu, um jenen gerade nicht zu verfallen. Die Aporie von der Negativität des Ganzen und der Utopie: Die immanent aporetische Fassung negativer Dialektik und die

Vgl. Thomas Clemens, Dialektik im Konjunktiv. Überlegungen zur Verwendungsweise von Sprache in Theodor W. Adornos negativer Dialektik, aus: Philipp Stoellger (Hrsg.), Sprachen der Macht. Gesten der Er- und Entmächtigung in Text und Interpretation, Würzburg 2008.

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Einleitung

Möglichkeit zum Aufweis der aporetischen Verfassung geschichtlicher und lebensweltlicher Wirklichkeit wurzeln aber in einer noch grundlegenderen Aporie, in der sich das Denken Adornos bewegt: Es ist erst durch das wechselseitige Verhältnis von falscher Ganzheit und Utopie verständlich. Dieses Verhältnis selbst ist ein aporetisches. Wo Adorno von einer Falschheit des Ganzen sprechen kann, stellt sich die Frage, welchen Maßstab diese radikale Kritik anlegen kann, wo sie doch selbst Teil des Ganzen und damit mit deren Falschheit geschlagen ist. Die Antwort wäre in der utopischen Dimension selbst zu suchen. Erst durch den Bezug auf das Jenseits falscher Totalität kann eine Position gefunden werden, solche Totalität als totale zu kritisieren. Zugleich kann aber nur darum von einer Utopie gesprochen werden, insofern die darin liegenden Aussichten nicht mehr im Realisierungsvermögen des Bestehenden auszumachen sind, insofern also das Ganze (der bestehenden Wirklichkeit und Geschichte) das Falsche ist. Die Totalitätsthese rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der Utopie, die Utopie wiederum durch die Totalität des Falschen. Dieser scheinbare Zirkelschluss ist Adorno aber nicht bloß unterlaufen, sondern er scheint in jeder Zeile seines Werkes von ihm bewusst vorgenommen worden zu sein. Es sind zwei Erfahrungsformen, die ihm erlauben, sowohl die Totalität des Falschen als auch die Utopie zu denken und wechselseitig zu bestimmen, ohne darum einer bloßen Setzung und einem Zirkelschluss zu verfallen. Das ist zum einen die Erfahrung des Leids und zum zweiten die metaphysische Erfahrung. Diese beiden Erfahrungen geben sowohl der Totalität als auch der Utopie einen objektiven Charakter und machen klar, inwiefern der Vorwurf des logischen Zirkelschlusses angesichts der Fatalität realen Leids und dem Bedürfnis nach Glück unangemessen bleibt. Das Denken Adornos ist in dieser Hinsicht aporetisch und der Aporie entgegengesetzt. Gerade diese aporetische Verfassung scheint aber das zentrale Problem für eine aktuelle Anschlussfähigkeit an Adorno darzustellen. In diesem Sinne lassen sich die Kritikpunkte an der Philosophie Adornos in zwei Lager teilen. Zum einen wird die These vertreten, dass Adornos Negativismus zu weit gehe und selbst wiederum eine Generalisierung darstelle, gegen die er auf philosophiegeschichtlicher Ebene selbst immer so engagiert argumentiert habe. 11 Die an11

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Vgl dazu z. B.: Bohrer, Karl Heinz, Ästhetische Negativität, München/Wien 2002.

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dere Linie der Kritik an Adorno nimmt die gegenteilige Position ein: Adornos Radikalkritik perforiere ihr eigenes Fundament, wo sie durch die utopische Ausrichtung implizit auf ein positiv zu Antizipierendes verwiesen bleibt. Diese Position wird z. B. prominent von Herbert Schnädelbach vertreten, der Adorno eines »utopischen Hedonismus« 12 bezichtigt, und von Michael Theunissen, der ihm einen mythischen »erkenntnistheoretischen Optimismus« 13 vorwirft. 14 Beide Kritikpunkte – auch wenn sie Gegenteiliges fordern: zum einen die Aufgabe der These vom ›falschen Ganzen‹, zum anderen die Aufgabe eines positiven Maßstabes im Begriff der Utopie – geraten in Konflikt mit dem dritten Charakter der Aporie bei Adorno, wie er oben aufgeführt wurde. Es ist die Spannungslage von falscher Ganzheit und Utopie in ihrer Wechselbestimmung, an denen sich die Kritik entfaltet. Und genauer besehen ist die Konsequenz aus beiden Kritikrichtungen dieselbe, die Aufgabe des Begriffs der Utopie: Denn wo Adorno vorgeworfen wird, er begehe eine ungerechtfertigte Generalisierung des Falschen und Schlechten, resultiert daraus die Aufgabe eines starken Utopiebegriffs, da schließlich im Hier und Jetzt bereits die Möglichkeiten zu einer grundlegenden Verbesserung der Lebenswelt gelegen seien – Utopie also gegenüber einer Realethik des Denkens aufzugeben wäre. Die zweite Perspektive, die sich der Radikalkritik anschließt, aber mit dem theologisch aufgeladenen Utopiebegriff bricht, kommt zum selben Resultat, der Aufgabe von Utopie. Diese Arbeit verfolgt nun die These, dass gerade der aufgezeigte aporetische Gehalt in Adornos Denken die eigentliche Fruchtbarkeit seines philosophischen Ansatzes ausmacht. Sie soll in diesem Sinne einen Beitrag zur Adorno-Forschung leisten, insofern sie das entscheidende Motiv, die negative Utopie, grundlegend vor diesem Hintergrund zu bestimmen versucht und deren philosophische und gesellschaftskritische Aktualität aufzuweisen vorhat. Eine Bestimmung negativ-utopischen Denkens ist der Sache nach und dem Denken Herbert Schnädelbach, Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno, aus: Adorno-Konferenz 1983, S. 91. 13 Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, aus: Adorno-Konferenz 1983, S. 52. 14 Dem ließen sich noch weitere Autoren anfügen, wie z. B. Günter Figal (vgl. Günter Figal, Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos, aus: Günter Figal (Hrsg.): Adorno im Widerstreit, Freiburg/München 2004, S. 13–23.) und Ludger Heidebrink (vgl. Die Grenzen kritischer Negativität. Perspektiven reflexiver Dialektik im Anschluß an Adorno, aus: Günter Figal (Hrsg.): Adorno im Widerstreit, Freiburg/ München 2004, S. 98–120.). 12

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Adornos gemäß weder systematisch noch definitorisch zu leisten, sondern muss sich an der Methode des konstellativen Denkens selbst orientieren (dazu mehr im Teil Methode). Die benannte Aktualität der Philosophie Adornos, die in seinem aporetischen Ansatz gelegen ist, aufzuweisen, möchte ich anhand dreier Thesen versuchen: 1. Die aporetische Fassung negativer Dialektik ist ein Versuch, Philosophie aus der Apparatur des wissenschaftlichen Betriebs herauszusprengen und darin das philosophische Fragen aus der Zwangslage der Verwertungsgesellschaft zu befreien. 2. Das aporetische Denken ist Reflexionsform objektiver gesellschaftlicher Aporien und erlangt einzig in der aporetischen Form das Vermögen zur Kritik derselben. 3. Die aporetische Spannungslage zwischen falscher Ganzheit und Utopie stellt den Versuch dar, sich nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts dennoch dem marxschen Postulat zu stellen, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern zu verändern. Zu 1.: Dass das philosophische Fragen sich von seiner sokratischen Geburtsstunde an in Aporien bewegt, erweist sich allein schon an dem frappierenden Mangel an verbindlichen Antworten. Solches Denken in Aporien hat dem platonischen Sokrates nicht umsonst den Vorwurf eingebracht, sich wie ein Zitterrochen 15 zu verhalten. Philosophie versteht sich so von Anbeginn an als eine Zumutung für den Menschen – nicht bloß für den Alltagspraktiker sondern auch für den philosophisch Fragenden selbst. Obgleich dieses sich immer weiter verstrickende Fragen, dieses ankunftslose Denken, dem Außenstehenden willkürlich erscheinen mag, so hat es doch gerade in der platonischen Fassung auch den Sinn, sich von einer anderen Form des Denkens abzugrenzen, vom Sophismus. Die Willkürlichkeit im Umgang mit dem, was Wahrheit sei, erweist sich dem Philosophen gerade in der Möglichkeit, im Denken Antworten nach Auftragslage zu erzeugen. Dagegen ist das fragende Umkreisen eines Gegenstandes, das sich seiner Sprachlosigkeit im sprachlichen Vollzug bewusst bleibt, die angemessene Form, dem Denkbetrieb in Form des Sophismus Einhalt zu gebieten und das Denken auf den Weg zu seinen Gegenständen zu bringen. Das aporetische Fragen ist, so verstanden, be-

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Vgl. Platon, Menon, 80 c.

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reits ein kritischer Reflex gegenüber der Verwertungslogik des Alltagsdenkens. Doch auch die Gegenstände selbst, die der Philosophie obliegen, machen ein aporetisches Fragen notwendig. Dabei spielt es nur eine geringe Rolle, ob man von metaphysischen Gegenständen oder alltäglichen ausgeht, da das philosophische Fragen in jedweder Hinsicht auf Begriffe verwiesen ist, die das Denken in die Aporie treiben. Hannah Arendt hat in ihrer Sokrates-Interpretation auf eben diesen Sachverhalt hingewiesen. »Diese Wörter [Glück, Mut, Gerechtigkeit] gehören untrennbar zur Alltagssprache, und doch kann man sie nicht analysieren; versucht man sie zu definieren, so werden sie schlüpfrig; spricht man über ihre Bedeutung, so gerät alles ins Wanken.« 16 Die Frage, was die Worte meinen, die wir selbstverständlich im Munde führen, lässt das philosophische Denken eigentlich erst Begriffe entdecken und in dieser Entdeckung stellt es sich zugleich in eine grundlegende Aporie: dem Denkenden wird klar, dass er in der begrifflichen Fassung, dem Begriff selbst nicht gerecht wird – und darin die Sache verfehlt. Diese Schwierigkeit, die die Philosophie kennzeichnet, ist darum wohl nicht nur der Grund, weswegen sie über Jahrtausende dieselben Fragen stellen kann, ohne dass es sie langweilen würde und ohne dass von einem ausgewiesenen Erkenntnisfortschritt die Rede sein könnte, sondern auch für die Eigenschaft, die die Philosophie vor anderen Wissenschaften auszeichnet: dass sie vorbehaltlos, radikal und voraussetzungslos jeden Rahmen von Erkenntnis, wie er anderen Wissenschaften schon durch ihre bloße Gegenstandsbeschränkung aufgegeben ist, sprengt. Philosophie bleibt gerade dann vorbehaltlos und offen, wo sie aporetisch verfährt. In diesem Sinne stolpert Philosophie nicht einfach von Mal zu Mal in die Falle der Aporie, sondern sie bezieht von Grund auf ihre kritische Kraft und ihr Erkenntnisvermögen aus ihr. Stimmt man dieser Bestimmung von Philosophie nur im Ansatz zu, dann verwundert die Kritik an Adornos aporetischem Ansatz, der in dem geflügelten Wort ›über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen‹ 17 die Philosophie auf den Punkt gebracht hat. Selbstverständlich entzieht sich ein solches Denken den Wünschen nach konkreten Resultaten, nach Regelwerken oder verwertHannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, hrsg. von Mary McCarthy, aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter, München 1979, S. 170. 17 Vgl. GS 6, S. 27. 16

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barer Erkenntnis. Dies mag auch in der zunehmenden Ökonomisierung der Universitätslandschaft ein Ärgernis darstellen und die Frage aufwerfen, ob Philosophie überhaupt eine Wissenschaft sei oder nicht eher zu den schönen Künsten gerechnet werden müsse. Doch dann blieben die zwei sich aus der aporetischen Ausgangslage der Philosophie ergebenden spezifischen Vermögen des Denkens außer Acht, die Adorno als Rettung und Kritik beschreibt. »Die Metaphysik ist auf der einen Seite, wenn Sie so wollen, immer rationalistisch als Kritik einer Ansicht von dem Ansichseienden, Wahren und Wesentlichen, sofern es vor der Vernunft nicht sich rechtfertigt; sie ist auf der anderen Seite aber auch immer und ebenso ein Versuch, das, was das Ingenium der Philosophie verblassen und verschwinden fühlt zu retten. Es gibt eigentlich keine Metaphysik, oder nur sehr wenig Metaphysik, die nicht der Versuch zur Rettung dessen wäre – und zwar zur Rettung mit den Mitteln des Begriffs –, was seinerseits durch die Mittel des Begriffs bedroht erscheint und im Begriff zu zerfallen oder, wie man dann mit dem uralten anti-sophistischen Affekt es genannt hat, zersetzt zu werden droht.« 18 Beides, Kritik und Rettung, scheinen mir aber unabkömmlich, um Wissenschaft das nötige Korrektiv zu verschaffen. Ich verstehe Adornos Philosophie als einen der entscheidenden Beiträge zu dieser kritischen Selbstreflexion von Wissenschaft und Gesellschaft. Darin ist sein hochabstraktes, aporetisches Denken aber nun gerade von praktischem Nutzen, ohne auf einen konkreten Zweck oder eine Problemlösung fixiert zu sein, oder vielmehr gerade darum. Es wird zu einem Anwalt der Philosophie als radikales und zweckfreies Denken. Zu 2.: Der grundlegende Praxisbezug des Denkens von Adorno weist sich aber nicht bloß in seiner Re-Etablierung der Philosophie als kritische Instanz wissenschaftlicher Selbstreflexion aus, sondern noch viel mehr in seinem immanenten Bezug zu Gesellschaft. Und hier ist sein aporetischer Ansatz auf eine andere Weise begründet: Es ist nicht bloß das begriffliche Denken selbst, das sich in Aporien bewegt, sondern es sind realgesellschaftliche Aporien oder Widersprüche –, die Adorno reflektiert und kritisiert. Hierbei hat man es nun bei Adorno nicht mit logischen Widersprüchen zu tun, sondern mit moralischen, die dem gesellschaftlichen Ganzen den Charakter des Nicht-sein-SolTh. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, Nachgelassene Schriften Abteilung IV Vorlesungen Band 14, Hrsg. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1998, S. 34.

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lenden aufprägen. Diese radikale Negativität, die Adorno nicht müde wurde anzuprangern, wurde nun von seinen Kritikern gerne als Hypostasierung des Schlechten gebrandmarkt. Er versperre selbst den Weg zu einer möglichen Verbesserung, wo er kein Gutes gelten lasse. 19 Adorno kommt als einer daher, der es wagt, nicht bloß das Ganze des Bestehenden zu verurteilen und zugleich darauf zu beharren, dass man sich damit nicht abfinden dürfe, sondern darüber hinaus hantiert er noch mit einem Begriff, der dem gediegenen Wissenschaftler beleidigend naiv erscheinen muss: dem der Utopie. Das sprengt die Duldsamkeit so mancher Leser Adornos. Wäre das falsche Ganze doch wenigstens wirklich ein Absolutes, ein vom konkreten Lebensvollzug Losgelöstes, ein Schicksal, das über den Häuptern der Menschen schwebt, dann hätte die Kritik an Adorno Recht behalten, die ihm vorwirft, mit verdeckten theologischen Motiven wiederum metaphysischen Fehlschlüssen zu verfallen. 20 Utopie stünde dann für diesen Rückfall Adornos in mythologisches Denken. Vielmehr ist aber die Absolutheit des falschen Ganzen bei Adorno der Ausdruck einer selbstverschuldeten Ohnmacht des Menschen. Dass diese Falschheit eine ist, die in der Verantwortung konkreter Menschen liegt, die ihr gegenüber gleichwohl ohnmächtig sind, scheint eine kaum erträgliche Zumutung für noch so abgeklärte Philosophen zu sein. Es ist aber die reale gesellschaftliche Ohnmacht, vor der wir uns zu verantworten haben und die uns gleichwohl als ein Schicksal erscheint, die Adorno so emphatisch zu einer utopischen Konzeption treibt. Dem Schein der Notwendigkeit des Falschen entspringt die reale Totalität des Falschen und dieser ist einzig noch durch die Aussicht auf ein ums Ganze Verschiedenes beizukommen, durch Utopie. Dabei handelt es sich aber nur dem Augenschein nach um eine dualistische Position 21, vielmehr aber um die Zuspitzung eines inner-gesellschaftlichen Widerspruchs, der sich in dem Auseinanderklaffen von realen mensch-

Das geht mit einem Reflex gegen das utopische Denken Adornos einher. So sagt Seyla Benhabib beispielsweise: »Bei Adorno verschiebt sich der utopische Gehalt der Kritischen Theorie von der Dimension des Klassenkampfes in die Sphäre des absoluten Geistes.« vgl: Seyla Benhabib, Die Moderne und die Aporien der Kritischen Theorie, aus: Sozialforschung als Kritik, Hrsg. W. Bonß und A. Honneth, Frankfurt a. M. 1982, S. 147. 20 Vgl. Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, S. 60. 21 Vgl. Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, S. 60. 19

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lichen Bedürfnissen und Einsichten und dem Lebensvollzug in modernen Gesellschaften kundtut, der eben diesen zuwiderläuft. Es ist diese Benennung der Aporie, der Ausweglosigkeit unserer gesellschaftlichen und individuellen Verfassung, die unerträglich wird, weil sie das ausspricht, was wir tagtäglich erfahren müssen, und vor dem wir so gründlich die Augen verschließen möchten. Ist es nicht zum Verzweifeln in einer Welt leben zu müssen, die – wissenschaftlich belegt und dokumentiert – in eine ökologische Katastrophe steuert, die die Menschheit selbst in Gefahr bringt? Ist es nicht unerträglich, damit konfrontiert zu sein, dass wir in all dem Überfluss, den uns der technische Fortschritt bescherte, systematisch Hunger und Durst reproduzieren? Ist die blinde (Re-)Produktion von Feindbildern, die einen Kulturkampf herbei betet, nicht eine Insolvenzerklärung der Aufklärung, in deren Namen zur bewaffneten Verteidigung aufgerufen wird? – Aber es gibt eine Gewissensbeschwichtigung: Es scheint nämlich eine höhere Macht zu sein, die uns solchen Irrsalen der Weltgeschichte aussetzt: es ist die Eigengesetzlichkeit der Ökonomie, es ist die Natur des Menschen, es ist das natürliche Recht überleben zu wollen und sich selbst am nächsten zu sein – scheinbar ein Naturrecht, das niemand in Frage stellen darf. So ist die Kritik am Begriff des falschen Ganzen und der Utopie bei Adorno oftmals von eben dem getragen, was ihm vorgeworfen wird: von einer Hypostasierung des Schlechten zum Schicksalhaften oder Notwendigen und von der Naivität, es gäbe im Einzelnen immer noch Momente, die sich der allgemeinen Ohnmacht, die jeder an sich selbst beobachten kann, entziehen könnten. Dem stellt Adorno konsequent das Bewusstsein der Aporie von Macht und Ohnmacht entgegen, wie es im ersten Teil dieser Arbeit aufgezeigt wird. Gerade dieses Bewusstsein der Aporie von Macht schafft aber die Möglichkeit, deren Zwangsmoment als Schein zu entlarven und damit erst die Möglichkeit zu einer grundlegenden Veränderung zu stiften. Die Verantwortung, solche Veränderung herbeizuführen, beruht aber wiederum auf dem Bewusstsein einer Aporie, nämlich der unverschuldeten Schuld an eben dem, was es zu ändern gilt. Diese Form von Universalschuld bei Adorno ist ein bislang marginalisiertes Thema, dessen grundlegende Bedeutung im zweiten Teil der Arbeit systematisch untersucht wird. Aufgrund der zunehmenden Zuspitzung der Krise in unseren Tagen, scheint mir der aporetisch-emanzipatorische Ansatz Adornos von ungemeiner Aktualität. 20

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Zu 3.: Veränderung des Ganzen zum Besseren meint aber unter dem Eingeständnis der sich totalisierenden Bewegung des Falschen eine Veränderung ums Ganze. Eine dritte Ebene des Aporetischen weist sich hier aus: Hat man der realgesellschaftlichen Aporie unter dem Bann ins Auge geblickt, ist jedes Denken und Handeln selbst in einer Aporie gefangen: Veränderung dürfte nicht mehr länger als Wandel in einer Kontinuität verstanden werden, sondern muss den Charakter eines radikalen Bruchs annehmen. Dem falschen Ganzen muss ein radikal Anderes entgegengestellt werden, eine Utopie, die sich jeder konkreten Bestimmung entzieht. Damit ist aber sowohl die Identität des zu Verändernden selbst in Frage gestellt, als auch das Denken, das sich in identifizierenden Urteilen vollzieht. Für Adorno ist diese Infragestellung von Identität und Identifikation Programm, das sich wiederum in aporetischen Figuren darstellt: er visiert durch ein ›Denken gegen das Denken‹ (vgl. das gleichnamige Kapitel) eine »opferlose Nichtidentität des Subjekts« 22 als Utopie an, welches das Nichtidentische nicht mehr als Negatives erfahren müsste. Dieses Aufbrechen identitätslogischer Figuren resultiert demnach aus der Spannung von Utopie und falschem Ganzen. Wenn hier von einer Spannung die Rede ist, dann soll damit zum Ausdruck kommen, dass Utopie nicht einfach ein futuristisches Phantasma meint, sondern eine negative Auszeichnung des Bestehenden selbst. Sie bezeichnet den im starken Sinne des Wortes wesentlichen Mangel dessen, was ist. U-topie als Nicht-Ort ist eben gerade durch sein Nichtsein wesentlicher Bestandteil dessen, was ist. Dieser reale Bezug auf das Utopische ist, wie in dieser Arbeit aufgewiesen wird, durch zwei Erfahrungen verbürgt: durch die Erfahrung des Leids (vgl. das gleichnamige Kapitel) und die metaphysische Erfahrung (Glück) (vgl. metaphysische Erfahrung und Verzweiflung). Beide Erfahrungsformen sind zwar konkrete, ja bisweilen somatische Erfahrungen, und als solche ganz dem Bestehenden zugehörig, aber zugleich auch Erfahrungen dessen, was nicht ist. Leid verweist als Negativerfahrung unmittelbar auf die ausstehende Erlösung vom Leid und metaphysische Erfahrungen als Erfahrungen des Glücks erfahren im Glücksgefühl dessen Zerbrechen an der Wirklichkeit. Utopie ist das positive Zentrum des Denkens Adornos, aber zugleich nur darum U-topie, weil es auf drei Ebenen nur negativ er-

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scheint: Es ist negativ in dem Sinne, dass es das ganz Andere zum Bestehenden bezeichnet; es ist negativ, insofern wir durch NegativErfahrungen auf es bezogen sind; und es ist negativ, weil Utopie nicht positiv bestimmbar ist. Aus diesem Grund wird hier das Denken Adornos im Ganzen als ein negativ-utopisches Denken gekennzeichnet. Dieses negativ-utopische Denken steht bei Adorno in direkter Tradition der Aufklärung. Man kann so weit gehen, Adorno als einen Autoren zu bezeichnen, der die Anliegen der Aufklärung gegen ihr eigenes Scheitern verteidigt. Geprägt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die keinen menschlichen Fortschritt mehr zu behaupten erlauben, sieht er sich zu einer radikalen Selbstkritik der Aufklärung genötigt. Diese Selbstkritik des aufklärerischen Denkens, das deren Ideale teilt, aber ihr Scheitern eingestehen muss, zeichnet sich spezifisch in seiner radikalen Negativität ab, die aufs Utopische zielt. Wie aufzuzeigen ist, liegt gerade in der negativen Utopie die Möglichkeit sich der totalen Resignation zu entziehen. In diesem Sinne versucht das negativ-utopische Denken, Möglichkeiten für einen wahren Fortschritt der Menschheit offen zu halten. Nichts scheint mir heute wichtiger zu sein als eine Philosophie, die sich so unbedingt den Anforderungen der Zeitgeschichte aussetzt. Dass sich ein solches Denken allerdings in aporetischer Form darstellt, sollte nach dem bisher Gesagten nicht abschrecken, sondern als Chance begriffen werden.

I.2. Aufbau und Thesen der Arbeit Diese Arbeit versucht, das eben beschriebene negativ-utopische Denken systematisch zu bestimmen. Eine systematische Bestimmung im traditionellen Sinn verbietet sich allerdings aus zwei Gründen: erstens, weil ein solches Vorgehen dem Anliegen Adornos grundlegend zuwiderlaufen und damit dessen Gehalt verfehlen würde, und zweitens, weil das negativ-utopische Denken Adornos durch seinen aporetischen Charakter so konzipiert wurde, dass es keinerlei Systematik und eindeutiger Bestimmung mehr zugänglich ist. Darum wird hier versucht, Adornos Nachfolgefigur des Systems, die Konstellation, als Methode zur Untersuchung seines eigenen Denkens anzuwenden (mehr dazu im Abschnitt Methode) und dadurch die Fruchtbarkeit seines aporetischen Ansatzes aufzuweisen. 22

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Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile (II. und III.). Der erste Hauptteil (II.) geht einer grundlegenden begriffslogischen Konstellation des negativ-utopischen Denkens nach, die hier als das Spannungsfeld von Totalität und Utopie begriffen wird. Diesem Teil liegt die These zu Grunde, dass Adornos Exposition des »falschen Ganzen« auf den Begriff einer negativen Utopie angewiesen ist und umgekehrt, und dass deren Wechselverhältnis eine strikt negative Form des Denkens vorgibt. Daraus ergibt sich die weitere Gliederung: In einem ersten Schritt (II.2.) wird die Analyse der Totalität des Falschen als Bann nachvollzogen und problematisiert. Dieser Bann wird als reale aporetische Struktur nachgewiesen, die sich im Umschlag von Macht in Ohnmacht (II.2.1.) als Dialektik der Aufklärung darstellt. Diese realgeschichtliche Aporie lässt sich dabei sowohl auf einer gesellschaftlichen als auch begriffslogischen Ebene nachweisen (II.2.2.), die sich in der Figur des ›Vorrangs des Subjekts‹ manifestiert (II.2.3.). Die Totalität des Falschen ist gleichwohl einzugestehen, wie sie aber auch dem Schein ihrer Notwendigkeit zu entkleiden ist. Diese ›Entzauberung‹ des Banns wird durch den Nachweis seiner Kontingenz als geschichtlich Bedingtes (II.2.4.), als von Menschenhand Verschuldetes (II.2.5.) und in sich Widersprüchliches (II.2.6.) vollzogen. In diesem Teil geht es in erster Linie um eine Darstellung des Ansatzes von Adorno, der die Grundlage bereitstellt, im Folgenden eine nähere Problematisierung seiner radikal negativen Methode (II.3.) vorzunehmen. Dass Adorno als ein negativistischer Autor bezeichnet werden kann, verdanken wir in erster Linie der Interpretation Michael Theunissens. Diese Arbeit teilt seine Interpretation weitgehend, setzt sich aber dort von ihr ab, wo es um die Bewertung des Charakters des durch die Negativität intendierten Utopischen geht (II.3.2.), das gegen den Vorwurf verteidigt werden soll, auf einer inflationären Ausweitung normativer Urteile aufgrund einer unterschwelligen ReTheologisierung zu beruhen. Statt dessen wird hier die These vertreten, dass das Konzept der Negativität bei Adorno keine Reduktion auf den Bereich des Normativen darstellt, sondern vielmehr aufweist, wie sich Negatives als Nicht-sein-Sollendes mit der negatio als begriffliche Bestimmung im Begriff der Kritik als Negation und Widerstand vereint und darin eben die Verwobenheit von begrifflichem Denken und gesellschaftlichem Zwang kritisch reflektiert. Dass diese Leistung der Kritischen Theorie implizit auf den Begriff einer Utopie verwiesen und keiner verhohlenen Theologisierung geKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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schuldet ist, wird sich bei einer neuerlichen Untersuchung der zentralen Stellung der Erfahrung des Leids herausstellen (II.3.3.). Daraus resultiert im Weiteren die Umdeutung vom Stellenwert der Dialektik, die als strikt negative, als eine, die im Widerspruch verbleibt, auf ihre eigene Aufhebung zielt (II.3.4.). Solche Aufhebung ist aber keine immanent-dialektische wie bei Hegel, sondern – der hier vertretenen These zufolge – eine, die sich durch die radikale Eingrenzung des Denkens durch sich selbst vollzieht (II.3.5.). Im Motiv des ›Denkens gegen das Denken‹ als Grenzziehung weist sich ein radikal Anderes zum dialektischen Denken aus, das im Begriff des Utopischen seinen Ausdruck findet. Utopie ist damit nicht eine bloße Setzung gegenüber der gesellschaftlichen Realität und gegenüber der Verfassung des Denkens, sondern dieser Interpretation zufolge ergibt sich die Utopie als das radikal Andere aus der konsequenten Selbstkritik des Denkens. Hier sollte klar geworden sein, inwiefern sich aus dem Aufweis der Bannstruktur abendländischer Geschichte ein radikal negativistischer Ansatz rechtfertigt, der gleichwohl wiederum auf den Begriff der Utopie verwiesen ist, um einen Standpunkt einzunehmen, der solche Kritik des falschen Ganzen überhaupt erlaubt. Dass wir es hierbei mit einer Zirkelstruktur zu tun haben, liegt in der Sache selbst begründet: in einem Denken, das gegen die eigene Verfassung andenkt. Unserer These nach weist sich hier der bewusst aporetische Ansatz Adornos aus, der sich allerdings nicht bloß aus der logischen Argumentation speist, sondern sein eigentliches Fundament in zwei konkreten Erfahrungen gewinnt: In der Erfahrung des Leids und der metaphysischen Erfahrung (des Glücks). Beide stellen Erfahrungen dar, die einerseits negativen Charakter haben, aber in ihrer Negativität auch einen Verweis aufs Utopische darstellen. Diese Erfahrungen bewahren das Denken Adornos davor, einem resignativen Pessimismus zu verfallen. In Abgrenzung von dem pessimistischen Denken Schopenhauers wird darum eine zuspitzende Zusammenfassung des Stellenwerts von Negativität und Kritik unter Betonung des Begriffs der metaphysischen Erfahrung vorgenommen (II.4.). Dass wir hier gerade auf den Begriff der metaphysischen Erfahrung besonderen Wert legen, liegt darin begründet, dass diese Erfahrungsschicht negativer Dialektik gegenüber der Erfahrung des Leids in der Forschungsliteratur bislang unterbelichtet blieb. Hiermit wird auch eine grundsätzliche Position zur Frage nach dem Stellenwert der Erfahrung im

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Denken Adornos gewonnen, die klar machen soll, worin sich die negativ-utopische Gangart rechtfertigt. 23 Bis zu diesem Punkt wurde die spezifische Spannungslage von Totalität und Utopie in ihrer Wechselseitigkeit und deren spezifisches Potential herausgearbeitet und nach ihrer Grundlage befragt. Dabei haben wir uns deutlich positioniert und zu einer Interpretation gefunden, die dazu angetan ist, den Ansatz Adornos gegen grundlegende Kritikpunkte zu verteidigen. Im nun anschließenden Abschnitt findet erst die eigentlich konstellative Arbeit statt, die es unternimmt, den negativ-utopischen Ansatz Adornos in der motiv- und philosophiegeschichtlichen Textur der Neuzeit zu verorten (II.5.). Dies meint keine abschließende und vollständige Kartographie negativer Dialektik, sondern stellt den Versuch dar, das negativ-utopische Denken in seinem neuzeitlichen Kontext plausibel zu machen und in grundlegenden Charakterzügen auszuweisen. Dabei verfolge ich die These, dass Adornos utopischer Ansatz grundlegend von einer Frage bestimmt ist, die das neuzeitliche Denken im Ganzen geprägt hat. Das ist die Frage nach dem Anfang. Das utopische Denken Adornos wird oftmals als ein eschatologisches oder teleologisches Denken aufgefasst. Doch gerade durch die Frage nach dem Stellenwert des Anfangs wird aufzuzeigen sein, dass es dem hingegen nicht durch ein telos oder ein geschichtlich verbürgtes Heilsgeschehen strukturiert ist, sondern vielmehr auf einen eigentlichen Anfang ausgeht, der den Bereich einer offenen Zukunft erst versichern würde. Keine Notwendigkeit durch Telos oder Heil ist der Utopie zugesichert, vielmehr die Möglichkeit der Hoffnung auf einen Anfang (II.5.). Es gilt dabei eine Grundstruktur aufzuweisen, die die neuzeitliche Frage nach dem Anfang in verschiedenen Spielarten prägt. Es ist ein Dreischritt, der hier herauszuarbeiten ist: Anfang als vorbereitende Destruktion, Anfang als ein Aus-der-Welt-Treten und Anfang als die nachträgliche Entdeckung eines eigentlichen Anfangs. Diese Struktur möchte ich in einem ersten Schritt anhand der descartschen Interpretation des Satzes des Archimedes als konstellatives Bild herausarbeiten. Dabei wird der Bezug der Frage nach dem Anfang mit der Frage nach dem Ganzen aufgewiesen und an die bisheriVgl. zu dieser Problematik auch das einschlägige Werk Anke Thyens (Negative Dialektik und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989.), dem wir gerade in der Abgrenzung von der sprachphilosophischen Wendung Habermas’ beistimmen. Dafür wird der Erfahrungsbegriff als Fundament des Vernunftverständnisses Adornos relevant.

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Einleitung

ge Untersuchung zurückgebunden (II.5.1.). Die Wandlung dieser hier exemplifizierten Struktur des Anfangs bei Hegel (II.5.2.) nachzuvollziehen, erlaubt uns, vor diesem Hintergrund Adornos Ansatz neu zu bestimmen (II.5.3.). Auf dieser Grundlage kann das Verhältnis von Totalität und Utopie bei Adorno auf einer grundsätzlicheren Ebene problematisiert werden, die über eine immanente Adorno-Interpretation hinausgeht (II.5.4.). Vor diesem Hintergrund werden wir zu einer konsistenten Interpretation des Motivs der Selbstnegation als Transzendenz (II.5.5.) gelangen, die wir bislang nur unvollständig ausweisen konnten. Die Bedeutung von Utopie und Totalität wird vor dem Hintergrund der Fortführung zweier kantscher Motive letztlich durchsichtig: Im Motiv der absoluten Grenze im Ding an sich, das im Motiv des Nichtidentischen bei Adorno seine Entsprechung findet, und in der Wendung zur Postulatenlehre, die allererst den Wirklichkeitscharakter und die Stellung des utopischen Ansatzes zum Begriff der Notwendigkeit bei Adorno klärt. Nun kann klar dargestellt werden, dass das Wechselverhältnis von Totalität und Utopie bei Adorno nicht nur auf eine Utopie jenseits von Totalität zielt, sondern dass Utopie selbst den Begriff eines wahren Ganzen intendiert, der sich im Begriff der Versöhnung ausweist. Abschließend möchte ich nach diesen utopischen Ansätzen eines geläuterten Ganzen bei Adorno fragen (II.5.6.). Diese lassen sich als eine Stufenfolge in den Modellen der Monade (II.5.6.1.), des Fragments (II.5.6.2.) und der Konstellation (II.5.6.3.) ausmachen, die als eine Entwicklungsreihe des aporetischen Begriffs einer utopischen Ganzheit verstanden werden soll, sich in den Motiven des Widerstands, Bruchs und Gesprächs vollzieht und darin die Momente der Selbstnegation als Transzendenz genealogisch aufgreift. Im ersten Hauptteil (II.) wurde der aporetische Ansatz Adornos anhand der Spannungslage von Totalität und Utopie, die ich als dessen Kernbestand verstehe, grundlegend problematisiert und in seinem weiteren Kontext aufgewiesen, um dessen spezifische Fruchtbarkeit für den philosophischen Diskurs zu erweisen und ihn gegenüber den Vorwürfen eines defizitären Rationalitätsbegriffs zu verteidigen. Im zweiten Hauptteil (III.) wird nun ein spezifisches aporetisches Motiv der Philosophie Adornos exemplarisch einer konstellativen Untersuchung unterzogen. Es handelt sich dabei um den Begriff der Schuld. Dass wir es dabei mit einem besonders aufgeladenen Begriff zu tun haben, der instinktiv Abwehrreflexe zu zeitigen scheint, wie 26

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Aufbau und Thesen der Arbeit

ich in vielen Diskussionen über den Ansatz dieser Arbeit bemerken musste, hat mich in meinem Vorgehen bestärkt, da ich hoffe, gerade dadurch den Charakter des aporetischen Denkens klarer zu Bewusstsein bringen zu können. Adorno spricht von einem ›universalen Schuldzusammenhang‹ oder an anderer Stellen von der ›bloßen Schuld des Lebens, das anderem Leben den Atem raubt‹. In diesen knappen Bemerkungen weist sich bereits aus, dass Schuld von Adorno als eine inhärente Qualität des Banns gedacht wird. Damit ist der inhaltliche Bezug zum ersten Teil dieser Arbeit gegeben, vor dessen Hintergrund die weitere Untersuchung vonstattengehen soll. Dass hier der Begriff der Schuld an so zentrale Stelle rückt, hat aber noch einen anderen, forschungsstrategischen Grund: Die zentrale Bedeutung des Leid-Begriffs bei Adorno ist allgemein anerkannt und vielfach untersucht worden. Bereits im ersten Teil habe ich mit dem Begriff der ›metaphysischen Erfahrung‹ dem Leid-Begriff aber eine – meiner These nach notwendige – Ergänzung zukommen lassen, die den utopischen Charakter von Adornos Philosophie erst recht zur Geltung bringt und eine klare Abgrenzung zu utilitaristischen Konzepten erlaubt. Im zweiten Teil soll auf ein anderes noch weniger ins Licht der Rezension gerücktes Pendant zum Leid-Begriff verwiesen werden, nämlich das der Schuld. Er wird hier als die Kehrseite des Leids verstanden: Wo die Falschheit des Ganzen gerade im Leid erfahren wird, da verknüpft sich mit dieser Erfahrung zugleich ein Bewusstsein oder vielmehr eine Erfahrung im Bewusstsein der Schuld. Diese Schulderfahrung hat aber ebenfalls nicht bloß einen negativen Stellenwert, sondern entspricht dem utopischen Bewusstsein, dass das falsche Ganze bereits dem Schein seiner Notwendigkeit entkleidete, es als ein von Menschen Hergestelltes versteht. Insofern, so unsere Zentralthese, ist Schuldbewusstsein Voraussetzung für eine Verantwortung im utopischen Anspruch eines Ausgangs aus der Totalität des Falschen. Damit sollte klar geworden sein, dass dieser zweite Teil der Arbeit seinen Schwerpunkt auf die ethischen Dimensionen aporetischen Denkens legt und darin eine Ergänzung zum eher begriffslogischen Ansatz des ersten Teils darstellt. Wohlgemerkt: Es handelt sich um Schwerpunkte, da sich mit Adorno keine strikte Trennung dieser Bereiche vollziehen lässt, sondern sich die Ebenen von Begriffslogik und Ethik stets überkreuzen und ineinander übergehen. Dennoch soll auf Grund dieser Schwerpunktsetzung die Möglichkeit geschaffen werden, eine Diskussion aporetischer Konzepte der Ethik eines negativKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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Einleitung

utopischen Denkens anzuregen, was am Ende des zweiten Hauptteils statt hat. In einem ersten Schritt wird Schuld als eine Beziehungsmodalität unter dem Bann zu Natur, Mitmensch und Selbst des Menschen aufgewiesen (III.2.). Wir legen das Hauptaugenmerk der weiteren Untersuchung aber auf das Selbstverhältnis des Menschen als ein schuldbeladenes unter dem Anspruch der Utopie. Im Rahmen einer konstellativen Untersuchung soll das Selbstverhältnis als ein Schuldverhältnis aber nicht nur immanent aus der Auseinandersetzung mit Adorno erfolgen, sondern es soll im weiteren Umfeld der modernen Philosophie untersucht werden, insofern es Relevanz für das Denken Adornos hat und der Klarstellung des Sachverhalts dient. Wir gehen dazu von der These aus, dass das Selbstverhältnis im modernen Denken bereits wesentlich von der Idee des ›neuen Menschen‹ getragen und darin bereits utopisch verfasst ist. Exemplarisch möchte ich nun zwei Theoretiker herausgreifen, auf die wir den Ansatz Adornos beziehen können. Wir unterscheiden die divergierenden Konzepte des Selbst im Anspruch auf den ›neuen Menschen‹ durch Selbstsetzung (Kant), Selbstüberwindung (Nietzsche) und Selbstbegrenzung (Adorno) (III.3.). Der erste Teil ist einer Untersuchung Kants gewidmet, die ich anhand einer Re-Interpretation des Begriffs der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ im Aufklärungsaufsatz vornehme (III.3.1.). Dabei wird sich herausstellen, dass dem aufklärerischen Ansatz in epochaler Perspektive das Konzept einer Universalschuld zu Grunde liegt, die sich als die Universalschuld des Sollens verstehen lassen wird und den Begriff der Verantwortung und Mündigkeit erst begründet. Damit soll implizit auch ein Beitrag zur Frage nach Bedeutung und Begründung der Verantwortung geleistet werden, die in der Literatur gegenüber der Auseinandersetzung mit Schuld Übergewicht hat. Unsere These geht dahin, einen konsistenten Verantwortungsbegriff erst vor dem Hintergrund eines sie konstituierenden Schuldkonzepts fassen zu können. Dies lässt sich auch als eine Stellungnahme zum Begriff der Kollektivschuld und dessen Bedeutung verstehen. Das Konzept Kants, das ich explizit auf einer geschichtsphilosophischen Ebene verhandle, wird dann mit einer Interpretation des Fortschrittsaufsatzes Adornos konfrontiert (III.3.2.). Dass Adorno nicht bloß grundlegend von der kantschen Aufklärung geprägt ist, sondern ebenso sehr von deren Kritik durch Nietzsche sollte hinlänglich klar sein. Was unsere Fragestellung nach dem Selbstbezug als Schuldverhältnis angeht, kann Nietzsche (III.3.3.) 28

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Aufbau und Thesen der Arbeit

fruchtbar gemacht werden. Das der Selbstsetzung entgegengestellte Modell der Selbstüberwindung werden ich nun in der Unterscheidung dreier nietzscheanischer Schuldformen herausarbeiten: in der ja-sagenden Schuld des Herrn (III.3.3.1), in der ökonomischen Schuld des Christen (III.3.3.2.) und schließlich in der Schuld der Verdrängung (III.3.3.3.). Die utopische Dimension im Anspruch auf den neuen Menschen bei Nietzsche wird vor diesem Hintergrund in einer Untersuchung zu Vergessen und Versprechen herausgearbeitet (III.3.3.4.). Selbstsetzung und Selbstüberwindung im utopischen Anspruch auf den neuen Menschen stellen nun die Konstellation dar, in die wir Adornos Konzept der Selbstbegrenzung als Offenheit (III.3.4.) einzeichnen können. Das Schuldbewusstsein einer Universalschuld (einer unverschuldeten Schuld) wird hier in seinem emanzipatorischen Potential ausgelotet, das es erst erlaubt, der totalitären Bewegung moderner Subjektivität Einhalt zu gebieten und darin paradoxerweise das Denken zu öffnen. Dazu nehme ich eine Untersuchung der Kritik Adornos am kantschen Freiheitsbegriff und dessen Wendung in der Kritischen Theorie vor (III.3.4.2.–III.3.4.4.). Adornos Kritik am Autonomiebegriff soll dabei durch einen Exkurs zu Adornos Kierkegaardinterpretation erfolgen (III.4.5.), in dem ich versuche das Motiv der Begrenzung durch das Begründetsein im Anderen nachzuvollziehen. Damit wird die Bedeutung der Schuld in der Neuinterpretation des intelligiblen Charakters durch das negativ-utopische Denken grundlegend aufzuweisen sein (III.4.6.). Ausgehend von dieser Untersuchung kann im Weiteren der Versuch unternommen werden, ethische Modelle eines aporetischen, negativ-utopischen Denkens auszuweisen. Das ist gerade darum von besonderem Interesse, da spezifisch ethische Fragestellungen an die Philosophie einer Vermeidungsstrategie des Aporetischen folgen. Dass aber gerade die Ethik ein Feld darstellt, das das Denken immer wieder von Neuem vor Abgründe stellt, macht eine explizite Einforderung reflektierter aporetischer Ansätze meines Erachtens unabdingbar, um sich mit den aktuellen ethischen Fragen angemessen auseinandersetzen zu können. Hier werden lediglich zwei ethische Modelle negativ-utopischen Denkens ausgearbeitet und zur Diskussion gestellt: utopische Gerechtigkeit und Muße als Friede. Der Begriff aporetische Gerechtigkeit bei und mit Adorno wird hier in einer Auseinandersetzung mit Walter Benjamin vorgebracht (III.4.2.). Dabei werden wir wiederum auf die Fragen nach Schuld und Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Einleitung

Verantwortung zurückgeworfen werden, deren Bearbeitung im vorangehenden Teil hier nun seine Anwendung findet. Hier macht eine grundlegende Unterscheidung von Gerechtigkeit und Recht den aporetischen Glutkern aus, der uns zu einem Begriff utopischer Gerechtigkeit gelangen lässt. Ich hoffe dadurch implizit einen Beitrag zu aktuellen Gerechtigkeitsdebatten leisten zu können, die in einer globalisierten Welt von herausragender Bedeutung sind, um sich in ihr nach Maßgabe der Menschlichkeit verorten zu können. Mit dem Begriff der Muße (III.4.3.) stellt diese Arbeit ein altes abendländisches Konzept des zweckfreien Denkens und der freien menschlichen Selbstentfaltung in Theorie und Praxis zur Disposition. Wir verfolgen dabei die These, dass der Begriff der Muße als ein Zentralbegriff Adornos angesehen werden kann, obgleich jener von ihm kaum, und wenn doch, dann meist kritisch rezeptiert wurde. Damit wird versucht, Adorno gegen Adorno zu lesen, um seine eigenen Ansprüche fruchtbar werden zu lassen. Die These wird zu Grunde gelegt, dass das Konzept der Muße bei Adorno unter der Hand in den Motiven der Selbstkritik des Denkens (III.4.3.1.), der Versenkung in den Gegenstand (III.4.3.2.), der Stilllegung der Dialektik (III.4.3.3.) und der Humanität als Eingedenken der Natur (III.4.3.4.) aufgehoben ist und darum zu einem Angelpunkt Kritischer Theorie ernannt werden dürfte. Doch ein noch weiterer Aspekt der Muße bei Adorno soll hier hergeleitet werden, nämlich der des Friedens (III.4.3.5.), der als der eigentliche Nachfolgebegriff zur Freiheit im negativ-utopischen Denken interpretiert werden soll. Nachdem nun das aporetische Vorgehen des negativ-utopischen Denkens begriffslogisch und in seiner ethischen Dimension herausgearbeitet und problematisiert wurde, wird am Ende ein Exkurs zum theologischen Fundament des Wahrheitsbegriffs Adornos folgen (III.5.). Dieser Exkurs gilt der Klärung, wie die immer wieder auftauchenden theologischen Motive im Denken Adornos zu bewerten sind und inwiefern sie nicht einfach als ein Rückfall hinter die Leistungen der Säkularisation begriffen werden dürfen, sondern als eine Re-Säkularisierung der Metaphysik durch theologische Gehalte. Darin weist sich das negativ-utopische Denken noch einmal als eines aus, das sich den Forderungen eines rückhaltlos philosophischen Fragens noch im Anblick der Aporie radikal stellt.

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Methode

I.3. Methode Wie bereits erwähnt, soll diese Arbeit eine systematische Untersuchung des negativ-utopischen Denkens bei Adorno leisten. Ich werde mich dazu aber an der Vorgabe orientieren, die Adorno selbst macht, wenn es um den systematischen Aufweis spezifischer Begrifflichkeit zu tun ist: Es gilt, sich an dem konstellativen Verfahren der negativen Dialektik zu orientieren. Das hat zum einen den Grund, dem philosophischen Anspruch Adornos gerecht werden zu wollen – oder, wo das wohl zu viel verlangt ist, ihm wenigsten Rechenschaft zu leisten. Zum anderen besteht aber auch ein sachlicher Anlass: Ich interpretiere den negativ-utopischen Ansatz als ein bewusst aporetisches Verfahren, deren produktiven Gehalt ich zur Geltung bringen möchte. Doch gerade ein aporetisches Denken versperrt sich einer klassisch definitorisch-systematischen Interpretation. Vielmehr lebt ein solches Denken von der immanenten begrifflichen Dynamik, die aus Widersprüchen heraus ein Begriffsgeflecht entstehen lässt. Zur Aufdeckung solcher begrifflicher Textur scheint mir aber gerade ein konstellatives Verfahren notwendig zu sein. Die Strenge wissenschaftlicher Arbeit hat insofern nicht unter diesem Ansatz zu leiden, als gerade der konstellative Ansatz auf genauer begriffslogischer Arbeit beruht, die die (ideen-)geschichtliche Aufladung der einzelnen Motive auszuweisen hat. Konkret stellt sich der konstellative Ansatz in dieser Arbeit wie folgt dar: Es soll ein Netz von Zentralbegriffen gebildet werden, das sich um das jeweils zu untersuchende Problem spinnt. Die Begriffe werden dabei auf ihre wechselseitige Abhängigkeit hin befragt, so dass diese Arbeit eine gewisse Begriffsdynamik entfaltet. Damit wird es möglich, aporetische Sachverhalte als dynamische Phänomene aufzufassen, die ein zu Grunde liegendes Thema ersichtlich machen. Beispielsweise wird das negativ-utopische Denken im Spannungsfeld von Totalität und Utopie angesiedelt und deren jeweilige Bezugnahme zueinander dargestellt. Im Fortgang dieser Bezugnahme von Totalität und Utopie ergeben sich dann weitere Begriffe, die eine differenzierte Untersuchung erlauben. Im Falle der Totalität sind das: Welt, All, Unendlichkeit, Punkt, Allgemeines und Einzelnes. Diese ergeben sich wiederum in einer immanenten Bezugnahme zueinander. Somit erreichen wir den Begriff der Totalität in der Vielschichtigkeit, wie er für diese Untersuchung vonnöten ist. Aber diese Arbeit versucht, das konstellative Verfahren nicht bloß auf die BegrifflichKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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keit selbst anzuwenden, sondern ebenso philosophiegeschichtliche Konstellationen zu bilden. So z. B., wenn wir das Selbstverhältnis als Schuldverhältnis bei Kant, Nietzsche und Kierkegaard untersuchen, um darin das Bedeutungsfeld zu entwickeln, von dem her der Ansatz Adornos verständlich wird. Die Arbeit strukturiert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil der Arbeit legt seinen Fokus auf eine begriffslogische Klärung unseres Sachverhalts, während der zweite auf den ersten Blick den Schwerpunkt auf ein ethisches Anwendungsbeispiel legt. Es wird aber ersichtlich werden, dass es sich dabei keineswegs nur um ein Beispiel handelt, sondern, dass gerade in der Entfaltung der Frage nach dem neuen Menschen und der des Selbstverhältnisses des Menschen als ein Schuldverhältnis Grundsätzliches zu der hier vorgegeben Thematik vorgebracht wird. Selbstverständlich gibt es auch einige Punkte, die größtenteils darstellenden bzw. referierenden Charakter haben. Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur findet – bis auf wenige Ausnahmen – vor allem in den Fußnoten statt. Dieser Umstand ist der Geradlinigkeit des Gedankengangs geschuldet, der bei diesem ausufernden Thema festgehalten werden muss, um den roten Faden der Argumentation nicht zu verlieren. Die Textgrundlage dieser Arbeit liegt in erster Linie bei den Gesammelten Schriften Adornos und spezifisch bei der Negativen Dialektik. Andere Werke und die nachgelassenen Schriften kommen dann zum Zuge, wenn sie erläuternden Charakter für die jeweilige Thematik haben. Diese Einschränkung mag insofern problematisch erscheinen, da diese Arbeit zum Ziel hat, einen Charakterzug des Denkens Adornos zu entfalten, der sein Gesamtwerk trägt. Aus zwei Gründen scheint mir aber diese Einschränkung nötig und angeraten zu sein. Der erste Grund ist ein rein pragmatischer: Bei der Textfülle, die wir im Gesamtwerk Adornos vor uns haben, ist eine Einschränkung notwendig, wenn die Arbeit nicht bloß philologisch eine immanente Gedankenentwicklung Adornos nachvollziehen will, sondern das Motiv des negativ-utopischen Denkens inhaltlich zur Diskussion stellt. Der zweite Grund dagegen ist forschungsstrategischer Natur: Soll eine systematische Untersuchung zu einem Grundgedanken Adornos verfolgt werden, so ist die Auseinandersetzung auf die genaue Interpretation der Negativen Dialektik angewiesen, von der Adorno selbst gesagt hat, dass er in ihr seine Karten auf den Tisch lege 24. Es ist das 24

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Vgl. GS 6, S. 9.

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philosophische Grundlagenwerk, das seine Gedankenführung so deutlich und differenziert darstellt wie an keinem anderen Ort. Zu dieser Zentralstellung der Negativen Dialektik kommt aber hinzu, dass hier einer Tendenz in der Adorno-Rezeption vorgebeugt werden soll, die darin besteht, Adornos Ansatz unter fachspezifischer Perspektive aus dem Gesamtgefüge zu reißen. So sind immer wieder Interpretationen zu finden, die beispielsweise die ästhetischen Untersuchungen gegenüber der erkenntnistheoretischen oder gesellschaftskritischen Dimension seines Werks ausspielen. Ebenso berücksichtigt ein zu einseitiger soziologischer oder bloß bedeutungsgeschichtlicher Schwerpunkt nicht die Gedankenführung im Gesamtwerk. Das wäre zu verzeihen, hätten wir es bei Adorno mit einem Autor zu tun, der zu vielen disparaten Themen gesondert gearbeitet hätte. Dem ist aber nicht so. Gerade der interdisziplinäre Ansatz Adornos ist nicht eine lose Bezugnahme verschiedener Fächerperspektiven zueinander, sondern versucht die wechselseitige Durchdringung des Gegenstandes zur Darstellung zu bringen. Ein Unterfangen, das kaum ein Autor so konsequent und erfolgreich verfolgt hat wie er. Dem soll Rechnung getragen werden, indem wir uns auf sein theoretisches Grundlagenwerk besinnen, das uns seinen Gesamtansatz in nuce vor Augen führt.

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II. Totalität und Utopie

II.1. Aufriss Bei dem Begriff ›Totalität‹ assoziiert man oft System gewordene Unmenschlichkeit; zu denken ist an totalitäre Staaten und Regime. Der Begriff Totalität ist negativ besetzt und nichts desto trotz spielt er implizit oder explizit in der Philosophie eine ausgezeichnete Rolle. Totalität im weitesten Sinn als Ganzheit verstanden ist ein überaus vielschichtiger Begriff: Er bezeichnet sowohl die Identität des Einzelnen als auch das All des Universums, es meint so gut die Geschlossenheit und Transparenz des Systems als auch die Verfügbarkeit innerhalb eines Machtbereichs. In dieser Vielschichtigkeit wird Totalität für diese Untersuchung von Bedeutung sein. Adorno schwört seine Philosophie auf einen »Widerstand« gegenüber der Totalität ein, wie sie sich im Faschismus verwirklichte als die »absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt.« 1 Philosophie findet in diesem Widerstand einen neuen kategorischen Imperativ, dem sie sich trotz seiner ganz negativen und »aufgezwungenen« Art unbedingt verpflichtet weiß. »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« 2 Zugleich jedoch bewahrt Adorno auch einen unter der politischen Kategorie verborgenen Anspruch auf Totalität, der sich in seiner Philosophie schließlich selbst als ein Intendiertes, um nicht zu sagen Antizipiertes, erweist. Totalität im Sinne Hegels erfährt im 1 2

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GS 6, S. 355. GS 6, S. 358.

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Aufriss

Denken Adornos eine Wandlung, wird extrapoliert auf eine utopische Bedeutung hin. »Nur das überschreitet den idealistischen Bannkreis, was seiner Figur noch einbeschrieben ist, ihn im Nachvollzug seines eigenen deduktiven Verfahrens beim Namen nennt, am entfalteten Inbegriff der Totalität ihr Gespaltenes, Unwahres demonstriert.« 3 Am Begriff der entfalteten Totalität erweist sich dessen Unwahrheit in dem Sinne, dass er das nicht zu leisten im Stande ist, was er beansprucht zu tun, nämlich Versöhnung zu erwirken. »Der Einschluß alles Nichtidentischen und Objektiven in die zum absoluten Geist erweiterte und erhöhte Subjektivität sollte die Versöhnung leisten. Demgegenüber ist die in jeglicher einzelnen Bestimmung wirkende Kraft des Ganzen nicht nur deren Negation sondern selber auch das Negative, Unwahre.« 4 Es kommt nun gerade darauf an, sich die Unwahrheit des Ganzen bewusst zu machen. Durch diese Reflexion auf das Ganze bekommt es zugleich eine konstitutive Rolle für das Denken Adornos. Paradoxerweise liegt nämlich erst in der Bewusstmachung der Unwahrheit auch ein Begriff der Wahrheit des Ganzen. Adornos negative Methode muss immer auch in diesem Sinn als eine Bestimmung des Gegenstandes begriffen werden, wenn gleich diese Bestimmung der Eindeutigkeit versperrt bleibt und vielmehr als eine dynamische Konstellation des immanenten Widerspruchs eines Begriffs verstanden werden muss. Der Begriff der Totalität versteht sich als Spannung, die sich in der Hoffnung, aus der Totalität des Falschen in eine wahre Totalität als erlöste Ganzheit auszubrechen, offenbart. In einem ersten Schritt (2.) soll Totalität als ›Bann‹ untersucht werden. Damit rückt der Begriff des falschen Ganzen in den Fokus. Der Bann wird sich als erstes als eine Machtstruktur offenbaren, die das Individuum und mit ihm einhergehend die Möglichkeit einer Veränderung in Ohnmacht versetzt (1. Bann: Macht und Ohnmacht). Diese fatale Dialektik der Macht kann im Folgenden auf zwei Ebenen nachvollzogen werden, denn diese Machtstruktur reproduziert sich einerseits auf einer gesellschaftlich-geschichtlichen Ebene und andererseits in der Strukturlogik des Denkens selbst, wo es sich dem Diktat der Identität beugt (2. Formen des Banns: Gesellschaftlicher Zwang und identifizierendes Denken). Diese beiden, miteinander verwobenen Formen des Banns beruhen dabei letztlich auf einem neu3 4

GS 6, S. 149. GS 6, S. 146.

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Totalität und Utopie

zeitlichen Grundsatz des Weltverständnisses, das das Subjekt zum Konstituens von Wirklichkeit erhebt (3. Vorrang des Subjekts). Demgegenüber kommt es aber gerade darauf an, den Schein der Notwendigkeit dieser Bannstruktur zu entlarven, indem die geschichtliche Bedingtheit dieser bannhaften Subjektstruktur aufgewiesen wird (4. Identifizierendes Denken als geschichtlich Gewordenes). Aus dieser Perspektive ergibt sich die Möglichkeit die immanent aporetische Struktur von falscher Totalität anhand des Begriffs der Schuld und des Widerstandes aufzuweisen (5a Schuldzusammenhang unterm Bann, 5b Der gebannte Widerspruch). In einem zweiten Schritt (3.) ist die spezifische Form der Negativität des Denkens Adornos herauszuarbeiten. Dass ein Denken, das sich einer negativen, falschen Totalität als Bann gegenüber im Widerstand verortet, selbst auch negativ verfährt, ergibt sich aus der Sache. Diese Negativität genauer zu bestimmen, muss aber noch geleistet werden, um den Charakter des negativ-utopischen Denkens zu begreifen. In Abgrenzung von Theunissen soll der Fortgang solchen Denkens genauer herausgearbeitet werden (3.1.). Auf Grundlage dieser Analyse kritischer Negativität wird dann die systematische Einordnung und Abgrenzung Adornos Denkens innerhalb der negativistischen Denktradition exemplarisch in einer Abgrenzung von Schopenhauer vorgenommen (3.2.). Im Anschluss an die Analyse der Bannstruktur des Ganzen und der Negativität kritischen Denkens wird im Weiteren der Begriff der Totalität systematisch erarbeitet und in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte kontextualisiert werden (4.). Das ist nicht zu gewährleisten, ohne die Dynamik, die der Frage nach dem Ganzen bei Adorno zugrunde liegt, angemessen ins Licht zu rücken. Adorno selbst gibt eine Methode vor, Begriffe zum Sprechen zu bringen: das Denken in Konstellationen. Konstellationen haben den spezifischen Vorteil, nicht in der Dichotomie von Statik und Bewegung aufgerieben zu werden; sie bilden ein Spannungsgewebe, in dem jeder Begriff dem anderen gegenübersteht und zugleich in ihn umschlägt. Wir möchten nun die Konstellation des Ganzen anhand eines abstrakten Bildes, das selbst eine Konstellation beschreibt, untersuchen, nämlich am Satz des Archimedes, der als Folie dienen wird, um an ihm das adornosche Denken in seiner utopisch auf das Ganze gerichteten Ausrichtung mit der neuzeitlichen Philosophie zu kontextualisieren (4.1. Anfangendes Denken). Das neuzeitliche Denken interpretiere ich dabei als eines, 36

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Bann – negative Totalität

das sich spezifische vor die Frage nach der Möglichkeit eines Anfangs gestellt sieht. In Abgrenzung von Descartes’ prima philosophia (4.1.1.) und Hegel (4.1.2) lassen sich die Motivlagen der adornoschen Philosophie in Abgrenzung erarbeiten und zeigen, dass gerade das utopische Denken nicht als ein teleologisches Denken verstanden werden darf. Nun gilt es, sich wieder auf den Begriff der Ganzheit zu besinnen und die utopischen Formen der Ganzheit, wie sie Adorno implizit einfordert, auszuweisen (4.2.). Wir gehen dazu vom kantschen Totalitätsbegriff aus (4.2.1.) und erarbeiten dazu dessen kritische Weiterführung bei Adorno (4.2.2.), aus der der Begriff einer immanenten Transzendenz utopischen Denkens begreiflich gemacht wird (4.2.3.). Damit ist die Grundlage geschaffen, drei Formen utopischer Ganzheit auszuweisen (4.2.4.), die als Monade, Fragment und Konstellation den adornoschen Anforderungen nach einer Ganzheit gerecht wird, die sowohl offen ist, d. h. nicht exklusiv gedacht werden soll, und zugleich den Charakter radikaler Differenz und des Bruchs re-etablieren möchte.

II.2. Bann – negative Totalität II.2.1. Bann: Macht und Ohnmacht »Das Erwachen des Subjekts«, und mit ihm der Anfang der abendländischen Geschichte, »wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen.« 5 Für Adorno ist gerade diese Anerkennung von Macht und Herrschaft als Prinzip aller Beziehungen das stets wiederkehrende und trotz aller geschichtlichen Veränderungen gleich bleibende Muster der Geschichte. ›Bann‹ ist ein anderer Ausdruck für das Bestehen dieses Prinzips. Was ›Bann‹ bei Adorno zu bedeuten hat, soll nun geklärt werden. Wir kennen den Begriff Bann zum Beispiel aus der Redewendung: ›Von jemanden in den Bann geschlagen sein‹. Damit wird gesagt, dass man sich einer Person nicht mehr entziehen kann, die Kontrolle über sich verliert, insofern man nicht mehr entscheiden kann, ob man sich dem Einfluss dieser Person aussetzen will oder nicht. Die Person bekommt Macht über einen, indem sie einen ohnmächtig werden lässt. Ein anderer Ausdruck, in dem uns der Begriff ›Bann‹ noch 5

GS 3, S. 25.

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Totalität und Utopie

geläufig ist, ist Verbannung. Hier wird jemand ausgeschlossen, von den Beziehungen fern gehalten, die für ihn mehr oder minder notwendig sind. Wir können diesen Beispielen entnehmen, dass der Begriff ›Bann‹ eine Beziehungsform meint, die sich paradoxerweise dadurch auszeichnet, dass derjenige, der unter dem Bann steht, seiner Bezugsmöglichkeiten beraubt ist. Zum einen wird eine Situation beschrieben, in der es nicht mehr möglich ist, sich zu entziehen, aber ebenso unmöglich, sich auf etwas zu beziehen; zum anderen ein Kappen aller sozialen Beziehungen. Beiden Beispielen gemein ist, dass darin ein Verhältnis von Macht und Ohnmacht zum Ausdruck kommt. Die Verbannung wird von einer konkreten Macht (Staatsoder Stammesmacht) verfügt, die damit den Verbannten in die Situation der Rechtlosigkeit bringt; er ist in der Verbannung ohnmächtig, insofern ihm jede Solidarität einer Gemeinschaft entzogen wird. ›In den Bann geschlagen zu sein‹, meint eine Ohnmacht gegenüber der Wirkungsmacht von einem oder von etwas anderem. Herrschaft im Sinne der Staatsgewalt wird oft als eine Form der Organisation bzw. des In-Schach-Haltens der Gewalt, die den einzelnen Mitgliedern des Staates real oder potentiell zukommt, verstanden. Herrschaft als Bann bezeichnet hingegen etwas anderes: Der unter den Bann Geschlagene gehört selbst keiner Herrschaftsstruktur mehr an, auf kein Recht kann er sich berufen, keine Gewalt – auch nicht potentiell – kommt ihm mehr zu. Dem Bann gegenüber ist man bloß ausgeliefert und ohnmächtig. Der Bann ist eine Nicht-Beziehung, bzw. eine radikal einseitige Beziehung; er übt eine Macht aus, zu der man sich nicht mehr verhalten kann, die jenseits der eigenen Möglichkeiten liegt. Am offensichtlichsten zeigt sich eine solche Bannstruktur in der Ohnmacht der Menschen gegenüber der Natur, der sie ausgeliefert sind, ohne auf sie unmittelbar einwirken zu können. Doch gerade am Anfang der geschichtlichen Welt, in der durch Beschwörung und Mimesis versucht wird, einen Einfluss auf die Naturgewalten zu gewinnen, beim ›Erwachen des Subjekts‹, wird die Befreiung aus der totalen Ohnmacht ›erkauft durch die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen.‹ Der Naturbann wird in der Emanzipation von Natur durch den Menschen selbst fortgesetzt. »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.« 6 Doch wie

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Bann – negative Totalität

soll man einen Bann als gesellschaftlich fortgesetzten Naturzwang bei Adorno verstehen? Um dieser Frage nachzugehen, muss die Struktur der Reproduktion von Macht und Ohnmacht, die Adorno analysiert, untersucht werden. Zuerst soll hier auf ein Grundproblem eingegangen werden: Der Bann muss sowohl als ein von Menschen Geschaffenes angesehen werden, als geschichtlich von Menschen reproduzierte Herrschaftsstrukturen, als auch als ein Anonymes, außerhalb der Einflussmöglichkeiten der Menschen liegendes Prinzip. Obgleich sich diese beiden Bestimmungen zu widersprechen scheinen, schließen sie sich keineswegs aus. Menschen setzen in der aufklärerischen Bewegung, im Versuch sich von Naturzwängen zu befreien, diesen selbst fort. Es sind Menschen, die zum Zwecke der Befreiung von Furcht und Unmündigkeit, gesellschaftlichen Zwang und Herrschaft institutionalisieren; sie tun sich selbst Gewalt an, um Gewalt über die sie bedrohende Natur zu gewinnen. Bann ist in diesem Sinne Werk des Menschen. Andererseits stellt sich Herrschaft und Gewalt als ein Gegebenes dar, ist geschichtliches und gesellschaftliches Faktum. Adorno nimmt so wenig ein Paradies an wie irgendeinen irdischen, prähistorischen Zustand der Unschuld, der den Einzelnen davon überzeugen könnte, dass Herrschaft nicht sein muss. Der Bann stellt sich vielmehr als die Konstante der ganzen Menschheitsgeschichte dar. Doch wie soll der einzelne Mensch Perspektiven gewinnen, die ihn erkennen lassen, dass es auch anders sein könnte, dass nicht jede Beziehung von Macht und Herrschaft bestimmt sein muss, wenn die Welt, in die er geboren wurde, nichts anderes aufzuzeigen hat, jede Erfahrung, die er machen kann, in ihrem gesellschaftlichen Kontext hinsichtlich des Prinzips von Herrschaft verstanden werden muss? Adorno richtet seinen philosophischen Ansatz im Kern darauf aus, solche Perspektiven zu gewinnen. Damit stellt er sich explizit in einen Widerspruch zur traditionellen Philosophie, denn es liegt nicht per se im Vermögen des philosophischen Denkens sich in ihrem logischen und begrifflichen Vorgehen soweit von dem geschichtlich Gewordenen zu distanzieren, dass sie den Blick auf ein Anderes zu werfen in der Lage wäre. Denn auch sie ist nicht losgelöst, kein autonomer Bereich, unberührt von Gesellschaft, sondern bis ins Mark mit ihr verbunden. Ihre Begriffe sind selbst noch ein Werkzeug zur Beherrschung. »In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Momente der Realität sind, die zu ihrer Bildung – primär zu Zwecken der NaturbeherrKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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Totalität und Utopie

schung – nötigt.« 7 Nein, eine Philosophie, die nicht mehr dem Bann zugehörte, gibt es noch nicht, eine solche veränderte Philosophie ist zwar Intention von Adornos Denken, aber das, was sie bedeuten müsste, nämlich »volle, unreduzierte Erfahrung, im Medium begrifflicher Reflexion« 8 zu sein, ist etwas, das erst gewonnen werden soll, keines, auf das man zurückgehen könnte. Gegenüber dem Bann ist der Einzelne in zweifacher Weise ohnmächtig: Einmal gegenüber der konkreten Herrschaft, die sich in der Gesellschaft realisiert und sich ständig trotz aller Veränderungen reproduziert. Wie kann der Gewalt einer konkreten Herrschaft anders begegnet werden, als durch Unterwerfung oder Gegengewalt, anders als durch die implizite Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen? Zum anderen ist der Einzelne dem Bann gegenüber ohnmächtig, insofern ihm keine Alternative vor Augen steht, die ganze Geschichte, das Verhältnis zur Natur, zu Dingen und Menschen immer schon durch Herrschaft geprägt war. Der Bann scheint somit notwendig zu sein, es scheint so, als könnten Beziehungen nicht anders als durch Herrschaft geprägt sein. Die Ohnmacht gegenüber dem Bann ist demnach sowohl gesellschaftlich objektiv als auch dem Schein nach notwendig. Adornos Gedanken zum Bann changieren stets zwischen diesen zwei Momenten. Er verweist auf den Scheincharakters der Notwendigkeit des Banns, insofern er Menschenwerk ist und durch Menschen verändert werden kann, und zum zweiten betont er die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem schlechten Ganzen. Diese beiden Aspekte – Realität und Scheincharakter des Banns – schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Für die Individuen ist der Bann ebenso real und unausweichlich, wie er im Ganzen gesehen nur scheinbar notwendig ist, aber real veränderbar wäre. Adornos Denken stellt sich hier in ein Paradox: Das Heraustreten aus dem Bann erweist sich für den Einzelnen als zugleich möglich wie unmöglich. Totalität als Bann ist eine Aporie möglicher Veränderung.

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GS 6, S. 23. GS 6, S. 25.

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Bann – negative Totalität

II.2.2. Formen des Banns: Gesellschaftlicher Zwang und identifizierendes Denken Zwei Momente des Banns sind im Folgenden aufzuzeigen, um diese aporetische Situation näher erläutern zu können: Der Bann, der als gesellschaftlicher Zwang zum Ausdruck kommt, und das identifizierende Denken, das die Macht als Prinzip aller Beziehungen im Denken realisiert. Der gesellschaftliche Zwang hat einen totalitären Charakter. Dieser äußert sich darin, dass Gesellschaften sich durch Zwang zu einem Ganzen, zu einem »Organismus« formen. Die Einzelnen sind durch Naturzwänge, durch Bedrohung durch einen gemeinsamen Feind oder schlicht durch die gegenseitige Abhängigkeit bei der Selbsterhaltung darauf angewiesen, sich einem übergeordneten Ganzen einzuordnen. Dies geschieht unter dem Bann aber keineswegs in der Weise eines freien Zusammenschlusses von einzelnen, sondern durch Herrschaftstechniken. Der Einzelne muss seine Eigenheiten zurückstellen, sich angleichen, seine Bedürfnisse und Besonderheiten den Anforderungen des Funktionsganzen der Gesellschaft anpassen, sich zum Funktionsteil degradieren. Ausgrenzung ist bei dieser Identifikation der Einzelnen ins Ganze der Gesellschaft ein wesentliches Moment. »So werden die bösen mythischen Feste aus Märchen definiert durch solche, die nicht geladen sind.« 9 Der Ausschluss aus der Gemeinschaft, die klare Grenzziehung zwischen denen, die dazugehören, und denen, die »außerhalb« stehen, trägt zur Identifizierung der Einzelnen ins Ganze bei. Den Blick auf den zu richten, der nicht dazugehört, stärkt das Bestreben, dabei zu sein, sich einzuordnen, nicht aufzufallen, einer von … zu sein. Die Furcht vorm Fremden, davor, selbst fremd zu sein, führt zu einer Unterdrückung der eigenen Besonderheit zum Zwecke reibungsloser Identifikation mit dem Ganzen. Denn allzu schnell ist der, der nicht so ist, wie alle anderen, verbannt. Gesellschaftlicher Zwang schafft eine erzwungene Identität, schließt Einzelne zu einem Funktionsganzen zusammen. 10 So kann GS 10.2, S. 620. Girgio Agamben hat die Bildung totaler Strukturen durch Ausschluss in seiner Arbeit zum homo sacer beispielhaft herausgearbeitet (vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002.). Dass er sich bei dieser Arbeit mehr durch Walter Benjamin geprägt zeigt als von Adorno, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Arbeit eine erstaunliche Nähe zum Werk Adornos aufweist.

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Adorno sagen: »Würde sie [die Menschheit] eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger: keine erzwungene Einheit.« 11 Eine Weise des gesellschaftlichen Zwangs, der die Menschen unter den Bann stellt, ist eben dieses »begrenzende Prinzip«, die Ausgrenzung, die auf Furcht basierende Einheit. Ausgrenzung ist als eine wesentliche Funktion des Prinzips der Macht zu verstehen. Dass solche Herrschaftstechniken nicht einfach einer Taktik von konkret Herrschenden zugeschrieben werden kann, sondern sich unpersönlich als Struktur aller Gemeinwesen entpuppt, macht den Bann, der hier zum Ausdruck kommt, umso unausweichlicher. Dem Einzelnen, der sich zur Teilhabe an der Gemeinschaft selbst in seinen Besonderheiten beschneidet und beschnitten wird, stellt sich die Herrschaft, der er sich unterwirft, nicht als eine persönliche dar, sondern als Allgemeines, als per se Überpersönliches. »Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit.« 12 Der Einzelne kann sich diesem Allgemeinen, dem Zugriff der Macht, die ihn bannt, nicht mehr entziehen. Adorno zeigt auf, wie sehr sich solche gesellschaftlichen Zwangsmechanismen in der Geschichte mehr und mehr darauf zuspitzen, die Besonderheiten der Einzelnen zugunsten einer größtmöglichen Einheitlichkeit des Ganzen einzuebnen. »Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicherer zum gleichen werde.« 13 Diese Angleichung lässt sich beispielsweise an der Unterstellung des Einzelnen unter das ökonomische Prinzip der Äquivalenz zeigen. Menschen werden mehr und mehr auf ihre Vergleichbarkeit hin zurechtgestutzt; Arbeitskraft, die Fähigkeit zur Produktion, ungeachtet der Eigenheiten des Produzierenden oder des jeweiligen Produkts, wird zum Maß für den Menschen, er ist im marxschen Sinne entfremdet von sich selbst, den Dingen, der Gattung und der Natur. Diese Beschneidung von Qualitäten dient dabei dem reibungslosen Ablauf des Funktionszusammenhangs. Dass sich diese Beschneidung dem Einzelnen noch als vernünftig und notwendig darstellt, führt dazu, dass er sich selbst nur noch als Funktionsteilchen ansehen kann. »Seit dem Ende des 11 12 13

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GS 10.2, S. 619–620. GS 3, S. 38. GS 3, S. 29.

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freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßen bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus. Durch die ungezählten Agenturen der Massenproduktion und ihrer Kultur werden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt.« 14 Diese Einebnung des Besonderen schafft einen Raum der Herrschaft, der sich der totalen Verfügbarkeit annähert, indem es niemanden mehr gibt, der sich gegen den Ablauf des Ganzen wenden könnte; der Bann als gesellschaftlicher Zwang wird hier total. In den Lagern des Nationalsozialismus offenbart sich diese totalitäre Struktur in einer unbeschreiblich grausamen Zuspitzung. Hier starb »nicht mehr das Individuum […], sondern das Exemplar.« 15 Der gesellschaftliche Zwangscharakter des Banns vollzieht sich wesentlich als eine Besonderheiten nivellierende Identifikation. Identifizierendes Denken muss hier selbst als ein Ausdruck von Herrschaft angesehen werden. Obgleich es bis ins Innerste mit dem gesellschaftlichem Zwang verknüpft ist, verweist es zuerst einmal auf einen anderen Begriff von Identität als den einer geschlossenen Sphäre gesellschaftlicher Totalität: Identifizierendes Denken meint zuerst die Identität des Begriffs mit seinem Gegenstand. Etwas »als etwas« begreifen zu wollen, bezeichnet den Wunsch, dem Wesen des Gegenstandes zum Ausdruck zu verhelfen. Würde solches gelingen, läge das Wesen der Dinge im Begriff aufgehoben vor uns, der Begriff wäre ›identisch‹ mit seinem Gegenstand. Doch was besagt solche Identität, wie ist sie zu verstehen? Um diese Frage beantworten zu können, muss bei Adorno unterschieden werden zwischen dem Ideal von Identität, dem er selbst nachstrebt – ich werde es wahre Identität nennen und an späterer Stelle ausführen – und der geschichtlichen Realität falscher Identität. Falsch ist die Identität, die sich in der Geschichte dem Denken einprägte, indem sie die Identität von Begriff und Gegenstand als Ziel voraussetzt und die Bemühung scheut, sich einem Nichtbegrifflichem auszusetzen. Dem traditionellen Denken geht es, folgt man Adorno, nicht darum, zu sagen, was etwas sei, sondern durch kategoriale Fassung und Abstraktion von seiner Besonderheit die Differenz von Begriff und Gegenstand derart einzuebnen, dass dem Schein völliger 14 15

GS 3, S. 45. GS 6, S. 355.

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Identität nichts mehr zu widersprechen vermag. Demgegenüber schwebt Adorno eine Erkenntnis vor, die zwar in ihren Bestimmungen identifiziert, zu ihrem Ziel aber nicht die widerspruchsfreie Gleichheit hat, sondern gerade die Differenz des Begriffs zu seinem Gegenstand aufbewahrt, ein Nichtidentisches, Nichtbegriffliches, wesenhaft Anderes in seinem Wesen zum Ausdruck bringen will. »Sie [die Erkenntnis des Nichtidentischen] will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes um so weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt.« 16

Vergleichbar der identifizierenden Gewalt gesellschaftlichen Zwangs, versucht identifizierendes Denken alles auszuschließen, was nicht völlig einzuschließen ist. Nur insofern ein Gegenstand widerspruchsfrei in einem Begriff aufgeht, unter die klassifikatorische Gewalt des Begriffs zu bringen ist, gilt ihm die Zuwendung des Subjekts; alles Eigene an ihm, seine Besonderheit und Einzigartigkeit, wird ausgeblendet. Erkenntnis entfaltet durch Identifikation einen Bereich totaler Durchdringung: Wo nichts von Belang ist, das nicht schon der Form begrifflicher Ordnung eingepasst ist, erscheint alles dem Zugriff des begrifflich-identifizierenden Denkens ausgesetzt. Der Begriff entspricht dann nicht einem Nichtbegrifflichem, sondern verleibt sich das zu Begreifende ein und verleugnet die Differenz zu seinem Gegenstand. Identifikation vollzieht sich wesentlich durch Exklusion. »Der immanente Anspruch des Begriffs ist seine Ordnung schaffende Invarianz gegenüber dem Wechsel des unter ihm Befassten. Diesen verleugnet die Form des Begriffs, auch darin ›falsch‹. […] Der Begriff an sich hypostasiert, vor allem Inhalt, seine eigene Form gegenüber den Inhalten. Damit aber schon das Identitätsprinzip: daß ein Sachverhalt an sich, als Festes, Beständiges, sei, was lediglich denkpraktisch postuliert wird.« 17

Die Erkenntnis und das Wissen, auf das identifizierendes Denken aus ist, lassen sich nicht mehr als Neugierde, als Faszination am Unbekannten und Fremden verstehen, sondern haben ihren Grund in dem Willen, die Dinge und Menschen zu beherrschen. Die Gegenstände werden in der Erkenntnis auf das reduziert, was für das Sub16 17

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GS 6, S. 152. GS 6, S. 156–157.

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jekt handhabbar ist. »Das Wissen verleiht dem Gewussten eine Zugehörigkeit zum Wissenden, eine prinzipielle Gleichartigkeit mit der ihm zugänglichen Welt. Durch die Subsumtion unter die Allgemeinheit seines Begriffs bekommt der Wissende sein Gegenüber in den Griff.« 18 Hier trifft der Satz, dass Wissen Macht sei, durchaus zu. Und so sehr identifizierendes Denken seinen Gegenständen Gewalt antut, so sehr richtet sich das reduzierende, abstrahierende Vorgehen gegen den Träger solchen Denkens selbst, gegen den Menschen. »Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich.« 19 So sehr das identifizierende Denken als eine erkenntnistheoretische Position reflektiert wird, so bedeutsam ist Adornos Hinweis, dass deren Struktur selbst durch unbewusste und somatische Triebe gezeitigt wird. Identifizierendes Denken wird von Adorno nämlich an die Regungen der Angst und der Wut zurückgebunden. Das Einverleibende, das nichts Anderes stehen lassen kann, wird der Wut des Fleischfressers gegenüber seinen Opfern gleichgestellt und diese Wut letztlich auf die Angst bezogen, die der Mensch hat, selbst vom Fremden verschlungen zu werden. Diese Topoi der Selbsterhaltung tragen maßgeblich zu dem Schein der Notwendigkeit ständiger Identifikation bei, sie scheint notwendig zum Selbsterhalt. Doch gerade darin wird sie zu einer schicksalshaften, totalen Bestimmung menschlichen Daseins, zu dessen Verhängnis. Verhängnisvolle Identifikation vollzieht sich also real durch Exklusion, die sich scheinbar rechtfertigt durch die Notwendigkeit der Selbsterhaltung.

II.2.3. Vorrang des Subjekts Adorno zufolge ist »Identitätsdenken, auch wenn es das bestreitet, subjektivistisch.« 20 Gleichwohl löst er sich nicht vom Begriff des Subjekts. Seine Kritik richtet sich gegen einen Vorrang des Subjekts gegenüber dem Objekt, den er der traditionellen Philosophie zuschreibt. Ute Guzzoni, Identität oder nicht. Zur kritischen Theorie der Ontologie. Freiburg/ München 1981, S. 60. 19 GS 3, S. 45. 20 GS 6, S. 184. 18

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Das Subjekt, dem in der idealistischen Philosophie am klarsten – aber keineswegs nur dort – eine konstitutive und der Sphäre des Allgemeinen angehörige Stellung zugemessen wird, steht dem Objekt als etwas letztlich erst durch das Subjekt Konstituiertes gegenüber. Dieser Vorrang des Subjekts sieht das Objekt nur als eine Gegebenheit, die ihre Bedeutung vom Subjekt erhält und von diesem letztlich gesetzt wird und darin seine ›Positivität‹ entfaltet. »Daß die Bestimmungen, durch die das Objekt konkret wird, ihm bloß auferlegt seien, gilt nur unterm unerschütterlichen Glauben an den Primat der Subjektivität.« 21 Diesem Primat der Subjektivität gegenüber verweist Adorno auf die Unzulänglichkeit einer Bestimmung des Verhältnisses eines Denkenden zur Welt als formender Begriff zur faktischen Gegebenheit der Dinge. »Nichts in der Welt ist aus Faktizität und Begriff zusammengesetzt, gleichsam addiert.« 22 Die Vorrangigkeit, die das Subjekt in der traditionellen Philosophie laut Adorno innehat, setzt die Trennung des Subjekts vom Objekt voraus, die als unvermittelte angesehen wird. Erst diese radikale Trennung, die keinen Bezug mehr anerkennt, lässt das Subjekt den Platz eines unbedingten Regenten der Welt einnehmen. Das Subjekt wird als ein vollständig selbstständiges, autonomes verstanden. »Zur Ideologie, geradezu ihrer Normalform, wird die Trennung, sobald sie ohne Vermittlung fixiert ist. Dann usurpiert der Geist den Ort des absolut Selbständigen, das er nicht ist: im Anspruch seiner Selbstständigkeit meldet sich der herrschaftliche. Einmal radikal vom Objekt getrennt, reduziert Subjekt bereits das Objekt auf sich; Subjekt verschlingt Objekt, indem es vergisst, wie sehr es selber Objekt ist.« 23

Einen Ausdruck dieses herrschaftlichen Anspruchs des Subjekts sieht Adorno in der erkenntnistheoretischen Konzeption des Transzendentalsubjekts. Die Welt wird demzufolge von diesem Subjekt aus unqualifiziertem Material geformt, oder ihm wird zugeschrieben, sie überhaupt zu erzeugen. 24 Das Subjekt, dem eine konstitutive Rolle für die Welt zugesprochen wird, ist selbst Grund der Welt, umfasst sie in der Unabhängigkeit des souverän Herrschenden. Das Subjekt verabsolutiert sich als Schöpfer und Herrscher der Welt.

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GS 6, S. 188. GS 6, S. 189. GS 10.2, S. 742. Vgl. Zu Subjekt und Objekt 3., in: GS 10.2.

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Diese hybrische Verabsolutierung des Subjekts in der Transzendentalphilosophie 25 hat aber fatale Folgen für die realen Individuen. Das empirische Subjekt, das einzelne, »menschliche« Ich, ist erst abgeleitet von dem transzendentalen, das selbst der Sphäre der Allgemeinheit zugehört, die rein geistig verstanden wird. Demgegenüber verweist Adorno darauf, dass der abstrakte Begriff des Subjekts nur denkbar ist durch konkrete, lebendige Einzelwesen, von denen der Begriff abstrahiert. Damit kehrt er das Bedingungsverhältnis von transzendentalem und empirischem Subjekt um: Wo die (idealistische) Tradition das empirische Subjekt von dem transzendentalen herleitet, legt Adorno das lebendige Einzelne jeder abstrahierenden Allgemeinfassung zugrunde. Eine Philosophie, die dem Allgemeinen ein solches Vorrecht vor dem Einzelnen gewährt, ist aber selbst Ausdruck einer Unterdrückung der Menschen, die nicht im Allgemeinen aufgehen, sondern als jeweils Besondere lebendig sind. In dem Primat des Allgemeinen vor den lebenden Einzelnen kommt eine geschichtlich gewordene Stellung des Einzelnen zur Gesellschaft zum Vorschein. Die einzelnen Menschen stehen unter der Gewalt der Bestimmung durch die Gesellschaft im Ganzen. Nichts, was sich in diesen Verhältnissen nicht dem ihm zugeschriebenen Platz beugt, hat Raum in ihr. Der Einzelne ist in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen nur ein abstraktes, allgemein gefasstes Moment, austauschbar, quantitativ erfassbar, ein Beliebiger im Ganzen. »Je mehr die einzelnen Menschen real zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalität durch deren Verknüpfung zum System herabgesetzt werden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, als Prinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, dem absoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht.« 26 Der Vorrang, der dem Subjekt zugeschrieben wird, muss im Sinne Adornos als Produkt eines identifizierenden Denkens angesehen werden. Das Subjekt, das dem »reinen« Objekt seine Qualitäten erst beimisst, in Denken und Anschauung es eigentlich erst ausmacht oder gar erschafft, reduziert das Objekt von vorne herein auf

Von einer Hybris der Transzendentalphilosophie zu sprechen ist nicht neu. Bereits der berühmte Atheismusstreit folgt diesem Motiv. Auch wenn Adorno hier analog vorgeht, hat er aber anderes im Blick als eine theologisch motivierte Kritik im Sinne einer Rettung eines theistischen Gottesbegriffs. Er sucht den Menschen selbst davor zu bewahren durch seine Verabsolutierung sich selbst zu verstümmeln. 26 GS 10.2, S. 744. 25

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sich selbst, es macht »das Andere sich gleich«. 27 Darin liegt der herrschaftliche Charakter der Subjektivität, der sich gleichermaßen gegen die richtet, die erkennen können, gegen die einzelnen Menschen. Adorno spricht von einer Gefangenschaft im Subjekt und meint damit den Ausschluss des Subjekts aus der Welt, in der es lebt, indem alles andere, nicht zum Subjekt Gehörende, aus seiner Sphäre, der des allgemeinen Denkens, ausgeschlossen wurde. Wird die Trennung vom Objekt so radikal angesetzt, dass keine Begegnung mehr zu denken ist, gewährleistet das zwar den Schein totaler Herrschaft des Subjekts als ›Schöpfer‹ der Welt, zugleich aber schließt es ein in das Gefängnis des rein Geistigen, in dem alles Fremde, Nichtgeistige ausgeschlossen ist. In diesem Sinne liest Adorno die Freiheit des autonomen Subjekts als das Gefängnis der eigenen Panzerung gegenüber der Umwelt. »Was die Transzendentalphilosophie an der schöpferischen Subjektivität pries, ist die sich selbst verborgene Gefangenschaft des Subjekts in sich. In allem Objektiven, das es denkt, bleibt es eingespannt wie gepanzerte Tiere in ihren Verschalungen, die sie vergebens abzuwerfen suchen; nur kam jenen nicht der Einfall, ihre Gefangenschaft als Freiheit auszuposaunen.« 28 Das identifizierende Denken muss als ein Denken im Bann angesehen werden, ein Denken, das sich im Dunstkreis des Prinzips der Herrschaft bewegt. Als ein solches entziffert Adorno den abstrakten Subjektivismus, der sich in der Philosophie erhielt, selbst wenn er sich das Gegenteil auf die Fahnen schrieb, wie beispielsweise im Positivismus oder im naiven Realismus. Dass sich dieses herrschaftliche Denken erst durch einen Ausschluss ergibt, durch eine radikale Trennung, die den Bereich des »Eigenen« vor allem Anderen schützt, um ihn schließlich selbst zu verabsolutieren, sollte klar geworden sein. Doch zugleich ist diese Trennung nicht aufzuheben, kein Zustand der Ungeschiedenheit anzustreben, den Adorno der vorgeschichtlichen Naturverfallenheit zurechnet und ihn als ebenso unfrei darstellt, wie es die Überformungen des Naturzwangs im gesellschaftlichen Zwang sind. Der Unterschied von Objekt und Subjekt, von Besonderem und Allgemeinem ist nicht aufzuheben in einem unterschiedslosen Einerlei. Es kommt Adorno darauf an, die Unterschiedenen jeweils in ihrer gegenseitigen Vermittlung anzusehen. »Auch die Antithese von Allgemeinem und Besonderem ist notwendig sowohl 27 28

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GS 10.2, S. 747. GS 10.2, S. 749–750.

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wie trügend. Keines von beiden ist ohne das andere, das Besondere nur als Bestimmtes und insofern allgemein, das Allgemeine nur als Bestimmung von Besonderem und insofern besonders.« 29 Unter dem Titel »Vorrang des Objekts« versucht Adorno eine kritische Gegenlesart zur traditionellen Haltung zur Subjekt-Objekt-Frage zu entwickeln, die Widerstand gegen die Bannstruktur des abendländischen Denkens ermöglicht. Wird das Objekt gar als Nichtidentisches gefasst, mit dem ein erfahrendes Subjekt in Verbindung steht, kommt das dem Versprechen eines Jenseits des Banns gleich.

II.2.4. Identifizierendes Denken als geschichtlich Gewordenes Antagonismus liegt für Adorno jedem Totalitarismus zu Grunde. 30 Der Antagonismus von Mensch und Natur ist für ihn zentrales Moment seiner Untersuchungen. Der Bann der Naturverfallenheit des Menschen wird von Adorno als eine Ungeschiedenheit von Mensch und Natur beschrieben. Menschen, gänzlich in Natur verloren, sind ihrer Umwelt völlig ausgeliefert, nichts gibt ihnen die Möglichkeit, von sich aus auf ihre Umwelt einzuwirken, sich selbst zu bestimmen. Diffuse Furcht um sich ist die wesentliche Verfasstheit des Menschen in der Ununterschiedenheit zur Natur. Geschichte beginnt für Adorno dort, wo Menschen sich von der Natur in der Weise emanzipierten, dass sie sich selbst der Natur gegenüberzustellen vermochten. Erst durch die Trennung von Mensch und Natur gelang es den Menschen, eine Position einzunehmen, die es erlaubte, mit der sie umgebenden Natur zielgerichtet umzugehen, sie zu beeinflussen und eine gewisse Unabhängigkeit von ihr zu erlangen. Hier entsteht eine Form des Selbstbewusstseins, das sich geschichtlich zum modernen Subjekt weiterentwickeln sollte. Doch die Furcht vor der Natur setzt sich fort im Bedürfnis der Beherrschung von Natur. Herrschaft aus Furcht bestimmt von Anfang an die gesamte abendländische Geschichte. Naturzwang setzt sich fort in der Naturbeherrschung und dem gesellschaftlichen Zwang, die dem Bann der Furcht vor der Natur nicht

GS 10.2, S. 756. Vgl. GS 10.2, S. 620: »Zum Begriff der Totalität gehört, wie in den politisch totalitären Systemen, der fortwesende Antagonismus.«

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entkommen konnten. Furcht erzeugte Herrschaft, um ihr zu entkommen, doch Herrschaft erzeugt weiterhin Furcht und Unfreiheit. Identitätsdenken ist, wie oben gezeigt, herrschaftliches Denken, das aus der radikalen Trennung von Mensch und Natur herrührt. Das von der Natur getrennte Selbst unterliegt der Furcht vor dem eigenen Untergang, die Gattung Mensch im Ganzen sieht Adorno in der Furcht um ihr Bestehen unter die Prämisse der Selbsterhaltung gesetzt. Der herrschaftliche Zug identifizierenden Denkens verdankt sich also letztlich dem Selbsterhaltungswillen. Somit steht die Menschheit, die sich in der Sorge um ihren Erhalt befindet, die nicht aus der natürlichen Struktur bloßer Selbsterhaltung herausgetreten ist, im Ganzen unter dem Bann. Solange die Furcht um die Selbsterhaltung besteht, bleibt die Herrschaft das Fundament aller Beziehungen von Menschen. Identifizierendes Denken wird darin trotz aller erkenntnistheoretisch rein anmutenden Selbstvergewisserungen als Funktion der Selbsterhaltung begriffen. Es verabsolutiert die Trennung vom Anderen (Natur, Objekt, Besonderes, …), um sich nicht an es zu verlieren, gibt sich dabei als Subjekt eine für die Welt konstitutive Rolle, macht sich zum Regenten seiner gesetzten Totalität und vergegenständlicht doch noch sich selbst durch den Vorrang, den das Allgemeine vor dem Besonderen hat. Adorno sieht im gesellschaftlichen Zwang gegenüber den Einzelnen den geschichtlich real gewordenen Vorrang des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen, eine Zuspitzung der Unfreiheit in der geschichtlichen Welt. Der gesellschaftliche Zwang, der dem Einzelnen als das ihm gegenüber Allgemeine erscheint, ist aber selbst noch Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs der Gattung Mensch, der die Menschen unter den Bann der Naturverfallenheit stellt. Das identifizierende Denken steht unter dem geschichtlichen Bann und reproduziert ihn zugleich unaufhörlich. Es ist ein herrschaftliches Denken, das in dem Vorrang, den es dem Subjekt, dem Allgemeinen und dem Geist zugesteht, die lebendigen, besonderen Menschen unterdrückt. Die Menschen unterliegen im identifizierenden Denken einer Vergegenständlichung, die sie zur bloßen Funktion in der Apparatur der Selbsterhaltung bestimmt. Sie erfahren in diesem Denken eine Entfremdung von ihren Erfahrungen, die unter dem Primat des Subjekts ihren qualitativen Gehalt abgesprochen bekommen, gegenüber ihrer Körperlichkeit, die gegenüber der ›Würde‹ des Geistes zur Banalität verkürzt wird, gegenüber den Dingen, die als qualitätslose Materie nur Material sind, und gegenüber anderen 50

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Menschen, die unter dem Maßstab gesellschaftlicher Funktionalität nur Ableitungen des Selbsterhaltungswillens der Gattung sind. Identifizierendes Denken hat seinen Grund in der Furcht vor Anderem, das es sich gleichmachen will und dabei einer (Selbst-)Entfremdung unterliegt. Nur ein Denken, das aus dem Bann herausgetreten wäre, das nicht mehr identifizierend denken würde, wäre in der Lage Entfremdung zu beenden. Das gelänge aber nur durch die Anerkennung des Fremden und Anderen, ohne Furcht vor ihm haben zu müssen. »Wäre das Fremde nicht länger verfemt, so wäre Entfremdung kaum mehr.« 31

II.2.5. Aporie des Banns Ist der Bann im oben dargestellten Sinne Identitätsbann, dann stellt sich die Totalität des Banns als nahezu unüberwindbar dar. Unsere Denkgewohnheiten wie unsere gesellschaftliche Verfassung sind so grundlegend vom Prinzip der Herrschaft geprägt, dass die Frage, wie diesem Bann zu entgehen sei, als Aporie erscheint. Adornos Versuche, mit dieser Aporie umzugehen, möchte ich im nächsten Teil erläutern. An dieser Stelle soll es darum gehen, Adornos Sensibilität für die Ausweglosigkeit, die angesichts der Totalität des Banns empfunden wird, darzustellen: einmal für das Bedürfnis des moralisch rechten Umgangs unter Menschen und zum zweiten angesichts der Unmöglichkeiten für Adorno selbst, eine Sprache zu finden, die mit der Bannstruktur gebrochen hätte. Das Leben der Menschen scheint für Adorno durch den Bann derart in Frage gestellt zu sein, dass dem Leser seiner Schriften der Verdacht kommen kann, für Adorno sei kein Leben unter diesen Verhältnissen mehr lebenswert. Adorno entwickelt ein sehr starkes Bewusstsein von der Schuld jeglichen einzelnen Lebens, das den Bann, unter dem es steht, fortsetzt und seine Geltung aufrechterhält. 32 Ein Leben, das für sein Überleben unter dem Prinzip der Selbsterhaltung das Prinzip der Herrschaft umsetzt, anderes Leben unterdrückt und allem, einschließlich sich selbst Gewalt und Unrecht antut, ist schuldig, wenn es auch selbst Opfer dieses Prinzips ist. Besonders augenGS 6, S. 174. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird eine ausführliche Interpretation des Schuldbegriffs Adornos vorgenommen, der das utopische Denken weiter kennzeichnen wird.

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fällig wird diese »Schuld des Lebens« für Adorno bei der Beschäftigung mit Auschwitz. »Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewusstsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann.« 33 Die Schuld der einzelnen Lebenden liegt nicht in einem individuellen Versagen gegenüber allgemeinverbindlichen moralischen Maßstäben, woraus auch immer diese ihre Legitimation beziehen könnten, sondern vielmehr in dem bloßen Eingebundensein jedes einzelnen in die Bedingungen der geschichtlichen Welt, in der Unterworfenheit unter den Bann, die ihn selbst wiederum fortsetzt. Etwas als Schuld zu bezeichnen, das in dem Sinne über das Vermögen des Einzelnen hinausgeht, insofern er sich seinen äußeren Bedingungen ausgeliefert glaubt, widerstrebt vielen. Dennoch hat dieser Begriff für das Denken Adornos große Relevanz und seine ungebrochene Berechtigung. Ein Bewusstsein für das Unrecht unter dem Bann zu erreichen, erweist sich für Adorno als conditio sine qua non einer Veränderung der Welt, und das impliziert, das Falsche der bestehenden Welt nicht nur in einer unpersönlichen Struktur, die den einzelnen bestimmt, zu suchen, sondern im gleichen Maß die eigene Beteiligung am Falschen wahrzunehmen und sich selbst einzugestehen. Über dieses Bewusstsein der eigenen Schuld im Ganzen ließe sich für Adorno erst ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, auch und gerade als einzelner mit diesem Bann zu brechen, ihm Widerstand zu leisten, erreichen. Die eigene Schuld mit dem Argument abzulehnen, selbst die Strukturen, die das Unrecht hervorrufen, nicht verursacht zu haben, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein, wäre selbst eine Fortsetzung des Banns, der seine Gewalt aus dem Anschein seiner Notwendigkeit bezieht. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird dagegen versucht, einen Schuldbegriff zu entwickeln, der selbst als kritischemanzipatorisches Instrument des Denkens zu verstehen ist. Dennoch ist diese Schuld, von der hier gesprochen wird, noch kein Akt des Widerstandes, sondern vielmehr nur Bewusstsein von Bann; zwar die Voraussetzung, ihm kritisch zu begegnen, aber keineswegs selbst schon befreiend. Solange von Schuld des Einzelnen in 33

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GS 6, S. 357.

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diesem Sinne gesprochen werden kann, herrscht der Bann noch total. Die Frage, wie dieser Schuld, wie dem Bann zu begegnen sei, hat gerade in ihrem abstrakte Überlegungen sprengenden Charakter größte Relevanz. Adorno ist bei dieser Frage weit davon entfernt, Handlungsanweisungen zu geben oder der Vernunft eine Rolle zuzuschreiben, in der sie die Sicherheit richtiger moralischer Entscheidungen und Handlungen gewährleisten würde. Für Adorno gibt es unter dem Bann keine moralische Sicherheit, keine festen Regeln oder Prinzipien, nach denen das Handeln sicher einzurichten wäre. Vielmehr muss alles unter dem Eindruck der Schuld und des Banns in Frage gestellt, einer radikalen Reflexion ausgesetzt werden. »Darüber [das Böse] entscheiden kann jeweils allein das Bewusstsein, das die Momente so weit und so konsequent reflektiert, wie sie ihm erreichbar sind. Eigentlich gibt es keine andere Instanz für richtige Praxis und das Gute selbst als den fortgeschrittenen Stand der Theorie.« 34 Vernünftige Reflexion ist also unabdingbar, Vernunft aber nicht von vorne herein Garant richtiger Entscheidungen. Adorno kritisiert darum Kants Schriften zum Sittengesetz, die die Verwirklichung des Richtigen als notwendige Folge einer reinen Vernunfteinsicht bestimmen, dem Befolgen des kategorischen Imperativs. Adorno geht es dagegen um die jeweilige, situative Entscheidung, die getroffen und reflektiert werden muss, und keineswegs durch Vernunftgesetze im Vorhinein zu entscheiden ist. Es gibt für ihn angesichts der Schuld und der Eingebundenheit in den Bann keine allgemeinen Regeln, die das Handeln leiten können, sondern gerade die einzelnen Momente und Begegnungen müssen ihre jeweilige Relevanz entfalten und können nicht im Allgemeinen vorentschieden werden. Moralische Sicherheit gibt es unter dem Bann nicht. »Moralische Sicherheit existiert nicht; sie unterstellen wäre bereits unmoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte. Je unbarmherziger die Gesellschaft bis in jegliche Situation hinein objektiv-antagonistisch sich schützt, desto weniger ist irgendeine moralische Einzelentscheidung als die rechte verbrieft. Was immer der Einzelne oder die Gruppe gegen Totalität unternimmt, deren Teil sie bildet, wird von deren Bösen angesteckt und nicht minder, wer gar nichts tut. Dazu hat die Erbsünde sich säkularisiert. Das Einzelsubjekt, das moralisch sich wähnt, versagt und wird mitschuldig, weil es eingespannt in die Ordnung, kaum etwas über die Bedingungen 34

GS 6, S. 240.

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vermag, die ans sittliche Ingenium appellieren: nach ihrer Veränderung schreien.« 35 Adorno steht hier in einem vermeintlichen Widerspruch: Er hält die vernünftige Reflexion, die von der Sache distanziert und in den Bereich allgemeiner Überlegungen führt, angesichts des Schuldzusammenhangs, der unter dem Bann jeden betrifft, für notwendig; keine bloß emotionale und unmittelbare Betroffenheit von der Sache wird ihr gerecht. Gerade die distanzierende Reflexion auf die Sache, die der Komplexität der sich reproduzierenden Bannverhältnisse nachzugehen versucht, ist es, die Hoffnung auf eine Befreiung vom Bann wecken kann, weil nur ihr die Möglichkeit offen steht, die Grenzen desselben aufzudecken, sich antitotalitär in der Totalität zu verhalten. »Das Unmenschliche daran, die Fähigkeit im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ist am Ende eben das Humane, dessen Ideologen sich dagegen sträuben.« 36 Trotz dieser großen Bedeutung, die Adorno dem distanzierendreflexiven Denken zuschreibt, ist er weit davon entfernt, daraus den Schluss zu ziehen, dass einzelne konkrete Begebenheiten letztlich durch allgemeine Gesetze oder Strukturen zu erklären oder konkrete moralische Fragestellungen durch eine allgemeine vernünftige Gesetzlichkeit aufzulösen seien. Für Adorno muss das vernünftig-reflexive Denken im Fluss bleiben, sich jeweils auf seinen Gegenstand einlassen, anstatt ihn bloß abzuleiten oder einzuordnen. Die Chance, die Adorno einem vernünftigen Denken zuschreibt, geht mit ihrer Unsicherheit, ihrer Ergebnisoffenheit einher. Adorno möchte eine Rationalität, die sich selbst treu bleibt, indem sie sich nicht durch selbstauferlegte Schranken – wie die Annahme einer Notwendigkeit der Einrichtung dieser Welt wie sie bisher war – zum bloßen Instrument gesellschaftlicher Machtverhältnisse machen lässt; er möchte eine Rationalität, die ihr kritisches Potential, die Möglichkeit der radikalen Infragestellung, noch auf ihre eigenen Schlüsse anwendet, selbstbesinnlich wäre; er möchte eine Rationalität, die offen ist, sich auf konkrete Dinge, Menschen und Sachverhalte einzulassen, ohne sie schon vorweg bestimmt zu haben, ohne Widersprüche auszuschalten oder von ihnen zu abstrahieren. Doch inwiefern lässt sich, angesichts der Involviertheit jedes 35 36

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Bann – negative Totalität

Denkens in die Bannstrukturen identifizierenden Denkens, überhaupt von einer Chance vernünftigen Denkens im umfassenden Schuldzusammenhang einer ›falschen‹ Welt sprechen? Ich denke, die Chance liegt für Adorno gerade darin, dass ein selbstkritisches und zugleich besinnliches Denken die Möglichkeit birgt, dem Bann darin Widerstand zu leisten, dass es den Ruf nach einer radikalen Veränderung der Welt zum Besseren, den Ruf nach Erlösung vom Bann, zu vernehmen erlaubt, ohne sich der angeblichen Notwendigkeit der Tatsachen, die selbst zur Totalität des Banns zählt, beugen zu müssen. Ein offenes, selbstkritisches Denken verspräche Adorno die Möglichkeit, auf das Versprechen 37 einer besseren Welt einzugehen, sich nach diesem Versprechen zu richten und aus ihm das Potential einer Befreiung von Zwang zu schöpfen Die Frage nach der Schuld bekommt darum bei Adorno eine solche Bedeutung, da Schuld im Spannungsverhältnis konkreter Betroffenheit und allgemeiner Bedingungen steht, diese Spannung aber nicht aufzulösen trachtet, sondern daraus ein Bewusstsein des Unrechts dieser Bedingungen zu schöpfen vermag.

II.2.6. Der gebannte Widerspruch Adorno beweist durchaus ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Betroffenheit seiner eigenen Schriften durch die von ihm behandelte Problematik: Wie kann er gegen die Totalität des Banns anschreiben, in der er doch selbst eingebunden ist? Wie kann es ihm überhaupt möglich sein, Totalität als solche zu thematisieren, wenn er sich doch deren Bann nicht entziehen kann? Ein Motiv Adornos wird hier zentral: Er möchte Widersprüche aufdecken, ohne sie aufzulösen, und er beabsichtigt damit selbst einen Widerspruch gegenüber der Totalität des Banns einzulegen. Sein Werk ließe sich als radikaler Widerspruch gegenüber der Struktur, die ich als Bann bezeichnet habe, verstehen. Es wäre ein Widerspruch, der aufs Ganze zielt. Adorno schreibt davon, die »Totalität immanent zu durchbrechen« 38, indem sie ihrer eigenen Widersprüche überführt Ich benutze hier das Wort »Versprechen«, weil es an späterer Stelle noch von Bedeutung sein wird. Hier soll nur angefügt werden, dass sich dieses Versprechen aus der Beschäftigung mit Leid ergibt. 38 GS 6, S. 17. 37

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würde; ihm ist es ein Anliegen, die Notwendigkeit des Banns als bloßen Schein zu entlarven. Der Widerspruch, den Adorno erhebt, wird bereits darin laut, die Widersprüche des Banns aufzudecken. Er verfolgt damit eine Strategie intellektueller Sabotage und Subversion. Ein innerer Angriff auf das reibungslose Funktionieren der Infrastruktur bestehender Ordnung, der der Hoffnung folgt, sie damit porös zu machen oder gar zum Zusammenbruch zu bringen. Hier ist ein anarchistischer Zug im Denken Adornos auszumachen. Zugleich ist Adorno aber bewusst, wie sehr ein solches Vorhaben gefährdet ist durch das eigene Einbezogensein in die Struktur des Banns. Die Widersprüche des Banns aufzuzeigen, erfolgt selbst noch unter den Bedingungen des Banns. Und so sehr hier eine Intention der Subversion vorliegen mag, so sehr ist sie zugleich gefährdet, durch die Bannstruktur selbst gänzlich integriert, von der enormen Integrationsfähigkeit des identifizierenden Denkens annektiert zu werden. Der Widerspruch ist selbst noch logisches Moment identifizierenden Denkens, insoweit er sich vom Satz des ausgeschlossenen Dritten her versteht. Selbst wo der Identitätsbann auf Widerspruchsfreiheit aus ist, gehört die Denkweise von sich ausschließenden Widersprüchen in seinen Bereich. Ein Denken bzw. Menschen, die aus dem Bann herausgetreten wären, stünden nicht mehr im Widerspruch mit sich selbst. Nicht aber darum, weil die Widersprüche aus der Welt geräumt wären, sondern weil ein Weltverständnis angehoben hätte, das nicht der Identitätslogik gehorchen müsste, welche radikale Differenzen als Widersprüche deuten muss. Außerhalb des Banns verlöre der Antagonismus, der das Einschluss- Ausschluss-Prinzip totalitärer Strukturen auszeichnet, seine Bedeutung. Etwas dürfte es selbst sein und zugleich anders, ohne darum im Widerspruch mit sich zu stehen. »Dem Bewusstsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen: nach ihrem eigenen Maß. Da aber jene Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik misst das Heterogene am Einheitsdenken.« 39

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In diesem Sinn erscheint das Vorhaben Adornos paradox: Dem Bann zu widersprechen, indem seine Widersprüche aufgedeckt werden, fällt selbst unter den Bann, der alles Nichtidentische als Widerspruch nivelliert. So gesehen gewährt die negative Dialektik nicht nur kein Heraustreten aus dem Bann, kein Jenseits vom Bann, sondern birgt sogar die Gefahr, das Bewusstsein der eigenen Gefangenheit unter dem Deckmantel des Widerspruches abzuwiegeln. Doch Adorno spricht diesem Denken dennoch die Möglichkeit zu, unter dem Anspruch ständiger Selbstreflexion, im Bewusstsein der eigenen Schuld eine Grenze der Totalität des Banns aufzuzeigen, die Ahnung einer Erlösung von ihm. Das hier beschriebene Paradox ist als Verweis auf die Veränderungsbedürftigkeit der Welt zu verstehen. Adorno setzt das Zitat in diesem Sinne fort: »Indem es [das Einheitsdenken] auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt. Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.« 40 Der Widerspruch, der Widersprüche aufzeigt, ist in diesem Sinne schon Fortschritt und Widerstand, insofern er ständig zur Selbstreflexion zwingt und durch die Beachtung der Schuldhaftigkeit des Denkens die Grenze des Denkens zieht, die den Totalitätsanspruch des Banns angreifbar macht. Negative Dialektik ist in diesem Sinn Widerspruch gegen die Widersprüche, wie gegen das Primat des Widerspruchprinzips, es verweist in dieser negativen Arbeit auf Erlösung vom Bann, auf einen Zustand, in dem Verschiedenes nicht als Widerspruch unter das Prinzip von Einheit und Herrschaft gezwungen wäre. »Diese [Versöhnung] gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik.« 41

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II.3. Kritik und Negativität II.3.1. Aufriss Das Denken Adornos lässt sich trotz seiner radikalen Negativität als ein utopisches kennzeichnen. Wir legen hier die These zu Grunde, dass sich die utopische Ausrichtung der Philosophie nicht nur trotz ihrer Negativität durchhält, sondern gerade die radikal negative Selbstverortung Adornos auch als Vollzugsmoment eines offenen utopischen Denkens begriffen werden muss. 42 Emil Angehrn hat sich auf eben diese paradox anmutende und doch das Werk Adornos tragende Konstellation von Negativität und Utopie eingelassen, wenn er schreibt: »Sie [die negative Dialektik] erschöpft sich nicht darin, im Negativen zu verharren. Vielmehr will sie sowohl im bestehenden Negativen dessen Anderes wahrnehmen, im geschlossenen Immanenzzusammenhang den Impuls der Transzendenz aufweisen wie für sich selbst das spekulative Moment theoretischer Schau in transformierter Gestalt aneignen. Wenn sie der Erhebung zur Spekulation und dem Umschlag ins Positive widerspricht, so widersetzt sie sich ebenso der Verabsolutierung des negativen und der Dialektik. Der Einspruch gegen Positivierung des Negativen ist nicht nur der Einspruch dagegen, dass das Negieren des Negativen ein Positives sei, sondern auch der Widerstand dagegen, das Negative selbst zum Letzten zu machen.« 43

Mit der Kennzeichnung dieses utopischen Konzepts als Offenes soll zum Ausdruck kommen, dass wir es hier mit einem Begriff der Utopie zu tun bekommen, der nicht als ein teleologisches Denken beDie radikale Negativität Adornos wurde immer wieder als Pessimismus gebrandmarkt. Im Teil Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung wird eine explizite Abgrenzung zu einer pessimistischen Auslegung vorgenommen. Dies gilt es selbst dort aufrecht zu erhalten, wo der Pessimismus selbst als Qualität negativer Dialektik aufgefasst wird, wie z. B.: Barbara Brick/Moishe Postone, Kritischer Pessimismus und die Grenze des traditionellen Marxismus: »Unserer Meinung nach gab es aber auch noch einen weiteren Grund für die Attraktivität der Kritischen Theorie: ihr entschiedener Pessimismus! Durch diesen gewann sie – scheinbar paradox – die ihr eigene spezifische Radikalität der Kritik.«, aus: Sozialforschung als Kritik, Hrsg. W. Bonß und A. Honneth, Frankfurt a. M. 1982, S. 179. 43 Emil Angehrn, Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno, aus: Georg Kohler und Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 268. 42

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trachtet werden soll. Selbst in den Momenten, in denen Adornos Denken den Charakter einer Eschatologie annimmt, kann keinesfalls von einer Philosophie gesprochen werden, die sich von einem Ende her begründet. Vielmehr steht der negativ-utopische Ansatz Adornos in der Tradition eines anfangenden Denkens. Der Begriff der Utopie geht keinesfalls in dem des Telos auf. Wo die Utopie als Ausstehendes zu einer Orientierung im Weltverständnis wird, stellt sie dennoch nicht deren Zweck dar. Die Utopie ist nicht der Grund von Welt als deren Zweck, sondern demgegenüber vielmehr ein ›anderer Anfang‹, wie Heidegger das ausdrücken würde. Utopien sind ein Anderes zur Wirklichkeit, während ein Telos die Welt selbst als Positives setzt. Utopien negieren die Wirklichkeit in ihrer Positivität, das Telos setzt die Positivität. In diesem Sinne sind Utopien immer negativ. Die Warnung Adornos davor, die Utopien auszumalen 44, bedenkt die Gefahr, die darin liegt, Utopie als Zwecke zu begreifen. Adornos grundsätzliche und durchgehende Haltung gegen jede prima philosophia weiß um das Umschlagen solcher Zweck-Gründe in ideologische Legitimationen der Affirmation des Bestehenden. 45 Doch noch in einem spezifischeren Sinne ist bei Adorno von einem negativ-utopischen Denken zu sprechen: Gerade wo Utopien als Aussichten auf ein Anderes zu dieser Wirklichkeit ernst genommen werden, wird dem Weltverständnis ein neuer Maßstab gesetzt, von dem aus das Bisherige zu negieren ist. Im Lichte der Utopie, der möglichen radikalen Andersheit der Wirklichkeit selbst, erweist sich für Adorno die reale Wirklichkeit als eine totale Negativität. Nichts mehr setzt das Bisherige positiv, weder ein Ursprung, noch ein Ziel, sondern das Ganze der bisherigen Welt wird zur Negativität gegenüber der Möglichkeit des Anderen. Die Ausrichtung aufs Utopische nun setzt dieser in Ihrem Licht zur Negativität verwandelten Welt wiederum eine Negation entgegen, den Widerstand gegen diese Totalität des Falschen. Die Negativität wird negiert. In diesem Sinne bezieht sich nun das negativutopische Denken tatsächlich auf ein Ende, nämlich auf das Ende der Geschichte. Doch gerade in diesem radikal negativen Verfahren eröffnet sich allererst die Möglichkeit zur radikalen Veränderung der Welt angesichts der Andersheit der Utopie. Die Welt wird zum Möglichkeitsraum, zum Raum der Veränderung, es kann zum ersten Mal ein wirklicher Anfang gemacht werden. Alle bisherige Geschichte stellt 44 45

Vgl. GS 6, S. 207. Vgl. GS 6, S. 354.

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sich demgegenüber als eine eintönige Vorläufigkeit dar. Wie die bisherige Geschichte in den Bann des Immer-gleichen geriet, wird sie erst dann eigentlich anfangen können, wenn dieser Bann durchbrochen ist; erst wenn sich die Dinge und Menschen ändern dürfen, fängt Geschichte eigentlich an. Die Welt öffnet sich dann gegenüber dem Menschen wie der Mensch gegenüber der Welt. Adorno wählt für diese neue Offenheit den von Hegel entlehnten Begriff der Versöhnung. Im Weiteren werde ich zuerst eine Analyse der Formen und Motive der adornoschen Negativität (3.2.) vornehmen. Eine Abgrenzung von Theunissens Kritik an Adornos Begriff der Negativität als Nichtsein-Sollendes wird dabei den Anfang machen, um dann auf die Erfahrung des Leids als konstitutive Negativitätserfahrung im Lichte utopischer Veränderung zu sprechen zu kommen. Das dem Leid verpflichtete Denken gibt sich bei Adorno selbst die Form eines Denkens in Widersprüchen und wird sich selbst zum Objekt seines Einspruchs, es nimmt die Form eines ›Denkens gegen das Denken‹ an. In einem zweiten Schritt (3.3.) soll das negativ-utopische Denken Adornos innerhalb der Tradition negativistischer Ansätze durch eine Abgrenzung vom metaphysischen Pessimismus Schopenhauers genauer bestimmt werden. Dabei werden wir insbesondere auf den Erfahrungsbegriff Adornos zu sprechen kommen und neben der Erfahrung des Leids auch die ›metaphysische Erfahrung‹ als Movens gerade der utopischen Ausrichtung kritischer Theorie herausarbeiten.

II.3.2. Das negative Vorgehen von Kritik In einem Aufsatz von Michael Theunissen über »Negativität bei Adorno« 46 geht der Autor von der Zweideutigkeit des Wortes ›negativ‹ aus: Zum einen bezeichnet das Wort ›negativ‹ eine Aussage, die durch eine Verneinung eine Bestimmung trifft, im Sinne des ›omnis terminatio est negatio‹. Theunissen nennt diesen Typ des Negativen die »Negativität des Nichtseienden«. Demgegenüber verweist er auf die andere Bedeutung des Wortes ›negativ‹, die er als Negativität des »Nichtseinsollenden« fasst. Diese Fassung des Negativen speist sich aus der Opposition zur Bejahung dessen, was ist; sie ist eigentlich eine Michael Theunissen, Negativität bei Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983, herausgegeben von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt am Main 1983.

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Verneinung oder Widerstand gegen die Affirmation des Bestehenden, wohingegen der erste Begriff von Negativität eine nicht wertende, nur auf Bestimmung zielende Verneinung von positiv Gegebenem darstellt. Der Unterschied zwischen einer Negativität des Nichtseienden und der des Nichtseinsollenden leuchtet ein; wir haben es beim ersten mit einer Negativität zu tun, die nichts mit dem alltäglichen Gebrauch des Wortes ›negativ‹ gemein hat, der etwas als negativ bezeichnet, wenn es als schlecht oder schädlich gekennzeichnet werden soll, sondern mit einer Negativität, die nur eine Bestimmungsmöglichkeit ex negativo meint, die kein Werturteil in sich trägt. ›Ein Hund ist kein Reptil‹ ist eine Bestimmung von Hund ohne ihn hinsichtlich seines Charakters, seiner Nützlichkeit oder der Gefahren, die von ihm ausgehen, wertend zu beurteilen. Die Negativität des Nichtseinsollenden führt dagegen eine wertende Bestimmung mit sich; etwas, das ist, wird nicht nur bestimmt, sondern zugleich auch danach beurteilt, dass es besser nicht sein sollte, es wird als ›Schlechtes‹ verurteilt. Theunissen sieht Adornos Begriff von Negativität im Unterschied zur philosophischen Tradition in der Negativität des Nichtseinsollenden aufgehen. »Demgegenüber ist das Thema Adornos die ontische Negativität des Nichtseinsollenden, des Schlechten, das er nur deshalb ansprechen kann, weil er einen Begriff von Unwahrheit hat, der auf schlechte Wirklichkeit zielt. Natürlich spricht Adorno von dem, was nach dem üblichen philosophischen Sprachgebrauch negativ ist; aber er spricht davon nicht als von einem Negativen oder allein insoweit, als es im Horizont der Negativität des Nichtseinsollenden erscheint.« 47

Der Schwerpunkt auf dem Nichtseinsollenden, den Theunissen bei Adorno feststellt, ist für diese Arbeit sehr wichtig – gerade an dieser Stelle, an der es mir darum geht, den Begriff des Widerstandes bei Adorno näher zu fassen, und zu fragen, ob Widerstand für Adorno möglich sei, wie er es sei, und woher er seine Kraft bezieht. Das Wort Widerstand bezeichnet schon die Gegenwehr gegen etwas, das nicht sein soll, gegen etwas, das ist, aber verändert oder beseitigt werden soll. Widerstand wäre absurd, würde er sich nicht gegen ein als ›Schlechtes‹ Erkanntes oder zumindest so Empfundenes richten. Doch die Frage, wie Adorno ›Schlechtes‹ als ein solches erkennen kann, was ihn soweit aus dem Verblendungszusammenhang reißt, dass es ihm 47

Theunissen, Negativität bei Adorno, S. 42.

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überhaupt möglich wird, ihn selbst zu erkennen, bleibt von Theunissens Unterscheidung unberührt. Die Behauptung, Adornos Begriff von Negativität gehe in dem des Nichtseinsollenden auf, birgt meiner Ansicht nach sogar die Gefahr eines grundlegenden Missverständnisses. Das Missverständnis bestünde darin, Adorno zu unterstellen, er habe einfach den üblichen Begriff von Negativität durch einen anderen ersetzt und bezöge seine ganze Argumentation aus diesem wertsetzenden Begriff von Negativität, ohne ihn selbst wiederum kritisch zu hinterfragen. Dem ist aber nicht so: Adorno bezieht sich auf die verschiedenen Bedeutungen, die die Worte ›Negation‹, ›Negativität‹ und ›negativ‹ an sich haben können, indem er sie in unterschiedlichem Kontext verschieden gebraucht. Die unterschiedlichen Bedeutungen stehen aber selbst in einem Zusammenhang, der sich aus der Sache ergibt. Zu vorschnell erscheint es mir, Adorno zu unterstellen, dass er alle Bedeutungen von Negativität letztlich auf eine, nämlich die des Nichtseinsollenden, zurückführe. Ich möchte hier drei verschiedene Bedeutungen unterscheiden und ihren Zusammenhang aufweisen. Zum ersten das negative Verhalten des Wissens oder der begrifflichen Erkenntnis. Adorno benutzt in diesem Sinn das Wort Negation, wie er es von Hegel kennt, als ein Verfahren, das in der Differenz zum Gegenstand diesen »durchdringt«. »Die Qualifikation der Wahrheit als negatives Verhalten des Wissens, welches das Objekt durchdringt – also den Schein seines unmittelbaren Soseins auslöscht –, klingt wie ein Programm negativer Dialektik als des ›mit dem Objekt übereinstimmenden‹ Wissens.« 48

Diese Bedeutung des Wortes ›negativ‹ gilt nicht nur einer Erläuterung Hegels, sondern auch Adorno selbst versteht die begriffliche Erkenntnis in diesem Sinne als ein negatives Verhalten. Was hier als negativ verstanden wird, enthält kein Werturteil im Sinne eines Nichtseinsollenden, sondern bezeichnet die Spannung und Bewe-

GS 6, S. 162–163. An dieser Stelle paraphrasiert Adorno ein Zitat Hegels aus: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke Band 11, Meiner Verlag Hamburg 1978, S. 285, das lautet: »Auch die Wahrheit ist das Positive als das mit dem Objekte übereinstimmende Wissen, aber sie ist nur die Gleichheit mit sich, insofern das Wissen sich negativ gegen das Andere verhalten, das Objekt durchdrungen und die Negation, die es ist, aufgehoben hat.«

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gung, die sich beim Erkennen zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Objekt ergibt. Negativität meint hier eine Vermittlung. Zum zweiten benutzt Adorno ›negativ‹ in dem Sinne, wie es von Theunissen angesprochen wurde, als Schlechtes oder Falsches. »Er [der Begriff] coupiert, was er selbst ist und was doch unmittelbar nicht sich nennen lässt und ersetzt es durch Identität. Dies Negative, Falsche, zugleich jedoch Notwendige ist der Schauplatz von Dialektik.« 49 Was falsch ist und darum negativ, ist der gewaltsame Zug identifizierenden Denkens. Hier bezeichnet negativ tatsächlich das Nichtseinsollen des Identitätsbanns. Zugleich lässt dieses Zitat schon erahnen, dass dieser Begriff des Negativen mit dem ersten verbunden zu sein scheint. Auf diesen Zusammenhang werde ich gleich näher eingehen. Zum Dritten wird auch Kritik als ein negatives Verhalten beschrieben. »Ist das Ganze, der Bann, das Negative, so bleibt die Negation der Partikularitäten, die ihren Inbegriff an jenem Ganzen hat, negativ. Ihr Positives wäre allein die bestimmte Negation, Kritik, kein umspringendes Resultat, das Affirmation glücklich in Händen hielte.« 50 Kritik richtet sich gegen das Schlechte und Falsche, ist Widerstand gegen den Identitätsbann; man könnte sagen: Kritik ist Negation des Negativen. Sie richtet sich gegen das Negative als Schlechtes, fällt aber nicht damit zusammen. Der Zusammenhang, der sich zwischen diesen drei Bedeutungen des Wortes ›negativ‹ ergibt und mit dem Adorno zu spielen nicht aufhört, lässt sich an der letzten Bedeutung, an Kritik veranschaulichen. Kritik hat bei Adorno die Form negativer Dialektik. ›Negativ‹ ist hier auf zwei Weisen zu verstehen. Zum einen meint es eine Dialektik, die negativ bleibt und sich nicht zu einem Positiven wendet, die nicht zum System wird. Adorno stimmt mit Hegel überein, solange es sich um das »negative Verhalten des Wissens« handelt, doch die »positive Negation der Negation« 51, durch die Hegel schließlich zu einer absoluten Identität gelangt, lehnt er umso entschiedener ab. Adorno kommt es bei der negativen Dialektik vor allem darauf an, die Differenz von Begriff und Gegenstand noch in der Erkenntnis der Gegenstände aufrechterhalten zu können. Negative Dialektik offenbart Wi49 50 51

GS 6, S. 175. GS 6, S. 161. GS 6, S. 163.

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dersprüche, die sie im Gegensatz zu Hegel nicht aufzuheben gedenkt, sie verharrt im Widersprüchlichen und entfaltet damit ihren kritischen Charakter. Zum anderen bedeutet ›negativ‹ aber auch, dass sich diese Dialektik schon als eine Kritik an etwas oder als ein Widerstand gegen etwas versteht. Sie entziffert das Falsche und Schlechte, das Nichtseinsollende, und entledigt es seines Scheins, Notwendiges zu sein. Negative Dialektik, die als Kritik zu verstehen ist, enthält also beide Bedeutungen von ›negativ‹, wie sie oben benannt sind. Sie offenbart auf negativ-begriffliche Weise Widersprüche, die sich darin als Nichtseinsollende entpuppen. Den Begriff von Negativität allein auf den des Nichtseinsollenden zurückzuführen, ist dann aber zu einseitig. Vielmehr entsteht bei Adorno eine gegenseitige Wechselwirkung der verschiedenen Bedeutungen von Negativität: Kritik verfährt negativ im ersten Sinne und offenbart dabei Negatives im zweiten Sinne. Dass Adorno die »Negative Dialektik« als ein Modell des Widerstandes gegen den Bann versteht, ist den Herrschaftsanalysen, die das Leiden an Herrschaft offenbaren, sowie der Aufdeckung von immanenten Widersprüchen in Gesellschaft und Philosophie klar zu entnehmen. Der Aussage Theunissens wäre in dem Sinne zuzustimmen, insofern negative Dialektik gerade in ihrem negativen Vorgehen Widersprüche des identifizierenden Denkens entlarvt, welches dann als Nichtseinsollendes beurteilt wird. Doch das Werturteil 52 über das Nichtseinsollende entspringt nicht nur der formalen negativ-dialektischen Vorgehensweise, denn diese stellt nur eine Weise selbstreflexiver Erkenntnis dar, die Sachverhalte zu entschlüsseln erlaubt. Der Ort, von dem aus Adorno etwas als Schlechtes oder Falsches beurteilen kann, hat seinen Platz außerhalb der Dialektik. Kritik, die sich auch noch so sehr innerhalb dessen befindet, was sie kritisiert, bezieht ihre Kraft und ihr Urteilsvermögen nicht bloß aus der eigenen Methode, sie begründet sich nicht selbst. Die Problematik immanenter Kritik liegt nicht zuletzt darin, dass sie selbst nicht von einem Außerhalb des Identitätsbanns diesen kritisieren kann, sondern nach der Maßgabe identifizierenden Denkens vorgehen muss. Wäre aber keine In diesem Zusammenhang von Werturteil zu sprechen ist missverständlich. Damit ist nicht das Setzen von ethischen Werten gemeint. Es kommt mir aber darauf an, zu betonen, dass sich Adorno mit seinen Aussagen über das ›Schlechte‹, ›Falsche‹, usw. nicht mehr auf ›neutralem‹ Terrain bewegt, sondern eine Sicht auf den Zustand der Welt eröffnet, die ihn hinsichtlich der ›Werte‹ von Menschlichkeit, von Humanität beurteilen lässt.

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Aussicht auf ein Anderes, wäre auch Kritik nicht in der Lage, Verblendung und Schein zu zeigen. »Ganz ohne Wissen von außen freilich, wenn man will ohne ein Moment von Unmittelbarkeit, eine Dreingabe des subjektiven Gedankens, der übers Gefüge von Dialektik hinausblickt, ist keine immanente Kritik fähig zu ihrem Zweck.« 53 Negative Dialektik muss also, um fruchtbar zu bleiben, um ihr Anliegen nicht aus den Augen zu verlieren, für etwas offen bleiben, das sie nicht aus sich selbst erzeugt. Für Adorno handelt es sich hierbei um konkrete Erfahrungen wie Leid und Glück. Das Denken soll diese nicht einfach als unmittelbare hinnehmen, sondern sich reflexiv auf sie beziehen und damit Orientierung gewinnen. »Im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren. Davor weicht das Subjekt auf sich und die Fülle seiner Reaktionsweisen zurück. Einzig kritische Selbstreflexion behütet es vor der Beschränktheit seiner Fülle und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fürsichsein als An und für sich zu supponieren. Je weniger Identität zwischen Subjekt und Objekt unterstellt werden kann, desto widerspruchsvoller, was jenem als erkennendem zugemutet wird, ungefesselte Stärke, und aufgeschlossene Selbstbesinnung. Theorie und geistige Erfahrung bedürfen ihrer Wechselwirkung. Jene enthält nicht Antworten auf alles, sondern reagiert auf die bis ins Innerste falsche Welt. Was deren Bann entrückt wäre, darüber hat Theorie keine Jurisdiktion. Beweglichkeit ist dem Bewusstsein essentiell, keine zufällige Eigenschaft. Sie meint eine gedoppelte Verhaltensweise: die von innen her, den immanenten Prozeß, die eigentlich dialektische; und eine freie, gleichwie aus der Dialektik heraustretende, ungebundene.« 54

In der Figur der Nichtidentität und des Nichtidentischen zeigt sich eine Grenze des identifizierenden Denkens und zugleich dessen totalitärer Charakter. Nichtidentisches ist kein Negatives, weder im Sinne des Nichtseienden noch im Sinne des Nichtseinsollenden. Dem Nichtidentischen kommt in der Philosophie Adornos insofern eine zentrale Stellung zu, weil es eine Art Jenseits der Grenze – auch der kritischen Selbstbegrenzung – des Denkens darstellt. Dem identifizierenden Denken stellt es sich als Negatives dar, weil es sich dessen Absolutheitsanspruch entzieht. Es führt die Differenz von Begriff und Gegenstand mit sich, muss aber nur dann als Negatives erscheinen, wenn es vom Anspruch totaler Identität, Differenzen in übergeord53 54

GS 6, S. 183. GS 6, S. 41–42.

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neten Systemen aufzuheben, überschattet wird. Es bezeichnet Einzelheit, die nicht in ihrem Begriff aufgeht und sich damit der Verfügbarkeit des identifizierenden Subjekts entzieht. Unter dem Bann stellt es sich durch seine Resistenz gegen letztgültige Bestimmbarkeit als Widerspruch dar. Doch solange es als Widerspruch angesehen wird, meldet sich der Identitätsbann, der es noch in dieser Form zu fassen versucht. Adorno vollzieht durch seine Aufmerksamkeit auf das Nichtidentische und dessen Verstümmelung unter dem Primat der Identität schon einen Bruch mit der totalen Geschlossenheit des Identitätsbanns. Ist die Aufmerksamkeit auf Nichtidentisches gerichtet, steht der sich Besinnende damit noch keineswegs außerhalb des Banns, doch bricht diese Besinnung und Aufmerksamkeit zugleich den Bann, indem es auf ein Jenseitiges zum Bann verweist. Diese Besinnung auf Nichtidentisches ermöglicht ein Verständnis, von woher Adorno Kritik üben kann: Die Kritik ist sowohl immanent aus einem Innerhalb des Identitätsbanns, der auch Adornos Denken noch bestimmt, ihm seine Logik und Sprache aufzwingt, als auch von etwas angeleitet, das sich schon außerhalb des Banns befindet, von Erfahrungen des Besonderen, die sich einer Fassung oder Rückführbarkeit auf ein Übergeordnetes entziehen. Das Nichtidentische stellt einen Widerspruch für identifizierendes Denken dar, der nicht aufgelöst werden kann und damit eine Wunde im Anspruch auf Identität darstellt. Zugleich meint es etwas, das für sich allein ein Besonderes ist, das als solches erfahrbar wäre und ist, solange es nicht nach dem Maße seiner Identifizierbarkeit gemessen wird. Kritik ist innerhalb dessen, was sie kritisiert, und bedarf für die Kritik der Aussicht auf ein Außen. »Diese Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das Scharnier der negativen Dialektik. Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbegrifflichen im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich führt. Aus dem Schein des Ansichseins des Begriffs als einer Einheit des Sinns hinaus führt seine Selbstbesinnung auf den eigenen Sinn.« 55

Widerstand ermöglichend und widerständig ist die Besinnung auf Nichtidentisches und damit die ganze negative Dialektik, die des Bruchs von Subjekt und Objekt gedenkt, nur, soweit auch ein Bewusstsein der Gewalt und des Unrechts herrscht davon, dass Nicht55

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Kritik und Negativität

identisches unterm Bann noch als Widerspruch und Negatives gilt. Man könnte sagen, dass es ein Schmerz ist, der die Besinnung auf Nichtidentisches begleitet, wo es noch als Nicht-Identisches gedacht werden, noch unter der Vorgabe des Identitätsbanns betrachtet werden muss. Zugleich könnte man das Nichtidentische als ein Versprechen auf eine Erlösung vom Bann verstehen, denn wie schmerzhaft die Besinnung auch sein mag, sie richtet sich zugleich auf etwas, das im Kern schon ungebannt zu sein vermag, schon Jenseits des Bannes ist. 56 Somit stellt die Thematisierung des Nichtidentischen zum einen den Vollzug eines Widerstandes dar und ist kritisch, zum anderen aber steht das Nichtidentische auch ein für die Utopie, in der es nicht länger negativ wäre. Bei der Frage, woraus sich der Widerstand Adornos speist, werde ich mich nun der Erfahrung des Leidens widmen. Auch hier werden wir auf die enge Verflechtung von Leid bzw. Schmerz und Erlösung stoßen.

II.3.3. Erfahrung des Leidens Dass etwas nicht sein soll, ist ein Urteil, das den Anschein erweckt, in den Bereich der Moral oder Normativität zu fallen. Es betrifft die Richtigkeit bzw. Falschheit von Handlungen und Weisen des Zusammenlebens. Die Grundlage für eine solche Wertung wird häufig in allgemeinen Prinzipien oder in Eigenschaften, die in der Natur des Menschen verankert seien, gesucht. Das Nichtseinsollen, wie es bei Adorno zum Ausdruck kommt, hat aber einen anderen Charakter. Nicht ein Prinzip begründet Adornos Widerstand gegen die gegebenen Verhältnisse, sondern das konkrete Leid von Menschen. Würde man von einer Natur des Menschen ausgehen, so kann nur solches als ein Leiden, wie wir es hier verstehen wollen – nämlich als von Menschen produziertes und damit vermeidbares Leid –, angesehen werden, was im Widerspruch zu dieser Natur steht. Alles andere wäre Schicksal. Wird beispielsweise die Ungleichheit in Besitztümern und Machtmöglichkeiten einfach der Unterschiedlichkeit zwischen Menschen, die ihnen von Natur aus zukommt, zugerechnet, so kann der Hungernde zwar noch bemitleidet werden, aber sein Leid wird gleichsam als Folge seiner Unfähigkeit angesehen, es erscheint 56

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als sein Schicksal, an dem nun mal nichts zu ändern sei. 57 Das bringt wohl auch der Satz Benjamins zum Ausdruck, den Adorno in der Negativen Dialektik an einer Stelle zitiert, die mit der Zeile »Leid physisch« überschrieben ist: »Solange es noch Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.« 58 Es ist ein Mythos, dass das Leid an gesellschaftlichen Herrschafts- und Produktionsverhältnissen schicksalhaft festgeschrieben sei. Doch im Leiden selbst liegt die Bestrebung, es aufzuheben, Leiden drängt zu einer Veränderung des Zustands, an dem gelitten wird. Leiden kann nur dann hinlänglich ernst genommen werden, nur dann wird ihm nicht aus dem Weg gegangen, wenn dieser Verweis auf die Erlösung von Leid, die noch in der unmittelbarsten physischen Form, dem Schmerz, klar zu vernehmen ist, nicht durch den Schein von Notwendigkeit verstellt ist. In diesem Sinne hat Leid auch eine erkenntnisleitenden Funktion als Entschleierung des Verblendungszusammenhangs. 59 Dass Leid verhindert oder abgeschafft werden soll, heißt nicht, dass es von vorneherein als ein veränderbarer Zustand erkannt wird. Es verhält sich bei Adorno genau umgekehrt: Die Erfahrung von Leid ist es, die offenbart, wie falsch der Schein von Notwendigkeit ist; sie offenbart, dass Zustände veränderbar sein sollen, obgleich sie notwendig erscheinen. Trotz des Anscheins der Notwendigkeit des Banns, ist es gerade das Leid unter dem Bann, das auf Veränderung drängt. Die Erfahrung von Leid ist ein Angelpunkt, der es Adorno erlaubt, überhaupt auf Veränderung der Welt so energisch zu insistieren; erst die Erfahrung von Leid gibt die Sicherheit für Widerstand, der unter dem Bann beständig davon bedroht bleibt, selbst seine Berechtigung zu verlieren, indem er zur bloßen Fortsetzung von Herr-

Das Leid nicht auf die Unfähigkeit sondern auf ein Eigenverschulden des Leidenden zurückzuführen, bezeichnet zwar kein schicksalhaftes Leid, aber nimmt dem Betrachter des Leidenden doch die Verantwortung, sich für ein Ende des Leids zu engagieren. Denn durch den Gedanken der Eigenverschuldung erscheint die Möglichkeit der Gesellschaft, der anderen Menschen, das Leid aufzuheben, unfruchtbar. Wenn es nur die Sache des einzelnen ist, ob er ein gutes Leben führen kann oder nicht, scheint es den anderen so, als könnten (und sollten) sie daran nichts ändern. In diesem Sinne kann auch der Gedanke der Eigenverschuldung zu einer Isolierung der Individuen führen, und ihr Leid erscheint dann für andere unabänderlich. 58 GS 6, S. 203. 59 Vgl. Raymond Geuss, Leiden und Erkennen (bei Adorno), aus: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Hrsg. Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2005, S. 41–52. 57

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schaftsverhältnissen wird, indem er selbst unter den Identitätsbann integriert wird. »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte … Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, dass Leid nicht sein, dass es anders werden solle … Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv von ihr sich lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird.« 60

Angesichts des Anscheins der Schicksalhaftigkeit oder Notwendigkeit des Banns erscheint auch konkretes Leid oft schicksalhaft. Um diesem Schein nicht zu verfallen, ist es wichtig, die Forderung nach Veränderung vom Leid selbst her zu beziehen und nicht vom Anschein der Möglichkeit einer Veränderung. Unter dem Identitätsbann erscheint der Gedanke einer radikalen Veränderung der Welt zum Besseren als ein ›unrealistisches Wunschdenken‹, und der Zustand der Welt erweckt den Schein, dass sie sich nicht im Ganzen ändern, dass das Leid, das besteht, nur modifiziert, nicht beseitigt werden kann. Demgegenüber wäre ein Ernstnehmen des Leidens schon ein Widerspruch gegen diese Zuschreibung, wenn dabei nur ernst genommen wird, dass kein Leidender sich mit dem Bestehen seines Leids abfinden kann, sondern in seinem Leiden schon auf die Aufhebung desselben abzielt. Die Frage, ob der Leidende denn überhaupt in der Lage sei, sich ›realistisch‹ zu verhalten, ist zynisch. Die Frage müsste zumindest für Adorno anders lauten: Wie kann denn eine Realität befürwortet werden, wie können denn Verhältnisse und Strukturen angenommen und fortgesetzt werden, in und an denen Menschen leiden? Und diese Frage betrifft die ganze ›Gattung‹. Diese Frage offenbart die Radikalität des Veränderungswillens, die Adorno in seinem kritischen Denken gegenüber dem uns Gegebenen, dem Bestehenden, gegenüber der Realität einnimmt. An einem Beispiel sei nun das Gesagte und die Einsprüche, die sich dagegen erheben, erhellt. Bedenkt man das Leid an Tod und Sterben, so liegt die Unveränderlichkeit der Tatsache, dass Menschen sterben, auf der Hand. Nicht Schmerz und Trauer gilt es aus der Welt zu schaffen, so als wären die Menschen göttlich oder gar nie geboren. Dennoch stellt 60

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auch dieses ›natürliche Leid‹, das Leiden an Tod und Sterben, ein Nicht-sein-Sollendes dar, das als solches Hinweise abgeben kann, wie ein humaner Umgang mit der Sterblichkeit auszusehen hätte. Nur ein kleiner Schritt ist es nämlich, sich mit der allgemeinen und dem einzelnen gegenüber gleichgültigen Feststellung zu begnügen, die Menschen stürben nun mal, bis zur gleichgültigen Tötung von Menschen, denen ihr Ende doch eh in die Wiege gelegt sei. Hat sich die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod und dem Leben der Menschen in einem solchen Maße gesteigert und pervertiert, wie es in unvorstellbarem Maß in den Lagern des Nationalsozialismus geschah, »heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod.« 61 Wird das Leiden an Tod und Sterben, wie es viele Menschen als Furcht, Schmerz und Trauer konkret durchleben, ernst genommen und nicht in der Gleichgültigkeit allgemeiner Aussagen dementiert, so kann der Horizont einer Veränderung davon ausgehen. Denn, wenn Menschen auch sterben müssen, wäre es das Anliegen, das Leiden daran zu mindern. Auch medizinisch-technischer Fortschritt hat hier seine Bedeutung; doch es geht noch um Grundlegenderes: Aus Sicht Adornos ist das Verhältnis der Menschen zu ihrem eigenen Tod und dem ihrer Mitmenschen noch geprägt von den gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen, unter denen sie schon im Alltag leiden. »Je weniger Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod. Daran dass er sie buchstäblich in Dinge verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, der Verdinglichung inne, der von ihnen mitverschuldeten Form ihrer Beziehungen.« 62

Das Schreckliche am Tod ist für Adorno also auch wesentlich durch die reale Entfremdung der Menschen begründet. Ist das Sterben auch natürlich, so ist die Beziehung der Menschen zu ihrer eigenen Natur soweit verstümmelt, dass der Tod bereits das Leben überschattet hat, sie niemals richtig gelebt zu haben vermeinen. Für einen humanen, leid-verringernden Umgang mit dem Tod bedarf es demnach für Adorno zuerst einer Rückgewinnung des Lebens selbst. Nimmt man das Leiden am Sterben in dem Sinne ernst, dass es in seinem Nichtsein-Sollen erfahren wird, kann daraus zumindest ex negativo die Einsicht gewonnen werden, wie ein gutes Leben aussehen müsste. Das Leiden ernst zu nehmen hieße dann aus Sicht der kritischen 61 62

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Theorie auch, der Hoffnung auf ein Versöhnen mit der eigenen Sterblichkeit Raum zu geben. Die Bedeutung der Erfahrung des Leids für die kritische Theorie wird hier in zwei Funktionen ersichtlich: Leid als Nicht-sein-Sollendes eröffnet die Möglichkeit zu einer radikalen Kritik unserer Lebensverhältnisse bis hin zu den scheinbar natürlichen Bedingungen derselben. Damit nimmt die Erfahrung des Leids eine entmythifizierende Funktion in der negativen Dialektik ein. Zugleich ist dem Leiden aber nicht nur diese kritisch-erkenntnisleitende Funktion inne, sondern es gibt zugleich utopische Perspektiven auf ein Ende des Leids selbst und damit sozusagen als Negativ den Zustand eines geglückten Lebens frei. Die Erfahrung des Leids ist für Adorno also kritisch-utopisch zu verstehen. Es geht hierbei nicht bloß um die abstrakte Auseinandersetzung mit Leid, sondern explizit um konkretes Leiden, das die Möglichkeit zu radikaler Kritik eröffnen kann, wo man es nur schonungslos ins Bewusstsein dringen lässt. Die Konkretheit ist hier in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einmal in dem Sinn, dass das Leiden eines Einzelnen an einer Sache nicht aufgerechnet werden kann gegen die Funktionalität oder die Wohlfahrt einer Mehrheit, sondern schon als einzelnes die Schlagkraft hat zu zeigen, dass die Belange des Einzelnen und die der Allgemeinheit als Gesellschaft nicht gegeneinander auszuspielen sind, bzw. dass eben diese antagonistische Verfassung von Einzelnem und Allgemeinen selbst leidstiftend und somit zu verändern sei. Zum zweiten wird klar, dass der allgemeine Begriff ›Leiden‹ augenfälliger als viele andere Begriffe leer bleibt gegenüber dem, was Leiden konkret jeweils bedeutet. Über Leiden im Allgemeinen zu sprechen ist immer unzureichend. Leiden scheint zu unmittelbar den Einzelnen zu betreffen, als dass ein allgemeiner Begriff dem gerecht werden könnte. Hier ist das Unrecht und die Unzulänglichkeit des allgemeinen Sprechens über das konkrete Leid als Anmaßung und Gleichgültigkeit spürbar. Somit macht die Thematisierung des konkreten Leidens auch die aporetische Ausgangssituation der negativen Dialektik konkret ersichtlich, die versucht mit Begriffen etwas zu erreichen, das nicht in Begriffen aufgeht. Gerade diese Aporie gilt es aber im Sinne Adornos nicht aufzuheben, nicht zu überformen oder zu relativieren, sondern sie ist im Gegenteil gerade als Aporie fest- und auszuhalten. Gerade für die Theorie gilt die Forderung, sich ihrer Grenzen bewusst zu sein. Die Aufgabe der theoretischen Reflexion läge für Adorno zum großen Teil gerade darin, sich im begrifflichen Umgang mit der Welt die Unzulänglichkeit des begrifflichen FassungsverKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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mögens ins Bewusstsein zu rufen. Das, was der Begriff meint, das Nichtbegriffliche und Besondere, bleibt ein Anderes zum Begriff. Von konkretem Leid zu sprechen, bedarf der Sensibilität für diese Differenz zwischen dem Begriff ›konkretes Leid‹ und dem, was er meint. Die Zuschreibung ›konkret‹ hat hier den Sinn, sich von einer allgemeinen theoretischen Setzung von Leid überhaupt abzugrenzen und darauf hinzuweisen, dass Menschen täglich an Sachverhalten leiden, die verändert werden könnten. Dieser Ausdruck weist auf etwas hin, das sich im Begriff nicht ausreichend fassen lässt, wo der Wunsch, es gefasst zu haben, schon ein Unrecht gegenüber dem darstellen würde, was er meint. Wenn bei Adorno die Rede auf das Leiden kommt, ist damit die Unzulänglichkeit des Begriffs immer schon mitgemeint. Die Auseinandersetzung mit Leid wird hier also auch zum Statthalter eines Denkens, das sich seiner eigenen Aporien selbstkritisch zuwendet. Es ist Ausgangspunkt für radikale Gesellschaftskritik wie auch für eine schonungslose Selbstkritik. Das Nichtidentische ist dabei strukturell mit dem Motiv des Leidens verwandt: Beide stellen Begriffe von etwas dar, das über seine begriffliche Fassung hinausgeht, ein anderes bleibt, nicht identifizierbar ist. Und beide teilen das Schicksal, dass ihnen solange Unrecht angetan wird, bis der Versuch, sie auf ihren Begriff zu reduzieren, aufgegeben wird. Leid und Nichtidentisches bringen beide die Grenzen begrifflichen Fassungsvermögens zum Ausdruck und stellen bei Adorno Grenzbegriffe der begrifflichen Auseinandersetzung mit Welt dar; sie sind Grenzbegriffe seiner eigenen theoretischen Methode, der negativen Dialektik. Negative Dialektik, die Adorno zwar als ein widerständiges Denken gegen den Bann, aber zugleich unter die Bedingungen des Banns geschlagen ansieht, hat am Leiden eine fruchtbare Grenze: Der Begriff des Leidens verweist auf etwas, das nicht mehr gebannt wäre: Einerseits, indem die Insuffizienz des Begriffs beim Leiden so augenfällig ist, andererseits, weil ein jedes Leiden schon auf das Ende des Leidens gerichtet ist, weil es eine Welt anstrebt, in der es kein Leiden gibt. Damit kann die Erfahrung des Leids einen Widerstand begründen, oder vielmehr aufweisen, dass Widerstand keiner Begründung bedarf angesichts einer Welt, an der Menschen leiden. Darum möchte ich mich auch gegen einen Satz, wie er bei Theunissen im oben erwähnten Aufsatz geschrieben steht, wenden:

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»Ob der subjektive Begriff seiner Sache gerecht werden und ob die Sache ihren objektiven Begriff, d. h. ihre Bestimmung, erfülle, glaubt Adorno beurteilen zu können, ohne auch nur zu fragen, von welchem Standpunkt aus das Urteil zu fällen wäre.« 63

Der Standpunkt für ein solches Urteil ergibt sich nämlich bei genauerem Hinsehen aus der aporetischen Situation selbst. Die Methode der immanenten Kritik, der Adorno nachgeht und die Theunissen anscheinend nicht in aller Radikalität teilen möchte, erweist das Ungenügen der Begriffe gemäß deren eigenen Anspruch. In diesem Sinne verfährt die kritische Theorie streng immanent. Doch zugleich ist diese Immanenz kritischen Denkens bereits dem Bruch der Immanenz zu verdanken, der sich durch die Bewusstmachung der Aporie identifizierenden Denkens erreichen lässt. Die Thematisierung des Leidens und des Nichtidentischen halten diese aporetische Wunde des Denkens offen und geben damit den Standpunkt ab, Urteile im obigen Sinn fällen zu können. Das Leiden bezeichnet ein Nichtseinsollendes und meint damit eine Figur des Bruchs mit dem geschlossenen Gefüge unserer Weltverhältnisse; es gibt das Fundament einer radikal immanenten Kritik ab. Doch hier muss auch der zweite Zug genauer betrachtet werden, insofern das Nichtseinsollende des Leids zugleich einen Verweis auf ein Jenseits des Leids enthält. Allein schon weil Leiden in der Lage ist, auf etwas anderes zu verweisen, weil ihm eine Intention-auf innewohnt, hat es einen positiven, einen schaffenden Charakter. Es verweist auf eine bessere Welt und entfaltet das Potential, sie mittels Widerstand zu schaffen oder wenigstens auf sie zuzugehen. Diesen durchaus utopischen Gehalt des Leidens muss man auch dem Widerstand im Sinne Adornos zusprechen. Begriffe wie Versöhnung oder auch Erlösung, die Adorno oft benutzt und die positiv zu beschreiben er sich an manchen Stellen nicht scheut, erlauben, etwas von der bejahenden Kraft aufzuzeigen, die im Widerstand, der dem Leid entspringt, liegt. Vom Leid auszugehen meint für Adorno, von der Erlösung und Versöhnung aus einen Maßstab für Denken und Handeln zu setzen. Die Unbestimmtheit dieser Begriffe, die ansonsten nur negativ zu bestimmen wären, liegt selbst an dem gewaltsamen Zug, den Bestimmungen an sich haben, solange das Denken und Sprechen

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Theunissen, Negativität bei Adorno, S. 52.

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noch im Identitätsbann befangen bleibt. Wäre bestimmt, was und wie genau Erlösung und Versöhnung auszusehen hätten, läge darin schon wieder der Samen einer Ideologie, die Menschen nach ihren Zwecken zurichten und unterdrücken würde. Es geht bei dem zu Schaffenden um eine offene Zukunft, die in ihrer Offenheit allen Einzelnen in ihrer Besonderheit Raum zu geben vermöchte, ohne sie zu zwingen. Der Standpunkt, der in der Thematisierung von Leid gewonnen werden kann und radikalkritische Urteile ermöglicht, ist also ein immanent-transzendenter bzw. ein negativ-utopischer. Dass Leid ein Ausgangspunkt für Widerstand sein kann und durchaus den positiven Verweis auf eine offene, bessere Zukunft mit sich führt, kann auch bei einem der wichtigsten ›Stichwortgeber‹ für Adornos Denken abgelesen werden, bei Walter Benjamin. In dem 1940 geschriebenen Text »Über den Begriff der Geschichte«, versucht Benjamin nichts weniger als »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten« 64. Damit ist nichts weniger gemeint als »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« 65, den bisherigen Verlauf der Geschichte, die eine Geschichte der Unterdrückung und Herrschaft war, zu unterbrechen und ein geschichtliches Bewusstsein für das Jetzt einer revolutionären Tat, die der Geschichte der Unterdrückung absagt, zu schaffen. Geschichte wird hier selbst als ein Leidzusammenhang verstanden und aus diesem Verständnis heraus wiederum eine Position immanent-transzendenter Kritik gewonnen. Die von Benjamin intendierte »Jetztzeit«, die Gegenwart, die ihre Kraft zur Revolution aus der Vergangenheit schöpft und gleichwohl mit der Geschichte der Herrschaft bricht, entspricht in vielem dem Begriff des ›wahren Fortschritts‹ 66 bei Adorno. Für beide ist es grundlegend wichtig, den Schein einer Notwendigkeit von Geschichte und der in ihr sich vollziehenden Herrschaftsstrukturen, abzulegen. Doch dies gelingt nicht durch das Ausblenden von Geschichte, sondern nur durch die Wandlung des historischen Blicks. Das Austreten aus der geschichtlichen Welt, wie es bei Adorno explizit im Fortschrittsaufsatz benannt wird und bei Benjamin im Begriff des Messianischen mit-

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, aus: Walter Benjamin, Kairos. Schriften zur Philosophie, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konersmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 316. (Im Weiteren wird aus diesem Werk folgendermaßen zitiert: Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte.) 65 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 321 f. 66 vgl. III. Teil. 64

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klingt, ist selbst keine Geschichtsvergessenheit, sondern ein Widerstand gegen die Geschichte, wie sie bis dato war: die Geschichte der Stärkeren und der Sieger im Kampf um Herrschaft. Und auch in der Frage, wie und von welchem Standpunkt aus sich die übermächtig erscheinende Geschichte gegen den Strich bürsten lässt, ergeben sich aufschlussreiche Parallelen zwischen Adorno und Benjamin. Benjamin wird im XII. Stück des hier behandelten Aufsatzes sehr deutlich: Er kritisiert die Sozialdemokratie, die die revolutionäre und kämpferische Schlagkraft durch ihren Fortschrittsbegriff einschläferte. Sie betäubte den Willen zur Befreiung der Menschheit durch ihre Betonung des notwendigen Fortschritts, der in der Befreiung zukünftiger Generationen münden sollte. Die Gegenwärtigen waren darin nur Statthalter der Späteren, ihr Wille und ihre Kampfbereitschaft erschien gleichgültig gegenüber der Notwendigkeit des sich selbst vollziehenden Fortschritts. Demgegenüber setzt Benjamin die Wut und das Engagement, das die Gegenwärtigen in der »Jetztzeit« durch die Einsicht in das in der Geschichte produzierte und noch die Gegenwart bestimmende Leid erreichen. »Sie [die Sozialdemokratie] gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.« 67

Sich solche Sätze ins Gedächtnis zu rufen, auch wenn sie in ihrem martialischen Gestus abschreckend wirken, ist für die Frage, wie das Messianische bei Benjamin zu verstehen sei, überaus nützlich. Der Einfluss, den Benjamin auf Adorno ausübte und der sich in Begriffen wie Erlösung und Versöhnung in der Spannung zur Geschichte niederschlägt, ist allgemein bekannt und muss an dieser Stelle nicht eigens nachgewiesen werden. Für beide Figuren, für das Messianische bei Benjamin wie auch für die Utopie bei Adorno, ist aus dem eben Zitierten zu entnehmen, dass es sich nicht um ein notwendiges Telos der Geschichte handelt. Die mit dem Unterton eines Vorwurfs vorgebrachte Behauptung, bei Adorno und Benjamin handele es sich um ein eschatologisches Denken, bleibt inhaltsleer oder geht gar an der Sache vorbei, bedenkt man dabei nicht, wie sehr diese Begriffe in

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eine geschichtliche Auseinandersetzung einbezogen bleiben, wie zerbrechlich und gefährdet sie durch den herrschenden Diskurs sind, gegen den sie sich wenden. Sich auf die Frage einzulassen, wie Erlösung oder Versöhnung bei Adorno zu denken seien, bleibt einem späteren Kapitel vorbehalten. An dieser Stelle geht es mir lediglich darum, in der Auseinandersetzung mit Benjamin zu zeigen, wie sehr die Aufmerksamkeit auf das in der Geschichte und unter dem Identitätsbann produzierte Leid das Vermögen hat, über sich hinaus auf ein Anderes, einen besseren Zustand der Welt zu verweisen und Widerstand gegen den Bann zu evozieren. Den Blick auf die Unterdrückung und das Leid in der Geschichte zu richten, hat für Benjamin eine erstens archäologische Kraft, insofern sie auf diejenigen verweist, die in der Geschichtsschreibung nicht erwähnt werden und namenlos blieben, die Unterdrückten und Ausgebeuteten, und zweitens eine Kraft zum Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse, indem das geschichtliche Leid die Notwendigkeit der Unterdrückung, die sich bis heute fortsetzt, in Frage stellt. »Die Tradition der Unterdrückung belehrt uns darüber, dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.« 68 Dieser Satz ist 1940 geschrieben, der Ausnahmezustand, von dem Benjamin hier spricht, ist das nationalsozialistische Regime und der Zweite Weltkrieg. Anhand seines Blickes auf das geschichtlich fortwährende Leid erreicht Benjamin eine Perspektive, die es ihm erlaubt, den Faschismus nicht nur als einen Auswuchs anzusehen, der der abendländischen Tradition widerspricht, sondern diese ›Ausnahme‹ als die Regel der Geschichte zu entlarven. Eine solche Sichtweise erlaubt es ihm, die Schlagkraft seiner Kritik zu erhöhen, den Widerstand gegen die Unterdrückung und Unmenschlichkeit nicht nur partiell zu verstehen, sondern als einen Widerstand gegen die ganze Tradition der Unterdrückung. Das Leid in der geschichtlichen Welt verweist Benjamin auf die Möglichkeit, eine ganz andere Welt, einen ganz anderen Begriff von Geschichte entfalten zu können. Er fährt fort: »Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht

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Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 317.

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zuletzt darin, dass seine Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen.« 69

Wenn der Kampf gegen die Unterdrückung und das Leid, das der Faschismus heraufbeschwor, als der Kampf entziffert werden kann, der in der Geschichte immer geführt worden ist – und stets verloren ging – dann erscheint der Faschismus nicht mehr als eine Ausnahme 70, sondern als Regel der Geschichte. Ist diese Regel der Geschichte, die Unterdrückung und Grausamkeit, erkannt, erscheint der ›wirkliche Ausnahmezustand‹ : eine Welt, die radikal mit der bisherigen Geschichte gebrochen hat, indem sie nicht mehr auf Unterdrückung basiert. Und erst diese Perspektive des wirklichen Ausnahmezustands lässt einen Widerstand entstehen, der radikal genug wäre, sich nicht mehr mit dem Leid abzufinden, das als Stufe und Norm im Laufe des Fortschritts angesehen wurde. Die Ähnlichkeiten zwischen Adorno und Benjamin in ihrem Bezug zur Geschichte liegen auf der Hand. Beide betrachten sie als eine Kontinuität von Herrschaftsstrukturen, die Leid erzeugen. Beide zielen auf einen anderen Umgang mit der Geschichte, der sie nicht als notwendige deklariert. Und beide versuchen diese veränderte Sicht, die erst zu Widerstand und Handlungsfähigkeit führen könnte, durch die Anschauung des in der Geschichte produzierten Leids ins Leben zu rufen. In diesem Leid ist für sie ein Versprechen auf eine andere, bessere Welt enthalten. Mir kam es auf den vorangehenden Seiten darauf an, darzustellen, woher Adorno zu seinen Urteilen über die Schlechtigkeit der Welt sowie die Möglichkeit eines Widerstandes kommt. Die Antwort lautete: aus der Erfahrung von Leid. Leid ist Begründung genug, Widerstand gegen das zu leisten, das dieses Leid erzeugte. Zugleich bedeutet es selbst schon eine Form von Widerstand, das Leid nicht auszublenden oder durch ›Übergeordnetes‹ zu rechtfertigen. Dadurch entsteht ein Riss im Schein der Notwendigkeit des Banns. Doch zugleich liegt im Leid auch der Verweis und die Hoffnung auf eine andere und bessere Welt.

Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 317. Und hierbei muss aus heutiger Perspektive dazu gesagt werden, dass eine solche Aussage nicht die Einzigartigkeit dieses Verbrechens in Zweifel zieht, sondern seine Wurzeln beleuchten will.

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II.3.4. Dialektik im Widerspruch Im vorigen Teil habe ich versucht zu erörtern, welche Bedeutung die Beachtung konkreten Leids für die Dialektik Adornos hat, und dass sich Adornos Denken von ihm her als Widerstand verstehen lassen muss. Nun soll das ›Wie‹ des Widerstandes bei Adorno näher geklärt werden. Wie versteht sich die negative Dialektik, wie vollzieht sich Adornos Widerstand und welches Selbstverständnis liegt ihm zu Grunde? Adorno kennzeichnet Dialektik einmal als den »ins Bewusstsein gedrungenen Bruch von Subjekt und Objekt« 71. Indem Dialektik diesen Bruch aufdecken kann und als negative Dialektik nicht versucht ist, ihn im Sinne der Identitätsphilosophie zu schlichten, wendet sie sich schon gegen den Anspruch identifizierenden Denkens, dem ein solcher Bruch zuwiderläuft. Zugleich weiß Adorno, dass nicht der Bruch selbst schon eine Befreiung aus der Bannstruktur identifizierenden Denkens darstellen kann, denn ein unüberbrückter Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, der jede Verbindung und Erfahrung ausklammern müsste, erzeugt selbst Leid. Der unversöhnte Bruch zwischen Subjekt und Objekt gehört selbst in die Widersprüchlichkeit schlechter Realität. Negative Dialektik widerspricht dieser Widersprüchlichkeit im Identitätsbann auf zwei Ebenen. Sie widerspricht dem Anspruch der Widerspruchslosigkeit identifizierenden Denkens, indem sie dessen eigene Widersprüche offenbart. Desgleichen widerspricht sie den realen, gesellschaftlichen Widersprüchen, die sie als falsch kennzeichnen kann, weil sie Leid hervorrufen, und ruft nach deren Versöhnung. »Tatsächlich ist Dialektik weder Methode allein noch ein Reales im naiven Verstande. Keine Methode: denn die unversöhnte Sache, der genau jene Identität mangelt, die der Gedanke surrogiert, ist widerspruchsvoll und sperrt sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung. Sie, nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlasst zur Dialektik. Kein schlicht Reales: denn Widersprüchlichkeit ist eine Reflexionskategorie, die denkende Konfrontation von Begriff und Sache. Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruches willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese.« 72

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Methode und Realität zeigen auf die zwei Sphären, in denen sich Kritik bewegt: 1. Negative Dialektik ist darum nicht allein eine Methode, weil sie nicht bloß der Organisation des Gedankens dient, sondern im Wesentlichen aufmerksam auf die Dinge und Menschen, auf die Gegenstände des Denkens gerichtet bleibt. Die »Sache« ist es, welche die Dialektik antreibt, nicht die Systematik des denkenden Verfahrens. In dem Wort ›unversöhnt‹ lässt sich die Aufmerksamkeit Adornos für das Leid wieder erkennen, das ein Ausgangspunkt und Triebfeder seiner Untersuchungen ist. Als unversöhnte Sache fällt diese nicht mit ihrem Begriff zusammen, sie widerspricht ihm durch das reale Leid, das in keiner Deutung aufzugehen vermag. Die Sache selbst ist widerspruchsvoll, nicht zuletzt, weil sie real und wirklich ist, aber zugleich falsch, u. a. im Sinne der Falschheit des Leids. Dieser Widersprüchlichkeit vermag ein identifizierendes Verfahren keine Rechnung zu tragen. Das identifizierende Denken räumt Widersprüche aus der Welt, indem es sie durch eine Reduktion aufs Denken als reine Methode nivelliert. Negative Dialektik hingegen widerspricht dem Identitätsanspruch des Denkens, indem sie nicht aufgibt, den realen Sachverhalten nachzudenken, auch wo sie widersprüchlich sind. 2. Obgleich die Realität der unversöhnten Sache von Adorno in keiner Weise in Abrede gestellt wird, ist die Dialektik, die deren Widersprüchlichkeit zu zeigen vermag, selbst nicht einfach ein Reales. Negative Dialektik mitsamt der Kritik und dem Widerstand im Sinne Adornos ist Denken, Reflexion von Erfahrenem. Die Widersprüchlichkeit einer Sache lässt sich nur durch die Reflexion auf ihren Begriff feststellen. Die denkende Besinnung, gerichtet auf Reales, geht über diese Realität hinaus und findet darin den Ort, die Realität, wie sie ist, zu kritisieren. Sie ist in diesem Sinne utopisch. Negative Dialektik kritisiert, indem sie die Realität mit dem Denken konfrontiert und das Denken mit der Realität. Sie verzeichnet einen Widerspruch zwischen Denken und Realität, der die Widersprüchlichkeit beider erst offen legt. Das Schlechte und Widersprüchliche der Realität erweist sich nur für ein Denken, das auch anderes denken kann, als das, was schon ist. Dass ein Denken schlecht ist, erweist sich wiederum erst angesichts einer Realität, der es nicht entspricht. Kritik ist immanent, insofern sie weder über die Realität noch über das Denken hinaus kann, es selbst gesellschaftlich bedingt und von der Identitätslogik bestimmt bleibt. Sie geht aber zugleich über den Bann hinaus, indem sie sich reflektierend in den Widerspruch Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Totalität und Utopie

zwischen Denken und Realität stellt, und in diesem Widerspruch noch das Versprechen auf eine echte Entsprechung beider entdeckt, das sowohl auf eine Veränderung der Dinge nach dem Maß der Ideen, als auch des Denkens in einer unverstellten Erfahrung der Gegenstände verweist. Der Widerspruch wird hier also in dem Sinne einer Aporie fruchtbar gemacht, die sich als immanent-transzendente, negativ-utopische Struktur verstehen lässt, die gerade in der radikalen Versenkung in die ausweglos geschlossenen Verhältnisse falscher Totalität diese zu transzendieren in die Lage käme.

II.3.5. Denken gegen das Denken Kritik darf weder das Denken noch die Sache aufgeben, um einer echten Entsprechung zwischen beiden nachzugehen. Positivismus käme für Adorno einer solchen Aufgabe des Denkens gleich, das sich selbst zum bloßen Werkzeug herabwürdigte, Nachfragen zugunsten des reibungslosen Ablaufs gedanklicher Gymnastik aufgäbe. 73 Ein Denken, das mehr zu Wege bringt als zu registrieren, ein Denken, das über das Gegebene hinaus nach dem Möglichen und Wünschenswerten fragt, ist nötig, damit es sich als Widerständiges verstehen kann. Dennoch darf sich der Denkende nicht von der Welt, den objektiven Sachverhalten abkapseln und in ein System fliehen. Die Anerkennung des Vorrangs des Objekts bestimmt die Sachhaltigkeit des Denkens und mithin des denkenden Subjekts. Ein solches Denken, das sich weder mit der Katalogisierung von Gegebenheiten begnügt, noch sich zu einem autistischen Gedankenkomplex verschließt, muss sich überraschen lassen können von dem, was ihm begegnet, und zugleich das ihm Begegnende über seine bloße Erscheinung hinaus befragen. Ein solches Denken wäre autonom, nicht weil es nicht mehr auf die Dinge angewiesen wäre, die es denkt, sondern weil es Fragen an sie zu stellen in der Lage wäre, die weder schon in deren Erscheinung beantwortet sind, noch sich bloß durch die Form logischen Denkens ergeben. »In gewissem Betracht ist die dialektische Logik positivistischer als der Positivismus, der sie ächtet: sie respektiert, als Denken, das zu Denkende, den Gegenstand auch dort, wo er den Denkregeln nicht willfahrt. Seine Analyse

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Vgl. GS 3, S. 42.

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Kritik und Negativität

tangiert die Denkregeln. Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen. Die Armatur des Denkens muß ihm nicht angewachsen bleiben; es reicht weit genug, noch die Totalität seines logischen Anspruchs als Verblendung zu durchschauen.« 74

Ein Denken, das gegen sich selbst denkt, ist keineswegs eines, das sich in seiner Selbstreflexion verschanzen würde. Adorno beschreibt hier im Gegensatz dazu ein Denken, das sich selbst in der Welt verortet. Es lässt sich soweit auf die ihm begegnenden Begebenheiten ein, dass es selbst nicht vor Veränderung gefeit ist. Im lebendigen Kontakt zu den Dingen, Menschen und zur Natur kann sich kein Denken auf seine Selbstgewissheit verlassen, es lässt sich von seinen Gegenständen überraschen und vermag über sie zu staunen. Diese Offenheit gegenüber den Gegenständen kommt nicht durch bloße Rezeptivität zustande, das Denken gibt sich in seiner Spontaneität nicht preis. Dennoch ist es eines, das sich selbst durch die Widersprüchlichkeit in den Erfahrungen in Frage stellen lässt, sich selbst reflektiert. Selbstreflexion und Offenheit gehen hier Hand in Hand. Offenheit meint dabei immer auch ein Aus-sich-heraustreten des Denkens oder eine Selbstüberschreitung: »Das Gegen-sich-selbst-Denken – ein Motiv, das bei Adorno unter dem Titel der Selbstreflexion der Dialektik gefasst wird – beinhaltet die Unreglementiertheit des Gedankens, und damit wird gerade das Sich-selbst-Übersteigen des Denkens zum Prüfstein einer negativen Dialektik.« 75 Doch gerade darin nimmt es wesentlich eine Stellung in der Immanenz der Welt ein, gewinnt einen Ort. Die Einsichten in die Bedingtheit und Veränderbarkeit des Denkens bedürfen der Reflexion auf sich selbst, geben Einsicht in die Situiertheit des Denkens, darin, dass ein jedes Denken von einer bestimmten Position in der Welt ausgeht, nicht jenseits von Raum und Zeit stattfindet, sondern seinen Ort hat. Es wird von einem bestimmten Menschen gedacht, gehört in einen geschichtlichen Zusammenhang und in eine Umgebung, die es beeinflusst. Auf diese Bedingtheiten zu reflektieren, erlaubt es, sich seines ›Ortes‹ bewusst zu werden. Zugleich kann

GS 6, S. 144. Thomas Clemens, Dialektik im Konjunktiv. Überlegungen zur Verwendungsweise von Sprache in Theodor W. Adornos negativer Dialektik, aus: Philipp Stoellger (Hrsg.), Sprachen der Macht. Gesten der Er- und Entmächtigung in Text und Interpretation, Würzburg 2008, S. 163.

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Totalität und Utopie

solche Reflexion nur geschehen, wenn man bereit ist, sich Welterfahrungen gegenüber zu öffnen, die noch überraschen können und nicht im Vorhinein in die Gleichförmigkeit gewohnter Erklärungen eingeordnet werden. Ein Denken, das sich in der Welt verortet, ist per se kritisch gegenüber dem Anspruch identifizierenden Denkens. Wo der Identitätsbann sich formiert, indem er das Gedachte im Denken aufzulösen trachtet, das Denken zur logischen Form reduziert, und den gesellschaftlichen Zwang als natürliche Notwendigkeit überformt, ist dieses Denken, das sich in der Selbstreflexion seines Ortes und seiner Zeit bewusst ist, ein Bruch. Weil es sich als eines versteht, das einen besonderen Ort in der Welt einnimmt, subvertiert es den Anspruch auf die adaequatio des Denkens mit seinem Gegenstand. Es zerstört durch das Bewusstsein seiner eigenen Kontingenz die Vorstellung der Notwendigkeit und weiß um die Unauflöslichkeit des Besonderen im Ganzen. Und dennoch weiß es noch um seine geschichtliche, logische und gesellschaftliche Eingebundenheit in den Identitätsbann, den es subvertiert. Denken gegen das Denken ist eine prägnante Formulierung Adornos für das, was an anderer Stelle immanente Kritik heißt. Durch das, was ich hier Verortung genannt habe, lassen sich zweierlei Eigenschaften kritischen Denkens aufzeigen: Zum einen ein Einschränken – im negativen Sinn als Beschränkung des totalitären Anspruchs identifizierenden Denkens, im positiven als Einnahme eines Orts oder Standpunkts. Zum anderen ein Sich-Öffnen, sowohl gegenüber Erfahrungen mit Gegenständen, als auch gegenüber der Veränderbarkeit des Denkens und der Welt. Ein Denken, das gegen sich selbst zu denken in der Lage ist, reicht auch immer schon über sich selbst hinaus. Es denkt gegen sich selbst, indem es das Denken selbst zum Gegenstand seiner Reflexion macht und dessen Grenzen und Widersprüche anhand des zu Denkenden offenbart. In der Kritik des Denkens durch das Denken, in der Absteckung seines Geltungsbereichs ergibt sich zugleich eine Offenheit gegenüber den Phänomenen der Welt, die zuvor durch den totalisierten Anspruch des Denkens verdeckt blieb. Die geschichtlich-gesellschaftliche Bedingtheit des Denkens zu erkennen, ermöglicht erst einzugestehen, dass die Welt und die Dinge auch anders gedacht werden könnten, sie ermöglicht mithin die Perspektive eines anderen Umgangs der Menschen mit ihresgleichen und der Natur. Das Denken denkt gegen sich, indem es sich nicht der eigenen Gesetzlichkeit unterwirft, sondern sich noch diese zu kritisieren bereitfin82

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Exkurs und Zusammenfassung: Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung

det, und denkt über sich selbst hinaus, indem es durch Kritik ein verändertes Denken und eine veränderte Welt in Aussicht stellt. Negative Dialektik richtet sich kritisch auf ihren eigenen Geltungsbereich, erkennt sich selbst noch als Teil des Identitätsbanns, weist aber zugleich über ihn hinaus, indem sie dessen Grenzen und dessen Schein offenbart. »Dialektische Vernunft folgt dem Impuls, den Naturzusammenhang und seine Verblendung, die im subjektiven Zwang der logischen Regeln sich fortsetzt, zu transzendieren, ohne ihre Herrschaft ihm aufzudrängen: ohne Opfer und Rache. Auch ihr eigenes Wesen ist geworden und vergänglich, wie die antagonistische Gesellschaft. Freilich hat der Antagonismus so wenig seine Grenze an der Gesellschaft wie das Leiden. So wenig Dialektik auf Natur als universales Erklärungsprinzip auszudehnen ist, so wenig doch sind zweierlei Wahrheiten nebeneinander aufzurichten, die dialektische innergesellschaftliche und eine gegen sie indifferente. … Nichts führt aus dem dialektischen Immanenzzusammenhang hinaus als er selber. Dialektik besinnt kritisch sich auf ihn, reflektiert seine Bewegung; sonst bliebe Kants Rechtsanspruch gegen Hegel unverjährt. Solche Dialektik ist negativ.« 76

Kritik als negative Dialektik stellt keine Alternativen zum identifizierenden Denken bereit, sondern sie verändert das Denken, indem sie es verortet. Die geschichtliche und gesellschaftliche Bedingtheit, sowie die Angewiesenheit des Denkens auf ein nicht mit ihr zu Identifizierendes, die Sache, lassen den Schein der Notwendigkeit sowohl der logischen Apparatur als auch der Verfassung der Welt zerplatzen. Das Denken wird seiner Erhabenheit und seines totalitären Anspruchs entkleidet, bekommt damit aber einen Ort im Zusammenhang der Dinge und Menschen. Die Verortung des Denkens ermöglicht einen Standpunkt, von dem aus Nichtidentisches nicht mehr als Gefahr wahrgenommen werden muss.

II.4. Exkurs und Zusammenfassung: Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung 77 Zusammenfassend kann nun der Charakter der Negativität bei Adorno in einer exemplarischen Abgrenzung vom Pessimismus darGS 6, S. 145. Ein inhaltlich weitgehend mit diesem Unterkapitel übereinstimmender Text wurde von mir im Rahmen des 92. Schopenhauer-Jahrbuchs veröffentlicht. Vgl.: Jochen

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gestellt werden. Es gilt dahingehend, Adornos negativistischen Ansatz durch eine Abhebung vom metaphysischen Pessimismus Schopenhauers genauer zu kennzeichnen und darin das bisher Entwickelte auf den Punkt zu bringen. Darüber hinaus wird ein weiterer Zentralbegriff Adornos, der in der Diskussion meist nur marginal verhandelt wird, der der metaphysischen Erfahrung, seine Würdigung erfahren.

II.4.1. Die negativistische Ausgangslage Adornos berühmter Satz, »das Bewusstsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt« 78, kann als eine Grundformel seiner Philosophie angesehen werden. 79 Er drückt prägnant und zugleich bildlich die Spannung aus, die Adornos Denken bestimmt: Es sieht sich eingebunden in eine Totalität des Falschen (das negative Ganze), und zugleich weiß es von diesem schlechten Ganzen nur durch den Begriff eines Anderen (von einem Jenseits dieser Totalität), das sich durch eine »versprengte Spur« im Falschen abzeichnet. Der zitierte Satz findet sich im Zusammenhang einer kritischen Absetzung von der Willensmetaphysik Schopenhauers. Dieser wird vorgeworfen, die Negativität des Ganzen zu verabsolutieren, d. h. die reale Totalität des Falschen zu einem metaphysischen Prinzip zu erheben und dadurch die Spuren des Anderen auszublenden. Dass Adorno Schopenhauer dennoch viel näher ist, als er einzugestehen bereit war, scheint unzweifelhaft. 80 Gerade deshalb jedoch verdient Gimmel, »Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung«, aus: Matthias Kossler und Dieter Brinbacher (Hrsg.), Schopenhauer-Jahrbuch für das Jahr 2011, Würzburg 2012. 78 GS 6, S. 370. 79 Georg Kohler legt eine Interpretation eben dieses Satzes vor, von dem er sagt, dass er »Adornos Verfahren wie in der Nussschale« (S. 9) enthalte. Vgl. Georg Kohler, Wozu Adorno. Über Adornos Verfahren, Motiv und Motivation, aus: Georg Kohler und Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 9–27. 80 Vgl. dazu Lore Hühn (Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos. In: Interpretationen der Wahrheit. Hg. v. G. Figal, Tübingen 2002. Im Folgenden »Hühn, S.«.) und Dieter Birnbacher (Schopenhauer und Adorno – philosophischer Expressionismus und Ideologiekritik. In: Schopenhauer im Kontext. Deutsch-pol-

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Adornos Abgrenzung vom metaphysischen Pessimismus besondere Aufmerksamkeit. Durch die Konfrontation von Adorno und Schopenhauer versprechen wir uns eine wechselseitige Beleuchtung zweier negativistischer Theorien 81, die – das sei vorausgeschickt – bis in die Details der Gedankenführung übereinstimmen und doch in einen fundamentalen Gegensatz treten: Dem metaphysischen Nihilismus Schopenhauers stellt Adorno einen negativistischen Utopismus entgegen. Zunächst möchte ich nicht bloß einen einleitenden Aufriss dieses Teils (a.–f.) geben, sondern zugleich einen Abriss dessen, was ich als die wesentliche Gemeinsamkeit beider Autoren ansehen, deren negativistische Ausgangslage:

a.

Das Denken in Selbstwidersprüchen angesichts einer Totalität des Falschen

Eine augenfällige Gemeinsamkeit verbindet schon auf den ersten Blick die Philosophie Schopenhauers und die Adornos: Beide sehen sich zu einer radikal negativen Diagnose menschlicher Lebenswirklichkeit genötigt, die sie auf eine fatale Verfassung des Ganzen zurückführen. Sie verorten ihr Denken dabei jeweils im Widerspruch zu dieser ›Totalität des Falschen‹. Daraus ergibt sich eine spezifische Form der Argumentation, die hier zu Anfang als Gerüst der weiteren Arbeit bloß in Stichpunkten skizziert werden kann: 1. Beide Autoren sehen ihr Denken eingebunden in einen totalen Zusammenhang, dem dieses Denken seinem Anspruch nach widerspricht. 2. Der Widerspruch des Denkens gegenüber der Totalität ergibt sich erst durch das Bewusstsein von Totalität, die diesem zu einem Skandalon wird.

nisches Schopenhauer-Symposium 2000, Hg. v. D. Birnbacher, A. Lorenz, L. Midonski, Würzburg 2002, S. 223. Im Folgenden »Birnbacher, S.«). 81 Den Begriff des »Negativismus« greifen wir zur gemeinsamen Kennzeichnung der Philosophien Adornos und Schopenhauers auf. Er wird sich im Weiteren durch die inhaltliche Entwicklung der Untersuchung rechtfertigen. (Vgl. zu diesem Begriff Michael Theunissen, Negativität bei Adorno. In: Adorno-Konferenz 1983. Hg. v. L. v. Friedeburg, J. Habermas, Frankfurt a. M. 1983 (im Weiteren »Theunissen, S.«) und Ders., Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Frankfurt a. M. 1991.). Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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3.

4.

5.

6.

b.

Damit tritt das Denken in einen Widerspruch mit sich selbst, da es als Teil der Totalität deren Vollzugsmoment darstellt und sich dennoch auf ein Jenseits dieser Totalität bezieht. Im (Selbst-)Widerspruch des Denkens erweist sich die Totalität als ein Negatives im normativen Sinn. Es ist dem Denken ein ›Nicht-Sein-Sollendes‹. Aus der normativen Negativität des Ganzen ergibt sich der Anspruch auf ein der Totalität enthobenes (transzendentes) SeinSollendes. Anspruch und Verfassung des Denkens stehen damit in einem Widerspruch, der eine Gedankenführung vorgibt, die sich in paradoxen Formulierungen wie der »Wille, der sein Nichtwollen will« 82 bzw. das »Denken, das gegen sich selbst denkt« 83 äußert.

Leid und Schein als Grundbestimmungen des Ganzen

Die hier bloß formale Bestimmung des Negativismus als eines Denkens in Selbstwidersprüchen bedarf eines inhaltlichen Moments, das den Maßstab liefert, normative Urteile über das Ganze fällen zu können. Dieser Maßstab ergibt sich aus der Erfahrung des Leids. Sowohl von Schopenhauer als auch von Adorno wird die unaufhörliche Reproduktion des Immergleichen, des Leidens, als eine Form schlechter Unendlichkeit 84 interpretiert und damit als Produkt eben jener Totalität bestimmt, der sich das Denken zu entziehen trachtet. Das ›perennierende Leid‹ überhaupt als solches erkennen zu können, setzt wiederum voraus, dass das Bewusstsein den ›Schleier‹ lüfte, der das Leiden ins Kleid des Notwendigen hüllt. Andernfalls wäre es nicht als Schlechtes zu erkennen, sondern gäbe sich dem Bewusstsein als das faktisch Positive. Die Totalität des Leids erweckt den Anschein, das Schlechte sei das Positive, einzig Mögliche. Erst ein Denken – wie dasjenige Schopenhauers und Adornos –, das den Scheincharakter der Totalität erkennt und damit die Möglichkeit eines Anderen erweist, vermag auch dem Leid, das ihr entspringt, gebührend Rechenschaft zu leisten. Dass das Ganze als Schlechtes (normative Negativität) beurteilt werden kann, setzt voraus, dass es zuvor des 82 83 84

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Vgl. Hühn, S. 143. Adorno, GS 6, S. 144. Hühn, S. 149.

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Scheins seiner Notwendigkeit entkleidet wird, es als Falsches begriffen wurde. Doch diese Entschleierung der Totalität als Schein ist wiederum nur durch die erfahrbare Negativität des konkreten Leids möglich, die auf ein Ende des Leids leibhaftig verweist und damit den Schein der Notwendigkeit des Leids konterkariert. Leid und Schein werden zu den beiden untrennbar miteinander verwobenen Bestimmungen des Ganzen, das sich damit als Schlechtes und Falsches erweist. Negativ ist es in einem normativen Sinn, insofern es Leid hervorbringt, und seinem Wahrheitswert nach, insofern es scheinhaft ist. Für beide Autoren ist das Ganze das negative Falsche als Schein und das falsche Negative als Leid.

c.

Metaphysische Erfahrung als Grundlage negativistischer Theorie angesichts des falschen Ganzen

Leid und Schein als wechselseitige Bestimmungen des Ganzen stellen allerdings eine Zirkelstruktur dar, die die Frage aufwirft, wie ein darin befangenes Denken sich dennoch soweit der Totalität des Falschen entzieht, dass es zur Einsicht derselben gelangen kann. Können Leid und Schein als totale Bestimmungen des Ganzen überhaupt erkannt werden ohne den Begriff eines Wahren und Guten? 85 Schopenhauer und Adorno teilen nicht bloß diese gemeinsame Problematik, sondern auch die bislang kaum beleuchtete Antwort darauf: Beide rekurrieren auf ein Außen und Jenseits des falschen Ganzen, auf einen emphatischen Begriff von Wahrheit, der ihnen nicht durch den Gedankengang allein zukommt, sondern sich einzig anhand konkreter Erfahrungen ergibt, welche zugleich Transzendenzerfahrungen darstellen, die den Bannkreis alles Daseienden überschreiten. In Anlehnung an die Negative Dialektik werde ich diese als »metaphysische Erfahrungen« 86 kennzeichnen. Sie machen den bislang unterschätzten Nukleus negativistischer Denkansätze aus: Das Andere wird im geschlossenen Immanenzzusammenhang konkret erfahrbar. Martin Seel (vgl. Adornos Philosophie der Kontemplation. Frankfurt a. M. 2004) hat auf die positiven Momente hingewiesen, die Adornos Philosophie implizit begleiten. Problematisch ist dieser Hinweis einzig dann, wenn darüber vergessen wird, dass diese »positiven« Momente durch die Negativität der Kritik nicht verdrängt werden, sondern als Versprechen ihrer selbst doch immer auch entzogen bleiben und damit den Motor der negativen Methode darstellen. 86 Vgl. GS 6, S. 369 ff. 85

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d.

Das falsche Ganze bei Schopenhauer und Adorno

Für Schopenhauer ist das Ganze zum einen dann negativ, wenn es als das Ganze der Erscheinungen (Welt als Vorstellung) begriffen wird, das durch unzählige Formen und Leiber zerfurcht ist und deren wesentliche Identität im Willen durch das principium individuationis verdeckt bleibt. Ihm ist das Ganze scheinhaft in den Erscheinungen, soweit deren wesenhafter Grund nicht erkannt wurde. Doch auch in einem normativen Sinn wird ihm das Ganze zum Falschen bzw. Schlechten, insofern jedes Dasein – als Objektivation des Willens – notwendigerweise leidet. Von der Notwendigkeit des Leids kann – obgleich das auf den ersten Blick der obigen These zu widersprechen scheint – bei Schopenhauer mit aller Emphase gesprochen werden: Leben lässt sich überhaupt nur denken als ein Leiden, insofern der sich darin objektivierende Wille gegen sich selbst gerichtet ist, stets auf Grenzen stößt und nur Mangel ernten kann. Paradoxerweise – und hier ergibt sich die Bestätigung der obigen These – ist die Notwendigkeit des Leids aber zugleich durch den Scheincharakter der Vorstellungswelt bedingt. Es ist das notwendige Produkt eines Scheins, nämlich der Erscheinung des Willens in seinen Objektivationen. Wo das Bewusstsein jedoch Einsicht in den wahren Grund der empirischen Welt gewinnt, erwächst ihm durch das Konzept der Willensverneinung zugleich die Möglichkeit, sich der notwendigen Reproduktion des Leids zu entziehen, sich frei gegenüber den notwendigen Gesetzen der Erscheinungswelt zu verhalten. Dieser negative Freiheitsakt durchbricht Schein und Leid der Erscheinungswelt. Diese Erkenntnis des wahren Grundes aller Erscheinungen ist auf die Erfahrungen des Leibes und des Mitleids unmittelbar angewiesen. Bei Adorno ist die Rede vom falschen Ganzen sprichwörtlich geworden. Das Verhältnis von Schein und Leid lässt sich klar mit Schopenhauers Konzeption parallelisieren: Auch für Adorno stellt das Leid ein Produkt antagonistischer Verhältnisse (vergleichbar dem notwendigen Antagonismus egoistischer Daseinsformen) dar, die in der Wirklichkeit (empirischen Welt) nicht aufhören sich zu objektivieren. Doch schon hier muss eine Abgrenzung vorgenommen werden: Da, wo das Leid für Schopenhauer metaphysisch notwendig wird, aber dennoch scheinhaft ist angesichts der Identität des Willens als Ding an sich, kehren sich für Adorno die Positionen ins Gegenteil: Das Leid ist das real gewordene Produkt eines Scheins, doch gerade der Schein der Notwendigkeit des Leids ist das, wodurch Leid ›schick88

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salshaft‹ reproduziert wird. Für Schopenhauer ist Leiden Produkt der Erscheinungen und darum selbst scheinhaft aber notwendig, für Adorno ist es das Produkt eines Scheins und scheint darum notwendig zu sein, beweist aber gerade in seiner Objektivität, dass es ›notwendigerweise‹ anders sein soll. Wir können hier schon die Kluft erahnen, die den negativistischen Utopisten Adorno vom negativistischen Pessimisten Schopenhauer trennt, obgleich sie auf dem gleichen Fundament fußen.

e.

Das radikale Nein zur Welt als Akt immanenter Transzendenz – ›Bewusstsein der Unmöglichkeit um der Möglichkeit willen‹

Doch lassen wir von diesem keineswegs marginalen Unterschied für einen Moment ab, dann kann man durchaus sagen, dass sich beide Autoren zur gleichen Bestandsaufnahme menschlicher Existenz gezwungen sehen, die sich darin ausspricht, »dass angesichts einer sich selbst entfremdeten Welt, die uns Menschen so feindlich wie nur irgend vorstellbar begegnet, uns einzig die Hoffnung auf ein Neinsagen zu dieser Welt noch bleibt, – ein Nein, das in seiner äußersten Konsequenz und durch diese hindurch die Aussicht auf eine solche Erfahrung gewährt, welche uns der Immanenz von Zerfall und Leere entkommen sein lässt.« 87 Schopenhauer ist eine wenn nicht utopische, so doch transzendente Aussicht auf ein Jenseits des falschen Ganzen nicht abzusprechen, so sehr dieser Verdacht durch das Eingangszitat geschürt wurde. Es gilt, die Totalität immanent zu durchbrechen und damit die Möglichkeit eines Transzendenten erst aufscheinen zu lassen. Das Neinsagen zur Welt macht die gemeinsame Gangart beider Gedankführungen aus und stellt sie in ihrer Aussicht dennoch in einen Gegensatz: Adorno verschreibt sich der utopischen Perspektive auf ein ›Miteinander des Verschiedenen‹, während Schopenhauers Willensverneinung auf eine Auflösung in letzter Identität zielt. Für beide bleibt das Motiv zentral, dass gerade die bewusst gewordene Unmöglichkeit eines Ausbruchs aus dem falschen Ganzen die Möglichkeit birgt, den Zwang des Ganzen zu brechen. Beispielhaft spricht sich das im Satz Adornos aus: »Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er [der Gedanke] noch begreifen um der Möglichkeit 87

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willen.« 88 Dieser paradoxe Anspruch an das Bewusstsein ist Ausdruck negativistischer Theorie, die ihr Bewegungsgesetz im Selbstwiderspruch findet. Das Denken bleibt selbst dort, wo es sich negativ auf das Ganze bezieht, doch dessen Vollzugsmoment und reproduziert es notgedrungen. Nur da, wo das Bewusstsein seine Befangenheit und Ohnmacht eingesteht, erreicht es die radikale Negativität, die den Geltungsanspruch des Denkens soweit einschränkt, dass ein Anderes denkbar wird. Willensverneinung und negative Dialektik meinen jeweils solche Formen des Bewusstseins der Unmöglichkeit um der Möglichkeit willen. Das bedeutet jeweils eine Öffnung des Denkens durch dessen Selbstbeschränkung angesichts metaphysischer Erfahrungen.

f.

Verzweiflung und Resignation

Hoffnung und Verzweiflung sind aufs Engste miteinander verflochten, wenn wir die Radikalität des Negativismus ernst nehmen. Was bei Schopenhauer im Begriff der Resignation zum Platzhalter für eine gelungene Einkehr der Willensverneinung in den Willen als Ding an sich wird, kommt bei Adorno in gebrochener Form zum Ausdruck: Eindeutig grenzt er sich von einer Hypostasierung der Verzweiflung als verabsolutiertes Prinzip ab. »Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit. So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen.« 89 Trotz dieses eindeutigen Vetos gegen eine Verabsolutierung der Verzweiflung darf daraus nicht geschlossen werden, Adorno wolle die negative Daseinsanalyse relativieren. Das Gegenteil ist der Fall, sein Einwand richtet sich gegen die Hypostasierung der »objektiven Verzweiflung« 90 als Form einer Flucht des desperaten Bewusstseins, das dem Fehlschluss verfällt, Verzweiflung »garantiere bereits […] das Dasein des hoffnungslos Entbehrten, während doch Dasein

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GS 4, S. 283. GS 6, S. 395 f. Ebd., S. 306.

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zum universalen Schuldzusammenhang wurde.« 91 Vielmehr geht es ihm um ein unbeschwichtigtes Sich-Einlassen auf die Objektivität der Verzweiflung, die er sich nicht scheut zum Träger einer Ontologie der Geschichte zu stilisieren. »Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte hindurch, die der Verzweiflung. Ist sie aber das Perennierende, dann erfährt das Denken jede Epoche, und zuvor die eigene, von der es unmittelbar weiß, als die schlimmste.« 92 Wir werden am Ende der Untersuchung näher auf die Frage und Bedeutung der Verzweiflung eingehen.

II.4.2. Erfahrung Wie bereits erwähnt, steht die negativistische Verfahrensweise beider Autoren in Abhängigkeit von konkreten Erfahrungen. Auf einen ersten Blick erweist sich dabei vor allem das Leid als ein zentrales Element sowohl der negativen Dialektik als auch der Willensmetaphysik. 93 Doch in einem noch weitreichenderen und der Erfahrung des Leids erst Geltung verschaffenden Sinn bilden Erfahrungen den Ausgangspunkt einer kritischen Wendung und Weiterentwicklung traditioneller metaphysischer Konzepte. Es lässt sich sowohl bei Adorno als auch bei Schopenhauer von einer ›Erfahrungs-Metaphysik‹ sprechen. Dieter Birnbacher hat in seinem Aufsatz zu Adorno und Schopenhauer eigens darauf hingewiesen, dass beiden Autoren eine eigentümliche Stellung in der Philosophiegeschichte zukommt, insofern sie eine explizit interessengeleitete und an real-gesellschaftlichen Fragen ausgerichtete Philosophie betrieben hätten. 94 Obgleich er den Ebd., S. 365. GS 11, S. 598. 93 Vgl. dazu Mirko Wischke, Die Geburt der Ethik. Schopenhauer – Nietzsche – Adorno, Berlin 1994. Wischke verweist darauf, dass Adorno moralisches Handeln aus einem spontanen physischen Impuls erkläre und parallelisiert ihn darin mit Schopenhauers Mitleidsethik. Diese Parallele ist nicht zu bestreiten und soll auch in dieser Arbeit verfolgt werden. Hier soll es jedoch darum gehen, die Erfahrung des Leids selbst systematisch in der negativistischen Theorie zu verorten, was es notwendig macht, sie in den Rahmen dessen zu stellen, was Adorno »metaphysische Erfahrung« nennt. Erst durch die Radikalität dieser Erfahrungen, die das empirisch Erfahrene über sich hinaustreiben, findet das negativistische Verfahren zur bewussten Anerkennung des Abscheus gegenüber dem Leid und damit zur Moralität. 94 Birnbacher, S. 225. 91 92

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missverständlichen Titel einer »Erfahrungswissenschaft« zur Kennzeichnung der gemeinsamen Methode wählt, weiß Birnbacher doch darum, dass die Autoren von einem »umfassenden Erfahrungsbegriff ausgehen, der neben der Erfassung des sinnlich Gegebenen Erwartungen, deutendes Verstehen und affektive Besetzungen mit einschließt« 95 und zum Ziel hätten, das »Ganze und Allgemeine aller Erfahrungen zu adäquater Darstellung zu bringen.« 96 Dennoch weist das Konzept von Erfahrung bei beiden Autoren auch über diese Bestimmung hinaus. Es geht ihnen keinesfalls nur darum, eine adäquate Darstellung des Ganzen »über den Weg einer Vielzahl disparater Einzelerfahrungen« durch eine »deskriptivistische Methodik« 97 zu erreichen, sondern vielmehr sprengen sie den Rahmen bloßer Deskription anhand spezifischer Erfahrungen, die sie zum Ausgangspunkt eigener metaphysischer Reflexion machen; mehr noch, metaphysische Erfahrungen werden für beide Philosophen selbst zu konstitutiven Bestandteilen metaphysischen Denkens, womit sie die Grenzen jeglicher Erfahrungswissenschaft prinzipiell übersteigen. Sie beschreiben nicht bloß, sondern entwickeln aus einem noch näher zu kennzeichnenden Überschuss des Erfahrenen gegenüber seinem deskriptiven Begriff eine emphatische Idee von Wahrheit, die nicht bloß empirischen Tatbeständen Rechnung trägt, sondern dem Wesen der Dinge und der Welt zur Geltung verhilft. Erfahrungen bilden dann nicht bloß das Indizienmaterial einer ›metaphysischen Wahrheit‹, sondern meinen Vollzugsmomente derselben. Dennoch werden wir bei der genaueren Untersuchung dessen, was im Weiteren als ›metaphysische Erfahrungen‹ bezeichnet wird, den eklatantesten Unterschieden der beiden Theoretiker des Negativen begegnen. Jeweils zwei solcher Formen metaphysischer Erfahrung werden im Folgenden näher untersucht. Wir verfolgen damit eine systematische Parallele im Aufbau der Werke. Bei Schopenhauer stellt sich die Leiberfahrung als Grundlage der Ausgestaltung der Willensmetaphysik dar, während die Erfahrung des Mitleids zum Ausgangspunkt seiner praktischen Philosophie wird. Die negative Dialektik Adornos ist dem entsprechend im Ganzen von ›metaphysischen Erfahrungen‹ getragen, die wohl das heimliche Herz der kritischen Theorie ausmachen. Zugleich lässt sich auch bei ihm von einer 95 96 97

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Ebd., S. 227. Ebd., S. 226. Ebd., S. 227.

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anderen metaphysischen Erfahrung sprechen, die im Zentrum ethischer Fragestellungen steht: Die »Erfahrung von Auschwitz«, die dem Menschen einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen habe. 98 Der Begriffsklärung halber beginne ich hier mit der ›metaphysischen Erfahrung‹ im Sinne Adornos, vergleiche diese mit der Leiberfahrung Schopenhauers, gehe dann zu einer Betrachtung der Konzeption des Mitleids über und konfrontiere diese wiederum mit der »Erfahrung von Auschwitz«.

a.

Metaphysische Erfahrung

Das Eingangszitat gibt den ersten Hinweis, wie wir ›metaphysische Erfahrung‹ zu verstehen haben. Den ›Begriff einer verschiedenen Farbe‹ hat das Bewusstsein durch ›versprengte Spuren im negativen Ganzen‹. Von dem, was sich dem identifizierend-begrifflichen Denken im ›Verhängniszusammenhang‹ grundsätzlich entzieht, vom qualitativ Verschiedenen, gewinnt das Bewusstsein nur dadurch einen Begriff, dass es dessen Spuren folgt. Auf dieser Fährtensuche nach dem versagten Verschiedenen wandelt sich die theoretische Reflexion zu einem erfahrenden Denken, das sich ganz dem Konkreten überlässt. Das Denken muss »hingerissen sein an dem einen Ort, ohne aufs Allgemeine zu schielen.« 99 Doch das Besondere, dem sich das Denken hier hingibt, ist nicht im Sinne eines Gegenständlichen zu verstehen, sondern ist selbst die Spur, die sich dem identifizierenden Verstandesurteil entzieht. Als solche kann es nicht begriffen, sondern nur erfahren werden. Spuren sind erfahrbare Zeichen eines darin Nicht-Erfahrbaren. Konkretes gerät hier in den Blick, insofern es als ein Versprechen bzw. als eine Verheißung erscheint. Doch was versprochen wird, ist nichts anderes als das Konkrete selbst, das auf einen Begriff verweist, »welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von der Sache Abgezogene« 100. Wir haben es also mit einer Erfahrung zu tun, die Wesensbegriffe und das ›Glück‹ einer unbeschnittenen Wesensschau verheißt. Doch gerade in dieser metaphysischen Dimension ist die Erfahrung eine negative: Man erfährt die Nicht-ErfahrbarGS 6, S. 358. Ebd., S. 366. 100 Ebd., S. 366. 98 99

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keit der ›Sache selbst‹, das Glücksversprechen, das ›zurückweicht wie der Regenbogen‹, versucht man es zu ergreifen. Dass diesem Begriff keine Bestimmungsgewalt gegenüber der Sache zukommt – selbst also ein den Begriff des Begriffs sprengender Begriff ist – ist daran festzumachen, dass er wesentlich Begriff dessen ist, was sich dem Begriff entzieht bzw. über ihn hinausweist. »Dabei ist die Sache selbst keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch. Solche Nichtidentität ist keine ›Idee‹ ; aber ein Zugehängtes. Das erfahrende Subjekt arbeitet darauf hin, in ihr zu verschwinden. Wahrheit wäre sein Untergang.« 101 Sowenig die Nichtidentität eine Idee ist im Sinne eines Denkprodukts, so sehr entspringt der konkreten Erfahrung der Nichtidentität durchaus eine Idee im Sinne eines Postulats der Vernunft. Wahrheit als der Untergang des Subjekts meint nichts anderes als das Sein-Sollende im utopischen Anspruch eines »Miteinander des Verschiedenen« 102 jenseits von Identität und Widerspruch. Man muss nach Adorno vom Allgemeinen absehen, um in der Versenkung in den konkreten Gegenstand einen wahren Begriff des Allgemeinen zu finden. Das Versprochene bleibt darin immer auch das Versagte. Der gewonnene Begriff ist damit in einer noch dritten Weise als negativ zu bezeichnen: weder im normativen Sinne (NichtSein-Sollendes) noch der Scheinhaftigkeit nach, sondern allein als Nicht-Seiendes im falschen Ganzen. 103 Damit ist der negative Begriff des versprochenen Glücks das eigentlich positive Zentrum der kritischen Theorie als das Sein-Sollende. Die Idee des in der Sache versöhnten Allgemeinen und Besonderen ist es, die die metaphysische Erfahrung zu einer Erfahrung mit dem ganz Anderen werden lässt, zu einer Transzendenzerfahrung. »Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes. Wer indessen an derlei Erfahrung naiv sich erlabt, als hielte er in Händen, was sie suggeriert, erliegt Bedingungen der empiriEbd., S. 189 f. GS 6, S. 153. 103 Neben diesen drei Bedeutungen des Negativen lässt sich zumindest bei Adorno noch von einer vierten Bedeutung sprechen im Sinne der Negation als Denkbestimmung und des Negativen als des Gesetzten (Positiven) im Sinne der Hegelschen Dialektik. Alle vier Bedeutungsebenen sind nicht strikt voneinander zu trennen oder restlos aufeinander zurückzuführen, sondern ergeben selbst eine Konstellation von Bedeutungen. 101 102

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schen Welt, über die er hinaus will, und die ihm doch die Möglichkeit dazu allein beistellen. […] Gleichwohl könnte nichts als wahrhaft Lebendiges erfahren werden, was nicht auch ein dem Leben Transzendentes verhieße; darüber führt keine Anstrengung des Begriffs hinaus. Es ist und ist nicht.« 104

Die Möglichkeit des Anderen und der Veränderung lässt sich im Konkreten als die ›versprengten Spuren‹ dessen erfahren, das anders sein soll und das wesentlich Anderes (als das identifizierende Denken) ist. Dem Konkreten kommt zu, »mehr zu sein als es ist« 105. Dieses Mehr ist selbst bloß Spur, keinesfalls eine positive Eigenschaft. Es ist vielmehr dasjenige, das dem Ding abgeht, ihm fehlt, das es aber zu sein verspricht. Dieses Versprechen leuchtet auf, wird erst zum Begriff des Anderen durch die Enttäuschung, durch das »Ist das denn alles?, das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert« 106. Der Begriff, der in dieser Erfahrung gewonnen wird, ist die Idee des radikal Anderen, das sich dem Denken in der Erfahrung des Mangels am Konkreten ergibt. Sie wird dem verzweifelten Bewusstsein zur Utopie, zur Aussicht auf ein Jenseits des totalen Ganzen. Im Weiteren gilt es sich zu vergegenwärtigen, in welchem Sinne auch bei Schopenhauer von metaphysischen Erfahrungen ausgegangen werden darf. Wir müssen hiervon in einem anderen Sinne sprechen als bei Adorno. Metaphysisch in einem eminenten Sinn sind die Erfahrungen des Leibes und des Mitleids, insofern sie eine Erfahrung mit dem wahren Grund hinter den Erscheinungen der Welt erlauben.

b.

Leiberfahrung

»Vielmehr ist dem als Individuum erscheinenden Subjekt des Erkennens das Wort des Räthsels gegeben: und dieses Wort heisst Wille. […] Dem Subjekt des Erkennens, welches durch seine Identität mit dem Leibe als Individuum auftritt, ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: einmal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. […] Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der 104 105 106

GS 6, S. 367 ff. Ebd., S. 164. Ebd., S. 368.

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Kausalität verknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedenen Weisen gegeben« 107

Die Bedeutsamkeit der Leiberfahrung drückt sich hier eindeutig aus. Der Leib erlaubt eine doppelte Erfahrung: Er ist zum einen Objekt von empirischer Erkenntnis und stellt zum anderen selbst ein Organ unmittelbarer Erfahrung dar – der Leib erfährt sich als Ausdruck des Willens in actu. Die Janusköpfigkeit der Leiberfahrung offenbart schließlich eine wesentliche Identität des Unterschiedenen. Sie ist das Angelstück, das die Welt der Vorstellung mit der Sphäre des Willens als Ding an sich verbindet – und mehr als das: Sie ist das zentrale Schaltstück für die durchaus problematische Grundbestimmung der Willensmetaphysik Schopenhauers. Der Wille als Ding an sich ist wesentlich Eines, aber »er ist Eines als das, was außer Zeit und Raum, dem principio individuationis, d. i. der Möglichkeit der Vielheit, liegt.« 108 Die Leiberfahrung – und darin unterscheidet sich Schopenhauer von seiner idealistischen Konkurrenz – ist die Grundlage der Identitätsbestimmungen der Willensmetaphysik. Dass Schopenhauer den Willen so umstandslos mit der Sphäre der Dinge an sich identifizieren kann, bleibt in unseren Augen problematisch. Er verfolgt eine eigenwillige Fassung dessen, was unter Ding an sich verstanden werden soll. Einerseits greift er die Bestimmung als Grenzbegriff auf: Das Ding an sich ist das »der Ergründung sich Entziehende« 109. Dieses sich Entziehende wird aber andererseits sogleich wiederum identifiziert, denn so wenig wir das Wesen der Dinge letztlich erkennen können, »so bleibt doch immer Etwas, daran sich keine Erklärung wagen darf, sondern das sie immer voraussetzt, nämlich die Kräfte der Natur […].« 110 Nachdem hier das Unergründbare kurzerhand mit den Kräften der Natur identifiziert wurde, werden diese wiederum mit dem Willen identifiziert. »Hat es keine anderen Eigenschaften, ist es ein Sonnenstäubchen, so zeigt es wenigstens als Schwere und Undurchdringlichkeit jenes unergründliche Etwas: dieses aber, sage ich, 107 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Aus: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, Band 1, Hg. v. L. Lütkehaus, Zürich 1988, S. 151. Alle weiteren Zitate Schopenhauers werden in Form von »Schopenhauer, ASW 1, S. 5« angegeben. 108 Schopenhauer, ASW 1, S. 167. 109 Ebd., S. 177. 110 Ebd.

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ist ihm, was dem Menschen sein Wille ist, und ist, so wie dieser, seinem inneren Wesen nach, der Erklärung nicht unterworfen, ja ist an sich mit diesem identisch.« 111 Mittels dieser Identifikation des Willens mit den »Kräften der Natur« gelingt Schopenhauer Entscheidendes für seine gesamte Konzeption: Was hier als jeweils Unerklärliches identifiziert wird, die »Kräfte der Natur und der Wille«, setzt zwei qualitativ unterschiedene Unergründlichkeiten in eins: einmal das Letzte nicht weiter Ergründbare der Dingwelt, man könnte mit Adorno sagen das Nichtidentische und Resistente am Objekt; zum anderen aber die Unerklärlichkeit der Bedingung der Möglichkeit aller Erklärung überhaupt, die unergründbare Spontaneität des Intelligiblen. Es muss dabei im Blick behalten werden, was das zentrale Argument Schopenhauers für diese Identifikationen ist, nämlich die Doppelseitigkeit der Leiberfahrung. In ihr erweist sich ein objektiv Unerklärliches, der Leib als Erscheinung, als eins mit dem subjektiv Unerklärlichen, dem Willen. Aus dieser ›Erkenntnis‹ rechtfertigen sich alle folgenden Identifikationen. Ist der Wille als dasjenige ausgemacht, das jenseits der Erscheinungswelt wirkt, ist er als das Intelligible und zugleich als das Ding an sich bestimmt, dann ergibt sich der zwingende Schluss, dass er als dieser Wille als Ding an sich jenseits der Formgesetze empirischer Wirklichkeit steht. Die Kategorien von Einheit und Vielheit sind auf den Willen nicht anwendbar. Schopenhauer schließt daraus, dass der Wille in diesem Sinne wesentlich Eines sei. Dass auch dieser Schluss problematisch ist, sei hier nur angemerkt. Die Leiberfahrung ist eine Identitätserfahrung in dreifachem Sinn: zunächst der Identität von Leib und Wille, dann von Wille und Ding an sich und zuletzt des Willens als wesentlich Eines. Die ersten zwei Identitäten ergeben sich selbst aus der Leiberfahrung, die letztere ist eine Konsequenz, die diese Erfahrung voraussetzt. Nun wird auch einsichtig, weshalb wir die Leiberfahrung als eine metaphysische Erfahrung kennzeichnen können: Sie hat unmittelbar Auswirkungen auf die metaphysische Gedankenführung, hat begründenden Charakter. Darin ist sie dem adornoschen Begriff von metaphysischer Erfahrung keineswegs fremd. Beide reflektieren auf eine Erfahrung, die das den Erkenntnisformen enthobene Inhaltliche – einmal als Wille, beim zweiten als das Nichtidentische – als ›unergründbaren Grund‹ erfahrbar macht. Und beide Male handelt es sich um einen Begriff von Erfahrung, der weit über den der Empirie hinausgeht. 111

Ebd., S. 180 f.

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Schopenhauer selbst spricht aus gutem Grund nicht von einer Erfahrung, sondern ordnet seine Untersuchung des Leibes der Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis von Wahrheit ein. Die Leiberfahrung ermöglicht eine »philosophische Wahrheit« 112. Diese wird als die Beziehung eines Urteils auf das Verhältnis von Leib (anschauliche Vorstellung) und Wille als Ding an sich bestimmt. 113 Es bezieht sich auf das Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich durch den Leib, der sowohl zum anschaulichen Erfahrungsgegenstand wird als auch zur lebendigen Erfahrung des Willens als Ding an sich. Die philosophische Wahrheit vollzieht sich als ein ›leiblich‹ vermitteltes Vernunfturteil. Der Leib ist das lebendige und erfahrbare Verhältnis von Wille und Erscheinung. Damit meint die Leiberfahrung den zentralen Erkenntnisgrund von Wahrheit. Auch für Adorno wird die metaphysische Erfahrung zum Garant von Wahrheit, auch bei ihm besteht die metaphysische Erfahrung wesentlich darin, einen Begriff als Idee erfahrend zu antizipieren. Doch die Unterschiede beider Autoren in den hier angeschnittenen Fragen dürfen keinesfalls außer Acht gelassen werden. Ein grundlegender Unterschied der beiden Fassungen metaphysischer Erfahrung liegt offen zu Tage: Bei Adorno habe ich sie als eine Erfahrung radikaler Andersheit interpretiert, demgegenüber erweist sich die Leiberfahrung als eine Erfahrung letzter Identität. Dieser Unterschied ist fundamental. Adornos Kritik an Schopenhauer setzt nicht umsonst gerade an diesem Moment an. »Schopenhauer war Idealist malgré lui-même, Sprecher des Bannes. Das totum ist das Totem.« 114 Auch das Eingangszitat ist in dieser kritischen Absicht verfasst, es stellt dem Grau (Identität) die Verschiedenheit entgegen. Doch zu leicht darf man es sich auch mit diesem Unterschied nicht machen. Lore Hühn hat mit Recht darauf hingewiesen, 115 dass Adorno in seiner Abgrenzung von Schopenhauer wesentliche Gemeinsamkeiten ausgeblendet hat, und zwar solche, die genau unsere Frage nach totaler Identität und radikaler Andersheit angehen. Wir sind also dazu veranlasst, das Verhältnis von Identität und Andersheit genauer zu bedenken. Auch die kritische Theorie geht von einem negativen Ganzen, von einer normativen totalen Negati112 113 114 115

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Schopenhauer, ASW 1, S. 154. Ebd. Adorno, GS 6, S. 370. Hühn, S. 177.

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vität des Wirklichen aus. Diese totale Identität ist eine scheinhafte, die sich selbst durch die Reproduktion antagonistischer Verhältnisse reproduziert, jedoch keine Identität im Sinne des Einen, Außer-Empirischen. Doch auch diese ›falsche‹ Identität des schlechten Ganzen hat ihre Entsprechung in Schopenhauers Philosophie. Bei ihm leitet sich von dem Begriff einer Identität jenseits des Erscheinungsraums die notwendige Verfassung jeglichen Daseins als eines Leidenden ab, wodurch es in totaler Weise einem Zusammenhang des Schlechten anheim gegeben ist. Die den beiden Autoren gemeinsame Annahme eines falschen Ganzen, einer Totalität des Leids, betrifft den Bereich der praktischen Philosophie. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sich das Leid für Schopenhauer notwendigerweise einstellt, aber nur scheinhaft ist, während es bei Adorno als ein nur scheinhaft Notwendiges begriffen wird, dem aber Objektivität zukommt. Diese Querlage wird sich nun etwas erhellen. Die Notwendigkeit des Leids erklärt sich bei Schopenhauer durch die unabwendbare Zersplitterung des Willens, die sich in der egoistischen Verfassung der Erscheinungen offenbart und den Willen in ein antagonistisches Selbstverhältnis versetzt. Scheinhaft ist dieses unvermeidliche Leid einzig dann, wenn nicht erkannt wird, dass Individualität bloße Objektivationsform des einen Willens ist. Wird jedoch eingesehen, dass der Wille den »unvordenklichen Grund« 116 aller Erscheinungen ausmacht, dann ist eine Erkenntnis gereift, die ein freies Verhältnis zur Erscheinungswelt im willentlichen Nichtwollen des Willens erlaubt. Dass bei Schopenhauer mit Recht davon gesprochen werden kann, dass seiner Philosophie insgeheim der Möglichkeitshorizont eines »radikalen Auch-Anderssein-Könnens« 117 zugrunde liege, hat in dieser Möglichkeit der Willensverneinung ihren Grund. Durch den Leib lässt sich nicht bloß die Identität des Willens mit seinen Erscheinungsformen erfahren, sondern dieser Leib erfährt sein eigenes Erscheinen als Leid, als die Notwendigkeit einer Leibes-Ökonomie des Mangels. Doch gerade darin empfängt der Mensch den Begriff einer Mangellosigkeit, der Aufhebung des Leids. Dieser Begriff ist ebenso wenig ein bestimmter oder bestimmender wie der Begriff des Glücks adornoscher Erfahrung, sondern vielmehr ein Verweisender, der eines Versprochenen.

116 117

Vgl. Hühn, S. 155. Ebd., S. 163.

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»Die wahrheitserschließende Kraft der Willensverneinung liegt nach Schopenhauer nämlich in der Freisetzung einer Erfahrung völliger Mangellosigkeit, – einer Erfahrung, die sich in einem Zustand, bei dem nichts mehr aussteht, erfüllt, wobei diese Erfüllung nur im Sprung und Hinter-sichLassen der ihr vorgängigen Negativität vollzogen werden kann.« 118

Der Frage, ob die Willensverneinung als die willentliche Aufhebung des Willens, ein Jenseits des Willens zu finden hofft, muss eine Absage erteilt werden. Ein Wille, der sein Nichtwollen will, will selbst nicht die Sphäre des Willens verlassen, sondern vielmehr in der Ungeschiedenheit des Willens als Ding an sich aufgehen. Askese und Resignationen sind Ausdrucksformen davon. Das Jenseits, dem sich die Willensverneinung in Form des Bruchs oder Sprungs aus der Erscheinungswelt zuwendet, ist das Jenseits der Erscheinungen, nicht aber das des Willens. In diesem Sinne sind Askese und Resignation für Schopenhauer selbst Vollzugsformen einer Identifikation, als welche die Willensverneinung gelesen werden soll: die Identifikation des objektivierten Willens mit dem Willen an sich durch die Auflösung, sprich Verneinung aller Willensobjektivationen.

c.

Erfahrung des Mitleids

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die Einsicht in die Falschheit des Ganzen auf der Erfahrung des Leids beruht, die für Schopenhauer zu einer Bestimmung alles Erscheinenden wird. Diese Bestimmung des Ganzen der Erscheinungswelt als eines Schlechten erweist sich als der Boden, auf dem sich seine Ethik erhebt. Doch das zentrale Motiv dieser Ethik ist nicht das Leid sondern vielmehr das Mitleid. Die Stellung des Mitleids in der Ethik entspricht der Stellung der Leiberfahrung in der Metaphysik. Die Erfahrung des Leids und mehr noch die Erkenntnis der Notwendigkeit des Leids machen selbst noch keine integralen Bestandteile der Ethik aus, sondern sind vielmehr deren Tatbestand. Zur Grundlegung einer Ethik bedarf es für Schopenhauer eines anderen Kriteriums: »Handlungen der besagten Art sind es also allein, denen man eigentlichen moralischen Werth zugesteht. Als das Eigenthümliche und Charakteristische derselben finden wir die Ausschließung derjenigen Art von Motiven, durch welche sonst alle menschliche 118

100

Ebd., S. 146.

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Handlungen hervorgerufen werden, nämlich der Eigennützigen, im weitesten Sinn des Wortes.« 119 Aus diesem Grunde »kann die moralische Bedeutsamkeit einer Handlung nur liegen in ihrer Beziehung auf Andere« 120. Diese Beziehung auf Andere, die den Grundstein moralischer Handlungen ausmachen muss, soll eine unmittelbare Beziehung sein, andernfalls verfinge sie sich in den Netzen egoistischer Motivlagen. Nur im Phänomen des Mitleids erfüllt sich dieser Anspruch, nur hier wird das »Wohl und Wehe« des Anderen unmittelbar zum »letzten Zweck« 121. Es ist das Phänomen »der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Anderen und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe.« 122 Um die genauere Bedeutung des Mitleids und mithin des Anderen in der Philosophie Schopenhauers ergründen zu können, müssen wir es in den Rahmen der theoretischen Gesamtkonzeption stellen. Dabei tritt zuerst eine merkwürdige Diskrepanz innerhalb Schopenhauers Philosophie ans Licht. Wo sich innerhalb der Metaphysik die Konsequenz einer Willensverneinung in Form der Askese ergab, da wird in der Ethik ein auf den ersten Blick Gegenteiliges gefordert. Askese und Resignation stellen Formen des völligen Lassens und Aufgebens gegenüber allen Erscheinungen dar, um sich aus dem ›aus sich selbst rollenden Rad‹ des dauernden Leids zu befreien. Mitleid als ein unmittelbares Mit-leiden und Einlassen auf den Anderen, der als Anderer – und damit als Erscheinung – Endzweck des Selbst sein soll, scheint ersterem fundamental zu widersprechen. Dieser innere Widerspruch von Willensverneinung und Mitleid gab genügend Anlass zur Kritik. Wenn z. B. Nietzsche das Mitleid als Aufhebung des Unterschieds zwischen Anderem und Selbst letztlich als eine verleugnete Strategie des Egoismus interpretiert, dann zieht seine Kritik lediglich die Konsequenz aus der Willenstotalität. Es scheint nur ein Weg der Auslegung offen zu bleiben, der diesem Widerspruch nicht verfällt: Das Mitleid muss wiederum als eine meta119 120 121 122

Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, ASW 3, S. 560. Ebd., S. 562. Vgl. ebd., S. 564. Ebd., S. 565.

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physische Erfahrung letzter Identität verstanden werden. Die crux des Mitleidsbegriffs besteht gerade darin, den Egoismus durch eine unmittelbare Identifikation mit dem Anderen zu überwinden. Soll diese Identifikation nicht schlicht als eine Ausweitung des egoistischen Willens begriffen werden, muss sie als eine Identifikation im Sinne der Willensverneinung gedacht werden. Es soll hier also darum gehen, das Mitleid selbst als einen asketischen Akt aufzufassen. Um diese Interpretation durchhalten zu können, muss die Bedeutung des Anderen in der Konzeption des Mitleids neu gefasst werden. Solange die Identifikation nicht über die Identifikation mit einem Individuierten hinausgeht, erliegt sie der Welt der Erscheinungen, die die Askese zu überwinden trachtet. Der Andere als Endzweck wird aber gerade seiner Andersheit enthoben, um nicht zu sagen beraubt. Was im »Urphänomen« 123 Mitleid erfahren wird, ist gerade keine Fremderfahrung, keine mit dem Anderen als solchem, sondern eine jener Identität, die Eines ist als Außer-empirisches: »Wir sehen, in jenem Vorgang, die Scheidewand, welche nach dem Licht der Natur […] Wesen von Wesen durchaus trennt, aufgehoben […]«. 124 Es ist also keine »Identifikation mit Dingen und Menschen« 125 gemeint, wie sie Adorno als die wahre und gewaltlose Identität des Unterschiedenen vorschwebt, sondern eine, die die Scheidewand zwischen den Wesen überhaupt auflöst und den ›Schleier der Maya‹ lüftet. Somit ist das Mitleid ein praktischer Akt der Aufgabe des Ichs in der Einkehr des Willens in seinen Grund und damit der Kritik Nietzsches vorläufig enthoben. Doch dies wird durch die Aufgabe des Anderen erkauft. Er wird gleichsam ausgelöscht und mitgerissen in die Identität des Einen. Der Andere als Zweck des Mitleids wird als empirisch Anderer zum bloßen Mittel der Identifikation mit dem Willen. Aus dem Gesagten sollte deutlich werden, inwiefern wir das Mitleid als zweite fundamentale metaphysische Erfahrung in Schopenhauers Philosophie ansehen. Wie die Leiberfahrung als Identitätserfahrung eine Erkenntnis zu Tage fördert, die den Anspruch einer philosophischen Wahrheit für sich geltend macht, so geschieht Gleiches durch die Erfahrung des Mitleids. Allerdings in anderer Hinsicht: Die Leiberfahrung ist Erfahrung der wahren Identität des Willens und der Notwendigkeit des Leids aller Erscheinungen, das 123 124 125

102

ebd. S. 565. Ebd. Vgl. GS 6, 151.

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Mitleid wiederum ist Erfahrung der Möglichkeit der Auflösung des Leids durch eine konkrete Identifikation. Die Askese als theoretische Schlussfolgerung aus der Leiberfahrung bekommt im Mitleid ihre praktische Entsprechung. Die Mitleidserfahrung verbürgt in diesem Sinne die Möglichkeit der Willensverneinung. Sie ist als unmittelbare Erkenntnis zugleich »Mysterium« 126.

d.

Erfahrung von Auschwitz

Das Eingangszitat erweckt den Eindruck, Adorno kritisiere an Schopenhauer ein Zuwenig an Aussichten und Hoffnungsfunken im falschen Ganzen. Dieser Eindruck relativiert sich schnell, sieht man sich Adornos Stellungnahmen zum Leidbegriff bei Schopenhauer genauer an. »Ich meine, die Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben ist in einer Welt, die längst viel Schlimmeres kennt als den Tod und die etwa Menschen noch den Genickschuß verweigert, um sie langsam zu Tode quälen zu können, tatsächlich selber bereits von einer Harmlosigkeit, die Schopenhauer sonst nur den Theodizeen der Philosophen vorgeworfen hat.« 127 Wie können wir nun aber diese beiden Aspekte der Kritik an Schopenhauer zusammenführen, wie verstehen, dass ihm ein zu eintöniges und totales Graumalen der schlechten Wirklichkeit vorgeworfen wird und zugleich deren Verharmlosung? »Die Welt ist schlimmer als die Hölle und besser. Schlimmer, weil nicht einmal die Nihilität jenes Absolute wäre, als welches sie schließlich noch im Schopenhauerschen Nirwana versöhnlich erscheint. Der ausweglos geschlossene Immanenzzusammenhang verweigert selbst jenen Sinn, den das indische Philosophem von der Welt als dem Traum eines bösen Dämons in jener erblickt; Schopenhauer denkt fehl, weil er das Gesetz, welches die Immanenz in ihrem eigenen Bann erhält, unvermittelt zu jenem Wesenhaften erklärt, das von der Immanenz versperrt ist und anders als transzendent gar nicht vorgestellt werden könnte. Besser aber ist die Welt, weil die absolute Geschlossenheit, die Schopenhauer dem Weltlauf zuerkennt, ihrerseits erborgt ist vom idealistischen System, reines Identitätsprinzip und so trügend wie jegliches.« 128

Ebd. Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, Hg. v. R. Tiedemann, Nachgelassene Schriften Abteilung IV, Frankfurt a. M. 1998, S. 164. 128 GS 6, S. 395 f. 126 127

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Der scheinbar widersprüchliche Vorwurf gegenüber Schopenhauer beruht auf einem entscheidenden Einwand gegenüber der Willensmetaphysik: Sie habe den Willen zum reinen Identitätsprinzip erhoben und verfalle damit dem Trug idealistischer Systeme. Am Wahrheitsgehalt des totalen Immanenzzusammenhangs entscheidet sich für Adorno die Frage nach dem Stand der Welt. Dem Philosophen, der die Welt als ›Schlechteste aller Möglichen‹ bestimmt hatte, hält er entgegen, sie sei noch schlimmer als das, schlimmer als die Hölle, da selbst die Möglichkeit einer Erlösung durch die Willensverneinung versperrt sei. Besser hingegen sei diese Welt, da die Reduktion des Ganzen auf ein Prinzip – das des Willens als Urgrund – selbst einen Trug darstelle angesichts der irreduziblen Mannigfaltigkeit der Welt. Das konkrete Verschiedene wird unter dem Anspruch totaler Identität seiner Einzigartigkeit beraubt und darin zum Leiden verdammt. Realisiert ist das schicksalhafte Leid unter dem Anspruch letzter Identität, falsch ist dieser Anspruch allerdings angesichts der Einsicht, dass er um der Identität willen dasjenige ausblendet und real vernichtet, was sich nicht restlos identifizieren lässt. Solche Einsicht in den Scheincharakter des falschen und gleichwohl realen Ganzen gewinnt das kritische Bewusstsein durch metaphysische Erfahrungen, die die Möglichkeit des ganz Anderen allererst zum Gegenstand des Denkens werden lassen. Nun müssen wir uns wiederum der Frage zuwenden, wie wir es verstehen können, dass sich die Totalität des Schlechten real reproduziert, jedoch auf einer ideologischen Ausblendung eines gleichwohl Realen beruht, das in der Verwirklichung der scheinhaften Totalität tatsächlich vernichtet wird. Damit ist einerseits eine faktische Totalität des Falschen eingestanden – deren Wahrheitsgehalt aber im Ganzen in Frage gestellt. Mit Adorno ließe sich sagen, die Welt ist real zur Hölle geworden, weil sie zu ihr gemacht wurde, und ist nur darin besser als die Hölle, insofern sie Produkt des Menschen und eines Denkens ist, dem die Möglichkeit zum Anderen überantwortet bleibt. Doch diese Möglichkeit ist utopisch, sie entzieht sich dem praktischen Zugriff und bleibt bloß Aussicht auf eine Menschheit, die sich ihrer Freiheit anfinge zu erinnern. »Er [Schopenhauer] verleugnet das Motiv der Freiheit, an das die Menschen einstweilen, und vielleicht noch in der Phase der vollendeten Unfreiheit, sich erinnern.« 129 Aber wie ist eine erinnerte Freiheit in der vollendeten Unfreiheit zu denken, 129

104

GS 6, S. 370.

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wie die Möglichkeit zu einem ganz Anderen in einer Totalität, die solche Möglichkeit ausschließt? Die Forderung nach einem Bewusstsein »der Unmöglichkeit um der Möglichkeit willen« 130 rückt hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wir werden in erster Linie auf den Status des Individuellen verwiesen, das im Zusammenhang des falschen Ganzen selbst falsch ist, dem allein aber die Erinnerung an die Freiheit als Möglichkeit zum Anderen gegeben ist. Für Adorno erhält die vollendete Unfreiheit als die »reale Hölle auf Erden« einen Titel: Auschwitz. Adorno spricht von einer »Erfahrung von Auschwitz«, die die Metaphysik inhaltlich verändert habe. 131 In diesem Sinne lässt sich von einer pervertierten metaphysischen Erfahrung sprechen. Sie verbürgt in erster Linie ein Verdikt über die Metaphysik: Kein erster Grund, kein letztes Prinzip als Garant von Sinn lässt sich angesichts des unfassbaren Leids mehr postulieren. Es richtet sich damit auch entschieden gegen die Willensmetaphysik Schopenhauers. Nach Auschwitz ist die Aussicht auf ein ›versöhnliches Nirwana‹ zu einer zynischen Floskel verkommen, die der Sakralisierung des Todes als Sinnhorizont das Wort rede. Die metaphysische Erfahrung wurde bestimmt als eine negative Erfahrung des Konkreten, das über sich hinaus auf den Begriff der Sache selbst verweist, in der Allgemeines und Besonderes versöhnt wären. Sie stellt eine negative Erfahrung des Glücks dar, das im Anders-sein und Mehr-sein der Sache gelegen ist. Die ›Erfahrung von Auschwitz‹ kann als die genaue Kehrseite dieser Erfahrung verstanden werden. Sie ist die Erfahrung des Individuums mit einer Struktur der Allgemeinheit, die es der völligen Sinnlosigkeit und dem Unglück anheim gibt. In der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus tritt dem Menschen die Gesellschaft als eine anonyme Struktur entgegen, die alles in ihren Bann schlägt und jegliches Besondere ausmerzt. Die reale Geschlossenheit des falschen Ganzen wird dem Einzelnen erfahrbar durch eine zweifache Infragestellung: zum einen durch die Frage, »ob nach Auschwitz überhaupt noch sich leben lasse« 132, ob ein Leben überhaupt zu bejahen sei, das als Vollzugsmoment der Unmenschlichkeit der verfehlten Menschheit in einen Schuldzusammenhang gestellt ist, gegen den es nichts vermag; zum anderen durch die Frage, ob die Auflösung des Individuellen im Tode 130 131 132

GS 4, S. 283. Vgl. Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, S. 160. Adorno, GS 6, S. 355.

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denn noch als eine Dimension des Sinns gedacht werden darf angesichts der realen Vernichtung individuellen Lebens. Auschwitz scheint die beiden Möglichkeiten, die Schopenhauer für einen bewussten Umgang mit dem Willen vorgibt, die Willensbejahung und die Willensverneinung, gleichermaßen auszuschließen. In diesem Sinne ist die Erfahrung von Auschwitz eine Erfahrung der Unmöglichkeit des Ausbruchs aus dem Immanenzzusammenhang, der Unmöglichkeit der Transzendenz. Doch es gilt, sich eben dieser Erfahrung der Unmöglichkeit bewusst zu werden. Nur im Bewusstsein der Unmöglichkeit durchbricht Kritik den Schein der Totalität, deren systematische Geschlossenheit als Ausdruck von Ausweglosigkeit entlarvt wird. Das Individuum ist durch das Bewusstsein des totalen Gebanntseins in einen Selbstwiderspruch gestellt. Es kann zu sich selbst nur nein sagen, ohne in diesem Nein wiederum eine Möglichkeit zu erblicken, die vorderhand bloß Form einer Realitätsflucht darstellen würde. Dieser radikal negative Selbstbezug des Individuums im Selbstwiderspruch macht es aber erst zu einem Moment im Ganzen, das sich nicht ins Ganze integrieren lässt, das resistent bleibt gegenüber seiner Identifikation. Die Möglichkeit des Anderen kann nur in der Form des Widerstandes offen gehalten werden; nur das radikal negative Verhalten, das Aushalten des Widerspruchs schlägt Brüche in das totale Ganze. Damit ist die Möglichkeit dem Bewusstsein der Unmöglichkeit übertragen. Von Freiheit als Möglichkeit bewusster Veränderung kann Adorno nur im Sinne des Widerstandes durch Widersprüche sprechen. Der Mensch erinnert sich noch im Stande totaler Unfreiheit seiner Freiheit, insofern er im Bewusstsein der Unmöglichkeit derselben Widerstand leistet.

II.4.3. Resignation: metaphysischer Pessimismus und negative Utopie Die Philosophie Schopenhauers und die Adornos haben sich als eng verschwistert und – wie unter Geschwistern üblich – zugleich als gegensätzlich herausgestellt. Sie teilen eine negativistische Prägung und machen jeweils metaphysische Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihres Denkens. Dennoch weisen sie in entgegengesetzte Richtungen. Dem einen ist es darum zu tun, aus der Einsicht in die notwendig schlechte Verfassung der Welt (metaphysischer Pessimismus) 106

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die Möglichkeit einer Auflösung des Selbst in seinen unvordenklichen Grund zu gewinnen, dem anderen darum, innerhalb der schlechten Realität des Ganzen durch Widerstand Aussichten auf ein radikal Anderes (negative Utopie) offen zu halten. Nun möchte ich diese beiden unterschiedlichen negativistischen Denkstile abschließend anhand ihrer Stellung zur Verzweiflung charakterisieren. Für Schopenhauer liegt im Begriff der Resignation das Modell einer geglückten Willensverneinung. Es meint die Aufgabe des Selbst, das durch dieses negative Selbstverhältnis in die befriedete Identität des Willens als Ding an sich einkehrt. Sie ist ihm »das letzte Ziel, ja das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit, und die Erlösung von der Welt« 133. Resignation kann auf zwei unterschiedlichen Ebenen als ein negatives Verhalten angesehen werden. Zum einen meint es eine Form letzter Negation des einzelnen Menschen gegenüber aller Individualität, sie ist Selbstaufhebung des Individuums durch sich selbst – das Individuum darin Subjekt des Bruchs mit dem principium individuationis. Aus der Perspektive empirischer Subjekte meint Resignation einen rein nihilistischen Akt: Das Individuum wirft sich in die totale Leere aller Bestimmungen, in die völlige Aufhebung all dessen, was es im Besonderen ausmacht und was ihm als seine Objekte gegeben ist. Erlösung scheint dem Individuum auf im Nichts. Doch dem Menschen ist auch die Erkenntnis gegeben, dass er in der Willensverneinung dem eigentlich Wesenhaften dient, selbst zum Instrument des Urgrunds der Welt wird, der sich durch die Willensverneinung hindurch mit sich selbst versöhnt. Vernunft – und nur eine bewusste vernunftgemäße Willensverneinung verdient diesen Namen – wird zum Medium, durch das der Wille zu sich selbst in ein Verhältnis tritt. So sehr sich der Wille in seinen Objektivationen entzweit, sich in eine Sphäre antagonistischer Verhältnisse und eine Sphäre eigentlichen Wesens spaltet, die von einander toto genere geschieden seien, so sehr bleibt der Wille als Ding an sich doch der einzige Träger dieser Gespaltenheit. Wir haben es beim Wille mit einem Einen zu tun, das sich in den Objektivationen selbst gegenübertritt ohne darin seine letzte Einheit zu verlieren. Das Objektive ist das Scheinhafte, das bloß Ephemere des Willens; wesentlich ist es aber nur im Einen, im Willen. Der Wille als Ding an sich meint also ein absolutes und ewig Eines, das sich in seiner allen Erscheinungen ge133

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genüber gleichgültigen Ein-heit dennoch als eigentlicher Grund des Empirischen, des Mannigfaltigen herausstellen muss. So wird der Wille als Ding an sich als das eigentliche Subjekt der Willensverneinung verstanden. Der Wille scheint sich selbst auf in seinen Objektivationen, ohne in diesem Sich-Erscheinen sein letztes Eins-sein zu verlieren. Was sich dem Individuum als das Nichts darstellt, in das er sich durch Willensverneinung verflüchtigt, ist in seinem Wesen eben nicht nichts, sondern Wille als Urgrund der Welt, Absolutes und Totalität zugleich. Dem menschlichen Bewusstsein ist die Einsicht in diese letzte Seinsstruktur durch geläuterte Vernunft gegeben und macht es selbst zum bloßen Vollzugsmoment des Willens als des Einen. Der Resignation als Selbstaufhebung kommt der Charakter der Erlösung nicht bloß insofern zu als sie Aufhebung des Leidens, sondern auch durch die Einsicht, dass solche Aufhebung zugleich Rückkehr in ihren eigentlichen Grund ist. Ein Vergleich mit der Hegelschen Logik 134 liegt auf der Hand und könnte Adornos Interpretation, die Schopenhauer zum Wiedergänger Hegels macht, untermauern. Zwar können wir uns diesem Vergleich hier nicht weiter zuwenden, aber auf einen grundlegenden Unterschied sei dennoch hingewiesen: Was bei Hegel zu einer notwendigen teleologischen Bewegung wird – der Selbstvollzug des Absoluten als Eines durch die Verschiedenheit hindurch – bleibt bei Schopenhauer ein bloß Mögliches. Die Möglichkeit der Einsicht des Bewusstseins in seinen Urgrund bleibt gefährdet und kontingent angesichts der radikalen Gleichgültigkeit des Willens gegenüber seinen Erscheinungen. Wo das Absolute nicht als ›Geist‹ sondern als Wille angesetzt wird, ist es nicht darauf angewiesen, dass seine Objektivationen sich erkennend in ihren Grund zurückwenden. Dies bleibt eine Möglichkeit des Individuierten, der gegenüber der Wille indifferent bleibt. Weder die Scheidung des Willens in sich noch die Aufhebung dieser Scheidung sind notwendige Momente der Bewegung des Ganzen, sondern bloß dessen kontingente Potentiale. Allein darum kann Geschichte bei Schopenhauer nicht eschatologisch gedeutet werden. Resignation muss als eine Möglichkeit des Menschen zur Freiheit begriffen werden, die ihm durch die Vernunft gegeben ist. Diese Möglichkeit basiert auf dem Bewusstsein des Leids aller Erscheinun134 Vgl. z. B. das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem, G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke, Band 5, Frankfurt a. M. 1986, S. 125 ff.

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Exkurs und Zusammenfassung: Metaphysische Erfahrung und Verzweiflung

gen, das leibhaftig erfahren wird. Die Erkenntnis des Leidens, die zu Askese und Resignation führt, setzt die Leiberfahrung voraus. Wo hingegen das selbstempfundene Leid Ausgangspunkt der Willensverneinung wird, da bleibt es dennoch unfruchtbar, wenn aus ihr nicht eine bewusste Konsequenz gezogen wird in Form des bewussten Ablassens von der Welt, der Resignation. Wir können die Resignation als eine Möglichkeit immer nur in der Verwobenheit von Erfahrung und Vernunft einsehen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich Adorno entschieden gegen eine Hypostasierung der Verzweiflung ausspricht. Dennoch werden wir auch bei ihm das Motiv wieder entdecken, das Verzweiflung als eine Möglichkeit begreift. Kommen wir noch einmal auf das Eingangszitat zurück. ›Das Bewusstsein könnte über das Grau nicht verzweifeln, hegte es nicht ein Begriff der verschiedenen Farbe, deren versprengte Spuren im negativen Ganzen nicht fehlt.‹ Es geht Adorno darum, die Möglichkeit zu einer Verzweiflung am Grau der Negativität allererst aufzutun, indem sich das Bewusstsein den Spuren eines Verschiedenen, eines ganz Anderen versichert. Man ist geneigt, darüber hinwegzulesen, dass Verzweiflung hier als ein Vermögen begriffen wird. Es ist die Paradoxie, den Zustand, der gemeinhin als Ausweglosigkeit und Ohnmacht charakterisiert wird, als eine Möglichkeit des Bewusstseins aufzufassen, die dazu verführt, eine schwache Lesart zu bevorzugen, die da lautet: die Tatsache, dass das Bewusstsein verzweifelt, beweist, dass es auch Hoffnung auf ein Anderes hat. So wenig falsch dieses Textverständnis ist, so sehr bleibt es doch unfruchtbar. Wir kommen der Gedankenführung Adornos nur dann näher, wenn wir den tieferen Sinn des Satzes ernst nehmen: Das Verzweifeln ist ein Können, das allererst durch die Spur des Verschiedenen gewährleistet wird. Auch wenn Adorno von einer ›objektiven Verzweiflung‹ spricht, geht er dennoch nicht von der Verzweiflung im Sinne eines Faktums aus. Sie ist dem Menschen nicht unmittelbar als Affekt gegeben, sondern bleibt ihm vielmehr unter dem Mantel vermeintlicher Schicksalhaftigkeit verborgen. Ihm stellt sich die geschichtliche ›Wirklichkeit‹ als ein Verhängniszusammenhang dar, der die Menschen solange verblendet, bis sie sich in aller Radikalität ihres Gebanntseins bewusst werden. Ideologie ist ein Titel, unter dem dieses Verhängnis als ein Zu-Gehängt-sein des Bewusstseins behandelt wird. 135 135

Vgl. GS 11, S. 77: »Das richtige Leben ist zugehängt, vielleicht schon unmöglich.«

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Die totale Vergessenheit der Verzweiflung unter dem Bann lässt das Ganze erst zum ausweglos Falschen und Schlechten werden. Dagegen gilt es, sich der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit unter dem Bann, bewusst zu werden, um den Schein der Totalität des falschen Ganzen aufbrechen zu können. Das Bewusstsein der objektiven Verzweiflung wird hier als eine Form des Bewusstseins der ›Unmöglichkeit um der Möglichkeit willen‹ verstanden. Solches Bewusstsein ist die ›erinnerte Freiheit in der Unfreiheit‹ und Widerstand als negative Vollzugsform von Freiheit im oben aufgezeigten Sinn. In dieser Lesart tritt es wieder in Korrespondenz mit dem Begriff der Resignation bei Schopenhauer. Auch Resignation bezeichnet das Bewusstsein einer Unmöglichkeit oder Ausweglosigkeit, das durch die Einsicht in die Aporie erst die Möglichkeit eröffnet, diese zu überwinden. Dennoch dürfen wir uns mit dieser Formparallele nicht zufrieden geben. In Adornos letztem Aufsatz, der mit dem Stichwort »Resignation« überschrieben ist, finden wir wichtige Anhaltspunkte, die uns zur Abgrenzung von Schopenhauer dienen können. Er grenzt sich von dem Vorwurf ab, kritische Theorie habe resigniert, wo sie nicht in praktischer Aktion münde. Dem hält Adorno entgegen: »Die Ungeduld gegenüber der Theorie, die in ihr sich manifestiert, treibt den Gedanken nicht über sich hinaus. Indem sie ihn vergisst, fällt sie hinter ihn zurück. Erleichtert wird das dem Einzelnen durch seine Kapitulation vorm Kollektiv, mit dem er sich identifiziert. Ihm wird erspart, seine Ohnmacht zu erkennen; die Wenigen werden sich zu Vielen. Dieser Akt, nicht unbeirrtes Denken, ist resignativ.« 136 Man muss unterscheiden zwischen dem, was ich die Verzweiflung als Möglichkeit genannt habe und dem, was praktische Resignation bedeutet. Erspart sich der Denkende, seine Ohnmacht zu erkennen, verfällt er der Resignation, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Bloß das Bewusstsein der Ohnmacht, der Unmöglichkeit, hält Möglichkeiten offen. »Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht.« 137 Die Verzweiflung als Vgl. dazu auch die Parallelen zwischen Schopenhauer und Adorno bezüglich des Themas Ideologiekritik (vgl. Birnbacher). 136 GS 10.2, S. 797. 137 Ebd., S. 796.

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Möglichkeit ist ein Bewusstsein, das als Verzweiflung eben nicht resigniert, nicht ablässt und aufgibt, sondern in der Ohnmacht dieser selbst Widerstand leistet. Schopenhauers Begriff der Resignation kann nicht als eine Form der aktionistischen Resignation verstanden werden. Ebenso wenig lässt er sich mit der Idee der Verzweiflung als Möglichkeit im Sinne Adornos in Eins setzen. Resignation wird bei Schopenhauer als Ablassen verstanden, als ein bewusstes Aufgeben. Demgegenüber sieht Adorno gerade im Widerstand, in einer Einsicht, die dem Ganzen trotzt, die einzige Form, dem negativen Ganzen zu begegnen. Und hier zeichnet sich der grundlegende Unterschied beider Autoren ab: Schopenhauer entnimmt der Analyse des negativen Ganzen die Forderung nach einer Aufgabe des Selbst in der Verschmelzung mit dem Außer-empirischen, vollzieht Negation als einen Modus letzter Identifikation. Adorno dagegen hält an einem Denken fest, das durch die Einsicht in die totale Identität des Falschen die Idee eines versöhnten und wahren Ganzen gewinnt. Das versöhnte Ganze wird von Adorno als ›wahre Identität‹ verstanden, als eine Identität, in der das Unterschiedene und Besondere unbeschnitten mit dem Allgemeinen zusammengingen. Demgegenüber muss ihm die letzte Identität mit dem Wille als Urgrund als falsche und schlechte Identität erscheinen. Adorno setzt dem Nihilismus Schopenhauers ein negativ-utopisches Denken entgegen. Dieser utopische Anspruch ist ihm keineswegs bloßes Wunschdenken, sondern es gehorcht dem Anspruch eines »offenen Denkens, das über sich hinausweist« 138 und das die Möglichkeit der Veränderung im Ganzen, den Anspruch auf das ganz Andere in sich trägt. Der utopische Zug ist dem Gedanken eingeschrieben, »Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert.« 139 Adornos Kritik an Schopenhauer lässt sich als die Einforderung der utopischen Dimension sehen, die Schopenhauer sich selbst versperrt hält, wo er die Aussicht auf das Auch-Anders-sein-Können mit der Aufgabe des Besonderen verwebt. Schopenhauer ist kein utopischer Denker, sondern ein anti-topischer. Das beiden Philosophen innewohnende Konzept einer negativen Transzendenz bzw. eines immanent-transzendenten Denkens klafft auseinander, bedenkt man die 138 139

ebd., S. 798. Ebd., S. 799.

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Bedeutung des Ortes und der Verortung für das Denken. Schopenhauer verfolgt mit der Willensverneinung eine Strategie der Befreiung des Denkens von seinem Standpunkt und gewährt ihm darin die Aussicht auf eine Auflösung in totaler Verhältnislosigkeit. Ihm ist das Jenseits der Erscheinungswelt eine Ortlosigkeit. Das u-topische Denken Adornos erkennt dagegen vielmehr im Verhängniszusammenhang des falschen Ganzen eine Struktur, die dem Besonderen seinen Ort im Ganzen verwehrt. Im Bezug auf den nicht verstatteten Ort, auf die U-topie, verortet sich das Denken wiederum im grauen Einerlei der Totalität, es nimmt einen Standpunkt ein, der dem falschen Ganzen immanent Widerstand leistet. Das negativ-utopische Denken Adornos ist transzendent, insofern es sich auf den Ort bezieht, der dem Besonderen entzogen bleibt und bleibt doch radikal immanent, insofern es sich durch diesen Bezug selbst einen Standort im falschen Ganzen schafft und ihm durch diese Verortung bereits widerspricht. So lässt sich auch die Bedeutung der Verzweiflung für Adorno in einem neuen und anderen Sinn begreifen und klar von der Resignation Schopenhauers abgrenzen. Das Bewusstsein der Verzweiflung meint den utopischen Standort immanenter Transzendenz. »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.« 140 Erlösung ist nicht Erlösung von der Erscheinungswelt wie bei Schopenhauer, sondern die Erlösung der Dinge, die endlich zu den Sachen selbst werden sollen. Da das negativ-utopische Denken der ›verschiedenen Farbe‹ nachsinnt, stellt es sich also nicht bloß in der Bewertung des grauen Einerleis Schopenhauer entgegen, sondern widerspricht ihm viel grundlegender in seiner Aussicht: Nicht Einkehr in das graue Eins des Willens, sondern die leidlose Vielfalt des Verschiedenen wird ihm zum eigentlichen Anspruch.

II.5. Anfangendes Denken Dieses hier beschriebene negativ-utopische Denken steht in direkter Tradition des neuzeitlichen Denkens. Im Folgenden kommt es darauf an, das negativ-utopische Denken anhand dieses traditionellen Kontextes weiter zu erschließen. Ich werde dafür einen besonderen Zug in 140

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der neuzeitlichen Philosophie untersuchen, von dem ich annehme, dass er zu einem der Zentralmomente neuzeitlicher Philosophie geworden ist. Das ist das Motiv des Anfangs. Die Frage nach dem Anfang ist vorderhand eine Frage, die mit der Frage nach Freiheit einhergeht, insofern Freiheit darin gefasst wird, eine Kausalreihe zu beginnen. Freiheit ist das Unbedingte, von dem aus allererst eine Reihe des Bedingten und der Bedingungen angefangen werden kann, ohne selbst auf äußere Bedingungen verwiesen zu sein. Das Motiv des Anfangs geht aber nicht nur in der Frage nach der Freiheit auf, sondern hat einen dieser Frage vorhergehenden Ursprung in der Frage nach sicherer Erkenntnis und der Frage nach dem Ersten, wie sie sich einerseits bei Descartes stellt und wie sie im kantschen Begriff der kosmologischen Freiheit aufgegriffen wird. Es soll im Folgenden eine Grundstruktur des Motivs des Anfangs aufgezeigt werden, die typisch für das hier anhebende abendländische Denken bleiben sollte. Dies kann nur skizzenhaft erfolgen, da es in erster Linie darum geht, das negativ-utopische Denken Adornos in eben diese Grundstrukturen einzuzeichnen, es als ein anfangendes Denken zu interpretieren. Wir haben Indizien, die uns Adornos Denken als ein anfangendes Denken verstehen lassen. Diese lassen sich systematisch durch die Reflexion auf das Verhältnis von Utopie (Nicht-Ort) und Falschheit des Ganzen (Ort als falsche Realität) erschließen. Wenn wir die oben angeführte Interpretation der Negativität als Selbstkritik, als selbstreferentielles negatives Verhalten, wieder aufgreifen, ergibt sich daraus, dass der vorbereitende Charakter der Kritik nicht zu seinem Ziel kommt, die Vorbereitung in sich gefangen bleibt und damit noch gar nicht zu einem Anfang gekommen ist. Dieses Motiv zeigt sich am deutlichsten in den geschichtsphilosophischen Thesen Adornos zum Fortschrittsbegriff, der den Beginn eines wahren Fortschritts und damit einen Anfang wahrer Geschichte jenseits des Immergleichen von Macht und Unterdrückung erst zur Aussicht macht. 141 Man könnte sagen, für Adorno sei alle bisherige Geschichte eine falsche, nur vorläufige Geschichte, deren wahrer Anfang noch aussteht, die aber ohne diesen ausstehenden Anfang nicht zu begreifen ist. Dieses Motiv des ausstehenden Anfangs von Geschichte ist nun keineswegs als geschichtswissenschaftliche These zu verstehen; dennoch ist Adornos Denken geschichtlich, allerdings im Sinne einer geschichtsphiloso141

Der Fortschrittsaufsatz wird im Zweiten Teil ausführlich interpretiert.

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phischen Aufladung, die sich an Denkern wie Hegel, Marx und Benjamin, durchaus aber auch an Kant, Nietzsche und an der heilsgeschichtlichen Interpretation von Geschichte bei Augustinus orientiert, wie ich im folgenden Teil dieser Arbeit aufweisen möchte. Dass dabei die historische Dimension der Dynamik realer Geschehnisse unter dem Mühlstein der Wiederholung des Immergleichen aufgerieben wird, hat noch bei einem so versierten Adorno-Leser wie Herbert Schnädelbach zu Enttäuschung geführt. 142 Dieser Enttäuschung ist aber wohl leicht Abhilfe zu leisten, besinnt man sich nur darauf, dass mit der geschichtsphilosophischen Aufladung ein Strukturmotiv des philosophischen Ansatzes Adornos angesprochen wird, keines aber der historischen Forschung. Dieses Strukturmotiv ist meiner Interpretation nach ein Schlüsselmoment eines Denkens, dass sich in aller Konsequenz in die Spannung von Bann und Utopie begibt, eines Denken, das im Vergleich zur Realgeschichte den nicht minder realen Aporien des Lebens in der Moderne Rechenschaft zollt. Im Weiteren soll dieses Motiv auch nicht in seiner geschichtlichen Dimension zitiert, sondern anhand der Frage nach der Bedeutung des Anfangs für das neuzeitliche Denken behandelt werden. Somit will ich an dieser Stelle ›systematisch‹ das negativ-utopische Denken in seinem philosophiegeschichtlichen Kontext verorten und dadurch genauer bestimmen. Es kommt darauf an, die Indizien, die Adornos Werk als eines des anfangenden Denkens verstehen lassen, auszuführen und systematisch zu klären. Dies soll anhand dreier Grundmotive, die ich für die wesentlichen Bestimmungen des Motivs des Anfangs erachte, ausgearbeitet werden. Das sind: – Dem Motiv des Anfangs in der neuzeitlichen Philosophie scheint ein methodischer Anfang vorauszugehen, der sich als eine Destruktion darstellt. – Das Anfangen wird spezifisch durch die Stellung des Anfangs außerhalb der Welt der Erscheinungen bestimmt. Der Anfang der Welt liegt außerhalb der Welt. – Das Anfangen führt selbst auf einen der Geltung nach vorrangigen und vorhergehenden eigentlichen Anfang, dem Grund des

142 Vgl. Herbert Schnädelbach, Adorno und die Geschichte, S. 130, aus: Georg Kohler und Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 130–154.

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Anfangs, der im Anfangen erkannt wird. Diese Struktur nenne ich nachträgliche Vorrangigkeit. In gewissem Sinn können wir dann von drei unterschiedenen Anfängen sprechen, die miteinander in der Suche nach dem Grund vermittelt sind: methodischer Anfang, der Anfang im Außen und der eigentliche Anfang. Die Fragestellung möchte ich von Descartes aus entwickeln, im Weiteren zeigen, wie sich diese Konstellation des Anfangs bei Hegel verändert, um schließlich Adorno als einen Denker des Anfangs zu interpretieren.

II.5.1. Prima philosophia als anfangendes Denken Die prima philosophia, zu deren erbitterten Gegnern Adorno zu rechnen ist, ändert ihr Angesicht in der Neuzeit grundlegend. Dem abendländischen Denken tut sich die Entdeckung auf, dass die Suche nach ersten Gründen, nach Prinzipien und ewigen Wahrheiten irre geht, wo sie sich nicht eines sicheren Anfangs vergewissert, selbst eine erste wird, die mit dem Geschäft des Denkens von vorne beginnt. »Und ich will solange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder, wenn nichts anderes, so doch wenigstens das für gewiß erkenne, dass es nichts Gewisses gibt. Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist.« 143

Die klassische Metaphysik gewinnt zwar den Begriff des Unbedingten, vermag diesen aber nicht ohne Widerspruch zum Empirischen zu denken. Der Nachweis der unbedingten Begriffe verliert sich auf seiner rückführenden Reise des Regressus in der Unendlichkeit des empirischen Verstandes. 144 Dem Zurückwenden zu den Gründen stellt 143 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Auf Grund der Ausgabe von Artur Buchenau, neu herausgegeben von Lüder Gäbe, lateinischdeutsch, Hamburg 1992, S. 43. 144 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Nach der ersten und zweiten Originalausgabe, hrsg. v. Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme, Hamburg 1998, B 445 ff. (Im Folgenden als Kant, K. d. r. V. wiedergegeben.) Dass wir uns hier begrifflich und inhaltlich an die Metaphysikkritik Kants anlehnen, hat einen systematischen Grund: Im Fortgang der Arbeit wird es darauf ankommen, anhand des Antinomienkapitels die Totalität des Falschen bei Adorno zu interpretieren. Die These, die diesem Teil zu Grunde liegt, besagt, dass sich der »›Verhängnis-

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die Neuzeit ein Gründen als sicheren Anfang entgegen. Descartes zeugt von diesem Initialgeist der neuzeitlichen Philosophie. Bei ihm lässt sich auch ein Motiv erkennen, das zu prominenter Stellung in der nun Jahrhunderte bestimmenden Diskussion kommen sollte: Die Sicherheit des Anfangs, ihre Voraussetzungslosigkeit und Evidenz, erweist sich als eine durch und durch methodische. Der methodische Anfang ist nicht bloß Anfang eines sicheren Systems des Denkens, sondern zugleich Aufweis eines eigentlichen Anfangs, des Unbedingten selbst. Der methodische Anfang erweist sich als bloßes Instrument zur Einsicht in den notwendig ersten Anfang, der im Unbedingten als Grund zu suchen ist. Der methodische Anfang fängt eigentlich an, indem er den Anfang im Unbedingten begreift. Der methodisch abgeleitete Anfang stellt den begrifflich ersten Anfang dar. »In der Tat gibt sich das cartesische Cogito am Ende der dritten Meditation als ein Cogito, das auf die Gewissheit der göttlichen Existenz als einer unendlichen gestützt ist; die Endlichkeit des Cogito oder der Zweifel setzt und begreift sich kraft des Bezugs auf die unendliche göttliche Existenz. […] Wenn Descartes in einem ersten Schritt ein zweifelsfreies Bewusstsein seiner selbst durch sich selbst gewinnt, so erkennt er in einem zweiten Schritt – in der Reflexion über die Reflexion – die Bedingung dieser Gewissheit. Diese Gewissheit liegt an der Klarheit und Deutlichkeit des Cogito – aber die Gewissheit selbst wird gesucht wegen der Gegenwart des Unendlichen in diesem endlichen Denken, das ohne diese Gegenwart seine Endlichkeit nicht erkennen würde.« 145

Emmanuel Levinas interpretiert Descartes hier in einem Sinn, den ich weiterverfolgen möchte. Der Zweifel gilt bei Levinas keinesfalls als bloß methodischer, dennoch bleibt der Ausdruck gerechtfertigt. Er soll eine Vorbereitung und Hinführung zum eigentlichen Gegenstand benennen. Wo der Zweifel schon in eins gefallen ist mit dem cogito, wie bei Levinas, kann von solch vorbereitendem Charakter keine Rede sein. Bedenkt man aber, dass sich das cogito allererst im Zweifel selbst identifizieren muss, so kann durchaus ein Zweifel als bloße Vorstufe des cogito gedacht werden. In jedem Falle aber weist Levinas diesem cogito, dem neu gewonnenen Grund, ein Begründetsein im Anderen/Gott aus. Der Anfangspunkt erweist sich als bezusammenhang‹« falscher Welt strukturell als der Schein einer Totalität regressiver Synthesis darstellt. 145 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München 2002, S. 304.

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dingt, sobald er als sicherer Grund gewonnen wurde. Mit der Sicherheit des cogito geht die Einsicht in die Vorrangigkeit des Unendlichen einher als des vorrangigen Grundes für seinen Zweifel. Für Levinas wird dieses cartesische Motiv zum Zentralmotiv, an dem sich der Vorrang der Metaphysik vor der Ontologie und der Vorrang des Anderen ausweist. Wir wollen diese Struktur der nachträglichen Vorrangigkeit im weiteren Rahmen verstehen. Beispielsweise lässt sich dieses Motiv an zentraler Stelle für die Dynamik der Hegelschen Logik nachweisen. Der prima philosophia, so als anfangende Philosophie verstanden, steht nicht bloß der regressus zu den Gründen zu Diensten, sondern ebenso der progressus in ihrem Begründen. Die Suche nach dem Grund versteht sich so aber nicht bloß als ein Begründen, sondern gleichwohl als ein Gründen. 146 Ein spezielles Problem entsteht nun einem solchen gründenden Denken: die Tatsächlichkeit der Welt. Die Welt muss in ihrem empirischen Charakter erst demontiert werden, um sie anschließend auf sicherem Fundament wieder errichten zu können. Das destruktive Verfahren stellt sich dem anfangenden Denken voraus und macht dieses zur Aussicht. Kritik hat ihre Wurzeln wohl hier, wo ein anfangendes Denken seinen Anfang durch eine methodische Destruktion absichert. Damit verhält sich das anfangende Denken janusköpfig: Es schafft sich den Raum zum progressiven, anfangenden Denken, indem es den regressus als eine Destruktion betreibt. Es treten zwei Zentralmotive des neuzeitlichen Denkens zu Tage: Die Philosophie wird anfangend und kritisch, destruktiv und gründend. Das kritische Moment meint zugleich eine Vorbereitung des Anfangs, während der Anfang eine Rückkehr zum eigentlichen Anfang im Unbedingten darstellt. Das anfangende Denken ist also kritisch-anfangend, destruktiv-gründend, vorbereitend-rückkehrend. Adorno als entschiedener Kritiker jeder prima philosophia steht so tief in der metaphysischen Tradition, dass seine Abwendung nur als eine Umwendung begriffen werden kann. Nachzuvollziehen ist im Weiteren, inwiefern Adorno in der Tradition der neuzeitlichen prima philosophia steht und wie er diese umwendet, indem er sie gegen sich selbst wendet. An einem Bild, vielmehr an einem Satz, können wir uns dieser Frage erläuternd annehmen. Der Satz des Archimedes hat seine be146 Vgl. Ute Guzzoni, Werden zu sich: eine Untersuchung zu Hegels »Wissenschaft der Logik«, Freiburg 1982.

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sondere Interpretation durch Descartes erfahren, als er ihn in seinen Meditationen anführte. 147 Er wird zum Sinnbild der Ausgangslage des anfangenden Denkens. Die Welt soll aus den Angeln gehoben werden durch nur einen Punkt im All. Der ambivalente Charakter des ›Aus den Angeln Hebens‹ weist die beiden Seiten des Anfangs aus: Die Welt als Ganze wird zum wahren Gegenstand des Denkens, objektiv, und zugleich wird sie destruiert. Der Endpunkt der Destruktion ist der Anfangspunkt des Anfanges, der Punkt, das Unzweifelhafte, total Voraussetzungslose. Dass dieser Punkt notwendigerweise außerhalb der Welt, im All, angesiedelt sein muss, ergibt sich zeitlich daraus, dass die Destruktion von Welt dem Punkt als Umschlag in den Anfang vorauszugehen hat. Doch in diesem Bild zählt Zeitlichkeit nicht viel. Es beruht auf der Schlagkraft, die gerade in dem Umstand zu suchen ist, dass diese Form der temporal-kausalen Folge nicht gilt, wo das Unbedingte als Idee begriffen wird: Welt, All und Punkt stehen hier nebeneinander als die unterschiedlichen Ausdrucksformen des Unbedingten bzw. Ganzen. Damit wird es zum Paradebild der neuzeitlichen prima philosophia, die das Binnenverhältnis des Unbedingten neu zu formatieren trachtet. Welt, All und Punkt 148 möchte ich hier als drei Pole des Unbedingten verstehen und den Satz des Archimedes als ein Gleichnis seines Begriffs. Im herkömmlichen Verständnis gilt der Punkt als Teil der Welt, des Ganzen. Beide, Teil und Ganzes, scheinen dazu verurteilt, sich in einer unendlichen Vermittlung immer näher zu kommen und sich dennoch zu verfehlen: Der Punkt als das kleinste Gegebene, die einfachste Tatsache, das schlechthin Einzelne, steht in einem Kausalnexus zu unendlich vielen anderen Punkten; dennoch bildet dieses All seiner Beziehungen nur einen negativen Begriff des Ganzen, der Welt. Ist demgegenüber die Idee des Ganzen gefasst, führen unendliche Ableitungen zu immer Spezifischerem, aber niemals zum besonderen Einzelnen. Einzelnes und Ganzes stehen hier also in einem Verhältnis zueinander, das sich als unendliches Verfehlen beschreiben ließe. Wo nun aber ein Punkt gefunden wird, der nicht in der Welt

147 Ernst Bloch hat in seinem »Prinzip Hoffnung« auf den archimedischen Punkt im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Erschaffung von Neuem und der Revolution verwiesen. Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1982, S. 328 ff. 148 An späterer Stelle wird sich die Entsprechung von Welt, All, Punkt und den regulativen Ideen Freiheit, Unsterblichkeit, Gott auftun.

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anzusiedeln ist, sondern außer ihr, da kann ihm die Welt zum Gegenstand werden. In der Gegen-über-stellung des Einzelnen und des Ganzen stehen sie in einer idealen Beziehung zueinander. Gerade das Außerhalb-sein ermöglicht ein direktes Verhältnis von Punkt/ Teil/Einzelnem und Welt/Ganzem. Wo das Einzelne nicht mehr in der Welt, sondern außer ihr angesiedelt ist, wird die Welt ihm zum Gegenüber und es selbst zum idealen Erkenntnissubjekt von Welt, das Einzelne zum Konstituens des Ganzen. Hannah Arendt hat dieses Außerhalbstehen des Erkenntnissubjekts in ihren posthum veröffentlichten Schriften »Vom Leben des Geistes« als den Standpunkt der Theorie überhaupt gekennzeichnet, die ihr Urbild vom Zuschauer des griechischen Theaters her bezieht. »Der erste Beleg für diese Vermutung besteht darin, daß nur der Zuschauer eine Position innehat, von der aus er das ganze Spiel überblicken kann – so wie der Philosoph den ›kosmos‹ als ein harmonisches, geordnetes Ganzes wahrnehmen kann.« 149 Doch dieser Schritt außerhalb der Welt wird nur denkbar, indem das Verhältnis von All, Ganzem und Einzelnem umgedeutet wird. Der regressus, der unendliche Aufschub im Zugriff auf das Ganze als unbedingten Grund, sieht die Welt als eine Ganzheit, die zugleich eine Allheit meint, ein unendliches Universum, die Ganzheit des Mannigfaltigen. Die Welt als Universum birgt die Unendlichkeit der Kausalreihen und Bedingungsverhältnisse in sich und sie ist damit vom Einzelnen aus und für das Einzelne nicht erreichbar, also nur negative Ganzheit. Wo nun die Welt selbst als Ganzes zum Gegenstand des Einzelnen werden soll, muss die Unendlichkeit im Innern der Welt überwunden werden. Diese Überwindung basiert auf dem negativen Charakter der Ganzheit in der unendlichen Vermittlung zum Einzelnen. Bedenkt man, was in der Vermittlung vom Einzelnen zum Ganzen versagt bleibt, dann ist es die Geschlossenheit der Bestimmungen zu Einem. Das Universum ist die Welt als Ganzheit insofern es ein All ist. Die Welt als ganze wird aber vor allem als eine gesucht und bleibt im Begriff des Alls versagt. Nicht die Einheit der Welt im Sinne eines Zusammenhangs (Allheit) ist das Gesuchte, sondern das Geschlossensein, das zur Form-gekommen-sein des Ganzen (Eines). Wird die Welt nun in diesem emphatischen Sinne als Eine verstanden, ändert sich das Verhältnis von Welt und Unendlichkeit. Un149

Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 98/99.

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endlichkeit hieß im Universum noch die Unendlichkeit des Mannigfaltigen und dessen Beziehungen. Doch wenn die Welt zu Einer geworden ist, ist ihr eine Geschlossenheit und Grenze zugeschrieben – die Grenze gegenüber der Leere als des unendlichen Alls außerhalb der Welt. Das Ganze als Eines hat ein All außer sich, ist Teil des Alls. Der Punkt kann deshalb außerhalb der Welt liegen, weil die Welt kein unendliches Universum mehr ist, sondern das Ganze in der Unendlichkeit der Leere, ein Bestimmtes im Nichts. Das descartsche cogito ist es nun, das diesen Schritt ins Außen der Welt zu leisten hofft und die Welt als Ganze zum Gegenstand bekommt. 150 Dieses zweite All, die Unendlichkeit der Leere gegenüber dem Einen, eröffnet allererst die Möglichkeit, das Ganze zu einem Gegenstand werden zu lassen, denn nur als Eines im Nichts ist es zu einem Gegenüber beschränkt. Um sich der Welt jedoch gegenüber zu befinden, muss das Einzelne allererst einen Standpunkt in diesem All der Leere beziehen, es muss ins Außen der Welt treten. Dies glückt durch die spezifische Unschärfe zwischen der Unendlichkeit des Mannigfaltigen und der Unendlichkeit der Leere. Die Unendlichkeit des Mannigfaltigen trennt das besondere Einzelne unendlich vom Ganzen; wo das Einzelne sich jedoch aller Besonderheit und Bestimmung entledigte, ganz leer geworden war, konnte es den Standort eines jeglichen Bestimmten einnehmen; es katapultierte sich gleichsam aus der Reihe des Besonderen in den Raum der Leere, wurde zum leeren Allgemeinen. Das Allgemeine bezeichnet, so betrachtet, den Umschlagpunkt zwischen der unendlichen Mannigfaltigkeit und der unendlichen Leere, ist leeres Einzelnes, bloße Form. 151 150 Das Bestimmte im Nichts bzw. in der gleichförmigen Unendlichkeit (Leere) wurde in der lurianischen Kabbala durch den ZimZum-Mythos thematisiert und kam durch die Interpretation Ernst Blochs (Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1982, S. 1459), Gershom Scholems (Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes, in: Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a. M. 1970.) Hans Jonas (Der Gottesbegriff nach Auschwitz: eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987) zu einer Renaissance im Zwanzigsten Jahrhundert. 151 Bei Descartes steht der Punkt für das cogito. Das ins Außen der Welt Treten des Punktes ist also nicht nur darin zu suchen, dass das Einzelne das Allgemeine wird, sondern zugleich, dass es die Position des Erkenntnissubjekts einnimmt. Hier, wo wir die Frage nach dem Ganzen zu untersuchen haben, wollen wir uns zuerst auf den Charakter der radikalen Allgemeinheit des cogito konzentrieren. Die Wendung zur Subjektivität wird hier implizit behandelt, insofern der Begriff des Subjekts in der Neuzeit eben als dies anfangende Prinzip verstanden wird, das wir durch die Konstellation von Welt, All und Punkt allererst nachzuvollziehen haben.

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Die Beschränkung der Welt durch das All hat diese Veränderung des Einzelnen zum Pendant: es ist in dieser Konzeption notgedrungen das Allgemeinste. Die Frage nach Besonderheit, selbst nur der begrifflichen, hat seinen Sinn nur beim Einzelnen in einer Welt, nicht außerhalb. Das Einzelne, das der Welt gegenübertreten kann, ist bloß ein Punkt, das aller Allgemeinste, Beliebigste und Leerste. Das unendliche All verkörpert sich geradezu in dieser Form des Punktes und tritt als solcher der Welt gegenüber. Der Satz des Archimedes findet in seiner geometrischen Strenge Anklang bei Descartes, der in der Allgemeinheit und Einfachheit des Punktes die leere Einfachheit des cogito wiederentdeckt. Es ist eine bloß leere Form, die aufgrund ihrer Leere zugleich jegliches Besondere fassen kann. Das cogito bei Descartes vereint in sich die Unendlichkeit als Leere und die Unendlichkeit des Mannigfaltigen. Hier ist der Anfangspunkt des anfangenden Denkens zu suchen: im Außen der Welt. Dieser Punkt wird aber gerade als der Allgemeinste erst durch eine radikale Destruktion von Welt erreicht: Das cogito entledigt sich im Zweifel seiner spezifischen Inhalte, wird zum Subjekt von Welt als ganzer, der Punkt zum Movens und Konstituens der Welt. Auch wenn Adorno nicht auf den Satz des Archimedes eingegangen ist, lässt sich sein Denken anhand dieses Satzes verorten, denn auch die negative Dialektik ist noch als ein anfangendes Denken zu begreifen. Die Fundamentalkritik, die das Denken Adornos keinesfalls bloß als ein negatives kennzeichnet, muss ihrem Anliegen entsprechend eine Position grundlegender Infragestellung und Destruktion überkommenen Denkens darstellen. Kritik muss sich in die Lage versetzen, dem Ganzen zu widersprechen; es trägt notgedrungen die Stigmata des Ganzen, des Alls und des Punktes. Doch wir werden sehen: sein Denken ist in ganz anderer Weise als die prima philosophia und in einer Weise, die die prima philosophia verändert, durch das Ganze geprägt. Kritik, die aufs Ganze geht, setzt schwerlich bloß immanent an, auch wenn uns das bei Adorno oft so erscheint. Tatsächlich trifft man mit der Formel von der immanenten Transzendenz die Frage deutlicher. Adorno wollte darüber auch nicht hinwegtäuschen, denn er erlaubte sich den Standort der Kritik als Widerspruch im Denken zu bestimmen, der sich wesentlich aus dieser paradoxen Lage ergibt, dass Kritik sowohl in die Immanenz gezwungen ist, wie sie andererseits in ihrer Kritik über sie hinausgeht. Die radikale Negativität des adorno-

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schen Ansatzes erweist dieser Frage Rechenschaft, als ein Denken in Widersprüchen gegen Widersprüche. Zum einen scheint die negative Methode Adornos darin zu bestehen, den Prozess der Destruktion auf sich selbst anzuwenden, diese Bewegung in ein Selbstverhältnis umzuwenden, die kein Einhalt kennt und dem Begriff nach unendlich ist. Die Negation versagt sich selbst – konsequent auf sich selbst angewandt – den Umschlag in die Positivität. Radikale Negativität kommt nie an dem Punkt an, zu dessen Vorbereitung sie dient. So stellt sich der Begriff der Negativität als Destruktion dar. Eine zweite Eigenschaft der Negativität fällt aber ins Auge. Die Negativität ist als Bewegung im besten hegelschen Sinn anzusehen, und damit geht ein konstruktives Prinzip einher. Doch dieses konstruktive Moment, das sich im hegelschen Begriff der Versöhnung ausspricht, bleibt in der negativen Dialektik ein wesentlich Ausstehendes, ein allererst zu Eröffnendes, Ausblick auf einen Anfang. Wenn ich die anfangende Philosophie der Neuzeit dadurch bestimmt habe, dass ein Prozess der Destruktion einen idealen Ausgangspunkt bloßlegt, auf dem eine sichere Wissenschaft gegründet und begonnen werden kann, so treten diese beiden Elemente, die Destruktion und das Gründen, geläutert durch Hegel, in eine veränderte Konstellation: Wo Descartes durch den methodischen Anfang zum eigentlichen, wahren Anfang kommt – der methodische Anfang dem Gang der Untersuchung nach Beginn, dem Resultate nach abgeleitet ist –, die Destruktion wiederum nur als Vorarbeit des methodischen Anfangs gilt, da befinden wir uns in einem Labyrinth komplizierter Ableitungsverhältnisse. Der wahre Anfang (Gott) bezieht seine Evidenz durch den methodischen Anfang (cogito), dieses wiederum beruht auf der Vorarbeit der Destruktion (Zweifel). Wo sich der wahre Anfang nun als Grund darstellt, erweisen sich der Zweifel und das cogito als Setzungen Gottes aus sich selbst. Gott erweist sich nachträglich als Ursprung und Ursache von Zweifel und das cogito als Mittel der Evidenz Gottes.

II.5.2.

Die nachträgliche Vorrangigkeit bei Hegel

Diese bei Descartes wohl bloß angelegte Struktur der nachträglichen Vorrangigkeit wird durch den dialektischen Begriff der Negativität neu und radikaler gefasst: Destruktion als Moment des Zweifels fällt 122

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in eins mit dem cogito, das sich im Zweifel denkt. Als cogitare macht es bereits den wahren Anfang ersichtlich. Die Negativität wird als Destruktion zum konstruktiven, gründenden Prinzip. Destruktion und Konstruktion gehen in eins, machen den zeitlosen Vollzug des Sich-Offenbarens des Absoluten aus. Negativität ist eine in sich bidirektionale Bewegung. In der Destruktion entfaltet sich das Absolute als Setzung-seiner-selbst. Für Hegel kann gelten, dass der Anfangspunkt der Wissenschaft 152, sobald er erreicht ist, mit der Einsicht in den wahren Anfang zusammenfällt, insofern er in sich die Entfaltung dieser Einsicht trägt. Der dialektische Gang der Wissenschaft ist damit als ein Zweifel anzusehen, der in seinem destruktiven, negativen Verhalten zugleich setzend und gründend ist. Die Vorarbeit der Destruktion wird in der Entfaltung des Absoluten aus dem Anfang einbezogen, sie wird deren Motor. Nun ist aber schwerlich noch von wirklicher Vorarbeit zu sprechen, wo diese selbst dem positiven Gang der Entwicklung eingeschrieben ist. Vielmehr wird diese Vorarbeit zu einer permanenten Vorläufigkeit in der Entwicklung des Ganzen, die ihre eigene Aufhebung zum Resultat hat. Die anfangende Entwicklung des Ganzen ist solange vorläufig, bis sie selbst in die eine Wahrheit des Absoluten umschlägt, also solange sie überhaupt Entwicklung ist. Der Punkt, der der Welt entgegengesetzt ist, ist für Hegel der Punkt, der sich als Ganzes gesetzt und erkannt hat. Der Anfangs-Punkt fällt zusammen mit der Welt. Das Ganze ist die dynamische Einheit von Anfangspunkt /Grund und Welt/Ganzem, von Subjekt und Objekt. Die Frage nach dem Anfang bekommt bei Hegel eine besondere Bedeutung. Wir werden uns kurz der Frage nach dem Anfang der Wissenschaft zuwenden. Es soll aufgezeigt werden, inwiefern in der Wissenschaft der Logik die Gedankenbewegung prinzipiell als ein Anfangen verstanden werden muss. Dies kann an den Stellungen der jeweiligen Teile (Seinslogik, Wesenslogik, Begriffslogik) der Logik zueinander erwiesen werden. Tatsächlich stellt Hegel an den Anfang seiner Logik die Frage nach dem Anfang. 153 Doch diese Reflexion auf den Anfang bleibt un-

152 Vgl. zur Problematik des Anfangs bei Hegel: Lore Hühn, Zeitlos vergangen. Zur inneren Temporalität des Dialektischen in Hegels Wissenschaft der Logik, aus: Emil Angehrn (Hrsg.), Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2003, S. 325 ff. 153 Vgl. zur Bedeutung des Anfangs in Hegels Logik: Henrich, Dieter, »Anfang und Methode der Logik«, in: Hegelstudien. Beiheft I, 1963, S. 19–35.

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bestimmt und scheint erst aus dem Nachvollzug der Gedankenbewegung selbst ihren Sinn zu erschließen. Es ist hier demnach angeraten, erst nachträglich auf diesen Anfang zurückzukommen. Die Seinslogik selbst hebt mit einem aufgehobenen Anfang an. »In der reinen Reflexion des Anfangs, wie es in dieser Logik mit dem Sein als solchem gemacht wird, ist der Übergang noch verborgen; weil das Sein nur als unmittelbar gesetzt ist, bricht das Nichts an ihm unmittelbar hervor. Aber alle folgenden Bestimmungen, wie gleich das Dasein, sind konkreter; es ist an diesem das schon gesetzt, was den Widerspruch jener Abstraktion und daher ihr Übergehen enthält und hervorbringt. Beim Sein als jenem Einfachen, Unmittelbaren wird die Erinnerung, dass es Resultat der vollkommenen Abstraktion, also schon von daher abstrakte Negativität, Nichts ist, hinter der Wissenschaft zurückgelassen, welche innerhalb ihrer selbst, ausdrücklich vom Wesen aus, jene einseitige Unmittelbarkeit als eine vermittelte darstellen wird, wo das Sein als Existenz und das Vermittelnde dieses Seins, der Grund, gesetzt ist.« 154

Das reine Sein, mit dem die Seinslogik anhebt, scheint in seiner leeren Abstraktheit ein Anfang zu sein, der nicht über sich hinauszuführen in der Lage ist. Ein Anfang also, der eben nicht anfängt. Obgleich Hegel entschieden einer Philosophie widerspricht, die glaubt dass »ein Fortgang nur dadurch geschehen könne, dass von Außen etwas Fremdes daran geknüpft würde.« 155, gesteht er dennoch zu, dass der Anfang mit dem reinen Sein als bloß Unmittelbares nicht eigentlich in die dialektische Bewegung des Ganzen fällt. Erst ab den ›konkreten Begriffen‹, erst vom Dasein an beginnt die Bewegung des Ganzen. Somit scheint das leere Sein bloß vorläufiger Anfang zu sein, ein Anfang der gleichwohl gesetzt und wieder durchgestrichen ist. Der Anfang beim reinen Sein ist der ausgeschlossene Anfang vor dem eigentlichen Beginn der Entwicklung mit dem Dasein. Dieser Ausschluss geschieht durch seine eigene Aufhebung im Urteil, dass Sein und Nichts dasselbe seien. Dennoch wird auch dieser durchgestrichene erste Anfang im Nachhinein in der Wesenslogik als eigentlicher Anfang, nämlich als vermitteltes Sein wieder zur Geltung gebracht. Hegel lässt sich an dieser Stelle parallel zu der Problematik bei Descartes lesen. Es wird ein bloß methodischer, ein nur vorbereitender Anfang gemacht beim reinen, abstrakten Sein. Doch dieser Anfang kollabiert gleichsam an seiner leeren Unmittelbarkeit und ver154 155

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Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 104 Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 98.

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weist darin selbst auf das Konkrete, das Dasein. Erst im Nachhinein, in der Wesenslogik, wird dieser nur vorläufige Anfang wieder eingeholt, indem dessen eigentlicher Grund, das Vermittelnde sich zeigt. Der methodische Anfang beim reinen Sein wird in der Reflexionslogik dabei erst auf seine Wahrheit bezogen, wieder in die ganze dialektische Bewegung mit einbezogen, aus der er in seiner undialektischen Unmittelbarkeit ausgeschlossen schien. Wenn wir hier das Motiv des methodischen und im Nachhinein zu seinem eigentlichen Grund gekommenen Anfangs wiedererkennen, so hat das Motiv des Aus-der-Welt-tretens des cogito in der Wesenslogik seine Entsprechung. Wie das cogito sich die Welt als Ganzes zum Gegenstand macht, so wird mit der Frage nach dem Wesen die Position des Denkens grundlegend gewendet. Das Wesen tritt dem Sein gegenüber, der Schein dem Sein, die Wahrheit der Welt. »Die Wahrheit des Seins ist das Wesen. […] Diese Erkenntnis ist ein vermitteltes Wissen, denn es befindet sich nicht unmittelbar beim und im Wesen, sondern beginnt von einem Anderen, dem Sein, und hat einen vorläufigen Weg, den des Hinausgehens in dasselbe, zu machen.« 156 Die Wesenslogik beginnt neu von einem Anderen her. Sie hat nur das Sein als Unmittelbares zum Ausgangspunkt, doch dieser Ausgangspunkt erweist sich selbst wiederum als leer, wo er unvermittelt ist. Demgegenüber ist das Wesen als Vermittlung des Seins gedacht. Das Sein kommt erst durch diese Vermittlung zu einem emphatischen Begriff der Wahrheit. Diese Vermittlung wird als ein Erinnern gefasst, das sich als Reflexion erweisen wird. Obgleich das Wesen das Sein ›bloß‹ zu erinnern scheint, also erst nachträglich auftritt, wird gerade in dieser Erinnerung darauf reflektiert, dass das Erinnern das eigentlich Vorrangige in der Seinsbewegung ausmacht. In der Wesenslogik erinnert sich also die Reflexion des Geistes seiner eigenen Vorrangigkeit gegenüber dem Sein. »Es drängt sich unmittelbar die Reflexion auf, dass dieses reine Sein, die Negation alles Endlichen, eine Erinnerung und Bewegung voraussetzt, welche das unmittelbare Dasein zum reinen Sein gereinigt hat. Das Sein wird hiernach als Wesen bestimmt, als ein solches Sein, an dem alles Bestimmte und Endliche negiert ist. So ist es die bestimmungslose einfache Einheit, von der das Bestimmte auf eine äußerliche Weise hinweggenommen worden;« 157 156 157

Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 13. Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 13–14.

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»Die äußerliche Negation, welche Abstraktion ist, hebt die Bestimmtheiten des Seins nur hinweg von dem, was als Wesen übrigbleibt; es stellt sie gleichsam immer nur an einen anderen Ort und lässt sie als seiende vor wie nach, das Wesen ist aber auf diese Weise weder an sich noch für sich selbst; es ist durch ein Anderes, nämlich für die Abstraktion und überhaupt für das ihm gegenüber stehbleibende Seiende. In seiner Bestimmung ist es daher die in sich tote, leere Bestimmungslosigkeit.« 158

Wir haben hier die oben aufgezeigten Grundelemente des descartschen Ansatzes eines anfangenden Denkens alle vor uns: Die Negation aller Bestimmungen (Destruktion, methodischer Anfang), das ins Außen des Ganzen Treten, die nachträgliche Vorrangigkeit. Ein wesentlicher Unterschied ist hier jedoch festzuhalten: Das Anfangen im Außen der Welt (Sein als Ganzes) wird als ein Erinnern verstanden. Im Erinnern wird allerdings erinnert, dass dieser Vollzug des Erinnerns selbst als das Konstituum des Seins gelten muss. Der Anfang im Wesen begriffen vollzieht sich also zugleich als die eigentliche Bewegung des Seins selbst. Das nachträglich Vorrangige wird nicht mehr in der Erkenntnis eines positiv Unbedingten begriffen, sondern selbst als die Bewegung der Entzweiung vom Sein. Wo der Punkt (Wesen als leere Bestimmungslosigkeit, vgl. cogito) ins Außen des Seins fällt, fällt er zugleich als das Prinzip des Seins mit ihm zusammen. Was bei Descartes in diesem Sinne noch statisch in einem bloßen Gegenüber von cogito und Welt begriffen wird, denkt Hegel hier als eine Performanz des Weltvollzugs selbst. Der Anfang der Seinslogik ist in der Suche nach dem Anfang dreifach aufgehoben (kein Sein, kein Nichts, kein Werden) und hat doch das reine Sein zum Ergebnis. Dieses reine Sein erscheint wiederum leer, wo nach seiner Wahrheit und seinem Wesen gefragt wird. In der Reflexionslogik muss darum wiederum ein neuer Anfang gemacht werden, der die Leere des Seins allererst wieder in eine Wahrheit des Seins verwandelt. Dies erweist sich als der eigentliche Anfang des Seins. Wir haben es hier mit einer Struktur zu tun, die sich durch das gesamte System Hegels zieht: das Zugleich von Anfangen und Zurückkehren in den Grund, oder wie Ute Guzzoni es beschrieben hat, als »gründend-begründendes Denken« 159.

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Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 14. Vgl. Ute Guzzoni, Werden zu sich, Freiburg 1982.

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Das Wesen steht dem Sein vordergründig so gegenüber, wie das cogito der Welt. Die Welt wird dem cogito zum Gegenstand wie das Sein dem Wesen zum Dasein wird. Das cogito als reflexives Ichbewusstsein entspricht dem Wesen als absolute Negativität des Seins und der Zweifel hat sein Pendant im Schein des Seins, »allein der Schein ist das eigene Setzen des Wesens.« 160 »Genauer betrachtet, wird das Wesen zu einem nur Wesentlichen gegen ein Unwesentliches dadurch, dass das Wesen nur als aufgehobenes Sein oder Dasein begriffen ist. Das Wesen ist auf diese Weise nur die erste oder die Negation, welche Bestimmtheit ist, durch welche das Sein nur Dasein oder das Dasein nur ein Anderes wird. Das Wesen aber ist die absolute Negativität des Seins; es ist das Sein selbst, aber nicht nur als ein Anderes bestimmt, sondern das Sein, das sich sowohl als unmittelbares Sein wie auch als unmittelbare Negation, als Negation, die mit einem Anderen behaftet ist, aufgehoben hat. Das Sein oder Dasein hat sich somit nicht als Anderes, denn das Wesen ist, erhalten, und das noch vom Wesen unterschieden Unmittelbare ist nicht bloß ein unwesentliches Dasein, sondern das an und für sich nichtige Unmittelbare; es ist nur ein Unwesen, der Schein.« 161

Das reine Sein als methodischer Anfang wird nun in die Bewegung der Negativität wieder integriert, indem die unmittelbare Negativität des Seins (und Nichts) im Begriff der Identität als Dynamik des Systems gedacht wird. 162 Adornos Begriff der Negativität schließt an diese hegelsche Denkart an und widerspricht ihr zugleich entschieden. Auch für ihn bleibt Negativität gekennzeichnet als eine Destruktion, die zugleich Movens der Entfaltung der Welt ist. Dies erweist sich nicht zuletzt in der geschichtsphilosophischen Dimension der Dialektik der Aufklärung, die Aufklärung spezifisch als Kritik versteht und darin als Motor der Menschheitsgeschichte ausweist. 163 Doch diese Negativität schließt die Möglichkeit aus, dass hier das Absolute bei sich selbst ankomme. Die dauernde Vorläufigkeit in der Bewegung der Negativität schlägt hier nicht um in eine Aufhebung der Bewegung als Wahrheit des Absoluten selbst, sondern in ein stetes Verfehlen der Wahrheit. Die negative Dialektik interpretiert den Zusammenfall von Destruktion und Setzung nicht als die anfangende Selbstentfaltung der Wahrheit, sonHegel, Wissenschaft der Logik II, S. 17. Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 19. 162 Vgl. dazu GS 6, S. 372. 163 Vgl dazu auch das Motiv von ›Kritik und Rettung‹, das von Adorno als Grundmuster des abendländischen Weltverständnisses angesehen wird. Vgl. Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, S. 34 ff. 160 161

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dern als die versagte Ankunft am Anfangspunkt der Bewegung. Die Vorläufigkeit wird zur Falschheit. Der Punkt, der das Ganze zum Gegenstand hat, wird nie erreicht. Die Vorarbeit (Zweifel) wird zum unendlichen Prozess eines Misslingens, es findet den Punkt zur Veränderung des Ganzen nicht. Hier verwirklicht sich das Ganze also keineswegs in seinem Begriff; dennoch wird hier eine Welt konstituiert: die auf sich selbst bezogene unversöhnte Negativität sieht sich einer Welt gegenüber, die sie selbst in ihrem unendlichen Scheitern als Totalität des Falschen ausmacht. Leerlaufende Negativität produziert im unendlichen Verfehlen selbst Realität, nämlich den objektiven Zwangszusammenhang von Geschichte und Gesellschaft. Diese Negativität, die nicht an dem Anfangspunkt ankommt, von wo aus sie überhaupt erst als Selbstverwirklichung begriffen werden kann, lässt sich als eine ›schlechte Unendlichkeit‹ 164, eine wuchernde Subjektiviät verstehen. Objektiv ist diese Subjektivität durch die Welt, die sie tatsächlich konstituiert, nämlich die gesellschaftliche Realität und Zwangsläufigkeit der Geschichte als eine Wiederkehr des Immergleichen. Die Welt und die Geschichte sind in der negativen Dialektik immer etwas Vorläufiges, dasjenige, das nicht zum Anfang gekommen ist, dem aufgebürdet ist, nicht beim Anfang ankommen zu können. Adornos Philosophie zielt auf eine radikal andere Welt und Philosophie. Sein Denken ist grundlegend auf einen neuen Anfang verwiesen, den wahren Anfang, der sich aber der Negativität grundlegend entzieht. Wahrheit selbst wird damit als Versagtes und gleichwohl Konstitutives begriffen. Aus dieser Perspektive ist der Anfangspunkt jenseits der Schranken der Dialektik zu suchen, außerhalb der geschichtlichen Welt; ihr jedoch auch ganz eingeschrieben, insofern dieses Jenseits sich aus dem Begriff eines unendlichen Scheiterns ergibt: Der Anfang ist dort, wo das Denken seinem Anspruch gerecht geworden ist und das Scheitern angesichts dieses Anspruchs sein Ende ge-

Die Rede von schlechter Unendlichkeit reformuliert hier eine Kritik Adornos an Hegel, der selbst gegen die schlechte Unendlichkeit eiferte, wie er sie in der romantischen Lesart Fichtes und dadurch vermittelt auch Kants ausmachte. Hegel selbst habe nur dem Begriff nach aus der unendlichen Verfehlung der Reflexion herausgefunden. »Die Pedanterie aller Systeme, bis zu den architektonischen Umständlichkeiten Kants und, trotz dessen Programm, selbst Hegels, sind Male eines a priori bedingten und in den Brüchen des kantschen Systems mit unvergleichlicher Redlichkeit aufgezeichneten Mißlingens.« GS 6, S. 32/33. 164

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funden hat. Der Anfang wäre die Wahrheit der Welt, das Ende der Totalität dialektischen Scheiterns. Adorno bezieht sich auf die Welt als ganze, als die Welt, die der Veränderung bedarf, indem er den Punkt außerhalb der Welt beständig durchstreicht. An dem Punkt, der nie erreicht wird, erweist sich die Totalität, in der sich die negative Dialektik gefangen sieht, als Unendlichkeit des Scheiterns im Versuch des Anfangens. Diese Einsicht erweist diese Unendlichkeit als falsches Ganzes, nämlich als unweigerliche Vergeblichkeit der Einlösung des eigenen Anspruchs, des wahren Anfangs, des in Wahrheit-seins. Es zeichnet sich darin aber auch ein anderer Begriff der Ganzheit ab. Er meint dann keine Totalität des Falschen im unendlichen Misslingen, sondern das Zusammenfallen von Einzelnem und Ganzem, von Punkt und Welt. Hegels Anspruch an die Dialektik wird zur Aussicht. Nicht von außen, sondern durch den scheiternden Versuch des Ausbruchs aus der Totalität des Falschen macht sich die negative Dialektik die Welt zum Gegenstand und weist ihr ihre Grenze auf. Die Grenzen einer Totalität des Scheiterns liegen aber im Wesentlichen darin, die Notwendigkeit dieses Scheiterns aufzulösen und damit die Totalität als Schein zu überführen. Der jenseitige Punkt des Anfangs, der Punkt der Veränderung der Welt im Ganzen, muss von der negativen Dialektik in die Welt integriert werden. Um die Notwendigkeit des Falschen als Schein aufzudecken, muss der Anfangspunkt als Möglichkeit zum Anderen in der Welt gesucht werden. Er bleibt dennoch jenseitig, da er als Punkt in der Welt gleichwohl nicht von der Dialektik erreicht werden kann. Das Wort von der immanenten Kritik der Totalität kann nur eine solche Immanenz meinen, die im Innern das Jenseits der Totalität aufspürt. Das Denken Adornos ist genau dann ein transzendentes Denken, wenn es sich in der Immanenz verbarrikadiert. 165 Am Bild des Archimedes lässt sich die Problematik des anfangenden Denkens zusammenfassen: Das anfangende Denken versteht sich als eine Neu-(be)-Gründung der Wissenschaft. Dieses Unterfangen geht von der Frage nach dem Ganzen aus. Vom Einzelnen soll auf das Ganze geschlossen werden, doch ergibt sich von ihm aus nur eine unendliche Verkettung, die keinesfalls auf ein erstes als Ganzes schließen lässt. Zugleich kann vom Begriff des Ganzen auf immer spezifischere Kategorien geschlossen werden, doch geht darin das Einzelne nicht auf. Der Punkt steht in der Welt und doch bleibt die 165

Vgl. Metaphysische Erfahrung.

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Welt für den Punkt, sowie der Punkt für die Welt unerreichbar. Aus eben diesem Missverhältnis speist sich die Argumentation Leibnizens 166 in der Monadologie, auf die ich Rahmen der Monade als utopischen Begriff des Ganzen noch zu sprechen kommen werde. Descartes: Demgegenüber soll dieser Rückführung ein Progress, die Entfaltung einer voraussetzungslosen Wissenschaft, entgegengestellt werden. Der Punkt wird in das Außen der Welt verlegt, das Einzelne wird zum einfachsten unbedingt Gegebenen, zum Allgemeinsten. Die Unendlichkeit der Ableitungen innerhalb der Welt, dass das Einzelne in unendlichen Beziehungen zu anderen Einzelnen steht, wird abstrahiert auf den Begriff dessen, was in jedem das Gleiche ist. Das cogito ist der allgemeine Punkt, der aufgrund seiner Abstraktion bereit steht, jeden nur möglichen Inhalt zu beherbergen. Die Unendlichkeit, die crux in Bezug zum Ganzen, wird als Allgemeines externalisiert, der Welt entzogen. In dieser Bewegung aus der Welt in den Bereich des Alls der Leere wird die Welt als Ganzes zum Material des Punktes, stellt die Inhalte bereit, die durch den Punkt allesamt gedacht werden. Die Welt kann als Ganzes aus den Angeln gehoben werden. Erst aus dieser Position gegenüber der Welt als Gegenstand ergibt sich für Descartes nun die Evidenz des wahren Anfangs, der das cogito in die Ganzheit/Vollkommenheit (Gott) und damit in die Welt zurückbindet. Hegel: Nun rückt für Hegel die Frage nach der Nachträglichkeit des wahren Anfangs ins Visier des Denkens. Es muss ein Anfang gefunden werden, der nicht bloß methodisch agiert und einem zeitlich nachgeordneten wahren Anfang zuarbeitet, sondern im Anfang muss zeitlos schon die Wahrheit ganz liegen, sonst wäre kein Anfang. Der Punkt kann nicht durch Abstraktion aus der Welt gerissen, um nachträglich wieder mit ihr versöhnt zu werden, sondern die Abstraktion muss sich selbst negieren und aus sich die konkreten Bestimmungen des wahren Ganzen hervorbringen. Der Punkt ist hier immer schon die Welt, wo er überhaupt Punkt ist. Adorno: Für Adorno müsste gesagt sein, dass sich das Verhältnis umkehrt. Der Anfang ist nicht zugleich der Vollzug des Ganzen, sondern der Anfang bleibt radikal versagt angesichts der Totalität des Falschen. Damit allerdings wird die Unendlichkeit der Verfehlung des Ganzen zum Prüfstein der Totalität als Schein und Falsches. Der 166 Vgl. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, Hamburg 1956, S. 27 ff.

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Punkt liegt als Möglichkeit zum Anderen in der Welt und als solche zugleich außer ihr.

II.5.3.

Utopische Ganzheit

Spätestens jetzt haben wir die in einander verschwimmenden Begriffe rund um die Frage nach dem Ganzen zu klären. Ganzes, All, Unendlichkeit, Punkt, Allgemeinheit und Totalität, all diese Begriffe werden in den Ansätzen eines anfangenden Denkens in neue Konstellationen gebracht. Im Bilde des Archimedes steht vorderhand das All für die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit, die Welt für die Ganzheit aller Beziehungen, der Punkt für das Kleinste, X-beliebige. Der Punkt hat hier schon den Charakter des Allgemeinen, der leeren Form. Zudem stoßen wir aber auf eine noch andere Unendlichkeit als die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Diese ist eigentlich eine Unendlichkeit der Leere; demgegenüber können wir aber auch eine Unendlichkeit in der Welt einsehen. Es ist die Unendlichkeit der Reihen. Nun ist die Frage nach der Ganzheit eine Problematik, die auf dem Verhältnis von Unendlichkeit und Ganzheit beruht. Einmal zwischen der Welt als ganzer gegenüber der unendlichen Leere, andererseits die Welt als ganze angesichts der unendlichen Reihen des Endlichen. Beide Verhältnisse sind aporetisch: Die Welt ist angesichts der Leere des Alls nicht einsehbar und durch die unendlichen Reihen nicht erreichbar. Im Begriff des Allgemeinen stellt sich eine neue Komponente ein. Die unendliche Reihe basiert bereits auf dem Gedanken, jedes X-beliebige in Beziehung setzen zu können; im Gedanken des Allgemeinen wird diese X-Beliebigkeit zu einer Form hypostasiert, die jedem Inhalt entsprechen kann. Die Unendlichkeit wird gleichsam in Form gegossen. Als solche wird sie zugleich zum Ausdruck der Unendlichkeit der Leere und der Unendlichkeit der Reihe: das Allgemeine ist ganz leer, da ihm kein Inhalt an sich zukommt, und darum kann es jeden beliebigen Inhalt aufnehmen. Der Punkt im Satz des Archimedes findet seinen Ort nicht umsonst im All der Leere. Es stellt sich der Welt als leere Form gegenüber. Wollen wir diese Begriffe aus dem Satz des Archimedes für die Interpretation Adornos gebrauchen, werden wir nicht umhin kommen, grundlegende Umdeutungen vorzunehmen. Trifft unsere Beschreibung zu, dass Adorno den Punkt als Anfangspunkt der Veränderung wieder in die Welt zieht und dort zugleich zu einem Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Ausstehenden (Utopischen) macht, werden wir auf einen neuen Begriff des Allgemeinen stoßen. Wie kann ein Allgemeines verstanden werden, das in der Welt und zugleich außer ihr liegt? Unsere bisherige Fassung des Allgemeinen war eine leere Form, die bereit ist, alle nur möglichen Inhalte zu fassen. In diesem Begriff liegen zwei in sich widersprüchliche Begriffsbestimmungen: Zum einen ist der Begriff des Allgemeinen durch den der Unendlichkeit geprägt, zum anderen aber durch den Begriff des Einzelnen. Das Allgemeine hat die Form des Einzelnen, da sich jedes Einzelne in ihm einfinden können muss, zum anderen schafft es der Unendlichkeit Raum, da es in der Lage sein muss, unendlich viele Einzelne ausdrücken zu können. Das Allgemeine ist so eine in Form geronnene Unendlichkeit. Dieses Allgemeine gehört eigentlich nie in die Welt, wenn die Welt das Ganze alles Einzelnen darstellt, denn dann wäre es der Form nach Einzelnes neben anderem, das Allgemeine hätte das Besondere als Gegenüber. Aber als Allgemeines lässt es sich nicht aus dem Zusammenhang des Einzelnen denken, sondern übersteigt immer schon diesen Zusammenhang. Es liegt außerhalb der Welt, weil die Welt das Ganze des Einzelnen sein soll, das Allgemeine dagegen reine Form des Einzelnen. Wie nun kann es verstanden werden, wenn wir uns ein Allgemeines denken, das in der Welt ist? Es muss sich um ein Einzelnes handeln, das als konkretes Einzelnes zugleich Ausdruck jeglichen Einzelnen ist. Das in die Welt gezogene Allgemeine muss sowohl Konkretes neben anderem als auch das Allgemeine jedes Konkreten sein. Diese paradoxe Anforderung an den Begriff des Allgemeinen gilt es nicht aus den Händen zu lassen! Was macht das Konkrete gegenüber dem Allgemeinen aus? Zu allererst seine Einzigartigkeit. Wenn ein Konkretes dem Allgemeinen gegenübergestellt wird, dann in der Absicht, darauf zu verweisen, inwiefern sich dieser konkrete Gegenstand von seinem Allgemeinbegriff unterscheidet, wenn er gleichwohl unter ihn fällt. Das Konkrete fällt nie ganz unter seinen Begriff und der Begriff bringt das Einzelne nie in seiner Konkretion zum Ausdruck. Diese Formel wechselseitigen Verfehlens macht die Grundkonstellation aus, in die das Konkrete als Allgemeines tritt. Das Verfehlen ist aber zugleich ein wechselseitiges Transzendieren: Das vom Begriff verfehlte Konkrete ist für das Denken das unbedingt Andere, das eigentliche Telos des Begriffs; der Begriff jedoch stellt dem Konkreten die Idee seiner positiven Ganzheit in Aussicht und macht sich ihm wiederum zum Telos. 132

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Aus der Struktur wechselseitiger Verfehlung wird die Struktur wechselseitiger Transzendierung. Adorno deckt diese Ökonomie des Überschusses auf im Namen des »Mehr«. »Das Einzelne ist mehr sowohl wie weniger als seine allgemeine Bestimmung. Weil aber nur durch Aufhebung jenes Widerspruchs, also durch die erlangte Identität zwischen dem Besonderen und seinem Begriff, das Besondere, Bestimmte zu sich selber käme, ist das Interesse des Einzelnen nicht nur, das sich zu erhalten, was der Allgemeinbegriff ihm raubt, sondern ebenso jenes Mehr des Begriffs gegenüber seiner Bedürftigkeit. Er erfährt es bis heute als seine eigene Negativität« 167.

Das Verhältnis von Allgemeinen und Konkretem denken wir hier als das Binnenverhältnis eines Einzelnen. Es ist das Einzelne neben anderen Einzelnen, das zugleich das Allgemeine (Begriff) sein soll, von dem der Anfang seinen Weg nehmen kann. Damit wird ihm aber das widersprüchliche Verhältnis von Verfehlung und Transzendierung zwischen Allgemeinem und Konkretem zu einem Widerspruch an sich selbst, das Einzelne wird zum Ausdruck eines Widerspruches. In der Philosophie Adornos wird dieses Konkrete als Widerspruch ›Nichtidentisches‹ genannt. Dieses Nichtidentische rückt an eine zentrale Stelle in Adornos Denken, es überschwemmt das Denken Adornos geradezu. Der Widerspruch als Grundausdruck des Nichtidentischen macht die negative Dialektik zugleich zu einem Denken in Widersprüchen. Das Nichtidentische weist das Moment des Verfehlens sowie das des Transzendierens auf: Der identifizierende Begriff verfehlt das Nichtidentische, wie das Nichtidentische in seiner Nichtbegrifflichkeit als Negativität erfahren wird. Zugleich ist es in der adornoschen Lesart gerade das Einzelne als Nichtidentisches, das das begriffliche Denken zu seinem eigentlichen Anspruch zurückführen kann und darin die Aussicht aufgibt, das Nichtidentische nicht länger als Negatives erfahren zu müssen. 168 Unsere Frage interessiert sich hier insofern für den Begriff des Nichtidentischen, insofern er für die Theorie Adornos die Position GS 6, S. 152. An dieser Stelle soll auch der Interpretation Günter Figals entgegnet werden. Wenn er das Nichtidentische gleichsam als das Über-das-Wesen-hinaus begreift, gleichsam als ein Rest, der nicht in die Bestimmung des Wesens aufgehen konnte, dann möchte ich hier darauf hinweisen, dass das Wesen im Begriff keinesfalls schon überhaupt als gefasst gelten könne, sondern sich der Begriff mittels der Idee des Wesens auf das Nichtidentische bezieht – nunmehr auch die Wesensbestimmung die Struktur einer Verfehlung annimmt. 167 168

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eines Anfangspunktes markiert. Das Nichtidentische wird zum Maß des vorbereitenden kritischen Denkens. Das Denken soll das Nichtidentische zu seinem Zentrum machen und es gleichsam als anderes belassen, außer sich lassen. Erst ein Denken, das diesem Anspruch des Nichtidentischen gerecht wird, hat die Möglichkeit, in das Verhältnis ungezwungener Kommunikation mit Mensch und Natur zu kommen. Ein versöhntes Ganzes, der neue wahre Anfang, setzt ein Denken in Achtung des Anderen voraus. Somit ist das Einzelne als das radikal Andere des Begriffs zugleich dessen wesentlicher Inhalt im Verhältnis wechselseitiger Transzendierung. Das Nichtidentische entspricht damit den Anforderungen eines utopischen Anfangspunkt, sowohl ganz in der Welt verortet zu sein, als auch als radikal Anderes ein Jenseits der Immanenzverhältnisse darzustellen, diese selbst schon zu transzendieren.

II.5.4.

Adornos Stellung zum Ganzen ausgehend von Kants Erkenntniskritik

Auch bei Kant erscheint die descartsche Konstellation von Punkt (allgemeines Einzelnes), All (Unendlichkeit) und Welt (Ganzes). Und in dieser Konstellation ist Kant ebenfalls auf die Struktur des anfangenden Denkens verwiesen. Die Kritik der reinen Vernunft kann als Propädeutik, als die Destruktion verstanden werden, die einem eigentlichen Anfang vorherzugehen hat. Sie destruiert die Erfahrungsinhalte als Seinsbestimmungen, um endlich bei einem methodischen Anfang anzugelangen, beim Ich als Einheit aller Apperzeption, vergleichbar mit dem cogito. Doch auch hier wird durch diesen methodischen Anfang ein nachträglich vorrangiger Anfang eingesehen: die praktisch gewordene Vernunft als Selbstsetzung. Und in dieser Konstellation des Anfangs erweisen sich wiederum die drei Formen der Totalität: Auf die Einfachheit des Ich (Punkt) stößt die Destruktion der unendlichen Reihen (All) als deren Konstituens. Erst dieses einfache Ich gibt den Begriff eines Weltganzen. Doch an zwei Scheidepunkten lässt sich die kantische Wendung innerhalb dieser Struktur des Anfangs aufweisen: 1. Das Ganze wird zum einen zu einer Idee, vielmehr zu einem praktischen Postulat, und damit von einer Existenzbestimmung zu einer Sollbestimmung gewendet. Das Ganze (Einfachheit und Unsterblichkeit der Seele, das Anfangenkönnen als Freiheit und 134

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2.

Gott als Vollkommenheit) ist das nachträglich Vorrangige nicht mehr als Existenzgrund, sondern als Voraussetzung praktischer Vernunft. Die Welt hat sich in diesem Sinne erst durch das praktische Vernunfthandeln zu einer Ganzheit zu wandeln, was sich auf einer ethisch-politischen Ebene in der zu verwirklichenden Idee der Menschheit offenbart. Solche Ideen sind einerseits allererst zu verwirklichen und damit der Existenz nach ausstehend und doch zugleich als Sollgesetze notwendige Voraussetzungen von Handlungen als Verwirklichung der Vernunft. Das Anfangen versteht sich darin als ein Sollen, das das Subjekt ermächtigt, wahre Ganzheit zu verwirklichen. Die Möglichkeit des Anfanges ist allerdings erst durch eine absolute Grenze zwischen Subjekt und Ding an sich gewährleistet. Der Andere als Gott (Vollkommenheit), wie er bei Descartes nachträglich als Prius aufgerufen wird, ist strukturell hier durch die absolute Jenseitigkeit des Dings an sich ersetzt. Die transzendente Instanz des Gottes, der bislang ein Weltganzes garantierte, wird nun also zu einer transzendenten Figur innerhalb der Welt.

Diese kantische Wendung der Philosophie des Anfangs wird für Adorno begriffslogisch äußerst relevant und fundiert dessen utopischen Zugang zu Welt. Wir werden die kritische Abkehr von Kant, was sein utopisches Konzept angeht, noch herausarbeiten. Hier kommt es aber zuerst darauf an eine strukturelle Gemeinsamkeit aufzuweisen. Dafür wenden wir uns den beiden oben skizzierten kantschen Wendepunkten in Adornos Lesart zu, dem Ganzen als eine Sollbestimmung und dem Ding an sich als immanent-transzendente Grundlage aller Weltveränderung. 1. Dass das Anfangen als ein Sollen verstanden wird, rückt es von einer kosmologischen Fragerichtung in eine praktisch-ethische. Der Anfang ist nicht mehr als Seinsgrund zu verstehen, sondern als konkreter Akt der Veränderung von Welt nach den Einsichten der Vernunft. Darin hat es bereits den Charakter des Utopischen – es soll dasjenige verwirklichen, welches innerhalb der empirischen Welt keinen Platz hat, die konkrete Ganzheit der Menschheit. Adorno hält sein utopisches Denken streng unter diesem Vorsatz der Vernunft. Zu bedenken und zu unterscheiden ist allerdings die Stellung Adornos zum Begriff der Vernunftidee. Wer zu fragen wagt, was denn gesollt wird, wird bei Kant einmal auf die inhaltslose Form des kategoKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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rischen Imperativs verwiesen und zum anderen auf die Ideen, welche die Vernunft rein aus sich selbst zu entwickeln in der Lage ist. Der kategorische Imperativ sichert die Reinheit der Ideen ab: Wie konkret sich solche Ideen auch immer darstellen mögen, so zum Beispiel im Begriff des ewigen Friedens – dass sie überhaupt als reine Ideen der Vernunft der Wirklichkeit entgegengesetzt werden können, wird erst durch die in sich geschlossene Struktur des Sittengesetzes gewährleistet. Adorno übernimmt die Bestimmung der Ideen als grundsätzlich Nicht-seiendes, das innerhalb der objektivierten Welt bislang keine Existenz erfahren durfte, wendet sich aber strikt gegen die Einkapselung dieser Ideen in reine Vernunft. Wie haben wir aber Ideen ansonsten anzusehen, wenn sie weder Abstraktionen empirischer Sachverhalte darstellen, noch in reiner Vernunft wurzeln? »Der Gedanke, der kein Etwas denkt, ist keiner. So wenig wie anschaulich dürften die Ideen, der Gehalt von Metaphysik, Luftspiegelungen des Denkens sein; sonst würde ihnen jede Objektivität geraubt. Das Intelligible würde verschlungen von eben jenem Subjekt, das von der intelligiblen Sphäre transzendiert werden sollte. […] Der Begriff des Intelligiblen ist weder einer von Realem noch einer von Imaginärem. Vielmehr aporetisch.« 169

Adorno bestimmt hier die Idee als aporetische. Dieser aporetische Charakter der Ideen ist in ihrem Zwischen auszumachen, in dem Weder-Noch zwischen Realität und reiner, unberührter Geistigkeit. Die Ideen sind nicht real, sie sind wesentlich nicht und doch müssen sie zugleich die Ideen von Etwas sein, von Konkretem, dem sie ihre ›Objektivität‹ verdanken. Diese Oszillation der Ideen zwischen dem Konkreten und Nichtseienden eröffnet einen aporetischen Raum. Kein Ausweg erstrahlt dem findigen Sucher am Horizont zwischen Denken und Sein. Sie sind eben nicht identisch, Denken ist Denken von etwas, das es selbst nicht ist. Andernfalls bliebe Denken leer, so leer wie Hegel dies von dem abstrakten parmenideischen Gedanken des Seins behaupten konnte: eine Ausweglosigkeit des Denkens, von der her kein Anfang zu machen sei. Dann gilt es aber gerade, die Aporie selbst als die unauflösliche Differenz von Denken und Sein fruchtbar zu machen. Aber auch hierbei gilt es Vorsicht walten zu lassen: Wo der innere Widerspruch im Identitätsanspruch des Denkens metho169

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disch ins Denken zurückgelenkt wird, beschreitet das Denken nur scheinbar den Weg seiner Selbstentfaltung. Dies ist nicht bloß gegen Kant einzuwenden, sondern gilt in weit größerem Maße für Hegel. Der Schein gipfelt darin, die Differenz als das Leben des absoluten Geistes selbst zu hypostasieren. Gerade solche Formen der Absolutsetzung des Geistes verfallen schicksalhaft ihrer eigenen Differenz zum konkreten Sein. Die Ideen, die Sphäre des Intelligiblen, werden selbst wiederum von dem Subjekt ›verschlungen‹, das von der intelligiblen Sphäre transzendiert werden sollte. Der Anspruch Adornos geht nun dahin, die transzendierende Kraft der Ideen gerade dadurch offen zu halten, indem sie ihres innersten Bezugs auf das konkrete Seiende als Widerspruch gewahr werden und ihn ausstehen. Das bezeichnet den wesentlich utopischen Charakter der Kritischen Theorie. »Bereits im einfachen identifizierenden Urteil gesellt sich dem pragmatisch, naturbeherrschenden Element ein utopisches. A soll sein, was es noch nicht ist. Solche Hoffnung knüpft widerspruchsvoll sich an das, worin die Form der prädikativen Identität durchbrochen wird. Dafür hatte die philosophische Tradition das Wort Ideen. Sie sind weder χωρις noch leerer Schall sondern negative Zeichen.« 170 In der Umdeutung der Ideen als negative Zeichen werden sie ihres ontologischen Gehalts beraubt, sie werden nicht mehr als Wesensbegriffe zum Grund des Seins erhoben, sondern meinen eine wesentliche Bezugsform in der Transzendierung des Konkreten. Was ist, soll erst es selbst werden. Hierbei ist zu beachten, dass diese Transzendierung das Konkrete keinesfalls in eine andere Sphäre übersetzt, in die des Denkens, sondern dass das Konkrete dadurch erst wieder in eine eigene Form der Identität mit sich gelangen kann, aus der sie durch das Denken gerissen wurde. »Während das Denken dem, woran es seine Synthesen übt, Gewalt antut, folgt es zugleich einem Potential, das in seinem Gegenüber wartet, und gehorcht bewußtlos der Idee, an den Stücken wieder gutzumachen, was es selber verübte; der Philosophie wird das Bewußtlose bewußt. Unversöhnlichem Denken ist die Hoffnung auf Versöhnung gesellt, weil der Widerstand des Denkens gegen das bloß Seiende, die gebieterische Freiheit des Subjekts, auch das am Objekt intendiert, was durch dessen Zurüstung zum Objekt diesem verloren ging« 171

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Gerade in der spezifischen Differenz von Denken und Seiendem gerät utopisches Denken nun in den Anspruch auf Ganzheit. 172 Das Unbefriedete und Entzweite zwischen Denken und Sein wird von Adorno wesentlich in dem unbedingten Herrschaftsverlangen des Denkens gegenüber dem Seienden ausgemacht. So bedarf es des spezifischen Eingriffs des Denkens gegenüber den von ihm verdinglichten Dingen, um sie von ihrer ›Zurüstung zum Objekt‹ zu befreien und sie darin erst wieder mit sich eins werden zu lassen. Es ist dabei die spezifische Aktivität des utopischen Denkens, die Objekte des Denkens zu sich selbst zu befreien. Und gerade dafür bedarf es der Ideen, die das Seiende mit ihrem Sein-sollen aufzuladen in der Lage sind. Die Ideen sind darin die Mittel, die Objekte zu den ›Sachen selbst‹ zu transzendieren. Daraus gewinnt Adorno den Begriff einer Totalität im Partikularen. »Was einmal am System legitim das Einzelne überstieg, hat seine Stätte außerhalb des Systems. Der Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist, säkularisiert die Metaphysik. Erst Fragment als Form der Philosophie brächte die vom Idealismus illusionär entworfene Monade zu dem Ihren. Sie wäre die Vorstellung der als solche unvorstellbaren Totalität im Partikularen.« 173 Doch bedacht muss werden, dass diese transzendierende Aktivität des Denkens gegenüber den Objekten, selbst ein Überlassen des Denkens an seine Gegenstände darstellt. »[…] Erkenntnis, damit sie fruchte, [wirft] a fond perdu sich weg an die Gegenstände. Der Schwindel, den das erregt, ist index veri; der Schock des Offenen, die Negativität, als welche es im Gedanken und Immergleichen notwendig erscheint, Unwahrheit nur fürs Unwahre.« 174 Im Begriff der Transzendierung der Dinge zu sich selbst findet das utopische Denken also zu einem positiven Begriff von Ganzheit durch die Differenz hindurch: Die Totalität im Partikularen. Das meint aber keine Form der Ganzheit im Sinne des Abgeschlossenseins, sondern vielmehr und paradoxerweise die Idee einer Ganzheit im Offenen. Dass solche Offenheit, in der das Einzelne erst zu seiner Ganzheit zurückfindet, vom Standpunkt identifizierenden Denkens 172 Fabian Geier spricht von einem regulativen Holismus im Denken Adornos und weist dabei bereits den strukturellen Bezug zum kantschen Ansatz aus, den wir hier weiter verfolgen. Vgl. Fabian Geier, Die Irrelevanz des Wirklichen. Oder: Zufall als Individuationsproblem, Freiburg/München 2007, S. 358. 173 GS 6, S. 38 f. 174 GS 6, S. 43.

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bloß als Negativität verstanden werden kann, hat seinen Grund gerade darin, dass solche Offenheit einzig durch eine Selbstnegation des Denkens erreicht werden kann. Bevor ich auf diese Selbstnegation des Denkens zur Offenheit weiter eingehe, soll hier jedoch festgehalten werden, dass dem Begriff der Ganzheit im Einzelnen bereits auch eine andere Form der Ganzheit im Allgemeinen zu Grunde liegt. Die Offenheit ist nämlich bereits als eine Versöhnung verstanden und Versöhnung wiederum als eine offene Ganzheit des Verschiedenen. Adorno sieht also in der transzendierenden Funktion der Ideen nicht bloß den Begriff einer Ganzheit des Einzelnen mit sich, sondern zugleich ein Miteinander des Verschiedenen. »Die Unwahrheit aller erlangten Ideen ist verkehrte Gestalt der Wahrheit. Die Ideen leben in den Höhlen zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen, und dem, was ist. Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen. Um ihretwillen reflektiert Identifikation sich derart, wie die Sprache das Wort außerhalb der Logik gebraucht, die von Identifikation nicht eines Objekts sondern von einer mit Menschen und Dingen redet.« 175

Die Offenheit stiftet ein Miteinander, das sich in den Formen der Mimese und der Empathie wieder zu einer ganzen Welt zusammen zu fassen trachtet. Die Idee der Totalität, wie wir sie bei Kant als Grundlage des Sollens vorfinden, wird hier also in zwei Begriffen gewendet: im Konzept der Sache selbst und im Begriff der Versöhnung. Nun müssen wir uns aber gerade des spezifisch negativen Moments solcher utopischer Strategie zuwenden, um den spezifischen Unterschied in der Wendung der kantschen Philosophie klarzustellen. Damit rückt das zweite Moment, das des Dings an sich als absolute Grenze, in den Fokus. 2. »Der Begriff des Intelligiblen ist die Selbstnegation des endlichen Geistes. Im Geist wird, was bloß ist, seines Mangels inne; Abschied vom in sich verstockten Dasein ist der Ursprung dessen am Geist, worin er sich sondert von dem naturbeherrschenden Prinzip in ihm. Diese Wendung will, daß er auch nicht sich selber zum Daseienden werde: sonst wiederholt endlos sich das Immergleiche. Das Lebensfeindliche am Geist wäre nichts als verrucht, gipfelte es nicht in seiner Selbstbesinnung. Falsch ist Askese, die er anderem abverlangt, gut seine eigene: in seiner Selbstnegation überschreitet er sich;

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der späteren Kantischen Metaphysik der Sitten war das nicht fremd, wie man erwarten würde. Um Geist zu sein, muß er wissen, daß er in dem, woran er reicht, nicht sich erschöpft; nicht in der Endlichkeit, der er gleicht. Darum denkt er, was ihm entrückt wäre. Solche metaphysische Erfahrung inspiriert Kants Philosophie, bricht man sie einmal aus dem Panzer der Methode heraus. Die Erwägung, ob Metaphysik überhaupt noch möglich sei, muß die von der Endlichkeit erheischte Negation des Endlichen reflektieren. Ihr Rätselbild beseelt das Wort intelligibel.« 176

Die Selbstnegation des endlichen Geistes ist als Negation wesentlich eine Selbstbegrenzung, der Geist übt darin Askese von seiner identifizierenden Macht. Doch gerade diese Begrenzung, die Grenze selbst, der sich der Geist versichert, ist Voraussetzung von Transzendenz. Grenze und Transzendenz werden hier als wechselseitige Bestimmungen verstanden: Nur was einer absoluten Grenze ausgesetzt ist, steht auch im Anspruch einer Transzendierung. Transzendenz meint eben nicht eine Vermittlung, sondern vielmehr das Über-sich-Hinausgehen über den klaffenden Abgrund, den das identifizierende Denken jenseits der Identifikation hinterlässt. Hier ist darauf zu verweisen, dass der Begriff des Sprungs gerade als Kennzeichnung der Philosophie Adornos sehr problematisch ist. Gerade der Sprung wird für Adorno zum Gegenstand der Kritik an Kierkegaard. 177 Er kennzeichnet für den Protagonisten der Kritischen Theorie einen Rückfall in den Mythos. Am Begriff der Transzendenz hält Adorno aber dennoch fest. Sie drückt sich im Begriff der Selbstüberschreitung des Geistes durch seine Selbstnegation aus. Eine solche Selbstüberschreitung ist aber darum keineswegs in einer Vermittlung gegründet, sondern muss als ein Über-sich-Hinausgehen verstanden werden, da im Sinne Adornos dialektische Vermittlung das Selbst nur auf seine eigene Grenze aufprallen lässt, während es die Überschreitung der Grenze in einem der Dialektik jenseitigen Bereich erfährt. Dass eine solche Form der Transzendenz nicht dem Mythos verfällt, ist durch die Anerkennung einer absoluten Grenzen ermöglicht, während es zugleich gerade durch die Achtung dieser Grenze den Begriff eines radikal Anderen gewinnt. Es geht wiederum um die der Aporie eigene Kraft, im Widerspruch über sich hinauszuweisen und in der Erfahrbarkeit der ›Ausweglosigkeit‹ eine lebendige Erfahrung des offenen

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Feldes jenseits der Wegmarken des Denkens zu erlauben – und zwar für das Denken selbst. Wir haben es mit zweierlei Formen der Transzendenz zu tun: mit der Transzendierung des Geistes und der Transzendierung der Dinge. Beide sind auf einander angewiesen durch dasjenige, was ihre Möglichkeit der Transzendenz begründet, durch ihre absolute Grenze zueinander. Von diesem inneren Bezug durch eine absolute Grenze zeugt das vorangehende Zitat. Wenn hier von einer absoluten Grenze gesprochen wird, die allererst eine Transzendenz – und im Anspruch einer Selbst-überschreitung das Ganze – erfahrbar macht, dann ist damit bereits ein Verweis auf das Ding an sich als absoluter Grenzbegriff gemeint. Im Konzept des Nichtidentischen kann eine Nachfolgefigur des Dings an sich ausgemacht werden. Dabei gilt es aber, sich des grundlegenden Unterschieds dieser beider Konzepte zu vergewissern. Wenn die absolute Erkenntnisgrenze bei Kant zugleich den Frei-Raum der intelligiblen Sphäre sichert, so lässt sich auch bei Adorno ein wesentliches Konstituum des freien Geistes in der Anerkennung des Nichtidentischen ausmachen. Es ist zwar der Geist selbst, der dessen, ›was bloß ist, seines Mangels‹, inne wird, doch eben dieses Vermögen des Geistes, über das, was bloß ist, hinauszugehen und es als Mangel zu begreifen, wurzelt bereits in einer Anerkennung des Nichtidentischen. Es ist das ›Mehr-als-es-ist‹, das durch das Nichtidentische zum Ausdruck kommt. Dieses Mehr ist auf den ersten Blick durch den Geist selbst gewährleistet, der sich dessen bewusst ist, ›sich nicht in dem, an was er reicht, zu erschöpfen‹. Der Geist stellt in diesem Sinne das Mehr dar und eröffnet die Perspektive auf das Nichtidentische. Genauer betrachtet lässt sich allerdings feststellen, dass der Geist sich nur durch das konsequente Bewusstsein seiner eigenen Begrenztheit gegenüber seinen Objekten dieses Mehrs versichern kann, sonst verstünde er sich selbst als Daseiendes und verdinglichte sich zu einem bloß endlichen Gegenstand. Das Bewusstsein der Begrenztheit des Geistes wird durch seine eigene Selbstnegation gezeitigt. Die Transzendierung des Daseienden zum Nichtidentischen wie auch die Transzendierung des Geistes über das ›Endliche, dem er gleicht‹ bedingen sich wechselseitig und haben ihren Grund in der absoluten Grenze. Die konstitutive Rolle der Grenze wird bei Adorno aber weder als Sprung im Sinne Kierkegaards verstanden, noch als die Dialektik von Grenze und Aufhebung wie in Hegels Logik. Sie kann weder Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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übersprungen, noch in Vermittlung aufgelöst werden. Gegenüber diesen beiden Vorgängern Adornos beharrt er nämlich auf einer durchaus kantischen Denkart. Wenn wir davon sprechen, müssen wir ein anti-idealistisches Motiv Adornos stark machen. Wo der deutsche Idealismus in verschiedenen Spielarten Kant so interpretiert, dass das Ding an sich und die Sphäre des Intelligiblen letztlich zusammenfallen und er daraus den Begriff eines Absoluten extrapoliert, so besteht Adorno auf dem wesentlichen Unterschied von Geist und Gegenstand. Darin bleibt er Kant treu, der in seiner Erkenntniskritik das Ding an sich keineswegs mit autonomer Vernunft identifiziert. Das Ding an sich zeugt vielmehr von dem Bewusstsein, dass die durch das identifizierende Denken zugerichteten Gegenstände auf ein Nichtidentisches gegründet sind, das nicht dem Denken gleicht bzw. gleichen muss. Da es sich hierbei um einen Abgrund des Denkens handelt, weist es als Aporie aus (vgl. oben). Doch gerade darin finden sowohl Kant als auch Adorno das Fundament für einen emphatischen Begriff des Geistes, der sich metaphysischen Fragen nicht enthalten mag. Die Frage nach dem Ganzen wird gerade für das Denken relevant, das sich einer absoluten Grenze ausgesetzt sieht. Der wesentliche Unterschied ist darin zu suchen, dass Kant die Sphäre des Intelligiblen auf Grundlage der absoluten Grenze zu einem in sich abgeschlossenen Bereich des Geistes extrapoliert. Adorno hingegen besteht darauf, dass der Geist gerade angesichts einer absoluten Grenze sich nur durch einen (un-dialektischen) Bezug auf das Jenseits dieser Grenze konstituiert. Hier von einer absoluten Grenze zu sprechen, kann nur darum berechtigt sein, insofern diese Grenze absolut ist für den Geist selbst, der sich aber wiederum auf Erfahrung bezieht, die die Absolutheit der Grenze erfahrbar vermittelt, z. B. in der Form metaphysischer Erfahrung von Glück – eine geistige Erfahrung, die das dialektische Gerüst des Denkens sprengt. Geist, der sich auf das Jenseits seiner Grenze, auf das Nichtidentische bezieht, transzendiert sich also mittels einer Selbstnegation, die durch eine lebendige Erfahrung, die wir als metaphysische Erfahrung gekennzeichnet haben, ermöglicht wird.

II.5.5. Selbstnegation als Transzendenz »Nichts kann unverwandelt gerettet werden, nichts, das nicht das Tor seines Todes durchschritten hätte. Ist Rettung der innerste Impuls jeglichen Geis-

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tes, so ist keine Hoffnung als die der vorbehaltlosen Preisgabe: des zu Rettenden wie des Geistes, der hofft. Der Gestus der Hoffnung ist der, nichts zu halten von dem, woran das Subjekt sich halten will, wovon es sich verspricht, daß es dauere. Das Intelligible wäre, im Geist der Kantischen Grenzsetzung nicht weniger als der Hegelschen Methode, diese zu überschreiten, einzig negativ zu denken.« 178

Die Rettung als innerster Impuls jeglichen Geistes stellt Adorno in die kantsche Tradition der praktischen Philosophie. Doch zugleich interpretiert Adorno die moralische Sphäre grundlegend um. Schon bei Kant ist die Frage des ›Was soll ich tun?‹ in der Postulatenlehre durch die Frage des ›Was darf ich hoffen?‹ untermauert. Die Hoffnung (Gott, Unsterblichkeit und Freiheit) ist einerseits die Grundlage, auf der sich allererst ein praktisches und freies Handeln nach Sollgesetzen erheben kann, doch genauer betrachtet ist die Möglichkeit der Hoffnung durch das praktische Sollen gesetzt. ›Man kann, denn man soll‹ bedeutet nicht bloß die Erschließung eines möglichen Handlungsbereichs durch das in Freiheit gegründete Sollen, sondern muss auch so verstanden werden, dass wir einzig darum hoffen dürfen, weil wir dem Sollen unterworfen sind. Hoffnungen werden bei Kant unverschleiert zu Postulaten, zu praktischen Notwendigkeiten des Handelns. Die Hoffnungen werden zu Mitteln der praktischen Freiheit des Subjekts. Adorno hingegen verkehrt dieses Verhältnis. Um Willen der Hoffnung ergeht an das Denken die Forderung sich zu wandeln. Adorno setzt das Sollen als Mittel der Ermöglichung des Erhofften, des zu Rettenden. Nicht die Hoffnung dient dem Handeln, sondern das Handeln der Hoffnung. Wo bei Kant die praktische Philosophie um die Absicherung freien Handelns und mithin der Autonomie des Subjektes kreist, da versagt sich Adorno in vollem Bewusstsein solche Sicherheit. »Nirgends sonst ist Wahrheit so fragil wie hier.« 179 Diese Rücknahme sicheren und in sich gegründeten Denkens grenzt den Möglichkeitsbereich des Handelns radikal ein. Es kann sich nicht länger aus dem autonomen Sollgesetz speisen, sondern muss das Sollen dem radikal Unsicheren, dem Erhofften unterwerfen. Das bedeutet auch, das Bewusstsein der Unsicherheit ins Zentrum des Geistes zu stellen. Dieses Bewusstsein ist das Bewusstsein der radikalen Begrenztheit und Endlichkeit. 178 179

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Das Bewusstsein der radikalen Begrenztheit, der absoluten Grenze, meint auch eine Beschränkung identifizierenden Verhaltens; einerseits im Sinne der Einschränkung praktischer Weltgestaltung und andererseits im Sinne des Erkenntnisvermögens. Diese Strategie der Unsicherheit und Begrenzung hat ihren Grund in einer Gefahr, die Adorno dem kantisch-idealistischen Denken 180 zuweist: Die Kraft der Transzendenz verliert der Geist gerade dort, wo er seine Begrenztheit durchstreicht. Die Reinheit und Außerzeitlichkeit der intelligiblen Sphäre wird von Adorno als eine Strategie der Absicherung des Denkens verstanden. Das Denken sichert hier seine lückenlose Selbstbegründung durch blinde Abschottung vor dem, was es zu denken gilt: »Das Subjekt – selber nur beschränktes Moment – ward von ihr für alle Ewigkeit in sein Selbst eingesperrt, zur Strafe seiner Vergottung. Wie durch die Scharten eines Turms blickt es auf einen schwarzen Himmel, an dem der Stern der Idee oder des Seins aufgehe. Eben die Mauer ums Subjekt jedoch wirft auf alles, was es beschwört, den Schatten des Dinghaften, den subjektive Philosophie ohnmächtig dann wieder befehdet.« 181

Diese Charakterisierung metaphysischen Denkens als ›Guckkastenmetaphysik‹ betrifft genau unsere Frage. Die Gefahr der Ausblendung oder positiven Überschreitung der Begrenztheit des Denkens lässt sowohl das Denken selbst als auch das zu Denkende in den Schatten des bloß Dinghaften versinken. Geist und Gegenstand des Geistes werden darin zu bloß Daseienden. Die Möglichkeit von Transzendenz ist darin grundlegend verwehrt. Ohnmächtig, weil in sich eingemauert, verliert das Denken sein eigenes Vermögen: mehr zu erblicken als bloß ist, der Hoffnung zu dienen. Damit wird aber auch das Sollen ein anderes: Der Bezug auf die Grenze kann eben nicht mehr durch das Sollen transzendiert werden, da sich gerade darin eine Einmauerung des Subjekts vollzieht; das Sollen muss vielmehr selbst als Begrenzung gedacht werden, um Transzendenz überhaupt ermöglichen zu können. Das Sollen als Mittel zur Ermöglichung von Hoffnung wird zu einem grundlegenden Nicht-Sollen: Das Denken soll sich nicht absolut setzen, die Gegen180 In der Auseinandersetzung mit Kant scheint mir Adorno zwischen zwei Lesarten des Königsbergers zu oszillieren. Einmal wird Kant als Denker in Brüchen und Abgründen gelesen, wie sich oben erwiesen hat, dann aber auch als ein proto-idealistischer Denker, als der Kant im fichteschen Verständnis. 181 GS 6, S. 143.

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stände sollen nicht bloß Daseiende sein, die Weltverhältnisse sollen nicht auf einer Identifikation beruhen. Mit dieser Form der Begrenzung als einem Nicht-Sollen vollzieht sich aber wiederum eine echte Überschreitung der Grenze des Selbst – sie vollzieht sich als Selbstnegation, die darin einen Raum des Anderen eröffnet und zulässt. Betrachten wir nun genauer, um was es dem Geist der Hoffnung geht, was er zu retten vorhat, dann müssen wir feststellen, dass es sich nicht mehr um die klassischen metaphysischen Ideen handelt. Nicht Gott ist zu retten, nicht die Unsterblichkeit und nicht die Autonomie. Diese metaphysischen Ideen stellen vielmehr selbst schon eine ›Vergottung‹ des Subjekts dar, die es zu vermeiden gilt. Das zu Rettende ist vielmehr das, was das Denken immer schon zu denken hat, nämlich ein jeweiliges Etwas, das Konkrete und Besondere, es ist das Nichtidentische. Und wie wir oben gesehen haben ist das Nichtidentische als das zu Rettende der utopische Punkt, der auf den eigentlichen Anfang in der Erlösung bezogen ist und selbst eine Transzendenzfigur bezeichnet. Kritik zeigt bei Adorno die Widersprüche auf, die in einer Sache zu ihrem Begriff liegen, und umgekehrt. Sie verhält sich in diesem Sinne negativ. Zugleich zielt Kritik aber auf ein ›Mehr‹, das ›Mehr des Begriffs gegenüber der Bedürftigkeit‹ des Einzelnen. Frei zu sein, kann einem Einzelnen nicht im vollen Wortsinn zugeschrieben werden, solange er im falschen Ganzen, in der Totalität gesellschaftlicher und denkformaler Zwänge lebt. Er ist in die Struktur der Herrschaft und Unfreiheit derart verstrickt, dass das Attribut »frei« auf etwas weist, was er nicht ist. »Einen als frei rühmen, hat sein Spezifisches in dem sous-entendu, dass ihm ein Unmögliches zugesprochen wird, weil es an ihm sich manifestiert; dies zugleich Auffällige und Geheime beseelt jedes identifizierende Urteil, das irgend sich verlohnt.« 182 Der Begriff der Freiheit bezeichnet etwas mehr, als was der Einzelne an sich hat, der frei genannt wird. Der Maßstab, von dem her jemand als frei bezeichnet wird, liegt im Begriff der Freiheit, dem der Einzelne aber angesichts der realen Verhältnisse nicht nachkommen kann. Das ›Mehr‹ des Begriffs gegenüber der Bedürftigkeit des Einzelnen liegt nicht in einer größeren Vollständigkeit des Begriffs, sondern in der Konfrontation, die Begriff und Einzelnes in ihrem Mangel aufeinander bezieht; denn auch der Begriff ist »›insuffizient‹ gegenüber seiner Verwirklichung: Wird dem Einzelnen angesichts des Identi182

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tätsbanns das Unmögliche zugeschrieben, dass er als frei gilt, so zeigt sich darin, dass der Begriff ungenügend bleibt, wo er nicht der Wirklichkeit und diese nicht ihm entspricht, es zeigt das Zurückbleiben des Begriffs hinter sich in seinem Gebrauch. Der Begriff bleibt leer, letztlich falsch, wenn es nichts Besonderes gibt, das ihm gerecht zu werden vermag. In diesem Sinne ist auch der Einzelne, das Besondere »mehr«, ein unerreichter Maßstab gegenüber dem Begriff. Allgemeines und Besonderes stehen nicht in einem Gegensatz, sondern sind untrennbar aufeinander verwiesen. In ihrer Konfrontation miteinander sind sie sich gegenseitig ein Maßstab für Wahrheit und Richtigkeit, dem sie nicht nachkommen, solange sie unter dem Bann stehen, zugleich aber auch eine Aussicht und Sehnsucht nach einer Veränderung zum Besseren. Das Mehr, das beide in ihrem Mangel erscheinen läßt, verweist auf eine echte Entsprechung, wahre Identität. Dieses Verhältnis wechselseitiger Transzendierung und Verfehlung von Begriff und Sache im jeweiligen ›Mehr‹ eröffnet ein Feld indirekter Begegnung von Denken und Dingen, das gerade dadurch ermöglicht wird, dass sowohl das Denken als auch deren Gegenstände in ihrer Differenz belassen bleiben. Gerade damit optiert er aber gegen die Subjektzentrierung der traditionellen neuzeitlichen Philosophie. Adorno argumentiert gegen Kant und gegen Hegel mit dem gleichen Argument, nämlich, dass beide Denker letztlich der Verabsolutierung des Subjekts das Wort geredet hätten. Auch wenn die Kritik scheinbar auf das Gleiche geht, kritisiert Adorno doch die kantsche Position mit Hegel und die hegelsche mit Kant. Dieses Verfahren der Kritik basiert auf dem Begriff der radikalen Andersheit in den Formen von Heterogenität und Heteronomität. Aus Adornos Sicht gibt die kritische Philosophie Kants durch ihre Selbstbegrenzung des Erkenntnisvermögens in ausgezeichneter Weise gegenüber der trad. Metaphysik dem Heterogenen Rechenschaft. In diesem Sinne lässt sich das Nicht-Identische als eine Nachfolgefigur des Ding an sich interpretieren. Doch diese spezifische Achtung des Anderen als Heterogenes wird durch die Auslöschung der Heteronomie konterkariert. Das Subjekt macht sich zum einzigen Konstituens von Erkenntnis und Wahrheit, da es nur das eigene Denken zum Maßstab (Gesetz) der Wahrheit macht; es gibt sich als autonom, eigengesetzlich und spricht seine Bedingtheit vom Nicht-Identischen ab. Adorno sieht sich in der Gefolgschaft Hegels, der in seinen Augen eben die Heteronomie in den Formen des Bedingtseins, der Differenz und des Widerspruch gegen den Begriff einer sich ver146

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schließenden Autonomie des Subjekts ins Feld führt. Dialektik ist damit immer schon Rechenschaft gegenüber dem Heteronomen, wo es den Widerspruch von Identität und Bedingtsein, von Differenz und Ganzheit bedenkt. Doch Adorno zufolge schlägt diese Achtung der Heteronomie wiederum in die Missachtung des Heterogenen um, da sich die Differenz und der Widerspruch zur bloßen Vollzugsfigur einer sich totalisierten Subjektivität wandeln. Adorno findet also ein Denken vor, dass die Achtung der Heterogenität durch die einsame Autonomie des Subjekts erkauft, und ein Denken, das um Willen eines Erfahrungsbegriffs des Denkens, die Heterogenität des Erfahrenen verleugnet. Zur Wahrung der Andersartigkeit des Nicht-Identischen bedarf es nun Kant gegen Hegel und Hegel gegen Kant zu lesen, das dialektische Denken negativ werden zu lassen, oder anders und mehr gesagt, die Dialektik zum Stillstand zu bringen. Diese Stilllegung der Dialektik ist hier wesentlich als eine Selbstbegrenzung des subjektiven Anspruchs zu verstehen, das durch diese Begrenzung gerade die Möglichkeit eröffnet einen unverstellten Weltzugang zu finden, sich der Welt gegenüber gewaltlos zu öffnen. Nun wird das Wechselverhältnis von Transzendierung der Dinge und des Geistes angesichts der radikalen Grenze beider klarer. Dadurch, dass das Denken sich bewusst macht, dass die Dinge jenseits der Grenze identifizierender Erkenntnis mehr sind als bloße Gegenstände, transzendiert es sie. Das Nichtidentische meint dabei also nie bloß eine Negation, sondern vollzieht in der Negation zugleich die Eröffnung des Mehr-sein-könnens. Gerade darin jedoch entspricht der Geist seinem Transzendenzvermögen, das ihn mehr sein lässt als die Apparatur des Denkens. Der Geist und das Nichtidentische überschreiten die Grenze, die sie zueinander in Verhältnis setzt, gerade nur in der radikalen Anerkennung dieser Begrenztheit. Dieses Übersich-Hinausgehen in der Begrenzung lässt sich in der Philosophie Adornos im Konzept der metaphysischen Erfahrung wieder finden. 183 Das Konzept des Dings an sich wird hier durch das Konzept des Nichtidentischen aufgenommen. Nun haben wir gesehen, dass gerade in diesem Grenzbegriff einerseits die Möglichkeit der Wiederherstellung eines ganzen Erfahrungsraums entsteht: Denn einzig im Bewusstsein der Grenze gelingt dem Denken eine Offenheit gegenüber der Sache des Denkens, die sich ihm in metaphysischen Erfahrungen 183 Vgl. dazu die Erläuterungen zur metaphysichen Erfahrung im Teil ›Metaphysicher Erfahrung und Verzweiflung.‹

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lebendig darstellt. Andererseits erlaubt auch erst diese radikale Eingrenzung und Selbstnegation des Denkens die Möglichkeit zu einer grundlegenden Veränderung von Welt: ›Nichts kann unverwandelt gerettet werden.‹ Das negativ-utopische Denken sichert die Möglichkeit des Wandels gerade durch diese radikale Eingrenzung ab. Es muss das Tor des eigenen Todes durchschritten haben, d. h. es muss sich in die eigene Beschränktheit und Endlichkeit eingefunden haben, um darüber hinauszuweisen. 184 Das utopische Denken findet also erst darin zu einem eigentlichen Anfang, indem es seine Begrenzung vollzieht. Darin ergibt sich ein Raum der Offenheit, der sowohl die reale Andersartigkeit des Nichtidentischen als auch die Möglichkeit der Veränderung dessen, was ist, umfasst. Utopisches Denken bezieht sich also auf die Ganzheit der Welt im Sinne eines offenen Begegnungs- und Erfahrungsraums, der in einem ständigen Überschuss, dem Mehr, als es ist, zutage tritt. Den Anfang und Eintritt in diesen Raum der Offenheit macht utopisches Denken allerdings durch seine Begrenzung hindurch, durch Selbstnegation. Dass sich solche Selbstnegation nun nicht nur als eine Negation im Sinne der Verneinung verstehen lässt, sondern dort in einer gewandelten Form auch als die hegelsche Negation als Setzung auftaucht, erweist sich im Begriff der utopischen Negation als Verortung wie ich sie im Teil ›metaphysische Erfahrung und Verzweiflung‹ aufgewiesen habe. 185

II.5.6. Monade, Fragment und Konstellation als Vollzugsformen von Versöhnung So bilderlos sich die negativ-utopische Philosophie auch darstellt, so wenig liegt diese Bilderlosigkeit jedoch in einem Verzicht auf Modelle utopischer Ganzheit. Auf zwei verschiedenen Ebenen müssen diese Modelle nun angelegt sein: Sie müssen zum einen das Modell einer Ganzheit im Bewusstsein der absoluten Grenze der Identifikation wie auch das Modell eines die Identitäten umspannenden, offenen Begegnungsraums umfassen. Erstere hangeln sich am Ideal einer Totalität im Partikularen ent184 Vgl. dazu das Kapitel zur Leiderfahrung und der darin dargestellten Frage nach einer Versöhnung des Lebens angesichts des Todes. 185 Siehe dazu das Kapitel Denken gegen das Denken.

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lang und werden von Adorno anhand philosophiegeschichtlich relevanter Konzepte wie dem der Monade oder des Fragments behandelt. Die zweite Ebene kommt in dem Konzept der Konstellation zum Ausdruck. Alle drei Formen, Monade, Fragment und Konstellation 186 sind aufeinander verwiesen und meinen verschiedene Aspekte einer Vollzugsmöglichkeit von Versöhnung, die sich als wahre Form von Ganzheit jenseits des Herrschaftsanspruchs des Identitätsdenkens verstehen lässt. Diese drei Formen – die nicht beanspruchen, die Modelle utopischer Ganzheit vollständig abzubilden – sollen im Weiteren erörtert und in ihrem inhaltlichen Zusammenhang dargestellt werden.

II.5.6.1. Monade Wenn Adorno den leibnizschen Monadenbegriff aufruft, dann stets in Auseinandersetzung mit der Frage nach der Stellung des Individuums in der Totalität des Falschen. Und wie diesem wird auch der Monade eine zwiespältige Würdigung zuteil. Das Individuum ist zum einen falsche Identität, die im Schein seiner Selbstbestimmtheit den Zwang des falschen Ganzen reproduziert. »Wenn wirklich, wie eine zeitgenössische Theorie lehrt, die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das Individuum als Monade. An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen des je Einzelnen läßt sich das Wesen der Kollektive in der falschen Gesellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt, daß man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realitätsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte Räuberbande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör aufzufassen hat.« 187

Vgl. Martin Jay, Positive und negative Totalität. Interdisziplinarität als Erkenntnismethode gesellschaftlicher Totalität, aus: Sozialforschung als Kritik, Hrsg. W. Bonß und A. Honneth, Frankfurt a. M. 1982, S. 73: »Wahrheit könne nur entdeckt werden, indem man den Konstellationen der gegebenen Elementen erlaube, zur Figur zu geraten, ein plötzliches und momentanes Aufblitzen einer Wirklichkeit, die nicht Totalität sei.« Hier wird zudem herausgearbeitet, inwiefern selbst der interdisziplinäre Ansatz Adornos als methodische Vorfigur der Konstellation zu verstehen ist. 187 GS 4, S. 50. 186

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Doch zum anderen ist gerade an das Individuum die Möglichkeit des Widerstandes übergeben, in ihm liegt die Hoffnung auf einen grundlegenden Bruch mit dem falschen Ganzen. So auch die Monade: Zum einen gilt sie als Idealbild des autistischen Selbst, des in sich abgeschlossenen Wahnbildes bürgerlicher Selbstbestimmtheit. Zum anderen gibt die Monade aber auch das Idealbild einer Totalität im Partikularen ab, die insbesondere bei Kunstwerken ein verwandeltes Verhältnis von Besonderheit und Allgemeinheit darstellt. 188 Betrachten wir diese Zwiespältigkeit des Monadenbegriffs genauer, finden wir darin selbst die Widersprüchlichkeit des Identitätsbanns aufbewahrt. Die Monade als radikale Individuation, die dem Begriff nach zugleich das Ganze in sich widerspiegelt, entspricht laut Adorno dem Anspruch totaler Verwertbarkeit der ökonomischen Sphäre. »Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten west das Individuum fort. Es steht sogar unter Schutz und gewinnt Monopolwert. Aber es ist in Wahrheit bloß noch die Funktion seiner eigenen Einzigkeit, ein Ausstellungsstück wie die Mißgeburten, welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden. Da es keine selbständige ökonomische Existenz mehr führt, gerät sein Charakter in Widerspruch mit seiner objektiven gesellschaftlichen Rolle. Gerade um dieses Widerspruchs willen wird es im Naturschutzpark gehegt, in müßiger Kontemplation genossen.« 189

Die monadologische Struktur des Individuums, an die die Kraft der Emanzipation von Zwangsverhältnissen in der Aufklärung übertragen wurde 190, stellt gerade in seiner radikalen Vereinzelung das Musterbild des totalen Zwanges dar. Die totale Abschottung der Einzelinteressen von der Idee einer solidarischen Ganzheit der Menschen entspricht dem Gesetz der Selbsterhaltung, das den Nukleus der kapitalistischen Wertlogik ausmacht, wo sie ihre systematische Geschlossenheit einzig durch die antagonistische Ausrichtung der Partikularinteressen gewinnt. Das bürgerliche Individuum als Monade

188 Vgl. GS 7, S. 268 ff. und: »Die spezifisch künstlerische Leistung ist es, ihre übergreifende Verbindlichkeit nicht durch Thematik oder Wirkungszusammenhang zu erschleichen, sondern durch Versenkung in ihre tragenden Erfahrungen, monadologisch, vorzustellen, was jenseits der Monade ist.« GS 7, S. 133. 189 GS 4, S. 153–154. 190 Dazu im Kapitel die monadologische Struktur der Moral.

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spiegelt tatsächlich das Ganze des Funktionsgesetzes moderner Gesellschaften, weil es drei entscheidende Momente dieses systematischen Zusammenhanges ausdrückt: Antagonismus, Ohnmacht und Verdinglichung. Das vereinzelte Individuum erblindet in seiner Angst um den Selbsterhalt gegenüber einer solidarischen Idee von Menschheit und erkennt im Anderen bloß den Konkurrenten im Kampf ums Dasein. Gerade darin isoliert sich das Individuum jedoch derart gegenüber den Zusammenhängen, denen es entwächst, dass sie ihm zu einer schicksalhaften Macht werden, der gegenüber es mit totaler Ohnmacht geschlagen ist. Adorno sieht gerade in dem Strukturmoment totalitärer Herrschaftsformen, die das Kollektiv dadurch herzustellen in der Lage sind, indem sie die Mitglieder der Gesellschaft isolieren, die Konsequenz des monadologischen Selbstverständnisses bürgerlicher Subjektivität. Die Ohnmacht des Einzelnen wird durch die Beschwörung seines ›fensterlosen‹ Eigeninteresses ideologisch zementiert. Und genau darin wiederum wird der Einzelne selbst bloß Funktionsträger des Zwangszusammenhangs; er wird bloßes Mittel einer Wertlogik, die im jeweils Besonderen einzig noch Mittel und Tauschverhältnisse ausmachen will. Die Interpretation Adornos geht hier dahin, in der absoluten Isolation des autonomen Selbst in seiner Setzung als Selbstzweck den Grundstein zu sehen, der den konkreten Einzelnen zur bloßen ›Funktion seiner eigenen Einzigkeit‹ werden lässt. Die Idee des Selbstzwecks verkehrt sich hier in die rückhaltlose Vermittlung jedes Einzelnen und macht ihn darin zum Ding unter Dingen, zum bloßen Mittel und zur Funktion des Ganzen. Der Begriff der Monade weist sich hier also zuerst als Negativbegriff aus, der die fatale Dialektik von Einzelnem und Ganzem zum Ausdruck bringt. Die negative Dialektik Adornos kreist zentral um die Frage nach der Möglichkeit, sich diesem fatalen totalen Zusammenhang zu entziehen. Solche Möglichkeit und mithin die Kritik am Bestehenden darf sich aber keineswegs in einer blinden Kritik am Individualismus verlieren, wie es Adorno der reaktionären Kulturkritik vorwirft. »Die Gesellschaft wird dabei als das unmittelbare Zusammenleben von Menschen angesprochen, aus deren Haltung gleichsam das Ganze folgt, anstatt als ein System, das sie nicht bloß umklammert und deformiert, sondern noch in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen bestimmte. Durch die allmenschliche Interpretation des Zustands, wie er ist,

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wird noch in der Anklage die krude materielle Realität hingenommen, die das Menschsein an die Unmenschlichkeit bindet.« 191

Die Stellung des Ganzen zum Besonderen stellt sich selbst als ein Antagonismus der Ganzheiten dar. Das Ganze der Zwangsverhältnisse steht als Koloss dem Einzelnen gegenüber, das in sich abgeschlossen – darin der Idee nach als Ganzes – seine eigene Unterdrückung reproduziert. »Das Individuum spiegelt gerade in seiner Individuation das vorgeordnete gesellschaftliche Gesetz der sei’s noch so sehr vermittelten Exploitation wider.« 192 Der Bruch mit dieser Strukturlogik der Totalität kann nun keineswegs vom Besonderen und Individuierten absehen; im Gegenteil: Das Besondere muss gerade in den Blick genommen werden, um zu Perspektiven zu gelangen, wie dem Identitätsbann zu entkommen wäre. Das beinhaltet eine andere Denkweise von Ganzheit jenseits des Antagonismus der Ganzheiten. Adorno greift dafür auf die utopischen Ideen der aufklärerisch-marxistischen Tradition zurück, auf die Idee von Menschheit in Humanität und Solidarität. Sie meinen jeweils Modelle einer Ganzheit von Einzelnem und Ganzem, die nicht mehr durch Antagonismen vermittelt würden, sondern sich einzig durch das Bewusstsein der Individuen ergeben könnten, gerade in ihrem konstitutiven Bezug zu Anderem ihre Freiheit und Besonderheit zu gewinnen. Ein solches Bewusstsein muss aber der radikalen Unterschiedenheit des Besonderen und Allgemeinen Rechenschaft leisten, um nicht wiederum der Äquivalenzlogik des identifizierenden Denkens zu verfallen. »Nur durch dies Extrem von Differenzierung, Individuation hindurch, nicht als umfangender Oberbegriff ist Menschheit zu denken.« 193 Nun kann gerade im Begriff der Monade ein Modell ausgemacht werden, das es erlaubt, dieses ›Extrem von Differenzierung‹ gegenüber der Gleichschaltung des Besonderen fruchtbar zu machen. Das Individuum muss, will es sich der Totalität des Falschen entziehen, auf seine eigene Abgeschlossenheit gegenüber dem Ganzen reflektieren. Im Makel der radikalen Isolation liegt zugleich auch das Potential, einen Bruch mit dem Zwangszusammenhang des Ganzen herzuleiten. In der Dialektik der antagonistischen Ganzheiten reproduziert sich ein Widerspruch, der durch die Reflexion auf die monadologische

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GS 4, S. 169–170. GS 4, S. 169. GS 10,2 S. 627.

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Struktur bürgerlicher Subjektivität herauszuarbeiten ist. In diesem Sinne müsste die Idee der Ganzheit, die im Begriff der Monade durch ihre Fensterlosigkeit verbürgt ist, wesentlich als Widerspruch erfasst werden gegenüber ihrer völligen Entstellung in Isolation. Ist ein Begriff der Monade im Sinne der Isolation gefasst, ergibt sich hieraus ein Begriff der Nichtidentität, der den realen Verhältnissen näher kommt und sie darin bloßstellt. Monade steht dann für das konsequente Bewusstsein einer Nichtidentität von Ganzem und Einzelnem, von dem her erst ein Begriff eines versöhnten Ganzen und eines unbeschnittenen Besonderen gewonnen werden könnte. In diesem Sinne ist das Bewusstsein von der monadologischen Struktur der Subjektivität bereits Widerstand gegen sie und Bruch mit dem Anspruch identifizierenden Denkens. Die Monade ruft hier also erneut das Motiv der radikalen Grenze auf, das ich bereits für die Form der Selbstnegation als Transzendenz als ausschlaggebend erachtet habe. Die Abgeschlossenheit der monadischen Struktur ist Garant für radikale Kritik wie auch für eine grundlegende Öffnung zu einem Jenseits des falschen Ganzen. Gerade in diesem kritischen Potential des Monadenbegriffs als Bewusstsein des Bruchs von Individuum und Ganzem ist ihr hoffnungsvolles Moment enthalten, das Adorno im Weiteren im Begriff des Fragments auslotet.

II.5.6.2. Fragment und Gespräch »Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation. Einzig in ihr lebt der systematische Zug fort. Die Kategorien der Kritik am System sind zugleich die, welche das Besondere begreifen. Was einmal am System legitim das Einzelne überstieg, hat seine Stätte außerhalb des Systems. Der Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist, säkularisiert Metaphysik. Erst Fragmente als Form der Philosophie brächten die vom Idealismus illusionär entworfenen Monaden zu dem Ihren. Sie wären Vorstellungen der als solchen unvorstellbaren Totalität im Partikularen.« 194

Nachdem Adorno die entstellte Ganzheit des Individuellen anhand des leibnizschen Begriffs der Monade entwickelte und dabei wesentlich auf den Bruch von Einzelnem und Ganzem abhob, wird das po-

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GS 6, S. 38–39.

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sitive Moment des Monadenbegriffs hier im romantischen Konzept des Fragments fortgeführt. 195 »Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.« 196 So sicher die Kritik Adornos an den Romantikern Jenas ausfällt, so sicher haben wir im Konzept des Fragments eine Entsprechung. Dieser Bezug des Hegelianers Adorno ist wohl in erster Linie durch seine grundlegende Prägung durch Walter Benjamins Denken zu verstehen. »War Benjamins Dissertation einem zentralen theoretischen Aspekt der frühen deutschen Romantik gewidmet, so ist er einem Friedrich Schlegel und Novalis sein Leben lang verpflichtet geblieben, in der Konzeption des Fragments als philosophischer Form, die gerade als brüchige und unvollständige etwas von jener Kraft des Universalen festhält, welche im umfassenden Entwurf sich verflüchtigt.« 197

Die gerade in der Ästhetischen Theorie aufgegriffene Idee der Monade kehrt hier im Begriff des Fragments in positivem Sinn wieder, dies jedoch mit einer wesentlichen Akzentverschiebung. Wo die Vollkommenheit der Monade durch ihre völlige Abgeschlossenheit im Sinne der Blindheit und Fensterlosigkeit verbürgt ist, da meint auch das Fragment eine Vollkommenheit im Partikularen, jedoch liegt der Schwerpunkt dabei auf dem Bruch mit dem Ganzen seiner Umwelt. Das Fragment steht nicht bezugslos im Universum, sondern gerade im Bruch und im Widerstand zu ihm. Es erfährt seine Rundheit nicht durch Isolation, sondern durch Abwehr, gleich der stachelbewehrten Kugelhaftigkeit des Igels. Hier taucht das Moment des Bruchs und des Widerstandes in klarer Form auf, wenn auch zu bedenken gegeben werden muss, dass damit die Absichten der Frühromantik wohl reichlich verfremdet sind. Eines jedoch bleibt dabei unstrittig: In der 195 Vgl. dazu Jochen Hörisch,: Herrscherwort, Geld und geltende Sätze. Adornos Aktualisierung der Frühromantik und ihre Affinität zur poststrukturalistischen Kritik des Subjekts. In: Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Herausgegeben von Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke. Frankfurt 1980, S. 397–414. Im Weiteren auch: Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart-Nibbrig, Christiaan L. HartNibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität, Frankfurt am Main 1984. Und: Andreas Lehr, Kleine Formen: Adornos Kombinationen: Konstellation/Konfiguration, Montage und Essay. Freiburg 2000. 196 Athenäums-Fragmente 206 (aus: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967.) 197 GS 11, S. 570.

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Form des Bruchs und der Unvollständigkeit kommt spezifisch etwas von der Idee eines wahren Ganzen zum Ausdruck, das sich durch systematische und umfassende Darstellungen nicht fassen lässt, sondern gerade unter dem Systemanspruch zergeht wie Butter in der Mittagssonne. Gerade das Herausgebrochensein aus ihrem Zusammenhang verleiht den Fragmenten den Charakter des Vollständigen. Sie werden zu apodiktischen Formeln. Doch eben dieser apodiktische Charakter ist auf dem Hintergrund eines Gesprächs erwachsen. »Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten. Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe, und Memorabilien sind ein System von Fragmenten. Es gibt noch keins was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz subjektiv und individuell, und ganz objektiv und wie ein notwendiger Teil im System aller Wissenschaften wäre.« 198

Die Totalität im Partikularen stellt sich für Adorno gerade in der Form des Bruchs dar, als Fragment. In sich geschlossen erwehrt es sich einer kategorialen Identifikation. Fragmente meinen in diesem Sinne keine Aussagen, sondern sind vielmehr als Appelle zu verstehen. Ihre Vollständigkeit erhalten sie dann zum einen durch Abgeschottetheit gegenüber einem argumentativ-diskursiven Zusammenhang und andererseits gerade dadurch, dass sie aus einem Gespräch, einem Dialog herausgebrochen sind, deren Subtext sie in sich forttragen. Das Motiv des Gesprächs ist hier nicht zufälligerweise auf die Idee des Fragments als Totalität im Partikularen zu beziehen, sondern bekommt im Werk Adornos eine tragende Rolle. Hier ist die Zuwendung zum nichtidentischen Besonderen, die Utopie, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, durch die Metapher des Gesprächs ausgedrückt. Nicht umsonst geht der Forderung nach dem ›Fragment als Form der Philosophie‹ die Idee voraus, die Dinge zum Reden zu bringen: »Entäußerte wirklich der Gedanke sich an die Sache, gälte er dieser, nicht ihrer Kategorie, so begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden.« 199 Gerade in diesem Gesprächscharakter des Denkens mit seinen Gegenständen sucht Adorno eine Form nichtidentifizierenden Zugangs zum Wesen der Dinge, und darin dem Anspruch auf Wahrheit gerecht zu werden. Dieser Anspruch nach einer nichtkategorialen 198 199

Athenäums-Fragmente 77. GS 6, S. 38.

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Wesensschau verweist das Denken auf die Form des Fragments als Totalität im Partikularen als eine Form der Aussöhnung von Allgemeinem und Besonderem. Diesen Anspruch kann Adorno wesentlich im Modell des Gesprächs aufgreifen, des Gesprächs, in dem jeder Satz für sich steht und reiner Ausdruck seiner selbst zu sein beansprucht und doch sein Wesen erst dort entfaltet, wo es als Vollzugsmoment einer »Kommunikation des Unterschiedenen« 200 verstanden wird. In diesem Sinne meint das Fragment ein Modell einer nichtidentifikatorischen Ganzheit im Gespräch. »Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen. Das Innerste des Gegenstandes erweist sich als zugleich diesem auswendig, seine Verschlossenheit als Schein, Reflex des identifizierenden, fixierenden Verfahrens. Dahin geleitet denkende Insistenz vorm Einzelnen, als auf dessen Wesen, anstatt aufs Allgemeine, das es vertrete. Kommunikation mit Anderem kristallisiert sich im Einzelnen, das in seinem Dasein durch sie vermittelt ist.« 201

Fragmente sind also einerseits negativ zu verstehen als Brüche mit der Totalität identifizierenden Denkens und gerade darin andererseits appellative Aufrufe des Wesens der Dinge. In diesem Sinne vollziehen sie als Brüche eine Ganzheit des Verschiedenen in der Form des Gesprächs als Austragungsort von Wahrheit. Damit ist nun bereits eine Form utopischer Ganzheit aufgezeigt, die sich in Adornos Forderung nach einer ›Kommunikation des Unterschiedenen‹ ausdrückt. Dieser Aufweis ist bislang aber lediglich von Seiten der Negation und des Bruches hergeleitet, wo wir doch Fragmente als Negation der totalen Negativität des Identitätsbannes verstehen. Doch Adorno schlägt – ebenfalls angelehnt an Walter Benjamin – auch eine positive ›Methode‹ vor, wie das Denken in der Auseinandersetzung mit dem Anderen zu Ganzheit ohne identifizierende Gewalt kommen könne. Es ist das konstellative Denken.

II.5.6.3. Konstellation »Das Objekt öffnet sich einer monadologischen Insistenz, die Bewußtsein der Konstellation ist, in der es steht: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren. Solche immanente Allgemeinheit des Einzel200 201

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GS 10,2, S. 743. GS 6, S. 164.

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nen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte. Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat. Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.« 202

Im Zusammenhang mit der Idee der Konstellation finden wir wiederum zu dem positiven Gehalt des Monadenbegriffs, der im Fragment deutlich wurde. Es bedarf einer ›monadologischen Insistenz‹, um die Dinge zum Sprechen zu bringen, sie zu öffnen. Doch mit diesem Gesprächscharakter utopischer Ganzheit ist nicht bloß die Aussöhnung von Subjekt und Objekt gemeint. 203 Gerade beim Begriff der Konstellation lässt sich zeigen, dass die Dinge selbst miteinander im Gespräch stehen. Darin kommt die Gesprächsganzheit erst dem Anspruch nach, eine echte Nachfolgefigur der Totalität als Weltganzheit zu sein. »Das einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten, dadurch, daß nicht von den Begriffen im Stufengang zum allgemeineren Oberbegriff fortgeschritten wird, sondern sie in Konstellation treten. Diese belichtet das Spezifische des Gegenstands, das dem klassifikatorischen Verfahren gleichgültig ist oder zur Last. Modell dafür ist das Verhalten der Sprache. Sie bietet kein bloßes Zeichensystem für Erkenntnisfunktionen. Wo sie wesentlich als Sprache auftritt, Darstellung wird, definiert sie nicht ihre Begriffe. Ihre Objektivität verschafft sie ihnen durch das Verhältnis, in das sie die Begriffe, zentriert um eine Sache, setzt. Damit dient sie der Intention des Begriffs, das Gemeinte ganz auszudrücken. Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.« 204

Konstellationen verhalten sich gemäß dem Modell von Sprache. Wir müssen dabei aber auf das Verständnis Adornos von Sprache achten. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Begriff der Darstellung. Dahinter steht ein Verständnis von Sprache, das die aktuellen Versuche, die kritische Theorie mit der analytischen Sprachphilosophie zu verGS 6, S. 165. Vgl. zum Sprachcharakter des Utopischen: Rolf Tiedemann, Begriff Bild Name. Über Adornos Utopie von Erkenntnis, aus: Hamburger Adorno-Symposion, Hrsg. Michael Löbig und Gerhard Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 67–78. 204 GS 6, S. 164–165. 202 203

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weben, gründlich konterkariert. Sprache kann nicht einfach als Sprachakt betrachtet werden. Zu sehr verschreibt sich die analytische Philosophie der aussagelogischen Apparatur, um dem Gedanken der Darstellung angemessen zu sein. Sprache als Darstellung widerstrebt grundlegend der definitorischen Absicht eines systematischen wissenschaftlichen Schemas. Sie stellt eben etwas dar, was in dieser Darstellung nicht aufgeht, und vergewissert sich darin ihrer Verwandtschaft zur Kunst. Ebenso wenig kann Sprache als Darstellung jedoch als ›Zeichensystem‹ verstanden werden, in dem verschlüsselt und doch eindeutig Bedeutung generiert wird. Dem Darstellungsgedanken Adornos liegen vielmehr zwei Momente zu Grunde, zum einen die Sprache als Mimesis und zum anderen die Sprache als Benennung und Appellation. Wie so oft ist auch in diesem Moment das Denken Adornos durchtränkt von benjaminischen Konzepten. Sprache darf auch für den Frankfurter nicht als Medium begriffen werden, soll sie aus ihrer technischen Zurichtung heraustreten, was wiederum die Voraussetzung ist für einen konstellativen Zugang des Denkens zur Welt. Sprache als bloßes Mittel, als reines Zeichen verstanden, unterschätzt das wesentliche Beziehungsmodell, das sich in Sprache selbst vollzieht. Sie meint einen tatsächlichen Weltvollzug. Wie Benjamin davon sprechen konnte, dass eine Lampe seine eigene Sprache besitze 205, mit der es sich in die Welt stelle und der der Mensch in seiner Benennung entspräche, so findet sich dieser Gedanke auch bei Adorno: »Wohl aber transzendiert das in keinen vorgedachten Zusammenhang Auflösliche als Nichtidentisches von sich aus seine Verschlossenheit. Es kommuniziert mit dem, wovon der Begriff es trennte. Opak ist es nur für den Totalitätsanspruch der Identität; seinem Druck widersteht es. Als solches jedoch sucht es nach dem Laut. Durch die Sprache löst es sich aus dem Bann seiner Selbstheit. Was am Nichtidentischen nicht in seinem Begriff sich definieren läßt, übersteigt sein Einzeldasein, in das es erst in der Polarität zum Begriff, auf diesen hinstarrend, sich zusammenzieht. Das Innere des Nichtidentischen ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält. Zu sich gelangt es erst in seiner Entäußerung, nicht in seiner Verhärtung.« 206

205 Vgl. Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, aus: Walter Benjamin, Kairos. Schriften zur Philosophie, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konersmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–22. 206 GS 6, S. 165.

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Es ist nicht bloß das Subjekt, das sich sein Objekt sprachlich erschließt, sondern vielmehr liegt im Nichtidentischen ein Anruf an das erkennende Subjekt, ihm zum Laut zu verhelfen. Wo dem entsprochen wird, kommt es zu einem kommunikativen Geflecht, in dem das Objekt aus sich heraus in eine Kommunikation tritt mit dem, was in seinem Begriff nicht aufgeht. Die Dinge nehmen also das Denken als Austragungsort eigener prozessualer Konstellation in Anspruch. Sie gelangen in dieser Entäußerung zu sich selbst, ohne im Weiteren in ihrer Selbstheit eingesperrt zu sein. Damit werden die Dinge im Anspruch an das Denken selbst zu Bezugsformen, ihr Innerstes erweist sich als ihr Bezug zu dem, was sie nicht sind. Darstellung meint die Offenheit des Denkens, sich selbst zum Austragungsort solcher prozessualen Konstellationen der Welt zu machen. Dazu muss Denken wesentlich auf seine identifikatorische Tendenz verzichten, die dem Äquivalenzprinzip inne wohnt. Eine solche Öffnung des Denkens in der Darstellung vollzieht sich wesentlich als Mimesis. »Was abzielt auf das, was es nicht a priori schon selber ist und worüber es keine verbriefte Macht hat, gehört, dem eigenen Begriff nach, zugleich einer Sphäre des Ungebändigten an, die vom begrifflichen Wesen tabuiert ward. Nicht anders vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er verdrängte, der Mimesis, als indem er in seinen eigenen Verhaltensweisen etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren.« 207

Darstellung als Mimesis treibt sie über den bloßen Ausdruck hinaus. Mimesis meint eine Form der Angleichung ohne Äquivalenz, sie ist die Form, wie das Subjekt aus seinem Selbstverhältnis über sich hinauszutreten vermag. Mimesis stellt die Möglichkeit dar, dem Bann zu entkommen, den Menschen sich selbst unter dem Vorsatz totaler Naturbeherrschung aufgebürdet haben. Hierin liegt die Möglichkeit, die Mauer zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden ohne Reduktion des einen auf das Andere. Besonders delikat ist hierbei, dass gerade Adorno, der den Begriff des Mythos zum Statthalter des Rückfalls der aufklärerischen Vernunft erkor, sich dabei in ungeahnt positiver Weise auf Magie und Zauber bezieht – Begriffe, die die Nähe zu Walter Benjamin deutlicher machen als es die Würdigung und Kritik Adornos an seinem philosophischen Freund erahnen lassen. »Die Welt der Magie enthielt noch Unterschiede, deren Spuren selbst in der Sprachform verschwunden sind. Die mannigfaltigen Affinitäten zwischen 207

GS 6, S. 26.

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Seiendem werden von der einen Beziehung zwischen sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand, zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem Bedeutungsträger verdrängt. Auf der magischen Stufe galten Traum und Bild nicht als bloßes Zeichen der Sache, sondern als mit dieser durch Ähnlichkeit oder durch den Namen verbunden. Die Beziehung ist nicht die der Intention sondern der Verwandtschaft. Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt. Sie gründet keineswegs in der »Allmacht der Gedanken«, die der Primitive sich zuschreiben soll wie der Neurotiker; eine »Überschätzung der seelischen Vorgänge gegen die Realität« kann es dort nicht geben, wo Gedanken und Realität nicht radikal geschieden sind. Die »unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung«, die Freud anachronistisch der Zauberei zuschreibt, entspricht erst der realitätsgerechten Weltbeherrschung mittels der gewiegteren Wissenschaft. Zur Ablösung der ortsgebundenen Praktiken des Medizinmanns durch die allumspannende industrielle Technik bedurfte es erst der Verselbständigung der Gedanken gegenüber den Objekten, wie sie im realitätsgerechten Ich vollzogen wird.« 208

Die Rationalitätskritik Adornos weist sich hier deutlich aus. Rationalität, die dem Zwecke der Naturbeherrschung sich andiente und darin die ältere Form der Mimesis verdrängte, hat das Denken und die Welt selbst verwüstet und ausgedörrt bis zur Selbstverflüchtigung konkreter Subjekte in ihrem abstrakten Weltzugang. Darin noch wird Rationalität als verkehrte Mimesis verstanden. »Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selbst Mimesis: die ans Tote.« 209 Nun kommt es Adorno gerade darauf an, den Weltzugang des Menschen aus ihrem nekrophilen Fetischismus zu befreien und sich wiederum den Dingen als lebendige, ungebändigte Gegenstände des Denkens zuzuwenden. Mimesis, das Verfahren der Ähnlichkeit, und der Name werden zu den Vollzugsformen eines solch veränderten, des eigentlich utopischen Weltzugangs. Dies jedoch nicht im Sinne einer Rückkehr zum magischen Verfahren, das selbst noch zweckorientiert und darin technisch geprägt war, sondern als eine Re-Etablierung der Ansprüche der Vernunft in der menschlichen Einrichtung der Welt. Es ist gerade dieser utopische Anspruch, der sich im aufklärerischen Vernunftbegriff kundtat, welcher der zweckrationalen Zurichtung der Vernunft in der entzauberten Welt entgegenzuhalten 208 209

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GS 3, S. 26–27. GS 3, S. 75.

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ist. In diesem Sinne geht es nicht um eine Rückkehr zum Zauber, sondern vielmehr um eine Wiederbelebung der menschlichen Lebenswelt, die sich aus der Todesstarre der Abstraktion zu erheben hätte. Auch darin ist die Bedeutung der Utopie nicht zu unterschätzen, denn gerade in ihr lebt die Idee des Lebens im Lebendigen fort, das durch die radikale Verdinglichung instrumentalen Weltzugangs verschüttet war. Das Konzept der Mimesis als Angleichung ans ungebändigte, d. h. nichtidentische Andere wird bei Adorno durch die Idee des Anschmiegens und Sich-Versenkens fortgeschrieben. »Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daß sie sich selbst zum Absoluten werde. Eine Idee ist umzufunktionieren, die vom Idealismus vermacht ward und mehr als jede andere von ihm verdorben, die des Unendlichen. Nicht ist es an Philosophie, nach wissenschaftlichem Usus zu erschöpfen, die Phänomene auf ein Minimum von Sätzen zu reduzieren; Hegels Polemik gegen Fichte, der von einem »Spruch« ausgehe, meldet das an. Vielmehr will sie buchstäblich in das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen. Sie möchte ihm so nah sich anschmiegen, wie das Programm der Phänomenologie und das Simmels vergebens es sich wünschten: sie zielt auf ungeschmälerte Entäußerung. Einzig dort ist der philosophische Gehalt zu ergreifen, wo Philosophie ihn nicht oktroyiert.« 210

Deutlich wird hier, dass es in den Augen Adornos zu der Wiederbelebung des menschlichen Weltzugangs nicht eines einfachen Rückgriffs auf die Magie bedarf, sondern vielmehr eine zweite Entzauberung. Wo sich die Welt im rationalen Zugriff nach Webers Worten zu einer entzauberten wandelte, verdankt sich diese Entzauberung doch eigentlich dem magischen Trug einer allmächtig und absolut gesetzten Ratio. Die Entzauberung des Begriffs bedarf dabei eben eines Rückgriffs auf ein mimetisches Motiv: Die Gegenstände sind erstens grundlegend ungebändigt und different, d. h. sie gehen nicht in ihrer begrifflichen Fassung auf, und zweitens müssen sie als lebendige Sachverhalte jenseits kategorialer Ordnung aufgefasst werden. Beide Momente, die grundlegende Differenz und das Eigenleben der Objekte, werden hier im Begriff der Unendlichkeit aufgefasst. Es handelt sich dabei aber weder um die Unendlichkeit der Mannigfaltigkeit, noch um die schlechte Unendlichkeit ewiger Wiederholung, noch weniger um die Unendlichkeit der Leere des Alls. Es ist die Unendlich210

GS 6, S. 24.

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keit des Anderseins, der Nicht-erfassbarkeit des je Besonderen, die hier als utopische Wendung des Begriffs der Unendlichkeit aufgefasst werden kann und bereits bei den Ideen der Monade und des Fragments als im Bruch Vollendete implizit war. Hier, wie an vielen anderen Stellen, lässt sich eine spannende Denkverwandtschaft zwischen Adorno und Levinas ausmachen. Der Bezug zum radikal Anderen ist auch von Levinas gefasst als eine Beziehung die auf einer unendlichen Trennung beruht. 211 Dieser ›zauberhaften‹ Unendlichkeit des Besonderen kann das Denken nun wesentlich nur im mimetischen Verfahren entsprechen. Das Denken muss sich anschmiegen und versenken in das, was es nicht ist. Diese Form des Anschmiegens hat zweierlei Ebenen: Zum einen das Sich-Versenken, die Besinnung des Denkens, die Adorno zugleich als eine Entäußerung und – stärker noch – als ein Wegwerfen an den Gegenstand auffasst. Wir haben es dabei mit einer Nachfolgefigur des klassischen Muße-Begriffs zu tun. 212 Es meint die zweckfreie Besinnung, die sich so grundlegend dem zweckrationalen, begrifflichen Denken entzieht und im Konzept des mikrologischen bzw. verweilenden Blicks zu eigener Begrifflichkeit gelangt. Gerade diese Entäußerung des Gedankens an die Sache im verweilenden Blicken, im besinnlichen Denken, ist es aber, die eben die Objekte zum Sprechen bringe. 213 Und damit kommen wir auch dem aktiven Part und dem eigentlich konstellativen Anteil des Denkens nahe, das sein Bild in der Sprache findet. Das Anschmiegen findet nicht nur als ein Sich-wegwerfen statt, sondern zugleich auch als eine begriffliche Fassung des unendlichen Sachverhalts durch begriffliche Konstellationen. Begriffe haben sich zu versammeln um ihren Gegenstand, um dessen unendlichen Überschuss über den Begriff Rechenschaft leisten zu können. Erst darin kommen die Dinge zu einem ihnen adäquaten Ausdruck, ohne darin dem Begriff gleichgemacht worden zu sein. Konstellationen sind in diesem Sinne mimetisch, sich an die Dinge anschmiegend, aber dennoch nicht zweckrational verdinglicht. Die appellative Struktur, die ich dem konstellativen Denken zugeschrieben habe, kommt darin zum Ausdruck, dass gerade durch die besinnend-begriffliche Versammlung des Denkens um seinen Gegen211 212 213

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Vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 59 ff. Dazu ausführlich im Teil Muße als Friede. Vgl. GS 6, S. 38.

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stand diesem zum Laut verholfen wird. Die Objekte werden darin sozusagen angerufen, um sie zum Sprechen zu bewegen. Es handelt sich dabei um ein Wechselverhältnis, das nicht einfach in der Sprache, sondern vielmehr im Gespräch sein Urbild hat. Und darüber hinaus wird die appellative Funktion konstellativen Denkens in der Aufwertung des Namens erkenntlich. »Wie statt dessen zu denken wäre, das hat in den Sprachen sein fernes und undeutliches Urbild an den Namen, welche die Sache nicht kategorial überspinnen, freilich um den Preis ihrer Erkenntnisfunktion. Ungeschmälerte Erkenntnis will, wovor zu resignieren man ihr eingedrillt hat und was die Namen abblenden, die zu nahe daran sind.« 214 »Was anders wäre, das nicht länger verkehrte Wesen, weigert sich einer Sprache, welche die Stigmata des Seienden trägt: Theologie redete einmal vom mystischen Namen.« 215

Diese Aufwertung des Namens liegt wesentlich in einem theologischen Motiv, dem an anderer Stelle nachgegangen werden soll. Festzuhalten ist hier, dass dieses von Benjamin herrührende Motiv 216, das gerade im Namen etwas genannt – eigentlich angesprochen wird –, welches gerade nicht in diesem Namen aufgeht, hier relevant wird. Doch gerade Namen in ihrem theologischen Sinne sind in der Lage dieses Mehr-als zum Ausdruck zu bringen. Adorno geht dabei soweit, das Konzept des Namens zum Ausgangspunkt »metaphysischer Erfahrung« zu erheben. Es sind eben die Ortsnamen, wie Amorbach, die auf ein Mehr-als-da-ist hinweisen, und die Möglichkeit eines veränderten Weltbezugs eröffnen. Man muss dabei im Auge behalten, dass gerade dieses Mehr, das sich im Namen ausdrückt als Anruf, eine Aufforderung, ihm zu entsprechen, verstanden werden muss. Als solcher Aufruf, als Appell, rückt der Name das Denken in ein konstellatives Gespräch mit seinen Gegenständen, das ihrem grundlegenden ›Mehr‹ entspricht und das Denken aus seiner eigenen verdinglichenden Abstraktion befreit. Konstellationen sind in diesem Sinne Bezugsformen der Welt im Sinne des Gesprächs. Den monadologischen und fragmentarischen Formen der Ganzheit im Bruch wird durch die Konstellation ein Ganzheitsbegriff der Welt zugeordnet, der die Form des Gesprächs trägt. Mit diesem Konzept kommt Adorno der Forderung einer offenen Ganzheit nach. So 214 215 216

GS. 6, S. 61. GS 6, S. 292–293. Vgl. GS 10.1, S. 240.

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wie Gespräche weder durch Ausschluß noch durch Abschluß zu einem Ganzen werden, sondern sich nur durch ihr eigenes offenes Bezugsfeld jeweils fortweben, so haben wir mit der Konstellation eine nicht-abschlusshafte Form von Ganzheit vor uns, die in sich unendlich bleibt, ohne sich darum zu verlieren; sie bleibt Form, ohne Zwang zu sein.

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III. Die Schuld des Selbst angesichts der Utopie vom neuen Menschen

III.1. Aufriss In Adornos Konzeption des universalen Schuldzusammenhangs kulminiert die Radikalität der normativen Negativität in einer Weise, die selbst gewogene Leser abzuschrecken droht. Nicht bloß, dass man mit der Universalität von Schuld die Grenzen zwischen Opfern und Tätern ausgewischt zu sehen befürchtet. Die Frage stellt sich, ob aus dieser Warte überhaupt eine differenzierte, und wenn schon nicht gerechte, so doch wenigstens gerechtfertigte und rechtschaffene Stellung zu moralischen Fragen gewonnen werden kann. Und weiter, ob Adorno mit Formeln solcher Art nicht sein eigenes Unternehmen zu Schanden richte, wo es seinem Anspruch nach nicht weniger verfolgen soll, als dem Konkreten gerecht zu werden, das hier mit einem Wisch unter das Joch einer Universalschuld gezwungen zu sein scheint. Doch nicht bloß der generalisierende Charakter der Aussage selbst gibt Anlass zur Empörung, auch die Terminologie wirkt anstößig. Ist Schuld nicht ein durch himmlische und weltliche Gerichtbarkeit allzu aufgeladener Begriff? Zumal dann, wenn Adorno es nicht auslässt, selbst den Begriff der Erbsünde in den Diskurs wieder einzuführen. »Was immer der Einzelne oder die Gruppe gegen die Totalität unternimmt, deren Teil sie bildet, wird von deren Bösem angesteckt, und nicht minder, wer gar nichts tut. Dazu hat die Erbsünde sich säkularisiert.« 1 Es gibt Anlass genug, sich diesen Begriff des universalen Schuldzusammenhangs hier genauer anzusehen. Dies gilt nicht nur darum, weil wir es hier mit einem der streitbarsten Begriffe normativer Negativität zu tun haben, sondern vor allem auch darum, weil wir damit eine neue Charakterisierung des negativ-utopischen Denkens gewinnen. 1

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Die Schuld des Selbst

III.2. Schuld als Beziehungsmodalität des Menschen Wenn hier Schuld zum Thema wird, müssen wir uns als erstes des Grundes vergewissern, weshalb Adorno von einem Schuldzusammenhang spricht. Dieser durch Schuld kontaminierte Zusammenhang umschließt drei Ebenen menschlicher Verhältnisse, das Verhältnis des Menschen zu Mitmenschen, zur Natur und zu sich selbst. 2 Schuld ist bei Adorno als eine Beziehungsmodalität aufzufassen, die diese drei Bereiche menschlicher Verhältnisse gleichermaßen prägt. Sie vollzieht sich durch das Prinzip der Selbsterhaltung 3, das einen fatalen dialektischen Prozess antagonistischer Selbstentäußerung in Gang setzt. Die die Menschen zu verschlingen drohende Natur zwingt ihnen Selbsterhaltung als Prinzip von Existenz auf, macht sie ihnen zur eigenen Natur. Sie sind dazu genötigt, sich handelnd und denkend von Natur zu unterscheiden, um sich nicht an sie zu verlieren. Dieses Verhältnis des Menschen zur Natur ist an sich wert- und schuldfrei zu denken. Doch bedenken wir, welcher Art dieser Unterschied ist, durch den sich der Mensch gegenüber der Natur unterscheidet, ändert sich das Bild. Denn der Mensch unterscheidet sich nicht eigentlich gegenüber der Natur, sondern gegen sie. Adorno und Horkheimer interpretieren die Urgeschichte des Menschen als den Prozess einer Entgegensetzung von Mensch und Natur im Kampf um Herrschaft und Zwang. Der Mensch versucht dem Naturzwang zu entgehen, indem er sie durch Technik, List und Opfer zu beherrschen trachtet. Er beDer Begriff der Schuld, der im Weiteren zentral wird, muss – das sei vorausgeschickt – vom Begriff der Scham abgegrenzt werden, mit dem er nur allzu oft und leichtfertigerweise verknüpft wird. Zum Begriff der Scham im Zusammenhang mit Adorno vgl.: Rolf Tiedemann, Niemandsland. Studien mit und über Theodor W. Adorno, (…) 2007, S. 289 ff. 3 Der Begriff der Selbsterhaltung ist (gerade in den frühen Schriften Adornos) zentral und weist die inhaltliche Prägung durch den Ansatz Max Horkheimers aus. Hier soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass aber auch dieser Begriff ambivalent ist. Zum einen ist Selbsterhaltung als das Bedürfnis des Lebendigen, sein Leben zu erhalten, moralisch in keiner Hinsicht zu verurteilen, sondern im Gegensatz dazu selbst ein somatisches Element eben jenes neuen Materialismus, den Adorno skizziert. Zum anderen aber wird Selbsterhaltung dort zum fatalen Prinzip der Reproduktion des Schuldzusammenhangs, wo sie ›verwilderte‹, d. h. sich zu einem gesellschaftlichen Prinzip antagonistischer Bezugssphären hypostasierte. Vgl. zu diesem Komplex: Max Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, Frankfurt a. M. 1970, Ute Guzzoni, Selbsterhaltung und Anderssein, aus: Sieben Stücke zu Adorno, Freiburg/München 2003. 2

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müht sich darum, seine Einzigartigkeit, seine maßgebende Unterschiedenheit zu seiner Umwelt dadurch zu bewahren, dass er eben diese Umwelt unter seine Kontrolle bringt. Doch seine Einzigartigkeit liegt eben nicht als faktische Differenz vor, sondern muss sich in einem reflexiven Bezug, der die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst erst zu treffen vermag, fortdauernd herstellen. Das Selbst, das sich gegen die Natur zu erhalten wünscht, ist genau in diesem Moment naturhaft und bloß exemplarisch für die Ordnung der Natur im Ganzen, wo sie vermeintlich Im Rhythmus von Selbsterhaltung und Vernichtung schwingt. Und die Weise, wie die Beziehung zur Natur gedacht wird, nämlich als ein Herrschaftsverhältnis, prägt fortan auch das Selbstverhältnis des Menschen, der sich selbst gegenüber in ein Verhältnis der Herrschaft tritt, das der Selbstbeherrschung. Damit reproduziert das Selbst in seiner antagonistischen Unterscheidung dasjenige in sich selbst, von dem es sich zu unterscheiden vorgibt. Dem selbsterhaltenden Menschen wird Herrschaft zur eigenen Natur. Natur als Zwang und Bestandsdrohung des Selbst wird inkorporiert und stürzt den Menschen nicht bloß in ein antagonistisches Verhältnis mit seiner Umwelt, sondern zugleich mit sich selbst. Der Mensch wird dabei in zweifacher Weise schuldig, schuldig gegenüber seinem Selbst, das er zur Funktion des Prinzips der Selbsterhaltung reduziert und damit seiner spezifischen Differenz enthob. Schuldig aber auch gegenüber seiner Umwelt, die er zu dem Schauplatz eben jenes Kampfes reduzierte, den das Selbst sich zum Prinzip erhob. Zugleich wird die Selbsterhaltung zur inneren Natur des Menschen, zu einem Zwang, der ihn zur Funktion eines naturhaften Kampfes um Herrschaft erniedrigt. Was bleibt ist eine sich selbst fortspinnende Beziehungsform, die als das Primat der Macht bezeichnet werden soll. Alle Zusammenhänge, in denen sich der Mensch bewegt, soweit er sich die Selbsterhaltung als Prinzip zu eigen gemacht hat, sind Herrschaftszusammenhänge, die darauf beruhen, den eigentlich spezifischen Unterschied zu tilgen, um den sich das Selbst sorgt, seine Einzigartigkeit und Besonderheit. Dass unter dem Primat der Macht jegliche Beziehung des Menschen eine schuldbeladene wird, ergibt sich daraus, dass alle Verhältnisse nach dem Maß der Selbsterhaltung beurteilt werden. Bereits hier wird zweierlei erkenntlich: 1. Dass Selbsterhaltung bereits immer eine Beziehungsform bestimmt, insofern das Selbst des Menschen ihn in Bezug zu einem von ihm jeweils wesentlich Unterschiedenen (Natur, der Andere oder man Selbst als Objekt des SelbstKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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bezugs) setzt. 2. Dass das utopische Moment in Adornos Denken, das eine Erlösung aus dem Schuldzusammenhang anstrebt, wesentlich auf ein verändertes Selbstverhältnis zielen muss, um ein anderes Weltverhältnis zu ermöglichen. Aus diesem Grund werde ich mich im Weiteren spezifisch dem Schuldzusammenhang im Selbstverhältnis widmen. Daraus werden die übrigen Schuldverhältnisse zu Natur und Mitmensch strukturell ableitbar.

III.3. Selbst-Setzung, Selbst-Überwindung, Selbst-Begrenzung Das Verhältnis zur aufklärerischen Tradition utopischen Denkens muss hier in den Fokus unserer Untersuchung treten. Negativ-utopisches Denken ist bis in seine feinste Faserung dem Anspruch kantscher Aufklärung verpflichtet und kritisiert sie zugleich in ungeahnter Radikalität. Solche Kritik hat ihr Fundament in den Anforderungen aufklärerischen Denkens selbst, das dem Menschen abverlangt, sich ›mündig‹ auf die Idee einer befreiten Menschheit zu beziehen und Wirklichkeit nach dieser zu gestalten. Aufklärung stellt den Menschen in die Verantwortung für die Lebenswirklichkeit, in der er lebt, indem sie ihn als vernunftbegabtes Wesen zu einem potentiell mündigen Bürger des Reichs der Zwecke erklärt. Der utopische Anspruch kantscher Aufklärung erweist sich zum einen in der Idee eines neuen, nie da gewesenen Zustands menschlichen Daseins in der Welt, in der Idee des Zu-sich-Kommens der Menschheit als ganzer. Darin wird sich der Mensch selbst zur Utopie, der in seinem Zu-sich-finden sich zugleich allererst selbst setzen muss. Dieses Motiv der Selbstsetzung des Menschen wird fortan im deutschen Idealismus in seinen verschiedenen Spielarten durchbuchstabiert und zum Fundament metaphysischer Überlegungen. 4 Hier soll diese Idee der Selbstsetzung aber grundlegend anhand des Aufklärungsaufsatzes Kants erörtert und in Bezug zu den Fragen von Schuld und Verantwortung gesetzt werden. Die Selbstsetzung des Menschen begegnet uns hier in seiner geschichtsphilosophischen Dimension und ist von Beginn an mit dem Vgl. dazu ausführlich die Darstellung Lore Hühns, die in der Konfrontation des deutschen Idealismus mit Kierkegaard auch den Ansatz Adornos grundlegend verortet. Lore Hühn, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus: Konstellationen des Übergangs, Tübingen 2009.

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Begriff der Mündigkeit bzw. Verantwortung verknüpft. Es wird aufzuweisen sein, dass dieser Begriff der Verantwortung grundlegend auf dem einer Universalschuld beruht. Dennoch wird sich herausstellen, dass die aufklärerische Tradition den Begriff der Schuld so weit hinter den der Verantwortung verdrängt, dass Verantwortung selbst in ein Konzept der totalen Machbarkeit umschlägt: Wo der Mensch in totale Eigenverantwortung gestellt ist, erweist sich ihm im Umkehrschluss alles seinem Willen untertan, die Welt wird ihm zum bloßen Material seines Wirkens. Verantwortung schlägt um in ›Machenschaft‹ und wird als Macht begriffen. Meine These geht dahin, diesen Umschlag von Verantwortung in totale Machtausübung als das Resultat einer Schuldverdrängung zu interpretieren. Diese Verkehrung von Verantwortung liegt im Fadenkreuz adornoscher Kritik und lässt sich mit dem Umschlag von Aufklärung in Mythos deuten, wie sie in der ›Dialektik der Aufklärung‹ ausgearbeitet wurde. Die Betonung des universalen Schuldzusammenhangs, wie er bei Adorno auftaucht, kann dann als Korrektiv eines pervertierten Verantwortungsbegriffs der Aufklärung verstanden werden. Nicht weniger kritisch als Adorno verhielt sich auch ein anderer Autor zur Tradition der Aufklärung, Friedrich Nietzsche. In einem zweiten Teil werden ich mich seinem Konzept einer Selbstüberwindung zuwenden, die sich als Antwort auf die Idee der Selbstsetzung verstehen lässt. Dass Nietzsches Kritik wesentlich am Problem von Schuld und Macht geschärft ist, sollte hinlänglich bekannt sein. Zur These verkürzt ließe sich sagen, dass Nietzsches Kritik darauf beruht, den Gedanken der Verantwortung im Sinne eines schlechten Gewissens auszulegen, welches Macht aus einer Dialektik von Schuld und Buße generiert. Die Moralität des Abendlandes gerät unter den Verdacht, sich selbst darüber hinwegzutäuschen, eigentlich eine Strategie der Machtausweitung darzustellen. Die Selbstsetzung des Menschen im Sinne der Aufklärung erweist sich für Nietzsche als eine Täuschung über das Wesen von Macht. Nicht ein eigentlich zu sich gekommener Mensch steht hier am Horizont der Bewegung, sondern ein Despot, der seine Willkür durch ein System von moralischer Verschleierung verziert. Dabei unterliegt der Mensch selbst seiner eigenen Machtausübung, die ihn als Täter zugleich zum Opfer seiner selbst werden lässt, zum Schuldigen und Büßenden von Macht. Diese Dialektik vermag keine Setzung mehr zu durchbrechen, sondern vielmehr muss der Mensch überwunden werden, will er seiner selbst mächtig werden und darin seine Verantwortung zu sich selbst erkennen. Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Dass Adorno stark von Nietzsches Denken beeinflusst war, zeigt sich in aller Deutlichkeit im Bezug zur Moralphilosophie. Ein systematischer Vergleich der Genealogie der Moral und der Dialektik der Aufklärung ist lohnenswert. Hier muss ich es allerdings mit dem Hinweis bewenden lassen, dass wir im Motiv der Rache als Produkt einer Dialektik von Schuld und Buße einen idealtypischen Ausdruck adornoscher Kritik am mythologischen Rückschlag in der Aufklärung ausmachen können. Das Motiv einer Selbstüberwindung, das nicht einfach eine Selbstsetzung meint, sondern vielmehr die Rückstellung des Menschen in seine eigene Macht und Verantwortung, wird auch bei Adorno in veränderter Form wiederkehren. Selbstüberwindung wird für Adorno in erster Linie Selbstbegrenzung bedeuten. Das Subjekt hat aus seinem eigenen Bannkreis auszubrechen, indem es den eigenen Geltungsanspruch radikal einschränkt. Darin überwindet sich das Subjekt als Gefangener des eigenen Machthungers und öffnet sich der Begegnung mit dem Anderen, dem vorrangigen Objekt. In einer Auseinandersetzung mit der Freiheitsphilosophie Kants und dem davon abgegrenzten Freiheitsbegriff Adornos wird dieses Moment herauszuarbeiten sein. Wir beziehen dabei auch die Prägung Adornos durch die Philosophie Kierkegaards mit ein, auf den er sich gerade als einen Fürsprecher der Selbstbegrenzung strategisch stützen kann. Selbstsetzung, Selbstüberwindung und Selbstbegrenzung meinen also die Stationen in der Auseinandersetzung mit der Frage von Verantwortung und Schuld, die wir zu durchlaufen haben, um den ganzen Sinn eines utopischen Verantwortungsbegriffs herauszuarbeiten, der im Horizont einer Universalschuld angesiedelt wird. Anschließend daran werden wir utopische Begriffe, die versuchen dieser utopischen Verantwortung gerecht zu werden, aufzeigen. Es wird sich dabei um die aporetischen Konzeptionen der Gerechtigkeit und der Muße als Frieden handeln.

III.3.1. Die Schuld des Unverantwortbaren und Verantwortung aus Schuld im utopischen Anspruch der Aufklärung Im rechtlichen Sinne steht Schuld, wie allseits bekannt, in direkter Abhängigkeit vom Begriff der Verantwortung. Nur solche Handlungen werden als schuldhaft bezeichnet, die durch das handelnde Subjekt direkt verantwortet werden können. Juristische Schuld ist durch 170

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Vorsatz und Fahrlässigkeit von moralisch schlechten, aber dennoch rechtlich schuldlosen Handlungen abgegrenzt. Diese beiden Kriterien der Schuldfähigkeit basieren auf der Idee bewussten Handelns. Schuld durch Vorsatz bezeichnet eine Handlung, die im vollen Bewusstsein ihrer Falschheit begangen wird. Schuld durch Fahrlässigkeit dagegen eine Handlung, die durch einen zurechnungsfähigen Mangel an Bewusstsein hervorgerufen wird. Verantwortung lässt sich hier nun vorläufig als die Fähigkeit bewussten sittlichen Handelns begreifen und bildet darin das Fundament des Strafrechts. Man muss nicht eigens auf die Schwierigkeiten eingehen, die sich aus dieser »Verantwortungsethik« der juristischen Sphäre ergeben. Ebenso wenig kann und soll hier geklärt werden, inwiefern in dieser Konzeption ein Freiheitskonzept vorherrscht, das sich in der gesellschaftlichen Praxis ad absurdum führt. Vielmehr kommt es hier darauf an, das Verhältnis von Verantwortung und Schuld selbst zu überdenken. Die These, die hier im Weiteren verfolgt werden soll, geht davon aus, dass die Idee der Verantwortung auf den Begriff der Schuld zurückzuführen ist, anstatt – wie im Bereich des Rechts – Schuld durch den Begriff der Verantwortung zu bestimmen. Dieser These kommen wir näher, wenn wir uns den weltanschaulichen Wurzeln moderner Rechtsprechung zuwenden, der Idee der Aufklärung. Kants legendäre Definition der Aufklärung führt uns ins Zentrum der Fragestellung: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« 5

Man erkennt hier sogleich die Parallele zur modernen Rechtsprechung, die einen mündigen, d. h. verantwortungsfähigen Menschen voraussetzt, um Schuld von Unschuld unterscheiden zu können. Selbstverschuldet und schuldbehaftet ist der Mensch, insofern er die Fähigkeit hat, bewusst und verstandesgemäß sein Leben zu führen. Der Mensch ist dem Vermögen nach verantwortungsvoll und münImmanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, aus: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 53. (Alle weiteren Zitate aus diesem Aufsatz werden wie folgt abgekürzt: Kant, W.i.A.)

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dig; Schuld meint, von seiner Verantwortung keinen Gebrauch zu machen bzw. dem Verstande zuwider zu handeln, sie besteht in Vorsatz und Fahrlässigkeit schlechter Handlungen. Dennoch ist dieses Verhältnis von Schuld und Verantwortung hier ein nur sekundäres, denn die epochale Perspektive des kantschen Ansatzes stellt unsere Frage in einen weiteren Bereich, in dem sich das hier zu untersuchende Bedingungsverhältnis verkehrt. Aufklärung meint einen Bruch mit der Menschheitsgeschichte, durch den der Mensch sich allererst seiner Unmündigkeit zu entledigen hätte. Sie leuchtet dem Menschen auf in der Idee, ein für sich selbst verantwortliches Lebewesen zu sein. Der verantwortungsvolle, mündige Mensch ist die Aussicht, die die Aufklärung freigibt; Aufklärung ist damit selbst die Utopie der Verantwortung, oder in den Worten Kants: »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. […] Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausgangs aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.« 6 Der epochale Bruch mit der Menschheitsgeschichte ist darin auszumachen, dass dem Menschen allererst ein Bewusstsein seiner Unmündigkeit aufdämmert, das ihm die Perspektive auf einen verantwortungsvollen Menschen eröffnet. Verantwortung ist nicht die Grundlage aufklärerischen Denkens, sondern seine utopische Aussicht. Der Begriff der Schuld wandelt sich nun unter unseren Händen. Selbstverschuldet ist nach Kant die Unmündigkeit, insofern sich der Mensch nicht seiner autonomen Verstandesbegabung bedient. Doch wie können wir solche Schuld fassen, wenn dem Menschen seine eigene Unmündigkeit erst durch die Aufklärung bewusst wird, er sich erst hier seiner Vernunftbegabung besinnt? Wie kann von einer Schuld gesprochen werden, die gar nicht verantwortet werden kann, da das Schuldbewusstsein erst im utopischen Anspruch des verantwortlichen Menschen aufkeimt? Gilt nicht auch für die Menschheit der Rechtsgrundsatz, nur für eine solche Tat verurteilt werden zu können, von deren Strafbarkeit sie auch wusste? Und wäre dann nicht die Unmündigkeit erst im Zeitalter der Aufklärung eine selbstverschuldete? Doch Kant scheint etwas anderes ausdrücken zu wollen,

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mithin Schuld nicht durch Verantwortung zu bestimmen, sondern sehr viel grundsätzlicher anzusetzen. Die Selbstverschuldung der Unmündigkeit wird erst dann relevant, wenn der Mensch den Anspruch der Mündigkeit auf sich nimmt. Zuvor muss von einem Stand naiver Unschuld oder unverschuldeter Schuldigkeit ausgegangen werden. Die Aufklärung ist auch von Kant als ein geschichtliches Ereignis, als ein epochaler Einschnitt angesehen – und das obgleich sie dem eigenen Anspruch nach keine geschichtlich bedingten Gegenstände zu ihrem eigentlichen Thema macht, sondern das Wesen des Menschen und seine Beziehung zur Wirklichkeit in all seiner Allgemeingültigkeit in den Blick nimmt. Der Idee der Aufklärung ist aber eine spezifische geschichtsphilosophische Perspektive inne. Die sich hier abzeichnende Struktur ist klassisch für das Denken des christlichen Abendlandes und findet in der heilsgeschichtlichen Lehre Augustinus einen seiner frühesten und wirkmächtigsten Ausdrücke. 7 Sie lässt sich in aller Kürze folgendermaßen charakterisieren: Der Mensch hat das ihn auszeichnende Wesen nicht inne, sondern findet erst innerhalb der Geschichte zu ihm – zu sich selbst als Menschen. Diese geschichtliche Selbstfindungslehre vom Menschen wird erstaunlicherweise nicht in einen graduellen Prozess eingegliedert, sondern als ein Ereignis, Bruch oder Sprung innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit gedacht – als Ereignisse der Offenbarung oder der Illumination. In diesem Sinne beruht ein wesentlicher Teil der abendländischen Kultur auf der Idee der Revolution. In dieser Lehre lassen sich drei Phasen unterscheiden: 1. die Phase der naiven Menschheit, der die Frage nach sich selbst und seinem Wesen verbaut war, 2. die Phase des offenbarten Menschen, d. h. der Menschheit, die unter dem Anspruch einer wahren Menschheit steht, und 3. das Zu-sich-Gefunden-Haben des Menschen. Bei Augustinus wird diese Lehre in aller angreifbaren Radikalität formuliert, wenn er im Offenbarungsgeschehen den Scheidepunkt aller Geschichte ausmacht. Mit dem offenbarenden Fleischwerdungsgeschehen Gottes in Christus scheidet sich alle Geschichte in eine dunkle Vorgeschichte, der die Sünde unverantwortet aufgebürdet ist (vgl. auch Dantes Vergil), und eine Heilsgeschichte, in der der Ich beziehe mich dabei in erster Linie auf dessen Ausformung im Gottesstaat. Vgl. Augustinus: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe in einem Band. Buch 1 bis 10, Buch 11 bis 22. München. 2007.

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Mensch in den Anspruch der Heilslehre gestellt wurde. Erst durch dieses revolutionäre Ereignis der Offenbarung in Christus ist der Mensch in vollem Maß unter den Anspruch der Verantwortung seiner Taten gestellt, denn erst hier findet er ein Bewusstsein der Frage nach seinem wahren Wesen (in Gott), ein Bewusstsein vom Heil. Alle vorige Menschheit lebte in Sünde, jedoch in einer Sünde, die leicht wiegt durch die Unwissenheit um das, was Sünde ist. Sünde, die nicht mehr verantwortet werden kann, ist erst durch das Versprechen des Heils in der Offenbarung gegeben; erst hier weiß der Mensch um die Bedeutung seines Wesens, hat ein zweites und wesentlicheres Mal von der Frucht gekostet, die ihn gut und böse unterscheiden lässt. Verantwortung als das Bewusstsein seiner selbst und seiner Handlungen ist erst dem durch die Botschaft Christi Aufgeklärten geschenkt. Doch auch dieses Ereignis der Offenbarung bleibt noch ein vorläufiges und belässt den Menschen in einer Sphäre der Vorläufigkeit. Allerdings in einer ums Ganze verschiedenen Weise als in der Phase naiver Menschheit. Durch die Offenbarung ist der Mensch in die Frage nach seinem wahren Wesen und seinem Heil gestellt und dennoch nicht in seinem Heil aufgegangen. Dies geschieht erst in einer dritten menschheitsgeschichtlichen Phase und wiederum durch eine Revolution, durchs Jüngste Gericht und das Ende aller Zeiten. Anhand von Augustinus lässt sich also die Geschichte unterteilen in eine Un-geschichte der Äonen vor Christus, der Heilsgeschichte der Menschheit, die sich ihrer selbst als Anforderung bewusst wurde und der Erlösung der Menschheit im Zusichfinden des Menschen in sein wahres Wesen in Gott. Für diese Untersuchung ist dieses augustinische Konzept darum von Bedeutung, da es uns unmittelbar der Fragestellung nach Schuld und Verantwortung im Licht der Aufklärung näher bringt. Die Phase der Un-Geschichte entspricht der Phase der Menschheit, bevor sie im Zeitalter der Aufklärung des Anspruchs ihrer eigenen Mündigkeit bewusst wird; das Offenbarungsgeschehen dem Ereignis der Aufklärung selbst, das den Menschen in die Verantwortung seiner selbst nimmt im Bewusstsein, seine Unmündigkeit ablegen zu müssen; die Phase der Erlösung wiederum entspricht dem Eingang der Menschheit in die Entfaltung ihrer eigenen Natur als Freiheit in der utopischen Perspektive von Aufklärung. Nun gilt es, sich erneut die Frage nach Schuld, Selbst-Verschuldung und Verantwortung vorzunehmen. Wir haben Verantwortung bislang als das Bewusstsein von Gut und Böse der eigenen Handlun174

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gen verstanden. Nun können wir dieses Bewusstsein genauer bestimmen als ein Selbst-Bewusstsein, nämlich als das Bewusstsein, das sich die Suche nach sich selbst als den wesentlichen Maßstab aller Urteile auferlegt. Verantwortung wäre demnach nicht ein Selbst-Bewusstsein im Sinne einer vollendeten Einsicht seiner selbst, sondern eines, das sich bewusst ist, sich selbst finden zu müssen, um überhaupt in dieser Welt als derjenige anzukommen, in der man bislang nur als ein Versprechen war. Verantwortung ist das Bewusstsein des Versprechens, sich selbst innewerden zu können und zu sollen. Dasjenige, dessen man sich hier bewusst wird, ist demnach kein faktisch Reales, sondern das Versprechen einer anderen, wirklicheren Realität oder in anderen Worten, das Bewusstsein des Mangels der Realität des Jetzt. Verantwortung erweist sich hier also als ein utopisches Bewusstsein, das sein tempus weder im Perfekt, Präsens oder Futur, sondern im Sollen findet. Diese utopische Dimension der Verantwortung ist somit keine zeitliche Dimension, obwohl sie hier in einer geschichtsphilosophischen Wendung daherkommt; vielmehr bestimmt dieser moralische Anspruch (Soll-Dimension) Geschichte – unabhängig von ihrer chronologischen Fügung – erst als einen sinnhaften Raum. Doch bedenken wir genauer, wie Verantwortung als Versprechen seiner selbst gedacht werden kann, stoßen wir unmittelbar wiederum auf Schuld. Denn was wird denn tatsächlich bewusst durch die aufklärenden Offenbarungsereignisse? Bewusst wird in erster Linie die Falschheit und Schlechtigkeit alles Bisherigen. Wer das Versprechen seiner selbst hört, sieht nicht sich selbst, sondern sein Nicht-sein, seinen wesentlichen Mangel. Im Anspruch der Aufklärung wird demnach das Versprechen seiner selbst hörbar, sichtbar dagegen wird die eigene Mangelhaftigkeit. 8 Die hier angeschnittene Unterscheidung des Hörens vom Sehen als Charakteristika des Denkens ist nicht willkürlich. Wenn wir das abendländische Denken durch das Zusammenkommen der griechisch-logischen und der jüdisch-monotheistischen Tradition verstehen, dann lassen sich diesen beiden Traditionslinien auch Präferenzen gegenüber diesen beiden Sinnen nachweisen. Das griechische Denken ist stets von einer Bild- und Sehmetaphorik getragen, während das biblisch-jüdische Weltverständnis das Hören und das Wort in den Vordergrund stellt. Hannah Arendt hat auf diesen Sachverhalt in ihrem nachgelassenen Werk ›Vom Leben des Geistes‹ hingewiesen (vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München 1979, S. 103–129.). Dass hier das Versprechen auf das Hören zugespitzt wird, stellt den Bezug zum utopischen Denken selbst her, das sich – zumindest im Kontext von Adorno – doch eher aus der eschatologischen Sphäre theologischer Figuren verstehen lässt, als aus der kosmologischen des antiken Griechenlands. Dass das gehörte Ver-

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Dass wir diesen Mangel oder das Fehlen als ein Selbstverschuldetes betrachten müssen, wie es Kant denn auch tatsächlich tat, liegt im Möglichkeitshorizont des Versprechens-seiner-selbst begründet. Kants berühmte Formel vom ›Du kannst, denn Du sollst‹ bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt. Wo das Versprechen-seiner-selbst ins Licht des Bewusstseins tritt, vermag das Jetzt, die verstellte Realität, diesem Sollen nichts mehr entgegen zu halten. Die Möglichkeit des Sollens bedarf keiner Herleitung aus real gegebenen Möglichkeiten, sondern sie ist ein schlicht – auch entgegen aller tatsächlichen Hemmnisse – Herzustellendes, ein Muss des Bewusstseins, dem dieses lediglich entgehen kann, indem es sich selbst vollkommen aufgäbe, sich selbst vergäße. Hier erweist sich die Utopie als Versprechen-seiner-selbst also gleichermaßen unabhängig vom Ist-Zustand der Welt, als auch als notwendig für das menschliche Selbst in dieser Welt. Der Mensch bleibt dann aus eigenem Verschulden hinter sich selbst zurück, wo er als Teil dieser Welt nicht seinem Sollanspruch gerecht wird. Ich halte dies für eine zentrale Entdeckung der Aufklärung, die darin die ganze Welt als einen Möglichkeitshorizont der Selbstverwirklichung begreifen lernt – und die sich in unseren unheilvollen Zeiten zu der Idee einer völligen Manipulierbarkeit aller Wirklichkeit pervertiert hat. Doch auch dieser verabsolutierte Zugriff auf die Welt hat ihren Grund im Bewusstsein der Schuld, denn das Bewusstsein der Möglichkeit des Sollens ergibt sich wiederum aus dem Bewusstsein, diese Möglichkeit bislang nicht verwirklicht zu haben, sich selbst gegenüber schuldig geworden zu sein. Das Versprechen ist das gehörte Sollen des Bewusstseins. Bewusst in der Selbst-Betrachtung (Sehen) des Menschen ist allerdings nur dessen Schuldigkeit gegenüber dem Soll. Das Können-Müssen, der radikale Möglichkeitshorizont der Aufklärung, ergibt sich als die Vermittlung zwischen gehörtem Versprechen und gesehener Schuld und wird zur geschichtlichen Aufgabe des Menschen. Verantwortung ist somit das Bewusstsein seiner selbst als Versprechen und als Schuld. Verantwortung ist dann zu gleichen Teilen begründet im Bewusstsein des Utopischen wie der eigenen Schuldigkeit – nicht Verantwortung gibt den Rahmen zur Bestimmung von Schuld vor, sondern Schuld stellt den ›sichtbaren‹ Grund für Verantwortung dar. sprechen aber zugleich unseren Blick wandelt und uns eine zuvor unbekannte Schuld sehen lässt, lässt die Weltbetrachtung, theoria, in ein moralisches Licht rücken.

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Eine Aporie tut sich hier auf. Das konkrete Gerechtigkeitsempfinden sträubt sich gegen einen Schuldbegriff, der nicht auf den einer Verantwortung zurückgeführt werden kann. Von einer Schuld sprechen zu wollen, wo sie keiner schuldbeladenen Tat zugeordnet werden kann, scheint absurd. Nicht weniger problematisch scheint es, von einer historischen Schuld oder einer kollektiven Schuld zu sprechen, die vom Einzelnen, der diese Schuld zu tragen hat, nicht verantwortet werden kann. Dennoch kommen wir nicht umhin, diese Dimension der Schuld einzugestehen angesichts des kollektiven und historischen Wahnsinns, der sich in der rationalen Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus auf den blutigen Schauplatz der Geschichte drängte. Die in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg entfachten Debatten um die Frage nach der Schuld spiegeln diese aporetische Situation wider. Schuld ist nicht bloß Gegenstand dieser Debatten, sondern reproduziert sich in ihnen selbst unaufhörlich. Der Versuch, nach dem klassischen Muster die Verantwortlichen der Gräueltaten zu den allein Schuldigen zu erklären, macht sich selbst einer Reduktion des Geschehens schuldig. Nicht bloß die Führer und Funktionäre des Terrors, denen augenscheinlich die Verantwortung für die menschliche Katastrophe zugemessen werden muss, sind schuldig geworden. Schuldig wurden alle Menschen – ohne damit die Schuld der konkreten Täter, Funktionäre und Organisatoren der Massenvernichtung relativieren zu wollen – angesichts einer Vernichtung, die zum Ziel hatte, den Menschen selbst auszumerzen, um an seiner Stelle eine rassisch-biologische Überlebenskampf-Maschine zu züchten. Doch auch dieser kollektive Schuldspruch über eine Generation von Menschen macht sich schuldig gegenüber den Menschen, die in diesem Schuldkollektiv wiederum ihres spezifischen Menschseins beraubt werden. Die Debatten um Schuldzuweisung, Kollektivschuld, Befehlsnotstand usw. weisen eines deutlich auf: Wir haben es hier mit einer Form von Schuld zu tun, die nicht mehr verantwortet werden kann, das Bewusstsein von Gut und Falsch der Taten sprengt und deshalb auf jedem Menschen lastet, unabhängig des Glücks oder Unglücks seines Geburtszeitpunktes oder seiner Nationalität. Wir lernen hier also einen Typus von Schuld kennen, der den juristischen und alltäglichen Schuldbegriff sprengt, da es sich um eine Form unverantwortbarer Schuld handelt, und kommen zu der These, dass unverantwortbare Schuld eine Universalschuld bedeutet, eine Schuld, der sich niemand entziehen kann, da sie nicht in der Verantwortung eines spezifischen Handlungsträgers liegt, sonKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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dern in ihrem Ereignen alles mit Schuld kontaminiert, was damit in Berührung kommt. – Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das meint keine Relativierung oder beliebige Übertragung der tatsächlichen Schuld der Täter. Vielmehr soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass durch diese Verbrechen an der Menschlichkeit tatsächlich das Menschsein in Frage gestellt wurde, was sich als eine Schuldigkeit gegenüber der Menschheit für den Einzelnen ausdrückt. Es handelt sich also um das Gegenteil einer Relativierung der realen Schuldverhältnisse, nämlich um den Versuch, die aus diesen Verbrechen erwachsende Infragestellung des Menschen abzusehen. Die Schuld des Menschen angesichts der tatsächlichen Unmenschlichkeit hat nicht weniger Evidenz als die Rede Kants von einer ›selbst-verschuldeten Unmündigkeit des Menschen‹. Und tatsächlich können wir schon bei Kant von einer Universalschuld sprechen, die darin gelegen ist, dass der Mensch noch nicht zu sich selbst gefunden hat, keiner mündig ist angesichts einer Welt der Fremdbestimmung und Irrationalität. Es ist die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen, die hier ins Bewusstsein dringt und nicht mehr verantwortet werden kann, aber dennoch erst die Dimension der Verantwortung eröffnet. Keiner bleibt von dieser Schuld verschont, nicht die Gegenwärtigen, nicht die Gestorbenen, nicht die Zukünftigen, denn selbstverschuldet bleibt der Mensch schon dadurch, dass er als Mensch hinter dem Mensch-sein zurückbleibt, wo er nicht der Utopie vom Menschen entspricht, also nicht der Mensch ist, der er allererst sein soll. Der Anspruch eines wahren Menschen taucht den konkreten Menschen in das Verhältnis einer Selbstverschuldung. Entweder vernahm er den Ruf nach dem wahren Menschen nicht einmal und blieb somit hinter sich selbst zurück, wie das bei den vergangenen Generationen (vor der Aufklärung, vor der Offenbarung) der Fall ist – was als ein Fall fahrlässiger Universalschuld bezeichnet werden kann. Oder aber er steht im Anspruch des wahren Menschen als eines Solls, demgegenüber er notwendig zum Schuldner werden muss, was wir hier als die Universalschuld des Sollens fassen werden. Bei Kant findet diese Dimension der Universalschuld in der praktischen Philosophie selbst ihren Ausdruck. Die paradoxe Fassung praktischer Freiheit als eine Unterwerfung unter das Gesetz hat ihren eigentlichen Grund in diesem Schuldverhältnis. Wo der kategorische Imperativ noch als Imperativ erscheint, nämlich gegenüber dem empirischen Menschen, ist der Mensch hinter sich selbst zurückge178

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blieben und hat sich seiner selbst schuldig gemacht, da er das als Zwang ansieht, was seine Freiheit ausmacht. Die bloße Befolgung des kategorischen Imperativs verbürgt wohl moralisch rechtschaffene Taten, doch liegt darin noch nicht seine Erfüllung, die erst dem Bürger des Reichs der Zwecke zugesprochen werden dürfte, der sich zum reinen Selbstzweck in der Erfüllung des Gesetztes geworden ist. Solange wir richtiges Handeln als ein Sollen betrachten, machen wir uns an uns selbst schuldig, da wir darin nicht die Entfaltung unseres eigenen Wesens als ein Wollen erkennen. Nun sollte klar geworden sein, inwiefern nicht bloß die christliche Tradition mit ihrem Konzept der Erbsünde und dem Begriff des Menschen als eines Sünders einen Begriff der Universalschuld voraussetzt, sondern dass selbst die säkulare Bewegung der Aufklärung, die nur allzu gerne gegen dieses Konzept in Anschlag gebracht wird, auf dem Begriff einer Universalschuld basiert. Und wir haben gesehen, dass diese universale Schuld durch die Utopie des neuen Menschen vermittelt ist. Damit ist der Rahmen für ein weiteres Verständnis des Begriffs des universalen Schuldzusammenhangs Adornos gegeben. Utopisches Denken versetzt den Menschen notgedrungen in das Verhältnis einer Selbst-Verschuldung. Es muss nun darum gehen, zu verstehen, inwiefern sich Adorno aber gerade von dieser aufklärerisch-offenbarungstheologischen Konzeption abgrenzt, sie kritisiert und revolutioniert. Dabei wird die Frage in den Mittelpunkt treten, ob denn das kantsche Denken tatsächlich als ein utopisches begriffen werden darf. Die utopische Dimension im kantschen Denken liegt offen zu Tage und formuliert sich in einer Ethik des Sollens, in der Idee eines reinen Reichs der Zwecke, der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht oder der des ewigen Friedens. Dennoch stellt sich die Frage nach Funktion und Stand des Utopischen bei Kant. Zwei Kritikpunkte lassen sich hier im Einzelnen formulieren: 1. Macht sich Kant nicht selbst den Menschen gegenüber schuldig, wo er sie an Ideen misst, denen sie nur in der Weise einer SelbstÜberwindung entsprechen können, wo das Können des Sollens also mit der Negierung ihrer selbst einhergeht? 2. Ist das Utopische als Regulativ und Postulat nicht bloß Funktion der Optimierung des Hier und Jetzt und damit bloß scheinbar Utopie, tatsächlich aber Modifikation des status quo? Beide Einwände bringt Adorno in unterschiedlicher Weise vor, jedoch

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nicht, um sich vom utopischen Denken abzuwenden, sondern um ihm eigens zur Geltung zu verhelfen. »Denen, die möchten, daß es [ein Zustand der Solidarität aller Lebenden] nicht sich verwirkliche, hat unterdessen der Materialismus den Gefallen seiner Selbsterniedrigung getan. Die Unmündigkeit, die das verursachte, ist nicht so, wie Kant es dachte, von der Menschheit selbst verschuldet. Mittlerweile zumindest wird sie planvoll reproduziert von den Machthabern. Der objektive Geist, den sie steuern, weil sie seiner Fesselung bedürfen, mißt dem durch die Jahrtausende gefesselten Bewußtsein sich an. Solcher Praxis hat der zur politischen Macht gelangte Materialismus nicht weniger sich verschrieben als die Welt, die er einmal verändern wollte; er fesselt weiter das Bewußtsein, anstatt es zu begreifen und seinerseits zu verändern.« 9

Die Aufklärung, die sich gerade durch diese Inanspruchnahme des Einzelnen zum Zwecke der ganzen Menschheit als die emanzipative Bewegung der Neuzeit verstehen durfte, ist gescheitert. Gescheitert ist sie nicht bloß angesichts der realgeschichtlichen Pervertierung des Materialismus unter dem Diktat der Macht, sondern hat gar der ›Barbarei‹ der machtfixierten und antiaufklärerischen Ideologie des Nationalsozialismus den Weg gebahnt. Das Zeitalter der Aufklärung hat Kants Hoffnung auf eine Befreiung des Menschen vom Gängelband der Macht nicht bloß enttäuscht, sondern in der Sicht Adornos muss gar das Verantwortungskonzept der Aufklärung selbst als eine Optimierung der Unterdrückung des Einzelnen verstanden werden. Wie geschieht das und was hat Adorno dem entgegenzuhalten? Kants Konzeption liegt der Gedanke zu Grunde, der Einzelne habe die Verantwortung für sich selbst, aber dadurch gerade auch für das Ganze der Menschheit zu übernehmen. Diese radikale Verschränkung von individuellem Bewusstsein und Erlösung des Ganzen bildet die Grundlage seiner gesamten Sittenlehre. Am deutlichsten und zugleich in höchster Formalität weist sich diese Verschränkung im kategorischen Imperativ selbst aus. Der Einzelne habe jegliche seiner Handlungen ungeachtet aller Besonderheit auf die Menschheit als Ganze zu beziehen. Diese als bloße Achtung vor dem Gesetz gefasste Haltung zielt auf eine Paralyse der Macht. Wo der Einzelne jegliche seiner Handlungen unter dem Anspruch zu führen hat, als sei sie zugleich allgemeines Gesetz, da wird er einerseits zum hypothetischen Tyrannen über die Menschheit erhoben, doch andererseits auch gera9

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GS 6, S. 204.

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de darin den Zwecken der Menschheit als Ganzer verpflichtet, er wird zum Verantwortlichen über das Geschick aller. Der Einzelne als Machthaber über das Ganze ist zugleich der den Zwecken des Ganzen total Unterworfene. Dadurch glaubt Kant den Widerspruch zwischen Individuum und Allgemeinheit, zwischen Macht und Unterdrückung, zwischen der Rationalität empirischer Subjekte und Vernunft ausräumen zu können. So erhaben die Absicht Kants auch gewesen sein mag, so sicher ist ihr historisches Scheitern. Adornos These, diese Absicht habe nicht nur ihr Ziel nicht erreicht, sondern sei in ihr Gegenteil umgeschlagen, habe in eine totale Unterdrückung des Menschen geführt, lässt sich anhand eines Einwandes verstehen: Der Versuch der Paralyse von Macht implementiert in jegliche Regung des Menschen, in alle seine Beziehungen, Macht als deren innerstes Wesen. Diese These wollen wir nun kurz erläutern, indem wir uns noch einmal dem Aufklärungsaufsatz Kants zuwenden. Kant bestimmt die Unmündigkeit als »das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« 10 Es bleibt zuerst dunkel, wer denn dieser andere sein mag, der die Verstandesleitung übernimmt. Doch eine Antwort lässt nicht lange auf sich warten und fällt einfacher aus, als man denken sollte. Es sind die ›Ärzte, Seelsorger, Gelehrte, Offiziere und Finanzräte‹ 11, die solche Leitung des Verstandes dem Einzelnen abnehmen und ihn in der Unmündigkeit belassen. Wir können sagen: die Leute, deren gesellschaftliche Funktion ihnen eine gewisse Macht einräumt, oder die Funktionsträger der Macht. Nun ist Kant nicht so naiv zu glauben, diese Funktionsträger der Macht handelten selbstbestimmt, denn er selbst verweist darauf, dass auch sie der Aufklärung bedürfen. Dennoch zieht er nicht die Konsequenz daraus, die sich in der ›Dialektik der Aufklärung‹ von Horkheimer und Adorno in so beispielhafter Klarheit ausweist: Macht ist ein zweischneidiges Schwert der Verwüstung des Menschlichen, das zugleich den Unterdrückten als auch den Herrschenden seiner Menschlichkeit beraubt – und darum eine allgemein-gesellschaftliche Struktur, der sich keiner entziehen kann, der in Beziehung zu anderen steht. Die Beziehungen des Menschen stehen insgesamt unter der Vorherrschaft der Macht. Dass Kants Konzeption dieser Vorherrschaft der Macht in allen menschlichen Beziehungen – der Entfremdung des Menschen von 10 11

Kant, W.i.A., S. 53. Vgl. ebd.

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seiner Menschlichkeit – noch Vorschub leistet, erweist sich an seinem Begriff der Publizität. Wo es dem Einzelnen zu schwer fällt, sich erstmals frei seines Verstandes zu bedienen, da sieht er diese Chance doch gleichviel mehr für ein ›Publikum‹ gegeben. »Es ist also für jeden einzelnen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen. […] Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten werden.« 12

Kant stellt sich die Frage, wie die Menschen allererst zu einem Bewusstsein der Selbstverschuldetheit ihrer Unmündigkeit und damit zu einem aufklärerischen Bewusstsein finden können. Dass sie es als eine schuldhafte Unmündigkeit verstehen lernen, ist die Voraussetzung, die Möglichkeit einer Befreiung überhaupt einzusehen, wie oben bereits aufgezeigt. Da nun die Menschen eben diesem Bewusstsein der Schuld gerne aus dem Wege gehen, hat der Einzelne seine Unmündigkeit geradezu ›lieb gewonnen‹ als Garant der Unschuld und Verantwortungslosigkeit. Darum sieht er die Chance für ein aufklärerisches Bewusstsein vielmehr an ein Publikum, an die Öffentlichkeit übertragen. Dass aber genau diese Übertragung des aufklärerischen Bewusstseins als Bewusstsein der eigenen Verantwortung aus Schuld nur dem Einzelnen zugestanden werden kann, erweist sich allein daraus, dass nur dadurch die Auflösung des Widerspruchs zwischen Einzelnem und Allgemeinem gewährleistet ist. Der Einzelne muss sich den Zwecken des Allgemeinen widmen, damit beide in eins gehen. Diesem Tatbestand scheint Kant doch wiederum Rechenschaft bezeugen zu wollen, wo er Einzelne am Werk sieht, die sich bereits zur Aufklärung durchgerungen hätten und nunmehr öffentlich, mit dem Gewicht ihrer leitenden Funktion als Meinungsbildner, deren Ziele einklagen könnten. Im Fortgang des Aufsatzes werden diese Einzelnen konkret benannt als die Gelehrten. Doch damit gerät man unwillkürlich zu der widersprüchlichen Aussage, die Gelehrten hätten ihre gesellschaftliche Machtstellung (Funktionsträger der Macht) in der Öffentlichkeit dahingehend auszunutzen, die übrigen Einzel12

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Kant, W.i.A., S. 54.

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nen zu dem Bewusstsein anzuleiten, sich ohne Anleitung ihres Verstandes zu bedienen. Kant fordert mit anderen Worten eine Manipulation der Massen zu selbstbestimmtem und nicht gegängeltem Denken durch die Machtstellung der Gelehrten, eine Gängelung zur Aufklärung. Von Gängelung kann hier darum die Rede sein, weil die Einflussnahme nicht aus der Selbstentfaltung der Öffentlichkeit entspringt – eine unhierarchische Bewusstseinsbildung im gegenseitigen Gespräch –, sondern anscheinend als Leitung der Menge durch den privilegierten Stand der Gelehrten verstanden wird – ein durch und durch hierarchisches Verhältnis. Die emphatische Idee der Öffentlichkeit meint allerdings keine Erziehung zu Werten, sondern die praktisch-politische Entfaltung von Vernunft selbst. Diesem Anspruch wird wohl eine Öffentlichkeit unter Leitung der Bildungselite wohl kaum gerecht. Was sich in dieser verworrenen Argumentation eigentlich äußert, ist die Aporie der Macht, die sich selbst dort noch fortpflanzt, wo die Anstrengung, ihr zu entgehen, am deutlichsten wird. Hierin ergibt sich die ungewollte Bestätigung der adornoschen These von der Objektivität und Allgemeinheit der Macht als Strukturgesetz menschlicher Beziehungen. Dass der kantsche Ansatz diesem Strukturgesetz nicht bloß nicht entkommen konnte, sondern deren reale Wirkung noch verstärkte, resultiert aus der ungewollten Rationalisierung aller weiteren Handlungen des Menschen; dem Zugriff der Macht konnte in der Paralyse der Macht nicht einmal mehr das ohnmächtige Individuum etwas entgegen setzen, da es selbst in die Verantwortung für das Ganze genommen wurde, das sich durch Macht reproduziert. Dass Adorno den Begriff der Schuld derart ausweitet gegenüber einem Begriff der Verantwortung hat hierin seinen Grund und seine Berechtigung. Dieser Lesart zufolge setzt Kant zwar implizit eine Universalschuld voraus, unterschlägt aber deren Ausführung, um den Begriff der Verantwortung zum Ausgangspunkt aller weiteren Argumentation zu machen. Doch gerade darin liegt die fatale und selbstzerstörende Wirkung der Aufklärung als Totalisierung des Zugriffs von Macht. Wir haben die Aufklärung im Sinne einer Epoche der Bewusstwerdung des Menschen ins Auge gefasst und versucht zu zeigen, inwiefern diese Bewusstwerdung einhergeht mit dem Bewusstsein einer Universalschuld des Sollens. Der Mensch steht in einer Schuld gegenüber dem Menschen, der er sein soll. Erst daraus erwächst ihm Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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die Verantwortung seiner selbst. Durch den sein-sollenden Menschen steht der historische Mensch vor der Verantwortung, sich allererst selbst zu setzten. Wir haben Verantwortung als das Bewusstsein des Versprechens seiner selbst bestimmt. Nun gilt es zu klären, wie dieses Bewusstsein des Versprechens zur unmittelbaren Tat wird, zur Selbstsetzung des Menschen. Man kann diesen Umschlag im Verhältnis von Verantwortung und Schuld nachgehen. Wo Verantwortung noch als Bewusstsein eines Versprechens gedacht wird, fällt es zusammen mit einem Schuldbewusstsein. Das Sollen ist ein Schulden gegenüber dem Noch-Nicht des Menschen. Doch inwiefern ist dieses Schulden auch ein Können? Für das Schuldbewusstsein ist das Sollen ein Können in dem Sinne, dass durch die Schuldigkeit die Notwendigkeit des Sollens erkannt wird. Damit ist keine absolute Notwendigkeit gemeint, sondern die Unausweichlichkeit einer Anforderung unabhängig von der Möglichkeit, sie einzulösen. Schuld beantwortet nicht die Frage, ob das Gesollte auch verwirklicht werden kann, sondern erweist, unabhängig von aller Realisierbarkeit, die Not-wendigkeit des Gesollten. Das Sollen im Bewusstsein der Schuld ist ein »Müssen«, d. h. ein Können als Imperativ unbesehen seiner realen Möglichkeit. Verantwortung als Bewusstsein des Versprechens seiner selbst meint das Antworten auf diese Schuld im Horizont des Sollens, es ist eine Form der Entschuldung. Was Adorno unter Utopie versteht, lässt sich an der hier entwickelten Struktur begreifen: Utopie ist das vernommene Versprechen, dass Welt und Mensch zu sich selbst kämen angesichts der im Ganzen verfehlten (Adorno würde sagen falschen) Realität. Utopie ist dann kein erträumtes Jenseits, sondern ein dem realen Leben entspringendes Verhältnis des Menschen im Anspruch seiner selbst. Dem Menschen erwächst sein Vermögen, zu sich zu werden, aus der grundlegenden Erfahrung seiner universalen Schuldigkeit gegenüber seinem Noch-nicht. Er schuldet sich selbst, er selbst zu werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit im Sinne des Sollens, den Mensch allererst zu setzen, um ihn zu entschulden. Dieser Entschuldungsprozess ist die Verantwortung des Menschen im utopischen Anspruch seiner selbst. Damit unterliegt die Utopie einer spezifischen gegenwendigen Dynamik: Sie nähert sich dem Sein-Sollenden, indem es das schuldlos Verschuldete zu entschulden versucht. All seine Verbindlichkeit bezieht utopisches Denken also nicht aus Wunschvorstellungen einer antizipierten Zukunft, sondern aus Rückwendung 184

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und Sorge um das bereits Verfehlte. Nur um Willen des real im universalen Schuldzusammenhang verstümmelten Menschen kann der Mensch im Modus des Noch-nicht antizipiert werden. Antizipation bedeutet dann aber keine Vorwegnahme des Zukünftigen, sondern ein Fortschreiten des Ganzen durch das Abtragen der Schuldigkeit des Gewesenen. Jedwede Bewegung aus Schuldigkeit geht bildlich mit dem Rücken voran in die Zukunft, sie trägt die vergangene Schuldigkeit ab und fordert darin das Nie-da-gewesene heraus. Mit am eindrücklichsten wird diese Grundstruktur von Utopie in den Geschichtsthesen Benjamins geschildert, die im Ganzen vom Bild des angelus novus geprägt sind. Aus der Perspektive der Universalschuld muss jegliche Bewegung nach vorne eine Fortpflanzung der Schuld bedeuten, eine Ausweitung falscher Totalität auf das Noch-nicht. Es geht also wesentlich darum, der Zukunft den Rücken zu kehren, um sie als solche offen zu halten, Zukunft sein zu lassen. Diese utopische Rückwendung meint weder Regression noch einfach ein blindes und infinit sich fortsetzendes Zu-Spät des Bewusstseins. Vielmehr meint die Rückwendung eine radikale Öffnung des Jetzt als Ereignisort radikaler Kontingenz, des Auch-anders-sein-könnens des Ganzen. Die Rückwendung verändert die Realität derart, dass sie durch die Sehnsucht, das Verlorene doch noch zu erlösen, den totalitären Gang des Immer-gleichen zum Stillstand bringt im Jetzt, der damit zum allerersten Male eigentliche Gegenwart zu werden verspricht, nicht bloß Wiederholung des Gleichen, je schon Verdorbenen. Das berühmte Bilderverbot Adornos hat nicht zuletzt hierin seinen Sinn. Wird das Utopische frontal angegangen, vorgestellt und zum Objekt der Verwirklichungsmacht des Menschen, dann wird es unweigerlich vom Sog der universalen Schuldigkeit verschlungen, dem Gang des Immergleichen, der Reproduktion von Macht als Wesensgesetz aller Beziehungen unterworfen. Dies ist die zentrale Gefahr aller utopischen Konzepte, die uns in der Geschichte nur allzu oft als Ausgeburten totalitärer Allmachtsphantasien gegenübertraten. Das Vermögen der Selbstsetzung des Menschen bekommt ein anderes Gesicht, wenn das Bewusstsein der Schuld aus dem Sollen verdrängt wurde. Ohne Bewusstsein der Schuld wandelt sich die Verantwortung der Selbstsetzung des Menschen zum radikalen Machtbewusstsein. Der Mensch kann, denn er soll, heißt dann bloß, dass dem Subjekt oder Menschen alle Möglichkeit der Tat überantwortet ist; seine Verantwortung besteht dann in der Nutzung seiner potentiell unbegrenzten Möglichkeit. Diesem Tatendrang wird die ganze Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Welt zum bloßen Material der Möglichkeit des Menschen, seiner Allmacht. Ist aus der Aufklärung das Bewusstsein der Schuld verdrängt und mithin ihr utopischer Gehalt, verkommt sie zu einer Technik rationaler Zurichtung der Welt. Die darin wuchernde Idee der Selbstsetzung des Menschen entlarvt Adorno als einen Rückfall in die mythologisch-naturhafte Gefangenschaft des Menschen unter dem falschen Imperativ der Selbsterhaltung. Dass sich der Mensch darin wiederum selbstverschuldet unter den Zwang einer schicksalhaften Macht begibt, d. h. die Aufklärung in Mythos umschlägt, scheint Adorno unzweifelhaft zu sein. Es meint die Fortsetzung der Universalschuld durch die Unterwerfung des Menschen unter das Primat der Macht, das sich im Prinzip der Selbsterhaltung offenbart. Wie sehr sich die Idee eines totalen Zugriffs des Menschen auf seine Welt vor dem Hintergrund der Selbstsetzung des Menschen als dessen Gefangenschaft erweist, lässt sich nicht zuletzt an der plausiblen These Günter Anders’ ablesen, dass die Moderne unter dem Zwang stehe, alle ihre (technischen) Möglichkeiten auch zu verwirklichen und dabei den Menschen selbst hinter sich lasse, ihn zum Vollzugsobjekt seiner eigenen technischen Leistung degradiere. 13 Verantwortung, die nicht aus dem Bewusstsein der Schuld erwächst, wird verstanden als ein Bewusstsein der Macht und totalen Machbarkeit.

III.3.2. Aporien des Fortschritts Der kantschen Geschichtsphilosophie entgegnet Adorno mit dem Begriff eines allererst zu antizipierenden Fortschritts. Es geht an dieser Stelle darum, aufzuweisen, wie eine negativ-utopische Geschichtsphilosophie im Anspruch des neuen Menschen auszusehen hätte. Das kantsche Geschichtsbild, das sich, wie oben beschrieben, als eine Selbstsetzung des Menschen auf Grund der Vernunft versteht, reagiert selbst auf die eigene Aporie, die ich im Verhältnis von Schuld und Verantwortung herausgearbeitet habe, indem es den geschichtlichen Fortschritt (vgl. dazu die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) als eine durch Antagonismen vollzogenen Vernunftverwirklichung begreift. Dem wohnt ein GeschichtsoptimisVgl. Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Band II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München 1980.

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mus inne, der für Adorno nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr tragbar ist. In besonderer Klarheit kommt dies in der Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff zu Tage. Ich möchte im Weiteren diese aporetische Geschichtsphilosophie aufweisen, indem ich den Begriff eines geschichtlichen Fortschritts mit dem eines wahren Fortschritts, eines Fortschritts der Menschheit selbst, kontrastiere. In dieser utopisch-geschichtlichen Spannungslage wird ein impliziter Anspruch aus dem geschichtlichen Misslingen erfassbar. Er ließe sich mit Tiedemann folgendermaßen beschreiben: »Adornos Philosophie arbeitet sich so ausdauernd an der Interpretation der Geschichte ab, damit eines Tages doch noch der Augenblick ihrer Verwirklichung kommen möge.« 14 In Adornos 1962 gehaltenem Vortrag »Fortschritt« 15 stehen sich zwei Begriffe von Fortschritt gegenüber. In dieser Gegenüberstellung spitzt sich eine Thematik, die das ganze Werk Adornos durchzieht, in einer sehr klaren Weise zu, nämlich die Frage nach dem Verhältnis des Banns, unter dem die Menschen die gesamte abendländische Geschichte hindurch gefangen sind, zu der Erlösung von eben diesem Bann. Der eine Begriff des Fortschritts, den ich als »geschichtlichen Fortschritt« bezeichnen möchte, meint eine Entwicklung technischer Fertigkeiten und wissenschaftlicher Kenntnisse, das Fortschreiten der »jagenden Horde« 16 zur bürgerlichen Gesellschaft und der »Steinschleuder zur Megatonnenbombe« 17.Demgegenüber entwickelt Adorno einen Begriff von Fortschritt – den ich hier als den »wahren Fortschritt« bezeichnen möchte –, der das Heraustreten der Menschen aus diesem Bann bedeuten müsste. Wahr ist dieser Fortschritt, weil er einen echten Bruch mit dem Ganzen der abendländischen Geschichte bedeuten würde, während der geschichtliche Fortschritt nur ein Immergleiches hervorbringt, nämlich Herrschaft und »Macht als Prinzip aller Beziehungen« 18. Im geschichtlichen Fortschritt »schreitet alles fort im Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht« 19. Der wahre Fortschritt würde demgegenüber beinhalten, dass sich die unter dem Rolf Tiedemann, Niemandsland. Studien mit und über Theodor W. Adorno, (…) 2007, S. 173/174. 15 GS 10.2. 16 GS 10.2, S. 622. 17 GS 10.2, S. 629. 18 GS 3, S. 25. 19 GS 10.2, S. 623. 14

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Bann lebenden Menschen in einer Weise verbinden könnten, die eine »vernünftige Einrichtung der Gesamtgesellschaft als Menschheit« 20 möglich machen würde. Unter dem Bann, in der geschichtlichen Welt, ließe sich solcher Fortschritt nur als Verheißung eines Besseren, als Hoffnung bezeichnen. 21 Der Grund, weshalb ich von geschichtlichem Fortschritt sprechen möchte, während ihn Adorno in Anlehnung an Benjamin als einem »Fortschritt der Fertigkeiten und Kenntnisse« 22 beschreibt oder ihn als technischen charakterisiert 23, liegt in der Charakterisierung der Geschichte, die Adorno durch diesen Begriff vornimmt. Die Unterscheidung der beiden Begriffe verläuft nach einem vordergründig theologischen Motiv, dem »Kampf zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen« 24. Dieser Antagonismus von Irdischem und Himmlischem ist nicht unvermittelt, sondern steht als das Verhältnis von Geschichte und Erlösung in einer Beziehung zueinander. Die geschichtliche Welt wird als etwas angesehen, dem eine Bedürftigkeit nach Erlösung innewohnt; sie ist durch die perennierende Reproduktion von Leid und deren Kehrseite der schuldlosen Schuld als eine negative gekennzeichnet, als ein ›geschichtlich anwachsendes Unheil‹ 25.Geschichtlicher Fortschritt ist eben darum kein wahrer Fortschritt, da sich die Geschichte selbst in diesem Sinn als eine ›falsche‹ darstellt, denn »zuwenig Gutes hat Macht in der Welt, als dass in einem prädikativen Urteil Fortschritt auszusprechen wäre« 26. Von wahrem Fortschritt ließe sich in der Geschichte nur sprechen als Hoffnung auf deren Bruch, als der Schritt aus der Geschichte zur Erlösung von dieser Geschichte. Adorno sieht das Verhältnis von Geschichte und Erlösung als eine »Spannung, deren gestaute Energie nicht weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt selber.

GS 10.2, S. 618. »Pedanterie in seinem Gebrauch betrügt bloß um das, was er verheißt, Antwort auf Zweifel und die Hoffnung, dass es endlich besser werde, dass die Menschen einmal aufatmen dürfen.« GS 10.2, S. 617. 22 GS 10.2, S. 619, vgl. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Band I.2, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1991. 23 »Alle Fortschritte in den kulturellen Bereichen sind solche von Materialbeherrschung, von Technik.«, GS 10.2, S. 634. 24 GS 10.2, S. 622. 25 GS 10.2, S. 622. 26 GS 10.2, S. 622. 20 21

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Um kein Geringeres jedoch ist im Zeitalter der Katastrophe der Gedanke an Fortschritt überhaupt noch zu denken.« 27 Der geschichtliche Fortschritt ist diesem wahren Fortschritt in der Weise gegenübergestellt, dass sein Fortschreiten eines ist, das innerhalb der Geschichte liegt, ein Fortschreiten, dass Veränderungen im einzelnen hervorbringt, das technische Möglichkeiten zur Lösung einzelner Probleme umsetzt, aber nicht die Veränderungsbedürftigkeit des Ganzen im Auge hat. Die Radikalität des wahren Fortschrittsbegriffs liegt in seiner Infragestellung des Ganzen, der ganzen Geschichte, deren Veränderbarkeit er ins Auge fasst; in ihr »schreitet alles fort im Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht« 28. Der geschichtliche Fortschritt ist geschichtlich, insofern er vollends in der Geschichte des Falschen gefangen bleibt, dergegenüber der wahre Fortschritt einen Bruch anstrebt. Müsste aber nicht gerade Geschichte den Raum bezeichnen, der Veränderbarkeit aus dem Willen und nach den Interessen einer auf Menschlichkeit gerichteten Menschheit ermöglichte? Ein solcher Begriff von Geschichte, der die vergangene Entwicklung des Abendlandes als kontingent erfassen müsste, um sich seiner Möglichkeiten zur Veränderung der Welt bewusst zu werden, wäre eine wahre Geschichte, die wahren Fortschritt ermöglichte. Der Geschichte, die von Menschen gemacht wird, um das zu formen, was einem guten Leben entspräche, steht der Begriff einer notwendigen Geschichte gegenüber. Das Maß des Möglichen wird in dieser diktiert von dem bereits Geschehenen, von der gewordenen Geschichte. Diesem Zwangscharakter einer scheinbar notwendigen Geschichte zu entkommen, ist für Adorno aber nur dadurch möglich, dass der Begriff von Geschichte selbst befragt würde. In ihm liegt die Gegenüberstellung zur Natur. Die geschichtliche Welt ist eine qualitativ von Naturprozessen unterschiedene, sie ist die Welt, die von Menschen gestaltet wird mittels Politik und Kultur und die in dieser Gestaltung den Bedingungen des Natürlichen nicht vollkommen ausgeliefert ist. Um zu verstehen, wie Geschichte dennoch als Ort des Zwangs und der Notwendigkeit begriffen wird, untersucht Adorno die gewordene, geschichtliche Entwicklung. Eine solche Untersuchung der Geschichte leistet Adorno ge-

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meinsam mit Max Horkheimer vor allem in der »Dialektik der Aufklärung« 29. Furcht vor Natur, vor dem Ausgeliefertsein an die Umwelt und deren Gewalten, bestimmt das Bild, das sich Adorno von einem ›prähistorischen‹ Zustand des Menschen macht. Adorno sieht den Menschen schon am Anfang der Geschichte unter dem Bann einer übermächtigen Natur, die den sich fürchtenden Menschen zu verschlingen droht. Natur ist am Anfang der Geschichte die Gewalt, die den Menschen bannt, ihm die Möglichkeit raubt, sein Leben nach seinen Bedürfnissen einzurichten. Die ewigen Kreisläufe natürlicher Prozesse sind das Gesetz, dem der Mensch bedingungslos ausgeliefert ist. Diese Furcht zu nehmen, sich ihrer zu entledigen, muss im Verständnis Adornos als ein erster Akt der Aufklärung begriffen werden und als Beginn der bisherigen Geschichte. Vernunft soll von Furcht befreien. Über die distanzierende Betrachtung der Natur wie seiner selbst, über Erkenntnis im weitesten Sinn, erreichen Menschen die Möglichkeit, eine eigene Position zu der sie umgebenden Natur einzunehmen, sie selbst wiederum zu beherrschen oder mindestens nach eigenen Interessen zu beeinflussen. Dies vollzieht sich über mimetische und Tausch-Rituale wie durch technische Fertigkeiten zur Bearbeitung der Lebensumgebung. Und schon hier lassen sich zwei Momente 30 der einen, aufklärerischen Bewegung erkennen: zum einen das den Menschen von seiner Naturunterworfenheit befreiende, zum anderen ein naturbeherrschendes. Die Freiheit von Furcht wird erreicht durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Beherrschung dessen, von dem die Furcht ausgeht, der Natur. Diese Naturbeherrschung befreit aber keineswegs die Menschen von Furcht und Herrschaft, im Gegenteil: die Herrschaft über die Natur zieht die Herrschaft über die eigene Naturwüchsigkeit nach sich, sie wird Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin. Und nicht nur das: Herrschaft und Macht als Mittel zur Befreiung anerkannt, lässt auch das zwischenmenschliche Leben unter den Bann von Herrschaft geraten. Herrschaft wird fortgeführt in allen Bereichen und allen BeziehunHorkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: GS 3. Hier handelt es sich nicht um zwei nebeneinander bestehende Momente, sondern um eine dialektische Verfassung der Aufklärungsbewegung. »Dialektisch, im strengen unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, Eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen.« Adorno, Fortschritt, GS 10.2, S. 627–628.

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gen. »Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als Prinzip aller Beziehungen.« 31 Diese Bewegung der Herrschaftsdialektik, dieser Bann, schreitet in der ganzen abendländischen Geschichte durch alle Neuerungen fort bis auf den heutigen Tag. Dem Naturzwang entkommen die Menschen durch Naturbeherrschung nur scheinbar; der Naturzwang setzt sich fort in gesellschaftlichen Herrschaftsformen. Gesellschaftlicher Zwang wird von Adorno als eine Struktur von Herrschaft verstanden, die als der Einflussnahme durch Menschen entzogene mit Naturzwang zusammenfällt. Wird Natur dem Menschen gegenübergestellt und als gewaltsam angesehen, dann ist sie im gleichen Sinne Bann wie eine Geschichte, die als sich notwendig durch Herrschaft und Gewalt vollziehende gedacht wird. Geschichte und Natur sind durch dieses Paradigma der Gewalt und Herrschaft vermittelt. Ein wahrer Fortschritt müsste darum ebenso das Verständnis von Natur verändern wie von Geschichte. »Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.« 32

Ein solches Heraustreten wäre wahrer Fortschritt, es wäre ein Schritt aus dem Falschen des Ganzen zur Veränderung des Ganzen. Wahrer Fortschritt wäre die Befreiung im Ganzen von Herrschaft und Macht als Prinzip aller Beziehungen. Wahrer Fortschritt ist auf eine Erlösung vom Bann gerichtet, die, würde sie stattfinden, den Zwang zu Fortschritt, ewig expansiver Naturbeherrschung und unendlichem wirtschaftlichem und militärischem Wachstum obsolet machen würde. Geschichtlicher Fortschritt ist nur scheinbar Veränderung, er schreitet im Ganzen des Herrschaftsanspruchs fort, er modifiziert und verbessert Techniken der Herrschaft, doch er verlässt nicht das Prinzip der Herrschaft. Das Immergleiche, Naturzwang und Zwang überhaupt, wiederholt sich beständig in der Geschichte, dennoch ist Bewegung in diesem Immergleichen. Träger des geschichtlichen Fortschritts als einer Dialektik der Aufklärung ist Vernunft.

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GS 3, S. 25. GS 10.2, S. 625.

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»Dialektisch, im streng unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, dass sein Organon, die Vernunft, Eine ist; dass nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht nebeneinander sind, sondern beide alle ihre Bestimmungen teilen.« 33

Die eine Vernunft offenbart im geschichtlichen Fortschritt beide Schichten, sie selbst hat sowohl herrschaftliche als auch befreiende Züge. Dem Naturzwang ausgeliefert erhalten die Menschen durch die Vernunft die Möglichkeit, sich dieses Zwangs zu entledigen. Durch Rationalisierung und Abstraktion der Erfahrungen, durch Erklärungsmodelle und Techniken gewinnen die Menschen gegenüber der Natur Autonomie in ihren Entscheidungen. Sie werden durch diese Vernunft zu Subjekten, die sich selbst in Distanz zu ihrer Umwelt betrachten können und daraus zielgerichtetes Handeln, Manipulation der Umwelt und Entscheidungsfreiheit erreichen. Vernunft verleiht den Menschen Macht im Umgang mit ihrer Außenwelt. Der Umgang mit Natur, Mitmenschen und mit sich selbst wird rational eingerichtet. Nur Vernunft versichert dem Menschen die Macht, die ihn davor schützen kann, unter einer fremden Herrschaft zu stehen. Vernunft als Machtinstrument steht aber selbst vollkommen unter dem Bann der Herrschaft. Auch die Herrschaft der Vernunft ist nicht »bloß« naturbeherrschend, sondern wendet den Zwang der Herrschaft gegen ihren eigenen Träger, den Menschen. Der rationale, die Natur beherrschende Mensch erkauft sich diese Herrschaft durch Selbstkontrolle und Selbstdisziplin bis zur körperlichen und seelischen Verkrüppelung. Das Verhältnis zwischen Menschen wird ebenso rationalisiert und entfremdet wie das Verhältnis zur Natur, die nur mehr Rohstoffquelle für die Produktion ist. Die unter dem Bann der Herrschaft stehende Vernunft setzt den Naturzwang, gegen den sie ihr emanzipatorisches Potential entfalten möchte, ungebrochen fort als von der Praxis losgelöstes Prinzip logischer Wahrheit. Vernunft unter dem Bann von Herrschaft ist selbst Bann für den Menschen. »Die Vorstellung der Herrschaft reiner Vernunft als eines Ansichseienden, von der Praxis Getrennten unterwirft auch das Subjekt, richtet es als Instrument von Zwecken zu.« 34 Versöhnend ist die Vernunft zugleich, insofern sie den Menschen befähigt, als Subjekt, als selbstbewusster Teil der Natur, sich von sich aus zu seiner Umwelt zu verhalten, sich der Natur, dem ei33 34

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genen Selbst und den Mitmenschen in der Weise zuzuwenden, dass die Differenz zwischen eigenem Selbst und Anderem jenseits von Antagonismus oder Widerspruch als solche bestehen kann. Die Vernunft hätte die Möglichkeit, dem Menschen die Angst zu nehmen, sich in einem ihm übergeordneten Ganzen zu verlieren, und das Begegnende, das vordem Angst einflößende Fremde, gleichwohl für sich stehen zu lassen. Versöhnend wäre Vernunft, würde sie ein Selbstbewusstsein schaffen, das nicht aus Angst um die eigene Unversehrtheit Gewalt ausüben müsste. Erst die Idee von Freiheit in einer Welt, in der Herrschaft Prinzip ist, gibt die Möglichkeit, wahren Fortschritt zu denken. Wahrer Fortschritt als ein Bruch mit der ganzen bisherigen Geschichte kann sich nicht durch Bestehendes oder Gewesenes begründen, er bedarf einer allgemeinen Idee, die den Horizont für eine Welt eröffnet, wie sie noch nie gewesen ist, indem sie das Ganze der Herrschaft, des Banns ins Auge fassen kann. Und dieser Blick auf eine veränderte Welt kann für Adorno nur durch allgemeine Begriffe der Vernunft glücken, die zu der bestehenden Welt in Widerspruch stehen und als dieser Widerspruch den Bann in Frage stellen können. »Äonenlang hatte die Frage nach Fortschritt keinen Sinn. Sie stellt sich erst, nachdem die Dynamik frei ward, aus der die Idee von Freiheit extrapoliert werden konnte.« 35 Geschichtlicher Fortschritt ist also nicht ohne Bezug zum wahren Fortschritt. Geschichtlicher Fortschritt, der sich fortbewegt im Maße der Rationalisierung, hat zwar in der Ratio das Moment von Herrschaft, aber ebenso ist hier die Möglichkeit angezeigt, gegenüber dem Ganzen als Bann Widerspruch einlegen zu können. Im Bann selbst gibt es also ein Moment, das sich gegen den Bann wenden kann, die Vernunft. »Hat die fortwährende Unterdrückung den Fortschritt, den sie entband, immer zugleich auch sistiert, so hat sie, als Emanzipation des Bewusstseins, überhaupt erst den Antagonismus und das Ganze der Verblendung erkennen lassen, die Voraussetzung dafür, ihn zu schlichten.« 36

Doch zur tatsächlichen Schlichtung kam es in der Geschichte nie. Die Vernunft war, könnte man mit Adorno sagen, noch nicht vernünftig. 37 GS 10.2, S. 625. Ebd. 37 Adorno benennt das Umschlagen von Rationalität in Irrationalität wie folgt: »Ratio schlägt in Irrationalität um, sobald sie, in ihrem notwendigen Fortgang, verkennt, 35 36

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Vernunft dürfte nicht mehr als Losgelöstes gedacht sein, das als solches Wahrheit und Geltung hat. Weder Natur dürfte als bloßes Moment von Vernunft, noch Menschen als bloße Vollzugsmomente einer verabsolutierten Vernunft verstanden sein. Vernunft bedürfte einer Selbstreflexion, die die Grenzen und Bedingtheiten von ihrer selbst anerkennen würde. »Die helfende Selbstreflexion der Vernunft jedoch wäre ihr Übergang zur Praxis: sie durchschaute sich als deren Moment; wüsste anstatt sich als das Absolute zu verkennen, dass sie eine Verhaltensweise ist.« 38

Geschichtlicher Fortschritt und wahrer Fortschritt sind also durch Vernunft aufs engste miteinander verbunden. Wahrer Fortschritt ist erst durch den geschichtlichen Fortschritt denkbar geworden. Doch noch nichts ist im geschichtlichen Fortschritt, was tatsächlich den Gedanken an den wahren Fortschritt entfalten, ins Werk setzen könnte. Der Bann herrscht ungebrochen und verstellt die Aussicht auf Verwirklichung der Idee von Freiheit. Nur das Leid unter dem Bann lässt die Idee von Freiheit zu einem dringenden Versprechen werden. Doch zu vernehmen ist solches Versprechen, das dem Leid erwächst, erst im Bewusstsein der Schuld. Der Bruch mit dem Prinzip von Herrschaft wäre der erste und wahre Fortschritt. Doch wie ist dieser Bruch zu erreichen, vielmehr, was hindert daran, den Bruch zu vollziehen und die Beziehungen der Menschen ohne Gewalt und Herrschaft einzurichten? Die Formulierung dieser Frage erscheint schon utopisch und wirklichkeitsfremd. Die Wirklichkeit der Menschen ist so sehr durch Herrschaft geprägt, dass es naiv wirken könnte, ein Ende dieser Wirklichkeit anzustreben. Doch was naiv erscheint, ist für Adorno Ziel radikaler und notwendiger Kritik: notwendig aus dem puren Bedürfnis, das Leiden der Menschen an Herrschaft zu beenden und aus dem Zirkel der Schuld herauszutreten; kritisch in der Weise, sich im Bann negativ auf ihn zu beziehen; und radikal durch die Infragestellung der Gesamtheit des Bannverhältnisses. Eine solche Kritik bezieht ihre Legitimation und Motivation zum einen durch das Leid und die Schuld der Menschen im Anspruch auf Menschlichkeit, zum zweiten aber genau aus der

dass das Verschwinden ihres sei’s noch so verdünnten Substrats ihr eigenes Produkt, Werk ihrer Abstraktion ist.« GS 6, S. 152. 38 GS 10.2, S. 628.

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utopischen Not-wendigkeit, eine andere Welt ohne Leid, jenseits der Schuld zu postulieren. Beide Pole sind innigst miteinander verbunden: Leid als solches anzuerkennen bedarf des Versprechens eines leidlosen Zustands. Andererseits ist eine noch nicht da gewesene, bessere Welt (das gehörte Versprechen) nur ex negativo als bestimmte Negation des schicksalshaften Leids zu verstehen. Im Bann, in dem das durch Herrschaft produzierte Leid als ein Notwendiges erscheint, kann Leiden eigentlich nicht erfahren werden, es wäre nur natürlicher Umstand notweniger Prozesse. Die Möglichkeit, Leid zu erfahren und eine leidlose Welt anzustreben, stützt sich darum darauf, den Bann als ein Gemachtes, Kontingentes zu entlarven und darin zu einem Bewusstsein der Schuld zu gelangen. Der Bann ist für Adorno gesellschaftlicher Zwang, er unterdrückt in der Form gesellschaftlicher Institutionen und Produktionsverhältnisse sowie bloßer Ideologie die Menschen, ist aber ebenso ein von Menschen Gemachtes. Gesellschaftliche Zwangsverhältnisse erscheinen dem Einzelnen gegenüber unveränderbar und notwendig, geradezu naturgegeben, und in dieser Weise kann Adorno sagen, dass sich der Naturzwang in der Geschichte fortsetzt. Diesen Bann als ein von Menschen Gemachtes anzuerkennen, ist selbst schon kritische Reflexion und bedeutsam für die Möglichkeiten, dem Bann ein Ende zu machen. Die Erkenntnis der Produziertheit von Zwang ist schon Widerstand gegen den Bann. Denn der Bann verliert den Anschein seiner Notwendigkeit und der Zwangsläufigkeit seines Bestehens, wenn er als Gemachtes und Verschuldetes entlarvt wird. Die Möglichkeit einer anderen Welt blitzt auf, wenn erkannt wird, dass das Bestehen des Banns vom Menschen verschuldet ist. ›Der Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ wird hier also gerade als Bewusstsein der Schuld emanzipativ. Doch wie steht es mit der Möglichkeit für einen wahren Fortschritt für den Einzelnen? Dem Menschen seine Furcht zu nehmen, ihn frei zu machen, dieses Unternehmen der Aufklärung, ist bis dato gescheitert. Der Mensch hat sich in der Geschichte vielmehr eine noch viel machtvollere und beängstigendere Instanz geschaffen, als es die Natur je hätte sein können. Die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen geschieht in erster Linie durch anonyme Einrichtungen der Gesellschaft. Die Institutionalisierung von Herrschaft, beginnend mit Naturbeherrschung, wird eine Form zweiter Natur. »Aber es ist das Wesen historischer Objektivität, dass das von Menschen Gemachte, die Institutionen im weitesten Sinn, ihnen gegenüber sich verselbständiKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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gen und zu zweiter Natur werden.« 39 Der Antagonismus unterscheidet nicht verschiedene Verfügungsmöglichkeiten über den Bann; beide, Herrscher wie Beherrschte, stehen unter dem Bann der Herrschaft. Auch der Herrscher vermag nicht der Herrschaft seine Prinzipienstellung zu nehmen, er hat aus seiner Position keine Gewalt über einen Ausgang aus dem Bann, weil er eben nur über Gewalt verfügt, nicht über sich als das Versprechen-seiner-selbst. Der Einzelne, das Individuum ist diesem gesellschaftlichen Bann ausgeliefert. Individualität ist selbst verstümmelt zur Funktionsvariablen in einem gesellschaftlichen Prozess. Der Einzelne ist Rädchen in der Apparatur des gesellschaftlichen Zwangs. Zugleich ist es aber der Einzelne, der leidet und mindestens in dieser Erfahrung des Leids nicht gänzlich von der Apparatur aufgesogen wird, sondern einen Stachel gegen sie zu treiben vermag. Das Individuum vermag durch Erfahrungen, selbst wenn es Erfahrungen von Leid sind, die Hoffnung auf Glück und Erlösung trotz des Banns nicht aufzugeben. Die Besonderheit des Einzelnen gibt ihm die Kraft, widerständig gegen die Allgemeinheit des Banns zu sein. Doch wie kann der Einzelne einen Bruch im Ganzen evozieren, wie kann die Besonderheit des Einzelnen ihm helfen, dem Bann als Allgemeinem zu entkommen? Der Einzelne wird vereinzelt gegenüber der allgemeinen Geltung der Herrschaft. Keine seiner Beziehungen zu anderen Menschen entkommt dem Primat der Herrschaft, da noch jede Bannbeziehung unter die Allgemeinheit von Herrschaftsstrukturen subsumiert wird. Der Einzelne steht so einer Allgemeinheit gegenüber, die er nicht zu bestimmen scheint, der er aber gleichwohl angehört. Gegenüber dieser Allgemeinheit ist er in seinem Leiden vereinsamt, anderen Menschen gegenüber entfremdet durch die Herrschaft, die er ausübt und der er unterworfen ist. Doch in dieser Erfahrung der Vereinzelung und Entfremdung, die als Leiden auf ihr Ende drängt, liegt das Potential des einzelnen, sich wieder auf ein herrschaftsfreies Zusammenleben von Menschen, eine echte Gemeinschaft zu beziehen. »Nur durch dies Extrem von Differenzierung, Individuation hindurch, nicht als umfangender Oberbegriff ist Menschheit zu denken.« 40 Wahrer Fortschritt wäre darum auf Einzelne angewiesen. »Jeder einzelne Zug im Verblendungszusammenhang ist doch relevant für sein mögliches Ende. Gut ist das sich Entringende, das, was Sprache findet, 39 40

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das Auge aufschlägt. Als sich Entringendes ist es verflochten in die Geschichte, die, ohne dass sie auf Versöhnung hin eindeutig sich ordnete, im Fortgang ihrer Bewegung deren Möglichkeit aufblitzen lässt.« 41

Wahrer Fortschritt als das Heraustreten aus dem Bann im Ganzen bedarf der Einzelnen, die sich zu einer herrschaftsfreien Gemeinschaft zusammengefunden hätten, um dem Ganzen des Banns zu entkommen. Subjekt dieses Fortschritts kann für Adorno nur eine Menschheit sein, die sich ihrer eigenen Veränderungsmöglichkeiten bewusst ist und damit das Primat der Herrschaft brechen kann, das die Menschen vereinzelt. Eine solche Menschheit wäre nur dann ledig des Zwangs, wenn sie ihre Gesamtheit nicht durch einen Ausschluss bestimmen müsste; sie wäre das bedingungslose Zusammensein von Verschiedenen, deren Verschiedenartigkeit die Zusammengehörigkeit nicht einschränken, sondern ausmachen würde. Doch wieso beharrt Adorno so vehement auf einem so umfassenden Begriff wie dem der Menschheit? Adornos Begründung dafür erscheint zuerst sehr undurchsichtig, er sagt, dass »allein an es [das Gesamtsubjekt Menschheit] die Möglichkeit von Fortschritt übergegangen ist, der Abwendung des äußersten, totalen Unheils« 42.Die gesellschaftliche Apparatur verselbständigt sich in der Geschichte zunehmend gegenüber den Menschen, macht sie zu bloßen Funktionsträgern oder zum Material des Herrschaftsmechanismus. Dieser sich totalisierende Bann tritt im Bereich der Kultur als Technik der Materialbeherrschung auf. Und auch diese Ausprägung der Herrschaft nimmt ein tatsächlich globales Ausmaß an, dem sich keine Region dieser Erde, kein Mensch entziehen kann. Die Materialbeherrschung weitete sich aus bis zur möglichen Zerstörung der ganzen Erde durch die Waffentechnik, bis zu dem das menschliche Vorstellungsvermögen sprengenden Maß an rationaler Vernichtung menschlichen Lebens im Holocaust. Tatsächlich stellt für Adorno diese Totalisierung des Banns die Menschheit als Ganzes in eine Gefahr, der kein Einzelner als Einzelner mehr entgehen kann. Werden in den Vernichtungslagern Menschen nicht als Menschen vernichtet, sondern als bloße Exemplare, wird die Welt im Ganzen von Zerstörung bedroht, dann entsteht die geschichtlich einmalige Situation der Infragestellung der Menschen als Menschheit. Der Begriff der Menschheit ist darum für Adorno eng mit der Totali41 42

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sierung des Banns, mit dem totalen Unheil verschwistert. So lässt sich das Verhältnis von gehörtem Versprechen und gesehener Schuld auf dieses Verhältnis anwenden: Der Mensch hört das Versprechen-seiner-selbst im Begriff der Menschheit und sieht seine Schuld in der Ohnmacht als Einzelner. Die Menschheit ist dann das Versprechen für den Einzelnen, sein Schuldbewusstsein begründet die Verantwortung für die Menschheit. Das Selbst des Menschen und die Menschheit sind als Schuldbewusstsein und Versprechen-seiner-selbst miteinander vermittelt. An die Menschheit, die nicht nur Oberbegriff ihrer Exemplare ist, sondern eine herrschaftsfreie Verbindung von Einzelnen in ihrer Selbstverwirklichung, ist für Adorno angesichts dieses totalen Unheils allein die Möglichkeit eines wahren Fortschritts übergegangen. Nur das ›Gesamtsubjekt Menschheit‹ vermag der totalen Bedrohung noch etwas entgegen zu setzen, nämlich ihre eigene vernünftige und herrschaftsfreie Einrichtung. Adornos Denken steht hier in einer scheinbaren Aporie: Die Menschheit wäre Voraussetzung eines wahren Fortschritts, zugleich wäre sie erst durch den wahren Fortschritt ermöglicht. Es kommt darauf an, den wahren Fortschritt in der Spannung von Geschichte und Erlösung zu denken. Diese Spannung wird durch das Verhältnis von Schuld und Verantwortung aufgegriffen. Wahre Menschheit ist noch nicht und wäre erst als erlöste. Doch sie ist schon in der Bedrohtheit aller Menschen durch den Menschen (Schuld) als versöhnte zu antizipieren. »Bleibt die Menschheit eingefangen von der Totalität, die sie selbst bildet, so hat nach Kafkas Wort, ein Fortschritt noch gar nicht stattgefunden, während doch bloß Totalität erlaubt, ihn zu denken. […] Würde sie eine Totalität, die in sich selbst kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger: keine erzwungene Einheit.« 43

Versöhnung mit Natur, Selbstreflexion der Vernunft und Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit wären sowohl Bedingung als auch Vollzug eines wahren Fortschritts. Adorno spricht von diesem Sachverhalt, wenn er sagt, dass »der Fortschritt sich dort ereigne, wo er endet.« 44 Würde sich Fortschritt ereignen, wäre kein Fortschritt

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GS 10.2, S. 619–620. GS 10.2, S. 625.

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mehr, denn der Bann, aus dem der Fortschritt heraustreten müsste, wäre damit schon gebrochen, die Schuld entschuldet. Die Möglichkeit der Erlösung bleibt in der Geschichte dunkel. Adorno scheint diese Möglichkeit einer Erlösung nur negativ fassen zu können. Wahrer Fortschritt als Fortschritt des Ganzen wäre Widerstand gegen den geschichtlichen Fortschritt als fortschreitender Rückfall ins Immergleiche des Ganzen. »Dann verwandelte sich der Fortschritt in den Widerstand gegen die immerwährende Gefahr des Rückfalls, Fortschritt ist dieser Widerstand auf allen Stufen, nicht das sich Überlassen an den Stufengang.« 45

Solange wir aber wahren Fortschritt als Widerstand bezeichnen müssen, herrscht der Bann noch über die Menschen. Aus der Perspektive einer erlösten Menschheit müsste wahrer Fortschritt als geschehene Befreiung angesehen werden, die ihren Widerstand in eine wahre Revolution des Ganzen überführte. Widerstand in diesem Sinne nimmt zwar seine Kraft und hat sein Wesen in der Befreiung und Erlösung, doch muss sie ihm noch als jenseitig, als ein noch nicht Seiendes gelten. Denkt man die Geschichte wie Adorno als eine Dialektik der Aufklärung, dann ist der Widerstand gegen diese Dialektik selbst dialektisch obgleich es ihm gerade darum zu tun ist, dieser Dialektik zu entkommen. Widerstand zielt auf ein Jenseits geschichtlicher Dialektik. Erlösung vom Leid und Versöhnung der antagonistisch verfassten Welt stellen nur vom Standpunkt des Banns, unter den die geschichtliche Welt gestellt ist, ein Jenseits dar. Jenseitig im theologischen Sinne einer zur irdischen Welt unterschiedenen Sphäre ist der von Adorno intendierte Begriff von Erlösung nicht. Es geht um eine radikale Veränderung des Ganzen gesellschaftlicher Verhältnisse in dieser Welt. Dennoch ist Erlösung auch nicht Teil dieser Welt, denn sie ist noch nicht und nichts im falschen Ganzen der Bannverhältnisse wird ihrem Anspruch auf Veränderung des Ganzen schon gerecht. Sie ist in diesem Sinne unfassbar, nicht einmal positiv antizipierbar. Dieses Ausstehende erweist sich im Bewusstsein der Schuld, die Leid allererst erfahrbar werden lässt, als das Versprechen des neuen Menschen im Versprechen-seiner-selbst.

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Ebd. GS 10.2, S. 638.

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III.3.3. Nietzsches Selbstüberwindung im Lichte des utopischen Denkens »Ein Thier heranzüchten, dass versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen? … Daß dieses Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muß dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegenwirkende Kraft, die der Vergeßlichkeit, vollauf zu würdigen weiß.« 46

Das eigentliche Problem des Menschen ist der Mensch selbst, das Tier, das versprechen darf. Nietzsche findet in diesen knappen Sätzen zu einer anthropologischen Bestimmung, dem animal promitiens. Doch was hier als Bestimmung daherkommt und den Menschen in seinem Wesen zu fassen sich anheischig macht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Beschreibung eines dynamischen Spannungsverhältnisses. Der Mensch ist nicht etwa kategorial vom Tier zu unterscheiden durch die differentia specifica des Versprechen-dürfens, sondern der Mensch ist das Tier unter Tieren, das sich verspricht kein Tier mehr zu sein. Seine Seinsbestimmung liegt darin, etwas anderes sein zu wollen als es ist; das menschliche Tier verspricht sich kein Tier mehr zu sein, sondern Mensch zu werden. Das Noch-nicht des Menschen bestimmt ihn als Menschen. Nietzsche weiß sich einig mit Schopenhauer, die beide jeweils die Unterscheidung des Tiers vom Menschen als bloß akzidentielle ansehen, den Intellekt und das Erkenntnisvermögen als animalische Instrumente im Tierischen verstehen gleich den Zähnen eines Tigers. Mehr noch, der Mensch ist »keine Krönung der Schöpfung: jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit … Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zu viel: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alledem, auch das interessanteste!« 47 Dem Wesen nach ist der Mensch nicht vom Tier unterschieden, er unterscheidet sich nur darin wesentlich von ihm, insofern er anderes sein will, als er ist, näm-

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 5, München 1980, S. 291. (Alle Zitate von Nietzsche werden im Weiteren wie folgt angegeben: Nietzsche, Werk.) 47 Nietzsche, Antichrist, S. 180. 46

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lich Mensch. Das Tier, das versprechen darf, ist also das Noch-nicht des Menschen als wesentliche Auszeichnung des Menschen. Der Mensch ist demgemäß das utopische Tier, das sich verspricht, das erst zu werden, was es ist, der Mensch. Er steht in einer Spannung, die sein ganzes Wesen zu einer Dynamik werden lässt, zu einer geschichtlichen Aufgabe, die ihn bestimmt. Die oben angeführten Sätze Nietzsches beginnen eine Untersuchung zu Schuld und Verantwortung in der Genealogie der Moral. Diese Untersuchung schließt mit dem versprochenen Menschen, mit dem ›erlösten Menschen‹. Doch von was ist der zukünftige Mensch erlöst? Die Antwort auf diese Frage bringt die Schuld in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Der erlöste Mensch ist erlöst von Schuld und schlechtem Gewissen. Mit welcher Schuld haben wir es hier zu tun? Mit der oben angeführten Universalschuld? Mit der Schuld, die einem Vergehen folgt? – Was bedeutet Schuld bei Nietzsche? Um dieser Frage näher zu kommen, dürfen wir uns nicht bloß den vordergründigen Bestimmungen von Schuld, wie sie uns Nietzsche in der Genealogie der Moral vorführt, zufrieden geben. Es wird notwendig, Schuld in drei Begriffen zu unterscheiden. Wir sehen zum einen die tragische Schuldverstrickung des griechischen Heroen, zum zweiten die Wendung des Schuldbegriffs in der christlichen Machtaneignung und zum dritten die Schuld des Menschen, der sich aus den moralischen Verstrickungen zu erheben habe, um sich von Schuld zu befreien.

III.3.3.1. Die ja-sagende Schuld des Herrn Wenn von Tragödie oder dem Tragischen die Rede ist, wird die Thematisierung einer Schuld aufgegeben, die mit der bislang erörterten Universalschuld insofern wesensverwandt zu sein scheint, als auch sie eine schuldlose Schuld darstellt. Klassischerweise wurde die Tragödie als eine verhängnisvolle Verstrickung von Rechtssetzung und Schuld verstanden. Nietzsche kann in weiten Teilen seines Gesamtwerks als ein Denker des Tragischen verstanden werden, das sich in der spannungsreichen Konstellation von Rechts-/Wertsetzung, Sünde und Unschuld zeigt. Wie die Tragödie auch immer im Einzelnen interpretiert wird, sie scheint hier jeweils als ein Paradigma menschlichen Daseins verstanden zu werden: Der Mensch zwischen Naturrecht und positivem Recht, der Sterbliche im Widerstand gegenüber Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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dem göttlichen Recht, das Individuum angesichts seines Schicksals. Der Mensch scheint von Grund auf ein tragisches Wesen zu sein, wo er allein aufgrund seines spezifischen Daseins schon in einen Konflikt mit gesetztem Recht gerät. Wo sich der Mensch mit jedem Atemzug das Recht nimmt zu sein, befindet er sich bereits in einem Loyalitätskonflikt. Er entwächst als Teil einer Familie, einer Geschichte, einer Landschaft, der Natur und eines Volkes einer Ordnung, die er selbst repräsentiert und die er doch zugleich erneuern und durchbrechen muss, um ein Selbst zu sein, einer, der seinen Namen in die Annalen des Lebens eingeschrieben hat. Macht er sich zum Anwalt des Rechts seiner Herkunft, gerät der Mensch in den Konflikt mit seiner Bestimmung, ein anderer zu sein, ein Individuum, widersetzt er sich dagegen seiner schicksalhaften Herkunft, um er selbst zu sein, dann frevelt der Mensch gegenüber sich selbst als der, der er ist (hybris). Jeweils steht der Mensch zwischen dem Recht der Herkunft und dem Recht der Selbstsetzung, immer verschuldet er sich in seinem bloßen Dasein. Dennoch lässt sich vorausschicken, dass tragische Schuld und die Universalschuld des Sollens trotz ihrer Ähnlichkeiten von ganz anderer Bedeutung sind. In einigen Überlegungen zu Nietzsche werde ich versuchen, diesen Unterschied herauszuarbeiten und für den weiteren Gedankengang fruchtbar zu machen. Auch in Nietzsches berühmter Untersuchung zur griechischen Tragödie lässt sich das Motiv einer schuldlosen Schuld ausmachen. In dieser frühen Untersuchung steht er noch im Bann Schopenhauerscher Denkfiguren: Das Apollinische wird zum Prinzip der scheinhaften Erscheinungen, zur ›bildnerischen Kraft‹ alles Individuierten, kurz zum Ausdruck des principium individuationis. »Ja es wäre von Apollo zu sagen, daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principium individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des Scheines samt seiner Schönheit, zu uns spräche.« 48

Dass diese Lust und Weisheit des Scheins aber keineswegs bruchlos bestehen bleibt, sondern erst an Tiefe gewinnt, wo sie zerbricht, macht nun die eigentliche Grundspannung des Tragischen bei Nietzsche aus. Denn die Lust an der Schönheit wandelt sich zum Grausen 48

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in seiner Konfrontation mit dem dionysischen Prinzip, dem Rausch am Zerbrechen der Individualität. »An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grauen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen irre wird, indem der Satz vom Grund, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principium individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch Analogie des Rauschs gebracht wird.« 49

Diese tragische Spannung zwischen Individualität und Auflösung ist trotz ihres wertfreien Daherkommens gerade darin Grausen und Verzückung, dass sie in einem Schuldbezug wurzelt, der die »Doppeltheit in den Affekten der dionysischen Schwärmer« 50 bedingt. Das Individuum und die Welt des Scheins verschulden sich gegenüber dem »UrEinen« 51 durch ihr bloßes Dasein, dessen Auflösung zu einem Versöhnungsfest der Menschen untereinander und mit der Natur gerät. 52 Im Bestehen des Individuierten liegt bereits das Vergehen gegenüber dem Ur-Einen, der Natur als ganzer. Verzückt erlebt der Mensch in der Tragödie seine Auflösung als eine Erlösung nicht vom Leid, sondern im Leid vom Selbstsein, so »dass Schmerzen Lust erwecken, daß der Jubel der Brust qualvolle Tränen entreißt. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe.« 53 Der Doppelcharakter des tragischen Affektes ist einem dem Dasein eingeschriebenen Widerspruch geschuldet, den man darum als schuldhaft kennzeichnen kann, weil er sich dem Bewusstseins der Falschheit des eigenen Seins verdankt, das sich angesichts der Auflösung des Selbst ergibt. »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der 49 50 51 52 53

Ebd. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 33. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 30. Vgl. ebd. S. 29 f. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 33.

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Olympischen stellen.« 54 Im Bewusstsein der Falschheit des eigenen Daseins bricht die scheinhaft-apollinische Kraft des Erträumens hervor, die das Dasein gegenüber den Schicksalskräften der Natur zu rechtfertigen sucht. Nietzsche macht hierin eine erste verkehrte Theodizee aus. »So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee!« 55 Wie können wir dann aber dieses Dasein, das der Rechtfertigung, einer Homodizee durch die Götter bedarf, anders ansehen als ein schuldiges? Schuld am Dasein, das sie sind. Und schuldig sind die Menschen auch noch darin, sich selbst im Dasein zu halten, indem sie sich den Olymp erträumen. Doch dass gerade dieser Traum als Strategie der Selbsterhaltung auch zum Geschehen der Erlösung im Dionysischen vonnöten ist, macht den den Rahmen schopenhauerschen Denkens sprengenden Charakter Nietzsches Denkens aus. Denn das Erträumen des Olymps erlaubt nicht bloß den Bestand des Daseins, sondern dessen Steigerung ins Titanische. Die Schuld des Daseins im bloßen Bestehen einerseits und in seiner erträumten Rechtfertigung wird zum Ausgangspunkt einer Selbsttranszendierung des Menschen. Für den Fortgang unserer Untersuchung ist es bedeutsam, sich klar zu machen, dass Nietzsche hier grundlegend von einer Schuld des Daseins ausgeht, einer schuldlosen Schuld. Das individuierte Dasein liegt durch seine Individualität im Widerspruch mit der Natur im Ganzen, dem Ur-Einen. Dass dieser Widerspruch nicht bloß als Ursprung des Leidens am Dasein angesehen werden kann, zeigt sich in Nietzsches Konzept einer aktiven Sünde. Er kann zwar sagen: »Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen.« 56 Doch dies gilt nur für den Helden, »der in seinem rein passiven Verhalten, seine höchste Aktivität erlangt« 57, d. h. für den Menschen, der in seinem widernatürlichen Schicksal den Grund findet, sich soweit gegen die Natur zu erheben, dass eine Versöhnung mit der Natur als ganzer überhaupt in den Blick kommt. »[W]as wir uns, im Hinblick auf den rätsellösenden 54 55 56 57

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Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 36. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 36. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 65. Ebd.

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und seine Mutter freienden Ödipus, sofort zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weissagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit – wie dort der Inzest – als Ursache vorausgegangen sein muß; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, daß man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatürliche?« 58 Der edle Mensch ist also nur dadurch nicht sündig, insofern er die Schuld seines bloßen Daseins insofern überschreitet, dass er diese Schuld sündigend übertrifft und darin Erlösung anstrebt. Darin liegt der Begriff der aktiven Sünde 59, eine sündige Überwindung der Schuld. »Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der aktiven Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Übels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch verwirkten Leidens. […] Bei dem heroischen Drange des einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch, d. h. er frevelt und leidet.« 60 Die Gedankenfigur, die von Schopenhauer ihren Ausgang nimmt, wird durch den Charakter der aktiven Sünde weit über den Philosophen der Willensverneinung hinausgetragen. Die Einkehr in das Ur-Eine wird schon in diesem Text nicht eigentlich durch eine Verneinung des Willens bewirkt, sondern vielmehr durch eine sündigende Überbietung des Individuums. Es handelt sich hierbei zwar ebenfalls um eine negative Strategie der Versöhnung, allerdings nicht durch ein radikales Nein zum Selbst, sondern durch eine Strategie der Hybris – schon hier zeichnet sich ein methodischer Atheismus im Denken Nietzsches ab. Der Mensch befreit sich vom Selbst durch den Gebrauch der Götter zur Rechtfertigung ihrer selbst, um dieses Selbst wiederum ins Göttlich-Übernatürliche zu steigern. Das Selbst wird in den radikalen Widerspruch zur empirischen Natur getrieben und fordert darin das Geheimnis wahrer Natur als Ureinheit heraus – und damit seinen eigenen Untergang. Die schuldlose Schuld wird 58 59 60

Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 66/67. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 69. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 69/70.

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überwunden durch aktive Verschuldung. Im Motiv des radikalen Widerspruchs als Ort der Erlösung werden wir noch eine grundlegende Parallele zu Adorno finden, im Motiv der aktiven Sünde allerdings deren grundlegenden Unterschied. Das tragische Schuldkonzept Nietzsches will ich im Weiteren als das feiernde und transzendierende Ergreifen der Schuld kennzeichnen. Sie ist wesentlich begründet im Ja-Sagen. Diese tragische Grundkonstellation der Schuld wird beim reiferen Nietzsche weiter radikalisiert und darin grundlegend vom schopenhauerschen Denken befreit. Wo die aktive Sünde, die Überwindung des Selbst durch dessen hybrische Steigerung, letztlich im Dionysischen vor das Ur-Eine tritt, um darin aufzugehen, da bekommt das Programm einer sündigenden Überwindung der Schuld beim Nietzsche der Genealogie einen anderen Sinn. Das Selbst findet in der hybrischen Selbstbejahung zwar gleichermaßen den Ausgang aus Schuld, aber nicht mehr länger durch seine Aufhebung, sondern vielmehr durch eine Wandlung der Schuld in Recht. Der griechische Herrenmensch bejaht so sehr sein Selbst wie es ein Ödipus und Prometheus taten, und wie diese vollzieht er diese Bejahung als einen trotzigen Widerstand entgegen der Natur, durch seine Setzung ins Widernatürliche. Doch aus dieser Position des Widernatürlichen resultiert nicht länger eine Lösung der Geheimnisse der Natur, sondern die Schaffung einer neuen und anderen Sphäre, der des Rechts. Wenn hier von Recht zu sprechen ist, dann in dem Sinne der Wertsetzung. Aus dem ›Pathos der Distanz‹ heraus setzt der ›Herr‹ sich als das Gute in der Distanz zum Sklavischen. Damit wird aber zugleich ein Herrenrecht gesetzt, das sich jeglichem Rechtssystem entzieht, aller allgemeinen Gesetzlichkeit entledigt bleibt. Der griechische Herrenmensch setzt in seiner hybrischen Selbstbejahung Recht, er überwindet die schuldlose Schuld des Daseins in einer rechtsetzenden Aneignung des Daseins, in der Bejahung des Selbst. Der griechische Herrenmensch vollzieht also in der hybrischen Selbstbejahung und Wertsetzung eine Form trotziger Rechtsetzung. Solche Rechtsetzung stellt aber auch immer schon die Rechtfertigung des Selbst dar. Man muss sich nun klar machen, dass in dieser Wendung des Konzepts der aktiven Sünde als Rechtsetzung der Gedanke der Selbstüberwindung, wie er noch in der tragischen Konzeption vorliegt, nicht zu halten ist. Der edle griechische Mensch bedarf keiner Überwindung mehr, da er bereits zum schaffenden und sich-selbst rechtfertigenden Selbst wurde, das sich in jeder neuen Rechtsetzung, je206

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weils wieder der Schuld des Daseins entzieht. Die Schuld des Daseins wandelt sich in den Händen der Edlen zum Recht ihres Lebens. Dass Nietzsche dennoch vom Konzept einer Selbstüberwindung nicht ablässt, lässt sich nur durch eine erneute epochale Verkehrung dieser Rechtsverhältnisse verstehen, durch die perfide Verkehrung des Schuld-Recht-Verhältnisses im sokratischen Christentum. Im Christentum ändert sich damit auch der Begriff der Schuld grundlegend. Schuld ist nicht mehr die Schuld des Daseins, die durch Rechtsetzung zu überwinden wäre, sondern die Schuld in einem total gewordenen Rechtsverhältnis. Es ist die Urschuld des Menschen als Schuldiger gegenüber einem jenseitigen Herrn, ihrem Gläubiger.

III.3.3.2. Die ökonomische Schuld des Christen Im Christentum verkehrt sich für Nietzsche das feiernde Ergreifen der Schuld zum sich verschuldenden Verdrängen der Schuld. Diese Auslegung verwundert zuerst, da es ja gerade das Christentum ist, das nach Nietzsche den Menschen in eine universale Schuld stellt, die Erbsünde. Inwiefern handelt es sich dabei um eine Verdrängung von Schuld? Was bei den Griechen von Nietzsche noch als expliziter Ausdruck von Macht verstanden wird, die Feier der eigenen Schuld und deren Bejahung, wird im Christentum als Aufstand der Sklavenmoral verkehrt. Der Mensch ist hier nicht länger in die Spannung gestellt, seine Schuld feiernd-bejahend ergreifen zu müssen und darin seine Macht zum Ausdruck zu bringen, sondern der Mensch ist überhaupt schuldig gesprochen durch eine Macht, die außer seiner selbst liegt. Die sklavische Moral liest den Menschen als von jeher verschuldet gegenüber einem jenseitigen Herrn und macht einen jeden zum Sklaven. Diese vordergründige Unterwerfung unter den einen Gott meint aber vielmehr eine Verstellung des Menschen gegenüber seiner feiernden Selbstergreifung. Es wird zum Gebot eines jeden Menschen, sich schuldig zu fühlen; und das nicht gegenüber seiner selbst, sondern gegenüber einem Anderen – und genau darin ist die Heimtücke der christlichen Machtaneignung auszumachen. Das Christentum übt Macht über andere nicht als Setzung des Rechts eines Herrn aus, sondern als Unterwerfung aller Menschen unter das Gesetz, in dem sich der eine Herr offenbart. Im Gesetz wird Machtausübung nicht um des Selbst willen sondern als Ausübung einer Funktion des GeKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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setzes begriffen. Macht wird grenzenlos in der totalen Unterdrückung eines jeden als Schuldsklaven im Gesetz. Das Gesetz wird von Nietzsche dabei als Schuldvertrag gedeutet, was uns den Grundcharakter christlicher Schuld offenbart. Wo die tragische Schuld noch außerhalb aller ökonomischen Verhältnisse und der Totalkategorie der Nützlichkeit anzusiedeln war, nämlich in der Feier des Daseins, da ist die christliche Schuld für Nietzsche eine universale Ausweitung ökonomischer Prinzipien auf das Leben als solches. Im Christentum verdrängt der Mensch seine eigene Macht, die wesentlich in einer Bejahung des Selbst zu finden wäre, um jede Beziehung des Menschen unter dem Schatten einer Universalschuld gegenüber Gott zu deuten. Eben darin ist der für Nietzsche perfide Charakter des Christentums auszumachen, dass sie die Schuld des Ja-sagens des Selbst von sich streift, um alle weltlichen Verhältnisse im Ganzen in den Horizont einer Schuldigkeit zu stellen, die abzuzahlen das Individuum stets zwingt, sich in einer Ökonomie der Selbstverneinung zu verorten. Denn das Selbst wird als ein schuldiges nicht bejahend und rechtsetzend angenommen, sondern stellt wesentlich einen abzuzahlenden Kredit Gottes dar, der abzuleisten einzig Erlösung verspricht. Der Mensch verschuldete sich gleichsam gegenüber seinem Grund und dem Ganzen durch sein Selbstsein und hat dieses in den Akten der Demut und Nächstenliebe abzuzahlen, bis er selbst nicht mehr selbst sei, sondern Werkzeug im Weinberg des Herrn, ergebener Knecht und Befehlsempfänger. Diese Figur der Selbstverneinung, die Nietzsche auch bei seinem alten Lehrer Schopenhauer als Figur sklavischer und verhohlener Machtergreifung interpretiert, meint eine totale Ausweitung der Sphäre der Macht. Jeder Mensch wird als Schuldner entlarvt und zum Knecht versklavt, sein Selbstsein wird nur als Abzahlung und ein Jeder nur begriffen als Rechnungsposten einer kosmologischen Kreditfalle. Diese Auffassung weist eine ungemeine Parallele zur kritischen Theorie auf, die zwar durch marxsche Terminologie gegangen ist, sich aber dennoch in dieser Form der ökonomischen Umdeutung der Schuld des Selbst mit Nietzsche trifft. Es ist die universale Ausweitung des Tauschprinzips, die Schuld unablässig reproduziert, ob im mythischen Opfer oder in der komplexen Logik Hegels, die Adorno zufolge eine Rechnung darstelle, die am Ende aufzugehen habe und darin Menschen radikal entfremdet und ausweglos in den Zusammenhang des falschen Ganzen integriert. 208

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Solche Schuld ist es, von der sich der erlöste Mensch zu lösen hätte. Bei aller nietzscheschen Kritik am christlichen Denken und bei all seiner Heroisierung des griechischen Herrenmenschen darf allerdings nicht vergessen werden, wie sehr Nietzsches eigene Perspektive nur aus dieser christlichen Perversion heraus zu verstehen bleibt. Denn für den griechischen Helden ist ein Versprechen nicht bindend, er bedarf keiner Erlösung zum wahren Selbst des Menschen. Wenn mit Recht von Zarathustra als der Brücke zum Übermenschen gesprochen werden darf, dann muss auch zugestanden sein, dass die griechische Antike eines Zarathustras nicht bedurft hätte. Auch bei Nietzsche muss gelten, dass dem antik-heidnischen Menschen kein Noch-nicht gegeben ist und Selbstüberwindung nicht evident wäre. Erst durch die universale Verschuldung des Menschen im Christentum erscheint die Idee eines neuen Anfangs, einer Stunde Null, oder einer ›neuen Jugend‹. Der Übermensch ist nicht einfach die Rückkehr des Menschen zu einem Titanengeschlecht der Vergangenheit, sondern vielmehr ein künftiger Prometheus, der seine Ketten abgeworfen hätte und den Adler, der seine Leber zerriss, nun auf die Jagd nach den feigen Hasen der Seele schickt; dem die Schlange, die ihm den ewig verschuldenden Kredit aufschwatzte, nun alle List falscher Versprechen zu entlarven hilft. Der Übermensch hat die Schuldtiere zu zähmen vermocht und in seinen Dienst gestellt, den Adler des Prometheus und die Schlange der Sünde, die Tiere des Zarathustra. Ist der Mensch erst diesem tieferen Anspruch eines erlösten Menschen ausgesetzt, dann wird ihm das Selbst ein zu Überwindendes im Anspruch auf den wahren Menschen, den Über-Mensch.

III.3.3.3. Die Schuld der Verdrängung Ein dritter Schuldbegriff zeichnet sich hier nun ab. Neben der ja-sagenden Schuld des griechischen Herrenmenschen und der universalen Kreditschuldigkeit des Christentums wird nun der sich auf die Erlösung und Selbstüberwindung beziehende Mensch in die Schuld gestellt, die der aufklärerischen Universalschuld am nächsten kommt, sich jedoch in einem wesentlichen Punkt auch von ihr unterscheidet. Der ›neue Mensch‹ rückt nun auch für Nietzsche ins Zentrum seiner Überlegungen; der Mensch, der sich aus der sklavischen KreditKnechtschaft zu einem neuen Ja-sagen überwinden muss. Das zu überwindende Selbst macht den Menschen bereits zum Schuldner Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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seiner selbst. Die Rede von der Überwindung des Menschen ist hier radikal in Abgrenzung zu der Idee der Selbstsetzung des wahren Menschen in der Konzeption der Aufklärung zu denken. Wo die Selbstsetzung des aufgeklärten Menschen durch das Ergreifen der Verantwortung und Mündigkeit angezielt wird, kann Nietzsche darin nur die Schuldfähigkeit des Schuldknechts sehen, der in seiner Mündigkeit noch seinen Herrn zu verdrängen sucht, wo er die Schuld ihm gegenüber total verinnerlicht. Das Sittengesetzt wird dann zur Form eines Schuldvertrags, der ohne Gläubiger auszukommen sich vornimmt. Vielmehr ist es das Selbst des Menschen, das in seiner Aufteilung zwischen intelligiblem und empirischem Charakter sich zum Schuldknecht seiner selbst erniedrigt. Aus dieser internalisierten Schuldenfalle auszubrechen, muss bedeuten, das verschuldete Selbst zu überwinden. Das Programm der Selbstüberwindung ist zugleich das des neuen Menschen, des Übermenschen. Die Schuld besteht wesentlich darin, verdrängt zu haben, dass das generelle Schuldverhältnis dazu dient, den ›Nächsten‹ total zu unterwerfen. Das christliche Abendland ist wesentlich durch diese Verdrängung gekennzeichnet, die es dem Menschen unmöglich macht, seine Schuld als die seine anzueignen, gerade weil sie für einen jeden gilt. Wir können diese dritte Schuld als die Verdrängungsschuld bezeichnen. Verdrängung ist diese Schuld gerade darum, weil Schuld ökonomisch verstanden und als solche generalisiert wird, was den Blick abwendet von der jeweiligen, tragischen Schuld, die in der eigenen Individualität auszumachen ist. Auch diese ist zwar universell, den Formen der Individualität selbst anhaftend, aber eben nur im Jeweils zu fokussieren. Das ökonomische Schuldverständnis sieht aber gerade von dieser Jeweiligkeit ab – was den Menschen zwar einerseits zur Macht über seinen Nächsten befähigt, ihn aber andererseits von sich selbst radikal entfremdet: der Mensch verdrängt darin wesentlich sein Selbst. Die Konstellation von Versprechen und Vergessen muss nun wieder in den Fokus genommen werden. Wenn wir die Schuld, die der Mensch zu überwinden hat, im Wesentlichen als eine Verdrängung ansehen, stellt sich die Frage nach dem Vergessen auf neue Weise. Das Vergessen ist für Nietzsche als Reinigungskraft der Natur anzusehen, es dient der Gesundheit und Gesundung des Menschen und muss damit als Vermögen im Akte der Selbstüberwindung angesehen werden. Doch die Selbstüberwindung ist wesentlich als die Überwindung einer Verdrängung zu verstehen. Damit geraten wir zu der ei210

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genartigen Konzeption einer Überwindung der Verdrängung durch ein Vergessen. Was soll vergessen werden, was wird verdrängt und was darf sich der Mensch versprechen? Zu beginnen ist hier mit der gesundheitsfördernden Kraft des Vergessens. Das Vergessen ist wesentlich auf den Augenblick gerichtet, es stellt die negative Bedingung eines Aufenthalts im Jetzt dar, der sich von den Ketten des Vergangenen zu befreien erlaubt, indem es sie vergisst. Das Vergessen ist also nicht einfach das Ausbleiben eines spezifischen Bewusstseinsinhalts, sondern vielmehr selbst ein spezifisches Bewusstsein des Augenblicks, das voraussetzt, sich von der Last des Vergangenen zu befreien. Damit meint es aber das genaue Gegenteil einer Verdrängung, denn bei genauerer Betrachtung können wir das christliche Verdrängen als die Verdrängung des Jetzt ansehen. Im ökonomischen Schuldverhältnis ist das Selbst immer ein im Voraus verschuldetes, das seine Schuld aus der Vergangenheit als offene Rechnung in die Zukunft trägt. Hier ist der eigentliche Ort einer schlechten Unendlichkeit in der Philosophie Nietzsches anzusiedeln und keinesfalls in der ewigen Wiederkehr des Gleichen, denn diese ist eben keine Wiederholung des Vergangenen, sondern die Wiederkehr des Augenblicks, das ewig sich ereignende Jetzt. Vergessen dient dabei die Heilung von solcher schlechter Unendlichkeit; sie ist die negative Bedingung des Jetzt. Wie können wir nun das Eingangszitat verstehen? Inwiefern ist das Vergessen die entgegenwirkende Kraft des Versprechens? Wenn das Versprechen als das Versprechen Mensch zu werden verstanden wird, bedarf es wesentlich des Vergessens, um sich aus der tierischen Sphäre der Verdrängung zu erheben. Und diese Interpretation ist hier keinesfalls aufzugeben. Das Vergessen ist die Kraft zum Augenblick, das Versprechen ist die Kraft zum Künftigen; dieses wirft sich in die Offenheit der Zukunft, jenes wendet sich negierend in Vergangenheit. Vergessen ist als entgegenwirkende Kraft des Versprechens zugleich dessen Vollzugsmoment. Der Mensch kann sich nicht zum Versprechen-seiner-selbst werden, wenn er sich nicht durch das Vergessen zum Augenblick befreien kann. Wir können hier von einer Metaphysik des Augenblicks sprechen. Es ist eben der Augenblick, zu dem sich der Mensch zu erheben und den er auszustehen hätte, um Über-Mensch zu werden. Versprechen und Vergessen sind nun die beiden Bezugssphären, in denen sich der Augenblick dem Menschen öffnet. Die innere Verknüpfung von Vergessen und Versprechen zeigt Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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sich bei Nietzsche in zwei genealogischen Ansätzen. Zum einen in der Überwindung des Selbst zum Übermenschen als Programm für ›alle und keinen‹, für den einzelnen Menschen in seiner Besonderheit und als Idealtyp des Menschen überhaupt. Zum anderen wird daraus aber auch eine geschichtsphilosophische Perspektive gewonnen. Im ›Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben‹ finden wir diese bereits früh in aller Klarheit ausgesprochen. Die geschichtsphilosophische Wende der Philosophie hegelscher Ausprägung steht hier stellvertretend für die christliche Kreditschuldigkeit. Geschichte, die sich daher versteht, eine Last auszutragen, die dem Menschen durch eine Ökonomie von Leid und Fortschritt auferlegt war, ist die spezifische Last, aus der sich der versprochene Mensch allererst zu befreien hätte. Hegel versteht die eigene Geschichtsphilosophie als eine Form der Theodizee: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.« 61 Gerade das Leid, das die menschliche Geschichte fortwährend begleitet hat, wird unter dem dialektischen Blick Hegels zur Rechtfertigungsinstanz Gottes, oder vielmehr des Waltens der Vernunft, des Weltgeistes: »Diese unermeßliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen, ihn zum Bewußtsein zu erheben und zu verwirklichen; und dieser ist nur, sich zu finden, zu sich selbst zu kommen und sich als Wirklichkeit anzuschauen.« 62 Das durch antagonistische Partikularinteressen generierte Leid, kann in treuer Gefolgschaft zu Kants Ansatz als Motor einer Fortschrittsbewegung der Vernunft verstanden werden. Es ist die Negativität selbst, die sich in der Geschichte des Menschen vollzieht. Nietzsche kann diese spezifisch aufklärerische Wendung der Geschichtsphilosophie nun wiederum im Kontext der christlichen Perversion des Selbst verstehen. Wo der Mensch den Menschen per se in eine Schuldnerschaft vor Gott stellte und damit einen totalen Machtraum schuf, da wurde in der kantschen und hegelschen WenHegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, Band 12, Frankfurt a. M., S. 35. 62 Vgl. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, Band 12, Frankfurt a. M., S. 28 ff. 61

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dung ebendiese fatale Struktur der Selbstverdrängung wiederaufgegriffen unter Ausschaltung eines jenseitigen Gottes. Geschichtsphilosophie kann darum für Hegel als eine Theodizee verstanden werden, da Gott eben keine metaphysische Wahrheit im leibnizschen Sinne darstellt, d. h. nicht als der Begriff der Vollkommenheit jenseits allen Endlichen anzusiedeln wäre. Vielmehr ist Gott selbst nichts anderes als der Weltgeist, der sich durch Endlichkeit und Partikularität selbst herstellt, sich verwirklicht. Das geschichtliche Leid ist zu rechtfertigen als die Regungen der Selbsterkenntnis des Geistes, oder wie Nietzsche höhnisch zu Hegel bemerkt: »Dieser Gott aber wurde sich selbst innerhalb der Hegelschen Hirnschalen durchsichtig und verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so daß für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eignen Berliner Existenz zusammenfielen.« 63 Die revolutionäre Perspektive, die den hegelschen Gott selbst dynamisiert, Gott selbst zum Prozess seiner Selbstwerdung umbestimmt und darin die theistische Scheidung von Gott und Welt aufhebt, wird von Nietzsche als Radikalisierung des christlichen Machtanspruchs gelesen. Das menschliche Selbst steht in einer Verschuldung vor Gott und ist darum immer schon ein zu unterwerfendes Subjekt. Gerade in der Universalität ökonomischer Schuld wird der Zugriff auf das Leben der anderen total. Wo, wie bei Hegel, nun allerdings der Universalgläubiger, Gott, in der Immanenz geschichtlicher Prozesse verortet wird, da wird die Schuldnerschaft eine Selbstverschuldung. Das Selbst setzt sich im geschichtlichen Prozess als Einlösung seiner selbst, indem es sich in seinen partikularen Gestalten aufopfert, sich auslöst durch das geschichtliche Leid. Darin liegt eine weitgehende Perversion der Macht: Wo es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Schuldnern und dem Gläubiger des geschichtlichen Prozesses, da wird der Schuldner zur bloßen Funktion, oder, wie Hegel sagen würde, zum bloßen Moment einer universalen Vermittlungsbewegung, der Einlösung des Weltgeistes durch die Aufopferung aller Partikularität. Der Mensch wird zum Moment und zur Münze des Geistes, er wird zur bloßen Funktion, zum reinen Mittel, zur Währung, in der sich der Weltgeist selbst auszahlt und einlöst. Und für Nietzsche scheint klar, dass gerade in dieser radikalsten Fassung universaler Schuldigkeit wiederum das verhohlene Macht63

Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 308.

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interesse des Partikularen seine Verkleidung findet, denn ist es nicht die Berliner Existenz, in der der Weltgeist sich eingelöst hat? Nietzsche stellt diese geschichtsphilosophische Wendung als Merkmal einer Epoche dar, die dem Wahn der Wissenschaft hinterherläuft. »Ja man triumphiert darüber, daß jetzt die »Wissenschaft anfange, über das Leben zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht; aber gewiß ist ein derartig beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrschte Leben.« 64 Hier kann die universale Funktionalisierung des menschlichen Lebens festgemacht werden. Denn im Christentum bestand noch die Perspektive einer Erlösung des jeweiligen Lebens vor Gott; noch bei Kant war die Aussicht auf eine befreite Menschheit durch die Anerkennung des jeweiligen Menschen als Selbstzweck verbürgt; bei Hegel aber, in der totalen Verwissenschaftlichung des Lebens, wird das jeweilige Leben zum bloßen Mittel: »Das heißt doch nur: die Menschen sollen zu Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen: sie sollen in den Fabriken der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht erst reif werden – weil dies ein Luxus wäre, der dem Arbeitsmarkt eine Menge von Kraft entziehen würde.« 65 Nietzsche gerät in seiner Analyse nun in eine erstaunliche Nähe zu Marx. Beide beziehen sich kritisch auf die den ökonomischen Strukturen inhärente Logik, die den Menschen zum Mittel, zur bloßen Arbeitskraft nivelliert. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Kritikern der hegelschen Geschichtsphilosophie ist wohl dort anzusiedeln, wo Nietzsche das Vorherrschen ökonomischer Strukturen nicht als Wesensgesetz des Daseins versteht, sondern es als eine Pervertierung menschlichen Weltverständnisses deutet, aus dem sich das christlichen Moralgesetzt ableitet. Die Herrenmoral steht für Nietzsche noch jenseits der Ökonomie. Macht wird hier als freie Setzung von Werten verstanden, die nicht dem Äquivalenzprinzip unterliegen, die weder dem Nutzen noch der Vergleichbarkeit, die ökonomische Werte auszeichnen, unterliegen, sondern sich als Selbstzwecke setzen. In der Sklavenmoral, die sich von einer gewendeten Machtoption des Stärkeren gegenüber der Rache und dem Res64 65

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Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 298/299. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 299.

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sentiment des Schwachen ableitet, wird jeder Wert zu einem ökonomischen, zum Mittel und zur Währung einer Auszahlung an den Gläubiger. Bei Hegel ist es der Weltgeist selbst, der sich mit sich vermittelt und sich einlöst in der Münze des Individuierten. So sehr Nietzsche als Kritiker der Aufklärung gelesen werden muss, so innig scheint er mit einem ihrer Motive verbunden zu sein. Die Idee der Selbstsetzung des Menschen aus Freiheit bleibt auch für ihn ein Zentralmotiv, das sich in den Worten vom »neuen Menschen« und vom »Übermenschen« chiffriert. Seine Kritik an Kant geht allerdings dahin, gerade das Selbst des Menschen in einem Universalvertrag, dem Sittengesetz, zum bloßen Vollzugsmoment der Vernunft erniedrigt zu sehen. Das Selbst setzt sich, indem es sich unterwirft. In der nietzscheschen Perspektive muss das als eine Fortführung der christlichen Sklavenmoral erscheinen und damit als Verdrängung des Selbst. Doch wenigstens kann bei Kant noch von einer Rettung des Selbstzwecks des Menschen gesprochen werden. Wo der Mensch seine Würde daher bezieht, nicht bloß Mittel für anderes zu sein, sondern als Selbstzweck verstanden zu werden, ist noch ein Schimmer tragischer Rechtsetzung vorhanden. Denn dem griechischen Herrenmenschen vergleichbar wird hier ein Wert gesetzt, der des Menschen, der keiner weiteren Rechtfertigung mehr zugänglich ist, sondern sich lediglich aus seiner Setzung selbst versteht. Nicht für einen Gott, nicht für einen Nutzen, nur für sich selbst setzt sich der Mensch, weil er bis dato keiner war. Doch – und das muss Nietzsche argwöhnisch machen – der Mensch setzt sich bloß als ein Vernünftiger. Die kantsche Scheidung der zwei Welten lässt die Selbstsetzung zugleich zu einer Selbstunterwerfung werden. Die kantsche Rede davon, dass für Gott der Kategorische Imperativ eben keinen Imperativ mehr sondern einen reinen Willensakt darstelle, kann hier von Nietzsche beantwortet werden mit: »Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein?« 66 Der Atheismus Nietzsches macht ernst mit der Idee der radikalen Selbstsetzung des Menschen als Selbstzweck entgegen aller Vermittlung und stellt damit die neuzeitliche Antwort auf den tragischen Helden dar. Die Selbstsetzung ist für Nietzsche, wie oben gezeigt, als eine Strategie der sündigenden Selbstentschuldung aufzufassen, d. h. dass der Mensch eben durch seine Vermittlung, die ihn bestimmt, in eine tragische Schuld gestellt wird, die er einzig dadurch überwinden 66

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 110.

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kann, dass er gegen seine Vermitteltheit frevelt, sich aus ihr befreit, indem er sich selbst zum Zweck bestimmt. Die hegelsche Strategie muss als Gegenprogramm verstanden werden. Jegliches wird, auch als sich selbst Setzendes, als Vermittlung verstanden. Hier kann man das Verhältnis von Versprechen, Vergessen und Verdrängen erneut in den Blick nehmen. Der Mensch scheint aus seiner historischen und ontologischen Vermitteltheit heraus in eine Schuld gestellt zu sein. Er wird darin selbst zu einem Mittel der Rechtfertigung seiner selbst, kann sich nur durch anderes einen eigenen Wert zugestehen, den er durch seine eigene Selbstunterwerfung einlöst. Er setzt sich nicht als Wert, sondern entwertet sich in der Verdrängung seiner selbst als Zweck. Darin ist der wesentliche Sinn von der Verdrängungsleistung sklavischer Moral auszumachen; der sklavische Mensch verdrängt sich selbst als Zweck, indem er sich als bloßes Mittel einer universalen Vermittlung begreift. Und eben darum kommt der sklavische Mensch nicht zu dem Augenblick, in dem er sich selbst – entwerfend in die Zukunft – setzen kann. Das Selbst des Menschen ist nun als nichts anderes denn als die Konstellation solcher Vermittlung anzusehen, die ihn nie im Augenblick ankommen lässt. Es ist, wo es sich als Objekt einer Vermittlung versteht, immer zu spät und nie bei sich, es bleibt sich seiner selbst schuldig. Und eben diese Selbstschuld wird in der Sklavenmoral dadurch verdrängt, dass sich der Mensch nicht mehr auf sich selbst bezieht, sondern seine Schuld auf ein Drittes verlagert, auf Gott, die Vernunft, den Weltgeist. Darin ist die Schuld der Verdrängung auszumachen. Es ist eine Schuld der Selbstverfehlung. Solange das Selbst wesentlich eine Selbstverfehlung darstellt, ist das Selbst ein zu Überwindendes. Es kommt mit Nietzsche eben darauf an, das Selbst zu setzen, indem wir das Selbst überwinden, das sich selbst nur noch als Vermittlung versteht und darum verfehlt.

III.3.3.4. Zusammenfassung und Konsequenz Wir haben nun drei Formen der Schuld bei Nietzsche unterschieden: 1. Die tragische Schuld, in die der Mensch durch seine bloße Individuation gestellt ist und die er einzig durch die Strategie einer Rechtsetzung, einer aktiven Sünde, überwinden kann. Der griechische Herrenmensch, der tragische Held, überwindet sich selbst stets in der Anmaßung unmittelbarer Setzung. 216

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Die ökonomische Schuld der Sklavenmoral, die den Menschen als den Schuldner ansieht, der durch sein Leben, durch sein Selbst als Mittel, sein schuldiges Selbst gegenüber einem Gläubiger abzuleisten habe. 3. Die Verdrängungsschuld bzw. die Schuld des passiven Nihilismus, in die der Mensch eben durch die Sklavenmoral gestellt wird, da das Selbst gerade als bloßes Mittel grundlegend verfehlt wird, hinter sich selbst zurückbleibt. Die utopische Dimension des Denkens Nietzsches hat seinen Grund nun spezifisch in dem dritten Schuldbegriff. Der ›neue Mensch‹, der ›Übermensch‹, zu dem Zarathustra die Brücke sein will, wäre in der Antike nicht zu antizipieren. Dort (1. Schuld) ist der Mensch in der Lesart Nietzsches stets schon unmittelbar bei sich selbst, er ist bei sich selbst als das Individuum, das durch seine bloße Existenz bereits das Ur-Eine negiert, wie er auch unmittelbar bei sich selbst ist, wenn er seine Individuation als Wert und Recht setzt. In der Antike ist der Mensch eine sich bejahende Negation des Ganzen und darin unmittelbar bei sich selbst. Doch er ist nur bei sich als Individuum, als der je Besondere, als Ödipus oder Achill, als Prometheus und Orestes. Die Spannung zwischen Individuation und Ganzem (Ur-Einem, Natur) wird hier als jeweilig und je augenblicklich verstanden, was dieser Konzeption die Dimension der Geschichtlichkeit und der Allgemeinheit abgehen lässt. Erst in der universalen Vermittlung der ökonomischen Dimension der Sklavenmoral (2. Schuld) wird der Mensch in einen wahrhaft geschichtlichen und allgemeinen Zusammenhang gestellt. Die Negation, die der Mensch gegenüber dem Ganzen, seinem Grund darstellt, wird hier wiederum verneint. Der Sklave muss seine eigene Existenz ewig auslösen, was ihn dazu verurteilt, sich selbst bloß als Mittel für einen außer ihm gelegenen Zweck zu begreifen, d. h. sich selbst zu verneinen. Darin liegt auch der Gewinn einer geschichtlichen Perspektive, nämlich die Aussicht auf das Eingelöst-sein des Menschen und doch zugleich der Verlust des Augenblicks, der in der Totalisierung der Vermittlung ungreifbar wird: alles ist auf anderes bezogen, nichts je bei sich selbst. Wir haben es hier also mit einer verneinenden Negation zu tun, mit einem ewigen Entzug, einer totalen Verdrängung des Selbst. Nietzsches Übermensch wäre nun gegenüber der bejahenden Negation der Antike und der verneinenden Negation der Sklavenmoral eine verneinende Bejahung des Selbst. Dem entspräche die Rede

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von einem aktiven Nihilismus 67, der doch richtiger ein nihilistischer Aktivismus genannt werden müsste. Er beruht wesentlich darin, zu dem Bewusstsein zu gelangen, dass das Selbst verdrängt und verfehlt wurde, wo es als bloßes Mittel nivelliert ist. Das Selbst des Menschen wird sich Selbst gegenüber je schuldig (3. Schuld), wo es sich selbst zum Mittel degradiert und darin verfehlt. Es geht Nietzsche also darum, grundlegend wieder Ja zu sich selbst sagen zu können, was allerdings auch bedeutet, grundlegend Nein zu sagen gegenüber sich selbst als das Mittel zu einem äußeren Zweck. Das Bejahen des Selbst ist epochal auf ein Nein gegenüber seiner Vermitteltheit 68 und seinem medialen Charakter bezogen. Der ›neue Mensch‹ muss Nein sagen zu sich als Mittel, um sich selbst wirklich bejahen zu können, er ist eine verneinende Bejahung. Damit werden die Dimensionen der tragischen Selbstsetzung in einer geläuterten Form wieder aufgegriffen: Der Augenblick und die Jeweiligkeit sind wieder zu re-etablieren, bekommen aber in der verneinenden Bejahung des Selbst auch einen allgemeinverbindlichen Charakter. Der Augenblick muss erst durch die Verneinung der universalen Vermittlung freigesprengt werden. Er ist dann mehr als bloße Unmittelbarkeit, er ist nämlich ein Bruch mit dem Ganzen der Vermittlung. Dem entsprechend ist das Jeweilige des Selbst nicht bloß die Entfaltung des je besonderen Menschen, sondern ebenfalls expliziter Bruch mit der ökonomischen Vermittlung alles Besonderen. Der neue Mensch ist als ein Jeweiliger zugleich der Mensch überhaupt, der Augenblick ist als Bruch mit dem geschichtlichen Zusammenhang zugleich Ausgangspunkt einer Selbstverwirklichung des Selbst im Ganzen. Auf Augenblick und Jeweiligkeit beziehen sich nun auch die beiden wesentlich menschlichen Dimensionen des Versprechen-Könnens und des Vergessens. Im Versprechen-Können verspricht sich der Mensch, erst Mensch zu sein. Hier bejaht er in utopischer PerVgl. zum Begriff des Nihilismus bei Nietzsche: Philipp Schwab, »Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsches ›Philosophie des Tragischen‹ von der Geburt der Tragödie bis zum Spätwerk.«, aus: Lore Hühn und Philipp Schwab (Hrsg.), Die Philosophie des Tragischen, Berlin 2011. 68 Mit dem Begriff der Vermitteltheit steht auch das Verhältnis von Nietzsches Denken zur Dialektik zur Debatte. Vgl. dazu: Lore Hühn, »Tragik und Dialektik. Zur Genese einer Grundkonstellation nihilistischer Daseinsdeutung«, aus: Lore Hühn und Philipp Schwab (Hrsg.), Die Philosophie des Tragischen, Berlin 2011. Und: Ardrian Navigante, »Antidialektik und Nichtidentität: Nietzsche«, aus: Adorno-Handbuch, Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Stuttgart 2011. 67

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spektive sein Selbst als das des neuen Menschen, der sich aus der Verfehlung des Selbst in der universalen Vermittlung befreit, d. h. sich als Selbstzweck verstanden hat. Er gelangt erst in diesem Versprechen des neuen Menschen zu einer Jeweiligkeit und Besonderheit, die dem Ganzen Sinn verleihen kann. Darum ist der neue Mensch auch als derjenige angesetzt, der Werte schafft, sich Sinn gibt. Das Versprechen ist die Utopie des jeweiligen Menschen als Sinn des Ganzen. Das Allgemeine wird vom Besonderen her begriffen und legitimiert. Die utopische Perspektive bedarf des Bruchs mit dem Jetzt als Resultat seiner Bedingungen. Das Vergessen vollzieht diesen verneinenden Bruch mit dem Vermittlungszusammenhang. Der Augenblick wird erst durch die Leistung des Vergessens konstituiert und gerät damit zur Grundlage einer utopischen (versprochenen) Bejahung des Selbst im neuen Menschen. Wenn wir davon gesprochen haben, dass Nietzsches utopische Perspektive als eine verneinende Bejahung des Selbst verstanden werden muss, dann lässt sich das auch folgendermaßen umformulieren: Das Selbst ist das Versprechen des Menschen, das durch ein Vergessen der Selbstverfehlung ermöglicht wird. Wo das Selbst des Menschen unter dem Maßstab totaler Vermittlung verdrängt wurde, da hilft nur ein Vergessen dieser Vermittlung, um den Menschen zu dem Versprechen-seiner-selbst zurückzuführen und ihn darin zu einer Selbstüberwindung zu befähigen. Denn Selbstüberwindung meint für Nietzsche keineswegs ein Hinter-sich-Lassen des Selbst, wie es vielleicht aus einer schopenhauerschen Perspektive verstanden werden könnte, sondern ein Vergessen der Selbstverfehlung des Menschen als Vermitteltem in der Aussicht auf die Bejahung des Selbst. Selbstüberwindung ist damit als eine geläuterte Form der aufklärerischen Selbst-Setzung zu verstehen. Das Kapitel, dessen Einleitung ich oben zitiert und im Weiteren interpretiert habe, schließt mit folgenden Worten: »Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde wieder ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen …« 69

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Hier bekommen wir den utopischen Menschen, den Menschen der Zukunft noch einmal in aller Klarheit vorgeführt. Er ist erstens ein Erlöser vom bisherigen Ideal und damit zweitens der Erlöser vom Nihilismus. Als Erlöser verneint er wesentlich, er negiert das Ideal der Sklavenmoral und negiert damit noch die daraus erwachsende Verneinung des Selbst, den Nihilismus. Ich habe versucht, aufzuzeigen, dass solche Verneinung des Nihilismus selbst auf ein Vergessen angewiesen ist, nämlich auf das Vergessen der eigenen Vermitteltheit, die das Selbst zu einer ewigen Struktur der Selbstverfehlung verdammt. Der Mensch der Zukunft muss einen grundlegenden Bruch mit der Kontinuität aller geschichtlichen Vermittlung erreichen, um von diesem Bruch aus, allererst einen Anfang darstellen zu können. Der erlösende Mensch tritt damit durch diesen Bruch in einen wahren Augenblick, in den ›Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung‹. Dieser Bruch mit der Kontinuität der Vermittlung stellt nun den Anfang des ersten Menschen dar. Er befreit den Menschen zur Setzung des Menschen als Selbst. Und genau darin gibt er dem Menschen die Macht zurück, Werte zu setzen, der Erde Sinn und dem Menschen wieder die Hoffnung auf sich selbst zu geben. Darin ist der neue Mensch ein Selbstüberwinder, nämlich der Besieger von Gott und Nihilismus als Konstituenten des Selbst. Das Tier, das versprechen kann, kann also gerade durch das Vermögen des Vergessens versprechen und zwar verspricht es sich selbst. Das Vergessen ist zwar die ›entgegenwirkende Kraft‹ des Versprechens, das bedeutet aber nicht, dass das Vergessen das Versprechen ausschließen würde, sondern bezeichnet selbst die Spannung, die das Wesen des Menschen nach Nietzsche ausmacht. Der Mensch, der Versprechen darf, muss sich selbst negieren, sein verfehltes Selbst vergessen, um sich setzten zu können. Das Selbst wird seiner selbst mächtig, ist frei, wo es sich hinter sich lassen kann. Nietzsche unternimmt hier also eine Uminterpretation des kantschen Freiheitsbegriffs. Wie Freiheit bei Kant einen Anfang innerhalb einer Kette nicht abreißender Bedingungsverhältnisse darstellt, so stellt der Augenblick einen ersten Anfang des Menschen trotzt seiner geschichtlichen und natürlichen Vermitteltheit dar. Doch im Gegensatz zu Kant wird solche Freiheit nicht durch die Teilung in zwei Welten vollbracht (was Nietzsche nicht ablässt als eine Ausgeburt Sklavischer Moralkonzeptionen zu geißeln, als eine Nachfolgefigur der Schuldableistung gegenüber einer Sphäre des Jenseits, einer Hinterwelt), sondern er denkt diese Freiheit wesentlich als durch einen Bruch mit 220

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der Kontinuität gewährleistete – und zwar innerhalb dieser Kontinuität. Das setzt wiederum eine Entlarvung dieser Kontinuität als einer vom Menschen gesetzten voraus. Das Vergessen ist darauf angewiesen, dass das, was vergessen wird, nicht selbst natürlich ist, nicht dem Leben eingeschrieben ist, sondern eine Idee darstellt, die im Kampf um Macht ersonnen wurden. Die Freiheit zum Bruch, zum Vergessen, wird ermöglicht durch das Bewusstsein, dass in der sklavischen Konzeption des Selbst, das Selbst verdrängt wurde durch die Idee eines Jenseits. Das Vergessen beruht also auf einem Bewusstsein der Schuld der Verdrängung. Bewusstsein der Schuld der Verdrängung ist Voraussetzung des Vergessens und damit Ermöglichungsgrund des Versprechens. Das macht die Selbstüberwindung zu einer Aneignung der Macht zu sich selbst. Die weit verbreitete Interpretation des Übermenschen als eine Machtaneignung über anderes geht also fehl. Gerade im Übermenschen steht uns eine Macht gegenüber, die zum Menschsein gefunden hat, indem sie sich selbst nicht mehr in der Machtausübung über Andere setzt und darin sich selbst verdrängt, sondern ihrer selbst mächtig geworden ist. Der Mensch ist dann eben nicht mehr das Mittel der Beherrschung Anderer, sondern ist sich selbst Zweck geworden.

III.3.4. Selbstbegrenzung III.3.4.1. Zusammenfassung und Zuspitzung auf den Ansatz Adornos Mit Kant und Nietzsche habe ich nun versucht, eine prototypische Konstellation des Motivs der Utopie in der modernen Philosophie herauszuarbeiten. Diese utopische Dimension moderner Philosophie sehen ich um das Motiv des neuen Menschen kreisen. Die Utopie vom Menschen stellt eine säkulare Nachfolgefigur theologisch motivierter Figuren des Utopischen dar. Wo im Rahmen des jüdischen und christlichen Denkens die Grundstrukturen utopischen Denkens im Begriff des eschaton und des Messias gelegt sind, da durchbricht das abendländische Denken eines ihrer ehernsten Gesetze, den Satz vom Grund. In der antiken griechischen Philosophie ist der Gedanke des einen Gottes logisch hergeleitet als letzter Grund der Phänomene dieser Welt. Der eine Gott ist demgemäß selbst noch in einen kosmologischen Horizont gestellt, Gott meint das Prinzip und den Grund des Kosmos. Er ist somit der Konsequenz des Grundsatzes ex nihilo Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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nihil fit geschuldet. Ein solcher Gottesbegriff ist letztlich als ein dem Kosmos immanentes Prinzip zu fassen. Der Begriff eines persönlichen Gottes, eines Gottes, der dem Menschen ein Gegenüber darstellt und sich als Handlungssubjekt zur Welt verhält, ist allerdings erst durch eine radikale Trennung von Welt und Gott gewährleistet. Und diese Trennung, die Idee des Jenseits, ermöglicht erst die Idee einer Veränderung der Welt im Ganzen. Die Kontingenz der Welt, dass sie auch ganz anders sein könnte, ist durch die Geschiedenheit von Gott und Welt verbürgt, denn einzig darin wird die Perspektive hergestellt, dass die Welt aus ihren bisherigen Bedingungsverhältnissen heraustreten könnte, um sich grundsätzlich zu wandeln. Es bedarf eines zu der Welt Anderen, um die Veränderung von Welt antizipieren zu können. Diese dem kosmologischen Gottesbegriff entgegenstehende Konzeption des jenseitigen, persönlichen Gottes, findet logisch in der Figur der creatio ex nihilo seinen Ausdruck. Gott ist darum mehr als das bloße Prinzip von Welt, da er die Welt selbst aus dem Nichts hervorbrachte und stets Neues aus dem Nichts zu schaffen vermag. Das christliche-jüdische Abendland lässt sich geistesgeschichtlich als der Aufprall dieser beider Momente fassen, das ex nihilo nihil fit wird durch die creatio ex nihilo konterkariert. In der scholastischen Philosophie finden wir zahlreiche Beispiele des Versuchs, beide Konzepte in Einklang zu bringen. Wie oben aufgewiesen, lässt sich beispielsweise die augustinische Geschichtsphilosophie der zwei entgegenlaufenden Geschichtsstränge, der Heilsgeschichte und der weltlichen Geschichte, als eine Antwort auf diese beiden kollidierenden Gottesbegriffe verstehen. Und auch noch die idealistische Philosophie scheint von dieser Spannung getragen zu sein, wo sie sich um den Spinoza-Streit, den Theismus- und Atheismus-Streit versammelt. 70 Festzuhalten bleibt hier, dass ein utopisches Denken sein geistesgeschichtliches Fundament in eben jener Geschiedenheit von Diesseits und Jenseits findet, in der Idee einer creatio ex nihilo, die einzig die Aussicht auf eine Veränderung im Ganzen gewährt. Aber im eigentlichen Sinne utopisch ist das christlich-jüdische Denken dennoch nicht. Denn der jenseitige Gott bleibt Grund von Welt, das eschaton ist die Erfüllung von Welt. Darin wird die Veränderung zugleich zum Abschluss und telos. Im Gottesbegriff findet die Dynamisierung von Welt als veränderbarer wieder zu einer Einkehr in sich. Vgl. dazu ausführlich: Georg Essen (Hrsg.), Philosophisch-theologische Streitsachen: Pantheismusstreit, Atheismusstreit, Theismusstreit, Darmstadt 2012.

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Das Denken findet sein Fundament nicht mehr in einem Ursprung oder einem Prinzip von Welt, gleichwohl aber in einem Abschluss von Welt in ihrer Erfüllung oder Einkehr in Gott als ihrem Grund. Wir haben es hier also mit einem Denken vom Schluss her zu tun. Demgegenüber ist das negativ-utopische Denken aber eben kein teleologisches – wie ihm immer wieder vorgehalten wird – sondern eines des ausstehenden Anfangs. Dazu im Folgenden. Utopisches Denken nimmt da seinen Ausgang, wo es die theologisch fundierte Idee einer Veränderbarkeit von Welt säkularisiert. In diesem Sinn ist Utopie eine spezifisch moderne Gedankenfigur. Wo die Autorität eines jenseitigen Gottes ausgeräumt wurde, bleibt das abendländische Denken dennoch dem Anspruch einer radikalen Veränderbarkeit von Welt treu. Subjekt solcher Veränderung ist dann nicht mehr Gott, sondern an seine Stelle tritt der Mensch. Doch wie kann der Mensch als Teil dieser Welt, als Weltenbürger, sich zugleich zu dieser Welt so verhalten, dass er sie radikal verändert? War die Veränderung der Welt nicht gerade dadurch abgesichert, dass Gott als ein jenseitiger eben aus dieser Jenseitigkeit heraus erst das Vermögen gewinnt, sich frei in ein Verhältnis zu dieser Welt zu setzten? Wie kann nun diese Welt immanent zu einer Veränderung im Ganzen gelangen? Wie kann sich der Mensch seiner eigenen Bedingtheit entgegen über diese Bedingungen erheben und sie verändern? Diese Fragen weisen auf ein dynamisches Selbstverhältnis des Menschen hin. Der Mensch erhielt bislang seine Bestimmung aus seiner natürlichen bzw. kosmologischen Verortung, aus seiner Bedingtheit im Weltganzen, oder aber durch einen jenseitigen Gott als Souverän über diese von ihm geschiedene Welt. Das Selbst des Menschen war sozusagen ruhig gestellt durch eine außer ihm liegende Bestimmung seiner selbst. Er selbst war das, was er im göttlichen Plan oder der kosmischen Harmonie sein musste. Sein Verhältnis zu sich war wesentlich durch sein Verhältnis zu Anderem begründet. Wo nun der Mensch das Subjekt einer grundlegenden Veränderung von Welt werden soll, nachdem Gott als das Handlungssubjekt von Geschichte getilgt wurde, muss er auch den Grund seiner selbst in sich selbst finden. Hier taucht eigentlich erst die Frage nach dem Selbst des Menschen auf, da es sich erstmals emphatisch als ein Selbstbezug ausweist. Doch gerade in der Struktur der Selbstbezüglichkeit liegt auch die einer Selbstverfehlung und Selbstentfremdung. Der Mensch ist eben nicht er selbst, wenn er zugleich das Subjekt einer grundlegenden Veränderung darstellen soll, denn das bedeutet gleichsam, Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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dass er sich selbst zu verändern habe. Dass der Begriff der Freiheit für die moderne Philosophie so zentral wird, liegt meines Erachtens nach wesentlich an dieser Struktur des Selbst, in der der Mensch sowohl Subjekt als auch Objekt einer Veränderung von Welt sein soll. Der Mensch ist der, der er ist in dieser Welt und zugleich ist er der, zu dem er sich bestimmt in der Welt, die er gestaltet. In dem Begriff der Freiheit wird die von Gott abgezogene Möglichkeit der Weltgestaltung dem Menschen als Teil dieser Welt zugesprochen. Das stellt ihn zugleich außerhalb der Weltverhältnisse, die er gestaltend zu verändern habe. Es stellt ihn aber damit auch außerhalb seiner selbst, er wird sich selbst darin fremd und zum Objekt seiner Tatkraft. In Kants Zweiweltenlehre als Grundlage des Freiheitsbegriffs zeigt sich dieses spannungsgeladene Selbstverhältnis in aller Deutlichkeit. Hier wird sich der Mensch aber zugleich zur Aussicht. Der Mensch ist zwar der, der er ist, aber dieses Menschsein darf kein abgeschlossenes, letztlich bestimmtes sein, will sich der Mensch nicht eben jener Gestaltungskraft berauben, die ihm nach der Tilgung Gottes zugefallen ist. Daraus ergibt sich, dass der Mensch als nicht festgeschriebener, als tatkräftiger noch einen Menschen in Aussicht hat, der er erst werden muss. Der Mensch ist noch gar nicht recht Mensch geworden, sondern hätte erst seine Menschwerdung zu betreiben. Der Mensch zeichnet sich dann wesentlich dadurch aus, sich allererst auf den Menschen zu beziehen in der Idee des neuen Menschen. Er ist dann der, der er erst werden soll. In diesem Sinne kreist utopisches Denken grundlegend um die Idee des neuen Menschen. Sie ist getragen von dem Anspruch der radikalen Veränderbarkeit und Gestaltbarkeit von Welt durch den Menschen, der sich darin selbst zum eigenen Anspruch wird. Darum müssen wir den utopischen Anspruch und die Intension auf den neuen Menschen auch wesentlich als den Anspruch auf einen ausstehenden Anfang – und nicht als einen abschließenden telos – begreifen. Das Neue am neuen Menschen besteht eben darin, dass er dem Anspruch gerecht werden könnte, nicht bloß ein Vollzugsmoment weltlicher Bezüge darzustellen, sondern sich bewusst in Bezug zur Welt zu setzen. Hier erst finge der Mensch an, wirklich Mensch zu sein, sich menschlich in diese Welt zu stellen. Aufgrund dieser Figur des ausstehenden Menschen erschließt sich die Schlüsselrolle, die ich dem Begriff einer Universalschuld des Sollens zugemessen habe. Der Mensch ist unter dieser Konstellation einer, der sich in seinem bloßen Dasein bereits verfehlt hat, insofern er noch 224

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nicht wirklich Mensch geworden ist. Der Mensch ist sich seinem Menschsein gegenüber schuldig, ohne sich überhaupt etwas Konkretes zuschulden habe kommen zu lassen – oder vielmehr genau darum. Die Universalschuld des Sollens meint die Schuld des Menschen, sich selbst nicht verwirklicht zu haben als derjenige, der erstmals gestaltend die Welt nach menschlichen Maßstäben zu verändern habe. Es ist die Schuld eines verpassten Menschseins. Diese Form der Schuld ist also dem utopischen Denken inhärent, wie ich oben versucht habe aufzuzeigen. Bei Kant sahen wir die Idee des neuen Menschen im Konzept der Selbstsetzung des Menschen aufgehen. Das kantische Projekt der Aufklärung ist von dem Bewusstsein getragen, dass der Mensch gerade hinter den ihn wesentlich auszeichnenden Qualitäten zurückbleibt. Er hätte sich allererst frei des Verstandes zu bedienen, um den Ansprüchen der Vernunft – und damit den Ansprüchen, die an den Menschen gerichtet sind – gerecht zu werden und damit die Zwecke, die sich die Natur im Hinblick auf den Menschen gestellt hat, zu erfüllen. D. h. mithin, dass der Mensch sein eigenes ihn auszeichnendes Potential nicht verwirklicht hat, er noch nicht eigentlich zum Menschsein gefunden hat. Und dieser Mangel an Verwirklichung des Menschen ist wesentlich selbstverschuldet. Durch diese Schuld ist der Mensch in die Verantwortung gesetzt, sich erst selbst zu verwirklichen, sich als Mensch zu setzen. Diese Idee der Selbstsetzung des Menschen bedarf aber wiederum einer Abkehr vom Grundsatz des ex nihio nihil fit. Auch wenn der Mensch dem Vermögen nach an der Vernunft teilhat, die ihn zur Verwirklichung des Menschen befähigt, so ist es dennoch notwendig, dass der Mensch zuallererst einen Bruch mit den Bedingungen seiner Existenz herbeiführt, um ein anderer werden zu können. Innerhalb einer strikten Logik nach dem Satz vom Grund kann der Mensch sich nur als bedingter und durch seine Bedingtheit bestimmter annehmen. Doch der neue Mensch Kants hätte sich eben über diese Bedingungen zu erheben, dürfte sich nicht mehr von den Bedingungen seiner Existenz bestimmen lassen, sondern müsste diese Bedingungen selbst bestimmen. Ein zentrales Strukturmoment utopischen Denkens finden wir also auch hier: Um sich auf eine grundlegend veränderte Lebenswirklichkeit beziehen zu können, bedarf es allererst eines Bruchs mit den Bedingungen des Bisher. Kant verbürgt diese Möglichkeit eines Neuen, nie Dagewesenen durch die Lehre von den Zweiwelten und der Konstruktion der Autonomie. Der Bruch mit dem BedingungszusamKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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menhang der Lebenswirklichkeit wird dabei durch die Einführung einer außerzeitlichen Sphäre der Vernunft erkauft. Das ex nihilo nihil fit wird als Kausalgesetz dabei zur bloßen Gesetzmäßigkeit der empirischen Welt, der die Vernunft enthoben ist und durch die Neues und Un-Bedingtes verwirklicht werden kann. Doch zugleich bleibt Kant dem Satz vom Grunde treu, wo er doch gerade die Vernunft als Grund und Bedingung der Möglichkeit der Veränderung von Wirklichkeit einsetzt. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, hat Hegel in aller Deutlichkeit gesehen und zum Fundament der eigenen Philosophie erhoben. Denn genauer betrachtet, ist es dann gar nicht der Mensch, der sich hier selbst setzt, sondern der Mensch als vernunftbegabtes Wesen ist gleichsam nur Mittel der Verwirklichung von Vernunft selbst. Im neuen Menschen käme nicht eigentlich der Mensch zu sich, sondern im neuen Menschen fände die Vernunft das Werkzeug der eigenen Selbstverwirklichung. Der Mensch wird dabei paradoxerweise gerade von dem Verfechter des Menschen als Selbstzweck zum Mittel einer ihm enthobenen Sphäre der Vernunft gemacht. Die kantische Idee der Selbstsetzung meint also eigentlich eine Vernunftverwirklichung; das Selbst des Menschen ist dabei bloßer Austragungsort der Vernunft und darin wesentlich verfehlt. Dahin jedenfalls geht die Kritik Nietzsches. Er sieht in den Idealen, in der Idee der Vernunft eine Nachfolgefigur des getilgten Gottes, demgegenüber alles menschliche Dasein zur bloßen Vermittlung herabgestoßen wird. Die kantsche und hegelsche Philosophie gelten ihm als Ausdrucksformen des passiven Nihilismus, einer bewusstlosen Selbstverfehlung des Menschen. Der Mensch verdrängt darin den Anspruch seines eigentlichen Menschseins vor dem Hintergrund einer transzendent(al)en Sphäre der Vernunft. Das bringt das Selbst des Menschen wiederum in eine grundlegende Verschuldung sich selbst gegenüber. Und da in diesem aufklärerischen Ansatz Vernunft nicht transzendent sondern transzendental bestimmt wird, ist das Selbst des Menschen selbst das wesentliche Vollzugsorgan seiner eigenen Verfehlung. Gerade im Selbstbezug verfehlt sich dann der Mensch wesentlich. Darum kommt Nietzsche zu dem Ansatz einer Selbstüberwindung, die er der aufklärerischen Konzeption der Selbstsetzung entgegenhält. Mit Nietzsche ließe sich so argumentieren, dass der grundlegende Bruch mit dem Bisher nur scheinbar vorgenommen wird, nur als Hirngespinst auftritt, was den Menschen umso fataler in die Selbstverfehlung treibt, die es ihm unmöglich macht sich als Menschen tatsächlich selbst zu setzten. Dagegen kon226

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zipiert er das Modell des Vergessens als Möglichkeit des immanenten Bruchs mit der Lebenswirklichkeit. Wo er die kantische und hegelsche Konzeption einer außerzeitlichen Vernunft als bloß erdichtete und erschlichene Möglichkeit des Bruchs wahrnimmt, setzt er diesem ein emphatisches Konzept des Augenblicks entgegen. Der Augenblick ermöglicht Ent-scheidung von Vergangenheit und Versprochenem, ist Ort der Freiheit des Menschen zu sich, Austragungsort der Selbstüberwindung hin zum Übermenschen. Adornos utopisches Denken bezieht sich grundlegend auf diese Tradition. Und dennoch gilt seine Kritik sowohl dem klassisch aufklärerischen Konzept wie auch dem Konzept Nietzsches. Wo wir den utopischen Anspruch zum einen im Begriff der Selbstsetzung und zum zweiten in dem der Selbstüberwindung ausgemacht haben, da haben wir mit Adorno das Konzept einer Selbstbegrenzung herauszuarbeiten, das sich kritisch und emphatisch zugleich auf die utopischen Konzepte seiner Vorgänger bezieht. Die Veränderbarkeit von Welt fußt, wie oben erläutert, auf der Annahme eines Jenseits der Welt, auf dem Bezug zu einem radikal Anderen. Gott und – säkularisiert – die Vernunft, der absolute Geist, der Übermensch stellen Figuren dieses radikal Anderen dar. Adornos Kritik an einem klassischen theistischen Gotteskonzept ergibt sich schon aus seiner Ablehnung einer prima philosophia. Der jenseitige Gott als Grund von Welt affirmiert letztlich den Zustand des Diesseits als gottgewollt, während es die Veränderung des Diesseits zu einer entlegenen Aussicht reduziert. Die Utopie der Erlösung wird dabei zu einer Beschwichtigung des Bedürfnisses der Veränderung im Hier und Jetzt. Die säkularen Formen des utopischen Denkens haben dagegen das radikal Andere in einen Selbstbezug integriert. Selbstsetzung und Selbstüberwindung sind die Formen solcher immanenter Bezugnahme zum radikal Anderen im Selbstvollzug; ihre Utopie ist der neue Mensch. Adornos Kritik an diesen Formen des utopischen Denkens geht dahin, sie als dialektische Figuren an ihrem eigenen Anspruch scheitern zu sehen. Wo das radikal Andere in den Selbstvollzug eingeschrieben wird, ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen wird das Subjekt in seinem Selbstbezug zu einer epidemischen Struktur der Subjektivität, die kein Anderes mehr stehen zu lassen vermag. Zum zweiten wird das Selbst des Menschen gerade in dieser expansiven Bewegung sich selbst zum bloßen Mittel einer Subjektivität, die den konkreten Menschen radikal verdinglicht und instruKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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mentalisiert. Diese Kritik bezieht sich in erster Linie auf den aufklärerisch-idealistischen Ansatz der Selbstsetzung und stimmt weitgehend mit der Kritik Nietzsches überein. Doch auch das nietzschesche Modell einer Selbstüberwindung kann Adorno nicht für sich in Anspruch nehmen. Er stimmt mit Nietzsche soweit überein, dass er das Selbstsetzungsmodell als eine Form dialektischer Selbstverfehlung dechiffriert, die letztlich alle Bezugsformen zu Austragungsorten der Selbsterhaltung und Machtentfaltung verwandelt, die das konkrete Selbst des Menschen entfremdet. Die Konsequenz Nietzsches, der Selbstsetzungskonzeption einen konkreten Machtspruch des Menschen entgegenzustellen, der die Welt der Wertsetzung des Menschen unterwirft, muss Adorno allerdings als eine Form der Resignation vor dem Anspruch der Macht selbst erscheinen. Ausgehend von dieser Kritik stellen sich dem utopischen Denken nun zwei Aufgaben: Das utopische Denken muss zum einen der tumorösen Dialektik der Subjektivität Einhalt gebieten und darin den Anspruch auf ein wahrhaft Anderes offen halten und zum zweiten eine Form der Bezugnahme eröffnen, die jenseits der Selbsterhaltungs- und Machtansprüche anzusiedeln wäre. Beiden Anliegen wird bei Adorno durch ein Konzept der Selbstbegrenzung entsprochen. Die absolut gesetzte Subjektivität, die klassische Dialektik, wird durch eine negative Dialektik eingedämmt und die Macht als Prinzip aller Beziehungen wird durch eine negativistische Analyse des Nicht-sein-Sollenden ihrer Notwendigkeit entledigt und dem Anspruch auf Versöhnung unterstellt. Zu diesen Punkten nun im Einzelnen:

III.3.4.2. Adornos Kritik am Freiheitsbegriff als monadologische Struktur Die Kritik realer, gesellschaftlicher Verhältnisse geht bei Adorno immer einher mit der Kritik idealisierender Ansprüche. Die Idee von Freiheit erweist sich ihm als unverwirklichte; schlimmer noch: Im Namen der Freiheit, in dem aufklärerischen Anspruch, einen mündigen, unabhängigen Bürger zu schaffen, wird auf die Figur der Autonomie des Subjekts rekurriert, die Adorno nicht müde wird als Herrschaftsform zu entlarven. Die Freiheit des autonomen Subjekts ist die Freiheit des souveränen Herrschers, der sich außer- und oberhalb der Welt verortet. Er ist nicht eigentlich frei, sondern vielmehr einsam herrschend und dabei unbemerkt abhängiger als je zuvor. Wird Freiheit als losgelöste Souveränität gedacht, so schafft sie reale Herr228

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schaftsverhältnisse, erzeugt Gewalt und Verdinglichung. Adorno konfrontiert das Ideal der Freiheit mit der realen gesellschaftlichen Situation und kritisiert beide. Er lehnt darum das Ideal der Freiheit keineswegs ab, sondern gewinnt eine Perspektive auf eine utopische Idee von Freiheit, von Freiheit, die nicht als die störungsfreie Position des Souveräns gedacht wird, sondern als ein Miteinander in der gleichen Welt, das trotz der Gegenseitigkeit jedem seine Selbstbestimmung lässt. Der Begriff der Freiheit wird durch seine Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst in seiner ganzen Tragweite erfassbar. Von dem utopischen Begriff der Freiheit aus lässt sich ein Maß für die Veränderungsbedürftigkeit der Wirklichkeit finden. Der einzelne Mensch ist auch in aufklärerischen Zeiten nicht frei zu nennen, obgleich er in einer Gesellschaft lebt, die das ›größtmögliche Maß an Freiheit‹ für ihn beansprucht. Diese Unfreiheit des Einzelnen weist auf die Insuffizienz seiner Verfassung gegenüber dem unbeschnittenen Begriff von Freiheit. Der Begriff beinhaltet mehr als die gegebene Wirklichkeit und eben dieses Mehr, das Utopische, das dem Begriff anhängt, ist Maßstab der Kritik und der Veränderung der Wirklichkeit: »Der Begriff der Freiheit bleibt hinter sich zurück, sobald er empirisch angewandt wird. Er ist dann selber nicht das, was er sagt. Weil er aber immer auch Begriff des unter ihm Befassten sein muß, ist er damit zu konfrontieren. Solche Konfrontation verhält ihn zum Widerspruch mit sich selbst. […] Das Einzelne ist mehr sowohl wie weniger als seine allgemeine Bestimmung. Weil aber nur durch Aufhebung jenes Widerspruchs, also durch die erlangte Identität zwischen dem Besonderen und seinem Begriff, das Besondere, Bestimmte zu sich selber käme, ist das Interesse des Einzelnen nicht nur, das sich zu erhalten, was der Allgemeinbegriff ihm raubt, sondern ebenso jenes Mehr des Begriffs gegenüber seiner Bedürftigkeit. Er erfährt es bis heute als seine eigene Negativität. Der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem hat zum Gehalt, dass Individualität noch nicht ist und darum schlecht, wo sie sich etabliert. Zugleich bleibt jener Widerspruch zwischen dem Begriff der Freiheit und deren Verwirklichung auch die Insuffizienz des Begriffs; das Potential von Freiheit will Kritik an dem, was seine zwangsläufige Formalisierung aus ihm machte.« 71

Adornos Kritik an der Freiheitsphilosophie Kants setzt an der Unterscheidung der intelligiblen und empirischen Welt an. Durch diese Unterscheidung scheint uns nicht bloß die Denkmöglichkeit der Frei71

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heit gewährleistet, sondern damit einhergehend die utopische Möglichkeit einer Veränderung der Welt im Denken Kants verankert zu sein. Der intelligible Charakter des Menschen, seine Teilhabe an der außerzeitlichen Vernunft, bildet den Grund, von wo aus eine Umgestaltung der empirischen Welt in die Hände des Menschen gelangt. Dass dabei der Mensch selbst Opfer der an sich selbst durchgeführten Abstraktion wird, ist für Adorno unstrittig. »Was der immanenzphilosophischen Bestimmung jener Begriffe ihre Eleganz verleiht und ihre Autarkie, ist in Wahrheit, angesichts der tatsächlichen Entscheidungen, bei denen nach frei und unfrei gefragt werden kann, eine Abstraktion; was sie vom Seelischen übrigläßt, karg gegenüber der realen Komplexion von Innen und Außen. An diesem Verarmten, chemisch Reinen läßt sich ablesen, was von Freiheit oder ihrem Gegenteil prädiziert werden darf. Strenger ausgedrückt, und Kantischer zugleich, ist das empirische Subjekt, das jene Entscheidung fällt – und nur ein empirisches kann sie fällen, das transzendentale reine Ich denke wäre keines Impulses fähig –, selbst Moment der raum-zeitlichen auswendigen Welt und hat vor ihr keine ontologische Priorität; darum scheitert der Versuch, die Frage nach der Willensfreiheit in ihm zu lokalisieren. Er zieht die Linie zwischen Intelligiblem und Empirischem inmitten der Empirie.« 72

Mitten in der empirischen Welt, der konkreten Welt des Menschen, wird er in einen Bezug zu sich selbst gestellt, in dem er sich zu einem reinen Ansich stilisiert und darin an sich verarmt. Adorno weiß sich dabei mit Hegel einig, dass Freiheit nur als ein Begriff im Bezug zu Anderem überhaupt zu halten ist. »Erst an dem von ihm Getrennten und gegen es Notwendigem erwirbt das Subjekt, nach der Erkenntnis der Hegelschen Phänomenologie, die Begriffe Freiheit und Unfreiheit, die es dann auf seine eigene monadologische Struktur zurückbezieht.« 73 Adorno nimmt Kants Anspruch, mit der Moral- d. h. der Freiheitsphilosophie den eigentlichen Bezirk praktischer Philosophie betreten zu haben ernst – und wendet ihn gegen diesen. In der Erfahrungswelt des Menschen soll sich der Mensch frei bestimmen können gegenüber seinen empirischen Bedingungen. Darin ist der utopische Gehalt der kantschen Lehre aufgehoben und zugleich subvertiert. Denn das empirische Subjekt unterwirft sich einem ungleich stärkeren Zwang als er es von den empirischen Zwängen zu befürchten hätte, wo es sich im Anspruch seines intelligiblen Vermögens zu einer 72 73

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monadologischen Struktur abschließt. »Kant, wie die Idealisten nach ihm, kann Freiheit ohne Zwang nicht ertragen.« 74 Dieser Zwang ist für Adorno auf den ersten Blick durch die »Angst vor Anarchie« 75 begründet. Im Weiteren aber durch die Gewalt, die dem Denken selbst innewohnt, es »übt vorweg jene Gewalt aus, die Philosophie im Begriff der Notwendigkeit reflektiert.« 76 Das empirische Subjekt, das sich im moralischen Akt ganz auf seine Vernunftfähigkeit zurückzieht und sich dabei aller lebendigen Impulse und Erfahrungen zu entledigen sucht, wird sich selbst zum Objekt der Zurichtung nach Denknotwendigkeiten. Die monadologische Struktur des moralischen Subjekts versetzt es zwar in scheinbare Unabhängigkeit von äußeren wie inneren Impulsen, die es bedingen könnten, doch das zum Preise der Abschottung vor dem, wo es eigentlich zu wirken hätte, vor der Lebenswelt des Menschen. 77 Das lebendige empirische Subjekt unterwirft sich selbst einer Formalisierung, die ihm die Inhalte seiner Handlungen zum bloßen Material gerinnen lässt und reduziert sich mithin selbst als Empirisches zum bloßen Material einer Vernunfthandlung. »Das ist der Widersinn der monadologischen Konstruktion der Moral. Moralisches Verhalten, offensichtlich konkreter als bloß theoretisches, wird formaler denn dieses als Konsequenz aus der Lehre, praktische Vernunft sei unabhängig von jeglichem ihr Fremden, jeglichem Objekt.« 78 Adornos Kritik an Kants Freiheitsbegriff geht dahin, Freiheit unter der Forderung nach Unabhängigkeit verstümmelt zu sehen. Freiheit wäre dann nicht mehr als die Unabhängigkeit eines Autisten im Kreise der Gesellschaft, eine Abdichtung und Bezuglosigkeit, die alles Äußere nur bloß als Material oder gefährlich Fremdes wahrzunehmen vermöchte. »Zu zahlen hat dafür der Wille, aus dem alle Vergegenständlichungen sich versagende Impulse als heteronom verbannt sind.« 79 Diese negative Bedingung der Freiheit bei Kant, die Unabhängigkeit, affiziert auch deren positiven Bestimmungen als Autonomie und Spontaneität. Autonomie wird zu einer Selbstunterwerfung des empirischen Subjekts unter die rein formale Bestimmung des Gesetzes im Begriff der Achtung. Spontaneität, als das Ver74 75 76 77 78 79

GS 6, S. 231. Ebd. GS 6, S. 232. Vgl. GS 6, S. 234. GS 6, S. 234. GS 6, S. 234.

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mögen, aus sich heraus diese Welt zu gestalten, wird zu einem Faktum reduziert, das vor dem eigentlich Fremden, seinem Wirkungsfeld, kapituliert, indem es ausgeschlossen wird. 80 Hier lässt sich bereits ablesen, auf welchen Begriff der Freiheit Adorno abzielt. Freiheit soll nicht länger auf einer Unabhängigkeit von äußeren Inhalten basieren, sondern als Freiheit wesentlich im Bezug zu dem sein, was dem Menschen begegnet. Adornos Begriff der Freiheit meint also eine Freiheit in den Weltbezügen des Menschen. Andernfalls führt die monadologische Fassung des Freiheitsbegriffs inmitten der praktischen Welt zu einer Schizophrenie des Subjekts. »Wo, unterm universellen Bann, die Menschen in sich dem Identitätsprinzip und damit den einsichtigen Determinanten enthoben scheinen, sind sie einstweilen nicht mehr sondern weniger denn determiniert: als Schizophrenie ist subjektive Freiheit ein Zerstörendes, welches die Menschen erst recht dem Bann der Natur einverleibt.« 81 Gerade der utopische Gehalt der kantschen Lehre, dass die Welt vom Menschen zum Besseren zu verändern sei trotz aller Bedingtheit im Alten, kehrt sich nun also gegen sich selbst. Die Abkapselung des empirischen Menschen von seinen empirischen Bedingungen unterstellt ihn selbst einem inneren Zwang, der sich fortsetzt in der Unterwerfung unter – und Festschreibung der gesellschaftlichen Zwangsmechanismen. Doch Adorno hält dennoch emphatisch an der utopischen Zielrichtung Kants fest und filtert noch in dessen Scheitern die Motive eigenen utopischen Denkens heraus. »Ihr Phantasma, das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interdependenz sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur. Es ist der Vernunft nicht so fremd, wie es unter dem Aspekt von deren Kantischer Gleichsetzung mit dem Wille erscheint; fällt nicht vom Himmel. Der philosophischen Reflexion scheint es ein schlechthin Anderes, weil der auf reine praktische Vernunft gebrachte Wille eine Abstraktion ist. Das Hinzutretende ist der Name für das, was von jener Abstraktion ausgemerzt ward; real wäre Wille ohne es überhaupt nicht. Zwischen den Polen eines längst Gewesenen, fast unkenntlich Gewordenen und dessen, was einmal sein könnte, blitzt es auf.« 82

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Vgl. GS 6, S. 233/234. GS 6, S. 239. GS 6, S. 228.

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III.3.4.3. Adornos utopische Wendung des kantschen Freiheitsbegriffs Wo Adorno in eigener Sache von Freiheit spricht, da spricht er von einer Freiheit im Bezug zu Anderem. Darin wendet er sich grundlegend vom Begriff der Autonomie ab. 83 Von Freiheit kann nur gesprochen werden, wo der Mensch sich konkret in eine Situation gestellt sieht, die in ihm das Bedürfnis zu einer Handlung weckt und zwar durch die tatsächliche Begegnung mit den Objekten, auf die sich seine Handlung bezieht. Die Gleichsetzung des Willens mit Vernunft in der praktischen Vernunft erscheint Adorno absurd, da bloße Vernunft in ihrem apriori zu keinem nach Außen gerichteten Impuls fähig wäre, wenn sie nicht in Begegnung mit Anderem Impulsmotivationen erfahren könnte. Der Wille selbst wäre kein Wille, würde er nicht einem inneren Bedürfnis der Tat entsprechen, einem Impuls, der in der kantschen Lehre als innere Motivation neutralisiert werden müsste. Denn ein solcher Impuls ist noch in seiner ›phantastischen‹ Spielart, ein Bedürfnis, nämlich das nach Versöhnung von Geist und Natur (vgl. oben), das nicht ohne das Leiden an deren antagonistischen Verfassung zu erklären wäre und damit nicht als reine Vernunftidee gelten kann. Imperative des Nicht-sein-Sollens sind eben nicht autonom durch die Vernunft gestiftet, sondern stets empirisch motiviert. Wo der Wille Imperative ausspricht, da können es doch nur hypothetische sein, sonst würde er nichts wollen. Der Wille wird also von Adorno vorweg auf seine konkreten Objekte bezogen, die im kategorischen Imperativ zu bloßen Variablen reduziert werden und darin über die tatsächliche Bezogenheit des Menschen auf das ihn Begegnende hinwegtäuschen. Die autistische Struktur des Freiheitsbegriffs wird also von Adorno durch die Begriffe des Impulses und des Nichtidentischen als Anderem zu einer Beziehungsform gewendet. Doch inwiefern kann hier überhaupt noch von Freiheit gesprochen werden? Adorno kann alleine darum am Begriff der Freiheit festhalten, weil er Freiheit selbst als eine utopische Aussicht bestimmt. Adorno kann darum sagen: »Freiheit ist einzig in bestimmter Negation zu

Vgl. Othmar Kastner, »Freiheit ohne Autonomie«? Anmerkungen zu Derridas und Adornos Kritik an Kants Begriff der Freiheit, aus: Eva L.-Waniek und Erik M Vogt (Hrsg.), Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, Wien 2008, S. 206–216.

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fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit.« 84 Freiheit ist als utopische Denkfigur dechiffriert. Sie bezieht sich emphatisch auf Objekte, von denen es in der Negation bestimmt ist, allerdings nicht im Sinne der bloßen Rezeption, sondern vielmehr mit dem eigenen Bedürfnis nach einer Veränderung des Bezugs zu diesem Objekt. Freiheit will in ihrer Abhängigkeit von dem, dem das Bewusstsein ausgesetzt ist, eine Veränderung dieser Abhängigkeit erreichen, einen anderen Bezug zur Welt schaffen. Aus diesem Grund spricht Adorno vom Phantasma der Versöhnung, in der das utopische Bedürfnis des Subjekts seinen Ausdruck findet. Doch eben dieser Bezug auf einen Wandel des Verhältnisses zur Welt, einem Bezug zum Nichtidentischen, der außerhalb von Herrschaftsverhältnissen zu denken wäre, ist nicht ohne bestimmte Negation der bestehenden Verhältnisse zu haben. Freiheit als eine Bezugskategorie richtet sich also auf Versöhnung, indem es zugleich Widerstand leistet gegenüber dem Bestehenden. In diesem negativen Verhalten des Widerstandes ist nun dennoch die Idee der Unabhängigkeit aufbewahrt. Unabhängigkeit meint hierbei allerdings keine Losgelöstheit von äußeren oder inneren Bestimmungen, sondern ein radikales Nein-Sagen gegenüber realen Bedingungen. Unabhängigkeit als Widerstand ist eine Bezugsform, die auf eine Veränderung des Bezugs selbst gerichtet ist als bestimmte Negation. Das Nein des Widerstandes, die Unabhängigkeit des Bewusstseins gegenüber seinen Bedingungen, ist auf Versöhnung gerichtet – eine Form des Bezugs, der nicht mehr durch Zwang geprägt wäre und damit Widerstand selbst überflüssig machen würde. Diese Wendung des Freiheitsbegriffs macht es allerdings notwendig Beziehungen, Bedingungen, Bestimmtheit und Kausalität selbst als utopisch versöhnte Verhältnisse umzuinterpretieren.

III.3.4.4. Widerstand als Freiheitsvollzug »Wille ohne Körperimpulse, die abgeschwächt in der Imagination nachleben, wäre keiner; zugleich jedoch richtet er sich ein als zentralisierende Einheit der Impulse, als die Instanz, welche sie bändigt und potentiell negiert. Das nötigt zu seiner dialektischen Bestimmung. Er ist die Kraft des

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Bewußtseins, mit der es den eigenen Bannkreis verläßt und dadurch verändert, was bloß ist; sein Umschlag ist Widerstand.« 85

Kants Ausgangspunkt moralischen Denkens, der Satz, dass einzig ein freier Wille moralisch gut sein könne, wird hier von Adorno aufgegriffen und gegen Kant gewendet. Der Wille muss etwas wollen, wo er nicht zu einer leeren tautologischen Struktur abstrahiert wird. Er ist durch Körperimpulse, durch die Intentionalität körperlicher Bedürfnisse, bestimmt und somit der kantschen Konstruktion von Autonomie entzogen. Doch schon in dem kleinen Nachsatz, dass solche Körperimpulse in der Imagination fortleben, lässt sich eine Uminterpretation von Heteronomie ausmachen. Die Bestimmtheit des Willens durch Körperimpulse muss als Form der Heteronomie gelesen werden. Doch zugleich scheint diese Heteronomie die Grundlage für ein ungebundenes Entwerfen des Denkens darzustellen, wenn sie die Grundlage der Imagination abgibt. In der Imagination wird vom Denken etwas entworfen, das zwar keine Entsprechung in der Wirklichkeit zu haben braucht und darum als reines Denkprodukt erscheinen mag, auf das sich der Mensch aber dennoch bis in seine Körperlichkeit hinein als Bedürfnis bezieht. Die konkrete Bestimmtheit des Willens durch die Objekte, auf die er sich bezieht, wird von Adorno hier nicht als eine Passivität interpretiert, sondern vielmehr als das Vermögen, sich von sich heraus auf etwas emphatisch beziehen zu können. Dies drückt der Begriff des Impulses aus, der den Willen bestimmt, indem er sich aus sich heraus auf das Objekt seines Willens bezieht. Gerade in diesem Impuls, kantisch ein Signum der Unfreiheit, macht Adorno nun die Fundamente des Freiheitsbegriffs aus. »Das dämmernde Bewusstsein nährt sich von der Erinnerung an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls. Je mehr das Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chaotische. Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee der Freiheit nicht zu schöpfen, welche doch ihrerseits in der Stärkung des Ichs terminiert.« 86 Diese Archäologie der Freiheit, die Adorno hier betreibt, gipfelt in der Bestimmung des Impulses als Urform der Spontaneität. »In dem philosophischen Begriff, der Freiheit als Verhaltensweise am höchsten über das empirische Dasein erhebt, dem der Spontaneität, hallt das Echo dessen wider, was bis zur Ver85 86

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nichtung zu kontrollieren das Ich der idealistischen Philosophie für die Bewährung seiner Freiheit hält.« 87 Die Erinnerung an den freien vor-ichlichen Impuls gibt für Adorno aber keinesfalls die Idee der Freiheit ab, so sehr sie auch darauf fußt. Freiheit kann nach der Bewusstwerdung des Menschen keinesfalls als eine unmittelbare Impulsgeleitetheit verstanden werden. Darin fiele der Mensch zurück in einen bloß reaktiven Zustand, indem er sich nicht mehr als Ich zu seinen Objekten verhalten könnte, sondern sich an sie verlöre. »Einzig wofern einer als Ich, nicht bloß reaktiv handelt, kann sein Handeln irgend frei heißen. Dennoch wäre gleichermaßen frei das vom Ich als dem Prinzip jeglicher Determination nicht Gebändigte, das dem Ich, wie Kants Moralphilosophie, unfrei dünkt und bis heute tatsächlich ebenfalls unfrei war.« 88 Freiheit muss also zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss erstens mehr sein als bloße unmittelbare Reaktion und zweitens noch ungebändigt sein von eben jenem Ich, das jede Handlung determiniert. Das Ich wird hier also zugleich zur Voraussetzung und zum Hindernis von Freiheit. Das Bewusstsein ist einerseits die ›zentralisierende Instanz, die die Impulse bändigt und potentiell negiert‹ und darin erst ein freies Verhalten zu den Gegenständen des Willens eröffnet. Andererseits ist der Wille nur dann frei, wenn er nicht vorab durch die Bestimmungen des Denkens, das Prinzip der Determination, zum Vollzugsmoment einer außer dem Willen gelegenen Notwendigkeit degradiert wird. Beide Bedingungen zusammengebracht, kommt Adorno zu einer erstaunlichen Bestimmung von Freiheit: Freiheit wäre dann nämlich der spontane Bezug auf Objekte, die nicht zuvor durch das Bewusstsein determiniert wären. Im durch das Bewusstsein geläuterten Impuls bezieht sich der Wille von sich aus auf Objekte und entfaltet darin seine Freiheit. Doch es kann sich nur dann auch um einen echten Freiheitsakt handeln, wo das Gewollte nicht selbst ein durch das Bewusstsein Bestimmtes wäre – sonst erführe der Wille sich seinerseits als determiniert durch das Ich, das ihm seine Objekte vorgäbe. Hier rekurriert Adorno auf einen schellingschen Begriff der Freiheit als der Freiheit vom eigenen Selbstvollzug. Bei genauerem

GS 6, S. 221. Vgl. auch: »Was anders ist an der Handlung als das reine Bewußtsein, das Kantisch zu ihr nötigt: das jäh Herausspringende, ist die Spontaneität, die Kant ebenfalls in reines Bewußtsein transplantierte, weil sonst die konstitutive Funktion des Ich denke gefährdet worden wäre.« GS 6, S. 229. 88 GS 6, S. 222. 87

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Hinsehen ist das vom Ich Ungebändigte also gar nicht primär der Wille, sondern vielmehr das Objekt des Willens. Es muss Anderes sein als der Wille und das Ich, das ihn leitet, um dem Wille Freiheit zu gewähren. »Über das am Ich Entscheidende, seine Selbständigkeit und Autonomie kann nur geurteilt werden im Verhältnis zu seiner Andersheit, zum Nichtich. Ob Autonomie sei oder nicht, hängt ab von ihrem Widersacher und Widerspruch, dem Objekt, das dem Subjekt Autonomie gewährt oder verweigert.« 89 Unabhängigkeit ist für Adorno also nur in einem die Freiheit konstituierenden Bezug zu Ichfremdem, Nichtidentischem zu begreifen. Freiheit zeigt sich demnach nur in Heteronomie, in einem sich vom Fremden Bestimmenlassens des Willens. Der Wille kann sich nur dann frei auf seine Gegenstände einlassen, wenn diese nicht durch identifizierendes Denken determiniert wurden. Doch unter dem Identitätsbann, der sich in der gesellschaftliche Realität objektiviert, ist eine solche Befreiung der Gegenstände allererst zu leisten. In diesem Sinne kann von Freiheit nicht als Gegebenem gesprochen werden, sondern einzig als utopischer Begriff eines unreglementierten Bezugs des Subjekts zu seinen Objekten. Hier kann nun die dialektische Bestimmung des freien Willens als Widerstand wieder aufgegriffen werden. Bei genauerem Hinsehen können wir nämlich nun den Widerstand als einen Widerstand des Willens gegenüber sich selbst interpretieren. Er zentralisiert und negiert die eigenen Impulse, die sich seine Objekte einverleiben mögen. Dies meint jedoch keine Negation im kantschen Sinne einer Ausklammerung dieser Objekte, denn er darf sich nicht selbst genügen, sondern muss weiterhin auf Anderes als er selbst gerichtet sein, um nicht in sich selbst gefangen zu bleiben. »Er ist die Kraft des Bewußtseins, mit der es den eigenen Bannkreis verläßt und dadurch verändert, was bloß ist; sein Umschlag ist Widerstand.« 90 Der blinde Impuls des Willens, der Drang sich seine Objekte nach Maßgabe der Bedürfnisse einzuverleiben, muss durch das Bewusstsein soweit negiert werden, dass sich dieser Wille nicht in einem bloßen Reaktionsmuster verlöre. Doch sobald sich das Bewusstsein wiederum identifizierend auf diese Objekte des Willens richtet, verfällt es der Unfreiheit. Der Bannkreis ist in diesem identifizierenden Zugriff auf die Objekte des Willens auszumachen. Das Bewusstsein muss also den eigenen identifizieren89 90

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den Zugriff auf seine Objekte begrenzen und darin die Objekte freigeben, um zur Freiheit zu gelangen. Widerstand wäre darum ein Widerstand des Bewusstseins gegenüber der eigenen Identifikationsleistung. Das Bewusstsein muss also spezifisch den eigenen Weltzugriff begrenzen, um frei zu geraten. Denn nur durch solche Selbstbegrenzung des Bewusstseins wäre das Nichtidentische freigegeben, das konstitutiv ist für ein freie Willensentfaltung. Das Verlassen des Bannkreises ist darum nicht als ein Über-sich-Hinausgehen gedacht, sondern paradoxerweise gerade als eine Eingrenzung, denn nur sie ermöglicht einen Bezug zu Nichtidentischem. Und genau in dieser negativen Verhaltensweise des Widerstandes als Selbstbegrenzung kann sich tatsächlich Freiheit ereignen in der Öffnung gegenüber Nichtidentischem. Was bloß ist, erfährt eine Veränderung, indem es freigelassen wird vom identifikatorischen Zugriff des Subjekts – und darin fände das Subjekt zu einer Freiheit zu den Gegenständen. Der Begriff der negativen Freiheit als Unabhängigkeit wurde hier von Adorno also als Widerstand re-interpretiert. Widerstand ist die Form sich unabhängig zu machen, ohne Bedingtheit auszublenden, er befreit sich in den Bindungen des Subjekts von deren Zwangscharakter. Freiheit ist damit in erster Linie als eine Form der Bezugnahme gedacht: Das Subjekt gewinnt einzig Freiheit, indem es die Objekte seiner Erkenntnis und Handlungen als Nichtidentische erfährt und darin freigibt. Diese Freigabe des Objekts als Nichtidentisches bedarf aber wesentlich der Begrenzung des identifizierenden Denkens der Subjekte. In dieser Selbstbegrenzung des Subjekts haben wir in erster Linie Freiheit als Widerstand auszumachen. Dass solcher Widerstand aber nicht bloß einen erkenntnistheoretischen Akt darstellt, sondern zugleich konkreten Widerstand gegenüber einer totalisierten Gesellschaft meint, ergibt sich aus Adornos Interpretation gesellschaftlicher Zusammenhänge als objektivierten Identitätszwang. Dass Freiheit in diesem Sinne kein Positives oder Gegebenes darstellt, sondern als eine utopische Aussicht verstanden werden muss, wurde bereits oben angesprochen. Wir haben diese Utopie der Freiheit als Versöhnung bestimmt. Versöhnt wäre darin das Subjekt mit seinen Objekten und damit die Möglichkeit zu einer befreiten Gesellschaft im Ganzen gewährleistet. Das durch Widerstand befreite Objekt, das Nichtidentische, wäre darin nicht länger als Widerspruch zum Denken zu verstehen, sondern als deren wesentlicher Inhalt. Doch auch im Subjekt selbst, im Selbst des Menschen, lässt sich eine 238

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Utopie ausmachen. »Ist die Rolle, die von Autonomie verordnete Heteronomie, die jüngste objektive Gestalt unglücklichen Bewußtseins, so ist umgekehrt kein Glück, als wo das Selbst nicht es selbst ist. Stürzt es, unter dem unmäßigen Druck, der auf ihm lastet, als schizophrenes zurück in den Zustand der Dissoziation und Vieldeutigkeit, dem geschichtlich das Subjekt sich entrang, so ist die Auflösung des Subjekts zugleich das ephemere und verurteilte Bild eines möglichen Subjekts. Gebot einmal seine Freiheit dem Mythos Einhalt, so befreite es sich, als vom letzten Mythos, von sich selbst. Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts.« 91 Die Schizophrenie des Subjekts ist in der Verabsolutierung des transzendentalen Subjekts zu suchen, dass sich inmitten der empirischen Welt dem konkreten Menschen einzeichnet und ihn selbst zu sich in ein Zwangsverhältnis setzt. Der Widerstand, eben die Selbstbegrenzung, sowohl des transzendentalen wie auch des empirischen Subjekts, stellt nun eine erste Möglichkeit dar, dieser Schizophrenie zu entkommen. Der Mensch, das Selbst, kann anderes als sich selbst stehen lassen und findet einzig darin aus der fatalen Selbstentzweiung heraus. Doch darf diese Selbstfindung des Subjekts in seiner Selbstbegrenzung nicht als eine lückenlose Einheit mit sich verstanden werden. Im Gegenteil: Das durch den Zwangscharakter der Autonomie zerborstene Subjekt, seine Dissoziation, wird von Adorno wiederum als die spezifische Möglichkeit gedacht, ein glückliches Bewusstsein zu denken. Das Selbst darf, um sich selbst überhaupt gerecht zu werden, eben nicht es selbst sein, d. h. es darf nicht als geschlossene und ontische Struktur verstanden werden – durch sich selbst. Im Folgenden ist zu zeigen, wie diese ›opferlose Nichtidentität des Subjekts‹ zu verstehen ist. Sie hat zum einen den Charakter des Noch-Werdenden, bloß Möglichen, und zum andern den des SichHingebens an die Erfahrung mit seinen Gegenständen. Adorno subvertiert für das Modell der Nichtidentität des Selbst als Mögliches das Konzept des Intelligiblen. »Was an den Menschen als intelligibler Charakter zu denken wäre, ist nicht das Personenhafte an ihnen, sondern wodurch sie von ihrem Dasein sich unterschieden. In der Person erscheint dies Unterschiedene notwendig als Nichtidentisches. Jede menschliche Regung widerspricht der Einheit dessen, der sie hegt; jeder Impuls zum Besseren ist nicht nur, kantisch, Vernunft, sondern vor dieser auch Dummheit. Human sind die Menschen nur dort, 91

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wo sie nicht als Person agieren und gar als solche sich setzen; das Diffuse der Natur, darin sie nicht Person sind, ähnelt der Lineatur eines intelligiblen Wesens, jenes Selbst, das vom Ich erlöst wäre; […] Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte. […] Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst. Mit Fug dürfte unter dem Begriff des Selbst ihre Möglichkeit gedacht werden, und sie steht polemisch gegen die Wirklichkeit des Selbst.« 92

Die Nichtidentität des Subjekts ist sowohl real und als Reales verdrängt unter dem Gebot des Identifikationswillens der Subjekte, als auch noch ausstehend als die Möglichkeit der Menschen sie selbst zu werden. Der von Adorno geprägte Satz, »im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren« 93, gilt auch für das Subjekt selbst. Die in sich selbst divergente Struktur des Selbst, seine Uneinholbarkeit, wird dann zur Schizophrenie, wo das Selbst sich um willen seiner Selbsterhaltung als geschlossene Identität versteht. »Identitätsverlust um der abstrakten Identität, der nackten Selbsterhaltung willen.« 94 Das Subjekt, das als monadologische Struktur angesetzt wird, schließt sich darum von allem Äußeren ab, um dieses sich zu unterwerfen. Dabei verfällt es aber selbst einer Spaltung in sich selbst, es erfährt sich selbst als etwas Negatives, das es zu unterdrücken gilt. Diese schizophrene Struktur zeichnete sich bereits in der oben genannten Spaltung des Empirischen und Transzendentalen inmitten des Empirischen ab. Der Mensch verfehlt sich radikal selbst und nimmt sich eben die Möglichkeit seiner Selbstsetzung, wo er diese Selbstsetzung aus der Unbedingtheit einer abgespaltenen Sphäre der Vernunft bezieht. In der Setzung der Vernunft als Absolutes und Außerzeitliches schreibt sich der Mensch in eine Struktur ein, die ihm zum einen vorgaukelt, unabhängig zu sein, während er sich selbst gerade dadurch zum Objekt eigener Zwangsausübung verdinglicht, um überhaupt Gewalt über das Nichtidentische zu erlangen. Das Selbst verfehlt in seiner monadologischen Struktur sich selbst, da es sich unter der Hand an die Gegenstände verliert, die das Material sei-

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ner Herrschaft darstellen. Autonomie schlägt um in radikale Heteronomie gegenüber dem eigenen Zwang zur Identifikation des Nichtidentischen. Hierbei bekommt Widerstand als Form negativer Freiheit eine genauere Bestimmung. Es ist Widerstand gegenüber dem eigenen Wille zur radikalen Identifikation und damit ein Akt der Befreiung des Nichtidentischen vom Identitätszwang. Und genau darin liegt auch eine Form der Fundierung der Freiheit des Subjekts selbst. Erst, wo das Selbst sich als ein Bedingtes versteht, ist es in der Lage, sich über die Bedingungen seiner selbst zu erheben, sich zu ändern. Das ist die Bedeutung des gewendeten Begriffs des Intelligiblen: Der Mensch, der insoweit schon über sich hinaus ist, als er sich zu der eigenen Bedingtheit verhalten kann und sie nicht als ehern gesetzte stehen lassen muss, sondern eben im Bedingtsein sich zu seinen Bedingungen verhalten kann – und darin die Möglichkeit gewinnt sich selbst und das Bedingungsganze zu verändern. Das macht es aber auch nötig, Vernunft neu zu bestimmen. Sie darf nicht mehr als ein der Natur und empirischen Welt Jenseitiges verstanden werden, sondern muss sich als Bezug zur Natur in der Natur erkennen. 95 »Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur.« 96

Hierbei ist auf den sehr erhellenden Aufsatz von Jürgen Habermas zu verweisen, der den Freiheitsbegriff auf den adornoschen Naturbegriff rückbezieht und sagen kann: »Sich frei fühlen heißt zunächst einmal, etwas Neues anfangen zu können.« Hier wird auf den Charakter der Spontaneität verwiesen, der allerdings selbst in den Naturbegriff rückgewendet wird und damit aus der Autonomiekonstruktion herausfällt. Vgl. Jürgen Habermas, »Ich selber bin ja ein Stück Natur« – Adorno über die Naturverflochtenheit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit, aus: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, Hrsg. Axel Honneth, Frankfurt a. M. 2005, S. 13–40. 96 GS 6, S. 285. 95

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Der Widerstand, den wir als Selbstbegrenzung des Subjekts interpretiert haben, erweist sich nun genauer als eine Selbstbegrenzungsleistung durch Reflexion auf Vernunft. Widerstand ist da im besten kantschen Sinne als Kritik zu verstehen. Die Reflexion der Vernunft erweist die Bedingtheit von Vernunft selbst. »Die Instanz aber, an der der intelligible Charakter befestigt wird, die reine Vernunft, ist selbst ein Werdendes und insofern auch Bedingtes, kein absolut Bedingendes.« 97 Widerstand als Selbstreflexion der Vernunft stellt eben darum wesentlich eine Selbstbegrenzung der Vernunft dar, insofern sie als Bedingtes und Werdendes aus ihrer Absolutsetzung herausgesprengt wird. Darin macht sich das Denken unabhängig vom eigenen Identitätszwang. Dieser negative Begriff der Freiheit als Widerstand in der Selbstreflexion, weist wesentlich zwei Sachverhalte auf: zum ersten die radikale Bedingtheit des Selbst durch Nichtidentisches und zum zweiten seine Charakter als Werdendes. Damit schlägt Widerstand und negative Freiheit in einen positiven Freiheitsbegriff um, der sich zum einen im Begriff der Versöhnung und zum anderen in der Möglichkeit, sich zu verändern, ausweist.

III.3.4.5. Selbstbegrenzung angesichts des Anderen. Adorno und Kierkegaard Der intelligible Charakter wird von Adorno zum Statthalter des neuen Menschen ernannt 98. Gerade in seinem Charakter als Nicht-seiendes kommt ihm eine konstitutionelle Funktion für das Selbst des Menschen zu. Das Selbst des Menschen ist in der utopischen Ausrichtung des neuzeitlichen Denkens, wie wir es bei Kant und Nietzsche versucht haben aufzuzeigen, wesentlich in einer Form der Sehnsucht und der Selbstverfehlung anzutreffen. Das Selbst ist eben wesentlich nicht es selbst. Wir haben gesehen, dass in der kantschen und idealistischen Fassung des Selbst dieser Struktur des Nichts-seins durch eine Selbstsetzung begegnet wird. Bei Nietzsche wird diese Selbstsetzung durch eine Selbstüberwindung modifiziert. Bei Adorno sprachen wir von einer Selbstbegrenzung. Alle drei Formen meinen den Versuch den eskalierenden Selbstverlust des Menschen im Anspruch 97 98

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GS 6, S. 290. vgl. GS 6, S. 294.

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auf den neuen Menschen zu begegnen. Selbstbegrenzung findet seine Grenze in der Freilassung des Nichtidentischen aus dem Identitätszwang, das ihm nun als Anderes gegenübertritt. Das Andere stellt eine grundlegende Grenze des Selbst dar. Dass solche Grenze aber nicht einfache Einschränkung bedeutet, sondern allererst einen wahren Erfahrungs- und Begegnungsraum eröffnet, ließe sich zur Not schon beim dialektischen Ziehvater Adornos, bei Hegel, ablesen. Doch die Grenzstruktur Hegels wird in eine verabsolutierte Selbststruktur des Geistes zurückbezogen, was Adornos Einspruch herausfordert. Bei einem anderen für Adorno maßgeblichen Denker lässt sich die Bedeutung des Anderen für das Selbst und mithin für die Möglichkeit des neuen Menschen konsistent aufweisen. Ich spreche dabei von Kierkegaard. Es soll darum gehen, mit Kierkegaard die Totalität, der gegenüber sich das utopische Denken abzugrenzen hat, als eine Struktur des Selbst zu verdeutlichen. Mit Kierkegaard wird auch Adorno darauf beharren, das Selbst in einem konstitutiven Bezug zu Anderem gegründet zu sehen und damit die sie bestimmende Struktur einer immanenten schlechten Unendlichkeit einzugrenzen. Doch wir werden auch Adornos Kritik am kierkegaardschen Verfahren genauer betrachten müssen, die darin beruht, ihn in ein wiederum mythologisches Verhältnis gegenüber einer »unsichtbaren Macht« zurücktaumeln zu sehen. Das konstitutiv Andere der adornoschen Lehre ist eben keine Macht, sondern das konkret sich entziehende Nichtidentische. Dennoch bleibt der Bezug auf die Verzweiflung als Grundbestimmung des Selbst maßgeblich für Adorno. Erst aus ihr erfährt es die Kraft zur Hoffnung im falschen Ganzen. Dass Kierkegaard das Selbst wesentlich durch Sehnsucht und Selbstverfehlung geprägt sieht, findet seinen Ausdruck im Begriff der Verzweiflung als Grundstruktur des Selbst. Adorno schließt an solche Bestimmung in einer gesellschaftskritischen Wendung an. 99 Ich möchte im Weiteren versuchen, diese kierkegaardsche Konstellation des verzweifelten Selbst auf unseren Kontext zurück zu beziehen. Auf den ersten Blick ist die Suche nach dem neuen Menschen bei Zum Verhältnis von Kierkegaard und Adorno vgl.: Hühn, Lore (2009): Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs. Tübingen. Hermann Deuser, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards, München 1980.

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dem gläubigen Philosophen Kierkegaard nur unterschwellig anzutreffen. Die oben aufgezeichnete Struktur des utopischen Denkens als säkulare Form theologischer Inhalte, findet bei Kierkegaard eben zu keinem expliziten Ausdruck, da sein Denken wesentlich im Anspruch Gottes gestellt bleibt. Dennoch müssen wir uns auf die Form seines gläubigen Denkens einlassen, um die spezifische Verbindung zu Adorno heraus kristallisieren zu können. So sehr Kierkegaard im Anspruch eines theistischen Gottes steht so wenig ist dieser Gott als Grund im kosmologisch-logischen Sinn zu verstehen. Gott ist bei Kierkegaard wesentlich Anspruch und die Form des Menschen, diesem Anspruch zu entsprechen, ist der Zweifel. Daraus ergibt sich die Grundform des Selbst als Verzweiflung. Der Mensch wird auch bei Kierkegaard als noch nicht zu sich selbst gekommen angesehen. Er ist Geist, wie Kierkegaard ohne Umschweife festsetzt. Geist zu sein meint sein Selbst-sein. Das Selbstsein wird wiederum als ein Verhältnis begriffen, und zwar genauer als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Das Selbst setzt den Menschen in ein Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Freiheit und Notwendigkeit, und verhält sich eben zu diesem Verhältnis. 100 Doch eben dieses Selbstverhältnis kam im Menschen bislang nicht zu einer ruhigen Synthese zwischen den Polen der Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit, und »so gesehen ist der Mensch noch kein Selbst« 101. Also finden wir auch bei Kierkegaard den Menschen in seinem Wesen als etwas Ausstehendes vor, als ein Noch-nicht. Dieses Nochnicht des Menschen taucht bei allen utopischen Konzepten der Neuzeit auf und ist wesentlich im Selbstverhältnis des Menschen ausgemacht. Doch im Unterschied zur idealistisch-kantischen Position bzw. der Position Nietzsches ist dieses Selbst des Menschen grundlegend auf ein Anderes zu diesem Selbst bezogen – denn es ist durch ein Anderes gesetzt. 102 Und erst durch den konstitutiven Bezug des Anderen zum Selbst wird das Selbst des Menschen als eine Form der Verzweiflung bestimmbar. Verzweifelt ist das Selbst, das sich nicht bewusst ist, ein Selbst zu sein. Es verbleibt dabei in einem Verhältnis der bloßen Unmittelbarkeit. Wir können diese Form der Verzweiflung als eine Art der Verdrängung betrachten. Das/der Andere des 100 101 102

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Vgl. Kierkegaard, Krankheit zum Tode, Hamburg 2002, S. 13. ebd. vgl. ebd. S. 14.

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Selbst wird in der bloßen Unmittelbarkeit des Selbstseins nicht reflektiert und somit verdrängt. Das bedeutet mithin aber auch, dass das Selbst sich nicht zu sich selbst verhält und damit nicht bei sich selbst ist. Der Mensch verdrängt sich selbst, wo er seine Bedingtheit durch einen Anderen verdrängt und sich in der bloßer Unmittelbarkeit seiner selbst verliert. Diese Verdrängung ist wesentlich ein Selbstverlust, der dem Menschen die spezifische Möglichkeit nimmt, Geist und d. h. Mensch zu sein. Die zweite Form der Verzweiflung dagegen ist sich seines Selbst bewusst. Es hat das Bewusstsein der Abhängigkeit und Bedingtheit vom Anderen – und zwar in der Form der Schwäche (verzweifelt nicht man selbst sein wollen) und des Trotzes (verzweifelt man selbst sein wollen). Gerade weil sich das Selbst bewusst ist, durch ein Anderes gesetzt zu sein, will es um seiner selbst willen, verzweifelt es selbst sein oder nicht es selbst sein. In der Schwäche weist sich das Selbst auch durch eine Unmittelbarkeit aus, allerdings im Gegensatz zur unbewussten Unmittelbarkeit durch eine Unmittelbarkeit mit einer immanenten Reflexion, in der es die Trennung vom Außen bewusst vollzieht. Dieses selbstbewusste, reflektierte Selbst stößt allerdings gerade in der Unendlichkeit des Selbstbezuges auf eine Dimension, die sein Verhältnis zum Außen in Gefahr bringt zu kollabieren. Die unendliche Differenz zwischen Selbst und Außen wird der Schwäche zur Gefahr sich zu verlieren und eben darum versucht es, nicht es selbst zu sein durch eine reflektieret Form der Verdrängung bzw. eine Verdrängung der Reflexion. »Die ganze Frage des Selbst im tieferen Sinn wird zu einer Art blinder Tür im Hintergrund seiner Seele, und dahinter ist nichts. Er übernimmt, was er in seiner Sprache als sein Selbst bezeichnet, das will besagen, jene Fähigkeit, jene Talente usw., die ihm vielleicht gegeben sind, all das übernimmt er jedoch mit der Richtung nach außen, zum Leben, wie es heißt, dem wirklichen, tätigen Leben; mit dem bisschen Reflexion in sich, das er in sich hat, geht er sehr vorsichtig um, er fürchtet, es könnte wieder nach oben kommen, das im Hintergrund.« 103 Die bewusste Unmittelbarkeit oder Schwäche weicht eben gerade darum vor sich selbst zurück, weil es ein Bewusstsein seiner eigenen inneren Unendlichkeit hat, vor der es zurückschreckt angesichts seines Bezugs zum Außen. Aus diesem Grunde verdrängt es sein Selbst in der Rolle der ›Per-

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son‹ 104, die es im Außen einnimmt. Das Selbst flieht vor seiner inneren Unendlichkeit in die stabile Maske seiner Person. Der Mensch sucht in sich selbst seine Verzweiflung aufzuheben durch sich selbst. Doch gerade darin gerät er in ein Missverhältnis zu sich selbst. »Das Missverhältnis der Verzweiflung ist kein einfaches Missverhältnis, sondern ein Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und durch ein Anderes gesetzt ist, so dass sich das Missverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis zugleich im Verhältnis zu jener Macht, die es setzte, unendlich reflektiert.« 105 Das Andere des Selbst wird also gerade in der unendlichen Flucht vor sich selbst reflektiert. Aber auch die Form des Trotzes reflektiert unendlich die Macht, die das Selbst gesetzt hat. Um verzweifelt man selbst sein zu wollen, braucht man das Bewusstsein von einem unendlichen Selbst. Indessen ist dieses unendliche Selbst eigentlich nur die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst. Und dieses Selbst ist es, was der Mensch verzweifelt sein will, indem er das Selbst von jedem Verhältnis zu einer Macht losreißt, die es gesetzt hat, oder es von der Vorstellung losreißt, dass es eine solche Macht gibt.« 106 Hinter dieser Figur des Trotzes verbirgt sich bei Kierkegaard eine Kritik an den Formen idealistischer Freiheitsphilosophie. Der Trotz, sich selbst unbedingt gegenüber seinen Grund setzen zu wollen, meint, ein Anfang sein wollen, sich zum Konstituum des Ganzen seiner selbst zu erklären. Darin sieht Kierkegaard aber letztlich eine Form des Widerspruchs gegen das Dasein. Es ist eben das Dasein, gegen das sich das trotzige Selbst auflehnt, indem es sich selbst diesem als abstrakte Unendlichkeit entgegenhält. Es kann sein Selbst nur dadurch trotzig erhalten, indem es sich gegen eine Befriedung und einen Trost im Dasein versperrt; denn einzig darin bewahrt es in seiner abstrakten Form seine Eigenheit gegenüber Anderem. Diese Form der Verzweiflung ist die reflektierteste und in seiner Reflexion die negativste Form des Selbst. Denn das in sich unendlich reflektierte und abstrahierte Selbst verlöre sich umso gründlicher in seinem Selbstbezug und zerginge ganz in seiner leeren abstrakten Form, wäre solche Reflexion nicht gegen den eigenen Grund gerich-

104 Vgl. ebd. Die Kritik Adornos am kantschen Personenbegriff scheint auch maßgeblich durch Kierkegaard beeinflusst zu sein, bedenken wir den hier erörterten Zusammenhang. 105 Vgl. ebd. S. 15. 106 Ebd. S. 78.

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tet, auf den es sich – wenn auch negativ – so dennoch zurückbezieht. Die Verzweiflung »will nicht einmal im Trotz ihr Selbst von jener Macht loßreißen, die es gesetzt hat, sie will sich ihr zum Trotz aufdrängen, sich ihr auftrotzen.« 107 Verzweiflung wird hier also als eine verdrängende Flucht ins Unmittelbare bzw. in die Rolle der Person (Schwäche) bestimmt und im Weiteren als trotzige Selbstreflexion als Autarkie. In beiden Fällen ist die spezifische Gefahr und zugleich Möglichkeit der Verzweiflung in der Reflexion gelegen, genauer gesagt in der unendlichen Reflexion im Selbstverhältnis. Die verdrängende Verzweiflung ist nämlich gerade durch die Negation aller Reflexion in der Unmittelbarkeit als eine Angst vor dem ›Nichts‹ der Reflexion auf diese bezogen. »Alle Unmittelbarkeit ist trotz ihrer illusorischen Sicherheit und Ruhe Angst, und daher ist ihr ganz konsequent am meisten angst vor nichts« 108. Prüft man die unmittelbare Ruhe des Selbst in seiner Verdrängung durch eine Infragestellung des unmittelbaren Bewusstseins, befragt man das unmittelbare Wissen seiner selbst nach seinem Inhalt, dann bricht die Angst als Grundform der Verdrängung offen aus. »[…], ja, man versetzt die Unmittelbarkeit in die größte Angst, wenn man ihr auf listige Weise unterschiebt, sie wisse wohl selbst, wovon man da rede. Denn das weiß die Unmittelbarkeit freilich nicht; doch niemals fängt die Reflexion sicherer, als wenn sie ihre Schlinge aus nichts bildet, und nie ist die Reflexion mehr sie selbst, als wenn sie – nichts ist. Es braucht eine eminente Reflexion, oder richtiger, es braucht einen großen Glauben, um die Reflexion des Nichts, das heißt die unendliche Reflexion zu ertragen.« 109 Die verdrängende Unmittelbarkeit des Selbst wird von Kierkegaard als eine gerade durch seine Unbewusstheit fatale Form der Verzweiflung angesehen. Die unendliche Reflexion tut sich aber noch klarer in den Formen der Schwäche und des Trotzes kund. Die unendliche Flucht vor sich selbst projiziert die innere Unendlichkeit in eine nie gelingende Personwerdung im Außen (Schwäche), die trotzige Selbstbehauptung schließt sich dagegen in seine innere Reflexion soweit ein, dass sie sich unendlich der Macht entzieht, in der sie einzig Halt finden könnte (Trotz).

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Ebd. 84. Ebd. 28. Ebd. 28.

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»Jede menschliche Existenz, die sich nicht als Geist bewusst ist, oder vor Gott persönlich als Geist bewusst ist, jede menschliche Existenz, die nicht solcherart durchsichtig in Gott gründet, sondern dunkel in etwa abstrakt Universellem […] ruht und aufgeht oder im Dunkel über ihr Selbst ihre Fähigkeit nur als Wirkungskräfte versteht, ohne sich im tieferen Sinn bewusst zu werden, woher sie gekommen sind, fasst ihr Selbst als ein unerklärliches Etwas auf, sofern es nach innen verstanden werden sollte – jede solche Existenz, und wenn sie das Erstaunlichste vollbringt, und wenn sie das ganze Dasein, und wenn sie das Leben ästhetisch noch so intensiv genießt: Jede solche Existenz ist doch Verzweiflung.« 110

Ohne auf die weitere Argumentation Kierkegaards eingehen zu können, kommt es an dieser Stelle darauf an, zu zeigen, inwiefern wir das Selbst des Menschen wesentlich als in einem Anderen gegründet sehen müssen. Bei genauerem Zusehen finden wir den tiefsten Grund der Verzweiflung in allen seinen Formen in der unendlichen Reflexion des Selbstbezuges begründet. Die ewige Reflexion, die Uneinholbarkeit, die sich im Selbstverhältnis ausweist und als Reflexionsform die eigentliche Form schlechter Unendlichkeit im hegelschen Sinne ausmacht, wird als Grundform der Geistigkeit des Menschen verstanden. Doch diese wesentliche Bestimmung des Menschen durch die unendliche Reflexion im Selbst bedeutet zugleich die größte Gefahr der Selbstverfehlung, die sich in den verschiedenen Formen der Verzweiflung kundtut. Und doch basiert solche Unendlichkeit auf dem Bezug zu wahrer Ewigkeit: Geist hat seinen Grund im Angesicht Gottes. Nun käme es im kierkegaardschen Sinne gerade darauf an, die unendliche Reflexion im Selbst dadurch einzugrenzen, zu begründen und in einen Friede mit sich zu bringen, dass sie sich als eine Form der Bezogenheit zu Gott verstünde. Dies macht eine andere und eigentlichere Form eines negativen Selbstverhältnisses aus, denn dann ginge es darum, die unendliche Negativität 111 insofern zu negieren, als ihr ein Positives, nämlich ihr eigentlicher Grund, entgegengehalten wird; erst dadurch wäre sie aus ihrem unendlichen Oszillieren zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, zwischen Freiheit und Notwendigkeit in eine Ruhe zu bringen, erst dadurch wäre der Verzweiflung Einhalt zu gebieten. Das Selbst ist als ein unendliches Verhältnis zu sich selbst ein innere Abgrund des Menschen, der erst durch in der glau-

Ebd. 52. »Die Verzweiflung selbst ist eine Negativität, die Unwissenheit über sie eine neue Negativität.« Ebd. S. 49. 110 111

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benden Anerkennung seiner konstitutive Bezogenheit zu seinem begründenden Anderen zu einem freien und in sich ruhenden Selbst geläutert werden kann. Kommen wir nun zu Adorno zurück. 112 Die Bedeutung Kierkegaards für Adorno ist nicht zu unterschätzen. Am kierkegaardschen Blick auf die unendliche Verfehlungsform des Selbst scheint Adornos Interpretation totalitärer Strukturen geschult zu sein: Es ist ein stetes Selbstverhältnis, das sich in die Formen bloßer Unmittelbarkeit verflüchtigt und dort bewusstlos unendlich verzweifelt. Dem entspricht bei Adorno die Kritik an einer positivistischen Position des Denkens, die gerade um Willen ihrer Reduktion aufs Faktische, alles in den Bannkreis des Bewältigbaren rückt und mithin sich selbst noch als faktisches Material der Zurichtung versteht. Dieser Haltung mangelt nach Adorno der Bezug zu einem emphatischen Begriff der Wahrheit. Oder es meint die Form bewusster Verzweiflung als Schwäche, nicht selbst sein zu wollen. Sie offenbart sich sowohl Kierkegaard als auch Adorno im Konzept der Person, in der festen und begrenzten Rolle im gesellschaftlichen Umgang, die es erlaubt ein Jemand zu sein für andere und darin sich selbst umso gründlicher zu verfehlen. Die dritte Form der Verzweiflung, der Trotz, entspricht bis in die Details der von Adorno kritisierten vermeintlichen Souveränität des Subjekts, die dem modernen Autonomiekonzept entspringt. Das autonome Subjekt, das sich unbedingt setzt gegenüber seiner Bedingtheit im Endlichen, schwingt sich auf zur Allmacht und gerät darin in die tiefste Verzweiflung. Diese Strukturen des Selbst sind die maßgeblichen Momente falscher Totalität, denen sich utopisches Denken entgegen zu setzten hat. So weit sich Adorno auch der Kritik des Selbstverhältnisses bei Kierkegaard anschließt, so sehr kritisiert er Kierkegaard dennoch an einem für uns entscheidenden Punkt. Adorno sieht Kierkegaards Schritt in den Glauben, die sich unsichtbare Gründung des uferlosen Selbst in der sie setzenden Macht, nicht als eine Form der Aussöhnung an, sondern vielmehr als die einer Selbst-Opferung. Darin macht er eine Form des Rückfalls der kierkegaardschen Philosophie

112 Dieser knappe Ausflug in die Philosophie Kierkegaards ist von der Interpretation Theunissens (Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung.) getragen, die in ihrer negativistischen Lesart einen systematischen Vergleich der beiden Autoren auch über die Auseinandersetzung Adornos mit Kierkegaard, die von einer wohl zu einseitigen Abgrenzung begleitet ist, gewährleistet.

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in Mythologie aus. Das verzweifelte Selbst fällt zurück hinter sich, wo es sich als Opfer auslöst in der eigenen Vernichtung. In den Augen Adornos verfällt Kierkegaard wiederum dem grundlegenden Schuldverhältnis, dem er sich zu entziehen trachtete. Wir haben bereits bei der Behandlung Nietzsches gesehen, dass das Selbstverhältnis gerade im christlichen Umfeld als ein ökonomisches Verhältnis der Schuld begriffen werden kann, eines, das nach Auslösung und Opferung verlangt, das sich seiner selbst dadurch bemächtigt, dass es sich selbst universal in eine nie endende Abzahlung der Schuld stellt. Und Adorno wendet eben diese nietzschesche Kritik gegen Kierkegaard. »Seine Dialektik nun erscheint bei Kierkegaard gebunden an die Totalität von »Existenz«, die sie als ganze entsühnt durch Vernichtung. Ihr Anspruch auf Ganzheit haftet aber am Herrschaftsanspruch des absoluten Geistes. Verschwindet dieser, dann ist der Leidenschaft andere dialektische Gestalt gegeben als die von Sühne und Vernichtung im Ganzen. Dann darf sie in ihren Regungen, nach dem Rhythmus, in welchem sie als einzelne begegnen, und ohne dem starren Oberbegriff zu gehorchen, sich erfüllen, und die Schritte der Erfüllung verwandeln ihr sich in solche der Versöhnung. Es ist Kierkegaards zweiter Entwurf von Dialektik, der des Mythischen selber, der im Innersten seiner Philosophie wieder erwacht und gegen eine Opfermythologie sich wendet, die ihn »abschneiden«, doch nicht in ihre Paradoxien aufnehmen konnte. Kennt Leidenschaft als allvermögende, unendliche, unersättliche Naturmacht bloß ihren eigenen Untergang – wo immer sie im Endlichen sich stillt, verliert Verzweiflung, zuvor deren dämonische Totalität, ihre Macht über Leidenschaft und die dialektische Krankheit zum Tode wird versetzt in die Kraft zu versöhnt-geschichtlichem Leben. Es ist nicht, wie Kierkegaards Doktrin von totaler Sünde und totalem Sühnopfer annimmt, eine »oberflächliche Betrachtung«, die »die Lehre von der Versöhnung den qualitativen Unterschied zwischen Heidentum und Christentum« bilden läßt. Versöhnung ist die unmerkliche Geste, in der die schuldhafte Natur als geschaffene geschichtlich sich erneut; unversöhnt bleibt sie verfallen noch in ihrer größten, der des Opfers. Von bloßer Naturreligion unterscheidet sich Christentum im Namen der Versöhnung und nicht im namenlosen Vollzug des Paradoxons. Was Kierkegaard, mythisch, am Christentum versäumt, dessen wird er, christlicher in Wahrheit, am Mythos selber gewahr, der nordischen ›Sage von Agnete und dem Wassernixen‹, die er in ›Furcht und Zittern‹ erzählt, abwandelt und kommentiert. Denn hier ist der dialektische Übergang von Leidenschaft in Versöhnung wenn schon nicht als erfüllt so doch als opferlos verstanden.« 113

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Was Kierkegaard laut Adorno am Christentum versäumt, ist eben die Idee einer Überwindung einer ökonomisch verstanden Schuld durch eine opferlosen Versöhnung. Diese ist nur marginal aufbehalten im Übergang von Leidenschaft in Versöhnung, wie sie von Kierkegaard in der Sage von Agnete und dem Wassernixen aufgezeichnet wird. Und doch will Adorno eben an diesem Punkt festhalten und ihn in eigener Sache vorantreiben. Das Programm negativ-utopischen Denkens ist die opferlose Versöhnung. Und das mein nicht zuletzt ein versöhnt-geschichtliches Leben, eine Aussöhnung sowohl mit Natur als auch mit den geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen des Menschen. Dass damit keine Versöhnung mit dem status quo gemeint sein kann, ergibt sich schon allein daraus, dass allererst der Herrschaftsanspruch des absoluten Geistes zu brechen sei. Negativutopisches Denken hat diesen Anspruch zu brechen und darin sich auf eine wesentliche Veränderung im Ganzen zu beziehen, auf die Versöhnung. Ich habe bereits oben darauf aufmerksam gemacht, dass auch für Kierkegaard gelten muss, dass der Mensch wesentlich nicht ist und in seiner ewigen Selbstverfehlung allererst zu sich finden müsse. Darin teilt er das utopische Motiv des Nochnicht des Menschen. Doch – zumindest für Adorno – steht fest, dass diese Selbstfindung bei dem Dänen letztlich nur noch als eine Selbstaufgabe begriffen wird, als eine Vernichtung, um sich im Schoß der sie setzenden Macht wieder greifbar zu machen. Die unendliche Reflexion schlägt in ihrer Aufgabe um in einen Untergang im Ewigen. Versöhnung hieße dagegen, im Selbstsein dem endlichen Anderen frei begegnen zu können. Sie wäre nicht jenseits von Natur und Geschichte anzusiedeln, sondern meint vielmehr eine Versöhnung von Subjekt und Objekt in ihrer Endlichkeit. Wir müssen darum stets darauf bedacht sein, dass Adorno die kierkegaardsche Betonung des Gesetzseins durch ein Anderes keineswegs aufgibt, sondern gerade darin emphatisch an ihn anschließt. Doch solches Anderes ist für Adorno in keiner Form mehr als ›unsichtbare Macht‹ zu begreifen, sondern meint das Konkrete, Nichtidentische, nach dem uns unsere Leidenschaft drängt. Dieses konkrete Nichtidentische, das hier an die Stelle der unsichtbaren Macht tritt, ist gleichwohl unsichtbar in der Hinsicht, dass es nicht im Begriff aufgeht und sich in diesem Sinne unendlich entzieht; allerdings meint es nicht selbst das Ewige, nicht Gott, sondern vielmehr ein konkretes Endliches, das die Beziehung der Unendlichkeit durch die Differenz stiftet, insofern sie als Differenz belassen bleibt. Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Diese Differenz selbst nimmt hier die Stellung einer gründenden und haltgebenden Macht ein, die sich gleichwohl als ein Verhältnis wechselseitiger Transzendierung vollzieht. Doch auch der theologische Gehalt der kierkegaardschen Konzeption wird von Adorno in gewandelter Gestalt aufgenommen. Mit der Versöhnung ist ein wesentlich christliches und jüdisches Element des Denkens aufgerufen. Das Vermögen sich die Utopie vorzustellen, ist für Adorno nicht bloß durch die Bilderlosigkeit des Unverwirklichten verbaut, sondern allein schon durch die ›Unvorstellbarkeit der Verzweiflung‹, die wir als Bestimmung von Selbst und Totalität ausgemacht haben. Gerade aus dieser Unvorstellbarkeit bezieht das negativ-utopische Denken Adornos aber seine wesentliche Kraft zur Hoffnung, ohne die Wahrheit gar nicht zu denken wäre. »Wenn aber Phantasie es nicht vermag, das letzte Bild der Verzweiflung konkret zu fassen – so wie in Poes Erzählung von der Grube und dem Pendel das entsetzlichste Geheimnis der Grube nicht zur Darstellung gelangt –, dann ist ihr Unvermögen nicht Schwäche sondern Stärke; das Teil von Versöhnung, das verschwindend in ihr erscheint, reicht hin, Verzweiflung ins Wesenlose aufzulösen, während Existenz unaufhaltsam dieser zustürzt. Die Unvorstellbarkeit von Verzweiflung durch Phantasie ist deren Bürgschaft für Hoffnung. In Phantasie übersteigt Natur sich selber; Natur, aus deren Trieb sie kommt; Natur, die in ihr sich anschaut; Natur, die in der geringsten Versetzung durch Phantasie als gerettete sich darbietet. In Versetzung: denn Phantasie ist nicht Anschauung, die das Seiende beläßt; anschauend greift sie unvermerkt ins Seiende ein als Vollzug von dessen Anordnung zum Bilde.« 114

Das Unvermögen der Phantasie, ihre Stärke, gibt uns das wesentliche Charakteristikum des utopischen Denkens. Sie stellt sich unmittelbar in die Ohnmacht und erkennt diese Ohnmacht selbst wiederum als scheinhaft. Darin vermag es die Kraft zur radikalen Kritik zu gewinnen. Um hier aber noch einmal das Motiv der Selbstbegrenzung stark zu machen, in dem diese Konzeption der Ermächtigung in Ohnmacht wurzelt, soll wiederum auf das Motiv des Begründetseins im Anderen zurückgekommen werden. Denn gerade hierin ist eine spezifische Spannung zu Kierkegaard auszumachen. Einerseits schließt Adorno gerade hierin an seinen dänischen Ziehvater an und verfolgt einen Ausbruch aus der ewigen Selbstverfehlung des Selbst, andererseits 114

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ist jedoch gerade darin auch der von ihm so vehement kritisierte Sprung und Zurückfall in die mythische Logik des Opfers zu suchen. In einem sehr erhellenden Aufsatz zum Verhältnis von Adorno und Kierkegaard nehmen Lore Hühn und Philipp Schwab zu dieser Problematik Stellung. Hier wird darauf verwiesen, dass Adorno nicht weniger als Kierkegaard auf ein Moment rekurriert, das dem Sprung in den Glauben zum verwechseln ähnlich zu sein scheint. Es ist das Moment der immanenten Transzendenz, des Umschlags radikaler, immanenter Kritik hin zu einer Selbsttranszendierung des Denkens im Bezug zum Nichtidentischen. »Aus der Sicht Kierkegaards könnte man geradezu provoziert sein, diesen Verdacht zu äußern: Wem zur Gewissheit geworden ist, dass der »Vollzug der immanenten Dialektik […] den Zug hat, sich zu transzendieren« (GS 6: 183), ja dass eben diese Begriffsdialektik nur hartnäckig genug in paradox zugespitzten Konstellationen gegen die ihr eigenen Grenzen anrennen muss, um aus dem Höchstmaß aporetischer Dichte unweigerlich die produktiven Funken einer (Selbst-)Transzendierung zu schlagen, – derjenige muss sich doch aufs Glauben und philosophische Hoffen recht gut verstehen; – so gut jedenfalls, dass er förmlich den Verdacht auf sich zieht, mit gewaltigen metaphysischen Hypotheken zu arbeiten, welche denen des Kopenhageners in nichts nachstehen dürften, zumindest – vorsichtiger formuliert – strukturell mit ihnen wohl verwandt sind.« 115

Damit ist das Kernthema dieser Arbeit angesprochen, das Verhältnis von Negativität und Utopie. Der These von der Verwandtschaft von Kierkegaard und Adorno schließe ich mich in diesem Punkt, wie oben aufgewiesen, an. Doch gilt es hier auch einem Missverständnis vorzubeugen, das sich anhand der Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Anderen (Nichtidentischen) bei Adorno klären lässt. Denn die Selbsttranszendierung in der Immanenz meint kein unhinterfragtes Vertrauen auf die Kraft des aporetischen Denkens, sich zu übersteigen, sondern ist von Anbeginn getragen durch die reale Bezogenheit auf ein emphatisch Anderes, das unter dem Titel des Nichtidentischen firmiert. ›Denken ist immer Denken von etwas‹, kann Adorno darum ohne Gewissensnöte äußern, da er selbst das selbstbezügliche Denken letztlich auf eine Sehnsucht nach dem Anderen in sich selbst zurückführt. Sosehr nun das Selbst bei Kierkegaard im 115 Lore Hühn und Philipp Schwab, Intermittenz und ästhetische Konstruktion: Kierkegaard, aus: Adorno-Handbuch, Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan MüllerDoohm (Hrsg.), Stuttgart 2011, S. 327.

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Anderen gegründet ist und sich ihm im Sprung in den Glauben zuwenden kann, sosehr ist das Denken bei Adorno je schon gegründet in seiner Bezogenheit auf das Andere des Denkens. Sich diesem zu zuzuwenden, bedarf des Denkens gegen das Denken, des aporetischen Denkens, durch das sich das Denken seiner Grenze versichert, indem es dagegen ›anrennt‹. Darin gewinnt es seinen Grund und die Möglichkeit einer Befriedung seines Selbst. Adorno vertraut also nicht einfach auf die Möglichkeit des aporetischen Denkens, sich selbst zu transzendieren, sondern er sieht die Aporie als die lebendige Grundlage des Denkens in seiner konstitutiven Bezogenheit auf das radikal Andere. Man könnte sagen, gerade dort, wo das Denken radikal aporetisch verfährt, vollzieht es bereits seine Transzendierung in der Anerkennung seiner Grenze. Dort allerdings, wo das Denken nur sich selbst wiederentdeckt, verdeckt es die grundlegende Transzendenzfähigkeit des Denkens in seinem Bezug zum Nichtidentischen durch eine – eben nicht Selbsttranszendierung, sondern – Selbsttotalisierung. Der Utopos des Denkens, das Nichtidentische, liegt darum in der Immanenz, da es sowohl dem Denken als Utopie immanent ist, als auch real weltlich zu erfahren ist durch Leid und metaphysische Erfahrungen. Es bedarf dann für die Transzendenz aus der aporetischen Verdichtung heraus keiner metaphysischen Hintergrundannahmen, sondern vielmehr der Wachheit gegenüber den konkreten Transzendenzverhältnissen, die einzig durch die Blindheit verabsolutierter Subjektivität verschattet sind. Diese real-ontische Transzendenz rückt Adorno in eine kaum zu übersehende Nähe zur Philosophie des radikal Anderen bei Levinas. Adornos Kritik an Kierkegaard gilt demnach weniger dem Bezug zum radikal Anderen, als vielmehr der Art sich ihr zuzuwenden, die ihm als eine Opferung des Denkens erscheint, anstatt es opferlos mit sich selbst im Anspruch des Anderen zu versöhnen.

III.3.4.6. Schuld und utopischer Anspruch »Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie die Freiheit ein Werdendes, kein Seiendes. Er wäre verraten, sobald er dem Seienden durch Deskription, auch die vorsichtigste, einverleibt würde. Im richtigen Zustand wäre alles, wie in dem jüdischen Theologumenon, nur um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt so sich vorstellen, wie es dann wäre. Trotzdem ist vom intelligiblen Charakter nur insofern zu

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reden, wie er nicht abstrakt und ohnmächtig über dem Seienden schwebt, sondern in dessen schuldhaften Zusammenhang, und von ihm gezeitigt, stets real aufgeht.« 116

Die Wirklichkeit wird bei Kant dem Vermögen nach (und bei Hegel der Realität nach) als vernünftig bestimmt. 117 Adorno sieht dagegen eine Ermöglichung vernünftiger Praxis durch unbedingte Ideen als verfehlt an. Die Möglichkeit einer »guten Welt« wie sie durch eine vernünftige Praxis gegeben schien, erscheint in der realen Verfassung der Welt verwehrt, die einem Zusammenhang des Schlechten darstellt, der sich in jedem Willensakt, gleich ob gut oder böse, reproduziert. »Das Übel ist nicht, dass freie Menschen radikal böse handeln, so wie über alles von Kant vorgestellte Maß hinaus böse gehandelt wird, sondern dass noch keine Welt ist, in der sie, wie Brecht aufblitzt, nicht mehr böse zu sein brauchten. Das Böse wäre demnach ihre eigen Unfreiheit; was Böses geschieht, käme aus ihr.« 118 Die Ermöglichung einer vernünftigen Einrichtung der Welt durch Ideen wurzelt bei Kant darin, dass der Menschen Teil hat an einem mundus intelligibilis, der einen Akt der Freiheit allererst im Begriff der Autonomie gewährleistet. Wird aber die Autonomie selbst als Strukturmoment von Unfreiheit entziffert, gilt es die Möglichkeit von Freiheit allererst zu gewinnen. Freiheit ist kein Seiendes und wird selbst zu einem Zwang, wo sie als solche angesehen wird, sondern ein Werdendes. »Tatsächlich basiert die aporetische Konstruktion der Freiheit nicht auf dem Noumenalen sondern auf dem Phänomenalen. Dort lässt jene Gegebenheit des Sittengesetzes sich beobachten, durch welche Kant Freiheit trotz allem als ein Daseiendes verbrieft glaubt. Gegebenheit indessen ist, worauf das Wort anspielt, das Gegenteil von Freiheit, nackter Zwang, ausgeübt in Raum und Zeit.« 119

In der geschichtlichen Wirklichkeit erweist sich das Freiheitsprojekt des Sittengesetztes als gescheitert und dieses Scheitern verwandelt den kategorischen Imperativ: »Hitler hat den Menschen im Stande der Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: GS 6, S. 294. So jedenfalls interpretiert Adorno Kant, wenn er Kant folgendermaßen paraphrasiert: »Durch den Willen verschaffe Vernunft sich Realität, ungebunden durchs wie immer geartete Material.« (GS 6, S, 226). 118 GS 6, S. 218. 119 GS 6, S. 152 f. 116 117

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ihr denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen sein Begründen wie einst die Gegebenheit des Kantischen.« 120 Der Imperativ hält sich in gewissem Sinne durch, allerdings in verkehrter Form: Er eröffnet keine vernünftige und gute Praxis durch den Bezug auf das allgemeine Sittengesetz, sondern entnimmt der unvernünftigen schlechten Realität die Forderung danach, dass diese schlechte Realität ein Ende nehmen muss; dass die Möglichkeit einer Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit allererst gewonnen werden soll, wohingegen diese Möglichkeit im Sittengesetz bereits als gegeben erscheint. Die Forderung nach einem Ende der schlechten Realität drückt sich in dem neuen kategorischen Imperativ insofern aus, als dass das Verdikt einer Wiederholung Auschwitz’ zugleich ein Ende der ewigen Wiederkehr des Immergleichen fordert, als welche die reale Menschengeschichte sich darstellt. Denn Auschwitz ist nicht bloß als ein singuläres Ereignis zu verstehen, sondern als integraler Bestandteil der Unheilsgeschichte, als welche die Dialektik der Aufklärung verstanden werden muss. Diese stellt die gesamte abendländische Geschichte und Kultur in einen Verhängniszusammenhang. »Der Prozeß, durch den sich Metaphysik unaufhaltsam dorthin sich verzog, wogegen sie einmal konzipiert war, hat seinen Fluchtpunkt erreicht.« 121 Macht als Prinzip stellt alles und Jegliches in einen Verhängniszusammenhang, der sich der Forderung nach einer vernünftigen Einrichtung der Welt entgegenstellt. Das Unbedingte als Forderung der Vernunft in der Praxis (das Sollen im Sittengesetz), wird für Adorno zu der utopischen Forderung, den Zusammenhang, der alles in ein bloßes Bedingungsverhältnis setzt, welches das Falsche reproduziert, aufzusprengen. Dies spricht sich aus in der Fassung der Ideen als »negative Zeichen« 122. An diesem Begriff lässt sich der grundlegende Unterschied, die Wendung, aufzeigen, die das utopische Konzept von Kritik, wie es bei Adorno aufscheint, gegenüber der kantschen Philosophie ausmacht. Kants Bezug auf eine vernünftige Praxis steht bereits im Modus der Möglichkeit. Durch die in der erkenntnistheoretischen Kritik gewonnene Möglichkeit der Denkbarkeit des Unbedingten, wird das Unbedingte in den Postulaten der praktischen Vernunft selbst als ge120 121 122

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GS 6, S. 358. GS 6, S. 358. GS 6, S. 153.

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gebene Möglichkeiten einer veränderten, sprich vernünftigen, Praxis begriffen. Dem Mensch ist durch die Einsicht in die Notwendigkeit der Ideen für eine vernünftige Praxis bereits die Möglichkeit zu einer vernünftigen Praxis gegeben. Die Veränderung der Welt hin zu einer wahren Menschheit hat bereits begonnen, wo die Ideen in ihrer Notwendigkeit begriffen sind. In diesem Sinne ist die kantsche Philosophie ausdrücklich nicht utopisch, sondern sieht sich bereits in Besitz dessen, was es aus sich heraus bloß noch zu entfalten hätte. 123 Der Konflikt zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis, beruht bei Kant auf der Unterscheidung von empirischem Einzelbewusstsein und der intelligiblen Sphäre reiner Vernunft. Der empirische Einzelne wird durch die Einsicht in das Sittengesetz zum Vollzugsmoment der Verwirklichung von Vernunft. Demgegenüber bleiben bei Adorno die Ideen einer vernünftigen Praxis negativ. Man könnte sagen, hier dreht sich das Verhältnis von Theorie und Praxis um: Wo bei Kant die Ideen allererst in der Praxis zu positiven Bestimmungen gelangen und sich der Sphäre bloßer Denkbarkeit entwinden, indem sie sich als Soll-Gesetze verwirklichen, da erweisen sich bei Adorno gerade in der Praxis diese Ideen als negativ. In der Scheidung zwischen empirischem Einzelbewusstsein und intelligibler Sphäre der Allgemeinheit liegt selbst ein Vollzugsmoment dessen, was die Verwirklichung der Ideen einer vernünftigen Praxis verwehrt. Nicht eine vernünftige Wirklichkeit entfaltete sich durch den Gebrauch der Vernunft im Einzelnen, sondern die Wirklichkeit stellt das Scheitern der Ideen der Vernunft vor Augen. Doch in dem Begriff der »negativen Zeichen« scheint auch ein »positiver Begriff« dieser negativ bestimmten Ideen auf: Als negative Zeichen stellen sie zugleich einen Verweis dar. Wo das Scheitern der Ideen bewusst wird, erweist sich erst die Falschheit der Wirklichkeit. Durch die Negativität der Ideen in der Praxis, in der Reflexion auf ihre Unmöglichkeit und Unwirklichkeit, wird auf neuer Ebene erst das wieder denkbar, was eigentlich sein soll. Der aufklärerische Anspruch der Ideen blieb solange verborgen unter dem Schein der Notwendigkeit einer Praxis des Zwangs bis deren Widerspruch zu dem, was sein soll, bewusst gemacht wurde, d. h. bis die Negativität der Ideen erfahren worden ist. Erst im Bewusstsein des Scheiterns der 123 Adorno bezeichnet dieses Moment als die »Faktizität des Sittengesetzes«, die letztlich selbst dem Anspruch auf Autonomie widerspricht. Vgl. GS 6, S. 267 f.

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Ideen in der Praxis wird deren eigentlicher Gehalt wieder fokussierbar. Die Ideen werden zu Zeichen dessen, was sein soll und nicht ist oder je war; sie werden in dieser negativen Fassung utopisch. Die Kennzeichnung Adornos als utopischen Denker in der Abgrenzung – und gleichwohl im Horizont – von der kantischen Philosophie lässt sich deutlicher machen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Kritik der praktischen Philosophie Kants durch Adorno von Statten geht. Seine Kritik richtet sich gegen die Bestimmung der Freiheit im Begriff der Autonomie. »Die darin implizierte absolute Autonomie des Willens wäre soviel wie die absolute Herrschaft über die innere Natur. […] Ihre Abstraktheit ist inhaltlich, weil sie vom Subjekt ausscheidet, was einem Begriff nicht entspricht. […] Aber die Ehre, welche Kant der Freiheit angedeihen lässt, indem er sie von allem sie Beeinträchtigenden reinigen möchte, verurteilt zugleich prinzipiell die Person zur Unfreiheit.« 124 Demgegenüber bezieht sich Adorno explizit auf Kants Freiheitsphilosophie, um anhand der Idee der »Freiheit als Grenzwert« 125, als negatives Zeichen, am Ideal einer Freiheit jenseits der Autonomie fest zu halten. In diesem Sinne wird die Heteronomie positiv umgedeutet als »Affinität« 126, die die Beziehungen der von einander Bedingten umdeutet als ein – zumindest potentiell – »versöhntes Leben von Freien« 127. Hinsichtlich der negativen Verfassung von Kritik als Ermöglichungsgrund der Bezugnahme auf die Idee der Freiheit im utopischen Sinn, bedarf es aber auch einer negativen Verhaltensweise, um diese Aussicht zu gewinnen. Diese sieht Adorno im Begriff des Gewissens gegeben. Das Gewissen wird sowohl als verinnerlichter gesellschaftlicher Zwang (1. Negatives) betrachtet als auch als das Potential des Widerstandes gegen diesen (2. Negatives). »Vielmehr reift in der Verinnerlichung gesellschaftlichen Zwangs zum Gewissen mit dem Widerstand gegen die gesellschaftliche Instanz, der jene am eigenen Prinzip kritisch misst, ein Potential heran, das des Zwangs ledig wäre.« 128 Das Gewissen ist hier als eine Leidensstruktur gedacht. Der transzendente Charakter der Ideen hat seine Fruchtbarkeit darin, sich dem Bannkreis des Tatsächlichen zu entziehen und damit dem leidgeplagten Gewissen die

124 125 126 127 128

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GS 6, S. 253. GS 6, S. 271. GS 6, S. 267. GS 6, S. 271. GS 6, S. 271.

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Heimat vor Augen zu führen, auf die es in seiner Ruhelosigkeit gerichtet zu sein scheint. Das Gewissen selbst hat in der Welt keinen Ort und bleibt darum, wo es bewusst gemacht wird, utopisch. »Die das Subjekt transzendierenden Postulate der praktischen Vernunft, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, implizieren Kritik am kategorischen Imperativ, der reinen subjektiven Vernunft. Ohne jene Postulate könnte es gar nicht gedacht werden, wie sehr auch Kant das Gegenteil beteuert; ohne Hoffnung ist kein Gutes.« 129 Von hier aus versteht sich die enge Bindung Adornos an Kants Moralphilosophie besser. Die Kritik der Kritik, das radikal negative Verfahren Adornos, erschließt sich die metaphysischen Begriffe neu, es macht sie zu radikal negativen Begriffen, die ihren Gehalt nur als utopische entfalten. Die Metaphysikkritik Kants erlaubt es Adorno, sich auf das Unbedingte als utopischen Inhalt rückzubeziehen. Diese negativ-utopische Auslegung der metaphysischen Fragen entkleidet die Welt vom Schein ihrer Notwendigkeit und eröffnet dadurch die Möglichkeit zur Veränderung. Die Frage nach den Ideen der Metaphysik gerät der negativen-utopischen Interpretation zum Sprengsatz, das Kontinuum des geschichtlich Immergleichen aufzubrechen. Die metaphysischen Begriffe verlieren als negative ihren Zwangscharakter und werden zu Versprechen, die die Tradition wohl hörte, aber nie vernahm. Ein Offenheit gegenüber dem, was allererst sein soll, macht für Adorno den Subtext der Philosophiegeschichte aus; er denkt die Metaphysik nicht nach der Wahrheit, die sie erreicht zu haben vermeint, sondern nach der, auf die sie hofft und den Menschen verspricht. Metaphysik als solches Organon der Hoffnung bleibt für Adorno der Raum, aus dem einzig noch eine Option zur Veränderung zu entwickeln sei. Darin liegt für Adorno das Potential des intelligiblen Charakters, der eingebunden in den Schuldzusammenhang und als Vollzugsmoment desselben diesem doch zugleich widerspricht durch die eigene aporetische Verfassung. Als dieser lebendige Widerspruch des Intelligiblen im Empirischen, weist der intelligible Charakter über den Zwangszusammenhang hinaus und stellt damit ein utopisches Freiheitsmoment inmitten des Zwangs dar. Im intelligiblen Charakter ist das Versprechen des »richtigen Menschen« 130 aufbewahrt. Es überrascht den metaphysikkritischen Leser, dass Adorno hier nicht bei der Verteidigung des Einzelnen 129 130

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und der Person gegenüber dem Allgemeinen ansetzt, sondern vielmehr das Allgemeine und die intelligible Sphäre gegenüber dem »ethischen Personalismus« 131 in Front bringt. »Sowenig der Begriff eines richtigen Menschen vorweggenommen werden kann, sowenig gliche er der Person, dem geweihten Duplikat ihrer eigenen Selbsterhaltung.« 132 Denn wo die Person ins Zentrum der ethischen Sorge gerät und dabei aus dem Allgemeinen herausgebrochen wird, mit dem es substantiell vermittelt ist, wird es zur bloßen Spielmarke der Kräfte, die die Wirklichkeit im Anschein der Notwendigkeit prägt, des Allgemeinen als Zusammenhang des Falschen. »Ist diese einmal vollkommen vom Allgemeinen losgerissen, so vermag sie auch kein Allgemeines zu konstituieren; es wird dann insgeheim von bestehenden Formen der Herrschaft bezogen.« 133 Doch gerade im intelligiblen Charakter, der Sphäre, die dem empirischen Menschen die Allgemeinheit der Vernunft zugänglich macht, decheffriert Adorno ein Vermögen, indem sich die Einzelnen auf ein versöhntes Ganzes beziehen können. »Was an den Menschen als intellibigler Charakter zu denken wäre, ist nicht das Personhafte an ihnen, sondern wodurch sie von ihrem Dasein sich unterscheiden. In der Person erscheint dies Unterscheidende notwendig als Nichtidentisches.« 134 Diese Umdeutung des intelligiblen Charakters als das Unterscheidende zum eigenen Dasein, die Deutung des Vernunftvermögens als das Unterscheidungsvermögen in sich selbst, bricht die Starre des Personenbegriffs auf. Das »Selbst« ist nicht mehr bloß jene »unerschütterliche Einheit« 135, die zur Herrschaftsform degeneriert, sondern wäre ein in sich Unterscheidendes, nicht Festgestelltes, ein Begriff der Möglichkeiten. »Mit Fug dürfte unter dem Begriff des Selbst ihre [der Menschen] Möglichkeit gedacht werden, und sie steht polemisch gegen die Wirklichkeit des Selbst.« 136 Und in diesem Sinne kann Adorno auch davon sprechen, dass »die Menschen, keiner ausgenommen, überhaupt noch nicht sie selbst sind.« 137 Dieses Nicht-sich-selbst-sein des Menschen, das Nichtidentische in der Person, wird nun gerade nicht als Produkt einer Entfremdung 131 132 133 134 135 136 137

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Ebd. Ebd. GS 6, S. 272/273. GS 6, S. 273. GS 6, S. 273. GS 6, S. 274. Ebd.

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gedacht, nicht als das Produkt einer einst geschehene Entfremdung von sich selbst, sondern als ein Niemals-bei-sich-selbst-gewesensein. Doch gerade darin wird der richtige Mensch zu dem, was allererst sein soll, zum offenen und zur Idee fähigen Wesen. Der richtige Mensch, der mit dem Allgemeinen versöhnte Mensch, ist nicht nur ein Nochnie, sondern gerade als ein solches ein möglicher, ein Seinsollender. Der Mensch wird sich durch den intelligiblen Charakter seiner Andersheit zu sich selbst bewusst, er wird zum Nichtidentischen seiner selbst und gerade damit zu einem Werdenden, dem sich die Möglichkeit zur radikalen Veränderung eröffnet. Moralphilosophie wird so radikal utopisch verstanden. »Auch im Moralischen ist Identität nicht abstrakt zu negieren, sondern im Widerstand zu bewahren, wenn sie je in ihr Anderes übergehen soll. Der gegenwärtige Zustand ist zerstörend: Identitätsverlust um der absoluten Identität, der nackten Selbsterhaltung willen.« 138 Der intelligible Charakter wird dem Menschen nun selbst zu einem Nicht-Ort, zu einem utopischen Standpunkt. Dies jedoch nicht durch eine Erhebung über die Aporien der Freiheitsantinomie, sondern vielmehr als Vollzug des nicht zu lösenden Widerspruchs im erfahrenden Selbst. »Der Widerspruch von Freiheit und Determinismus ist nicht, wie das Selbstverständnis der Vernunftkritik es möchte, einer zwischen den theoretischen Positionen des Dogmatismus und Skeptizismus, sondern einer der Selbsterfahrung der Subjekte, bald frei, bald unfrei.« 139 Die Ortlosigkeit des utopischen Gehalts des intelligiblen Charakters ist nicht die einer reinen Transzendenz, sondern die negative Vermittlung radikaler Immanenz mit Transzendenz. Das Selbst kann sich selbst weder durch eine intelligible Sphäre jenseits der Erscheinungswelt begründen, noch geht es im Bedingten der verstrickten Welt auf. Vielmehr stellt das Selbst, das als das »Inhumane« 140 bestimmt wurde, den richtigen Mensch als Möglichkeit dem Menschen erst zur Aussicht. Die Ortlosigkeit des in den Widerspruch gestellten Selbst – das eben hierin die Struktur einer Selbstverschuldung annimmt –, wird dann zu einer utopischen Position, wenn die Nichtidentität des Selbst eingesehen wird und darin sich das Selbst als ein Verhältnis zu dem

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GS 6, S. 275. GS 6, S. 294. GS 6, S. 294.

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In-Sich-Anderen verstehen lernt. Darin liegt das Potential des intelligiblen Charakter, immer schon über das Selbst hinaus zu sein, sein Anderes-sein als Möglichkeit seines Seins zu begreifen. Der Mensch gewinnt im Intelligiblen die Möglichkeit seiner eigenen Offenheit, er wird zum Werdenden, Nicht-seinenden, Sein-Sollenden. »Am Ende wäre der intelligible Charakter der gelähmte vernünftige Wille. Was dagegen an ihm für das Höhere, Sublimere, vom Niedrigen Unverschandelte gilt, ist wesentlich seinen eigene Bedürftigkeit, die Unfähigkeit, das Erniedrigende zu verändern; Versagung, die sich zum Selbstzweck stilisiert. Gleichwohl ist nichts Besseres unter den Menschen als jener Charakter; die Möglichkeit, ein anderer zu sein, als man ist, während doch alle in ihrem Selbst eingesperrt sind und dadurch abgesperrt noch von ihrem Selbst. Der eklatante Mangel der Kantischen Lehre, das sich Entziehende, Abstrakte des intelligiblen Charakters, hat auch etwas von der Wahrheit des Bilderverbots, welches die nach-Kantische Philosophie, Marx inbegriffen, auf alle Begriffe vom Positiven ausdehnte. Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie die Freiheit ein Werdendes, kein Seinendes.« 141

Ideen als Gegenstände des intelligiblen Charakters sind in diesem Sinne negative Zeichen und utopische Begriffe. »Die Kraft, die den Schein von Identität sprengt, ist die des Denkens selber: die Anwendung seines ›Das ist‹ erschüttert seine gleichwohl unabdingbare Form. Dialektisch ist Erkenntnis des Nichtidentischen auch darin, dass gerade sie, mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert. Sie will sagen, was etwas sei, während das Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes umso weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt. Durch ihre Kritik verschwindet Identität nicht; sie verändert sich qualitativ. Elemente der Affinität des Gegenstandes zu seinem Gedanke leben in ihr. Hybris ist, dass Identität sei, dass die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt enthält das Bewusstsein der Nichtidentität Identität. […] Bereits im einfachen identifizierenden Urteil gesellt sich dem pragmatischen, naturbeherrschenden Element ein utopisches. A soll sein, was es noch nicht ist. Solche Hoffnung knüpft widerspruchsvoll sich an das, worin die Form der prädikativen Identität durchbrochen wird. Dafür hatte die philosophische Tradition das

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GS 6, S. 293 f.

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Selbst-Setzung, Selbst-Überwindung, Selbst-Begrenzung

Wort Ideen. Sie sind weder xoris noch leerer Schall, sondern negative Zeichen. Die Unwahrheit aller erlangten Identität ist verkehrte Gestalt der Wahrheit. Die Ideen leben in den Höhlen zwischen dem, was die Sachen zu sein beanspruchen, und dem, was sie sind. Utopie wäre über der Identität und über dem Widerspruch, ein Miteinander des Verschiedenen. Um ihretwillen reflektiert Identifikation sich derart, wie die Sprache das Wort außerhalb der Logik gebraucht, die von Identifikation nicht eines Objekts, sondern von einer mit Menschen und Dingen redet.« 142

Kritik muss den totalen Zusammenhang des Falschen bewusst machen, wenn eine Realisierung der Ideen der Vernunft in der Praxis weiter Anspruch des Denkens bleiben soll. Denn es muss – parallel zur kantischen Metaphysikkritik – erst die Begrenzung des Vernunftvermögens einsehen, bevor es die Möglichkeit einer vernünftigen Praxis behauptet. Vernunft muss also nach ihrer Bedingtheit im Realen befragt werden, um einsehen zu können, wie der Mensch sich überhaupt vernünftig, d. h. frei, zur Realität verhalten kann. »Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.« 143

Wir können diesen Satz als ein Programm negativer Utopie verstehen: Gerade aus dem Begriff einer Heteronomie (des Bedingtseins) muss ein Begriff der Möglichkeit von Erlösung (Einlösung der utopischen Ideen) gewonnen werden. Der intelligible Charakter ist Austragungsort dieser Aporie, er spitzt sie zu in seiner Selbstwidersprüchlichkeit. Der intelligible Charakter konstituiert ein Selbst als Schuldverhältnis gegenüber sich selbst. Doch gerade im Bewusstsein der Schuld weist der intelligible Charakter über sich hinaus und stellt Veränderung als ein Selbstbezug in Aussicht: er wird sich zum Versprechen-seiner-selbst als Werdender.

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GS 6, S. 153. GS 4, S. 283.

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III.4. Ethisch-aporetische Modelle negativ-utopischen Denkens III.4.1. Aufriss Im Folgenden möchte ich nun auf die Frage, die den Anfang dieses Kapitels bestimmte, zurückkommen. Dort wurde das Verhältnis von Verantwortung und Schuld in Bezug auf die Selbstverfehlung des Menschen in der Idee des neuen Menschen thematisiert. Unsere These dazu lautete, dass unverantwortbare Schuld als der wesentliche Grund eines aufklärerischen Verantwortungsbegriffs gelesen werden muss und weiter, dass dieser Verantwortungsbegriff in den einer totalen Machbarkeit umschlägt, wo der sie bedingende Schuldbegriff ausgeblendet wurde. In der Konzeption der Selbstsetzung (Kant /Idealismus) wird nach Adorno gerade die ewige Selbstverfehlung des Menschen, im Anspruch Mensch zu werden, verdrängt. Der Mensch wird darin quasi allmächtig und zugleich zur bloßen Funktion seiner Macht; er wird gerade entmenschlicht im Anspruch auf die Verantwortung, sich selbst ›herzustellen‹. Das Konzept der Selbstüberwindung (Nietzsche) reagiert auf diesen Umschlag des Verantwortungsbegriffs und stellt ihm die Idee des aktiven Nihilismus entgegen, durch den der Mensch sich zu entschulden habe durch das ›sündigende‹ Ergreifen der eigenen Macht zu sich selbst. Darin macht Adorno aber wiederum eine Form der Resignation vor Macht aus, die wiederum in Schicksal umschlägt und den Philosophen mit dem Hammer wieder in den Dunstkreis seines alten Lehrmeisters Schopenhauer zurückstellt. Adorno stellt dagegen das Konzept einer Selbstbegrenzung vor, die den utopischen Anspruch auf den neuen Menschen gerade durch die Bewusstwerdung der eigenen Ohnmacht offen zu halten gedenkt. Dies erweist sich im gewandelten Freiheitsbegriff, der auf der Anerkennung des Nichtidentischen und der Offenheit der Bezugnahme zum Anderen beruht. Ich verstehe diese Form der Selbstbegrenzung als eine Form utopischen Denkens, das sich gerade dadurch vor einem Rückfall in den Zwangscharakter mythologischen Denkens zu retten hofft, indem es das Bewusstsein der unverantwortbaren Schuld stets wach hält. In diesem Zusammenhang aber von einem utopischen Denken sprechen zu wollen, wäre absurd, würde aus diesem radikalen Bewusstsein der Universalschuld nicht auch ein veränderter Verantwortungsbegriff entspringen, der auf den Anspruch des neuen Menschen antworten würde. Es handelt sich dabei um einen Verantwor264

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tungsbegriff, der sich nicht auf die Idee der Macht und Machbarkeit berufen kann, sondern vielmehr das Selbst zu einer ›Antwort‹ auf die Erfahrungen (Leid und metaphysische Erfahrung) mit der Welt und dem darin ertönenden Versprechen auf eine radikale Wendung verpflichtet. Dieser utopische Verantwortungsbegriff sprengt naturgemäß den Rahmen der Rechtsetzung und Rechtsverpflichtung, in der die Konzepte der Selbstsetzung und Selbstüberwindung durch ihre mythologische Verstrickung mit dem Primat der Macht gefangen blieben. Verantwortung hat dann nicht mehr das Recht, die Rechtsförmigkeit oder Berechtigung zu ihrem Maß, sondern die Gerechtigkeit. Im Folgenden soll dieser Verantwortungsbegriff, der sich auf die Idee der Gerechtigkeit bezieht und darin den Rahmen des Rechts sprengt, anhand des benjaminischen Begriffs der ›ungeheuren Verantwortung‹ herausgearbeitet werden. Damit soll ein erster ethischer Begriff ausgewiesen werden, der dem negativ-utopischen Programm Adornos nachkommen kann. Ein weiterer Begriff, der eine utopische Ethik kennzeichnen kann, wird in einem zweiten Abschnitt herauszuarbeiten sein. Es handelt sich dabei um den Begriff des Friedens. Auch dieser Begriff ist jenseits seiner Rechtsform aufzusuchen und teilt darin die Querlage des Gerechtigkeitsbegriffs zu pragmatischen ethischen Anforderungen. Dieser Begriff wird als eine Radikalisierung des aristotelischen Mußebegriffs verstanden werden können, der im Begriff der Selbstbesinnung und des offenen Gesprächs (Konstellation) fortgeführt wird. Gerechtigkeit und Friede – diese Begriffe, die in ihrem überschwänglich positiven Sinngehalt eher einem Konfirmandenunterricht zu entstammen scheinen als dem Programm des radikalen Negativisten Adorno, erinnern nicht grundlos an theologische Konzepte. Abschließend muss untersucht werden, inwieweit Adorno hier seine utopische Philosophie durch eine Re-Etablierung theologischer Momente gegen die traditionelle Philosophie in Stellung bringt und inwieweit daraus tatsächlich tragfähige Positionen zu ethischen Fragestellungen gewonnen werden können.

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III.4.2. Ungeheure Verantwortung. Die utopische Dimension der Verantwortung ausgehend von Walter Benjamin III.4.2.1. Benjamins Auseinandersetzung mit Recht und Gerechtigkeit Der 1921 von Walter Benjamin veröffentlichte Aufsatz ›Zur Kritik der Gewalt‹ legt eine fundamentale Begriffsbestimmung von Gewalt und der Frage nach deren Legitimität vor. Gerade für die Legitimitätsfrage wird in diesem Aufsatz die Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit radikal neu getroffen und bewertet. Recht wird hier nicht mehr vertragstheoretisch als Befriedung zwischenmenschlicher Gewaltverhältnisse verstanden, sondern im Gegenteil als deren Institutionalisierung als ›drohende Gewalt‹. Damit greift Benjamin frontal ein ehernes Selbstverständnis moderner Staatstheorien an: das vertrags- und verfassungstheoretische Dogma des Gewaltmonopols als Voraussetzung stabiler und friedlicher zwischenmenschlicher Beziehungen. Obgleich Adorno diesen frühen Aufsatz seines alten Weggefährten durchaus kritisch betrachtete und so weit ging, ihm einen Mangel an dialektischem Bewusstsein und die ›unmittelbare Beschwörung von Wesenheiten‹ 144 vorzuwerfen, so entdeckte er darin doch exemplarisch die für ihn selbst verbindliche Polarität von Mythos und Versöhnung vorgezeichnet. 145 An dieser Stelle ist die Auseinandersetzung Adornos mit diesem Text Benjamins darum von besonderer Bedeutung, da er in idealtypischer Weise die zuvor erörterte aporetische Ausgangslage des negativ-utopischen Denkens in eine konsistente begriffliche Konstellation treibt. Der Mythos, bzw. das Schicksal wird als die Schuldigkeit alles Lebendigen verstanden, während sich Versöhnung in einem messianisch aufgeladenen Begriff der Gerechtigkeit 146 vorstellt. Mit der Frage nach Gerechtigkeit bzw. nach Versöhnung gibt Benjamin zugleich die Thematisierung eines gelungenen menschlichen Lebens auf, bzw. dessen Wertes. Adorno schreibt zu diesem Text: »In der Dissoziation ins Gestalt- und Subjektlose hier und das aller natürlichen Ordnung Entzogene, die Gerechtigkeit dort, zergeht bei Benjamin al-

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Vgl. GS 10.1., S. 243. Vgl. GS 11, S. 577. Vgl. GS 11, S. 577.

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les, was sonst als Dynamik, Entwicklung, Freiheit die mittlere Welt des Humanen bildet. Kraft solcher Dissoziation ist Benjamins Philosophie in der Tat unmenschlich: der Mensch ist eher ihr Ort und Schauplatz als ein aus sich heraus und für sich selber Seiendes. Der Schauder vor diesem Aspekt definiert wohl die innerste Schwierigkeit der Benjaminschen Texte. Selten rühren geistige Schwierigkeiten vom bloßen Mangel an Verständlichkeit her; sie sind meist Folgen eines Choks. Vor Benjamin zuckt zurück, wer sich nicht Gedanken überantworten mag, in denen er fürs vertraute Bewußtsein von sich selbst tödliche Gefahr wittert. Erst dem kann die Lektüre Benjamins fruchtbar und glückvoll geraten, der dieser Gefahr ins Auge sieht, ohne sogleich darauf sich zu versteifen, mit solcher Denaturierung des Daseins wolle man nichts zu schaffen haben. Bei Benjamin entspringt das Rettende wahrhaft erst wo Gefahr ist.« 147

Die Unmenschlichkeit, die Adorno Benjamins Texten zuschreibt 148, ist keine, die dem kalten Blick eines Funktionärs oder Zynikers der Macht – wie Carl Schmitt wohl eher einzuschätzen ist – geschuldet wäre, sondern entspringt der aporetischen Situation selbst, in die der Mensch mit dem utopischen Anspruch auf den ›neuen Menschen‹ gestellt ist. Benjamin spricht dabei vom »gerechten Menschen« 149. Im Rahmen einer Erörterung der Legitimität der Überschreitung des biblischen Tötungsverbots kommt Benjamin ohne Umschweife auf den Topos des ›neuen Menschen‹ zurück. Er distanziert sich dabei von einem Zitat Kurt Hillers, der darauf verweist, dass das ›Dasein an sich‹ der Menschen höher einzuschätzen sei als Glück und Gerechtigkeit und darum eine Überschreitung des Tötungsverbots als »geistiger Terrorismus« zu verurteilen wäre. 150 »Falsch und nichtig«, sagt Benjamin, »ist der Satz, daß Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll […]« 151 Das bloße Leben wird hier zum Synonym für den bloß biologischen LebensGS 11, S. 577. An dieser Stelle ist die ausführliche Interpretation und Kritik dieses Textes durch Derrida (Jaques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, aus dem Französischen von Alexander Garcia Düttmann, Frankfurt a. M. 1991.) zu vermerken. Auch ihm scheint dieser Text unheimlich, wenn nicht gar proto-faschistisch. Darin unterscheidet sich Derridas Lesart aber entschieden von der Adornos, was im Folgenden klar werden sollte. 149 Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, aus: Kairos – Schriften zur Philosophie, Frankfurt a. M. 2007, S. 108. (Im Weiteren als Benjamin, Kritik der Gewalt zitiert.) 150 Kurt Hiller, Anti-Kain – Ein Nachwort. In: Das Ziel. Jahrbuch für geistige Politik. Hrsg. von Kurt Hiller. Bd. 3, München 1919, S. 25. 151 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 107. 147 148

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erhalt und für das Leben, das sich einzig als Funktion in einem verselbständigten Machtkomplex versteht. Bloßes Leben ist jegliches Leben, das einzig unter der Perspektive des Rechts betrachtet wird, welches als drohende Gewalt und mithin als mythisch-schicksalhafte Gewalt jedes Leben auf sein bloßes Leben, das Blut, reduziert. »Weit entfernt, eine reine Sphäre zu eröffnen, zeigt die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von deren Problematik zur Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe wird. […] Denn Blut ist das Symbol des bloßen Lebens.« 152 Das für Adorno maßgebliche Verhältnis von Mythos und Versöhnung wird hier bei seinem intimsten Stichwortgeber, Benjamin, mit verschiedenen Formen des Lebensvollzugs analogisiert. Dem Mythos wird das bloße Leben zugeordnet, der Versöhnung bzw. Gerechtigkeit das gerechte Dasein. Darüber hinaus wird aber auch – ganz in der oben ausgearbeiteten Schlagrichtung unserer Interpretation Adornos – dem Mythos eine spezifische Form schuldloser Schuldigkeit zugeschrieben. »Die Auslösung der Rechtsgewalt geht nun, wie hier genauer dargelegt werden kann, auf die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens zurück, welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne überantwortet, die seine Verschuldung sühnt – und auch wohl den Schuldigen entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern vom Recht.« 153

Aus dieser Perspektive wird es verständlicher, wieso Benjamin so entschieden gegen die Achtung bloßen Lebens optiert. Wer das bloße Leben zum Gegenstand moralischer Urteile und Handlungen erhebt, versetzt den Menschen notgedrungen hinter die eigene Möglichkeit zurück, Mensch zu sein. In diesem Sinne wäre Benjamins Abwendung vom Tötungsverbot gegenüber dem bloßen Dasein nicht als eine menschliche Kälte sondern als eine Abwendung von der unmenschlichen Reduktion des Menschen auf seine biologische und ökonomische Funktion zu verstehen. Wenn es um den Menschen in seiner Humanität geht, darf dieser nicht einer Reduktion überlassen werden, die ihn seines Potentials entledigt, ein gerechter, neuer

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Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 105/106. ebd., S. 106.

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Mensch zu werden. Dass sich in dieser Auffassung von Menschlichkeit, bzw. der Heiligkeit des menschlichen Lebens, ein utopisches Motiv verbirgt, bleibt kaum verholen, wenn Benjamin im Weiteren den Ausspruch Hillers interpretiert: »Eine gewaltige Wahrheit aber enthält er, wenn Dasein (oder besser Leben) – Worte, deren Doppelsinn durchaus dem des Wortes Frieden analog aus ihrer Beziehung auf je zwei Sphären aufzulösen ist – den unverrückbaren Aggregatzustand von Mensch bedeutet. Wenn der Satz sagen will, das Nichtsein des Menschen sei etwas Furchtbareres als das (unbedingt: bloße) Nochnichtsein des gerechten Menschen. […] Der Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Leben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie mit irgendwelchen anderen seiner Zustände und Eigenschaften, ja nicht einmal mit der Einzigkeit seiner leiblichen Person.« 154

Die Kritik Adornos an Benjamin ist nun auch klarer zu verstehen, seine Argumentation zielt geradewegs auf unmittelbare Wesensbegriffe. Dennoch steckt dahinter bereits in diesem frühen Text eine grundlegende Übereinstimmung mit Adorno, der an anderer Stelle über Benjamin schreibt: »Die Kritik der Naturbeherrschung, welche das letzte Stück der ›Einbahnstraße‹ programmatisch anmeldet, hebt den ontologischen Dualismus von Mythos und Versöhnung auf: diese ist die des Mythos selber. Im Fortgang solcher Kritik wird der Begriff des Mythos säkularisiert. Seine Lehre vom Schicksal als dem Schuldzusammenhang des Lebendigen geht über in die vom Schuldzusammenhang der Gesellschaft: »Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es noch Mythos.« So wendet sich Benjamins Philosophie, die einmal, etwa in der ›Kritik der Gewalt‹, die Wesenheiten unmittelbar beschwören wollte, immer entschiedener zur Dialektik.« 155

Zu sehr war Adorno wohl an einer Abgrenzung von diesem ›chokierenden‹ Text gelegen; so unterstellt er etwas vorschnell eine Unterscheidung von Wesenheiten. Bei genauerer Betrachtung finden wir hier nämlich unter der radikal-begrifflichen Fassung einen schon ganz der utopischen Dialektik inhärenten Sinn. Die gewaltige Wahrheit, von der Benjamin spricht, ist nämlich durchaus überraschend. Sie besagt, dass das ›Nichtsein des Menschen etwas Furchtbareres sei als das bloße Noch-nicht-sein des gerechten Menschen‹. Mit diesem

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Ebd. S. 107/108. GS 10.1, S. 243.

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Nichtsein des Menschen ist explizit nicht das Nichtsein des bloßen Lebens gemeint. Der Mensch ist für Benjamin immer als ein Mehr als die Summe seiner Lebensfunktionen und Eigenschaften verstanden. Es lässt sich auch ein Versuch wagen, dieses Mehr zu bestimmen: Wenn das Dasein als bloßes Leben verstanden wird, steht es eben nicht unter dem Anspruch der Gerechtigkeit, sondern bleibt nur unschuldig verschuldetes Objekt einer schicksalhaften Manifestation göttlicher oder natürlicher Ordnung. Es vollzieht ohnmächtig das Recht von Natur und Göttern, welches das Leben in seinem bloßen Bestehen schuldig werden lässt – darin dem schopenhauerischen und nietzscheschen Motiv des principium individuationis verwandt – und es ist einzig darin entsühnt, indem es ein blutiges Opfer des Lebens einfordert. Das bloße Leben wird darin zur Spielmarke eines nie endenden Kreislaufs von Opfer, Rache und Buße; es ist dem mythischen Gesetzeskreislauf unterworfen. Erst durch den Begriff der Gerechtigkeit, die sich als ›göttliche Gewalt‹ vollzieht, ist eine echte Entsühnung von diesem naturhaft-mythischen Kreislauf in Aussicht gestellt. Die Gerechtigkeit ist als ein moralischer Anspruch im geschichtlichen Leben der Menschen zu dem Anspruch geworden, darin wirklich menschlich zu werden, d. h. sein Glück zu finden im Ausgang aus der ewigen Ordnung des Schicksals, das ihn eben auf sein bloßes Leben reduziert. Der Mensch, der mehr ist als bloßes Leben und in diesem Mehr seine Heiligkeit findet, ist in der geschichtlichen Welt zerrissen zwischen dem bloßen Vollzug der mythischen, sich ewig wiederholenden Ordnung des Schicksals, das sich im Recht manifestiert, und dem Anspruch, aus dieser Ordnung herauszutreten nach Maßgaben der Gerechtigkeit. Dieses Heraustreten, der Bruch mit dem Vollzug schicksalhafter, profaner Ordnung des Rechts, ist Benjamin durch den theologischen Begriff des Gerichtstages versichert. Erst im Anspruch auf diesen Einbruch der Gerechtigkeit in die Geschichte widmet sich der Mensch seinem Glück und ist darin wahrer Mensch. Dieser Bezug auf ein Ende der profanen Geschichte, in der der Mensch siedelt, gibt dem Menschen erst seine echte Geschichtlichkeit, die als ein Ausstehen und Nochnicht der ewigen Wiederholung von Leben, Rache und Buße entgegentritt. Benjamin kann darum im theologisch-politischen Fragment schreiben: »Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisen Nahens. Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der

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Untergang zu finden bestimmt. – Während freilich die unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des innern einzelnen Menschen durch Unglück, im Sinne des Leidens hindurchgeht.« 156

Nun können wir die gewaltige Wahrheit des oben genannten Satzes genauer fassen: Der Mensch ist dort mehr als bloßes Leben, wo er auf den Ausbruch aus der Ordnung bezogen ist, die ihn auf das bloße Leben reduziert. Dieser Bezug, der in der Idee des Glücks lebt, ist dem Menschen wesentlich als ein Nochnicht des Menschen gegeben. Damit lässt sich der Mensch bestimmen als derjenige, der mehr ist als sein bloßes Dasein, da er in seinem Dasein dem Nochnichtsein des Menschen entspricht, auf das Werden des Menschen überhaupt bezogen ist. Der Satz lässt sich dann folgendermaßen verstehen: Es ist furchtbarer, wenn sich die Menschen nicht auf den neuen, den gerechten Menschen beziehen, als dass dieser neue und gerechte Mensch noch nicht ist. Denn der Mensch entledigt sich seiner Menschlichkeit, er ist nicht Mensch, wo er sich nicht wesentlich darauf bezieht, noch Mensch zu werden und d. h. sich in die Sphäre der Gerechtigkeit zu stellen. Darin wird der Mensch auch allererst ein wirklich geschichtliches Wesen, d. h. dasjenige, das auf eine radikale und utopische Veränderung der geschichtlichen Lebenswirklichkeit eingeschworen ist. »Die Vergeltung steht im Grunde indifferent der Zeit gegenüber, sofern sie durch die Jahrhunderte unvermindert in Kraft bleibt und noch heute wird eine eigentliche heidnische Vorstellung sich in diesem Sinne das jüngste Gericht zurechtlegen: als Termin, an welchem allem Aufschub Einhalt, aller Vergeltung Einbruch geboten wird. Allein dieser Gedanke, der des Aufschubs gleich als leeres Säumens spottet, begreift nicht, welche unermeßliche Bedeutung jener ständig zurückgedrängte, von der Stunde jeder Untat so unablässig ins Zukünftige flüchtende, der Gerichtstag hat. Diese Bedeutung erschließt sich nicht in der Welt des Rechts, wo die Vergeltung herrscht, sondern nur, wo ihr, in der moralischen Welt, die Vergebung entgegentritt. Diese aber findet, um gegen die Vergeltung zu streiten, ihre mächtigste Gestaltung in der Zeit. Denn die Zeit, in welcher Ate dem Verbrecher folgt, ist nicht die einsame Windstille der Angst, sondern der vorm immer nahenden Gericht daherbrausende laute Sturm der Vergebung, gegen den sie nicht ankann. Dieser Sturm ist nicht nur die Stimme in der der Angstschrei des Verbrechers untergeht, er ist auch die Hand, welche die 156 Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, aus: Kairos. Schriften zur Philosophie, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konnersmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 85.

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Spuren seiner Untat vertilgt, und wenn sie die Erde darum verwüsten müßte. Wie der reinigende Orkan vor dem Gewitter dahinzieht, so braust Gottes Zorn im Sturm der Vergebung durch die Geschichte, um alles hinwegzufegen, was in den Blitzen des göttlichen Wetters auf immer verzehrt werden müßte. Was in diesem Bilde gesagt ist, muß sich klar und deutlich in Begriffe fassen lassen: die Bedeutung der Zeit in der Ökonomie der moralischen Welt, in welcher sie nicht allein die Spuren der Untat auslöscht, sondern auch ihre Dauer – jenseits allen Gedenkens und Vergessens – auf ganz geheimnisvolle Art zur Vergebung hilft, wenn auch nicht zur Versöhnung.« 157

Von diesen Konzepten einer entsühnend vernichtenden göttlichen Gewalt im Anspruch auf den gerechten Menschen kann Benjamin den Begriff einer ungeheuren Verantwortung entwerfen, die im Überschreiten des Tötungsverbots dennoch einen Vollzug der Entsühnung und Vergebung im Sinne der Gerechtigkeit ausmachen kann. »Denn auf die Frage »Darf ich töten?«, ergeht die unverrückbare Antwort als Gebot »Du sollst nicht töten«. Dieses Gebot steht vor der Tat wie Gott »davor sei«, daß sie geschehe. Aber es bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein darf, die zu seiner Befolgung anhält, unabwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über diese kein Urteil. Und so ist denn im vorhinein weder das göttliche Urteil über sie abzulesen noch dessen Grund. Darum sind die nicht im Recht, welche die Verurteilung einer jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot begründen. Dieses steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinandersetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben.« 158

Diese Möglichkeit der Überschreitung des Gebots ist hier festgezurrt an der Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit. Wo im Recht Vergeltung geübt wird, da geht Gerechtigkeit auf die Einlösung der moralischen Welt aus, die sich in der Geschichte einzig im Prozess der Vergebung eröffnet. Die ungeheure Verantwortung, die sich im moralischen Anspruch auf Gerechtigkeit vollziehen kann und darin das moralische Gebot dennoch überschreitet, ist bezogen auf die aporeti157 Walter Benjamin, Fragmente zur Geschichtsphilosophie, aus: Kairos. Schriften zur Philosophie, ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konnersmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 83/84. 158 Walter Benjamin, Kritik der Gewalt, S. 107.

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sche Ausgangslage des Menschen in der Utopie der gerechten Menschen. Moralisches Handeln ist hier so gründlich der Rechtsnorm entzogen, ja entgegengesetzt, dass es sich nicht auf Urteile, sondern einzig auf die Vergebung, die auf Versöhnung zielt, berufen kann. Und dieser Vergebung und Versöhnung muss ungeheuerlicher Weise in extremen Fällen durch eine Überschreitung der moralischen Richtschnur entsprochen werden. Wo das Menschsein nun grundlegend ausbleibt und zum bloßen Leben reduziert ist, liegt eine Ungeheuerlichkeit vor, die den Akt der Vergebung als den der Vernichtung im Sinne göttlicher Gewalt herausfordert. Darin ist die Möglichkeit der Überschreitung des Tötungsverbots im Anspruch der Gerechtigkeit zu suchen. So ambivalent Adorno auch zu diesem Text seines Freundes stehen mag, so sehr er ihn schockiert haben mag, so wenig ist allerdings ein eminenter Bezug zu eben diesem hier entfalteten Gerechtigkeitsbegriff jenseits jeglicher Rechtsform zu leugnen. Die Frage nach der menschlichen Einrichtung der Lebenswelt betrifft den Menschen nicht bloß akzidentiell, sondern im utopischen Anspruch wesentlich. Die objektive Unmenschlichkeit sozialer Verhältnisse stellt den Menschen selbst in Frage – nicht bloß die geschichtlichen Umstände, denen er ausgesetzt ist. Wo der Mensch sich allererst auf dem Weg befindet, Mensch zu werden, da ist die Ausweglosigkeit seiner geschichtlichen Verfassung eine wesentliche Verstellung des Menschen, die sich objektiv in seiner radikalen Verdinglichung und Funktionalisierung, die bis zu dessen gleichgültiger Eliminierung reicht, äußert. In unmenschlichen Verhältnissen ist kein Mensch. Adorno, der die reale ›menschliche Katastrophe der zweiten Natur‹ erleben musste, war vor diesem Höhepunkt der Barbarei dazu genötigt, der benjaminschen These nicht bloß implizit nachzugeben, sondern in einem tieferen Sinne radikalisiert er sie sogar.

III.4.2.2. Adornos Radikalisierung von Benjamins Begriff der Verantwortung Adorno bezieht sich in der Negativen Dialektik noch einmal explizit auf diesen Text Benjamins und darin spezifisch auf die Auseinandersetzung mit der Überschreitung des Tötungsverbots. Hier wird die aporetische Frage nach einer ›utopischen‹ Gerechtigkeit angesichts der Eliminierung des Menschlichen in ›Auschwitz‹ reformuliert: Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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»Fritz Bauer hat bemerkt, daß dieselben Typen, die mit hundert faulen Argumenten den Freispruch der Schinder von Auschwitz verlangen, Freunde der Wiedereinführung der Todesstrafe seien. Darin konzentriert sich der jüngste Stand der moralischen Dialektik: der Freispruch wäre das nackte Unrecht, die gerechte Sühne würde von dem Prinzip zuschlagender Gewalt sich anstecken lassen, dem zu widerstehen allein Humanität ist. Benjamins Satz, der Vollzug der Todesstrafe könne moralisch sein, niemals ihre Legitimierung, prophezeit diese Dialektik. Hätte man die Chargierten der Folter samt ihren Auftraggebern und deren hochmögenden Gönnern sogleich erschossen, so wäre es moralischer gewesen, als einigen von ihnen den Prozeß zu machen. Daß ihnen zu fliehen, zwanzig Jahre sich zu verstecken gelang, verändert qualitativ die damals versäumte Gerechtigkeit. Sobald gegen sie eine Justizmaschine mit Strafprozeßordnung, Talar und verständnisvollen Verteidigern mobilisiert werden muß, ist die Gerechtigkeit, ohnehin keiner Sanktion fähig, die der begangenen Untat gerecht würde, schon falsch, kompromittiert vom gleichen Prinzip, nach dem die Mörder einmal handelten.« 159

Diese Stelle scheint auf den ersten Blick ein erläuterndes Beispiel einer außer-rechtlichen Überschreitung des Tötungsverbots unter dem Anspruch von Gerechtigkeit zu sein. Bedenkt man aber welche zentrale Stelle die ›Erfahrung von Auschwitz‹ bei Adorno einnimmt, lässt sich auch eine nähere Charakterisierung dessen geben, was die ungeheure Verantwortung bedeuten mag. Dem Gebot nicht zu entsprechen, sondern es im vollen Bewusstsein seiner Geltung zu brechen um der Gerechtigkeit willen, die dieses Gebot zu sichern hat, macht die Verantwortung zu einer Ungeheuerlichkeit, zu einer Aporie des gerechten Daseins, das zugleich dem widerspricht dem es entspricht. Für Adorno stellt Auschwitz nun ein solch einschneidendes Ereignis dar, das in der systematischen (das heißt wohl auch die sich juristisch legitimierten) Ausschaltung des Anspruchs auf Gerechtigkeit nicht bloß die Täter affiziert, sondern die Menschen als Menschen (Menschen, die der Möglichkeit ausgesetzt sind, gerecht zu sein) überhaupt und nicht zuletzt die Metaphysik im Ganzen in Frage stellt. Man könnte mit Adorno davon sprechen, dass im Anspruch auf Gerechtigkeit alle Menschen in die Ungeheuerlichkeit der Verantwortung gestellt sind. Dass Menschen Menschlichkeit prinzipiell ausschalten, betrifft jeden Menschen und macht ihn bereits schuldig in dem Sinn, dass ihm, wo solches möglich war, nichts anderes mehr zukommt als die Reduktion aufs bloße Dasein. Er ist schuldig in dem 159

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Sinne, dass ihm der positive Bezug auf Gerechtigkeit verwehrt ist, wo er das, was geschah, nicht verhinderte. Die Gebote der Gerechtigkeit sind als Ansprüche auf eine wahre Menschlichkeit ad absurdum geführt durch die Ungeheuerlichkeit der realen Massenvernichtung. Der Mensch wurde durch das Geschehene der Möglichkeit beraubt, sich als mehr zu begreifen als das bloße Dasein, das vernichtet wurde. Adorno verweist darauf, dass es gerade die Opfer der Shoa waren, die eine Schuld des Überlebens auf sich lasten fühlten. Es ist vielleicht die Schuld, sich nicht als mehr begreifen zu können denn als bloßes Dasein. »Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen.« (vgl. GS 6, S. 355) »Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.« (vgl. GS 6, S. 355–356)

Auch hier taucht wieder das Motiv der Unmenschlichkeit des »rechtens« Mordens und Ermordet-werdens auf. Doch mit Auschwitz geschieht für Adorno eine fürchterliche Perversion des Gedankens der Verantwortung: Wo der Anspruch auf Gerechtigkeit aufgegeben ist und jeder Mensch auf sein bloßes Dasein, zum Exemplar reduziert wurde, da wächst die ungeheure Verantwortung des Bruchs mit dem Gebot zur unverantwortbaren Schuld angesichts der Auflösung des Anspruchs auf Gerechtigkeit überhaupt. Die Schuld dessen, der noch nach einem gerechten Dasein fragt, obgleich sein Dasein selbst nur durch die Kälte der bürgerlichen Subjektivität erhalten bleibt, mündet in der einen Frage, ob sich überhaupt noch leben lasse, wo kein gerechtes Dasein – auch kein Mensch mehr – sich denken lässt. Obgleich hier das Motiv der ungeheuren Verantwortung gewendet wird zur unverantwortbaren Schuldigkeit des Daseins überhaupt, lässt sich daran durchaus etwas ablesen von dem, was Benjamin mit der Ungeheuerlichkeit der Verantwortung des Bruchs mit dem Gebot gemeint haben kann. Der gerechte Täter (Bruch mit Gebot) bei BenKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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jamin findet sein Gegenstück im unschuldig schuldig gewordenen Opfer. Beide Figuren fallen keineswegs zusammen, sind aber demselben ausgesetzt, nämlich der Ungeheuerlichkeit. Ungeheuerlich ist die Verantwortung dessen, der das Leben auslöscht um der Gerechtigkeit willen, da er um ihretwillen Leben als ein bloßes Leben auslöscht – der der Gerechtigkeit sowohl entspricht als auch widerspricht. Ungeheuerlich die Schuld dessen, der im Anspruch auf Gerechtigkeit sein Leben nicht mehr anders als ein bloßes, ein ungerechtes Leben »erleben« kann. In beiden Fällen stellt sich das Ungeheuerliche in der gleichen Frage dar: ob sich denn angesichts dieser Unmöglichkeit (Aporie) von Gerechtigkeit überhaupt noch leben lasse. Diese Frage zielt auf ein Jenseits der Gerechtigkeit im Anspruch der Gerechtigkeit. An diesem Punkt wird einsichtig, weshalb die Idee einer »Verantwortung«, die der Shoa entwachse, so problematisch ist: Was dort geschah, lässt sich nicht verantworten, es lässt sich darauf keine Antwort finden, die dem Geschehenen »gerecht« werden könnte. Richtiger und konsequenter ist es darum von einer Schuld zu sprechen, die bis heute volle Gültigkeit hat. Verantworten lässt sich nur eine gerechte Tat, die angesichts der Unmöglichkeit von Gerechtigkeit selbst unmöglich erscheint; es bleibt nur Schuld. Die Aporie der Gerechtigkeit angesichts der Unmenschlichkeit erweist sich im politischen Alltag. Das lagerübergreifende Unbehagen, das sich zeigte, als Außenminister a. D. Fischer aus Verantwortung gegenüber der Shoa sich verpflichtet sah, Bomben auf Belgrad werfen zu lassen, zeugt davon. Ebenso die Unfähigkeit demgegenüber zu einer ethisch verbindlichen Handlungsalternative zu gelangen. Verantwortung degeneriert unter dem Zugriff des Rechts und der Macht, die sich absolut gesetzt hat, zur Rechtfertigung des Tötens. Die Verantwortung steht unter dem Vorsatz des Handelns und erfährt sich außerhalb von Handlungsmöglichkeit als Ohnmacht. Diese Ohnmacht angesichts der Aporie von Gerechtigkeit wird in einer verantwortungslogischen Perspektive durch Rechtlichkeit bzw. Berechtigung aufgewogen. Doch gerade darin geht der entscheidende Anspruch auf Gerechtigkeit, wie ihn hier Benjamin und Adorno teilen, unter; er bliebe allein im Begriff der Schuld aufgehoben. Es bleibt nur das Bewusstsein der Schuld, um dem Anspruch der Gerechtigkeit entsprechen zu können. Die Idee der Erbsünde erfährt hier eine fürchterliche Wiederbelebung: Überhaupt zu leben, wirft den Menschen in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Anspruch 276

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auf Gerechtigkeit. Kein göttlicher Fluch lastet auf den Menschen (und Menschsein heißt hier, sich der Möglichkeit auszusetzen, ein gerechter Mensch sein zu können), sondern der Fluch besteht darin, dass niemand mehr Mensch zu sein beanspruchen kann. Wo der Sündenfall den Menschen zu dem machte, was er war – nämlich das Leben, das sich der Möglichkeit zu einem gerechten Dasein aussetzt – und es an alle Menschen als Möglichkeit weitervererbte, da ist mit der Sünde zugleich die Möglichkeit zur Gerechtigkeit gesetzt. Wo jedoch das Menschsein selbst verstellt ist, ist diese Möglichkeit zur Schuld geworden – nämlich sich der Unmöglichkeit auszusetzten, überhaupt Mensch zu sein. Das Leben, das dem Menschen von Gott »geschenkt« wurde, konnte nicht in Frage gestellt werden. Das Leben, das schon im Schatten der Schuld steht, muss das Leben selbst in Frage stellen, es muss die Möglichkeit zum gerechten Dasein so grundlegend mit der Unmöglichkeit konfrontieren, gerecht zu sein, dass sich die Aussage Benjamins radikalisieren lässt. Das Nichtsein des Menschen ist nicht nur schlimmer als das Nochnichtsein des gerechten Menschen, sondern das Sein des Menschen ist den Exemplaren des Menschen so fern gerückt, wie der gerechte Mensch dem Menschen. Wie der Mensch im Sündenfall ein wesentlich potentiell gerechter war, so ist er nach Auschwitz durch eine totale Ohnmacht angesichts der Ungerechtigkeit gekennzeichnet. Doch selbst diese bei Adorno zugespitzte Radikalität findet schon bei Benjamin seine Entsprechung. Agamben hat mit Recht darauf hingewiesen, dass Benjamin der Gedanke nicht fern lag, dass das bloße Leben eigentlich schon das einzig mögliche Leben sei und genau in dieser Unmöglichkeit des gerechten Lebens die Anforderung läge, das konkrete Leben selbst heilig werden zu lassen. Wo die Heiligkeit dem Leben zuvor zum Anspruch werden konnte durch das Versprechen der Heiligen Schrift auf Gerechtigkeit (und zu diesem Versprechen gehören die Gebote), so ist heute der Schlüssel zur Schrift oder die Schrift selbst verloren gegangen, dem Versprechen kann nicht mehr entsprochen werden. Benjamin schreibt an Scholem: »Ob die Schrift den Schülern abhandengekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das Gleiche hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift ist, sondern Leben. Leben wie es am Schloßberg (Kafka) geführt wird.« 160

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Benjamin, Scholem, S. 167.

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Nun stellt sich die Frage, wie aus dieser aporetischen Lage des menschlichen Lebens noch ein Ausweg anzuvisieren sei. Adorno und Benjamin finden dabei durchaus vergleichbare Antworten. Es lässt sich nicht mehr ein positiver Bezug zur Aussicht auf Gerechtigkeit finden, sondern das Leben selbst muss in all jener Radikalität in Frage gestellt werden, die Benjamin den Titel des messianischen Nihilisten einbrachte und Adorno als Wirtsmann im ›Grandhotel Abgrund‹ erscheinen ließ. Diese ›nihilistische‹ Vorgabe lässt sich bei genauerer Betrachtung allerdings als die Vorgabe verstehen, »den wirklichen Ausnahmezustand« vom dauernden Ausnahmezustand zu propagieren oder wie Adorno sagt: »Ohne nihilistisches Element ist Utopie harmloser Spaß.« 161 Die dauernde Ausnahme ist das NichtEntsprechen gegenüber dem Anspruch auf Gerechtigkeit, während die Ausnahme von dieser dauernden Ausnahme der Eintritt der Gerechtigkeit ins konkrete Leben bedeuten müsste. Erst wo das Leben selbst in Frage gestellt wird, kann es sich der Unmöglichkeit des bloßen Daseins entheben, das Leben selbst gerecht werden lassen. Das Leben des Menschen selbst als das ganz alltägliche und konkrete wandelte sich dann zum Versprechen der Möglichkeit von Gerechtigkeit, dem Menschen stände es bevor, Mensch zu werden und zu leben. Gefährdet wäre es nicht allein durch den Tod, sondern durch das Verstummen gegenüber seiner Unmöglichkeit. »Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst. Mit Fug dürfte unter dem Begriff des Selbst ihre Möglichkeit gedacht werden, und sie steht polemisch gegen die Wirklichkeit des Selbst.« 162 Hier ist festzuhalten, dass unter der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit angesichts der Ausschaltung der Möglichkeit des Menschen nicht mehr auf ein Verantwortungsprinzip zu rekurrieren wäre, sondern dass dieser radikalen Unmenschlichkeit nur durch ein radikales Schuldbewusstsein entsprochen werden kann. Diese Aufwertung des Schuldbegriffs resultiert aus dem Verlangen, einen grundsätzlichen Bruch mit dem geschichtlichen Fortgang zu erzwingen, dem durch das Bewusstsein der Schuldigkeit des bloßen Lebens entsprochen wird. Denn hier erst wird eine fatale Dialektik angehalten, die den Menschen zwar in die Verantwortung stellt Mensch zu sein, ihn aber gerade darin zum Spielball der Unmenschlichkeit macht. Das radikale Bewusstsein der Schuldigkeit des bloßen Lebens wandelt sich darin zu 161 162

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der ›ungeheuren Verantwortung‹ der Menschlichkeit im Unmenschlichen zu entsprechen. Es ist eine unverantwortbare Verantwortung, die einer schuldlosen Schuldigkeit entspringt und einzig in dieser fixierten doppelten Aporie den Anspruch an den Menschen wach halten kann.

III.4.2.3. Der Begriff utopischer Gerechtigkeit Die ungeheure Verantwortung ist hier also keine Verantwortung mehr, die sich aus einem spezifischen Vermögen ergäbe und das Fundament des Rechts abgeben könnte, sondern vielmehr eine Ungeheuerlichkeit im Anspruch auf Gerechtigkeit. Wenn wir hier nun diesen Gerechtigkeitsbegriff als einen ethischen Kernbegriff negativ-utopischen Denkens verstehen wollen, stellt sich die Frage, ob auf der Grundlage einer radikal aporetischen Begrifflichkeit überhaupt von einem ethischen Konzept gesprochen werden kann. Ist es nicht gerade für die Ethik relevant, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die konkrete Handlungsorientierungen liefert, anstatt den Menschen in eine Ausweglosigkeit zu stellen, die sich am ehesten als Form der Ohnmacht verstehen lässt? Dem mittlerweile gängigen Anspruch an ethische Konzepte und Gerechtigkeitstheorien ist eine solch pragmatische Haltung wohl anzumerken. Der praktischen Philosophie wird mittlerweile von politischen Gremien abverlangt, nicht bloß das menschliche Leben nach seinem moralischen Gehalt zu untersuchen, sondern vielmehr selbst Grenzmarken des bloßen Lebens zu setzen, den lebenden Leib vom toten Körper nach medizinischer Datenlage zu unterscheiden. Ethik verkommt unter diesem Anspruch zu einer Wissenschaft der Kriterienkonstruktion in praktisch-technischer Hinsicht. Im Sinne Benjamins und auch Adornos wäre hier kaum mehr von Ethik zu sprechen, sondern vielmehr von einer wissenschaftlichen Legitimierungsapparatur des technischen Zugriffs auf das Leben. Die ethische Diskussion, die sich den Fragen nach dem menschlichen Leben widmet, scheint im Ganzen gespalten zu sein in einen kritisch-analytischen Zweig der Gegenwartsanalyse und eine pragmatische Instanz zur Bildung allgemeinverbindlicher Kriterien des Lebens. Nicht sehr viel anders verhält es sich bei aktuellen Gerechtigkeitstheorien. In weiten Teilen scheinen sie sich auf konkrete Problemlösungen gesellschaftlicher Verteilung und Teilhabe zu reduzieKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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ren. Gerechtigkeitstheorien stehen meist im Schatten des Rechts. Das gilt selbst noch für so ambitionierte Konzepte wie das von Habermas’. 163 Dabei lässt sich jeweils ein spezifisches Moment herauskristallisieren, das auf die Fixierung auf Rechtsverhältnisse zurückzuführen ist, auf ein Konzept der Gerechtigkeit, das sich grundsätzlich auf die Herstellung symmetrischer Verhältnisse bezieht. Eine grundsätzlichere Haltung zu Fragen der Gerechtigkeit, wie sie zum Beispiel in der Philosophie Levinas entwickelt wurde, wird aufgrund ihrer aporetischen Sperrigkeit im Bezug zu ihrer konkreten politischen Umsetzung unter gegebenen Rechtsverhältnissen kaum als solche rezipiert. Nun bleibt die Frage entscheidend, inwiefern wir gerade einem aporetischen Begriff der Gerechtigkeit, wie er uns in dieser negativutopischen Fassung entgegenschlägt, einen spezifischen Wert für die Ethik zugestehen können. Dabei rückt das Postulat einer radikalen Selbstbegrenzung des Menschen wieder in den Fokus unserer Untersuchung. Es wurde versucht zu zeigen, dass ein klassischer Verantwortungsbegriff auf einem spezifischen Begriff der Macht beruht, der dem Menschen zugesteht, Herr seiner Verhältnisse und der Einrichtung der Welt zu sein. Dieses Machtbewusstsein, das wir im Konzept der Selbstsetzung des Menschen ausgemacht haben, schlägt dann in ein bloßes Getriebensein zur technischen Bewältigung und Problemlösung um, wo sich der Mensch der Freiheit beraubt, sich freizumachen von dem eigenen Selbstvollzug – ein Freiheitsbegriff, der bereits bei Schelling grundlegend aufgewiesen wurde. In der Dia163 Das Missverhältnis zwischen den Ansätzen Adornos und Habermas ist offenkundig, was deren Bewertung des aporetischen Gehalts Kritischer Theorie angeht. Wo Habermas versucht den aporetischen ›Glutkern‹ negativer Dialektik, der sich nicht zuletzt eines theologischen Moments verdankt (vgl. dazu Micha Brumlik, »Der revolutionäre Messinaismus der Frankfurter Schule«, aus: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Hrsg. Hans Schwab-Felisch 1983 Heft 415–422, S. 228– 231.), durch das Konzept einer kommunikativen Rationalität zu löschen, da sieht Adorno gerade im radikale Verharren im Aporetischen die Möglichkeit einer immanenten Transzendenz, der einzig die Rettung des Hoffnungslosen überantwortet werden kann. Zum Verhältnis von Adorno und Habermas vgl. Axel Honneth, Von Adorno zu Habermas. Zum Gestaltwandel kritischer Gesellschaftstheorie, aus: Sozialforschung als Kritik, Hrsg. W. Bonß und A. Honneth, Frankfurt a. M. 1982, S. 87– 126. Im weiteren: Heidrun Hesse, Widersprüche der Moderne. Einwände gegen Habermas’ Konzept kommunikativer Rationalität, aus: Gerhard Gamm (Hrsg.), Angesichts objektiver Verblendung. Über die Paradoxien kritischer Theorie, Tübingen 1985, S. 252–281.

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lektik der Aufklärung muss gerade in dieser Verselbständigung der Gestaltungskraft des Menschen dessen Unterwerfung unter den Zwang der Zweiten Natur ausgemacht werden. Darauf reagiert das Konzept Adornos der Selbstbegrenzung als utopische Strategie der Freiheit. Im negativ-utopischen Gerechtigkeitsbegriff, den ich als einen aporetischen bestimmt habe, ist nun die spezifische Möglichkeit enthalten, ein radikales Bewusstsein der Selbstbegrenzung wach zu halten, bzw. es allererst wach zu rufen. Negativ ist solches Bewusstsein nur angesichts des totalen Machtanspruchs der Herstellbarkeit von Welt. Unter der Hand enthält aber gerade die Selbstbeschränkung eine wesentlich utopische Perspektive, die Antizipation dessen, was Gerechtigkeit bedeuten sollte und nicht ist in den konkreten Rechtsverhältnissen. Damit gewinnt das Denken wieder den Maßstab, der verschüttet liegt unter dem konkreten Handlungszwang. Wo die Fatalität moderner Verhältnisse wesentlich in der Ausgeliefertheit gegenüber dem eigenen Handlungsdogma ausgemacht wird, ist eine grundlegende ethische Forderung darin zu suchen, überhaupt Positionen der Kritik zu entwickeln, die das Ganze der Bannstruktur in den Blick zu nehmen in der Lage sind. Einer solchen Position wird durch den aporetisch-utopischen Begriff der Gerechtigkeit entsprochen, gerade weil es die Aporie des Anspruchs Mensch zu sein zu Bewusstsein bringt. Dennoch drängt sich weiterhin die Frage auf, welchen Wert ein ethischer Begriff und Anspruch haben kann, der weder Kriterien für die Einrichtung von Rechtsverhältnissen noch positive Maßstäbe für das moralische Handeln der Einzelnen bieten kann. Diese Frage bedarf einer genaueren Untersuchung des Begriffs der Praxis in der Philosophie Adornos. Wir haben bislang gesehen, wie stark Adorno an eine Denktradition anschließt, die sich von Kant über Hegel zu Marx ziehen lässt. Im Auge ist dabei jedoch das zentrale Motiv Adornos zu behalten, dass solch aufklärerische Tradition einer radikalen Kritik bedarf, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden zu können. Solche Kritik muss radikal negativ verfahren und sich zugleich dem eigenen Anspruch stellen, indem sie an der Utopie der Aufklärung festhält. Zur Debatte steht die Wendung der menschlichen Realität zum Besseren, die Möglichkeit überhaupt einer radikalen Veränderung von Welt. Der Begriff der Praxis wird hier zum Knotenpunkt von Kritik und utopischer Öffnung.

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»Marx hat die These vom Primat der praktischen Vernunft von Kant und dem deutschen Idealismus empfangen und geschärft zur Forderung, die Welt zu verändern anstatt sie bloß zu interpretieren. Er hat damit das Programm absoluter Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches, unterschrieben. Das reale Modell des Identitätsprinzips schlägt durch, das als solches vom dialektischen Materialismus bestritten ist, die Anstrengung, das dem Subjekt Ungleiche ihm gleichzumachen. Wie aber Marx das dem Begriff immanente Reale nach außen stülpt, bereitet er einen Umschlag vor. Das Telos der ihm zufolge fälligen Praxis war die Abschaffung ihres Primats in der Gestalt, welche die bürgerliche Gesellschaft durchherrscht hatte.« 164

Hier zeichnet sich die Zwiespältigkeit des Praxisbegriffs im Sinne Adornos bereits deutlich ab: Marx wird einerseits vorgeworfen gerade in der Überfrachtung des Praxisbegriffs zum Agenten des Identitätszwanges zu verkommen; und dennoch gesteht er ihm andererseits zu, sich dem bürgerlichen Primat der Praxis – der Absicht nach – zu entziehen. Der Vorwurf, den Marx hier ereilt, lässt sich unter das oben angesprochene Prinzip der Herstellbarkeit der Welt einordnen: Der Mensch, der sich in der Lage fühlt, die Welt nach seinen eigenen Prinzipien zu formen und darin dem Zwangscharakter der eigenen Betriebsamkeit unterliegt. Es ist eine Form der blinden Praxis, die mehr mit der verschlingenden Wut gemein hat, die laut Adorno das identifizierende Denken auszeichnet, als mit einer praktisch-vernünftigen Weltgestaltung. Die marxsche Praxis der konkreten politischen Aktion verfällt nach Adorno gerade der Gewalt, der sie den Krieg erklären wollte. Und dennoch ist es das spezifisch Utopische an Marx, das es zu bewahren gilt, die Abschaffung des Primats der Praxis im bürgerlichen Sinn. Was ist damit gemeint? Aus dem Fortgang des Textes kommt es klar zur Geltung: »Kontemplation wäre möglich ohne Inhumanität, sobald die Produktivkräfte soweit entfesselt sind, daß die Menschen nicht länger von einer Praxis verschlungen werden, die der Mangel ihnen abzwingt und die dann in ihnen sich automatisiert.« 165 Und weiter: »Die mögliche Reduktion von Arbeit auf ein Minimum müßte den Begriff Praxis radikal affizieren. Was an Einsicht einer durch Praxis befreiten Menschheit zufiele, wäre von Praxis, die ideologisch sich selbst erhöht und die Subjekte so oder so sich zu tummeln ver-

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anlaßt, verschieden.« 166 Das Einhaltgebieten gegenüber dieser hohldrehenden Betriebsamkeit wird selbst zu einer utopischen Aussicht der radikalen Veränderung von Welt. Daraus resultiert aber eine durchaus praktische Forderung an das Denken, nämlich die nach der realen Veränderung der Welt zum Besseren: « Ohne praktischen Sichtvermerk sollte Denken so sehr gegen die Fassade angehen, soweit sich bewegen, wie ihm möglich ist. Eine Realität, die gegen die überlieferte Theorie, auch die bislang beste, sich abdichtet, verlangt danach um des Bannes willen, der sie umhüllt; sie blickt das Subjekt mit so fremden Augen an, daß es, seines Versäumnisses eingedenk, die Anstrengung zur Antwort nicht sich ersparen darf. Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre. Dem Denken kommt heute ironisch zugute, daß man seinen eigenen Begriff nicht verabsolutieren darf: es bleibt, als Verhalten, ein Stück Praxis, sei diese sich selbst noch so sehr verborgen. Wer aber dem unerlaubten Glück des Geistes das buchstäbliche, sinnliche als Besseres kontrastiert, verkennt, daß, am Ende der geschichtlichen Sublimierung, das abgespaltene sinnliche Glück etwas ähnlich Regressives annimmt, wie das Verhältnis von Kindern zum Essen den Erwachsenen abstößt. Jenen darin nicht zu gleichen, ist ein Stück Freiheit.« 167

Im geschlossenen Bannkreis des Falschen liegt also gerade die verändernde Praxis nicht in der Aktion, sondern vielmehr im Denken. Das Denken wird gerade in der Bewusstmachung der Fatalität der Realität das Agens aufklärerischer Praxis und zwar im Widerstand, im Anrennen gegen die Fassaden des Banns und des Verblendungszusammenhangs. Und darin ist, wie oben bereits ausgeführt, ein Stück praktischer Freiheit gelegen. Diese kurzen Überlegungen zum Praxisbegriff lassen einsichtiger werden, inwiefern mit gutem Gewissen gerade utopische Begriffe, wie der der Gerechtigkeit, die durch eine Aporie geprägt sind, als ethische Begriffe verstanden werden dürfen. Denn gerade im Bewusstsein der Ohnmacht liegt die Möglichkeit sie zu durchbrechen, eigentlicher noch: darin wird diese Möglichkeit erst wieder praktisch: »Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den 166 167

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anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.« 168

Aus diesem Verständnis heraus lassen sich nun von utopischen Begriffen kritische Modelle entwickeln, die für das konkrete gesellschaftliche und politische Leben von Menschen Relevanz haben. Die spezifische Leistung eines negativ-utopischen Denkens ist gerade heute nicht zu unterschätzen. Die realen Katastrophen – der Zusammenbruch eines menschlich lebenswerten Ökosystems Erde durch Menschenhand; die fundamentale ökonomische Bedrohung der Menschen, die bis zu deren realen Auszehrung in einer Ökonomie der Überfülle reicht und gerade durch ein Wirtschaftssystem gezeitigt wurde, das Reichtum zu erzeugen verspricht wie ein Zauberer Kaninchen aus dem Hut; die unverminderte Produktion von Leichenbergen und seelisch wie körperlich Verstümmelten in einer Welt, die nach wie vor bereit steht, ihre Waffenarsenale zur Auslöschung der Menschheit im Ganzen einzusetzen – zwingen den Menschen die Einsicht auf, sich nach Maßstäben zu orientieren, die als Vernunftideen tatsächlich als Selbstzwecke gedacht werden können und eben diese Katastrophen abzuhalten in der Lage wären. Und doch scheint die Menschheit nach wie vor radikal bewusstlos zu sein angesichts dieser realen Anforderung an sie. Die bloße technische Bewältigbarkeit von Schwierigkeiten spielt eine solche Machtfülle vor, dass darüber gerade die reale Ohnmacht vor dem verselbständigten Mechanismen des Marktes und des zwischenmenschlichen Antagonismus’ aus den Augen gerät. Gerade hier hat eine radikale negativ-utopische Begrifflichkeit nicht bloß ethische Berechtigung, sondern ist gerade in ihrer Negativität, ihrem Vermögen der Selbstbegrenzung im Bewusstsein der Aporie dringender denn je. Beide Vorwürfe, die diesem Konzept gemacht werden, ihre alternativlose Negativität wie auch ihre realitätsferne Utopie, sind die eigentlichen Stärken: Es bedarf eines radikalen Bewusstseins des Unglücks, um sich dem Glück zuzuwenden und es bedarf einer offenen und doch unbeschnittenen Antizipation des Glücks, um sich nicht im Unglück zu verlieren. Darin ist der Begriff der Gerechtigkeit von höchster ethischer Relevanz. 168

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III.4.3. Muße als Friede Bei der Frage nach der utopischen Praxis habe ich das Innehalten des Denkens als eine aktive Form des Widerstandes verstanden, die den Boden zu einer radikalen Veränderung freigibt: »Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre.« 169 Im Folgenden soll ein Begriff erarbeitet werden, der innerhalb des negativ-utopischen Denkens als dessen Moment eines Selbstvollzuges verstanden werden kann, die Muße. Zwei Probleme gilt es hier von vorne herein anzusprechen und zu verorten: 1. Der Begriff der Muße selbst ist bei Adorno nicht zu einem Zentralbegriff geworden, obgleich er inhaltlich dazu angetan wäre. Ich werde mich dennoch auf diesen Begriff beziehen, da sich an ihm ein tatsächliches Zentralmotiv des negativ-utopischen Denkens nachzeichnen lässt, das sich in unterschiedlicher Begrifflichkeit dem Leser darstellt. Es ist an Begriffe wie »Selbstbesinnung des Denkens«, »Kontemplation«, das »Versenken in den Gegenstand«, »Atempause des Denkens«, das Innehalten, u. v. m. zu denken. All diese Begriffe charakterisieren Adornos Denken und zwar spezifisch in dem Zusammenhang der Möglichkeit einer Befreiung des Denkens aus den eigenen und gesellschaftlichen Zwangszusammenhängen. Es meint dabei sowohl eine Möglichkeit der Öffnung des Denkens gegenüber der Besonderheit seiner Gegenstände als auch die eines Widerstandes gegenüber dem falschen Ganzen – und es meint beides zugleich, ist Öffnung und Widerstand in einem. Dieser Zusammenfall ist systematisch durch den Charakter von Muße verbürgt, die zugleich als Ausnahme einen Bruch mit den Alltagsverrichtungen meint, einen Freiraum vom Tagesgeschäft, und gerade dadurch eine Form unbedingter Offenheit ermöglicht. Dieser Doppelcharakter ist systematisch durch den Selbstzweckcharakter der Muße verbürgt. 2. Wenn ich hier den Begriff der Entelechie im Sinne der Selbstzweckhaftigkeit für einen negativ-utopischen Begriff der Muße verwende, ist einem Missverständnis vorzubeugen: Wenn Aristoteles den Begriff der Entelechie als ein inneres Vermögen der 169

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Form, sich im Stoff zu verwirklichen, versteht, dann muss Adornos Verständnis von eben dem Aristoteles grundlegend abgehoben werden. Es geht also keineswegs um eine Figur ontologischer Selbstgenügsamkeit. Dass ich hier trotz dieser Bedeutungsverschiebung vom Begriff der Entelechie spreche, hat einen anderen Grund: Es bedarf eines offenen Zugangs des begrifflichen Denkens zu seinen nichtbegrifflichen Gegenständen, der diese zweckfrei zu einem Erfahrungsgegenstand des Denkens werden lässt. Eine Bestimmung des negativ-utopischen Denkens ist also darin auszumachen, dass es sich als Selbstzweck vollziehen muss, um in seiner Zuwendung zu den Objekten diese nicht wiederum zu Mitteln zu reduzieren. Adorno rekurriert hier auf einen Begriff der theoria als Wesensschau, der sich als Selbstzweck im Aristotelischen Sinne zu verstehen hat, und durch Muße als Selbstzweck ermöglicht wird. Dieser Charakter des Selbstzweckes betrachtender Hingabe an die Gegenstände bezeichnet aber nur die eine Seite des Begriffs der Entelechie. Die zweite ist wohl in dem spezifischen Bewegungs- bzw. Veränderungscharakters zu suchen. Und auch dieser kehrt in gewandelter Form im negativ-utopischen Konzept der Muße wieder. Denn wo sich das Denken zweckfrei und jenseits identifikatorischer Gewalt seinen Gegenständen zuwendet, da vollzieht es eine Öffnung des Denkens, die allererst eine wahre Veränderung des Ganzen zur Möglichkeit bringt. Es ist Widerstand und reale Veränderung des Ganzen zugleich und darin die Bewegungsform des negativ-utopischen Denkens. Der Begriff der Muße wird von Adorno meist kritisch gebraucht. Er verweist dabei auf das hierarchisch-arbeitsteilige Konzept der Muße, wie es bereits bei Aristoteles vorherrscht und in seiner Folge fortgeschrieben wurde. Muße ist darin ein Privileg und als solches spezifisch ein Instrument der Exklusion, das sich in der bürgerlich-kapitalistischen Weltordnung zu einem elitär-schöngeistigen Bildungsraum der Eliten wandelt. »Die Besitzenden verfügten über das Bildungsmonopol auch in einer Gesellschaft formal Gleicher; die Entmenschlichung durch den kapitalistischen Produktionsprozeß verweigerte den Arbeitenden alle Voraussetzungen zur Bildung, vorab Muße. Versuche zur pädagogischen Abhilfe mißrieten zur Karikatur. Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich

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diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch die bloße Bildung revozieren zu können.« 170

Doch zugleich weiß Adorno auch um die Bedeutung der Muße als zweckfreie Besinnung des Denkens und verknüpft diese Vorstellung nicht nur mit der Idee wahrer Bildung sondern zugleich mit der Möglichkeit der Emanzipation des Menschen zur Humanität. 171 Diese Verknüpfung von Muße und Humanität ist selbst kein originärer Gedanke Adornos, sondern muss wohl implizit der aufklärerischen Tradition zugeschrieben werden, obgleich er unter dem Begriff des Primat der Praxis meist verborgen blieb und erst von Autoren wie Nietzsche und Kierkegaard kritisch gegen diesen vorgebracht wurde. Hier sind nun einige spezifische Momente des Begriffs der Muße aufzuzeigen, die für das negativ-utopischen Denken charakteristisch sind. Wir haben zu unterscheiden zwischen der Muße als Vollzugsform der Selbstkritik des Denkens im Begriff der Selbstbesinnung (1); im Weiteren der Muße als Öffnung des Denkens gegenüber einer Erfahrung mit seinen Gegenständen (Versenkung) (2); drittens Muße als Form der Stilllegung der Dialektik des Falschen (3); und schließlich Muße als Kraft zur Entwicklung verwirklichter Humanität (4). Hier sind die zentralen Themen des negativ-utopischen Denkens Adornos idealtypisch in Konstellation gebracht: radikale Selbstkritik, Öffnung des Denkens gegenüber dem Besonderen, Widerstand als Stilllegung der Dialektik des Falschen und Versöhnung der Menschen und der Natur im Anspruch auf wahre Humanität geben sich hier die Hand. Darum eignet sich gerade der Begriff der Muße als Kennzeichen und Programm von Adornos Denkens. Beachtet werden muss dabei, dass Adorno in seiner kritischen Absetzung vom traditionellaristotelischen Begriff der Muße dennoch dessen zentrale Momente aufnimmt und emanzipatorisch wendet. Dazu nun im Weiteren.

III.4.3.1. Muße als Selbstkritik des Denkens Wenn ich Muße als Vollzugsform kritischer Selbstbesinnung des Denkens begreife, dann muss wiederum auf den spezifischen Freiheitsbegriff Adornos rekurriert werden. Freiheit ist nicht mehr im kantschen Sinn als Autonomie zu verstehen, sondern vielmehr, wie 170 171

GS 8, S. 98–99. Vgl. GS. 10.1, S. 83.

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oben aufgewiesen, als Eröffnung eines Erfahrungsraums für das Denken durch Selbstbegrenzung. Damit eignet der Freiheit ein paradoxer Charakter: Es ist ein Akt der Öffnung durch Beschränkung. Aus dieser Perspektive lässt sich Adornos Diktum »Philosophie habe nur die Freiheit, ihrer eigenen Unfreiheit zum Laut zu verhelfen« von einer pessimistischen Lesart abheben: Im Laut-werden-Lassen der Unfreiheit eröffnet sich dem Denken tatsächliche Freiheit jenseits der monadologischen Struktur der Autonomie. Diese eröffnende Selbstbegrenzung des Denkens ist aber wesentlich auf eine kritische Selbstbesinnung angewiesen, die darin selbst als Vollzugsmoment von Freiheit verstanden werden muss. An dieser Stelle komme ich noch einmal auf die oben angeführte Stelle zurück, die zum Zwecke der Charakterisierung des Praxischarakters utopischen Denkens angeführt war. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem ersten Modell der Negativen Dialektik, das mit dem Wort ›Kontemplation‹ überschrieben ist. Kontemplation, die Nachfolgefigur der aristotelischen theoria, wird hier also explizit in den Konnex einer Untersuchung zum Begriff der Freiheit gebracht – und implizit damit auch der Begriff der Muße, der die Bedingung von theoria darstellt. »Das Schlechte an der Kontemplation bis heute, der diesseits von Praxis sich genügenden, wie Aristoteles erstmals als summum bonum sie entwickelt hatte, war, daß sie gerade durch ihre Gleichgültigkeit gegen die Veränderung der Welt zum Stück bornierter Praxis: daß sie Methode und instrumentell ward.« 172 Man muss sich gewahr werden, dass Adorno hier eine Kritik am Begriff der Kontemplation vornimmt, die auf dessen Wesenskern zielt. Muße und Kontemplation verstehen sich bei Aristoteles durch ihren Selbstzweckcharakter. Somit meint Muße eine Sphäre menschlichen Lebens, die sich dem Charakter instrumenteller Vernunft entzieht und erst darin das philosophische Denkens auszeichnet. Wo sie instrumentell und methodisch geriet, war keine Muße mehr. Doch Adorno sieht Kontemplation gerade dort zum bloßen Instrument einer bornierten Praxis verkommen, wo sie sich gleichgültig zeigt gegenüber ›der Veränderung der Welt‹. Der vordergründige Garant der Zweckfreiheit im aristotelischen Mußekonzept, die Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber praktischen Zwängen und Anforderungen, lässt in den Augen Adornos, Muße gerade zu einem bloßen Instrument ver172

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GS 6, S. 242.

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kommen. Um diesen Gedankengang nachzuvollziehen, muss die Frage beantwortet werden, welchem Zweck denn die Muße unter der Hand dient, Instrument zu welchem Zweck sie darstellt. Die Antwort ist im Exklusionscharakter der Muße zu suchen, ihrer Auszeichnung als Privileg der Wenigen gegenüber dem Hasten der Vielen. Zweckfreie Muße ist also bei Aristoteles selbst Vollzugsmoment einer antagonistisch-hierarchisch geprägten Gesellschaft, die auf Arbeitsteilung fußt. Dieser Tatbestand wird positiv gewendet, wenn Adorno im Anschluss an den obigen Satz folgendermaßen fortfährt: »Die mögliche Reduktion von Arbeit auf ein Minimum müßte den Begriff der Praxis radikal affizieren.« 173 Wo Konzepte von Muße also ihre realgeschichtlichen Bedingungen, im Falle Aristoteles die patriarchale Sklavenwirtschaft, ausblenden oder gleichgültig hinnehmen, gerät ihre angebliche Zweckfreiheit zur realen Instanz gesellschaftlicher Unfreiheit und wird zum Instrument der Unterdrückung. Dennoch bezieht sich Adorno in eigener Sache positiv auf den Begriff der Muße, bzw. Kontemplation. Dieser ist allerdings nur als ein kritischer zu halten, der mithin einen utopischen Gehalt vermittelt. 174 Kritisch ist Muße gegenüber der verhängnisvollen Praxis, die »ideologisch sich selbst erhöht und die Subjekte so oder so sich zu tummeln veranlaßt« 175, indem sie aus ihr heraustritt und darin eine Position gewinnt, Praxis kritisch zu reflektieren. Darin entfaltet Muße selbst einen praktischen Gehalt im Sinne einer Besinnung auf wahre Praxis; mehr noch, Muße selbst unterläuft die Dichotomie von Theorie und Praxis und vollzieht in Bruchstücken das, was unter einer wahren, vom bürgerlichen Arbeitswahn befreiten Praxis verstanden werden müsste. Diese utopische Dimension von Muße hat einen paradoxen Charakter: »Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen GS 6, S. 242. Dieser utopische Gehalt des Mußebegriffs weist auch auf einen veränderten Arbeitsbegriff selbst, der hier nur implizit angesprochen werden kann und eine eigene Untersuchung nahelegt. Es ist kein Zufall, dass in Auseinandersetzung mit Adorno auf eine Neubestimmung der Arbeit und ihr Verhältnis zu einer Selbstverwirklichung in Muße gedrängt wird. Siehe dazu: Christoph Türcke, Gottesgeschenk Arbeit. Theologisches zu einem profanen Begriff, aus: Hamburger Adorno-Symposion, Hrsg. Michael Löbig und Gerhard Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 87–98 und Ute Guzzoni, Das Glück der Lotophagen, aus: Sieben Stücke zu Adorno, Freiburg/München 2003, S. 77–92. 175 GS 6, S. 242. 173 174

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praktischer Frevel wäre. Dem Denken kommt heute ironisch zugute, daß man seinen Begriff nicht verabsolutieren darf: es bleibt, als Verhalten, ein Stück Praxis, sei diese sich selbst noch so sehr verborgen.« 176 Paradox ist diese Stellung der Muße nicht bloß darum, weil sie gerade aus ihrer Verzweiflung an der verstellten wahren Praxis den Raum findet, sich kritisch auf Praxis zu beziehen und darin eine veränderte Praxis auf den Weg zu bringen, sondern auch in ihrem eigenen Gefüge: Gerade dort, wo Muße sich aus der Rastlosigkeit gedankenloser Tätigkeit befreit und das Denken als Selbstzweck bestimmt, erkennt es sich selbst als ein praktisches Verhalten. Erst in dieser Selbstbesinnung, die zugleich eine Selbstbegrenzung meint, kann das ›Glück des Geistes‹, das als Privileg der Wenigen dem Verhängnis der Praxis Vorschub leistet, genossen werden. »Wer jedoch nichts tun kann, ohne daß es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten; das ist seine Rechtfertigung und die des Glücks des Geistes.« 177 Dieses ›Glück des Geistes‹ ist damit nicht eines der reinen Versenkung des Denkens in sich, sondern eines, das gerade in seinem kritischen Bezug auf Praxis praktisch wird und einen Akt praktischer Freiheit darstellt. »Wer aber dem unerlaubten Glück des Geistes das buchstäbliche, sinnliche als Besseres kontrastiert, verkennt, daß, am Ende der geschichtlichen Sublimierung, das abgespaltene sinnliche Glück etwas ähnlich Regressives annimmt, wie das Verhältnis von Kindern zum Essen den Erwachsenen abstößt. Jenen darin nicht zu gleichen, ist ein Stück Freiheit.« 178 Muße Vollzugsform von Selbstbesinnung ist hier also wesentlich als kritisches und utopisches Potential gekennzeichnet. Es ist ein Stück Glück im Unglück und darin so sehr Selbstzweck wie praktische Veränderung. Das Moment der Selbstbegrenzung taucht hier wiederum auf und zwar in einer spezifischen Form: Muße grenzt sich als Ausnahme vom alltäglichen Betrieb ab und begrenzt dabei die Tendenz der Verabsolutierung des Denkens. Mit der Muße haben wir einen Ausnahmezustand vor Augen, der ganz im Sinne Walter Benjamins utopisch zu lesen ist, denn auch für ihn gilt die Forderung, dass dem geschichtlichen Verhängniszusammenhang erst dort Abhilfe geboten wäre, wo solche Ausnahme die Regel würde. Der Exklusiv176 177 178

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GS 6, S. 243. GS 6, S. 242–243. GS 6, S. 243.

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charakter der Muße als Privileg wird also von Adorno hier zur Ausnahme vom universalen Schuldzusammenhang gedeutet, der darin noch Glück aufbewahrt. Muße wird als Ausnahme in der Selbstbesinnung zum konkreten Selbstvollzug utopischer Veränderung. Sie bildet den Ort des Denkens, in dem es zugleich real sich vollziehende Veränderung meint wie auch den Bezug auf das real Ausgebliebene, die Utopie, Muße ist Entelechie der Utopie und siedelt darin im radikalen Zwischen von Möglichkeit und Wirklichkeit der Veränderung selbst.

III.4.3.2. Muße als Versenkung Das kritisch-utopische Potential von Muße, das ich im Begriff der Selbstbesinnung des Denkens ausgemacht habe, erweist sich wiederum in einer erkenntnistheoretischen Utopie, der Versenkung des Denkens in seinen Gegenstand. »Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« 179 Solche Utopie, die Eröffnung des Begriffslosen durch Begriffe, erfordert ein Denken, das sich nun eben spezifisch als eine Versenkung denken ließe. »Aber kann man denn von einem Menschen verlangen, daß er fliege? Ist der Enthusiasmus, wie ihn Platon, der schließlich wußte, was Philosophie sei, für deren wichtigste subjektive Bedingung hielt, etwas, was sich verordnen läßt? Die Antwort darauf ist nicht so einfach, wie sie dem abwehrenden Gestus dünkt. Denn dieser Enthusiasmus ist ja keine zufällige und etwa bloß vom biologischen Stadium der Jugend abhängige Phase. Sie hat einen objektiven Gehalt, das Ungenügen an der bloßen Unmittelbarkeit der Sache, die Erfahrung ihres Scheins. Über diesen sich zu erheben, wird aber von ihr selbst gefordert, sobald man sich guten Willens in sie versenkt. Die Erhebung, die ich meine, ist eins mit der Versenkung. Was fehlt, spürt ein jeder im Grunde selbst; ich weiß, daß ich nichts Neues sagte, sondern allenfalls einiges, was manche sich nicht eingestehen mögen.« 180

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GS 6, S. 21. GS 10.2, S. 493.

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Die Frage, ob man vom Menschen verlangen könne zu fliegen, ist der Frage verwandt, ob man vom Menschen denn verlangen könne, sich utopische Begriffe zum Maßstab zu machen, wo solche Utopie doch verstellt zu sein scheint. Der philosophische Enthusiasmus ist auch ein utopischer, was sich nicht bloß seit der Aufklärung abbildet (vgl. Teil II), sondern bereits in den Gesellschaftsutopien antiker Autoren hervorlugt. Der Enthusiasmus wird hier bestimmt als die Kraft, sich über die bloße Unmittelbarkeit der Sache zu erheben und in dieser Erhebung deren Scheinhaftigkeit zu reflektieren. Erhebung über die Unmittelbarkeit ist aber eins mit der Versenkung in die unmittelbare Sache. Diese Figur einer Erhebung durch Versenkung lässt sich grundsätzlich mit dem Konzept der Muße in Einklang bringen, charakterisiert sie geradezu idealtypisch, denn Muße als Selbstzweck ermöglicht erst eine zweckfreie Hinwendung zu den Gegenständen des Geistes, die Betrachtung der Gegenstände der Vernunft, in der sich Vernunft selbst genügt und genießt; auch hier ist Muße als eine Vollzugsform der zweckfreien Versenkung und Erhebung gedacht. Die Form der Versenkung ist bei Adorno als eine spezifische anzusehen. Sie meint ein dialektisch-konstellatives Verfahren, die Sachen selbst immanent erfahrbar zu machen, indem sie durch den Gedanken in Bezug gesetzt werden zu ihrer eigenen konstellativen Textur. »Versenkung ins Einzelne, die zum Extrem gesteigerte dialektische Immanenz, bedarf als ihres Moments auch der Freiheit, aus dem Gegenstand herauszutreten, die der Identitätsanspruch abschneidet.« 181 »Das Objekt öffnet sich einer monadologischen Insistenz, die Bewusstsein der Konstellation ist, in der es steht: die Möglichkeit zur Versenkung ins Innere bedarf jenes Äußeren. Solche immanente Allgemeinheit des Einzelnen aber ist objektiv als sedimentierte Geschichte. »Diese ist in ihm und außer ihm, ein es Umgreifendes, darin es seinen Ort hat. Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.« 182 Die Versenkung in Muße kommt nun gerade dem Anspruch der Utopie von Erkenntnis nach; es eröffnet das Begriffslose durch Begriffe, indem das Denken sich in seiner Freiheit und Erhebung zugleich in eine Erfahrung mit seinen Gegenständen begibt, die ihren konstellativen Wesenskern eröffnet. Versenkung wird denkende Er181 182

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GS 6, S. 39. GS 6, S. 165.

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fahrung mit den Sachen selbst, ohne sie festzuzurren auf den Begriff. Auch hier tritt wieder einer der zentralen Auszeichnungen des Mußebegriffs in den Fokus, nämlich ihre Stellung zwischen einer scheinbaren Passivität in der Befreiung vom Handlungszwang und der Tätigkeiten, die einzig solche Freiheit durch Muße verbürgt,. Solche Tätigkeiten als Selbstzweck, die Muße ermöglicht, werden bei Aristoteles auf Glück bezogen. »Wenn also nun zwar unter allen tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe obenan stehen, und sie gleichwohl mit der Muße unvereinbar und auf ein außer ihnen liegendes Ziel gerichtet sind und also nicht ihrer selbst wegen begehrt werden, und wenn dagegen die Tätigkeit der Vernunft, die denkende, ebensowohl an Ernst und Würde hervorragt, als sie keinen anderen Zweck hat, als sich selbst, auch eine eigentümliche Lust und Seligkeit in sich schließt, die die Tätigkeit steigert, so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit, so weit es menschenmöglich ist, das Selbstgenüge, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden muß. Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen, wenn sie auch noch die volle Länge eines Lebens dauert, da nichts, was zur Glückseligkeit gehört, unvollkommen sein darf.«

Das Glück der Muße, das utopische Moment des Denkens in seiner versenkenden Erhebung, ist an den Charakter der Selbstgenügsamkeit als Selbstzweck geknüpft. Darin ist auch die spezifische Ununterschiedenheit zwischen Passivität und Aktivität auszumachen. Muße richtet sich auf keinen äußeren Zweck und scheint darin passiv und ist doch zugleich durch eine höchste Form der Tätigkeit ausgezeichnet, insofern sich der Gedanke hier tatsächlich nicht mehr bloß rezeptiv gegenüber seinen Gegenständen verhält, sondern denkende Betrachtung einer Selbstbewegung des Denkens gleicht. Man könnte sagen, in der Versenkung in die Gegenstände im Sinne der Muße bewegt sich das Denken darum selbst über sich hinaus, weil es sich rückhaltlos – ohne äußeren Zweck – seinen Gegenständen überlässt. Dieses über sich hinaus Gehen des Denkens in einer Mußeerfahrung der Gegenstände meint ein spezifisches Freiheitsmoment des Denkens. Nehmen wir diesen Charakter der Versenkung ernst, sind wir wiederum auf den Begriff der metaphysischen Erfahrung verwiesen. Bei genauerer Betrachtung meint metaphysische Erfahrung nichts anderes als ein Denken in Muße und kann bei Adorno als Zentralmoment des negativ-utopischen Denkens bezeichnet werden. Auch hier Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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bekommen wir das Überlassen des Denkens an seinen Gegenstand vor Augen geführt, das zugleich eine Erhebung über diesen vollzieht, auch hier haben wir es mit einem Organ des Glücks zu tun, das Glück einerseits allererst anvisiert und andererseits darin bereits im Glück steht. Metaphysische Erfahrung ist ein Denken in Muße und hätte den Anspruch, als Versenkung in den Gegenstand die gesamte erkenntnistheoretische Position zu prägen.

III.4.3.3. Muße als Stilllegung der Dialektik des Falschen »Der Lebensprozeß selbst erstarrt im Ausdruck des Immergleichen: daher der Schock der Photographien aus dem neunzehnten und nun bereits frühen zwanzigsten Jahrhundert. Der Widersinn explodiert, daß dort etwas geschieht, wo das Phänomen sagt, nichts mehr könne geschehen; sein Habitus wird schauerlich. Im Schauer drängt der des Systems zur Erscheinung sich zusammen, das, je mehr es sich expandiert, desto mehr sich verhärtet zu dem, was es von je war. Was Benjamin Dialektik im Stillstand nannte, ist wohl weniger ein platonisierender Rückstand als der Versuch, solche Paradoxie philosophisch bewußt zu machen. Dialektische Bilder: das sind die geschichtlich-objektiven Archetypen jener antagonistischen Einheit von Stillstand und Bewegung, die den allgemeinsten bürgerlichen Begriff von Fortschritt definiert.« 183 »Ihr [das der Phänomenologie des Geistes von Hegel] Gebot, einem jeglichen Begriff so lange rein zuzusehen, bis er kraft seines eigenen Sinnes, seiner Identität also, sich bewege, unidentisch werde mit sich selbst, ist eines von Analyse, nicht Synthese. Die Statik der Begriffe soll, damit diese sich Genüge tun, ihre Dynamik aus sich entlassen, vergleichbar dem Gewimmel in Wassertropfen unterm Mikroskop. Daher heißt die Methode phänomenologisch, ein passives Verhältnis zum Erscheinenden. Sie war bereits bei Hegel, was Benjamin Dialektik im Stillstand nannte, weit fortgeschritten über alles hinaus, was hundert Jahre später als Phänomenologie auftrat. Dialektik bedeutet objektiv, den Identitätszwang durch die in ihm aufgespeicherte, in seinen Vergegenständlichungen geronnene Energie zu brechen. Das hat partiell in Hegel gegen diesen sich durchgesetzt, der freilich das Unwahre des Identitätszwangs nicht zugestehen kann. Indem der Begriff sich als mit sich unidentisch und in sich bewegt erfährt, führt er, nicht länger bloß er selber, auf sein nach Hegelscher Terminologie Anderes, ohne es aufzusaugen. Er bestimmt sich durch das, was außer ihm ist, weil er

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GS 10.2., S. 637.

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dem Eigenen nach nicht in sich selbst sich erschöpft. Als er selbst ist er gar nicht nur er selbst. 184

Der von Benjamin herrührende und laut Adorno an Horkheimer anschließende Begriff der Dialektik im Stillstand bringt die beiden Perspektiven zusammen, die wir bislang für einen negativ-utopischen Mußebegriff beschrieben haben. Die Selbstkritik des Denkens und damit Kritik überhaupt wird in einer Dialektik des Stillstands zusammengedacht mit dem Aspekt der Utopie der Erkenntnis in der Versenkung des Denkens in seine Gegenstände. Die beiden oben angeführten Zitate belegen das in aller Deutlichkeit: Zum einen wird die Dialektik des Stillstands im Fortschrittsaufsatz geschichtsphilosophisch verstanden, während sie im zweiten Zitat aus der Negativen Dialektik als erkenntnistheoretische Position gedeutet wird. Dieser Zusammenfall von geschichtsphilosophischer, erkenntnistheoretischer und bedeutungslogischer Perspektive ist verbindlich für das Gesamtwerk Adornos. ›Dialektik im Stillstand‹ ist als dialektisches Bild aber besonders geeignet diesen Zusammenhang darzustellen. Zu bemerken ist in beiden Lesarten eine Gemeinsamkeit, die sich darin festmachen lässt, die Dialektik im Stillstand als eine Verwobenheit von Statik und Dynamik, von Stillstand und Bewegung zu verstehen. Im Falle der geschichtsphilosophischen Perspektive wird von einem geschichtlich ›Immergleichen‹ ausgegangen, das die geschichtliche Dynamik selbst als Lähmung und Verhärtung darstellt. Der ungehemmte Zwang zur Expansion des Systems erweist sich als Form der Unbeweglichkeit menschlicher Lebensverhältnisse. Dagegen ist die Stilllegung dieser Expansion im dialektischen Bild, für das hier der Schauer angesichts der Erfindung der Photographie einsteht, selbst als eine Dynamisierung des Immergleichen zu verstehen. Wir können dieses Phänomen wie folgt beschreiben: Wenn die Geschichte der Menschheit als eine stets expansive, auf totale Naturbeherrschung zielende Bewegung verstanden wird, dann wird hinter ihren konkreten technischen Fortschritten und Entwicklungen eine eigentliche geschichtliche Veränderung, d. h. Bewegung, unterbunden. Es wiederholt sich darin immer nur dasselbe. Fatal ist solche geschichtlich-expansive Lähmung gerade dadurch, dass sie von ihren Protagonisten nicht als Lähmung, sondern vielmehr als eine sich stets

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beschleunigende Bewegung wahrgenommen wird. Darin ist der Scheincharakter des Fortschrittsglaubens auszumachen. Das Rad der Geschichte dreht sich zwar immerzu fort, doch – um im Bilde zu sprechen – handelt es sich um ein leerdrehendes Rad, dass keinen qualitativen Fortschritt zu entfalten trachtet, da es in seiner Eigenbewegung gefangen ist. Diese leerdrehende Bewegung bisheriger Geschichte wird von Adorno als eine Dialektik des Falschen verstanden. Erst, wo solche Dialektik stillgelegt wird, sie ins Bild gebannt wird, da erwächst dem Bewusstsein ein ›Schauer‹, der darin besteht, sich bewusst zu werden, dass eben alle bisherige Bewegung bloße Wiederholung war und wahre Bewegung (vgl. wahrer Fortschritt) erst stattfinden kann, wo solcher fatalen Dynamik Einhalt geboten wurde. Mehr noch, in der Stilllegung findet eine wahre Dynamisierung geschichtlicher Verhältnisse statt. Es ist die Möglichkeit zu wahrer Veränderung, die sich in der Stilllegung der expansiv-leerdrehenden Bewegung entfaltet. Und als solche Eröffnung der Möglichkeit wahrer Veränderung ist in der Stilllegung selbst ein Bewegungsmoment auszumachen, das sich zwar noch als gestaute Spannung darstellt, aber darin als Spannung zugleich eine Bewegung impliziert, nämlich ihre Auflösung (vgl. Fortschritt.). Aus der Perspektive der Utopie von Erkenntnis erweist sich dieses Wechselverhältnis von Statik und Dynamik auf anderer Ebene: Der phänomenologische Zugang wird zuerst als ein passiver bestimmt, als das dem Begriff ›reine und lange Zusehen‹. Erst in diesem passiven Schauen des Denkens auf seine Begriffe (eine idealtypische Fassung, was unter theoria oder Vernunft verstanden werden kann), eröffnet sich eine inhärente Dynamik im Begriff selbst. Die Begriffe beginnen sich unter dem reinen Blick des Denkens selbst zu wandeln und zu bewegen. Darin bleibt das Denken scheinbar bloß bei sich selbst, ist Kontemplation im klassischen Sinne. Doch Adorno geht hier tatsächlich auf eine Utopie der Erkenntnis aus, denn erst durch die Erfahrung des Denkens, dass seine festen Begriffe unter der Hand dynamisch werden, es sie »als mit sich unidentisch und in sich bewegt« erfährt, macht das Denken eine Erfahrung mit dem, das selbst nicht begrifflich ist. »Er bestimmt sich durch das, was außer ihm ist, weil er dem Eigenen nach nicht in sich selbst sich erschöpft.« Das bloß passive, stille Zusehen des Denkens wird also der eigentliche Bewegungsmotor für eine lebendige Erfahrung mit dem Außerbegrifflichen, es dynamisiert die scheinbar unbewegten Begriffe und darin das Denken selbst. Wiederum steht die Dialektik im Stillstand für ein 296

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Stilllegen und Einhaltgebieten ein, das gerade darin zu einer wahrhaftigen Bewegung führt. Diese beiden Perspektiven bringen Dynamik und Statik in verkehrter Form in ein Wechselverhältnis. Einmal ist ein scheinbar Bewegtes (die geschichtliche Dynamik) in ihrer Stilllegung erst als eine Lähmung erfahren worden und darin potentiell wiederum dynamisiert. Im zweiten Fall wird ein scheinbar Statisches (der Begriff) durch den reinen Blick als dynamisch erfahren und darin echte Erkenntnisbewegung ermöglicht. In beiden Fällen jedoch wird durch das dialektische Bild, durch eine spezifische konstellative Stilllegung eine Bewegung evoziert. Zu beachten ist dabei, dass auch hier wiederum die beiden Ebenen von Kritik und Utopie aufgehoben sind. Sowohl dem Begriff gegenüber, wie auch der geschichtlichen Bewegung des Immergleichen wird eine Stille des Denkens, eine Besinnung, entgegengehalten, die eigentlich erst eine kritische Bezugnahme ermöglicht. Und zugleich eröffnet sich darin eine utopische Perspektive, die ohne solche Stilllegung nicht zu erblicken wäre. Die Stilllegung wird hier also als Eröffnung verstanden: Zum einen wird eine geschichtlichutopische Perspektive eröffnet, zum anderen eine erkenntnistheoretische Utopie. Wir haben hier in anderer Form wiederum das Motiv einer Öffnung des Denkens durch Selbstbegrenzung vor Augen. Mit dem hier entfalteten Begriff der ›Dialektik im Stillstand‹, den ich im Weiteren als Konzept der Muße darstellen werde, findet Adorno allerdings zu einem Konzept, das die Selbsttranszendierung in der Selbstnegierung positiv zu fassen in der Lage ist. Dazu nun im Folgenden. Dass wir die Dialektik im Stillstand als ein Mußekonzept verstehen, rechtfertigt sich auf mehreren Ebenen. Gerade die Wechselbestimmung von Statik und Dynamik, die man hier vorfindet, ist dem Begriff der Muße eigen. Sie meint eben einerseits einen Rückzug aus den Aktivitäten des Alltags, aus dem durch äußere Zwecke bestimmten Handlungsgefüge, doch zugleich meint sie keine Untätigkeit, sondern wird traditionell sogar als mit der höchsten Tätigkeit, der theoria, verschwistert verstanden. Muße ermöglicht also eine spezifische Tätigkeit im Rückzug von den Zwängen zur Tat. Doch auch inhaltlich scheint das Motiv der Dialektik im Stillstand dem der Muße zu entsprechen. Ausdrücke wie der ›reine, lange Blick‹ verweisen uns auf diesen Zusammenhang. Das dialektische Bild ist eben immer schon ein Bild der Besinnung des Denkens und darin eines der Muße. Sowohl Erkenntniskritik als auch die Kritik von Geschichte Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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sind auf solche einhaltende Besinnung des Denkens angewiesen um ihr utopisches Potential zu entfalten. Muße als Selbstzweck entfaltet das Potential, sich den Tätigkeiten zu enthalten, die ihre Zwecke außerhalb ihrer selbst liegen haben (instrumentelles Handeln und Denken). Dann ist Muße aber gerade auch eine Ermöglichungsbedingung von Selbstverwirklichung, sich als Selbstzweck hervorzubringen. Das Einhaltgebieten äußerer Tätigkeit, sei es die unablässiger begrifflicher Identifikation oder die steter technischer Expansion, das im Begriff der Dialektik im Stillstand auftaucht, verwirklicht eben eine eigene und ›wahre‹ Bewegung, die sich als Selbstbewegung verstehen lässt. Diese Selbstbewegung der Muße im negativ-utopischen Sinn vollzieht die Spannung, die im Utopie-begriff angelegt ist. Das Utopische (wahrer Fortschritt zur Menschheit, denkende Erfahrung der Sachen selbst, o. ä.) kommt erst zur Möglichkeit und wird erst im Denken als Muße überhaupt zum Anspruch des Denkens, indem es sich vom Scheincharakter begrifflicher Identität und geschichtlichen Fortschritts befreit. Doch der Gewinn dieser kritischen Perspektive durch Muße vollzieht auch zugleich real die Utopie in gebrochener Gestalt. Der Punkt, auf den es hier besonders ankommt, ist eine Kennzeichnung negativ-utopischer Muße als ein Einhaltgebieten gegen über einer sich fatal verselbstständigten geschichtlichen und mithin auch philosophischen Dynamik von Arbeit, Leistung und Antagonismus. Diese ziel- und endlose Expansion beruht dabei für Adorno wesentlich in einem Identitätszwang. Expansion bedeutet Einverleibung und vollzieht sich durch das Prinzip der Äquivalenz, der Tilgung von Differenz unter einem allgemeinen Äquivalent, sei es nun konkret das Geld oder überhaupt das Vermögen der Abstraktion. Das Fatale, die Grenzen- und Ziellosigkeit dieser Expansionsbewegung, lässt sich anhand der Zweck-Mittel-Kategorie kennzeichnen. Die Neuzeit, in deren Geschichte diese Dynamik eine verheerende Beschleunigung erfuhr, hat sich neue und charakteristische Götzen bzw. Fetische zugelegt: Geld, Arbeit, Leistung, Wachstum und Konkurrenz. Diese Zentralbegriffe der Moderne zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Begriffe, die per se als Mittel verstanden wurden, nun selbst zu Zwecken werden. Geld als Zentralmedium der Ökonomie und Arbeit als Medium der Bedürfnisstillung und Selbstverwirklichung werden bereits bei Marx hinsichtlich ihres Fetischcharakters untersucht. Das gilt für das Geld explizit und für die Arbeit implizit. Das Gleiche gilt aber ferner auch für Leistung und Wachstum, Begriffe, die sich eigentlich auf einen Zweck oder eine Form als Grenze beziehen, nun 298

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aber, wo sie selbst als Zwecke gesetzt werden, grenzen- und ziellos werden. Einzig im Begriff der Konkurrenz haben wir es mit einem Konzept zu tun, das nicht immanent als ein Mittel begriffen werden muss, sondern vielmehr als Prinzip bestimmt wird. Konkurrenz, die bürgerlich geschönte Ausdrucksform für Antagonismus, wird unter der Hand als ehernes Seinsgesetz verstanden, ob in Wirtschaft, Politik oder Evolution. Antagonismus als Prinzip verstanden hat eine lange Geschichte in der Philosophie. In seiner systematischen geschichtsphilosophischen Erarbeitung bei Kant und Hegel wird dieses Prinzip zwar als Bewegungsmotor geschichtlicher und natürlicher Entwicklung verstanden, ohne aber hier als Zweck gedacht zu sein. Vielmehr ist dem Antagonismus bei Kant, Hegel und Marx die Aussicht auf eine Überwindung dieses Prinzips beigestellt. Aus dem Antagonismus erwächst die Forderung, aus ihm herauszutreten. Dem natürlich sich wiederholenden Prinzip des Antagonismus wird also gerade in der Geschichte ein außer ihm liegendes Telos gegeben, seine Aufhebung. In dieser Begrenzung des antagonistischen Prinzips durch die Utopie seiner Abschaffung erfährt er allererst seinen geschichtlichen Sinn. Wo jedoch, wie in der fatalen Dynamik unendlicher Expansion, gerade dieses Prinzip selbst zum Zweck erklärt wird, wird es real total. Die Stilllegung der fatalen Expansion, die Dialektik im Stillstand beruht darauf, die Zweckordnung und darin die Begrenzung als eine Sinndimension auszuloten. Bloße Mittel, die als Zwecke gedacht werden und ein Prinzip, das seinen Sinn in seiner Aufhebung hat, hier aber selbst als ein Zweck betrachtet wird, verfallen einer Sinnlosigkeit durch Unbegrenztheit, sie sind eine reale schlechte Unendlichkeit. Gerade die Muße als Selbstzweck hat nun das Vermögen, dieser haltlosen Dynamik zumindest bruchstückhaft Einhalt zu gebieten. Dadurch dass sie selbst von äußeren Zwecken frei ist und eine Dynamik jenseits praktischer Anforderungen freigibt, durchbricht sie den lückenlosen Zusammenhang der fatalen geschichtlichen Dynamik, die Mittel zu Zwecken erklärt und sich darin grenzenlos fortschreibt. Darin stellt sie, wie oben dargestellt, ein Freiheitsakt dar.

III.4.3.4. Muße und Humanität Bislang haben wir Muße im negativ-utopischen Sinn als Selbstbesinnung, Versenkung und Stilllegung verstanden. In allen drei PerspekKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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tiven vereint sich ein kritisches und ein utopisches Moment. Selbstbesinnung kann wesentlich als Selbstkritik des Denkens verstanden werden, Versenkung als Utopie der Erkenntnis. Stilllegung ist wesentlich negativ-kritisch in Bezug auf die Dynamik des Verhängniszusammenhangs. Nun kann aber auch die utopische Perspektive von Muße im geschichtlichen Sinne erarbeitet werden, denn Adorno bringt dieses Konzept explizit in Zusammenhang mit der Verwirklichung von Humanität und Aussöhnung mit der Natur. Er nennt Muße die »Voraussetzung von Humanität« 185 und sieht diese direkt auf eine Selbstbesinnung des Menschen auf seine Natürlichkeit und die darin liegende Aussöhnung mit Natur verwiesen. »Jeglicher Ausdruck von Hoffnung, wie er von den großen Kunstwerken noch im Zeitalter ihres Verstummens mächtiger ausgeht als von den überlieferten theologischen Texten, ist konfiguriert mit dem des Menschlichen; nirgends unzweideutiger als in den Augenblicken Beethovens. Was bedeutet, nicht alles sei vergebens, ist durch Sympathie mit dem Menschlichen, Selbstbesinnung der Natur in den Subjekten; allein in der Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit entragt der Genius der Natur.« 186

Hier ist ein zentraler Gedanke Adornos zur Utopie der Humanität ausgedrückt. Humanität, der Zusammenschluss der Menschen zur Menschheit in Menschlichkeit ist nur zu verstehen aus der Aussöhnung mit Natur. Gerade das Menschliche wird für Adorno nicht durch eine Abgrenzung vom Natürlichen bestimmt, sondern ihm wird als Anspruch nur dort entsprochen, wo sich die Menschen ihrer eigenen Natürlichkeit besinnen. Ein solches Moment ist bereits im Zusammenhang mit der Untersuchung des freien Willens bzw. des intelligiblen Charakters aufgeblitzt. Erst in der Anerkennung des Impulses, einer naturwüchsigen Bezugsform vermag sich der Mensch auf seine Freiheit zu besinnen. Er muss sich quasi mit seiner Natürlichkeit aussöhnen, um ihr nicht zu verfallen. Ebenso verhält es sich hier. Die Auflösung des Antagonismus zur Natur wird zum Fundament der Aussöhnung der Menschen selbst und damit konstitutiv für die Versöhnung. Dies hat seinen Grund darin, dass Naturverfallenheit und Naturbeherrschung zum Ausgangspunkt der geschichtlich dialektischen Bewegung werden. Dass solche Aussöhnung mit der eigenen Natur überhaupt als eine ›Selbstbesinnung der Natur in den Subjekten‹ verstanden wird, 185 186

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GS 10.1, S. 83. GS 6, S. 389–390.

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gibt dem Konzept der Muße eine neue Schlagrichtung. Natur muss bei Adorno in einer Hinsicht synonym mit dem Begriff des Mythos verstanden werden. 187 »Es ist damit gemeint das, was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell ist in ihr.« 188 »[…] wobei Geschichte besagt jene Verhaltensweise der Menschen, jene tradierte Verhaltensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt.« 189 Das Neue hat seinen spezifischen Ort also in der Geschichte, den wir als Ort der Aufklärung im Sinne der Dialektik der Aufklärung verstehen dürfen, während Natur für das Je-schon des Mythos einsteht. Wie wir bereits in den vorausgegangenen Kapiteln gesehen haben, ist aber gerade die Humanität und mithin der ›neue Mensch‹ das spezifisch Neue, das es in der Geschichte zu erreichen gilt. In diesem Sinne bleibt Adorno auch strikt bei der aufklärerischen Lesart, die Geschichte zu dem Selbstverwirklichungsraum des Menschen erklärt. Doch mit einem wesentlichen Unterschied: Wenn bei Kant davon gesprochen werden kann, dass gerade der Antagonismus die Triebfeder der Weiterentwicklung des Menschen darstellt, oder wenn Hegel in der Leidensgeschichte der Weltgeschichte eine Theodizee ausmacht, dann kann das Adorno bloß noch als einen Zynismus lesen. Aber das Entscheidende ist nicht der Zynismus solcher Aussagen selbst, sondern vielmehr eine völlige Umwertung des geschichtlichen Antagonismus selbst. Wie aus dem Fortschrittsaufsatz herausgearbeitet, taugt nämlich der geschichtliche Antagonismus selbst nicht zu einem Fortschritt zur Menschheit, sondern bloß noch zu einem Fortschritt der ›Fertigkeiten und Kenntnisse‹. In diesem jedoch bricht der Mythos, die Natur, umso bitterer über den Menschen herein: Er bleibt gefangen im Immer-schon von Zwang und Unterdrückung. Der Antagonismus ist also nicht die Treibfeder zur befreiten Menschheit sondern zur heillosen Ausweitung der Macht als Prinzip aller Bezie-

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GS. 1, S. 345. GS 1, S. 346. GS 1, S. 346.

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hungen und meint damit den ständigen Rückfall des Menschen hinter sich. Betrachten wir aber den geschichtlichen Antagonismus genauer, dann findet bereits hier eine Umdeutung des Naturbegriffs statt. Denn dieser selbst fußt auf dem Antagonismus von Mensch und Natur. In der Dialektik der Aufklärung wird in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass alle geschichtlichen Zwangszusammenhänge aus dem Herrschaftsverhältnis von Mensch und Natur herrühren und sich daraus speisen. Es ist die Angst vor der Übermacht der Natur, die den Menschen dazu treibt selbst Techniken und Listen anzuwenden, Natur beherrschbar zu machen. Es ist die natürliche Aggressivität, die den Selbsterhaltungswillen zum Willen zur Macht sublimiert. Und ohne psychologisieren zu wollen, lässt sich für Adorno behaupten, dass es wesentlich so somatische Affekte wie Angst und Wut sind, die den Menschen bis zu seinen kulturellen und technischen Höchstleitungen treiben und selbst noch das Movens des Identitätsdenkens ausmachen. Der Mensch erliegt also gerade in seiner größten Abwendung von Natur, in seinem unerschütterlichen Willen zu ihrer Beherrschung seiner eigenen Natürlichkeit. Natur als Mythos bleibt der eigentliche Regent der Weltgeschichte. Doch diese Perspektive auf Natur ist nicht umsonst mit dem Begriff des Mythos belegt. Dass Natur als das Gefährliche, zu Überwindende, zu Unterdrückende verstanden wird, basiert bereits auf einer angstbesetzten Interpretation dessen, was Natur ist. Eigentlich müsste man sagen, Natur gerinnt zum Mythos in den angsterfüllten und blindwütenden Augen des Menschen. Und darin liegt nun die Crux für eine Überwindung des Antagonismus. Aus Angst vor der Übermacht des Fremden, nicht Selbstbestimmten, formt der Mensch die Natur zum Fremden überhaupt, das es zu bändigen oder auszulöschen gilt. Darin wird sich der Mensch aber selbst fremd in seiner eigenen Person (innere Natur) und im Mitmenschen (Konkurrent im Selbsterhaltungskampf). Will der Mensch nun seiner eigenen Verfallenheit an den Mythos entgehen, bedarf es dabei in erster Linie einer grundsätzlichen Besinnung dessen, was Natur jenseits der Furcht vor dem Fremden bedeuten mag. In Sätzen wie ›wäre das Fremde nicht länger verfemt, Entfremdung wäre kaum mehr‹, lässt sich das ablesen. Ein erster Schritt darin wäre eine Besinnung des Menschen auf seine eigene Natürlichkeit, die Adorno wie oben angesprochen, bis in die Untersuchungen und die Kritik des Freiheitsbegriffs forttreibt. Selbst die klassischerweise der Natur als moralfreien Sphäre 302

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kontrastierte Moral wird von Adorno systematisch auf ihren natürlichen Gehalt hin untersucht. Darum kann er z. B. sagen, man solle versuchen, »so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.« Und nicht zu vergessen ist dabei ein nicht weniger natürlicher Zug des Menschen, der gerade in der Sphäre der Moral von Adorno stark gemacht wird, nämlich der positiv besetzter natürlicher Affekte, wie der der Liebe, Begierde, Lust und Glücksgefühl. Die Natürlichkeit des Menschen muss vom Menschen allererst anerkannt werden, um sich dem Mythos zu entziehen. In dieser Besinnung auf die eigene Natürlichkeit wandelt sich auch das Bild äußerer Natur. Sie kann als das schlechthin Ich-fremde nun als das wahrgenommen werden, was sie auch ist, nämlich der Lebensraum und Lebensspender des Menschen, seine Heimstätte als Lebewesen. Ein Wort wie Heimstätte im Zusammenhang Adornos zu gebrauchen erscheint gewagt. Was damit zum Ausdruck gebracht werden soll ist Folgendes: Der Mensch ist nicht nur dort zu Hause, wo er nur sich selbst sieht und kein Fremdes besteht, sondern wo das Fremde nicht länger angstbesetzt ist. Erst dort ist er wirklich Mensch und kann sich mit seiner eigenen Fremdheit, vor der er noch im Ungetüm des Unterbewusstseins zurückschreckt, anfreunden, sich selbst zum Freund werden. Äußere Natur bleibt darin also fremd, wäre aber nicht länger angstbesetzt. Darin wäre eine Aussöhnung mit der Natur zu suchen. Ist man dieser Überlegung bis zu diesem Punkt gefolgt, ergibt sich eine Neufassung von Natur selbst. Sie ist dann nicht mehr länger das Jeschon ewig sich wiederholender Prozesse, nicht länger Ausweglosigkeit eines in seinen Körper gepferchten Geistes, sondern selbst Lebendigkeit, die Neues hervorzubringen in der Lage ist und sich stets selbst überwindet – nicht zuletzt in Form des Menschen selbst. Geschichte und Natur treten dann aus ihrer dichotomen Fassung und schlagen in einander über. Und diese Neufassung von Natur wäre eben die Voraussetzung, den Antagonismus zu überwinden, der das Erreichen der Humanität versperrt hält. Nun zurück zu der Frage, weshalb ich diese Untersuchung von Humanität und Natur in den Zusammenhang mit dem Begriff der Muße stelle. Zum einen geht es hier um eine Selbstbesinnung des Menschen auf seine eigene Natürlichkeit und in einem zweiten Sinne um die Besinnung der Natur in den Subjekten. Beide Fassungen meinen aber nicht ein bloßes Nachdenken oder Reflektieren, sondern gehen tatsächlich mit dem Konzept der Muße konform. Muße meint im antiken Weltbild den wesentlichen Gegenbegriff Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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zur Arbeit, die als der naturhafte Vollzug des Überlebens gedacht wird. Darin scheint Muße nun am weitesten von Natur und den natürlichen Lebensvollzügen entfernt zu sein, was über Jahrhunderte auch den Begriff der Theorie als geistige Tätigkeit der Natur entgegengestellt sein ließ. Folgt man aber den oben dargelegten Überlegungen Adornos zu Natur und Geschichte, lässt sich eben die Muße umbestimmen, ohne den Charakter der Muße zu verlieren. Wo die Natur von vorne herein als die bloße Sphäre der Selbsterhaltung gedacht wird, da schreibt sie sich als Mythos fort in der entfremdeten und antagonistischen Gesellschaft, die sich im Innern seiner Subjekte widerspiegelt. Die Möglichkeit, sich dieser Rastlosigkeit der Machterweiterung aus Selbsterhaltung zu entziehen, eröffnet dann aber wesentlich die Möglichkeit, Natur anders zu denken als das bloß mythische Verhängnis. Muße ermöglicht dem Menschen die Besinnung auf seine eigene Natürlichkeit. Das will besagen, dass der Mensch erst aus der Abkehr von den Sachzwängen der technisch-ökonomischen Sphäre, sich darüber innewerden kann, dass ihm durch diese technisch-ökonomische Zwangslage als natürliches Lebewesen Gewalt widerfährt. Diese Besinnung auf die eigene Natürlichkeit vollzieht sich in einem doppelten Schritt. Zuerst wird die menschlich-kulturelle Sphäre als dasjenige entlarvt, was den Menschen eigentlich in den Antagonismus zur Natur gestellt hat, als einen alles verschlingenden sinnfreien Prozess. Daran schließt sich die zweite Einsicht an, dass die Zuschreibungen der Natur fehlgehen, wo sie in einem Antagonismus zum Menschen verstanden wird, unter dem der Mensch letztlich selbst als natürliches Lebewesen zu leiden hat. Gerade die Natur ist zu schützen vor der Zuschreibung der Natur als Mythos. Hieraus erwächst die Utopie von einem Aussöhnen des Menschen mit seiner eigenen Natürlichkeit, die nicht mehr als Ichfremdes gedacht werden muss, sondern integral das Menschsein ausmacht. Aus dieser Perspektive wird klar, inwiefern Muße selbst noch den Austragungsort der Besinnung der Natur in den Subjekten darstellt. In dieser Selbstbesinnung der Menschen auf ihre eigene Natürlichkeit, wird im Menschen die Natur sich ihrer selbst bewusst. Im Menschen schlägt die Natur ihre Augen auf. Dieser Gedanke grenzt hart an eine hegelsche Strukturlogik des Absoluten, ohne jedoch ein Absolutes zu konstatieren. Diese Abgrenzung von Hegel lässt im veränderten Bezug zur Teleologie aufweisen. Mit der Muße haben wir einen ideale Raum der Selbstzweckhaftigkeit vor uns, in dem der Ver304

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zweckung von Mitteln Einhalt geboten ist. Doch dieser Einhalt führt nicht zu einem Endzweck, sondern vielmehr zu einer Öffnung. Das Aufschlagen der Augen der Natur im Menschen meint also nicht ihre Selbsterkenntnis als einen Telos, sondern vielmehr ihre Selbsterkenntnis als Möglichkeitsraum für Neues. So muss nun auch die darin aufbereitete Utopie der Menschheit gedacht werden. Das Erreichen der Menschheit durch eine Aussöhnung mit Natur und der darin liegenden Überwindung des Antagonismus ist selbst kein Ende, sondern eben Anfang der Möglichkeit zu Neuem, zur wahrer Selbstverwirklichung. Natur wird dann zum Möglichkeitsraum unendlicher Formen und Versuche als welche sie sich schon der Evolutionstheorie darstellen könnte. Dass die Vielzahl der Lebewesen einzig aus einem Kampf ums Überleben, durch einen der Natur innewohnenden Konkurrenzkampf gezeitigt wurden, liegt keineswegs in den Befunden und der theoretischen Grundlegung von Evolution selbst, sondern ist wohl bloß aus einer ideologischen Verblendung heraus zu verstehen. Der Zufall agiert eben nicht nach Notwendigkeiten, sondern formt nach ›Lust und Laune‹. Dann aber ist – die Beschränkung durch die Möglichkeit zum Leben zugestanden – der Entfaltungsraum des Lebens potentiell unendlich und offen. Erst im Nachhinein erscheint das jeweils Gewordene als das notwendige (hypothetische Notwendigkeit), wird jedoch so behandelt, als sei es auf diese Lebensform, auf diesen Telos hingeordnet. Um es festzuhalten: Die Besinnung der Natur in den Subjekten, Voraussetzung von Humanität, meint keinen Telos, kann sich aber durch Muße als Selbstzweck verwirklichen. Natur und Geschichte sind in der Utopie der verwirklichten Menschheit ausgesöhnt und ineinander verwoben. Dass dieser Versöhnungsgedanke tatsächlich durch ein Mußekonzept erfasst werden kann, zeigt sich bereits in der praktischen und aktuellen Bedeutung dieses Gedankens. Diese Aussöhnung von Mensch und Natur und Menschheit im Ganzen ist eine der praktischsten Forderungen, die uns die Weltgeschichte aufgibt. Eine von globalen Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen gebeutelte Menschheit ist schon ex negativo auf den Begriff der Menschheit verwiesen und dessen Aussöhnung mit Natur dringlicher denn je. Adornos in den letzten Jahren mehr und mehr marginalisierte Fundamentalkritik und deren utopische Ausrichtung erweisen gerade hier ihre brennende Aktualität. Kein Fortschrittsoptimismus darf sich noch naiv seiner Errungenschaften freuen, vielmehr steht die Frage an, wie die Menschheit sich von der verselbstKonstellationen negativ-utopischen Denkens

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ständigten Form ihrer expansiven Aneignungs- und Herrschaftstechnik selbst wieder emanzipieren kann. Solche Emanzipation muss aber wesentlich auf einer Besinnung gründen, die sich auf eine Einschränkung und Rückbeziehung auf Zwecke verwirklichter Humanität bezieht. Dafür stehen aber gerade die Konzepte der Muße ein.

III.4.3.5. Muße als Friede Dass Muße eine Situation der Gewaltlosigkeit beschreibt, ist bereits von Aristoteles hervorgehoben worden, wo er sie stets mit Frieden assoziiert. Diese Gewaltlosigkeit ist aber nicht nur in den äußeren Umständen, im Ausbleiben von Handlungszwängen im ›Überlebenskampf‹ zu suchen, sondern versteht sich auch durch den spezifischen Charakter der Tätigkeiten, die Muße ermöglicht. Gewalt kann entweder als Mittel verstanden werden oder als Eruption aggressiver Motivationen. Beides ist gerade in der Situation der Muße ausgeschlossen. Die Tätigkeiten der Muße sind durch deren Selbstzweckcharakter gerade als wesentlich nicht instrumentelle Handlungen ausgewiesen, Gewalt als Zwangsmittel zur Erreichung eines Zwecks hat hier keine Geltung. Und auch eine Eruption von Gewalt, die nicht mehr als Mittel verstanden werden müsste, scheint gerade nicht in der Situation der Muße Raum zu finden, wo diese doch gerade Stress-Situationen, die solche Eruption heraufbeschwören müsste, als solche ausschließt. Die Muße meint eben auch einen Ruheraum zur Besinnung. Das berühmte Diktum Adornos, ›Wer denkt ist nicht wütend‹, verweist auf diesen Sachverhalt. So lässt sich Muße als eine spezifische Form des Friedens verstehen, die für das Denken Adornos unter der Hand sehr bedeutsam wird. Friede lässt sich sogar in einer Extrapolation des Denkens Adornos als ein philosophischer Zentralbegriff verstehen, der in der Lage wäre die Schlüsselstellung des Freiheitskonzepts abzulösen. Im vorausgehenden Teil habe ich die spezifischen Aporien des Freiheitsbegriffs bei Adorno in der Auseinandersetzung mit Kant herausgearbeitet. Dabei wurde darauf verwiesen, dass gerade der Begriff der Autonomie aufgegeben werden muss, bzw. einzig im Begriff des Widerstandes fortwirkt. Dennoch wird der Freiheitsbegriff von Adorno keineswegs aufgegeben, sondern bleibt zentral in seinem Werk. Allerdings erfährt er eine eigentümliche Wendung: Freiheit wird gekennzeichnet durch Widerstand und Versöhnung. Im Weiteren soll 306

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versucht werden, diesen gewandelten und in sich aporetischen Freiheitsbegriff in den positiven Begriff des Friedens zu überführen. Dabei darf Friede aber im kantschen Sinn nicht bloß als Waffenstillstand verstanden werden, sondern muss selbst einen Wesenskern offenbaren, der einer positiven Beschreibung zugänglich ist. »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, »sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung« könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.« 190

Hier haben wir es mit einer der wenigen Stellen zu tun, an der Adorno selbst den Freiheitsbegriff auf den Begriff des Friedens bezieht. Erfüllte Utopie hat im Begriff des ewigen Friedens seinen nächsten Ausdruck gefunden. Doch mit dem ewigen Frieden ist hier nicht dasselbe gemeint, das in landläufiger Interpretation dem kantschen Text gleichen Namens zugeschrieben ist; er meint kein vertragstheoretisches Konzept des Völkerrechts, sondern wird vielmehr als eine Selbstbemächtigung und Freiheit des Menschen im Verzicht auf Tun, Erfüllung und Prozess verstanden. 191 Darin ist eine fundamentale AbGS 4, S. 179. Herbert Schnädelbach hat eben diese vertragstheoretische Dimension des kantschen Textes gegen Adornos Versöhnungsidee auszuspielen versucht: »Der wichtigere Grund für seinen theoretischen Radikalismus ist die Tatsache, dass Adorno das Recht wie alles Bestehende an einem utopischen Maßstab misst: dem der Versöhnung und Erlösung; Solange die Welt dem nicht entspricht, ist bei ihm Kritik a priori im Recht, und zwar um so mehr, je kritischer sie auftritt. So war er auch nie bereit, mit Kant zwischen Frieden und Versöhnung zu unterscheiden. Frieden ist auch in unversöhnten Verhältnissen durch die »Erreichung einer allgemeinen das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« möglich, und das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Frieden durch Recht und Gerechtigkeit – das können wir von uns verlangen, und selbst, wenn wir uns dazu zwingen müssen, aber Versöhnung? Die kann man erhoffen und anstreben, aber nicht schaffen oder gar erzwingen; sie muss 190 191

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kehr von einem Paradigma der Moderne angezeigt, dem der Selbstverwirklichung des Menschen in seiner gestaltenden Bearbeitung von Welt. Das betrifft die Fragestellung dieser Arbeit nach dem Charakter der Utopie bei Adorno im Kern. Ich habe das utopische Moment bislang von der Idee des neuen Menschen her interpretiert und Adornos Abkehr von Formen der Selbstsetzung und Selbstüberwindung versucht durch das Konzept einer Selbstbegrenzung herauszuarbeiten. Selbstsetzung und indirekt auch Selbstüberwindung gründen im Gedanke der Selbstverwirklichung, wie sie im Medium der Arbeit sich erweisen könnte. Dieses Konzept wiederum beruht auf der Idee des Primats der Praxis. Mit dem Konzept der Selbstbegrenzung ist nun nicht die Idee des neuen Menschen aufgegeben, aber ein Zug im Konzept der Selbstverwirklichung, der auf der praktischen Tätigkeit als Vollzugsform von Verwirklichung beruht. Wo Tätigkeit zum Tätigkeitszwang wird, wo Arbeit zum Selbstzweck ernannt wird, da wird der Mensch gerade von seiner eigenen Betriebsamkeit am Erreichen der Menschlichkeit gehindert. Selbstbegrenzung meint also nicht nur eine Einschränkung des Herrschaftswillens des Subjekts, sondern im Verzicht auf Betriebsamkeit auch eine praktische Einlösung der Utopie – zumindest in Bruchstücken. ›Auf dem Wasser liegen und in den Himmel schauen‹, zweckfreie Muße, ermöglicht Humanität und lässt den Menschen Mensch werden. Wie ist aber der Begriff des Friedens hier zu verstehen? Friede wird hier in Opposition zur Betriebsamkeit verstanden. Das spezifisch Friedliche ist aber nicht einfach aus dieser Opposition zu begreigeschehen.« (Herbert Schnädelbach, Adorno und die Geschichte, aus: Georg Kohler und Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 150.) Schnädelbach scheint hier eine Kluft aus den Augen zu verlieren, die den kantschen Text selbst auszeichnet. Man muss sich nur der radikalen Fragestellung nach dem ewigen Frieden als ein noch nie da gewesener und der Unterscheidung von Friede und Waffenstillstand besinnen, um der radikal-utopische Dimension inne zu werden, auf die sich Adorno bezieht. Dieser Dimension steht die vertragstheoretische Beschwichtigung des kantschen Textes unverhohlen querläufig gegenüber und nimmt gar im Text selbst einen resignativen Charakter an. Wie schon im Teil zum utopischen Begriff der Gerechtigkeit aufgewiesen, muss eine grundlegende Unterscheidung zwischen Recht als Gewaltform und Gerechtigkeit als deren Ende vorgenommen werden, will man den ethischen Aporien, die sich aus dem lebensnahem Bedürfnis nach einem geglückten Leben stellen, nicht einfach aus dem Weg gehen. Ein solches Denken aus der Aporie, in die wir real und unbeschwichtigt in unserem Lebensvollzug gestellt sind, ist die großartige Leistung Adornos, nicht sein Manko.

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fen, sondern aus dem Verhältnis zur Macht. Macht verfügt über Möglichkeiten. Wir finden diesen Charakter von Macht als Verfügung über Möglichkeiten bereits in Carl Schmitts Theorie zum Ausnahmezustand und den daran anschließenden Untersuchungen Agambens zur Souveränität ausgearbeitet. Macht beruht wesentlich nicht auf Akten, sondern auf der Möglichkeit zum Akt, so z. B. den Ausnahmezustand ausrufen zu können. Bei Benjamin wird dieser Charakter der Macht als drohende Gewalt bestimmt. Macht ist nun für Adorno, wie weiter oben ausgeführt, das fatale ›Prinzip aller Beziehungen‹ und darin Verhängnis des Menschen. Wo Macht aber nicht mehr über Möglichkeiten als Möglichkeiten verfügt, sondern sich dazu veranlasst sieht, alle Möglichkeiten auch zu verwirklichen, da wird sie zu einem irren Zwang und dem Gegenteil von Freiheit. Aktuell ist uns diese Frage vertrauter als je zuvor: Ist es denn möglich, die Möglichkeiten der Gentechnik ungenützt zu lassen, ist es denkbar, dass die entwickelten Waffensysteme ungenützt bleiben; ist es möglich, eine vorhandene Ressourcenquelle unausgeschöpft zu lassen? Sollte das nicht möglich sein, ist es absurd, in diesen Möglichkeiten eine Form von Freiheit auszumachen. Im Gegenteil: Unsere Möglichkeiten werden uns zu Zwängen, die unseren Willen mit unsichtbarer Hand regieren. Im Ungenütztlassen von Möglichkeiten müsste also ein wesentliches Moment von Freiheit ausgemacht werden. In dieser mußevollen Enthaltsamkeit zur Tat würde sich dann auch der Charakter der Macht ändern. Wo Macht wie hier als das Verfügen über Möglichkeiten des Handelns und Erwirkens begriffen wird, da meint sie bereits eine Freiheit … zu, eine positiv-setzenden Freiheit. Wo allerdings zwangsläufig alle Möglichkeiten genutzt werden, bleibt Macht wohl bestehen, doch ist es nicht mehr der Mensch, der die Macht hat, sondern die Macht, die den Menschen hat. Es ginge darum, sich der eigenen Macht und Freiheit zu bemächtigen durch die Möglichkeit des Unterlassens, um nicht der eigenen Freiheit und Macht als Zwang … zu zu unterliegen. Aber wie ließe sich diesem Mechanismus der Macht, der uns, wie oben beschrieben, in einen unaufhaltbar expansiven Prozess stürzt, Einhalt gebieten? Die Antwort müsste für Adorno lauten, durch die Freiheit, die in einer Selbstbegrenzung besteht. Solche Freiheit ist aber wiederum wesentlich in der zweckfreien Besinnung, die Muße ermöglicht, zu suchen. Wo solche einhaltende Besinnung praktisch glückt, meint sie mehr als Freiheit als Widerstand. Muße, ›auf dem Wasser liegen und in den Himmel schauen‹, ist selbst Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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als ein utopisches Moment auszumachen als Verwirklichung eines Moments von Versöhnung, das sich hier wesentlich als Friede ausweist. Es meint eine radikale Ausnahme vom Zwangscharakter des falschen Ganzen und ist darin sowohl Widerstand als auch Vollzug der Versöhnung. Muße als Friede stellt also eine Aufhebung von einer zwanghaften Machtausübung dar, die Versöhnung ermöglicht und partiell verwirklicht. Hier kommt es nun gerade darauf an, den Begriff der Freiheit, der als Macht … zu dazu tendiert selbst zu einer zwanghaften Struktur zu werden, durch den Begriff des Friedens und der Muße auf seinen emanzipatorischen Gehalt zurück zu beziehen. Dass Freiheit so grundlegend als eine Freiheit von Zwängen und Motiven aus der Lebenswelt gedeutet wurde, sie in der Autonomie auf Autarkie beruht, gibt ihr einen paranoiden Beigeschmack. Ist nicht auch eine Freiheit zu denken, die im lebendigen Bezug zur Welt und damit auch in deren Bedingungsverhältnissen selbst statthaben kann? Muße und Friede bezeichnen genau eine solche Freiheit in der Bedingtheit; sie meinen durchaus ein Entledigen von äußeren und inneren Zwängen, allerdings wird darin nicht selbst die Bezogenheit auf äußere und innere Umstände in Frage gestellt, sondern lediglich ihr zwanghafter Gehalt. Man lebt im Frieden nur mit Anderen, man ist in Muße gerade offen für die Dinge und Umstände der Welt, ohne von ihnen jeweils gezwungen zu sein. Somit würde Muße für ein freies Einlassen auf Welt einstehen, das sich als ein Verhältnis des Friedens darstellt, insofern hier kein Zwang herrscht und keine Gewalt instrumenteller Weltgestaltung. Versöhnung wäre in diesem Sinne Freiheit als Friede durch Muße. In diesem Sinne interpretiert auch Ernst Bloch die kommunistische ›Utopie‹, wenn er sie als »die allgemein ermöglichte Muße« 192 beschreibt.

III.5. Exkurs: Zum Wahrheitsbegriff negativ-utopischen Denkens III.5.1. Das utopische und theologische Moment der Wahrheit Ich habe gezeigt, dass der Widerstand und die Kritik sich nicht bloß gegen etwas wenden, sondern diese Fähigkeit des Dagegenseins, des 192

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Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, Frankfurt a. M. 1982, S. 1083.

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Widerstandes erst durch einen Ausblick auf etwas, das sein soll, gewinnen. Dass die Philosophie einen solchen Ausblick durch eine Offenheit, durch ein Sich-Einlassen auf konkrete Dinge und Sachverhalte gewinnt, die selbst noch unter dem Bann stehen und entfremdet und leidend sind, macht ihre besondere Spannung aus. In der Erlösung von Leid und in der Hoffnung auf eine wahre Identität drückt sich eine solche Aussicht aus. Dass ich von ›wahrer‹ Identität im Gegensatz zu gewaltsamer Identifikation gesprochen oder einen ›wahren‹ Fortschritt von einem geschichtlichen abgegrenzt habe, ist dabei nicht willkürlich. Denn ›wahr‹ sind sie im Verhältnis zur ›falschen‹ Verfassung der Welt. Als ›wahr‹ wird bei Adorno solches beschrieben, das dem Bannkreis entkommen ist oder dabei ist, sich ihm zu entziehen. So verstanden gilt Wahrheit selbst als ein Nochausstehendes, als ein Ausblick kritischen Denkens. In Adornos Aufsatz »Wozu noch Philosophie«, kennzeichnet er Philosophie als Kritik und Widerstand, die »doch vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts sich abmarkten lassen« 193 dürfen. Von einem solchen emphatischen Wahrheitsbegriff müssen die vielen und unterschiedlichen Weisen, wie Adorno das Wort »wahr« gebraucht, unterschieden werden. Wenn Adorno von wahren Aussagen oder Urteilen über das Falsche spricht, ist damit die Richtigkeit des Urteils bezeichnet, nicht die Aussprache einer Wahrheit im starken Sinne. Ebenso spricht er von partikularen Wahrheiten, die doch in ihrem Zusammenhang falsch sind. Auch die adaequatio rei atque cogitionis gilt ihm nicht als Wahrheit. 194 Nein, Wahrheit im emphatischen Sinn ist für Adorno ein Zustand, der verschwistert ist mit Glück: »Man hat es nicht, sondern ist darin.« 195 Eben dieser Zustand ist aber noch nicht, sondern soll sein; Erlösung, Versöhnung und wahre Identität verstehe ich in diesem Sinne als Synonyme von Wahrheit. Dies bedeutet aber eine radikale Veränderung des Philosophieverständnisses. Philosophie, die auf Wahrheit aus ist, muss sich dem zuwenden, was als Leidendes auf Erlösung verweist, was als Nichtidentisches sich gegen Identifikation sperrt und was als Sich-Entringendes »zur Sprache findet, das Auge aufschlägt« 196. Denn nur sol193 194 195 196

GS 10.2, S. 461. GS 6, S. 357. GS 4, S. 126. GS 10.2, S. 622.

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ches steht in Bezug zur Wahrheit. Das ist auch ein Grund, weshalb Adorno Philosophie, wie er sie verstanden wissen will, als Kritik und Widerstand ansetzt, denn nur so vermag sie sich noch ›positiv‹ auf Wahrheit zu beziehen, die unter dem Bann nicht ist, weil das Falsche herrscht. Philosophie strebt nach Wahrheit und hat Wahrheit zum Maß ihrer Aussagen, indem sie ihr in der Hoffnung auf Besseres nachgeht. Solche Hoffnung noch im Verblendungszusammenhang aufzuspüren ist dann eine wesentliche Aufgabe von Philosophie. Wahrheit ist bei Adorno im besten Sinne utopisch. »Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward. Hier viel eher als im Gegenteil liegt das Verbrechen der Theologie, gegen das Nietzsche den Prozeß anstrengte, ohne je zur letzten Instanz zu gelangen.« 197 Die Wahrheit, als ein Zustand begriffen, lässt sich durchaus als ein ›Reich des Friedens und der Freiheit‹ verstehen und die Hoffnung auf dessen ›Ankunft‹ als deren Gestalt, als deren Spur im Falschen. Christoph Türke geht in einem Vortrag über Adornos »Inverse Theologie« 198 davon aus, dass dessen Wahrheitsbegriff ein klar theologischer sei: »Den Namen nennen«. Er bezieht sich dabei auf eine Textstelle aus den »Fragmenten über Musik und Sprache«, in der Adorno Musik als ein Modell »wahrer Sprache« im Gegensatz zu einer »meinenden Sprache« entwickelt. »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen. […] Sie [Musik] verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen.« 199

GS 4, S. 110. Türcke, Christoph: »Adornos inverse Theologie«, aus: Adorno im Widerstreit, zur Präsenz seines Denkens, Herausgegeben von Wolfram Ette, Günter Figal, Richard Klein und Günter Peters. Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/ München 2004. 199 GS 16, 251–253. 197 198

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In diesen Zeilen erkennt Türcke mehr als eine Charakterisierung von Musik. Hier drückt sich für ihn ein wesentliches Moment von Adornos Wahrheitsbegriff aus. Darum kann er das »Nennen des Namens« auch sehr weit verstehen. »Damit meint er nicht bloß eine Sprechhandlung, sondern die Überführung der Welt in den versöhnten Zustand, die rundum befriedete Natur, wo alle Kreatur sich unverstellt und unverkürzt ausdrücken, offenbaren kann, ohne sich wechselseitig irgend etwas streitig zu machen.« 200

Dieses Motiv erinnert stark an den Begriff des Namens und des Nennens, wie er von Benjamin in seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« 201 entwickelt wird. Im Fortgang des Kapitels werde ich darum Benjamin an einigen Stellen in die Untersuchung mit einbeziehen. Türcke sieht diesen Wahrheitsbegriff als einen Fluchtpunkt in Adornos Denken an. Er richtet seine Gedanken, seine Intentionen und Untersuchungen aus, ohne ihn fassen zu können. Dieser Auslegung möchte ich mich hier anschließen. Sie lässt sich veranschaulichen an der Frage nach wahrer Identität: »Erkenntnis des Nichtidentischen«, die sich dadurch auszeichnet, dass sie »mehr und anders als das Identitätsdenken, identifiziert« 202, ist eine Form wahrer Identität. »Sie will sagen, was etwas sei« 203, was es selbst ist. Eine solche Erkenntnis ist wahr in dem oben gemeinten Sinn: Sie ist von dem Wunsch beseelt, etwas bei seinem Namen zu nennen, es so zu nennen, dass es weder seine Besonderheit, noch seine Allgemeinheit einzubüßen hätte und doch als Ganzes und Selbstständiges genannt wäre. Kritik zielt auf ein solches »Nennen«, doch hat sie zugleich die dafür nötige Sprache noch nicht gefunden. Sie entspricht jedoch dem Anspruch auf eine »wahre« Sprache, auf eine Sprache, die in der Lage wäre, gewaltlos und doch vollständig sagen zu können, was etwas sei, indem sie der Hoffnung auf diese treu bleibt, utopisch ist. Wie sehr es sich dabei um ein utopisches Moment handelt, offenbart ein Vergleich dieses Wahrheitsbegriffs mit einem traditionell philosophischen. Für Adorno ließe er sich durch die Forderung beTürcke, Adornos inverse Theologie, S. 92. Benjamin, Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1991. 202 Vgl. Fußnote 102. 203 Vgl. Fußnote 102. 200 201

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schreiben, die er dem Denken Aristoteles’ zuschreibt, »das Gedachte und das Denken selbst soll das gleiche sein« 204. Das Denken sieht sich darin nicht mehr gefordert ein Anderes zu denken, sondern letztlich bloß sich selbst zum Inhalt zu machen. Die Bestimmung einer Sache bezieht darin, ihren Gehalt nicht von der Sache selbst sondern in erster Linie durch die Reglements des Denkens, das der Sache eine widerspruchsfreie Bestimmung aufbürdet, um die Widerspruchslosigkeit des Denkens, ihre Selbstgleichheit zu bewahren. Hier entspricht der Begriff nur scheinbar der Sache, denn eigentlich ist die Gleichheit der Sache mit dem Begriff schon ausgemacht, kein Entsprechen Unterschiedener mehr zu denken. Wahrheit genügte sich hier in der ungestörten Sichselbstgleichheit des Denkens. Jedes Urteil, jede Bestimmung hätte ihr Maß an sich selbst, nicht an ihrem Gegenstand. Den ›Namen zu nennen‹, meint dazu etwas Grundverschiedenes: Der Name geht nicht bloß im Nennen auf, sondern hat seinen Grund im Genannten, »es beruht der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie ihm sich mitteilt« 205. Ein solcher Name wäre echte Entsprechung, in der Verschiedenes (der Nennende und das Genannte) miteinander kommuniziert, mit einander im Gespräch ist und darin sich offenbart. Denn so sehr sich die Sache im Namen offenbart, so sehr offenbart sich der Mensch im Nennen, wenn man Benjamin Glauben schenken darf: »Der Mensch teilt sein eigenes geistiges Wesen in seiner Sprache mit. […] Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, dass er Dinge benennt.« 206 Hier von »offenbaren« zu sprechen ist insofern sehr schwierig, als Adorno gerade die »Offenbarungsreligion« einer massiven Kritik unterzieht. 207 Dennoch hat dieser Ausdruck in seinem utopischen Moment auch bei Adorno seine Richtigkeit, denn zu einem Zustand der Erlösung und Versöhnung gehört ein gewaltloses ›Miteinander des Verschiedenen‹, ein Austausch, der auch auf eine andere und »wahre« Sprache und Erkenntnis zielt; zu Wahrheit im emphatischen Sinn gehört ein Sagen, was etwas ist, in dem die Sache unbeschnitten zum Ausdruck kommt. 208 Den Namen zu nennen, meint hier einen Ausdruck des Wesens einer Sache, ohne sie im Nennen deformiert zu haben. Die Differenz

204 205 206 207 208

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Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, S 147. Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, S. 150. Ebd. S. 143. GS 10.2. Vgl. dazu das Kapitel Konstellation.

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zwischen Benennendem und Sache bleibt in der durch den Namen gewaltlos geschaffenen Verbindung erhalten. Eine zweite Differenz zeichnet diesen Wahrheitsbegriff aus: Die Wahrheit einer solchen »messianischen Sprache« 209 ist grundlegend verschieden von unserer »weltlichen« Sprache. So sehr sich das Denken Adornos auf diese messianische Wahrheit bezieht, sowenig kommt sie ihm selbst zu. Die Sprache, die er zu sprechen gezwungen ist, bleibt gefangen unter den Bedingungen des Banns, hat selbst Teil an dem identifizierenden, die Sache verstellenden und zwingenden Charakter identifizierender Urteile. Adorno kann sich auf eine solche Wahrheit nicht im Sinne objektiv richtiger Urteile beziehen. Objektiv kann er nur die Verstelltheit und Falschheit des Zustandes dieser Welt feststellen, sich negativ verhalten. Die Hoffnung der Kritik, die noch nicht zur Sprache gefunden hat, richtet sich auf wahre Erkenntnis wie auf die durch falsche Erkenntnis verstellte Sache. Versöhnung wäre eine solche Entsprechung von Gegenständen und Erkenntnis in einer wahren Sprache. Doch steht den Menschen unter den Bannverhältnissen keine solche Sprache zur Verfügung. Ihm bleibt darum nur die Möglichkeit, das Fehlen einer solchen Sprache aufzudecken, das »Mehr« 210 aufzudecken, das allem innewohnt, obgleich es noch nicht ist, kein Begriff es zu nennen in der Lage wäre. Kritik ist auch darum notgedrungen negativ und der Vergleich mit der negativen Theologie nicht völlig von der Hand zu weisen. Allerdings meint Adorno, bei allen theologischen Anklängen und Figuren, eine Sprache des Menschen, die Aussicht auf eine Erlösung von und durch den Menschen selbst. Die hier angestrebte Sprache wäre mehr als ein System von Mitteilungen, sie steht für ein radikal verändertes Leben in dieser Welt: Erkenntnis nähme nicht die Form gewaltsam identifizierender Urteile an, sondern ergäbe sich von den Dingen selbst her. Sie durchbräche 209 Zum Messianismus im Denken Adornos vgl. Brumlik, Micha (1983): »Der revolutionäre Messianismus der Frankfurter Schule«. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 37. H. 416: 228–231. Brumlik, Micha (2003): »Verborgene Tradition und messianisches Licht. Arendt, Adorno und ihr Judentum«. In: Auer, Dirk/Rensmann, Lars/Schulze Wessel, Julia (Hrsg.): Arendt und Adorno. Frankfurt a. M.: 74–9. Brumlik, Micha (2007): »Im Gespräch mit Eveline Goodman-Thau. Zerbrochene Schalen und Bilderverbot. Adorno als jüdischer Denker«. In: Zeitschrift für kritische Theorie 13. H. 24/25: 220–239. 210 Vgl. zum Motiv des Mehrseins das Kapitel Selbstnegation als Transzendenz.

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ihre hierarchische Position zu den Gegenständen, indem sie die Dinge nicht mehr auf ihre Erkennbarkeit zurechtstutzen müsste, sondern sie in einer zwanglosen Offenheit selbst sprechen lassen könnte. Dass bedeutet auch, dass die Menschen in dieser Sprache einen Platz in der Welt, bei den Dingen einnehmen würden. Sie teilten sich dem sie Begegnenden mit, genauso, wie sie es erkennen könnten. Es wäre ein Miteinander des Verschiedenen, das in einem gewaltlosen Sprechen wahre Erkenntnis bergen würde. Ein solches Sprechen wäre mithin schon eine Erlösung vom Identitätsbann und Versöhnung der unter dem Primat der Herrschaft antagonistisch verfassten Welt. Das Verhältnis des Namens zu einer unverstellten Erkenntnis drückt Benjamin durch das Zusammenfallen des Nennens mit dem Schaffen Gottes aus. Gott schafft die Welt, indem er spricht und benennt. Für ihn fällt Erkenntnis völlig in eins mit dem Sein der Dinge. »Das absolute Verhältnis des Namens zur Erkenntnis besteht allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im innersten mit dem schaffenden Wort identisch ist, das reine Medium der Erkenntnis. Das heißt: Gott machte die Dinge in ihrem Namen erkennbar. Der Mensch aber benennt sie maßen der Erkenntnis.« 211

III.5.2. Das Messianische und die Spannung zwischen Geschichte und Erlösung Für Adorno ist der bei Benjamin ausgeprägte Bezug zum Theologischen weltlicher, ›menschlicher‹ zu denken. Für ihn steht das Göttliche nur als Chiffre für ein nicht benennbares, noch ausstehendes Eintreten von Versöhnung, in der »sich selbst aussprechen und alles andere ansprechen dasselbe« 212 wäre. Dennoch bleibt der theologische Bezug, der in Adornos Denken zu entdecken ist, keine bloße Floskel, nicht bloß ein pathetischer Ausdruck für sachlich Benennbares. Er ist aus einer adornoschen Grundproblematik heraus begründet. Religiöses Denken, wo es sich nicht auf dogmatische Heilsgläubigkeit oder realitätsflüchtende Gutgläubigkeit reduziert, sondern den religiösen Zweifel selbst zu einem Zentrum hat, wird dem Paradox der Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Erlösung, dem Paradox des Innerhalb und Außerhalb des Banns in ausgezeichnetem Maße gerecht. 211 212

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Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, S. 148. Ebd. S. 145.

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Um dieses Paradox näher fassen, seinen eigentlichen Gehalt für das Denken Adornos herausarbeiten zu können – denn es handelt sich um weit mehr als eine logische Figur oder Argumentation – füge ich einen kurzen Text, den letzten aus der »Minima Moralia«, an. »Zum Ende« Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.« 213

In eigentümlicher Prägnanz versammeln sich hier die für meine Arbeit wichtigsten Motive. Schon im ersten Satz erhält man eine, wenn auch vage, Antwort auf die Frage, wie es dem Denken Adornos gelingen kann, sich sowohl in dem Zwangszusammenhang von identifizierendem Denken und gesellschaftlichem Zwang zu verorten als auch sich ihm durch Kritik zu entziehen: Seine Philosophie soll sich der Verzweiflung, dem konkreten Leid, stellen und steht angesichts dessen in einer Verantwortung – Adornos Philosophie schuldet der geschichtlichen Wirklichkeit Rechenschaft, verortet sich selbst in der Welt von Identitätszwang und Primat der Herrschaft. Sie steht nicht 213

Adorno, Minima Moralia, GS 4.

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außerhalb dieser Welt, ist nicht bloßer Beobachter, sondern beteiligt an dem, was nicht sein soll. Philosophie, die ihre gesellschaftliche und menschliche Relevanz für das »Schlechte« eingesteht, ist schuldig und dafür verantwortlich, dass sich die Welt zum Besseren wandelt. Zum einen versucht sie, dieser Verantwortung zu entsprechen, indem sie sich ihre eigene »Bedingtheit« bewusst macht, ein selbstkritisches Bewusstsein durch Selbstreflexion schafft. Zum anderen vermag sie aber auch dieses Bewusstsein nur zu erreichen, indem sie etwas anderes als sich selbst und die Welt, in der sie ist, intendiert: die Erlösung vom geschichtlichen Bann. Adornos Denken könnte dem Leid, angesichts dessen es zu denken hat, nicht gerecht werden, wenn es nicht zugleich die Befreiung von Leid zu ihrem Anlass hätte, versuchen würde, die Dinge so zu betrachten, wie sie sein müssten, wären sie und das Denken selbst befreit von Zwang und Herrschaft. Adornos Denken ist also keines, das sich bloß einen sicheren Standpunkt im Empirischen, in den gesellschaftlich konkreten Gegebenheiten sichern wollte. Seine Sachbezogenheit geht immer einher mit dem Schritt in eine offene und bessere Zukunft. Er bleibt dem aufklärerischen Ideal einer Illumination der Welt, einem die Wirklichkeit verbessernden Erkenntnisvermögen treu, indem sein Denken dem »Licht, das von der Erlösung her auf die Welt scheint« 214 nachspürt. Nur wer versucht, die Dinge unter diesem Licht zu denken, sie wirklich zu erhellen, zu illustrieren, vermag trotz der Verblendung, die die Dinge verstellt, etwas von ihrer Wahrheit zu erfahren. Und nur Perspektiven, die von dem Versuch beseelt sind, die Dinge ohne Zwang zu denken, erkennen auch die reale Bedürftigkeit dieser Welt nach Erlösung von Leid und die Hoffnung auf Versöhnung. Diese Charakterisierung des Denkens bleibt in einer Spannung, die aufzulösen nicht möglich erscheint. Das Denken verortet sich selbst als Teil des falschen Ganzen und verwirft alle Autonomieansprüche als vergebliche Fluchtversuche, die nur zur Affirmation des Schlechten beitragen. Zugleich bezieht es sein Erkenntnisvermögen, trotz aller Sachbezogenheit, von einem Zustand her, der (noch) nicht ist, der ein Jenseits des Banns beschreibt, welcher doch das Denken selbst formt. Der Anspruch an das Denken ist paradox: Es soll »ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus« messianische Perspektiven entwickeln, obgleich es 214 Dieses Zitat und das folgende sind dem vorausgehenden Gesamtzitat »Zum Ende«, entnommen.

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selbst bedingt ist durch Willkür und Gewalt, durch eine Geschichte geprägt, die eine Fühlung mit den Gegenständen verwehrt hat. Dieses Paradox, die Grundspannung von Adornos Denken, bezeichnet er selbst. Er nennt diese Anforderung an das Denken das »Allereinfachste«, aber auch das ganz »Unmögliche«. Aristoteles beschreibt im V. Buch der Metaphysik unterschiedliche Bedeutungen von Notwendigkeit 215: 1. das, ohne das man nicht leben, ohne das man das Gute nicht erreichen, ohne das man das Schlechte nicht entfernen kann. 2. das Gewaltsame und die Gewalt 3. das, das sich nicht anders verhalten kann. Diese dritte Bedeutung umfasst dabei die beiden ersten Bedeutungen.

Für die Beschäftigung mit Adorno sind diese drei Fassungen deshalb interessant, weil man sagen könnte, dass das beschriebene Paradox eigentlich ein Notwendigkeitsparadox ist. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich darauf hingewiesen, wie bedeutsam es für Adornos Kritik ist, den Notwendigkeitscharakter des Banns als Schein zu entlarven. Er wendet sich entschieden gegen den Anschein, die Verfassung unserer Wirklichkeit könnte nicht auch radikal anders sein. Adorno versucht zu zeigen, dass der Bann nicht notwendig im Sinne der dritten Bedeutung ist, dass diese Notwendigkeit des Banns bloßer Schein ist. Doch der Bann ist ein Zwangszusammenhang unter dem Primat der Herrschaft, dem Notwendigkeit im zweiten Sinne nicht abgesprochen werden kann. Der Identitätsbann übt einen Zwang, eine Gewalt auf alles ihm Unterstehende aus, dem sich auch das Denken Adornos nicht entziehen kann. Auch wenn Adornos Kritik die Notwendigkeit des Banns im dritten Sinne als Schein entlarven kann, untersteht sie trotzdem der Notwendigkeit des geschichtlichen Banns, der Gewalt ausübt. Die geschichtlich etablierte Gewalt bedingt selbst das Denken, das diese Gewalt als das Schlechte erkennt. Dennoch bleibt für Adorno die Forderung verbindlich, das Schlechte zu beseitigen, das durch Zwang und Gewalt produzierte Leid abzuschaffen und das Gute, die Erlösung von Leid und Bann anzustreben. Sein Denken entspricht in diesem Sinne der Notwendigkeit im ersten Sinne. Für ihn besteht die Notwenigkeit (im ersten Sinne), die Notwendigkeit (im zweiten Sinne) abzuschaffen bzw. aus ihr herauszutreten, nicht zuletzt indem die Notwendigkeit (2.) als nicht notwendig (3.) aufgezeigt wird. 215

Vgl. Aristoteles, Metaphysik V, 1015a.

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Das »Allereinfachste«, nämlich gewaltlos messianische Perspektiven zu gewinnen, erweist sich angesichts der schlechten geschichtlichen Notwendigkeit des Zwangszusammenhangs, als notwendig, um aus dem Schlechten heraustreten zu können, um das Bessere erreichen zu können. Dennoch steht diese Notwendigkeit messianischer Perspektiven in einer Spannung zu einer anderen für Adorno nicht weniger bedeutsamen Notwendigkeit. Er sieht das Denken und Verhalten der Menschen »notwendig« geprägt von der Geschichte und Gesellschaft, in der sie leben. Das Leben unter dem »Bannkreis des Daseins« bleibt unentrinnbar bestimmt von der Verfassung des Banns, vom Primat der Herrschaft. Selbst Einsicht in dessen Falschheit schafft keinen Standpunkt, von dem aus der gesellschaftliche und innere Zwang abgelegt werden könnte; kein radikal anderes, gutes Leben und Denken ist möglich unter den herrschenden Bedingungen. Es ist die »Unmöglichkeit« eines Standpunktes außerhalb des Bannkreises, die notwendige Bestimmung unseres Lebens durch die verinnerlichten Strukturen von Natur- und Gesellschaftszwang, die den Gegenpart zur Notwendigkeit von Erlösung darstellt. Ein »Außerhalb« des Banns ist gleichermaßen notwendig wie unmöglich. Diese Spannung, das Paradox zweier sich ausschließender Notwendigkeiten, ist der eigentliche Ort, an dem Adorno sein Denken ansiedelt. Er findet sich nicht ab mit dieser Spannung, die er zu lösen nicht im Stande ist, sondern zieht aus ihr den wesentlichen Maßstab seines Denkens, das »selbst seine eigene Unmöglichkeit« noch begreifen muss »um der Möglichkeit willen« 216. Doch was bedeutet es, umwillen der Möglichkeit die Unmöglichkeit zu begreifen?

III.5.3. Spannung ohne Standort: Die Unmöglichkeit umwillen der Möglichkeit Das zu veranschaulichen, eignet sich ein Text Benjamins, der als »Theologisch-politisches Fragment« 217 bezeichnet ist. Hierin charakterisiert er das Verhältnis »profaner Ordnung« zum »Messianischen« vgl. Adorno, Minima Moralia, Zum Ende, GS 4, S. 283. Benjamin, Theologisch-Politisches Fragment, in: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1991. 216 217

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als das der »historischen Dynamis«, zur »messianischen Intensität«. Beide Bewegungen verlaufen in entgegengesetzte Richtungen. Sie streben auseinander, überschneiden sich nicht, sind aber dennoch bezogen aufeinander, denn: »wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Weg zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reichs.« 218 Auf diesen Text von Benjamin hier näher einzugehen, würde den Rahmen sprengen. Dennoch erlaubt schon das wenige hier Angeführte eine bestimmtere Deutung, wie wir das oben aufgezeigte Paradox verstehen können. Es hat seinen Gehalt nicht als logische Figur, sondern als Ausdruck einer Spannung. Die profane Ordnung, die geschichtliche Welt des Banns, befördert selbst noch ihr Entgegengesetztes, die Ankunft des Messias, die Erlösung. Geschichtliche Welt und Erlösung sind dabei nicht einfach einander ausschließende Gegensätze, nicht stabile festgesetzte Pole, die sich abstoßen, sondern unverbunden und widerläufig wirkende Kräfte, deren eine die andere hervorruft. Die beiden Kräfte meinen keine verschiedenen Welten, sondern die Spannungsbögen der einen Welt, in der wir leben. Die Forderung an das Denken, die unmöglich und notwendig zugleich ist, lässt sich dann besser verstehen. Sie erweist sich nicht als sinnlos, sondern als Anspruch an das Denken, sich nicht der Welt zu entziehen, in der es beheimatet ist, seine Bedingtheit einzugestehen. Das Denken soll sich seiner eigenen Bedürftigkeit wie der der Welt stellen, sich in der Welt des Profanen verorten, um die Perspektive auf eine andere Welt nicht zu verlieren. Das Denken muss sich radikal auf die eigene Bedürftigkeit einlassen, um eine Perspektive auf Erlösung gewinnen zu können. Die Möglichkeit von Erlösung einfach zu behaupten, sie mit der scheinbaren Sicherheit oder pragmatischen Selbstzufriedenheit phantastischer Autoren auszumalen und an unbekannte Horizonte anzupinnen, ist Adornos Sache nicht. Eine solche bloß behauptete Möglichkeit von Erlösung bliebe ihm eine leere Utopie, eine Verweigerung, sie aus der Welt, in der wir uns befinden, zu denken; letztlich wäre eine solche Denkweise nur ein Sich-Abfinden und ein Abschweifen von den realen Unrechtsverhältnissen, es wäre Affirmation. Die Möglichkeit von messianischen Perspektiven entsteht eben nicht durch ein Abschweifen vom Elend dieser Welt, sondern durch das Eingeständnis desselben. Nur der vermag dem Be218

ebd. S. 204.

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dürfnis auf ein Besseres Platz einzuräumen, der sich dem Schlechten stellt. Erst das Eingeständnis der Unmöglichkeit solcher Perspektiven weist ihre Dringlichkeit in vollem Maße auf. Erst durch das Eingestehen der unmittelbaren Dringlichkeit solcher Perspektiven kann die Hoffnung auf die Möglichkeit, die Unmöglichkeit zu durchbrechen, an Geltung gewinnen. Man könnte sagen, Adornos Denken gewinnt erst, indem es sich im schlechten Ganzen verortet, einen Platz, der schon darüber hinaus ist. Seine Kritik steht mit dem Standbein stabil innerhalb des Banns, um mit dem Spielbein einen Schritt über ihn hinaus zu versuchen. Wo er sich nun aber befindet, ob Adornos Kritik gänzlich dem angehört, was sie kritisiert, oder schon ›anders‹ denkt, ist dabei nicht abschließend zu entscheiden. Dass sich ein Denken, das sich so radikal in die Spannung von Bann und Erlösung begibt wie das von Adorno, aber schon verändert hat, nicht mehr bloß affirmativ oder auch destruktiv verhält, scheint mir eindeutig. Es verortet sich so gänzlich anders zum schlechten Ganzen des Verblendungszusammenhangs, als es ein herkömmliches Denken vermochte, dass weder es selbst noch das Ganze dabei unverändert das bleibt, dem die Kritik gilt. Das Mindeste, was diesem Denken zugesprochen werden muss, ist, dass es der makellos geschlossenen Oberfläche, dem totalitären Anspruch des Banns »Risse und Schründe« zugefügt hat, die »Anderes« denkbar oder zumindest erahnbar werden lassen. In diesem Sinne ist Adornos Denken nicht bloß selbst schon ein Verändertes, sondern es verändert auch schon die Welt, die es betrachtet. Für ein solches Denken, das sich so kompromisslos dem Leid stellt und dem Anspruch auf eine Erlösung nachdenkt, »ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig« 219, denn sein Maß und seine Tiefe erlangt es schon allein durch den Versuch, Perspektiven auf die Möglichkeit von Erlösung zu erlangen.

III.5.4. Das Versprechen als Versuch So sehr ich darauf Wert lege, die Kritik Adornos selbst schon als ein verändertes, ein schon von der Erlösung erhelltes Denken anzusehen, so wichtig ist es festzuhalten, dass darum diesem Denken dennoch keine Möglichkeit gegeben ist, sich positiv auf Erlösung oder Versöh219

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Vgl. Adorno, Minima Moralia, Zum Ende, GS 4., S. 283.

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nung zu beziehen. Dieses Denken muss sich selbst verbieten, einen Standort einzunehmen, der den Schein wecken würde, schon im Ersehnten seinen Platz gefunden zu haben, das vorgäbe, seine Urteilsund Kritikfähigkeit durch den Einblick und die Anteilnahme an Erlösung und Versöhnung zu beziehen. Das ›Bilderverbot‹ ist für Adorno unumgänglich, um die Möglichkeit von Versöhnung nicht durch den Anschein des schon In-Besitz-habens zu gefährden. Insofern muss man Rene Buchholz Recht geben, der in seiner Arbeit »Zwischen Mythos und Bilderverbot« 220 versucht, Adornos Denken für die Theologie fruchtbar zu machen. Er schreibt: »Jeder Versuch, den Zusammenhang von Bedürfnis, Wirklichkeit und Denken in einer affirmativen Theorie der Versöhnung darzustellen, bleibt Setzung des Subjekts, welche die Erfahrungsmomente überspringt, an welchen jedoch eine Theorie gesättigt werden muss.« 221 Diese berechtigte Kritik an einer affirmativen Theorie der Versöhnung hat ihren Grund bei Buchholz aber in einem übereilten Verständnis davon, welche Bedeutung die Unsicherheit des Eintritts von Erlösung hat. Ihm stellt sich das Versprechen von Erlösung als eines dar, das selbst trügen kann: »Wenn sich im Schein das Scheinlose verspricht, so ist doch keineswegs sicher, ob das Versprechen nicht trügt und das Denken, welches von seinem Wesen her auf dessen Einlösung angelegt ist, nicht im Irrsinn verendet.« 222 Buchholz begeht hier den Fehler, das Versprechen von seiner Einlösung her zu denken, wenn er danach fragt, ob es nicht trügen könne. Doch eben dieser Verdacht wird dem Charakter des Versprechens nicht gerecht. Ihm müsste mit Adorno entgegengehalten werden, dass angesichts der Spannung, die das Versprechen der Erlösung entfaltet, »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig« 223 ist. Diese Gleichgültigkeit ist weder Resignation noch Irrsinn, sie meint eine Gelassenheit des sich wandelnden Denkens gegenüber den Zwecken und Zielen, die zu erreichen ihm nicht zugesichert werden kann. Diese Unsicherheit der Erlösung ist kein Manko des sich auf sie beziehenden Denkens, sie gehört selbst zu dem Wandel, zur Änderung 220 Buchholz, René, Zwischen Mythos und Bilderverbot. Die Philosophie Adornos als Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne. Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, Europäische Hochschulschriften, Verlag Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1991. 221 Ebd. S. 134. 222 Ebd. S. 134. 223 vgl. Adorno, Minima Moralia, Zum Ende, in GS 4., S. 283.

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des Denkens angesichts der Forderung, messianische Perspektiven herzustellen. Ein solches Denken nimmt sich keine Sicherheiten heraus, die es ihm ermöglichen würden, den Problemen und Gefahren auszuweichen, es kann sich nicht mehr in Sicherheit wiegen, wenn es sich entschlossen hat, sich als Teil einer Welt anzusehen und nicht als deren bloßen Betrachter. Die Unsicherheit der Erlösung entspricht der generellen Unsicherheit, die mit der Offenheit gegenüber den Erfahrungen einhergeht. Aber diese Unsicherheit in Kauf zu nehmen, sie sogar zu bejahen, obliegt einem Denken, dass sich als Versuch versteht, dem Scheitern 224 kein Alptraum mehr ist. Das Versprechen der Erlösung nach seiner Einlösung zu beurteilen, entspringt dem Bedürfnis im Denken schon im Vorhinein festen Boden, die Sicherheit des Schlusses, nicht zuletzt ein Ergebnis zu besitzen. Es ist ein Denken, das sich fürchtet, und darum, getreu dem identifizierenden Denken, über alles schon verfügen können will. Dieses ungemäße Sicherheitsbedürfnis bei Buchholz zeigt sich auch bei seiner Untersuchung zu Adornos Begriff des Absoluten und des Subjekts der Erlösung. Es scheint ihm nicht möglich zu sein, den Bezug auf Erlösung ohne einen Gott zu denken, der diese zusichern würde. So sehr er zugesteht, dass ein Gottesbegriff im Denken Adornos keinen Platz hat, so sehr scheint er ihn im Verborgenen ausmachen zu wollen. Ein Tertium non datur bestimmt hier seine Haltung: Entweder ist der Erlösungsgedanke durch einen verborgenen Gott gesichert, oder er erschöpft sich in Verzweiflung. »Ob das letzte Ziel der Transzendenz die von einem mit der zerrissenen Welt solidarischen Gott gestiftete Erlösung ist oder die ersehnte Erfüllung in Verzweiflung umschlägt, bleibt bei Adorno unentschieden.« 225

Der Erlösungsgedanke bei Adorno bedarf keines mit der Welt solidarischen Gottes. Die Vorstellung eines solchen hinter dem Leid und der Geschichte des Banns verborgenen Gottes, meint eigentlich einen Unterpfand des Wohlergehens, ein Aufatmen angesichts der Bedrohung und der Unsicherheit. Doch eben dies widerstrebte der Zuwendung Adornos zu den Dingen und Sachverhalten einer schlechten Welt. Eine solche Sicherheit und Geborgenheit vortäuschende Got224 vgl. Adorno, Metaphysik. Begriff und Problem, S. 220: »während in Wahrheit – es will mir immer mehr so scheinen – nur das was widerlegt, nur das was auch enttäuscht werden kann, was auch falsch sein kann, jenes Offene ist, von dem ich Ihnen gesprochen habe, das heißt, jenes ist, auf das es überhaupt ankäme.« 225 Buchholz, Zwischen Mythos und Bilderverbot, S. 140.

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tesfigur widerspricht der Verantwortung der Menschen für ihre Freiheit und einer Einrichtung gewaltloser Verhältnisse aus ihrem eigenen Vermögen. Adorno hängt durchaus einem Emanzipationsgedanken an, ihm geht es um das Ideal einer sich selbst befreienden Menschheit, und dies lässt sich nicht mehr denken unter der Vorgabe eines die Welt und die Menschen bestimmenden Gottes. Nicht der Solidarität eines Gottes bedarf es, sondern der Solidarität des Ganzen mit dem zu ihm verschiedenen Einzelnen, einer Solidarität der Unterschiedenen untereinander.

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IV. Schluss

Diese Arbeit darf sich als eine Apologie aporetischen Denkens verstehen lassen. Es ging darum, das negativ-utopische Denken Adornos darzustellen und in dieser Darstellung plausibel zu machen. Dabei habe ich einen weiten Kreis gezogen und versucht, die hier behandelte aporetische Grundfigur im neuzeitlichen Kontext einzuordnen. Ich möchte nun noch einmal zusammenfassen, weshalb es mir um eine Verteidigung negativ-utopischen Denkens als aporetische Form zu tun ist. Es geht dabei zum einen um die Rechtfertigung einer spezifischen Denkform und zum anderen um deren aktuelles kritisches Potential: Philosophie steht mehr und mehr unter Rechtfertigungszwang. Der akademische Betrieb – und diese Bezeichnung verdient die Universität wohl schon seit längerer Zeit – entfernt sich zusehends vom Ideal der Forschung als Selbstzweck und beugt sich den Ansprüchen auf eine Produktion verwertbarer Resultate. Wir können diese Entwicklung in den verschiedenen Fachrichtungen beobachten, besonders augenfällig wird sie aber in den Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Sozialwissenschaften können wir eine Verschiebung von der Theoriebildung hin zu empirischen Ansätzen beobachten. Einer Arbeit, die nicht wesentlich auf empirischer Datenerfassung beruht, wird tendenziell abgesprochen, überhaupt wissenschaftlich zu sein. Die Geisteswissenschaften werden dagegen zunehmend historisiert. Es geht um Motiv-Geschichte, Philosophie-Geschichte, biographische Forschung und Rezeptions-Geschichte. Diese Bewegung lässt sich insgesamt als eine Hinwendung zu ›harten Fakten‹ verstehen. Der Positivismus hat unter der Hand die Oberhand gewonnen. Was sich hier auf den ersten Blick als Sieg eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses präsentiert, zeigt in seiner institutionellen Umsetzung seinen eigentlichen Hintergrund: Es geht nicht um das Verständnis, wie Wissenschaft zu betreiben sei, sondern darum, wem sie nützt. Durch den Bologna-Prozess wird die Universität neu 326

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begriffen: Sie orientiert sich nicht länger am Ideal eines gesellschaftlichen Freiraums freier Forschung sondern wird explizit durch das Bachelor- und Master-System zu einem Ausbildungsort für Wirtschaft und Verwaltung. Freie Forschung wird darin im Rahmen von Exzellenz-Initiativen in Elite-Cluster verbannt, die aber selbst noch einem enormen Verwertungszwang unterliegen: Es geht um die Quantität an Veröffentlichungen, um die Menge an Drittmittelanträgen, um das ansprechende Gestalten von Postern und Plakaten im Rahmen von weiteren elitären Sonderinstitutionen. Schlicht gesagt: Es geht um präsentable Daten. Aber, cui bono, wem nützt das? Diese Gretchenfrage scheint eine ernüchternde Antwort zu verdienen: Niemandem. Weder dem schwerarbeitenden Angestellten, noch dem prekär Beschäftigten – um die größten Bevölkerungsgruppen zuerst zu nennen –, denn die präsentablen Ergebnisse führen unmittelbar zu keiner Lebenserleichterung, zu keinerlei geistigem Zuwachs oder gestärktem Selbstvertrauen. Die Universität bleibt für viele das gleiche Wolkenkuckucksheim wie eh und je. Genauso wenig nützt es aber den Professoren und wissenschaftlichen Angestellten, deren finanziell schwierige Situation (zumindest was die Geisteswissenschaften betrifft) diese Entwicklung nicht gemindert hat. Vielmehr ist ein Mehraufwand an Verwaltungsakten zu verzeichnen, unter denen sowohl Forschung als auch Lehre zu leiden haben. Am wenigsten nützt es aber den Studenten, denen diese Entwicklung doch angeblich zu Gute kommen sollte. Ihr Studienplan liest sich wie ein Leistungstraining, das im Ermüdungskampf mit der Universitätsverwaltung seine nötige Punktzahl zu erzielen hat. Inhalte werden dabei zusehends marginalisiert bzw. quantifiziert. Freies und selbstverantwortliches Denken kann dabei bloß mehr eine Last sein, das im Selektionsverfahren einen Nachteil darstellt. Natürlich gibt es eine Vielzahl, vielleicht sogar eine Mehrzahl von Lehrenden, die ihren Studenten eben solche Werte nahe bringen möchten und auf deren intellektuelle Selbstentfaltung bedacht sind; aber strukturell stellen sie dennoch eine Ausnahme dar; sie agieren gegen die Regel. Wem nützt es? Der Wirtschaft? Auch das ist fraglich. Weshalb sollte es der freien Wirtschaft mehr nützen, teilspezialisierten Arbeitskräften einzusetzen, die mehr Einarbeitung benötigen als ein Absolvent der tatsächlich praxisorientierten Fachhochschulen? Stellt freie und ergebnisoffene Forschung denn eine Gefahr für die Wirtschaft dar oder nicht vielleicht doch in manchem Falle sogar eine Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Chance? Weshalb sollte die Wirtschaft davon profitieren, dass ihre hoch qualifizierten Mitarbeiter, die Angehörigen ihrer »think tanks« und »Ideenschmieden«, ihr Studium bereits nach 3 Jahren abgeschlossen haben und aufgrund des straffen Studienplans nie Zeit hatten, im Ausland zu wohnen, oder in Eigeninitiative Projekte nach ihren Interessen ins Leben zu rufen? Was nützt der Wirtschaft ein Absolvent der Hochschule, der nie dazu gekommen ist, sich ein eigenes Urteil zu bilden und zu vertreten, da ihm das Studium vorgab, überprüfbare und das heißt erlernbare Ergebnisse abzuliefern? – Nichts. Nützt es denn der Gesellschaft? – Wenn es keinem nützt, nützt es auch der Gesellschaft nicht. Dieser vorausgehende Abschnitt mag sehr polemisch erscheinen, was ich mir herausnehme, weil es sich um das Schlusswort dieser Arbeit handelt. Doch nicht wenige Statistiken untermauern das polemisch Vorgetragene. Und weder harten Fakten noch gewissenhaft ausgeführten Statistiken möchte ich mich hier entgegenstellen. Doch die Frage bleibt bestehen: Was hat es auf sich mit den verwertbaren Resultaten und den harten Fakten, auf die Wissenschaft schielt? Das eigentliche Problem sehe ich weder in der empirischen Forschung noch in der Hoffnung darauf, dass Wissenschaft auch einen praktischen Nutzen habe. Das Problem liegt vielmehr darin, dass beide, Empirie und Verwertbarkeit, tendenziell zu Selbstzwecken erhoben werden, wo sie doch eigentlich nur Mittel bzw. Effekte freier Forschung sein sollten. Diese Entwicklung scheint aber selbst dem wissenschaftlichen Selbstverständnis zu entspringen, das darum bemüht ist aus einer neutralen Perspektive objektive Erkenntnisse zu generieren. Harte Fakten und praxisgeprüfte (d. h. auch verwertbare) Ergebnisse scheinen hier beinahe wie eine letzte Zuflucht zu objektiver Wahrheit. Die Frage nach objektiver Erkenntnis verstrickt die Philosophie wiederum seit Jahrtausenden in nicht enden wollende Diskussionen. Mit dem platonischen Sokrates ließe sich die Frage aufwerfen, wie wir überhaupt nach etwas zu fragen vermögen, denn entweder wissen wir bereits, nach was wir fragen, und lassen damit die Frage absurd werden, oder aber wir wissen nicht, nach was wir fragen, und darum könnten wir nicht fragen. Diese Aporie führt uns direkt in die Erinnerungs- und Ideenlehre, die von gestandenen Wissenschaftlern wohl als mythologischer Rückfall abgelehnt werden müsste. Wir könnten auch mit Kant darauf antworten und sagen, dass wir zu objektiven, empirischen Erkenntnissen sehr wohl in der Lage sind, dass deren Objektivität aber in unserer Verstandesordnung selbst begründet ist. 328

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Die Philosophie ist gerade da, wo sie nicht naiv gerät, nicht in der Lage Methoden bereit zu stellen, wie ein objektiver Sachbezug zu gewährleisten wäre. Vielmehr gibt sie Aufschluss darüber, wieso das Denken gerade dazu nicht letztlich gelangen kann und verrät dabei mehr über den Charakter des Denkens und mithin auch der Forschung als über deren Gegenstände. Gerade Adorno ist es aber trotz dieser schicksalhaft anmutenden Verstricktheit des Denkens in sich selbst daran gelegen einen wesentlichen Bezug zu den Gegenständen des Denkens, zum Nichtbegrifflichen wach zu halten. Das bedarf wesentlich der Reflexion des Denkens auf seine eigene aporetische Situation, um in dieser Reflexion die Differenz zum Gegenstand bewusst zu halten. Dieses Plädoyer für ein aporetisches Denken im sich differenzierenden Fortgang der Frage nach den Dingen ist in Adornos erkenntnistheoretischer Überlegung wohl aufzuweisen: »Einzig kritische Selbstreflexion behütet es [das Subjekt] vor der Beschränktheit seiner Fülle und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fürsichsein als das An und für sich zu supponieren. Je weniger Identität zwischen Subjekt und Objekt unterstellt werden kann, desto widerspruchsvoller, was jenem als erkennendem zugemutet wird, ungefesselte Stärke und aufgeschlossene Selbstbesinnung.« 1

Dass solche kritische Selbstbesinnung aporetisch verfährt – und in diesem aporetischen Verfahren keineswegs eine Verirrung des Vernunftbegriffs vorliegt – liegt schon in ihrer negativen Selbstbezüglichkeit offen zu Tage, die doch zugleich die Voraussetzung für eine offene Konfrontation mit den Objekten des Denkens darstellt. Auf verschiedenen Ebenen habe ich dieses Motiv als ein ›Denken gegen das Denken‹, oder als eine ›Selbstbegrenzung als Offenheit‹ durchbuchstabiert. Natürlich bleibt dieses philosophisch-aporetischer Verfahren ungeliebt und macht eine besondere Form der Mitteilung notwendig: »Wenn Philosophen, denen bekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel, aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden, daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eine Weise, die den Gegner der Unwahrheit überführt. Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, die nicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind – solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hinaus –, sondern solche, denen gegenüber die Frage nach der Richtigkeit sich selber richtet. – Damit wird aber nicht Irrationalismus an-

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gestrebt, das Aufstellen willkürlicher, durch den Offenbarungsglauben der Intuition gerechtfertigter Thesen, sondern die Abschaffung des Unterschieds von These und Argument. Dialektisch denken heißt, unter diesem Aspekt, daß das Argument die Drastik der These gewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundes in sich enthalten.« 2

Dieses aus dem Aphorismus »Für Nach-Sokratiker« entnommene Zitat aus der Minima Moralia stellt vor Augen, inwiefern gerade das aporetische Verfahren der Philosophie dazu angetan ist, ein Korrektiv der Wissenschaften zu bilden. Alleine dafür würde es sich schon lohnen, die Philosophie Adornos ernst zu nehmen und stärker in die Diskussion einzubringen, wozu ich mit dieser Arbeit meinen Beitrag leisten möchte – selbst und gerade da, wo das moderne wissenschaftliche Selbstverständnis damit ins Wanken gerät. Doch in einem noch grundsätzlicheren Sinn kann hier die Philosophie Adornos fruchtbar gemacht werden. Wie ich oben versucht habe aufzuzeigen, steht der Wissenschaftsbetrieb unter Vorgaben und Maßstäben, die sich verselbständigt zu haben scheinen. Die Umgestaltung der Universitäten scheint sich wie von Geisterhand zu vollziehen trotz der Klagen ihrer eigenen Protagonisten. Wir haben es hier mit einer Struktur zu tun, die augenfällig sinnlos ist, die aber den Anschein erweckt, sich notwendigerweise vollziehen zu müssen. Vom Himmel gefallen ist dieser Strukturwandel dennoch nicht sondern Ergebnis planvoller Handlungen. Diese Querlage zwischen Selbstverschuldung und Verselbständigung habe ich unter dem Titel »Bann« verhandelt. Natürlich haben wir es hier nur mit einem Teilbereich dessen zu tun, was Adorno als das falsche Ganze bezeichnet. Und selbstverständlich würde von Gegnern dieser Totalität des Falschen eingewandt, dass der Bann nur eine Hypostasierung spezifischer Problemlagen darstelle, die man nicht verabsolutieren dürfte. Erstaunlicherweise würde Adorno gerade darin zustimmen, wenn es ihm darum geht, die Bannstruktur dem Schein ihrer Notwendigkeit zu entkleiden. Doch die Frage bleibt bestehen, wenn im Hier und Jetzt die Möglichkeiten gelegen sind, die konkreten Strukturen zu verbessern, sie ihrer Irrationalität zu entheben, warum werden dann solche Möglichkeiten nicht ergriffen, warum vor allem nicht von denen, die Einfluss in eben jenen Strukturen haben, denen die Kritik gilt? Diese letzte Frage ist nicht als Vorwurf zu verstehen sondern als Aufweis, was den Bann zu einer totalitären Struktur werden lässt, 2

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nämlich die Ohnmacht im Einzelnen. Denn geschuldet ist die Struktur der heutigen Universität nicht dem Wille von Professoren, Politikern oder den großen Geldgebern, der Wirtschaft, sondern der internationalen Vergleichbarkeit, den Wettbewerbsbedingungen in der Spitzenforschung und den Anforderungen an die Finanzierbarkeit. – Undurchsichtige Kräfte scheinen hier am Werk zu sein. Hier scheint mir die offene Reflexion realer Ohnmacht, wie sie Adorno vor Augen führt, ein letztes Instrument zu sein, sich zu einer tatsächlichen Verbesserung zu ermächtigen, Möglichkeiten zu eröffnen und selbstbestimmt handlungsfähig zu werden. Ich verstehe darum die These vom falschen Ganzen nicht als eine ontologische Aussage – und mir scheint, dass sie von manch einem so missverstanden wird –, sondern als ein notwendiges Eingeständnis von Ohnmacht. Erst, wo dieses Bewusstsein gefasst ist, kommt das Bewusstsein von einem besseren Zustand, von einem Sein-Sollen, der Utopie, zur Geltung und eben hierin wird das utopische Bewusstsein zum Unterpfand von Kritik und Veränderung. Diese These habe ich in der vorliegenden Arbeit durchgehend – wenn auch auf philosophischer und allgemeinverbindlicher Ebene – verfolgt. Die hier im Schlussteil aufgegriffene – und durchaus polemisch formulierte – Thematik kann als Anwendungsbeispiel aus dem wissenschaftlichen Alltag aufgefasst werden. Eine kritische Selbstreflexion der Wissenschaft unter aktuellen Bedingungen im negativ-utopischen Sinne ist ein Desiderat, dem sich diese Arbeit verpflichtet fühlt. Konkret hieße das, den akademischen Betrieb kritisch zu durchleuchten und ihn an der Idee bzw. Utopie freier Forschung zu messen. Ein solches Verfahren bliebe aporetisch, wäre aber vielleicht gerade darum in der Lage, reale Veränderungsmöglichkeiten auf den Plan zu rufen. Damit wäre viel gewonnen. Aber das aporetische Denken Adornos hat gleichwohl noch größere Relevanz für gesamtgesellschaftliche Problemlagen. Von einer Gesamtgesellschaft der Menschheit zu sprechen klingt höhnisch, betrachtet man all die Antagonismen und Kriege, die diesen Planeten erfüllen. Doch in einem negativen Sinne lässt sich davon durchaus sprechen. Tatsächlich bleibt heute kaum eine Gesellschaft unberührt von den globalen Vorgängen. Bevor der Begriff der Globalisierung in den allgemeinen Wortschatz überging, wäre schon von einer globalisierten Menschheit zu sprechen gewesen, nämlich angesichts der realen Möglichkeit, die ganze Menschheit durch Massenvernichtungswaffen auszulöschen. Die menschliche Lebenswelt wurde real zu Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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einer globalen angesichts der Möglichkeit, sie auf einen Schlag zu vernichten. Was unter fortschrittsoptimistischer Perspektive z. B. als eine globale Demokratisierung durch das Internet (von dem der Großteil der Menschheit nach wie vor ausgeschlossen ist) propagiert wird, hat hier seine grausame Urgeschichte. Es findet aber auch eine Globalisierung jenseits der Bedrohung durch eine atomare Katastrophe statt, so in der grenzenlosen Ausweitung der Märkte und der den gesamten Planeten betreffende Klima-Katastrophe. Die Menschheit ist eine geworden, nicht weil sie zueinander gefunden hätte, sondern weil der Antagonismus in Form von Krieg und Wettbewerb alle gleichermaßen mit der Gefahr ihres Untergangs bedroht. Aber nicht bloß auf globaler Ebene haben wir eine negative Totalisierung zu vergegenwärtigen, dies gilt – in modernen, westlichen Gesellschaften – auch für das Leben des Einzelnen, für den Bereich des Privaten. Der Zugriff kapitalistischer Wertsetzung und staatlicher Kontrolle hat sich nicht nur räumlich ausgebreitet, sondern reicht auch in die Tiefe individueller Lebensvollzüge. Die Rede von der ›Bio-Politik‹ gibt Hinweise zu diesem Phänomen. Leben und Tod, Sexualität und Freizeit, Gefühle und Affekte, nichts scheint einer Normierung und Verwertung enthoben zu sein. Berechtigterweise lässt sich aber sagen, dass dieses Phänomen nicht neu ist, sondern der Tendenz nach, die Geschichte gänzlich geprägt hat. Zur Beruhigung sollte das aber nicht Anlass geben, wenn man bedenkt, dass diese Totalisierung heute ein kritisches Maß erreicht hat. Wer das nicht einzugestehen bereit ist, scheint mir durch Blindheit gesegnet zu sein. Auch das Argument, man habe solche Negativauswüchse hinzunehmen für die Segen des Fortschritts, der letztlich auch diese Gefahren aus dem Weg räumen würde, scheint mir naiv. Ist denn der Fortschritt ein Schicksal, das über den Häuptern der Menschen thront und in das man vertrauen müsste wie in einen Ratschluss Gottes? Und sind es nicht eben jene Segnungen, die zugleich eine Gefahr für die Menschheit bedeuten? Vertrauen in die Geschichte ist hier wohl fehl am Platze. Auch der Hinweis, es habe schon immer Apokalyptiker gegeben, die Welt sei aber noch nie untergegangen, scheint mir verfehlt. Gerade unsere wissenschaftlichen Kenntnisse geben uns Bericht davon, dass eine reale Apokalypse zu befürchten ist. Erstaunlich ist dabei nur, dass diese Nachricht so gleichgültig hingenommen wird. Hält man sich all diese Entwicklungen vor Augen, scheint mir die Rede von einer Totalität des Falschen, eines Verhängniszusammenhangs, aber geradezu ›empirisch‹ belegt zu sein. Allemal dann, 332

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wenn wir staunend zur Kenntnis nehmen, dass auf solche Einsichten keine Reaktion erfolgt, die das Ruder herumzureißen sich bemühen würde, die versucht die Entwicklung aufzuhalten, – oder wo doch, dann so zögerlich und partiell, dass solche Kosmetik selbst wiederum das Unbehagen der Ohnmacht hervorruft. Angesichts dieser Situation wüsste ich aber von kaum einer anderen Philosophie, die dieser Situation so gerecht werden könnte wie die Kritische Theorie im Sinne Adornos. Ihre Aktualität liegt auf der Hand. Und dennoch möchte ich hier skizzieren, inwiefern Adornos negativ-utopisches Denken besonders dazu angetan ist, sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen und neue Perspektiven zu gewinnen. Diese globalen Probleme, mit denen die Menschheit zu kämpfen hat, sind von ihr selbst gemacht, selbst verschuldet. Doch das Subjekt dieser Schuld, die Menschheit, scheint andererseits gar nicht als Handlungssubjekt zu existieren, sie besteht gleichsam nur negativ in ihrer Bedrohtheit. Es liegt auf der Hand, von einer Divergenz von Einzelinteressen und Gesamtinteressen auszugehen, d. h. diese Problematik auf den Widerspruch von Allgemeinem und Besonderem im gesellschaftlichen Kontext zurückzuführen. Das ist auch völlig richtig. Doch dieser Widerspruch und mithin die Frage, wer denn die Verantwortung dafür übernehmen kann, eine globale Katastrophe zu verhindern, führt uns zu der Frage zurück, die ich in dieser Arbeit gestellt habe, nämlich nach dem Selbstverhältnis des Menschen. Denn sowenig die Menschheit als die Summe von Menschen beschrieben werden kann, sowenig das Selbst des Menschen als Summe seiner Bewusstseinsakte. Der Widerspruch von Allgemeinem und Besonderem ist vielmehr dem Selbstverhältnis des Menschen selbst eingetragen. Das äußert sich in der Idee des neuen Menschen als Utopie des Selbst, das sich darin verspricht erst Mensch zu werden. Denn dieser neue Mensch wäre, wie wir bei Kant in aller Deutlichkeit sehen und wie es bei Nietzsche im exemplarischen Ausdruck aufscheint, der besondere Mensch, der den Widerspruch zum Allgemeinen der Menschheit aufgehoben hätte. Das bedeutet aber, dass die Frage nach dem Selbstverhältnis als eines Schuldverhältnisses, wie ich es hier aufgeworfen habe, bereits die Frage nach der Menschheit als Subjekt der Geschichte impliziert. Man kann also auf der einen Seite eine Parallele ziehen zwischen dem hier analysierten Selbstverhältnis und dem Verhältnis der Menschen zur Menschheit. Denn wie das Selbst des Menschen im Anspruch, allererst Mensch zu werden, durch die Utopie des neuen Konstellationen negativ-utopischen Denkens

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Menschen sich selbst gegenüber verschuldet ist durch eine stete Selbst-Entzweiung und Selbstverfehlung, so verschulden Menschen sich auch gegenüber der Menschheit. Dass hat konkrete Konsequenzen für die Frage nach einer möglichen globalen Verantwortung. Solche Verantwortung ließe sich nur durch das konsequente Bewusstsein erringen, dass jeder Einzelne, obgleich ohnmächtig, in dieser Ohnmacht schuldig wird an der globalen Katastrophe. Die schuldlose Schuld ist auch hierin wiederum die Voraussetzung der Verantwortung als das Versprechen-seiner (der Menschheit)-selbst. Ohne solch aporetisches Schuldbewusstsein ließe sich eine globale Veränderung des Verhängniszusammenhangs kaum vorstellen, die hier die Bestimmung als radikale Selbstbegrenzung evident werden lässt. Am Beispiel gesagt: Solange das kapitalistische Wettbewerbsgebot unaufhaltsamen Wachstums mehr Gewicht hat, als die Einsicht, dass ein ungebremstes Wachstum auf einem begrenzten Planeten dessen Verwüstung zur Folge hat, eine Begrenzung also notwendig wird, ist das Verhängnis unaufhaltsam, egal mit welchen technischen Neuerungen ihm begegnet werden kann. Doch dazu bedarf es meines Erachtens des Bewusstseins der eigenen (unverschuldeten) Schuldigkeit. Die in dieser Arbeit thematisierten Motive der Verantwortung auf Grund des Bewusstseins einer Universalschuld des Sollens und der Selbstbegrenzung als Offenheit lassen sich also grundlegend auf diese aktuelle und auf den Fingern brennenden Problematik beziehen und können einen theoretischen Anhaltspunkt gewandelten Bewusstsein darstellen. Dass auch hierbei wiederum das Motiv der Utopie ins Spiel kommt – und zwar in der negativen Variante, wie sie Adorno vorlegt – kann hier im Konkreten nachvollzogen werden. Die Utopie ist in diesem Falle die ihrer selbst mächtig gewordene Menschheit im Ganzen, das Ideal der Aufklärung. Allerdings ist sie hier buchstäblich negativ gegeben, nämlich durch die Bedrohung ihrer Vernichtung und durch die Ohnmacht, sich dieser Vernichtung entgegenzustellen, wo solche Menschheit nicht zu sich gefunden hat. Die Utopie erwächst aus der Totalität des Falschen heraus und ist notwendig, um dem falschen Ganzen etwas entgegen halten zu können, es dem Schein seiner Notwendigkeit zu entkleiden. Damit haben wir hier ein sehr konkretes Beispiel vor Augen, wie negativ-utopischen Denken verstanden werden kann und worin seine Fruchtbarkeit beruht. Natürlich sind solche Beispiele oberflächlich und entbehren der philosophischen Tiefe und Strenge. Dennoch führt es vor Augen, worin die Plausibilität des Ansatzes Adorno auszumachen ist. 334

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Trotzdem erweckt die Philosophie Adornos immer wieder Gereiztheit. Von einer Totalität des Falschen auszugehen, erscheint wie eine pessimistische Verdunkelung des hellen Lebenshimmels, die man sich nicht gefallen lassen möchte. Der Bezug zur Utopie erweckt die Assoziation einer Phantasterei, die jeglichen Realbezug aufgegeben habe angesichts ihrer ätherischen Ideale. Die radikale Negativität, die sich nicht bereit erklärt, Alternativen und Lösungen ins Stundenheft der problembeladenen Menschen zu zeichnen, macht den Anschein, es handele sich bei Adorno um einen naseweisen Kritiker, der sich scheut Antworten zu geben, wo es hart auf hart kommt. – Doch nach dem Vorgetragenen hoffe ich, dass etwas klarer geworden ist, dass gerade die aporetische Form, in der hier Utopie negativ auf das Falsche des Ganzen bezogen ist, eine Form des Bewusstsein darstellt, welche die Augen viel grundsätzlicher gegenüber der Realität öffnet, indem es dem Traum der Utopie nachsinnt. Vielleicht ist Veränderung überhaupt nur dort als eine selbstbestimmte möglich, wo wir sehenden Auges dem Traum auf ein wahres Selbst des Menschen und ein Zu-sich-Finden der Menschheit nachhorchen. Die gesehene Schuld und das gehörte Versprechen stellen in ihrer Wechselseitigkeit den Ermöglichungsgrund wahrer Veränderung dar. Und nichts scheint mir dringlicher zu sein in einer Zeit der globalen Bedrohung des Menschen. Wer das für übertrieben hält, mag versuchen, die täglichen Informationen aus den Nachrichten in einen Zusammenhang zu bringen; wo da der Schrecken fehlt, ist keine Hoffnung mehr.

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ALBER THESEN

Jochen Gimmel https://doi.org/10.5771/9783495808122 .

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