J. G. Fichte: Leben und Lehre. Ein Beitrag zur Aktualisierung seines Denkens und Glaubens [1 ed.] 9783428538041, 9783428138043

Das Anliegen dieses Buches ist ein Zweifaches: über einen der originellsten Denker deutscher Sprache zu informieren und

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J. G. Fichte: Leben und Lehre. Ein Beitrag zur Aktualisierung seines Denkens und Glaubens [1 ed.]
 9783428538041, 9783428138043

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Karsten Schröder-Amtrup

J.G. Fichte Leben und Lehre

Ein Beitrag zur Aktualisierung seines Denkens und Glaubens

Duncker & Humblot

KARSTEN SCHRÖDER-AMTRUP

J. G. Fichte

Philosophische Schriften Band 77

J. G. Fichte Leben und Lehre Ein Beitrag zur Aktualisierung seines Denkens und Glaubens

Von

Karsten Schröder-Amtrup

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-13804-3 (Print) ISBN 978-3-428-53804-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83804-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken meiner Mutter Elisabeth Schröder, geb. Amtrup

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fichtes Biografie 1762–1798 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Atheismusstreit (1798 / 99) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi). . . . . . . . . . . . . . . 4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie (Die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“). . . . . . . . . . . . . 5. Nationalismus und Religion (Die „Reden an die Deutsche Nation“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘. . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins. . . . . . . a) Die „Nebenbemerkungen“ zur Wissenschaftslehre (WL) . . . . b) Der „Bericht über den Begriff der WL und die bisherigen Schicksale derselben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die „Anweisung zum seligen Leben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften. . . . . . a) Der deterministische Objektivismus (Wolf Singer). . . . . . . . . b) Fichtes Kritik am Determinismus (Die „Bestimmung des Menschen“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Subjektivismus und Objektivismus in der doppelten Zeitperspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben . . . . . . . . .

95 95 95

III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 1: Kurt Hübner und die Offenbarungsgläubigkeit (Offenbarung als Überwindung des Subjektivismus?). . . . . . . . . Exkurs 2: Josef Ratzinger und die Vernunftgläubigkeit (Objektivität der Vernunft?). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs 3: Richard Dawkins und die Wissenschaftsgläubigkeit (Die Religion ein „Gotteswahn“?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 66

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Einleitung und Übersicht Das Anliegen dieses Buches ist ein zweifaches: – über einen der originellsten Denker deutscher Sprache zu informieren und – zum Weiterdenken anzuregen. Der erste Teil (‚für Anfänger‘) geht zurück auf Studium-Generale (Einführungs-)-Vorlesungen an einer Theologischen Hochschule; in ihm sollen Grundkenntnisse vermittelt werden, die heute im Allgemeinen nicht mehr vorauszusetzen sind. Im zweiten Teil wird versucht ‚fortzuschreiten‘ mit der doppelten Bedeutung: sich kritisch zu entfernen und zugleich an Fichtes Vorstellungen anzuknüpfen und voranzukommen. Fichte gilt heute vornehmlich als Philosoph; er war aber seinem Selbstverständnis nach ebenso sehr ein Religionslehrer, wie es zum Ausdruck kommt in einem Brief von 1803: „Die ganze Richtung meines Gemüts geht seit Jahren auf Verbreitung wahrer Religiosität durch Philosophie.“1 Und jene Schrift, die heute noch am ehesten ein allgemeines Interesse wecken kann, die „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806, trägt den Untertitel: „Die Religionslehre“. Seine Versuche, Religion und Philosophie zu vermitteln, Glauben und Denken zu harmonisieren und für seine Glaubensgewissheiten vernünftige Begründungen zu entwickeln, stehen daher im Mittelpunkt seines Schaffens und auch dieses Buches. Die Schwerpunkte des I. Teils sind: – Fichtes Biografie (die Jahre 1762–1798, Kap. I. 1.), – der ‚Atheismusstreit‘ 1798 / 99 (mit dem Vorwurf der ‚Gottlosigkeit‘, wodurch Fichte seine Position als Philosophieprofessor in Jena verloren hatte, Kap. I. 2.) – die Auswirkungen dieses Streits, vor allem auf seine religiöse Entwicklung (in der Auseinandersetzung mit Jacobi, Kap. I. 3.) 1  GA

III 5, S. 176.

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Einleitung und Übersicht

– die religiös geprägte Geschichtsphilosophie von 1805  /  06 (in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“, Kap. I. 4.) – die Entwicklung des Nationalismus 1806–1808 (vor allem in den „Reden an die deutsche Nation“) mit seinen Bezügen zur Religion (Kap. I. 5.). Im Zentrum des zweiten Teils steht die Frage, ob sich der Subjektivismus Fichtes vereinbaren lässt mit dem objektivistischen Ansatz der modernen Naturwissenschaft. Dabei werden zunächst Fichtes eigene Versuche überprüft, von der subjektiven Perspektive ausgehend ein ganzheitliches Welt- und Menschenbild zu entwickeln anhand von drei Schriften: – den „Nebenbemerkungen“ zur Wissenschaftslehre (= WL) von 1807 (Kap. II. 1. a)), – dem „Bericht über den Begriff der WL und die bisherigen Schicksale derselben“ von 1806 / 07 (Kap. II. 1. b)), – der „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 (Kap. II. 1. c)). Als Beispiel für die objektivistische bzw. externe Perspektive wird die Position des Hirnforschers Wolf Singer dargestellt (Kap. II. 2. a)), womit wiederum die Kritik Fichtes am Determinismus (in der „Bestimmung des Menschen“ von 1800) verglichen wird (Kap. II. 2. b)). Die Einsicht in die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Zusammenwirkens beider Sichtweisen wird gefördert durch das Bewusstsein, dass wir uns in der sogenannten ‚Gegenwart‘ ständig einer ‚doppelten Zeitperspektive‘ bedienen (Kap. II. 3.). Mit ihrer Hilfe lassen sich die Antagonismen von Notwendigkeit und Freiheit sowie von Denken und Glauben im Sinne eines komplementären Verständnisses auflösen (Kap. II. 4.). Bei der Zweiteilung dieses Buches, ‚für Anfänger‘ und ‚für Fortschreitende‘, lassen sich Wiederholungen nicht ganz vermeiden, was aber angesichts des Schwierigkeitsgrades der Materie wohl kein Nachteil sein muss: Es sind nicht nur ungewohnte Begrifflichkeit und eigenwillige Gedankenführung, die uns den Zugang zu seinem Verständnis erschweren, es ist auch der hohe geistig-religiöse Anspruch, mit dem Fichte uns entgegentritt, nicht mit harmlosem Bildungsgeplauder, sondern mit besitzergreifendem Ernst. In den letzten Jahren ist das Verhältnis von Denken und Glauben, von Wissenschaft und Religion in verstärktem Maße thematisiert worden. Drei typische Positionen daraus, die sich zu den Vorstellungen Fichtes



Einleitung und Übersicht11

in eine sinnvolle Beziehung setzen lassen und durch deren Vergleich die Besonderheit, die Aktualität und bleibende Bedeutung seines Denkens herausgestellt werden können, sind in drei Exkursen aufgenommen worden, in denen auf unterschiedliche Weise der Begriff ‚Glauben‘ mit Inhalt gefüllt wird: Exkurs 1: Kurt Hübner und die Offenbarungsgläubigkeit, Exkurs 2: Josef Ratzinger und die Vernunftgläubigkeit, Exkurs 3: Richard Dawkins und die Wissenschaftsgläubigkeit. Der Anspruch dieses Buches ist wissenschaftlich in dem Sinne, dass die Aussagen von und über Fichte belegt werden mit der großen Gesamtausgabe seiner Werke2; deren Vollendung wir im Jahr 2012 zusammen mit Fichtes 250. Geburtstag feiern können; er ist aber nicht fachwissenschaftlich in dem Sinne, dass die äußerst umfangreiche Fachliteratur verarbeitet würde. Fachwissenschaft als solche war auch nicht Fichtes primäres Interesse: Ihm ging es um ‚Lebenshilfe‘, um die Einsicht des Menschen in seine innere Wirklichkeit und, daraus folgend, um die Entfaltung seiner Möglichkeiten. So dürfte es seiner Intention entsprechen, wenn wir uns hier seinem Primat der Zukunftsorientierung anschließen und versuchen, seine Anregungen für die Gestaltung unserer Gegenwart fruchtbar zu machen. Die zahlreichen Zitate wurden der heutigen Schreibweise angepasst, um die Lektüre der inhaltlich anspruchsvollen Texte nicht auch noch sprachlich zu erschweren.

2  Edition (Gesamtausgabe: GA) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in vier Reihen, I: Werke, II: Nachgelassene Schriften, III: Briefwechsel, IV: Kolleg­ nachschriften, sowie zwei Ergänzungsreihen: ‚J. G. Fichte im Gespräch‘ und ‚Fichte in Rezensionen‘ (zitiert werden Reihe, Band, Seite, z. B. Anm. 1: III 5, S. 176).

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘ 1. Fichtes Biografie 1762–1798 Johann Gottlieb Fichte lebte von 1762 bis 18141. Er stammt aus dem kleinen Dorf Rammenau in der Oberlausitz, heute die Süd-Ost-Ecke von Deutschland, unweit der tschechischen Grenze; die nächste große Stadt ist Dresden. Landesherr war damals der Kurfürst von Sachsen. Die besondere Art von Stolz und Empfindlichkeit, die Fichte später entwickelte, ist wohl auch im Zusammenhang zu sehen mit seiner Herkunft aus recht bescheidenen Verhältnissen: Sein Vater hatte als Bandweber einen kleinen Handwerksbetrieb. Mitgliedern dieses Standes blieb in der damaligen Gesellschaftsordnung der Zugang zur Höheren Bildung in der Regel verschlossen. Sie bedurften der Protektion, der besonderen Förderung durch einen Gönner; dabei spielte im Glücksfall der Ortsgeistliche die Rolle einer Mittelsperson. Der Gutsherr des Ortes, in diesem Fall ein Freiherr von Miltitz, wurde von dem Dorfpastor auf die rasche Auffassungsgabe und das Merkvermögen des jungen Fichte aufmerksam gemacht und sorgte für eine gute Schulausbildung: Fichte wurde 1774, also mit 12 Jahren, auf das Internatsgymnasium Schulpforta bei Naumburg geschickt; dort machte er mit 18 Jahren, also im Jahre 1780 sein Abitur. Es war die Zeit kurz vor der Französischen Revolution, und Schulpforta war ein traditionsreiches und entsprechend konservatives Gymnasium, das die revolutionären Ideen seiner Zeit, die Gedanken der sogenannten Aufklärung, möglichst zu unterdrücken trachtete – mit dem Ergebnis, dass die entsprechenden Schriften, z. B. von Lessing, die bevorzugte Lektüre der Internatszöglinge wurden. Der Erwartungshaltung seiner Familie und seines Förderers entsprechend schrieb sich Fichte 1780 als Student der Theologie zunächst in Jena und ein Jahr später in Leipzig an der Universität ein; doch fühlte 1  Bei den Angaben zur Person stütze ich mich im wesentlichen auf die Biografie seines Sohnes, Immanuel Hermann Fichte: J. G. Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 2. Aufl. 1862 (zit.: LLB). Der 2. Band, Briefwechsel, ist durch die Reihe III der neuen Gesamtausgabe überholt.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

er sich bald mehr zur Rechtswissenschaft und zur Philosophie hingezogen, da er in der Theologie Schwierigkeiten hatte mit einer als antiquiert empfundenen Dogmatik. So versuchte ein gewisser Pezold mit den Argumenten mittelalterlicher Philosophen die Existenz Gottes zu beweisen und musste dabei gegen einen modernen Philosophen polemisieren, der gerade behauptet hatte, dass Gottesbeweise nicht möglich seien, nämlich Immanuel Kant. Die Begegnung mit den Schriften Kants sollte Fichtes Weltanschauung und damit seine gesamte Existenz entscheidend beeinflussen; doch zunächst konnte er sich nur wenig auf sein Studium konzentrieren: Sein adliger Gönner war gestorben, und Fichte musste selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen durch Privatstunden, bzw. durch Hauslehrertätigkeit. Wer es sich damals leisten konnte, schickte seine Kinder nicht auf eine Schule, sondern ließ sie durch einen Hauslehrer unterrichten. In dieser Funktion wurde er 1788 nach Zürich vermittelt. Typisch für sein Selbstbewusstsein und eigentlich unvereinbar mit dem sozialen Rang eines Hauslehrers war ein Tagebuch, das er damals führte mit dem Titel „Tagebuch der auffallendsten Erziehungsfehler, die mir vorgekommen sind“ – Erziehungsfehler, wohlgemerkt der Eltern, die er denselben wöchentlich vorhielt! Durch Predigten am dortigen Münster bekam er Kontakt zu dem bekannten Schweizer Theologen Lavater, der ihn in der Zürcher Gesellschaft einführte, u. a. auch bei einem angesehenen Kaufmann namens Rahn, der eine Schwester des Dichters Klopstock geheiratet hatte. Hier lernte Fichte seine spätere Frau kennen: Johanna Maria Rahn (1755– 1819). Am 2.3.1790 schreibt er ihr in Zürich einen Brief zur Verdeutlichung seiner Absichten: „Der Hauptendzweck meines Lebens ist der, mir jede Art von (nicht wissenschaftlicher – ich merke darin viel Eitles) sondern von Charakterbildung zu geben, die mir das Schicksal nur irgend erlaubt. Ich forsche dem Gange der Vorsehung in meinem Leben nach und finde, dass eben das auch wohl der Plan der Vorsehung mit mir sein könnte. Ich habe manche Situationen erlebt, manche Rollen gespielt, mancherlei Menschen und Stände kennen gelernt, und im ganzen habe ich gefunden, dass durch alle diese Vorfälle mein Charakter immer bestimmter geworden ist. Es fehlte mir bei meinem ersten Eintritte in die Welt alles, als ein bildsames Herz. Manche dieser mir mangelnden Eigenschaften habe ich seitdem erhalten; viele, unter andern die, mich zuweilen nach ande-



1. Fichtes Biografie 1762–179815

ren zu accomodiren [= anzupassen], falsche oder meinem Charakter ganz entgegene Personen zu behandeln, etwas ins Größere zu wirken, fehlen mir noch gänzlich. Ohne dies kann ich die Kräfte, die mir die Vorsicht [= Vorsehung] etwa könnte gegeben haben, nie so brauchen, wie ich es damit kann … dies, was Ihnen ein Grund schien, dass ich an keinen Hof tauge, ist mir im Gegenteil einer, dass ich daran muss, wenn sich mir eine Gelegenheit darbietet, um dadurch zu erlangen, was mir fehlt. Den Stand der Gelehrten kenne ich; ich habe da wenig neue Entdeckungen zu machen. Ich selbst habe zu einem Gelehrten von métier [= zum Beruf des Gelehrten] so wenig Geschick als möglich. Ich will nicht bloß denken; ich will handeln … Wenn Sie sagen: am Hofe, und wenn ich selbst Premierminister würde, wäre kein wahres Glück, reden Sie aus meiner Seele. Das ist unter dem Monde nirgends, beim Dorfpfarrer ebenso wenig als beim Premierminister. Der eine zählt Linsen, der andere Erbsen; das ist der Unterschied alle. Glück ist nur jenseits des Grabes. Alles auf der Erde ist unbeschreiblich klein, das weiß ich; aber Glück ist’s auch nicht, was ich suche. Ich weiß, ich werde es nie finden. Ich habe nur eine Leidenschaft, nur ein Bedürfnis, nur ein volles Gefühl meiner selbst, das: außer mir zu wirken. Je mehr ich tue, je glücklicher scheine ich mir. Ist das auch Täuschung? Es kann sein, aber es liegt doch Wahrheit zugrunde. Aber das ist gewiss keine, dass es mir Himmelsgefühl gibt, von guten Seelen geliebt zu werden, Personen zu wissen, die Anteil, lebhaften, innigen, warmen, steten Anteil an mir nehmen. Seit ich Ihr Herz näher kenne, empfinde ich dies Gefühl in aller seiner Fülle. Urteilen Sie, mit welchen Empfindungen diesen Brief schließt Ihr dankbarer Freund.“2 Ein außerordentlich egozentrischer Brief: er beschreibt nicht sein Glück, lieben zu dürfen, nimmt nicht selbst Anteil, sondern ist selig, dass jemand an ihm Anteil nimmt; ein Brief voller Geltungsbedürfnis, Unruhe und Ehrgeiz, durchzogen von dem Bewusstsein seiner Leistungsfähigkeit, das sich – trotz seiner 28 Jahre – auf keinerlei sichtbaren Erfolg stützen konnte: Er hatte kein Examen in der Tasche und kein Manuskript in der Schublade; aber das Gefühl, sich aus eigener Kraft, trotz ungünstiger Voraussetzungen, gebildet zu haben, sollte ihn nicht trügen. Noch aber weiß er nicht so recht, was damit anfangen; in seinen Planungen ist er widersprüchlich und mit sich selbst offenbar noch nicht im reinen: Anfangs sagte er, das Ziel seines Lebens sei die eigene Bildung, und zum Schluss geht es ihm nur noch darum, nach außen hin zu 2  III

1, S. 71–73.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

wirken. So wird man ihm kaum Unrecht tun, wenn man seinen Plan, Prinzenerzieher zu werden, nicht nur in seinem Bildungsstreben, sondern auch in seinem Ehrgeiz begründet sieht. Doch die ‚Vorsehung‘ hat offenbar anderes mit ihm vor: Er verliert seine Hauslehrerstelle (die Eltern seines Zöglings sind, wie es scheint, ihrer Erziehung überdrüssig geworden), kehrt nach Leipzig zurück – an Heirat ist für ihn nicht zu denken, solange er nichts vorzuweisen hat – und erhält dort die Aufgabe, einem Studenten die Philosophie Kants zu erklären. Dazu musste er sich selbst gründlich mit ihr befassen. Von der Wirkung dieses Studiums berichtet er am 5. Sept. 1790 an seine Braut: „Überhaupt habe ich vor meinem projektvollen Geiste Ruhe gefunden, und ich danke der Vorsehung, die mich kurz vorher, ehe ich die Vereitelung aller meiner Hoffnungen erfahren sollte, in eine Lage versetzte, sie ruhig und mit Freudigkeit zu ertragen. Ich hatte mich nämlich durch eine Veranlassung, die ein bloßes Ungefähr schien, ganz dem Studium der Kantischen Philosophie hingegeben; einer Philosophie, welche die Einbildungskraft, die bei mir immer sehr mächtig war, zähmt, dem Verstande das Übergewicht und dem ganzen Geiste eine unbegreifliche Erhebung über alle irdischen Dinge gibt. Ich habe eine edlere Moral angenommen und, anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie empfunden; ich habe bei einer schwankenden äußeren Lage meine seligsten Tage verlebt. Ich werde dieser Philosophie wenigstens einige Jahre meines Lebens widmen, und alles, was ich, wenigsten in mehreren Jahren von jetzt an, schreiben werde, wird über sie sein. Sie ist über alle Vorstellung schwer und bedarf es wohl, leichter gemacht zu werden … Sage Deinem teuren Vater, den ich liebe wie meinen: wir hätten uns bei unseren Untersuchungen über die Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen, so richtig wir auch geschlossen hätten, doch geirrt, weil wir aus einem falschen Prinzipe disputiert hätten. Ich sei jetzt gänzlich überzeugt, dass der menschliche Wille frei sei und dass Glückseligkeit nicht der Zweck unseres Daseins sei, sondern nur Glückswürdigkeit. Auch Dich bitte ich um Verzeihung, dass ich Dich oft durch dergleichen Behauptungen irregeführt habe … Glaube nur hinfort an Dein Gefühl, wenn Du auch die Vernünftler dagegen nicht widerlegen könntest.“3 Diesem Zitat lässt sich entnehmen, dass Fichte vor seiner Begegnung mit Kant Anhänger des Determinismus gewesen ist, also einer philoso3  III

1, S. 170–71.



1. Fichtes Biografie 1762–179817

phischen Richtung, die sich in Kurzfassung durch die alltägliche Feststellung ausdrücken lässt: ‚Es musste ja so kommen‘. Alles, was geschieht, ist determiniert, ist festgelegt als notwendiges Glied einer Kausalkette und lässt sich als verursacht und folgerichtig erweisen. Und niemals kann bewiesen werden, dass es auch anders hätte kommen können. Wenn ich jetzt etwas Überraschendes mache, um meine Handlungsfreiheit zu beweisen, wenn ich jetzt hier nicht ruhig stehen bleibe, sondern dieses Pult nehme und aus dem Fenster werfe, dann kommt hinterher der Determinist zu mir, klopft mir freundlich auf die Schulter und sagt: ‚Alles klar! Du musstest ja so handeln, wenn Du deine Handlungsfreiheit beweisen wolltest‘. Das Faszinierende am Determinismus ist also, dass er sich logisch nicht widerlegen lässt. Unangenehm ist er insofern, als er bei konsequenter Anwendung den Menschen lähmt, ihn gleichgültig und verantwortungslos werden lässt. In der Philosophie Kants nun hatte Fichte einen Ansatzpunkt gefunden, sich aus der logischen Falle des Determinismus zu befreien. In einem Brief vom November 1790 – an einen Bekannten namens Achelis – wiederholt Fichte noch einmal mit anderen Worten denselben, für seinen weiteren Werdegang entscheidenden Vorgang: „Mein Aufenthalt in Zürich und noch mehr meine Reise hatten meine Fantasie auf eine unnatürliche Höhe gespannt. Ich kam mit einem Kopfe, der von großen Plänen wimmelte, nach Leipzig. Alles scheiterte, und von so viel Seifenblasen blieb mir nicht der leichte Schaum übrig, daraus sie zusammengesetzt waren. Anfangs störte dies meine Seelenruhe wohl ein wenig, und es war halbe Verzweiflung, dass ich eine Partie ergriff, die ich eher hätte ergreifen sollen. Da ich das Außer mir nicht ändern konnte, so beschloss ich, das In mir zu ändern. Ich warf mich in die Philosophie, und das zwar – wie es sich versteht – in die Kantische. Hier fand ich die Gegenmittel für die wahre Quelle meines Übels und Freude genug obendrein. Der Einfluss, den diese Philosophie, besonders der moralische Teil derselben, der aber ohne Studium der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ nicht verständlich ist, auf das ganze Denksystem eines Menschen hat, die Revolution, die durch sie besonders in meiner ganzen Denkungsart entstanden ist, ist unbegreiflich. Ihnen besonders bin ich das Geständnis schuldig, dass ich jetzt von ganzem Herzen an die Freiheit des Menschen glaube und wohl einsehe, dass nur unter dieser Voraussetzung Pflicht, Tugend und überhaupt eine Moral möglich ist, eine Wahrheit, die ich auch sonst sehr wohl einsah und auch Ihnen vielleicht es gestanden habe, durch die ganze Folge meiner Schlüsse gedrungen aber die ganze Moral ableug-

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

nete … Ich bin ferner sehr fest überzeugt, dass hienieden gar nicht das Land des Genusses, sondern das Land der Arbeit und Mühe ist, und dass jede Freude nichts weiter als Stärkung zu größerer Mühe sein soll, dass die Bereitung unsers Schicksals gar nicht, sondern bloß die Kultur unserer selbst von uns gefordert wird. [Ich] kümmere mich um die Dinge, die außer mir sind, gar nicht, trachte nicht zu scheinen, sondern zu sein, und diesen Überzeugungen danke ich denn die tiefe Seelenruhe, die ich genieße. Meine äußerliche Lage ist völlig so, wie sie für eine solche Disposition sein muss. Ich bin niemandes Herr noch Knecht. Aussichten habe ich gar nicht; denn die ganze hiesige kirchliche Verfassung, sowie die Menschen, gefällt mir nicht. Solange ich meine jetzige Unabhängigkeit behaupten kann, werde ich es um jeden Preis tun.“4 Kritische Distanz zu seinem Intellekt und damit eine Grundposition seiner späteren Religionslehre findet sich bereits in einem Brief vom 6.12.1790 an seine Verlobte: „Unser Verstand ist so eben hinlänglich für die Geschäfte, die wir auf der Erde zu betreiben haben; mit der Geisterwelt kommen wir nur durch unser Gewissen in Verbindung. Zu einer Wohnung der Gottheit ist er zu eng; für diese ist nur unser Herz ein würdiges Haus“5. Im Juni 1791 fährt Fichte nach Königsberg, um den verehrten Kant kennenzulernen. Zur Einführung bei diesem schreibt er in fünf Wochen ein Buch mit dem Titel „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“; es wird von Kant zwar nicht begeistert, aber doch wohlwollend aufgenommen. Anfang September wendet sich Fichte, als seine Ersparnisse aufgebraucht sind, mit der Bitte an Kant, ihm die Kosten für die Heimreise nach Sachsen vorzustrecken. Dieser lehnt zwar ab, setzt sich aber dafür ein, dass Fichtes Buch in Königsberg einen Verleger findet. Dieser lässt die Schrift anonym erscheinen – offensichtlich darauf spekulierend, dass sie wegen Titel, Inhalt und Sprache für eine Schrift des berühmten Kant gehalten werde, was dem Absatz nur förderlich sein konnte. Strenge Zensurvorschriften in Preußen machten es nicht unwahrscheinlich, dass der vorsichtige Kant eine Schrift mit verfänglichem, weil theologisch umstrittenen Inhalt ohne Namensnennung publizierte. Tatsächlich berichtet der Biograf I. H. Fichte von Schwierigkeiten mit der Zensur: „Das Manuskript sollte in Halle gedruckt werden und rasch erscheinen, als ein unerwartetes Hindernis (abermals) dazwischen trat. Es 4  III

1, S. 193–94. S. 201.

5  Ebd.



1. Fichtes Biografie 1762–179819

musste dort der Zensur unterworfen werden, und der [der-]zeitige Dekan der Theologischen Fakultät, als Zensor der Schrift in diesem Fache, verweigerte das Imprimatur [= die Druckerlaubnis] wegen der Behauptung, die darin durchgeführt werde: dass der Beweis für die Göttlichkeit einer Offenbarung nicht durch die Berufung auf die dabei geschehenen Wunder geführt werden dürfe, sondern dass einzig aus dem Inhalte derselben darüber entschieden werden könne“6. Ich werde auf den Inhalt dieser Schrift nicht weiter eingehen; sie gehört zwar in den Bereich der Religionsphilosophie, ist aber nicht typisch für Fichte: Es ist eine Gelegenheitsschrift, nicht als Schmeichelei zu verstehen, wohl aber von dem Bemühen diktiert, Verständnis der kantischen Position zu demonstrieren. Es ist die einzige Schrift, von der sich Fichte später selbst distanziert hat7. Von ihrer Wirkung aber muss noch berichtet werden. Die Spekulation des Königsberger Buchhändlers Hartung ging auf: In der „Allgemeinen Literaturzeitung“ erschien eine geradezu schwärmerische Rezension; sie beginnt mit dem schwungvollen Satz: „Wir halten es für eine unserer größten Pflichten, mit der Anzeige eines Buches zu eilen, das vielleicht mehr als irgend ein anderes unter den seit langer Zeit geschriebenen den dringendsten Bedürfnissen unserer Zeitgenossen angemessen ist und also im eigentlichsten Sinne den Namen eines Wortes zu seiner Zeit verdient“. Und nach vielen Ausdrücken der Bewunderung für die „tief gefasste Idee“ und die „weise Anordnung des ganzen Gebäudes“ schließt der Rezensent: „Zum Schlusse dieser Anzeige weiß Rezensent nichts Schicklicheres zu sagen, als (erstens) die Bezeugung des feurigsten Dankes an den großen Mann, dessen Finger hier allenthalben sichtbar ist, dass er, der schon so manche Gegend des menschlichen Wissens aufgehellt, nun auch über diesen Gegenstand eine solche Aufklärung gegeben hat, die wenigstens dem Rezensenten in allem, was er gesagt hat, nicht den geringsten Zweifel übriggelassen, gleichsam als sollte nun auch das letzte Stück des ganzen Grundes menschlicher Kenntnisse befestigt werden“8. Fichte war mit seiner rasch hingeworfenen Schrift keineswegs zufrieden gewesen, und so ist es verständlich, dass er öffentlichen Äußerungen über seine Schriften in den nächsten Jahren mit tiefem Misstrauen begegnet ist. 6  LLB

I, S. 138; vgl. I 1, S. 88. Patriotismus …“, 1806 / 1807. II 9, S. 424. 8  LLB I, S. 140–41. 7  „Der

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Kant erklärt in einer Zeitungsnotiz im Juli 1792, dass Fichte der Autor der hochgelobten Schrift sei, und er „halte es daher für Pflicht, die Ehre derselben dem, welchem sie gebührt, ungeschmälert zu lassen“9. Mit einem Schlage war Fichte ein bekannter Mann. Die materiellen und vor allem psychologischen Hemmnisse gegen eine Hochzeit mit der Schweizer Bürgerstochter waren aus dem Wege geräumt. Schon im folgenden Jahr, 1793, wird er als Professor für Philosophie nach Jena berufen. Als er dort im Mai 1794 seinen Dienst antritt, schreibt er an seine Frau, am Freitag sei er zum Magister und am Sonnabend zum Professor gemacht worden10 – was zeigt, wie unbürokratisch damals mit so einem angesehenen Amt verfahren werden konnte: keine Promotion, keine Habilita­ tion, keine schriftlichen Arbeiten, keine mündlichen Prüfungen, noch nicht einmal ein Anhörungsverfahren – nur ein bekannter Name, allein gestützt auf eine Schrift von 150 Seiten. Nun hatte Fichte zwar im Jahre 1793 noch eine zweite Schrift erscheinen lassen mit dem Titel „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“; aber diese Schrift war eher geeignet, seine Berufung an die Universität des kleinen Herzogtums Sachsen-Weimar zu verhindern, trug sie ihm doch den Vorwurf des ‚Demokratismus‘ ein. Hierauf ist wohl die Aussage Goethes in seinen Erinnerungen zu beziehen, dass die Berufung Fichtes „mit Kühnheit, ja Verwegenheit“ erfolgt sei11. Im Winter 1793 / 94 entwickelt Fichte in der Vorbereitung auf seine Lehrtätigkeit Ansätze eines eigenen philosophischen Systems, die er 1794 für seine Studenten drucken lässt mit den Titeln (1) „Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie“ und (2) „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und Grundriss des Eigentümlichen derselben in Rücksicht auf das theoretische Vermögen“. Fichte ersetzt den Begriff Philosophie durch den Begriff Wissenschaftslehre, um zu verdeutlichen, was er als die eigentliche Aufgabe der Philosophie ansieht, nämlich: den anderen Wissenschaften ein gemeinsames Fundament zu geben in Gestalt einer Analyse des menschlichen Denkvermögens, einer Theorie des Wissens. Was ist Erkenntnis überhaupt? Worauf erstreckt sich Erkenntnis? Wie kommt Erkenntnis zustande? Grundsätze aus den genannten Schriften werden uns bei der Besprechung einer religionsphilosophischen Schrift noch begegnen. 9  Ebd.

S. 143. S. 211. 11  Ebd. S. 289. 10  Ebd.



1. Fichtes Biografie 1762–179821

In Jena sollte sich bald zeigen, dass Fichte ein äußerst unbequemer Zeitgenosse war, der im Zweifelsfalle immer den Weg des größten Widerstandes ging und der seinen Mangel an diplomatischem Geschick nicht mehr als Schwäche empfand, sondern als Tugend ausgab. Die ersten Schwierigkeiten zog er sich bereits im Wintersemester 1794 zu, als er sich anschickte, ganz im Sinne seines Prinzips der Einheit von Theorie und Praxis, von Denken und Handeln, die Moral der Studenten zu heben, und zwar durch eine öffentliche Vorlesung, die er auf den Sonntag legte, um mit keiner Kollegenveranstaltung zu kollidieren. Sofort wurde in einer Zeitschrift der gehässige Vorwurf erhoben, „dass die Weltverwirrer durch den Professor Fichte in Jena auf den öffentlichen Gottesdienst der Christen einen förmlichen Angriff zu tun und ihn durch Aufrichtung eines Vernunftgötzendienstes zu stören sich erfrecht hätten“12. Diesen Vorwurf machte sich die vorgesetzte Behörde zwar nicht zu eigen, legte ihm aber gleichwohl auf, künftig nicht mehr am Sonntag zu lesen. Die Episode zeigt, wie nervös man in dieser Zeit auf alle Neuerungen reagierte – zweifellos auch eine Auswirkung der Vorgänge in Frankreich: dort hatte man vor wenigen Monaten statt des Gottesdienstes einen ‚Kult des höchsten Wesens‘ eingeführt, was man durchaus als „Aufrichtung eines Vernunftgötzendienstes“ bezeichnen konnte. Vorausgegangen war eine Radikalisierung der revolutionären Machtkämpfe, die zu einem gewaltsamen Umsturz der aristokratischen und klerikalen Herrschaftsordnung und im Jahr 1793 zur Hinrichtung des Königs geführt hatte. Fichte unternimmt einen zweiten Versuch, auf das Verhalten der Studenten Einfluss zu nehmen, wiederum schlecht vorbereitet: Er setzt sich für die freiwillige Auflösung von geheimen Studentenverbindungen ein, die mit ihren Besäufnissen und halbkriminellen Schlägereien der studentischen Arbeitsmoral abträglich waren. Zunächst zeigen sich die Studenten einsichtsvoll, doch schlägt die Stimmung um, als die Obrigkeit weitreichende Forderungen (z. B. Auslieferung von Namenslisten) an den Vorschlag Fichtes knüpft. Das Scheitern der Vermittlung trübt das Verhältnis zu beiden Seiten: Bei der Behörde verstärkt sich der Eindruck von Effekthascherei und Popularitätssucht, und bei den Studenten gerät Fichte in den Verdacht der Liebedienerei und Unterwürfigkeit. Als studentische Fanatiker sein Haus demolieren, fürchtet Fichte um die Sicherheit seiner Familie und lässt sich für ein halbes Jahr beurlauben. In der nächsten Zeit hält sich Fichte mehr zurück und wird auch 12  Ebd.

S. 255.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

durch familiäre Ereignisse stärker beansprucht: 1795 stirbt sein Schwiegervater, der mit seiner Tochter nach Jena gezogen war, und 1796 wird sein einziger Sohn geboren; seine Frau ist bereits 41 Jahre alt.

2. Der Atheismusstreit (1798 / 99) Doch zwei Jahre später finden wir Fichte schon wieder in einen schweren Konflikt verwickelt: Er war inzwischen Herausgeber einer philosophischen Zeitschrift geworden und in dieser Funktion mitverantwortlich für den Inhalt auch fremder Beiträge. Nun hatte ein gewisser Forberg – für das Folgende ohne Belang – einen Aufsatz eingereicht zum Begriff der Religion, in welchem sich u. a. der folgende Absatz findet: „Ist die Religion Verehrung der Gottheit? Antwort: Keineswegs. Gegen ein Wesen, dessen Existenz erweislich ungewiss ist und in Ewigkeit ungewiss bleiben muss, gibt es überall nichts zu tun. Wer das Mindeste bloß und allein um Gottes willen tut, ist abergläubisch. Es gibt keine einzige Pflicht gegen Gott“13. Fichte hatte eine sehr hohe Meinung von der Pressefreiheit und wollte sich nicht als Zensor aufspielen; andererseits wünschte er auch nicht, mit allen Thesen Forbergs identifiziert zu werden; und so schrieb er als Ergänzung einen eigenen Beitrag mit dem Titel „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“, Jena 179814. Dieser Artikel trug ihm den Vorwurf des Atheismus ein, und im Verlaufe des daraufhin eingeleiteten Verfahrens ging Fichte seiner Jenenser Professur verlustig. Fichte ging davon aus, dass sich die Existenz Gottes nicht beweisen lässt. Es gibt keine Argumente, durch die ein Atheist gezwungen werden könnte, die Wirklichkeit Gottes anzuerkennen. Infolgedessen können wir auch niemanden zum Glauben zwingen. Was aber auch gar nicht nötig ist, sagt Fichte; denn der Glaube ist im Grunde immer schon vorhanden: Früher habe man angenommen, „durch jene Demonstrationen [= Beweisführungen] solle der Glaube an Gott erst in die Menschheit hineingebracht und ihr andemonstriert werden. Arme Philosophie! Wenn es nicht schon im Menschen ist, so möchte ich wenigstens nur das wissen, woher denn deine Repräsentanten, die doch wohl auch nur Menschen 13  Friedrich Karl Forberg: Entwickelung des Begriffs der Religion, in: Fritz Medicus, Fichtes Werke Bd. 3, Leipzig 1910 (S. 135–150), S. 149. 14  I 5, S. 347–57.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)23

sind, selbst nehmen, was sie durch die Kraft ihrer Beweise uns geben wollen.“15 Der Glaube ist ein Wesensmerkmal des Menschen, eine Grundeinstellung, die nur dann nicht zur Entfaltung gekommen ist, wenn sie noch nicht ins Bewusstsein gehoben wurde. Darin nun sieht Fichte die Aufgabe der Philosophie, dem Menschen zum Bewusstsein seiner inneren Realität zu verhelfen. „Wo wird nun der Philosoph, der jenen Glauben voraussetzt, den notwendigen Grund desselben, den er zu Tage fördern soll, aufsuchen?“16 Wo findet der Mensch den existenziell unverzichtbaren Grund zum Glauben – immanent oder transzendent? In sich selbst oder außerhalb seiner selbst? Fichte untersucht zunächst die transzendente Begründung, die meistens angeboten wird, wenn man nach dem Grund des Glaubens fragt: Bei unserer Betrachtung der Sinnenwelt (oder der Natur, wie wir heute sagen würden) stoßen wir früher oder später an Grenzen, drängen sich uns Fragen auf, die wir nicht mehr beantworten können. Unser Denken verläuft nach dem Kausalitäts- oder Finalitätsprinzip, d. h. bei allem, was wir untersuchen, fragen wir nach Ursprung und Ziel. Dabei gewinnen wir einen Begründungszusammenhang, eine Kausalitätskette, von der wir zwar einige Glieder benennen können, aber die Einsicht in Anfang und Ende bleibt uns offenbar versagt. Und da wird nun nicht die unbekannte Größe X, sondern die Größe Gott sozusagen als Lückenbüßer eingeführt, z. B. als die ‚erste aller Ursachen‘ oder als ‚Anfang aller Bewegung‘ oder als ‚der Inbegriff alles Vollkommenen‘ usw. – wie Fichte sagt: „in der Verlegenheit, etwas erklären zu wollen, dessen Dasein sie [= die Philosophie] nicht leugnen kann, dessen wahrer Grund ihr aber verborgen ist“17. Für einen Naturwissenschaftler ist das völlig indiskutabel; der erklärt die Welt als ein gesetzmäßig organisiertes, in sich geschlossenes Regelsystem. Für ihn ist eine Erklärung der Welt „aus Zwecken einer Intelligenz … totaler Unsinn“, so Fichte schon damals wörtlich18. Denn eine Schöpfung aus nichts, die Verwandlung einer Idee in Materie ist nicht vorstellbar. (Wenn ich mir den Begriff ‚Apfel‘ denke, kann ich mich fest darauf verlassen, dass daraus nie etwas Essbares wird.) Aus unserer Welt- oder Naturbetrachtung gewinnen wir keine Gottesvorstellung; aus ihr können wir keinen göttlichen Willen 15  Ebd. 16  Ebd. 17  Ebd. 18  Ebd.

S. 348. S. 349.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

oder sonst etwas Übersinnliches herausinterpretieren. Dass dem so ist, lehrt uns nicht nur naturwissenschaftliche Erfahrung, sondern auch die Theorie der Erkenntnis: Nach Fichte spielt sich Erkenntnis auf drei Ebenen ab: Auf der 1. Ebene findet die Sinneswahrnehmung statt: wir hören, sehen, fühlen usw. Auf der 2. Ebene ist angesiedelt das natürliche oder gemeine Denken – wir sagen heute wohl eher: das normale Denken. Hier werden die Wahrnehmungen sortiert, etikettiert (auf Begriffe gebracht), bewertet, systematisiert: es entsteht ein Orientierungsschema, das sogenannte Weltbild oder die Weltanschauung des Menschen. Dies ist die Ebene der Realität, der Erfahrung, der Wissenschaft, der Natur, des Lebens, auch der Religion und der Sinngebung. Die Ebenen 1 und 2 reichen ‚für den Hausgebrauch‘ vollständig aus. Die 3. Ebene ist das Tätigkeitsfeld des philosophischen Denkens, das auch das spekulative, kritische oder transzendentale Denken genannt wird. Ich muss diesen missverständlichen Begriff kurz erläutern; er ist nicht glücklich gewählt, zumal er sich von ‚transzendent‘ nur schwer unterscheiden lässt: Beide Wörter kommen vom lateinischen ‚transcendere‘ = übersteigen, überschreiten, und beide beziehen sich auf die Erfahrung. Dabei bedeutet ‚transzendent‘ (wie auch die dazugehörigen Wörter ‚trans­ zendieren‘ und ‚Transzendenz‘) dem Wortsinn nach ‚über die Erfahrung hinausgehend‘ und gehört deshalb eigentlich nicht zum philosophischen Wortschatz, sondern zur religiösen (früher auch: metaphysischen) Terminologie. ‚Transzendental‘ dagegen bezeichnet das sogenannte ‚a priori‘, also dasjenige, was ‚von vornherein‘, schon vor der Erfahrung im Menschen vorhanden ist und Erfahrung (das Aufnehmen und Verarbeiten von Sinneseindrücken) möglich macht. Das ‚Transzendentale‘ ist also das immanente Potenzial, das spezifisch menschliche Auffassungsvermögen. Dementsprechend beschäftigt sich die ‚Transzendentalphilosophie‘ mit den subjektiven Voraussetzungen von Erfahrung und Erkenntnis. Das Denken auf der dritten Ebene ist also dasjenige Denken, das sich selbst zum Gegenstand hat, sich selbst als Objekt setzt, wie Fichte sagt, Inhalt seiner Wissenschaftslehre. Dieses Denken erzeugt keine Realität und setzt keine Zwecke: „Unser philosophisches Denken bedeutet nichts und hat nicht den mindesten Gehalt; nur das in diesem Denken gedachte Denken [= also das Denken der 2. Ebene] bedeutet und hat Gehalt“19. 19  Rückerinnerungen

(1799), II 5, S. 115.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)25

Die dritte Ebene ist gekennzeichnet durch das Selbstbewusstsein, durch die Einsicht in die Selbstbestimmung, bzw. in das Selbstbestimmtsein, und durch die Freiheit. Auf dieser Ebene kommt es nach Fichte zu dem Bewusstsein, dass die Trennung zwischen Subjekt und Objekt durch das normale Denken eine Selbsttäuschung ist: Ich werde mir bewusst, dass die für objektiv gehaltene Realität nur eine subjektive Realität ist; was mir an der Realität, an der Welt, am Wahrgenommenen als objektiv erscheint, ist nur ein Spiegelbild meines Wahrnehmungsvermögens: „In allem, was wir erblicken, erblicken wir bloß den Widerschein unserer eigenen inneren Tätigkeit.“20 Wie dürftig unser Realitätsbezug ist, wird uns ja von der Naturwissenschaft eindringlich demonstriert: Was ich als Stillstand empfinde, wenn ich mich nicht bewege, ist in Wirklichkeit, bzw. nach naturwissenschaftlicher Berechnung, eine atemberaubende Geschwindigkeit: Mit mehreren tausend Stundenkilometern rasen wir durchs Weltall (wird uns gesagt). Oder was ich als Ruhe empfinde, weil ich nichts höre, ist doch eine chaotische Geräuschevielfalt. Was uns als Dunkelheit erscheint, wird durchzuckt von -zig verschiedenen Strahlungen. Und wenn Sie sich mal wieder deprimiert fühlen: schieben Sie es nicht auf die Dozenten – schieben Sie es einfach auf die ‚Dunkle Materie‘. Also was wir als Realität auffassen, wird nicht von außen bestimmt, sondern von innen durch unser Wahrnehmungsvermögen. Und nicht nur was wir auffassen, sondern auch wie wir etwas auffassen, wird durch uns selbst bestimmt: Was mir wichtig vorkommt, ist Ihnen gleichgültig; was Sie als Bedrohung auffassen, finde ich harmlos usw. Ich habe versucht, den erkenntnistheoretischen Ansatz Fichtes darzustellen in seiner Bedeutung für den Begriff der Freiheit: Das philosophische Nachdenken über das Auswahl- und Bewertungsverfahren des normalen Denkens befreit von der Vorstellung objektiver Zwänge. Für Fichte ist die philosophische Einsicht in den Prozess der Erkenntnisgewinnung und Meinungsbildung Voraussetzung für selbstständiges, moralisches, zwecksetzendes Handeln. Wenn er oben gesagt hat, dass seine Wissenschaftslehre nichts bedeute und ohne Gehalt sei, so ist das natürlich nicht gleichzusetzen mit sinnlos. Er formuliert ihren Sinn wie folgt: „Ihr Einfluss auf die Gesinnung des Menschengeschlechts überhaupt ist, dass sie ihnen Kraft, Mut und Selbstvertrauen beibringt, indem sie zeigt, dass sie und ihr ganzes Schicksal lediglich von sich selbst abhängen, 20  Über

den Grund … I 5, S. 349.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

– indem sie den Menschen auf seine eigenen Füße stellt.“21 Zur Wahrung dieser Eigenständigkeit gehört auch die Abwehr religiöser Fremdbestimmung: Der Zweck der Philosophie sei daher „kritisch und pädagogisch. Sie ist bestimmt [= sie hat die Aufgabe], unverständliche, unnütze, verwirrende und der Irreligiosität eine Blöße darbietende Lehren über Gott wegzuschaffen, indem sie eben zeigt, dass sie nichts sind und dass schlechterdings nichts davon in des Menschen Hirn passt. Sie muss zeigen, wie in des Menschen Herz der religiöse Sinn sich erzeuge, ausbilde und verstärke, und wie sonach die Menschheit zu demselben zu bilden sei, nicht vermittelst Philosophie – diese bildet nicht das Leben, sondern lehrt nur –, sondern durch und im Leben selbst.“22 Seine Leugnung objektiver Zwänge untergräbt freilich auch den Anspruch der Religion bzw. der damaligen Kirchenleitung auf transzendente Verbindlichkeit und externe Autorität: „Ich finde mich frei“, sagt Fichte, „von allem Einflusse der Sinnenwelt, absolut tätig in mir selbst und durch mich selbst, sonach als eine über alles Sinnliche erhabene Macht. Diese Freiheit aber ist nicht unbestimmt; sie hat ihren Zweck: nur erhält sie denselben nicht von außen her, sondern sie setzt sich ihn durch sich selbst. Ich selbst und mein notwendiger Zweck sind das Übersinnliche.“23 Nicht transzendent, nicht fremdbestimmt ist der ‚Grund unseres Glaubens‘ zu finden, sondern immanent, als innerer Impuls und Anleitung zum Handeln. Der Zweck des Menschen bedarf zwar zu seiner Verwirklichung der Freiheit, aber nicht in dem Sinne, dass der Mensch den Zweck willkürlich selbst produziert, sondern dass er ihn in freier Entscheidung als vorgegeben akzeptiert und sein ganzes Verhalten in den Dienst einer Verwirklichung des unabhängig von seinem Willen realen Zweckes stellt. Um das Verhältnis von Freiheit und Zweck zu veranschaulichen, gebraucht Fichte das Bild von Saat und Ernte: Die Aussaat ist die freie Entscheidung des Menschen, sein kostbares Getreide zu verschleudern in der Hoffnung auf eine von ihm unabhängige Wirklichkeit. Die Ernte ist der Zweck, der nicht verwirklicht wird ohne die Saat, dessen Realität aber der Freiheit vorgeordnet ist: Ich muss meine Freiheit darangeben in der Hoffnung auf einen Ertrag, der unabhängig von meinen Fähigkeiten realisiert wird24. 21  Rückerinnerungen

II 5, S. 123. S. 124. 23  Über den Grund unseres Glaubens I 5, S. 351. 24  ‚Privatschreiben‘ von 1800, I 6, S. 379–80. 22  Ebd.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)27

Der Glaube ist für Fichte kein Dogma, kein von außen vorgegebener Lehrsatz, den man auswendig lernen könnte; seine Gültigkeit erlebe ich nur in der Aktion; im Handeln wird das Göttliche lebendig: „Dieses ist das einzig mögliche Glaubensbekenntnis: fröhlich und unbefangen vollbringen, was jedes Mal die Pflicht gebeut [= gebietet], ohne Zweifeln und Klügeln über die Folgen. Dadurch wird dieses Göttliche uns lebendig und wirklich; jede unserer Handlungen wird in der Voraussetzung desselben vollzogen, und alle Folgen derselben werden nur in ihm aufbehalten. Der wahre Atheismus, der eigentliche Unglaube und Gottlosigkeit besteht darin, dass man über die Folgen seiner Handlungen klügelt, der Stimme seines Gewissens nicht eher gehorchen will, bis man den guten Erfolg vorherzusehen glaubt, so seinen eigenen Rat über den Rat Gottes erhebt und sich selbst zum Gotte macht.“25 Wie kam es nun dazu, dass diese Schrift, die den „Glauben an eine göttliche Weltregierung“ im Titel trägt, einen ‚Atheismusstreit‘ ausgelöst hat? Der Aufsatz Fichtes wäre vermutlich kaum beachtet worden, wenn nicht der Kurfürst von Sachsen sich seiner angenommen hätte. Der Kurfürst von Sachsen war nicht irgend jemand, sondern u. a. der übermächtige Nachbar des Herzogs von Sachsen-Weimar. Beide waren sie selbstständige Landesherren im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, nur dass der Kurfürst nach dem Kaiser in Wien und dem preußischen König der drittmächtigste Reichsfürst war, während der Herzog nicht einmal die Universität Jena allein unterhalten konnte. Er hatte sich zu diesem Zweck mit seinen Kollegen von Sachsen-Coburg, Sachsen-Gotha und Sachsen-Meiningen zusammengetan. Die Territorien dieser vier Herzöge zusammengenommen entsprachen ungefähr einem Zehntel des Kurfürstentums Sachsen. Kurfürst Friedrich August III. hat sich also der Mühe unterzogen, mit Datum vom 18.12.1798 das folgende Requisi­ tionsschreiben an den Herzog von Weimar abgehen zu lassen: „Es ist Uns angezeigt worden, wie in dem von den Professoren zu Jena Fichte und Niethammer herausgegebenen ersten Hefte des sogenannten ‚Philosophischen Journal‘ von diesem Jahr, zu dessen erstem Aufsatz der Professor Fichte sowie zu dem andern der Rektor zu Salfeld Forberg sich namentlich zu bekennen nicht gescheut haben, solche Grundsätze geäußert worden, die mit der christlichen, ja selbst der natürlichen Religion unverträglich sind und offenbar auf Verbreitung des 25  Über

den Grund unseres Glaubens I 5, S. 354.

28

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Atheismus abzielen. Euer Liebden werden sich selbst davon aus den in der von Uns mit eingereichten Beilage enthaltenen Stellen jener beiden Aufsätze überzeugen. Wir halten Uns von dem gerechten Unwillen, den Dieselben mit Uns über ein so frevelhaftes Beginnen von Lehrern der Jugend auf Universitäten und Schulen empfinden werden, versichert. Da die Erfahrung genugsam lehrt, was für traurige Folgen aus der Duldung jener unseligen Bemühungen, den ohnehin überhandnehmenden Hang zum Unglauben noch weiter zu verbreiten und die Begriffe von Gott und Religion aus dem Herzen der Menschen zu vertilgen, für das allgemeine Beste und insonderheit auch für die Sicherheit der Staaten entstehen: so mag Uns auch in Absicht auf Unsere Lande nicht gleichgültig sein, wenn Lehrer in angrenzenden Landen sich öffentlich und ungescheut zu dergleichen gefährlichen Grundsätzen bekennen. Euer Liebden müssen wir daher angelegentlichst ersuchen, die Verfasser und Herausgeber eingangs bemerkter Aufsätze zur Verantwortung zu ziehen und nach Befinden ernstlich bestrafen zu lassen, auch überhaupt nachdrucksamste Verfügung zu treffen, damit dergleichen Unwesen auf Dero Universität Jena, auch Gymnasien und Schulen kräftiger Einhalt getan werde und Wir nicht in die unangenehme Notwendigkeit gesetzt werden mögen, Unsern Landeskindern die Besuchung sotaner Lehranstalten zu untersagen und ihnen die unverkennbaren Vorteile so mancher besonders auf der Universität Jena vorhandenen Unterrichts- und Übungsmittel Unserm Wunsch entgegen zu entziehen“26. Die Reaktion am Hof von Weimar ist Verärgerung – aber nicht etwa über diese unverschämte und erpresserische Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern über die politische Dummheit der Jenenser Philosophen. Der zuständige Minister, Christian Gottlob Voigt, schreibt am 25.12.1798 an Goethe, dass die Drohung aus Kursachsen „besonders wegen der auswärtigen Wirkung unsere theologische Fakultät ruinieren könnte. Dass doch die verruchten Philosophen für ihren ungeheuren Dünkel alle Klugheit verlieren! … Fichten sein ganzes Gewäsch scheint mir eine bloße Logomachie zu sein [= Wortgefecht bzw. Spiel mit Worten], da er einen Gott der Wirkung, und nur nicht einer anthropomorphischen Substanz gleich (denn ihm scheint eine unendliche Substanz gänzlich außer unserer Fassung zu liegen), annehmen will“27. (Inhaltlich hat Voigt durchaus einen wichtigen Punkt getroffen, seine Tragweite aber als ‚Wortgeplänkel‘ verkannt.) 26  Fichte 27  Ebd.

im Gespräch II, S. 25–26. S. 27–28.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)29

Die Reaktion des Herzogs ist ähnlich drastisch; am 26.12.1798 schreibt er an Voigt: „Bloß die Eitelkeit der Lehrer kann diese so stumpf im Gefühle machen, dass sie nicht wissen, wie sie handeln sollen, während sie skeptischen, sophistischen, in unverständliche Worte und Phrasen gehüllten Tand lehren, nach dem der Geist sich bilden und die Menschen handeln sollen. Von jeher kam mir die Akquisition Fichtens [= seine ‚Anschaffung‘: die Berufung als Hochschullehrer] für äußerst gewagt vor; ich war dazumal im Felde [= im Krieg gegen Frankreich] und konnte mich um die Sache so genau nicht bekümmern, kannte auch das saubere Buch nicht, dass ihn dazumal berühmt machte; erst zuhause las ich es. Schwerlich würde ich in seine Annahme gewilligt haben, hätte ich ihn mit seinen Lehrsätzen gekannt und seine Unvorsichtigkeit beurteilen können. Zu leugnen ist es nicht, dass dazumal, wo der Zeitpunkt weit kritischer wie der jetzige war, es der öffentlichen Meinung sehr ins Gesicht geschlagen hieß, einen sich öffentlich bekennenden Revolutionisten nach Jena als Lehrer zu berufen. Die nützlichen Folgen spüren wir davon jetzt; wir werden unsere ganze Universität ruinieren, um der geschmacklosen Torheit einer ephemeren [= kurzlebigen] Geisteskrankheit zu schonen. Menschen, die nicht wissen, was sie der allgemeinen Schicklichkeit zuliebe verschweigen oder wenigstens nicht öffentlich sagen sollen, sind höchst unbrauchbar und schädlich. … Es geht platterdings nicht an, dass man so leichtsinnig glaube, man könne die Meinung seiner Nachbarn oder Mitmenschen, von denen man leben und zehren muss, so leichte beherrschen und ihr imponieren“28. Am Nachmittag schickt der Herzog noch einen zweiten Brief hinterher, in dem er Goethe mitverantwortlich macht für den unverantwort­ lichen Leichtsinn an der Universität Jena: „Über Goethen habe ich wohl zehnmal mich halb zuschanden geärgert, der ordentlich kindisch über das alberne kritische Wesen ist und einen solchen Geschmack daran findet, dass er den seinigen sehr darüber verdorben hat. Er besieht dabei das Ding und das ganze akademische Wesen mit einem solchen Leichtsinn, dass er alles das Gute, was er bei seinen häufigen Anwesenheiten zu Jena stiften könnte, unterlässt … Mit Goethen kann ich gar nicht mehr über diese Sache reden, denn er verliert sich gleich dabei in eine so wort- und sophismenreiche Discution, dass mir alle Geduld ausgeht und ihm zuweilen die Klarheit und Ein28  Ebd.

S. 29–30.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

fachheit des Gedankens. Ich wünschte, wenn Sie es nicht vernichtet haben, Sie wiesen ihm, was Ihnen ich heute morgen über die Sache schrieb, und machten ihn auf den politischen Teil der Angelegenheit aufmerksam.“ Abschließend beklagt er die Belastung des Verhältnisses zu Kursachsen und schimpft mit Bezug auf Fichte: „und das alles eines Narren wegen, der bald kein gelehrtes Feld mehr finden wird, das er durch seine unverständliche Sprache unbrauchbar machen kann, und der uns dabei die Universität ruiniert, ohne auch nur den mindesten Nutzen zu stiften“29. (Man muss immerhin zugeben, dass die Sprache des Herzogs sehr viel verständlicher ist als die Sprache des Professors.) Kursachsen hatte sich noch an weitere Staaten gewandt mit der Aufforderung, die Zeitschrift Fichtes zu konfiszieren. Die Reaktion der preußischen Regierung liegt uns vor: „Seine Königliche Majestät missbilligen nun ebenfalls im höchsten Grade das aus jenen Auszügen nur allzu ersichtliche Bestreben des Fichte und Forberg, das Dasein Gottes als eines selbstständigen Wesens wegzuräsonnieren, und bedauern die Grübler, die ihre Vernunft in dem Grade verlieren, dass ihnen der Unerforschliche auch undenkbar scheint. Höchstdieselben sind sich aber auch bewusst, bereits hinlängliche Einrichtungen getroffen zu haben, dass einer Schrift wie dieser, welche so auffallende, das Wesen der Religion selbst zerstörende Grundsätze enthält, eben dadurch die Heiligkeit des Eides und den Sinn für Gerechtigkeit und Tugend in den Gemütern vernichtet, mithin auch die Grundfeste der Staaten untergräbt, in Höchstdero Landen das Imprimatur [= die Druckerlaubnis] gewiss nicht hätte erteilt werden können“30. Von der religiösen Toleranz Friedrichs des Großen ist unter seinen Nachfolgern nicht mehr viel zu spüren. Der letzte Absatz scheint sogar mit einer gewissen Schadenfreude geschrieben zu sein, hatte doch Sachsen-Weimar sich einiges zugute gehalten auf seine großzügige Kulturpolitik. Fichte ist natürlich empört, als er aufgefordert wird, sich gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen. In der sog. „Verantwortungsschrift“ zeigt er sich zunächst scheinbar ratlos und überlegt: „Was mag dem Gegner Atheismus heißen? Er hat vergessen, einen Begriff des Atheismus ausdrücklich aufzustellen; aus dem Zusammen29  Ebd. 30  III

S. 30–32. 4, S. 105, Anm. 3.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)31

hange aber, aus der Art der Anklage, aus den zum Beweise unseres Atheismus ausgehobenen Stellen können wir diesen seinen Begriff unmöglich erraten, … ohne zu fürchten, dass wir ihm Unrecht tun möchten. So ist z. B. in der Beilage zum Requisitionsschreiben die Stelle S. 14 in meiner Abhandlung als Beweisstück des Atheismus ausgehoben, folgende Stelle: ‚Der wahre Atheismus, der eigentliche Unglaube und Gottlosigkeit besteht darin, dass man über die Folgen seiner Handlungen klügelt, der Stimme seines Gewissens nicht eher gehorchen will, bis man den guten Erfolg vorherzusehen glaubt, so seinen eigenen Rat über den Rat Gottes erhebt und sich selbst zum Gotte macht‘.“ Fichte macht sich mit Recht lustig über das törichte Verfahren, den Atheismusvorwurf durch unkommentierte Zitate belegen zu wollen; er fährt in seiner Entgegnung fort: „Also sollte wohl, nach dem Gegner, ein wahrer rechtgläubiger Bekenner Gottes sich so ausdrücken: ‚Der rechte Glaube, die wahre Gottseligkeit besteht darin, dass man über die Folgen seiner Handlungen klügle und der Stimme seines Gewissens nicht eher gehorche, bis man den guten Erfolg sicher vorhersieht, so seinen eigenen Rat zum Rate Gottes erhebe und sich selbst zum Gotte mache‘.“31 Er greift dann doch jene These auf, von der er wohl annehmen konnte, dass sie Anstoß erregen würde, nämlich den Versuch, mit den Worten der preußischen Regierung: „das Dasein Gottes als eines selbstständigen Wesens wegzuräsonnieren“ oder mit Fichtes Worten: „Der Begriff von Gott als einer besonderen Substanz sei unmöglich und widersprechend“. Diese Aussage heiße „in der Sprache des Gegners soviel als: der Begriff von Gott als einem materiellen Dinge sei unmöglich und widersprechend“32. Fichte bekennt sich dazu, dass in seinem Aufsatz die „Begreiflichkeit Gottes“ geleugnet werde: „Alle Realität, die wir fassen, ist nur endlich, und sie wird es dadurch, dass wir sie fassen. Alles, was für uns Etwas ist, ist es nur, inwiefern es etwas anderes auch nicht ist; alle Position ist nur möglich durch Negation; wie denn das Wort ‚bestimmen‘ selbst nichts anderes bedeutet als ‚beschränken‘. Es ist sonach klar, dass, sobald man Gott zum Objekte eines Begriffs macht, er eben dadurch aufhört, Gott d. h. unendlich zu sein“33. Er wiederholt diesen Gedanken mit leichter verständlichen Worten noch einmal in Anlehnung an das Alte Testament: „Dadurch, dass etwas begriffen wird, hört es auf, Gott 31  I

6, S. 42–43. S. 47. 33  Ebd. S. 50. 32  Ebd.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

zu sein; und jeder vorgebliche Begriff von Gott ist notwendig der eines Abgottes. Wer da sagt: ‚du sollst dir keinen Begriff von Gott machen‘, sagt mit anderen Worten: ‚du sollst dir keinen Götzen machen‘, und sein Gebot bedeutet geistig dasselbe, was das uralte mosaische sinnlich: ‚Du sollst dir kein Bildnis machen‘ “34. Hier dürfte sich Fichte in Übereinstimmung befinden mit der Auffassung Goethes, wie wir sie im ‚Faust‘ kennengelernt haben: dass der Theologie im engeren Sinne, als der sprachlichen Fixierung Gottes, die Begriffe fehlen; denn der begriffene Gott ist ein toter Gott. Nun war es Fichte nicht entgangen, dass der Mangel an philosophischer und selbst an theologischer Begründung ein Indiz dafür sein konnte, dass die Atheismusanklage politisch motiviert war: „Die Triebfeder ist klar; sie ist notorisch [= allgemein bekannt], nur dass keiner den Namen des Dinges aussprechen will. Ich bin überhaupt nicht gemacht, um hinter dem Berge zu halten … Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jakobiner, dies ist’s. Von einem solchen glaubt man jeden Gräuel ohne weitere Prüfung. Gegen einen solchen kann man gar keine Ungerechtigkeit begehen. Hat er auch dieses Mal nicht verdient, was ihm widerfährt, so hat er es ein andermal verdient. Recht geschieht ihm auf jeden Fall; und es ist politisch, die das wenigste Aufsehen erregende, die populärste Anklage zu ergreifen, um seiner habhaft zu werden“35. Dass der Atheismusvorwurf teilweise vorgeschoben war, ließen bereits die zitierten Schriftstücke vermuten. Besonders deutlich wird dies in einem Schreiben von C. G. Voigt an Goethe vom 7.4.1799: Er habe die Verhandlungen mit dem Jenenser Rektor so geführt, dass „der eigent­ liche Grund, dass man nämlich eigentlich froh sei, einen Anlass zu haben, des Fichte wieder loszuwerden, nicht durchschimmerte“36. Fichte scheint allerdings die politische Motivation der Anklage zu vordergründig aufgefasst zu haben. Es ging nicht einfach um ‚Demokratismus‘ statt ‚Atheismus‘, sondern es ging durchaus auch um Atheismus, aber nicht als philosophisches Problem, sondern um den Atheismus als Erscheinungsform des Demokratismus. Der Atheismusvorwurf war als solcher außerordentlich politisch in einer Zeit, in der die Gottesauffassung innerhalb der Staatsreligion als Mittel der Herrschaftssicherung eingesetzt wurde. Das beschränkte sich keineswegs nur auf die Absiche34  Ebd.

S. 52. S. 72 (Jakobiner: radikaler französischer Demokrat). 36  Fichte im Gespräch II, S. 111–12. 35  Ebd.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)33

rung des regierenden Fürsten durch die Formel ‚Wir, von Gottes Gnaden Herzog‘ usw.; sondern Gott wurde durchaus im Sinne Orwells als der große Bruder, der alles sieht, in Anspruch genommen für die Kontrolle desjenigen Bereichs, der dem staatlichen Zugriff entzogen war, für die Kontrolle der Gesinnung, der Überzeugungen, Absichten und Wünsche. Politische Fremdbestimmung und geistig-religiöse Fremdbestimmung wirken im Absolutismus meistens Hand in Hand; das Schlagwort von dem Bündnis von Thron und Altar deutet das an. Und deshalb ist die immanente Gottesauffassung, die in der Stimme des Gewissens die höchste Autorität erkennt, politisch gefährlich. (Das hatte schon Sokrates in Athen erfahren müssen.) Diese Ängste kamen zum Ausdruck etwa in der Formulierung der preußischen Regierung, dass die Ablehnung einer begrifflich fixierten, personalen Gottesauffassung „die Grundfeste der Staaten untergräbt“. Damit soll nicht gesagt sein, dass jede Personalisierung Gottes Ausdruck von Fremdbestimmung sei; aber sie ist es dann, wenn sich der Staat zu ihrem Beschützer aufwirft und sich anmaßt, seinen Untertanen die konkrete Form der Gottesauffassung vorzuschreiben. Nach dem Gesagten wird es Sie nicht überraschen, dass die abschließende Entscheidung des Herzogs von Weimar nicht gestützt ist auf eine gründliche Analyse, ob denn nun der Vorwurf des Atheismus zu recht erhoben worden sei oder nicht. Und das ist – aus der Sicht des theologisch Interessierten – das eigentlich Enttäuschende bei dem ganzen Streit, dass von Seiten der Obrigkeit niemand auch nur ansatzweise versucht hat zu klären, was Atheismus eigentlich sei (geschweige denn, ob die Gottesauffassung Fichtes sich vereinbaren lasse mit der christ­ lichen Gottesvorstellung). So zeigt sich auch hier wieder: Es ging nur vordergründig um Religion und Gott, im Grunde aber um Autorität und Macht. (So etwas soll es auch früher schon gegeben haben, z. B. in Jerusalem.) In der Verfügung des Herzogs an die Universität Jena finden sich die folgenden gewundenen Formulierungen: „Ob nun wohl philosophische Spekulationen kein Gegenstand einer rechtlichen Entscheidung sein können, so müssen Wir demohnerachtet die von den Herausgebern des philosophischen Journals unternommene Verbreitung der nach dem gemeinen Wortverstande so seltsamen und anstößigen Sätze als sehr unvorsichtig erkennen, indem Wir doch berechtigt sind, von akademischen Lehrern zu erwarten, dass sie der Reputation der Akademie eher durch Zurückhaltung dergleichen zweideu-

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

tiger Äußerungen und Aufsätze über einen so wichtigen Gegenstand prospiciren sollten. Wir begehren daher andurch gnädigst, Ihr wollet den Professoren Fichte und Niethammer … ihre Unbedachtsamkeit verweisen und ihnen eine bessere Aufmerksamkeit auf die in das Publikum zu bringenden Aufsätze anempfehlen. Wir versehen uns auch künftig von allen akademischen Lehrern, dass sie sich solcher Lehrsätze, welche der allgemeinen Gottesverehrung widerstreiten, in ihren Vorträgen enthalten werden.“37 Wenn das alles gewesen wäre, wenn Fichte aufgrund dieser dürftigen Stellungnahme zu einer mangelhaft begründeten Anklage seine Stellung verloren hätte, dann würde er schon damals in der Öffentlichkeit als moralischer Sieger dagestanden haben, und die Fürsten samt ihren Ministern wären die Blamierten gewesen. Aber Fichte war nicht nur scharfsinnig und kampflustig, er war auch maßlos. Aufs heftigste empört, dass man ausgerechnet ihn, der sich seines religiösen Fundaments zutiefst bewusst war und der wie kaum ein zweiter sein Verhalten von seinem Glauben bestimmen ließ, der sein ganzes Leben als Gottesdienst begriff, – dass man ausgerechnet von ihm verlangte, sich gegen den Vorwurf des Atheismus zu verteidigen, das hat ihn in seiner Reaktion über das Ziel hinausschießen lassen. Als ihm zu Ohren kam, dass er wohl mit einem Verweis aus Weimar rechnen müsse, schreibt er am 22.3.1799 an den zuständigen Minister C. G. Voigt im Stile der Verteidigung des Sokrates, dass sein Verhalten überhaupt nicht tadelnswert, sondern ganz im Gegenteil preiswürdig sei und dass er nicht gesonnen sei, einen Verweis hinzunehmen. Schlimmer noch war, dass er nun seinerseits einen berühmten Vertreter der Kirchenaufsicht, den Generalsuperintendenten Johann Gottfried Herder, des Atheismus bezichtigte und dass er mit Drohungen operierte. Er beginnt gleich sehr hochtrabend: „Jetzt sind unsere Verantwortungsschriften eingelaufen, und es ist daran, mein Schicksal und vielleicht das Schicksal einer berühmten Universität zu entscheiden.“ Fichte erläutert diese dramatische Andeutung am Ende des Briefes wie folgt: „Mehrere mir gleichgesinnte Freunde, welche man für bedeutend für die Akademie anerkannt hat und welche in der Verletzung meiner Lehrfreiheit die ihrige als mit verletzt ansehen würden, … haben mir ihr Wort gegeben, mich, falls ich auf die angegebene Art gezwungen würde, diese Akademie zu verlassen, zu begleiten und meine ferneren Unternehmungen zu teilen.“ Die Formulierung 37  Fichte im Gespräch II, S. 90–91 („der Reputation … prospiciren“ = um das Ansehen … besorgt sein).



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„falls ich auf die angegebene Art gezwungen würde, diese Akademie zu verlassen“, bezieht sich auf die herrische Art, mit der sich Fichte einen Verweis verbeten hat: „Es würde mir nichts übrig sein, als den Verweis durch Abgebung meiner Demission zu beantworten“38 – also eine Rücktrittsdrohung. Diesen Satz hat man am Weimarer Hof mit großer Erleichterung, ja geradezu begierig aufgegriffen, bot er doch die Handhabe zur gewünschten Entlassung, ohne dass man diese auf den zweifelhaften Atheismusvorwurf zu gründen brauchte. Der Herzog hat keinen Augenblick gezögert, nachdem er sich der Zustimmung der anderen drei Herzöge versichert hatte, die Rücktrittsdrohung als Rücktrittsangebot zu akzeptieren und zugleich mit dem Verweis, den wir gelesen haben, in einem Postskriptum die Entlassung auszusprechen. Da wir in diesem Semester schon einiges über Goethe gehört haben, lohnt es vielleicht, auf seine Haltung in diesem Konflikt noch etwas einzugehen, auch wenn sie sich nicht ganz klären lässt. Die Tatsache, dass seine Briefe und Aufzeichnungen in dieser Angelegenheit im wesentlichen vernichtet sind, legt die Vermutung nahe, dass er sich in der Restaurationszeit nach 1815, als Fichte politisch in Ungnade gefallen war (seine bekannteste Schrift, die „Reden an die deutsche Nation“ wurde als zu demokratisch verboten), nicht durch allzu positive Äußerungen über Fichte kompromittieren wollte. Die Kritik des Herzogs an den Überzeugungen Goethes, „der ordentlich kindisch über das alberne kritische Wesen ist“, war ja bereits im Jahr 1799 deutlich geworden. Zwei Äußerungen von ihm sind überliefert: die eine, in seinen Erinnerungen – den ‚Tag- und Jahresheften‘, um 1820 geschrieben –, bietet eine recht gute, im Rückblick allerdings geschönte Zusammenfassung der Vorgänge: „Nach Reinholds Abgang [= Fichtes Vorgänger], der mit Recht als ein großer Verlust für die Akademie erschien, war mit Kühnheit, ja Verwegenheit an seine Stelle Fichte berufen worden, der in seinen Schriften sich mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände erklärt hatte. Er war eine der tüchtigsten Persönlichkeiten, die man je gesehen, und an seinen Gesinnungen im höhern Betrachte nichts auszusetzen; aber wie hätte er mit der Welt, die er als seinen erschaffenen Besitz betrachtete, gleichen Schritt halten sollen? Da man ihm die Stunden, die er zu öffentlichen Vorlesungen benutzen wollte, an Werktagen verkümmert hatte, so unternahm er sonntags Vorlesungen, deren Einleitung Hindernisse fand. Klei38  III

3, S. 283–86.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

ne und größere daraus entspringende Widerwärtigkeiten waren kaum, nicht ohne Unbequemlichkeit der obern Behörden, getuscht und geschlichtet, als uns dessen Äußerungen über Gott und göttliche Dinge, über die man freilich besser ein tiefes Stillschweigen beobachtet, von außen beschwerende Anregungen zuzogen. Fichte hatte in seinem philosophischen Journal über Gott und göttliche Dinge auf eine Weise sich zu äußern gewagt, welche den hergebrachten Ausdrücken über solche Geheimnisse zu widersprechen schien; er ward in Anspruch genommen. Seine Verteidigung besserte die Sache nicht, weil er leidenschaftlich zu Werke ging, ohne Ahnung, wie gut man diesseits für ihn gesinnt sei [Anm. d. Hrsg., F. i. G.: „Diese Behauptung Goethes widerspricht den Tatsachen.“], wie wohl man seine Gedanken, seine Worte auszulegen wisse; welches man freilich ihm nicht gerade mit dürren Worten zu erkennen geben konnte, und ebenso wenig die Art und Weise, wie man ihm auf das gelindeste herauszuhelfen gedachte. Das Hin- und Widerreden, das Vermuten und Behaupten, das Bestärken und Entschließen wogte in vielfachen unsichern Reden auf der Akademie durcheinander, man sprach von einem ministeriellen Vorhalt, von nichts Geringerem als einer Art Verweis, dessen Fichte sich zu gewärtigen hätte. Hierüber ganz außer Fassung, hielt er sich für berechtigt, ein heftiges Schreiben beim Ministerium einzureichen, worin er jene Maßregel als gewiss voraussetzend, mit Ungestüm und Trotz erklärte, er werde dergleichen niemals dulden, er werde lieber ohne weiteres von der Akademie abziehen, und in solchem Falle nicht allein, indem mehrere bedeutende Lehrer mit ihm einstimmig den Ort gleichzeitig zu verlassen gedächten. Hierdurch war nun auf einmal aller gegen ihn gehegte gute Wille gehemmt, ja paralysiert [= aufgelöst]: hier blieb kein Ausweg, keine Vermittlung übrig, und das Gelindeste war, ihm ohne weiteres seine Entlassung zu erteilen … Zu einer Verabredung jedoch, mit ihm die Akademie zu verlassen, wollte sich niemand bekennen, alles blieb für den Augenblick an seiner Stelle; doch hatte sich ein heimlicher Unmut aller Geister so bemächtigt, dass man in der Stille sich nach außen umtat, und zuletzt Hufeland, der Jurist, nach Ingolstadt, Paulus und Schelling aber nach Würzburg wanderten.“39 Die andere Äußerung Goethes ist enthalten in einem Brief vom 30.8.1799 an seinen Schwager Schlosser: „Was Fichten betrifft, so tut mir’s immer leid, dass wir ihn verlieren mussten und dass seine törichte Anmaßung ihn aus einer Existenz hinauswarf, die er auf dem weiten 39  Fichte

im Gespräch II, S. 156–57 und LLB I, S. 289/290.



2. Der Atheismusstreit (1798 / 99)37

Erdenrund, so sonderbar auch diese Hyperbel klingen mag, nicht wieder finden wird. Je älter man wird, je mehr schätzt man Naturgaben, weil sie durch nichts können angeschafft werden. Er ist gewiss einer der vorzüglichsten Köpfe; aber wie ich selbst fürchte, für sich und die Welt verloren. Seine jetzige Lage muss ihm zu seinen übrigen Fratzen noch Bitterkeit zufügen. Übrigens ist es, so klein die Sache scheint, ein Glück, dass die Höfe in einer Angelegenheit, wo eine unverschämte Präokkupation, wie du weißt, so weit ging, einen Schritt tun konnten, der, wenn er von der einen Seite gebilligt wird, von der anderen nicht getadelt werden kann. Und ich für meine Person gestehe gern, dass ich gegen meinen eigenen Sohn votieren würde, wenn er sich gegen ein Gouvernement eine solche Sprache erlaubte“40. Nimmt man zu diesen beiden Aussagen hinzu, was wir aus anderen Quellen gehört haben, so lässt sich über die Haltung Goethes wohl Folgendes feststellen: Im Unterschied zu dem Minister und dem Herzog hat Goethe den Verlust Fichtes bedauert; er war in der Lage, fremde Begabungen neidlos zu respektieren. Er hat aber offenbar keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, Fichte zu halten: Er hat sich nicht dafür eingesetzt, die erpresserische Einmischung aus Leipzig, in seinen Erinnerungen als „beschwerende Anregung“ verharmlost, sofort zurückzuweisen. Und er hat in dem ganzen Vierteljahr, vom Dezember 1798 bis zu dem verhängnisvollen Brief Fichtes im März 1799, weder an ihn geschrieben, noch ihn aufgesucht, obwohl (oder weil?) er die negative Einstellung der maßgeblichen Personen kannte. Bei der Verehrung, die Fichte ihm entgegenbrachte, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, dessen Fehleinschätzung der eigenen Position zu korrigieren. Aber gegensätzliche Überzeugungen, z. B. in der Politik, in der Betrachtung von Kunst und Natur, sowie die großen Unterschiede in Herkunft, Lebensweise und Charakter haben wohl verhindert, dass Goethe tieferes Verständnis oder gar Sympathie für Fichte aufbrachte. Zum Glück hat Goethe die Energie und Lernfähigkeit Fichtes unterschätzt mit der Befürchtung, dass er aufgrund seines Verhaltens im Atheismusstreit „für sich und die Welt verloren“ sei. Fichte hat in den nächsten Jahren hart an sich gearbeitet und bei seinem zweiten Aufstieg zum Erfolg den Umgang mit der Obrigkeit sehr viel besser bewältigt, ohne dabei an Prinzipientreue zu verlieren.

40  Ebd. S. 222–23 (Präokkupation = Vorwegnahme – bezogen wohl auf die kursächsische Anmaßung, eine Bestrafung Fichtes als sicher vorauszusetzen).

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi) Die Auswirkungen des Atheismusstreites ließen sich in mancherlei Hinsicht verfolgen; ich werde mich zunächst beschränken auf die Entwicklung der Religiosität Fichtes in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi. Friedrich Heinrich Jacobi, 1743–1819, ist in der Gegenwart nur noch wenig bekannt; er liegt sozusagen außerhalb des ‚Trampelpfades‘ der Philosophiegeschichte. Er soll u. a. von Goethe sehr geschätzt worden sein, und für Fichte ist er, außer Kant, der einzige Philosoph, den er wirklich respektierte. Jacobi ist kein Akademiker, sondern eigentlich Kaufmann; der Reichtum seiner Familie erlaubte ihm aber die Existenz eines Privatgelehrten. 1807 wurde er in die sehr angesehene Position eines Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt und hat sich als solcher, trotz erheblicher Differenzen in den Überzeugungen, erfolgreich für die Berufung Fichtes in diese Akademie eingesetzt. Jacobi schreibt am 26.2.1799 an seinen Freund Reinhold, den Vorgänger Fichtes als Philosophieprofessor in Jena, dass er gerade einen längeren Brief an Fichte in Arbeit habe, und bemerkt dann, dass diesem ein Dämpfer nur gut tun könne: „Fichte ist nicht zu entschuldigen, und es schadet ihm nicht, wenn er etwas geängstigt wird. Es ist doch nicht eine Spur von stiller Größe, von Erhabenheit in seinen Reden und Taten, aus allem spricht ‚der Himmelstürmende Titanengeist der Zeit, der sich von den Nephilims und Faustrechthabern nur darin unterscheidet, dass er die geistige Stärke an die Stelle der körperlichen setzt‘.“41 Der erwähnte Brief Jacobis an Fichte ist am 21.3.1799 fertiggestellt und erscheint noch im selben Jahr mit Zustimmung Fichtes im Druck. Eingangs berichtet Jacobi von seinem Vorsatz, an Fichte zu schreiben: „Was ich mir vorsetze mit diesem Vorsatz, den ich aus Verzweiflung fasse, weiß ich selbst nicht; er ist aber darum nur desto angemessener meiner Unphilosophie, die ihr Wesen hat im Nicht-Wissen, wie Ihre [= Fichtes] Philosophie allein im Wissen, weswegen diese auch, nach meiner innigsten Überzeugung, Philosophie im strengeren Verstande allein genannt zu werden verdient. Ich sage bei jeder Gelegenheit und bin bereit, es öffentlich zu bekennen, dass ich Sie für den wahren Messias der spekulativen Vernunft, den echten Sohn der Verheißung einer 41  Fichte im Gespräch 2, S. 65–66. (Im letzten Satz zitiert Jacobi den Schriftsteller Jean Paul. ‚Nephilims‘ ist eine Bezeichnung für Riesen im Alten Testament.).



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)39

durchaus reinen, in und durch sich selbst bestehenden Philosophie halte.“42 Diese Wertschätzung enthält keine Ironie; sie wird aber stark relativiert durch den folgenden Text, geschrieben vom Standpunkt seiner „Unphilosophie, die ihr Wesen hat im Nicht-Wissen“: „Unsere Wissenschaften, bloß als solche, sind Spiele, welche der menschliche Geist zeitvertreibend sich ersinnt. Diese Spiele ersinnend organisiert er nur seine Unwissenheit, ohne einer Erkenntnis des Wahren auch nur um ein Haar breit näherzukommen … Und so begreife ich denn nicht, wie man an wissenschaftlicher Erkenntnis genug haben, auf alle Wahrheit außer der wissenschaftlichen Verzicht tun und der Einsicht, dass es keine andere Wahrheit gebe, sich erfreuen kann, wenn man dieser Wahrheit, dem wissenschaftlichen Wissen, wie Fichte auf den Grund gekommen ist und es ebenso klar zum wenigstens wie ich vor Augen hat, dass wir im rein wissenschaftlichen Wesen nur ein Spiel treiben mit leeren Zahlen … Alle Philosophen gingen darauf aus, hinter die Gestalt der Sache, das ist: zur Sache selbst, hinter die Wahrheit, das ist: zum Wahren zu kommen; sie wollten das Wahre wissen – unwissend, dass, wenn das Wahre menschlich gewusst werden könnte, es aufhören müsste, das Wahre zu sein, um ein bloßes Geschöpf mensch­ licher Erfindung, eines Ein- und Ausbildens wesenloser Einbildungen zu werden. Von dieser Unwissenheit und Anmaßung haben uns die zwei großen Männer Kant und Fichte befreit, von Grund aus erst der letzte. Sie haben die höhere Mechanik des menschlichen Geistes entdeckt … – wahrlich eine große Wohltat für unser Geschlecht, wenn es nicht, in die Wissenschaft seiner Unwissenheit jetzt sich vergaffend, selig sein will darin allein, dass es mit beiden Augen emsig nur nach der Spitze seiner Nase schielt.“43 Der Mensch kann sein Wissen durchschauen – nicht als Abstraktion von der Wirklichkeit, sondern als Projektion seines Denkvermögens. Die menschliche Vernunft darf sich aber nicht absolut setzen; sie muss ihrer Unvollkommenheit, ihres Versagens dort, wo es eigentlich erst interessant wird, sich bewusst bleiben. Daraus folgert Jacobi: „Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: Ich, sondern: Mehr als Ich! Besser als ich! – ein ganz Anderer. Ich bin nicht, und ich mag nicht sein, wenn Er nicht ist! Ich selbst, wahrlich! kann mein höchstes Wesen 42  Jacobi an Fichte, Hamburg 1799, S. 1–2. (abgedruckt auch in GA III 3, S. 224–281). 43  Ebd. S. 24–27 (GA S. 238 / 39).

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

mir nicht sein … [sic] So lehret mich meine Vernunft instinktmäßig: Gott. Mit unwiderstehlicher Gewalt weiset das Höchste in mir auf ein Allerhöchstes über und außer mir; es zwingt mich, das Unbegreifliche – ja das im Begriff Unmögliche zu glauben, in mir und außer mir, aus Liebe, durch Liebe.“44 „Ich gestehe also, dass ich das an sich Gute nicht kenne, sondern auch von ihm nur eine ferne Ahndung habe, erkläre, dass es mich empört, wenn man mir den Willen, der Nichts will, diese hohle Nuss der Selbstständigkeit und Freiheit im absolut Unbestimmten, dafür aufdringen will.“45 „Wahrhaft über sich selbst erhebt den Menschen denn doch nur sein Herz, welches das eigentliche Vermögen der Ideen – der nicht leeren – ist. Dieses Herz soll Transzendentalphilosophie mir nicht aus der Brust reißen und einen reinen Trieb allein der Ichheit an die Stelle setzen; ich lasse mich nicht befreien von der Abhängigkeit der Liebe, um allein durch Hochmut selig zu werden. Ist das Höchste, worauf ich mich besinnen, was ich anschauen kann, mein leer und reines, nackt und bloßes Ich, mit seiner Selbstständigkeit und Freiheit, so ist besonnene Selbstanschauung, so ist Vernünftigkeit mir ein Fluch – ich verwünsche mein Dasein.“46 „Den Gott also haben wir, der in uns Mensch wurde, und einen anderen zu erkennen ist nicht möglich … Und so muss, ich wiederhole es, Gott im Menschen selbst geboren werden, wenn der Mensch einen lebendigen Gott – nicht bloß einen Götzen – haben soll.“47 „Der Mensch findet Gott, weil er sich selbst nur in Gott finden kann; und er ist sich selbst unergründlich, weil ihm das Wesen Gottes notwendig unergründlich ist. Notwendig! weil sonst im Menschen ein übergöttliches Vermögen wohnen, Gott von dem Menschen müsste erfunden werden können.“48 – „Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es gibt kein Drittes. Finde ich Gott nicht, so dass ich ihn setzen muss, ein Selbstsein, außer mir, vor mir, über mir, so bin ich selbst, kraft meiner Ichheit, ganz und gar, was so genannt wird, und mein erstes und höchstes Gebot ist, dass ich nicht haben soll andere Götter außer Mir oder jener Ichheit.“49 44  Ebd. 45  Ebd. 46  Ebd. 47  Ebd. 48  Ebd. 49  Ebd.

S. 30–31 (GA S. 241). S. 32 (GA S. 241). S. 35 (GA S. 243). S. 47 (GA S. 250). S. 48 (GA S. 250 / 51). S. 49 (GA S. 251).



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)41

Wer bei dem Vorgelesenen das Gefühl gehabt hat: ‚Das ist es! Jacobi stellt die Welt wieder auf die Füße und benennt genau das, was mir bei Fichte gefehlt hat‘, den muss ich wahrscheinlich enttäuschen; denn er wird von Fichte wohl eine wütende Antwort erwarten oder ein beleidigtes Schweigen. Fichte hat aber diesen Brief sehr ernst genommen und mehrfach zu einer Entgegnung angesetzt, ohne sie allerdings zum Abschluss zu bringen. Seine erste Reaktion liegt vor in einem Brief vom 22.4.1799 an seinen Vorgänger Reinhold, damals noch beider Freund: „Ich kann mich bei meiner gegenwärtigen absoluten Unfähigkeit und bei meinem Ekel vor allem in den bekannten Streit Einschlagenden Ihnen vielleicht nicht deutlicher erklären als so: Ich unterschreibe Jacobis Äußerungen in ihrer ganzen Ausdehnung, habe alles, was er da sagt, längst gewusst und deutlich gedacht; und so innig es mich freut, dass Jacobi dieses treffliche Schreiben für mich schrieb, ebenso unbegreiflich ist es mir, wie er glauben konnte, es gegen mich zu schreiben.“50 Bezogen auf Reinhold gibt Fichte noch einmal sein besonderes Philosophieverständnis zu erkennen: „Sie haben immer die Hoffnung gehegt und hegen sie noch, die Menschen durch Philosophie zu bessern und zu bekehren … Ich hingegen glaube, einer der besonderen Vorzüge des wissenschaftlichen Idealismus liege darin, dass er sich selbst wohl kennt und auf jenen erhabenen Zweck demütig Verzicht tut. Nur was aus dem Leben kommt, vermag das Leben zu bilden; aber der Idealismus ist das wahre Gegenteil des Lebens. Sein eigentlicher Zweck ist Wissen um des Wissens willen. Sein praktischer Nutzen ist nur mittelbar: pädagogisch im weitesten Sinne des Wortes. Philosophie auf Denkart und Gesinnung bezogen ist mir absolut nichts.“51 Insoweit besteht also durchaus Einigkeit: Fichtes Lehre vom Wissen ist zunächst einmal eine rein destruktive Kritik am menschlichen Denkvermögen. Was aber bleibt uns dann, wenn wir den Schutt philosophischer ‚Wolkenkratzer‘ abgetragen und ‚das Leben‘ befreit haben vom Ballast 50  III 3, S. 325–26. Gleichzeitig bedankt er sich in einem kurzen Brief auch bei Jacobi selbst „für das treffliche Schreiben, das Sie die Güte hatten, für mich zu schreiben. Meine Zeit, die durch die Wendung, welche mein Schicksal genommen, für ganz andre Dinge in Anspruch kommt, hat mir noch nicht erlaubt, dasselbe so sorgfältig zu studieren um zu finden, wie jenes Schreiben gegen mich sein könne. Der ersten natürlichen Ansicht nach unterschreibe ich dasselbe fast durchgängig unbedingt.“ III 3, S. 334. 51  Ebd. S. 327.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

unseres Pseudowissens, wenn wir nicht länger versuchen, unsere Gottesvorstellungen in scheinbar begreifliche Götzenbilder umzuwandeln und unsere Existenz durch eine objektiv-transzendente Begründung abzusichern? Um dieses existenzielle Problem dreht sich eine zweite Reaktion Fichtes, die uns in einem Fragment vorliegt, das sein Sohn aus dem Nachlass herausgegeben und auf das Jahr 1807 datiert hat. Dort heißt es: „Der Streitpunkt ist über den Dualismus des Absoluten“, d. h. über die Zweigeteiltheit dessen, was als unbedingt wirklich und selbstständig anzusehen ist. Dieser Dualismus ist, nach Fichte, die Folge einer scheinbar demütigen, in Wahrheit aber selbstherrlichen Personifizierung Gottes: „Nun wird ihnen [= seinen Kritikern] ja die Selbstständigkeit Gottes nicht abgeleugnet. Nur sie wollen dieselbe erst durch Aussonderung von sich, aus der zweiten Hand, haben: wenn er nicht außer ihnen ist, so ist er nicht. Er ist ihnen also das zweite Selbstständige, durch den Gegensatz entstanden, um ihretwillen da, mittelbar zu erfassen; sie selbst aber sind das Unmittelbare, über welches weiter gar kein Streit ist. Sich fühlen sie, Gott nicht; in sich leben sie, nicht in ihm. Dieser Sinn ist nun wirklich so alt als die Welt; aber es ist darum doch ein unheiliger und ungöttlicher Sinn.“52 Die transzendente Gottesvorstellung ist nach Fichte eine Projektion – wohl ein Innewerden der Abhängigkeit, aber zugleich doch ein Festklammern an der eigenen Selbstständigkeit: man will die scheinbare Sicherheit des Ich-Bewusstseins nicht preisgeben. Sie werden vielleicht fragen wollen, ob es nicht in der Konsequenz dieser Auffassung liegt, eine Gottesoffenbarung zu leugnen. Fichte verwendet diesen Begriff positiv, wie wir noch hören werden, aber nicht in dem Sinne, dass hier unten der selbstständige Mensch steht und dort oben, platt gesagt, der liebe Gott den Finger aus der Wolke hängen lässt; also nicht in dem Sinne, dass der Mensch einen transzendenten Gott auffassen könnte, geschweige denn dass er ihm eingetrichtert würde; sondern Fichte lässt nur eine immanente Gottesoffenbarung gelten, die im Bewusstsein Platz greift als Vernichtung der Selbstständigkeit. Eine Gottesoffenbarung wirkt sich also nicht so aus, dass der Mensch sagt: ‚Ich weiß jetzt, dass es außer mir auch noch Gott gibt‘; sondern sie wirkt sich so aus, dass der Mensch sagt: ‚Gott lebt‘. Er wird nicht sagen, wie Jacobi befürchtet: ‚Ich bin Gott‘, weil genau dieses ‚Ich bin‘52  II 11, S. 43. (Hinweis für die Benutzer älterer Ausgaben: Leider gibt es in der Textfassung des Sohnes – SW XI, S. 392 – erhebliche Abweichungen. Hiermit ist auch bei anderen Publikationen aus dem Nachlass zu rechnen.)



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)43

Gefühl verschwunden und als Selbsttäuschung durchschaut ist. Als Zeugen dieser Auffassung kann Fichte Paulus zitieren mit dem Satz: „Ich lebe gar nicht mehr, sondern in mir lebt Jesus Christus.“53 Fichte schließt diesen Absatz seines Briefentwurfs in seiner apodiktischen (Widerspruch von vornherein ausschließenden) Art: „Dabei wird es nun bleiben, was auch jene, die ihre sich selbst angelogene selbstständige Existenz ehrenhalber auch mit Gott teilen und ihn damit beschenken wollen, für Gesichter dazu machen!“54 Wer Fichte nur aus Handbüchern kennt als Erfinder der Ich-Philosophie, als Begründer oder Vorläufer des Existenzialismus, der wird sich wundern zu hören, dass eben dieser Fichte die „selbstständige Existenz“ als ‚angelogen‘ bezeichnet. Zweifellos handelt es sich bei dieser Position Fichtes um eine radikale Zuspitzung der immanenten Gotteserfahrung, und es wird später noch zu untersuchen sein, ob sich damit externe Gottesvorstellungen im Sinne Jacobis vereinbaren lassen (s. u. Kap. II. 4.). Die erste sehr spontane Reaktion gegenüber Reinhold war zu pauschal geraten, auch wenn sich tatsächlich in den meisten Punkten Übereinstimmung zwischen Fichte und Jacobi nachweisen lässt. Ich wiederhole noch einmal ein Zitat von Jacobi: „Ist das Höchste, worauf ich mich besinnen, was ich anschauen kann, mein leer und reines, nackt und bloßes Ich, mit seiner Selbstständigkeit und Freiheit, so ist besonnene Selbstanschauung, so ist Vernünftigkeit mir ein Fluch.“ Das könnte wörtlich von Fichte stammen. Dass aber ein so bedeutender und einflussreicher Denker wie Jacobi gemeint hat, diesen Satz gegen Fichte zu schreiben, das lässt erkennen, unter welchen Missverständnissen Fichte zu leiden hatte, mag er diese auch durch seine schroffe Art und durch missverständliche Formulierungen selbst provoziert haben. Der Schluss des Nachlassfragments vermittelt einen guten Eindruck von Fichtes Persönlichkeit. Er bezieht sich dort auf den Vorwurf Jacobis, dass er durch Hochmut selig werden wolle. Zitat Jacobi: „Ich lasse mich nicht befreien von der Abhängigkeit der Liebe, um allein durch Hochmut selig zu werden“. 53  I 9, S. 126. (Gal 2,20: Ich lebe aber nicht mehr [als] Ich (griechisch: zo de ouketi ego), sondern es lebt in mir Christus.) Sehr ähnlich die Aussage: „Wer aber in Jesum und dadurch in Gott sich verwandelt, der lebet nun gar nicht mehr, sondern in ihm lebet Gott.“ (ebd.). 54  II 11, S. 43–44.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

„Durch Hochmut selig werden, er [= Jacobi] durch Demut. Ich hoffe, wir wollen es beide werden ohne eins von beiden. Wie sollte denn der Mensch vernünftigerweise zu einem von beiden kommen? Sich zum Gegenstande seines Nachdenkens macht, denke ich, der ernsthafte Mann nie, als wenn [= außer wenn] er sich als Werkzeug ansieht für ein gewisses Unternehmen, Wagstück. Verrechnet er sich, indem er seine Kräfte überschätzt, so ist dies noch etwas Schlimmeres als Hochmut, es ist Vermessenheit. Schätzt er sie nicht genug und unterlässt, was er wohl ausführen könnte, so ist das gar nicht lobenswerte Demut, sondern es ist tadelnswürdige Faulheit und Feigheit; denn der Mensch soll, was er kann. Freilich wird in solchen Selbstprüfungen das vergangene Leben, und wie wir uns haben da und da kennen lernen, eine Hauptprämisse sein; und da wir eben zu allem uns tüchtig zu machen streben sollen, falls wir uns nicht so finden, so wird daraus die Anstrengung entstehen, uns selbst besser zu bearbeiten, aber nicht damit nun ein müßiges lobpreisendes Wohlbehagen, dass wir so trefflich sind, oder eine jämmer­ liche Zerknirschung über unsere Sündhaftigkeit unser künftiges Leben ausmache, sondern damit wir immer tüchtiger werden und so immer eben kühner an die vorliegenden Werke schreiten. So, sage ich, beim Handeln. An eine allgemeine Selbstprüfung unseres Wesens nach den heiligen zehn Geboten und an Vorbereitungen zu Generalbeichten zu gehen müßigerweise, als ob man nichts anderes zu tun hätte, ist sehr unweise. Lasse man seine Seiten nur durch das Leben kräftig berühren und aufdecken; in den verborgenen Winkeln, welche dasselbe nicht berührt, mit seinen Gedanken herumwühlen, ist teils selbst Sünde, weil es Müßiggang ist, teils trägt man dann aus übergroßer Demut allerlei Unreinigkeiten, die man sich andichtet, hinein und besudelt so sich wirklich durch dieses Andichten. Lasset uns selig sein in der redlichen Treue gegen das Göttliche in uns, demselben folgen, wie es uns zieht, und nicht durch eigene Werkheiligkeit uns allerlei ankünsteln wollen, das nicht aus ihm ist.“55 Die Entgegnung auf einen harten Vorwurf gerät ihm hier recht maßvoll. Fichte scheint seine Mitte gefunden zu haben zwischen extremen Positionen, extremen Charakterzügen. Die Auseinandersetzung mit Jacobi mag dazu beigetragen haben, dass die religiöse Komponente im Bewusstsein Fichtes zunehmend größeren Raum eingenommen hat. Die 55  II 11, S. 44–45 (nochmals die Warnung vor den Abweichungen in der Werkausgabe des Sohnes: SW XI, S. 393–94).



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)45

Betonung der Liebe und die Skepsis gegenüber der ‚Vernunft des Ich‘, wie sie Fichte in seiner „Religionslehre“ von 1806 entwickelt hat (die gleich zur Sprache kommen wird), finden sich bereits in dem ‚Offenen Brief‘ Jacobis von 1799. Auch scheint die Katastrophe von Jena sich positiv auf die Entwicklung Fichtes ausgewirkt zu haben im Sinne eines tieferen Religionsverständnisses. So schreibt er am 5.11.1799 an seine Frau: „Ich habe bei der Ausarbeitung meiner gegenwärtigen Schrift [= der „Bestimmung des Menschen“ von 1800] einen tieferen Blick in die Religion getan als noch je … Ich glaube nicht, dass ich ohne die­ sen fatalen Streit [= den Atheismus-Streit] und ohne die bösen Folgen desselben jemals zu dieser klaren Einsicht und zu dieser Herzensstimmung gekommen wäre; und so hätten ja die mir zugefügten Gewalt­ tätigkeiten schon jetzt eine Folge, die weder Du noch ich wegwünschen werden.“56 Jacobis Vorwurf der Selbstbespiegelung, des ‚Schielens nach der eigenen Nasenspitze‘ trifft ihn nicht. Fragen, die eigene Person betreffend, lauten bei ihm sinnvollerweise nicht: ‚was bin ich?‘ sondern: ‚was soll ich?‘ und ‚was kann ich?‘ Er kämpft gegen Wichtigtuerei, die ihn bei Jacobi gestört zu haben scheint. Wir sollen kein Aufhebens machen von unserer Person57, nicht angeben mit unserer Leistung, aber auch nicht mit unserer Schwachheit. Es geht nicht um Selbstverwirklichung, nicht einmal mehr in der Form der Selbstbildung; es geht überhaupt nicht um die eigene Person: es geht um die Wirklichkeit Gottes. Die Entwicklung seiner Religiosität findet ihren Abschluss in der „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 mit dem Untertitel „die Religionslehre“58. Fichte unterscheidet in diesen Vorlesungen verschiedene Ebenen oder Stufen menschlichen Lebens. Die unterste Ebene ist ziemlich stark be56  III

4, S. 142. immer noch ‚modern‘ klingende Kritik an einer wichtigtuerischen Ichbezogenheit findet sich auch in seiner „Religionslehre“: „Das Talent, immer nach sich selber hinzusehen, wie es um uns stehe, und sein Empfinden und das Empfinden seines Empfindens wieder zu empfinden und aus langer Weile sich selber und seine merkwürdige Persönlichkeit psychologisch zu erklären, war den Modernen vorbehalten, aus welchen eben darum solange nichts Rechtes werden wird, bis sie sich begnügen, eben einfach und schlechtweg zu leben.“ I 9, S. 192–93. 58  I 9, S. 1–212. (Eine gründlichere Auseinandersetzung mit dieser ebenso faszinierenden wie problematischen Schrift erfolgt im 2. Teil: Kap. II. 1. c)). 57  Eine

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

völkert, obwohl sie, streng genommen, gar nicht existiert: Es ist die Ebene der „Nullität“, wie er sagt, des geistigen Totseins bei lebendigem Leibe. Denn Leben im eigentlichen Sinne beginnt erst mit einem Affekt, mit einer Gefühlsregung, mit einer Äußerung von Liebe; ohne eine solche Gefühlsregung gibt es kein selbstständiges Leben, sondern nur, wie wir heute sagen würden, ein Dahinvegetieren: Man lässt sich treiben, macht das, was die andern einem sagen, ist zu faul oder zu feige, für oder gegen etwas Partei zu ergreifen, und gibt seine Gleichgültigkeit dann auch noch für Toleranz oder Selbstlosigkeit aus. Voraussetzung des Aufstiegs, des sich Aufraffens, ist das Eingeständnis eines Mangels. Zitat: „Wohl daher dem Menschen, der auch nur zu trauern und Sehnsucht zu empfinden vermag.“59 Die Sehnsucht lässt zunächst nach dem Sichtbaren greifen, und so führt der erste Schritt ins Leben, sozusagen, auf die Stufe der Sinnlichkeit. Hier wird allein der Sinneswahrnehmung Realität beigemessen, und dementsprechend glaubt man auch, im sinnlichen Genuss Befriedigung oder Seligkeit zu finden. Das ist natürlich noch nicht so ganz das Wahre – „ohnerachtet“, sagt Fichte, „ohnerachtet ich, relativ und vergleichend, freimütig bekenne, dass meines Erachtens dem konsequenten Philosophen derjenige, der auch nur mit ungeteiltem Sinne und ganz in einen sinnlichen Genuss sich zu werfen vermag, weit mehr wert ist, als derjenige, der vor lauter Flachheit, Zerstreutheit und Ausgeflossenheit nicht einmal recht hinzuschmecken vermag oder hinzuriechen, wo es dem Schmecken oder dem Riechen allein gilt.“60 Der Sinnengenuss vermag nur vorübergehend zu befriedigen. Alle Versuche, ihn zu verlängern oder zu verfeinern, ersparen einem doch nicht das unbehagliche Gefühl, dass es noch etwas Sinnvolleres geben müsse. Fänden die Menschen, sagt Fichte, „einmal ein endliches Objekt, das sie völlig zufriedenstellte, so wären sie eben dadurch unwiederbringlich ausgestoßen von der Gottheit und hineingeworfen in den ewigen Tod des Nichtseins.“61 Den gleichen Gedanken bringt Goethe zum Ausdruck im Pakt zwischen Mephisto und Faust, wo der letztere sagt: „Kannst du mich mit Genuss betrügen – das sei für mich der letzte Tag … Werd’ ich zum Augenblicke sagen: verweile doch! du bist so schön! dann magst du 59  I

9, S. 134. S. 135. 61  Ebd. S. 60. 60  Ebd.



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)47

mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn. Dann mag die Totenglocke schallen“62. Die Sehnsucht also treibt den Menschen weiter – sofern man sie nicht betäubt – und verhilft ihm dazu, Abstand zu den trügerischen Objekten des Verlangens zu gewinnen. Dieser Abstand wird erreicht und gesichert durch einen Orientierungsrahmen, eine übergreifende Ordnung, in die man sich eingebunden weiß oder in die man sich einbindet – auf der zweiten Stufe, der Stufe der Gesetzlichkeit. Das Gesetz begegnet uns im Laufe der Geschichte in verschiedener Gestalt. Den höchsten Grad menschlichen Selbstbewusstseins erreicht es in der Form des kategorischen Imperativs bei Kant, also in der Selbstbeschränkung der Ansprüche zufolge des Gleichheitsgrundsatzes. Fichte hatte, wie schon einmal zitiert, bereits 1790 an seine Verlobte geschrieben: Die Philosophie Kants gebe „dem ganzen Geiste eine unbegreifliche Erhebung über alle irdischen Dinge“. Das Gesetz vermittelt Ruhe und Sicherheit und schützt vor solch‘ negativen Affekten wie Überdruss, Sinnlosigkeit und Selbstverachtung. Auf der Stufe des Gesetzes ist der Mensch zwar der unzuverlässigen Sinnlichkeit enthoben und kein Spielball mehr von blinden Trieben und unkontrollierbaren Verlockungen, die Sinngebung aber ist nur der Form nach erfüllt; es fehlt noch der Inhalt als Objekt positiver Affekte wie Wohlbefinden, Zuneigung und Liebe. Das Gesetz ist restriktiv, es schränkt den Menschen ein zu seinem eigenen Vorteil, als ‚Zuchtmeister‘, wie Paulus sagt (Gal 3,24). Die Strenge des Gesetzes tötet das Interesse des Menschen an sich selbst. Das Gebot ist zu erfüllen; was Spaß macht, ist verdächtig, ein Relikt der Stufe 1 zu sein. Die kalte Sicherheit des Gesetzes, das jeder in sich finden kann und finden muss, macht unabhängig von eigenen Schwächen und fremden Einflüssen: „Des Menschen Interesse für sich selbst ist im Affekte des Gesetzes aufgegangen; dieser Affekt aber vernichtet alle Neigung, alle Liebe und alles Bedürfnis. Der Mensch will sich nur nicht verachten müssen, weiter aber will er nichts und bedarf nichts und kann nichts brauchen. In jenem seinem einzigen Bedürfnisse aber hängt er schlechthin von sich selbst ab; denn ein absolutes Gesetz, in welchem der Mensch aufgeht, stellt ihn notwendig hin als durchaus frei. Durch diese Denkart wird er nun über alle Liebe und Neigung und Bedürftigkeit und so über alles, 62  I 1696–1703. (Faust I erschien zwei Jahre nach Fichtes ‚Anweisung‘ im Druck.).

48

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

was außer ihm ist, hinweggesetzt, für sich keines Dinges bedürfend denn sich selber, und so, durch Austilgung des Abhängigen in ihm, wahrhaft unabhängig, über alles erhaben und gleich den seligen Göttern. Nur unbefriedigtes Bedürfnis macht unglücklich: Bedürfe nur nichts als das, was du dir selbst gewähren kannst – aber du kannst dir nur das gewähren, dass du dir nichts vorzuwerfen habest –, und du bist auf ewig unzugänglich dem Unglücke. Du bedarfst keines Dinges außer dir, auch nicht eines Gottes; du selbst bist dir dein Gott, dein Heiland und dein Erlöser. Es kann keinem, der auch nur die bei jedem Gebildeten vorauszusetzenden historischen Kenntnisse hat, entgangen sein, dass ich soeben die Denkart und das System des bei den Alten berühmten Stoizismus ausgesprochen. Ein ehrwürdiges Bild dieser Denkart ist die Darstellung, die ein alter Dichter von dem mythischen Prometheus macht, welcher, im Bewusstsein seiner gerechten und guten Tat, des Donnerers über den Wolken und aller Qualen, die derselbe auf sein Haupt häuft, lachet und unerschrockenen Mutes die Trümmer der Welt über sich zusammenstürzen sieht, und welcher, bei einem unserer Dichter, den Zeus also anredet: ‚Hier sitz‘ ich, – forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich – und dein nicht zu achten, wie ich‘.“63 Als gemeinsame Merkmale der 2. Stufe Fichtes und des ‚Prometheischen‘ lassen sich die folgenden aufzählen: die Autonomie (= die Eigengesetzlichkeit), damit in Verbindung die Herausbildung der negativen Funktion des Gewissens als Verinnerlichung des Gesetzes, das stolze Bewusstsein, über sich nichts mehr anerkennen zu müssen, das erhebende Gefühl eigener Kraft und Unabhängigkeit und, als wesentliches Merkmal: der Atheismus. In dem Gedicht von Goethe wird Gott zwar noch angesprochen, aber doch nur als unwirksame, im Grunde schon überwundene Superstition, als Aberglauben. Bei Ovid, der antiken Gedichtvorlage, formte Prometheus die Menschen immerhin noch nach dem Bilde der Götter, bei Goethe formt er sie nach seinem eigenen: ‚Hier sitz‘ ich, – forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei‘. Nun ist es um die Gottesvorstellung, die auf der zweiten Stufe vernichtet wird oder verloren geht, ja auch gar nicht schade, sagt Fichte, 63  I 9, S. 137–38. (Zitiert ist die letzte Strophe aus dem Prometheus-Gedicht von Goethe; ‚Prometheus‘ war seinerzeit Semesterthema in der Theologischen Akademie.).



3. Gott und / oder Ich? (Der Konflikt mit Jacobi)49

ganz im Gegenteil; denn es ist die Gottesvorstellung der 1. Stufe: Gott als der „willkürliche Ausspender des sinnlichen Wohlseins, dessen Geneigtheit man durch irgend ein Mittel … sich erst erwerben muss. Diesen also gestalteten Gott lässt sie nun mit allem Rechte fallen; er soll fallen, denn er ist nicht Gott. Und auch die höhere Ansicht erhält in dieser Gestalt Gott nicht wieder … Der Stoizismus verwirft nicht das Wahre, sondern nur die Lüge; zur Wahrheit kommt er überhaupt nicht, sondern bleibt in Beziehung auf diese lediglich negativ; dies ist sein Fehler.“64 Die Apathie dieses Stadiums, die Empfindungs- und Bindungslosigkeit der zweiten Stufe ist notwendig, sagt Fichte, um „das Gemeine von dem Heiligen zu sondern“65, er hätte auch sagen können: um den Aberglauben von der Religion zu trennen. Das Gefühl der Freiheit ist keine Täuschung, ist aber auch kein ‚sanftes Ruhekissen‘, sondern es ist eine Begleiterscheinung der Unvollkommenheit. Selbstständigkeit ist kein Ziel, sondern nur eine Bedingung der Fortentwicklung; denn gefordert und letztlich auch erstrebt wird nicht Selbstverwirklichung, sondern Selbstüberwindung: „Solange der Mensch noch irgend etwas selbst zu sein begehrt, kommt Gott nicht zu ihm; denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz und bis in die Wurzel vernichtet, bleibet allein Gott übrig und ist alles in allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott. Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere – dem niedern, durch das Dasein eines Selbst bestimmten Leben, durchaus entgegengesetzte – Leben, und nach unserer ersten Weise zu zählen: die Besitznehmung vom dritten Standpunkte der Weltansicht … Die Ansicht seiner selbst, als einer für sich bestehenden und in einer Sinnenwelt lebenden Person, bleibt dem auf dem dritten Standpunkte Befindlichen freilich, weil diese in der unveränderlichen Form liegt; nur fällt dahin nicht mehr seine Liebe und sein Affekt. Was wird ihm nun diese Person und die ganze sinnliche Selbsttätigkeit? Offenbar nur Mittel für den Zweck, das zu tun, was er selber will und über alles liebt, den in ihm sich offenbarenden Willen Gottes. Ebenso wie dieselbe Persönlichkeit auch dem Stoiker nur das Mittel ist, um dem Gesetze zu 64  Ebd. 65  Ebd.

S. 139. S. 140.

50

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

gehorchen und beide hierin ganz gleich sind und uns für Eins gelten. Dem sinnlichen Menschen dagegen ist seine persönliche sinnliche Existenz letzter und eigentlicher Zweck, und alles andere, was er noch außerdem tut oder glaubt, ist ihm das Mittel für diesen Zweck.“66 Wenn wir nun nach dem Prometheischen bei Fichte fragen (im Sinne des Semesterthemas), dann wäre es wichtig, möglichst genau zu erfahren, wie er sich den Übergang von der zweiten auf die dritte Stufe vorstellt: Obwohl er sich selbst ja entschieden von Prometheus distanziert hat, wecken die Begriffe ‚Besitznehmung‘ und ‚Selbstvernichtung‘ Zweifel, ob Fichte nicht doch nur an eigene Kraftanstrengung denkt, an einen asketischen oder dialektischen Klimmzug, um sich selbst zum Göttlichen aufzuschwingen – sich selbst zum Gott zu machen, wie Jacobi argwöhnte. Andererseits sagt er, dass sich das Leben auf der dritten Stufe nicht deduzieren, nicht theoretisch entwickeln lasse im Sinne einer demonstrierbaren oder gar trainierbaren Leistung, und dass „die eigentliche Erkenntnis dieser neuen und übersinnlichen Welt nicht durch eine Beschreibung und Charakteristik an diejenigen gebracht werden könne, die nicht selber darin leben. Der von Gott Begeisterte wird uns offenbaren, wie sie ist, und sie ist, wie er es offenbaret, deswegen weil er es offenbart; ohne innere Offenbarung aber kann niemand darüber sprechen.“67 Fichte ist sich also bewusst, dass er den Boden des Beweisbaren verlassen hat; d. h. mit dem Übergang zur dritten Stufe hören Gedankengang und Ausdrucksweise auf, wissenschaftlich zu sein – sie werden prophetisch. Fichte entwirft eine Verheißung, eine Vision, eine intellektuelle Anschauung, wie er selbst es nennt. Wenn diese Existenzweise auch nicht deduziert werden kann, nicht theoretisch in ihrer konkreten Gestalt abgeleitet werden kann, so lässt sie sich doch zur Anschauung bringen und zwar durch Beispiele: Sie wird dort sichtbar, wo etwas um seiner selbst willen getan wird, wo ein Mensch überzeugend dartut, dass er nicht anders handeln kann, wo ein Impuls in Tätigkeit umgesetzt wird ‚ohne Klügeln‘, ohne Berechnung des Erfolgs oder des Nutzens. Nur das Wirken befriedigt, nicht das Werk. (Ähnlich sagt es Faust im II. Teil: „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.“ V. 10188) Gott ist nur in dem fassbar, Zitat Fichte, „was der ihm Ergebene und von ihm Begeisterte tut“68. 66  Ebd.

S. 149–50. S. 155. 68  Ebd. S. 111. 67  Ebd.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie51

Trotz des angedeuteten Zweifels und trotz mancher Wendungen, die vermessen klingen, hat sich Fichte das Attribut ‚prometheisch‘ zu Recht verbeten. „Du kannst dir nur das gewähren, dass du dir nichts vorzuwerfen habest“69 – das hatte Fichte als die denkbar höchste Leistung des Menschen auf der Stufe des Gesetzes herausgestellt; was darüber hinaus gewährt wird, das eigentliche sinnerfüllte Leben, kommt von Gott.

4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie (Die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“) Kehren wir noch einmal zurück zur Biografie: Wir haben Fichte im letzten Kapitel verlassen, als er im Alter von 37 Jahren seine Professur in Jena verloren hatte. Nicht nur am Hof von Weimar haben viele applaudiert, als dieser eingebildete und unverschämt ehrliche Emporkömmling mit Theaterdonner in der Versenkung verschwand – ebenso schnell und geräuschvoll, wie er wenige Jahre zuvor ins Rampenlicht gestürmt war. Goethe wird nicht allein gestanden haben mit seiner Meinung, die er am 30.8.1799 an Schlosser schrieb: „Er (Fichte) ist gewiss einer der vorzüglichsten Köpfe; aber wie ich selbst fürchte, für sich und die Welt verloren“ (s. o. S. 37). Diese Befürchtung war natürlich begründet: Fichtes Sturz war tief und ohne Netz, ohne soziales Netz, wie man heute sagt, ohne Pensionsanspruch und ohne Gehaltsfortzahlung, aber auch ohne familiären Rückhalt – er stammte aus einer Handwerkerfamilie, die er selbst bislang mit seinem Geld unterstützt hatte – und ohne Absicherung durch gesellschaftliche Kontakte (sprich: Beziehungen). Die beiden einzigen Philosophen, die er respektierte, Kant und Jacobi, distanzierten sich scharf von ihm; sein Amtsvorgänger Reinhold, zu einem Anhänger und Freund geworden, sagte sich von ihm los, und auch sein erfolgreichster Schüler, der Philosoph Schelling, ging ihm verloren. Am schmerzlichsten traf ihn die Kritik seiner Frau, der einzigen Vertrauensperson seines Lebens. Sie schreibt in einem Brief vom 20.9.1799: „Wir wollen immer aufrichtig gegeneinander sein, das ist gewiss mein fester Vorsatz; und wenn ich es manches Mal nicht gleich bin, so ist’s die Furcht vor unangenehmen Auftritten; und nachher, wenn alles wieder ruhig ist, so sage ich sie gewiss allemal; denn ich verschweige sie gewiss ungerne. Ich will gerne nicht klüger sein als Du, Bester, aber das musst Du mir doch gestehen, 69  Ebd.

S. 138.

52

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

dass, wenn Du Vogt [= den zuständigen Minister], Goethe und Schiller besucht hättest, die ganze Sache anders gekommen wäre. Forberg [= der Autor des 2. Aufsatzes, ebenfalls von der Atheismus-Anklage betroffen] hat seine Stelle behalten, nachdem er eine Verteidigung eingegeben, welche, wie er selber sagt, nur Staub in die Augen geworfen ist; er hat aber in der Zwischenzeit mit seinen Richtern korrespondiert. Du wirst mir sagen: was sind das für elende Menschen; ja freilich, aber sie sind allenthalben so, und das wissen wir ja, dass wir sie nirgends besser finden“70. Mit diesem Brief kreuzt sich ein Schreiben ihres Mannes vom selben Tage: Er äußert sich dort abfällig über den schwankenden Reinhold und schreibt dann: „ ‚Höre, Fichte, stolz bist du; ich muss Dir’s sagen, da Dir es kein anderer sagen kann‘, würdest du sprechen, wenn ich bei Dir wäre“71. Das war als gutmütiger Scherz gedacht, wird aber von seiner Frau in ihrer Antwort ganz ernsthaft aufgegriffen: „Jawohl, ich würde sagen: Fichte, Du bist recht stolz, und erlaube mir, dass ich es auch itzt sage, denn ich glaube, dass dieser Stolz, den niemand vertragen will, die eigentliche Ursache von allem Unheil ist, das uns verfolgt. Dass ein gutmütiger, weicher Reinhold, der Dich liebt, zu Kreuze kriecht, ja das glaub’ ich wohl; das kommt daher, weil er der ist, der er ist und Dich liebt; das ist aber gar nicht der Fall bei allen anderen; und darum geht man so abscheulich mit uns um, und dieses schadet nicht nur uns, sondern der guten Sache, welche Dir doch am Herzen liegen muss. Du wärest hier ein allgewaltiger Mann geworden, wenn Dein Stolz die Menschen nicht beleidigt hätte. Verzeih, teuerster Fichte, ich kann die Wahrheit einmal nicht verschweigen; denn wenn ich sie auch gegen Dich verschweigen müsste, so wäre ich ja das allerarmseligste und unglücklichste Geschöpf; und das willst Du nicht, dass ich das werde“72. Das sind starke Worte, auch heute noch; 1799 geschrieben, und an einen starrköpfigen Patriarchen wie Fichte geschrieben, sind sie von verzweifelter Verwegenheit. Fichte reagiert schroff und wirft seiner Frau u. a. vor, „dass Du Dir anmaßest, über Dinge zu urteilen, davon Du nichts verstehst“73. Weitere Briefe, die zum Teil verloren sind, müssen die Entfremdung noch vertieft 70  III

4, S. 89. S. 84–85. 72  Ebd. S. 98. 73  Ebd. S. 103. 71  Ebd.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie53

haben, so dass Johanna schließlich am 28.10.1799 schreibt: „Ich werde furchtsam und schüchtern und weiß, so wahr Gott lebt, nicht, wie ich mit Dir reden soll. Du versprachst mir, meine Schwächen zu tragen und mich zu jedem Guten und Edlen zu erheben durch gütige und weise Vorstellungen; und nun steh ich da und weiß eigentlich nicht, was Dich erzürnt hat. Du weißt, mit welch reinem offenen Herzen ich Dich immer anhörte und wünschte, überzeugt zu werden, und wie ich meiner Überzeugung treu handelte, so wie ich’s auch itzt bis am letzten Augenblick meines Lebens tun werde. Lass uns doch wieder ein Herz und eine Seele sein, so wie wir’s waren; was haben wir denn auf dieser armen Welt, wo alles miteinander hadert, als diesen reinen, herzerhebenden Genuss“74. Fichte lenkt daraufhin ein, und die Ehekrise wird überwunden. Ich habe diese Zitate hier eingerückt, damit Sie auch einen Eindruck bekommen von der starken Persönlichkeit seiner Frau. Von ihrer klaren politischen Meinung wurde Fichte sicherlich beeinflusst, zumindest in eigenen Überzeugungen bestärkt. Womit ich beim Thema wäre: Ich hatte angekündigt, mich in dieser Vorlesung bzw. in diesem Kapitel mit historischen und politischen Positionen Fichtes befassen zu wollen und mit deren religiöser Fundierung. Zunächst wollte ich ausführlicher auf eine Abhandlung aus dem Jahre 1793 eingehen: „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolu­ tion“. Diese Absicht habe ich fallen gelassen; denn die Schrift hält nicht, was der Titel verspricht: Sie ist keine historisch-politische, sondern eher eine rechtsphilosophische Untersuchung, vor allem über das Vertragsrecht, d. h. über das Recht freier Bürger, einen Staatsvertrag zu schließen und zu ändern. Statt dessen werde ich gleich auf Fichtes Geschichtsphilosophie eingehen, niedergelegt in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1806 (Vorlesungen im Winter 1804 / 05), und beim nächsten Mal deren Fortsetzung zur Sprache bringen mit dem bekannten Titel „Reden an die deutsche Nation“ von 1808. Abschließend soll uns das Verhältnis von Religion und Politik beschäftigen. Zur Darstellung historisch-politischer Auffassungen springe ich ein paar Jahre zurück und erinnere daran, dass Fichte in Zürich als Hauslehrer seine spätere Frau kennengelernt hat. Diese schreibt am 6.4.1793, als Fichte sich anschickte, zur Hochzeit erneut in die Schweiz zu kommen, über ihre Hoffnungen, die sie an die Französische Revolution von 1789 knüpft: 74  Ebd.

S. 126–27.

54

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

„Zürich wirst Du im ganzen gleich finden; diese kleine Veränderung ausgenommen, dass die Großen demütiger sind, seitdem sie durch die Französische Revolution gesehen haben, wie fürchterlich man mit ihnen umgeht; hat es auch die glücklichen Folgen in Deutschland gehabt? Sollten Frankreichs große Pläne zustande kommen, so würden die Menschen im ganzen sehr gewinnen, Talente und Adel der Seele würden einmal nach ihrem Wert geschätzt werden, und der anererbte Adel, die großen Titel, welche man oft auf die niederträchtigste Art erschleicht, würden nicht vor Stolz strotzend auf andre ehrliche Menschen, welche sie an innerem Wert weit übertreffen, gnädig herabblicken. Alle despotischen Grundsätze der Großen würden, wo nicht vernichtet, doch sehr von ihrem drückenden Einfluss verlieren. Es kommt mir aber nicht wahrscheinlich vor, dass die Menschheit schon zu diesem Punkt der Reife gediehen sei, teils um das Joch abschütteln zu können, und teils – wenn sie dies wirklich abgeschüttelt hat – ihre Freiheit mit Klugheit zu gebrauchen: auf der itzigen Stufe, wo wir stehn, wäre eher Anarchie zu befürchten, und das ist doch das Unglücklichste für die Menschen. Es mangelt uns noch viel zu sehr an richtiger Aufklärung und an moralischem Wert“75. Eine wohlbedachte Stellungnahme: bei aller Begeisterung für die I­deale der Gleichheit und Freiheit eine selbstkritische Warnung davor, das Heil nur vom Umsturz der Verhältnisse zu erwarten, ohne innere Wandlung. Fichte lebt 1793 / 94 ein halbes Jahr im Hause seines Schwiegervaters in Zürich und lässt von hier aus die erwähnte Schrift „Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“ erscheinen. Es verwundert nicht, dass Fichte mit seinem Drang nach Unabhängigkeit, logischer Klarheit und praktischer Wirksamkeit angezogen wurde von dem Versuch der Franzosen, eine Neugestaltung des menschlichen Zusammenlebens auf theoretischer Grundlage zu versuchen. Niedere Herkunft und harte Jugendzeit dürften auch dazu beigetragen haben, dass er keine Neigung verspürte, sich für die Erhaltung der Ständegesellschaft und der Privilegien des Adels in Deutschland einzusetzen. Doch ist seine Schrift nicht revolutionär in dem Sinne, dass er die Deutschen aufgerufen hätte, nun ihrerseits die Adelsherrschaft abzuschütteln. Unter dem Eindruck der blutigen Terrorherrschaft des Jahres 1793 in Frankreich lehnt er gewaltsamen Umsturz ab: 75  III

1, S. 393.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie55

„Würdigkeit der Freiheit muss von unten herauf kommen; die Befreiung kann ohne Unordnung nur von oben herunter kommen … Seid gerecht, ihr Völker, und eure Fürsten werden es nicht aushalten können, allein ungerecht zu sein.“76 Ähnlich hatte seine Frau in ihrem Brief vom 6.4.1793 einer Veränderung zunächst des einzelnen Menschen das Wort geredet. Kein Staat aber dürfe für sich in Anspruch nehmen, dass seine Verfassung unabänderlich sei. Fichte erwartet sogar, ähnlich wie später Marx, ein langsames Absterben des Staates bei zunehmender Vernunfttätigkeit des Menschen: „Der Staat geht … auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen.“77 Auch in den folgenden Jahren verfolgt das Ehepaar Fichte die Entwicklung in Frankreich mit gespannter Erwartung, glaubt man doch, dass der gesellschaftliche Fortschritt unaufhaltsam sei und sich über kurz oder lang auf ganz Europa ausdehnen müsse. Die militärischen Erfolge der Revolutionsarmeen gegen die Söldnertruppen aus Österreich und Russland werden bejubelt, und die Annektierung der linksrheinischen Gebiete mit Mainz als Verwaltungszentrum weckt nicht etwa nationale Empörung, sondern nährt die Hoffnung auf schnellere Ausbreitung der demokratischen Ideale in ganz Deutschland. Diese Tendenz seines Denkens wird natürlich noch verstärkt durch die negativen Erfahrungen, die Fichte mit der fürstlichen Obrigkeit in seinem Atheismusstreit machen musste. Nach seiner Entlassung, die im März 1799 erfolgt war, schreibt er an Reinhold: „Es ist mir gewisser als das Gewisseste, dass, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Revolution durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird.“78 Im Mai bietet er der französischen Verwaltung in Mainz sogar an, als Propagandaschriftsteller in deren Dienste zu treten. Den Ausschlag hierfür hatte ein schwerer Bruch des Völkerrechts gegeben: Auf dem Friedenskongress in Rastatt waren am 28.4.1799 die französischen Gesand76  I

1, S. 207–08. 3, S. 37 (Bestimmung des Gelehrten v. 1794). 78  III 3, S. 355 (Der vorsichtige Sohn hatte in seiner Briefausgabe das Wort „Revolution“ durch „Veränderung“ ersetzt: LLB II, S. 257–58.). 77  I

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

ten von österreichischen Truppen ermordet worden. In seinem Brief nach Mainz vom 10.5.1799 schreibt Fichte: „Der Despotismus wird nun konsequent … Es ist klar, dass von nun an nur die Französische Republik das Vaterland des rechtschaffenen Mannes sein kann, nur dieser er seine Kräfte widmen kann … Ich übergebe mich hierdurch feierlich mit allem, was ich kann und vermag, in die Hände der Republik, nicht um bei ihr zu gewinnen, sondern um ihr zu nützen, wenn ich kann. Und was kann ich? Wissenschaft ist nicht das Nächste, dessen sie bedarf. Diese erwartet bessere Zeiten. Jetzt bedarf sie schreckende Rache und eine Superiorität, vor der der Feind nur bebe. Haben die Gewalthaber Frankreichs je im Ernste geglaubt, dass ihre Gegenpartei sich durch Politik, Vernunft, Menschlichkeit werde bewegen lassen, einige Rücksichten gegen sie zu beobachten, so werden sie doch wohl nun ihres Irrtums inne werden. Dies ist ein Krieg der Prinzipien. Nur die furchtbarste Überlegenheit kann der Republik Ruhe und Existenz verschaffen. Ich habe nur ein Mittel in der Hand, für diesen Zweck mitzuarbeiten: Schriftstellerei. Vielleicht ist es, zumal nun – und durch das rechtliche Verfahren der Republikaner unterstützt, wenigstens nicht widersprochen – nicht unmöglich, den verblendeten Deutschen die Augen aufzureißen.“79 Woran die Übersiedlung Fichtes nach Mainz gescheitert ist, weiß ich leider nicht – vielleicht daran, dass der Krieg zwischen Österreich und Frankreich erneut ausgebrochen war, vielleicht aber auch nur daran, dass in der französischen Bürokratie eine Planstelle für deutsche Propagandaschriftsteller nicht vorgesehen war – will sagen, dass man in Mainz mit dem ungewöhnlichen Angebot Fichtes wohl nichts Rechtes anzufangen wusste. Die Episode zeigt jedoch, wie spontan und heftig Fichte trotz seiner abstrakten Denktätigkeit reagieren konnte, wie sehr er bemüht war, seinen Überzeugungen auch in der Praxis Geltung zu verschaffen, und dass von einem deutschen Nationalismus zu diesem Zeitpunkt bei ihm keine Rede sein konnte. Fichte zieht nach Berlin und widmet sich in den folgenden Jahren ganz der Ausarbeitung seines Systems. Erst im Jahre 1804 tritt er wieder an die Öffentlichkeit mit Vorträgen, zunächst über die Wissenschaftslehre und im Winter 1804 auf 1805 mit einer geschichtsphilosophischen Vorlesungsreihe über die „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“. 79  III

3, S. 348–49.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie57

Ich beginne mit dem Schluss des Buches; denn erst im letzten Kapitel liefert Fichte den Schlüssel zu seinem Verständnis mit dem Satz: „Alle unsere Betrachtungen waren religiöse Betrachtungen.“80 Auch hier zeigt sich wieder, dass die religiöse Thematik für das Denken Fichtes von zentraler Bedeutung war. Wie wirkt sich nun die religiöse Sichtweise auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit aus? „Durch die sorgfältigste Beobachtung des Daseienden wird man nie weiter kommen als zu wissen: so und so ist nun eben das Ding, keineswegs aber dazu, diese bloße Erscheinung überhaupt nicht gelten zu lassen, sondern eine höhere Bedeutung derselben anzunehmen. Die religiöse Ansicht kann sich daher nie aus der bloßen Beobachtung der Welt erzeugen, indem sie ja vielmehr in der sich uns aufdringenden Maxime besteht, die gesamte Welt und alles Leben in der Zeit gar nicht für das wahre und eigentliche Dasein gelten zu lassen, sondern noch ein anderes, höheres Dasein jenseits der Welt anzunehmen. Diese Maxime muss sich rein aus dem Gemüte, als ein absolut ihm eingepflanzter Grundzug, entwickeln, und durch die bloße empirische Wahrnehmung gelangt man nie zu ihr, indem sie eben die empirische Wahrnehmung, als höchsten Entscheidungsgrund alles Gültigen, völlig aufhebt. Es ist klar, dass diese Maxime dem von uns aufgestellten Prinzip des deutlichen Denkens des Zeitalters widerspricht, dass dieses nie zu ihr kommen kann und dass durch die erste religiöse Ahnung eines Höheren, denn die Welt ist, man über ein solches Zeitalter sich erhebt und aufhört, ein Produkt desselben zu sein. Kurz, nicht das bloße Wahrnehmen, sondern das Denken aus sich selber heraus ist das erste Element der Religion. Mit dem bekannten Ausdrucke der Schule: Metaphysik, zu deutsch: Übersinnliches, ist das Element der Religion81. Vom Anbeginn der Welt an bis auf diesen Tag war die Religion, in welcher Gestalt sie auch erscheinen mochte, Metaphysik; und wer die Metaphysik, lateinisch: alles A priori, verachtet und verspottet, der weiß entweder gar nicht, was er will, oder er verachtet und verspottet die Religion“.82 Fichtes ‚transzendentale‘, ‚idealistische‘ und ‚religiöse‘ Betrachtungen stehen, zurückhaltend formuliert, nicht unbedingt im Einklang mit der 80  I 8, S. 386. („Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“, 17 Vorlesungen, gehalten im Winter 1804 / 05 in Berlin, gedruckt 1806. I 8, S. 141–396). 81  Ältere Ausgaben haben hier eingefügt: „bezeichnet“. 82  Ebd. S. 387.

58

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

‚normalen‘ Sichtweise und auch nicht mit dem naturwissenschaftlichen Denken unserer Zeit. Wir sollten daher versuchen, uns das Verständnis des Textes durch die Klärung einiger Begriffe zu erschließen: „Durch die sorgfältigste Beobachtung des Daseienden wird man nie weiter kommen als zu wissen: so und so ist nun eben das Ding.“ Dem Begriff „Beobachtung“ können wir gleichstellen oder zuordnen: sinnliche Wahrnehmung, empirische Auffassung, Erfahrung, Experiment, a posteriori, Physik, Realismus. Dem griechischen Wortstamm -peir(enthalten in empeiros = in oder durch Erfahrung) entspricht im lateinischen -per-, enthalten in experiri = etwas ausprobieren. Erfahrung ist a posteriori, d. h. wörtlich: im Nachhinein; sie kommt nachträglich hinzu, ist also nicht ursprünglich im Menschen vorhanden. Beobachtung und Erfahrung, abgesichert durch Erprobung (durch das Experiment), führen nur zur Beschreibung des (augenscheinlich) Daseienden, der Realität. Diese Beschreibung ist Physik, im alten Sinne von Naturkunde (physis = Natur), im heutigen Verständnis: Naturwissenschaft. Diejenige Weltanschauung, die glaubt, sich darauf beschränken zu können oder zu müssen, nennt man Realismus. Demgegenüber besteht der Idealismus darin, der Empirie lediglich animalische oder biologische Funktion zuzuerkennen, notwendig zur Existenzerhaltung. (Der Nährwert eines Fliegenpilzes lässt sich theoretisch nicht ermitteln.) Das eigentlich Menschliche beginnt jenseits der „bloßen Erscheinung“. Idealismus, von Fichte auch „religiöse Ansicht“ genannt, besteht in der „sich uns aufdringenden Maxime“ [= in dem unausweichlichen Grundsatz], „die gesamte Welt und alles Leben in der Zeit gar nicht für das wahre und eigentliche Dasein gelten zu lassen, sondern noch ein anderes, höheres Dasein jenseits der Welt anzunehmen“. Es wäre jetzt ein schweres Missverständnis, das höhere Dasein nur im Himmel anzusiedeln (es sei denn, man nimmt ‚Himmel‘ als Metapher für die Sphäre des wiedergeborenen Lebens). „Jenseits der Welt“ heißt zwar auch, aber keineswegs nur ‚jenseits des Grabes‘, sondern jenseits der wahrnehmbaren Realität. (Fichte spricht hier von ‚Welt‘ ganz ähnlich, wie Paulus von Kosmos spricht.) Auf diese transzendentale oder ideale (nur von innen heraus, durch geistige Schau erkennbare) Existenz hin ist der Mensch angelegt; denn die erwähnte Maxime drängt sich dem Menschen nicht von außen (durch Erfahrung) auf, sondern sie ist, wie Fichte sagt, „ein absolut ihm eingepflanzter Grundzug“, ist also a priori (von vornherein) vorhanden. Die religiöse Ansicht, vor jeder Erfahrung im Menschen vorhanden, äußert sich als



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie59

„Denken aus sich selber heraus“, als Sinngebung oder Deutung, wodurch alles Wahrnehmbare erst eine Be-Deutung erlangt. (Wenn Fichte sich hier von dem „deutlichen Denken des Zeitalters“ abgrenzt, so ist die Wortwahl etwas unglücklich, da ‚deutlich‘ von ‚deuten‘ kommt, Fichte aber der herrschenden Denkrichtung seiner Zeit gerade vorwirft, der eigenen Deutung bei aller Wahrnehmung nicht bewusst zu sein. Unter „deutlichem Denken des Zeitalters“ versteht Fichte ein Denken, das nur ‚Deutliches‘, im Sinne von ‚anschaulich, nachprüfbar, beweisbar‘ gelten lässt.) Das Deuten, als die wesentliche Tätigkeit des Menschen, ist Metaphysik. Auch dieser Begriff ist etwas unglücklich gewählt: Metaphysik heißt wörtlich ‚nach der Physik‘, während die Deutung ja dem ‚transzendentalen Innenleben‘ des Menschen entspringt, also auf dem beruht, was a priori, ‚vor der Physik‘ im Menschen angelegt ist. Hier hat sich leider ein bibliothekarischer Begriff festgesetzt, der ursprünglich ohne philosophische Bedeutung war: In der Reihenfolge der Schriften des Aristoteles kommt die Religionslehre (zusammen mit anderen Schriften unter dem Begriff Metaphysik zusammengefasst) ‚nach der Physik‘ – nicht etwa ihrer Bedeutung nach, sondern nach ihrer Anordnung. Sie fragen sich vielleicht: Was hat das Ganze nun mit Politik und Geschichte zu tun? Wir müssen uns bewusst machen, könnte Fichte gesagt haben, dass Realismus in Politik und Geschichte absolut zweitrangig ist, lediglich ein praktisches Hilfsmittel bei der Ausgestaltung theoretisch gewonnener Leitbilder. Jedes politische Konzept und jegliche Geschichtsbetrachtung sind in ihrem Ansatz notwendig metaphysisch: Ohne theoretischen Leitfaden und ohne eine a priori entwickelte Fragestellung ist der Empiriker im Schutthaufen der Vergangenheit, wie auch im Chaos der Gegenwart, vollkommen hilflos. Nicht dass man auf Empirie in Politik und Geschichte verzichten könnte; aber vorrangig hat der Philosoph, als der berufsmäßige Metaphysiker, nach Fichtes Auffassung eine Theorie der Geschichte zu liefern, ein Konstruktionsschema, in welches dann der Fachhistoriker die empirisch ermittelten Materialien einzugliedern hat. Fichte ist nun überzeugt davon, dass sich jede Geschichtsauffassung auf eine religiöse Grundhaltung zurückführen lässt und dass das „Denken aus sich selber heraus“, wenn man es mit Selbstüberwindung, mit strenger Disziplin und unbestechlicher Konsequenz gewähren lässt, eine ganz bestimmte Geschichtstheorie produziert. Als Grundsatz dieser Theo­rie stellt Fichte den folgenden Satz auf:

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

„Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.“83 Diese Maxime ist nicht beweisbar: Ein Grund-Satz lässt sich nicht be-gründen. Jede Deutung, Sinngebung, Wertung hat eine axiomatische Grundposition, die sich nicht ableiten lässt, eine Setzung, von der gefordert wird, dass sie als unmittelbar einleuchtend erscheint. Jeder Mensch, sagt Fichte, kann in sich selbst erfahren, dass er zu verantwortlichem Handeln, und das heißt: zu Freiheit und Vernunft berufen ist – wobei Freiheit nicht als Wert an sich verstanden wird, sondern lediglich als Bedingung vernünftigen Handelns, und wobei Vernunft definiert wird als die Fähigkeit zu verstehen und zu vernehmen, und zwar den jeweils vorgegebenen Sinn zu vernehmen; und diesen Sinn, aus dem heraus der Mensch deutet und der allein Orientierung ermöglicht, den nennt Fichte den Willen Gottes. Vernunft ist demnach für ihn kein individuelles Attribut oder eine wertneutrale Intelligenzleistung, sondern ein Gattungsmerkmal mit moralisch-religiösem Anspruch: Die Menschheit als solche, in Abgrenzung zum Animalischen, ist aufgefordert und befähigt zu vernehmen. Und wenn ich mich gedrungen fühle, aus mir heraus eine vernünftige Zielvorstellung zur Entfaltung zu bringen, so bin ich genötigt, da die Vernunft in gleicher Weise für alle Menschen gelten soll, die Geschichte der Menschheit als zielgerichtet anzunehmen. Da nun die Aufforderung, mit Freiheit nach der Vernunft zu handeln, verbunden ist mit der Feststellung, dass die Menschheit noch nicht mit Freiheit nach der Vernunft handelt, so zerfällt für Fichte „das Erdenleben des Menschengeschlechts in zwei Hauptepochen und Zeitalter: die eine, da die Gattung lebt und ist, ohne noch mit Freiheit ihre Verhältnisse nach der Vernunft eingerichtet zu haben, und die andere, da sie diese vernunftmäßige Einrichtung mit Freiheit zustande bringt.“84 Fichte setzt nun ein Wirken der Vernunft voraus, damit überhaupt die Existenz von Menschen möglich wurde; doch ist diese Vernunfttätigkeit am Beginn der Geschichte nicht in das Bewusstsein der Menschen gehoben worden, und deshalb wird sie von Fichte bezeichnet als „Naturkraft“ oder als „Vernunftinstinkt“. Mit zunehmender Entwicklung des Selbstbewusstseins ist den Menschen die Steuerung durch den Vernunftinstinkt als Fremdbestimmung erschienen, so dass sie ihn schließlich abgeschüttelt haben. Zwischen 83  Ebd. 84  Ebd.

S. 198. S. 198–99.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie61

das Anfangsstadium einer Leitung durch den Vernunftinstinkt und die Zielvorstellung einer mit Freiheit verwirklichten Vernunftherrschaft ist also als Zwischenstufe eine Epoche der absoluten Vernunftferne anzunehmen. Da Fichte zwischen diesen drei Stadien jeweils noch eine Übergangsstufe für notwendig hält, bekommt er eine Geschichtskonstruktion aus fünf Epochen: „1. Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts. 2. Die Epoche, da der Vernunftinstinkt in eine äußerlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde. 3.  Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinkts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4.  Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die Wahrheit als das Höchste anerkannt und am höchsten geliebt wird: der Stand der anhebenden Rechtfertigung. 5.  Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung.“85 Geschichte ist also für Fichte Heilsgeschichte; ihr Verlauf wird als Fortschritt begriffen, als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit und der vernunftgemäßen Selbsttätigkeit. Die Ableitung seines Systems aus religiösem Ansatz wird deutlich an Begriffen wie Unschuld, Sünde, Rechtfertigung und Heiligung, wobei die Sünde oder Vernunftferne der 3. Epoche natürlich gleichgesetzt wird mit Gottlosigkeit. Fichtes System ist im wesentlichen so lange unangreifbar, als er die Menschheit über die dritte Epoche nicht hinausgelangen lässt. Denn alles, was als Widerspruch oder Gegenbewegung gegen die angenommene Tendenz der Geschichte angeführt werden kann, erscheint in der 3. Epo85  Ebd.

S. 201.

62

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

che sozusagen als notwendige Geburtswehe der 4. Epoche. Mit der Terminologie der 3. Epoche wird der Tod fremdbestimmter und abergläubischer Existenz formuliert, den die Menschheit erleiden muss, um zum Leben der wahren Religion wiedergeboren zu werden. Es dürfte nach dem Gesagten klar sein, dass Fichtes Gegenwart seine dritte Epoche ist, und Sie ahnen vielleicht auch schon, dass Fichte überzeugt ist, mit seiner Wissenschaftslehre, als Freilegung der religiösen Wahrheit im Menschen durch selbstkritisches Denken, den Weg aus dem Jammertal der 3. Epoche herauszuweisen. Hier zeigt sich sein Selbstbewusstsein als ein Sendungsbewusstsein mit prophetischem, in die Zukunft weisenden Anspruch. Die Liste der Begriffe, die als charakteristisch für die 3. Epoche, also für das „gegenwärtige Zeitalter“ Fichtes gelten können, lässt sich noch verlängern, z. B. durch: Atheismus oder Skeptizismus, als die Leugnung absoluter Wahrheit. Hierher gehört auch der schrankenlose Individualismus, da ja die Vernunft, als das einheitsstiftende Gattungskennzeichen, bekämpft wird. Mit der Vernunft wird zugleich der metaphysische Sinn des Lebens geleugnet, und so bleibt dem Menschen nur „der bloße Naturtrieb der Selbsterhaltung und des persönlichen Wohlseins“, der Naturtrieb, der zwangsläufig zur Selbsttäuschung des Individualismus führt: „Es ist der größte Irrtum und der wahre Grund aller übrigen Irrtümer, welche mit diesem Zeitalter ihr Spiel treiben, wenn ein Individuum sich einbildet, dass es für sich selber da sein und leben und denken und wirken könne, und wenn einer glaubt, er selbst, diese bestimmte Person, sei das Denkende zu seinem Denken, da er doch nur ein einzelnes Gedachtes ist.“86 Der Idealismus Fichtes hat also trotz seines subjektivistischen Ansatzes eine durchaus soziale Ausrichtung, d. h. er zielt ab auf eine bestimmte Form menschlicher Gemeinschaft: „Die Vernunft geht auf das Eine Leben, das als Leben der Gattung erscheint. Wird die Vernunft aus dem menschlichen Leben hinweggenommen, so bleibt lediglich die Individualität und die Liebe derselben übrig. Sonach besteht das vernünftige Leben darin, dass die Person in der Gattung sich vergesse, ihr Leben an das Leben des Ganzen setze und es ihm aufopfere; das vernunftlose hingegen darin, dass die Person nichts denke denn sich selber, nichts liebe denn sich selber und in Be86  Ebd.

S. 210.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie63

ziehung auf sich selber, und ihr ganzes Leben lediglich an ihr eigenes persönliches Wohlsein setze; und falls das, was vernünftig ist, zugleich gut und das, was vernunftwidrig ist, zugleich schlecht zu nennen sein dürfte, so gibt es nur eine Tugend, die: sich selber als Person zu vergessen, und nur ein Laster, das: an sich selbst zu denken.“87 Die Menschheit als Gattung hat sich zwar langfristig als Gemeinschaft zu verstehen und zu entwickeln; vorläufig jedoch ist sie organisiert in Staaten, die sich auf verschiedenen Entwicklungsstufen befinden. Der Staat also ist zunächst das Kollektiv, dem der Einzelne zu dienen hat, auch wenn er den Fortschritt der gesamten Menschheit bezweckt. Dabei steht ihm die Wahl des Staates grundsätzlich frei: „Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christ­ lichen Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Jener Staat, der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen, demnach aufhören, auf der Höhe der Kultur zu stehen. Aber eben darum, weil er untergeht und untergehen muss, kommen andere und unter diesen einer vorzüglich herauf, und dieser steht nunmehr auf der Höhe, auf welcher zuerst jener stand. Mögen dann doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge ihr Vaterland anerkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollten und was sie beglückt. Der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir denn über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen, für uns selbst und für unsere Nachkommen, bis an das Ende der Tage.“ (S. 363) Diese Einstellung nennt man Kosmopolitismus. Dem „Weltbürgersinn“, um den entsprechenden Begriff Fichtes zu verwenden, sind entgegengesetzt ‚Patriotismus‘ oder ‚Nationalismus‘ mit der Vorstellung, dass man einem bestimmten Vaterland oder einem bestimmten Volk zugehörig und verpflichtet sei. Die Einstellung Fichtes ist also im Jahre 1805 noch dieselbe, wie sie uns in seinen Äußerungen zur praktischen Politik begegnet ist, etwa in seiner Absicht, sich 1799 in den Dienst Frankreichs, als des damals fortschrittlichsten Staates zu stellen. Wir werden demnächst zu untersuchen haben, wie und warum sich seine Einstellung in dem folgenden Buch, in den „Reden an die deutsche Nation“, geändert hat. 87  Ebd.

S. 219–20.

64

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Es könnte ganz reizvoll sein, noch weitere Einzelheiten aus der Beschreibung des 3. Zeitalters mitzuteilen – es finden sich in dem Buch sarkastische Analysen, die erstaunlich aktuell klingen, etwa über die Wertschätzung der Schlauheit beim Erschleichen von Vorteilen (S. 223), über die Abnutzung der Gedankenfreiheit zur Gedankenlosigkeit (S. 256–57), über den Missbrauch der Pressefreiheit und des Buchdrucks zur Befriedigung schamloser Eitelkeit (S. 260–61) oder über die Entartung des Lesens zum verständnislosen Konsumieren, das zu einer Droge degeneriert, ohne jegliche Wirkung auf Bildung oder Verhalten (mit deutlichen Parallelen zum heutigen Fernsehkonsum) (S. 262–63). Ich beschränke mich vor diesem Auditorium darauf, einige Bemerkungen zur Ausgestaltung der Religion wiederzugeben: „Was endlich die Religion anbetrifft, so wird auch diese sich ihm [= dem dritten Zeitalter] in eine bloße Glückseligkeitslehre verwandeln, [dazu] bestimmt, uns zu erinnern, dass man mäßig genießen müsse, um recht lange und recht vieles zu genießen; ein Gott wird ihm [= dem gegenwärtigen Zeitalter] nur dazu da sein müssen, damit er unser Wohlsein besorge, und bloß unsere Bedürftigkeit wird es sein, die ihn ins Dasein gerufen und ihn zu dem Entschlusse gebracht, existieren zu wollen. Was es von dem übersinnlichen Inhalte eines etwa vorhandenen Religionssystems allenfalls noch beibehalten will, wird diese Schonung ganz allein dem Bedürfnis eines Zaumes für den ungezügelten Pöbel, dessen der Gebildete nicht bedarf, und dem Mangel eines zweckmäßigeren Ergänzungsmittels der Polizei und des gerichtlichen Beweises verdanken. In summa und um es mit einem Worte auszusprechen: ein solches Zeitalter steht auf seiner Höhe, wenn ihm nun klar geworden, dass die Vernunft und mit ihr alles über das bloße sinnliche Dasein der Person Hinausliegende lediglich eine Erfindung sei gewisser müßiger Menschen, die man Philosophen nennt.“88 Bevor wir nun darüber spekulieren, ob wir uns immer noch im dritten Stadium der Menschheitsentwicklung befinden oder ob wir vielleicht gar nicht in der Lage seien, über dieses Stadium hinauszugelangen, sollten wir uns lieber mit dem Konzept Fichtes etwas grundsätzlicher befassen, damit ich nicht in den Verdacht einer kritiklosen Beweihräucherung gerate: Im Ansatz hat Fichte Recht: Jede Geschichtsdarstellung ist eine Interpretation. Sie beruht auf einem ‚A priori‘, auf einem ‚erkenntnisleitenden 88  Ebd.

S. 216.



4. Politische Realität und Geschichtsphilosophie65

Interesse‘, einer Forschungsintention, auf Fragestellungen, die es uns ermöglichen, historische Quellen zu erschließen und als relevant (als wichtig im Sinne einer Aufgabenstellung) zu erkennen. Aber Auswahl und Auswertung haben immer – und darin besteht der grundlegende Unterschied moderner Geschichtswissenschaft zu dem in sich geschlossenen Konzept Fichtes – ergebnisoffen zu erfolgen. Das heißt: Alle Arbeitshypothesen, alle Vermutungen über mögliche Untersuchungsergebnisse müssen so formuliert sein, dass sie ‚falsifizierbar‘ sind, also im Verlaufe der Forschungsarbeiten widerlegt werden können. Die Geschichte redet nicht ‚von sich aus‘; sie antwortet auf Fragen, die uns wichtig sind, wobei wir sorgsam darauf bedacht sein müssen, diese Antworten nicht (als unsere Vorurteile und Wunschvorstellungen) in sie hineinzulegen. Auch meine / unsere ‚Fragen an Fichte‘ sind natürlich ‚interesse-geleitet‘: Wir suchen Bestätigung und Bestärkung für eigene (vielleicht noch unsichere) Meinungen, erhoffen uns Klärung von bestimmten Zweifeln und suchen nach Antworten z. B. auf die Frage, wie wir in ‚gottloser Zeit‘, in der auch Fichte schon gelebt hat, überhaupt noch von Gott reden können. Und immer müssen wir uns unseres Anliegens, unserer Absichten und Wünsche bewusst sein, um nicht ‚selektiv‘ zu lesen und nur jene Aussagen zu registrieren, mit denen wir uns identifizieren können. Darüber hinaus muss ich als Historiker und Dozent natürlich darauf achten, dass ich Ihnen mit dieser Einführung nicht ein falsches Bild vermittle von dem, was Sie bei Fichte erwarten können. Ohne diese selbstkritische Distanz würde ich Ihnen und mir selbst die Möglichkeit verbauen, durch den Vergleich von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, von Abweichungen und Übereinstimmungen die Entwicklung des eigenen Wertebewusstseins zu fördern. Darin besteht überhaupt einer der wichtigsten Lerneffekte unserer Beschäftigung mit Geschichte, auch mit der Kirchengeschichte, die Wertmaßstäbe, deren wir uns ständig, zumeist unbewusst, bedienen, ins Bewusstsein zu heben und dabei zu überprüfen, ob es sich noch um Vorurteile oder bereits um gut begründete Überzeugungen handelt. Bezogen auf den gelesenen Text könnten sich Fragen ergeben wie die folgenden: Wie steht es mit dem ‚Willen Gottes‘? Ist er derselbe für uns alle und von uns allen in der gleichen Weise vernehmbar? Und die ‚Vernunft‘: ist sie sein ‚Medium‘? Und ist sie dieselbe für uns alle? Ist sie überhaupt ein eindeutiger Begriff mit allgemeingültiger Verbindlichkeit?

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Lassen Sie sich anregen von Fichte zu Ihrem „Denken aus sich selber heraus“. Später – im 2. Teil dieses Buches mit den Versuchen des Kritisierens und des ‚Fortschreitens‘ – können wir vergleichen, ob wir zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Einstweilen noch bleibt es spannend – für Fichte in seinen nächsten Lebensjahren und für uns in der Beobachtung, wie sein Denken durch sein Erleben vorangetrieben wird:

5. Nationalismus und Religion (Die „Reden an die Deutsche Nation“) Im Jahre 1807 nimmt Fichte Zuflucht zu einer Utopie. Er schreibt die Einleitung zu einem Buch mit dem Titel: „Die Republik der Deutschen zu Anfang des 22. Jahrhunderts“89. „Es war zu einer gewissen Zeit mit der deutschen Nation so weit gekommen, dass ein Teil ihrer Fürsten ihr Land an das Ausland verriet und die anderen, die dies nicht ganz in demselben Maße taten, in schmählicher Feigheit und Faulheit allem zusahen und es guthießen, so dass die Völker, immer in dem treuherzigen Wahne, weil ihre Fürsten so wollten, so sei es ihre Pflicht zu dulden, völlig ausgesogen, geschmähet und als blindes Werkzeug jeder grausamen Laune des Auslandes gebraucht wurden, sogar um Deutsche durch Deutsche aufzureiben. Der Adel zeigte sich in dieser Lage als den ersten Stand der Nation nur dadurch, dass er der erste war, der da floh, wo es Gefahr gab, und dass er, durch Verlassen der gemeinsamen Sache, durch niederträchtiges Kriechen und durch Verrätereien die Barmherzigkeit des allgemeinen Feindes sich zu erwerben suchte. Auch die Schriftsteller hatten, entweder durch feiges Stillschweigen oder durch schwachköpfige Bewunderung der rohen Kraft und durch fade Schmeicheleien, die sie derselben darbrachten, sich von der Nation losgesagt. Da nur diese Bestandteile des Volkes in die Augen fielen, die übrige Menge aber in der Verborgenheit und schweigend duldete, so urteilte ganz Europa, dass die Deutschen, als eine durchaus verächtliche Nation, ihr Schicksal vollkommen verdienten. Ebenso urteilte die übermütige und rohe Gewalt, die sie erdrückte, und fand sich ganz berechtigt, der Nichtswürdigkeit ihren Lohn zu geben.“90 89  II

10, S. 371–426. S. 409.

90  Ebd.



5. Nationalismus und Religion67

Von seiner Vision der deutschen Zukunft, die mit dieser deprimierenden Beschreibung seiner Gegenwart beginnt, hat Fichte nur wenige Bruchstücke zu Papier gebracht. Wie kommt er zu diesem Ansatz? Was veranlasst ihn, sich 300 Jahre voraus in die Zukunft zu versetzen? Sicher hat dies auch zu tun mit seinem Idealismus: den Menschen nicht zu beschreiben als das, was er (angeblich) ist, sondern als das, was er sein soll und sein kann. Der visionäre Charakter seines Denkens hindert Fichte aber nicht daran, die Seligkeit des Menschen in seiner Gegenwart beginnen zu lassen (so noch in der ‚Anweisung zum seligen Leben‘ vom Frühjahr 1806). Es sind die Ereignisse vom Herbst 1806 bis zum Sommer 1807, die Fichte in die Flucht treiben – wörtlich verstanden und im übertragenen Sinne. Diese Ereignisse muss ich kurz beschreiben und zu den Lebensdaten Fichtes in Beziehung setzen, um dessen geistige Entwicklung verständlich zu machen. Fichte hatte sich nach dem Verlust seines Lehrstuhls in Jena 1799 in Berlin niedergelassen, dort zunächst sehr zurückgezogen gelebt und an der Ausarbeitung seines philosophischen Systems gearbeitet. Im Jahre 1804 fühlt er sich innerlich und äußerlich sicher genug, um erneut mit Vorträgen an die Öffentlichkeit zu treten. Innere Lebendigkeit und äußere Teilnahmslosigkeit stehen dabei in einem auffälligen Kontrast. Er schreibt am 31.3.1804 an den Philosophen Jacobi: „Von allem, was da vorgeht, bewegt mich nichts und wundert mich nichts, und ich erwarte noch weit Heilloseres; denn ich glaube, unser Zeitalter, als das Zeitalter der absoluten Verwesung aller Ideen, sattsam begriffen zu haben. Dennoch bin ich fröhlichen Muts; denn ich weiß, dass nur aus dem vollkommenen Ersterben das neue Leben hervorgeht.“91 Der Begriff des ‚vollkommenen Ersterbens‘ lässt sich politisch auf den Niedergang des Deutschen Reiches beziehen: Napoleon, seit 1799 praktisch Alleinherrscher in Frankreich, hatte sehr geschickt die Rivalitäten der deutschen Fürsten für sich auszunutzen gewusst. Im sog. Reichsdeputationshauptschluss von 1803 konnte er in seinem Kampf gegen Österreich die deutschen Mittelstaaten für sich gewinnen durch ebenso großzügige wie einträgliche Bestechung: Die geistlichen Territorien (Bistümer, Abteien usw.) wurden enteignet und sozusagen meistbietend versteigert. Da auch der Besitz von Reichsstädten und Reichsrittern mediatisiert (zu deutsch: als Kriegsbeute behandelt) wurde, verlor der Kaiser in Deutschland praktisch alle Stützen seiner Macht. Folgerichtig 91  III

5, S. 236.

68

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

legte Franz II. von Österreich wenig später die deutsche Kaiserkrone nieder und erklärte das Römische Reich deutscher Nation nach einer rund tausendjährigen Geschichte für beendet. Napoleon hatte das Erbe des Römischen Reiches für sich beansprucht, als er sich 1804 mit Beihilfe des Papstes zum Kaiser krönte und seitdem eine Vorliebe für den Lorbeerkranz der römischen Cäsaren an den Tag legte. Damit markiert das Jahr 1804 aber zugleich auch das Ende der republikanischen Hoffnungen in Deutschland. Hatte man bis 1803 die militärischen Erfolge der Franzosen noch als Befreiungstaten gegen despotische Fürstenherrschaft feiern können, so ließ sich seit 1804 nicht mehr übersehen, dass die Ideale der Französischen Revolution dem Machtstreben Napoleons und seiner ehrgeizigen Familienpolitik geopfert wurden. Weit davon entfernt, der Adelsherrschaft in Deutschland ein Ende setzen zu wollen, machte er vielmehr die Fürsten von Sachsen, Bayern und Württemberg zu Königen, verhalf auch seinen Brüdern in den eroberten Gebieten zu Königswürden und heiratete selbst die Tochter des österreichischen Kaisers. Im Jahre 1805 schlug er bei Austerlitz (in Tschechien) die vereinigten Truppen von Österreich und Russland. Preußen hoffte darauf, durch diesen Krieg die Rivalen Österreich und Frankreich geschwächt und damit die eigene Position gestärkt zu sehen. Dies schien sich zu bestätigen, als Napoleon die Neutralität Preußens mit der Anwartschaft auf das Kurfürstentum Hannover honorierte. Dadurch aber wurde Preußen gegen seinen Willen in einen Konflikt mit England verwickelt; denn Georg III. hatte zwar als Kurfürst von Hannover den Krieg gegen Frankreich verloren, setzte aber als König von England den Kampf gegen Napoleon fort. (Die Geschichte der Personalunion von Hannover und England ist etwas kompliziert.) Jedenfalls fühlte sich Preußen durch die französische Diplomatie verschaukelt und glaubte nun im Jahre 1806, gedrängt auch vom rasch zunehmenden Nationalismus, sich zum Sachwalter deutscher Interessen aufwerfen und der französischen Expansion Einhalt gebieten zu sollen – wobei es freilich die eigenen Kräfte arg überschätzte: In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt wurde es am 14.10.1806 vernichtend geschlagen. Die Reaktion Fichtes ist wohl auch dadurch bestimmt, dass er seit dem Frühjahr 1805 in preußischen Diensten stand. Preußische Reformpolitiker waren von seinen Berliner Vorträgen so beeindruckt, dass sie ihm eine Professur für Philosophie an der Universität Erlangen verschafften. (Erlangen, bei Nürnberg gelegen, gehörte damals zum Königreich Preußen.)



5. Nationalismus und Religion69

Mit dem gewohnten fanatischen Eifer stürzt er sich in seine Aufgabe und identifiziert sich alsbald mit der neuen Funktion. Kaum zwei Monate im Amt schreibt er am 6.6.1805: „Ich habe große, tief eingreifende Pläne für die Errichtung einer wahren deutschen National-Universität entworfen.“92 Die Ausarbeitung dieser Pläne unterbleibt, da Fichte nur ein Semester in Erlangen gewirkt hat; für den Winter 1805 auf 1806 war er beurlaubt, um in Berlin seine öffentlichen Vorträge fortzusetzen. Es entsteht die „Anweisung zum seligen Leben“ – kurz bevor er in den Strudel der napoleonischen Kriege gerissen wird. Im Jahre 1806 wird die Provinz Ansbach-Bayreuth kampflos den Franzosen überlassen, Fichte kehrt nicht mehr nach Erlangen zurück. In dieser Zeit schreibt er eine Abhandlung über Patriotismus in Form eines Gesprächs93. Es beginnt folgendermaßen: „A. [= Gesprächspartner] (Verlegen und ängstlich, rückt mit dem Stuhle, sieht in die Uhr.) B.  [= Fichte] Es scheint, dass Ihnen meine längere Gegenwart lästig wird. Sie wollen, dass ich gehe. Was haben Sie? A.  Wenn ich es Ihnen denn frei heraus sagen soll, so möchte ich mir Ihren Besuch auf eine andere Zeit erbitten. Es hat 5 Uhr geschlagen! Diese Stunde ist in meiner Tagesordnung zur Ausübung des Patriotismus angesetzt. Ich mag keine meiner Pflichten ungerner versäumen als diese. B.  Nun, es wird doch damit nicht so eilen! – Ausübung des Patriotismus? Wie machen Sie denn das, wenn Sie patriotisch sind?“ Fichtes Gesprächspartner gerät ob dieser Frage etwas in Verlegenheit und versteigt sich in Formulierungen, die wir heute als Hurrapatriotismus bezeichnen würden: er verfasst Lobeshymnen auf die Regierung in blinder Verherrlichung. Und als Fichte die Unsinnigkeit, ja Schädlichkeit solchen Verhaltens dargelegt hat, stammelt der fingierte Gesprächspartner: „Aber Patriotismus muss doch sein und er muss doch etwas sein und muss ausgeübt werden“, worauf Fichte kühl erwidert: „B. Wie, wenn nun hierbei jemand der Meinung wäre, dass es gar keinen Patriotismus als abgesonderten und für sich bestehenden Akt und Zustand gebe, ebenso wie es auch keine Religiosität als abgesonderten und für sich bestehenden Akt und Zustand gibt, sondern dass der Patrio­ 92  III

5, S. 309. Patriotismus und sein Gegenteil“, 1806 / 07, II 9, S. 387–445 (darin: „Die Patrioten“, S. 397–445). 93  „Der

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

tismus nur das bleibende Element und die Grundform all unseres bürgerlichen Lebens sein solle, ebenso wie die Religiosität das bleibende Element unseres höheren geistigen Lebens überhaupt? A.  Ich kann hierin Sie eben nicht so recht verstehen. B.  Meine Meinung ist, dass jedweder Einzelne an seinem Orte und in seiner Lage das Seinige aus aller Kraft tun solle, und dass sodann, indem es mit allem Einzelnen gut steht, es ohne irgend jemandes Zutun und ohne Hilfe eines besonderen Patriotismus auch mit dem Ganzen gut stehen werde.“ Doch seinem Gesprächspartner ist das nicht genug: „A.  Dacht‘ ich es doch, dass Sie Gelegenheit finden würden, die alte Trivialität, dass nur jeder an seinem Orte seine Schuldigkeit tun solle, anzubringen und an das Sprüchlein des ehrlichen Luther zu erinnern: ‚Jedweder lerne seine Lektion, so wird es wohl im Hause und Staate stehen.‘ Aber das ist nichts. Das wissen wir schon und wollen es nicht wieder hören. Das könnte jedweder tun; wir aber wollen etwas Besonderes und Ausnehmendes, ein Übriges und ein opus supererogativum tun [= eine extra honorierte Leistung], wobei auch besonderes Verdienst und Ehre zu erwerben sei. Deshalb muss uns noch ein besonderer und ausdrücklicher Patriotismus angeschafft werden.“94 Doch solch einen besonderen, irrationalen Patriotismus, auszuüben wie ein religiöses Ritual zu bestimmten Uhrzeiten, lehnt Fichte ab; auch wehrt er sich dagegen, einen Gegensatz zwischen seinem Patriotismus, als der vernunftgemäßen Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten, und dem Kosmopolitismus konstruieren zu lassen, jenem Weltbürgersinn, den er zu Beginn des Jahres 1805 in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“ vertreten hatte; denn jeder Mensch könne nur als Patriot, in seiner Eigenschaft als guter Bürger eines bestimmten Staates, am Fortschritt der Menschheit mitwirken: „B.  Und so wird denn jedweder Kosmopolit ganz notwendig, vermittelst seiner Beschränkung durch die Nation, Patriot; und jeder, der in seiner Nation der kräftigste und regsamste Patriot ist, ist eben darum der regsamste Weltbürger, indem der letzte Zweck aller Nationalbildung doch immer der ist, dass diese Bildung sich verbreite über das Geschlecht [= über die gesamte Menschheit].“95 94  Ebd. 95  Ebd.

S. 397–99. S. 400.



5. Nationalismus und Religion71

Fichte hält an dem gemeinsamen Ziel der Menschheit, wie er es in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“ entwickelt hatte, fest: „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.“ Aber dem Deutschen kommt bei der Beförderung dieses Zwecks, zumal seit die Franzosen unter Napoleon das Ideal der Freiheit verraten haben, nun doch eine besondere Rolle zu: „Der Patriot will, dass der Zweck des Menschengeschlechtes zuerst in derjenigen Nation erreicht werde, deren Mitglied er selber ist. In unserer Zeit kann jener Zweck nur von der Wissenschaft aus befördert werden. Sonach ist die Wissenschaft und ihre möglichst größte Verbreitung in unserer Zeit selber der allernächste Zweck des Menschengeschlechtes, und dasselbe kann und darf sich gar keinen anderen Zweck setzen als diesen. Der deutsche Patriot insbesondere will, dass dieser Zweck zuerst unter den Deutschen erreicht werde und erst von diesen aus der Erfolg über die übrige Menschheit sich verbreite. Dies kann der Deutsche wollen, denn unter ihm hat die Wissenschaft begonnen, und in seiner Sprache ist sie niedergelegt. Es ist zu glauben, dass in derjenigen Nation, welche die Kraft hatte, die Wissenschaft zu erzeugen, auch die größte Fähigkeit liegen werde, die erzeugte zu fassen. Nur der Deutsche kann dies wollen; denn nur er kann, vermittelst des Besitzes der Wissenschaft und des ihm dadurch möglich gewordenen Verstehens der Zeit überhaupt, einsehen, dass dieses der allernächste Zweck der Menschheit sei. Jener Zweck ist der einzig mögliche patriotische Zweck; nur der Deutsche demnach kann Patriot sein: nur er kann, im Zwecke für seine Nation, die gesamte Menschheit umfassen; dagegen von nun an seit der Erlöschung des Vernunftinstinktes und dem Eintritte allein des Egoismus in Klarheit, jeder andern Nation Patriotismus selbstisch, engherzig und feindselig gegen das übrige Menschengeschlecht ausfallen muss.“96 Unter ‚Wissenschaft‘ versteht Fichte seine Wissenschaftslehre, d. h. die idealistische Philosophie, wie sie von ihm im Anschluss an Kant entwickelt worden ist. Fichte ist offenbar zu der Überzeugung gekommen, dass es kein Zufall sein kann, dass gerade in Deutschland die Philosophie ihren Höhepunkt im Selbst-bewusst-Werden des Menschen erreicht hat. Daraus erwächst für die Deutschen eine besondere Verpflichtung. Es ist nicht länger gleichgültig, in welchem Staat man lebt. 1805 hatte er noch geschrieben: 96  Ebd.

S. 404–05.

72

I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

„Der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir denn über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen, für uns selbst und für unsere Nachkommen, bis an das Ende der Tage.“ Im Dialog von 1806 / 07 ist sein philosophisches System nicht mehr das Produkt eines abgehobenen ‚sonnenverwandten Geistes‘ beliebiger Nationalität; er spricht nicht von Kant und Fichte, sondern von der deutschen „Nation, welche die Kraft hatte, die Wissenschaft zu erzeugen“; d. h. er begreift sich selbst als Produkt der Nation in dem Sinne, dass er nur als Deutscher zu jener heilsnotwendigen Tiefe seiner Einsichten gelangen konnte. Sicher erkennen Sie mein Bemühen, auch diesem Text noch etwas Positives abzugewinnen, nämlich den gedanklichen Fortschritt Fichtes, dass der Mensch, auch wenn er sich als frei und eigenständig fühlt, doch auch das Produkt einer kulturellen Evolution ist, die sein Wertesystem beeinflusst. Diesen Einfluss der Tradition, wie sie unter den besonderen Bedingungen der Fremdherrschaft im Nationalismus zum Ausdruck kommt, hat Fichte aber nicht reflektiert – mit der bedauerlichen Folge, dass sein extremes Selbstbewusstsein nahtlos übergeht in nationalis­ tische Überheblichkeit. Von dem Satz: „nur der Deutsche demnach kann Patriot sein: nur er kann, im Zwecke seiner Nation, die gesamte Menschheit umfassen“ ist es nicht weit bis zu dem Spruch: „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“.97 Lassen Sie uns an dieser Stelle ein paar Begriffe klären bzw. festlegen, die für eine positive Einstellung zu Volk und / oder Vaterland Verwendung finden – für einen Deutschen nach dem 2. Weltkrieg kein einfaches Unterfangen, da diese Begriffe alle mehr oder weniger belastet klingen. Fichte hatte ja zunächst ‚ganz vernünftig‘ (in unserem Sinne) angefangen und als ‚Patriotismus‘ jene positive Grundeinstellung bezeichnet, mit der ein jeder seine staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen habe. Auch seine Kritik an einem ‚besonderen‘ Patriotismus, der in veräußerlichten Ritualen seinen überflüssigen Ausdruck findet, können wir übernehmen und als ‚Hurrapatriotismus‘ diskreditieren (= schlecht­ machen). 97  Nach dem Gedicht von Emanuel Geibel „Deutschlands Beruf“ von 1861: „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“



5. Nationalismus und Religion73

Ein zweiter Ansatz, den Begriff ‚Patriotismus‘ inhaltlich zu füllen, ergibt sich aus der Einsicht, in der kulturellen Tradition eines bestimmten Volkes zu stehen und dadurch geprägt zu sein (von Fichte in den „Reden an die Deutsche Nation“ thematisiert, wie wir noch sehen werden). Doch beide Ansätze (staatsbürgerliche Verpflichtung und kulturelle Identifikation) sind zu ‚kopflastig‘, zu sehr rationale Konstruktion, um der politischen Dynamik dieses Phänomens gerecht zu werden. Mit ‚Vaterlandsliebe‘ kommen wir der Sache näher. Dieser Begriff wird von Fichte synonym gebraucht für Patriotismus, was insofern naheliegend erscheint, als ja ‚Vaterland‘ nur die wörtliche Übersetzung des lateinischen ‚patria‘ ist. Der Zusatz ‚-liebe‘ markiert jedoch einen wesentlichen Unterschied: In ihm äußert sich emotionale Ergriffenheit durch die Transzendenzerfahrung der Zugehörigkeit, Bestandteil zu sein, nicht nur isoliertes Individuum, sondern Teil einer historisch gewachsenen Gemeinschaft. Auch der Begriff ‚Vaterlandsliebe‘ erscheint ‚politisch korrekt‘, sofern damit keine Abwertung anderer Völker verbunden wird; doch dürfte für uns heute, nach einem Jahrhundert nationaler und nationalistischer Überanstrengung, der emotionslosere Begriff ‚Patriotismus‘ angemessener sein. Für den Missbrauch dieses Begriffs, wie er in dem zuletzt gelesenen Text für uns offensichtlich ist (dass nur der Deutsche wegen seiner vorzüglichen Geisteskräfte ein ‚wahrer Patriot‘ sein könne usw.), fehlt Fichte noch das Gespür und demzufolge auch der Begriff. Diesen überheblichen oder übersteigerten Patriotismus nennen wir ‚Nationalismus‘ – ein Begriff, der bei Fichte noch nicht vorkommt. Für ihn ist kennzeichnend der pejorative (= herabsetzende) Vergleich – in dem gelesenen Text: dass vom Standpunkt deutscher Überlegenheit aus „jeder andern Nation Patriotismus selbstisch, engherzig und feindselig gegen das übrige Menschengeschlecht ausfallen muss“. Zu Beginn dieses Kapitels hatten wir ein Fragment gelesen, das Fichte auf der Flucht zeigt. Vor den Truppen Napoleons war er zunächst nach Ostpreußen geflohen und von dort weiter nach Dänemark. Von Kopenhagen aus schreibt er am 29.7.1807 an seine Frau: „Ich glaubte, die deutsche Nation müsse erhalten werden; aber siehe, sie ist aus­ge­ löscht.“98 Die Vision vom 22. Jahrhundert entsprang der tiefen Resignation des Jahres 1807. Die Deutschen hatten offenbar ihr Schicksal ver98  III

6, S. 154.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

dient: Von den Fürsten durch „niederträchtiges Kriechen“ an das Ausland verraten, waren sie – gewohnt sich unterzuordnen, unfähig zur Selbstständigkeit – befangen „in dem treuherzigen Wahne, weil ihre Fürsten so wollten, so sei es ihre Pflicht zu dulden“. Doch von einem Energiebündel wie Fichte war zu erwarten, dass er nicht lange im Zustand der Resignation verharren würde. Schon im Herbst 1807 kehrt er mit neuen Plänen nach Berlin zurück, kurz nachdem Preußen in Tilsit äußerst harte Friedensbedingungen von Napoleon hatte hinnehmen müssen: Etwa die Hälfte seines Gebietes musste es abtreten, und die wichtigsten Städte, darunter auch Berlin, blieben von französischen Truppen besetzt. In dieser Situation mit „Reden an die Deutsche Nation“99 hervorzutreten, zeugte von erheblichem Mut. Es war erst ein Jahr her, dass der Nürnberger Buchhändler Palm von den Franzosen erschossen worden war, weil er die Schrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ – noch nicht einmal geschrieben, sondern lediglich herausgebracht hatte. Fichte bekam zwar Schwierigkeiten mit der ängstlichen preußischen Zensur, blieb aber von der französischen Besatzung unbehelligt. Sein Buch wurde später außerordentlich populär als eine Art ‚Kultbuch‘ des Nationalismus. Ein Stück Wirkungsgeschichte findet sich auch in dem folgenden Gedicht (das noch nach 1945 als ein Gedicht Fichtes gelernt worden ist): „Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben,  /  An deines Volkes Auferstehn. lass diesen Glauben dir nicht rauben  /  Trotz allem, allem, was geschehn. Und handeln sollst du so, als hinge  /  Von dir und deinem Tun allein Das Schicksal ab der deutschen Dinge  /  Und die Verantwortung wär‘ dein.“100) Dieses Gedicht war in den 20er und 30er Jahren (des 20. Jahrhunderts) sehr beliebt; dass es Fichte zugeschrieben wurde, liegt an seinem irreführenden Titel: „Fichte an jeden Deutschen“. Es stammt von Albert Matthäi aus dem Jahre 1922. Der Titel zeigt jedoch, dass Fichte zu einer Symbolfigur des deutschen Nationalismus geworden war. Die „Reden an die Deutsche Nation“ sind freilich alles andere als eine tagespolitische Streitschrift; eher sind sie eine Vortragsreihe über 99  Berlin 100  Zit.

1808 (14 Reden von Dezember 1807 bis März 1808). I 10, S. 1–298. n. G. Büchmann, Geflügelte Worte, 31. Aufl. 1964, S. 372.



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Erziehung. (Fast die Hälfte des Textes beschäftigt sich mit der seinerzeit neuen Pädagogik des Schweizer Lehrers Pestalozzi, der von Fichte sehr verehrt wurde.) Nationales Sendungsbewusstsein ist zwar nicht zu überhören, aber es ist weitgehend frei von Angriffen auf Frankreich, und ein Aufruf zum revolutionären Befreiungskampf ist es schon gar nicht. Wir hatten bereits gehört, dass sich Fichte von einer Revolution in Deutschland nichts versprach, jedenfalls keine Beförderung dessen, was er unter freier Vernunfttätigkeit verstand. Rückblickend schreibt er im Jahr 1813: „Die französische Nation war im Ringen nach dem Reiche der Freiheit und des Rechts begriffen und hatte in diesem Kampfe schon ihr edelstes Blut verspritzt. Aber diese Nation war der Freiheit unfähig, … weil es in der ganzen Nation an der Bedingung einer freien Verfassung fehlte, der Ausbildung der freien Persönlichkeit.“ Und die eigentliche Aufgabe Napoleons wäre es gewesen, in Angriff zu nehmen „eine vielleicht mehrere Menschenalter dauernde regelmäßige Erziehung der französischen Nation zur Freiheit“. Statt dessen habe er „die Nation um ihre Freiheit betrogen“101. Die Erziehung zu einer ‚freien Persönlichkeit‘ als Voraussetzung na­ tionaler Freiheit ist daher das Hauptanliegen Fichtes. Fichte knüpft mit seinen Reden im Winter 1807 auf 1808 an die Vortragsreihe an, die er drei Jahre zuvor unter dem Titel „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ ebenfalls in Berlin gehalten hatte: „Bisher wurde die Menschheit, was sie eben wurde und werden konnte. Mit diesem Werden durch das Ohngefähr [= Ungefähr; Zufall] ist es vorbei; denn da, wo sie am allerweitesten sich entwickelt hat, ist sie zu Nichts worden. Soll sie nicht bleiben in diesem Nichts, so muss sie von nun an zu allem, was sie noch weiter werden soll, sich selbst machen. Dies sei die eigentliche Bestimmung des Menschengeschlechts auf der Erde, sagte ich in den Vorlesungen, deren Fortsetzung diese sind, dass es mit Freiheit sich zu dem mache, was es eigentlich ursprünglich ist. Dieses Sichselbstmachen, im allgemeinen mit Besonnenheit und nach einer Regel, muss nun irgendwo und irgendwann im Raum und in der Zeit einmal anheben, wodurch ein zweiter Hauptabschnitt der freien und besonnenen Entwicklung des Menschengeschlechts an die Stelle des ersten Abschnitts einer nicht freien Entwicklung treten würde. Wir sind der Meinung, dass, in Absicht der Zeit, diese Zeit eben jetzt sei und dass dermalen das Geschlecht in der wahren Mitte seines Lebens auf der 101  II

16, S. 62 (aus der sog. „Staatslehre“ von 1813).

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Erde zwischen seinen beiden Hauptepochen stehe; in Absicht des Raumes aber glauben wir, dass zu allernächst den Deutschen es anzumuten sei, die neue Zeit, vorangehend und vorbildend für die übrigen, zu beginnen. Dennoch wird auch sogar diese ganz neue Schöpfung nicht durch einen Sprung erfolgen aus dem Vorhergehenden, sondern sie ist die wahre, natürliche Fortsetzung und Folge der bisherigen Zeit, ganz besonders unter den Deutschen. Sichtbar und, wie ich glaube: allgemein zugestanden, ging ja alles Regen und Streben der Zeit darauf, die dunklen Gefühle zu verbannen und allein der Klarheit und der Erkenntnis die Herrschaft zu verschaffen. Dieses Streben ist auch insofern vollkommen gelungen, dass das bisherige Nichts vollkommen enthüllt ist. Keineswegs soll nun dieser Trieb nach Klarheit ausgerottet oder das dumpfe Beruhen beim dunklen Gefühle wieder herrschend werden; jener Trieb soll nur noch weiter entwickelt und in höhere Kreise eingeführt werden also, dass nach der Enthüllung des Nichts auch das Etwas, die bejahende und wirklich etwas setzende Wahrheit ebenfalls offenbar werde.“102 Unterstellen wir zunächst einmal, dass Fichte Recht hat mit seiner Überzeugung, das Menschengeschlecht solle sich „mit Freiheit zu dem machen, was es eigentlich ursprünglich ist“. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen, so drängen sich zum Folgenden zwei Fragen auf: 1.  zum Zeitpunkt: Warum glaubt er, dass im Jahr 1807 gleichsam die Talsohle der menschlichen Entwicklung durchschritten sei und es jetzt nur noch aufwärts gehen könne? und 2.  zum Raum: Warum glaubt er, dass der Fortschritt von Deutschland ausgehen solle, also ausgerechnet von dem Land, das gerade zu Recht seine kümmerlichen Reste an Freiheit eingebüßt hatte? Fichte beantwortet diese Fragen folgendermaßen: „Ich hatte in jenen Vorlesungen [vor drei Jahren] gezeigt, dass unsere Zeit in dem dritten Hauptabschnitte der gesamten Weltzeit stehe, welcher Abschnitt den bloßen sinnlichen Eigennutz zum Antriebe aller seiner lebendigen Regungen und Bewegungen habe … Innerhalb der drei Jahre, welche seit dieser meiner Deutung des laufenden Zeitabschnittes verflossen sind, ist irgendwo dieser Abschnitt vollkommen abgelaufen und beschlossen. Irgendwo hat die Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst und dessen Selbstständigkeit verloren; und ihr, da sie gutwillig 102  I

10, S.  138 / 39.



5. Nationalismus und Religion77

keinen andern Zweck, denn sich selbst, sich setzen wollte, durch äußerliche Gewalt ein solcher anderer und fremder Zweck aufgedrungen worden.“103 Das doppelte „irgendwo“ ist sicher als Ironie verstanden worden104: Kaum jemand im Saal wird bezweifelt haben, dass der Untergang des Deutschen Reiches und die Katastrophe Preußens eine selbstverschuldete Folge eigennütziger Interessenpolitik gewesen ist. Die Selbstsucht also hat sich selbst ad absurdum geführt: Sie hebt sich selbst auf im Verlust der Selbstständigkeit. „Was seine Selbstständigkeit verloren hat,“ sagt Fichte, „… könnte sich erheben aus diesem Zustande, in welchem die ganze bisherige Welt seinem selbsttätigen Eingreifen entrückt ist und in dieser ihm nur der Ruhm des Gehorchens übrig bleibt, lediglich unter der Bedingung, dass ihm eine neue Welt aufginge, mit deren Erschaffung es einen neuen und ihm eigenen Abschnitt in der Zeit begönne und mit ihrer Fortbildung ihn ausfüllte. … In dieser Weise demnach werden diese Reden eine Fortsetzung der ehemals gehaltenen Vorlesungen über die damals gegenwärtige Zeit sein, indem sie enthüllen werden das neue Zeitalter, das der Zerstörung des Reichs der Selbstsucht durch fremde Gewalt unmittelbar folgen kann und soll.“105 Die selbstzerstörerischen Folgen der Selbstsucht waren in Deutschland besonders deutlich zu erkennen; doch war dies nicht der einzige Grund, warum Fichte den Beginn des neuen Zeitalters in Deutschland erwartete. Eine Antwort auf diese Frage haben wir bereits im Patriotischen Dialog von 1806 / 07 kennengelernt: weil die Menschheit erst in der deutschen Philosophie Kants und Fichtes zum klaren Bewusstsein ihrer selbst, ihrer Pflichten und Möglichkeiten gekommen ist. Fichte versucht, diese Antwort zu vertiefen – vermutlich war sie ihm zu empirisch, zu sehr beschränkt auf die Beschreibung eines historischen Faktums. Die empirische Feststellung, dass Kant und Fichte den deutschen Idealismus begründet hatten, verlangte nach Fichtes philosophischem Selbstverständnis nach einer theoretischen Begründung, nach einer Antwort auf die Frage, warum diese zukunftsweisende Leistung gerade zwei deutschen 103  Ebd.

S. 104. diesem erzwungenen Verzicht auf Namensnennung handelt es sich um ein ‚Eigentor‘ der preußischen (nicht der französischen!) Zensur, die eine kritische Bezugnahme auf die eigene Staatsführung nicht zugelassen hatte – vgl. die sehr gründliche Einleitung in I 10, S. 11–29. 105  Ebd. S.  104 / 05. 104  Bei

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Philosophen möglich war. Nun ist in der Selbstreflexion Fichtes insofern ein Fortschritt festzustellen, als er sich nicht mehr als absolutes und voraussetzungsloses Individuum begreift, das seine Weltanschauung sozusagen aus dem hohlen Bauch heraus produziert: „Der Mensch bildet seine wissenschaftliche Ansicht nicht etwa mit Freiheit und Willkür so oder so, sondern sie wird ihm gebildet durch sein Leben und ist eigentlich die zur Anschauung gewordene innere und übrigens [= sonst] ihm unbekannte Wurzel seines Lebens selbst. Was du so recht innerlich eigentlich bist, das tritt heraus vor dein äußeres Auge, und du vermöchtest niemals etwas anderes zu sehen. Solltest du anders sehen, so müsstest du erst anders werden.“106 Diese Erkenntnis ist außerordentlich wichtig und in der Formulierung ‚das Sein bestimmt das Bewusstsein‘ von grundlegender Bedeutung z. B. für den Marxismus – bei Marx dann mit der näheren Bestimmung: ‚das materielle Sein bestimmt das Bewusstsein‘. Fichtes Gedankengang könnte man auf die Formel bringen: ‚das nationale Sein bestimmt das Bewusstsein‘. Das eine ist ebenso richtig und unbefriedigend wie das andere; denn beide Formeln verengen das Sein des Menschen auf einen Teilaspekt. Die Frage ‚Warum hat Fichte die Wissenschaftslehre entwickelt?‘ darf nicht gleichgesetzt werden mit der Frage ‚Warum hat ein Deutscher die Wissenschaftslehre entwickelt?‘ und ebenso wenig mit Fragen wie ‚Warum hat ein Mitglied der Arbeiterklasse die Wissenschaftslehre entwickelt?‘ oder ‚warum ein Zögling christlicher Erziehung‘ oder ‚warum ein Mensch männlichen Geschlechts‘ usw. Die Reihe dieser Fragen ließe sich noch verlängern, ohne dass sie in ihrer Gesamtheit die Persönlichkeit Fichtes zu erfassen vermöchten. Fichte reflektiert also nur auf einen Teilaspekt seiner Voraussetzungen, setzt diesen absolut und gibt damit zu erkennen, dass er stärker vom Nationalismus ergriffen ist, als dass er selbst schon dieses Phänomen gedanklich verarbeitet hätte. Doch versuchen wir, seinem Gedankengang weiter zu folgen: Nur ein Deutscher konnte die Wissenschaftslehre entwickeln: Diese Aussage provoziert die Frage nach der nationalen Besonderheit, nach einer besonderen Qualität der Deutschen. Den wesentlichen Vorzug der Deutschen gegenüber anderen Völkern, insbesondere gegenüber der französischen Besatzungsmacht, erblickt Fichte in einem größeren Maß an Ursprünglichkeit. Dieses ist ausdrücklich nicht auf Herkunft oder Rein106  Ebd.

S. 184.



5. Nationalismus und Religion79

heit der Abstammung zu beziehen, als ob die Germanen in Deutschland sich weniger mit anderen Völkern vermischt hätten als z. B. in Frankreich107. Als ‚Ahnherr‘ des Rassismus ist Fichte also nicht in Anspruch zu nehmen. Wichtig aber scheint ihm zu sein, dass die Deutschen keine fremde Sprache angenommen haben. Sprache ist ihm nicht willkürlich gewähltes und austauschbares Mittel der Verständigung, sondern sozusagen ein geistiger Fingerabdruck, unverwechselbare Ausprägung geistiger Individualität: Nur über die eigene Sprache gewinnen wir Zugang zu den Wurzeln unseres Bewusstseins; nur in einer ursprünglichen Sprache können wir uns dem Ursprung des Denkens nähern; deshalb konnte nur ein Deutscher die Prinzipien des Denkens entwickeln.108 Zur Überprüfung dieser interessanten, überwiegend aber fragwürdigen Aussagen müsste man sprachphilosophische Überlegungen und sprachanalytische Untersuchungen anstellen; doch hat uns Fichte dieser Mühe dadurch enthoben, dass er sich in einer weiteren Definition dessen, was als deutsch zu gelten habe, selbst widerspricht: „Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede [!], ist unseres Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun. Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei und welche Sprache es rede [!], ist undeutsch und fremd für uns, und es ist zu wünschen, dass es – je eher, je lieber – sich gänzlich von uns abtrenne.“109 In diesen und ähnlichen Aussagen hat sich der frühere Kosmopolitismus Fichtes behauptet gegenüber dem Nationalismus, der seit 1805, seit seiner Berufung zum preußischen Staatsdiener, in seinen Schriften laut wird. In dem zitierten Absatz wird ‚deutsch‘, im Sinne von ursprünglich und gründlich, wie ein philosophischer Terminus verwendet und nicht als ethnografischer oder linguistischer (völkerkundlicher oder sprachkundlicher) Begriff. Dieser Mangel an klarer Begrifflichkeit, den wir auch schon im ‚­ Patriotischen Dialog‘ von 1806 / 07 festgestellt haben, lässt erkennen, wie schwer es Fichte gefallen ist, das Phänomen des Nationalismus theore107  Vgl.

ebd. S.  145 / 46. und 5. Rede, ebd. S. 143–170. 109  Ebd. S.  195 / 96. 108  4.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

tisch zu integrieren, diesen Fremdkörper, von dem er zugleich abgestoßen und angezogen wird, in sein philosophisches System einzubauen. Wohl hat er sich dieser Aufgabe gestellt, besonders in der achten Rede mit der Überschrift: „Was ein Volk sei, in der höheren Bedeutung des Wortes, und was Vaterlandsliebe“110. Es ist wiederum bezeichnend für das religiöse Fundament seiner Philosophie, dass er seine Untersuchung beginnt mit einer Anknüpfung an den Begriff Religion: „Die Religion, wie wir dies schon in unsrer dritten Rede angemerkt haben, vermag durchaus hinweg zu versetzen über alle Zeit und über das ganze gegenwärtige und sinnliche Leben, ohne darum der Rechtlichkeit, Sittlichkeit und Heiligkeit des von diesem Glauben ergriffenen Lebens den mindesten Abbruch zu tun. Man kann, auch bei der sichern Überzeugung, dass alles unser Wirken auf dieser Erde nicht die mindeste Spur hinter sich lassen und nicht die mindeste Frucht bringen werde, ja, dass das Göttliche sogar verkehrt, und zu einem Werkzeuge des Bösen und noch tieferer sittlicher Verderbnis werde gebraucht werden, dennoch fortfahren in diesem Wirken lediglich, um das in uns ausgebrochene göttliche Leben aufrecht zu erhalten, und in Beziehung auf eine höhere Ordnung der Dinge in einer künftigen Welt, in welcher nichts in Gott Geschehenes zugrunde geht. So waren z. B. die Apostel und überhaupt die ersten Christen durch ihren Glauben an den Himmel schon im Leben gänzlich über die Erde hinweggesetzt, und die Angelegenheiten derselben, der Staat, irdisches Vaterland und Nation, waren von ihnen so gänzlich aufgegeben, dass sie dieselben auch sogar ihrer Beachtung nicht mehr würdigten. So möglich dieses nun auch ist, und so leicht auch dem Glauben, und so freudig auch man sich darein ergeben muss, wenn es einmal unabänderlich der Wille Gottes ist, dass wir kein irdisches Vaterland mehr haben und hienieden Ausgestoßne und Knechte seien, so ist dies dennoch nicht der natürliche Zustand und die Regel des Weltganges, sondern es ist eine seltne Ausnahme; auch ist es ein sehr verkehrter Gebrauch der Religion, der unter andern auch sehr häufig vom Christentume gemacht worden, wenn dieselbe gleich von vornherein und ohne Rücksicht auf die vorhandenen Umstände darauf ausgeht, diese Zurückziehung von den Angelegenheiten des Staates und der Nation als wahre religiöse Gesinnung zu empfehlen. In einer solchen Lage, wenn sie wahr und wirklich ist und nicht etwa bloß durch reli­ giöse Schwärmerei herbeigeführt, verliert das zeitliche Leben alle Selbstbeständigkeit, und es wird lediglich zu einem Vorhofe des wahren 110  Ebd.

S. 198.



5. Nationalismus und Religion81

Lebens und zu einer schweren Prüfung, die man bloß aus Gehorsam und Ergebung in den Willen Gottes erträgt, und dann ist es wahr, dass, wie es von vielen vorgestellt worden, unsterbliche Geister nur zu ihrer Strafe in irdische Leiber, als in Gefängnisse, eingetaucht sind. In der regelmäßigen Ordnung der Dinge hingegen soll das irdische Leben selber wahrhaftig Leben sein, dessen man sich erfreuen und das man, freilich in Erwartung eines höhern, dankbar genießen könne; und obwohl es wahr ist, dass die Religion auch der Trost ist des widerrechtlich zerdrückten Sklaven, so ist dennoch vor allen Dingen dies religiöser Sinn, dass man sich gegen die Sklaverei stemme und, so man es verhindern kann, die Religion nicht bis zum bloßen Troste der Gefangenen herabsinken lasse. Dem Tyrannen steht es wohl an, religiöse Ergebung zu predigen und die, denen er auf Erden kein Plätzchen verstatten will, an den Himmel zu verweisen; wir andern müssen weniger eilen, diese von ihm empfohlne Ansicht der Religion uns anzueignen und, falls wir können, verhindern, dass man die Erde zur Hölle mache, um eine desto größere Sehnsucht nach dem Himmel zu erregen. Der natürliche, nur im wahren Falle der Not aufzugebende Trieb des Menschen ist der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk.“111 Dieser Text ist frei von jenem nationalistischen Absolutheitsanspruch, der sich äußert in Formeln wie ‚Du bist nichts, dein Volks ist alles‘. ‚Du bist nichts‘ – das könnte Fichte durchaus gesagt haben, wenn wir dieses Du beschränken auf die empirische Ebene, auf die – paulinisch gesprochen – Sarx-Existenz des Menschen, die ihren gedanklichen Ausdruck findet im Ich-Bewusstsein; aber er würde fortfahren: ‚denn Gott ist alles‘, und eine Gleichsetzung von Gott und Volk hätte er nicht einmal einer ironischen Bemerkung gewürdigt. Bei Fichte bleibt das Individuum immer unmittelbar zu Gott – Mittelspersonen oder Zwischeninstanzen gibt es für ihn nicht: weder Papst noch Führer, weder Kirche noch Nation. Die religiöse Verankerung setzt hinweg, wie Fichte sagt, über „Staat, irdisches Vaterland und Nation“; Religion ist wichtiger als Politik und im Notfall die einzige Zuflucht. Die Nation hat also keine heilsnotwendige Funktion. Welche Bedeutung aber hat sie dann? Gibt es Ansätze im Text, die auf einen eigenständigen Wert der Nation hindeuten, die sich zum Nationalismus hin ausbauen lassen? In damaliger Zeit wird sicher als solche Andeutung verstanden worden sein der Satz: 111  Ebd.

S.  198 / 99.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

„Obwohl es wahr ist, dass die Religion auch der Trost ist des widerrechtlich zerdrückten Sklaven, so ist dennoch vor allen Dingen dies religiöser Sinn, dass man sich gegen die Sklaverei stemme.“ Freilich gibt es Abhängigkeiten, die nicht als Sklaverei empfunden werden (das gab es auch damals, besonders in den Rheinbundstaaten); in Preußen aber war das Bewusstsein der Unfreiheit sehr lebendig. Allerdings war Freiheit für Fichte zunächst der Sieg über sich selbst, über Egoismus und Ehrgeiz, über die Sarx-Existenz. Diese innere Freiheit war für ihn die Voraussetzung für den Sinn der äußeren Freiheit. Äußere Freiheit ohne innere Freiheit wird immer als Unbeherrschtheit und Zügellosigkeit missbraucht. Fichte behält diesen Ansatz insofern bei, als er die deutsche Nation nicht zum Aufstand gegen die Fremdherrschaft aufruft, sondern ein Erziehungsprogramm zur inneren Freiheit entwirft. Dass sich ihm die äußere Freiheit als Wertvorstellung verselbstständigt, ist Ausdruck seines Nationalismus, nicht seines religiösen Sinnes. Religiöser Sinn, wie Fichte ja selbst in unserem Text gesagt hatte, „vermag durchaus hinwegzuversetzen über alle Zeit und über das ganze gegenwärtige und sinnliche Leben“; er vermag sich zu bewähren und zu behaupten unabhängig von der Form der äußeren Lebensumstände. Aber Fichte kritisiert auch bereits sehr deutlich jenen Religionsmissbrauch, der später von Marx auf das Schlagwort ‚Opium für das Volk‘ gebracht worden ist: die Sehnsucht nach dem Himmel auszubeuten als Instrument der Herrschaftssicherung und als Alibi zu benutzen dafür, dass man die Erde zur Hölle verkommen lässt. Deshalb sei es grundverkehrt, die „Zurückziehung von den Angelegenheiten des Staates und der Nation als wahre religiöse Gesinnung zu empfehlen“. Wir sind also verpflichtet, politisches Engagement mit unserer religiösen Überzeugung in Einklang zu bringen – unter dem Motto des Kirchentages von 1985: „Des Herren ist die Erde“ (griechisch: tu kyriu he ge). Aber des Herren ist nicht der Klassenkampf und nicht die Profitmaximierung, nicht die westliche Demokratie und auch nicht der Nationalismus – d. h. ich darf nicht für eine bestimmte politische Richtung die Gleichsetzung vornehmen mit dem Willen Gottes. In der Religion bin ich unmittelbar zu Gott, nicht als Pazifist und nicht als Panzerfahrer, nicht als Arzt im Urwald und nicht als Öko-Bauer in Ostfriesland, sondern unmittelbar, ohne persona, ohne Maske. Diese unmittelbare Bindung, auch Pistis (griechisch) oder Gottvertrauen genannt, lässt mich darauf hoffen, auf Anforderungen der Umwelt sachgemäß und wesentlich reagieren zu können.



5. Nationalismus und Religion83

Warum nun war der Nationalismus für Fichte wesensgemäß und sachlich geboten? Warum glaubte er gerade hiermit den Trieb des Menschen befriedigen zu können (Zitat am Schluss des Textes), „den Himmel schon auf dieser Erde zu finden und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk“? Auch mit dieser letzten Formulierung erweist sich Fichte als vom Nationalismus ergriffen – Nationalismus jetzt nicht verstanden als eine bestimmte politische Richtung, sondern abstrahiert als eine Kraft, die von außen auf den Menschen einwirkt und dort Inter-esse (inneres Beteiligtsein) weckt. Denn der religiöse Sinn als solcher weiß sich in jedem Augenblick als ewig, er bedarf keiner Objektivation, strebt nicht nach einer Vergegenständlichung, noch dazu mit Anspruch auf unbegrenzte Dauer. Ob der religiöse Sinn ins Kloster zieht oder auf die Barrikaden, das ist mehr eine Frage des Temperaments als der Religion. Darum sollte man Gott nicht bemühen, wenn man für ‚Führer, Volk und Vaterland‘ streiten will, aber auch nicht, wenn man gegen Weltraumrüstung demonstriert. Das Hoffen auf eine bestimmte Wirkung, die Berechnung eines konkreten Erfolgs – das war von Fichte zunächst als Quelle der Fremdbestimmung erkannt und als Gefahr für die Reinheit des sittlichen Antriebs durchschaut worden. Erst als ihm die Nation zu einer Form von transzendenter Offenbarung gerät – anders gesagt: erst als er die Nation als einen unabhängig von ihm selbst vorhandenen Wert auffasst, sieht er sich genötigt, Wirksamkeit nicht nur vom Antrieb, sondern auch vom Ergebnis her in den Blick zu nehmen. Dem religiösen Sinn reicht das Wollen, das Bewusstsein der guten Absicht; und das Schielen nach Erfolg wird ganz mit Recht als erbärmliche ‚Fleischeslust‘ verachtet. Die Transzendenzerfahrung der Vaterlandsliebe dagegen sucht auch die Wirkung, da unser Einsatz gefordert wird für etwas, das außerhalb und unabhängig von uns selbst wertvoll ist und gefördert werden soll. Nun ist der Nachweis einer Transzendenzerfahrung logisch nicht zu leisten. Vaterlandsliebe, um bei dem Beispiel zu bleiben, ist nur für den ein objektiver Wert, der ihn so empfindet. Verfolgen wir am Text weiter, wie Fichte seinen Einsatz für die Nation zunächst rational aus immanentem Bedürfnis abzuleiten versucht: Der sogenannte „Trieb des Menschen …, ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk“, sucht nach einer Institution, einer „Ordnung der Dinge“, wie Fichte sagt, die in der Lage sei, „Ewiges in sich aufzunehmen“: „Eine solche Ordnung aber ist die – freilich in keinem Begriffe zu erfassende, aber dennoch wahrhaft vorhandene – besondere geistige

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

Natur der menschlichen Umgebung, aus welcher er selbst mit allem seinen Denken und Tun und mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, von welchem er abstammt und unter welchem er gebildet wurde und zu dem, was er jetzt ist, heraufwuchs. Denn so unbezweifelt es auch wahr ist, dass sein Werk, wenn er mit Recht Anspruch macht auf dessen Ewigkeit, keineswegs der bloße Erfolg des geistigen Naturgesetzes seiner Nation ist und mit diesem Erfolge rein aufgeht, sondern dass es ein Mehreres ist denn das und insofern unmittelbar ausströmt aus dem ursprünglichen und göttlichen Leben, so ist es dennoch ebenso wahr, dass jenes Mehrere sogleich bei seiner ersten Gestaltung zu einer sichtbaren Erscheinung unter jenes besondere geistige Naturgesetz sich gefügt und nur nach demselben sich einen sinnlichen Ausdruck gebildet hat. Unter dasselbe Naturgesetz nun werden, solange dieses Volk besteht, auch alle ferneren Offenbarungen des Göttlichen in demselben eintreten und in ihm sich gestalten. Dadurch aber, dass auch er da war und so wirkte, ist selbst dieses Gesetz weiter bestimmt, und seine Wirksamkeit ist ein stehender Bestandteil desselben geworden. Auch hiernach wird alles Folgende sich fügen und an dasselbe sich anschließen müssen. Und so ist er denn sicher, dass die durch ihn errungene Ausbildung bleibt in seinem Volke, solange dieses selbst bleibt, und fortdauernder Bestimmungsgrund wird aller ferneren Entwicklung desselben.“112 Das Individuum bleibt also, auch in den ‚Reden an die deutsche Nation‘, unmittelbar zu Gott, da sein Werk „unmittelbar ausströmt aus dem ursprünglichen und göttlichen Leben“; seine Wirksamkeit jedoch steht unter dem sogenannten ‚Naturgesetz der Nation‘. Und so wird auch das Göttliche im Menschen, wenn es Gestalt gewinnt, in seiner Erscheinungsform geprägt sein von diesem Naturgesetz, das von Fichte auch Nationalcharakter genannt wird. Von diesem lassen sich zwar einzelne Merkmale nennen; aber „es kann niemals von irgendeinem, der ja selbst immerfort unter desselben, ihm unbewussten Einflusse bleibt, ganz mit dem Begriffe durchdrungen werden“113. Auch hier kommt die neue Erfahrung zum Vorschein, die Fichte dem Nationalismus verdankt: Er akzeptiert die Wirksamkeit von Einflüssen unterhalb der Bewusstseinsebene. Dabei erwähnt er das Volk als die „besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, aus welcher er selbst mit allem seinen Denken und Tun … hervorgegangen ist“, mit einer Selbstverständlichkeit, als ob 112  I

10, S.  200 / 01. S. 201.

113  Ebd.



5. Nationalismus und Religion85

von dem Verfechter der idealistischen Transzendentalphilosophie gar nichts anderes zu erwarten wäre, obwohl dieser doch sonst die Welt „als seinen erschaffenen Besitz betrachtete“, wie Goethe es ausgedrückt hat (s. o. S. 35), also unsere Vor-stellung von Wirklichkeit als rein subjektive Gedankenkonstruktion erklärt hat. Aber es zeigt sich auch hier Fichtes ungemein rasche Auffassungsgabe und geistige Flexibilität, die ihn befähigte, aus seiner jeweiligen Lebenssituation heraus neue Einsichten zu gewinnen und zu formulieren. Er fährt fort: „Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigentümlichkeit desselben nach jenem verborgenen Gesetze.“114 So wenig aber wie der Mensch als Lebewesen, so wenig ist ihm auch die Nation an sich wertvoll. Beide, Mensch und Nation, erhalten Wert nur als neue Schöpfung, als Werkstoff des Göttlichen. Scharf verwahrt sich Fichte dagegen, dass sein Streben nach Verewigung als Geltungsbedürfnis oder Ruhmsucht ausgelegt wird: „Durst nach Nachruhm ist eine verächtliche Eitelkeit.“115 Ebenso ist ihm der Nationalstolz ein Gräuel: „Das Band der Furcht und der Hoffnung abgerechnet, beruht der Zusammenhang desjenigen Teils des Auslandes, mit dem wir dermalen in Berührung gekommen, auf den Antrieben der Ehre und des Nationalruhms;“ – ein Seitenhieb auf die französische Besatzung, die einerseits ‚durch Furcht und Hoffnung‘, also durch militärischen Gehorsam und die Aussicht auf Bereicherung, zusammengehalten wird, andererseits durch ‚Ehre und Nationalruhm‘ – „aber die deutsche Klarheit [= also Fichte selbst] hat vorlängst bis zur unerschütterlichen Überzeugung eingesehen, dass dieses [= nämlich Ehre und Nationalruhm] leere Trugbilder sind, und dass keine Wunde und keine Verstümmelung des einzelnen durch den Ruhm der ganzen Nation geheilt wird; und wir dürften wohl, so [= sofern] nicht eine höhere Ansicht des Lebens an uns gebracht wird, gefährliche Prediger dieser sehr begreiflichen und manchen Reiz bei sich führenden Lehre werden.“116 Das Streben nach Nationalruhm ist genauso eitel, wie das Streben nach persönlichem Ruhm, nur noch gefährlicher; denn es ist zumeist nur die Flucht vor der eigenen Verantwortung: Die inneren Konflikte werden 114  Ebd. 115  Ebd. 116  Ebd.

S. 200. S. 115.

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nach außen projiziert, und in der Wahl der Mittel glaubt man sich Skrupellosigkeit leisten zu dürfen, da man sich einreden kann, selbstlos zu handeln. Fichte hat die Gefahren dieser verführerischen „manchen Reiz bei sich führenden Lehre“ durchschaut; sie können nur vermieden werden durch eine „höhere Ansicht des Lebens“. Nur eine solche höhere Ansicht verleiht den einzelnen Menschen und damit auch der Nation ihren Wert. Diese Ansicht aber ist kein Naturprodukt, zu ihr muss erst noch erzogen werden. Ob nun das bisher Gesagte „auch andere ergreifen und sie zur Tätigkeit aufregen werde, hängt zu allererst davon ab, ob es so etwas, wie wir deutsche Eigentümlichkeit und deutsche Vaterlandsliebe geschildert haben, überhaupt gebe und ob diese der Erhaltung und des Strebens dafür wert sei oder nicht. Dass der – auswärtige oder einheimische – Ausländer diese Frage mit Nein beantwortet, versteht sich; aber dieser ist auch nicht mit zur Beratschlagung berufen. Übrigens ist hierbei anzumerken, dass die Entscheidung über diese Frage keineswegs auf einer Beweisführung durch Begriffe beruht, welche hierin zwar klar machen, keineswegs aber über wirkliches Dasein oder Wert Auskunft zu geben vermögen, sondern dass die letztern lediglich durch eines jeglichen unmittelbare Erfahrung an ihm selber bewährt werden können. In einem solchen Falle mögen Millionen sagen: es sei nicht, so kann dadurch niemals mehr gesagt sein, denn dass es nur in ihnen nicht sei, keineswegs, dass es überhaupt nicht sei, und wenn ein einziger gegen diese Millionen auftritt und versichert, dass es sei, so behält er gegen sie alle recht. Nichts verhindert, dass, da ich nun gerade rede, ich in dem angegebenen Falle dieser einzige sei, der da versichert, dass er aus unmittelbarer Erfahrung an sich selbst wisse, dass es so etwas wie deutsche Vaterlandsliebe gebe, dass er den unendlichen Wert des Gegenstandes derselben kenne, dass diese Liebe allein ihn getrieben habe, auf jede Gefahr zu sagen, was er gesagt hat und noch sagen wird, indem uns dermalen gar nichts übrig geblieben ist, denn das Sagen, und sogar dieses auf alle Weise gehemmt und verkümmert wird. Wer dasselbe in sich fühlt, der wird überzeugt werden; wer es nicht fühlt, kann nicht überzeugt werden, denn allein auf jene Voraussetzung stützt sich mein Beweis; an ihm habe ich meine Worte verloren, aber wer wollte nicht etwas so Geringfügiges, als Worte sind, auf das Spiel setzen?“117 117  Ebd.

S. 215.



5. Nationalismus und Religion87

Wertvorstellungen, wie hier am Beispiel der Vaterlandsliebe dargestellt, sind nicht das Produkt „einer Beweisführung durch Begriffe“, sie beruhen auf eigener „unmittelbarer Erfahrung“; damit unterliegen sie auch nicht einer Meinungsbildung durch Mehrheitsentscheidung: ‚ein einziger‘ mag Recht haben ‚gegen Millionen‘. Eine ‚Rettung der deutschen Nation‘ sei nicht von äußerer Befreiung zu erwarten, sondern müsse begründet werden mit einer inneren Neuorientierung, mit einer Erziehung, die den Einzelnen frei macht von der Vorstellung materieller Zwänge und sogenannter Naturnotwendigkeiten. Freiheit beginnt im Kopf. Geistige Unabhängigkeit, wenn sie denn im deutschen Volk durch allgemeine Erziehung weit genug verbreitet ist, führt zu jener Überlegenheit, der die Gewaltherrschaft letztlich nicht gewachsen ist. Die Deutschen sollten daher, so Fichtes dringende Empfehlung, die fremden Herrscher „nicht besiegen mit leiblichen Waffen; nur euer Geist soll sich ihnen gegenüber erheben und aufrecht stehen. Euch ist das größere Geschick zuteil geworden, überhaupt das Reich des Geistes und der Vernunft zu begründen und die rohe körperliche Gewalt insgesamt, als Beherrschendes der Welt, zu vernichten.“118 Ich habe Fichte ausführlich und weitgehend unkommentiert zu Wort kommen lassen, damit wir seine ‚Sicht der Dinge‘ besser nachvollziehen können in einem emotionsgeladenen Bereich, in dem wir allzu schnell ‚allergisch‘ auf bestimmte Begriffe reagieren und aus einer prinzipiellen Abwehrhaltung heraus mit Wertungen operieren, bevor wir uns überhaupt um ein Verständnis bemüht haben. Wir fragen kaum noch nach der Bedeutung seiner-zeit, sondern gleich nach den Gründen einer Fehlentwicklung. Aber auch unabhängig von unserer aktuellen Empfindlichkeit dürfte deutlich geworden sein, dass zwischen den patriotischen Äußerungen Fichtes und seiner subjektivistisch geprägten Philosophie ein Spannungsverhältnis besteht. Besonders im Rahmen dieser Vorträge, in denen häufig auf seine religiösen Motive hingewiesen wurde, ist nach dem Zusammenhang der Begriffe Religion, Vernunft und Nationalismus zu fragen. Wir sind es gewohnt, die Vernunft als etwas Modern-Positives und die Religion als eher Antiquiert-Zweifelhaftes zu betrachten, und da der Nationalismus uns – als den traumatisierten Erben des 20. Jahrhunderts – extrem ‚unvernünftig‘ erscheint, drängt sich die Frage auf, ob letzterer 118  Ebd.

S. 296.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

nicht als ein irrationales Aufbegehren der Religion gegen die Dominanz der Vernunft aufzufassen sei. Auch die Situation Fichtes in den Jahren 1806–08 scheint dieser Deutung Nahrung zu geben: Just in dem Moment, als seine religiöse Erfahrung ihn an der Selbstständigkeit des Ich und an der Verlässlichkeit seiner Verstandesprodukte zweifeln ließ, wurde er unter dem Druck der napoleonischen Eroberungen von dem aufbrechenden Nationalbewusstsein erfasst. Wenn die Einsicht in die Substanzlosigkeit des Ich unzulässig erweitert wird zu der Formel: ‚Du bist nichts‘, dann ist Raum für gefährliche Entäußerung und Fremdbestimmung, wie z. B. ‚Dein Volk ist alles‘, oder ‚deine Rasse‘, die ‚soziale Klasse‘, die ‚Partei‘ oder ‚deine Glaubensgemeinschaft‘. In einer Phase erwartungsvoller, richtungsloser Angespanntheit, als sein Glaube weder Ziel noch feste Formen hatte (die christliche Dogmatik ist ihm nie ein Halt gewesen), ergriff ihn die Begeisterung fürs Vaterland. Auch sein bevorzugter Begriff für dieses Phänomen, die ‚Vaterlandsliebe‘, könnte auf religiösen Ursprung hindeuten, da der Begriff der ‚Liebe‘ in seiner gerade erst abgeschlossenen „Religionslehre“ von 1806 (man könnte auch sagen: in seinem Glaubensbekenntnis) von zentraler Bedeutung ist. Wie aber steht es in der Praxis mit inhaltlicher Konkretisierung: Liebe – wozu? „Etwas objektives eben muss sein“, so lautet ein Stoßseufzer von ihm in dieser Zeit119. Nimmt man die genannten Faktoren zusammen: seine religiöse Gestimmtheit im Inneren und den Verlust von Freiheit und bürgerlicher Existenz durch Unterdrückung von außen, so würde es nicht verwundern, wenn Fichte zum Anhänger und Theoretiker einer metaphysischpolitischen Heilslehre geworden wäre. Und es gibt ja in seinen „Reden an die deutsche Nation“ durchaus Ansätze für die Vermutung, dass ihm der Nationalismus als eine Art göttlicher Offenbarung erschienen sei, als Möglichkeit, Gottes Willen zu erkennen und zu erfüllen, und dass er die Hingabe an das größere Ganze, entsprechend seinem Transzendenzbedürfnis, gepredigt habe als Verwirklichung göttlichen Lebens: „Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat.“120 119  Fragment 120  I

von 1807, II 10, S. 292. 10, S. 201.



5. Nationalismus und Religion89

Aber Fichte erweist sich auch in diesem Zusammenhang nicht als der systematische Denker, als der er selbst erscheinen möchte: Der Wunsch nach dem Fortbestehen oder der fortdauernden Wirkung der eigenen Leistung über den persönlichen Tod hinaus muss zwar nicht dem Geltungsbedürfnis oder der Eitelkeit entspringen – „Durst nach Nachruhm ist eine verächtliche Eitelkeit“121 –, sondern er kann, wie bei Fichte, durchaus religiöser Motivation entstammen, sofern man glaubhaft machen kann, ‚zur höheren Ehre Gottes‘ zu wirken; denn den Manifesta­ tionen Gottes ist natürlich unbegrenzte Dauer zu wünschen. Doch sind diese nicht auf bestimmte Nationen angewiesen, wie sich gerade mit der von Fichte (in derselben Vorlesung!) angeführten Geschichte der christlichen Religion bestens belegen lässt: „So waren z. B. die Apostel und überhaupt die ersten Christen durch ihren Glauben an den Himmel schon im Leben gänzlich über die Erde hinweggesetzt, und die Angelegenheiten derselben, der Staat, irdisches Vaterland und Nation waren von ihnen so gänzlich aufgegeben, dass sie dieselben auch sogar ihrer Beachtung nicht mehr würdigten.“122 Es gibt kaum ein besseres Beispiel dafür, wie wenig die dauerhafte Bedeutung individueller Leistung auf „irdisches Vaterland und Nation“ angewiesen ist. Ebenso wie die persönliche Ruhmsucht wird auch die Propagierung des ‚Nationalruhms‘ als ein ‚leeres Trugbild‘ abgelehnt, dessen verführerische Kraft er durchschaut: „Wir dürften wohl, so[fern] nicht eine höhere Ansicht des Lebens an uns gebracht wird, gefährliche Prediger dieser sehr begreiflichen und manchen Reiz bei sich führenden Lehre werden.“123 Der Verweis auf eine „höhere Ansicht des Lebens“ erteilt einer religiösen Fundierung des Nationalismus nun doch eine deutliche Absage. Zweifellos gibt es Gemeinsamkeiten, die eine Grenzziehung zwischen Religion und Nationalismus oft erschweren: äußere Faktoren der Identifikation und des Zusammenhalts wie z. B. Bekenntnisse, Symbole, Rituale, oder innere Kriterien wie Begeisterung, Hingabe, Selbstverleugnung und Offenbarungsglauben. Auch die Kritik am Ich-Bewusstsein gehört dazu; aber sie darf, gerade auch bei Fichte, nicht dazu führen, dass der Mensch seine Individualität preisgibt an eine übergeordnete Instanz, wie z. B. die Nation. Das Individuum bleibt auch im Bewusstsein seiner Zugehörigkeit 121  Ebd.

S. 200. S. 198. 123  Ebd. S. 115. 122  Ebd.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

zu einer menschlichen Ordnung ‚unmittelbar zu Gott‘, Werkzeug der ‚göttlichen Offenbarung‘ und Träger einer ‚höheren Ansicht des Lebens‘, die der Mensch notfalls auch gegenüber dem Absolutheitsanspruch jeglicher Institution zur Geltung bringen muss. (Ich erinnere an den ungebrochenen Individualismus in seiner Aussage: „Wenn ein Einzelner gegen diese Millionen auftritt, … so behält er gegen sie alle Recht“.) In dem bereits gelesenen Fragment über Patriotismus hat Fichte eine klare Grenze gezogen zwischen Politik (‚bürgerliches Leben‘) und Religion (‚geistiges Leben‘) mit seiner Ansicht, „dass es gar keinen Patriotismus als abgesonderten und für sich bestehenden Akt und Zustand gebe, ebenso wie es auch keine Religiosität als abgesonderten und für sich bestehenden Zustand gibt, sondern dass der Patriotismus nur das bleibende Element und die Grundform all unseres bürgerlichen Lebens sein solle, ebenso wie die Religiosität das bleibende Element unseres höheren geistigen Lebens überhaupt“. Es sind nicht Religion und Vernunft, die miteinander konkurrieren, sondern Religion (= Individualismus) und Nationalismus (= Kollektivismus). Und die Vernunft ist weder streitende Partei, noch objektiver Richter, sondern eine Waffe, deren sich beide Seiten bedienen. Entgegen der üblichen Vermutung, dass die Religion wider die Vernunft streitet, stellen wir die Frage, ob nicht der Nationalismus die Vernunft als Waffe gegen die Religion einsetzt. Wenn wir Nationalismus definieren als übersteigerten Patriotismus – gekennzeichnet durch die vergleichende Abwertung anderer Nationen –, so zeigen die beiden deutlichsten Beispiele von dieser Art Überheblichkeit bei Fichte tatsächlich den Einsatz der Vernunft gegen die Religion: Das erste Beispiel hatten wir gefunden in dem Dialog „der Patriotismus und sein Gegenteil“ von 1806 / 07; die Abfolge der scheinbar logisch aufgebauten Gedankenschritte hier noch einmal in Kurzfassung: In dieser Zeit des Verfalls müsse die nächste Aufgabe der Menschheit eine geistige Neuorientierung sein; diese sei vorgelegt worden in einer philosophischen Grundlegung aller Wissenschaften; diese Leistung sei in Deutschland vollbracht worden, also sei der deutsche Patriotismus die Voraussetzung für den geistigen Fortschritt der Menschheit, während der Patriotismus anderer Nationen, die zu einer solchen Einsicht in die Notwendigkeiten der Zeit nicht gekommen seien, „selbstisch, engherzig und feindselig gegen das übrige Menschengeschlecht ausfallen muss“124. 124  II

9, S. 404–05.



5. Nationalismus und Religion91

Das zweite Beispiel ist ganz ähnlich aufgebaut; es findet sich in den „Reden an die deutsche Nation“ von 1808 und mündet in die Schlussfolgerung, „dass nur der Deutsche … wahrhaft ein Volk hat … und dass nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen [!] Liebe zu seiner Nation fähig ist“125. Dass ein Denker von der Qualität Fichtes zu solchem Unsinn ‚fähig‘ ist, zeigt doch wohl, wie sehr die „verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe“126 ihn ergriffen hat – ihn, der viele Jahre isoliert in der Studierstube an geistiger Grundlagenforschung gearbeitet hat –, und wie stark sein Denken in den Sog der neuartigen Transzendenzerfahrung geraten war. Dass hier ein Missbrauch der Vernunft vorliegt, dürfte klar geworden sein – aber wieso soll das ein ‚Anschlag auf die Religion‘ gewesen sein? Religiöse Begeisterung und nationaler Enthusiasmus haben zweifellos Gemeinsamkeiten, besonders wenn man sie als Massenphänomen in einem kollektiven Rauschzustand erlebt. Der isolierenden Reflexion, der Vereinsamung des Nachdenkens, dem emotionalen Ungenügen der Vereinzelung enthoben zu werden hat etwas Befreiendes; und das damit verbundene Glücksgefühl einer solchen Transzendenzerfahrung, in der die Grenzen des Ich zeitweilig überwunden werden, lässt vermuten, dass es sich um die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses handelt. Um plausibel zu machen, dass der Nationalismus trotzdem nicht als ein religiöses Phänomen zu betrachten ist, bedarf es einer begrifflichen Abgrenzung: Für die ‚Religion‘ gibt es, je nach dem Zusammenhang, unterschiedliche Deutungen und Verwendungsweisen. Sie wird uns im Folgenden nicht als soziales oder gar biologisches Phänomen interessieren, sondern im Sinne Fichtes als persönliche Überzeugung, als Ausdruck jenes individuellen Selbstbewusstseins und Glaubens, der nach Fichte zur Grundausstattung jedes Menschen gehört. In diesem Sinne ist Religion kein politisches Kalkül, kein Mehrheitsbeschluss und keine staatliche Verordnung. Die Formel ‚cuius regio, eius religio‘ (= wessen Herrschaft, dessen Religion), mit der am Ende des 16. Jahrhunderts die Religion der ‚Landeskinder‘ durch die Obrigkeit ‚von Gottes Gnaden‘ festgelegt 125  I

10, S. 198. S. 205.

126  Ebd.

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

wurde, ist das Gegenteil dessen, was Luther mit seinem reformatorischen Ansatz erreichen wollte: die Respektierung der Glaubensfreiheit als Ausdruck der persönlichen Eigenverantwortlichkeit. Der wichtigste Glaubenssatz von Religion – gegen alle ‚vernünftige‘ Auswertung unserer Erfahrungen formuliert – ist der Gleichheitsgrundsatz (jedenfalls im Christentum), wie er zum Ausdruck kommt in dem Bekenntnis: Jeder Mensch ist unmittelbar zu Gott. Diese harmlos klingende Formulierung, die in der Außenbetrachtung die Würde jedes Menschen begründet, erweist sich in der Innenbetrachtung als äußerst anspruchsvoll, da sie dem Menschen die volle Verantwortung für seinen Glauben und letztlich auch für sein Verhalten aufbürdet: Die Zuflucht von Tradition und Autorität wird ihm entzogen; kein Gruppenzwang, keine gesellschaftliche Konvention oder gar Mehrheitsmeinung befreit ihn von dem Druck der Selbstbestimmung. Die ‚Stimme des Gewissens‘ hat ihm als einzige Richtschnur zu gelten: „Es ist nichts wahrhaft Reelles, Dauerndes, Unvergängliches an mir als diese beiden Stücke: die Stimme meines Gewissens und mein freier Gehorsam“, heißt es bei Fichte127. Die eigenständige Persönlichkeit, zu der Fichte uns erziehen will, die letztlich nur der Stimme des Gewissens traut und darin sich als ‚unmittelbar zu Gott‘ erweist, sie allein bietet die Gewähr, nicht fremdbestimmt, nicht manipuliert zu werden und nicht im Strudel kollektiver Rauschzustände unterzugehen. Die Vernunft bietet hier (trotz vieler gegenteiliger Behauptungen) keinen Schutz. Auch für den Mord an Juden, auch für die Atombomben auf Japan gibt es ‚vernünftige‘ Begründungen. Die Vernunft ist, wie Luther es mal wieder drastisch sagt, „eine Hure.“128 Sie lässt sich von allen für alles missbrauchen. Bei Fichte finden sich, wie gezeigt, zeitbedingte Ansätze für diesen Vernunftmissbrauch; aber er war zu tief in seiner religiösen Überzeugung verankert, und seine Individualität war zu ausgeprägt, als dass er insgesamt zum Theoretiker einer kollektivistischen Ideologie hätte werden können. Wenn wir abschließend noch einmal fragen, wie es dazu kommt, dass die Vaterlandsliebe entartet zu einer Abwertung anderer Nationen, so neigt die heutige Wertschätzung der Rationalität zu der Deutung, dass 127  „Die

Bestimmung des Menschen“, I 6, S. 293. tolle blinde Hure, die Vernunft“ (WA 9, S. 559); „die Vernunft, des Teufels Hure“ (WA 18, S. 164). 128  „Die



5. Nationalismus und Religion93

die Kontrollfunktion der Vernunft vernachlässigt wurde. Das klingt zwar vernünftig, ist aber falsch. Die Wertmaßstäbe, denen zufolge wir den Nationalismus ablehnen, verdanken wir nicht der Vernunft, sondern der Religion. Nicht also aus Mangel an Vernunft entsteht Nationalismus – wo auch immer wir diesem Phänomen begegnen, finden wir die Vernunft am Werke, die ‚plausibelsten‘ Begründungen zu liefern –, sondern aus Mangel an persönlicher Unabhängigkeit, an Glaubenskraft, an Religion. Dadurch nimmt der Nationalismus selbst religiöse Formen an und wird zu einer heteronomen Pseudo- oder Ersatzreligion. Es fehlt die unabhängige Instanz mit anerkannten Wertungskriterien, die den Nationalismus zurechtstutzen könnte auf Vaterlandsliebe oder Patriotismus. Die institutionalisierte Form der Religion, das Christentum als ‚staatstragende‘, Herrschaft legitimierende Machtstruktur (selbst Napoleon brauchte für seine Krönung noch den Papst) hatte als moralische Instanz und normative Kraft versagt. Die unverzichtbare Kontrollfunktion gegenüber allen ideologischen und kollektivistischen Versuchen der Vereinnahmung findet sich, wie Fichte sagt, in der „höheren Ansicht des Lebens“. Leitbegriff dieser höheren oder religiösen Ansicht ist die Liebe. Diese wiederum ist vom Gleichheitsgrundsatz nicht zu trennen. Das beste Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie Jesus von Nazareth im Umgang mit den Geächteten der Gesellschaft den Begriff der Liebe mit Leben erfüllt hat. Liebe und Überheblichkeit schließen sich aus, auf personaler wie auf nationaler Ebene. Fichte hat nicht mehr die Kraft und die Zeit gefunden, seine Erfahrungen mit dem Nationalismus zu reflektieren und für eine Überarbeitung seines philosophischen Systems auszuwerten. Die folgenden Monate in den Jahren 1808 und 1809 sind überschattet von einer Krankheit, die nicht präzise beschrieben ist. Für seine empfindsame Frau scheint die psychische Belastung des Winters 1807 auf 1808 zu stark gewesen zu sein; aber auch Fichte selbst hat sich offenbar überanstrengt: es wird berichtet von rheumatischen Beschwerden, Lähmungserscheinungen und vorübergehender Blindheit. Im Jahre 1810 wird in Berlin die Universität eröffnet – eine Neugründung, die vor allem durch den Verlust von Halle, bis 1807 die wichtigste preußische Universität, notwendig geworden war. Fichte ist hinreichend wiederhergestellt, um das Amt eines Dekans, des leitenden Professors, an der philosophischen Fakultät übernehmen zu können. 1811 wird er zum Rektor gewählt, doch war er für dieses schwierige Amt mangels Nachgiebigkeit, wie er selbst es sah, nicht der geeignete Mann. Mit seinen Kollegen zerstritt er sich in Fragen der

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I. Einführung: ‚Fichte für Anfänger‘

studentischen Moral und sah sich 1812 zum Rücktritt genötigt, als er mit seinem Eintreten für die studentischen Rechte eines gewissen Brogi aus Posen im akademischen Senat keine Mehrheit fand. Man kann es Ironie des Schicksals nennen, man kann darin aber auch seine Prinzipientreue und seine Fähigkeit zur Selbstverleugnung bewundern, dass Fichte, der sich in einer Frühschrift als Antisemit und später dann als Nationalist geäußert hat, ausgerechnet durch seinen Einsatz für einen polnischen Juden zu Fall gekommen ist. 1812 ist zugleich das Jahr der Katastrophe Napoleons in Russland. Preußen erklärt im März 1813 Frankreich den Krieg. Fichte meldet sich zur Heimatverteidigung, dem sogenannten Landsturm. Seine Frau arbeitet freiwillig als Krankenschwester in einem Militärlazarett. Dort wird sie von einer schweren Krankheit befallen, an der sich ihr Mann ansteckt. Johanna kann gerettet werden, Fichte aber stirbt im Januar 1814. Den Sieg über die Franzosen im Oktober 1813 hat er noch miterlebt. In der Biografie von Jacobs heißt es dazu: „Fichte wurde mit 51 Jahren aus dem Leben gerissen. Vollendung war ihm nicht beschieden. Niemand aber weiß, wovor ihn der Tod bewahrt hat. Die nach 1815 einsetzende Restauration wäre nicht der Boden für eine Philosophie der Freiheit gewesen.“ (Wilhelm G. Jacobs,  S. 129)

II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘ 1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins (Fichtes ‚Mangel an Vollendung‘?) „Vollendung war ihm nicht beschieden.“ Dieses Zitat vom Ende des ersten Teils klingt einleuchtend, zumal Fichte selbst gesagt hat, er habe z. B. 1806 unmittelbar vor dem Abschluss seines Systems gestanden, sei dann aber durch den Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Frankreich an der Vollendung gehindert worden1. Viele Autoren haben unkritisch Fichtes Selbsteinschätzung übernommen und das Unfertige seines Systems mit Bedauern auf die schwierigen Lebensumstände geschoben und auf den allzu frühen Tod. Was aber bedeutet ‚Vollendung‘ eigentlich, oder was hätte sie im Falle Fichtes bedeuten können? Zu Beantwortung dieser Fragen sei auf drei Schriften eingegangen, die aus der aufregendsten und kreativsten Phase seines Lebens stammen, aus den Jahren 1806 und 1807: a) Notizen zur weiteren Ausarbeitung seiner ‚Wissenschaftslehre‘ (WL), die sog. „Nebenbemerkungen“ aus dem Jahr 1807, b) ein Rechenschaftsbericht über den bisherigen Stand der WL von 1806 / 07 und c) die „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806. a) Die „Nebenbemerkungen“ zur Wissenschaftslehre (WL) Die „Nebenbemerkungen“ sind keine ‚Schrift‘ im üblichen Sinne, sondern eine Sammlung lose aneinandergereihter Notizen für eine Überarbeitung der WL2. Sie stammen aus seiner Zeit in Königsberg, wohin Fichte dem preußischen Königshof und der Regierung gefolgt war auf der Flucht vor den französischen Truppen. Zu dem chaotischen Charakter dieser schwierigen Quelle dürfte die Katastrophe des preußischen 1  II 10, S. 28, Anm. 17; vgl. a. den Brief an Hardenberg v. 18.10.1806, III 5, S. 371. 2  1994 erstmals aus dem Nachlass herausgegeben: II 10, S. 219–278.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Staates und damit die erneute Gefährdung seiner eigenen bürgerlichen Existenz beigetragen haben; interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch Fichtes überraschende Selbsteinschätzung, dass er „kein Gedächtnis habe und dagegen eine Fantasie, die nur durch den niedergeschriebenen Buchstaben sich zügeln lässt“3. Die Behauptung eines Mangels an Gedächtnis ist sicher nicht als Koketterie zu verstehen, sondern als ein Hinweis darauf, dass er sich einer Aufgabe, einem philosophischen Problem aus seiner jeweiligen Lebenssituation heraus völlig neu stellt, ohne Rückgriff auf frühere Überlegungen – es finden sich in seinem Werk immer wieder völlig neue Ansätze auch zu Fragestellungen, die er früher schon bearbeitet hatte. Das macht die Schreibweise lebendig und spannend, weil man oft sein aktuelles Ringen um eine neue Einsicht und die beste Formulierung mitverfolgen kann, aber auch anstrengend und verwirrend, weil man sich nicht auf eine konstante Reihe klar definierter Begriffe verlassen kann. Und die Zügelung seiner Fantasie, die mit ihm durchzugehen droht, sieht dann so aus, dass er seine Einfälle, Assoziationen, Geistesblitze schnell ‚niederschreibt‘, um sie erst in einem späteren Durchgang, der in unserem Falle leider (oder auch: zum Glück) ausgeblieben ist, in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Der Text zeigt eindrucksvoll Fichtes Einfallsreichtum und gedankliche Experimentierfreudigkeit und bietet die seltene Möglichkeit, ihm beim Denken zuzusehen: „Es ist sehr schwer“, „es scheint, ich bin der Sache ganz nahe“ (S. 249). „Halt: folgendes ist plötzlicher, aber gewiss durchgreifender Einfall“ (S. 251). „Folgende Formel dürfte zum Ziele treffen und das, was ich dunkel fühle, aussprechen“ (S. 252). Und immer wieder die Abkürzung „W.D.E.W.“ für: „Was das Erste wäre“ – Kennzeichen der vielen neuen Anläufe. Auch findet sich in diesem tagebuchartigen Selbstgespräch verständlicherweise eher die Bereitschaft, Schwierigkeiten und Lücken zuzugeben, als in den publizierten Texten. Im Zentrum der Überlegungen Fichtes steht sein Bemühen, den Vorwurf des Subjektivismus zu widerlegen. Am Anfang seiner Philosophie stand die Überwindung des Determinismus durch Kant. Ihr verdankt Fichte die Begründung seiner Selbstständigkeit und Freiheit. Alle Formen von scheinbarer Objektivität werden durchschaut als Interpretationen des eigenen Vorstellungsvermögens. Die Frage ist nun, ob der befreiende Verlust von objektiver Verbindlichkeit erkauft werden muss mit subjektiver Beliebigkeit, ob die radikale Erkenntniskritik des Idealismus 3  II

8, S. 23 (WL von 1804).



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins97

sich zufriedengeben muss mit Destruktion und Skepsis oder ob die Selbstkritik des Denkens ein Fundament freilegt, das tragfähig ist nicht nur für Glaubensaussagen, sondern auch für intersubjektiv gültige und überprüfbare Einsichten. Ausgangspunkt ist Fichtes grundlegende Erkenntnis, dass das Denken einerseits ich-gebunden ist: „Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich als sich seiner selbst bewusst mit hinzuzudenken; man kann von seinem Selbstbewusstsein nie abstrahieren“4. Andererseits ist das Denken aber auch transitiv-objektbezogen: ‚Ich‘ denke immer ‚etwas‘. Es kommt also im Denken immer zur Subjekt-Objekt-Spaltung. Diese gilt es zu überwinden im Interesse einer kommunizierbaren Einheitsvorstellung: Es gehe um das „Zusammenfallen der Entäußerung und der Innerung, der Subjekt- und Objektivität, die ich fassen muss. Zugleich innen und ­außen sein wäre es“ (S. 233). Dazu ist es nötig, das Ich zu transzendieren und damit vom Subjekt loszukommen: „Die Haupttendenz ist daher, das Ich als solches realiter und virtualiter ganz zu vernichten und es lediglich als Erscheinung auf dem Reflexionspunkte stehen zu lassen.“ (S. 246) Mit dem Ich, das vom Denken nicht lassen kann, ist auch das Denken zu überwinden, da dieses vom Ich nicht lassen kann: „Nun aber (dies ist der eigentlich begehrte Beweis) erklärt das Denken sich selber für unzulänglich und nicht das rechte, indem es durch sich selber eine Unabhängigkeit von sich selbst setzt.“ (S. 254; zuvor hatte Fichte erklärt, „dass das Denken genötigt ist, dem Denken ein denkendes Prinzip unterzulegen“ – S. 250.) „Auch ist hier die bekannte Selbstvernichtung – sonst: des Ich, hier schärfer und besser: des Denkens und insofern des Ich als des gedachten besonderen und disjunktiven Prinzips.“ (Dazu eine Anmerkung von Fichte: „Ohne Zweifel ist das zu vernichtende Ich nicht das reine Vermögen, sondern das durch wirkliche Vollziehung schon bestimmte, das Zeit-Ich.“) „So geht das Ich über das formale Denken hinaus zur Sache und Wahrheit… Jene Erhebung des Ich darüber [= über das vernichtete formale Denken] … ist der eigentliche Transzendentalismus.“ (S. 254) Der doppelte Ich-Begriff bietet keine Lösung für Fichtes Problem: Das ‚normale‘ Ich (auch ‚Zeit-Ich‘ genannt), das mit dem ‚normalen‘ Denken zugleich gesetzt wird, soll sich unterscheiden lassen von jener Kraft, die dieses ‚Ich denke‘ hervorbringt, von einem ‚immanenten‘ Ich, 4  I

2, S. 260 (WL v. 1794).

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

von Fichte auch ‚Vermögen‘ genannt, in welchem es noch nicht zur Entäußerung und damit zur Subjekt-Objekt-Spaltung gekommen ist. Das aber ist nur ein logisches Konstrukt nach dem Kausalitätsprinzip: ‚unbegreiflich‘, nicht vermittelbar und ohne Beweiskraft. Eigentlich ist Fichte sich bewusst, dass man durch Denken nicht das Denken überwinden kann: „Obwohl nun hierbei nicht geleugnet werden kann, dass diese soeben aufgestellten Sätze in einem Denken vorkommen und durch ein solches faktisch zustande gebracht sind, so ist doch ihr Inhalt, laut Aussage des Denkens selbst, nicht durch dieses Denken gesetzt, sondern hat eine vom Denken unabhängige Gültigkeit an sich: es ist nämlich dies die Erscheinung selbst durch, aus und von sich.“ (S. 256) Damit ist wieder nur ein Begriff ‚aus dem Hut‘ der Spekulation gezaubert. Statt ‚Erscheinung‘ könnte er auch sagen: ‚Entäußerung des Seins‘ oder ‚Leben‘ oder ‚realisiertes Vermögen‘. Das Denken kann nicht „eine vom Denken unabhängige Gültigkeit an sich“ konstatieren. Noch ein Versuch: „Das Ich (ich sage Ich) schwebt zwischen dem Denken seines Seins und dem wirklichen Sein von einem zum andern, und dieses ist der eigentliche Wende- und Wechselpunkt zwischen Spekula­ tion und realem Hingeben.“ (S. 263) ‚Schweben‘ zeigt das Bemühen Fichtes, das Ich nicht festlegen zu müssen und sich ‚ganzheitlich‘ zu ­sehen; doch diese scheinbar objektive Sichtweise – der Mensch kann beides: spekulieren und sich hingeben – entspricht nicht der Realität des Ich, das nur spekuliert, also an den Vorgang des Denkens gekoppelt ist, und das verschwindet, wenn es bzw. die Person sich ‚hingibt‘, sich in der Aktion vergisst. Es handelt sich also nicht um ein ‚Schweben zwischen‘, sondern um verschiedene Perspektiven, Seinszustände oder Handlungsweisen des Individuums. Ist Fichte bereit, hierin selbstständig nebeneinander bestehende Möglichkeiten des Menschen zu erkennen, oder versucht er doch wieder, sie gedanklich zusammenzuzwingen, das ‚wirkliche Sein‘ aus dem ‚Denken‘ abzuleiten? „Das Ich soll in seinem reinen Wesen noch unabhängig von allem, was durch die Denkbarkeit als Erscheinung demselben hinzugefügt wird, erklärt werden … [Später] wird selbst das erst nur aufgefasste weiter abgeleitet werden. Inzwischen ist es immer dieser Beweis gewesen, der nicht [hat] gelingen wollen. Sein Gelingen wird zugleich 〈über alles〉 Sein in das unmittelbare Leben einführen.“5 5  II 10, S. 263  / 64. (Mit spitzen Klammern kennzeichnen die Herausgeber eine Textstelle, die nicht eindeutig zu entziffern war; in eckigen Klammern stehen Ergänzungen.).



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins99

Er will es also weiterhin versuchen: Das Ich soll ‚erklärt‘ werden, es soll in ‚seinem reinen Wesen‘ abgeleitet werden; und aus seinem Scheitern – der Beweis hat bislang ‚nicht gelingen wollen‘ – schließt er nicht auf die Vergeblichkeit seines Bemühens. Noch einmal gegen Ende der Notizen erweckt Fichte den Eindruck, das Subjektivitätsproblem gelöst zu haben: „Die soeben hingestellte Formel, welche absolute Qualität (die in dem objektiven Sein allerdings liegt) vom relativen Sein unterscheidet, ist sehr bedeutend. Ich weiß nicht, ob diese Unterscheidung vorher so recht gemacht worden. Sie ist aber für den Realismus einer Philosophie und für Unterscheidung derselben vom leeren Idealismus, für Sicherheben über Objekt und Subjekt durchaus bedeutend.“ (S. 277) Darin zeigt sich leider nur reines Wunschdenken. Die Zielsetzung immerhin wird noch einmal deutlich: ein philosophischer ‚Realismus‘, der sich vom ‚leeren Idealismus‘ dadurch unterscheidet, dass er die Objekt-Subjekt-Spaltung überwindet und einen Zugang zum ‚objektiven Sein‘ eröffnet. Aber das Ziel wird nicht erreicht; denn die „soeben hingestellte Formel“ ist nicht fassbar, geschweige denn nachvollziehbar. Und der doppelte Seinsbegriff ist ebenso wenig hilfreich wie früher schon die Verdoppelung der Begriffe vom Ich und vom Denken. b) Der „Bericht über den Begriff der WL und die bisherigen Schicksale derselben“ Der zweite Text mit dem Titel: „Bericht über den Begriff der WL …“, geschrieben in den Jahren 1806 / 07, stammt ebenfalls aus dem Nachlass, ist aber bereits ausformuliert und zur Publizierung vorgesehen6. Auch in ihm geht es darum, wie der Mensch die subjektive Beschränktheit seines Denkens überwinden kann: Der naive, unkritische und ungeschulte Mensch („im natürlichen und kunstlosen Zustande“) bildet sich seine Vorstellung von der Wahrheit „nach eigenen inneren und verborgen bleibenden Gesetzen“. Diese Gesetzmäßigkeit gelte es zu durchschauen und abzustreifen, „worauf nach diesem Abzuge die reine Wahrheit übrigbleiben würde“ (S. 21). Zwar habe man erkannt, dass durch die WL „die absolute Nichtigkeit aller Produkte des Grundgesetzes des Wissens, der Reflexion, dargetan sei. Nur machte man aus dieser Entdeckung über das Resultat der Philoso6  II

10, S. 11–65.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

phie den Schluss, dass eben um dieses Resultates willen die WL notwendig falsch sei, indem eine Realität denn doch sei, diese Realität aber – weil nämlich diejenigen, die also dachten, für ihre Person dieselbe nicht anders zu erfassen vermochten – nur innerhalb des Gebietes des Reflexionsgesetzes erfasst werden könne.“ (S. 22  /  23) Fichte dagegen sieht die eigentliche Realität außerhalb ‚des Gebietes des Reflexionsgesetzes‘: Von der gesetzmäßig und zwangsläufig objektivierenden Reflexion versucht er zu trennen „das reine und einfache Denken oder die Anschauung“. Nur dadurch könne man zur „Realität in ihrer Einheit und Reinheit“ gelangen. „Das einfache Denken ist das innere Sehen.“ (S. 26) Was zunächst nur ein Problem der Erkenntnistheorie zu sein schien, nämlich von dem üblichen reflektierenden Denken ein ‚reines‘ Denken zu unterscheiden, wird unvermittelt zu einem moralisch-existenziellen: „Nicht darauf kommt es an, was ihr denket“, hält Fichte seinen Kritikern vor; „denn euer gesamtes Denken ist schon notwendig Irrtum, und es ist sehr gleichgültig, ob ihr auf die eine Weise irret oder auf die andere, sondern darauf, was ihr innerlich und geistig seid. Seid das Rechte, so werdet ihr auch das Rechte denken; lebet geistig das Eine, so werdet ihr dasselbe auch erschauen.“ (S. 27) Fichte unterscheidet also im Bewusstsein zwei Instanzen: einmal „die Ichform oder die absolute Reflexionsform“, aus der „heraus alles, was jemals im Wissen vorkommen könne, so wie es in demselben vorkomme, erfolge“ (S. 29), und zum anderen eine moralische Instanz, die uns in der Fähigkeit zur rationalen Selbstkritik eine Zugangsmöglichkeit zum eigentlich Wirklichen erblicken lässt: „Sollte sich, wie wir aus guten Gründen vorläufig vermuten, diese Ichform klar durchdringen lassen, so würden wir einsehen, was an uns und unserem Bewusstsein lediglich aus jener Form erfolge und was somit nicht reines, sondern formiertes Leben sei; und vermöchten wir nun dieses von unserem gesamten Leben abzuziehen, so würde erhellen, was an uns als reines und absolutes Leben, was man gewöhnlich das Reale nennt, übrig bliebe. Es würde eine WL, welche zugleich die einzig mögliche Lebenslehre ist, entstehen.“ (S. 31) Alle Versuche, ein objektives Sein außerhalb von uns selbst zu konstruieren, mag man es auch ‚das Leben‘ oder ‚das Absolute‘ nennen, sind Totgeburten der Reflexion: „Auch in der Wissenschaft [= in der WL] kann man das Absolute nicht außer sich anschauen, welches ein reines Hirngespinst gibt, sondern man muss in eigener Person das Absolute



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins101

sein und leben.“ Der damit verbundenen Unbequemlichkeit („weil es einiger Anstrengung bedarf“) ist sich Fichte wohl bewusst, weil diese Zumutung „dem natürlichen Hange im Menschen zum objektivierenden Denken“ zuwiderläuft (S. 31–32). Ziehen wir eine Zwischenbilanz: 1. Der Mensch muss sich die subjektiven Bedingungen seiner Erkenntnis bewusst machen. Nur so kann er sich schützen vor der Selbsttäuschung durch unreflektiertes Wunschdenken einerseits und vor der Fremdbestimmung andererseits, die dem unkritischen Menschen im Gewande ‚objektiver Wahrheit‘ aufgezwungen wird. 2. Die Annahme Fichtes, dass sich dem Menschen die ‚reine‘, von der subjektiven Verzerrung gereinigte Wahrheit darbieten würde, sobald er die Gesetzmäßigkeit seines Denkvermögens durchschaut habe, ist geknüpft an die Bedingung, dass „sich, wie wir aus guten Gründen vorläufig vermuten, diese Ichform klar durchdringen“ lasse‘ (S. 31). Dem widerspricht aber die Beobachtung, „dass lediglich aus ihr heraus [= aus dieser Ichform heraus] alles, was jemals im Wissen vorkommen könne, … erfolge“ (S. 29). Und so ist es nicht zu verwundern, dass Fichte in den „Nebenbemerkungen“ feststellen musste, es sei „immer dieser Beweis gewesen, der nicht hat gelingen wollen“, nämlich ‚das Ich abzuleiten‘ und damit ‚die Ichform zu durchdringen‘. 3. Unsere Kritikfähigkeit gegenüber den Erkenntnisleistungen bleibt aber insofern bedeutsam, als sie den Schluss zulässt, dass unser Bewusstsein offenbar noch aus anderen Quellen gespeist wird als aus derjenigen des Denkvermögens. 4. In jener Dimension des Bewusstseins, die nicht vom Denken bestimmt ist, geht es nicht um Erkenntnis, sondern um Wertung, um Welt‚Anschauung‘. Diese ‚Sicht der Dinge‘ ist gekoppelt an unsere Lebenspraxis: „Seid das Rechte, so werdet ihr auch das Rechte denken.“7 In dieser Wortverbindung ‚das Rechte denken‘ zeigt sich wieder der Mangel seiner unklaren Definition des Denkens: Hatte Fichte zunächst von dem ‚normalen‘, disjunktiven und reflektierenden Denken das ganz7  Ebd. S. 27. Es sei auch erinnert an Fichtes relativ bekannte Aussprüche: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt [sonach] davon ab, was man für ein Mensch ist.“ (1. Einl. in die WL v. 1797; I 4, S. 195) und: „Wie wir uns selbst finden, denken wir den Menschen überhaupt und seine Bestimmung… Nur die Verbesserung des Herzens führt zur wahren Weisheit.“ (Die Bestimmung des Menschen v. 1800; I  6, S.  288 / 89).

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

heitliche, ‚reine‘ Denken einer unmittelbaren Anschauung unterscheiden wollen, so erscheint hier als dritte Möglichkeit das ‚normative‘ Denken. Daraus erwächst die Gefahr, wie wir es auch bei dem Begriff der Vernunft noch beobachten werden, dass der Verstand mit der rationalen Funktion des Denkens seine kritische Unabhängigkeit verliert. 5.  Zentrales Anliegen Fichtes ist die Lebenspraxis. Theoretische Spekulation ist eigentlich nur insoweit von Interesse, als sie ein ‚vernünftiges‘ Fundament für die rechte Lebensweise liefern kann. Es geht ihm nicht um Objektivierung, nicht um Erkenntnis an sich, sondern um Verwirklichung: „Man muss in eigener Person das Absolute sein und leben.“ Und in seiner WL sieht Fichte „die einzig mögliche Lebenslehre“ (S. 31). c) Die „Anweisung zum seligen Leben“ Überraschend ist seine Formulierung im Konjunktiv: ‚die einzig mögliche Lebenslehre würde entstehen‘; denn gerade erst hatte er eine ‚Lebenslehre‘ publiziert: die „Anweisung zum seligen Leben“8. Fichte scheint sich bewusst zu sein, dass ihm in diesem Buch die optimale Verknüpfung von Theorie und Praxis noch nicht gelungen ist. Auf dieses Problem soll im Folgenden näher eingegangen werden, während im ersten Teil meiner Darstellung, in der Vorlesung vor Theologiestudenten (s. o. Kap. I. 3.), Fichtes Buch lediglich als Zeugnis für die Entwicklung seiner Religiosität besprochen wurde. Seine Behauptung, es handle sich hierbei um eine ‚populäre‘ Darstellung seiner Lehre, sollte nicht zu der Annahme verleiten, dass sie leichter zu verstehen sei als seine ‚wissenschaftlichen‘ Arbeiten – eher im Gegenteil: Denn immer wenn gewagte Behauptungen nach näheren Erklärungen und Begründungen verlangen, kann Fichte ausweichen und auf seine WL verweisen, da die Grenze des ‚populär‘ Darstellbaren erreicht sei. Der Zugang zu der Schrift, die schon mit ihrem anspruchsvollen Titel provoziert, wird auch dadurch nicht erleichtert, dass der Autor mit einer ‚Publikumsbeschimpfung‘ beginnt: Er wisse nicht (aufgrund frustrierender Erfahrungen in den vorausgegangenen Jahren), „ob es überhaupt der Mühe wert sei, dass man durch die Druckerpresse mit ihm rede“ (I 9, S. 47). So verwundert es auch nicht, dass er es abgelehnt hat, die sukzessive erstellten Manuskriptseiten der 11 Vorlesungen (gehalten vom Januar 8  I

9, S. 1–212.



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bis März 1806) für den Druck zu überarbeiten (ebd.), was die Einheitlichkeit des Ganzen nicht gefördert hat. Immerhin wurde dadurch viel von dem ursprünglichen Schwung des mündlichen Vortrags bewahrt, von dem sich seinerzeit selbst bekannte Gelehrte und Politiker mitreißen ließen9. Der Titel hatte schon damals viel Spott hervorgerufen: In einer Aufzeichnung seiner Frau, die an allen Vorlesungen teilgenommen hatte, heißt es, Fichte habe „sehr vielen Beifall“ gefunden, „obschon in vornehmen Gesellschaften man seiner gespottet mit den Ausdrücken, Fichte müsste viel Seligkeit besitzen, indem er andern Anweisung zum seligen Leben mitteilen wollte“10. Es zeigt sich auch hier wieder, wie stark bei Fichte Leben und Lehre korrespondieren: Er war selig: In Preußens Hauptstadt ‚angekommen‘ hatte er durch seine Studien an innerer Sicherheit gewonnen und durch seine privaten Vorlesungen ungewöhnlichen Erfolg gehabt u. a. bei Repräsentanten der preußischen Reformbewegung (vor allem Beyme und Altenstein), die ihm zu einer Professur im damals preußischen Erlangen verhalfen. Auch seine bereits erwähnte Überzeugung, er habe im ersten Halbjahr 1806 unmittelbar vor dem Abschluss seines Systems gestanden, sei dann aber durch den Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Frankreich (im Herbst 1806) an der Vollendung gehindert worden, ist Ausdruck dieser seiner ‚Seligkeit‘. Im Zentrum der folgenden Übersicht steht das Verhältnis von theoretischer Philosophie und praktischer Religion. Im Rückblick der letzten Vorlesung wird der Praxisbezug besonders betont: Der „Zweck bei den gegenwärtigen Vorlesungen“ sei in erster Linie „nicht wissenschaftlich“ gewesen, „sondern er war praktisch“ (S. 176). Trotzdem besteht die erste Hälfte dieser Anleitung zum rechten Leben nicht aus Religion, sondern aus Philosophie, um für die Gestaltung der Praxis eine theoretische Begründung zu liefern. Letztere erfolgt nicht eben systematisch: Gleich zu Beginn werden wir überschwemmt mit einem Schwall von Begriffen, deren Gleichsetzung auch den wohlmeinenden Leser auf eine harte Probe stellt: „So ist klar“, erfahren wir nach etwa fünf Minuten, „dass Leben, Liebe und Seligkeit schlechthin Eins sind und Dasselbe“ (S. 56). 9  Zu dem Teilnehmerkreis der privaten Veranstaltung sowie zu den zahlreichen Rezensionen und anderweitigen Reaktionen vgl. die sehr ausführliche und informative Einleitung der GA: I 9, S. 3–44. 10  Fichte im Gespräch 3, S. 276; vgl. a. I 9, S. 6–7, mit weiteren Beispielen.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Dazu gesellen sich dann später noch das Sein11 und Gott12, was irgendwann zu der Frage führt: ‚Warum waren die klugen Zuhörer seinerzeit trotzdem positiv beeindruckt?‘ Es scheint die persönliche Wirkung gewesen sein: Der Eindruck von tiefer Überzeugung und Glaubwürdigkeit wiegt oft schwerer als der intellektuelle Vorbehalt. ‚Der Mann wirkt so lebendig, beseelt und begeistert: der muss auch was zu sagen haben.‘13 Und so will ich Sie auch nicht mit weiteren Begriffs- und Wortklaubereien strapazieren, die uns in den vergangenen Kapiteln schon hinreichend ermüdet haben. Es muss inzwischen klar geworden sein, dass sich die Ebene der Transzendenz, auf die Fichte uns bringen will, mit Begriffen nicht erreichen lässt, auch wenn seine Wortwahl uns immer wieder in die Irre führt, z. B. wenn er versichert, „dass der wahre Gott und die wahre Religion nur durch reines Denken ergriffen werden, bei welchem Beweise diese unsere Vorträge gar oft verweilen und ihn von allen Seiten zu führen suchen werden“ (S. 68 / 69). Solche Sätze sollten uns nicht dazu verleiten, die mitreißende Selbstgewissheit Fichtes als übersteigertes Selbstbewusstsein zu diskreditieren: Nicht seine Gewissheit ist übertrieben, sondern sein Vertrauen in die Theoriebildung, in die Deduzierbarkeit seines angeblichen Beweises. Fichtes Übergang von der Theorie zur Praxis, von der Philosophie zur Religion, von der transzendentalen Spekulation zur transzendenten Offenbarung lässt sich veranschaulichen an seiner Behandlung des Prologs zum Johannes-Evangelium (in der Mitte seines Buches: in der 6. von 11 Vorlesungen). Es ist nicht verwunderlich, dass sich Fichte, wie manch anderer Denker, von dieser griechischen Spekulation angezogen fühlte. Die verführerische Eingängigkeit und scheinbare Stringenz des Prologs, dem wir so verwirrende Produkte wie den ‚präexistenten Christus‘ verdanken, hat immer wieder übersehen lassen, dass er zu Jesu Leben und Lehre keinen direkten Bezug hat. Die geläufige Übersetzung ‚am Anfang 11  Gleichgesetzt

mit Leben: S. 57. mit Sein: S. 59. 13  Der dänische Dichter Oehlenschläger, der 1806 in Berlin Fichtes Vorlesungen hörte, beschreibt seinen persönlichen Eindruck: „Es war nicht sein systematisches Lehrgebäude, es war seine männliche Kraft, moralisches Können (Dygtighed), lutherischer Mut und unreflektierte Naivität, die mich hinriss.“ (Fichte im Gespräch Bd. 3, S. 386) Und Immanuel Hermann Fichte, der in dieser Zeit bei seinem Vater Latein lernen musste bzw. durfte, erinnert sich an die Intensität seiner Belehrung: „Indem er mit ganzer Kraft in seinem jedesmaligen Gegenstand wirklich aufging und auch das Geringfügige dadurch vor ihm Ordnung und Leben gewann, wusste er auch unterrichtend im Kleinen wie im Großen fast unwiderstehlich zur Aufmerksamkeit zu zwingen und mit sich fortzureißen.“ (II 7, S. 10). 12  Gleichgesetzt



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins105

war das Wort‘ ist nur die ‚halbe Botschaft‘; denn ‚Logos‘ ist zugleich die Logik, das gedankliche Konzept, das in dem ‚Wort‘ zum Ausdruck kommen soll. Durchaus vertretbar paraphrasiert Fichte dieses griechische Wort, das ein weites Spektrum geistiger Aktivität abdeckt, mit Begriffen wie Vernunft, geistiger Ausdruck, Bewusstsein, Begriff und Wissen (S. 118–20). Ein vernünftiges Konzept ist nachvollziehbar, lässt sich mit verständlichen Begriffen in Worte fassen und ist offenbar geeignet, als Basis intersubjektiv gültiger Aussagen zu dienen. Trotzdem hat Fichte diesen Weg verlassen und kommt später zu der Deutung: „Im Anfange … ist die Liebe.“ (S. 168) Da sich die Liebe nur in der Tat bewahrheitet – „so jemand nicht handelt, so liebt er auch nicht“ (S. 170) –, ist er wieder recht nah bei Goethes Auffassung im ‚Faust‘: „Am Anfang war die Tat.“ (Vers 1237) Beide Wendungen stehen natürlich nicht im Einklang mit dem JohannesProlog, dürften aber mit ihrem Praxisbezug dem historischen Jesus mehr entsprochen haben als der Logos-Begriff, mit dem er vermutlich auch in aramäischer Übersetzung nichts hätte anfangen können. Wie kommt es zu dieser Umdeutung bei Fichte? Was liegt zwischen beiden Deutungen? Zunächst einmal rein äußerlich: 4 Vorlesungen, also 4 Wochen. Das ist bei Fichtes Arbeitsweise eine ganze Menge: Er hatte kein ausgefeiltes Konzept vorliegen, sondern musste es sich Woche für Woche neu erarbeiten. Die erste Deutung, der Logos als gedankliches Konzept, findet sich nach dem Abschluss des theoretischen Teils, sozusagen als theologische Absicherung oder Bekräftigung seiner eigenen Überlegungen. In der 6. Vorlesung, also genau in der Mitte der ganzen Vortragsreihe, gönnt Fichte uns eine Verschnaufpause: einen Exkurs zum Johannes-Evangelium. Die intensivere Beschäftigung mit diesem Autor und dessen starker Betonung der Liebe könnte auch die Gedankenfolge Fichtes in den weiteren Vorlesungen beeinflusst haben. ‚Ich sage eigentlich nichts Neues‘, so Fichte sinngemäß, ‚ich liefere nur nachträglich eine Theorie für den christlichen Glauben, gestützt auf dessen besten Zeugen, den Evangelisten Johannes.‘14 Fichte hatte im theoretischen Teil versucht, die Welt „aus einem Punkte“ zu erklären15 und dabei seine Zuhörer aufgefordert, ihm Schritt für 14  Zur Gleichsetzung seines spekulativen Denkens mit dem christlichen Glauben vgl. S. 63 und S. 115. 15  WL v. 1804: II 8, S. 92; vgl. a. S. 84: die WL habe die Aufgabe, „alles Mannigfaltige auf die absolute Einheit zurückzuführen, oder was dasselbe gesagt ist: dasselbe abzuleiten aus der Einheit“.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Schritt zu folgen. Er unterscheidet zunächst zwei Arten von Denken: das normale „Denken der äußeren Gegenstände“, das für die Verarbeitung der Sinneswahrnehmung zuständig ist (S. 83 / 84), und das „höhere Denken“, das keinen „außer ihm liegenden Beweis“ benötige, sondern das sich in seiner Wahrheit selbst evident sei (S. 84 / 85). Doch dann wird es mühsam: „Die allererste Aufgabe dieses Denkens ist die: das Sein scharf zu denken.“ (ebd.) Nun gibt es ja bei anderen Begriffen wie z. B. ‚Welt‘ die Möglichkeit, über Konkretisierungen und Abgrenzungen eine Verständigung zu erreichen. Ich kann z. B. erläutern, warum ‚Sterne‘ zu ‚meiner‘ Welt gehören, aber ‚Engel‘ nicht von ‚dieser‘ Welt sind. Der allumfassende Begriff des Seins dagegen erlaubt keinerlei konkrete Vorstellungen, er ist reine Abstraktion bzw. Schlussfolgerung und hat seine ‚geistige Heimat‘ im Kausalitätsprinzip: „Allem, was da wird, sind Sie [= die Zuhörer] genötigt, ein Seiendes vorauszusetzen, durch dessen Kraft jenes erste werde“ (ebd.) – „genötigt“ schon, aber nicht durch irgend eine Realität, sondern durch die Struktur unseres Denkens, das bei jeder Erscheinung nach deren Ursache fragt. Nur sind wir heute, nicht zuletzt dank Fichte, gegenüber unserem Denkvermögen kritischer eingestellt und akzeptieren nicht mehr die Gleichsetzung von ‚Denknotwendigkeit‘ und ‚Realität‘. Vom ‚Sein‘ unterscheidet Fichte das ‚Dasein‘, worin er die „Äußerung und Offenbarung dieses Seins“ erblickt (S. 86), womit wir festen Boden unter die Füße bekämen – wenn wir nicht alsbald gedrängt würden, dieses ‚Dasein‘ mit ‚Bewusstsein‘ gleichzusetzen. Fichtes Beispiel hierfür rücke ich ein, damit Sie es als Spitzfindigkeit leichter durchschauen und überspringen können: „Die Wand ist“ (S. 86). Fichte stellt uns vor ein konkretes ‚Sein‘, die Wand, deren Vor-handen-sein (bzw. Vor-dem-Kopf-Sein) uns (gelegentlich schmerzlich) bewusst wird. Nun ist zwar das ‚Dasein‘ der Wand, so wie es mit meinen Begriffen interpretiert wird, ein Produkt meines Bewusstseins, darf aber mit letzterem nicht gleichgesetzt werden, da das von mir Vorgestellte eigentlich etwas Nachgestelltes, Nachgebildetes ist, das seine Realität nicht dadurch verliert, dass ich es in mein beschränktes Ordnungsschema gepresst habe. Nehmen wir aber statt eines konkreten Seins (um bei Fichtes Analogie zu bleiben) das allumfassende, abstrakte Sein, so ist dessen Dasein in der Tat identisch mit meinem Bewusstsein von ihm, weil es lediglich etwas Ausgedachtes ist, an dem sich mein Kopf (äußerlich) nicht stoßen wird.



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins107

Auch wenn die Gleichsetzung von Dasein (i. S. v. Realität) mit Bewusstsein nicht gelingt, so ist doch an Fichtes Kritik unseres Weltverständnisses festzuhalten: Unser Begreifen setzt einen Zustand voraus, nur Gegen-ständliches ist begreifbar. Bereits in seiner WL von 1794 versucht er eine interessante Ableitung des schwer verständlichen Begriffs ‚Verstand‘: „Es ist das Vermögen, worin ein Wandelbares be-steht, gleichsam ver-ständigt wird (gleichsam zum Stehen gebracht wird), und heißt daher mit Recht Verstand. Der Verstand ist Verstand, bloß insofern in ihm etwas fixiert ist; und alles, was fixiert ist, ist bloß im Verstande fixiert … Nur im Verstande ist Realität; er ist das Vermögen des Wirklichen; in ihm erst wird das Ideale zum Realen.“16 Die permanente Bewegung, in der wir uns befinden, bringen wir im Verstehen denknotwendig und trotzdem nur scheinbar zum Stehen. Würden wir nicht den ‚laufenden Film‘ des Geschehens und unserer Wahrnehmung zerlegen in die ‚Stand-bilder‘ von Zuständen, wären wir nicht handlungsfähig. Die Notwendigkeit, im unablässigen Strom von Abläufen und Eindrücken Halt zu finden und Orientierung zu ermöglichen, zwingt uns dazu, die Lebendigkeit Gottes, die sich nach Fichtes Überzeugung im ‚Dasein‘ äußert, zu ‚unserer Welt‘ zu machen, sie erstarren zu lassen und beschreibbar zu machen mit Begriffen der Fixierung, Unterscheidung und Systematisierung, so dass Fichte zu dem Schluss kommt: „Der Begriff daher ist der eigentliche Weltschöpfer vermittelst der aus seinem inneren Charakter erfolgenden Verwandlung des göttlichen Lebens in ein stehendes Sein.“ (S. 97) Zurück zu Fichtes Überzeugung, mit seinem Begriffspaar ‚Sein‘ und ‚Dasein‘ lediglich ein philosophisches Äquivalent geschaffen zu haben zur Theologie des Johannes mit den Begriffen ‚Gott‘ und ‚Logos‘: So wie bei Fichte das Dasein die Äußerung des an sich unzugänglichen Seins ist, so ist bei Johannes der Logos die Äußerung Gottes, der uns nur in diesem ‚Wort‘ verständlich wird – beides zeitlos und ursprünglich. Darin, dass Johannes den Anfang des Alten Testaments („am Anfang schuf Gott …“) abwandelt zu der Formulierung „im Anfang war der Logos“, sieht Fichte eine Bestätigung seiner Kritik an der Schöpfungslehre, „die uns in das öde Nichts wirft und ihn [= Gott] zu einem willkürlichen und feindseligen Oberherrn von uns macht“ (S. 119). „Ursprünglich und vor aller Zeit schuf Gott nicht, und es bedurfte keiner 16  I 2, S. 374. (Inhalt der Klammer: erklärender Zusatz der 2. Ausgabe, FW I, S. 233). Der ‚Große Duden‘ resigniert: Ableitung von ‚stehen‘, aber „Bedeutungsentwicklung unklar“ (Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Aufl. 1999, Bd. 9, S. 4287).

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Schöpfung, sondern es war schon: es war das Wort, und durch dieses erst sind alle Dinge gemacht … (S. 118) Wie könnte deutlicher ausgesprochen werden, dass es [= das Wort] die sich selbst klare und verständliche Offenbarung und Manifestation, sein geistiger Ausdruck sei, dass, wie wir dasselbe aussprachen, das unmittelbare Dasein Gottes notwendig Bewusstsein … sei, wofür wir den strengen Beweis geführt haben. Ist nun erst dies klar, so ist nicht die mindeste Dunkelheit mehr in der Behauptung (Vers 3): „dass alle Dinge durch dasselbige Wort gemacht sind und ohne dasselbige nichts gemacht ist, was gemacht ist“ usw. – und es ist dieser Satz ganz gleich geltend mit dem von uns aufgestellten, dass die Welt und alle Dinge lediglich im Begriffe, in Johannes ‚Worte‘, und als begriffene und bewusste, als Gottes SichAussprechen seiner selbst, da sind, und dass der Begriff oder das Wort ganz allein der Schöpfer der Welt überhaupt … sei.“ (S. 119) Die Affinität zwischen Johanneischer und Fichtescher Spekulation ist in der Tat bemerkenswert. Die Versuche, mit Hilfe des Johannes-Prologs die ‚Vernünftigkeit‘ Gottes und der Welt zu begründen, werden auch in der Gegenwart noch fortgesetzt, im Protestantismus vor allem von den Evangelikalen in Nordamerika mit ihrem Begriff des ‚intelligent design‘ (einer durchaus wörtlichen Übersetzung des Johanneischen ‚Logos‘) und im Katholizismus z. B. von Papst Benedikt XVI. in seiner Rede am 16.9.2006 in Regensburg: „Nicht vernunftgemäß, nicht syn logo zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“. Diesem Zitat eines byzantinischen Kaisers aus dem 14. Jahrhundert stimmt der Papst ausdrücklich zu: „Den ersten Vers der Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. Das ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt syn logo, mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffes geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre Synthese finden. Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist.“ (Eine Auseinandersetzung mit der Position des Papstes findet sich in Exkurs 2.17) 17  Internet-Text des Vatikans vom 16.9.2006, S. 2 f. Exkurs 2: Josef Ratzinger und die Vernunftgläubigkeit, dort auch die Quellenangabe zur gedruckten Fassung.



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins109

Wie lässt sich nun für Fichte eine Verbindung vorstellen zwischen göttlichem Sein und seinem Dasein im menschlichen Bewusstsein? „Setze nur statt alles Wie ein bloßes Dass.“ (S. 166) Kann man es deutlicher und ehrlicher sagen, dass seine Versuche, die Mannigfaltigkeit des Daseins „aus einem Punkte“ abzuleiten, für unser Leben und Denken eine transzendente Basis zu gewinnen und unsere Überzeugungen von dem Makel des Subjektivismus zu befreien, gescheitert sind? ‚Ich weiß nicht, wie – ich weiß nur, dass.‘ Hier spricht nicht resignierend die intellektuelle Selbstkritik, hier spricht fast trotzig oder triumphierend die unangreifbare Gewissheit der eigenen Erfahrung, unbeeindruckt davon, dass es doch nicht möglich ist, wie er es 1801 noch versucht hatte, „die Leser zum Verstehen zu zwingen“18. Denn er ist zu dem Schluss gekommen, „dass somit die eigentliche Erkenntnis dieser neuen und übersinnlichen Welt nicht durch eine Beschreibung und Charakteristik an diejenigen gebracht werden könne, die nicht selber darin leben. Der von Gott Begeisterte wird uns offenbaren, wie sie ist, und sie ist, wie er es offenbart, deswegen weil er es offenbart; ohne innere Offenbarung aber kann niemand darüber sprechen.“ (S. 155) (Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Offenbarung, wie er z. B. von dem Kieler Philosophen Kurt Hübner aufgefasst wird, erfolgt in dem Exkurs 119.) Wenn wir versuchen, einen Bogen zu schlagen zum Anfang dieses Kapitels, so lässt sich zwar die Gleichsetzung jener Begriffe, mit denen Fichte seine Vorstellung von Einheit verdeutlichen wollte (Leben, Liebe, Seligkeit, Gott und Sein), nicht aufrechterhalten; aber Verbindungen zwischen ihnen und ihre Zusammengehörigkeit in Fichtes Denken lassen sich aufzeigen: Das Leben, das dem ‚außenstehenden‘ Betrachter als chaotische, vom Zufallsprinzip dominierte Vielfalt erscheinen könnte, ist ‚in Wirklichkeit‘, so wie es sich im Menschen auswirkt und von ihm erlebt wird, ein zielgerichteter Prozess, dessen Richtung und Richtigkeit im Bewusstsein des handelnden Menschen zum Ausdruck kommen: Das ‚Leben‘ ist nicht ‚Seligkeit‘, sondern Seligkeit ist die Auswirkung der im eigenen Handeln wesensgemäß realisierten Lebensdynamik. 18  „Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen“, Berlin 1801 (I 7, S. 165–268). 19  Exkurs 1: Kurt Hübner und die Offenbarungsgläubigkeit.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Ähnlich steht es mit der ‚Liebe‘: auch sie ist nicht das ‚Leben‘ selbst, sondern dessen Richtschnur: „Nicht die Reflexion, E[hrwürdige] V[ersammlung], welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet und so mit sich selbst sich entzweit, nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewissheit … Die Liebe daher ist höher denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft“ (S. 167). Die Liebe gibt jene Richtung vor, die dem Handelnden als ‚Sinn‘ erscheint oder auch als ‚Wille Gottes‘. Also ist auch ‚Gott‘ nicht das ‚Leben‘ selbst, sondern er ist im Leben durch die Liebe richtungsweisend. Da nun die Liebe nicht als Faktum, geschweige denn als Zustand definierbar ist, erscheint sie bei Fichte als die immer wieder neu zu erlebende Offenbarung Gottes: „Das aller Erscheinung zugrunde liegende göttliche Leben tritt darum niemals ein als ein stehendes und gegebenes Sein, sondern als etwas, das da werden soll, und nachdem ein solches, das da werden sollte, geworden ist, wird es abermals eintreten als ein werden sollendes in alle Ewigkeit, dass daher jenes göttliche Leben niemals eintritt in den Tod des stehenden Seins, sondern immerfort bleibet in der Form des fortfließenden Lebens. Die unmittelbare Erscheinung und Offenbarung Gottes ist die Liebe“.20 Damit wären wir wieder angekommen bei Fichtes Umdeutung von Joh 1,1: „Im Anfange … ist die Liebe“. Nicht nur der Terminuswechsel ist bedeutsam – statt eines gedanklichen Konzepts ein Begriff der kreativen Zuwendung –, sondern auch der Tempuswechsel: Was ‚am Anfang war‘ und ob es überhaupt einen Anfang gab, das interessiert Fichte nicht, sondern: womit beginnt es, jetzt und immer wieder? Ihn interessiert die Frage, wie es weitergehen soll und woran wir uns im Leben halten können. Darauf kann ‚das Sein‘ (der letzte der oben genannten fünf Begriffe) keine Antwort geben, „das in seiner Beharrlichkeit und Ruhe klar das Gepräge des Todes an sich trägt“. Erst durch dessen Vernichtung komme es „zum einzig wahrhaft Realen, zum unmittelbaren Leben selber“. Das Problem sei nun, dass die Menschen durch die Reflexion „dieses Leben wieder zu Tode“ denken. Dieses sei dadurch zu vermeiden, „dass sie es denken, ohne es zu denken, also dass es nicht außer sie zu stehen komme und ersterbe, sondern dass sie eins bleiben mit demselben; kurz, das Wort kann ich ihnen wohl ge20  I

10, S. 137 („Reden an die deutsche Nation“ von 1808).



1. Der Subjektivismus als Problem des Selbstbewusstseins111

ben: sie sollen es fassen nicht im Denken, sondern in lebendiger Anschauung.“21 So verdienstvoll Fichtes ‚Vernichtung des Seins‘ an dieser Stelle ist (er schwankt in seiner Beurteilung des Seins), so läuft er doch Gefahr, mit dem Begriff des Lebens wieder in die ontologische Falle zu tappen und mit dem Begriff der Anschauung die Möglichkeit eines transzendenten Zugangs zum Absoluten zu suggerieren. Um auch dieses Schlupfloch einer deduzierbaren Einheitsvorstellung zu schließen, seien Fichtes Vorstellungen von der ‚Anschauung‘ einer kurzen Kritik unterzogen. Drei Stadien lassen sich bei ihm unterscheiden: 1. In seiner Zeit in Jena mit dem dominanten Ich-Bewusstsein wird Anschauung verstanden als geistige Selbstbeobachtung: „Dieses dem Philosophen angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstsein, dass ich handle und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es tue.“22 Kontemplation, Meditation oder mystische Versenkung sind Fichtes Sache nicht: Die eigene Tätigkeit allein führt zur Bewusstseinsentwicklung, die von der Anschauung registriert wird. „Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen – nein, zum Handeln bist du da.“23 2.  Nach dem Verlust seiner Jenenser Professur tritt das Ich und dessen Selbstbehauptung in den Hintergrund: „Die Selbstvergessung gerade ist Hauptcharakter der Anschauung“24 – will sagen: Das Ich ist nicht mehr Gegenstand des Interesses, sondern steht der wahren Ein-sicht, der Anschauung im Wege. Dies steht im Einklang mit der oben zitierten Aufforderung, das Leben zu „fassen nicht im Denken, sondern in lebendiger Anschauung“; denn das Denken, das vom Ich-Bewusstsein nicht zu trennen ist, objektiviert das Leben, wodurch dieses als Einheitsvorstellung verloren geht. Folgerichtig behauptet Fichte, dass die Anschauung „stets und immer der Gegensatz ist zum Denken“25. 3.  Drei Jahre später, nach zwischenzeitlich schwerer Krankheit, scheint Fichte die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass man das Leben „denken“ 21  Der

Patriotismus und sein Gegenteil, 1806 / 07; II 9, S. 428. v. 1797; I 4, S. 216 / 17. 23  Die Bestimmung des Menschen v. 1800; I 6, S. 253. 24  „Nebenbemerkungen“ zur WL v. 1807; II 10, S. 226. 25  Ebd. S. 264. 22  WL

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

könne, „ohne es zu denken“, dass mittels der Anschauung als eines unreflektierten Bewusstseins ein Zugang zum ‚einzig wahren Realen‘ möglich sei. In einem Brief vom 3.5.1810 diskutiert Fichte das von Jacobi aufgeworfene Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit und er versucht, den Gegensatz dadurch aufzulösen, dass er die Vorstellung von Notwendigkeit aus den Denkstrukturen unseres Verstandes ableitet: Die absolut freie Wirklichkeit Gottes als „das Reale in der Erscheinung“ sei „unter keine Anschauungs- oder Denkform zu bringen“. Wenn das eigentlich Reale „erblickt wird, bricht, nach darzulegenden Gesetzen, jene Einheit sich in eine Mannigfaltigkeit“. Der Gesetzmäßigkeit dieser Aufspaltung entspreche es, dass das Reale „dem aus einem Mannigfaltigen es herauskonstruierenden Blicke“ als „das absolut Notwendige“ erscheine26. In diesem Stadium versperrt also nicht nur die Denkstruktur uns den Zugang zum Absoluten, sondern auch die Anschauung, wie aus der Wortverbindung „Anschauungs- oder Denkform“ und den Vokabeln „erblicken“ und dem „herauskonstruierenden Blicke“ zu schließen ist. In der etwa gleichzeitig geschriebenen Zusammenfassung seiner WL v. 1810 verliert die Anschauung weiter an eigenständiger Bedeutung und wird sogar dem Denken untergeordnet27. Auch die ‚Anschauung‘ eröffnet also keine Perspektive auf eine objektive Realität. Sie bleibt als Ein-sicht in die immanenten Möglichkeiten der jeweiligen Subjektivität verhaftet. Dort freilich hat sie durchaus ihre Berechtigung mit ihrer Relativierung der Verstandesprodukte und ihrer Bewusstmachung der ‚Lebendigkeit‘ des Menschen: Dieses ‚Leben‘, sofern man es nicht ‚zu Tode denkt‘, entzieht sich in stetiger Entwicklung permanent allen Beschreibungsversuchen durch fixierende Begriffe. Zu der Einsicht von Theologen im 20. Jahrhundert (z. B. Bonhoeffer und Bultmann), dass es einen Gott, ‚den es gibt‘, nicht gibt, hat Fichte bereits 1810 in seinem Brief an Jacobi die plausible Entsprechung formuliert, dass es den Menschen, ‚den es gibt‘, nicht gibt: „Über [dieses] unser wahres Wesen kann uns nun keine faktische Selbstbeobachtung Aufschluss geben; denn gegeben (worauf doch allein die Beobachtung geht) werden wir uns in diesem Zustande nie, sondern wir können uns dazu nur machen, indem wir uns selbst ja nur als Leben, keineswegs als totes Sein gegeben sind.“28 26  III

6, S. 329 (zu dem Problem Jacobis s. u. Kap. II. 4.). 10, S. 341. 28  III 6, S. 330. 27  I



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften113

So wie Gott ‚unbeschreiblich‘ ist, so ist es auch der Mensch. Gegebenheiten, Zu-stände, deren der Mensch zur Ver-ständigung bedarf, sind, wie bereits gesagt, Hilfskonstruktionen des Ver-standes, die uns einen Stand-punkt und den Um-ständen den Anschein von Be-ständigkeit verleihen. Im Gegensatz dazu entfaltet sich Lebendigkeit unver-ständlich, deren Ausgestaltungen aber sogleich in die Zu-ständigkeit des Verstandes geraten und von diesem als beschreibbare Be-standteile einer notwendigen Ordnung eingegliedert werden. Dieser Prozess einer unvermeidlichen, aber doch nur scheinbaren Objektivierung darf nicht dazu führen, dass wir „das Wissen an die Stelle des Lebens setzen“29, und Fichte fordert seine Studenten am Schluss seiner Vorlesung der WL von 1810 dazu auf, „sich wieder hinzugeben dem wirklichen Leben – nicht dem in seiner Nichtigkeit dargestellten Leben des blinden und unverständigen Triebes, sondern dem an uns sichtbar werden sollenden göttlichen Leben“30. Fragen wir am Schluss dieses Kapitels noch einmal nach Fichtes ‚Mangel an Vollendung‘, so besteht dieser (entgegen seiner eigenen Einschätzung) nicht darin, dass er sein philosophisches System nicht vollendet hat, sondern darin, dass seine nach wie vor bedeutsamen anthropologischen Einsichten ihn nicht dazu geführt haben, eine ‚Systembildung‘ generell für unmöglich zu erklären, und dass er aus seinen vielen vergeb­ lichen Versuchen, von seinem transzendentalen Ansatz aus eine transzendente Einheitsvorstellung zu gewinnen, nicht den Schluss gezogen hat, dass sich die Subjektivität im Denken (‚transzendental‘, ‚wissenschaftlich‘, ‚intuitiv‘ oder wie auch immer) nicht überwinden lässt.

2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften In der Gegenwart stehen weniger die Probleme der subjektivistischen Philosophie im Mittelpunkt des Interesses, als vielmehr die objektivistischen Tendenzen der modernen Naturwissenschaft. So beansprucht der englische Zoologe Richard Dawkins für die Biologie ein Erklärungsmonopol für alle Phänomene des Lebens. Dabei werden in seinem Buch „Der Gotteswahn“31 Religion und Glauben als unsinnige und gefähr­liche Hirngespinste einer als antiquiert empfundenen Weltanschauung abgetan. Die Auseinandersetzung mit dieser Position erfolgt in einem geson29  Ebd.

S. 331. 10, S. 345. 31  Richard Dawkins: Der Gotteswahn, Berlin 2007. 30  I

114

II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

derten Exkurs32. Hier sei nur eine unvermutete Gemeinsamkeit mit Fichte angeführt, an der sich zugleich der grundlegende Unterschied demonstrieren lässt: Beide sind Gegner der Schöpfungslehre, was bei Dawkins, als leidenschaftlichem Verfechter von Darwins Evolutionstheorie, fast schon selbstverständlich ist33, aber bei Fichte eher überrascht, zumal er seine Skepsis mit scharfer Ironie in einem Text formuliert, mit dem er sich im Jahre 1799 ausgerechnet gegen den Vorwurf des Atheismus verteidigt: „Sie [= die Anhänger der Schöpfungslehre] lassen entweder aus nichts nicht nur etwas und viel, sondern alles entstehen, oder sie lassen durch die bloßen Begriffe einer reinen Intelligenz einen unabhängig von derselben vorhandenen Stoff an sich geformt werden, fassen den Unendlichen in einem endlichen Begriff und bewundern die Weisheit Gottes, dass er alles gerade so eingerichtet hat, wie sie selbst es auch gemacht hätten.“34 Und in seiner Religionslehre von 1806 betont er nicht nur die Undenkbarkeit – „eine Schöpfung lässt sich gar nicht ordentlich denken“ –, sondern auch die fatalen Folgen für die Religiosität: Die Vorstellung einer Schöpfung durch Gott würde bedeuten eine „Ausstoßung und Trennung von ihm, die uns in das öde Nichts wirft und ihn zu einem willkürlichen und feindseligen Oberherrn von uns macht“35. Die Ablehnung der Schöpfungslehre hat freilich bei Dawkins und Fichte durchaus unterschiedliche Bedeutung: Was bei Dawkins Freiheit von Gott ist, weil mit dem Schöpfergott ihm jeder Gott abhanden kommt, das ist bei Fichte Freiheit für Gott, weil Gottes Wirklichkeit nicht in Formeln der Vergangenheit, sondern nur im Leben zu erfahren ist. Sehr viel umfassender ist die Kritik, die in der modernen Hirnforschung am Subjektivismus geübt wird. Eine Auseinandersetzung damit eröffnet zugleich die Möglichkeit, auf eine Schrift Fichtes einzugehen, die bislang zu wenig Berücksichtigung fand: „Die Bestimmung des Menschen“ von 1800.

32  Exkurs

3: Richard Dawkins und die Wissenschaftsgläubigkeit. den Titel seines neuen Buches von 2010: „Die Schöpfungslüge“. 34  Appellation an das Publikum, I 5, S. 433. 35  I 9, S.  118 / 19. 33  Vgl.



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften115

a) Der deterministische Objektivismus (Wolf Singer) „Die Vereinigung von Naturnotwendigkeit und Freiheit in einem und demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreifliches Faktum.“ Das schrieb bereits vor gut 200 Jahren der Philosoph Jacobi an Fichte36. Dieser alte Streit über die Vereinbarkeit von „Naturnotwendigkeit und Freiheit“ ist im Gefolge naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse mit den Begriffen ‚Determinismus‘ und ‚Libertarismus‘ wieder aufgeflammt. Er wird im Folgenden durch die Gegenüberstellung von Objektivismus und Subjektivismus aufgegriffen und einer Lösungsmöglichkeit zugeführt. Mit dem Titel seines Aufsatzes „Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung: zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen“37 – erweckt der Hirnforscher Wolf Singer zunächst den Eindruck, als ließen sich sowohl vom subjektivistischen (durch „Selbsterfahrung“) als auch vom objektivistischen Ansatz aus (durch wissenschaftliche „Fremdbeschreibung“) Erkenntnisse über die hirninternen Vorgänge des mensch­ lichen Bewusstseins gewinnen; aber sehr schnell bleibt nur die „Fremdbeschreibung“ als ‚Erkenntnisquelle‘ übrig, da die „Selbsterfahrung“ als Selbsttäuschung abgetan wird (S. 240, 244–47). Demgegenüber würden durch die „zunehmende Verfeinerung neurobiologischer Messverfahren“ alle Lebensäußerungen prinzipiell erklärbar. Dazu rechnet der Hirnforscher auch die „höheren kognitiven Leistungen komplexer Gehirne“, wie z. B. „Bewerten, Planen und Entscheiden und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.“ (S. 238) Singers objektivistischer Optimismus stützt sich also keineswegs nur auf die „zunehmende Verfeinerung neurobiologischer Messverfahren“, sondern vor allem – „im Sinne kausaler Verursachung“ – auf die Anwendung des Kausalitätsprinzips. Wenn es der naturwissenschaftlichen Forschung noch nicht gelungen ist, eindeutige, überprüfbare Erklärungen zu liefern, dann greifen wir zu dem Mittel, mit dem wir auch sonst gewohnt sind, unsere Erkenntnislücken zu schließen bzw. zu verdecken: Schlussfolgerungen sind die An36  Jacobi an Fichte, 1799, in: III 3, 259. (Aus dem Brief wurde bereits ausführlich zitiert: s. o. Kap. I. 3.). 37  DZPhil 52.2, S. 235–55 (2004) S. 235.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

wendungen des Kausalitätsprinzips zur Erklärung unbekannter Phänomene. Die besondere Leistungsfähigkeit des Verstandes auf diesem Gebiet wird von Singer ausdrücklich betont: „Obgleich unsere Sinnessysteme nur diskontinuierliche Ausschnitte aus dem physiko-chemischen Kontinuum der Welt aufnehmen, erscheint uns die Welt dennoch als kohärent. Der Grund ist, dass wir Fehlendes ergänzen und über Ungereimtheiten hinwegsehen, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten.“ (S. 235–36) Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, wenn eine Schlussfolgerung als das bezeichnet wird, was sie ist: als eine Hypothese und nicht als gesicherte Erkenntnis. Ein Beispiel: Wir wissen bislang nicht, wie unser Bewusstsein entsteht. Es lassen sich Gehirnströme messen, die zwar in einem erkennbaren, aber noch ungeklärten Verhältnis zum Bewusstsein stehen. Nun ist es eine naheliegende Vermutung, sagt Singer, „dass es irgendwo im Gehirn ein Zentrum geben müsse, in dem alle Verarbeitungsergebnisse zusammenkommen, um einer kohärenten Interpretation unterworfen zu werden. Dort wäre der Ort, wo entschieden und geplant wird, und dort müsste sich auch das ‚Ich‘ konstituieren.“ (S. 242–43) Der Forschungsansatz führt leider zu einem negativen Ergebnis: „Schaltdiagramme der Vernetzung der Hirnrindenareale lassen jeden Hinweis auf die Existenz eines singulären Konvergenzzentrums vermissen.“ Die Lücke im Verständnis stört den Verstand – er beginnt zu schließen: 1.  Was wir nicht gefunden haben, gibt es nicht: „Es gibt keine Kommandozentrale, in der entschieden werden könnte, in der das ‚Ich‘ sich konstituieren könnte.“ 2. Folglich „wissen wir“, dass sich unsere Vorstellung und damit unsere gesamte Selbsterfahrung „auf dramatische Weise irrt“. 3. Folglich handelt es sich bei den neuronalen Aktivitäten um einen Prozess der Selbstorganisation mit naturgesetzlich ableitbaren, also determinierten Folgen. 4. Folglich ergeht ein neuer Forschungsauftrag des Bewusstseins (!) an die neuronalen Netze (die sich angeblich selbst regulieren und „ohne übergeordneten Schiedsrichter“ (S. 250) auskommen): „Es gilt, die Selbstorganisationsprozesse zu verstehen, die aus Teilprozessen kohärente Zustände höherer Ordnung entstehen lassen.“ (S. 243) Der Hinweis auf die „Schaltdiagramme der Vernetzung der Hirnrinden­ areale“ erklärt zunächst einmal gar nichts und ist als empirische Basis für derart weitreichende Schlussfolgerungen unzureichend. Da es an



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften117

empirischen Befunden mangelt, mit denen man die Funktionsweise des Bewusstseins erklären könnte, wird den „neuronalen Prozessen“ allzu schnell eine determinierende Qualität zugesprochen: „Wenn eingeräumt wird, dass das bewusste Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muss es neuronalem Determinismus in gleicher Weise unterliegen, wie das unbewusste Entscheiden.“ (S. 251) Es sei zwar eingeräumt, dass die Entscheidungsfindung im Bewusstsein auf „neuronalen Prozessen“ beruht; aber die Schlussfolgerung, dass dieser Vorgang „neuronalem Determinismus“ unterliegen müsse, ist abzulehnen. Schon die Beobachtung, dass vom Bewusstsein aus, wenn es mit der Notwendigkeit einer Entscheidung konfrontiert wird, Arbeitsaufträge an die ‚neuronalen Netze‘ ergehen, um die Entscheidungshilfen, die im Gedächtnis abgespeichert sind, zu aktivieren, lässt zumindest auf eine Wechselwirkung schließen und nicht auf eine einseitige Abhängigkeit des Bewusstseins von scheinbar autonom agierenden Neuronen. Wichtiger aber noch als Argument gegen einen ‚neuronalen Determinismus‘ ist die Tatsache, dass die Entscheidung selbst, als Tätigkeit, der Hirnforschung prinzipiell verborgen bleibt. Wissenschaftler als Empiriker können nur das Produkt beobachten, nicht das Produzieren. Das gilt grundsätzlich: Die Wissenschaft hat immer nur das ‚Nach-Sehen‘. Entscheidungen sind bestenfalls nachvollziehbar, aber nicht rekonstruierbar, weil wir ‚im entscheidenden Moment‘ als Beobachter nicht dabei sind: Wir haben die Entscheidung nur als Resultat im Blick, aber nicht als Vorgang und damit auch nicht deren mögliche Alternativen. Der Verzicht auf deren Verwirklichung erlaubt keinen Rückschluss auf ihr Potenzial. Auch das Bewusstsein selbst ist kein Zu-stand, kein Gegen-stand möglicher Betrachtung, sondern eine permanente Tätigkeit, die der Beobachtung immer schon vorausgeeilt und damit prinzipiell entzogen ist. In diesem Mangel, die Bedeutung der unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Geschehen und dessen Registrierung, zwischen Aktion und Reflexion nicht hinreichend gewürdigt zu haben, ist letztlich auch der Grund zu sehen für Singers Fehleinschätzung der eigenständigen Qualität von ‚Selbsterfahrung‘: Sein erster Versuch zur Überwindung unserer angeblichen Illusion, „uns als selbstbestimmende, frei entscheidende Wesen zu erfahren“ (S. 244), geht aus von der Beobachtung, dass nur ein äußerst geringer Anteil der Hirnaktivitäten in unser Bewusstsein gelangt. Damit bleibt, nach Singer, der größte Teil der „Handlungsdeterminanten“ unentdeckt

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

und kann deshalb unsere Freiheitsempfindung nicht beeinträchtigen. Dieses dürfte gemeint sein mit der etwas vage formulierten Aussage: „Diese Parallelität von bewussten und unbewussten Handlungsdeterminanten ist ein wichtiger Grund dafür, dass wir uns aus der Ersten-PersonPerspektive heraus als freie autonome Agenten erfahren können.“ (S. 245) Diese Behauptung ist jedoch gerade im Singerschen Kontext nicht überzeugend, da ja auch ‚bewusste Handlungsdeterminanten‘ eben als Determinanten zu beurteilen sind, wodurch die Erfahrung von Freiheit und Autonomie ausgeschlossen wird. Sein zweiter Versuch, unsere ‚Selbsttäuschung‘ zu durchschauen, greift die Kapitelüberschrift auf: „Selbstmodell als soziales Konstrukt“ (S. 244). Schon im frühkindlichen Stadium werde uns durch permanente Anweisungen eine Entscheidungskompetenz untergeschoben nach dem Muster: ‚Du sollst, also kannst Du, wenn Du nur willst.‘ „Wir machen uns also vermutlich eine im Laufe unserer Kulturgeschichte entwickelte Zuschreibung zu eigen, internalisieren sie und verfahren nach ihr.“ (S. 246) Zwar impliziert eine Anweisung die Vorstellung von der Möglichkeit des Gehorsams; aber sie schafft diese Möglichkeit nicht,38 und die Erklärung Singers, warum wir trotz Determiniertheit in der Lage seien, nach der genannten ‚Zuschreibung zu verfahren‘, vermag wiederum innerhalb seines Gedankensystems nicht zu überzeugen: „Die meisten der Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes und nichts anderes zu tun, bleiben uns verborgen. Wir nehmen oft nur das Ergebnis solcher hirninterner Abwägungsprozesse wahr, schreiben uns dies dann im Moment der Bewusstwerdung als Ergebnis unserer ‚freien‘ Entscheidung zu, können es dann noch mit anderen, ebenfalls bewussten Argumenten abwägen und gegebenenfalls modifizieren und erfahren uns so als Herr über unsere Entscheidungen.“ (ebd.) Es bleibt unklar, woraus uns die Freiheit erwächst, ‚abzuwägen‘ und zu ‚modifizieren‘. Möglicherweise liegt hier ein Missverständnis vor bei dem Begriff ‚frei‘, als ob er gleichbedeutend wäre mit ‚beliebig‘, ‚grundlos‘ und ‚willkürlich‘. 38  Die Befrachtung des ‚frühkindlichen Lernens‘ mit fraglos akzeptierten Illusionen erinnert an die Auffassung von Richard Dawkins, dass die Vorstellung von der Religion als menschlichem Grundbedürfnis ebenfalls der frühkindlichen Prägung anzulasten sei (s. Exkurs 3). Da beide Spekulationen der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit entzogen sind, erwecken sie allzu sehr den Eindruck von Verlegenheitsargumenten.



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften119

Deutlicher noch zeigt sich dieses Missverständnis bei dem Hirnforscher Gerhard Roth: In seinem Artikel „Homo neurobiologicus – ein neues Menschenbild?“ findet sich die Behauptung: Man könne „leicht nachweisen, dass eine Person, die der Neigung bzw. Versuchung zu einer bestimmten rechtswidrigen Tat widersteht, dies nur tun kann, wenn ein noch stärkeres Motiv sein (sic) Handeln bestimmt, z. B. die Angst vor dem Entdecktwerden“ usw.39 Was an bewussten oder unbewussten Motiven im Augenblick der Tat zur Verfügung stand, lässt sich niemals „nachweisen“, sondern nur vermuten. Natürlich werden immer alle Entscheidungen mit Gründen untermauert, sei es zum Zwecke der Kommunikation oder zur Rechtfertigung vor sich selbst; aber deren Einschätzung als ‚Determinanten‘ ist wegen des unüberwindlichen Abstands zwischen Handlung und Beobachtung absolut unzulässig. Auch die sorgfältigste Motivanalyse vermag den Beobachter nicht in die Position des Täters zu versetzen. Ein klassischer Kausalitätskurzschluss findet sich am Ende von Singers Artikel:„Eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt.“40 Aus einer Handlung wird auf deren Ursachen geschlossen, und diesen wird dann umgekehrt, kausaler Gesetzmäßigkeit zufolge, determinierende Wirkung zugeschrieben. Nicht nur Naturwissenschaftler, auch Theologen und Philosophen können heutzutage noch in die Kausalitätsfalle geraten. Zwei Beispiele: 39  In: APuZ 44, 2008, (S. 6–12) S. 9. Ausführlicher wird dieser Gedankengang entwickelt in einem Rundfunkbeitrag am 24. 2. 2008 in Bremen zum Thema: „Die Unfreiheit des Freien Willens“ (www. radiobremen.de / nordwestradio): „Die Forschung der letzten 15–20 Jahre hat gezeigt, dass Entscheidungs- und Handlungsmotive bestimmt sind durch mehrere Faktoren, nämlich durch genetische Prädispositionen, hauptsächlich aber durch frühkindliche Bindungs- und Prägungsvorgänge, frühe psycho-soziale Erfahrung, Erziehung und individuelle Erfahrung natürlich das Leben lang … Wichtig für die Willensfreiheitsdebatte und den strafrechtlichen Schuldbegriff ist, dass keiner dieser auslösenden Faktoren, die ich genannt habe, dem Willen des Täters unterliegt … Es dürfte damit klar sein, dass von einer Möglichkeit des Täters, sich frei für oder gegen eine geplante Tat zu entscheiden, nicht gesprochen werden kann. Wenn er die Tat begeht, dann deshalb, weil die genannten Faktoren ihn bestimmen. Schreckt er aber vor der Tat zurück, dann muss es andere wichtige Motive geben, so etwa die Furcht vor dem Entdecktwerden oder vor der Gefängnisstrafe, widrige Umstände, Gewissensbisse oder einfach die Erkenntnis, dass sich die Tat im Augenblick nicht lohnt.“ Viel deutlicher kann man einen Handlungsspielraum nicht beschreiben. 40  Singer (2004), S. 255.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

(1)  In der Theologie begegnen wir bisweilen immer noch dem Problem des Determinismus in der Gestalt tradierter Gottesprädikate: Aus der Kombination von ‚Allwissenheit‘ und ‚Zeitlosigkeit‘ resultiert Gottes ‚Zukunftswissen‘ – und die Frage, wie sich damit menschliche Freiheit vereinbaren lasse. In seinem Aufsatz „Gott, Freiheit und Determinismus“ vertritt Friedrich Hermanni die These, dass eine „Handlung durch die personalen Merkmale des Akteurs determiniert ist“, und spricht gleichwohl von dessen Freiheit „in einem konditionalen Sinne“: Er hätte nämlich dann eine Handlung unterlassen können, „wenn sie seinen personalen Merkmalen widersprochen hätte“. So würde es Gott ermöglicht, mein Verhalten im Voraus zu kennen, ohne dass meine Freiheit beeinträchtigt wäre: „Damit ist zugleich die Vereinbarkeit menschlicher Freiheit mit dem Zukunftswissen Gottes und seinen deterministischen Voraussetzungen gewährleistet. Auch wenn Gott unfehlbar weiß, wie jemand handeln wird, weil er die Gründe kennt, die dieses Handeln determinieren, kann der Handelnde gleichwohl alternative Möglichkeiten im konditionalen Sinne haben.“41 Eine konditionale Freiheit in diesem Sinne – wenn die Handlungsbedingungen andere wären, könnte die Handlung anders ausfallen, z. B.: wenn Gewalttätigkeit nicht zu meinen ‚personalen Merk­ malen‘ gehören würde, könnte ich das Prinzip der Gewaltlosigkeit befolgen – ist keine Freiheit. Aber Gott sei Dank: Wir kennen die ‚personalen Merkmale‘ nicht und werden sie auch nie kennen können, da das Potenzial eines Akteurs sich nie vollständig erfassen lässt und selbst in der konkreten Entscheidungssituation nur partiell erfahrbar wird. (2) In ihrer Abhandlung „Willensfreiheit: libertarisch, kompatibilistisch – oder beides?“ vertritt Bettina Walde die Ansicht, dass man von „Selbstbestimmtheit“ nur dann sprechen könne, wenn „Wünsche und Überzeugungen, Gründe und Wertesystem […] als Determinanten in die Entscheidung eingehen“42. Dieser Auffassung liegt die kausallogisch verständliche Befürchtung zugrunde, dass andernfalls eine Entscheidung als zufällig gelten müsse (S. 136). Doch die Alternative ‚determiniert oder zufällig‘ ist für das Verständnis einer Entscheidung prinzipiell unzureichend, auch wenn sie dem Nach-Denken unvermeidlich erscheint. Mit dieser Beschränktheit unseres Denkvermögens hat sich Fichte bereits vor 200 Jahren auseinandergesetzt: 41  In:

NZSTh 50, 2008 (S. 16–36), S. 27 / 28. DZPhil 57.1, 2009 (S. 133–40), S. 135; auf S. 139 spricht Walde von der „Akzeptanz deterministischer Zusammenhänge, wie sie für Selbstbestimmtheit erforderlich sind.“ 42  In:



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften121

b) Fichtes Kritik am Determinismus (Die „Bestimmung des Menschen“) Ich wiederhole noch einmal seine originelle Ableitung des schwierigen Begriffs ‚Verstand‘: „Es ist das Vermögen, worin ein Wandelbares be-steht, gleichsam verständigt wird (gleichsam zum Stehen gebracht wird), und heißt daher mit Recht Verstand. Der Verstand ist Verstand, bloß insofern in ihm etwas fixiert ist; und alles, was fixiert ist, ist bloß im Verstande fixiert.“43 Der Verstand benötigt also für seine Analysen die Fixierung einer Momentaufnahme zu einem Zustand. Diese unablässige und zumeist unbewusste Objektivierung scheint für die Orientierung und Handlungsfähigkeit des Menschen unabdingbar zu sein. Die Zuständlichkeit als Produkt des Denkens schließt in der Reflexion das Denkende mit ein: „Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich als sich seiner selbst bewusst mit hinzuzudenken; man kann von seinem Selbstbewusstsein nie abstrahieren.“44 Diese Koppelung hat zur Folge, dass jede Verstandeskritik auch eine Kritik am Ich-Bewusstsein impliziert – und umgekehrt. Der Satz von Descartes, „ich denke, also bin ich“, ist zwar richtig (fast schon tautologisch); aber das ist weder für das Denken noch für das Ich ‚besonders schmeichelhaft‘, will sagen: Das Ich, das dazu neigt, sich absolut zu setzen, sich als den ‚ganzen Menschen‘ zu verstehen, ist lediglich seine „Reflexionsform“, wie Fichte sagt45, ist nur in der Reflexion präsent.: „Alles, was ich weiß, ist mein Bewusstsein selbst … Was ich ‚Ich‘ nenne, ist sonach schlechthin nichts anderes als eine gewisse Modifikation des Bewusstseins.“ Damit nun die ständig variierenden Inhalte des Bewusstseins nicht auch zu der verwirrenden Vielzahl entsprechender Ich-Vorstellungen führen, wird „dieses zerstreute Selbstbewusstsein … durch das Denken“ zu einer Einheitsvorstellung „zusammengefasst …, und so erst entsteht mir der Gedanke von Identität und Persönlichkeit meines Ich … Ich kann sonach wohl sagen: … es erscheint der Gedanke, dass ich empfinde, anschaue, denke – keineswegs aber: ich empfinde, schaue an, denke. Nur das Erstere ist Faktum, das Zweite ist hinzu 43  I 2, S. 374. (Der Inhalt der Klammer ist ein erklärender Zusatz der 2. Ausgabe: FW I, 233.). 44  Ebd. S. 260. 45  Z. B. in der „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806, I 9, S. 52 / 53.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

erdichtet … Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. Ich selbst weiß überhaupt nicht und bin nicht.“46 Mag auch ein Hirnforscher mit dieser modern anmutenden Destruk­ tion des Selbstbewusstseins ganz zufrieden sein, so könnte er dabei doch unterschätzen, wie sehr von dieser subversiven Kritik am Ich und seinem Denken auch das eigene Gedankengebäude untergraben wird. Er unterliegt nämlich mit seiner Beanspruchung eines Beobachter-standpunktes der gleichen Selbsttäuschung wie das Ich mit seiner Behauptung eines Zu-stands. In dieselbe Richtung weist übrigens Singers selbstkritischer Vorbehalt, dass auch die wissenschaftliche Erkenntnis „sich den kognitiven Leistungen menschlicher Gehirne verdankt“ (S. 240), also den Beschränkungen des Verstandes unterworfen ist. Und zu diesen Beschränkungen gehört auch sein Konstruktionsprinzip: Der Verstand, offenbar darauf angelegt, dem Menschen wenigstens ein bisschen Orientierung im Chaos des permanenten Wandels zu ermöglichen, ordnet die Fülle der ihm zugänglichen Informationen nach dem Kausalitätsprinzip. Ordnung wird dadurch hergestellt, dass man nach den Ursachen fragt, und eine konsequente Ursachenforschung führt zu einem System von Gesetzmäßigkeiten: Der Determinismus ist mit der Funktionsweise des Denkens ebenso untrennbar verbunden wie das Ich-Bewusstsein. Vor dem Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit hatte sich Fichte selbst zum Determinismus bekannt47, fühlte sich dann jedoch durch die Philosophie Kants von diesem Denkmodell befreit. In seinem Buch „Die Bestimmung des Menschen“ von 1800 verarbeitet er die eigene Entwicklung48 und beschreibt dabei die Denknotwendigkeit des Determinismus mit vorbildlicher Klarheit: 46  „Die

Bestimmung des Menschen“ von 1800, I 6, S. 250–51. den Brief an seine Braut vom 5.9.1790, III 1, S. 170–71. 48  Aus diesem Text, auf den nur selten Bezug genommen wird, soll im Folgenden ausführlicher zitiert werden: Er markiert ein Zwischenstadium in der Entwicklung des Philosophen, zwischen der ausgeprägten Ich-Betonung seiner Lehrtätigkeit in Jena und den stärker religiös inspirierten Texten seiner Berliner Zeit. Fichte war 1799 in Jena, im sog. ‚Atheismusstreit‘, seiner bürgerlichen Existenz verlustig gegangen, ohne bereits in Berlin Fuß gefasst zu haben. Der Text ist zudem ein gutes Beispiel dafür, wie ‚lebensnah‘ Fichte denkt, wie sehr die jeweiligen Lebensumstände sein Denken beeinflusst haben, vgl. dazu ein relativ bekanntes Zitat, das vom Bewusstsein der eigenen Entwicklung zeugt: „Unsere Philosophie wird die Geschichte unseres eigenen Herzens und Lebens, und wie wir uns selbst finden, denken wir den Menschen überhaupt und seine Bestimmung.“ (S. 288). 47  Vgl.



2. Der Objektivismus als Problem der Naturwissenschaften123

Ausgangspunkt seiner Bemühung um Selbstständigkeit ist die Einsicht, dass die bisherigen Überzeugungen und Selbsteinschätzungen von anderen gelernt und nicht selbst entwickelt wurden (S. 191 / 92). Bewusste Wahrnehmung seiner Umgebung führt dann zu dem Eindruck ihrer vollständigen Bestimmtheit: „Alles, was da ist, ist durchgängig bestimmt.“ (S. 193) Auch die Beobachtung der permanenten Veränderung ändert daran nichts, da auch die letztere determiniert zu sein, also festgelegten Regeln zu folgen scheint: „Die Natur schreitet durch die unendliche Reihe ihrer möglichen Bestimmungen ohne Anhalten hindurch; und der Wechsel dieser Bestimmungen ist nicht gesetzlos, sondern streng gesetzlich.“ (S. 194) Vergnüglich zu lesen ist auch immer noch die Geschichte von dem Sandkorn, mit der Fichte demonstrieren wollte, dass „die Natur ein zusammenhängendes Ganzes“ ist, alles mit allem zusammenhängt – jedenfalls im Denken des Menschen: Die Vorstellung, dass besagtes „Körnchen Flugsandes … einige Schritte weiter landeinwärts“ liegen könnte, bringt ihn dazu, über Windverhältnisse, „Temperatur der Luft“, Klimaveränderungen, „Unfruchtbarkeit der Länder“, geringe Lebenserwartung der Vorfahren usw. zu spekulieren – mit dem bedenklichen Ergebnis, „dass du sonach nicht sein würdest …, weil ein Sandkörnchen an einer anderen Stelle liegt“ (S. 198). Auch das Denken ist wie alles andere determiniert, da es Bestandteil der Natur ist: „Es ist die Naturbestimmung der Pflanze, sich regelmäßig auszubilden, die des Tieres, sich zweckmäßig zu bewegen, die des Menschen, zu denken. Warum sollte ich Anstand nehmen, das Letzte ebenso für die Äußerung einer ursprünglichen Naturkraft anzuerkennen, als das Erste und Zweite?“ (S. 199) Also: „das Denkende entsteht und entwickelt sich nach Naturgesetzen“ (S. 200). Sogar die Empfindung von Selbstständigkeit und Willensfreiheit ist ohne Beweiskraft gegen den Determinismus, da es sich lediglich um einen ins Bewusstsein gehobenen „Trieb deiner eigentümlichen inneren Natur“ handeln könnte, um „das Interesse der ursprünglichen Naturkraft in dir, sich selbst als solche zu erhalten …; denn du bist überhaupt nicht; es ist die Natur in dir, die für ihre eigene Erhaltung sich interessiert.“ (S. 213) Selbst das Dilemma von Innen- und Außenwahrnehmung wird von Fichte bereits deutlich gesehen: Was bei Singer ‚Dritte-Person-Perspektive‘ oder ‚Fremdbeschreibung‘ heißt, wird von Fichte (mit Ironie) der „so gerühmte Standpunkt einer Übersicht des Universums“ genannt, und

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

er stellt sich die Frage, „ob ich überhaupt auf diesen Standpunkt mich stellen oder in dem Umfange des unmittelbaren Selbstbewusstseins mich halten, ob der Erkenntnis die Liebe oder der Liebe die Erkenntnis untergeordnet werden solle. Das Letztere steht in üblem Rufe bei verständigen Leuten, das Erstere macht mich unbeschreiblich elend, indem es mich selbst aus mir selbst vertilgt.“ (S. 214) Im zweiten Teil seines Buches lässt Fichte einen ‚Geist‘ auftreten, der als Dialogpartner (nach Art des Sokrates) die Angst vor dem Determinismus wegdiskutieren soll, indem er den Sprecher herausfinden lässt, dass die scheinbar objektiven Determinanten lediglich subjektive Bewusstseinszustände und daraus kausal abgeleitete Schlussfolgerungen sind. Und der Geist kommt zu dem Ergebnis, „dass das Bewusstsein eines Dinges außer uns absolut nichts weiter ist, als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens und dass wir über das Ding nichts weiter wissen, als was wir darüber eben wissen, durch unser Bewusstsein setzen, dadurch dass wir überhaupt Bewusstsein und ein so bestimmtes, unter solchen Gesetzen stehendes Bewusstsein haben … Ich könnte die Gesetze, nach denen dir ein Mannigfaltiges von Gegenständen entsteht, die doch unter sich zusammenhängen, mit eiserner Notwendigkeit einander gegenseitig bestimmen und auf diese Weise ein Weltsystem bilden, wie du es dir selbst sehr wohl beschrieben hast, – ich könnte diese Gesetze dir ebenso klar in deinem eigenen Denken nachweisen … Du wirst nun nicht länger vor einer Notwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist … Solange du glauben konntest, dass ein solches System der Dinge, wie du es dir beschrieben, unabhängig von dir außer dir wirklich existiere und dass du selbst ein Glied in der Kette dieses Systems sein möchtest, war diese Furcht gegründet. Jetzt, nachdem du eingesehen hast, dass alles dies nur in dir selbst und durch dich selbst ist, wirst du ohne Zweifel nicht vor dem dich fürchten, was du für dein eigenes Geschöpf erkannt hast.“ (S. 246 / 47) Während sich Singer, wie wir gesehen haben, für die objektivistische Lösung des Dilemmas, also für den Standpunkt der Fremdbeschreibung entschieden hat, vertritt Fichte das andere Extrem: die subjektivistische Selbsterfahrung. So wie der konsequente Determinist das Freiheitsbewusstsein als Illusion verwirft, so erscheint dem konsequenten Subjektivisten die determinierte Gesetzmäßigkeit als Projektion der eigenen Denkstruktur.49 49  In dem dritten Buch seiner „Bestimmung des Menschen“, „Glaube“ überschrieben, gelingt es Fichte nicht, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden und



3. Subjektivismus und Objektivismus in der doppelten Zeitperspektive 125

3. Subjektivismus und Objektivismus in der doppelten Zeitperspektive Wenn wir uns nun der Frage nach der Vereinbarkeit von externer Betrachtung und interner Erfahrung zuwenden, so können wir zunächst mit Fichte in der Entwicklung unseres Realitätsbezuges drei Stadien unterscheiden: Im ersten Stadium wird uns die Welt als objektive Größe gegeben in den Begriffen unserer Erziehung. Im zweiten Stadium ersetzen wir die fremde Deutung durch unsere eigene, ohne jedoch an deren Objektivität zu zweifeln. Im dritten Stadium werden wir der progressiven Qualität unserer Weltbetrachtung und -gestaltung inne, in dem Maße wie wir unser Leben als dynamischen Prozess erfahren: „Das Leben erscheint unmittelbar gar nicht als ein Sein, das da ist (gegen die Naturphilosophie entscheidend), sondern als ein solches, das da sein soll – daher eben, wenn es ist, ein anderes, sein sollendes, eintritt, und so ins Unendliche.“50 Dadurch verwandelt sich das vormals objektive Sein in das Produkt unserer fortschreitenden Interpretation. Von diesem Wandel sind auch wir selbst in unserer Selbsterfahrung betroffen. Fichte warnt davor, unser „wahres Wesen“ durch „Beobachtung“ erfassen zu wollen, weil sie eine fiktive Zuständlichkeit voraussetzt: „Über dieses unser wahres Wesen kann uns nun keine faktische Selbstbeobachtung Aufschluss geben; denn gegeben (worauf doch allein die Beobachtung geht) werden wir uns in diesem Zustande nie, sondern wir können uns nur dazu machen, indem wir uns selbst ja nur als Leben, keineswegs aber als ein totes Sein gegeben sind.“51. Sobald wir uns des Lebens seine Glaubensgewissheit ‚vernünftig‘ zu vermitteln: den Zwiespalt zwischen Vernunftgläubigkeit und Gottvertrauen zu überwinden und von seinem transzendentalen Subjektivismus aus einen Zugang zu gewinnen zu einer transzendenten Objektivität. Es bleibt daher in unserem Zusammenhang außer Betracht. (Man vergleiche die Aussagen: „Es soll mir nie einfallen, statt Seiner [= Gottes] die Welt regieren zu wollen, die Stimme meiner beschränkten Klugheit statt seiner Stimme in meinem Gewissen zu hören“, I 6, S. 302, und: „Das Einzige woran mir gelegen sein kann, ist der Fortgang der Vernunft und Sittlichkeit im Reiche der vernünftigen Wesen … Ich betrachte mich überall nur als eins der Werkzeuge des Vernunftzwecks“, ebd. S. 303.) 50  Aus den ‚Vorarbeiten zu einer Beantwortung des Jacobischen Schreibens von 1799‘ (1807), II 11, S. 53). 51  Brief an Jacobi vom 3.5.1810 (III 6, S. 330).

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

durch Beobachten und Nach-Denken vergewissern wollen, „denken“ wir „dieses Leben wieder zu Tode“52. Durch die Einsicht in den permanenten, ebenso unerklärlichen wie unberechenbaren Wandel gewinnen wir gegenüber beiden Positionen, der ‚Fremdbeschreibung‘ und der ‚Selbsterfahrung‘ (um bei Singers Begriffen zu bleiben), hinreichend kritische Distanz, um deren Spannungsverhältnis aushalten und ihr Zusammenwirken als möglich und nötig erkennen zu können. Zu diesem Zweck müssen wir uns ihre unterschiedlichen Zeitperspektiven bewusst machen. Hierbei lässt sich anknüpfen an das, was oben (Kap. II. 2. a)) über den zeitlichen Abstand zwischen Handlung und Beobachtung gesagt wurde: Die ‚Fremdbeschreibung‘ ist retrospektiv. Alle Wissenschaften sind historisch. Beobachtungen (als Resultate) sind immer schon Vergangenheit. Vergangenes ist real, ist nicht mehr zu ändern und lässt sich großenteils objektivieren: Wir haben Fakten, die überprüfbar sind, und Deutungen, die diskutierbar sind, weil sie sich auf Realien stützen können. Dagegen ist die ‚Selbsterfahrung‘ in erster Linie prospektiv, ausgerichtet auf die Lösung ‚gegenwärtiger‘ Probleme und die Gestaltung des jeweils eigenen Lebens. Dieses ist nur subjektiv erfahrbar: Vor den Aufgaben der Zukunft steht jeder als Subjekt. (Nachdem wir uns glücklich von dem ‚gesetzmäßigen Fortschritt‘ der Menschheitsgeschichte befreit haben, sollten wir uns nicht gleich wieder in die Abhängigkeit von dem ‚gesetzmäßigen Fortschritt‘ der Naturgeschichte begeben.) Der prinzipiell unterschiedliche Zeitbezug wird verschleiert durch permanente Überschneidungen: Auch ein Wissenschaftler ist Subjekt, hat entsprechend ‚Selbsterfahrung‘ und will gestalten; doch Arbeitshypothesen und Entwürfe für die Zukunft sind noch keine Wissenschaft. Auf der anderen Seite erlebt sich der Mensch im Selbstbewusstsein nicht nur als normativ-gestaltendes Subjekt, sondern auch als Objekt der eigenen Gedanken; doch seine Konstruktionen der Vergangenheit, die ihm Kontinuität verleihen sollen, sind nicht objektiv, sondern Produkte seiner Wertung. Seine ‚Glaubensgewissheit‘ darf nicht dazu führen, die wissenschaftlich geprüften Resultate der Fremdbeschreibung zu ignorieren. 52  In:

„Der Patriotismus und sein Gegenteil“, 1806 / 07, II 9, S. 428.



4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben127

Aus der Kombination der beiden Perspektiven, der Zukunftsorientierung und der Vergangenheitsverarbeitung, konstruieren wir uns die ‚Gegenwart‘. Dabei ist die Kontrollfunktion der beiden Sichtweisen eine wechselseitige. Die Einsicht in ihre ‚denknotwendige‘ Beschränktheit (mit der ständigen Gefahr, sich aufgrund innerer Gesetzmäßigkeit absolut zu setzen) lässt die beiderseitige Ergänzungsbedürftigkeit plausibel erscheinen: Weder darf die retrospektive Wissenschaft aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließen, noch darf das prospektive Selbstbewusstsein die Vergangenheit dazu missbrauchen, die eigene ‚Weltanschauung‘ beweisen zu wollen. Der Subjektivismus als Erfahrung eigentümlicher Lebendigkeit, die ihren Ausdruck findet in einer Glaubenshaltung gegenüber einer unbestimmten Zukunft, ermöglicht uns eine kritische Distanz gegenüber den Produkten des objektivierenden und die Vergangenheit analysierenden Verstandes. Der Objektivismus als Leistung unserer Verstandestätigkeit, die sich äußert als realistische Positionsbeschreibung durch Auswertung einer bestimmten Vergangenheit, liefert uns ein Korrektiv für ‚unbedachte‘ Wunschvorstellungen des subjektivierenden Glaubens. Dabei geht es nicht um Über- oder Unterordnung, wie Fichte vermutet hatte mit seiner Frage, „ob der Erkenntnis die Liebe oder der Liebe die Erkenntnis untergeordnet werden solle“53, sondern es geht darum, die Zuständigkeitsbereiche zu unterscheiden, wobei die „Erkenntnis“ (als Ergebnis der Fremdbeschreibung) dem retrospektiven Denken zuzuordnen ist und die „Liebe“ (als wesentlicher Bestandteil der Selbsterfahrung) dem prospektiven Glauben.

4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben Fichtes eigener Versuch, das Dilemma Jacobis aufzulösen, führt uns noch einmal zu seiner Religiosität und zu dem Verhältnis von Denken und Glauben: In seinem Brief vom 3.5.1810 sieht er in dem bereits zitierten Satz Jacobis – „die Vereinigung von Naturnotwendigkeit und Freiheit in einem und demselben Wesen ist ein schlechterdings unbegreifliches Fak53  Die

Bestimmung des Menschen, I 6, S. 214.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

tum“ – die „Hauptdifferenz zwischen Ihnen und mir“, und er versucht, die „Nichtigkeit der ganzen Unterscheidung“ dadurch zu erweisen, dass er „das eine Glied des Gegensatzes ganz aufhebt“, nämlich die Notwendigkeit: „So ist denn alle Notwendigkeit durchaus nichts Reales, sondern nur die Anschauungsform des einen, wahrhaft Realen in der Erscheinung“54. Damit aber verlässt Fichte die Ebene des ‚normalen‘ Denkens, auf der Jacobi sich bewegt, und begibt sich auf die MetaEbene der transzendentalen Spekulation, die bei Fichte in zunehmendem Maße zur Ebene der Religion geworden ist; denn das „Reale in der Erscheinung“ ist für ihn „das bloße Erscheinen Gottes“. Wird nun aber die schöpferische Freiheit Gottes – „das Freie (Absolute der Erscheinung)“ – zum Ausgangspunkt des spekulativ-religiösen Denkens gemacht, so wird nicht nur die Naturnotwendigkeit gegenstandslos, sondern auch die menschliche Freiheit. In seinen ‚Vorarbeiten‘ für eine Antwort an Jacobi im Jahre 1807 notiert er: „Von der Freiheit kann man sagen: sie ist nicht um zu sein, sondern um nicht zu sein, um sich hingebend sich zu vernichten, eben in die absolute Erscheinung des Absoluten“55. Ähnlich spricht er in seinen Notizen für die Vorlesung „Vom Verhältnis der Logik zur wirklichen Philosophie“ (1812), in welcher er ebenfalls auf die Differenzen mit Jacobi eingeht, von der „Vernichtung und Hingebung der Freiheit (darin besteht die absolute Freiheit) an das ewige Gesetz des göttlichen Willens“56. Mit der Freiheit des Menschen geht auch seine Eigenständigkeit, seine „selbstständige Existenz“ verloren, wenn die Absolutheit Gottes so radikal gedacht wird wie von Fichte in dem bereits zitierten Fragment aus dem Jahr 1807: „Nun wird ihnen [= seinen Kritikern] ja die Selbstständigkeit Gottes nicht abgeleugnet. Nur sie wollen dieselbe erst durch Aussonderung von sich, aus der zweiten Hand, haben: wenn er nicht außer ihnen ist, so ist er nicht. Er ist ihnen also das zweite Selbstständige, durch den Gegensatz entstanden, um ihretwillen da, mittelbar zu erfassen; sie selbst aber sind das Unmittelbare, über welches weiter gar kein Streit ist. Sich fühlen sie, Gott nicht; in sich leben sie, nicht in ihm. Dieser Sinn ist nun wirklich so alt als die Welt; aber es ist darum doch ein unheiliger und ungöttlicher Sinn.“ Und er schließt mit dem erfrischend deutlichen, aber doch zu eindeutigen Satz: „Dabei wird es nun bleiben, was auch jene, die ihre sich 54  III

6, S. 328–29. 11, S. 51. 56  II 14, S. 41. 55  II



4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben129

angelogene selbstständige Existenz ehrenhalber auch mit Gott teilen und ihn damit beschenken wollen, für Gesichter dazu machen!“57 Hiermit reagierte Fichte auf die Äußerung Jacobis: „Gott ist … außer mir, … oder ich bin Gott. Es gibt kein Drittes.“ (s. o. Kap. I. 3.) Durch diese fragwürdige Alternative58 musste sich Fichte in mehr­ facher Hinsicht provoziert fühlen: Die Objektivierung Gottes mit der Folge, dass dieser in Abhängigkeit gerät von dem Ich als dem Subjekt, war mit Fichtes religiöser Grundüberzeugung nicht zu vereinbaren. Außerdem sah er sich im ‚Atheismusstreit‘ dem existenzgefährdenden Vorwurf ausgesetzt, mit einer Leugnung der externen Personalität Gottes das eigene Ich absolut zu setzen und zum ‚Götzen‘ zu machen. Und schließlich stand die dualistische Auffassung Jacobis im Widerspruch zu seiner philosophischen Bemühung, die Welt ‚aus einem Punkte‘ zu erklären oder, wie er es in einer Vorlesung im Jahr 1804 formulierte, ‚mit der Suche nach der Einheit Ernst zu machen‘: „Dies war eben die Schwierigkeit aller Philosophie, die nicht Dualismus sein wollte, sondern mit dem Suchen der Einheit Ernst machte, dass entweder wir zugrunde gehen mussten oder Gott. Wir wollten nicht, Gott sollte nicht!“59 So eindrucksvoll Fichte seine Glaubenshaltung formuliert hat – mit seiner radikalen Kritik am Ich-Bewusstsein und dessen ‚angelogener selbstständiger Existenz‘ –, so ist doch vom Standpunkt des NachDenkens dagegen zu halten, dass das ‚Leben in Gott‘ als religiöse Trans­ zendenzerfahrung für uns ‚Normal-Sterbliche‘ nicht von Dauer ist, sondern auf die Immanenz, auf das ‚Leben in uns selbst‘ als seine Basis angewiesen bleibt. Zurück ‚auf dem Boden der Realität‘ wird die Erfahrung reflektiert und dadurch zum Gegen-stand der Betrachtung: zu einer Gottesvor-stellung. Eine Annäherung der beiden Standpunkte könnte sich daraus ergeben, dass auch hier wieder zwischen dem Ich, als dem Subjekt der Reflexion, und dem Individuum als ganzem unterschieden würde. Der Satz Jacobis ‚Gott ist außer mir‘ wäre dann abzuwandeln zu der Aussage: ‚Gott ist 57  II

11, S.  43 / 44. selbst ist in dieser Frage nicht eindeutig: er fühle sich gezwungen, „das Unbegreifliche – ja das im Begriff Unmögliche zu glauben, in mir und außer mir“; und es müsse „Gott im Menschen geboren werden, wenn der Mensch einen lebendigen Gott – nicht bloß einen Götzen – haben soll“ (s. o. Kap. I. 3.). 59  II 8, S. 115 („Wissenschaftslehre“ von 1804, öffentlich vorgetragen, aber seinerzeit nicht im Druck erschienen). 58  Jacobi

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

außer dem Ich‘, also außerhalb von dem (im Denken unvermeidlichen) Ich-Bewusstsein; denn mit diesem – darauf hätten sich die Kontrahenten wohl einigen können – ist eine Gotteserfahrung nicht vereinbar. Wenn wir nun akzeptieren, dass der Mensch als ganzer mehr ist als sein Denkvermögen, dann würde sich als dritte Möglichkeit neben Jacobis Alternative ergeben: Gott ist in meiner Person und außerhalb derselben60; denn auch hier gilt, was bereits beim Thema ‚Offenbarung‘ angemerkt wurde (s. Exkurs 1), dass unser Auffassungsvermögen prinzipiell auf das beschränkt ist, was in uns angelegt und als Potenzial vorhanden ist. Auch in der ‚Gottesfrage‘ kann das Bewusstsein der doppelten Zeitperspektive eine Verständigung erleichtern: Der ‚deus intra nos‘ ist prospektiv, in die Zukunft weisend und sie durch uns gestaltend; der ‚deus extra nos‘ resultiert aus dem Nach-Denken, aus der reflexiven, ordnenden Funktion des Verstandes. Hier hat auch der von Fichte kritisierte ‚Schöpfergott‘ seinen Platz: Aus der Erfahrung einer sinnvollen Lebensperspektive heraus wird nach dem Kausalitätsprinzip zurückgeschlossen auf einen sinngebenden Ursprung und eine kontinuierliche ‚Heilsgeschichte‘. Der ‚Gott außer mir‘ kann also in meinem Bewusstsein durchaus real sein und kein beliebiges Fantasieprodukt, doch eignet ihm, als einer retrospektiven Konkretisierung subjektiver Erfahrung, keine ‚objektive‘, objektiv nachweisbare Realität. Damit verlieren unsere Gottesvorstellungen den Anspruch dogmatischer Unveränderlichkeit, ohne ihre subjektive Verbindlichkeit einzubüßen. Die Wahl der Perspektive scheint auch eine Mentalitätsfrage zu sein: So verwundert es nicht, dass von dem eher beschaulich-kontemplativen Jacobi der ‚Gott außer uns‘ bevorzugt wird, der sich in echter Demut ausgestalten und verehren lässt, während dem von rastloser Aktivität getriebenen Fichte der ‚Gott in uns‘, der uns den Weg weist und uns handeln lässt, als der allein wirkliche und lebendige erscheint. Nun kann die immanente Gotteserfahrung (als Bewusstsein einer Kraft, über die wir nicht verfügen können) mit unterschiedlicher Intensität erlebt und in verschiedenartige Bilder und Begriffe gekleidet werden. Bei Fichte vollzieht sich eine Entwicklung von der vernunft-gemäßen, noch 60  Natürlich gibt es auch noch eine vierte Möglichkeit: die Position desjenigen, für den das Ich-Bewusstsein ‚das Höchste der Gefühle‘ ist; doch damit wäre uns die gemeinsame Basis entzogen, auf der wir uns mit Fichte und Jacobi verständigen können, dass nämlich das Ich mit seinem Selbstbewusstsein für uns nicht ‚das Höchste‘ ist (vgl. Jacobi: „ich selbst, wahrlich, kann mein höchstes Wesen mir nicht sein“, s. o. Kap. I. 3.).



4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben131

an Kant orientierten ‚moralischen Weltordnung‘ seiner Zeit in Jena hin zu dem fast schon personal gefassten ‚Willen Gottes‘ der Berliner Zeit, von der verstehbaren Pflicht hin zur unbegreiflichen Liebe – eine Entwicklung, auf die er selbst nicht reflektiert hat, vermutlich wegen seiner Abneigung gegenüber jeglicher Form der Selbstbespiegelung. Zurück auf der Ebene des ‚normalen‘ Lebens und disjunktiven Denkens bleiben uns die objektivistisch-retrospektive Naturnotwendigkeit und die subjektivistisch-prospektive Freiheit als Komplementärbegriffe erhalten. Entscheidung, als Glaubensvollzug in Freiheit, setzt Unterscheidung, als Denkprozess mit Kausalität, voraus. Das ‚Zugleich‘61 von Notwendigkeit und Freiheit, von wissenschaftlichem Realismus (mit seinem reflexiven Ich-Bewusstsein) und religiösem Idealismus (mit seiner Transzendierung bzw. Überwindung der jeweils erreichten Ich-Position) äußert sich in dem Zusammenwirken von Denken und Glauben – nicht konkurrierend, sondern komplementär. Fichtes Einstellung zu dem Verhältnis der beiden Begriffe wirkt nicht eindeutig: Einerseits ordnet er in der Stufenfolge seiner Weltanschauung das Denken, den „Standpunkt der Wissenschaft“, höher ein als den Glauben, den „Standpunkt der Religiosität“ (in der 5. Vorlesung seiner „Anweisung zum seligen Leben“62), andererseits erklärt er in derselben Vorlesungsreihe, nur 5 Wochen später: die Liebe, als der zentrale Religionsbegriff (als die Offenbarung Gottes schlechthin63), sei „höher denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft“64. Eine Verbindung der beiden Positionen ergibt sich für ihn aus seiner Einheitsvorstellung, in welcher ein prinzipieller Unterschied zwischen Denken und Glauben keinen Raum hat: Im theoretischen Teil des Buches überwiegt das Denken, weil es die Gründe des Glaubens benennen kann65, und im praktischen Teil dominiert die Leitvorstellung des Glaubens, von der das Denken seine religiös-moralische Ausrichtung erfährt. 61  Fichte hatte in den ‚Nebenbemerkungen‘ v. 1807 als Zielvorstellung formuliert: „zugleich innen und außen sein“ (s. o. Kap. II. 1. a)). 62  I 9, S. 50. Vgl. das „Privatschreiben“ von 1800: „Ich habe es mit der Ableitung (Deduktion) jener Religion aus dem Wesen der Vernunft zu tun“ (I 6, S. 377). 63  I 10, S. 137. 64  I 9, S. 167. 65  „Die Wissenschaft geht über die Einsicht, dass alles schlechthin Mannigfaltige in dem Einen gegründet und auf dasselbe zurückzuführen sei, welche schon die Religion gewährt, hinaus zu der Einsicht des Wie dieses Zusammenhanges.“ I 9, S. 112.

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

Hier zeigt sich die Problematik eines Vernunftbegriffs, der aus Verstandestätigkeit und Wertvorstellung zusammengesetzt ist: Aus der ‚Liebe‘ lässt sich zwar ein Wertebewusstsein ableiten, aber der Verstand gerät dabei in Gefahr, seine kritische Distanz, Unabhängigkeit und Kontrollfunktion zu verlieren (zum Vernunft-Problem s. Exkurs 2). Der Konflikt zwischen der spekulativ konstruierenden Vernunftgläubigkeit der Aufklärungszeit und einer religiös motivierten Glaubensgewissheit mit christlichem Ursprung wird nicht ausgetragen, ja nicht einmal als solcher benannt, weil Fichte auch hier wieder von seiner Wunschvorstellung blockiert wird, die Welt und mit ihr das menschliche Leben ‚aus einem Punkte‘ ableiten und erklären zu können. Doch diesen Einheitspunkt – das Sein, das absolute Ich, Gott, die Vernunft (die Begriffe wechseln bei Fichte) – den gibt es nicht, jedenfalls nicht so, dass er für uns verfügbar und kommunizierbar wäre. Unter dem Anspruch Fichtes, sozusagen eine ‚geisteswissenschaftliche Weltformel‘ gefunden zu haben, droht auch die eigentliche Leistung seiner ‚Wissenschaftslehre‘ zu leiden und in Vergessenheit zu geraten: die radikale Erkenntniskritik, mit der er noch über Kant hinausging und die von Jacobi durchaus zutreffend erkannt und gewürdigt wurde. Diese Leistung ist rein destruktiv – und kann damit sehr hilfreich sein z. B. gegen jede Art von Fanatismus, der immer auch versucht, sich auf ‚Begründungen‘ zu stützen: Keine Anstrengung des Denkens aber ist in der Lage, die Richtigkeit oder gar Notwendigkeit einer Glaubenseinstellung zu beweisen, da diese dem Denken vorgeordnet ist. Bei der Unterscheidung von rationalem Denken und normativem Glauben stoßen wir allerdings auf ein grundsätzliches Problem der Begrifflichkeit bzw. der Begreifbarkeit; dabei zeigt sich, dass die Ursprünglichkeit einer Sprache – auch das wurde von Fichte schon erkannt (s. o. Kap. I. 5.) – durchaus hilfreich sein kann für unsere ‚Einsichten‘: Die Begriffe des Ver-standes haben es mit Gegen-ständlichem, Fassbarem und eben ‚Be-greifbarem‘ zu tun, sie gehen zurück auf Empirie, auf Wahrnehmung und praktische Erfahrung. Den Glauben dagegen buchstäblich ‚in den Griff‘ zu bekommen, ihn also auf einen Begriff zu bringen, ist nur annäherungsweise möglich. Wertvorstellungen sind nicht konkret, nicht nachweisbar, eigentlich nicht zu ‚fassen‘ und letztlich nicht begründbar. Während wir uns also über das Denken als Verstandestätigkeit relativ leicht verständigen können, fällt es uns schwer, den vieldeutigen Begriff des Glaubens vor Missverständnissen zu schützen. In unserem Zusam-



4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben133

menhang ist er nach zwei Seiten hin abzugrenzen: einmal gegenüber dem umgangssprachlichen ‚etwas für wahr oder wahrscheinlich halten‘ und zum anderen gegenüber einem religiösen Glaubensverständnis mit spezifischen Glaubensinhalten (verbunden mit der Präposition ‚an‘: Glauben an etwas oder an jemanden). Nach Fichte gehört der Glaube (oder die Religiosität bzw. die Religion in einem sehr allgemein gehaltenen Sinne) zu den Grundbefindlichkeiten des Menschen66. Unsere subjektive ‚Lebendigkeit‘ in der ‚Gegenwart‘ und damit unsere Einstellung gegenüber der Zukunft äußert sich in einer Wertvorstellung und in dem Vertrauen auf deren prinzipielle Realisierbarkeit. In diesem umfassenden Verständnis beruhen nicht nur unsere „Grundentscheidungen“ auf Glauben (so Ratzinger, s. Exkurs 2), sondern unser gesamter Lebensvollzug. Dabei hat die objektive Unbestimmtheit im Glauben ihren Ursprung nicht nur in der Unableitbarkeit von Wertvorstellungen und in der Unbeweisbarkeit von Glaubensinhalten, sondern noch allgemeiner in der Unberechenbarkeit der Zukunft. Mit dieser Auffassung eines zukunftsorientierten Glaubens als ‚anthropologischer Konstante‘ lässt sich durchaus die christliche Religion als eine spezifische Ausprägung der zugrunde liegenden Religiosität vereinbaren. Ohne diese Basis jedoch, ohne die Annahme einer wesensmäßigen Glaubenshaltung des Menschen könnte eine konkrete Religion nicht als Offenbarung, sondern nur als Fremdbestimmung aufgefasst werden. Der Rationalist wird dazu neigen, von dem Verstand begründete Entscheidungen zu erwarten; der Glaubende ist dem Denken gegenüber skeptischer: Für ihn ist der Verstand ein Werkzeug ohne Entscheidungskompetenz, da ihm die Wertungskriterien fehlen. Der Glaube, der sich auf der moralischen Ebene äußert in dem Gewissen, legt die ‚Richtli­ nien‘ fest, und dem Verstand obliegt die realistische Einschätzung eines Vorhabens und die Organisation der praktischen Umsetzung: Er liefert eine Machbarkeitsanalyse, wertet die abgespeicherten Erfahrungen aus, berechnet die vorhandenen Möglichkeiten, Widerstände und Risiken und stattet die Entscheidungen des Menschen mit einer plausiblen Begründung aus, wodurch leicht der Eindruck entsteht, als würde der Verstand allein entscheiden. Auch die Akzeptanz und Sozialverträglichkeit des 66  s. o. Kap. I. 2. und I. 4; sowie das „Privatschreiben“ von 1800: „An der Religion, wie sie vom Anfange der Welt an in den Herzen aller gutgesinnten Menschen gewohnt hat und fortwohnen wird bis an das Ende der Tage, wird durch meine Philosophie nichts verändert“ (I 6, S. 377).

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II. Weiterführung: ‚Fichte für Fortschreitende‘

eigenen Projekts zu kalkulieren ist Aufgabe des Verstandes; doch kann sich das Gewissen selbst über die vernünftigsten Überlegungen hinwegsetzen mit so schwer zu diskutierenden Behauptungen wie: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders.‘ Beim Denken also müssen wir ‚wissen‘, dass ‚seine‘ Konzeptionen für die Zukunft auf vorgegebener, normativer Grundlage beruhen und nicht etwa zwangsläufige Verlängerungen naturgesetzlicher Entwicklungslinien sind. Diese Einsicht ist Voraussetzung dafür, nicht in die Falle kausal-logischer ‚Zwangsvorstellungen‘ zu tappen. Wird die immanente Gesetzmäßigkeit des Denkens zum alleinigen Mittel der Weltdeutung und Zukunftsgestaltung erklärt, versteigen wir uns in den fatalistischen Konstruktionen des Determinismus. Auf der anderen Seite ist vom Glauben zu verlangen, dass er seine Einschätzung des Vergangenen als Projektion der eigenen Wertvorstellungen durchschaut und nicht etwa seinerseits objektiviert, z. B. zu einem ‚göttlichen Heilsplan‘, für den vom Glauben aus eine ähnlich deterministische Qualität beansprucht wird, wie vom Denken aus für die Naturgesetzlichkeit. Der Glaube muss zwar im Interesse unserer Handlungsfähigkeit prinzipiell eindeutig sein, doch sollte ihn das Nachdenken aufgrund seiner Einsichten, Erfahrungen und selbstkritischen Überlegungen davor bewahren, die subjektive Verbindlichkeit mit objektiver Gültigkeit gleichzusetzen. Das Denken freilich, mit seinem skeptischen ‚Kritizismus‘, mit seiner Forderung nach Überprüfbarkeit und möglichst auch Beweisbarkeit, erhöht nicht unbedingt die ‚Durchschlagskraft‘ des Glaubens. ‚Von des Gedankens Blässe angekränkelt‘ wirkt nicht nur Hamlet wie gelähmt. Mitreißenden Schwung erwartet man vergeblich von einer ‚vernünftigen‘ Liebe, und ein ‚kluger‘ Enthusiasmus gilt fast als Widerspruch in sich. Begeisterung jedoch ohne Überlegung – und darin liegt die Gefahr der von Fichte geforderten völligen ‚Hingabe‘ – führt zum Fanatismus. Zwei Widersprüche sind in diesem Zusammenhang noch aufzulösen, die in den Aussagen zu liegen scheinen, (1.) der Glaube sei zugleich eindeutig und frei, und (2.) das Denken sei zugleich deterministisch und skeptisch. Darin zeigt sich die Wirklichkeit des Menschen in der ‚Gegenwart‘ auf der ‚Grenze‘ zwischen Vergangenheit und Zukunft: 1. Durch die Eindeutigkeit seines zuversichtlichen Glaubens fühlt sich der Mensch frei – von Zweifeln, Ängsten und von den Zwängen der Vergangenheit. Insoweit hatte Fichte Recht mit seiner eingangs zitierten Kritik an Jacobi, dass die Notwendigkeit (des Denkens in der



4. Notwendigkeit und Freiheit in Denken und Glauben135

Vergangenheit) aufgehoben wird von der Freiheit (des Glaubens im Hinblick auf die Zukunft). 2. Das Denken in seiner Ausrichtung auf Vergangenes systematisiert die empirischen Daten im Interesse einer eindeutigen Bestandsaufnahme nach den Regeln kausaler Gesetzmäßigkeit. Grundsätzliche Kritik und Skepsis ergeben sich aus dem Perspektivenwechsel: durch die Ausrichtung des Denkens auf die prinzipiell undurchschaubare, unberechenbare und unbeherrschbare Zukunft. Mit seinem ‚Wissen um das Nichtwissen‘ in dieser Hinsicht bewahrt uns das Denken davor, die Eindeutigkeit unseres Glaubens mit einem Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit zu verbinden. Eine begründete, vor uns selbst und anderen zu verantwortende Überzeugung gewinnen wir nur durch die Kombination von Impuls und Analyse, von Motivation und Reflexion, von Kreativität und Reproduktion, von Inspiration und Rationalität, von Religion und Philosophie – also durch die Verbindung von Glauben und Denken. Nur durch deren Zusammenwirken lassen sich die Gefahren absolut gesetzter Einseitigkeit vermeiden: Zwischen der ‚Skylla‘ des absoluten Denkens und der ‚Charybdis‘ des absoluten Glaubens gilt es Kurs zu halten – zwischen Fatalismus und Fanatismus. –

III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten in der Gegenwart Exkurs 1: Kurt Hübner und die Offenbarungsgläubigkeit1 (Offenbarung als Überwindung des Subjektivismus?) Fichte hatte in seiner „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 die Notwendigkeit von Offenbarung betont: „Der von Gott Begeisterte wird uns offenbaren, wie sie ist [ = die ‚neue und übersinnliche Welt‘ des ‚wahren Lebens‘], und sie ist, wie er es offenbart, deswegen weil er es offenbart; ohne innere Offenbarung aber kann niemand darüber sprechen“ (s. o. Kap. II. 1. c)). Was aber ist ‚Offenbarung‘ inhaltlich? Eine problematische Antwort auf diese Frage hat Kurt Hübner gegeben mit seinem Buch „Glaube und Denken“ (Tübingen 2001) – ein außerordentlich kenntnisreiches und anregendes Werk mit einer guten Übersicht über die Unzulänglichkeiten der abendländischen Metaphysik. (Da auch Fichtes Überlegungen immer wieder um das Verhältnis von ‚Glaube und Denken‘ kreisen, war eine Auseinandersetzung mit diesem Buch des Kieler Philosophen naheliegend.) Nach erfolgreicher Destruktion diverser philosophischer ‚Wolkenkratzer‘ betont auch Hübner die Notwendigkeit von Offenbarung, verengt allerdings diesen Begriff auf die ‚äußere‘ Offenbarung der christlichen Religion. Dabei scheint er nicht zu beachten, dass die unkritische Übernahme kirchendogmatischer Bibelinterpretation nicht weniger fremdbestimmt wäre, als das ‚gläubige Nachbeten‘ einer philosophischen Welterklärungsspekulation. Wohl erkennt er im Vorwort die Notwendigkeit, „dass man die Anstrengung auf sich nimmt, zu einer Erkenntnis darüber zu kommen, von welchem Christentum man spricht“, und er will dem „Missverständnis“ vorbeugen, „diesem Buch liege eine protestantische Deutung des Christentums zugrunde. In Wahrheit wird man darin ebenso viele Elemente der katholischen Dogmatik finden“ (S. XV) – polemisch nachgefragt: auch Mariä Himmelfahrt, auch die päpstliche Un1  Bezug

zum Text s. o. Kap. II. 1. c).

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

fehlbarkeit? Will sagen: Hübner bleibt uns leider eine Analyse der Dogmatik und damit eine Begründung seiner Auswahl schuldig. Erstaunlich unkritisch zitiert er aus der Bibel vom 1. Buch Mose angefangen bis zur ‚Offenbarung‘ des Johannes, als habe dieses Buch immer noch in allen seinen Teilen als ‚Gottes Wort‘ zu gelten und sei als ‚Logos der Offenbarung‘ dem menschlichen Urteilsvermögen entzogen. Zu diesem „Logos des christlichen Glaubens“ (dem ‚Logos der Offenbarung‘ gleichgesetzt, S. 16 f.) werden ebenso fraglos diverse Elemente der Dogmatik zugerechnet wie z. B. das trinitarische Glaubensbekenntnis aus dem 4. Jahrhundert und die Erbsündenlehre des Augustinus aus dem 5. Jahrhundert, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob nicht zumindest Teile davon als metaphysische Spekulationen aufzufassen seien, und ohne die verwirrende Fülle menschlicher Unzulänglichkeiten in der ‚Heiligen Schrift‘ und in der christlichen Tradition auch nur einer einzigen kritisch-distanzierten Bemerkung zu würdigen. (Der gnadenlose Fanatismus, mit dem z. B. Augustinus die Gegner der Erbsündenlehre verfolgt hat, lässt keine rechte Freude an seiner ‚Begeisterung‘ bzw. an dieser Art von ‚Offenbarung‘ aufkommen.) So scheint Hübners Frage am Anfang des Buches, „ob man an eine Religion glauben soll“ (S. 1), nicht nur eine sprachliche Ungenauigkeit zu sein: offenbar ‚glaubt‘ er tatsächlich ‚an die christliche Religion‘. Nun haben wir ja im Christentum ohnehin das Problem mit dem Begriff der ‚Offenbarung‘, sie (wohl im Sinne Hübners) für etwas Abgeschlossenes zu halten, zentriert um die Erscheinung des Jesus von Nazareth als des Christus, als des Begründers einer ‚Offenbarungsreligion‘2; doch eigentlich ist Religion immer Offenbarung, weil sie immer auf die Zukunft ausgerichtet und niemals abgeschlossen ist (von den Formen eines Staatskults zur ‚Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung‘ einmal abgesehen). Insofern ist Fichtes kritische Distanz zu jeglicher Dogmatik immer noch zukunftsweisend: „Der von Gott Begeisterte wird [!] uns offenbaren …“; und in dem Fragment „Heroismus der Idee“ heißt es: „Die Religion kann nicht mehr bedroht werden, seitdem die Menschheit von dem einseitigen Glauben an gewisse Formeln sich losgemacht3.“ Am deutlichsten zeigt sich die Zukunftsorientierung seiner Religiosität in dem „System der Sittenlehre“ von 1812: „So gewiss in der Wirklich2  Vgl. die „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“ des 2. Vatikanischen Konzils: Christus sei „die Fülle der ganzen Offenbarung“, der „die ­Offenbarung erfüllt und abschließt“; daher sei „keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten“ (LThK2, Erg. Bd. 2, Freiburg 1967, S. 508–13). 3  II 10, S. 291 (geschrieben vermutlich im April 1807 in Königsberg).



Exkurs 1: Kurt Hübner139

keit das Übersinnliche sich nur allmählich entwickelt, so gewiss ist stets die neueste Offenbarung Gottes die richtige4.“ Der Warnung Hübners vor dem uneingeschränkten Geltungsanspruch der empirischen Wissenschaften ist zwar zuzustimmen; aber sein Bemühen, jenen „Pluralismus“ und jene „Zerrissenheit, die man als den Zustand der Moderne bezeichnet“, durch den „Logos der Offenbarung einer tieferen Ordnung“ zuzuführen (S. XIV), ähnelt doch zu sehr der mittelalterlichen Auffassung von der Wissenschaft als Dienerin der Religion (ancilla theologiae). Als Beispiel möge seine philosophische Bemühung um die Trinitätslehre dienen: Hübner zeigt sich durchaus vertraut mit den verschiedenen Gottesspekulationen, die im 4. Jahrhundert um die dogmatische Fixierung des Glaubensbekenntnisses miteinander rangen bzw. gegeneinander kämpften – die teils fanatische, teils pragmatische Machtbesessenheit der Protagonisten wird von Hübner nicht eigens erwähnt –, um schließlich zu dekretieren: Nur die siegreiche Trinitätslehre entspreche der von ihm „entwickelten Logik und Systematik der Erlösungslehre, nach der nur Gott selbst in irdischer Erscheinung die Entsühnung der Menschheit vollbringen konnte“. Dabei wird z. B. der sog. Adoptianismus, der sich auf den Bericht über Jesu Taufe stützt (z. B. Mk 1,11: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.“), verworfen, weil er „die Jungfrauengeburt ausschließt“, die Hübner für „eines der konstitutiven Elemente für die Bestimmung des Sohnes Gottes“ hält (S. 103). „Logik und Systematik“ sind aber keine Termini der religiösen Offenbarung, sondern der philosophischen Spekulation. Ob wohl ein Naturwissenschaftler hinter solchen Begründungsversuchen jene „wahrhaft vermittelte Einheit und Ordnung im heutigen Pluralismus“ (S. 614) vermuten wird, die Hübner vom „Logos der Offenbarung“ erwartet? Eher wird ihn schon die Vorstellung einer „Entsühnung der Menschheit“ so verwirren, dass er gar nicht mehr zu der Frage kommt, ob für ein derartiges Projekt das persönliche Auftreten einer Gottheit erforderlich sei. Alle Versuche, eine Offenbarung in den Rang einer objektiven Realität zu erheben, von der aus sich der Subjektivismus überwinden ließe, sind Ausdruck einer unkritischen Offenbarungsgläubigkeit. Mag uns Offenbarung auch durch Beispiele und Tradition ‚von außen‘ nahegebracht werden, so ist doch ihre Gültigkeit für uns nur durch interne, 4  II

13, S. 386.

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

subjektive Zustimmung zu erweisen, wodurch sie, im Sinne Fichtes, zur ‚immanenten‘ Offenbarung wird: „Die Wahrheit der vorgetragenen Glaubenslehre muss sich einem jeden innerlich an seinem eigenen sittlichen Sinne bestätigen. Ein anderes Mittel der Bewahrheitung und Anknüpfung kennen wir nicht [als] den inneren Beweis5.“ Freilich: nur eine Offenbarung, die zu einer Dogmatik ausgestaltet und verfestigt wird, verspricht Kontinuität, äußeren Halt für den Einzelnen und den inneren Zusammenhalt einer Gruppe. Jene Offenbarung dagegen, die Fichte allein gelten lässt, die nur im Inneren des Menschen ihre ‚Beglaubigung‘ erfährt, ist nicht mit Argumenten der Logik und Systematik zu vermitteln, sondern nur mit der eigenen Lebenswirklichkeit. Ihr Verzicht auf ein dogmatisches Korsett, ihre prinzipielle Offenheit für die Zukunft, ist auch ein Verzicht auf Sicherheit: Ihre Repräsentanten sind von außen (ohne den Schutz von Lehrgebäude und Institu­ tion) leichter angreifbar und im Inneren stärker dem Zweifel und dem Risiko der Verirrung ausgesetzt. Es sei noch kurz auf Hübners Urteil über Fichte eingegangen, um die Position des letzteren vor offenbar immer noch möglichen Missverständnissen zu schützen: In dem Kapitel „Sartre und Fichte. Atheismus als Metaphysik der absoluten Subjektivität“ (S. 561–575) bezichtigt er Fichte des Atheismus‘, wobei er sich lediglich auf drei kurze Texte aus Jena von 17976 stützt. Zwar weiß er um die Tatsache, „dass Fichte allerdings den ihm gemachten Vorwurf des Atheismus zurückgewiesen hat“, was ihn aber nicht daran hindert zu behaupten, dass der Atheismus, zu dem Sartre sich bekannt habe, auch für „Fichtes gleichartige Metaphysik“ gelte, „ob er dies nun wahrhaben wollte oder nicht“ (S. 561). Ähnlich wie seiner5  Sittenlehre von 1812, II 13, S. 385. (Die unvollständige Wortgruppe „den inneren Beweis“ lautet in der Bearbeitung von I. H. Fichte: „wir haben also nur einen inneren Beweis“, Bd. XI, S. 109 / 10.) Ähnlich heißt es bereits in der „Sittenlehre“ von 1798: „Niemand wird überzeugt, wenn er nicht in sich selbst hineingeht und die Zustimmung seines Selbst zu der vorgetragenen Wahrheit innerlich fühlt“ (I 5, S. 278). 6  Hübner erwähnt nur den „Versuch einer neuen Darstellung der WL, ed. F. Medicus, I, S. 526 ff“ (S 562, Anm. 81), wobei es sich um einen recht kurzen ‚Versuch‘ von 15 Seiten handelt – etwas schwer zu finden, da Hübner nicht nach der MedicusAusgabe (Bd. 3, S. 103–118, Leipzig 1910), sondern nach der I.H.Fichte-Ausgabe zitiert: Bd. I, S. 519–34. (Der Aufsatz ist seit 1970 auch in der Akademie-Ausgabe verfügbar: I 4, S. 271–281.) Auf den folgenden Seiten (S. 563–70) zitiert Hübner (ohne Angabe der Schriften) noch aus zwei weiteren kurzen ‚Anläufen‘ Fichtes, nämlich aus der 1. und 2. Einleitung in die WL von 1797.



Exkurs 1: Kurt Hübner141

zeit schon die Obrigkeit in Weimar verzichtet leider auch Hübner darauf, den nun wirklich nicht eindeutigen Begriff des ‚Atheismus‘ zu definieren. Hätte er auch den ‚preußischen‘ Fichte in seine Untersuchung mit einbezogen, wäre er vielleicht überrascht gewesen über die Parallelen zu seinem eigenen Werk. Auch Fichte ist bestrebt, ‚Glaube und Denken‘ zu harmonisieren und seine Glaubensgewissheit spekulativ-philosophisch abzusichern7. In seiner Kritik an Fichte macht Hübner den grundlegenden – von vielen anderen Autoren und gelegentlich auch von Fichte selbst geteilten – Fehler, die Begriffe ‚Ich‘ und ‚Individuum‘ nicht eindeutig zu unterscheiden (vgl. S. 568 / 69). Anders als das Individuum (die Person, der Mensch) hat das ‚Ich‘ keinerlei empirisch nachweisbare Realität: Es ist eine Konstruktion des Bewusstseins, unabhängig von der Denkbewegung nicht vorhanden. Hübner sagt zwar auch, statt ‚ich denke‘ sollte man besser sagen: ‚es denkt‘ (S. 569; ‚es denkt‘ auch schon auf S. 266); aber dann müsste der Satz des Descartes auch konsequent abgewandelt werden: ‚Es denkt, also ist das Ich‘. Denn wenn ‚es nicht denkt‘, gibt es zwar immer noch reichlich Menschen, die nicht denken, aber es gibt kein Ich. In religiösem Sinne hat das Ich den Nachteil, dass es ‚nur‘ denkt, also nicht erlebt, nicht offenbart, andererseits aber den Vorteil, dass es auf ein ‚Du‘ bezogen ist, Gott als ein Gegenüber hat und die von dem ganzen Menschen erlebte Wirklichkeit auf den Begriff der Offenbarung bringen kann. Dass in dem Begriff ‚Ich‘ nicht der ganze Mensch zum Ausdruck kommt, klingt schon in der Paradoxie des Paulus an: „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10). In unserem Zusammenhang scheint folgende Deutung möglich: ‚Wenn das Ich schwach ist, ist Gott in meiner Person stark.‘ Fichte ‚profiliert sich nicht auf Kosten Gottes‘ – will sagen: anders als die wenigen Sätze bei Hübner vermuten lassen, steht das Ich keineswegs im Zentrum seiner Weltanschauung, jedenfalls nicht in der zweiten Phase seiner Wirksamkeit. Vielmehr hat er gerade die Überwindung des Ich und die Selbstlosigkeit des Menschen in so extremer Weise propagiert, dass man Angst haben muss um seine Verführbarkeit (ich komme darauf im letzten Kapitel zurück). 7  Vgl. den bereits zitierten Brief vom 1.7.1803 an Cotta: „Die ganze Richtung meines Gemüts geht seit Jahren auf Verbreitung wahrer Religiosität durch Philo­ sophie.“ (III 5, S. 176.).

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

Zur Überwindung des Ich und der damit verbundenen ‚Erkenntnis der übersinnlichen Welt‘ bedarf es auch bei Fichte einer Offenbarung, die insofern eine ‚transzendente‘, eine ‚äußere‘ ist, als sie uns nahe gebracht wird in den Äußerungen eines ‚gotterfüllten‘ Menschen: „Der von Gott Begeisterte wird uns offenbaren, wie sie ist“. Aber auch dieses ist letztlich ein immanenter Vorgang, eine innere Erfahrung, zunächst in dem Verkünder der Offenbarung: „ohne innere Offenbarung aber kann niemand darüber sprechen“, dann aber auch in deren Empfänger. Die Gültigkeit und Glaubwürdigkeit einer Offenbarung kann nicht dekretiert werden; sie bedarf der Bestätigung und Zustimmung desjenigen, der sie in seinem Inneren nachvollziehen und als bislang verborgene Möglichkeit selbst erleben und zur Entfaltung bringen kann. Der externe Anstoß schafft keine Objektivität. Der Mensch wird dadurch nicht aus seiner subjektiven Verantwortung entlassen. Der Subjektivismus als Perspektive wird also nicht überwunden, wohl aber die Begrenztheit und Isolation der Subjektivität; denn eine Offenbarung will mit-geteilt sein, und die Teilhabe an identischen oder als gleich empfundenen Überzeugungen begründet eine Glaubensgemeinschaft.

Exkurs 2: Josef Ratzinger und die Vernunftgläubigkeit8 (Objektivität der Vernunft?) Sehr viel kritischer als der protestantische Philosoph Hübner (s. Exkurs 1) setzt sich der katholische Theologe Ratzinger mit christlicher Tradition und Offenbarung auseinander. In seinem Kommentar zur „Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung“ des 2. Vatikanischen Konzils, an dem er als Berater des Kölner Kardinals Frings teilgenommen hatte, lässt Ratzinger mit aller Deutlichkeit erkennen, wie kontrovers selbst in dem höchsten Gremium der katholischen Kirche über die Begriffe ‚Offenbarung‘ und ‚Heilige Schrift‘ diskutiert wurde.9 Auch in seinem Buch „Einführung in das Christentum“, das er ungefähr gleichzeitig als Professor in Tübingen geschrieben hat und dessen unveränderte Neuausgabe er im Jahr 2000 als Kardinal in Rom autorisiert hat10, sieht er z. B. (anders als Hübner) in der Jungfrauengeburt keine 8  Bezug

zum Text: s. o. Kap. II. 1. c). des LThK, Erg.bd. 2, Freiburg 1967, S. 498–99. 10  Erstm. 1968, basierend auf Tübinger Vorlesungen v. 1967; zit. n. der Ausg. München 2005. 9  2. Aufl.



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notwendige Bedingung für die Gottessohnschaft Christi (S. 260–61), und in erfrischend deutlicher Form kritisiert er die folgenreiche Satisfak­ tionstheorie des Anselm von Canterbury, nach der man den Eindruck gewinnen konnte, „der christliche Glaube an das Kreuz stelle sich einen Gott vor, dessen unnachsichtige Gerechtigkeit ein Menschenopfer, das Opfer seines eigenen Sohnes, verlangt habe“ (S. 264, vgl. a. S. 217–20). Auch kommentiert er die dogmatischen Streitigkeiten des 3.–5. Jahrhunderts mit einem Kopfschütteln, das an Fassungslosigkeit grenzt. Die mühseligen Versuche der Theologie, die Trinitätslehre in Begriffe des menschlichen Denkens zu fassen, bezeichnet er als „armseliges Gestammel“ und kommt zu dem bescheidenen Ergebnis: „Nur als durchkreuzte Theologie ist die Trinitätslehre möglich“ (S. 160). Andererseits behauptet er aber eine „innere Logik“, die „zur Überschreitung eines bloßen Monotheismus“ zwinge (S. 149) – ein Beispiel für sein intensives Ringen, ähnlich wie bei Fichte, um die Vereinbarkeit von Glauben und Denken und um die ‚vernünftige‘ Ableitung von Glaubenssätzen. Ratzinger und Fichte schwanken beide zwischen der Einsicht in die Begrenztheit des menschlichen Denkvermögens und dem als Pflicht empfundenen Bedürfnis, die eigene Glaubensgewissheit verständlich zu machen und vernünftig zu vermitteln. Als bestes Beispiel der Vernunftgemäßheit des christlichen Glaubens gilt beiden Denkern der Prolog des Johannes-Evangeliums.11 Das zeigte sich bei Papst Benedikt XVI. 2006 in Regensburg, als er den LogosBegriff in das Zentrum seiner bereits zitierten Rede stellte. („Nicht vernunftgemäß, nicht syn logo zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“ usw.)12. Gottes angebliche und Ratzingers tatsächliche Vorliebe für die Vernunft spielt auch in dem genannten Buch eine große Rolle: Das Sein als Logos bedeute „Wahrheit, Verstehbarkeit, Sinn“. Die „gedankliche Struktur, die das Sein hat“, könnten wir „nach-denken“ (S. 140). Dage11  Fichtes Interpretation s. o. Kap. II. 1. c). In der 6. Vorlesung seiner „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 begründet er auch seine Vorliebe für diesen Evangelisten: Nur Johannes habe „Achtung für die Vernunft“, nur bei ihm finde sich „eine Religionslehre“, bei den anderen Evangelisten dagegen nur eine „Moral, welche bei uns nur einen sehr untergeordneten Wert hat“ (I 9, S. 116). 12  s.  o. Kap. II. 1. c); zunächst als Internet-Text des Vatikans am 16.9.2006, gedruckt als Nr. 174 der „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls: Apostolische Reise seiner Heiligkeit … 9. bis 14.9.2006“, hrsg. v. d. Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006, S. 74.

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

gen sagt Ratzinger aber auch: Man könne „die Welt nur als unbegreif­ liche begreifen“ (S. 147) – was wiederum sehr an Fichtes „Begreifen des Unbegreiflichen als solchen“ erinnert13. Bei Ratzinger sind jedoch skeptische Vorbehalte häufiger (was nach 200 Jahren europäischer Geschichte auch nicht verwundert): Die Betonung des „Vielleicht“ („vielleicht ist es wahr“, sagte der Rabbi) und der Unentrinnbarkeit des Zweifels (sowohl für die Glaubenden als auch für die Ungläubigen) sind dafür Beispiele (S. 39–41), auch die Frage: „Bist du es wirklich?“, die Johannes der Täufer dem Jesus gestellt hat (vgl. Mt 11,3) und die jeden Gläubigen immer wieder umtreibt (S. 72– 73); und Ratzinger räumt ein, dass eine völlige „Identifikation von Gott des Glaubens und Gott der Philosophen“, von Theologie und Philosophie, nicht gelinge, mit der hart formulierten Konsequenz, dass daran sogar „unser Gottesbild und unser Verständnis der christlichen Wirklichkeit scheitern“ (S. 134). Doch dann kommt wieder ein Beispiel von Vernunftgläubigkeit, also dafür, wie der Glaube mit dem Begriff der Vernunft die Aufspaltungen des Denkens zusammenzwingen will: „Der Gott, der Logos ist, verbürgt uns die Vernünftigkeit der Welt, die Vernünftigkeit unseres Seins, die Gottgemäßheit der Vernunft und die Vernunftgemäßheit Gottes, auch wenn seine Vernunft die unsere unendlich überschreitet und für uns oft wie Dunkel erscheinen mag. Die Welt kommt aus der Vernunft, und diese Vernunft ist Person, ist Liebe.“14 Persönlich habe ich den Eindruck, dass die Begriffe Logos, Person und Liebe in dem Menschen Ratzinger zu einer absolut glaubwürdigen Einheit zusammengefunden haben: Er lebt den Sinn, der ihm als gött­ liche Vernunft erscheint. Ich habe dabei das Bild vor Augen, wie Ratzinger als Kardinal dem schwer erkrankten Papst Johannes Paul II. die Kommunion gereicht hat. Es ist dieses Bild der Zuwendung, das sichtbar macht, was Ratzinger mit dem Wort ‚für‘ verbindet: in ihm sieht er „das eigentliche Grundgesetz der christlichen Existenz ausgedrückt“ (S. 236). „Christsein bedeutet wesentlich den Übergang vom Sein für sich selbst in das Sein füreinander“ (S. 237)15. 13  Briefe an Jacobi vom 31.3.1804, III 5, S. 237, und vom 8.5.1806, III 5, S. 356. 14  S. 23–24, Vorwort zur Neuausgabe, April 2000. 15  Auch in seinem neuesten Werk „Jesus von Nazareth“ Bd. 2, 2011, bezeichnet er das Wort „für“ als „Schlüsselwort … der Gestalt Jesu“: „Sein ganzes Wesen wird mit dem Wort ‚Proexistenz‘ umschrieben – ein Stehen nicht für sich selbst, sondern



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Wenn wir aber den Begriffen Logos, Person und Liebe eine mitteilbare, gedanklich nachvollziehbare Definition geben wollen, müssen wir sie wieder trennen und gegeneinander abgrenzen. Eine Vernunft, die „die unsere unendlich überschreitet“, ist keine. Man mag sie ‚Gottes unerforschliche Weisheit‘ nennen, aber man darf sie nicht mit unserem, nun einmal menschlichen Vernunftbegriff durcheinanderbringen; sonst geht uns die Vernunft als Mittel der Verständigung mit anderen Menschen (mit ‚Andersgläubigen‘) verloren. ‚Logos‘ ist außerdem keine ‚Person‘, welche Übersetzung man für diesen Verstandesbegriff auch wählen mag, und er ist auch keine ‚Liebe‘. Das Ich ist zwar bezogen auf ein Du, was Ratzinger mehrfach betont (z.  B. S. 85), aber diese ‚logisch-dialogische‘ Verbindung ist nicht zwangsläufig auch ‚liebevoll‘; d. h. die Wirklichkeit Gottes z. B. kann im Denken des Ich die Gestalt jenes gesetzestreuen Buchhalters annehmen, den man mit Opfergaben aller Art ‚versöhnen‘ muss, oder sie kann als der vergebungsbereite Vater des Jesus von Nazareth erscheinen. Die Trennung von Vernunft und Liebe scheint mir für die Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Glauben von zentraler Bedeutung zu sein. Hier jedoch soll es zunächst um die Begrenzung der Vernunft auf ein ‚menschliches Maß‘ gehen, indem wir sie in Beziehung setzen zur Problematik des Ich-Bewusstseins. Wir hatten bereits gesehen, wie sich bei Fichte in seiner Auseinandersetzung mit Jacobi das religiöse Selbstbewusstsein entwickelt und zu einer Verschärfung der Kritik am Ich und seinem Denkvermögen geführt hat (s. o. Kap. I. 3.). Auch in dem Buch von Ratzinger findet sich ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit des Ich, wie sie auch an manchen Stellen des Neuen Testamentes sichtbar wird.16 Er zitiert einen Ausspruch, mit dem der Evangelist Johannes die Wirksamkeit Jesu wiedergibt: „Meine Lehre ist nicht meine Lehre, sondern die des Vaters, der mich gesandt hat“ (Joh 7,16). Und er kommt mit Augustinus, dessen Kommentar er ebenfalls zitiert, zu der Deutung: für die anderen, das nicht etwa nur eine Dimension dieser Existenz ist, sondern ihr Innerstes und Ganzes. Sein Sein ist als solches ‚Sein für‘. Wenn uns gelingt, dies zu verstehen, dann sind wir wirklich dem Geheimnis Jesu nahegekommen, dann wissen wir auch, was Nachfolge heißt“ (S. 154). 16  Z. B. 2 Kor 12,10: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ – im Kontext soviel wie: ‚wenn das Ich in mir schwach ist, dann ist Gott in mir stark‘; und im Brief an die Galater schreibt Paulus: „Ich lebe aber nicht mehr [als] Ich, sondern es lebt in mir Christus.“ (2,20)

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

„Ich bin gar nicht bloß Ich; ich bin gar nicht mein, sondern mein Ich ist eines anderen. Und damit sind wir über die Christologie hinaus bei uns selbst angelangt: ‚Quid tam tuum quam tu, quid tam non tuum quam tu – was ist so sehr dein wie du selbst, und was ist so wenig dein wie du selbst?‘17 Das Allereigenste – was uns letztlich wirklich allein gehört: das eigene Ich, ist zugleich das am allerwenigsten Eigene, denn gerade unser Ich haben wir nicht von uns und nicht für uns. Das Ich ist zugleich das, was ich ganz habe und was am wenigsten mir gehört. So wird hier noch einmal der Begriff der bloßen Substanz (= des in sich Stehenden!) (sic) durchbrochen und sichtbar gemacht, wie ein sich wahrhaft verstehendes Sein zugleich begreift, dass es im Selbersein sich nicht selbst gehört“ (S. 176 f.). Ratzingers Vorbehalt gegenüber „dem Begriff der bloßen Substanz (= des in sich Stehenden!)“ hat wieder eine Parallele bei Fichte in dessen Kritik an der vermeintlichen ‚Selb-ständigkeit‘ (der eigenen Substanz) des Ich. Ich würde jedoch, um deutlicher zu machen, dass mit dem ‚Ich‘ nicht der ganze Mensch gemeint ist, die Auslegung des Augustinus ein wenig variieren und mit Ratzinger zunächst sagen: „Ich bin gar nicht bloß Ich“ – in der Bedeutung: ‚mein Ich‘ ist nur ein Teilaspekt meiner Person –, nun aber nicht fortfahren „ich bin gar nicht mein“, sondern die Aussage des Augustinus: „was ist so sehr dein wie du selbst“ wörtlich verstehen in dem Sinne, dass ‚mein Ich‘ als Produkt meines Denkens tatsächlich mir gehört, während die Fortsetzung bei Augustinus: „was ist so wenig dein wie du selbst“ – woran noch die Bedingung geknüpft ist: „wenn du mit dem, was du bist, jemand [anderem] gehörst“18 – als religiöse Transzendenzerfahrung zu werten ist: in seiner gesamten Existenz nicht beschränkt zu bleiben auf das isolierende Ich-Bewusstsein. In Fichtes (äußerst bruchstückhaften) Aufzeichnungen für eine Überarbeitung seiner ‚Wissen­schaftslehre‘ aus dem Jahr 1807 findet sich die scharfe Formulierung: „Auch ist hier die bekannte Selbstvernichtung – sonst: des Ich, hier schärfer und besser: des Denkens und insofern des Ich als des gedachten besonderen und disjunktiven Prinzips“19. 17  „Augustinus, in Johannis Evangelium tractatus 29,3 (zu Jo 7,16), in: CChr 36, 285“. 18  Ebd., Corpus Christianorum Bd. 36, S. 285: „si alicuius est, quod es“. 19  II 10, S. 254.



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„Ich denke, also bin ich“, hieß es zu Beginn der Neuzeit bei Descartes. ‚Das ist völlig richtig‘, könnte auch Fichte sagen. Da wir aber gelernt haben, ‚Individuum‘ und ‚Ich‘ zu unterscheiden, können wir auch sagen: ‚Es denkt, also ist das Ich‘. Es gibt kein Denken ohne Ich – und umgekehrt: Es gibt kein Ich ohne Denken. Wenn nun aber das Ich nur eine Konstruktion des Bewusstseins ist ohne empirisch nachweisbare Realität – was sollen wir dann vom ‚Denken‘ denken? Die Vernunft ist ich-bezogen, sie ist ego-zentrisch; sie ermöglicht keine Transzendenz – im Gegenteil: mit ihren unablässigen und unvermeidlichen Objektivationen vermittelt sie dem Bewusstsein des Ich die Illusion eines überschaubaren und beherrschbaren Seins, wodurch sie das eigentliche Leben (und damit die Lebendigkeit Gottes) „zu Tode“ denkt.20 Auch Ratzinger ist sich bewusst, dass die Vernunft ‚nicht alles‘ ist. Es gibt einen Bereich prinzipieller Wertvorstellungen, der unserem Denken vorgeordnet bleibt: „Jeder Mensch muss in irgend einer Form zum Bereich der Grundentscheidungen Stellung beziehen, und kein Mensch kann das anders als in der Weise eines Glaubens tun.“21 Als eine „christliche Grundentscheidung“ bezeichnet er die „Trennung von der Zentrierung auf das Ich“ mit der Folge, „dass der Mensch, die Abgeschlossenheit und Beruhigtheit seines Ich zurücklassend, von sich weggeht, um in solcher Durchkreuzung seines Ich dem Gekreuzigten zu folgen und für die anderen da zu sein“22. (Mit dieser „Durchkreuzung seines Ich“ ist Ratzinger wieder nicht weit entfernt von Fichte und dessen ‚Vernichtung des Ich‘.) ‚Grund-Entscheidungen‘ sind als grundlegende Glaubenssätze nicht ‚be-gründbar‘, und wenn wir trotzdem versuchen, sie aus Vernunftgründen abzuleiten, dann stehen wir schnell wieder vor einer Frage wie der folgenden: ‚War es wirklich nötig und vernünftig, dass nach Jesus, als dem Messias, noch ein weiterer Religionsstifter erschien?‘ Mit den Wor20  Vgl. das Nachlassfragment „Der Patriotismus und sein Gegenteil“ von 1806 / 07: Fichte nimmt für seine Philosophie in Anspruch, dass sie „das Sein völlig zerstöre …, das in seiner Beharrlichkeit und Ruhe klar das Gepräge des Todes an sich trägt und nur durch einen offenbaren Widerspruch wieder zum Leben und zur Tätigkeit erweckt werden kann“. Das eigentliche Missverständnis entsteht, wenn sich die Menschen des Lebens durch das Denken vergewissern wollen: „Denn nun denken sie doch, unmittelbar wie sie es anfassen, dieses Leben wieder zu Tode.“ (II 9, S.  427 / 28) 21  Einführung in das Christentum, S. 64. 22  Ebd. S. 237.

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

ten des (von Ratzinger zitierten) Kaisers Manuel II. Palaeologos: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“23. Dem ‚Kaiser‘, der sein ganzes Reich an die Türken verloren hatte, wird man solche Äußerungen nicht verübeln, zumal er (1.) im Mittelalter lebte und (2.) in seinem Stadtstaat Konstantinopel von feindlichen Moslems eingeschlossen war. Aber in der Gegenwart, in dem „Dialog der Kulturen und Religionen…, dessen wir so dringend bedürfen“24, ist es nicht ‚vernünftig‘, mit den Moslems über ihre religiösen ‚Grundentscheidungen‘ zu diskutieren. Diese sind zu akzeptieren, und danach erst beginnt die schwere Aufgabe der Vernunft, eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Glaubensgemeinschaften zu organisieren. Die ‚Vernünftigkeit‘ Gottes für das Christentum zu reklamieren macht eine Verständigung mit anderen Religionen unmöglich. Diese könnten darin (je nach Temperament) einen Mangel an Toleranz, eine mensch­ liche Anmaßung oder sogar eine Gotteslästerung erblicken. Wenn wir ‚vernünftig‘ zu einem Gottesattribut erklären – „nicht vernunftgemäß … zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“ –, dann beanspruchen wir für die Vernunft eine objektive Geltung. Nun findet sich leider weder bei Ratzinger noch bei Fichte eine eindeutige Definition, wodurch wir die Vernunft vom Verstand oder von anderen Bezeichnungen unseres Denkvermögens unterscheiden könnten, und es ist zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, an einer solchen Unterscheidung festzuhalten. Mit drei Mängeln ist der Vernunftbegriff behaftet: Zum einen begleitet ihn seit der Aufklärungszeit das Vorurteil eines absoluten Wertes, auch wenn wir ihn wohl nicht mehr im Sinne Kants mit den metaphysischen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit in Verbindung bringen. Zum anderen ist der Begriff umgangssprachlich so abgewertet, dass wir das Adjektiv ‚vernünftig‘ nicht mehr von ‚klug, verständig, rational, intelligent, wohlüberlegt‘ u. ä. unterscheiden können – allesamt Eigen23  Zitiert nach der Buchausgabe Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft, Freiburg 2006, S. 15 / 16. Der Text ist gegenüber den Veröffentlichungen im Internet und in den „Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls“ nicht verändert; neu ist aber die Anmerkung des Papstes, „dass dieser Satz nicht meine eigene Haltung dem Koran gegenüber ausdrückt“. 24  Ebd. S. 30.



Exkurs 3: Richard Dawkins149

schaften, die mit der Zweckmäßigkeit unseres Handelns verbunden werden, ohne dass sie über den Zweck selbst und dessen Wert etwas aussagen könnten. Und drittens handelt es sich bei dieser Unterscheidung offenbar um eine Besonderheit der deutschen Sprache, so dass ‚Vernunft / Verstand‘ z. B. in dem ‚Historischen Wörterbuch der Philosophie‘ in einem Artikel abgehandelt werden, „da eine konsistente Übersetzung der beiden Termini weder in die philosophischen Sprachen des neuzeitlichen Europa noch zurück ins Lateinische und Griechische möglich ist“25. Auf der anderen Seite fasziniert der Vernunftbegriff durch seine Grundbedeutung: Anders als beim aktiven (konstruierenden, deduzierenden, spekulierenden) ‚Verstehen‘, dem ‚zustande‘ oder ‚zum Stehen‘ bringen (nach Fichte), wird beim ‚Vernehmen‘ die passive bzw. rezeptive Funktion des Denkens betont: das Aufnehmen und Annehmen, auch das ‚Hören‘, das sich z. B. mit der ‚Stimme‘ des Gewissens assoziieren lässt, aber auch mit Gottes ‚Wort‘ oder mit Gefühls-‚Äußerungen‘. Doch ist auch bei dieser Interpretation des Vernunftbegriffs an der Subjektivität von Deutung und Bewertung des ‚Vernommenen‘ festzuhalten.

Exkurs 3: Richard Dawkins und die Wissenschaftsgläubigkeit26 (Die Religion ein „Gotteswahn“?) Bei der Darstellung von Fichtes Nationalismus (Kap. I. 5.) wurde gezeigt, wie sich das Individuum durch die Religion bzw. durch seinen schaftung‘ Glauben behaupten kann und soll gegenüber der ‚Vergesell­ des Menschen, gegenüber den kollektivistischen Tendenzen in den diversen ‚-Ismen‘. In der Gegenwart ist der Religion ein neuer Gegner erwachsen aus dem Bereich der Naturwissen­schaften, speziell der Biologie. Da auch dieser wiederum mit einem Absolutheitsanspruch auftritt, wird er als ‚Biologismus‘ bezeichnet. Der prominenteste Vertreter dieser Weltanschauung, die ein Erklärungsmonopol für alle Phänomene des Lebens für sich beansprucht, ist der englische Zoologe Richard Dawkins, ein leidenschaftlicher Verfechter von Darwins Evolutionstheorie. In seinem 25  Bd. 11, 26  Bezug

Sp. 748, Darmstadt 2001. zum Text s. o. Kap. II.2.

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

Buch „Der Gotteswahn“27 versucht er den Nachweis zu erbringen, dass Religion nicht nur überflüssig und unsinnig ist, sondern auch noch schädlich und gefährlich. Nun bietet ja die christliche Religion – um mich auf diejenige zu beschränken, die uns noch relativ vertraut ist – in Geschichte und Gegenwart dem Wissenschaftler eine Fülle von Angriffsflächen und ‚dankbaren Zielen‘, die man kaum verfehlen kann. Manche Kritikpunkte sind allerdings so nahe­liegend, dass man sich fragt, ob es wirklich nötig war, offene Türen nicht nur einzurennen, sondern auch noch einzutreten, z. B. wenn Dawkins den Gott des Alten Testaments als „ungerechten, nach­ tragenden Überwachungsfanatiker“ bezeichnet oder sogar als „rassistischen, Kinder und Völker mordenden … launisch-boshaften Tyrann“ (S. 45). Dass viele der Gottesvorstellungen im AT nicht mehr zeitgemäß sind, sondern eher die Bewusstseinsentwicklung eines orientalischen Nomaden­ volks vor ca. 3000 Jahren widerspiegeln, ist ja keine neue Erkenntnis. Allerdings müssen wir Christen uns den Vorwurf gefallen lassen, wir seien zu feige oder zu faul gewesen, die Gottesaus­sagen der Bibel einer distanzierenden Sichtung zu unterziehen, so dass die Gegner behaupten können, wir wollten immer noch die ganze ‚Heilige Schrift‘ als ‚Gottes Wort‘ in der Gegenwart verstanden wissen. (Zu welchen Problemen dies führen kann, z. B. im Verständnis von ‚Offenbarung‘, haben wir in Exkurs 1 gesehen.) Es wäre aber sicherlich zu einfach, aus der Kritik an überkommenen Gottesbildern die Unsinnigkeit von Religion insgesamt ableiten zu wollen. Die Gottesbilder der Vergangenheit waren ja nicht ‚falsch‘ – wenn man sie als Projektionen ihrer Zeit ansieht. Das nötigt uns, ihnen mit dem Versuch des Verstehens zu begegnen und nicht mit billiger Verspottung. Wer Evolution ernst nimmt, sollte sich nicht wundern, dass die Gottesbilder sich verändern – analog zu den Menschenbildern, zu den Erfahrungen des Menschen mit sich selbst. Sie lassen nicht den Schluss zu auf einen objektiven Gott, den wir in seiner Unveränderlichkeit erkennen könnten; sie lassen aber vermuten, dass Religion doch noch etwas anderes ist als eine schlechte Gewohnheit oder ein Mangel an Verstand. Billigen Beifall finden auch die Ausfälle Dawkins‘ gegen die katholische Heiligenverehrung, speziell gegen den Kult der ‚Jungfrau Maria‘, „die in allem außer ihrem Namen eine Göttin ist und als Ziel der Gebete hinter Gott selbst nur ganz knapp an zweiter Stelle steht“ (S. 50). 27  Berlin

2007, engl. 2006: „The God Delusion“.



Exkurs 3: Richard Dawkins151

Eine besondere Beachtung dabei – und damit nähern wir uns der ernsthaften Auseinandersetzung – verdient aber seine Kritik an der Praxis der Heiligsprechung: Die katholische Kirche mache „die Vollbringung von Wundern zur unbedingten Voraussetzung für die Heiligsprechung“ (S. 86). Dawkins sieht darin völlig zu Recht eine Verletzung der sogenannten ‚Noma-Theorie‘. Nach dieser ist eine ‚friedliche Koexistenz‘ von Religion und Naturwissenschaft nur dann möglich, wenn man eine strikte Trennung der Zuständigkeitsbereiche akzeptiert (Noma = non-overlapp­ ing magisteria, S. 79). Und eine Überschneidung, ein Übergriff der Religion auf das Gebiet der Wissenschaft liegt zweifellos vor, wenn die religiöse Verehrung Verstorbener abhängig gemacht wird von dem Außer­kraftsetzen der Naturgesetze. Weniger Glück in seiner Argumentation, dass die von ihm bekämpfte Noma-Theorie auch von der Kirche abgelehnt werde, hat Dawkins aber mit der folgenden Spekulation: Angenommen, einem archäologischen Glücksfall sei es zu verdanken, dass mittels DNA-Analyse Jesu vaterlose Geburt nachgewiesen werden könne, dann würden die Christen nur allzu gern – „man kann sein letztes Hemd verwetten“ – die Abgrenzungstheorie über Bord werfen und über den wissenschaftlichen Beweis für ihren Glauben an die Jungfrauengeburt jubeln (S. 86). Das grenzt nun doch schon an Beleidigung: Kein seriöser Theologe und keine ernsthafte Pastorin würden diesen Unfug in Erwägung ziehen und ihren Glauben von dem Nachweis übernatürlicher Vorgänge abhängig machen. Dawkins seinerseits hat natürlich kein Problem mit der Grenzüberschreitung, mit der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf das Gebiet der ‚erklärungsbedürftigen‘ Religion; denn er glaubt, mit der darwinistischen Evolutionstheorie über einen Schlüssel zum Verständnis aller Erscheinungsformen des Lebens zu verfügen. Daher „stellt sich“ für ihn „die Frage, welchen Druck die natürliche Selektion ausübte, so dass die Hinwendung zur Religion begünstigt wurde“ (S. 225). Anders gefragt: „Welchen Nutzen hat Religion?“ (S. 228) Diese Fragen, unter der Überschrift: „die darwinistische Zwangsläufigkeit“ (S. 225), lassen schon vom Ansatz her auf ‚Wissenschaftsgläubigkeit‘ schließen, da sie davon ausgehen, dass die Naturwissenschaft über Kriterien zur Beurteilung kultureller Phänomene und deren Bedeutung für die Zukunft des Menschen verfügt. Da sich aber ein ‚evolutionsbiologischer Nutzen‘ der Religion nicht direkt ermitteln lässt, verfällt der Zoologe auf eine indirekte Erklärung:

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

Auch in der Evolution verläuft nicht immer alles optimal (nach menschlichem Verständnis): es kommt zu unerwünschten ‚Nebenprodukten‘ und ‚Fehlfunktionen‘. Für Dawkins nun ist die Religion bzw. deren Fortdauer so ein bedauerliches Nebenprodukt des an sich sinnvollen Gehorsams in der Erziehung – es wird auf die Kinder übertragen wie ein anstecken­ des Virus: „Einmal angesteckt, wächst das Kind auf und infiziert die nächste Generation mit dem gleichen Unsinn“28. Als Kommentar zu diesem rein spekulativen Unsinn mag die Erinnerung genügen, dass viele der schärfsten Religionskritiker aus Pastorenhaushalten stammen. Die Polemik von Dawkins sollte uns aber nicht dazu verleiten, unhaltbare Stellungen (tradierte und großenteils überholte Glaubensinhalte) verteidigen zu wollen; stattdessen gilt es zu zeigen, dass die Angriffe des Biologen ins Leere laufen, weil er die eigentliche Funktion von Religion und Glauben gar nicht in den Blick bekommt. Sie besteht nicht darin, etwas erklären oder beweisen zu wollen. Damit würde sie in der Tat, was von Dawkins mit Recht angeprangert wird, zu den Naturwissen­ schaften in eine aussichtslose Konkurrenz treten. Wenn wir dem subjektivistischen Ansatz Fichtes folgen, so entwickelt sich religiöser Glaube zwar aus der eigenen Erfahrung (auch in der Auseinandersetzung mit den Erlebnissen unserer Kindheit); er ist aber vor allem auf die Zukunft ausgerichtet: In einem weit gefassten Sinne eröffnet er die Möglichkeit, unsere Existenz als sinnvoll zu erleben, und die Religion verhilft uns dazu, uns mit anderen Menschen über diese Möglichkeit zu verständigen. Erscheinungsformen und Auswirkungen von Religion haben sich natürlich im Laufe der Geschichte verändert, und Dawkins hat vermutlich Recht mit seiner Feststellung: „Historisch betrachtet strebte die Religion danach, unser eigenes Dasein und das Wesen des Universums, in dem wir uns befinden, zu erklären. In dieser Rolle wurde sie mittlerweile vollständig von der Naturwissenschaft verdrängt“ (S. 480). Aber von diesem Bemühen der Religion in der Vergangenheit sieht er nur das überholte und anfechtbare Resultat, nicht das bleibende Motiv. Auch „historisch betrachtet“ strebte die Religion immer schon danach, Überlebensstrategien und 28  S. 263. Religion als ‚Nebenprodukt‘: „Ich gehöre zu der wachsenden Zahl von Biologen, die in der Religion ein Nebenprodukt von etwas anderem sehen“ S. 239. Dawkins hält andere Spielarten der Nebenprodukt-Hypothese für möglich, bevorzugt aber seine „Theorie der leichtgläubigen Kinder“ (S. 263, erstmals S. 242 f.).



Exkurs 3: Richard Dawkins153

Zukunftsperspektiven zu entwickeln, und die ‚Erklärung‘ fremdartiger Phänomene diente diesem Zweck, um Möglichkeiten der Ausnutzung, der Vermeidung oder der Beeinflussung zu ermitteln. Von dieser reli­ giös-praktischen Zielsetzung haben sich die Naturwissenschaften im Gefolge der Aufklärung glücklicherweise emanzipiert und damit die Unabhängigkeit des Denkens vom Glauben gesichert, ohne dass damit die eigentliche Aufgabe von Religion, die Zukunftsorientierung, hinfällig geworden wäre oder gar von den Naturwissenschaften übernommen werden könnte. „Ich bin ein Gegner der Religion. Sie lehrt uns, damit zufrieden zu sein, dass wir die Welt nicht verstehen.“ Dieser Satz auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe erweist sich für Dawkins als ein ‚Bumerang‘: Abgesehen davon, dass es ‚die‘ Religion nicht gibt, wird eine Religion und überhaupt jede Art von Weltanschauung gerade dann gefährlich, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, ‚die Welt verstehen‘ zu können, z. B. als ‚Gottes weise Schöpfung‘ mit erkennbarem Ziel, mit konkreten Aussichten für die Gläubigen, Belohnung der Erfolgreichen, Bestrafung der Versager, Verachtung und Verfolgung aller Andersgläubigen usw. – oder als Belegsammlung für eine bestimmte Entwicklungstheorie. Da wird dann an einem so seltsamen und scheinbar nutzlosen Phänomen wie der Religion so lange herumerklärt, bis es irgendwie in die „darwinistische Zwangsläufigkeit“ (S. 225) hineinpasst und der „Notwendigkeit einer darwinistischen Erklärung“ (S. 233) genügt. Dem ‚Biologisten‘, als dem Apostel der evolutionsbiologischen Naturgesetzlichkeit, ist ein grundlegender Fehler vorzuhalten, der sich offenbar schon bei Darwin findet. Dawkins zitiert zustimmend „Darwins Standpunkt, dass alles ‚durch Gesetze hervorgebracht wird, welche fort und fort um uns wirken‘ “ (S. 22). Mit dieser Formulierung wird eine nicht vorhandene Objektivität suggeriert. Durch die Naturgesetze wird nichts „hervorgebracht“. Ihnen eignet objektive Wirksamkeit so wenig wie den Gottesbildern früherer Jahrhunderte. Auch sie sind letztlich Projektionen unseres Vorstellungsvermögens, immer wieder verbesserte Deutungsversuche unserer Naturerfahrungen, menschliche Konstruktionen, die bestenfalls und nur so lange als Rekonstruktionen von Naturvorgängen gelten können, bis sie von plausibleren Interpretationen abgelöst werden, und sie verraten mehr von den Strukturprinzipien unserer Denktätigkeit als von objektiver Realität29. Insbesondere ist der Annahme 29  Gegen Ende seines Buches finden sich auch bei Dawkins Vorbehalte gegenüber dem Objektivismus, wenn er vom Modellcharakter unseres Weltverständnisses

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III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

zu widersprechen, als würden diese Rekonstruktionen des menschlichen Verstandes „fort und fort um uns wirken“, also unabhängig von uns die Zukunft des Lebens determinieren. Das gilt noch nicht einmal für die ‚Natur‘: Dort ist z.  B. die natürliche Selektion im Einflussbereich menschlicher Wirksamkeit gestört oder sogar außer Kraft gesetzt. Und es gilt erst recht nicht für das menschliche Verhalten selbst. Ein Darwinist hat immer nur das Nach-Sehen. Nicht eine der unzähligen Lebensformen hätte er vorher-sehen können und auch nicht eine unserer Handlungsweisen. Im Nachhinein, wenn wir uns entschieden haben, wird er uns natürlich immer ‚unsere‘ bzw. seine Gründe nennen können. Hier sind wir an einen Punkt gelangt, von dem aus Wissenschaft und Religion friedlich ohne Konkurrenzdruck ihrer Wege gehen könnten – die Forscher retro-, die Gläubigen prospektiv. Warum kommt es dennoch zu Überschneidungen und Rivalitäten? Streitigkeiten entstehen sozusagen in der Mitte: in der ‚Gegenwart‘, die es ja als ‚Zeitstufe‘ nicht gibt, die wir aber gleichwohl permanent konstruieren aus einer Kombination der beiden Perspektiven. Im Bewusstsein ‚vergegenwärtigen‘ wir uns unser Wissen und unser Wollen. Leitfrage der Wissenschaft ist das ‚Woher?‘, Leitfrage der Religion: ‚Wohin?‘ Im Denken fragen wir: ‚Was bin ich (geworden)?‘ und im Glauben: ‚Was soll ich tun‘ bzw., da das Ich des Denkens im Glauben zurücktritt30: ‚Was soll werden?‘ Konflikte zwischen den unterschied­ lichen Sichtweisen werden ausgelöst, wenn Wissenschaftler aus ihrer Kenntnis des ‚Woher‘ kraft konsequenter Logik Schlüsse ziehen auf das ‚Wohin‘, oder wenn Gläubige zu wissen glauben, ‚wohin‘, und diesen Sinn auch schon in der Vergangenheit entdecken, ebenfalls kraft konsequenter Logik, wenn z. B. vom ‚Wissen‘ um das Himmelreich (in welcher Form auch immer) zurückgeschlossen wird auf eine absichtsvolle Planung, auf ein vernünftiges Konzept bzw. auf ein ‚intelligent design‘. So wird aus einer Glaubensgewissheit, die bei Skeptikern bestenfalls als Hoffnung durchgeht, mit Hilfe des Verstandes eine begründete Zuversicht. Und aus dem Glauben, der eigentlich ein Vertrauen ist, wird der Glaube ‚an etwas‘, z. B. an den Schöpfergott, und bietet mit dieser Objekbzw. unserer Wirklichkeitsinterpretation spricht: „Was wir von der wirklichen Welt sehen, ist nicht die ungeschminkte Realität, sondern ein Modell der Wirklichkeit, das durch die Sinneswahrnehmung gesteuert und abgestimmt wird – und dieses Modell wird so konstruiert, dass es für den Umgang mit der Wirklichkeit nützlich ist.“ (S. 517). 30  Vgl. Exkurs 2.



Exkurs 3: Richard Dawkins155

tivierung dem Wissenschaftler eine willkommene Angriffsfläche. Diese Konkretisierung, das Erlebnis des Glaubens in Begriffe zu fassen bzw. in Bildern darzustellen, entspringt offenbar unserem Bedürfnis nach Standortbestimmung und Orientierung, so dass wir für unsere Glaubensgewissheit mit dem Verstand einen Begründungszusammenhang konstruieren, unseren Glauben, der eigentlich in die Zukunft weist, in der Vergangenheit verankern und die Sinngebung, die von uns im Glauben erfahren wird, auch auf die Deutung der Vergangenheit übertragen. Hier wird die Kirche sich den Einwänden der Wissenschaft stellen und für ihre ‚Wunder‘ statt einer übernatürlichen Darstellung eine bildlich-symbolische Deutung akzeptieren müssen. Andernfalls läuft sie Gefahr, auch ihre religiös-richtungsweisende Kompetenz für Zukunftsfragen einzubüßen – zufolge der Logik: Wer nicht in der Lage ist, in der Deutung der Vergangenheit Schritt zu halten mit der Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, der kann auch nicht für sich beanspruchen, die Gegenwartsprobleme richtig einzuschätzen. Und wie sieht andererseits der ‚Kollisionskurs‘ eines Darwinisten aus? Welche logischen, ‚denknotwendigen‘ Konsequenzen ergeben sich aus dem Evolutionsgesetz der natürlichen Selektion für die Entstehung und das Verhalten des Menschen? „Wir wissen, dass wir Produkte der Darwinschen Evolution sind.“ (S. 225) Mit dieser Formulierung wird der Eindruck erweckt, dass der Mensch als ‚Produkt‘ verstehbar wird, wenn wir die einzelnen Produktionsschritte verstanden haben. Die Evolution ‚produziert‘ aber nicht, sondern, wie schon der Name sagt: in ihr ‚entwickelt‘ sich das bereits Vorhandene. Das Leben geht der ‚natürlichen Auslese‘ voraus: Es entfaltet sich aus seiner inneren Kraft heraus in Formen, deren Vielfalt der Mensch zurückblickend mit dem Regelwerk der Evolutionstheorie zu erklären versucht. Insofern ist es auch zumindest sprachlich ungenau, wenn Dawkins die „natürliche Selektion“ als „Triebkraft der Evolution“ bezeichnet (S. 297). Die „Triebkraft“ ist das Leben selbst mit seiner unvorstellbaren Produktivität. Die Deutungen, mit denen die Wissenschaft dem Leben permanent ‚hinterherläuft‘, erlauben dem Menschen faszinierende Einblicke in seine eigene Vergangenheit: wir können das – und nur das! – verstehen, was wir selber sind, im Sinne von: geworden sind. Rückschlüsse auf unser Potenzial, auf die weitere Entwicklung des Lebens lassen sich daraus nicht ziehen.

156

III. Drei Beispiele zur Problematik von Glaubensinhalten

Es ist eine unabdingbare Voraussetzung einer Verständigung von Wissenschaft und Religion, dass beide sich in dem Grundsatz einig sind: Die Welt lässt sich nicht verstehen. Denn zu ihrer Wirklichkeit gehört nicht nur das Verwirklichte (die ‚Realität‘ als die ‚Welt der Dinge‘), sondern auch das Wirkende: ihr unberechenbares, ‚unbeschreibliches‘ Potenzial. Wer ein Erklärungsmonopol für seine Weltanschauung oder seine Wissenschaft beansprucht, wird die Notwendigkeit von wechselseitiger Ergänzung und Kooperation verkennen. „Ich finde es spannend“, schreibt Dawkins am Ende seines Buches, „in einer Zeit zu leben, in der die Menschheit an die Grenzen ihrer Verständnisfähigkeit klopft. Und was noch besser ist: Vielleicht entdecken wir am Ende, dass es keine Grenzen gibt.“ (S. 521) Diese Hoffnung eines ‚Wissenschaftsgläubigen‘ wird sich nicht erfüllen. Die Menschheit hat immer schon ‚an die Grenzen ihrer Verständnisfähigkeit geklopft‘ bzw. diese Grenzen durch eine Erweiterung ihres Horizonts permanent verschoben. Eine Grenze allerdings lässt sich von uns Menschen nicht verschieben oder gar beseitigen: die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft.31 So wie der Historiker gelernt hat, dass wir nichts aus der Geschichte lernen, so muss auch der Biologe lernen, dass wir nichts aus der Evolution lernen können – beides natürlich bezogen auf unsere Lebenspraxis. Und die Vermutung, „dass es keine Grenze [des Verstehens] gibt“, dass wir also im Prinzip alles verstehen könnten, ist deshalb so gefährlich, weil sie das Vorurteil bestärkt, wir könnten auch verstehen, wie es in der Zukunft weitergehen wird oder soll. Doch alle Regeln, die wir dafür aus der Vergangenheit beziehen – seien sie kommunistisch, faschistisch, fundamentalistisch, biologistisch oder sonst wie deterministisch – sind ‚evolutionsbedingt‘ falsch. Alle Wissenschaften sind historisch; jede Beobachtung ist die Momentaufnahme von etwas bereits Vergangenem; alle empirisch gewonnenen Daten und die darauf gestützten Erkenntnisse sind nicht mehr gegenwärtig, sondern von der Entwicklung schon wieder überholt. Prognosen für die Zukunft oder Wertungskriterien für unser Verhalten lassen sich daraus nicht gewinnen.

31  Ich halte es für möglich, laienhaft formuliert, dass die Quantenphysiker an diese Grenze stoßen, wenn sie z. B. Position und Impuls eines Elektrons zugleich bestimmen wollen.

Literaturverzeichnis Fichtes Schriften werden zitiert nach der Gesamtausgabe (GA) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in 4 Reihen: I. Werke, II. Nachgelassene Schriften, III. Briefwechsel, IV. Kollegnachschriften, sowie zwei Ergänzungsreihen: ‚J. G. Fichte im Gespräch‘ und ‚Fichte in Rezen­ sionen‘. Mit dem Erscheinen von Bd. II 17 (Nachgelassene Schriften 1813–1814) im Jahr 2012 ist die GA abgeschlossen. Die Werkausgaben von I. H. Fichte und F. Medicus sind damit überholt. Die Paginierung der I. H. Fichte-Ausgabe – sie ist weiterhin als fotomechanischer Nachdruck von 1971 im Handel – wurde in die GA übernommen; sie wird benötigt bei der Benutzung eines guten Hilfsmittels für die Suche nach Texten und Begriffen Fichtes: Auf der CD-ROM von Karsten Worm, Fichte im Kontext, 3. Aufl. Berlin 2002, ist die gesamte 11-bändige I. H. Fichte-Ausgabe erfasst. Verzeichnis der zitierten Schriften Fichtes (in zeitlicher Reihenfolge): – Versuch einer Kritik aller Offenbarung, 1791. (S. 18–20) – Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution, 1793. (S. 20, 53–55) – Über den Begriff der Wissenschaftslehre (WL), 1794. (S. 20) – Grundlage der gesamten WL, 1794. (S. 20, 97, 107, 121) – Bestimmung des Gelehrten, 1794. (S. 55) – WL von 1797. (S. 111, 140) – System der Sittenlehre, 1798. (S. 140) – Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, 1798. (S. 21– 27) – Appellation an das Publikum, 1799. (S. 114) – Verantwortungsschrift, 1799. (S. 30–32) – Rückerinnerungen, 1799. (S. 24–26, Umschlag) – Privatschreiben, 1800. (S. 26, 133) – Bestimmung des Menschen, 1800. (S. 44, 92, 111, 114, 121–124, 127) – Sonnenklarer Bericht, 1801. (S. 109) – WL von 1804. (S. 96, 105, 129)

158 Literaturverzeichnis – Über das Wesen des Gelehrten, 1805. (Umschlag) – Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806. (S. 51, 53, 56–66, 71–72, 76) – Anweisung zum seligen Leben, 1806. (S. 45–51, 67, 69, 88, 102–110, 114, 121, 131, 136, 143, Umschlag) – Patriotismus und sein Gegenteil, 1806 / 07. (S. 19, 69–72, 77, 90, 110–111, 124–125, 146) – Bericht über den Begriff der WL, 1806 / 07. (S. 99–102) – Nebenbemerkungen zur WL, 1807. (S. 95–99, 111, 131, 146) – Heroismus der Idee, 1807. (S. 88, 138) – Republik der Deutschen zu Anfang des 22. Jahrhunderts, 1807. (S. 66–67) – Vorarbeiten zu einer Beantwortung des Jacobischen Schreibens, 1807. (S. 125, 128–129) – Reden an die deutsche Nation, 1808. (S. 52, 63, 66, 74–93, 110, 131) – WL von 1810. (S. 112–113) – System der Sittenlehre, 1812. (S. 137–138, 140) – Vom Verhältnis der Logik zur wirklichen Philosophie, 1812. (S. 128) – Staatslehre, 1813. (S. 75) Biografie: Fichte, Immanuel Hermann (Fichtes einziger Sohn, 1796–1879, seinerseits Philosophieprofessor): J. G. Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 2. Aufl. 1862 (Bd. 1: Online-Ausgabe der UB Göttingen, dort auch als CD-ROM erhältlich; Bd. 2, Briefwechsel, durch Reihe III der GA überholt). (Jacobs, Wilhelm G.: J. G. Fichte, Rowohlts Bildmonografien, 1984 – seinerzeit den Studenten zur Einführung empfohlen – ist vergriffen.) Gute Informationsquellen zu Leben und Werk Fichtes sind die ausführlichen Einleitungen der einzelnen GA-Bände. Da es in diesem Buch nicht um fachwissenschaftliche Probleme der Philosophiegeschichte geht, sondern um eine Aktualisierung der Überlegungen Fichtes im Spannungsfeld von Denken und Glauben, erscheint hier keine Liste von Sekundärliteratur, sondern lediglich der Hinweis auf einige Autoren, deren Texte für die Reflektierung der Positionen Fichtes hilfreich waren: Dawkins, Richard (zur evolutionsbiologischen Religionskritik, s. Exkurs 3): Der Gotteswahn, Berlin 2007, erstmals englisch: London 2006. (S. 113–114, 118, 149–156) Hermanni, Friedrich (zum Determinismus in der Theologie): Gott, Freiheit und Determinismus, in: NZSTh 50, 2008, S. 16–36. (S. 119–120) Hübner, Kurt (zum Verständnis religiöser Offenbarung, s. Exkurs 1): Glaube und Denken, Tübingen 2001. (S. 137–142)

Literaturverzeichnis159 Ratzinger, Josef (zur Rolle der Vernunft in der Religion, s. Exkurs 2): Kommentar zur „Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung“ des 2. Vati­ kanischen Konzils, Freiburg 1967 (2. Aufl. LThK, Erg.Bd. 2). (S. 142) – Einführung in das Christentum, München 2005, erstmals 1968. (S. 142–147) – Glaube und Vernunft, Freiburg 2006, Regensburger Rede. (S. 108, 147–148) – Jesus von Nazareth, Bd. 2, Freiburg 2011. (S. 144) Roth, Gerhard (s. Singer): Homo neurobiologicus – ein neues Menschenbild? in: APuZ 44 / 2008, S.  6–12. (S. 119) Singer, Wolf (zum neurobiologischen Objektivismus, s. Kap II. 2. a.): Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung, in: DZPhil 52, 2004, S. 235–255. (S. 115–119) Walde, Bettina (zum Determinismus in der Philosophie): Willensfreiheit: libertarisch, kompatibilistisch – oder beides? in: DZPhil 57, 2009, S. 133–140. (S. 120)

Sachwortverzeichnis (Kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Fichte-Zitate, fett gedruckte auf wichtige Aussagen.) a posteriori  58 a priori  24, 57, 58, 59, 64 Anschauung  50, 78, 100, 101, 102, 111, 112, 128 Atheismus  22, 27, 28, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, 45, 48, 52, 55, 62, 114, 129, 140, 141 Biologismus  149 Christ  21, 80, 89, 144, 150, 151 Christentum  80, 92, 93, 137, 138, 142, 148, 159 christlich  27, 33, 63, 78, 88, 89, 105, 132, 133, 137, 138, 142, 143, 144, 147, 150 Christus  43, 104, 138 Darwin  114, 149, 153 Denken  9, 10, 11, 21, 23, 24, 25, 55, 57, 58, 59, 62, 66, 67, 79, 84, 91, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 106, 109, 111, 112, 113, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 141, 143, 144, 145, 146, 147, 149, 153, 154 Determinismus  10, 16, 17, 96, 115, 117, 120, 121, 122, 123, 124, 134, 158, 159 Dualismus  42, 129 empirisch  57, 58, 59, 77, 81, 116, 117, 135, 139, 141, 147, 156 Evolution  72, 150, 152, 155, 156

Forberg  22, 27, 30, 52 Französische Revolution  53, 54, 157 Freiheit  10, 17, 25, 26, 40, 43, 49, 54, 55, 60, 61, 71, 75, 76, 78, 79, 82, 87, 88, 94, 96, 112, 114, 115, 118, 120, 127, 128, 131, 135, 148, 158 Geibel  72 Gewalt  40, 66, 77, 87 Gewissen  18, 27, 31, 33, 48, 92, 133, 134, 149 Glaube  9, 10, 11, 22, 23, 26, 27, 31, 34, 61, 74, 80, 84, 85, 88, 89, 91, 92, 105, 108, 113, 124, 127, 131–135, 137, 138, 141, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 157, 159 Goethe  20, 28, 29, 32, 35, 36, 37, 38, 46, 48, 51, 52, 85, 105 Gott (nur in Fichte-Zitaten)  22, 26, 27, 31, 32, 42, 43, 48, 49, 50, 64, 80, 81, 104, 107, 108, 109, 110, 114, 128, 129, 137, 138, 139, 142 Herder  34 Himmel  58, 80, 81, 82, 83, 89 hingeben  98, 128 Hölle  81, 82 Ich-Bewusstsein  42, 81, 89, 111, 121, 122, 129, 130, 131, 145, 146 Idealismus  41, 58, 62, 67, 77, 96, 99, 131 immanent  23, 24, 26, 33, 42, 43, 83, 97, 112, 130, 134, 140, 142 intelligent design  108, 154

162 Sachwortverzeichnis Jacobi  9, 38, 39, 41, 42, 43, 44, 45, 50, 51, 67, 112, 115, 127, 128, 129, 130, 132, 134, 145, 158 Kant  14, 16, 17, 18, 20, 38, 39, 47, 51, 71, 72, 77, 96, 122, 131, 132, 148 Kausalitätsprinzip  98, 106, 115, 116, 122, 130 Klopstock  14 Lavater  14 Leben (nur in Fichte-Zitaten)  9, 10, 14, 16, 26, 41, 44, 45, 49, 55, 57, 58, 62, 63, 67, 69, 70, 75, 78, 80, 81, 82, 84, 85, 86, 89, 90, 93, 98, 100, 102, 103, 107, 110, 112, 113, 125 Lessing  13 Liebe  40, 43, 44, 46, 47, 49, 62, 86, 88, 91, 93, 103, 105, 109, 110, 124, 127, 131, 132, 134, 144, 145 Logos  105, 107, 108, 138, 139, 143, 144, 145 Luther  70, 92 Metaphysik  57, 59, 137, 140 metaphysisch  24, 59, 62, 88, 138, 148 Napoleon  67, 68, 71, 73, 74, 75, 93, 94 Nationalismus  10, 56, 63, 66, 68, 72, 73, 74, 78, 79, 81, 82, 83, 84, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 149 Natur  23, 24, 37, 58, 79, 84, 123, 154 Naturgesetz  84, 123, 151, 153 Notwendigkeit  10, 16, 28, 90, 107, 112, 117, 124, 127, 128, 131, 132, 134, 137, 153, 156 Objekt  24, 25, 31, 46, 47, 97, 98, 99, 126 objektiv  25, 26, 42, 83, 88, 90, 96, 98, 99, 100, 101, 112, 124, 125, 126, 130, 133, 134, 139, 148, 150, 153 Objektivismus  113, 115, 125, 127, 159

Objektivität  96, 97, 125, 142, 153 Oehlenschläger  104 Offenbarung  18, 19, 50, 83, 84, 88, 90, 104, 106, 108, 109, 110, 130, 131, 133, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 150, 157, 159 Patriotismus  63, 69, 70, 71, 72, 73, 90, 93, 158 Pestalozzi  75 Philosophie  9, 14, 16, 17, 20, 22, 23, 26, 38, 39, 41, 43, 47, 68, 71, 77, 80, 87, 94, 96, 99, 103, 104, 113, 122, 128, 129, 135, 144, 149 Projektion  39, 42, 124, 134, 150, 153 Prometheus  48, 50 Rahn  14 Reflexion  91, 97, 99, 100, 110, 117, 121, 129, 135 Reinhold  35, 38, 41, 43, 51, 52, 55 Religion  9, 10, 22, 24, 26, 27, 28, 30, 33, 45, 49, 53, 57, 62, 64, 66, 80, 81, 82, 83, 87–93, 103, 104, 113, 118, 128, 131, 133, 135, 137, 138, 139, 148, 149–156, 159 religiös  9, 10, 24, 26, 30, 33, 34, 44, 53, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 70, 80, 81, 82, 83, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 122, 128, 129, 131, 132, 133, 139, 141, 145, 146, 148, 151, 152, 153, 155, 158 Religiosität  9, 38, 45, 69, 70, 90, 102, 114, 127, 131, 133, 138 Schelling  36, 51 Schiller  52 Schöpfung  23, 76, 85, 108, 114, 153 Sein  78, 98, 99, 100, 104, 106, 107, 109, 110, 111, 112, 122, 125, 132, 143, 144, 146, 147 Selbstvernichtung  49, 50, 97, 146 Spekulation  19, 33, 98, 102, 104, 108, 128, 138, 139, 151 Stoizismus  48, 49

Sachwortverzeichnis163 Subjekt  25, 97, 98, 99, 126, 129 subjektiv  10, 24, 25, 85, 96, 99, 101, 124, 126, 130, 133, 134, 140, 142 Subjektivismus  10, 95, 96, 109, 114, 115, 125, 127, 137, 139, 142 Subjektivität  112, 113, 140, 142, 149 Sünde  44, 61 Sündhaftigkeit  44, 61 Tod  46, 62, 89, 94, 95, 110, 112, 126, 147 transzendent  23, 24, 26, 42, 83, 104, 109, 111, 113, 142 transzendental  24, 57, 58, 59, 104, 113, 128 Vaterland  56, 63, 72, 73, 80, 81, 83, 88, 89

Vaterlandsliebe  73, 80, 83, 86, 87, 88, 91, 92, 93 Vernunft  17, 30, 38, 39, 40, 45, 56, 60, 61, 62, 64, 65, 71, 87, 88, 90–93, 102, 105, 108, 110, 125, 131, 132, 142–149, 159 Verstand  16, 18, 38, 102, 107, 112, 116, 121, 122, 127, 130, 132, 133, 134, 148, 149, 150, 154, 155 Vorsehung  14, 15, 16 Weltanschauung  14, 24, 58, 78, 113, 127, 131, 141, 149, 153, 156 Wille  16, 23, 26, 36, 40, 49, 60, 65, 68, 80, 81, 82, 88, 110, 128, 131 Wissenschaftslehre  10, 20, 24, 25, 56, 62, 71, 78, 95, 132, 146