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German Pages 186 Year 2019
Ming-Chen Lo Jenseits des Leidens
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 41
Ming-Chen Lo
Jenseits des Leidens Adornos Beitrag zu einer „Denkpsychologie“ Mit einem Vorwort von Axel Honneth
ISBN 978-3-11-064222-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064247-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064236-0 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2019949473 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Das vorliegende Buch, das auf eine Dissertation am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zurückgeht, hebt sich von der nicht abreißenden Flut von Studien zu Adorno wohltuend ab; es gibt nicht in leicht veränderter Sprache einfach nur wieder, was bei Adorno bereits zu lesen ist, lässt auch nicht Schwerverständliches so stehen, wie es bei ihm häufig anzutreffen ist, sondern ist ernsthaft und behutsam um die Aufklärung eines für sein philosophisches Denken konstitutiven Gedankens bemüht. Der Gedanke, um den es Ming-Chen Lo in ihrer beeindruckenden Arbeit geht, ist der des menschlichen „Leidens“, ein Begriff, der eine Schlüsselstellung in Adornos Werk einnimmt, ohne in der Sekundärliteratur bereits hinreichend durchdrungen zu sein. Ming-Chen Lo ist der, wie ich denke, richtigen Überzeugung, dass es in dieser zentralen Kategorie Adornos eine Spannung gibt, die es wert ist, verfolgt und aufgehellt zu werden. Die Spannung, die sie zu konstatieren können glaubt, besteht darin, dass das „Leiden“ in den Schriften Adornos je nach Kontext und Aufmerksamkeit nicht nur seine Bedeutung, sondern auch sogar seine normative Stellung radikal verändert: Auf der einen Seite ist bei ihm beinah überschwänglich und programmatisch von einer Abschaffung alles Leidens unter den Menschen die Rede, ja, wird sogar gelegentlich mit der Idee einer zukünftigen Aufhebbarkeit des Todes gespielt, auf der anderen Seite aber wird dem Leiden auch eine positiv-konstruktive Rolle für die mentalen Operationen unseres Geistes zugebilligt. Wie beides zusammenstimmen kann, so dass es nicht einen bloßen Widerspruch bildet, ist die Frage, die sich Ming-Chen Lo in ihrer einer Suchbewegung gleichenden Studie vorlegt. Dass ihre Argumentation eine Suchbewegung darstellt, wird schon an der nicht immer leicht zu durchschauenden Gliederung der Arbeit deutlich; zwar wird schon ganz am Anfang der Studie dargelegt, inwiefern man es bei der Erkenntnistheorie Adornos mit dem Versuch einer „Denkpsychologie“ zu tun hat, aber erst ab dem 3. Kapitel wird systematisch erläutert, was es mit einem solchen theoretischen Vorhaben der Sache nach auf sich hat. Mit der Behauptung, dass große Teile der Überlegungen Adornos zur Rolle des Leidens als Beiträge zu einer „Denkpsychologie“ verstanden werden müssen, betritt die Autorin tatsächlich vollständiges Neuland; nicht nur wäre die Verwendung dieses Ausdrucks im Rahmen der herkömmlichen Adorno-Forschung kaum vorstellbar, auch der Gedanke, der „negativistische“ Denker hätte Konstruktives zum Verständnis geistiger Operationen beibringen wollen, würde wohl schnell als abwegig zurückgewiesen werden. Das aber ist die zentrale Idee, die Ming-Chen Lo mit ihrer Studie mutig zu verfechten versucht; sie ist der Überzeugung, dass Adorno dort, wo er nicht von einem vermeidbaren, durch https://doi.org/10.1515/9783110642476-001
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Vorwort
gesellschaftliche Bedingungen verursachtes „Leiden“ redet, damit ein nicht aufhebbares Element unserer Erfahrung von „Widerfahrnis“ meint, das in der einen oder anderen Weise zur Entwicklung geistiger Vermögen beiträgt. In der Unbeirrbarkeit, mit der Ming-Chen Lo diesen aufregenden Gedanken in fünf Kapiteln zunächst zögerlich, dann immer selbstbewusster entwickelt, muss das größte Verdienst ihrer Studie gesehen werden; eine Anstrengung des Verstehenwollens und ein Mut zur riskanten Lösung ist hier am Werk, die im Schrifttum zum Denken Adornos die rare Ausnahme bildet. In den ersten beiden Kapiteln wird, wie gesagt, das Problem nur erst tastend umkreist. Ming-Chen Lo fällt auf, dass Adorno schon in seinen früh beginnenden Auseinandersetzungen mit Freud von dessen „pessimistischer Anthropologie“ insofern abweicht, als er der Erfahrung von „Unlust“ und Schmerz einen „transformativen“ Stellenwert einräumt, der darin besteht, Motive zur Umkehr oder Änderung gegebener Umstände liefern zu können. Im Ausgang von diesem Befund, der durch exegetische Exkurse zu Freuds Begrifflichkeit abgerundet wird, zeigt sich dann in der weiteren Rekonstruktion, dass für Adorno der Schmerz, die Erfahrung von Leid also, den impulshaften, naturgeschichtlich verankerten Kern eines „Wertbezuges“ darstellt, durch den sich im Individuum erste Regungen eines praktischen Sollens melden, die in die Richtung eines verändernden Handelns weisen; allerdings bleibt an diesen insgesamt erhellenden Passagen recht unklar, wie genau der Übergang von einem bereits „natürlich“, eben „impulshaft“ angezeigten Wert der bloßen Lebenserhaltung zur Wahrnehmung normativer Gesichtspunkte innerhalb der sozialen Umwelt gedacht werden soll. Viel Sorgfalt verwendet Ming-Chen Lo in demselben Zusammenhang hingegen dann darauf, die Unterschiede deutlich zu machen, die zwischen Freud und Adorno auch in Hinblick auf die Einschätzung einer anthropologisch invarianten „Lebensnot“ bestehen sollen; nach ihrer gut belegten Auffassung gehören für Adorno nicht nur gesellschaftliche Missstände, sondern selbst der biologisch unabwendbare Tod jedes Einzelnen zum variablen Haushalt unserer natürlichen Lebenslage, weil die ersten als prinzipiell aufhebbar und der zweite immerhin als kulturell formbar, nämlich als individuell erträglich gestaltbar, gedacht werden müssen. An diesem Punkt angelangt, hat Ming-Chen Lo bisher freilich nur den „negativen“ Aspekt von Adornos Begriff des „Leidens“ umrissen; durch die Markierungen der Differenzen zu Freud wissen wir nun zwar etwas genauer, dass Adorno im psychischen und physiologischen Leiden unter den bislang gegebenen Umständen auch immer das transformative Potenzial mitzudenken versucht, das darin als natürlich angelegtes Motiv zum gesellschaftsverändernden Handeln schlummert, aber von einer tatsächlich positiven Bestimmung der Rolle des Leidens sind wir noch weit entfernt.
Vorwort
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Das ändert sich schlagartig erst mit dem 3. Kapitel, in dem nun in einer sehr produktiven, wie befreiend wirkenden Wendung all das, was Adorno zur konstruktiven oder konstitutiven Leistung menschlichen Leidens zu sagen hat, als Baustein einer in seinem Werk untergründig angestrebten „Denkpsychologie“ begriffen wird – mit „Denkpsychologie“ ist dabei einfach das theoretische Unterfangen gemeint, Auskünfte über die psychischen Wurzeln unserer verschiedenen geistigen Operationen zu gewinnen, ein Versuch, der angesichts der starken Orientierung an Freud und der Betonung des Unbewussten auch als Beitrag zu einer psychoanalytischen Epistemologie bezeichnet werden könnte. Den Ausgangspunkt der Rekonstruktion dieser Denkpsychologie bildet die Beobachtung, dass Adorno häufig unser bloß passives Erdulden äußerer Sinneseindrücke als eine Art von „Erleiden“ beschreibt, als ein „kognitives Leiden“, um darin dann die psychische Quelle aller unserer weiteren Erkenntnisbemühungen zu verorten; es ist die „Unlust“, wie es im Anschluss an Freud heißt, die wir intuitiv verspüren, wenn wir dank unserer Rezeptivität der chaotischen Mannigfaltigkeit unserer sinnlichen Umwelt ausgesetzt sind, die uns Adorno zufolge „unbewusst“ motiviert sein lässt, höherstufige Formen der kognitiven Bewältigung und damit erst die Fähigkeit zu geistigen Operationen zu entwickeln. Von diesem wichtigen Befund aus verfolgt Ming-Chen Lo nun die Überlegungen Adornos in zwei höchst interessanten Richtungen weiter, die sich auch deutlich in der Gliederung ihrer Arbeit abzeichnen. Auf der einen Seite ist Adorno nach ihrer Überzeugung daran interessiert, in der psychischen Wurzel unserer geistigen Operationen, also der Erfahrung einer „kognitiven Dissonanz“, wie es jetzt im Text auch heißt, zugleich die Ursache des Drangs zum identifizierenden Denken auszumachen; das gelingt ihm, wie die Autorin zeigt, indem er die Möglichkeit einer „unbewussten“ Verdrängung der anfänglichen Unlust am passiven Erleiden sinnlicher Mannigfaltigkeit konstatiert, die in dem Bestreben mündet, das sinnlich Gegebene einheitlichen Begriffen zu unterwerfen und damit durch Objektivierung zu beherrschen – bis in die wahrnehmungspsychologischen Spekulationen der Dialektik der Aufklärung hinein verfolgt Frau Lo diese Überlegungen Adornos weiter, am psychischen Motivationsgrund unserer Erkenntnisfähigkeiten zugleich die Ursache für die geschichtliche Tendenz zum identifizierenden Denken freizulegen. Aber so erhellend diese Interpretationen im Einzelnen auch sein mögen, so sehr gewinnt man doch auch den Eindruck, dass die Autorin hier ein Potenzial ihrer Arbeit eigentümlich ungenutzt sein lässt; denn es wäre nach meinem Dafürhalten durchaus möglich gewesen, diesem ersten „denkpsychologischen“ Strang im Werk Adorno noch weiter zu folgen, um mehr über dessen Bestimmung der psychischen Unlustvermeidung als unbewusste Quelle des identifizierenden Denkens in Erfahrung zu bringen.
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Vorwort
Viel stärkeres Interesse widmet Ming-Chen Lo nun aber der anderen Seite der denkpsychologischen Bemühungen Adornos, nämlich den vielen versteckten Überlegungen, in denen es diesem um eine Freilegung der psychischen Bedingungen eines gerade nicht verdinglichenden, also dingsensiblen, responsiven Denkens geht. Mit bewunderungswürdiger Kenntnis des Gesamtwerkes bahnt sich die Autorin einen Zugang zu diesem „affirmativen“ Teil der Denkpsychologie Adornos zunächst in ihrem 4. Kapitel, wenn sie zum Schluss ihrer Ausführungen in einem Exkurs auf dessen Spekulationen zur Quantenphysik Heisenbergs zu sprechen kommt, in der er aufgrund der Prämisse einer Nichtdeterminiertheit natürlicher Prozesse einen ontologischen Hinweis auf die „objektive“ Begründetheit eines nicht-identifizierenden Denkens zu schließen können glaubt. Ob sich von hier aus tatsächlich ein leichter Übergang zum anschließenden, das thematische Herz der Studie bildenden Kapitel finden lässt, soll hier dahingestellt bleiben; auf jeden Fall wendet sich Ming-Chen Lo nun im Folgenden auf äußerst fruchtbare Weise den weit verstreuten Überlegungen zu, in denen Adorno den sozialisatorischen Ermöglichungsbedingungen eines nicht-identifizierenden, responsiven Denkens nachgeht. Der Schlüssel dafür muss Adorno nach dem, was wir dank der Rekonstruktion von Ming-Chen Lo schon wissen, in frühkindlichen Umständen erblicken, die es dem Kleinkind ersparen, eine Abwehr gegenüber der Unlusterfahrung eines Ausgeliefertseins an das sinnlich Mannigfaltige zu entwickeln; und dementsprechend verfolgt die Autorin in diesem Kapitel mit großem Gespür für Randständiges in dessen Werk all die Passagen, in denen sich Adorno über die Bedingungen einer gelingenden Individuation im Schutze der „mütterlichen“ Liebe ausgelassen hat. Den roten Faden dieser Rekonstruktionsversuche, die ja einem weitgehend unbekannten Bereich der Überlegungen Adornos gelten, bildet der einsichtige Gedanke, dass das Kleinkind dort, wo es dank elterlicher Zuwendung keine Unlustabwehr entwickeln muss, in der Nachahmung erfahrener Liebe ein responsives Verhalten erlernen kann, das unter glücklichen Bedingungen dann zur Triebfeder eines nicht-identifizierenden Denkens werden kann – nach meiner Einschätzung führen diese spannenden, wegweisenden Gedankengänge viel weiter als die vielen Versuche, im Begriff der „Mimesis“ einen produktiven Zugang zu Adornos Bestimmung eines nicht-identifizierenden Denkens zu finden. Lässt man die Argumentation von Ming-Chen Lo noch einmal Revue passieren, so wird schnell deutlich, dass hier ein großer Schritt hin zu einem besseren, umfassenderen und tieferen Verständnis der normativen Absichten Adornos vollzogen wurde. Im Ausgang von dem höchst komplexen Begriff des „Leidens“ ist es der Autorin gelungen, einen Strang im Denken Adornos zu entdecken, der bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde: Es ist das Schicksal der frühkindlichen Triebentwicklung, ihr Scheitern am zurückweisenden Verhalten der
Vorwort
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elterlichen Bezugspersonen oder ihr Gelingen aufgrund von deren liebevoller Zuwendung, das darüber entscheidet, wie es um die Chancen eines nicht-identifizierenden Denkens beim Menschen insgesamt bestellt ist. Die vielen Spekulationen, die in der Sekundärliteratur über das Verhältnis von Psychoanalyse und moralischen Überlegungen bei Adorno oder über sein Beharren auf der normativen Sonderstellung des Kindes angestellt wurden, hier werden sie durch eine kühne Neuinterpretation allesamt mit einem Schlag aufgehoben. Vielleicht bedurfte es eines gewissen Unvertrauens mit der deutschen Sprache, eine Unbekümmertheit im Umgang mit der geschichtlichen Mitgift unserer disziplinären Begriffe, um den Schritt zu wagen, eine Reihe von weitverstreuten Bemerkungen und Beobachtungen Adornos unter dem Stichwort der „Denkpsychologie“ zusammenzufassen und damit erstmals als einen systematischen Teil seines Werkes zu erschließen – wer von uns hätte schon den Schneid besessen, mit Blick auf Adorno von der positiven Absicht zu sprechen, wie Jean Piaget einen Beitrag zur Bestimmung der psychischen Antriebskräfte geistiger Operationen leisten zu wollen. Ming-Chen Lo hat genau dies getan und damit der Erforschung seines Werkes einen kaum zu überschätzenden Dienst erwiesen. Axel Honneth
Inhalt Axel Honneth V Vorwort Einleitung
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Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie 13 . Das Unbewusste im Denken 16 .. Erkenntnispsychologische Orientierung 20 .. Neurosen als Denkvorgang 23 . Das unbewusste Leiden: Ein Exkurs zu Freud 24 .. Die Bestimmung des Triebes 29 .. Der Trieb in der Repräsentanz 31 .. Das Lustprinzip und die Konfliktflucht 37 .. Verdrängung – das Leiden der zweiten Stufe 45 . Kritik der naturalistischen Interpretation . . .
47 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“ 49 „Ende des Individuums“? 52 Schmerz: Impression des Müssens 58 Tod im Unbewusstsein 59 .. Die Lebensnot aufhebbar 63 .. „Aggressivität ganz verschwunden“ 67 .. Sublimierung: Das Werk des Sozialen
71 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden 72 . „Leiden als Norm“: Zweckmäßigkeit des Denkens 74 . „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“ 75 .. Ein metaphorisches Leiden? .. Die etymologische Wurzel: Rezeptivität und 77 Empfänglichkeit 80 .. Das kognitive Leiden 82 .. Wozu die „De-Psychologisierung“ des Leidens? 84 . Tut das Nicht-Identische weh? Das Projekt der Revokation 85 . Dissonanz: „Süße Not“ 88 . Das psychische Wesen der Rationalität
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Inhalt
Adornos Denkpsychologie (2): Die Motivation zum Identifizieren in der 90 Wahrnehmung 90 Denkpsychologie: Die Antwort auf Kant 92 Der Primat der Moral im Verstande 95 Die dritte Antinomie ist „auflösbar“ 98 .. Das „Ich denke“ als psychisches Wesen 101 .. „Äußerlichkeit des Kausalitätsbegriffs“ 102 .. Das Unbewusste in der Kausalwahrnehmung 107 .. „(Selbst‐) Attribution der Kausalität“ 110 Die unbewussten Motive zum Identifizieren 112 .. Epistemische Teilhabe am Es 113 .. „Verschränkte Beziehung“ 117 Exkurs: Emanzipation durch Naturwissenschaft 119 .. Werner Heisenberg: Wechselwirkung 125 .. Indeterminierte Natur
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Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit 128 Das Problem der Intersubjektivität 129 Behütetes Kind 131 „What happens before thought?“ 132 .. „Nachahmung der geliebten Person“ 140 .. Angst, Autorität und Triebmobilität 143 .. Geborgenheit und Vergegenständlichung 147 . Liebe, Sprache und Erkenntnis 150 . Intersubjektive Kommunikation 156
Ausblick Siglen
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Literaturverzeichnis Danksagung Personenregister
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Einleitung 1 Fragestellung Die vorliegende Arbeit geht von zwei miteinander verbundenen Fragestellungen aus. Erstens: Enthält Adornos Denken eine essenzialistisch nachvollziehbare Anthropologie, welche die empirisch nachvollzierbare Grundlage einer Rationalität darstellen kann, die sein Denken über den üblicherweise kritisierten Negativismus hinausführt? Und zweitens: Lassen sich seine zentralen anthropologischen Annahmen durch eine psychoanalytische Interpretation des „Leidens“ entfalten? Diese doppelte Leitfrage ist eine Erwiderung auf ein Adorno seit langem unterstelltes Theoriedefizit, nämlich, dass er es nicht beabsichtige oder gar verweigere, sich über „das Menschliche“ unumwunden positiv zu äußern. Seine prägnante und vielzitierte Aussage „wir mögen nicht wissen, […] was der Mensch oder das Menschliche und die Humanität sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau“¹, scheint einen definitiven Anhaltspunkt dafür zu liefern, dass seine Philosophie keine verbindlichen anthropologischen Prämissen beinhaltet und eine wahre Kenntnis über das Menschsein sich nur durch die Auseinandersetzung mit bestehenden Missständen entfalten darf. Das Fehlen eines erkenntlichen Menschenbildes erweist sich allerdings als nachhaltig ungünstig für die Rezeption seiner Philosophie. Denn ohne deskriptive Bestimmungen dessen, was für uns allgemein als human und rational gilt, bleibt Adornos vielfältige Kritik an gesellschaftlichen Missständen mit Willkür behaftet. Selbst wenn man seiner Sichtweise prinzipiell zustimmt, weiß man nicht, ob seine Sozialkritik auf generalisierbaren Maßstäben beruht (und wenn ja, auf welchen) oder ob ihr Erkenntnisgehalt entweder an die jeweiligen sozialen Kontexte oder aber so stark an Adornos außergewöhnliche Sensibilität gebunden ist, dass ihre Gültigkeit der historischen und kulturellen Differenz nicht standzuhalten vermag. Während die Frage nach einem anthropologischen Konzept in der Rezeption ausblieb, wurde das „Leiden“ dagegen zum Kern von Adornos Philosophie erklärt: Da sich die Gestaltung einer guten und vernünftigen Gesellschaft nicht theoretisch anhand universaler menschlicher Eigenschaften artikulieren lässt, sollen uns stattdessen ausschließlich reale Konflikte und negative Erfahrungen praktische Orientierung liefern. Eine repräsentative Erläuterung dieses Gedankengangs findet man bei Raymond Geuss:
Adorno PM, S. 261. https://doi.org/10.1515/9783110642476-002
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Einleitung
Nach Adorno müssen wir da anfangen, wo wir uns historisch und kulturell vorfinden, mit den besonderen Frustrations- und Leidenserfahrungen, die der Versuch der Verwirklichung eines historisch besonderen Entwurfs vom ‚guten Leben‘ mit sich bringt.²
Die Auffassung, Fortschritt könne nur aus dem Leiden gedacht werden, scheint zwar einen Bewegungsprozess im Sinne einer „negativen“ Dialektik darzustellen, ruft aber auch Unverständnis hervor: Will man das Vernunftpotenzial der Menschen ausschließlich aus der falschen bzw. negativen Erfahrung herleiten, liegt es nicht nur nahe, den reichen normativen Gehalt des alltäglichen sozialen Lebens zu ignorieren.³ Problematisch ist zudem insbesondere das hier implizierte Konzept des Leidens: Einer solchen Interpretation zufolge hat Adorno einzig das Leiden als artikulierbare Bewegungskraft hin zum sozialen Fortschritt gedacht. Sie evoziert die Nachfrage, ob die Bedeutung des menschlichen Leidens tatsächlich so eindeutig greifbar ist. Betrachtet man dies zusammen mit Adornos gesamter Philosophie, lautet die Frage: Ist ein solcher Begriff des Leidens überhaupt mit Adornos psychoanalytischer Orientierung verträglich? Nach diesem Ansatz wird Adornos Philosophie also als eine dargestellt, die über keinen psychoanalytischen Hintergrund verfügt, denn schon vom Leiden als einem deutlich feststellbaren Zustand auszugehen, widerspricht dem Grundwissen, das die Psychoanalyse vermittelt. Im Zentrum ihrer Theorien (selbst ohne hier ins Detail zu gehen) steht nämlich das neurotische Leiden und damit eine Art des Leidens, das im Unbewussten wirkt und dessen Inhalt und Folgen dem Leidenden selbst nicht unmittelbar zugänglich sind. Gerade Personen, die real von schwer überwindbaren Konflikten und Frustrationen betroffen sind, können in ihrem Leiden kaum die Chance zu einem persönlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt erblicken, sondern erleben es vielmehr als eine bis tief ins Unbewusste wirkende Hemmung und Deformation der eigenen Lebensführung. In der Adorno unterstellten normativen Aufwertung des Leidens wird nämlich die Perspektive der Betroffenen vollständig ausgeklammert, sie gründet auf einer idealtypischen Vorstellung vom Leiden, die der Komplexität der menschlichen Psyche nur schwer gerecht werden
Geuss 1996, S. 76. Es ist aber keineswegs unüblich, dass Autoren, die Adorno auf diese Sichtweise festschreiben, zugleich selber ihr Unverständnis darüber äußern; zu Geuss‘ Kritik siehe 2005b. Ähnlich auch Bonß, wobei er die implizierte Privatisierung des Erfahrungsgehaltes und die Einbuße der methodischen Überzeugungskraft kritisiert: „Der Rekurs auf die subjektive Leidenserfahrung als Erkenntnisimpuls, der Adorno häufig den Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit‘ eingetragen hat, wird für ihn […] sogar zu einer zwingenden Notwendigkeit.“ (Bonß 1983, S. 209) Dazu auch Zuidervaart 2007 und Bernstein 2005; meine Diskussion der zwei letztgenannten Autoren findet sich in den Kapiteln 1 und 2. Vgl. die klassische Kritik, die Habermas aus dieser Perspektive formuliert; Habermas 1985a, S. 130 – 157.
1 Fragestellung
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kann. Aber würde sich ein Sozialphilosoph, der jahrzehntelang die Kräfte des Unbewussten hinter der Irrationalität der Massen untersucht hat,⁴ tatsächlich intellektuell unbefangen darauf einlassen, das inhaltlich unbestimmte „Leiden“ als den zentralen Beweggrund des individuellen wie gesellschaftlichen Lernprozesses anzunehmen, ohne seine innerpsychische Wandelbarkeit und sein Destruktionspotenzial zu berücksichtigen? Der Adorno unterstellte Verzicht auf eine Anthropologie geht nämlich mit einer Simplifizierung des Leidens einher; beides ergänzt sich und zurrt ein Interpretationsmuster fest, in dem sich die intrapsychische Schicht seiner Philosophie nicht mehr zu öffnen vermag. Kurz, an diesem etablierten Interpretationskonstrukt unstimmig ist die Tatsache, dass Adornos sachliches psychoanalytisches Wissen nicht als in seine Philosophie integriert wahrgenommen wird. Um die intrapsychischen Perspektiven in Adornos Philosophie zurückzugewinnen, möchte ich das gesellschaftskritisch stark belastete, aber sachlich wenig erläuterte „Leiden“ zum Ausgangspunkt nehmen. Von hier aus rekonstruiere ich die psychoanalytischen Prämissen in seinem Denken, die weit über eine sozialpsychologische Polemik hinausweisen.⁵ Das Hauptergebnis der Untersuchung ist allerdings eines, das anfänglich keineswegs anvisiert oder erwartet war: die Entdeckung einer „Denkpsychologie“ Adornos. Der Begriff „Denkpsychologie“ ist freilich erläuterungsbedürftig, da er in der bisherigen Adorno-Interpretation keine Verwendung findet. Ich möchte hier die These vertreten, dass es sich dabei um einen von Adorno durch sein ganzes Leben hindurch weiterentwickelten Gedankenkomplex handelt, der jedoch von der einseitigen Betonung des Negativen überdeckt worden und in der bisherigen Rezeption untergegangen ist.⁶ Sämtliche sozialpsychologischen Schriften Adornos nehmen explizit Bezug auf die Psychoanalyse und setzen die Wirksamkeit unbewusster Mechanismen voraus. Vgl. beispielsweise die 1943 verfasste Analyse zu den Radiogesprächen Martin Luther Thomas’, in der Adorno die unbewusste Beeinflussung des rechtsradikalen Demagogen untersucht (in: GS 9.1); die 1950 veröffentlichten Studies in the Authoritarian Personality (in: GS 9.1), die 1952/1953 verfasste Studie zur Irrationalität von Horoskopen „The Stars Down to the Earth“ (in: GS 9.2), sowie die Arbeit „Schuld und Abwehr“, die die Nachkriegsmentalität in Deutschland untersucht (in: GS 9.2). Bisher wird Adornos Auffassung von Psychoanalyse vorwiegend anhand seiner sozialkritischen Schriften diskutiert. Unter ihnen gilt die Dialektik der Aufklärung als eine Hauptreferenz. Die allegorische und polemische Darstellung der Verdrängung, der Selbstverneinung sowie der Selbsterhaltung der mythischen Figur werden also auf eine durchaus fragliche Weise zum Subjekt von Adornos psychoanalytischer Sachkenntnis. Seine weiteren Schriften, einschließlich der Vorlesungen, werden dagegen in dieser Hinsicht wenig berücksichtigt. In den als Standardwerke geltenden Biographien, Einführungen und Nachschlagewerken zu Adorno lässt sich kein kohärenter und systematischer Strang hinsichtlich einer Denkpsychologie ausmachen. Adornos Philosophie wird dagegen generell durch folgende Teilaspekte erfasst: Sozialkritik, Sozialpsychologie, Moralphilosophie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie sowie
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Einleitung
2 Denkpsychologie Im Laufe der Untersuchung wird deutlicher werden, dass Adorno über Jahrzehnte einen eigenen anthropologischen Ansatz entwickelt, der sich sinngemäß als eine „psychoanalytische Theorie der Rationalität“ beschreiben lässt. Seine eigene Bezeichnung „Denkpsychologie“⁷ weist darauf hin, dass Adorno sämtliche geistigen Operationen als unbewusste mentale Vorgänge betrachtet. Von der sinnlichen Wahrnehmung bis hin zur zwischenmenschlichen Kommunikation gibt es keine intellektuelle (Fehl‐)Leistung, die nicht mit psychischen Ressourcen im Unbewussten korrelieren würde. Das umfassende Programm Adornos besteht somit darin, die Vernunft des Menschen als eines unbewussten emotionalen Wesens neu zu definieren. Dieser an der Psychoanalyse orientierte Ansatz zu einer neuen Bestimmung der Rationalität eröffnet meines Erachtens eine Innenperspektive, die in sämtliche Aspekte seiner Philosophie zurückwirkt. Eine Denkpsychologie bei Adorno herauszuarbeiten, bringt zunächst einen offenkundigen Vorteil mit sich: Es ermöglicht, sich ein kohärenteres Bild von seinem Denken zu machen. In der Regel wird Adornos Philosophie als eine von Brüchen oder Wenden gezeichnete dargestellt: Da soll es zunächst einen bewusstseinsphilosophischen, danach einen empirisch-sozialpsychologischen und schließlich einen rein dialektischen Adorno geben, der sich stets von der vorherigen Phase distanziert und noch einmal neu beginnt.⁸ Diese Aufteilung, die sich aufgrund der biographischen Zäsuren von Exil und Rückkehr verständlicherweise nur schwer vermeiden lässt, ist jedoch irreführend und läuft auf eine Segmentierung seiner Gedanken hinaus. In Bezug auf die Rolle der Psychoanalyse wird dies besonders deutlich. Zwar hebt Adorno seine Anlehnung an die Psychoanalyse immer wieder pointiert hervor – weshalb auch die Psychoanalyse in keiner Darstellung über ihn und die Frankfurter Schule unerwähnt bleibt –, aber ihre Präsenz und Bedeutsamkeit werden inhaltlich wie zeitlich starr implementiert. Inhaltlich wird sie immer unmittelbar mit Freud, der Sozialpsychologie und empirischen Forschungen assoziiert, die zeitlich mit Adornos Emigration in die USA zusammenfallen. Dieser enge Zusammenhang verleiht den Anschein, als würden Adornos Kenntnisse vom Unbewussten mitnichten sein Verständnis sämtlicher Aspekte unseres geistigen Lebens – einschließlich Erkenntnis, Moral und Ästhetik –
Ästhetik. Vgl. Buck-Morss 1979; Wiggershaus 1988; Müller-Doohm 2003; Klein/ Kreuzer/MüllerDoohm (Hg.) 2011. Explizit verwendet Adorno den Ausdruck kaum; eine der wichtigsten Stellen, an der der Begriff vorkommt, findet sich in seiner 1963 gehaltenen Vorlesung Probleme der Moralphilosophie. Zu einer ausführlichen Diskussion dieser Passage vgl. Kapitel 4. Vgl. zum Beispiel Tiedemann 1997, S. 382, sowie Habermas 1992, S. 13.
2 Denkpsychologie
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beeinflussen. Seitdem die in den 1940er und 1950er Jahren favorisierte sozialpsychologische Forschung methodisch nachdrücklich in Frage gestellt wurde⁹ und auch Freuds Triebtheorie selbst sich immer wieder zu verteidigen hat,¹⁰ befindet sich Adornos Rekurs auf die Psychoanalyse in einer schwierigen Lage: Sie ist biographisch überall gegenwärtig, jedoch theoretisch von nur geringer Relevanz. Mit der Rekonstruktion der „Denkpsychologie“ versuche ich dagegen zu zeigen, dass bei Adorno die Bedeutung der Psychoanalyse weit darüber hinausgeht, lediglich ein Hilfsmittel zur Analyse sozial-pathologischer Phänomene zu sein, ja dass für ihn die Logik des Unbewussten in sämtliche Bereiche der Philosophie eingeführt werden sollte. Den Beweisgang für die These, dass bei Adorno eine systematische psychoanalytische Theorie des Denkens vorliegt, stellt der Versuch dar, die Ambiguität des Leidensbegriffs schrittweise aufzuhellen. Oder anders formuliert: Der Leidensbegriff ist meines Erachtens gerade die Schnittstelle in Adornos Denken, an der die kontextualistische und die essenzialistische Perspektive zusammenlaufen. Im Bezugsrahmen der Denkpsychologie, in dem Psychoanalyse und Philosophie ineinander übergehen, verändern sich die Bedeutungen von Adornos Begriff des Leidens: Hier verbindet er damit nicht die kontingente, kontextabhängige negative Erfahrung, sondern entfaltet vielmehr eine Konzeption, in der sich Affektivität und Triebhaftigkeit als konstruktive Elemente der menschlichen Rationalität erweisen. Das heißt (auch wenn dies an dieser Stelle noch etwas abstrakt bleiben muss): In der denkpsychologischen Verwendung des Leidensbegriffs verweist Adorno nicht mehr auf Missstände, sondern auf anthropologisch aufweisbare Mittel, mit denen es möglich sein soll, diese Missstände auf eine vernünftige Weise zu beheben. Die Herangehensweise, die Adorno in der „Denkpsychologie“ vorführt, lässt sich als ein theoretisches ‚Aufpfropfen‘ beschreiben. Unbeirrt ist er bemüht, die philosophische Tradition auf den aktuellen psychologischen Wissensstand zu bringen. Vor dem Hintergrund des Resultats der vorliegenden Studie lässt sich diese These konkretisieren: Adorno verknüpft zum Beispiel Kant, Hegel und verschiedene Lehren des Unbewussten so miteinander, dass sich die verfügbaren systematischen Kenntnisse bezüglich unserer Innenwelt und die Tradition der Aufklärung gegenseitig befruchten können. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Adorno keineswegs orthodoxer Freudianer ist, wie er selbst gerne behauptet. Zur inhaltlichen Bestimmung des Unbewussten greift er vielmehr auf ganz unterschiedliche psychologische bzw. psychoanalytische Theorien zurück, einschließ Zu den Schwierigkeiten einer Integrierbarkeit der Psychoanalyse in die Gesellschaftskritik siehe die repräsentativen Untersuchungen von Reiche 2004, besonders S. 9 – 40, sowie Honneth 2004. Vgl. Lear 1996; Honneth 2007.
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Einleitung
lich der frühen Theorien zum Unbewussten in der Wahrnehmungspsychologie aus dem 19. Jahrhundert bis hin zu der von Adorno angeblich abgelehnten „Ich-Psychologie“. In der Vermittlung dieser beiden Wissensgebiete werden Verdrängung, Projektion, Sublimierung sowie die zwischenmenschliche unbewusste Gefühlsbindung nicht nur anhand pathologischer Gesellschaftsphänomene oder Persönlichkeiten erörtert, wie es in Adornos empirischen Forschungen der Fall ist, sie werden vielmehr allen Formen der Rationalität zugrunde gelegt. Sein Ansatz weicht hier von der herkömmlichen Psychoanalyse ab und lässt sich eher in eine periphere Traditionslinie der Psychoanalyse einordnen, die nicht therapeutisch, sondern epistemisch orientiert ist.¹¹ Insgesamt möchte ich mit meiner Studie zeigen, dass Adorno nicht länger als ein radikaler Bezweifler der Aufklärung wahrgenommen werden sollte. Vielmehr suchte er durchaus im Geiste der Aufklärung zeitlebens das in allen Menschen angelegte Grundvermögen und erziehbare Potenzial zum rationalen Denken, Kommunizieren und Handeln, und zwar unter der primären Voraussetzung, dass die tief im menschlichen Unbewussten wirkende Verletzbarkeit und Triebhaftigkeit anerkannt werden müssen. Wie befremdend der Ausdruck der „Denkpsychologie“ auch im Moment noch klingen mag – er hilft uns, Adornos Gedanken zum psychischen ,Innenleben‘ der Rationalität auf eine Weise darzustellen, die auch im Blick auf unser gegenwärtiges Selbstbild anschlussfähig ist. Mit der Herausarbeitung dieses lange ignorierten anthropologischen Ansatzes tritt Adornos Menschenbild aus dem Verborgenen hervor und bietet zugleich eine Möglichkeit, seine Philosophie von einem interpretatorisch verhärteten, einseitigen Negativismus zu befreien.
3 Die Struktur der Arbeit Um die Interpretationsgrundlage für die weitere Diskussion zu legen, arbeite ich im ersten Kapitel zwei Hauptansätze Adornos heraus, mit denen er die unbewusste Innenwelt erschließt: den erkenntnistheoretischen und den psychoanalytischen. Zunächst gilt es, mit einem Rückblick auf Adornos erste Habilitationsschrift aus dem Jahre 1927 daran zu erinnern, dass und wie der junge Adorno versucht, sich zu einer Zeit, in der die Psychoanalyse noch keineswegs anerkannt Instruktiv ist hier Martin Dornes’ Darstellung dieser Denkströmung, die er unter dem Oberthema der „emotionalen Ursprünge des Denkens“ behandelt (Dornes 2005). In seinem Überblick führt Dornes diese Tradition jedoch (abgesehen von Textspuren bei Freud) frühestens bis in die 1950er Jahre zurück. Daran lässt sich erkennen, dass Adornos Initiative eine der ersten war, die dieses Zwischengebiet zu erschließen versuchten.
3 Die Struktur der Arbeit
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war, die Vorstellung eines seelischen Unbewussten durch die erkenntnistheoretische Struktur Kants sowohl anzueignen wie sie umgekehrt auf diese Struktur selbst anzuwenden. Dieses keiner Disziplin wirklich zugehörige Werk macht deutlich, dass Adorno unter dem Einfluss der Kantischen Tradition ein starkes Interesse an den psychischen Ermöglichungsbedingungen von Rationalität hegt und schon sehr früh dazu neigt, alle bewussten Erfahrungen als solche zu betrachten, die von verdeckten prä-reflexiven Mechanismen mitgestaltet sind. Um Adorno ausführlicher vor dem Hintergrund der Psychoanalyse interpretieren und die Eigentümlichkeit seiner eigenen Denkpsychologie konturieren zu können, folgt ein Exkurs zu Freud. Dieser Exkurs soll nicht nur die Grundkategorien der klassischen Psychoanalyse aus der Perspektive Adornos erläutern, sondern auch die Besonderheit des psychischen Leidens unter der Annahme eines Unbewussten veranschaulichen.Wie in späteren Kapiteln zu zeigen sein wird, verhilft die gedankliche Präsenz beider Ansätze dazu, Adornos Denkpsychologie als eine kontinuierliche Entwicklung und Korrektur zu begreifen. Das zweite Kapitel setzt sich mit dem problematischen Begriff des „Physischen“ auseinander. Denn Adornos häufige Verwendung dieses durchaus schillernden Begriffs trägt viel dazu bei, dass sein Leidensbegriff stark an psychologischem Gehalt verliert und einer naturalistischen Reduzierung seiner Philosophie den Weg bahnt. Um das Leiden begrifflich vom körperlichen Schmerz abzukoppeln und auf diese Weise überhaupt die eigentlichen psychoanalytischen und denkpsychologischen Bedeutungsschichten des Leidens ans Licht kommen zu lassen, behandle ich zwei wesentlich physisch bedingte Arten des Leidens gesondert – den Schmerz und den Tod. Hier wird ersichtlich, dass Adorno überall dort, wo scheinbar vom „Physischen“ die Rede ist, die Annahme eines „Unbewussten“ einschleust. Die Hauptthese des Kapitels lautet daher: Der Begriff des „Physischen“ bezieht sich bei Adorno weniger auf unhinterfragbar vorliegende physische Eigenschaften, als vielmehr darauf, dass er sich mit dem aus der Innenperspektive differenziert darstellbaren Prozess der Umwandlung dieser physischen Gegebenheiten in die Psyche befasst. Dementsprechend lässt sich an den physischen Vorkommnissen von Schmerz und Tod auch ein Aspekt von Adornos Konzept einer nicht-pathologischen individuellen Entwicklung ausmachen, der bereits eine klare Abgrenzung zu Freuds pessimistischer Anthropologie markiert. Adorno bleibt beharrlich bei der Überzeugung, dass gesellschaftlich-institutionelle Bedingungen mit der individuellen Entwicklung bis ins tiefste Unbewusste hinein korrelieren – und dementsprechend hält er ein nicht von Angst und Triebverzicht dominiertes Ich stets für möglich. Insofern sich das Subjekt in Adornos Philosophie Schritt für Schritt in ein psychisches Subjekt verwandelt, nimmt die Arbeit im dritten Kapitel eine Wendung hin zur Erkenntnistheorie. Den Ausgangspunkt dafür bildet das Unver-
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Einleitung
ständnis gegenüber der wiederholten Behauptung Adornos, ohne Leiden gebe es keine geistige Erfahrung. Mithilfe eines epistemologischen Rekurses zeige ich, dass Adorno in seiner Verwendung des Leidensbegriffs stillschweigend dessen Bedeutung verschiebt. Neben der alltagssprachlichen Bedeutung, welche die negative subjektive Erfahrung sowie deren objektive Ursachen umfasst, zieht Adorno das Wort auch in einem alltagsfernen Sinne heran: als einen indirekt erkenntnispsychologischen Terminus, der das gleichermaßen rezeptive wie triebhafte Wesen der menschlichen Vernunft zum Ausdruck bringen soll. Diese semantische Verschiebung ist entscheidend, denn sie ermöglicht es, Adornos Verwendung des Leidensbegriffs gleichsam ,nach innen‘ zu stülpen und somit einen anderen Bezugsrahmen zu öffnen. So verwandelt sich das als absolut böse geltende „Leiden“ in einen psychischen Zustand, genauer: in eine unbewusste Reaktionsfähigkeit im Prozess des Denkens. In diesem Zusammenhang deutet Adorno Hegels Begriff der geistigen Erfahrung um, indem er diese als eine hauptsächlich nicht vom selbstbewussten Subjekt, sondern von der unbewussten Kraft determinierte Leistung der Sublimierung darstellt. Die Denkenden als Leidende zu bezeichnen, ist somit keine triviale Rhetorik, sondern impliziert das sukzessive herangereifte philosophische Projekt Adornos, den menschlichen Geist in seinem unbewussten affektiven Wesen neu zu bestimmen. Bekanntlich mündet Adornos Reflexion über die europäische Geschichte in seine Kritik der instrumentellen Vernunft und des identifizierenden Denkens. Die in der Lebenswelt verbreitete positivistische Denkweise verstärkt nach Adorno einen grundsätzlichen Hang, die Besonderheit des Anderen zu ignorieren, ja die lebendigen Mitmenschen als kategorisierbare Gegenstände wahrzunehmen. Man geht daher weitestgehend davon aus, dass Adorno die instrumentelle Vernunft lediglich zugespitzt kritisiere, sich über ihre Veränderbarkeit jedoch ausschweige. Die in diesem Buch verfolgte Rückbindung seiner Philosophie an ihre psychoanalytischen Voraussetzungen ermöglicht jedoch eine andere Perspektive. Denn wenn Adorno seinen Ausgang konsequent von einer Psychoanalyse des Denkens nimmt, muss dieses für ihn in jeder Form einen unbewussten Gehalt haben. Darin, dass er die unbewusste Reaktionsfähigkeit nicht nur in der geistvollen Erfahrung, sondern zugleich am Prototyp der instrumentellen Vernunft verortet, wird diese Konsequenz klar ersichtlich. Selbst in den von Kant als „rein“ hypostasierten kognitiven Funktionen erkennt Adorno das Unbewusste und dessen Formbarkeit wieder. Die Darlegung dieser These verbinde ich im vierten Kapitel mit seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie. In dieser Vorlesung verfolgt Adorno den eigentümlichen Vorsatz, die Kantische Antinomie von Freiheit und Kausalität überwinden zu wollen. Sein diesbezüglicher Gedankengang wurzelt in einer wichtigen theoretischen Quelle: der Wahrnehmungspsychologie des 19. Jahrhunderts. Die von Hermann von Helmholtz entdeckte optische Sinnes-
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täuschung deutet Adorno dahingehend, dass alles sinnliche Wahrnehmen von unbewussten Motiven geleitet wird. Die Wahrnehmung als psychische „Handlung“ zu definieren heißt auch, das „Ich denke“ als eine unbewusste psychische Figur zu reformulieren, was es Adorno schließlich argumentativ ermöglicht, die Kant zufolge der Kausalität verhaftete Sphäre der Kognition für die Sphäre der Freiheit zurückzugewinnen. Adornos denkpsychologische Kant-Interpretation macht besonders deutlich, wie er sein jugendliches Vorhaben, die Kantische Erkenntnistheorie mit der Psychoanalyse zu vermitteln, über vierzig Jahre unbeirrt fortsetzt. Am Ende des vierten Kapitels mache ich einen Exkurs zu Adornos ungewöhnlicher Orientierung an der Quantenphysik, die für ihn die endgültige „Auflösung“ des Kausalitätsprinzips darstellt. Da Menschen als psychisch äußerst reaktionsfähige Wesen bei der sinnlichen Wahrnehmung stets eine interaktive Beziehung zur Außenwelt unterhalten, gewinnt für ihn die Kognition eine normative Bedeutung. In Werner Heisenbergs „Unbestimmtheitstheorie“ erkennt Adorno ein nicht zu unterschätzendes aufklärerisches Potenzial – sie könnte eine grundlegend neue Betrachtungsweise der Natur eröffnen, welche die Menschheit lehrt, sich ihrer Neigung zum Identifizieren bewusst zu werden. Zwar enthält Adornos Denkpsychologie offenbar auch spekulative Elemente, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er sich während seines langjährigen Aufenthaltes in Amerika im Umkreis von Psychologen bewegte und Kenntnisse bezüglich der unterschiedlichen Schulen innerhalb der Psychologie und Psychoanalyse sammelte. Sein ,Aufpfropfen‘ der Philosophie auf die Lehren des Unbewussten setzt diesen Hintergrund voraus und verfolgt zugleich ein starkes praktisches Interesse, nämlich zur Bildung einer nicht von Autoritäten manipulierbaren, reflexionsfähigen Gesellschaft im Nachkriegseuropa beizutragen.¹² Im fünften Kapitel binde ich daher die vorangehend geführte Rekonstruktion seiner Denkpsychologie zurück an ihre entwicklungspsychologische Quelle und zeige, dass Adorno das Entstehen der Denkfähigkeit im Prozess der interpersonellen Sozialisation lokalisiert. In diesem Zusammenhang setze ich mich mit der schwerwiegenden Kritik von Jessica Benjamin an Adorno auseinander, die lautet, dass Adornos Denken – psychoanalytisch betrachtet – an der Schwelle des Intersubjektivitäts-Paradigmas scheitere. Ich entwickle eine (bereits von Axel Honneth aufgewiesene) theoretische Affinität zwischen dem Entwicklungspsychologen Peter Hobson und Adorno und zeige, dass im Rahmen einer Denkpsychologie klar zum Vorschein kommen kann, dass Adorno einen genetischen Zusammenhang zwischen der primären emotionalen Interaktion in der frühen
Vgl. Adorno GS 10.2, S. 702– 738.
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Einleitung
Kindheit und den intellektuellen Fähigkeiten sieht. Daran anschließend vertrete ich die These, dass es Adornos Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Wahrnehmung ist, die ihn dazu führt, die Sozialisation der Triebe im subtilen zwischenmenschlichen Umgang zu beobachten, ja die geistig konstruktive Rolle der zweiten Person in jedem sinnlichen Kontakt zu erkennen. Diese Dimension seiner Denkpsychologie vermag meines Erachtens, die Kritik der Subjektphilosophie, die seine Rezeption massiv hemmt, endgültig zu überwinden. Mit der Aufspannung der „Denkpsychologie“ zeichnet sich ein neuer Zugang zu Adornos Philosophie ab und zugleich eine Antwort auf die Frage, ob seinem Denken Ansätze innewohnen, die es über das „Leiden“ hinauszuführen vermögen.
1 Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie Adornos Auffassung der menschlichen Natur, so die Hauptthese der vorliegenden Studie, lässt sich ohne Einbezug seines Konzepts des Unbewussten nicht adäquat erfassen. Dies gilt gleichermaßen für seine Auffassung des menschlichen Leidens. In diesem ersten Kapitel soll es zunächst um zwei Vorgehensweisen gehen, durch welche Adorno die unbewusste Psyche erschließt: die „denkpsychologische“ und die psychoanalytische. Beide gelten als Grundlage von Adornos Anthropologie wie auch als Interpretationsbasis für seinen Begriff des Leidens. Der erste Teil des Kapitels legt mit einem kurzen Rückblick auf Adornos 1927 vorgelegte erste Habilitationsschrift Der Begriff des Unbewussten in der transzendentalen Seelenlehre dar, dass Adornos anthropologische Annahmen in Form einer Erkenntnispsychologie gewachsen sind, die von Anfang an klar von Freuds Ansatz abweichen. Gegenüber der allgemeinen Unterstellung, seine frühe Schrift habe mit seiner späteren Sozialkritik und Negativen Dialektik inhaltlich „nichts zu tun“ ¹, soll der Rückblick zeigen, dass diese erste Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse eine geradezu programmatische Bedeutung hat: Adorno eignet sich die damals noch höchst befremdliche Vorstellung einer Innenwelt des Unbewussten mit einem erkenntnistheoretischen Interesse an. Die epistemische Orientierung verleitet ihn zwar dazu, wichtige Punkte durchaus missverständlich zu deuten; andererseits birgt der noch unreife Versuch wichtige Neuerungen, von denen die zentralste die sein dürfte, dass er bereits zu dieser Zeit beginnt, einen „das Unbewusste“ integrierenden Begriff von Rationalität zu verfolgen. Adorno bringt in den 1920er Jahren noch wenig Aufmerksamkeit mit für die Ätiologie und Behandlung der Neurosen, die der Psychoanalyse zugrunde liegen. Vielmehr konzentriert er sich auf die Gültigkeit der Psychoanalyse im Sinne einer Methode der Erkenntnis, die zu einem objektiven Wissen vom Unbewussten zu gelangen vermag. Seine Bevorzugung der epistemologischen vor der praktischen Bedeutsamkeit der Psychoanalyse hängt zweifellos mit seiner Lebenserfahrung vor dem Exil zusammen, die dem schweren Leiden (weder dem eigenen noch dem
Anselm 1993, S. 108, Fußnote 8. Die wenigen Autoren, die dieses frühe Werk überhaupt erwähnen, verkennen zwar kaum seine Originalität; dennoch wird die Schrift als ein isoliertes, nie weitergeführtes Vorhaben begriffen, das zu einem anderen Fachgebiet gehört und keine Kontinuität zu Adornos späteren Arbeiten besitzt. Daher wird seinem Denken oft ein Bruch oder eine „Wende“ unterstellt, die mit dem Verwerfen der Habilitationsschrift zusammenhängen soll. Vgl. Buck-Morss 1979, S. 20; Müller-Doohm 2003, S. 120 f. Vgl. auch Anmerkung 4 des vorliegenden Kapitels. https://doi.org/10.1515/9783110642476-003
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1 Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie
anderer) kaum ausgesetzt ist. Sie verweist aber auf eine bereits früh vorhandene Einstellung, die in der Forschung weitgehend übersehen wird: Adorno offenbart in dieser frühen Schrift sein starkes Interesse an den unbewusst-psychologischen Bedingungen des rationalen Denkens oder, wie eine spätere Formulierung von 1963 lautet, an der „anthropologische[n] intellektuelle[n] Konstitution“². Sie zeigt, dass Adornos Philosophie von Anfang an ein systematisches Konzept nicht-pathologischer Rationalität innewohnt. Selbst wenn das Thema psychischer Störungen in dieser Habilitationsarbeit nur eine periphere Rolle spielt, ist bereits deutlich zu sehen, dass Adorno dazu tendiert, psychische Erkrankungen wie alle anderen seelischen Erlebnisse auch im Denkvorgang zu verorten. Während der erste Teil dieses Kapitels untersucht, wie Adorno positiv an das Unbewusste herangeht, das heißt, es in seiner konstitutiven Rolle im allgemeinen Erkenntnisprozess herausschält, wendet sich der zweite Teil der Psychoanalyse zu, die das Unbewusste in Dysfunktionen der Rationalität am Werke sieht. Ich verfolge also zunächst die Psychoanalyse in ihrer herkömmlichen Bedeutung, und zwar mit dem Ziel, zu einer (durch einen Exkurs zu Freud gestützten) psychoanalytisch ausgerichteten Auffassung des Leidens zu gelangen. Dabei möchte ich an der Seite Freuds auf eine Unstimmigkeit hinweisen: Zwar ist weitgehend unumstritten, dass Adorno die Psychoanalyse als eine diagnostische Methode einsetzt, um die Psychologie der Massen zu entschlüsseln, jedoch scheint seine sachliche Kenntnis der unbewussten Mechanismen, die in seinen empirischen Forschungsprojekten offenkundig wird, im Blick auf das Thema „Leiden“ kaum brauchbar zu sein. Der Exkurs soll daher dazu dienen, die für Adorno relevanten psychoanalytischen Elemente anhand von Freuds Schriften darzustellen, sodass Adornos eigene Auffassung durch die Gemeinsamkeiten und Differenzen zu Freud und zur herkömmlichen Psychoanalyse für die spätere Diskussion sichtbar wird. Nach der Darstellung der beiden Ansätze – nachdem also ein jeweils denkpsychologisch und psychoanalytisch begründetes Konzept des Unbewussten umrissen wurden – führe ich die verbreitete naturalistische Interpretation von Adornos Leidensbegriff ein.Vor dieser Kontrastfolie lässt sich die folgende, in den späteren Kapiteln weiter fundierte These formulieren: Die Bedeutung des Unbewussten greift weit über Adornos empirische Forschung und Sozialkritik hinaus und durchdringt sein Menschenbild als Ganzes. Diese Tatsache zu ignorieren führt dazu, dass das Leiden wie auch die menschliche Psyche fälschlicherweise naturalisiert werden.
Adorno KrV, S. 350.
1.1 Das Unbewusste im Denken
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1.1 Das Unbewusste im Denken Adornos Rezeption von Freuds Theorie beginnt früh. Früh sowohl im Sinne seiner persönlichen intellektuellen Entwicklung als auch im Sinne der Begegnung zweier Disziplinen. Seine anfängliche Auseinandersetzung mit der analytischen Theorie geht zurück auf das Jahr 1927– Adorno war damals vierundzwanzig – und mündet in seinem ersten Habilitationsversuch über den Begriff des Unbewussten. In den 1920er Jahren war die Psychoanalyse selbst innerhalb der Psychologie und der Akademie nur eingeschränkt anerkannt.³ Adornos Versuch, Freuds Theorie erkenntnistheoretisch als eine Wissenschaft zu begründen, gehört somit zu den ersten derartigen Arbeiten innerhalb der Philosophie überhaupt.⁴ Allerdings
Den frühen Weg zur Institutionalisierung der Psychoanalyse stellt Nitzschke wie folgt dar: „[D] ie Psychoanalyse als ,Wissenschaft‘ [war] von einem großen Teil der deutschen akademischen Psychologen in der Zeit vor 1933 bekämpft worden. […] Die Psychoanalyse war bis 1910 Privatangelegenheit eines kleinen Kreises […]. Zwischen 1910 und 1920 erweiterte sich der Kreis zwar, […] doch zugleich war dieses Jahrzehnt gekennzeichnet durch heftige innere Auseinandersetzungen, die zur Abspaltung […] führten. […] Die 20er Jahre bringen dann eine Institutionalisierung der Ausbildung (einschließlich der obligatorischen Lehranalyse) mit sich. Und bereits im nächsten Jahrzehnt, in den 30er Jahren, wird die Psychoanalyse unter Hitler wieder liquidiert.“ (Nitzschke 1989, S. 13) Zu der Frage, zu welchem Zeitpunkt und wie genau Adorno auf die Freud‘sche Psychoanalyse aufmerksam wurde, finden sich in der mir bekannten biographischen Literatur keine eindeutigen Angaben (vgl. Adorno/Horkheimer BWH1; Adorno/Benjamin BWB; Wiggershaus 1988 und MüllerDoohm 2003). Noch Buck-Morss vermutet, dass er durch Anregung Gretels, also ohne weitere akademische Kontakte, auf die Psychoanalyse gestoßen sei (Buck-Morss 1979, S. 18, S. 205). Dies passt allerdings nicht zu der damaligen Atmosphäre in Frankfurt. Neuere Untersuchungen weisen eher darauf hin, dass die Psychoanalyse zwar noch umstritten war und zu einem Minderheitenthema an der Universität gehörte, jedoch keineswegs unbekannt und ganz ohne Anerkennung in Frankfurt sowie in Adornos Umkreis war. Nicht zu vergessen ist, dass Adorno zwischen 1921 und 1924 neben Philosophie auch Psychologie studierte. Auch wenn sein Studium nicht der Psychoanalyse galt, sind ein Interesse und das Verfolgen neuerer Entwicklungen in der Psychologie als plausibel anzunehmen. Zwischen 1915 und 1922 war der Philosoph und Mediziner Otto Schultze an der Philosophischen Fakultät in Frankfurt tätig, zwischen 1923 und 1936 der Therapeut Ernst von Düring. Nach Helmut Siefert boten beide Dozenten auch Psychotherapie und Psychoanalyse an. So hielt Ernst von Düring bereits in den Sommersemestern 1926 und 1927 Vorlesungen zum Thema „Psychoanalyse in der Erziehung Anormaler“ (Siefert 1996, S. 189). Darüber hinaus war Horkheimer bereits in den frühen 1920er Jahren durch Kurt Goldstein, den Leiter des Neurologischen Instituts, auf Freud aufmerksam gemacht worden. Dessen Vorgänger Ludwig Edinger war einer derjenigen Ärzte, welche „die psychoanalytische Entwicklung Freuds aufmerksam verfolgten“ (Kreft 1996, S. 199, S. 209). Edinger war außerdem seit spätestens 1910 persönlich bekannt mit Adornos Betreuer Hans Cornelius (Kreft 1996, S. 198). Eine weitere Vermutung ist, dass Adorno möglicherweise die Arbeiten von Max Scheler kannte (1874– 1928), den er später als Betreuer der zweiten Habilitation in Erwägung zog (siehe Müller-Doohm 2003,
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findet diese frühe Arbeit in der Rezeption wenige Beachtung. Einer der Hauptgründe dafür liegt wohl darin, dass sie als eine Schülerarbeit eingestuft wurde.⁵ Biographisch ist bekannt, dass der Betreuer Hans Cornelius diese Habilitationsschrift ablehnte, und zwar mit der Begründung, die ersten zwei Teile würden ausschließlich seine Lehre wiedergeben.⁶ Interessant und auch fragwürdig bleibt freilich, weshalb sich Cornelius über den letzten Teil, der sich der Psychoanalyse widmet, ausschweigt.⁷ Denn Adorno bezieht sich in seiner Arbeit tatsächlich stets auf Cornelius – gerade im letzten Abschnitt jedoch lassen sich Abgrenzungen seitens Adornos erkennen und damit auch die eigene Initiative. Als ein aufschlussreicher Punkt kann gelten, dass Cornelius einen konsequenten Vorbehalt gegenüber dem von Adorno zentral behandelten „Begriff des Unbewussten“ hegt und stattdessen den adjektivischen Ausdruck „unbemerkt“ bevorzugt, mit der Überzeugung, er meine lediglich das, was unserer mangelnden Aufmerksamkeit entgeht.⁸ Cornelius lehnt es also in seinen beiden Hauptwerken mit klaren Worten
S. 166). Nach Scheidt war Scheler „wohl der Philosoph, der sich vor 1940 am intensivsten mit der Psychoanalyse auseinandersetzte“; schon seit 1911 soll er über Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung im Zusammenhang der Psychoanalyse diskutiert haben. Nach Scheidt sieht Scheler Freuds Verdienst vor allem „in der Entdeckung der frühkindlichen Sexualität und der Bedeutung der Fixierung für die Genesis der Neurose“ (Scheidt 1986, S. 108 f.). Schelers Interesse gilt offenbar mehr der praktischen Bedeutung der Psychoanalyse, aber er schätzt Freud ebenfalls für seine Untersuchung der „psychischen Kausalität“ (Scheidt 1986, S. 111), die auch Adorno in seiner Arbeit betont. Zusammen betrachtet ist es daher möglich, dass Adornos Freud-Interpretation in seiner Arbeit von 1927 durch wenige direkte Hinweise motiviert wurde; von einer Erarbeitung ganz ohne Einfluss der Frankfurter Umgebung kann jedoch nicht die Rede sein. Vgl. Tiedemann 1997, S. 382: „Der Begriff des Unbewußten und die frühe Husserlarbeit sind Schulphilosophie: Arbeiten eines Schülers von Hans Cornelius, von dem heute kaum mehr bekannt ist.“ Wiggershaus 1988, S. 99. Müller-Doohm stellt ebenfalls diese Frage, vgl. Müller-Doohm 2003, S. 161. Schon in einem noch früheren Werk – der Psychologie als Erfahrungswissenschaft (1897) – erläutert Cornelius dezidiert seine Wortwahl: „Die in den folgenden Ausführungen als unbemerkt bezeichneten Inhalte werden von Manchen unbewusste Inhalte genannt; insbesondere dürfte sich der Begriff des Unbewussten in dem Sinne, in welchem Lipps sich dieses Ausdrucks bedient, mit dem der ,unbemerkten‘ Teilinhalte decken.“ (Cornelius 1897, S. 434; vgl. auch S. 35 f.) In der von Adorno in seiner ganzen Arbeit als Hauptreferenz verwendeten Einleitung in die Philosophie hält Cornelius weiter an seinem Vorbehalt gegenüber dem Ausdruck des „Unbewussten“ fest; in diesem Werk findet sich auch kein expliziter Bezug auf die Psychoanalyse und auf die von Freud herausgearbeiteten unbewussten Mechanismen. Cornelius spricht zwar gelegentlich vom „Unbewussten“, allerdings stets im Sinne des Phänomenologen Theodor Lipps, der betont, dass darunter nichts anderes als „unbemerkt“ zu verstehen sei: „Wer mit unbewußten psychischen Tatsachen mehr meint, als jene empirisch bekannten gesetzmäßigen Zusammenhänge unserer
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ab, das Unbewusste als eine eigene komplexe Sphäre anzuerkennen. Wie im Folgenden noch diskutiert wird, hat Adorno zwar damals ebenfalls Schwierigkeiten damit, sich den unbewussten Trieb als dauerhaft existierend vorzustellen; jedoch hält er unbewusste Phänomene wie Fehlleistungen, Träume oder Neurosen nicht nur für inhaltsreich, sondern erkennt bereits an, dass Freuds systematische Untersuchungen zu unbewussten psychischen Mechanismen einen erkenntnistheoretischen Fortschritt markieren, und will sie insgesamt als eine neue Wissenschaft etablieren. Schon in diesem Sinne ist es unberechtigt, Adornos Arbeit ausschließlich auf eine schlichte Wiederholung von Cornelius’ Lehre herunterzukürzen. Die biographische Deutung ist allerdings nicht der einzige Grund dafür, dass diese frühe Schrift wenig beachtet wird. Seit den 1970er Jahren intensiviert sich die Kritik an Adorno wegen des vermeintlichen Fehlens eines intersubjektivistischen Ansatzes.⁹ Zwar gilt es als ein Schwerpunkt seiner reifen Philosophie, den subjekt-zentrierten Idealismus zu überwinden – aufgrund der thematischen Nähe sowie seiner dialektischen Denkweise wird Adorno jedoch immer stärker in die Nachbarschaft der Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie gedrängt. Die Schrift von 1927, die tatsächlich aus dem Dunstkreis der Bewusstseinsphilosophie stammt, scheint diese Kritik nur zu bestärken. Sie als eine solche einzustufen, geschieht aber gleichermaßen zu Recht wie zu Unrecht. Zu Recht, da Adorno das „Ich“ weiterhin als Garanten der Gewissheit der Erkenntnis¹⁰ begreift, was der cartesischen Tradition nahesteht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Adorno darüber hinaus offenbar noch kein Gespür für die Bedeutung der interpersonalen Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt für seine erkenntnispsychologische Bestimmung der Vernunft. Dies sind Aspekte, die sich nach dem heutigen Wissensstand (und selbst nach dem Maßstab von Adornos eigener sozialkritischer Erkenntnistheorie) klar als Manko erweisen. Gelingt es einem jedoch, die Schrift nicht ausschließlich und voreilig in diesem Rahmen festzuzurren, können auch andere Bedeutungen ans Licht treten. Im Folgenden sollen zwei Aspekte der Bewußtseinsinhalte, verläßt den Boden der Erfahrungswissenschaft und begibt sich in das Gebiet der dogmatischen Metaphysik.“ (Cornelius 1921, S. 315) Zu den bei Adorno vorhandenen intersubjektiven Ansätzen siehe Kapitel 5. Zu der einflussreichen Kritik an Adornos Philosophie als einer „Bewusstseinsphilosophie“ vgl. Habermas 1981, S. 489 – 534. Habermas‘ Kritik bezieht sich nicht auf die frühen Schriften, sondern eher auf reife Werke wie die Dialektik der Aufklärung und die Negative Dialektik. Sie bildet aber einen Rahmen, in den sich auch die frühen Schriften besonders leicht einspannen lassen und somit die Kritik untermauern. Hilfreich für einen Nachvollzug von Habermas’ Kritik an der „Bewusstseinsphilosophie“ vor dem breiten und reichen Kontext seiner eigenen Philosophie ist Daniel C. Henrichs Untersuchung; siehe Henrich 2007, besonders S. 44– 50. Vgl. Hammer 2005, S. 145 – 149.
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Schrift von 1927 hervorgehoben werden, die zu einer neuen Interpretation von Adornos Philosophie sowie der Rolle der Psychoanalyse beitragen können.
1.1.1 Erkenntnispsychologische Orientierung Wer diese frühe Arbeit zum ersten Mal liest, wird verblüfft zur Kenntnis nehmen, wie stark Adorno damals unter dem Einfluss der positivistischen Denkweise stand.¹¹ Eines seiner zentralen Motive ist es, die neu entstandene Psychoanalyse unabhängig von ihrem therapeutischen Kern als eine Erkenntnismethode aufzugreifen,¹² die ein objektives Wissen über die unbewusste Psyche bereitzustellen vermag. Alle theoretischen Ausrichtungen, die „das Unbewusste“ für wesentlich unerkennbar erklären, kritisiert Adorno dagegen als „irrational“, „mythisch“, „dogmatisch-metaphysisch“ und „naturalistisch“.¹³ Sein Ziel besteht nämlich darin, die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse nachzuweisen.Was er zu dieser Zeit unter Wissenschaftlichkeit versteht, steht der Kantischen Vorstellung von Naturwissenschaft nahe. Die beiden Schlüsselwörter, die das Zentrum der Arbeit bilden und sich unermüdlich wiederholen, sind „Gesetzmäßigkeit“ und „Einheitlichkeit“; in sein späteres Vokabular übersetzt, können sie sinngemäß auch als „das Identische“ und das „Ganze“ verstanden werden. Der junge Adorno geht davon aus, dass alle empirischen Phänomene Regeln und Gesetzmäßigkeiten folgen und dass keine Erscheinung zufällig ist. Die empirische Wissenschaft – die allein den Namen der Wissenschaft verdient – soll die gesetzmäßigen Zusam-
In Adornos Selbstdarstellung orientiert er sich damals an Ernst Mach (1838 – 1916) und Richard Avenarius (1843 – 1896) (Adorno GS 1, S. 381). Beide gelten als Vorreiter des modernen Positivismus. Manfred Sommer charakterisiert sie wie folgt: „Im deutschen Sprachraum haben vor allem zwei Zeitgenossen Husserls, Richard Avenarius und Ernst Mach, das Verlangen nach Reinheit, Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit des Erkennens zum tiefsten Motiv ihres Philosophierens gemacht.“ (Sommer 1985, S. 9) Es gibt bisher kaum Literatur, die diese frühe Schrift behandelt. Eine hilfreiche Zusammenfassung gibt Scheidt 1986, S. 86 – 93. Deren Gefahr sieht er darin, dass die Anerkenntnis des Unbewussten als einer außerhalb des empirisch Zugänglichen existierenden Kraft die Gültigkeit der Willensfreiheit beeinträchtigen würde. Allerdings kann Adorno die Willensfreiheit in dieser Schrift (wie Kant auch) nur postulieren. Die Willenshandlung gilt schlicht als ein nicht hinterfragbarer „Tatbestand“ (Adorno GS 1, S. 257).
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menhänge zwischen den Erscheinungen darlegen können. Dies habe auch für die Untersuchungen psychischer Erscheinungen zu gelten.¹⁴ Freuds Studien zum Unbewussten zeichnen sich für Adorno deshalb als neue Wissenschaft aus, weil sie zahlreiche, bislang als sinnlos betrachtete Phänomene auf eine systematische Weise erklären können. Adorno erblickt in dem Grundprinzip der Psychoanalyse, dass alles Psychische einen „Sinn“ habe, den Beweis dafür, dass Freuds Theorie eine universal anwendbare Methode anbiete, das Unbewusste zu entschlüsseln: Mit der Psychoanalyse, so Adorno, „ist anstelle der Metaphysik des Unbewussten […] ein erkenntniskritisch geklärter und empirisch gültiger Begriff des Unbewussten getreten“¹⁵. Adornos Hauptanliegen ist es nun, das „Unbewusste“ von allen damals bestehenden esoterischen und metaphysischen Vorstellungen zu lösen, ja es zu „entzaubern“¹⁶, das heißt, das Unbewusste als einen Gegenstand der empirischen Forschung aufzuschließen.¹⁷ Diese im Grunde rationalen und aufklärerischen Motive verfehlen aber das genannte psychoanalytische Prinzip insofern, als Adorno den „Sinn“ auf eine sehr eingeschränkte Weise definiert. Nach seiner damaligen Sicht hat etwas einen „Sinn“ nicht dann, wenn es für die menschliche Lebenswelt von Belang ist, sondern nur, wenn es auf eine gesetzmäßige Weise auftritt und einem größeren Zusammenhang angehört.¹⁸
„Nicht anders verhält es sich mit der Psychoanalyse.Wie die Physik uns eine Wissenschaft von der Körperwelt heißt, so dürfen wir sie eine Wissenschaft von den unbewußten Tatbeständen des Seelenlebens nennen.“ (Adorno GS 1, S. 280) Adorno GS 1, S. 220. Adorno GS 1, S. 320. Ein weiteres Ziel von Adorno ist es, mit der Psychoanalyse Kants Paralogismen zu widersprechen. Dies führt er vor allem im zweiten Kapitel seiner Habilitationsschrift vor. Nach Gerhard Schönrichs Darstellung kritisiert Kant in den „Paralogismen“ die auf Christian Wolff zurückgehende „rationale Psychologie“ als einen Fehlschluss in dem Sinne, dass sie das „Ich denke“ selbst zu einem Gegenstand mache, wodurch es als ein eigentlich außerempirisches, apriorisch fungierendes Ordnungsprinzip illegitimerweise selbst zum „Ding“ werde. Ein solches Verfahren ist deshalb illegitim, weil das „Ich denke“ Kant zufolge keine entsprechende „Anschauung“ bieten kann (Schönrich 1991, besonders S. 131– 133). „Unsere Betrachtung der empirischen Wissenschaft vom Unbewußten wird da einsetzen, wo empirische Forschung sich zentral des Begriffs des Unbewußten bedient: bei der Psychoanalyse. Da wir zur Einsicht gelangen, daß Psychoanalyse es mit nichts anderem zu tun hat als mit der Erkenntnis der unbewußten Tatbestände, so dürfen wir das Endproblem, bei dem unsere Untersuchung anlangt, formulieren auch mit dem Satz: wie ist Psychoanalyse als Wissenschaft möglich?“ (Adorno GS 1, S. 104) „Der ,Sinn‘ der Phänomene aber ist allemal nichts anderes als die Stellung der einzelnen Phänomene in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang […].“ (Adorno GS 1, S. 293) „[D]ass alle unsere Erlebnisse einen Sinn haben, heißt, in der Sprache der Transzendentalphilosophie ausgedrückt, in Strenge nichts anders, als daß alle unsere Erlebnisse dem gesetzmäßig einheitlichen
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Dass Adorno mit einer derart statischen Vorstellung vom menschlichen Geist Freud interpretieren kann, ist nur möglich, weil er sich (wie viele seiner Zeitgenossen) Freuds Trieblehre nicht wirklich aneignen konnte. In deutlichem Kontrast zu der späteren Überzeugung, dass das Unbewusste eine pathologische Kraft besitzen kann, die er im wahnhaften Antisemitismus und Fremdenhass beobachten konnte, kennt Adorno hier offenbar keine triebhafte Irrationalität. Statt das Unbewusste als eine Sphäre anzuerkennen, die durch das Bewusstsein nicht erschöpft werden kann und über den Willen hinausreicht, begreift er es demnach irrtümlicherweise als einen Teil des Bewusstseins: „Wir nennen unbewusst nicht die konstitutiven Faktoren des Bewusstseins, sondern die von ihnen konstituierten psychischen Dingbegriffe.“¹⁹ Die Grundannahme Freuds, dass unser Denken und Handeln stets unter der Wirkung unbewusster Triebregungen stehe, dass wir nicht „Herr im eigenen Hause“ sind, ist zu dieser Zeit für Adorno nur schwer vorstellbar. Das obige Zitat gibt allerdings einen Hinweis darauf, auf welche Weise Adorno – trotz dieses zentralen Missverständnisses – das Phänomen des Unbewussten interpretiert. Seine Strategie besteht zunächst darin, den von Freud als schwer bestimmbar bezeichneten Trieb gegen einen „Dingbegriff“ einzutauschen. Dieser Ausdruck wirkt zunächst irreführend bzw. kontraintuitiv, denn Adorno will ja gerade bestreiten, dass es sich bei dem Unbewussten um eine dauerhafte Entität handle, dass es also eine ontologische Bedeutung habe.²⁰ Das ist es aber gerade, was der Begriff des „Dinges“ suggeriert. Daher muss Adorno auch ausdrücklich hinzufügen, dass Triebe „keineswegs Absoluta, letzte Ursprünge, keineswegs auch unveränderlich“²¹ seien, und dass „die unbewussten ,Seelendinge‘ nicht etwa nach dem Muster naturalistischer Dingbegriffe als Konstanten“²² zu verstehen seien. Trotz dieser Ambivalenz ist seine erkenntnistheoretische Umdeutung des Unbewussten zum „Ding“ nicht uninteressant und auch psychoanalytisch nachvollziehbar. Was er unter „dem Unbewussten“ bzw. unter „unbewussten Dingen“ versteht, ist nämlich die sich verfestigende Art und Weise, in der wir unwissend aktuelle Erlebnisse mit vergangenen verknüpfen.²³ Gemeinsam mit
Zusammenhang unseres Bewußtseins zugehören und als jener Einheit zugehörig selbst gesetzmäßig sind.“ (Adorno GS 1, S. 271) Adorno GS 1, S. 220. Daher verzichtet Adorno auch auf Freuds Annahmen einer „Energie“ und Triebökonomie (vgl. Adorno GS 1, S. 266). Adorno GS 1, S. 240 f. Adorno GS 1, S. 243. „[D]as Unbewußte an sich ist nichts anders als die Gesetzmäßigkeit psychischer Zusammenhänge unabhängig von unserer Wahrnehmung, und diese Gesetzmäßigkeit ist die Begründung unserer Erkenntnis des Psychischen zugleich.“ (Adorno GS 1, S. 255, Herv. M.-C. L.).
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den Theorien von Cornelius und Freud weist Adorno so auf die Tatsache hin,²⁴ dass unsere Erlebnisse des Jetzt stets von der Vergangenheit mitgestaltet werden – wie allerdings diese Verbindungen geschehen, wissen wir nicht genau. Seine Interpretation des Unbewussten als „Ding“ enthält jedoch neben dieser Fehldeutung Aspekte, die für ein Verständnis seiner späteren Philosophie von Bedeutung sind. Zunächst zeigt sie auf, dass der von Lukács tradierte sozialkritische Begriff der „Verdinglichung“ bei Adorno von Anfang an eine kognitivpsychologische Bedeutungsschicht impliziert. „Verdinglichung“ heißt in diesem wertneutralen Kontext „Verdinglichung der psychischen Zusammenhänge“²⁵ und umfasst sowohl die vergangenen, uns nicht zugänglichen inneren Veränderungsprozesse als auch die in solchen Prozessen entstandenen Gebilde wie beispielsweise Symbole und Begriffe.²⁶ Adornos erkenntnispsychologische Bestimmung der „Verdinglichung“ erinnert uns daran, dass Adorno zu dieser Zeit ohne diagnostische oder kritische Intention betrachtet, wie solche Zusammenhänge im Verborgenen hergestellt werden; so werden sie z. B. noch nicht als ideologisches Vorurteil oder begriffliche Reduzierung des Erkenntnisobjekts herabgesetzt.²⁷ Auch Phänomene wie psychische Fehlleistungen, Träume oder gar pathologische Neurosen begreift Adorno nicht deutlich gesondert von den normalen seelischen Vorgängen; bei ihnen scheinen die normalen inneren Zusammenhänge lediglich abgeschwächt oder gestört zu sein. Mit dem späteren Adorno könnte man den Vorwurf formulieren, einem solchen Verdinglichungsbegriff mangele es an kritischer oder dialektischer Tiefe. Allerdings kommt gerade in diesem mit jugendlicher Unbefangenheit ausgedrückten Interesse an einer Erkenntnispsychologie ein Aspekt seines Denkens zum Vorschein, den er später nicht mehr in dieser Weise unumwunden äußern wird. Adornos späteren gesellschaftskritischen Betrachtungen wohnt nämlich bereits unausgesprochen ein anthropologischer Bezug inne oder, anders gesagt, implizieren sie eine erkenntnispsychologische Voraussetzung, die der frühe Adorno offen ausspricht, nämlich dass die Psychoanalyse keineswegs auf Pathologie und Therapie beschränkt bleibt, sondern allein durch ihre Erkenntnisziele ihre ausreichende Begründung findet.²⁸
Adorno GS 1, S. 271. Adorno GS 1, S. 228. Vgl. Adorno GS 1, S. 204. Dass Adornos spätere Verwendung des Verdinglichungsbegriffs eine psychoanalytische Komponente hat, vermerkt auch Axel Honneth am Rande seiner anerkennungstheoretischen Fundierung dieses kritischen Begriffs; vgl. Honneth 2005c. Honneths Ansatz zur Interpretation Adornos werde ich im fünften Kapitel weiter diskutieren. Adorno GS 1, S. 235.
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Danach soll die Psychoanalyse nicht nur anormale Krankheitserscheinungen, sondern vielmehr die für alle Menschen gültigen Bedingungen der Rationalität erklären können. Dieser Anspruch hat m. E. eine elementare Bedeutung für Adornos gesamte Philosophie. Adorno will nämlich von Anfang an das Unbewusste in die bestehenden Kenntnisse über den menschlichen Geist einbringen, und das heißt für ihn schon damals: Er möchte ein neues Forschungsgebiet erschließen, in dem Psychoanalyse und Erkenntnistheorie zusammenarbeiten.
1.1.2 Neurosen als Denkvorgang Der zentrale Anspruch des frühen Werkes, die Psychoanalyse nicht nur für die Diagnose individueller psychischer Störungen einzusetzen, sondern auch in die Klärung der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit des Denkens einzubeziehen, deutet darauf hin, dass Adorno das Negative im Zusammenhang des Normalen zu betrachten weiß. Mit seinem Interesse, das Unbewusste auf eine positive Weise als ein allgemeines konstitutives Element des Erkenntnisprozesses darzustellen, begegnet Adorno auch psychischen Erkrankungen anders, als es die Psychoanalyse tut. Während im Fachbereich der Psychoanalyse psychische Störungen häufig durch Fallstudien dargestellt werden, nähert sich Adorno den für ihn damals schwer vorstellbaren Krankheitserscheinungen so an, dass er sie im allgemeinen Prozess des Denkens verortet. Im Zusammenhang dieser erkenntnispsychologischen Orientierung entstehen höchst innovative Ansätze und Ideen. So versucht Adorno beispielsweise, die „Schizophrenie“ durch den Kantischen Begriff der „numerischen Identität“ aufzuschlüsseln und bezweifelt somit, dass schizophrene Persönlichkeiten keine einheitliche Identität hätten.²⁹ Des Weiteren stellt er sich die Frage, ob sämtliche Überlegungen zur Schizophrenie nicht letztlich an der „Unmöglichkeit“ scheiterten, „sich die unmittelbaren Gegebenheiten eines fremden Bewußtseins jemals evident zu machen“³⁰ – eine Frage, die heute zum Problem of other mind gehört. Eingebungen wie diese zeigen ein bewundernswertes Gespür für die neuen Herausforderungen, vor welche die Psychoanalyse die Philosophie stellt: Sie bezeugen, wie ein deutscher Philosoph am Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Vorstellungen von einer komplexen unbewussten Innenwelt sowie der systematischen Erklärbarkeit psychischer Störungen noch weitgehend Neuland sind, es unternimmt, mit den damals vorhandenen
Adorno GS 1, S. 170. Adorno GS 1, S. 170, Herv. von Adorno. Zur Diskussion unterschiedlicher philosophischer Interpretationen von Schizophrenie und zum Verlust des Selbst vgl. Sass 1987.
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theoretischen Mitteln das „Unbewusste“ in die Philosophie zu integrieren und psychische Störungen als Denkstörungen, als Beeinträchtigungen der rationalen Fähigkeit zu artikulieren. Adorno bezeichnet seine „erkenntnistheoretische Interpretation der Psychoanalyse“³¹ selbst als eine Arbeit des „Übersetzens“³².Die Psychoanalyse und die Epistemologie – Freud und Kant in dieser Schrift – sollen durch Vermittlungsarbeit jeweils die Sprache der anderen verstehen lernen und einen gemeinsamen Diskurs entfachen. Dieses ehrgeizige Ziel, zwei Denkweisen bzw. zwei Weltbilder (von denen eines zudem als Außenseiter der Akademie gilt) einander zu öffnen und in seine Philosophie zu integrieren, fordert dazu auf, auch Adornos weitere Entwicklung aus diesem Blickwinkel zu betrachten. In einer knappen, wenngleich solitären Bemerkung zu seiner frühen Arbeit deutet Adorno selbst auf eine solche Kontinuität hin. In seiner „Editorischen Nachbemerkung“ notiert Rolf Tiedemann, Adorno habe bezüglich Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre noch kurz vor seinem Tod schriftlich geäußert, „,der Hauptfehler‘ des Manuskripts sei“, daß es Freud einseitig auf die Erkenntnistheorie etwa der Schule von Mach und Avenarius bezieht und das von Anbeginn in Freud vorhandene materialistische Moment, das bei ihm durch den fundamentalen Begriff der Organlust bezeichnet wird, vernachlässigt.³³
Sein Interesse an Erkenntnistheorie war „einseitig“ – das heißt ungenügend –, aber falsch war es nicht. Der „Hauptfehler“ lag vielmehr in der Vermittlung, also in der „Übersetzung“ dessen, was als die wichtigste Botschaft des einen dem anderen übermittelt werden sollte. Dies betrifft vor allem die Seite der Psychoanalyse, also die damals für ihn noch als „Fremdsprache“ geltende Theorie Freuds und deren Begriff der „Organlust“.³⁴ In der Schrift von 1927 erkennt Adorno im Unbewussten des Menschen nämlich ausschließlich kognitive Elemente, während er die wesentliche Bedeutung der Sexualität, der Gefühlsbindung und Emotionalität wie auch unsere physische Bedürftigkeit, die nach Freud die Rationalität überwiegt und formt, nicht ausreichend ernst nimmt oder gar übersieht. ³⁵ Adorno zielt zwar bereits in seinem frühen Werk darauf ab, das Unbe Adorno GS 1, S. 237. Adorno GS 1, S. 268. Adorno GS 1, S. 381 f. Zu Freuds Bestimmung der Organlust siehe den folgenden Exkurs. Was zwischenmenschlich in der Übertragung geschieht, ist für Adorno daher nicht mehr als ein Arbeitsinstrument des Arztes: „Soweit die Psychoanalyse andere Mittel verwendet als die der Erkenntnis, etwa die ,Übertragung‘, die affektive Bindung des Patienten an den Arzt, verwendet sie sie allein als Hilfsmittel und löst diese Mittel mit der fortschreitenden Erkenntnis selbst auf.
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wusste in das Denken, vor allem in den von Kant dargestellten Erkenntnisprozess zu integrieren, aber seine Vorstellung von „Psychologie“ orientiert sich allzu zu sehr an der Naturwissenschaft. Er sucht ausschließlich nach den kausal zu fassenden „Regeln“ und „Gesetzen“ der innerweltlichen Veränderung. Das Übersehen des lusthaften Wesens unseres Geistes führt demnach dazu, dass die Prozesse des Denkens, Urteilens oder Erinnerns weiterhin als eine von Trieben und Affekten sauber getrennte ,reine‘ Vernunft betrachtet werden. Die Ordnung suchende Kantische Erkenntnistheorie kennt keinen Wahnsinn, keine Liebe und kein Leiden. Und eben darin liegt der Fehler. In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, dass und wie Adorno diesen – nicht allein auf ihn, sondern auf den herrschenden Zeitgeist insgesamt zurückzuführenden – Hauptfehler gründlich korrigiert.³⁶ Man könnte nun die frühe Arbeit aufgrund ihrer Nähe zur Bewusstseinsphilosophie und physikalistischen Einstellung als gänzlich unzureichend zurückweisen. ³⁷ Adornos Bemerkung macht aber deutlich, dass er selber das Werk keineswegs so betrachtet, als sei es mit seinem späteren Denken grundsätzlich unvereinbar. Seine Philosophie als einen „Weg zwischen den Extremen“ ³⁸ zu bezeichnen, führt daher dazu, Adornos Denken nicht mehr als einen Werdegang […] Die Therapie will nichts anders sein als Erkenntnis.“ (Adorno GS 1, S. 236) Die unbewusste Übertragung und die affektive Bindung werden später zentral für Adornos Denkpsychologie. Zur der weiteren Diskussion dieses Sachverhaltes siehe Kapitel 4 und 5. Zu erinnern ist auch daran, dass Freud die Organlust bekanntlich in unterschiedlichen Phasen der psychischen Reifung verankert. Adornos Selbstkritik ließe sich dann auch so begreifen, dass er damals die Problematik der ontogenetischen Entwicklung außer Acht ließ. Er vermochte es nicht (oder interessierte sich noch nicht dafür), die Rolle des Unbewussten im unverwechselbaren Vorgang der Individualisierung zu betrachten. Vgl. meine diesbezügliche Diskussion in den Kapiteln 2 und 5. Sommer verweist in diesem Zusammenhang auf die durch Cornelius vermittelten Einflüsse auf Adorno und geht daher davon aus, dass „[d]ie Geschichte der Geburt der ,Kritischen Theorie‘ aus dem Geiste des Positivismus […] freilich nicht geschrieben werden [kann].“ (Sommer 1985, S. 37, Fußnote 47) Tiedemann 1997, S. 382. Tiedemanns Bezeichnung sowie seine Kritik an Adornos eigener Bemerkung zu dem frühen Werk verhilft zudem dazu, scheinwerferartig auf die Unstimmigkeit hinzuweisen, die zwischen Adornos eigener Auffassung und der gängigen Interpretation herrscht. Nach Tiedemann stellen sich Adornos frühe Arbeiten „vorbehaltlos auf den Standpunkt der Cornelius’schen Version des transzendentalen Idealismus“, den Adorno mit den letzten Seiten, auf denen er die sozialkritische Bedeutung nachträgt, „sehr schnell verlassen“ und „aufgegeben“ habe. Tiedemann behauptet, es sei „charakteristisch“, „daß Adorno das Unterschlagen des Freud‘schen Materialismus zu kritisieren findet, die idealistische Position jedoch, wie er selbst sie in der Arbeit verficht, nicht einmal erwähnt“. Das Unverständnis hinsichtlich der Tatsache, dass Adorno selbst von keiner Diskontinuität spricht, zeigt gerade, dass es sich hier nicht um einen „Weg zwischen den Extremen“ handelt.
1.2 Das unbewusste Leiden: Ein Exkurs zu Freud
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wahrnehmen zu können. Das frühe Werk als Ausgangspunkt und Grundlage von Adornos Anthropologie zu nehmen, hat dagegen durchaus das Potenzial, eine neue Sichtweise zu eröffnen: Seine Neigung, alles, was wir erleben, im Prozess des Denkens zu verorten, erinnert uns daran, dass sich seine Philosophie inhaltlich bis zu dem komplexen und reichen wissenschaftlichen Hintergrund der Jahrhundertwende zurückverfolgen lässt. Es ist eine Zeit, in der die Kantische Epistemologie dominiert und die Psychologie sich noch nicht als eine eigenständige Disziplin etabliert hat und einen Weg zwischen Physiologie und Philosophie einzuschlagen sucht.³⁹ Bis kurz vor Adornos Studium war die institutionelle Trennung noch nicht eindeutig vollzogen, Labor-Experimente, Kantische Epistemologie und psychologische Hypothesen gehen durchaus üblich einverträglich miteinander einher.⁴⁰ In diesen Denkströmungen wurden Adornos Lehrer ausgebildet und sie prägen auch noch Adornos Rezeption der Psychoanalyse. Seine Arbeit von 1927 gehört daher in die Anfänge einer wenig beachteten, eher peripheren Forschungsrichtung: Sie changiert zwischen der Psychoanalyse, die praktisch-therapeutisch orientiert ist, und den heutigen Kognitionswissenschaften, die nach den allgemeinen Bedingungen und Strukturen des Denkens fragen, jedoch psychoanalytische Theorien des „Unbewussten“ nicht anerkennen.⁴¹ Die neue Zuordnung der frühen Habilitationsschrift Adornos bietet somit (wie in den Kapiteln 4 und 5 noch gezeigt werden wird) die Möglichkeit, seine Denkpsychologie an die heutige Wahrnehmungs- und Entwicklungspsychologie anzuschließen.
1.2 Das unbewusste Leiden: Ein Exkurs zu Freud Die Erfahrung des Krieges hat Adornos Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse zwar nicht unterbrochen, aber doch nachdrücklich beeinflusst: Er verfolgt es nicht mehr explizit, die Psychoanalyse als Ermöglichungsgrund einer unbeschädigten Rationalität zu entfalten. Stattdessen findet die Psychoanalyse ihre offizielle Verwendung in einer kritischen Sozialpsychologie. Das heißt, dass Adorno hinfort keine systematische Darstellung für seine gezielte Integration der beiden Disziplinen vornimmt, sondern dies eher auf eine stillschweigende Weise vollzieht. Um aber verstehen zu können, dass und wie er später Psychoanalyse Vgl. hierzu Dieter Münchs hilfreiche Rekonstruktion; Münch 1998. Diesen Punkt vertiefe ich im vierten Kapitel durch Adornos Auseinandersetzung mit Hermann von Helmholtz sowie dessen früher kognitiv-psychologischer Untersuchung der Kantischen Annahme in der ersten Kritik. Siehe Dornes 2005, S. 3.
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und Philosophie durchaus weiter vermittelt und dabei seine allzu „einseitige“ Interpretation korrigiert, benötigen wir hier einige Grundkenntnisse der Psychoanalyse als Referenzrahmen. Im Folgenden lege ich anhand von Freuds Theorieentwicklung jene Elemente der Psychoanalyse dar, die meines Erachtens für Adornos Konzept des Unbewussten bedeutsam sind.
1.2.1 Die Bestimmung des Triebes⁴² Wie in den weiteren Kapiteln noch zu zeigen sein wird, stellt die Triebtheorie nicht die einzige Quelle für Adornos Denkpsychologie dar; in Bezug auf den Begriff Trieb ist jedoch die wichtige Grundannahme festzuhalten, dass der „Trieb“ für Adorno wesentlich modifizierbar ist. Diese Bestimmung ist innerhalb der Rezeption von Freuds Theorie nicht selbstverständlich⁴³ und die Unklarheit darüber hat bisher das Verständnis von Adornos anthropologischem Ansatz stark beeinträchtigt: Da Freud angeblich eine Modifizierbarkeit des Triebes unausgesprochen lasse und sich Adornos psychoanalytische ,Basis‘ nicht von derjenigen Freuds unterscheide, kann diese zweifache Reduktion Adorno als „Naturalist“ erscheinen lassen.⁴⁴ Um gegen eine derartige Vereinfachung zu argumentieren, versuche ich bei der Darstellung von Freuds Theorie die Akzente so zu setzen, dass die für
Die theoretische Einschränkung der Triebtheorie diskutiere ich im fünften Kapitel durch einen Vergleich mit der Objektbeziehungstheorie. So ist es im Spektrum der Triebtheorie in erster Linie schwierig, die lebendige psychische Interaktion zwischen Menschen sowie deren entwicklungspsychologische Bedeutsamkeit zu artikulieren. Sie fokussiert vielmehr auf die intrapsychische Dynamik. Wie Jessica Benjamin schreibt, sollte die Beziehung zwischen beiden Ausrichtungen jedoch nicht so verstanden werden, als handle es sich um ein sich wechselseitig ausschließendes Entweder-Oder: „To recognize the intersubjective self is not to deny the importance of the intrapsychic.[…] [I]t is not to reverse Freud’s decision for the inner world by choosing the outside world. Without the intrapsychic concept of the unconscious, intersubjective theory becomes onedimensional, for it is only against the background of mind’s private space that the real other stands out in relief.“ „[I]t is, rather to grasp both realities.“ (Benjamin 1988, S. 20 f.) Freuds Theorie bewahrt nicht nur stets den Kern, die kaum verbalisierbare private Innenperspektive des Subjekts verständlich machen zu wollen. Seine Triebtheorie möchte vor allem die Realität der Neurosen begreifen. Ganz ohne einen Begriff des Triebes lassen sich schon die zwanghaften Äußerungsformen bestimmter neurotischer Leiden sowie die ihnen vorangehende unbewusste Verdrängung schwer erklären. Vgl. dazu den Abschnitt 1.2.4. So schreibt McIlwain in ihrer Analyse über die Verfallstendenz der Triebtheorie: „[W]hat many neglect about Freud is that he saw drives as malleable.“ (McIlwain 2010, S. 764) Zur näheren Diskussion des Naturalismus-Vorwurfes an Adorno vgl. dem Anfang des zweiten Kapitels.
1.2 Das unbewusste Leiden: Ein Exkurs zu Freud
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Adorno hochrelevante Erziehbarkeit der Psyche (die somit keineswegs „naturalistisch“ feststeht) möglichst prägnant hervortritt. Freuds „Triebtheorie“ ist in Wahrheit keine einheitliche Theorie. Von der anfänglichen Auffassung der sexuellen Triebe in Drei Abhandlungen zur Sexualität (1905), in der die Triebe ausschließlich an bestimmte körperliche Organe gebunden sind, bis hin zu der späteren, umstrittenen Hypothese vom Todestrieb, die den Vorwurf der „philosophischen Spekulation“ nach sich zog, umfasst die Bezeichnung „Triebtheorie“ ein großes Spektrum der Theorieentwicklung, das sich zeitlich über etwa dreißig Jahre erstreckt. Trotz Freuds ständiger Modifikation seiner Theorie liefert die im Jahr 1915 erschienene Abhandlung Triebe und Triebschicksale ⁴⁵ eine überzeugende allgemeine Darstellung der zentralen Eigenschaften von Trieben. Mit seiner Unterscheidung von „Quelle“, „Ziel“ und „Objekt“ des Triebes lässt sich bei Freud die bereits oben erwähnte Frage klären, was am Trieb modifizierbar ist und was nicht. Zur „Quelle“ des Triebes schreibt Freud: „Unter der Quelle des Triebes versteht man jenen somatischen Vorgang in einem Organ oder Körperteil, dessen Reiz im Seelenleben durch den Trieb repräsentiert ist.“⁴⁶ Diese Charakterisierung ist entscheidend. Denn als konstante Kraft und drängendes Bedürfnis ist der Trieb für den Menschen ein unerlässlicher Druck, der aus dem Inneren stammt. Man kann ihn nicht durch irgendeine äußere Fluchtaktion eliminieren. Dass die Triebe körperlich bedingt sind, heißt nicht, dass der Trieb ein biologischer Begriff ist. Wiederholt betont Freud, dass der Trieb ein „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem“⁴⁷ sei. „Trieb“ meint daher keine feste Entität; er fungiert vielmehr als eine Art Hilfsbegriff, der dazu dienen soll, die schwer anschauliche wechselseitige Beeinflussung zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen zu erfassen.⁴⁸ Dass Freuds Trieblehre dennoch oft starke biologische Assoziationen weckt, ist seiner Terminologie geschuldet. Als ausgebildeter Neurologe formuliert Freud seine eigenen Untersuchungen stets in naturwissenschaftlichen Kategorien, was Habermas treffend als „szientistisches Selbstmißverständnis“⁴⁹ bezeichnet hat. Allerdings finden sich in seinen Schriften auch mehrere Stellen, wo er selbst eine Unterscheidung zwischen der Psychoanalyse und der biologisch-physiologischen
Freud SA III, S. 75 – 102. Freud SA III, S. 86. Freud SA III, S. 85. Freud SA III, S. 87. Habermas 1973a, S. 300 ff.
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Untersuchung zum Ausdruck bringt.⁵⁰ Die Tatsache, dass nach dem damaligen wissenschaftlichen Stand keine näheren Kenntnisse über die somatischen Vorgänge bei der Entstehung eines Triebes vorlagen, betrachtet Freud nicht als entscheidend für seine Theorie. Überzeugt erklärt er, dass „[d]as Studium der Triebquellen der Psychologie nicht mehr an[gehöre]“ und „[d]ie genauere Erkenntnis der Triebquellen […] für die Zwecke der psychologischen Forschung nicht durchwegs erforderlich“⁵¹ sei. Den Körper als Ursprung des Triebes betrachtet Freud schließlich als ein Faktum; darüber, was an ihm genau physiologisch beschrieben werden kann, stellt er allerdings nur Vermutungen, jedoch keine tiefergehenden Untersuchungen an. Menschen haben wie andere Lebewesen auch bestimmte Grundbedürfnisse, die Freud als Selbsterhaltungstriebe bezeichnet. An diesen Trieben lassen sich nun die Begriffe „Triebobjekt“ und „Triebziel“ leichter erklären. Dazu gehören die Triebe zur Nahrungsaufnahme, Defäkation, Harndrang, Muskelaktivität usw.⁵² Dass diese Triebe befriedigt werden können, ist die Voraussetzung für das Fortbestehen des physischen Organismus, und das Versagen ihrer Befriedigung ruft organische Schäden hervor.Wie Freud definiert: „Das Ziel eines Triebes ist allemal die Befriedigung.“⁵³ Und: „Das Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann.“⁵⁴ In jedem Zustand des Bedürftigseins ist bereits ein Ziel impliziert, wie vage und unbestimmt es auch immer sein mag, nämlich das Ziel, befriedigt zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird ein Mittel benötigt, welches Freud „Objekt“ nennt. Für den Hunger ist das Nahrungsmittel das Triebobjekt. Durch es wird das Ziel, nicht hungrig zu sein, erreicht. In dieser Hinsicht scheinen sich Menschen auf den ersten Blick nicht von Tieren zu unterscheiden. Aber eine Passage bei Freud belegt, dass er selbst innerhalb des triebtheoretischen Spektrums, also selbst dort, wo die konstitutive Rolle der Bezugsperson nicht expliziert wird und die Diskussion in erster Linie um das Bedürfnis und seine Befriedigung kreist, versucht, die Grundunterschiede
Die folgenden Zeilen zeigen, dass Freud auch in seinem „Selbstmißverständnis“ das eigentümliche Verdienst der Psychoanalyse zur Kenntnis nehmen muss: „Mein Ziel war allerdings zu erkunden, wieviel zur Biologie des menschlichen Sexuallebens mit den Mitteln der psychologischen Erforschung zu erraten ist; ich durfte auf Anschlüsse und Übereinstimmungen hinweisen, die sich bei dieser Untersuchung ergaben, aber ich brauchte mich nicht beirren zu lassen, wenn die psychoanalytische Methode in manchen wichtigen Punkten zu Ansichten und Ergebnissen führte, die von den bloß biologisch gestützten erheblich abwichen.“ (Freud SA V, S. 44) Freud SA III, S. 86 f. Laplanche/Pontalis 1973, S. 464. Freud SA III, S. 86. Freud SA III, S. 86.
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zwischen Menschen und Tieren hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten zu artikulieren: Das hungrige Kind wird hilflos schreien oder zappeln. Die Situation bleibt aber unverändert […]. Eine Wendung kann erst eintreten, wenn auf irgendeinem Wege, beim Kinde durch fremde Hilfeleistung, die Erfahrung des Befriedigungserlebnisses gemacht wird, das den inneren Reiz aufhebt.[⁵⁵] Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen.⁵⁶
Selbst die primitivsten Grundbedürfnisse, bei denen die Art und Weise der Befriedigung biologisch präformiert ist und deren Objekte nicht beliebig ersetzbar sind, sind beim Menschen keineswegs ein rein natürlicher Reiz. Wie das Beispiel des Hungers zeigt, sind sie vielmehr von Beginn an mit einer psychischen Erfahrung verbunden, die durch akkumulierende Gedächtnisspuren gestaltet ist. Die Ernährung wird nämlich von jedem Säugling auf unterschiedliche Weise erinnert.Wie die Pflegeperson das Kleinkind füttert und welches Nahrungsmittel als Objekt gilt, bei dem der Säugling das Gefühl der Befriedigung erreicht, hängt von kontingenten Verhältnissen ab. Die unterschiedlichen Situationen werden beim Säugling als persönliche „Gedächtnisspur“ registriert und konkretisieren nach und nach sein Bedürfnis.⁵⁷ Daher können auch alle sogenannten natürlichen Bedürfnisse des Menschen nie rein biologisch erfasst werden. Verglichen mit den meist einseitig rezipierten Selbsterhaltungstrieben ist eine andere Triebart umstrittener: der Sexualtrieb. Seine Entdeckung gilt als wichtigste In dem primären Gefühl der „Hilflosigkeit“ sieht Axel Honneth unsere natürliche Abhängigkeit von der Bezugsperson enthalten. Denn es drückt unsere tiefe Angst aus, von ihr verlassen zu werden. Dieser Begriff liefert den Schlüssel dafür, den bei Freud bereits vorhandenen intersubjektivistischen Ansatz weiter zu entwickeln (Honneth 2007, S. 168 ff.). Freud SA II, S. 539. Siegfried Zepf liefert eine plausible Analyse dieser Stelle. Im Zusammenhang des Themas Adipositas beruft er sich auf eine Untersuchung Hilde Bruchs, in der die Autorin bemerkt, „that hunger awareness is not innate biological wisdom but that learning is necessary for this biological need to become organized into recognizable patterns“ (Zepf 1994, S. 86, Fußnote 6). Dies zeigt erneut, dass das biologische Bedürfnis sozial erlernt ist. Dass Freud hier den Ausdruck „Wunsch“ verwendet, ist wohl kein Zufall. Als Synonym zu den tendenziell biologisch gefärbten Begriffen „Triebregung“ und „Bedürfnis“ verwendet Freud in seinen späteren Schriften auch gelegentlich den Begriff „Triebwunsch“, der als kontextgebundene Triebregung mehr individuelle Zuneigung suggeriert.Vgl. Freud SA IX, S. 180, S. 182 sowie die 29. und die 35. Vorlesung in Freud SA I.
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Errungenschaft Freuds. Die Sexualtriebe, deren Triebkraft Freud mit dem Terminus der „Libido“ bezeichnet, richten sich nicht nach dem Realitätsanspruch und der Lebensnot, sondern nach der Lust. Wie alle anderen Triebe stammen auch sie aus dem Körper, genauer gesagt jedoch aus den erogenen Zonen. Die in diesen Zonen empfundene Organlust ist nach Freud die primäre Lustempfindung und auch die Urform der nicht der Notwendigkeit unterworfenen Befriedigungen. Sowohl ihre Objekte als auch ihre Befriedigungsformen sind in großem Maße variierbar. Die Sexualtriebe sind zwar bei allen Menschen vorhanden, aber die radikalen Beispiele aus Freuds Untersuchungen zur Perversion zeigen, dass bei Menschen auch z. B. bestimmte Körperteile, leblose Dinge oder ein Zustand wie Schmerz als Triebobjekte und -mittel fungieren können. Die Befriedigung als Triebziel, das Menschen dadurch erreichen wollen, ist in sich höchst ambivalent und kann mit diversen Emotionen und Gedanken verbunden sein; sie werden nur mithilfe der persönlichen Vorstellung und Phantasie durch ein privatisiertes Symbolsystem gebildet. Freud betrachtet die Sexualtriebe und die Selbsterhaltungstriebe als ein Triebpaar, zwischen denen eine gleichermaßen affirmative wie konfliktträchtige Beziehung besteht. Die Anlehnung der Sexualtriebe an die Selbsterhaltungstriebe besteht darin, dass die Lustempfindung in der erogenen Zone bei der Befriedigung des Grundbedürfnisses ursprünglich begleitend erscheint: Die Nahrungsaufnahme z. B. hat zwar ihre primäre Funktion in der organischen Lebenserhaltung, aber sie wird doch zugleich als lustvoll empfunden und könnte sich auch als Mittel zur psychischen Befriedigung entwickeln. Die Sexualtriebe können sich wiederum auch so entwickeln, dass sie in Konflikt mit den Selbsterhaltungstrieben geraten. Bleibt man weiter bei dem Fall von Hunger und Nahrungsaufnahme, kann etwa das Phänomen der neurotischen Anorexie als passendes Beispiel eines solchen Konflikts dienen. Hier empfinden die Menschen eine so starke Unlust am Essen, dass ihr Körper schließlich überhaupt keine Nahrung mehr verträgt. Die Befriedigung der Sexualtriebe und der Organlust wird nun durch eine negative Weise, also durch physische Abscheu, verbunden. Was dabei erfüllt wird, ist offensichtlich kein biologisches Bedürfnis; nach Freud ist es vielmehr ein Ausdruck bestimmter starker, unbewusster Wünsche, deren Inhalt sich jedoch nicht unmittelbar, d. h. ohne weitere persönliche Angaben erschließen lässt. In Freuds Psychoanalyse wird stets danach gesucht, welches Bedürfnis sich hinter einer Erscheinung verbirgt und welche Art der Befriedigung von der Person gesucht wird. Man tut der Theorie aber unrecht, wenn man den Triebbegriff naturalisiert, das heißt, die komplexe Umwandlung der Triebe auf eine vereinfachte Formel von Bedürfnis und Befriedigung reduziert. Die psychoanalytischen Fallberichte belegen, dass sich der Inhalt des Bedürfnisses und seiner Befriedigung ohne ein Eingehen auf die einzelne Lebensspur nicht verstehen lässt. Die Lust ist
1.2 Das unbewusste Leiden: Ein Exkurs zu Freud
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in hohem Grade persönlich. ⁵⁸ Die Begriffe des Triebes und der Lust nicht auf die biologischen Bedürfnisse zu reduzieren, ist nicht nur in Freuds Lehre zentral, sondern trifft gleichermaßen auf Adorno zu. Zum Schluss steht noch eine Bemerkung darüber aus, warum die der Freud‘schen Psychoanalyse zugrunde liegende Triebtheorie so oft den Verdacht eines naiv naturalistischen Ansatzes erweckt. Ein Grund dafür liegt wohl in der Vermischung der wissenschaftlichen Terminologie mit dem alltäglichen Sprachgebrauch. Eine Theorie, die sich „Triebtheorie“ nennt, beinhaltet notwendigerweise einen Sinngehalt des Begriffs „Trieb“. In gängigen Lexika wird der Trieb definiert als „oft vom Instinkt gesteuerter innerer Antrieb, der auf die Befriedigung starker, oft lebensnotwendiger Bedürfnisse zielt“⁵⁹. Sowohl Menschen als auch Tiere werden mit einem natürlichen Antrieb geboren.Wenn ein Mensch oder sein Verhalten als triebhaft bezeichnet werden, impliziert dies üblicherweise, dass dieser Mensch oder ein ganz bestimmtes Verhalten „nicht vom Verstand kontrolliert“ ⁶⁰ und daher dem Tierischen ähnlich sind. Mit dem Triebbegriff lässt sich die angenommene biologische Grundlage, d. h. die Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Tieren, gut zum Ausdruck bringen, was von Freud auch intendiert wurde. Aber seine Triebtheorie erschöpft sich nicht darin. Das Stichwort „Trieb“ kann also dazu führen, dass die gerade von Freud so faszinierend dargestellte Sonderstellung des Menschen, die in der individuellen Formung des Triebes besteht, von dem plakativeren biologischen Beiklang überdeckt wird.
1.2.2 Der Trieb in der Repräsentanz Der obige Abschnitt versuchte zu zeigen, dass die psychoanalytische Triebtheorie weit über den Bereich der Biologie hinausgeht und dass die Triebe einer persönlich-individuellen wie kulturellen Modifikation und Formung unterliegen. Die Frage, wie diese Modifikation stattfindet, soll im Folgenden anhand der Unterscheidung von Trieb und Triebrepräsentanz näher erläutert werden. Selbst Freud hat lange Zeit gebraucht, um eine befriedigende Darstellung des Wesens von Trieben zu finden. Es gibt zahlreiche Stellen, an denen er die Triebe
Wie wir in den weiteren Kapiteln noch sehen werden, schafft Freuds Triebtheorie m. E. für Adorno einen Raum für die Zweideutigkeit des „Leidens“: Leiden als negative Erfahrung und Leiden als unbewusste (Un‐)Lust, deren Wert nicht vorherbestimmt ist. Ein Begriff kann sich also in zwei konträre Werte aufspalten. Zum psychoanalytisch definierten „Leiden“ und seiner konstruktiven Bedeutung für das rationale Denken siehe Kapitel 3. „Trieb“, in: Duden 1999. „Trieb“, in: Duden 1999.
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mit gewissen Abweichungen definiert – und gerade diese Abweichungen spiegeln seine Arbeitsweise wider, seine Theorie ständig an der Erfahrung und den beobachteten Phänomenen zu überprüfen und zu modifizieren. Freud betrachtet den Trieb als ein höchst unbestimmbares Wesen und schreibt schließlich, nach zwanzig Jahren analytischer Untersuchungen, das Folgende: Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie, die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihnen absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.⁶¹
Die Schwierigkeit, die Triebe zu definieren, ist eine doppelte. Zum einen widersprechen sie der starren Trennung von Körper und Seele, zum anderen ist ein großer Teil der Triebe nach Freud unbewusst. Um zu beschreiben, wie das Körperliche und das Seelische sich im Trieb verbinden – ein Vorgang, der zum großen Teil unbewusst verläuft –, führt Freud die Begriffe „Triebrepräsentanz“ und „Triebvorstellung“ ein, die als psychoanalytische Termini keine Verwendung in der Alltagssprache finden, allerdings für das Verständnis seiner Triebtheorie wie auch für Adornos Rezeption entscheidend sind: Ein Trieb kann nie Objekt des Bewußtseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann aber auch im Unbewußten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen. Wenn wir aber doch von einer unbewußten Triebregung oder einer verdrängten Triebregung reden, so ist dies eine harmlose Nachlässigkeit des Ausdrucks. Wir können nichts anders meinen als eine Triebregung, deren Vorstellungsrepräsentanz unbewußt ist.⁶²
Wenn man einer graphischen Vorstellung bedient, um diese Erklärung nachzuvollziehen, lässt sich der Unterschied von Trieb und Triebrepräsentanz in zwei Stufen veranschaulichen. Nach Freud sind die Triebe im strengen Sinne (die er auch als „Urtriebe“ bezeichnet) konstante Kraftströmungen des Körpers ohne bestimmte Inhalte. Sie sind unbewusst und inhaltslos gegeben. In der empirischen Welt werden sie nie als solche erscheinen, das heißt nie unmittelbar vom Menschen erlebt werden. Sie sind von keinen psychischen Instanzen erreichbar. Nach dieser Bestimmung gelten „Triebe“ im streng psychoanalytischen Sinn nicht als Phänomene, sondern sind lediglich als ein postuliertes Reservoir zu verstehen. Dagegen besitzt die Triebvorstellung bzw. die Triebrepräsentanz einen bestimmten empirischen Inhalt. Sie umfasst Gedanken und Affekte, die sich aus Freud SA I, S. 529. Freud SA III, S. 136.
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unterschiedlichen Kontexten sowohl als bestimmte Erlebnisse als auch als angewöhnte Einstellungen herausgebildet haben. Nach Freud stammen die Triebe zwar aus dem Körperinnern, gelangen jedoch unmittelbar in die Seele.⁶³ Der Inhalt der Wirkung ist eben die „Repräsentanz“ bzw. die „Vorstellungsrepräsentanz“ der Triebe. Sie gehen über das Somatische hinaus und sind mit der empirischen Welt verschlungen. Bei dem, was Menschen in Alltagssituationen an sich spüren und mit „Trieb“ und „Drang“ beschreiben, und bei dem, was auch Adorno als Trieb bezeichnet, handelt es sich in Wahrheit um „Triebrepräsentanz-Vorstellungen“. Erst auf der Ebene von Triebvorstellungen ist der Unterschied von bewusst und unbewusst sinnvoll. Die Art und Weise, wie die Triebe im Bewusstsein landen, ob sie problemlos eintreten oder im Gegenteil starkem Widerstand begegnen und teilweise ins Unbewusste verdrängt werden, variiert von Fall zu Fall.⁶⁴ Die theoretischen Vorteile, die Triebrepräsentanz vom Trieb als solchem zu unterscheiden, liegen darin, dass dadurch sowohl die universale, dauerhafte Verfügbarkeit des Triebes als auch die individuelle Variierbarkeit des Triebschicksals erfasst werden können. Darüber hinaus weist Freud explizit darauf hin, dass die Triebe immer mit einem Bezug auf etwas, was sie re-präsentiert bzw. vorstellt, in die Psyche eingehen. Mit Rekurs auf Adornos frühe Interpretation des Unbewussten als „Ding“ lassen sich die Triebvorstellungen als „verdinglichte“ Triebe umdeuten, wobei der Begriff der „Verdinglichung“ hier im wertneutralen Sinne als Konkretisierung zu verstehen ist. Kurz, bei dem, was Menschen als Trieb und Drang an sich empfinden – ganz gleich, ob dessen Inhalt der Person bewusst ist oder nicht –, handelt es sich nie um einen gehaltlosen Impuls. Was überhaupt als „Trieb“ erlebbar ist, enthält stets einen Bezug zur Lebensgeschichte und sozialen Umgebung. Der vom Menschen erlebte Trieb ist immer schon das Ergebnis einer „Triebgeschichte“.
1.2.3 Das Lustprinzip und die Konfliktflucht Folgt man der gerade eingeführten Unterscheidung der Triebrepräsentanz vom Trieb, ist es nicht schwer zu verstehen, dass es für die Triebrepräsentanz unzählige Variationen gibt. Neben der Vielzahl individueller Triebregungen lässt sich aber weiter fragen, warum der von Freud in Form eines theoretischen Postulats angenommene „Urtrieb“ häufig zweigeteilt wird. Beispiele hierfür sind die oben
Freud SA III, S. 85. Siehe „Die Vergrängung“ in: Freud SA III, S. 103 – 118.
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1 Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie
ausgeführte Gegenüberstellung von Selbsterhaltungstrieb und Sexualtrieb sowie das berühmte Paar des Lebens- und des Todestriebes. Diese Zweiteilung hängt vor allem damit zusammen, dass Freud stets nach der Ursache von Neurosen sucht und diese vorwiegend durch psychische Konflikte erklärt. Freud hat bekanntlich seinen Weg zur Psychoanalyse über die Neurologie gefunden. Als praktizierender Neurologe war er mit Krankheiten konfrontiert, die damals als „Nervenkrankheiten“ bezeichnet wurden, wie die Hysterie und die Zwangsneurose.⁶⁵ In der Übergangsphase zur Psychoanalyse verwendete Freud noch die Behandlungstechnik der Hypnose und stellte in seinen klinischen Erfahrungen fest, dass es irgendeine starke Widerstandskraft in der Seele geben muss, die den Patienten im bewussten Zustand daran hindert, das ihm Peinliche oder Schmerzhafte zu erinnern. Als Erklärungshypothese beginnt Freud, eine „Abwehr“Funktion im Ich zu unterstellen, die die unerwünschten Vorstellungen zensiert. Die neurotische Störung erscheint somit als das Ergebnis eines inneren Kampfes zwischen den Triebwünschen und einer Gegenkraft, die später als eine psychische Instanz konzipiert wird. Die Überzeugung, dass es in der Psyche eine motivierende Kraft und eine Gegenkraft geben muss, bezieht sich anfänglich zwar nur auf neurotisch Kranke, führt aber doch zu der allgemeinen Frage, was für eine Kraft es ist, die sich so schwer kontrollieren lässt, und welche Kraft die Patienten mobilisieren können, um sich gegen sie zu wehren. Aus dieser Vorphase seiner Triebtheorie, in der der Begriff Trieb noch gar nicht vorkommt und der von Freud stattdessen verwendete Begriff „Energie“ wesentlich neurologisch ist, ist Freuds Grundüberzeugung hervorgegangen. Er geht davon aus, dass die unterschiedlichen Anforderungen des Lebens notwendig psychische Konflikte hervorrufen, die in manchen Fällen eine neurotische Krankheit zur Folge haben. Seitdem versuchte Freud mit all seinen psychischen Modellen, die Grundlage dieses Konfliktes zu ergründen, sei es mit der Gegenüberstellung von Sexualtrieb und Selbsterhaltungstrieb oder mit dem Antagonismus von Lebenstrieb und Todestrieb. Freuds Triebdualismus entspricht seiner Grundüberzeugung, dass die Bedürfnisse des Menschen stets in Konkurrenz zueinander stehen und somit die Befriedigung des einen die Versagung des anderen nach sich ziehen kann. Daher werden die als universal konzipierten Urtriebe auch stets im Plural oder genauer gesagt im Dual gruppiert.⁶⁶ Freud geht zwar davon aus, dass die Ziele der Triebe in Konflikt stehen müssen, betrachtet jedoch alle Triebe als gleichartig⁶⁷ – sie seien an sich lediglich quantitativ bestimmt. Dieser quantitativen Vorstellung entsprechend betrachtet Siehe insbesondere „Zur Psychotherapie der Hysterie“ in: SA Ergänzungsband, S. 37– 97. Auf die naheliegende Frage, weshalb der Konflikt in der Psyche notwendig ist, gibt es jedoch von Seiten Freuds keine endgültige Begründung. Vgl. Laplanche/Pontalis 1973, S. 471. Freud SA III, S. 87.
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Freud die gesamten psychischen Aktivitäten eines Menschen als eine Art ökonomische Dynamik, die die Summe aller Kräfte beinhaltet und trotz der Diversität der Bedürfnisse auf Balance und Stabilität ausgerichtet ist. Die gesamte Dynamik folgt einer scheinbar einfachen Regel: Sie zielt auf die Maximierung der Lustbefriedigung ab und vermeidet die Unlust. Freud bezeichnet diese Regel als „Lustprinzip“. Zum Verständnis des Lustprinzips ist zunächst eine kurze Begriffsklärung von „Lust“ und „Unlust“ erforderlich. In der deutschen Alltagssprache werden sowohl der Zustand, in dem das Bedürfnis entsteht, als auch der Zustand, in dem sich das Bedürfnis erfüllt, mit dem Begriff der Lust bezeichnet. Im ersten Fall sagt man, „man hat Lust“ (z. B. etwas zu unternehmen), im letzteren Falle sagt man, „es ist eine Lust“ (z. B. etwas zu erleben).⁶⁸ Die zweite Bedeutung, die sich im Allgemeinen als Befriedigung und Erfüllung des Wunsches verstehen lässt, bleibt im Rahmen der Freud‘schen Theorie auch auf der Ebene des Unbewussten gültig. Hingegen sind die Entstehung und das Verbleiben in einem bedürftigen Zustand – also das, was im Alltag als „Lust haben“ bezeichnet wird – innerhalb der unbewussten Triebdynamik besonders unerwünscht. Unlust entsteht, sobald Bedürfnisse nicht zu befriedigen sind. Ihre Ursache liegt entweder im Mangel an Objekten oder spiegelt „Konflikte und Spaltung im seelischen Apparat“⁶⁹ wider. Das Letztere ist für Freud die Hauptquelle der Unlust. Anders als im alltagssprachlichen Gebrauch, in dem Unlust Lethargie oder Mangel an Motivation bedeutet, ist die Unlust als Bedürftigsein in der Theorie Freuds gerade die stärkste motorische Kraft. Jedes Aufkommen eines Bedürfnisses ist, abgesehen von der Aussicht auf dessen Befriedigung, aus der Perspektive der Triebdynamik eine Krise, denn um die Forderung aus dem Bedürfnis lindern zu können, müssen die erregten Triebkräfte notwendigerweise nach einem Ziel drängen. Erst der Erwerb des jeweiligen Objektes und die dadurch erreichte Befriedigung lösen die Spannung und stellen die Stabilität wieder her.⁷⁰ In diesem Sinne wird das Lustprinzip bei Freud anfangs auch „Unlustprinzip“ genannt, um die unbewusste Kraft der Unlustmotive hervorzuheben.⁷¹ In dieser Beschreibung wird die motorische Funktion der Triebregung deutlich. Ihr drängender Charakter gilt Freud als das Wesen aller Triebkraft: Unter dem Drange eines Triebes versteht man dessen motorisches Moment, die Summe von Kraft oder das Maß von Arbeitsanforderung, das er repräsentiert. Der Charakter des Drän-
„Lust“, in: Duden 1999. Freud SA III, S. 220. Freud SA III, S. 220. Vgl. Freud SA II, S. 569 f.
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genden ist eine allgemeine Eigenschaft der Triebe, ja das Wesen derselben. Jeder Trieb ist ein Stück Aktivität.⁷²
Als Drang trägt der Trieb die Forderung in sich, befriedigt zu werden. Um den ungewollten Zustand zu verändern, ist das Nichtstun ausgeschlossen, auch wenn die vollständige Kenntnis über das genaue Handlungsziel und die möglichen Mittel dazu nicht notwendig vorhanden sind. Der Trieb zwingt also den Einzelnen unaufhörlich dazu, etwas zu unternehmen, sich zu betätigen, bis die durch ihn gesetzten Ansprüche aufgehoben werden können. Umgekehrt lässt sich daraus folgern, dass dort, wo es eine unerlässliche psychische Aktivität gibt, auch noch ein unerfülltes Bedürfnis besteht. In seiner therapeutischen Arbeit entdeckte Freud, dass bei seinen Patienten zahlreiche Denk- und Verhaltensweisen vorkamen, die scheinbar keine Lustbefriedigung hervorbringen sollten, aber trotzdem immer wieder von der entsprechenden Person, bewusst oder unbewusst, praktiziert wurden. Dazu gehörte z. B. sich Vorwürfe zu machen, sich zu schämen, sich physische Schmerzen zuzufügen usw., was in radikalen Fällen zur schweren Neurose oder gar zur Selbstvernichtung führen kann. Nach einem Grundprinzip der Psychoanalyse, das sich auf das Lustprinzip und die Trieblehre des Unbewussten stützt, geschieht keine psychische Aktivität grundlos. Auch die scheinbar sinnlosen oder perversen Denk- und Verhaltensweisen drücken etwas aus. Sie haben eine innere Logik. Solche scheinbar für die Person nicht mit Lust verbundenen Denk- und Verhaltensweisen versteht Freud daher ebenfalls als Arbeitsanforderungen, die Wünsche erfüllen sollen. Der Neurotiker ist in diesem Sinne nicht nur jemand, der passiv von der Krankheit heimgesucht wird, sondern zugleich ein Akteur, der sich selbst unbewusst schadet und bestraft. Die abnormal wirkenden neurotischen Symptome sind sozusagen das in Sicht gekommene Resultat einer Reihe unbewusster Tätigkeiten. Sie verweisen Freud schließlich auf eine gewaltige aktive Instanz im menschlichen Seelenleben, deren Anforderungen vermutlich häufig mit anderen Triebwünschen in Konflikt geraten und dabei Unlust erzeugen. Dieser Annahme entsprechend nimmt Freud 1920 zum letzten Mal eine umfangreiche Revision seines Konzepts der psychischen Struktur vor und konzipiert dabei eine Instanz, die als Quelle derartiger Arbeitsforderungen fungiert: das „Über-Ich“. Grob zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Über-Ich aus der affektiven Verbindung zum Vater entsteht, sei es aus Angst, sei es aus Bewunderung, Neid oder Feindseligkeit. Das Kleinkind empfindet die Autorität des Vaters und verinnerlicht seine Charakterzüge in sich. Diese unter Affektbindung aufgenomme-
Freud SA III, S. 85 f.
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nen Charakterzüge sind die Grundelemente, mit denen das Kind eine zu fürchtende oder zu bewundernde Autorität verinnerlicht und somit Schritt für Schritt sein „Über-Ich“ gestaltet. Die Gebote und Verbote – „so sollst du sein“, „so darfst du nicht sein“⁷³ –, die dem gemeinsamen Leben jeder Kultur zugrunde liegen, werden durch das Über-Ich nicht mehr als äußerliche Einschränkung, sondern von innen heraus erteilt. Nach Freud beginnt der unbewusste Aufbau dieser selbstbeobachtenden psychischen Instanz etwa im Alter von fünf Jahren.⁷⁴ Anhand der im Unbewussten wurzelnden Gebote und Verbote, die das Über-Ich ausmachen, beurteilt eine Person nicht nur das Tun der Anderen, sondern auch ihr eigenes.⁷⁵ Da das Über-Ich aber von früh an (und zwar unbewusst) geformt wird, ist es für eine Person schwierig, sich dessen Genese ohne die Hilfe einer Außenperspektive zu erklären. Es ist daher nicht selten zu beobachten, dass Menschen bestimmte Überzeugungen und Verhaltensweisen aufrechterhalten, die sie als Teil ihres Charakters verstehen und daher als selbstverständlich und unhintergehbar vertreten. Warum solche Gebote und Verbote überhaupt da sind und warum gerade diese Tugenden und Unterlassungen von dieser Person für die wichtigsten erachtet werden, wird meistens unbeantwortet gelassen, und trotzdem folgen die Menschen ihnen. Bei der Rekonstruktion von Krankheitsgeschichten findet Freud häufig im Unbewussten seiner Patientinnen und Patienten eine zugespitzte und ins Unbewusste verdrängte Selbstkritik oder die starke Tendenz, sich zu schämen oder schuldig zu fühlen. Die Annahme des Über-Ichs ermöglicht es ihm schließlich, die Phänomene von Moral und Religion, deren objektive Existenz und Komplexität weit über die Psyche eines Einzelnen hinausgreifen, durch die innerpsychischen Motive der daran Beteiligten zu erklären. Dies stimmt auch mit seiner bisherigen Lehre von der Psychopathologie überein. Der „Vorwurf des Gewissens“ ist also keine absonderliche Erscheinung, die nur bei Neurotikern vorkommt, sondern ein universaler Teil der Psyche. Freuds Konzept des Über-Ichs hat sich aus einer Frage heraus entfaltet, nämlich: Warum können sich Menschen als vom Lustprinzip getriebene Lebewesen merkwürdigerweise so wenden, dass ihnen in manchen Fällen ein großes Spektrum an Lustbefriedigung versagt bleibt und sie sich mehr Unlust als Lust
Freud SA III, S. 301. Das Über-Ich entsteht, wenn der Ödipuskomplex überwunden ist; der Letztere wird zwischen dem dritten und dem fünften Lebensjahr erlebt. Siehe Laplanche/Pontalis 1973, S. 351. Bernard Williams’ Analyse über den „Blick des imaginären Anderen“ („the gaze of an imagined other“) nimmt zwar nicht direkt Bezug auf Freud und befasst sich ausschließlich mit dem Schamgefühl, ist aber für das Verständnis des „Über-Ichs“ durchaus illustrativ. Williams 1994, S. 82.
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zufügen? Die der Moral zugrunde liegenden Gefühle von Scham und Schuld haben in diesem Kontext für Freud keinen eigenständigen Wert. Zahlreiche neurotische Patienten haben sich als lebendige Beispiele dafür erwiesen, dass das Festhalten an moralischer Tugend eine Person unbewusst überfordern und folglich massives Leiden verursachen kann.⁷⁶ Freuds Kritik richtet sich nämlich nicht nach bestimmten Moralprinzipien; das seiner Ansicht nach eigentlich Schädliche und den Menschen krank Machende besteht vor allem darin, dass Menschen beharrlich einer inneren Autorität folgen, ohne in vollem Maße verstehen zu wollen, worauf diese sich gründet und worin ihre Rechtfertigung besteht. Das unreflektierte Festhalten an moralischen und religiösen Verboten betrachtet Freud als gravierend und schädlich für die Entwicklung der Denkfähigkeit.⁷⁷ Denn ohne gründliche Überprüfung bleibt etwas in diesen für eine Person so vertrauten Werten und Überzeugungen zugleich fremd und unverstanden. Ihre Autorität kann durchaus eine entfremdete Gewalt in der Psyche sein, die in der neurotischen Störung ihre Negativität erweist. In Anerkennung der Macht des Über-Ichs erklärt Freud, „dass der normale Mensch nicht nur viel unmoralischer ist, als er glaubt, sondern auch viel moralischer, als er weiß“⁷⁸. Das Subjekt, das sich so oft falsch einschätzt, ist der psychischen Struktur nach also das Ich.Wenn Freud mit einer figurativen Sprache in Das Ich und das Es alle drei Protagonisten in der psychischen Struktur verortet, charakterisiert er das „Ich“ auf eine völlig andere Weise als in der Tradition der europäischen Aufklärung, die der deutsche Idealismus charakterisiert. Dadurch kann er aber die Geschichte der Pathologien besser darstellen: Das Ich ist nach Freud nämlich der Ort, an dem alle inneren Konflikte stattfinden. Zwischen dem „strengen“ und „grausamen“ Über-Ich und dem „starren“, „unnachgiebigen“ Eros (Es), die beide ihren Einfluss unbewusst ausüben, steht in der Mitte das Ich. Im deutlichen Unterschied zur idealistischen Version zählen die Attribute „autonom“, „willensstark“, „frei“ und „urteilsfähig“ für Freud keineswegs zu den Standardattributen für das Ich. Als Grenzwesen zwischen dreierlei Anforderungen – vom triebhaften Es, der drohenden äußeren Realität und dem zensierenden Über-Ich – ist das Ich für Freud ein „armes Ding“, eine „Angststätte“, die zwangsläufig mit Angst und „Fluchtreflexen“ auf den Konflikt reagiert.⁷⁹ Als die einzige Instanz, die reflexionsfähig ist und die eigene Verletzbarkeit wahrnehmen kann, wird das unter Druck gesetzte Ich alle vorhandenen Mittel zum Schutze seiner selbst auf Eine erhellende Erklärung, aus welchen möglichen Gründen Menschen an ihrem Leiden festhalten, gibt Küchenhoff 2003. Freud SA IX, S. 180 f. Freud SA III, S. 318. Freud SA III, S. 323.
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bieten. Eine der üblichsten Strategien ist nach Freud die Verdrängung, die die Menschen aber möglicherweise in eine neurotische Erkrankung führen kann.
1.2.4 Verdrängung – das Leiden der zweiten Stufe „Die Verdrängungslehre ist nun der Grundpfeiler, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht.“⁸⁰ Mithilfe des Lustprinzips und der psychischen Struktur deutet Freud quälende neurotische Störungen als Resultate einer Verdrängung, wobei im Grundmodell die verspürte intensive Unlust eines Konflikts vermieden und durch seine Verschiebung eine Ersatzbefriedigung erreicht werden soll. Die Verdrängung hat ihre Funktion darin, die Konflikte aus dem ursprünglichen Kontext an eine andere Stelle zu verlagern, das Bewusste somit künstlich unbewusst zu machen, um das für die Person Schmerzhafte oder Verwerfliche nicht unmittelbar in das Bewusstsein vorzulassen. Allerdings kann diese Strategie die genuinen Konflikte und die damit verbundene Unlusterregung nicht lösen. Das Unerwünschte verliert zwar seinen kognitiven Kontext, nicht aber seine Intensität. Sowohl das Auftreten bizarrer Träume als auch neurotischer Symptome ist nach Freud eine Bestätigung für die drängende Aktivität der Unlust. In seiner klinischen Erfahrung stellt Freud fest, dass die massive Verdrängung eines Triebschicksals etwas ist, was notwendig zu einer neurotischen Erkrankung führt.⁸¹ Auch bevor er den vollständigen Mechanismus der Verdrängung darlegen konnte, wusste Freud bereits, dass es ein mühsamer, aber notwendiger Schritt zur Freud GW 10, S. 54. Der Freud‘sche Ausdruck „neurotische Erkrankung“ gibt Anlass zu der Frage, inwieweit sich eine neurotische Erscheinung als „Erkrankung“ bezeichnen lässt. Die Neurose an sich gilt in der Psychoanalyse nicht automatisch als Krankheit, die einem Zustand von Gesundheit eindeutig gegenüberstünde.Vielmehr betrachtet Freud Neurosen als so gut wie unvermeidbar auf dem Wege der Kultivierung des Menschen: „Über das Menschenkind wissen wir, dass es seine Entwicklung zur Kultur nicht gut durchmachen kann, ohne durch eine bald mehr, bald minder deutliche Phase von Neurose zu passieren.“ (Freud SA IX, S. 176) Dass Menschen trotz einer minderen neurotischen Störung ein befriedigendes Leben führen können bzw. dass die Neurose zu einem integrierten Teil im Leben der Mehrheit der Menschen werden kann, heißt aber nicht, dass es nicht auch Neurosen gibt, die zweifellos „krankhaft“ sind, die Denk- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen in hohem Maße beeinträchtigen und ohne einen therapeutischen Einsatz von sich aus nicht lösbar sind, wie das berühmte Beispiel des „Rattenmanns“ zeigt. Freud thematisiert die Gültigkeit einer Definition des neurotischen „Krankseins“ auch zu Beginn der 23.Vorlesung: „[S]o erkennen Sie leicht, daß ,Kranksein‘ ein im Wesen praktischer Begriff ist. Stellen Sie sich aber auf einen theoretischen Standpunkt und sehen von diesen Quantitäten ab, so können Sie leicht sagen, daß wir alle krank, d. i. neurotisch sind, denn die Bedingungen für die Symptombildung sind auch bei den Normalen nachzuweisen.“ (Freud SA I, S. 350, Herv. von Freud)
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Linderung des neurotischen Leidens ist, sich das ins Unbewusste Verdrängte wieder bewusst zu machen bzw. sich das Vergessene erneut in Erinnerung zu rufen. Wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, stellt die Freud‘sche Lehre über die Verdrängung auch einen „Grundpfeiler“ für Adornos Philosophie dar. Ob eine Gesellschaft ihren Mitgliedern Bedingungen zur Triebverdrängung schafft und diese reproduziert, gilt für Adorno als ein Bewertungsmaßstab, mit dem er die scheinbar subjektive und private Sphäre sozialtheoretisch fasst, das heißt, das persönliche Unbehagen soziologisch und sozialphilosophisch deutet. Um Adornos Ansatz besser verstehen zu können, ist es erforderlich, hier kurz die wesentlichen Züge der Verdrängung in ihrer ursprünglichen Bestimmung einzuführen.
A Verletzbarkeit und Humor Zur Verdrängung kommt es, wenn ein Triebobjekt aufgegeben werden muss.⁸² Das heißt, es muss auf etwas, das ursprünglich eine Lustbefriedigung herbeigeführt hat, verzichtet werden. Wie oben erläutert, sind diejenigen Triebe, die Menschen überhaupt empfinden und gegebenenfalls verdrängen können, präziser ausgedrückt eigentlich Triebrepräsentanzen. Sie sind autobiographisch geformt. Im Prozess der Verdrängung werden diese dem Bereich des Bewussten allmählich entzogen, sei es in Gestalt eines Erinnerungsfragments, eines Gefühls oder eines Gedankens. Einmal ins Unbewusste verdrängt, lassen sie sich nicht mehr in ihrer originären Form wachrufen. In zahlreichen Berichten schildert Freud detaillierte Fälle von Verdrängung: So kann die Tierphobie von der verdrängten Angst vor einer Autoritätsfigur sprechen, körperlicher Schmerz für ein Schuldgefühl, das auffällige Betrachten einer reinen Banknote als unbewusstes Geständnis eines eigenen sexuellen Verbrechens. Der Vorgang der Verdrängung ist sozusagen eine geistige Metamorphose: Scheinbar verbindungslose Sachverhalte werden durch ein im Unbewussten mit Assoziationen und Phantasien arbeitendes Symbolsystem zusammengebracht. Dieser Prozess der Verwandlung ist zugleich einer des Encodierens: Was einmal Teil der gesamten Erfahrung einer Person gewesen ist, wird künstlich unkenntlich gemacht und zielgerichtet von einer weiteren rationalen Bearbeitung ausgeschlossen. Man kann allerdings weiter fragen, weshalb dies geschieht. Wozu verdrängt man etwas? Einer kurzen Abhandlung Freuds über den Humor⁸³ zufolge könnte
Freud SA III, 297 f. Freud SA IV, S. 275 – 282.
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man sagen: Wo ein Mensch seelisch verletzbar ist und seine Leidensmöglichkeit gespürt hat, neigt er zur Verdrängung. Man verdrängt, um nicht zu leiden. Der Aufsatz über den Humor findet seinen Kern in der menschlichen Reaktion auf das Leiden. Dieses Mal jedoch wählt Freud einen für ihn eher ungewöhnlichen Ausgangspunkt. Er verfährt methodisch nicht mehr „negativ“, das heißt, er befasst sich nicht mit irgendwelchen pathologischen Erscheinungen, bei denen er das „Normale“ durch den Kontrast zum Kranken zu „erraten“ versucht. Er begibt sich vielmehr unmittelbar in einen als ideal anzusetzenden mentalen Zustand, eine gesunde, erstrebenswerte Selbstbeziehung, und analysiert im Ausgang davon, wie auch das Leiden als Motor die Menschen bewegt. Der Humorist, so Freud, kann sich in einer ungünstigen Situation dennoch einen Lustgewinn verschaffen und entzieht sich dadurch, wenn auch nur vorübergehend, der kommenden Leidensmöglichkeit. Wo er mit einer gewitzten Betrachtungsweise die bestehenden Verhältnisse ins Lächerliche wendet, gelingt es ihm, sich von der Position des Betroffenen zu der eines angstfreien Beobachters zu erheben: Das Großartige liegt offenbar […] in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind. Dieser letzte Zug ist für den Humor durchaus wesentlich.⁸⁴
Neben der Hochschätzung des Humors, der etwas Intellektuelles, Erhebendes in sich haben soll, verspürt Freud im Humor vor allem eine außergewöhnlich positive Beziehung zwischen „Ich“ und „Über-Ich“. Im Unterschied zu seiner Grundannahme, dass sich das Ich stets gegen das strenge Über-Ich zur Wehr setzen muss, verhalten sich die zwei Instanzen im Humor harmonisch. Das von der Vaterfigur abgeleitete Über-Ich schützt dabei das verletzbare Ich vor der Konfrontation mit der bedrohlichen Realität. Das starke Ich ist in der Lage, in etwas, das ihm „groß erscheint, die Nichtigkeit zu erkennen und zu belächeln“⁸⁵. Mehrere Kritiker haben bereits darauf hingewiesen,⁸⁶ dass Freud generell die Sublimierung nicht deutlich von der Verdrängung unterscheide und die Möglichkeiten der Sublimierung nicht gründlich ausarbeite. Die Bedingungen, die die
Freud SA IV, S. 278. Freud SA IV, S. 279. Vgl. Whitebook 2003b und Laplanche/Pontalis‘ Erläuterung der Sublimierung in Laplanche/ Pontalis 1973, S. 478 – 481.
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besondere Haltung des Humors nach sich ziehen, lässt Freud tatsächlich offen.⁸⁷ Humor zu haben, scheint für ihn schlicht eine privilegierte Eigenschaft zu sein, über die nicht jeder verfügt. In diesem Aufsatz richtet Freud sein Augenmerk weiterhin auf die Ähnlichkeiten zwischen Neurotikern und Humoristen. Gerade in der narzisstischen Behauptung, man selbst sei unverletzbar, besteht eine Ähnlichkeit beider, denn beide betreiben eine unbewusste Abwehr der Leidensmöglichkeit. Bei beiden liegt die implizite Absicht vor, sich einen Gefühlsaufwand zu sparen. Sowohl der verdrängende Neurotiker als auch der Witze erzählende Humorist sind motiviert, der Realität nicht nur passiv zu gehorchen, sondern ihr von sich aus ein neues Bild zu verleihen. Beide behaupten (unbewusst), unverletzbar zu sein. Dabei scheint Freud aber zwei Phänomene auf eines zu reduzieren, nämlich die Weigerung zu leiden und die Verneinung der eigenen Verletzbarkeit. Zwar ist es durchaus möglich, dass ein Humorist von dem unbewussten Motiv seines Humors niemals Notiz nimmt und seine Witze je nach Kontext tatsächlich als Abwehr eines psychischen Drucks fungieren. Allerdings zeigt Freuds HumorBeispiel – eines Verbrechers, der vor seiner Hinrichtung noch über den eigenen Tod scherzen kann –, dass eine Person, die über die Kunst des Humors verfügt, die Realität sehr wohl zur Kenntnis nehmen kann und die Verhältnisse zwischen sich und den auf sie wirkenden objektiven Faktoren durchaus versteht. Dies steht in einem Gegensatz zur neurotischen Verdrängung. Der Humorist vergisst die äußere Realität keineswegs und wird die objektive Existenz der Unlustquelle nicht verneinen. Diese beiden Reaktionen sind hingegen für den Neurotiker charakteristisch. Die Wahrnehmung realer Leidensmöglichkeiten ist für den Humoristen sozusagen für eine weitere bewusste Bearbeitung zugänglich und dabei ist (anders als Freud es sieht) die Einsicht in die eigene Verletzbarkeit durchaus einbegriffen. Freud scheint davon auszugehen, Menschen seien im Allgemeinen im Unbewussten „trotzig“; nicht nur setzen sie sich notwendig gegen die drohende Leidensmöglichkeit zur Wehr, sie tendieren auch dazu, ihre eigene Verletzbarkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das Letztere stellt eine günstige Bedingung für die „regressive“ und „reaktionäre“ Einstellung dar, die Freud zum einen an Neurotikern beobachtet und zum anderen auch bei den Humoristen vermutet. Die von ihm geschätzte Sonderstellung des Humors liegt gerade darin, dass er auf eine von Freud nicht entwickelte Intuition deutet: Die Verdrängung ist vielleicht kein Muss
Die theoretische Zurückhaltung und die „Scheu“, ohne Rückgriff auf pathologische Strukturen unmittelbar die möglichen Bedingungen des Normalseins zu unterstellen, wird auch von Freud selbst in diesem Aufsatz thematisiert.
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für den Menschen. Die nicht konflikthaft verinnerlichte Vater-Kind-Beziehung verleiht manchen die besondere Fähigkeit, das Leiden auf eine für das Subjekt durchaus förderliche Weise zu transformieren.
B Das verzögerte Leidensbewusstsein Am Beispiel des Humors sollte deutlich werden, dass wir Menschen seelisch auf eine höchst subtile Weise verletzbar sind. Selbst Witze und Heiterkeit können durchaus Mittel sein, mit denen wir uns von allen Leidensmöglichkeiten möglichst fern zu halten versuchen. Hier lässt sich weiter fragen: Was ist eigentlich die Quelle, die uns Leiden zufügt? Das macht Freud an einer anderen Stelle explizit zum Thema. Ihm zufolge bestehen drei grundsätzliche Leidensquellen: „Die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln.“⁸⁸ Dies sind sozusagen die objektiven Anlässe, die Menschen Leid zufügen können.⁸⁹ Freud begegnet keiner dieser Leidensquellen affirmativ. Keine von ihnen ist wertvoll und keine zu schätzen – ja Freud stellt selbst die biologische Notwendigkeit des Sterbenmüssens infrage.⁹⁰ Allerdings sind dies nicht jene Leiden, die die Psychoanalyse unmittelbar behandeln oder gegebenenfalls „heilen“ kann. Der Analytiker kann weder seine Patienten und deren geliebte Menschen für ewig am Leben erhalten noch ein vergangenes individuelles Unglück, das in der Lebensgeschichte im Rahmen menschlicher Beziehungen entstanden ist, ungeschehen machen. Solange die Menschen physisch sterblich und psychisch verletzbar sind, bleiben sie den Leidensmöglichkeiten ausgesetzt. Wie Freud bemerkt: „[D]ie pathologische Forschung hat unser Interesse allzu ausschließlich auf das Verdrängte gerichtet.“⁹¹ Die Phänomene, welche die Psychoanalyse überhaupt zu einer eigenen Disziplin machen, sind vor allem solche, die Menschen in der Konfrontation mit realen primären Leidensquellen durch die Verdrängung und weitere psychische Me-
Freud SA IX, S. 217. Es lässt sich fragen, ob Freud neben der Liste der objektiven Quellen des Leidens auch von bestimmten subjektiven Dispositionen zum Leid spricht. Dazu findet sich nach meiner jetzigen Kenntnis keine eindeutige Antwort bei Freud. Zwar gilt die „Unlust“ für ihn als eine universale negative „Empfindung“ im Unbewussten, das Beispiel des Humors zeigt jedoch, dass die Unlust nicht zwingend in ein Leiden resultieren muss. Manche Personen können sie durchaus in einen Lustgewinn verwandeln, das heißt, den Druck der Unlust sublimieren. Freud SA III, S. 249. Freud SA III, S. 288.
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chanismen von sich aus zu einem neu erzeugten Leiden werden lassen. Es ist sozusagen das Leiden der zweiten Stufe im genetischen Sinne. Das durch Verdrängung entstandene neurotische Leiden unterscheidet sich vom ursprünglichen Leiden vor allem darin, dass sein Inhalt der rationalen Reflexion zum Teil entzogen ist. Es ist eine Art des Leidens, das stets wirkt und bedrückt, zugleich aber die Bedingungen seiner Erkenntnis unterminiert. Nach Freud kommt es in zwei Formen vor: Zum einen wandelt es die starke Unlust gänzlich in physische Beschwerden um. Wie Freud einmal über eine neue Patientin notiert, die sich zwar an den Zeitpunkt des Beginns ihrer langjährigen Krankheit (Husten) erinnert, aber keine psychischen Gründe dafür kennt: „Von psychischen Erregungen in jener Zeit will sie nichts wissen, sie glaubt nicht an eine Motivierung des Leidens.“⁹² So wie nicht alle physischen Beschwerden von den Betroffenen als Leiden erfahren werden, betrachtet sich die Patientin in diesem Beispiel offenbar nicht als Leidende mit einem intensiven innerlichen Kummer oder Schmerz. Es ist also möglich, dass neurotische Patienten ein Krankheitsbewusstsein, jedoch kein Leidensbewusstsein haben. Zum anderen handelt es sich um die Fälle, in denen die Symptome nicht ausschließlich physisch, sondern auch psychisch zu verorten sind. So müssen Zwangsneurotiker beispielsweise bestimmte Gedanken oder Handlungen ständig wiederholen, phobische Neurotiker geraten aufgrund von für normale Menschen völlig harmlos wirkenden Sachverhalten oder Situationen in eine tiefe Angst. In einer allgemeinen Darstellung der Psychoanalyse schildert Freud, wie eine Person eine sinnlose Aufgabe (wie beispielsweise die Anzahl der Fenster eines Hauses zu zählen) ständig wiederholen muss, aber den Zwang anfänglich „nur ärgerlich und lästig“ empfindet, bevor sie später seinen weitaus schrecklicheren Inhalt in der Wiederholung erlebt. In anderen Fällen kommt es vor, dass zunächst physische Beschwerden auftreten, die Person wegen weiterer Symptome nicht mehr in jede Gesellschaft gehen kann und schließlich eine massive Essstörung erleidet. Auch sie empfindet sich jedoch bei den ersten Anzeichen solcher „Ungewöhnlichkeiten“ nicht als krank. Bevor sie ihren eigenen Zustand endlich als „beklagenswert“ erfährt, hat sie schon für einige Zeit beachtliche Beschwerden ausgehalten.⁹³ Die beiden Fälle weisen auf ein sonderbares Phänomen hin, nämlich dass Menschen mit einer gewissen Unwissenheit und Unempfindlichkeit auf eigenes Unbehagen reagieren können. Entweder betrachten sie sich selbst gar nicht als psychisch Leidende oder sie können die Gründe für dieses Leiden nur vage ver-
Freud SA Ergänzungsband, S. 66. Freud SA Ergänzungsband, S. 278.
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muten. In beiden Fällen sind die Patienten nicht in der Lage, von sich aus die innere Logik der Entwicklung ihrer Krankheit in vollem Maße zu erkennen. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Betroffenen bis zu einem gewissen Punkt doch wissen und spüren, dass ihre psychische Störung ihre Lebensqualität und Freiheit einschränkt, dass es ihnen also nicht gut geht, und gerade diese Kenntnis veranlasst sie dazu, sich Hilfe zu suchen. Jedoch verhält es sich im Unterschied zu Hunger und Schmerz, die Freud triftig als „imperativ“ bezeichnet, so, dass neurotische Leiden, wie oben skizziert, erst langsam und „im Dunkeln“ entstehen und sich nicht leicht erkennen lassen.⁹⁴ Will man dieses Bewusstsein „Leidensbewusstsein“ nennen, ist es im Rahmen der Freud‘schen Theorie allerdings nur genetisch nachgängig, denn es fokussiert anfänglich ausschließlich auf die akuten Beschwerden und die vom Patienten angegebenen Gründe, die sich aber im Rückblick als Ersatz des Verdrängten erweisen und somit nur ein Teil der zugrunde liegenden Ursachen sind. In Wirklichkeit ist eine klare Trennung zwischen der ersten und der zweiten Stufe des Leidens kaum möglich, denn sowohl bei Verdrängung und Abwehr als auch bei der Sublimierung sind die psychischen Mechanismen unbewusst am Werke und Auslöser des bewussten Leidens. Die theoretische Notwendigkeit jedoch, das sekundäre Leidensbewusstsein vom primären zu unterscheiden, liegt vor allem darin begründet, dass das sekundäre Leidensbewusstsein nicht unmittelbar zur Aufklärung und Aufhebung der eigentlichen Ursachen des Leidens führt. Wie Freuds Untersuchung zum Phänomen des „Widerstands“ zeigt, besteht ganz im Gegenteil zwischen dem Bewusstsein des gegenwärtigen Symptoms und dem Bewusstsein des verdrängten Leidens eine kaum überwindbare Kluft, an der die psychoanalytische Praxis zwar ansetzt, deren Erfolg jedoch nicht vorhersehbar ist: Nun machen wir während der Analyse die Beobachtung, dass der Kranke in Schwierigkeiten gerät, wenn wir ihm gewisse Aufgaben stellen; seine Assoziationen versagen, wenn sie sich dem Verdrängten annähern sollen. Wir sagen ihm dann, er stehe unter der Herrschaft eines Widerstandes, aber er weiß nichts davon, und selbst wenn er aus seinen Unlustgefühlen erraten sollte, dass jetzt ein Widerstand in ihm wirkt, so weiß er ihn nicht zu benennen und anzugeben. […] Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewusst ist, sich geradeso benimmt wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewusst zu werden, und zu dessen Bewusstmachung es einer besonderen Arbeit bedarf.⁹⁵
Im Prozess der Bewusstmachung legt der Analytiker dem Patienten seine Interpretationsvorschläge dar, mit denen er eine Verbindung zwischen dem akuten Freud SA III, S. 110. Freud SA III, S. 286 f.
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1 Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie
Krankheits- bzw. Leidensbewusstsein und dem ursprünglichen Leiden aufbauen will. Nach Freud entsteht dabei dann, wenn die Interpretation zutreffend ist, in der Regel eine starke Abwehr und Verneinung als Widerstand.⁹⁶ Der Patient sträubt sich dagegen, sich an das Suggerierte zu erinnern. Das Phänomen des Widerstands zeigt, dass der Heilungswunsch ambivalent erlebt wird. Das Bewusstsein, das aus dem ursprünglichen Leiden entsteht und dessen Wiedererlangung die notwendige Bedingung für die Heilung wäre, kommt aufgrund der starken Abwehr nicht zwingend zustande. Die Verzögerung und Verwirrung beim Bewusstwerden des eigenen Leidens, die in solchen Beispielen ablesbar sind, fordern die gängige Vorstellung vom Leiden heraus. Gewöhnlich wird das Leiden als eine subjektive Erfahrung verstanden, bei der die Betroffenen als einzige Autorität gelten, die über einen exklusiven Zugang zu dessen Inhalt verfügt und die Erfahrung als Leiden bestätigen darf. Nun scheinen, wie Freud die Phase vor der Behandlung beschreibt, die neurotisch Kranken eine Zeit lang einer unentschiedenen Selbsteinschätzung anheimzufallen. Ihre Reaktion darauf ist keineswegs selbstverständlich und impulsiv. Von dem Moment an, in dem die verdrängte Leidensquelle ihre Wirkung ausübt, bis zu der Zeit, in der ein Mensch aufgrund von Symptomen den eigenen mentalen Zustand argwöhnisch zu betrachten beginnt, schließlich etwas dagegen unternimmt und gegebenenfalls durch Psychotherapie das originäre Leidensbewusstsein wiedererlangt, handelt es sich um einen langsamen, graduellen Prozess, in dem den Leidenden die Verzögerung und Verwirrung bei jedem Schritt begleiten. Aufgrund der Unzulänglichkeit des Verdrängten kann die Kenntnis des eigenen Unbehagens durchaus brüchig und irreführend sein. Mit Bezug auf die Triebtheorie lässt sich sagen: Die „Unlustmotive“, die nach Freud tatsächlich impulsiv im Unbewussten drängen, rufen offenbar kein unmittelbares Leidensbewusstsein hervor. In pathologischen Fällen gelingt es den Kranken überhaupt nicht, ohne Hilfe von außen die kompletten Ursachen und den Inhalt ihres eigenen Leidens herauszuarbeiten. Sie brauchen einen „Übersetzer“, so Freud, der mit sucht und mit interpretiert.⁹⁷ Der Exkurs zu Freud macht eine einfache Wahrheit deutlich: Charakteristisch für das menschliche Leiden ist dessen Umwandelbarkeit in die Sphäre des Unbewussten. Das unbewusste Leiden spricht eine andere Sprache und folgt einer Logik, die ohne zusätzliche Aufarbeitung sowie Zusammenarbeit unverständlich bleibt und sich so als Leiden auch nicht heilen lässt. Freuds Untersuchungen zur
Vgl. „Die Verneinung“ in: Freud SA III, S. 371– 377. Der Vergleich mit der „Übersetzung“ soll das psychoanalytische Verfahren dabei keineswegs auf die kognitive Mitteilung reduzieren. Vgl. Habermas 1973a, S. 279 ff.
1.3 Kritik der naturalistischen Interpretation
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neurotischen Störung verleihen dieser Perspektive der menschlichen Leidenserfahrung eine konkrete und detaillierte Kontur. Wer die Lehre der Psychoanalyse für wahr hält und sie ernst nimmt, wie Adorno es tut, wird diesen psychoanalytischen Prämissen folgen.
1.3 Kritik der naturalistischen Interpretation In der Einleitung wurde erwähnt, dass in den bisherigen sozialkritischen Diskussionen Adornos Begriff des Leidens häufig pauschal und ohne psychischen Gehalt, das heißt idealtypisch diskutiert wird, wobei man das Leiden als einen eindeutig fühlbaren psychischen Zustand des Subjekts voraussetzt, der als Motivquelle fungiert und die Möglichkeit der Überwindung in sich birgt. Die Erfahrung des „Leidens“ soll nämlich für Adorno als eine Art Quelle zur normativen Orientierung dienen. Manche Autoren erklären die normative Gewissheit des Leidens dadurch, dass Adorno das menschliche Leiden wesentlich „physisch“ bestimme. Diese naturalistische Interpretation prägt die Rezeption besonders stark; exemplarisch für sie ist die folgende Bemerkung von Jay Bernstein: By speaking of suffering rather than injustice, Adorno placed the body at the forefront of moral experience. For him bodily suffering is the paradigm of social suffering; and bodily experiences of abhorrence, revulsion, and disgust at the suffering (bodily or otherwise) of others, together with compassion for suffering others, form the practical ground for ethical norms and practices.⁹⁸
Bernstein nimmt an, dass Adorno das Leiden als eine Widerstandskraft konzipiert und die subjektive Leidenserfahrung als eine Quelle von Normativität begreift. Diese Sicht zieht allerdings gleich mehrere Fragen nach sich. So ist es zunächst nur schwer nachvollziehbar, dass für einen Philosophen, der schon zu Beginn seiner wissenschaftlichen Entwicklung das Phänomen des Unbewussten ernst zu nehmen weiß und es philosophisch zu deuten versucht, das menschliche Leiden primär durch den körperlichen Schmerz charakterisiert sein soll. Ohne ins Detail zu gehen, kann man hier schlicht daran erinnern, dass alle sozialpsychologischen Schriften Adornos explizit auf die Psychoanalyse Bezug nehmen und die Wirksamkeit des Unbewussten und der Verdrängung voraussetzen.⁹⁹ Und wenn es so Bernstein 2005, S. 304 f. Die gesellschaftlich erzeugte Tendenz zur Verdrängung ist einer der Hauptpunkte von Adornos Sozialkritik: „Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird“, heißt es beispielhaft in seiner Kritik an der Kulturindustrie. In der Einleitung der 1950 veröffentlichten Studies in the Authoritarian Personality ist zu lesen: „For
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1 Die Grundlagen von Adornos psychoanalytischer Anthropologie
ist, dass Adorno „makes bodily suffering paradigmatic for social suffering“¹⁰⁰, kann kaum plausibel gemacht werden, wie sich die nicht immer fühlbare sozial verursachte Verdrängung und Repression überhaupt noch als schädlich und pathologisch diagnostizieren lässt, so wie es in allen sozialpsychologischen Schriften Adornos der Fall ist. Wenn die Qualität des gesellschaftlichen Leidens zudem durch die physische Abscheu zu erklären sein soll, muss man weiterfragen, ob sich die Behandlung des sozialen Leidens dann nicht auch am physischen Leiden orientieren kann. Die Lesart, Adorno bestimme das Wesen des Leidens physisch und es lasse sich ihm zufolge wie ein physischer Impuls ausdrücken, führt dazu, dass die unbewusst-psychische Komplexität des Leidens, die gerade die menschliche Psyche charakterisiert, gänzlich verloren geht. Mit den zwei Ansätzen vor Augen, die in diesem ersten Kapitel dargestellt wurden, wird deutlich, dass diese dominierende Interpretation den psychischen Gehalt des menschlichen Leidens in zweierlei Hinsicht einbüßt: Erstens verliert das „Leiden“ seinen explizierten epistemischen Bezug bei Adorno, der bereits sehr früh sämtliche Erlebnisse in einen Zusammenhang zum Vorgang des Denkens bringt. So weiß man nicht, ob und in welchem Sinne das Leiden die Rationalität beeinträchtigt und ob wir Menschen generell das Potenzial besitzen, uns aus dem Zustand des Leidens möglicherweise zu befreien. Zweitens widerspricht der Ansatz, das psychische Leiden, das eine unbewusste Tiefe in sich birgt und den komplexen sozialen Verhältnissen entspringt, durch den Schmerz zu definieren – als könne es von den Betroffenen auf eine eindeutig fühlbare Weise erlebt werden – der Grundlehre der Verdrängung. Dabei werden die oben beschriebenen „Grauzonen im Leiden“ nicht in Betracht gezogen, die jedoch für jeden, der die Lehre der Psychoanalyse ernst nimmt, von unentbehrlicher Bedeutung sein müssen. Anhand der Verdrängung und auch der Sublimierung ist sichtbar geworden, dass wir generell die seelische Fähigkeit zur unbewussten Umwandlung dessen besitzen, was wir erlebt haben. Dieses psychologische Faktum soll im nächsten Kapitel anhand von Adornos Begriff des Physischen weiter erläutert werden.
theory as to the structure of personality we have leaned most heavily upon Freud.“ (GS 9.1, S. 155) Auch in der der nachträglichen deutschen Vorbemerkung zu der 1952/1953 vorgelegten Studie zu Horoskopen „The Stars Down to the Earth“ macht Adorno deutlich: „Ihre wesentlich psychoanalytische Orientierung traf mit sozial-psychologischen Intentionen zusammen, wie sie das Frankfurter Institut für Sozialforschung seit der Publikation des Kollektivwerks über Autorität und Familie (1936) verfolgte.“ (GS 9.2, S. 11) Bernstein 2005, S. 305.
2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“ Um eine vereinfachte Vorstellung vom Leiden zu korrigieren, wurde im vorangegangenen Kapitel mit der klassischen Psychoanalyse, aber auch mit dem frühen Adorno gezeigt, dass all das, was wir bewusst erleben, zugleich unbewusst verarbeitet wird, und zwar auf eine Weise, die sich unserer Kontrolle weitgehend entzieht. Unsere Reaktion auf das Leiden geschieht daher keineswegs so instinktiv und impulsiv, wie dies beim Schmerz der Fall ist. Einerseits erlauben es unsere generell vorhandenen psychischen Fähigkeiten, Leidenszustände unbewusst zu verschieben und zu verdrängen und so zumindest für eine gewisse Zeit unempfindsam gegenüber dem eigenen Leiden zu sein. Andererseits sind die unterschwellig hervorgerufenen Reaktionen auf das seelische Leiden nicht eindeutig zweckmäßig, wie dies bei der Reaktion auf den körperlichen Schmerz der Fall ist. Die Interpretation, Adorno erfasse das Wesen des Leidens durch den Schmerz, kollidiert also mit der psychoanalytischen Kenntnis dessen, wie unsere Psyche funktioniert. Allerdings erinnert sie uns zugleich daran, dass in den Schriften Adornos selbst eine Unklarheit besteht, die eine Reduzierung des Leidens auf den Schmerz plausibel machen könnte. In der in diesem Zusammenhang am häufigsten zitierten Abhandlung „Leid physisch“ aus der Negativen Dialektik heißt es prägnant: „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ,Weh spricht: vergeh.‘“¹ Diese bekannte, freilich erklärungsbedürftige „Weh-Formel“ Adornos vermittelt den Eindruck, dass „Leiden […] für Adorno wesentlich physisch“² sei.Was hier aber unter dem „Physischen“ zu verstehen ist, ist höchst unklar. Diese Unklarheit hängt damit zusammen, dass Adornos Philosophie insgesamt an einer problematischen Beziehung zum Naturalismus leidet, was die Klärung eines kohärenten anthropologischen Konzepts bei ihm immens erschwert. Durch eine ganze Reihe fast irritierender substantivierter Adjektive, die als Stichworte dienen – neben dem „Physischen“ finden wir noch „das Leibliche“ und das „Natürliche“ –, wird das Gemeinte so vage, dass es sogar komplett gegenteilige Interpretationen hervorruft. So hält beispielsweise Albrecht Wellmer Adornos Rede von der „Naturhaftigkeit des Geistes“ für einen „Naturalismus, gewiss“³, während Herbert Schnädelbach Adorno einen „Kulturalismus“⁴ vorwirft, der jegliche Feststellung natürlicher Eigenschaften unmöglich mache. Und
Adorno GS 6, S. 203. Schmidt 1983, S. 24. Wellmer 2005, S. 238 f. Schnädelbach 2000, S. 128.
https://doi.org/10.1515/9783110642476-004
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
während Wolfgang Bonß Adorno dafür kritisiert, dass er mit der Triebtheorie einen „heimliche[n] Naturalismus“⁵ vollziehe, erkennt Alfred Schmidt bei ihm ein „Anthropologie-Verbot“⁶. Zwar liegt bei jedem dieser Autoren der Schwerpunkt anders; die diversen Zuschreibungen verweisen jedoch auf die grundsätzliche Schwierigkeit, sich zu vergewissern, welche menschlichen Eigenschaften als „natürlich“ und universal anerkannt werden dürfen. Man weiß nicht, ob Adorno überhaupt universal angelegte Eigenschaften von Menschen annimmt, deren Gültigkeit über die Diversität der Kulturen hinausgeht. Und selbst wenn dies der Fall ist, bleibt immer noch offen, was genau der Inhalt dieser Annahmen sein könnte. Dass das „Physische“ inhaltlich undefiniert bleibt, beeinträchtigt die eng damit zusammenhängende Problematik des „Leidens“. Es wird unverständlich, warum und zu welchem Zweck Adorno mit klarer Überzeugung von der Kraft der unbewussten Verdrängung spricht und seine nur allzu gute Kenntnis von der überall beobachtbaren Unempfindsamkeit gegenüber dem eigenen und dem fremden Leiden offenbart, und doch zugleich ein unmittelbar „Physisches“ hervorhebt. Wie bereits angekündigt, vertrete ich in der vorliegenden Studie die These, dass Adornos Begriff des Leidens implizit eine erkenntnispsychologische sowie erkenntniskritische Schicht beherbergt, was jedoch in der gesamten Forschung dazu entfällt. Um gezielt eine denkpsychologische Interpretation des „Leidens“ entwickeln zu können, ist es daher notwendig, das Leiden zunächst von der automatischen Assoziation des physischen Schmerzes zu entkoppeln. Zu diesem Zweck behandle ich in diesem Kapitel zwei Arten des Leidens, die wesentlich „physisch“ bedingt sind, gesondert: den Schmerz und den Tod. Beide Phänomene lassen sich für Adorno nur unter der Annahme einer unbewussten Umwandlung angemessen verstehen. Im ersten Teil möchte ich darlegen, dass es bei Adornos Überlegungen zum körperlichen „Schmerz“ in erster Linie nicht um eine Begründung der Sozialkritik⁷ oder einer bestimmten moralischen Einstellung geht, die sich gegen faktische Ursachen des physischen Leidens wie Folter und Krieg richtet.⁸ Zu diesem Zwecke ist eine Berufung auf den „Schmerz“ argumentativ nicht tragfähig, sondern würde die entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Phänomene tendenziell eher verkürzen. Sinnvoller erscheint es mir daher, die Rolle des Schmerzes bei Adorno ontogenetisch zu interpretieren. Mit seinem Hinweis auf David Humes
Bonß 1982, S. 409. Schmidt 1983, S. 22. So schreibt beispielsweise Früchtl: „Als wesentlich physisches, nicht anthropologisch-existenzialistisch gerechtfertigtes bietet das Leiden den wörtlich materialistischen Grund für Kritik“ (Früchtl 1986, S. 107). Vgl. Tiedemann 2009, S. 126.
2.1 „Ende des Individuums“?
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Sensualismus lässt sich der Schmerz als sinnliche Vorbedingung für die Genese der praktischen Rationalität verstehen, die gemeinsam mit der psychoanalytischen Annahme von der unbewussten Erinnerung einen Aspekt der Frage zu erklären vermag, wie sich unsere Fähigkeit zur Moral herausbildet. Wenn die Interpretation stimmt, dass die sinnliche Wahrnehmung für Adorno zugleich die Voraussetzung für die Entfaltung der moralischen Fähigkeiten des Menschen darstellt, deutet vieles darauf hin, dass er über ein positives Konzept hinsichtlich der Entwicklung des rationalen Subjekts verfügt. Davon ausgehend setzt sich der zweite Teil des vorliegenden Kapitels mit folgender Frage auseinander: Wenn Adorno anhand des „Physischen“ die geistige Entwicklung artikuliert – lässt sich dann die im Begriff des „Physischen“ implizierte „Sterblichkeit“ ebenfalls in diesem Zusammenhang deuten? Hier möchte ich zeigen, dass bei Adorno das Thema Tod tatsächlich untrennbar mit der individuellen Entwicklung zusammenhängt, und auch seine diesbezüglichen Überlegungen sich ohne die Voraussetzung eines unbewussten Seelischen nicht angemessen begreifen lassen. Die beiden Kapitelteile sollen nachweisen, dass die unbewusste Umwandlung sämtlichen menschlichen Erfahrungen zugrunde liegt, selbst solchen, die stark körperlich bedingt sind. Die Entfaltung des „Physischen“ gleicht daher dem Versuch, die Rolle des Unbewussten in Adornos Anthropologie herauszuschälen.
2.1 „Ende des Individuums“? Seit den 1970er Jahren etabliert sich eine Kritik, welche die anthropologische Problematik bei Adorno auf eine erhellende Weise zum Thema macht. Diese von Habermas in Bezug auf die Problematik „Ende des Individuums“⁹ eingeführte und von Jessica Benjamin psychoanalytisch weiterentwickelte Kritik weist auf eine bei Adorno selbst kaum explizierte Dimension hin. Beide Autoren unterwerfen nämlich Adornos sozialpsychologische Annahmen hinsichtlich ihrer entwicklungspsychologischen Implikationen einer Prüfung.¹⁰ Zunächst macht Habermas das anthropologische Faktum geltend, dass die Ausrichtung der subjektiven In-
Die Grundbedeutung der Problematik erklärt Habermas, gestützt auf ein Argument P. Bergers, so: „Die Einheit der Person verlangt die einheitstiftende Perspektive einer Ordnung garantierenden Lebenswelt, die zugleich kognitive und moralische-praktische Bedeutung hat: ,Separation from society […] inflicts unbearable psychological tensions upon the individual, tensions that are grounded in the root anthropological fact of sociality.‘“ (Habermas 1973b, S. 162 f) Die entwicklungspsychologische Kritik zielt vor allem darauf, dass Adornos psychoanalytische Annahmen von dem Paradigma der Intersubjektivität überholt worden seien. Die Widerlegung von Benjamins Kritik führe ich im Kapitel 5 durch.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
nenwelt untrennbar mit dem Verlauf der Sozialisation, also auch mit den normativen Ordnungen des gesellschaftlichen Umfeldes verbunden sei. Ohne sich an sozialen Normen orientieren zu können, gerate die Ich-Identität notwendig in eine Krise.¹¹ Davon ausgehend moniert Habermas, Adorno erkläre den „Tod des bürgerlichen Individuums“¹² aus dem Grund, weil er die Gesellschaft ausschließlich als eine das Individuum gefährdende Verwaltungseinheit begreife und der Sozialisationsprozess für ihn nichts anderes darstelle als einen Entfremdungsprozess. Anhand von Adornos eigenen Texten zeichnet Habermas nämlich ein antagonistisches Modell,¹³ in dem das Individuum und die Gesellschaft in einer konflikthaften Beziehung miteinander verstrickt bleiben. In diesem Modell, das Adorno zahlreichen seiner sozialkritischen Schriften einschließlich der Dialektik der Aufklärung zugrunde legt, wird der soziale Akteur generell als ein leicht manipulierbares, zu rationaler Reflexion und Handlung unfähiges Ich dargestellt. Jessica Benjamin erweitert Habermas‘ Kritik durch die Ansicht, dass ein solches Modell psychoanalytisch betrachtet selbstwidersprüchlich sei. Ihr zufolge übernimmt Adorno Freuds Darstellung der Ich-Entwicklung auf eine unkritische Weise. Da Freud das Ich als grundsätzlich konflikthaft und zu Pathologien neigend betrachte, könne auch Adorno die Herausbildung des Ichs nicht in der lebendigen sozialen Interaktion, sondern ausschließlich in der einseitigen „Internalisierung“ der elterlichen Autorität lokalisieren.¹⁴ Darüber hinaus stehe Adorno der frühen sozialpsychologischen Forschung über Autorität und Familie ¹⁵ nahe und ginge davon aus, dass sich unter den damaligen sozialen Umständen die politische Autorität hemmungslos in die Familie und somit auch tief in die Seele des Kindes einniste. Gemeinsam führen die Annahmen zwingend zu einem theoretischen Engpass, in dem eine gesunde Ich-Bildung von Anfang an un-
Habermas 1973b, S. 163. Habermas 1973b, S. 174. Hier bezieht sich Habermas auf den Aufsatz „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“, in: GS 8, S. 42– 85, hier S. 83. Dieser als eine Hauptquelle für die diesbezügliche Kritik geltende Text wurde laut Müller-Doohm von Adorno im Nachhinein als eine zu „den misslungenen Sachen“ zählende Arbeit bezeichnet (Müller-Doohm 2003, S. 589). Benjamin 1977, S. 42 ff. Zum prägenden Einfluss Erich Fromms in den frühen 1930er Jahren auf Adorno und die gesamte Ausrichtung des Instituts für Sozialforschung vgl. Fahrenberg/Steiner 2004. Fromm zieht in den 1930er Jahren die Psychoanalyse nicht nur zur Analyse von Individuen, sondern auch von Gruppen, Klassen und anderen sozialen Gebilden heran. In Anlehnung an Freud betont er, dass die Familie einen gravierenden Einfluss auf die Kinder habe, die Psyche des Individuums somit von Anfang an von den sozio-ökonomischen Verhältnissen mitstrukturiert werde. Die Familie fungiere als deren Medium und Agentur; vgl. Fromm 1932a, 1932b und 1935.
2.1 „Ende des Individuums“?
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möglich gemacht wird.¹⁶ Somit untergrabe Adorno theoretisch im Vorhinein auch das kritisch-rationale Potenzial des Einzelnen wie der Gesellschaft. Habermas kommt zu dem Schluss, dass Adorno letztlich über keine positiv fassbare Anthropologie verfüge, die es erlaube, die konstruktiven Bedingungen zur Herausbildung des autonomen Subjekts zu artikulieren. Es bleibe einem daher nichts anderes übrig, als seine Philosophie ausschließlich in einem negativistischdialektischen Rahmen zu verorten, der „sich der Forderung nach einer positiven Fassung von gesellschaftlicher Emanzipation und Ich-Autonomie entzieh[t]“.¹⁷ Zweifelsohne finden sich bei Adorno ausreichend Texte, mit denen man diese Kritik untermauern kann. Allerdings, so möchte ich zeigen, erschöpft sich sein anthropologisches Konzept nicht in seinen sozialkritischen Schriften. Die Stellen, auf die sich die von Habermas und Benjamin vertretene Kritik bezieht, sind aus zwei Gründen relativierbar und für die Rekonstruktion einer sachlich ausgerichteten Anthropologie verzichtbar: Sie gehören entweder in einen geschichtsphilosophischen Rahmen, der sich hauptsächlich mit der „Urgeschichte“ des Subjekts sowie der Naturbeherrschung befasst, oder sie bleiben wegen der polemischen Rhetorik, die Adorno häufig zur kritischen Darstellung der sozialen Missstände einsetzt, zweideutig.¹⁸ Ihnen lassen sich durchaus andere Passagen entgegensetzen, in denen Adorno die Entwicklung des autonomen Ichs im ontogenetischen Sinne betrachtet, das heißt jenseits ihrer Vermischung mit Geschichtsphilosophie und Gesellschaftsdiagnose. Interessanterweise beginnen diese Stellen oft mit dem, was scheinbar das „Physische“ bezeichnet. Im Folgenden möchte ich anhand des „Schmerzes“ und des „Todes“ einem Gedankengang Kontur verleihen, der als eine Alternative zu dem dominierenden Konflikt-Modell bei Adorno verstanden werden kann.
„[A]n infinitely manipulable id and an ego based upon individual self-interest deliver the subject passively into the grip of external social forces. In the fact of this impasse, Adorno chooses to be a partisan of the defeated ego.“ (Benjamin 1977, S. 52) Habermas 1976, S. 66. Axel Honneths Bestimmung der Dialektik der Aufklärung als „erschließende Kritik“ macht nicht nur deutlich, wie sehr das Verschwimmen der Grenze zwischen sachlichen und polemischen Aussagen die Rezeption dieses Werkes wie auch der Philosophie Adornos als Ganzer belastet (Honneth 2000a). Adornos Rhetorik bewusst als ein Mittel der Argumentation wahrzunehmen, erinnert zugleich daran, den reichen philosophischen Inhalt nicht ausschließlich auf die gezielte provokative Funktion der Sozialkritik zu reduzieren. Dass in Adornos Texten das Gemeinte oft zwischen kritischer Intention und sachlicher Begründung changiert, belastet vor allem die Frage, wie das Wesen des Menschen zu verstehen ist. Aus diesem Grund verzichte ich im Folgenden darauf, mich auf die beiden Aufsätze „Die revidierte Psychoanalyse“ (1952) und „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“ (1955) zu stützen, die üblicherweise die Hauptquelle für Adornos psychoanalytische Auffassungen bilden.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
2.2 Schmerz: Impression des Müssens In der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion gilt es als weitgehend anerkannt, dass die Normen der gesellschaftlichen Welt auf dem intersubjektiven Wesen des Menschen gründen.¹⁹ Sowohl die sprachliche Kommunikation als auch die Anerkennungsverhältnisse zeigen, wie wir Menschen vom Beginn unseres Lebens an durch soziale Interaktion dazu befähigt werden, uns an geteilten Normen zu orientieren, und dadurch rational denken und handeln zu können.²⁰ Die anthropologische Grundlage des Zusammenlebens besteht danach in der Sozialität der Menschen. Im fünften Kapitel werde ich mich kritisch mit der herrschenden Auffassung auseinandersetzen, dass Adornos Philosophie die konstitutive Rolle der zweiten Person nicht kenne. Zunächst möchte ich jedoch zeigen, dass sich bei Adorno neben dem durchaus vorhandenen Verständnis vom sozialen Wesen des Menschen ein wichtiger Theorieaspekt findet, der die physische Empfindung als eine Voraussetzung zur Herausbildung der normativen Fähigkeiten einschließt. Aufgrund der amalgamhaften „Weh-Formel“ in der Negativen Dialektik wird häufig angenommen, Moral gründe für Adorno auf der „Negation des physischen Leidens“²¹.Wie Bernsteins Interpretation zeigt, wird dabei das „physische Leiden“ oft mit der Schmerzempfindung gleichgesetzt. Der „Schmerz“ gilt dann als ein absolutes Übel, dessen Abschaffung selbst-evident und theoretisch unhintergehbar ist.²² In Verbindung mit seinem „neuen kategorischen Imperativ“ scheint Adorno die Aufgabe der Moral darin zu sehen, sämtliche Ursachen physischer Schmerzen zu bekämpfen. Allerdings ist es ziemlich fragwürdig, den körperlichen Zum intersubjektivistischen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Anthropologie und ihre Beziehung zu den Sozialwissenschaften vgl. Honneth/Joas 1980, besonders Kapitel 2 und S. 141– 155. Als die diesbezüglich maßgebenden Werke gelten Habermas 1981 und Honneth 1992, für ihre entwicklungspsychologischen Annahmen sind wiederum die Forschungsergebnisse von George H. Mead und der Objektbeziehungstheorie zentral. Meads Handlungstheorie geht davon aus, dass schon kleine Kinder mit dem Bewusstsein einer generalisierten Erwartung von Seiten der Anderen handeln. Denn das Subjekt lernt sich selbst nur dadurch zu deuten, dass es erfährt, wie es von Anderen wahrgenommen und gedeutet wird. Für die psychoanalytische Umorientierung von der subjektzentrierten Triebtheorie zur Objektbeziehungstheorie gilt Jessica Benjamins The Bonds of Love (1988) als Klassiker. Adorno GS 6, S. 203. Vgl. Grüny 2004, S. 33 f: „Adorno […] ist derjenige, der diesen Charakter des Protestes, des Aufbegehrens und des Widerspruches am deutlichsten in den Mittelpunkt gestellt hat. Er baut den Schmerz als zentrale Instanz der Kritik auf, die als Einspruch dienen kann gegen die idealistische Philosophie wie gegen die politische Situation der Gegenwart.“ (Vgl. auch Grüny 2004, S. 210 f.)
2.2 Schmerz: Impression des Müssens
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„Schmerz“ als zentralen moralischen und sozialkritischen Maßstab ansetzen zu wollen, und auch in seiner Überzeugungskraft eher schwach.²³ Nicht nur werden damit der Umfang und die Bedeutung der Moral auf eine schwer nachvollziehbare Weise allein auf das begrenzt, was den körperlichen Schmerz betrifft.²⁴ Auch verhilft eine theoretische Konzentration auf die Verletzbarkeit des Körpers oder den geschundenen Leib wohl kaum dazu, die faktisch herrschende Unmoral zu verstehen – sie geben einem keine rationale Erklärung dafür an die Hand, weshalb es Folter und das Zufügen von Schmerzen gibt. Im Gegensatz zu dieser unverhältnismäßigen normativen Aufwertung des „Schmerzes“ schlage ich daher vor, seine theoretische Rolle primär ontogenetisch zu interpretieren. Es gilt also, den „Schmerz“ nicht als ein aktuelles und objektives Ereignis, sondern in erster Linie als ein innerseelisches Geschehen zu deuten, das zugleich eine Voraussetzung für die Herausbildung moralischer Fähigkeiten darstellt. Für diese These liefert die folgende Stelle einen ersten Hinweis, in der Adorno festhält, dass […] dies ,Du sollst‘ […] ja ein metaphysisches, ein über die bloße Faktizität hinausweisendes Prinzip [ist] –, [und] daß das selber seine Rechtfertigung eigentlich finden kann nur noch in dem Rekurs auf die materielle Wirklichkeit, auf die leibhafte, physische Realität […].²⁵
Zwar bleibt an dieser Stelle weiterhin ungeklärt, wie die „physische Realität“ inhaltlich zu bestimmen ist; dass der Zusammenhang zwischen der normativen Welt und der physischen Welt jedoch im Sinne eines „Rekurses“ zu verstehen ist, deutet darauf hin, dass für Adorno der Geltungsanspruch des „Du sollst“ keineswegs einfach dadurch gerechtfertigt ist, dass man sich unmittelbar auf die
Das Unverständnis, das solche Interpretationen hervorrufen, formuliert z. B. Zuidervaart: „Implicitly, he [Adorno] argues that systematically inflicting physical pain on human beings is always abhorrent and that the societal conditions fostering and supporting such abhorrent conduct must be resisted and changed. But Adorno[’s] […] manner of justification is problematic in two respects. First, it ignores the fact that abhorrence, although it is a corporeal feeling, is itself culturally informed and ethically inflected […]. Second, his justification does not say why this feeling should have precedence over other feelings that also arise when people confront extreme suffering“ (Zuidervaart 2007, S. 69). Der Autor räumt also ein, dass es argumentativ wenig überzeugt, den körperlichen Schmerz zum unmittelbaren Ausgangspunkt für eine Kritik sozialer Missstände zu machen. Er fragt jedoch nicht konsequent weiter, ob die Einsicht in die mangelnde Überzeugungskraft dieser vermeintlichen Behauptung Adornos nicht nahelegt, zu hinterfragen, ob Adorno überhaupt auf eine so oberflächliche Argumentation zurückgegriffen hätte. Zieht man jedoch Adornos gesamte Philosophie und seine weiter rezipierte Kernthese vom „Vorrang des Objekts“ in der Negativen Dialektik mit in Betracht, dass also für Adorno selbst die Verwendung der Begriffe eine normative Bedeutung hat, erweist sich eine solche Definition von Moral als stark verkürzt. Adorno ME, S. 183, Herv. von Adorno.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
Faktizität der Verletzbarkeit des Körpers beruft. In der Tat besitzt die normative Aufforderung des „Sollens“ keine empirische Notwendigkeit, sondern lässt stets einen Freiraum für das Unterlassen. Dass ein „Sollen“ überhaupt realisiert wird, setzt allerdings immer voraus, dass die betreffende Person dazu motiviert ist, die Aufforderung auch auszuführen. Der Exkurs zu Freud hat gezeigt, dass ein Subjekt nur mit einer psychischen Instanz wie dem „Über-Ich“ aus seinem tiefsten Inneren motiviert ist, aus dem Gefühl der Scham und Schuld heraus moralische Prinzipien zu praktizieren – ganz ohne das subjektive Motiv zur Selbstgesetzgebung kann keine „normative Realität“ aufgebaut werden. Meines Erachtens lässt sich Adornos „Rekurs“ ebenfalls in dieser Weise begreifen: Die „leibliche Realität“ soll nämlich einen Aspekt dessen erklären, wie ein Subjekt die geistige Fähigkeit erlangt hat, ein unverbindliches „Sollen“ als ein verbindliches Müssen zu erfahren. Um dies genauer zu verstehen, ist Adornos Bezug auf Hume und dessen Sensualismus von zentraler Bedeutung: In den subjektiv sensuellen Daten wird jene Dimension, ihrerseits das dem Geist Widersprechende in diesem, gleichsam zu ihrem erkenntnistheoretischen Nachbild abgeschwächt, gar nicht so verschieden von der wunderlichen Theorie Humes, der zufolge die Vorstellungen, ideas – die Bewußtseinstatsachen mit intentionaler Funktion – blasse Abbilder von Impressionen sein sollen.²⁶
An den betreffenden Stellen erklärt Hume dies anhand des Beispiels,²⁷ dass das angenehme Gefühl der Wärme sowie der Schmerz beim Verbrühen gleichermaßen Adorno GS 6, S. 202. Diese Auffassung trägt Adorno erneut in der Vorlesung Philosophische Terminologie aus dem Jahre 1963 vor, als eine Auffassung hinsichtlich der Entstehung der Vernunft, die ihre frühesten Ursprünge bei Epikur hat: „Das Moment der sinnlichen Wahrnehmung […] ist bei ihm [Epikur] die alleinige und wahre Quelle der Erkenntnis, der gegenüber der Geist etwas durchaus Abgeleitetes, Unselbständiges, Sekundäres sein soll, so wie es dann später etwa auf der Höhe des Sensualismus bei Hume der Fall ist, bei dem ja bekanntlich die Ideen, also das begrifflich vermittelte Wissen geradezu gefaßt wird als ein blasses Nachbild der unmittelbaren, sensuellen, sinnlichen Gegebenheit.“ (Adorno PT, S. 555) „Every one will readily allow that there is a considerable difference between the perceptions of the mind, when a man feels the pain of excessive heat, or the pleasure of moderate warmth, and when he afterwards recalls to his memory this sensation, or anticipates it by his imagination. These faculties may mimic or copy the perceptions of the senses; but they never can entirely reach the force and vivacity of the original sentiment. Here therefore we may divide all the perceptions of the mind into two classes or species, which are distinguished by their different degrees of force and vivacity. The less forcible and lively are commonly denominated Thoughts or Ideas. The other species want a name in our language, and in most others; I suppose […] to rank them under a general term or appellation. Let us, therefore, use a little freedom, and call them Impressions; employing that word in a sense somewhat different from the usual. By the term impression, then, I
2.2 Schmerz: Impression des Müssens
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„Impressionen“ hinterlassen, aus denen sich die Ideen abstrahieren. Was im Moment physisch intensiv empfunden wird,vergeht, eine vage Aufnahmeform des Reizes mit abgeschwächtem Inhalt wird jedoch zu seinem „Nachbild“. Nimmt man sich hier auch ein wenig interpretatorische Freiheit und erinnert an Freuds Begriff der Triebrepräsentanz²⁸ und Adornos Begriff des „Seelendings“²⁹,könnte man vermuten, dass dieses „Nachbild“ nicht schlicht und einfach gegeben ist. Es muss vielmehr hervorgerufen, also durch die Kraft der Triebe repräsentiert werden: Eine mentale Arbeit, die im Unbewussten geleistet wird. Humes Zurückführung der Ideen auf ihren sinnlichen Ursprung (ohne hier zu bestimmen, um welche Arten von Ideen es sich handelt, so wie auch Adorno dezidiert außer Acht lässt, was eigentlich „gesollt“ ist) deutet darauf hin, dass Adornos schwer definierbarer Ausdruck des „Physischen“ sich in wenigstens einer Bedeutungsschicht als „sensuelle Empfindung“ bestimmen lässt. Die verblassten Abbilder machen weiterhin deutlich, dass Adorno an der sinnlichen Empfindung nicht allein irgendeine feste Beschaffenheit interessiert, sondern dass er an ihr vielmehr einen Umwandlungsprozess beobachtet. Mit dem „Physischen“ stellt Adorno also eine aus der Innenperspektive erfasste faktische Kontinuität zwischen der Sphäre der Körper, die die Naturgesetze befolgen, und derjenigen der rationalen Ideen auf. Das „Physische“ bzw. das „Natürliche“ verweist nicht auf eine Natur an sich, da aus der Innenperspektive des Subjekts das sinnlich Gefühlte notwendig ins Psychische übergeht und eine geistige Dimension erschließt.³⁰ So macht Adorno in einer Vorlesung klar: Unter primärer Natur [verstehe ich] zunächst einmal gar nichts anderes – damit Sie mich nicht bei diesem Begriff nehmen und sagen: ha nun ist der Adorno aus der Dialektik her-
mean all our more lively perceptions, when we hear, or see, or feel, or love, or hate, or desire, or will. And impressions are distinguished from ideas, which are less lively perceptions, of which we are conscious, when we reflect on any of those sensations or movements above mentioned.“ (Hume 1902, S. 17 f., Herv. von Hume) Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1.2.2. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1.1.1. Honneth und Menke erkennen in diesem Punkt gerade die Aktualität von Adornos Philosophie: „Hier, wo Adorno […] traditionelle Entgegensetzungen in Frage stellt und herkömmliche Lösungsvorschläge ins Wanken bringt, indem er das nicht-stillstellbare Kontinuum zwischen vorgeistiger Strebung und geistiger Idealisierung aufreißt, steckt wohl die wahre Zeitgenossenschaft seines Denkens. In beiden Richtungen dieses Kontinuums, sowohl nach unten, in den Bereich vorgeistiger Wurzeln, wie nach oben, in die Sphäre der Kantischen ,Ideen‘, gelangt die subversive Aktualität der Philosophie Adornos heute zur Geltung.“ (Honneth/Menke 2006, S. 7) Der hier hinsichtlich der praktischen Fähigkeit und der sinnlichen Empfindung dargestellte Rekurs gilt als ein Aspekt dieser Kontinuität. Auch in den folgenden Kapiteln wird eine solche Kontinuität aufgezeigt.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
ausgefallen! –, […] als die Momente, die objektiven Momente, auf die das erfahrende Bewußtsein trifft, ohne daß diese Momente selbst ihm als ein von ihm bereits Vermitteltes bestimmt wären.³¹
Anders als unterstellt, ist mit der „primären Natur“ bei Adorno also weder eine äußere Natur noch irgendeine innere ,natürliche‘ Eigenschaft benannt. Wenn bei ihm von der „primären Natur“ die Rede ist, geht es vielmehr immer darum, wie etwas von uns „als“ Natur „erfahren“ wird und was diese Prozesse für uns bedeuten.³² In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Sonderstellung der Schmerzempfindung näher erläutern. Allgemein betrachtet hat der Schmerz zwei Eigenschaften, die unsere Naturanlage zutage fördern: Er ist instinktiv und impulsiv. Der instinktive Charakter des Schmerzes verweist auf die angeborene Fähigkeit, präreflexiv eine physische Reaktion hervorzurufen, die sich gezielt gegen den Schmerzzustand wendet und der Aufrechterhaltung des Lebens des Einzelnen und der Gattung dient.³³ Der impulsive Charakter hingegen hebt nicht die Ausrichtung hervor, sondern die gewaltsame Entäußerungsform – er erklärt mithin das im Schmerz liegende Potenzial, das notwendigerweise eine Handlung auslöst. Im Unterschied zum Wohlgefühl besitzt also der Schmerz die Impulsivität, die erklärt, wie ein Menschenwesen auf eine primitive Weise dazu genötigt wird, das unmittelbare Unwohlsein überwinden zu wollen. In jenen sinnlich-gedrängten imperativischen Momenten, die wir schon als Neugeborene erleiden, wird demnach nicht irgendein bestimmter normativer Inhalt erfahren, sondern der Prototyp des praktischen Müssens am eigenen Leibe erlebt. Die Empfindung des Schmerzes führt also zu einer Art „Erkenntnis“ (worauf die „Weh-Formel“ hinweist), die aber nicht lediglich kognitiv ist. Vielmehr wird sie physisch empfunden, und zwar als eine, die unmittelbar in einer sehr primitiven, d. h. höchst reaktionären Form Handeln auslöst. Die Erfahrung von Schmerz ist gewissermaßen die primitivste Erfahrung eines praktischen Wissens, eines Wissens mit einer Gewissheit bezüglich der Wertung und einer unmittelbaren Handlungsmotivation.
Adorno LGF, S. 175. In diesem Sinne lässt sich auch die folgende Stelle deuten: „[D]urchs somatische Moment wird die Empfindung nicht zur reinen Unmittelbarkeit. Die Insistenz auf der Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren ist das Modell dialektischen Denkens schlechthin.“ (Adorno GS 5, S. 160) Vgl. den Eintrag zum „Instinkt“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie: „,Instinkt‘ wird zunächst die in bestimmten Grundantrieben des Lebens wurzelnde angeborene Fähigkeit zu artmäßig verschiedenen, vorbewußt zweckmäßigen Handlungs- und Tätigkeitsweisen genannt.“ Ritter u. a. (Hg.) 2007, Bd. 5, S. 409.
2.2 Schmerz: Impression des Müssens
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In diesem ontogenetischen Kontext wird deutlich, dass Adorno den Begriff des Schmerzes idealtypisch verwendet, das heißt, trotz seiner scharfsinnigen Beobachtung alltäglicher Phänomene sowie seiner psychoanalytischen Einsichten berücksichtigt er die partikuläre, empirische Variabilität des Schmerzes bei seiner Einführung offensichtlich nicht.³⁴ Wie Ulrich Kohlmann bemerkt: „Schmerz als Indikator von Verletzung kann seine lebenserhaltende Funktion nur dann erfüllen, wenn er als unabweisbares Übel perzipiert wird. Läßt sich von einem ,apriori‘ begründet sprechen, so hier.“³⁵ Die Bezeichnung „apriorisch“ scheint zunächst wegen des empirischen Wesens des Schmerzes in geradezu auffälliger Weise unangebracht zu sein; sie verweist jedoch gerade darauf, dass der unmittelbar empfundene Schmerz einen elementaren und vorgängigen Wertbezug bereithält, der für alle Menschen gleichermaßen gültig ist. Die sinnliche Empfindung ist aber nur ein Anfang. Erinnert man sich an dieser Stelle an die Neurosenlehre der Psychoanalyse,³⁶ weiß man, dass sich das organische Wohl- oder Unwohlsein im Unbewussten in dessen radikales Gegenteil verkehren kann. Masochisten beispielsweise können eifrig im eigenen Schmerz nach Lust suchen; was für den Organismus schädlich ist, kann auf dem Weg des Triebschicksals erstrebenswert erscheinen, und was als physisch leidvoll zu vermeiden ist, kann unbewusst motivational wirken. Die Umwandlung geschieht auch keineswegs nur in der pathologischen Entwicklung. Die intellektuelle oder künstlerische Leistung zeigt, dass Menschen im Alltag durchaus Tätigkeiten ausüben und nach Werten streben, die sich nicht nach der Erfüllung der Organlust richten. Die geistige Kreativität ist, wie Freud erklärt, zwar von den Sexualtrieben veranlasst, ihre Libido ist jedoch weitgehend desexualisiert und sublimiert. Ob Perversion oder Sublimierung – die unbewusste Umwandlung zeigt, dass der Naturgesetzen folgende Schmerz den Inhalt des „Sollens“ nicht unmittelbar bestimmt. Daher ist Adornos folgender Hinweis von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Das „Körperliche“ „ragt“ noch in die „Dimension von Lust und Un-
Auch ohne sich auf psychosomatische Theorien berufen zu müssen, wissen wir heute (und weiß zweifelsohne auch Adorno), dass der Schmerz in der realen Lebenswelt nie lediglich als körperliche Empfindung vorkommt, sondern immer zugleich in einem persönlichen und sozialen Kontext auftritt. Seitens der Psychoanalyse wird dies von umfangreichen Fallstudien belegt. Eine kulturanthropologische Untersuchung des Schmerzes findet sich beispielsweise bei Kleinman 1988. Von der medizinischen Forschung wurde in den 1960er Jahren eine systematische Theorie zur psychischen Bedingtheit des Schmerzes vorgelegt; vgl. Horn/Munafo 1997, S. 1– 31. Kohlmann 1997, S. 139, Herv. M.-C. L. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1.2.1.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
lust“ hinein.³⁷ Für jeden, der Adorno vor dem Hintergrund der Psychoanalyse liest, besitzen die Begriffe „Lust“ und „Unlust“ nicht nur eine alltagssprachliche Bedeutung. Sie sind nicht länger eine physiologische, sondern eine psychoanalytische Kategorie. Adorno führt nämlich Freuds „Unbewusstes“ und Humes Sensualismus zusammen: Es sind die anfänglichen Impressionen, die nun unbewusst werden. Die bis ins Unbewusste vollzogene Umgestaltung „des Physischen“ widerlegt jedoch die sensualistische Begründung der Normen nicht, sondern bestätigt sie. Denn selbst die radikal verkehrte Lust und Unlust setzt noch immer die leiblich erfahrene Differenzierung zwischen dem Guten und dem Übel voraus.Wie sich eine Person in der normativ komplizierten Lebenswelt orientieren und verhalten soll, können ihr die primären physischen Empfindungen nicht beibringen; das vielgestaltige „Sollen“ kann bei einem Kind nur durch den Prozess der Sozialisierung und durch zwischenmenschliche Interaktionen zu einem höchst persönlichen Müssen werden, sodass bestimmte Prinzipien und Maßstäbe einer Person nicht nur als wertvoll erscheinen, sondern mit unbewusster Lust oder Unlust motivational als zwingend erlebt und praktiziert werden. Das normative Wissen ist für Adorno wesentlich ein gefühltes Wissen, auch wenn das „Gefühl“ längst von einem körperlichen in ein unbewusst seelisches umgewandelt ist. Erst mit der psychischen Umwandlung des primären Wertbezuges ergibt sich der Raum für positive wie negative soziale Beeinflussungen und somit auch der Raum der Freiheit, der uns vom Tier unterscheidet.
2.3 Tod im Unbewusstsein Ich [möchte] nun doch noch einmal ausdrücklicher sagen: Die Beziehung zum Leib […] ist wesentlich die Beziehung zum Tod, […] dem wir alle bis heute unterworfen sind […].³⁸
Bei Adorno den „Schmerz“ ontogenetisch zu deuten, birgt einen eindeutigen Vorteil: Es eröffnet sich eine Innenperspektive des Subjekts, welche die zentrale Auffassung der Psychoanalyse integriert, wonach Denken und Handeln begleitet sind von unbewussten Gefühlen und Erinnerungen. Erkennt man als Voraussetzung von Adornos Anthropologie an, dass die unbewusste Psyche die individuelle geistige Entwicklung mitgestaltet – selbst in der primitiven physischen Empfindung –, dann lässt sich weiter fragen, wie Adorno wohl die Endlichkeit des physischen Lebens begreift. Die Verwundbarkeit und Sterblichkeit des Körpers
Adorno GS 6, S. 202, Herv. M.-C. L. Adorno PT, S. 516.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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sind schließlich, wie Freud erkennt, die universale Quelle des psychischen Leidens.³⁹
2.3.1 Die Lebensnot aufhebbar Im Unterschied zum Schmerz formuliert Adorno seine Überlegungen zum Tod nicht in einem rein anthropologischen oder ontologischen Sinne. In seiner unablässigen Kritik an Heidegger macht er deutlich, dass jede Rede über Tod und Sterblichkeit, die die mitwirkenden sozialen und politischen Verhältnisse sowie die in ihnen implizierte Ideologie unberücksichtigt lässt, eine illegitime Abstraktion darstellt. Bei Heidegger sieht Adorno gar eine „Todesmetaphysik“⁴⁰ am Werke, die den Tod aus der Realität heraushebt und glorifiziert. Denn „Tod“ und „Sterben“ sind für Adorno im Wesentlichen eine soziale Erfahrung, oder genauer gesagt, eine Erfahrung des Sozialen. Das bedeutet, dass nicht die Natur bestimmt, wie das Faktum des Todes das Individuum beeinflusst und wie es in das Unbewusste integriert wird, sondern die Gesellschaft, der das Individuum zugehört. Gerade an dem generell existenzialistisch getönten Thema Tod expliziert Adorno eine bis in die tiefsten Schichten reichende Korrelation zwischen der subjektiven Selbstentwicklung und den Formen der Vergesellschaftung, die keineswegs nur negativ oder konflikthaft ist. Deswegen verbindet Adorno das Thema zunächst stets mit dem Begriff der „Selbsterhaltung“, bei dem es in erster Linie nicht um das Leben des Einzelnen, sondern um das kollektive Überleben der Menschheit geht. Adornos Verwendung des Begriffs der „Selbsterhaltung“ ist stark von der Freud‘schen „Lebensnot“ geprägt. Die Letztere verweist zunächst auf die materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Selbsterhaltung,⁴¹ ihre Bedeutung ist aber nicht nur ökonomisch. Freud wie auch Adorno erläutern mit diesem Terminus den phylogenetischen Ursprung der kollektiven Verdrängung.⁴² Wie in einer späten Resonanz auf seine Habilitationsschrift von 1927 macht Adorno in
Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1.2.4. Vgl. Adorno ME, S. 202– 204. Adorno GS 10.2, S. 633. Dies gilt als zentrales Thema in der bisherigen Diskussion zu Adornos Freud-Rezeption. Vgl. Schmid Noerr 1990, Teil I; Rantis 2001.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
seiner letzten Vorlesung aus dem Jahre 1968⁴³ erneut auf Freuds Begriff der Lebensnot aufmerksam: Das Motiv der menschlichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken. Also die ewige, urzeitliche, bis auf die Gegenwart fortgesetzte Lebensnot.⁴⁴
Das Zitat enthält die einleitende These Freuds, dass zwischen dem Zusammenleben der Menschen und der Triebbefriedigung des Einzelnen eine unlösbare Spannung bestehe, der sich keine Gesellschaft entziehen könne. In dieser Vorlesung von 1916/17 erklärt Freud, die Tatsache, dass die Menschen überhaupt zu einer Art kooperativen Zusammenlebens gelangen, sei letztlich eine erzwungene Wahl. Unter den harten objektiven Lebensverhältnissen in der Urzeit waren die Menschen genötigt, sich zu einem Arbeitsbund zusammenzuschließen, damit durch die geteilte Arbeit die Überlebenschancen aller Mitglieder erhöht wurden. Die materielle, produktive Arbeit ist nach Freud die erste Form der Triebsublimierung, die aus dem ökonomischen Zwang entstanden ist. Unter der Kategorie von Lebensnot und Selbsterhaltung versteht Adorno wie Freud, dass das menschliche Zusammenleben mithilfe eines kollektiv erlernten Triebverzichts gestaltet wird. Ein gemeinsames längeres, erträgliches Leben wird erst durch unzählige innerliche Triebverschiebungen oder Verdrängungen jedes Mitgliedes einer Gesellschaft ermöglicht. Geschildert wird also das von Freud aufgestellte und von der Dialektik der Aufklärung übernommene Erklärungsmodell des dauerhaften Triebverzichts aufgrund des Widerstreites zwischen den diversen Wünschen des Individuums und den zugunsten des gemeinsamen Lebens etablierten Einschränkungen. Für Adorno gehört tatsächlich zum „Wesen einer Sache“, wie Thorsten Bonacker bemerkt, „ihre Genesis, das heißt ihre historische Bedingtheit und Kontingenz“⁴⁵. Da die reale Not zum Überleben das Urmotiv des Triebverzichts darstellte, tragen für Adorno alle Arten daraus entstandener Ordnungen und Normensysteme auch etwas Primitives in sich, aber nur insofern, als die Bedin-
Adorno ES, S. 188. Schon in seiner ersten Habilitationsschrift zitiert Adorno diese Stelle zum Schluss, um seine erkenntnistheoretische Arbeit nachträglich um ihre möglichen sozialkritischen Implikationen zu ergänzen (Adorno GS 1, S. 321 f.). Freud SA I, S. 308. Bonacker 2000, S. 52. Im Unterschied zu Bonacker sehe ich bei Adorno jedoch nicht nur einen genetischen, sondern auch einen essenzialistischen Ansatz, den seine psychoanalytisch sowie denkpsychologisch fundierte Anthropologie zur Geltung bringt.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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gungen, die Einfluss darauf ausüben, unreflektiert bleiben. Dazu gehören unsere ökonomischen und politischen Systeme, die Moral, das begriffliche Denken, bis zur Erfahrungsweise der eigenen Sexualität und des Vergnügens.⁴⁶ Kurz, die von uns errichtete zweite Natur betrachtet Adorno als eine, die weitgehend durch Triebkonflikte und Repression gestiftet ist. Mithilfe der psychoanalytischen Grundthese, dass das, was verdrängt wurde, notwendig zurückkehrt, dass sich die Triebkonflikte nach der Verschiebung also auf eine pathologische Weise wieder äußern, wird die menschliche Geschichte von Adorno vorwiegend als eine Geschichte der Repression rekonstruiert.⁴⁷ Für diese Geschichtsnarration ist die Dialektik der Aufklärung exemplarisch und ohne diese Annahme wird für Adorno auch das Geschehen des Holocaust nicht erklärbar.⁴⁸ In dieser Hinsicht scheint sich Adorno nicht von Freud abzugrenzen. In jener Vorlesung aus den Jahren 1916/1917 stellt Freud allerdings nicht nur das genannte ökonomische Motiv der Verdrängung heraus, sondern fügt am Ende hinzu, dass die Lebensnot „ewig, urzeitlich, bis auf die Gegenwart fortgesetzt“⁴⁹ sei. Im Hinblick auf diese letzte Bemerkung, die sich auf die Zukunft bezieht, distanziert sich Adorno klar von Freud. Denn unser Zeitalter ist längst ein anderes. Adornos kritisches Abstandnehmen wird in seinen späteren Schriften immer deutlicher, etwa wenn er sagt, dass nach dem Stand der Produktivkräfte, eine Einrichtung der Welt, in der kein Mangel und infolgedessen keine Versagung und kein Druck mehr wäre, heute hier unmittelbar möglich ist.⁵⁰
Adorno vertritt nämlich keine pessimistische Geschichtsphilosophie, sondern sieht die objektive Möglichkeit zur Realisierung eines guten individuellen sowie gemeinsamen Lebens als vorhanden an. Er stimmt zwar Freud darin zu, dass ohne den realistischen Triebverzicht die Sicherheit und Freiheit gewährleistende materielle Produktivität unmöglich gewesen wäre,⁵¹ da über weite historische Strecken die Menschen eine vergleichsweise geringe Kontrolle über die Naturgewalten, Krankheiten oder die lebenserhaltenden Ressourcen hatten. Die hohe
“,Work while you work, play while you play‘„ – in Sprüchen wie solchen erkennt Adorno, inwiefern die kapitalistische Organisation der Arbeit auch unsere privaten Formen von Lust und Vergnügen reguliert (siehe Adorno GS 8, S. 159 – 161). Vgl. Schmid Noerr 1990, S. 54 ff. Zu Adornos sozialpsychologischer Analyse des Antisemitismus vgl. Pohl 2006 sowie Söllner 1983. Freud SA I, S. 308. Adorno VND, S. 75. Vgl. Adorno PT, S. 525.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
Produktivität der Industrialisierung seit der Moderne stellt Adornos dialektischem Denken zufolge allerdings einen entscheidenden Wendepunkt dar: Sie hat die Gegenmittel zur Linderung der Not für die gesamte Menschheit bereitgestellt.⁵² Mit diesem qualitativen Sprung der objektiven Bedingungen ist nach Adorno, im Unterschied zu Freud, längst eine neue Art der Triebregulierung vorstellbar und realisierbar geworden, eine, die nicht stets versagt und verdrängt werden muss. Paradoxerweise hat nämlich auch die instrumentelle Vernunft, die der Beherrschung der äußeren wie der inneren Natur dient, die Bedingungen für ein nicht repressives Zusammenleben geschaffen. Daher steht Adorno der technischen Entwicklung nicht, wie so häufig unterstellt wird, feindlich gegenüber: „[D]ie Technik als Technik [ist] weder gut noch böse“, heißt es, und dass „sie wahrscheinlich eher gut“⁵³ sei. Mit der Verbesserung der äußeren materiellen und ökonomischen Bedingungen können so auch neue Formen der Triebregulierung entstehen. Sobald man erkannt hat, dass die äußeren Bedingungen für einen gemeinsamen sozialen Wohlstand sowie für eine dem Individuum förderliche Triebregulierung bereits vorhanden sind, ergibt sich auch die Möglichkeit, dies institutionell umzusetzen. An dieser Stelle lässt sich daran erinnern, dass Adorno seine Vorlesung zu den Problemen der Moralphilosophie mit dem Satz schließt: „[D]ie Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik.“ ⁵⁴ Die Ziele des Zusammenlebens lassen sich bereits neu bestimmen – was noch fehlt, sind nach Adorno das kollektive Bewusstsein dafür und der gemeinsame Wille.
Im Zusammenhang zum Marxismus und zur Denkbewegung des 19. Jahrhunderts markiert Geuss die Unterscheidung zwischen „historically surperfluous and historically necesssary forms of human suffering“, die auch für Adorno zutrifft: „In societies with low productive power and rudimentary means of transport, hunger may be an unavoidable and virtually universal concomitant of human life; in modern societies we have the technological capacities to feed everyone, and so hunger is ,objectively superfluous‘ in a way it was not in the Bronze Age. Hunger in the modern world results from social and legal arrangements – the distribution of entitlements – that could in principle be changed. The members of the Frankfurt School were not in any sense orthodox Marxists, but their Critical Theory stands in this tradition in that the main object of their theoretical interest was the continued existence of superfluous suffering in a world in which it could actually be abolished.“ (Geuss 2005a, S. 4) Adorno/Gehlen SW, S. 237 f. Adorno PM, S. 262.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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2.3.2 „Aggressivität ganz verschwunden“ Adornos von Freud abweichende Ansicht, dass der objektive Fortschritt der gesellschaftlichen Einrichtungen die Triebdynamik der Menschen gründlich ändern wird, ist keine randständige Bemerkung, sondern hat eine systematische Bedeutung. Denn Adorno artikuliert diese Auffassung nicht nur auf der sozialpsychologischen Ebene, sondern entsprechend auch auf der Ebene der individuellen Psyche. Dies wird vor allem dort deutlich, wo es um die Annahme einer angeborenen Aggressivität geht – und damit um ein Thema, das in der Rezeption der Psychoanalyse innerhalb der Kritischen Theorie ganz zentral ist. Um die Problematik darzustellen, beziehe ich mich im Sinne einer Einführung zunächst auf eine Debatte zwischen Axel Honneth und Joel Whitebook, in der es um die Bestimmung dieses Triebes geht. Der Dissens in der zwischen 2001 und 2003 geführten Auseinandersetzung zwischen Axel Honneth und Joel Whitebook⁵⁵ bezieht sich hauptsächlich auf die Frage, inwieweit der „Trieb“ sozialisierbar sei. Strittig ist nämlich, ob der von Freud angenommene asoziale, aggressive Trieb angeboren sein soll und ob die „Konfliktnatur“⁵⁶ sowohl innerhalb unserer Psyche wie auch zwischen Individuum und Gesellschaft in der an der Objektbeziehungstheorie orientierten Anerkennungstheorie „in radikaler Weise […] reduzier[t]“⁵⁷ sei. In dieser Debatte steht Adorno nicht im Zentrum, man kann im Hinblick auf diese wichtige Frage jedoch gut bei ihm ansetzen. Whitebook bezieht sich in der Entfaltung seines Beweisganges gelegentlich auf Adorno in der Annahme, dass auch er eine natürlich angeborene Aggressivität voraussetze: Hinsichtlich der Psychoanalyse hatt[e] Adorno […] [eine] prinzipiell […] negative Einschätzung des Ich […]. [Ihm] galt das Ich nicht als locus der Realitätsprüfung und Wahrheit, sondern als Werkzeug der abwehrenden Entstellung oder méconnaissance [Verkennung]. Diese negative Bewertung des Ich bewog Adorno […], auf den frühen Freud, den Psychologen des Unbewußten, zurückzugreifen, seiner späteren Strukturtheorie dagegen mit Mißtrauen zu begegnen. […] Adorno [verstand] das Unbewußte in traditionellen biologischen Vorstellungsformen, […] bewertet[e] […] das Unbewußte […] als eine nicht assimilierbare Quelle der Negativität, die nutzbar gemacht werden konnte, um der bürgerlichen Welt Widerstand entgegenzusetzen.⁵⁸ Selbst wenn man nicht in Adornos Lob der „negativen Dialektik“ und des „Nicht-Identischen“ einstimmen will, scheint es mir doch selbstevident zu sein, daß der Konflikt zwischen
Siehe Honneth 2001; Whitebook 2001, 2003a. Einen Überblick der Debatte gibt Brede 2004. Whitebook 2001, S. 765. Whitebook 2001, S. 765. Whitebook 2003a, S. 251 f.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
Individuum und Gesellschaft – und innerhalb der Psyche des Individuums – für eine kritische Theorie der Gesellschaft grundlegend ist.⁵⁹
Whitebook geht nämlich davon aus, dass sich die konflikthafte und irrationale Realität ohne die Annahme eines natürlich gegebenen asozialen Destruktionstriebes nicht erklären lässt. Die Frage ist nun, ob Adorno tatsächlich Whitebooks Auffassung teilt, dass die bestehenden Konflikte in der Selbstbeziehung wie in den gesellschaftlichen Beziehungen auf eine nicht erziehbare „negative“ Kraft in uns zurückzuführen sein sollen, und das Ich „prinzipiell negativ einschätzt“ – ob also für Adorno die Menschen als soziale Wesen generell nicht in der Lage seien, ein nicht-konflikthaftes Innen- und Zusammenleben zu stiften. Es wäre sicherlich falsch, die vielen Textbelege bei Adorno, die diese Lesart unterstützen, nicht anzuerkennen. Allerdings scheint es mir genauso falsch zu sein, die reichen theoretischen Perspektiven, die sich bei ihm ebenso finden lassen, zu ignorieren und damit seine gesamte Philosophie auf bestimmte sozialkritische Schriften zu reduzieren. Um zu klären, ob die Aggressivität Adornos Auffassung nach natürlich oder kulturbedingt entstanden ist, hilft zunächst ein kurzer Rückblick auf Freud.Wie im letzten Kapitel erläutert wurde, hat Freud nach langjährigen Überlegungen⁶⁰ 1920 in Jenseits des Lustprinzips festgestellt, dass nicht alle Triebe dem Leben dienen und dass es psychische Aktivitäten gibt, die nicht die Selbsterhaltung, sondern die Selbstdestruktion und schließlich einen Nullzustand (Nirwana) als natürliches Ziel beinhalten. Freud beobachtet an Unfalltraumata und Kriegsneurosen wiederholt Zwangsgedanken, welche die Betroffenen auf eine peinigende Weise immer wieder zu jenem Entsetzen zurückkatapultieren, dessen Funktion sich nicht mehr dem vorherigen Lustprinzip zuordnen lässt. Mit der Überzeugung, alle psychische Aktivität setze eine entsprechende Naturanlage voraus, zieht Freud einen ungewöhnlichen Schluss: „[A] lles Lebende [stirbt] aus inneren Gründen. […] Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende.“⁶¹ Damit dreht Freud die gängige biologische Einstellung um: Lebewesen streben nicht mehr nach Leben, sondern nach einem absoluten Nullzustand; alle Triebe und Kräfte, die uns bewegen, wollen letzten Endes „das Leben in den Tod überführen“⁶². Nach Freud können wir nur mit einer solchen verkehrten biologischen Annahme die
Whitebook 2003a, S. 251. Zur Entstehungsgeschichte des von der Libido unabhängigen Todestriebes siehe die editorische Vorbemerkung zu „Das Unbehagen in der Kultur“ (Freud SA IX, S. 193 – 196). Freud SA III, S. 248, Herv. von Freud. Freud SA III, S. 258.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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destruktiven Phänomene in der Realität erklären: „Das Lustprinzip scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen.“⁶³ Bekanntlich meint der „Todestrieb“ nicht nur den wörtlichen Trieb zum Tode, vielmehr werden ganz verschiedene Themen darin zusammengefasst.⁶⁴ Der Todestrieb umfasst zugleich die „Tendenz des Übergangs vom Organischen zum Anorganischen“, die „Tendenz zur ,Reduktion der Spannungen‘“ im Triebleben sowie das Phänomen eines „primären Masochismus“ und der „Autoaggression“.⁶⁵ Über die Aggression schreibt Freud explizit in „Das Unbehagen in der Kultur“, wo die Beziehung zwischen dem egozentrischen Individuum und dem Zusammenhalt der Gesellschaft als wesentlich widersprüchlich dargestellt wird: Infolge [der] primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten.⁶⁶
Diese Ansicht, die Freud in seiner späten Phase immer nachdrücklicher vertritt und in der Whitebook Adornos Zustimmung wiederzufinden glaubt, bestreitet Adorno aber mit klaren Worten. Er betrachtet die Feindseligkeit keineswegs als im Menschen angelegt, sondern erklärt sie als das Resultat einer falschen Erziehung und Gestaltung der Gesellschaft. Da Adornos diesbezügliche Sicht generell wenig berücksichtigt wird, zitiere ich ihn hier in voller Länge: Da aber die Charaktere insgesamt, auch die, welche im späteren Leben die Untaten verübten, nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren. Ich nannte Ihnen Freuds These vom Unbehagen in der Kultur. Sie ist aber umfassender noch, als er sie verstand; vor allem, weil unterdessen der zivilisatorische Druck, den er beobachtet hat, sich bis zum Unerträglichen vervielfachte. Damit haben auch die Tendenzen zur Explosion, auf die er aufmerksam machte, eine Gewalt angenommen, die er kaum absehen konnte. Das Unbehagen in der Kultur hat jedoch – was Freud nicht verkannte, wenn er dem auch nicht konkret nachging – seine soziale Seite. Man kann von der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt reden, einem Gefühl des Eingesperrtseins in einem durch und durch vergesellschafteten, netzhaft dicht gesponnenen Zusammenhang. Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, daß man herauskann.⁶⁷
Freud SA III, S. 271. Vgl. Laplanche 1985. Laplanche 1985, S. 159 f. Freud SA IX, S. 241. Adorno GS 10.2, S. 676.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
Adorno korrigiert Freud demnach dahingehend, dass er die empirisch beobachtbare Aggressivität und Gewalt naturalisiere. Die Feindseligkeit lässt sich durchaus aufheben, und zwar auf zwei Wegen: durch die richtige Sozialisation in der frühen Kindheit und durch eine richtige institutionelle Gestaltung des Zusammenlebens. Die Überzeugung, dass die destruktive Tendenz zum sozialen Konflikt nicht angeboren sei, vertritt Adorno konsequent. Während er im obigen Zitat noch im Rahmen einer makrologischen Zivilisationskritik verbleibt, die seine Abgrenzung gegenüber Freud nicht unmittelbar zum Ausdruck bringt, macht er in einer anderen Vorlesung seine Auffassung vom Wesen der „Aggressivität“ unmissverständlich deutlich: Es wäre aber unterdessen bereits möglich, die Gesellschaft so zu organisieren, daß sie in einer völlig rationalen Weise aus viel kleineren und friedlich miteinander existierenden Einheiten sich zusammensetzte, aus denen eben diese aggressiven und destruktiven Tendenzen ganz verschwunden wären. Aber gerade diese technologischen Möglichkeiten zur Dezentralisierung sind ja auf eine merkwürdige Weise vernachlässigt worden.⁶⁸
Mit Gewissheit hält Adorno bereits in den 1960er Jahren neue rationalere Lebensformen für möglich, welche die zwischenmenschliche Aggression neutralisieren könnten. Wir wissen zwar nicht genau, welche Art der kooperativen und solidarischen Gemeinschaft Adorno vor Augen hat, aber es ist doch klar ersichtlich, dass asoziale Triebe und Irrationalität für ihn keineswegs die menschliche Natur ausmachen. Eine angemessene gesellschaftliche Organisation könnte die aggressive und destruktive Tendenz „ganz verschwinden“ lassen. Bedeutsam an dieser Stelle ist, dass es hier nicht um eine unerreichbare Utopie geht, sondern um „technologische Möglichkeiten“, also um Möglichkeiten, die sich reproduzieren und verbreiten lassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für Adorno die subjektive Selbstentfaltung und die Formen der Vergesellschaftung bis in die tiefsten Schichten des Menschlichen korrelieren. Da die allgemeine Lebensnot mit den Bedingungen der Moderne schon zu seiner Zeit weitgehend aufhebbar ist, betrachtet Adorno die innerweltliche Verdrängung nicht als strukturell unauflösbar. Er lehnt es deutlich ab, das Unbehagen in der Kultur zu naturalisieren oder gar zu biologisieren, denn dadurch werden die faktischen Fortschritte außer Acht gelassen.
Adorno LGF, S. 162, Herv. M.-C. L.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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2.3.3 Sublimierung: Das Werk des Sozialen Die vorherigen Abschnitte sollten ausreichende Hinweise dafür bieten, dass Adorno Freuds Lehre nicht unkritisch übernimmt, sondern seine eigene philosophische Auffassung vom Unbewussten ausarbeitet. Im Unterschied zu seinen offiziellen sozialpsychologischen Schriften verfolgt er einen anderen Gedankengang, in dem er ein sachliches, der Alltagserfahrung naheliegendes Konzept von der Entwicklung der menschlichen Psyche entwirft: Weder die kollektive Repression noch die asoziale Aggression sind unveränderbar; mit den rationalen Fortschritten der sozialen Einrichtungen ändert sich also grundsätzlich auch die Triebdynamik. Wenn nun bei Adorno die beiden zentralen Grundannahmen Freuds entfallen, die diesem zufolge ein schwaches „Ich“ zur Folge haben, kann man weiter fragen, ob und wie Adornos Abgrenzung von Freud auch in sein Konzept der geistigen Entwicklung eingeht. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Adorno seine diesbezüglichen Überlegungen oft dort zum Ausdruck bringt, wo es um die Verdrängung des Todes geht. An zahlreichen Stellen,⁶⁹ an denen vom unbewussten Gespaltensein angesichts des Todes die Rede ist, bringt Adorno dieses mit dem Thema der Selbstentwicklung des individuellen Lebens zusammen. Zunächst stimmt er Freud darin zu, dass es beim Menschen eine im Allgemeinen unbewusste Tendenz zur Verdrängung des eigenen Todes gibt und ein direkter Zusammenhang zwischen dem psychischen Integrationsgrad des Todes und der Selbstentwicklung des Individuums besteht.⁷⁰ Aber an einem entscheidenden Punkt widerspricht Adorno Freud: Selbst der Tod, also das vorhersehbare Ende unseres physischen Lebens, ist keine unaufhebbare Quelle der innerlichen Verdrängung: Denkbar [ist] ein gesellschaftlicher Zustand, in dem die Menschen den Tod nicht mehr verdrängen müßten, vielleicht anders ihn erfahren könnten als in Angst […]. In einem nicht
Siehe zum Beispiel in der Negativen Dialektik, S. 362; Adorno/Gehlen SW, S. 247 sowie die 17. Metaphysik-Vorlesung (Adorno ME, S. 201– 213). In dem Aufsatz „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915), den Freud noch vor seiner Annahme des Todestriebes verfasste, erklärt er die allgemeine Haltung zum Tod wie folgt: „Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. […] So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod, […] im Unbewußten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt“ (Freud SA IX, S. 49). Im Einklang zu Freud ist der Tod für Adorno die Naturgewalt, die „bis heute ganz sicher nicht in die Gesellschaft und in die Kultur [integriert ist]“, die bestehenden objektiven Verhältnisse verhindern die Bewusstwerdung unseres „eigenen schwankenden Bodens“, unserer „eigenen Hinfälligkeit“, so Adorno, „bis tief in die Organisation eben jenes Ich [herein]“ (Adorno ME, S. 204, S. 206).
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
länger entstellten, versagenden Leben, einem, das die Menschen nicht mehr um das Ihre betröge, brauchten sie wohl nicht erst mehr vergebens zu hoffen, daß es ihnen doch noch das Versagte gewähre, und darum auch gar nicht mehr so sehr zu fürchten, es zu verlieren, wie tief ihnen solche Angst auch eingefleischt ist.⁷¹
Während Freud die durch Angst veranlasste unbewusste Verleugnung des Todes als natürliche Tendenz hypostasiert, scheint für Adorno sogar diese Art der Verdrängung prinzipiell aufhebbar zu sein. Der Tod muss nicht immer die Quelle der Angst sein und uns der Kraft zum Leben berauben, sein unbewusster Einfluss auf die individuelle Lebensführung ist in den sozialen Verhältnissen verankert. Da Adorno die Korrelation zwischen dem Sozialen und dem Psychischen tief im Unbewussten verortet, muss auch das physische Faktum der Sterblichkeit durch die soziale Vermittlung nicht immer in die ängstliche Einschränkung der individuellen Selbstentwicklung münden. Kurz, das Ich muss keine „Angststätte“⁷² sein. Konsequent im Zusammenhang dieses Gedankenganges ist Adorno davon überzeugt, dass in jedem Menschen ein unerschöpfliches Potenzial angelegt ist, das zu etwas Großartigem entwickelt werden kann. An zahlreichen Stellen ist diese anthropologische Überzeugung greifbar: [I]ch bin allerdings, Sie mögen mich einen altmodischen Aufklärer schelten, der tiefsten Überzeugung, daß es keinen Menschen und nicht den armseligsten gibt, in dem nicht ein Potential wäre, das nach den gängigen bürgerlichen Vorstellungen mit dem Potential des Genies zu vergleichen wäre.⁷³
Kein Vernunftskeptiker könnte sich eine solche Überzeugung erlauben. Der repressive Charakter der Ich-Instanz ist zwar eine mögliche Entwicklung, aber kein anthropologisches Muss.Was in uns Menschen universal angelegt ist, ist nicht nur ein unerschöpfliches Potenzial, sondern zugleich der unerlässliche Wunsch zur Selbstverwirklichung, dass „von dem [Potenzial] wir doch zutiefst wissen […], daß wir es sein und daß wir es werden könnten“⁷⁴. Selbst wenn wir von den Umständen behindert oder in der Realisierung unserer Potenziale gescheitert sind, bleiben das Wissen und der Wunsch dazu – in welch bitterer oder beschädigter
Adorno GS 6, S. 516. In der Vorlesung zur Metaphysik trägt Adorno dieselbe Auffassung vor, mit einer implizierten Erwiderung auf Freud: „Ich zögere, – ich weiß nicht, ob es sich dabei nun wirklich um eine Art von biologischer Tatsache handelt, die also hinter unsere menschlich-bewußte Geschichte zurückreicht, oder ob es sich dabei selber um etwas Geschichtliches handelt.“ (Adorno ME, S. 205) Siehe Kapitel 1, Abschnitt 1.2.3. Adorno ME, S. 206 f. Adorno ME, S. 207.
2.3 Tod im Unbewusstsein
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Form auch immer – bis zum Ende unseres Lebens bestehen. Zu leben heißt daher für Adorno, „die unendliche Möglichkeit realisieren [zu können], die im Leben nun wirklich eines jeden Menschen drinsteckt“⁷⁵. Was wir gewöhnlich Begabung oder Talent nennen, gehört nicht einer elitären Minderheit, es „steckt“ in jedem Menschen „drin“. Was eine optimale Selbstverwirklichung verhindert, ist daher nicht das biologische Faktum des Todes als solches, sondern, wie es vom Subjekt innerlich bearbeitet werden kann. Während der Inhalt der Selbstverwirklichung nur privat zu bestimmen ist, stellt die Förderung des Potenzials für Adorno, wie oben dargestellt, eine Aufgabe der Gesellschaft dar: [W]enn das Leben richtig wäre, [würde] damit auch die Erfahrung des Todes sich radikal verändern […], bis in die innerste Zusammensetzung hinein.⁷⁶
Erst wenn wir im Leben nicht stets von den ungerechten Verhältnissen niedergedrückt werden und von uns aus etwas Wertvolles schaffen können, das von uns selbst wie von den Anderen anerkannt wird, könnte es gelingen, womöglich auch angesichts des schwersten Abschiedes mit geringem Bedauern auf das eigene gelebte Leben zurückzublicken. Nur wenn das jedem gegebene und versprochene Potenzial ausreichend gelebt werden kann, „bestünde vielleicht die Möglichkeit, versöhnt zu sterben“⁷⁷. Anders als ihm die Kritiker unterstellen, bestreitet Adorno nämlich, dass die Gesellschaft und die individuelle Psyche zwingend in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen müssen. Konsequent betont er, dass sich mit der Änderung der objektiven Bedingungen auch unsere innerweltliche Dynamik ändert sowie unsere Fähigkeit, auf eine nicht verdrängende Weise mit dem eigenen Sterbenmüssen sowie dem Tod der Anderen umzugehen. Der menschliche Tod gleicht weder dem animalischen Verenden, von dem die Tiere kein voraussehendes Bewusstsein haben, noch dem existenzialistischen „Sein zum Tode“ (Heidegger), aus dem angeblich unsere Entschlossenheit erwächst. Die Kraft zum Leben wie auch zum Sterben entstammt primär keiner individuellen Leistung, sondern ist der Kraft der Gesellschaft zu verdanken. „So tief“, sagt Adorno daher, „ist nun wirklich die Metaphysik des Todes […] mit der Geschichte und mit den Grundschichten des geschichtlichen Lebens der Menschheit verbunden.“⁷⁸ Am Ende dieses zweiten Kapitels liegt es nahe, an das von Adorno einmal angekündigte Vorhaben einer „dialektischen Psychologie“ zu erinnern. Im einem
Adorno ME, S. 206. Adorno ME, S. 212. Adorno ME, S. 207. Adorno ME, S. 207.
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2 Die unbewusste Umwandlung des „Physischen“
Brief an Horkheimer aus dem Jahr 1934, in dem Adorno seinen eigenen Beitrag zu der Zeitschrift für Sozialforschung zum Thema „Psychoanalysekomplex“ kommentiert, kritisiert er zunächst die Auffassung, welche die Libido als invariant „verabsolutiert“⁷⁹, bevor er stattdessen sein eigenes Programm ankündigt: Sie sehen vielleicht etwa, wohin ich ziele […]. Ich würde gern versuchen, einmal diese Dinge als „Idee zu einer dialektischen Psychologie“ zu formulieren; hier kann ich Ihnen natürlich nur Ansätze bezeichnen.⁸⁰
Dieses Vorhaben einer „dialektischen Psychologie“ hat Adorno nicht explizit weiter dargelegt. Diese Bezeichnung vermag jedoch den Gedankengang, den dieses Kapitel rekonstruiert hat, gut zu umreißen. Sein „dialektisches“ Verfahren hinterlässt häufig den Eindruck, es resultiere schließlich in einer Reihe begrifflicher Verschiebungen, mit denen sich nichts feststellen lässt. Mit dem oben Gesagten hoffe ich gezeigt zu haben, dass diese „dialektische Psychologie“ aus konstatierbaren Bestandteilen besteht, die durchaus analysiert werden können. Anhand des „Physischen“ lässt sich diese Dialektik tatsächlich anfänglich von dem aus rekonstruieren, was ein rein Ahistorisches, Anthropologisches ist. Es geht jedoch in die nicht repressiv bestimmte Entwicklung des individuellen und kollektiven Lebens über. Was in den üblichen Interpretationen häufig fehlt, ist die Komplexität und Fähigkeit der menschlichen Seele. Zusammenfassend lässt sich sagen: Statt das Leiden zu einem bloß physischen Phänomen zu verflachen, gilt es vielmehr, das „Physische“ mit Adornos psychoanalytischem Rüstzeug neu zu denken.
Adorno/Horkheimer BWH1, S. 42 (Brief vom 24. November 1934). Adorno/Horkheimer BWH1, S. 42.
3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden In der bisherigen Diskussion wurde der Leidensbegriff ausschließlich im Sinne des negativen psychischen sowie des physiologischen Zustands erläutert. In beiden Fällen ist das negative Wesen des Leidens unzweideutig. In Adornos Verwendung des Leidensbegriffs gibt es allerdings eine bis heute strittige Bedeutungsschicht, die suggeriert, dass nur die negative Erfahrung eine das Denken motivierende Funktion besitze. So lautet der berühmte Halbsatz: „Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens […].“¹ Nimmt man ihn als eine ernsthafte philosophische Behauptung, drängt sich Unverständnis auf: Warum sollte nur etwas Negatives dazu beitragen können, Denkverfahren in Gang zu setzen? Wie kann man das Verhältnis zwischen Leiden und geistiger Produktivität rational verstehen? Von diesen Fragen ausgehend rekonstruiere ich die „Denkpsychologie“ weiter. Erst in diesem neu aufgespannten Rahmen, so die Hauptthese der vorliegenden Studie, lässt sich der Zusammenhang zwischen Leiden und Denken bei Adorno angemessen verstehen. Mit dem Ausdruck einer „Denkpsychologie“ habe ich einen bei Adorno konsequent entwickelten Gedankengang im Blick. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, Adornos Beschäftigung mit der Psychoanalyse beschränke sich auf die Zeit seines Exils, und die Rolle der Psychoanalyse sei bei ihm also allein in der Sozialpsychologie zu verorten, soll die Rekonstruktion zeigen, dass Adorno zeitlebens bemüht war, die deutsche philosophische Tradition auf den aktuellen psychologischen Wissensstand zu bringen. Im vorliegenden Kapitel soll zunächst gezeigt werden, wie Adorno den Leidensbegriff anhand des Hegel‘schen Begriffs der Erfahrung denkpsychologisch umdeutet. Dabei schlage ich vor, statt, wie bislang üblich, von der „kognitiven Funktion“² der negativen Leidenserfahrung zu sprechen, ein davon abgesondertes, qualitativ eigenständiges „kognitives Leiden“ zu behandeln, das sich dem Sachverhalt angemessen als „kognitive Dissonanz“³ bezeichnen lässt.
Adorno GS 6, S. 202. Früchtl 1986, S. 100 – 111. Vgl. dazu z. B. Bonß 1983, S. 209 und Geuss 2005b. Ich danke Axel Honneth für seinen Hinweis auf diese Bezeichnung; in ihr findet die in der vorliegenden Arbeit anvisierte erkenntnispsycholgische Neutralisierung des Leidensbegriffs einen zutreffenden Ausdruck. https://doi.org/10.1515/9783110642476-005
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
3.1 „Leiden als Norm“: Zweckmäßigkeit des Denkens Dass das Leiden den Menschen zum reflektierenden Denken dränge, ist eine wiederholte These Adornos. So lesen wir in „Wozu noch Philosophie“: „Die ungeminderte Dauer von Leiden, Angst und Drohung nötigt den Gedanken, der sich nicht verwirklichen durfte, dazu, nicht sich wegzuwerfen.“⁴ Dasselbe Motiv lässt sich auch in mehreren Vorlesungen wiederfinden; ein Beispiel dafür gibt etwa die folgende Überlegung: Wie es im Tasso in jenem Satz heißt, daß, wenn „der Mensch in seiner Qual verstummt, ihm ein Gott gab zu sagen, was er leide“. Das ist es eigentlich vielmehr, was die Philosophie inspiriert – man möchte fast sagen: den Schmerz in die Mittel des Begriffs übersetzen.⁵
Trotz der Abweichungen in Kontext und Akzentuierung teilen alle entsprechenden Formulierungen die Auffassung, dass das Denken vom Leiden hervorgerufen werde. Diese genetische Rückführbarkeit der geistigen Bewegung auf das „Leiden“ gelte zudem nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Kunst. Schon in den frühen 1930er Jahren schreibt Adorno, dass der Künstler „zum Bewußtsein einer leidvollen Wirklichkeit [dringt], mit deren Leiden Kunst nicht anders sich abzufinden vermag, als indem sie davon zeugt“⁶. Die Genesis des Denkens im „Leiden“ zu verorten, hat zunächst etwas Befremdliches an sich, und um dieses Befremdliche soll es in diesem Kapitel gehen. Bevor ich jedoch mit der Analyse beginne, soll eine nicht ungewöhnliche verkehrte Lesart korrigiert werden. Nicht selten wird Adornos Philosophie ein „Leidenskultus“ unterstellt, als handle es sich bei seiner These um eine „fortwährende Umfälschung negativer Zustände in positive Endzwecke“⁷, in deren Zusammenhang das Vorkommen und die Existenz des Leidens begrüßenswert seien. Das grundsätzliche Missverständnis dieser Lesart besteht darin, dass sie Philosophie und Kunst intuitiv als etwas Selbstständiges betrachtet, was Adorno gerade mit Nachdruck bestreitet. Adornos Formulierungen tragen allerdings zu einem solchen Missverständnis bisweilen auch bei. Nimmt man das Tasso-Zitat als Beispiel, so könnte die Aussage, die Philosophie sei von der Aufgabe zum Leidensausdruck „inspiriert“, heißen, dass die Philosophie aus sich heraus existiere und sich durch leidvolle Geschehnisse bereichern lasse. Das Leiden scheint hier ein nützliches, dem Zweck
Adorno GS 10.2, S. 470. Adorno PT, S. 107. Adorno GS 19, S. 235 f. So gibt z. B. Heidbrink Karl-Heinz Bohrers Sicht wieder, siehe Heidbrink 2004, S. 120, Fußnote 63.
3.1 „Leiden als Norm“: Zweckmäßigkeit des Denkens
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des Philosophierens dienendes Mittel zu sein. Liest man das Wort „inspirieren“ hingegen so, dass das Leiden und dessen Druck das Denken zuallererst hervorbringen, wird verständlich, dass Philosophie und Kunst als Mittel verstanden werden, die einen praktischen Zweck in sich enthalten.Während das Leiden in der ersten Lesart als Nahrung des Denkens erscheint, wird das Denken in der zweiten Lesart zur Selbstaufhebung des Leidens geboren. Die Mittel-Zweck-Beziehung wird also von den Kritikern in einer verkehrten Hinsicht gedeutet. Auf diese Verkehrung macht Adorno selbst aufmerksam. Seine Aufforderung zur „Abschaffung des Leidens als Norm“ tritt einem „falschen Begriff von Tiefe“⁸ entgegen. Es gehe darum, dass wir denken, um einen Leidenszustand praktisch zu beseitigen, und nicht darum, Leiden und Schmerz zu erdulden, um in irgendeine unbekannte Tiefe vorzustoßen – eine geistige Haltung, die nicht selten religiösen Lehren eignet. Diese Korrektur soll zunächst deutlich machen, dass für Adorno – der durch seinen Schreibstil und sein Temperament über Jahrzehnte als feinsinniger Ästhet und privilegierter Philosoph eingeschätzt wurde und dem unterstellt wird, er halte die Kunst für die letzte Erlösung – kein Kulturgut einen höheren Wert genießt als das fühlbare Glück im realen Leben. Wenn ein Gemeinwohl in der Menschheit erreicht sei, müsse es weder Philosophie geben noch Kunst: „Erst einer befriedeten Menschheit würde die Kunst absterben.“⁹ Somit sind nicht Rationalität und Kunst der Endzweck – es ist das gemeinsame gute Leben. Daher stimmt Adorno nachdrücklich der Hume‘schen Bemerkung zu, dass das „richtige Denken“ dem „zarten Gefühl“¹⁰ unter den Menschen zukommen solle: „Das war selber pragmatistisch, und doch enthält es […] die ganze Wahrheit über den Geist der Praxis.“¹¹ Zusammenfassend lässt sich sagen: Sobald das Leiden durch die Wirkung oder Mitwirkung der Philosophie (oder durch andere Mittel) aufgehoben ist, hat das Denken seine Aufgabe erfüllt.Wenn richtig gedacht wird, mündet das Denken zuletzt in sein Ziel und wird abgelöst. In dieser „erfüllten Utopie“ gelangt man gewissermaßen in ruhige Gewässer, weil das „Versprechen“ „eingelöst“ ist, weil die Tat „in ihren Ursprung […] münde[t]“¹².
Adorno PT, S. 218. Adorno GS 12, S. 24. Adorno GS 4, S. 44. Der von Adorno ganz zitierte Satz lautet: „Genauigkeit kommt immer der Schönheit zugute, und richtiges Denken dem zarten Gefühl.“ Adorno GS 4, S. 44 f. Adorno GS 4, S. 179.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“ Dadurch, dass das pragmatische Wesen des Denkens hervorgehoben wird, soll deutlich werden, dass die These, das Leiden sei die Triebkraft des Denkens, nicht utilitaristisch, sondern faktisch zu verstehen ist. Allerdings ruft diese von Adorno betonte faktische Genesis des Denkens aus dem Leiden eine noch massivere Kritik hervor. Wenn man solche Aussagen nicht auf eine Art Leidens-Rhetorik reduziert und davon überzeugt ist, dass sie sich als philosophische Ansicht begründen lassen, wie sollen dann diese geistigen Tätigkeiten als Reaktion auf das Leiden verstanden werden? Die Vorstellung, dass „aller Schmerz und alle Negativität […] Motor des dialektischen Gedankens“ seien, scheint empirisch betrachtet zunächst unverständlich oder gar abwegig zu sein. Aus Sicht des eines alltäglichen Verstandnisses lässt sich fragen: Unter welchen Kriterien bezeichnen wir alle Denkenden als Leidende – wenn dies mehr als eine bloße Metapher sein soll? Das Unverständnis führt die Diskussion nun unvermeidlich zum Ausgangspunkt zurück und damit zu der grundlegenden Frage einer Definition: Was heißt Leiden eigentlich bei Adorno? Ein Überblick über Adornos Gebrauch des Leidensbegriffs macht schnell deutlich, dass sich dieser in den meisten Fällen in der von Adorno als „reales Leiden“¹³ bezeichneten Kategorie unterbringen lässt. Dazu gehören beispielsweise das „Leiden unter dem Kapitalismus“ (GS 20.1, S. 27), das „Leiden an der Entfremdung“ (GS 5, S. 192; GS 7, S. 381; GS 14, S. 365), das „Leiden des unterdrückten Menschen“ (GS 18, S. 472), das „Leiden der Menschheit“ (GS 6, S. 156), „das sinnlose Leiden“ sowie dasjenige Leiden, das Adorno mit physischem Schmerz (GS 8, S. 91; GS 20.2, S. 468), Hunger (GS 8, S. 68), Angst (GS 10.2, S. 470; GS 10.2, S. 562; GS 14, S. 156), Einsamkeit (GS 20.1, S. 188; GS 18, S. 811) und Unheil (GS 10.2, S. 611) zusammenbringt.¹⁴ All die hier genannten Leiden sind in ihrer alltagssprachlichen Bedeutung leicht zu verstehen. Sie umfassen sowohl die negativen subjektiven Erfahrungen als auch die mit ihnen korrelierenden objektiven Ursachen solcher Erfahrungen.¹⁵
Adorno GS 3, S. 57. Die genannten Stellen sind Beispiele und beanspruchen keine Vollständigkeit. Im Duden. Deutsches Universalwörterbuch (Duden 1999) wird das Leiden als ein „Erlebnis von Leid“ bestimmt, während das Leid als „tiefer seelischer Schmerz als Folge erfahrenen Unglücks“ sowie „Unrecht, Böses, das jmdm. zugefügt wird“ definiert ist. Auch die fachliche Bestimmung des Begriffs im Historischen Wörterbuch der Philosophie stimmt mit dem Alltagsgebrauch überein: „Der Begriff Leiden […] meint – in Abhebung von dem den objektiven Tatbestand bezeichnenden Begriff ,Leid‘ ([…] Beleidigung, Unrecht) – zunächst das subjektive Erleben eines dem Subjekt Zustoßenden und dann die Erfahrung von Übel und Unglück.“ Ritter u. a. (Hg.) 2007, Bd. 5, S. 206.
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“
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Also das „Leid“ und das „Leiden“, wie Emil Angehrn im Blick auf Adorno erklärt, „je nachdem, ob dieses gleichsam aus der Außenperspektive, mit Bezug auf die objektive Seins- und Funktionsweise von etwas, oder aus der Binnenperspektive des Erlebens einer Behinderung oder Unterdrückung beschrieben wird“¹⁶. In diesem Kapitel werde ich jedoch den Interpretationsansatz vertreten, dass sich der Inhalt von Adornos Leidensbegriff nicht im „realen Leiden“ erschöpft und dass sich in Adornos Wortgebrauch neben den beiden Bedeutungen von objektivem „Leid“ und subjektivem „Leiden“ noch eine dritte Bedeutungsschicht verbirgt, die häufig unter die bisweilen überstrapazierte und folglich inhaltlich trüb gewordene „Negativität“ subsumiert wird. Es gibt zahlreiche Synonyme für dieses spezifische Leiden; dazu gehören die „Dissonanz“, die inzwischen in der Adorno-Literatur viel wiederholte „Nichtidentität“ sowie die noch am ehesten treffende Hegel‘sche „Verzweiflung“ auf dem Weg der geistigen Entwicklung. Diese bisher unberücksichtigte Art des Leidens hat ihre Besonderheit darin, dass sie zwei scheinbar unvereinbare Bestimmungen in sich trägt. Dies ist von Adorno sowohl metaphorisch als auch sachlich gemeint. Metaphorisch, weil dieses Leiden einen spezifischen innerlichen Zustand schildert, der jedoch nicht der Kategorie negativer Empfindung zugehören kann. Hier wird also etwas nicht Fühlbares, nicht Schädliches von Adorno absichtlich mit dem fühlbaren Leiden und Schmerz gleichsetzt. Die metaphorische Verwendung des Leidens wird sich allerdings, wie in einem zweiten Schritt zu zeigen sein wird, durch eine unausgesprochene Verschiebung des theoretischen Rahmens ins Sachliche umwenden. Was in der Sprache Hegels metaphorisch gemeint ist, wird in der Sprache Freuds seine objektive Referenz als „Unlust“ finden. Die dadurch eingeführte psychoanalytische Ressource wird der Diskussion eine neue Dimension erschließen.
3.2.1 Ein metaphorisches Leiden? In Adornos Vorlesung zur Einführung in die Dialektik findet sich eine Bemerkung, die für diese umgedeutete Art des Leidens exemplarisch ist: [Das] Auseinanderweisen, also diese Nichtidentität der Menschen mit ihrer eigenen Welt, die eben doch noch gar nicht ihre eigene Welt ist, die ist eben der Grund jener Zerrissenheit, jenes Leidens, und jener Negativität, die […] nur durch Arbeit, Geduld, Ernst und Anstrengungen des Begriffs überwunden werden kann.¹⁷
Angehrn 2003, S. 28 f. Adorno ED, S. 70
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
In Anlehnung an Hegel beschreibt Adorno hier ein „Erlebnis“ des Bewusstseins. Beim „Auseinanderweisen“ handelt es sich um einen flüchtigen Moment, in dem das Subjekt dessen gewahr wird, dass es „an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet“¹⁸, dass das bis dahin mit seinem Wissen kohärente Ganze ihm nun plötzlich als heteronom entgegentritt. Zu diesem Moment des Zersplitterns kommt es Hegel zufolge gerade dort, wo die dialektische Reflexion in Gang kommt: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“¹⁹ Vergleicht man Adornos Schilderung mit derjenigen Hegels, kann man sagen, dass die „Zerrissenheit“, die das „Leiden“ und die „Negativität“ betrifft, eigentlich noch nicht die „Erfahrung“ im vollendeten Sinn darstellt, sondern ihre Vorphase im Bewusstsein, durch die die Erfahrung allererst veranlasst wird. Der Blick Adornos konzentriert sich nämlich auf den winzigen Moment, in dem die Unstimmigkeit vom Subjekt verspürt wird und sich seine etablierten Überzeugungen sowie die darauf gegründete Selbstbehauptung nun als unwahrhaftig oder mangelhaft erweisen. Zur näheren Charakterisierung dieser Art des Leidens und um Adornos Pointierung der Hegel‘schen Bestimmung von „Erfahrung“ herauszustreichen, möchte ich an dieser Stelle auf eine Bemerkung H.-G. Gadamers im Blick auf Hegel hinweisen. So schreibt Gadamer in Wahrheit und Methode: Erfahrung […] setzt […] notwendig mannigfache Enttäuschung von Erwartungen voraus und nur dadurch wird Erfahrung erworben. […] Nur durch negative Instanzen gelangt man […] zu neuer Erfahrung. Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung.²⁰
Trotz Adornos theoretischer wie persönlicher Distanz zu dem Heidegger-Schüler lassen sich Gadamers Auslegung der „Enttäuschung“ und Adornos „Leiden an der Nichtidentität“ aufeinander beziehen. Beide heben den subtilen Moment der Erfahrung hervor, in dem „der neue wahre Gegenstand“ noch nicht sichtbar ist, der alte jedoch bereits als ungenügend einzustürzen droht. Er ist – metaphorisch gesprochen – enttäuschend und schmerzlich, weil das Subjekt sich plötzlich seinem eigenen Ungenügen gegenübergestellt sieht. Gezwungenermaßen muss der oder die Denkende in dem Moment, da sich ihm bzw. ihr die auf ihrem vor-
Hegel 1988, S. 66. Hegel 1988, S. 66. Gadamer 1999, S. 362. Ich danke Ting-Kuo Chang für seinen Hinweis, dass die Gadamerʼsche Interpretation der „Erfahrung“ zur Erläuterung von Adornos Verwendung des Leidensbegriffs beitragen kann, den ich als eine Brücke zu dessen denkpsychologischer Wende einsetze.
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“
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herigen Wissen errichtete Sicherheit und Vertrautheit entziehen, zur Kenntnis nehmen, dass die Welt „eben doch noch gar nicht ihre eigene Welt ist“. Und eben weil dieses Leiden ein kognitives Leiden ist, kann es durch die „Anstrengung des Begriffs überwunden werden“. Was Adorno anhand der dialektischen Bewegung als Leiden bezeichnet, ist somit die strukturelle Beschreibung eines erkenntnispsychologischen Zustandes, in dem das Subjekt die Fremdheit des Gegenstandes sowie die Unwahrhaftigkeit der Gültigkeit seiner eigenen bisherigen Überzeugungen verspürt. Anders als das „reale Leiden“, für das oben bereits Beispiele aufgelistet wurden, wird das „kognitive Leiden“ von Adorno niemals auf einen konkreten Inhalt bezogen. Denn was innerlich als Bruch oder Nicht-Identisches²¹ verspürt wird, ist theoretisch unvorhersehbar, es lässt sich nur in der individuellen Selbsttransformation bestimmen. Diese Art des Leidens ist keine Leidenserfahrung im gängigen Sinn und schon gar nicht ist es eine einheitliche „Erfahrung“. Vielmehr versteht sich bei Adorno dieses Leiden an der Bruchstelle im Denken als eine Vorbedingung aller geistigen Erfahrungen: als ein Leiden zur Erfahrung.
3.2.2 Die etymologische Wurzel: Rezeptivität und Empfänglichkeit Die obige Analyse sollte ausreichend Hinweise dafür liefern, dass Adornos Begriff des Leidens über eine dritte, eigenartige Bedeutungsschicht verfügt, die sich inhaltlich und qualitativ von dem physisch oder psychisch quälenden „realen Leiden“ unterscheidet. Fehlt das Leiden im Denken, kommt es Adornos Schilderungen zufolge nicht nur weder zu Philosophie noch zu Kunst: Die geistige Erfahrung überhaupt bleibt
Somit lässt sich die Bedeutung des „Nicht-Identischen“ nach innen wenden, und damit öffnet sich eine psychische Dimension von Adornos dialektischem Denken. In ihm wird das „NichtIdentische“ stets als das gleichsam utopisch bedachte Sosein eines Gegenübers interpretiert. So schreibt z. B. Whitebook: „Angetrieben wird die Bewegung der Dialektik durch die ewige Suche nach dem ,Nicht-Aufgehenden‘, d. h. nach dem Rest, der übrigbleibt, weil jeder Versuch, das Nicht-Identische begrifflich zu fassen, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist.“ (Whitebook 2003b, S. 685) Vgl. auch Schnädelbach 1983. Hier wird Adorno als ein „Platoniker des Nichtidentischen“ wahrgenommen, der mit dem „Totalitätsbegriff“ des Nichtidentischen eine „kognitive Utopie“ anvisiere (Schnädelbach 1983, S. 73, S. 90 f.). Der Fehler dieser Interpretation liegt darin, dass die Trennung von Subjekt und Objekt im Vorhinein hypostasiert wird, als bestünde bereits ein mit sich selbst identisches Subjekt, das nach einer unerreichbaren Andersheit strebt. Ein solches fest geformtes, mit sich selbst identisches „Subjekt“ sowie die Externalisierung des „Nicht-Identischen“ stellen für Adorno jedoch erkenntnistheoretisch reproduzierte Illusionen dar.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
aus. Nimmt man diese Idee ernst, erscheint es zwingend, aus ihr den Schluss zu ziehen, dass das kognitiv bestimmte Leiden – die Negativität, die Dissonanz, die Nicht-Identität – im Gegensatz zum realen Leiden ein konstitutives Element des Denkens darstellt. Einen wesentlich positiven Zustand, den alle Lernprozesse voraussetzen, als Leiden zu bezeichnen, widerstrebt allerdings trotz der obigen inhaltlichen Differenzierung nicht nur unserem Sprachgefühl, sondern scheint jedem gesunden Menschenverstand zu widersprechen, so dass der Verdacht, diese Bedeutungsschicht des Leidens beruhe letztlich auf einer willkürlichen Definition Adornos, legitim ist. Um zu zeigen, dass diese an Hegel angelehnte Bedeutungsschicht eines Leidens, das für das Denken konstitutiv ist, keine willkürliche Definition darstellt, sondern auch der Sache nach zu Recht als „Leiden“ bezeichnet werden kann, möchte ich eine kurze etymologische Analyse zu Hilfe nehmen. Die etymologische Spur ist kein lediglich äußerliches Hilfsmittel; sie soll vielmehr zeigen, dass Adorno „Leiden“ nicht nur als einen alltäglichen Begriff verwendet, sondern ihn zugleich als einen philosophischen Terminus heranzieht. Das Wort „Leiden“ ist die substantivierte Form des Verbs „leiden“. Heute sind sowohl das Substantiv als auch das Verb inhaltlich eng mit dem Nomen „Leid“ verbunden. Letzteres hat im Althochdeutschen die Bedeutung von „Feindliches, Böses“ oder „Trauer“ und „Kummer“, die in einem Gegensatz zu „Freude“ oder „Lust“ stehen.²² Das Leid und das Leiden (leiden) verfügen also sowohl im alten wie im jetzigen deutschen Sprachgebrauch über zwei Seiten: Sie bezeichnen entweder die äußere Quelle oder aber die innerliche Erfahrung eines Unglücks. Diese aus der heutigen Perspektive natürlich wirkende Verwandtschaft von „Leid“ und „leiden“ stellt allerdings das Resultat einer Bedeutungsverschiebung dar. Lexikalisch hatte das Verb „leiden“ ursprünglich eine andere Bedeutung, und zwar eine, die nichts mit Leid oder Unrecht zu tun hat: So bedeutete das später substantivierte Verb „leiden“ bis ins achte Jahrhundert hinein so viel wie „gehen“, „weggehen“, „vergehen“ oder „reisen“.²³ Das Verb „leiden“ im damaligen Gebrauch war also die wertneutrale Beschreibung einer Bewegung. Diese aktive Bedeutung von „leiden“ (gehen) erfährt später allerdings eine Verschiebung.²⁴ Das Verb wandelt sich allmählich in das passive „dulden“. Eine nachvollziehbare
„Leid“, in: Grimm/Grimm 1984, S. 654. „Leid“ und „leiden“ in: Kluge 2002: Erst „[d]urch nachträgliche Attraktion ist das starke Verb leiden im Deutschen mit Leid verbunden worden und hat seine Bedeutung ,gehen‘ zu ,leiden‘ gewandelt (ursprünglich ist es nicht verwandt)“. Zur ursprünglichen Bedeutung von „fahren“ und „gehen“ siehe auch „Leiden“ in: Grimm/Grimm 1984, Bd. 12, S. 658. Angehrn stellt weiterhin die Vermutung auf, dass die christliche Vorstellung vom Leben als einer Reise zu der genannten Bedeutungsverschiebung beigetragen hat. Angehrn 2003, S. 27.
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“
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Erklärung dafür könnte sein, dass das ursprüngliche „leiden“ als etwas, dessen Ziel und Richtung offen sind, sukzessive die Bedeutung von „erleiden“ erhält, wobei jetzt etwas (negativ) Bestimmtes durchfahren werden muss. Es wandelt sich vom aktiven Gehen zum passiven Erleben. Die Etymologie von „leiden“ erinnert uns an zwei Sachverhalte, die zum Verständnis von Adornos Wortgebrauch wichtig sind, aber nicht mehr unmittelbar am Wort „Leiden“ abgelesen werden können. Zunächst legt die Geschichte des „Leidens“ eine innige Nähe und potenzielle Umwandelbarkeit zwischen „aktiv sein“ und „passiv sein“ dar – was heute begrifflich als ein polarer Gegensatz auftritt, konnte also in der damaligen menschlichen Erfahrung durchaus koexistieren oder ineinander übergehen. Dadurch wird weiterhin deutlich, dass das „Leiden“ eine Passivität bedeuten konnte, die im Vergleich zu der heutigen Verwendung des Wortes nicht zwingend mit Unrecht, Trauer oder Unglück assoziiert war. Der etymologische Rückblick zeigt, dass das Wort Leiden durchaus „ethisch neutral“ ²⁵ gelesen werden kann: Dafür „kann [niemand] […] gelobt oder getadelt werden“.²⁶ Für diese Lesart ist die deutsche Übersetzung der Terminologie der Aristotelischen Kategorienlehre exemplarisch. Die beiden Kategorien actio und passio werden im elften Jahrhundert als „Wirken“ und „Leiden“ ins Deutsche übersetzt.²⁷ Im Gegensatz zum aktiven Tun und Handeln steht das Wort „Leiden“ nunmehr für das passive Bewirktsein.²⁸ Die Passivität wird zu einer „immanente[n] Eigenschaft“²⁹ aller Leidensempfindung/Erfahrung, sie erschließt aber einen vom Leiden deutlich unterschiedenen Sinnbereich. So kann man mit „Passivität“ einen Sachverhalt bezeichnen, der von einem subjektiven Urteil und einer subjektiven Empfindung unabhängig ist. In der neuzeitlichen Philosophie erhält „Passivität“ eine weitergehende erkenntnistheoretische Spezialisierung, an die sich Adornos Konzept explizit anschließt. Hier beschreiben Passivität und Aktivität nicht mehr allgemeine Zustände, sondern Funktionen und Leistungen des Denkens. Ob als „sinnliche Diese Charakterisierung der passiven Bedeutung des „Leidens“ übernehme ich aus einer lehrreichen Analyse Erich Auerbachs (Auerbach 1941, S. 1181). Auerbach 1941, S. 1181. „Kategorienlehre“ in: Ritter u. a. (Hg.) 2007, Bd. 4, S. 716 ff. Zur Überlieferung der „Kategorien“ siehe Oehler 2006, S. 128 – 142. Diese Bedeutungsschicht ist auch im zeitgenössischen Deutschen in der Verbform noch erkennbar. So verweist das Verb „leiden“ in dem Ausdruck, man könne jemanden nicht leiden, eher auf „dulden“ oder „aushalten“. Dieser passiv ertragende Zustand hat zwar einen negativen Anklang, unterscheidet sich jedoch inhaltlich von etwas ernsthaft Leidvollem oder Schmerzlichem, das eine Person innerlich ergreift. „Leiden“ in: Ritter u. a. (Hg.) 2007, Bd. 5, S. 206.
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Aufnahme“ (Hume) oder „Empfänglichkeit“ (Kant) – im Fokus der menschlichen Kognition werden „Rezeptivität“ und „Spontaneität“ einander als zwei Vermögen gegenübergestellt.³⁰ Kants Versuch in der ersten Kritik, die beiden als Bestandteile des menschlichen Verstandes zu synthetisieren, weist zugleich darauf hin, wie sehr sie bis dahin als dichotomisch voneinander getrennt betrachtet wurden. Der Exkurs führt uns zurück zu Adorno.
3.2.3 Das kognitive Leiden Bekanntlich geht Adornos Reflexion über die europäische Geschichte mit seiner Kritik des begrifflichen Denkens einher: Das kollektive Scheitern der Moral ist in einer Denkstruktur verankert, die lebendige Menschen durch Vollzüge der Identifizierung und Kategorisierung zu Gegenständen nivelliert. Diese zu Identifizierung und Kategorisierung neigende Methode des Denkens wird durch den Aufschwung der positivistischen Naturwissenschaften zur Definition von Rationalität schlechthin erklärt. Die an der Verdinglichung, also der ‚Dingfestmachung‘ der natürlichen Umwelt orientierte Denkweise verstärkt nach Adorno einen allgemeinen Hang, die unerschöpfliche Besonderheit des Anderen zu ignorieren – man denke hier an seine viel diskutierte Lehre vom „Vorrang des Objekts“ und der instrumentellen Vernunft. Da die kognitiv geäußerte Unfähigkeit, die Andersheit der Anderen zu erkennen, für Adorno als moralische Unfähigkeit zu verstehen ist,³¹ muss für ihn eine gültige Lehre der Moral nicht zuletzt zeigen können, dass die subjektivistische Erkenntnistheorie überwindbar ist. Wie im Kapitel 1 bereits eingeführt wurde und im nächsten Kapitel noch näher diskutiert wird, impliziert Adornos eigene Theorie der Erkenntnis stets eine Bezugnahme auf Kant, denn es ist Kant, der einen reinen Verstand hypostasiert und den Prozess des Denkens als einen „Actus der Spontaneität“³² bestimmt. Alle Erklärungen Adornos dessen, was Denken ist, beinhalten den Anspruch, die Kantische Erkenntnistheorie zu korrigieren: Denken ist keine bloß subjektive Tätigkeit […]. Auch das Organ des Denkens, Klugheit, besteht nicht allein in der formalen Kraft des subjektiven Vermögens, Begriffe, Urteile, Schlüsse
Die Rekonstruktion in diesem Absatz stützt sich auf den Artikel „Passivität“ in: Ritter u. a. (Hg.) 2007, Bd. 7, S. 164. Axel Honneth erläutert die Anerkennungsstruktur der Erkenntnis bei Adorno, und zwar im Zusammenhang von dessen psychoanalytischen Annahmen. Der Gedankengang ist in Verdinglichung (2005c) eingebettet. Kant 1974, S. 135.
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“
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korrekt zu bilden, sondern zugleich in der Fähigkeit, dies Vermögen an das zu wenden, was ihm selbst nicht gleicht.³³
Diese Art der Schmiegsamkeit, der produktiven Passivität oder „spontanen Rezeptivität“, ist eigentlich das, was als Haltung des Denkens bei Hegel mit dem Begriff der Erfahrung gemeint ist. Die „spontane Rezeptivität“³⁴ ist ein aus Husserls Phänomenologie stammender Ausdruck, in dem Adorno einen bedeutsamen Fortschritt der deutschen Erkenntnistheorie erkennt. Denn in diesem Ausdruck wird die seit Kant entfernt gehaltene Rezeptivität und Passivität³⁵ im Prozess des Denkens wieder sichtbar. An diese erkenntnistheoretische Problematik knüpft Adorno meines Erachtens seine Verwendung des Leidensbegriffs. In der Negativen Dialektik stellt er eine zunächst unverständliche Behauptung auf: Das „Maß“ aller Erkenntnis bestünde in dem, „was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt“³⁶. Hat man den oben nachgezeichneten etymologischen und philosophischen Hintergrund vor Augen, wird deutlich, dass es kein Zufall ist, dass Adorno nun das „Leiden“ mit dem „Widerfahrnis“ gleichsetzt. Zunächst lässt sich „Leiden“ durchaus in seinem geläufigen Sinn verstehen, aber es verweist zugleich auf die Ideengeschichte, die sich seit Hume und Kant über Hegel und schließlich die Phänomenologie herauskristallisiert. In einem neutralisierten erkenntnistheoretischen Zusammenhang ist das von etwas im Denken konfrontierte Subjekt eben das rezeptive, empfängliche und aufnahmefähige Subjekt. Adornos Verwendung des Begriffs „Leiden“ bewegt sich also stets zwischen dem rein negativ gemeinten schmerzlichen Geschehen und einer die menschliche Kognition konstituierenden Vorbedingung. Ist diese Interpretation plausibel, dann ist Adornos Leidensbegriff zugleich auf eine alltagsnahe wie alltagsferne Weise zu verstehen. Wird „Leiden“ als indirekter Terminus verwendet, handelt es sich nicht einfach um die negative Erfahrung oder das Unglück, sondern in einer wesentlicheren Hinsicht um ein kognitiv-psychisches Vermögen, das für die Aktivität des Denkens unentbehrlich ist. Ohne dieses „kognitive Leiden“, ohne die „spontane Rezeptivität“ als notwendige Vorbedingung ist keine geistige Erfahrung möglich. In diesem Sinne ist der leidende Denker für Adorno in Wahrheit das ideale Subjekt, das stets das NichtIdentische, welches am fremden Objekt ständig als etwas Neues aufscheint, zu verspüren in der Lage ist.
Adorno GS 10.2, S. 578. Adorno GS 5, S. 369. Vgl. Adorno KrV, S. 260. Adorno GS 6, S. 172.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
3.2.4 Wozu die „De-Psychologisierung“ des Leidens? Meine bisherigen Überlegungen stellten den Versuch dar, Adornos Leidensbegriff zunächst zu de-psychologisieren bzw. ein Element an ihm zu sondieren, das nicht mit einem negativen Gefühl einhergeht. Die negative Dialektik, die ein „subjektiv – dezentriertes“³⁷ Denkverfahren beinhaltet, ist (wie oben angedeutet) nicht nur deskriptiv zu lesen. Sie erhebt zugleich den normativen Anspruch, dass die einfühlsame Umgangsweise mit dem Anderen im Vergleich zum Subjektivismus, der einer Logik des Willens folge, die richtigere sei. Allerdings bleibt offen, unter welchen Bedingungen die Realisierung einer solchen kognitiven Dezentrierung theoretisch in Aussicht gestellt werden kann. Die Suggestion des prägnanten Mottos, wonach nur schmerzliche, negative Erfahrung uns zum richtigen Denken bewege, ja dass „aller Schmerz und alle Negativität […] Motor des dialektischen Gedankens“³⁸ sei, könnte gar als Tautologie verstanden werden. Das hieße, dass uns nur die negative Empfindung zu einer empfindsamen Denkbewegung veranlasst. In einer solchen Lesart findet die negative Dialektik als Methode des Denkens eigentlich keinen „Motor“, der sich durch fassbare und wiederholbare Entstehungsbedingungen begründen ließe. Begreift man die Begriffe „Schmerz“ und „Negativität“ ausschließlich als etwas Dunkles, Melancholisches oder Beschädigtes, kann die gesamte negative Dialektik nur auf Zufälligkeit basieren: auf der Zufälligkeit des objektiven unglücklichen Geschehens und auf der Zufälligkeit, dass das Subjekt bis dahin „das unverdiente Glück“³⁹ hatte, dass seine Sensibilität von der harten Realität nicht bereits abgestumpft wurde. Aber warum sollten die in Wohlstand und Sicherheit Lebenden, also die Nichtleidenden, von dem reflektierenden Denken ausgeschlossen sein, das immer etwas Neues aufscheinen lässt? Kann man überhaupt von einer gemeinsamen Basis sprechen, auf der sich eine solche Sensibilität zu entfalten beginnt? Und wie ließe sie sich ausbilden? Eine Philosophie, die die mögliche Verwirklichung der Vernunft ausschließlich von objektiven und subjektiven Zufällen abhängig macht, kann von sich aus keinen universalen normativen Anspruch auf ein richtiges Denken und Handeln erheben, sie kann bestenfalls appellieren. Nur wenn sich die Bedingungen zur Ausführung des Richtigen als universal vorhanden erweisen lassen, wäre die Rede von einem
Siehe Honneth 2006, S. 21. Zur entwicklungspsychologischen Bedeutung der „Dezentrisierung“ siehe Kapitel 5. Adorno GS 6, S. 202. Adorno GS 6, S. 51.
3.2 „Kognitives Leiden“ und „reales Leiden“
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gemeinsamen Projekt der intellektuellen und moralischen Aufklärung überhaupt sinnvoll.⁴⁰ Die vereinseitigte Bestimmung des Leidensbegriffs zieht nämlich einen theoretischen Riss nach sich, der ein kohärentes Gesamtbild unmöglich macht. Solange der Leidensbegriff eindimensional in der unglücklichen Erfahrung befangen ist, bleibt der inhärente kognitive Gehalt des Begriffs als theoretischer Bestandteil unbeachtet und unwirksam, so dass die zahlreichen um den Leidensbegriff kreisenden Aussagen an Überzeugungskraft verlieren. Am Fehlen dieses Elements verformt sich folglich Adornos gedankliche Konstellation, wodurch das gesamte Bild unvermeidlich in ein teilweises Dunkel versinkt. An dieser Stelle gilt es noch, auf ein bisher nicht wahrgenommenes Übersetzungsproblem oder gar einen Übersetzungsfehler in der englischen AdornoÜbersetzung hinzuweisen. Adornos Leidensbegriff wird stets als „suffering“ ins Englische übersetzt, ein Wort, bei dessen Verwendung eine Entkoppelung von der negativen Wertung und den damit verbundenen Emotionen im heutigen Gebrauch semantisch im Grunde ausgeschlossen ist.⁴¹ Im Vergleich zu dem deutschen Wort „Leiden“, das (wie oben gezeigt) in einem bestimmten Kontext moralisch neutral verstanden werden kann, ist eine Lesart von „suffering“ ohne moralische Konnotation nicht möglich. Zwar liegt auch dem Verb „to suffer“ als ursprüngliche Bedeutung „to bear“ (tragen) zugrunde, aber heutzutage lassen sich sowohl das Verb als auch dessen Nominalisierung „suffering“ nicht mehr „wertneutral“ lesen. So wird die oben genannte Aristotelische Kategorie der „passio“ als „passion“, „affection“⁴² oder „being affected“⁴³ ins Englische übersetzt, nicht als „suffering“. Der in allen Übersetzungen von Adornos Schriften ausnahmslos verwendete englische Gegenpart „suffering“ kann also dem Umfang von Adornos Leidensbegriff nicht gerecht werden. Er verdeckt die philosophische Wurzel des „Leidens“ und schränkt somit den Deutungsspielraum massiv ein. Die
Mit der Unterscheidung der zwei Bedeutungen des Leidens ändert sich auch die Charakterisierung von Adornos Philosophie. Ein erkenntnispsychologisch erfasstes Element zu Kreativität und Reflexion zu schätzen, ist etwas anderes, als das reale Leiden normativ aufzuladen. Eine Interpretation wie die folgende führt offenbar leicht zur Skepsis, dass das reale Leiden für Adorno einen „Königsweg bürgerlicher Individuierung“ bilde und dass „[e]s die Rangordnung einer Erkenntnis [bestimmt], wie tief der Erkennende leiden kann.“ (Früchtl 1986, S. 110) Daher macht Früchtl darauf aufmerksam, dass in dieser Interpretation eine deutliche Gefahr zum Nietzscheanismus bestehe. Die Erfahrung der kognitiven Dissonanz ist keineswegs nur an elitäre Kunst oder einsame Lektüre gebunden, geschweige denn nur an das Unglück, sie kann sich jederzeit in der Alltagserfahrung ergeben. Siehe „Suffer“ in: Urdang (Hg.) 1991. Aristotle 1938, 11b, S. 79. Aristotle 1981, 11b1– 11b9, 19.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
geläufige Gleichsetzung von „Leiden“ und „suffering“ wirkt sich möglicherweise auch rückwirkend auf die Lesart des deutschen Texts aus. Sowohl in der deutschen als auch in der englischen Interpretation bleibt die als kognitives Vermögen verstandene Rezeptivität und Empfindlichkeit im Leidensbegriff bislang unberücksichtigt.
3.3 Tut das Nicht-Identische weh? Das Projekt der Revokation Mit dem Vorschlag, ein positiv wirkendes „kognitives Leiden“ aus Adornos Wortgebrauch herauszulesen, das seiner eigenen Bestimmung nach nichts mit bedrückten Gefühlen und Emotionen zu tun hat, stoßen wir auf folgende Frage: Wenn es richtig ist, dass Adorno diese Bedeutungsschicht im „Leiden“ mitkonzipiert – aus welchen Gründen wirft er dann zwei Sachverhalte in einem Begriff zusammen, die eigentlich voneinander zu differenzieren sind? Ist es für seine Philosophie nicht gerade unerlässlich, die feinen Unterschiede sichtbar zu machen? Adorno hat künftige Nachfragen wohl vorausgeahnt. Nachdem er in seiner Vorlesung die These entwickelt hat, dass die Nicht-Identität als „Leiden“ und „Zerrissenheit“ durch „Arbeit, Geduld, Ernst und Anstrengungen des Begriffs“ zu überwinden sei,⁴⁴ formuliert er für das Publikum einen Vorwurf gegen sich selbst: „Ja, das ist doch emotional, was hat denn das Denken mit dem Ernst, dem Schmerz, der Arbeit, dem Leiden überhaupt zu tun, das sind doch vollkommen andere Kategorien.“⁴⁵ Schon dieser Selbsteinwand ist bedeutend. Er zeigt, dass Adorno in seiner ambivalenten Verwendung des Leidensbegriffs den semantischen Unterschied klar vor Augen hat und weiß, dass die beiden Sachverhalte dem gewöhnlichen Sprachverständnis nach nicht unumwunden mit demselben Wort zu bezeichnen sind. Trotzdem geht er so vor, offenbar mit der Erwartung, dass die Leser gerade durch die Wahrnehmung der semantischen Diskrepanz provoziert werden und sich fragen, ob die zwei „Leidensformen“ tatsächlich so andersartig sind. Ohne zunächst der Unstimmigkeit gewahr zu werden, bleibt das kritische Potenzial der Wortwahl allerdings ohne Wirkung. Nun gibt Adorno die Antwort auf seine Frage: Das Wesen der Dialektik besteht genau darin, daß sie versucht, durch den Gedanken selbst jene Trennung der Sphären, wie sie in dem Wald- und Wiesenklischee von Denken, Fühlen und Wollen vor allem sich ausdrückt, eben rückgängig zu machen; und der berühmte Gedanke der Einheit von Theorie und Praxis selber ist nur der oberste Ausdruck dieses, wenn
Adorno ED, S. 70. Adorno ED, S. 68.
3.4 Dissonanz: „Süße Not“
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Sie so wollen, Revokationsversuchs, der natürlich nicht eine restaurative Wiederherstellung des einmal Ungetrennten meinen kann, sondern durch die Trennung hindurch die Vereinigung des Getrennten aus seiner eigenen Gewalt heraus.⁴⁶
Der Grund dafür, die Denkenden als die Leidenden zu bezeichnen, liegt nicht darin, das Denken rhetorisch zu romantisieren. Vielmehr entspricht dieses Verfahren einem reifen philosophischen Konzept, das es unternimmt, die verselbstständigte wissenschaftliche Unterteilung der menschlichen Selbstkenntnis am Begriff des Leidens zu überprüfen: Sind das kognitive Vermögen, die emotionale Sensibilität, der Handlungswille wirklich jeweils „vollkommen andere Kategorien“? Mit dem absichtlich undifferenzierten „Leiden“, das mehrere Perspektiven des Menschseins in sich schließt, will Adorno durch die fachlich getrennten Gebiete hindurch das unteilbare Wesen der Vernunft hervortreten lassen. Inhaltlich allerdings sind Adornos Aussagen unbefriedigend. Sie bieten keine klaren Hinweise, wie genau diese kritische „Revokation“ zu erreichen, wie die genannte Einheit theoretisch zu begründen ist. Im Folgenden werde ich den Deutungsansatz der „Denkpsychologie“ weiter entwickeln und zeigen, dass für Adorno jeder Schritt innerhalb der Denkbewegung psychisch bedingt ist und psychisch wirkt. Jedoch ist der anvisierte psychische Inhalt nicht, wie seine Texte oft suggerieren, das negative Gefühl auf bewusstem Niveau, sondern die unbewusste psychische Dynamik. Die oben durchgeführte De-Psychologisierung soll operativ dazu beitragen, das verborgene „kognitive Leiden“ von dem alltagspsychologischen Sinn des Leidens zu entkoppeln, es von Trauer und Unglück zu befreien, so dass es sich mit seinem eigentlichen psychischen Gehalt verbinden kann: Adornos Begriff des „Leidens“ ist in diesem neuen Rahmen als psychoanalytisch definierte „Unlust-Lust“ – also nicht als „suffering“ –, sondern als eine unbewusste Reaktion auf das Nicht-Identische zu verstehen.
3.4 Dissonanz: „Süße Not“ Akzeptiert man Adornos Annahme, dass alle isoliert beobachtbaren Aspekte des menschlichen Geistes miteinander verwoben sind, so scheint es richtig zu sein, auch das Folgende anzunehmen: Erscheint etwas in der Innenwelt eines Subjekts als unidentisch, ist dies nicht nur kognitiv relevant; der oder die Denkende muss vielmehr als ganze Person davon irgendwie „betroffen“ sein und kann psychisch nicht unbewegt bleiben. Adorno ED, S. 68.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
Schon die frühe Sprachkritik in der Dialektik der Aufklärung weist darauf hin, dass die prädominierende Eigenschaft des begrifflichen Feststellens psychisch motiviert ist. Das identische Denken verfährt so, „als wären Denken und Realität gleichnamig, während doch jenes bloß durch Distanz Gewalt hat über diese. Solche Distanz ist aber zugleich Leiden.“⁴⁷ Adorno tendiert nämlich stets dazu, das ursprünglich von Hegel beschriebene Widerspruchsmoment durch den Einsatz des Leidensbegriffs psychologisch aufzuladen, wenn es etwa heißt, dass das Nicht-Identische zwischen der äußeren Realität und meinem Wissen – und somit auch das Nicht-Identische innerhalb der Innenwelt einer Person – doch wahrhaft weh tue, und dass eine solche Unstimmigkeit abgeschafft werden müsse. Distanziert man sich von dem einleitenden Hegel-Kontext, lässt sich der hier beschriebene Sachverhalt als „kognitive Dissonanz“⁴⁸ bezeichnen. Dieser aus der Tradition der kognitiven Psychologie und Lerntheorie stammende Begriff verweist auf ein allgemeines psychisches Phänomen: Menschen können innerlich nicht umhin, verspürte Widersprüche und Unstimmigkeiten beseitigen zu wollen: The holding of two or more inconsistent cognitions arouses the state of cognitive dissonance, which is experienced as unconfortable tension. This tension has drive-like properties and must be reduced.⁴⁹
Die Dissonanz-Theorie vertritt die Grundannahme, dass Widersprüche oder Unvereinbarkeiten in Überzeugungen notwendig eine innere Regung hervorrufen, die als Motivation zum Lernen genutzt werden kann: „How we go about dealing with our inconsistency can be rather ingenious. But […] there is little question that it will be done.“⁵⁰ Das Gewahren einer kognitiven Dissonanz kann also sowohl rationalisierende Selbstrechtfertigung als auch gesunde Neugier und Erkenntnislust evozieren, die dann ein Nachdenken, Fragen und auch Phantasieren veranlasst. Solche geistigen Fähigkeiten sind keineswegs esoterisch und lassen sich im Alltag sowie in der sozialen Interaktion überall beobachten. Dass das kognitive Leiden auch Lernmotivation und Erkenntnislust bedeutet und das Verhältnis zwischen Leiden, Unlust und Lust eine Bedeutungsverschie-
Adorno GS 3, S. 87 f. Der Begriff „kognitive Dissonanz“ stammt aus Leon Festingers gleichnamiger Theorie, die in den frühen 1950er Jahren aufgestellt wurde und bis heute als Forschungsthema im Bereich der kognitiven Psychologie und Lerntheorie aktuell ist. Festinger war Schüler von Kurt Levin, der sich als experimenteller Psychologe in den USA einen Namen gemacht hat. Levin gilt als Pionier innerhalb der Gruppenpsychologie. Zum historischen Hintergrund der Dissonanz-Theorie siehe Festinger 1980. Dies ist die ursprüngliche Definition von Leon Festinger, zitiert bei Cooper 2007, S. 7. Cooper 2007, S. 3, Herv. von Cooper. Vgl. auch Elliot/Devine 1994.
3.4 Dissonanz: „Süße Not“
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bung impliziert, erläutert auch Adorno selbst, und zwar anhand eines spezifischen Akkords in der Musik Richard Wagners: Der charakteristische Akkord etwa, dessen allegorische Beschriftung die Worte: „Lenzes Gebot, die süße Not“ bringt und der in den Meistersingern das Moment des erotischen Dranges und damit das Agens schlechthin repräsentiert, kündet vom Leiden an der Unerfülltheit ebenso wie von der Lust, die in der Spannung, dem Unerfüllten selber liegt: er ist süß und Not zugleich.⁵¹
Was Adorno in dem musikalischen Zusammenklang vernimmt, ist die Komplexität und Differenziertheit des menschlichen Seelenlebens. Nach seiner Auffassung der Psychoanalyse muss solche „süße Not“ tief in unserem Unbewussten wirken, und seine obige Erklärung bezieht sich ganz offenbar auf Freuds LustUnlust-Prinzip. Mit dem Lustprinzip verbindet Freud eine innere Konstanz als höchste Norm. Dementsprechend definiert er unbewusste Regungen aller Art prinzipiell negativ, als „Unlust“, da sie von destabilisierendem Charakter sind und nach Erfüllung streben müssen, was sich aber nicht gleich zu erkennen gibt. Aus diesem Grund wurde das Lustprinzip anfänglich auch als Unlustprinzip bezeichnet, da sich das gesamte Triebsystem nicht hedonistisch von der Aufregung her reguliert, wie die missverständliche Bezeichnung nahelegt, sondern auf eine Milderung und Vermeidung von Unlust aus ist.⁵² Das Grundprinzip der Triebkonstanz liefert m. E. den psychoanalytischen Anhaltspunkt dafür, warum Adorno das zum Denken bewegende Motiv tendenziell als Leiden und Schmerz, also negativ konnotiert. Eine begriffliche wie theoretische Schwierigkeit bei Freud liegt allerdings darin, dass die Erklärungskraft eines jeweiligen Aspekts seiner Theorie beschränkt ist, und so nicht alle Aspekte produktiv ineinandergreifen können. So hebt das Lust-Unlust-Prinzip den ökonomischen Aspekt hervor – die qualitative Bedeutsamkeit der Regungen lässt sich mit der quantitativen Terminologie von Besetzung und Abfuhr jedoch nur schwer artikulieren. Freud muss daher gewissermaßen am Rande eine Unterscheidung vornehmen und hinzufügen, dass manche unbewussten Spannungen durchaus „lustvoll“⁵³ seien, auch wenn sie die innere Konstanz eigentlich störten. Was Adorno mit den Begriffen der ästhetischen wie der kognitiven Dissonanz zum Ausdruck bringen will, ist zweifelsohne dem zuzuzählen, was Freud als Ausnahme behandelt. Und dieses verfügt über einen bei Freud undeutlich blei-
Adorno GS 13, S. 64. Zur Erläuterung des Lustprinzips vgl. den „Freud-Exkurs“ im ersten Kapitel. Pontalis/Laplanche 1973, S. 298.
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3 Adornos Denkpsychologie (1): Das kognitive Leiden
benden dialektischen Charakter. Für Adorno ist die kognitive Dissonanz ein lustvoller, das Prinzip der Befriedigung negierender Drang. Die Lust nach Wissen speist sich aus Spannung und Ungewissheit und das, was daran als erfüllend erfahren wird, enthält gerade das Unerfülltsein, wie die obigen Zeilen zu Wagner zeigen. Im Unterschied zur bloßen Begierde trägt das Leiden im Denken und in den ästhetischen Sinnen für Adorno eine „Gestalt der Sehnsucht“⁵⁴, weil es seine Beziehung zur Außenwelt sowie zu sich selbst nicht in endgültigem Stillstand erstarren lässt. In diesem Sinne ist die kognitive Dissonanz wesentlich „süß und Not zugleich“, da es immer wieder von Neuem zu destabilisierenden Regungen kommt. Auch deshalb schätzt Adorno die Musik von Wagner: „Bei Beethoven und bis in die Hochromantik hinein sind die harmonischen Ausdruckswerte fixiert: die Dissonanz steht für das Negative und das Leiden, die Konsonanz für Positivität und Erfüllung. Das ändert sich bei Wagner im Sinn der subjektiven Differenzierung der harmonischen Gefühlsvaleurs.“⁵⁵ „Zweideutigkeit selber wird zum Ausdruckselement.“⁵⁶
3.5 Das psychische Wesen der Rationalität Nach der „Zweideutigkeit“ bemessen ist Adornos Wahl des Wortes „Leiden“ und auch seine Definition durch die Dissonanz-Theorie nicht wirklich überzeugend, da sie auf die Seite des allein Negativen umkippen und somit den „Janus-Charakter“⁵⁷ bzw. den lockenden Genuss der sublimierenden Kraft nicht zum Ausdruck bringen können. Mit der Zusammenführung von Leiden und Denken will Adorno auf das gleichermaßen rezeptive wie luststrebende psychische Wesen der menschlichen Rationalität verweisen, was unmittelbar mit seinem Projekt der Revokation des einheitlichen Menschseins zu tun hat. Die negative Akzentuierung ist aber rückblickend ein hemmender Ansatz gewesen. Der durch das Wort „Leiden“ suggerierte komplexe Zusammenhang zwischen Intellekt und Psyche, der sowohl die Normalität als auch die Pathologien des menschlichen Seelenlebens umfassen kann, wird unter der Mitwirkung des Zeitgeistes und des Adorno‘schen Stils zu einer unglücklichen inhaltlichen Verkürzung enggeführt, die
Adorno ÄS, S. 66. Adorno GS 13, S. 64. Adorno GS 13, S. 64. Adorno GS 13, S. 64.
3.5 Das psychische Wesen der Rationalität
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massiv dazu beiträgt, eine Erklärung des eigentlich universalen „Motors“ der negativen Dialektik durch psychoanalytische Elemente zu verhindern.⁵⁸
Man sollte daran erinnern, dass Adornos denkpsychologischer Ansatz eine praktische Bedeutung hat. Am Schluss des Aufsatzes „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“ erklärt Adorno, dass der Hauptgrund für seine Rückkehr nach Deutschland der war, durch die „Restitution von Erfahrung“ zur „politischen Aufklärung in Europa“ beitragen zu wollen. Adorno GS 10.2, S. 738.
4 Adornos Denkpsychologie (2): Die Motivation zum Identifizieren in der Wahrnehmung 4.1 Denkpsychologie: Die Antwort auf Kant Das im letzten Kapitel ausgeführte Argument zeigt, dass der gängige Rahmen zur Analyse von Adornos Leidensbegriff, Leiden ausschließlich im Sinne von „suffering“ als etwas Negatives zu beschreiben, Adornos Konzept nicht gerecht wird. Mit der Wiedergewinnung der in der Rezeption verloren gegangenen Bedeutung als kognitives Vermögen eröffnet sich eine neue Dimension seines Leidensbegriffs. Um die für das Denken konstitutive Bedeutung von Leiden im Sinne einer „kognitiven Dissonanz“ angemessen bestimmen zu können, benötigen wir also einen neuen, die bloße Negativität übersteigenden Bezugsrahmen. In der vorliegenden Studie wird er mit einem Ausdruck Adornos als „Denkpsychologie“¹ bezeichnet. Der Kern der „Denkpsychologie“ liegt in der Auffassung begründet, dass alle theoretisch fassbaren Aspekte unseres Geisteslebens unbewusst psychisch bedingt sind. Seien es die Moral oder die ästhetische Kreativität, das logische Denken oder die schlichte Wahrnehmung – für Adorno kann kein Bereich geistiger Aktivität unabhängig von unbewussten Triebregungen und Dispositionen erfasst werden. Die im letzten Kapitel anhand des Begriffs der Erfahrung erläuterte These, dass sich aus Adornos Leidensbegriff ein „kognitives Leiden“ herausdifferenzieren lässt – dass uns das „Nicht-Identische“ unbewusst affiziert („weh tut“) –, liefert einen wichtigen Hinweis darauf, dass Adorno die Rationalität als wesentlich psychisch responsiv auffasst.² In diesem Kapitel werde ich die sich daran anschließende Behauptung vertreten, Adorno verorte die kognitiv-psychologische Responsivität nicht nur in der gehaltvollen geistreichen „Erfahrung“, sondern
Den Ausdruck „Denkpsychologie“ verwendet Adorno nicht generell, wohl wegen seiner heiklen Nähe zu der positivistisch orientierten kognitiven Psychologie. Der grundlegende Unterschied zwischen Adorno und der Letzteren liegt darin, dass für Adorno die psychoanalytische Voraussetzung des Unbewussten absolut wesentlich ist. Auf die Bedeutung seiner Verwendung des Ausdrucks „Denkpsychologie“ wird im Folgenden noch eingegangen. Dass das Denken bei Adorno die Eigenschaft der „Responsivität“ besitzen soll, ist ein erhellender Ansatz von Axel Honneth, der bereits auf das psychologische Wesen des Denkens verweist: „[D]as gewandelte Verhältnis zum Objekt [kann] nur darin bestehen, diesem gegenüber im Vollzug begrifflicher Erkenntnis ein höheres Maß an Responsivität, an Differenziertheit und Genauigkeit aufzubringen“ (Honneth 2006, S. 20). https://doi.org/10.1515/9783110642476-006
4.1 Denkpsychologie: Die Antwort auf Kant
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auch in einer schlichten Vorform des Denkens.³ Eine Reaktionsfähigkeit lässt sich nämlich am Prototyp der instrumentellen Vernunft – und das heißt für Adorno: am Kantischen „Ich denke“ – nachweisen. Mit Rekurs auf den im ersten Kapitel dargestellten Ansatz, wonach Adorno bereits sehr früh die Theorie des Unbewussten in die Kantische Epistemologie einführt, soll in diesem Kapitel weiter gezeigt werden, dass er seinen früheren Fehler dabei nicht einfach zur Seite schiebt. Vielmehr kann man in Adornos späterer Philosophie erkennen, dass er sich verpflichtet fühlt, eine physikalistische Auffassung von Psychologie zu überwinden. Und dies kann gelingen, wenn wir die von Kant als transzendental erklärte Instanz des Denkens in ihren gleichermaßen triebhaften wie affizierbaren Wesenszügen zu betrachten lernen. Adornos gründliche Korrektur im Hinblick auf eine psychologische Charakterisierung des kognitiven Subjekts bildet also einen wichtigen Teil seiner Denkpsychologie. Diesen Ansatz möchte ich im Folgenden entfalten, indem ich ihn als eine in die Vorlesung Probleme der Moralphilosophie eingebettete Struktur rekonstruiere. Das heißt, diese solitär gebliebene Vorlesung zur Moralphilosophie enthält einen Gedankengang, in dem Adorno seine „Auflösung“ der Kantischen Antinomie von Kausalität und Freiheit vorführt, und zwar auf eine nicht explizite Weise. Dieser an Kant gebundene Gedankengang lässt sich jedoch nur sinnvoll darstellen, wenn man den denkpsychologischen Ansatz einbezieht. Für Adorno sind die Überwindung des Kausalitätsprinzips und die Revision einer falschen erkenntnispsychologischen Bestimmung des menschlichen Verstandes zwei Seiten ein und derselben Medaille. Um die obige Hauptthese zu entwickeln, gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst möchte ich anhand des Textes von Probleme der Moralphilosophie Adornos Vorsatz zur Auflösung der dritten Antinomie explizieren. Die Betonung des Textbezugs hängt mit der Überzeugung zusammen, dass viele von Adornos Formulierungen in dieser Vorlesung von 1963 für sich betrachtet schwer verständlich bleiben, jedoch als Teil eines kohärenten Gedankengangs begriffen plötzlich ihr Bedeutungspotenzial entfalten. Nach der Konturierung der Problematik möchte ich
Adornos Konzept der Erfahrung enthält eine erkenntnistheoretische Bedeutungsschicht und ist, worauf Früchtl und auch Demmerling hinweisen, generell als ein „Gegenbegriff“ zu der „wissenschaftlich reglementierte[n] Erkenntnis“ (Früchtl 1986, S. 3) bzw. zu „den Standards technisch-wissenschaftliche[r] Kultur entsprechend[er] Schematisierung“ (Demmerling 1994, S. 152) zu verstehen. Die kritische Polarisierung von Erfahrung und Naturwissenschaft, die sich nach Demmerling bis zum Beginn der Neuzeit zurückführen lässt (Demmerling 1994, S. 151), könnte allerdings den kontraproduktiven Eindruck erwecken, Adorno verfolge ausschließlich ein positives Modell, ohne die Möglichkeit einer Überbrückung der beiden Aspekte einzubeziehen. Genau dagegen argumentiert das vorliegende Kapitel.
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4 Adornos Denkpsychologie (2)
mithilfe eines zeitgenössischen Wahrnehmungsexperiments das unbewusste psychische Wesen der Kognition veranschaulichen. Anschließend soll gezeigt werden, wie Adorno seinen früheren Ansatz korrigiert, indem er sowohl die Triebe als auch die Emotionen in die Erkenntnistheorie einführt. Um Adornos Gedankengang zur „Auflösung“ der dritten Antinomie möglichst zu vervollständigen, füge ich am Ende des Kapitels einen Exkurs zu seinem epistemologischen Ideal ein, das er in Werner Heisenbergs quantenphysischen Ansätzen wiedererkennt.
4.2 Der Primat der Moral im Verstande Dass es bei Adorno eine Denkpsychologie gibt, heißt, dass er das Erkennen als einen mentalen Vorgang betrachtet. Wie bereits im ersten Kapitel gezeigt wurde, beginnt Adorno die Integration der unbewussten Psyche und der Epistemologie mit seiner 1927 vorgelegten Habilitationsschrift zu Kant. Dieser Ansatz setzt sich, so die These der vorliegenden Arbeit, über die Jahre fort und lässt sich mit deutlichen Selbstkorrekturen noch in seiner Vorlesung zu den Problemen der Moralphilosophie (1963) wiederfinden. In dieser Vorlesung will Adorno die „Probleme in der Moralphilosophie“ im Allgemeinen behandeln – das jedenfalls legt der Titel nahe. Zu diesem Zweck setzt er sich mit Kant auseinander. Spontan würde man davon ausgehen, dass dann die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft zentrale Bezugspunkte bilden müssten, und genau so kündigt Adorno es auch zu Beginn seiner Vorlesung an.⁴ Allerdings nimmt die Vorlesung dann einen anderen Verlauf. In elf von insgesamt achtzehn Vorlesungen haben Kants Schriften zur Moral nur eine auffallend geringe Präsenz. Stattdessen rückt die Kritik der reinen Vernunft ins Zentrum. Zweifelsohne hängen die erste und die zweite Kritik architektonisch eng miteinander zusammen, so dass die erste Kritik durchaus als Einführung herangezogen werden kann. Doch das Maß an Zuwendung, das Adorno der Kritik der reinen Vernunft zuteil werden lässt, übersteigt jede gewöhnliche Einleitung. Auch kommen der Inhalt der Formeln des kategorischen Imperativs, der „gute Wille“, die Bedeutung der Pflicht usw., die als klassische Bausteine der Kantischen Moralphilosophie gelten, entweder nur sporadisch vor oder bleiben bis zum Ende der Vorlesung ganz ohne Erwähnung. Es drängt sich also die Frage auf, weshalb eine sich an Kant anlehnende Vorlesung zur Moralphilosophie in dieser Weise strukturiert wird.
Adorno PM, S. 37 f.
4.2 Der Primat der Moral im Verstande
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Ohne dies programmatisch zu formulieren, gibt Adorno seinen Grund dafür im Laufe der Vorlesung hier und da, wenn auch keineswegs in einer eindeutigen Weise zu erkennen: Wenn wir uns der Kantischen Moralphilosophie zuwenden, stößt man […] auf etwas recht Erstaunliches, nämlich daß ihr Ansatz sich findet in der theoretischen Philosophie, in der Kritik der reinen Vernunft.⁵
Würde man die angedeutete Einbettung des moralphilosophischen Ansatzes in die erste Kritik ganz im Sinne Kants verstehen – also im Sinne desjenigen Abschnitts, nach dem die Praxis erst durch die Grenzbestimmung bzw. „Aufhebung“⁶ des Wissens ihren Wirkungsbereich findet –, wäre hiermit die Kantische Auffassung der Vernunft lediglich bestätigt worden, was an sich keinen Grund zum Erstaunen darstellt. Adornos Bemerkung enthält aber gerade keine Zustimmung – sie richtet sich vielmehr gegen Kant. Adorno wirft Kant nämlich vor, in seiner eigenen Kritik der reinen Vernunft etwas übersehen zu haben, etwas, was das Wesen von Moral und Freiheit im Grunde viel besser erklären könnte. Was kann das sein? Er schreibt, bei Kant gäbe es Freiheit […] eigentlich „nur im praktischen Verstande“.⁷
Die „Korrektur“ Adornos an Kant wird m. E. in diesem kurzen Satz prägnant zusammengefasst: Die kritische Distanzierung, die Adorno in seiner Moralphilosophie vollzieht, lautet somit, dass es Freiheit nicht nur im praktischen, sondern auch im theoretischen Verstande gibt. Seine Kritik richtet sich dabei nicht am Primat der Moral aus, sondern an Kants Begründungsweise. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, ist Adorno der Auffassung, dass alle Formen der menschlichen Vernunft die gleichen psychischen Bedingungen teilen: Selbst in der formalsten Denkaktivität,⁸ die wir generell mit Kant als Leistung der „reinen Vernunft“ und damit als praxisfern einstufen, sind die allgemeinen psychischen
Adorno PM, S. 43. Kant 1974, S. 33. Die Kritik der reinen Vernunft untersucht bekanntlich die Bedingungen des Wissens und gilt im Allgemeinen als erkenntnistheoretische Arbeit. Adorno legt aber die Betonung darauf, Kants Ausgangspunkt und dessen eigentlichen Anspruch, die metaphysischen Ideen philosophisch bewahren zu können, im Auge zu behalten. Er bezeichnet dies als den Doppelanspruch Kants. Vgl. Adorno PM, S. 46. Adorno PM, S. 130. Vgl. Kant 1974, S. 674: „[D]a ist denn zuerst anzumerken, daß ich mich vorjetzt des Begriffs der Freiheit nur im praktischen Verstande bedienen werde.“ Dies wird außerdem von Adorno mit dem Hinweis auf ihre praktische Implikation als „Verhaltensweise des Subjekts“ (Adorno PM, S. 150) bezeichnet.
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Bedingungen enthalten, welche die subjektive Realisierung von Freiheit ermöglichen. Adornos diesbezüglicher Gedankengang lässt sich von dort beginnend rekonstruieren, wo er die Bruchstelle der Kantischen Philosophie erkennt, nämlich bei den drei Ideen und dem ,Kanon‘, mit dem Kant der „spekulativen Vernunft“ eine Grenze setzt. Im ,Kanon‘ der ersten Kritik erklärt Kant, die drei Ideen der Freiheit des Willens, der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes seien nicht von der theoretischen Vernunft zu bestimmen. Nach der „Kritik“ der reinen Vernunft stellt er fest, dass die die Ideen betreffenden metaphysischen Gegenstände kein Material der sinnlichen Anschauung sein können, dass durch sie also keine Erkenntnis entstehen kann, sondern lediglich Spekulation.⁹ Daraus zieht Kant einen alle metaphysica naturalis ¹⁰ widerlegenden Schluss: Während er noch in der Einleitung der ersten Kritik seinen Ausgangspunkt so darstellt, dass die menschliche Vernunft eine „Naturanlage“ habe, „unaufhaltsam“ nach dem Metaphysischen zu fragen – auch dann, wenn die Fragen keinen Antwort finden können –, kommt Kant im ,Kanon‘, also am Ende der Untersuchung, zu dem Ergebnis, dass „[i]n Ansehung aller dreien das bloß spekulative Interesse der Vernunft nur sehr gering [ist], […] weil man von allen Entdeckungen, […] doch keinen Gebrauch machen kann“¹¹. Diese Stelle, an der Kant dem neugierigen Wesen der menschlichen Vernunft ein Ende setzt, wird zum Ausgangspunkt von Adornos Kritik. Dass die metaphysischen Ideen Kant zufolge nur als Dasein-als-ob postuliert werden müssen und „ihre Wichtigkeit […] nur das Praktische angehen müssen [wird]“¹², bestreitet Adorno eindringlich. In der Vorlesung finden sich eine Reihe „negativ“ formulierter Bemerkungen dazu, und „negativ“ heißt vor allem, im Sinne des Umweges: Adorno spricht seine eigene Auffassung, die er schon auf den Lippen hat, nicht unmittelbar aus; stattdessen kritisiert er Kant stets in einem missbilligenden, erstaunten oder sich distanzierenden Ton. So wirft er ihm beispielsweise eine „Gleichgültigkeit des spekulativen Interesses“ vor, dass also die Ideen Kant zufolge „wichtig seien nur für unser Handeln“¹³; oder er wundert sich darüber, dass Kant als ein Denker, welcher „den Primat der Vernunft so streng festhält“, paradoxerweise „der Moralphilosophie gegenüber der theoretischen
„[W]ir [können] vom Objekt, welches einer Idee korrespondiert, keine Kenntnis, obzwar einen problematischen Begriff, haben.“ (Kant 1974, S. 339) Kant 1974, S. 60. Kant 1974, S. 672. Adorno PM, S. 100; Kant 1974, S. 673. Adorno PM, S. 98, Herv. von Adorno.
4.3 Die dritte Antinomie ist „auflösbar“
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Philosophie den Primat zuerteilt“¹⁴, und dass bei Kant „die Theorie es zwar fundiere, aber daß dann die Moral trotzdem als das Höhere und Menschliche über der Erkenntnis stünde“¹⁵. Was will Adorno eigentlich mit all diesen indirekten Bemerkungen gegen Kant sagen? Das Unausgesprochene lässt sich unschwer erschließen: Gegenüber der theoretischen Philosophie genießt die Kantisch definierte Moralphilosophie keinen Primat. Die Erkenntnis steht auf derselben Stufe wie die Praxis und die metaphysischen Ideen seien für unser Erkennen genauso wichtig wie für das Handeln. Diese noch zu erläuternden Thesen enthalten m. E. den gleichermaßen fundamentalen wie eigentümlichen Kern der gesamten Moralphilosophie Adornos. Der Primat der Moral gründet nicht in der vermeintlichen Moralphilosophie; stattdessen will Adorno nachweisen, dass das Transzendente gerade tief in der „reinen Vernunft“ und in der scheinbar von der Praxis getrennten Kognition wurzelt. Adornos Kritik, „daß die theoretische Vernunft, also die Naturerkenntnis an diesen Sätzen relativ desinteressiert sei, weil sie doch keine Hoffnung hat, sie zu ergründen“¹⁶, gleicht nämlich der Behauptung, die metaphysischen Ideen – die Ideen vom Guten und von der Freiheit – seien theoretisch eben doch „ergründbar“. Demnach soll die Realisierung des Sittengesetzes nicht mehr, wie Kant behauptet, ausschließlich der handlungstheoretisch definierten Praxis zuzuweisen sein. Sie wird zugleich zu einer Sache der Epistemologie.
4.3 Die dritte Antinomie ist „auflösbar“ Adornos Kant-Kritik betrifft in erster Linie die Unvereinbarkeit einer Begründung der universalen Gültigkeit der Erkenntnis und der Moralität. Diesbezüglich verwendet er eine Reihe bedeutungsähnlicher Ausdrücke wie „Dualismus“, „Doppelcharakter“ oder „Zweisträhnigkeit“, die man auch in der klassischen Kritik an Kant wiederfindet.¹⁷ Charakteristisch für seinen eigenen Blick auf Kant ist jedoch dessen von Adorno wiederholt so bezeichnete „eigentümliche Tendenz des Abbrechens“¹⁸. Er selbst erkennt dagegen zwischen dem, was Kant als Zerteiltes
Adorno PM, S. 44. Adorno PM, S. 46. Adorno PM, S. 102. Hinsichtlich der Frage, wie das Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung zu bestimmen sein soll, herrscht bekanntlich die „Zwei-Welten-“ bzw. die „Zwei-Aspekte-Interpretation“ vor, die zwischen beidem eine ontologische bzw. erkenntnistheoretische Unterscheidung markiert. Vgl. hierzu instruktiv Willaschek 2001. Adorno PM, S. 135.
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behandelt – die theoretische und die praktische Vernunft –, einen Entwicklungsprozess. Kants Reihenfolge in der Systemkonstruktion, nämlich von der ersten zur zweiten Kritik überzugehen, soll also noch ernster genommen werden, als dies bei Kant selbst der Fall war. Zwischen beiden erkennt Adorno eine immanente Kontinuität, die aufgrund von Kants „gewaltsamem“ Eingriff abgebrochen sei.¹⁹ Um die Kontinuität zwischen Kognition und Moral nachzuweisen, greift Adorno in der 9. Vorlesung schließlich auf die Formel vom „Gesetze der Freiheit“ zurück und erklärt, dass er „immer wieder und von den verschiedensten Ecken her […] zu zeigen [versuche], daß die Dialektik einen solchen Widerspruch, der einfach hier in einer Formulierung unaufgelöst zusammengedrängt ist, aufzulösen und zu entfalten versucht“²⁰. Was Adorno auflösen will, ist genauer der unversöhnliche Widerspruch der metaphysischen Prinzipien von Kausaldeterminismus und Freiheit, der bei Kant auf die dritte Antinomie zurückzuführen ist. Die dritte Antinomie – ob alles in der Welt ausschließlich nach Naturgesetzen geschehe oder ob nicht doch manche Erscheinungen nur durch die „Kausalität der Freiheit“ erklärbar seien –²¹ hält Adorno für durchaus „auflösbar“, mit der entsprechenden Behauptung, diesbezüglich auch eine einheitliche Erklärung vorlegen zu können. Diesen Vorsatz kündigt er in der 10. Vorlesung explizit an: [G]erade diejenigen, die ich als meine Schüler betrachten darf, […] werden ja und zwar mit Recht an dieser Stelle sagen: „[…] Muß das alles in einer Formel aufgehen? Muß denn alles unter einen systematischen Hut gebracht werden? […] Und warum soll das nun krampfhaft à tout prix vereinheitlich werden?“²²
Noch bevor er in seiner Erläuterung fortfährt, hebt Adorno erneut die Sonderstellung der dritten Antinomie hervor und betont, nur eine einheitliche Theorie könne den Phänomenen gerecht werden: [I]ch glaube, wenn Sie die Problematik […] so fassen, dann würden Sie doch dem Ernst und der Schwierigkeit dessen, wovon hier die Rede ist, Unrecht tun. Ich möchte doch versuchen, Ihnen […] zu sagen, warum nun tatsächlich dieser Dualismus, auf den Kant gestoßen ist, unbefriedigend ist, was an diesem Dualismus für die Theorie schwer sich ertragen läßt.²³
Adorno PM, S. 91. Adorno PM, S. 133. Kant 1974, S. 428. Adorno PM, S. 149. Adorno PM, S. 149.
4.3 Die dritte Antinomie ist „auflösbar“
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Diese Behauptung ist für Adorno durchaus ungewöhnlich. Sein gesamtes Philosophieren wird üblicherweise als „aporetisch“, „anti-systematisch“ und „negativistisch“ charakterisiert, und zwar dahingehend, dass die Aufgabe der Philosophie ausschließlich darin bestünde, die realen Widersprüche und Konflikte kritisch darzustellen. Jeder theoretische Versuch, über die „Negativität“ hinaus einen einheitlichen und versöhnten Zustand positiv zu erschließen, sei hingegen nicht legitim. Die Kantische Antinomie, die in der argumentativ unauflösbaren Spannung von Freiheit und Determinismus das Wesen des Menschseins bedenkt, wird häufig als zentrale Quelle für Adornos diesbezügliche Gedanken begriffen.²⁴ Das obige Zitat deutet allerdings darauf hin, dass Adorno „den aporetischen Ansatz der Kantischen Moralphilosophie“²⁵ offenbar nicht teilt. Wenngleich in pädagogischem Tonfall ausgedrückt, betrachtet Adorno es als notwendig, gegen seine Schüler und Anhänger Position zu beziehen. Die dargestellte Absicht, den Kantischen Dualismus als falsch zu erweisen und eine rational nachvollziehbare, nicht deterministische Erklärung der „Natur in Freiheit“ vorzulegen, ist nicht nur im Blick auf die Kant-Interpretation bedeutsam, sondern weist zugleich auf ein genuines Interesse Adornos hin. Diese offene Ankündigung erlaubt daher auch die Nachfrage, ob man Adornos Denken wirklich adäquat erfasst, wenn man ihn ausschließlich als Aporetiker charakterisiert.
Hinsichtlich der Bedeutung der dritten Antinomie für Adorno herrschen zwei Deutungsalternativen vor. Überwiegend wird sie als Anhaltspunkt für eine „Aporie der Moral“ gedeutet. Bezogen auf das prägnante Motto „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ hebt diese Lesart die konkurrierenden Normen der heutigen Gesellschaft und die Unmöglichkeit einer nicht der sozialen Unfreiheit verhafteten (und zu ihr beitragenden) individuellen Ausübung der Freiheit hervor. Laut Buck-Morss machte Adorno z. B. „negativity the hallmark of his dialectical thought precisely because he believed Hegel had been wrong: reason and reality did not coincide. As with Kant, Adorno’s antinomies remained antinomial“ (Buck-Morss 1979, S. 63). Eine ähnliche Auffassung teilt Brunkhorst 1999, S. 36: „Adorno’s idea of dialectic owes as much to Kant’s notion of ,antinomies‘ as to Hegel’s idea of an immanent critique.“ Auf der psychologischen Ebene geht Joel Whitebook davon aus, dass Adorno die allgemeine Möglichkeit einer Integration des Psychischen als ausgeschlossen betrachte und dazu tendiere, Freud ‚kantianisch‘ zu deuten, denn „Kants Theorie [ist] dualistischer und antinomischer […] als diejenige Freuds“ (Whitebook 2003b, S. 687). Die oben angeführte Ankündigung Adornos zeigt allerdings, dass es sich bei dem, was er anhand der dritten Antinomie zu entfalten gedenkt, um ein anderes Thema handelt. Es geht an dieser Stelle noch nicht um die praktische (Un‐) Möglichkeit der individuellen Willensäußerung, sondern um die Begründung der subjektiven Bedingung von Freiheit. Zu dieser Lesart vgl. Habermas 2005, dessen Ansatz ich im Folgenden noch weiter diskutiere. Adorno PM, S. 133.
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4.3.1 Das „Ich denke“ als psychisches Wesen Man muss sich also zunächst vor Augen führen, dass Adornos Morallehre einen ernsthaften Ansatz zur Überwindung Kantischer Voraussetzungen in sich birgt. Erst wenn man sich klar macht, dass es hier gerade nicht um die Zuspitzung einer Aporie geht, wird sichtbar, welchen Stellenwert Adorno einer solchen „Denkpsychologie“ zuschreibt. Unmittelbar nach der Klarstellung, dass der Kantische Dualismus argumentativ unbefriedigend sei, weist Adorno auf diese „Denkpsychologie“ hin – und damit auf einen Begriff, den er sonst so gut wie nie explizit verwendet: Es gibt nichts Seelisches, wovon Kant als Wissenschaftler nicht würde zugestanden haben, daß es […] der Kausalität untersteht. […] Er würde zum Beispiel, wenn es sich darum gehandelt hätte, etwas wie eine Denkpsychologie zu geben, also selbst die obersten logischen Verhaltensweisen des Subjekts, soweit sie reale Verhaltensweise zur Welt sind, in ihren psychologischen Bedingungen zu studieren, sich geweigert haben, nun etwa irgendeine Seelenkraft oder ein Seelenvermögen oder einen Seelenanteil als ein positiv Vorfindliches und Gegebenes der intelligiblen Welt zuzurechnen.²⁶
Mit dem Bezug auf Kants Paralogismen – und somit auch auf seine Habilitationsschrift von 1927 – deutet Adorno zunächst darauf hin, dass wir, um Kants Antinomie zu überwinden, die „psychologischen Bedingungen“ des Subjekts untersuchen müssen. Ein psychologischer Ansatz soll hier nämlich den Schlüssel liefern. Allerdings weicht Adornos Charakterisierung einer psychologischen Studie deutlich von dem ab, was wir normalerweise unter „Psychologie“ verstehen. Als eine „Denkpsychologie“ soll sie die Bedingungen für „die obersten logischen Verhaltensweisen“ des Subjektes untersuchen und dabei zugleich nachweisen können, dass es in der bei Kant über die sinnliche Erscheinungswelt hinausgehenden „intelligiblen Welt“ doch etwas „positiv Vorfindliches“ gibt, das aber trotz seines empirischen Wesens nicht der Kausalität untersteht, sondern, wie sich daraus schließen lässt, als Ursprung der Freiheit gelten kann. Was Adorno mit dem seelischen Subjekt meint, ist offenbar nicht das, was wir normalerweise unter einem (Sprach‐) Handlungssubjekt, also dem praktischen Subjekt, verstehen.²⁷ Seinen Andeutungen nach kann es sich dabei vielmehr um
Adorno PM, S. 150. An dieser Stelle unterscheidet sich meine Interpretation von derjenigen Jürgen Habermas‘. Habermas ist bisher der einzige Autor, der Adornos Absicht zur Auflösung der Antinomie wahrnimmt und expliziert. Er betrachtet seinen Ansatz als eine „Phänomenologie des Freiheitsbewusstseins“, der Adornos Idee von „Eingedenken der Natur im Subjekt“ entspricht (Habermas 2005, hier S. 15). Diese Bemerkung weist zunächst auf eine wichtige Voraussetzung hin, nämlich
4.3 Die dritte Antinomie ist „auflösbar“
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nichts anderes als das von Kant als apriorisch begriffene kognitive²⁸ Subjekt handeln. Es ist also das „Ich denke“, das Adorno als Schlüsselfigur der Freiheitsantinomie erkennt und dessen Determiniertsein er mit seiner „Denkpsychologie“ widerlegen will. Mit der Frage, ob es „etwa irgendeine Seelenkraft oder ein Seelenvermögen oder einen Seelenteil als ein positiv Vorfindliches und Gegebenes der intelligiblen Welt“²⁹ gebe, verweist Adorno ferner mit der altmodischen Terminologie Kants auf eine in unserem Zeitalter längst anerkannte Tatsache, nämlich, dass in unserem Denken unbewusste Kräfte mitwirken. In dem vorangegangenen Kapitel wurde mit Hegel und Freud gezeigt, dass Adorno die subjektive Denkbewegung als unbewusste Triebbewegung umdeutet. Dies allein reicht allerdings nicht aus, um die „Denkpsychologie“ als einen veritablen Gedankengang (und nicht lediglich als fragmentierte Intuition) plausibel zu machen. Wenn Adorno konsequent eine solche Denkpsychologie vertritt, dann muss für ihn das Denken in jeder Form mit psychischer Motivation korrelieren. Nicht nur das Denken im reifen und umfassenden Sinne, wie in der Reflexion und gedanklichen Durchdringung komplexer Lebensverhältnisse, sondern auch das restriktiv gefasste Denken in seinem minimal funktionellen Sinn soll als psychische Leistung erkannt werden. Eben von dieser Auffassung ausgehend sagt Adorno, dass „[s]chon die Kritik der reinen
dass Adorno eine allen Naturphänomenen zuzuordnende Naturkausalität nicht anerkennt. Eben weil er die Objektivität der Kausalität nicht für eine durchgängige Beschaffenheit der Natur hält, kann er seinen Fokus zunächst rein introspektiv auf das Subjekt richten. Allerdings, wie oben angedeutet, ist das Subjekt, das Adorno vor Augen hat, nicht das (Sprach‐)Handlungssubjekt im gewöhnlichen Sinne, das sich mit unterschiedlichen Motiven in einem stetigen Abwägungsprozess befindet und durch die faktische Möglichkeit des Abwägenkönnens sein Freiheitsbewusstsein erweist. Darüber hinaus lässt sich Habermas‘ Kritik, Adorno ließe die möglichen determinierenden Faktoren in unserer ersten Natur außen vor und verschiebe sie ausschließlich auf die „naturwüchsige Gesellschaft“ (Habermas 2005, S. 24), m. E. durch die Ausbuchstabierung der Denkpsychologie widerlegen. Der in diesem Kapitel mit Absicht vorgezogene Begriff der „Kognition“ hat im Vergleich zu Ausdrücken wie „Denken“, „Erkennen“ oder „Reflexion“ einen deutlich funktionaleren und daher auch eingeschränkteren Sinn. Für gewöhnlich der Kognition untergeordnete Themen wie „Lernen“, „Informationsverarbeitung“ oder „Problemlösen“ legen nahe, dass das Geistige hier eher leistungsorientiert untersucht wird. Wenn das Denken eine praktische Implikation hat, wie beispielsweise hinsichtlich der Bildung der Subjektivität oder seiner moralischen Gesinnung, kommt das Wort „Kognition“ vergleichsweise selten vor. Dieser positivistisch gefärbte Begriff bringt aber m. E gerade die Eigentümlichkeit von Adornos Ansatz zur Sprache: Selbst in den auf Funktionalität reduzierten Denkaktivitäten, die Kant in der ersten Kritik behandelt, ist für Adorno bereits die psychische Potenzialität zur Freiheit enthalten. Adorno PM, S. 150.
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Vernunft […] eine Phänomenologie des Geistes [ist]“³⁰. Das heißt: Selbst die in der Figur des „Ich denke“ hypostasierten kognitiven Funktionen haben Ursachen und gehören in einen Prozess des Werdens. Die Stelle, an der Adorno sich auf die „Denkpsychologie“ bezieht, ist für sich genommen nicht konkret genug, um den gesamten Beweisgang verständlich zu machen, aber sie gibt doch einen klaren Hinweis, wo Adorno seine Lösung sucht: Er verzichtet auf eine ontologisch verstandene Naturkausalität und fokussiert ausschließlich auf die subjektiven Bedingungen.³¹ Zur Beantwortung der Fragen, inwieweit Menschen bedingt oder frei sind und inwieweit wir verantwortlich sein können für das, was wir tun, führt Adornos Überlegung dann zurück bis an einen Ort, an dem es anscheinend keine Willensäußerung gibt und wo wir im Kantischen System ein moralisches Vakuum erreichen. Dass Adorno zur Auflösung der Freiheitsantinomie auf die Kritik der reinen Vernunft zurückgeht, macht deutlich, dass für ihn das menschliche Freiheitsbewusstsein keineswegs allein in der generell als normativ anerkannten Sphäre liegt, in der sich unser Denken und Handeln bereits begründungsorientiert vollziehen. Der „reine Verstand“ soll vielmehr gleichberechtigt als ein psychisches Wesen und ein Subjekt mit „Seelenkraft“ gelten, das zur Entwicklung des Freiheitsbewusstseins befördert werden kann. Der folgende Abschnitt soll zwei Punkte verdeutlichen: Bei Adornos „Auflösung“ der dritten Antinomie handelt es sich hauptsächlich um eine psychologische Relativierung des Kausalitätsbegriffs; es ist seine Anlehnung an die Wahrnehmungspsychologie – oder genauer gesagt: sein Zusammenschluss von Wahrnehmungspsychologie und Psychoanalyse –, der diese Relativierungsarbeit ermöglicht.
Adorno GS 10.2, S. 601. Habermas weist darauf hin, dass Adorno den Schelling‘schen Begriff „einer nicht vergegenständlichten Natura naturans“, die als unvermittelte Urnatur mit der wissenschaftlich vergegenständlichten Natur kontrastiert, theoretisch voraussetze (Habermas 2005, S. 14). Im Exkurs zu Heisenberg am Ende des vorliegenden Kapitels vertrete ich die These, dass in Adornos Nichtbeachten einer ontologischen Naturkausalität auch eine erkenntnistheoretische Dimension enthalten ist, die aus seiner langjährigen Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Ansätzen der Quantenphysik hervorgeht, die in der Adorno-Rezeption bislang unbeachtet geblieben ist.
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4.3.2 „Äußerlichkeit des Kausalitätsbegriffs“ Adornos Philosophie wird generell als „dialektisch“ charakterisiert. Mit dem allumfassenden, eher an Hegel erinnernden Rahmen der „Dialektik“ vor Augen könnte man allerdings eine schlichte, aber für die menschliche Selbsterkenntnis nicht unwichtige Frage übersehen: Wie würde Adorno die im Alltag unablässig ablaufenden kognitiven Prozesse verstehen, in denen (noch) keine Reflexion und kein Nachdenken stattfinden? Was geschieht seiner Ansicht nach in all diesen unzähligen Momenten in unserer Psyche? Wird dort auch subjektive Freiheit ausgeübt? Zur Rekonstruktion dieses von Adorno selbst nicht explizierten Gedankenganges bietet seine Bemerkung in der Vorlesung einen wichtigen Hinweis. Er kritisiert nämlich die Kantische Definition des Kausalitätsprinzips – dass „alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus[setzt], auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt“³² – immer wieder als „äußerlich“: „An diesem Kausalitätsbegriff fällt zunächst einmal […] eine bestimmte Art der ,Äußerlichkeit‘ auf“³³. Diese Bezeichnung ist im vorliegenden Kontext keineswegs unmittelbar nachvollziehbar und provoziert daher die Frage: Gegenüber wem oder was ist der Kausalitätsbegriff „äußerlich“? Vor dem Hintergrund des bereits Gesagten lässt sich die wiederholte Kritik der Äußerlichkeit so interpretieren, dass Adorno damit auf einen Mangel an theoretischer Verbindung zur realen Innenwelt des Subjekts verweist. Kants Modell, dass alle Menschen über dieselben Erkenntnisformen und Kategorien verfügen, und dass wir durch diese Apriorität überhaupt erst Erkenntnisse erwerben und uns miteinander austauschen können, erklärt zwar die allgemeine Funktionalität des Erkennens, aber sie erzeugt doch eine mechanische Vorstellung von bestimmten kognitiven Leistungen. Adorno möchte dagegen ein anderes Bild der Kognition vermitteln, eines, das die vermeintlich empirische Unabhängigkeit der kognitiven Instanz widerlegt. Zu dieser Deutung passt seine Erklärung, weshalb Kants Überlegung zur Kausalität äußerlich sei: [M]an [hat] als eine besondere und von Kant eigentlich gar nicht berücksichtigte, ausgezeichnete Art der Kausalität, nämlich einer Kausalität, die doch als eine von innen her möglich sei, eben die Motivation bezeichnet.³⁴
Kant 1974, S. 428. Adorno PM, S. 76. Siehe auch S. 77– 79. Adorno PM, S. 79.
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Die auf eine eher unspezifische Weise genannte „Motivation“ kann hier ein gleichermaßen irreführender wie aufschlussreicher Ausdruck sein. Ohne den Rahmen einer Denkpsychologie würde man im Zusammenhang von Kants Moralphilosophie davon ausgehen, dass hier die Lehre von der „Triebfeder“ moralischer Handlungen im Blick steht. Aber weshalb sollte Adorno ein derart zentrales Thema als von Kant „unberücksichtigt“ bezeichnen? Sobald es uns jedoch gelingt, uns klarzumachen, dass sich für Adorno die Verwirklichung der Freiheit nicht auf die Sphäre beschränkt, die wir mit Kant als Wirkungsbereich der Moral auffassen, sondern dass sie zugleich den „reinen“ Verstand umfasst, der nach ganz bestimmten Regeln formal erkennt, wird verständlich, worauf Adornos eigenartige Kritik der „Äußerlichkeit“ sowie die „Motivation der Kausalität“ hindeuten. Es geht nämlich um die Frage: Was motiviert das „Ich denke“ eigentlich dazu, etwas in einen kausalen Zusammenhang gesetzmäßig zu synthetisieren? Mitten in der Diskussion zum Thema Determinismus und Freiheit wirft Adorno daher eine richtungsweisende Frage auf: „[W]arum [sollen] zwei Zustände aufeinander folgen?“³⁵ Wenn es um das Sollen geht, bedeutet dies, dass es auch anders sein könnte. Mit anderen Worten: Wo es nach Kant keine Freiheit gibt, gibt es Adorno zufolge doch die Möglichkeit zur Alternative.
4.3.3 Das Unbewusste in der Kausalwahrnehmung Um die von Adorno erwähnte „besondere Art der Kausalität“ näher in Augenschein zu nehmen, möchte ich hier einen kurzen Abstecher in den Bereich der Kognitionspsychologie machen. Zwar scheint diese Disziplin auf den ersten Blick in keinem Zusammenhang mit Adorno zu stehen; meines Erachtens finden wir hier jedoch den entscheidenden Schlüssel dafür, um Adornos nebelhafter Herangehensweise an die „Auflösung“ der Antinomie mehr Kontur zu verleihen. Mit diesem in der Adorno-Rezeption eher fremd anmutenden Umweg soll noch einmal daran erinnert werden, dass Adornos Begriff des Unbewussten in Wahrheit ein „Hybrid“ ist: Er geht nicht allein (und auch nicht primär) auf Freud zurück, sondern ist deutlich tiefer in der wahrnehmungspsychologischen Herangehensweise verankert, als Adorno selbst dies ahnen lässt. Letztlich ist es eine Mischung von psychoanalytischen und wahrnehmungspsychologischen Voraussetzungen, die es Adorno erlaubt, seinen ungewöhnlichen Ansatz zur Überwindung des Kernproblems der Kantischen Philosophie zu formulieren.
Adorno PM, S. 79.
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Der Kognitionspsychologe Reinhold Kliegl hat in einer interpretierenden Übersicht zwischen 1946 – 2006 durchgeführte Experimentalreihen, die unsere Wahrnehmung der Kausalität (causal perception) untersuchen, zusammengestellt. Die Experimente waren ursprünglich aus der Hume-Kant-Kontroverse hervorgegangen,³⁶ das heißt aus der Frage, ob die menschliche Fähigkeit zur Kausalverknüpfung aus der Erfahrung erlernt wird oder ob nach wie vor die These Kants Aktualität besitzt, dass uns diese Fähigkeit erfahrungsunabhängig gegeben sei. In den genannten Experimenten wird dies am Beispiel der visuellen Wahrnehmung überprüft. Hat man den positivistischen Experimentalaufbau vor Augen, könnte man den Eindruck gewinnen, nichts könne Adornos dialektischer Philosophie ferner liegen. Gelingt es einem jedoch, diese Vorurteile beiseite zu lassen, wird man erkennen, dass die experimentelle wahrnehmungspsychologische Herangehensweise einen Gesichtspunkt der Kausalitätsproblematik aufschließt, der ganz zentral für Adorno ist, jedoch ausschließlich im Rekurs auf die philosophische Diskussion um Kants Thesen und ihre Kritiker nicht plausibel gemacht werden kann. Kliegls Erklärung zur Kausalwahrnehmung, die er unter Bezugnahme auf die Experimentalreihe vorlegt,³⁷ trägt in einem ersten Schritt dazu bei, Adornos Äußerlichkeits-Kritik an Kants Kausalitätsbegriff verständlicher zu machen. Die Wahrnehmung von Kausalität, so Kliegl, ist „ganz grundlegend mit der Zuweisung von Objektidentität verbunden“³⁸. „Identifizierung“ und „Kausalität“ sind offenbar zwei Themen, die zunächst nicht unmittelbar zusammenhängen. Folgt man der Formulierung der dritten Antinomie, geht es bei der Kausalität darum, ob ein Zustand einen vorherigen Zustand voraussetzt – die subjektive Identifizierung spielt dabei keine Rolle. Allerdings, denkt man (wie die „sehenden“ Probanden der visuellen Experimente), dass eine Kausalbeziehung nur dann „gesehen“
Laut Kliegl 2007, S. 43 stellt die Frage, wie Kinder die Fähigkeit zur Konstruktion der Kausalzusammenhänge erwerben, ein aktuelles Thema in der Entwicklungspsychologie dar. In den Experimenten werden Trickfilme verwendet, die nur ungefähr eine Sekunde dauern und schlichteste Elemente enthalten. Das Grundmodell besteht in der Bewegung eines Kreises auf einen anderen zu und in der darauf folgenden Bewegung des zweiten Kreises. In verschiedenen Abwandlungen werden „Reizsituationen“ wie z. B. die Geschwindigkeit und der Zeitabstand der Bewegungen, die Art des visuellen Zusammenstoßes bzw. der Überlappung sowie der dabei stattfindende Farbwechsel des Kreispaares (Rot-Grün) variiert, um genauer herauszufinden, unter welchen Bedingungen ein Zusammenhang zwischen der Bewegung des einen Kreises auf den zweiten und der Fortbewegung des zweiten Kreises von den Probanden als mechanisches Kausalverhältnis wahrgenommen wird. Bewegt sich beispielsweise der zweite, rechts stillstehende Kreis erst nach einem bestimmten zeitlichen Abstand, wird die vorherige Bewegung des ersten Kreises auf ihn zu nicht als Ursache wahrgenommen. Kliegl 2007, S. 41.
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werden kann, wenn das Objekt als irgendwie beharrend wahrgenommen wird. Dieser Unterschied zwischen einer ontologischen und einer kognitionspsychologischen Herangehensweise erklärt m. E. Adornos Bezeichnung der „Äußerlichkeit“: Adornos Perspektive wendet sich nach Innen, oder genauer gesagt, er blickt von innen nach außen. Aus dieser Innenperspektive heraus ist die Objektidentifizierung, die vom Subjekt vorgenommen wird, die notwendige Voraussetzung für die Feststellung eines Kausalzusammenhangs.³⁹ Sobald man mithilfe der wahrnehmungspsychologischen Beschreibung seine Betrachtungsweise auf das Problem ändert, was Adorno eher stillschweigend tut, findet man des Weiteren Hinweise, die der Interpretation der fraglichen „Motivation“ zur Kausalität dienen können: Die genannten Experimente verweisen auf ein eigentümliches Phänomen, nämlich dass unsere optische Wahrnehmung durchaus in der Lage ist, auf eine künstliche und selbsttrügerische Weise einen Kausalzusammenhang herzustellen. In seiner Einführung in die Experimentalreihen erinnert uns Kliegl daran, dass sich „[a]lle Philosophen und Psychologen […] einig [waren], daß ein später auftretendes Ereignis nicht kausal für ein früher auftretendes sein kann“⁴⁰. Diese als universale Wahrheit geltende Übereinkunft scheint zunächst so selbstverständlich zu sein, dass eine Betonung überflüssig wirkt. Nun wird in den Experimenten aber etwas Gegenteiliges offenkundig.⁴¹ Zwar scheint es logisch falsch und von der menschlichen Rationalität her schwer vorstellbar zu sein, dass ein späteres Ereignis Ursache eines früheren sein können soll, aber genau dies wird von den Probanden „gesehen“. Selbst in einem se-
Die in diesem Experiment nachgewiesene mentale Aktivität ist m. E. der verborgene empirische Anhaltspunkt für viele vage Formulierungen Adornos bezüglich der Kausalität. So heißt es beispielsweise: „An Kausalität ist zu lernen, was Identität am Nichtidentischen verübte.“ (Adorno GS 6, S. 266) Kliegl 2007, S. 39. In dem Experiment sind nun zwei parallele Kreispaare zu sehen. Der Trickfilm ist so gestaltet, dass der „Zusammenstoß des unteren Objektpaars zeitlich variiert und zwar so, daß dieser vor, gleichzeitig mit oder nach der Überlappung des oberen Kreispaares erfolgte“ (Kliegl 2007, S. 41). Man kann somit sagen, dass zwei „Ereignisse“ im Film präsentiert werden, deren jedes seiner eigenen Logik folgt: Ob bei dem einen Geschehen (einschließlich der Bewegung, des Zusammenstoßes/ Überlappens der Kreise usw.) zwischen einem grünen und einem roten Kreis eine Kausalität festzustellen ist, entbehrt jedes unmittelbaren Zusammenhanges mit dem anderen Geschehen, welches das Nachbarkreispaar betrifft. Die Ergebnisse zeigen aber nicht nur, dass die Wahrnehmung der Kausalität in dem einen Geschehen von dem anderen beeinflusst wird, sondern auch, dass der Einfluss bzw. die Ursache nachträglich hinzugefügt werden. Die Forscher fassen ihre Entdeckung einer „postdictive perception“ so zusammen: „Our results indicate that contextual events which occur after this moment (of full overlap) can influence the past […]. [N]ew information which is obtained can effectively influence the immediate past in constructing our conscious awareness.“ (Choi/Scholl 2006, S. 395)
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kündlich vollzogenen Geschehen fügen die Probanden also ihrer Wahrnehmung fiktiv und nachträglich eine „Ursache“ hinzu. Was also nach der zeitlichen Struktur eigentlich unmöglich ist, wird von Menschen dennoch als Kausalität „wahrgenommen“. Die kognitionspsychologischen Forscher gehen daher von der Annahme aus, dass es bei der optischen Wahrnehmung aktiv vermieden wird, zwei Ereignisse als lediglich koinzident zu nehmen (coincidence avoidance), obgleich sie dies faktisch sind. Beobachter „weigern“ sich somit beim Sehen gleichsam intuitiv, zwei zeitlich nahestehende Ereignisse als miteinander unzusammenhängend zu akzeptieren: When the two events in a casual-capture display are temporally synchronized, for example, the visual system treats this as a coincidence in need of explanation, and thereby imputes casuality to the otherwise non-casual full-overlap events as a way of making this relationship less accidental.⁴²
Vermieden wird also, etwas regellos Vorkommendes in seinem eigenen Kontext zu belassen, da es in diesem Fall für das beobachtende Subjekt (in diesem Fall handelt sich freilich um ein „minimalisiertes“ kognitives Ich, das seine Individualität nur in sehr geringem Maße einbringen kann) nicht unmittelbar zu begreifen bzw. einzuordnen ist. Eine Anstrengung des Hinschauens und Verstehens, die dem Geschehen gerecht wird, wird somit intuitiv vermieden. Hingegen wird zwei nicht zusammenhängenden Ereignissen trotz der verkehrten Zeitfolge eine Kausalität, d. h. ein Erklärungsmuster, zugeschrieben, so dass „this relationship less accidental“ wirkt. Die Entdeckung legt also nahe, dass Menschen generell (um zur Sprache Adornos zurückzukehren) „motiviert“ sind, in der schlichtesten Apperzeption, das heißt ohne ein spezifisches emotionales oder soziales Interesse, einen Kausalzusammenhang herzustellen. „Bei der Konstruktion dieser bewussten Wahrnehmung“, so fasst Kliegl zusammen, „genehmigt sich unser Geist eine erstaunliche Toleranz“⁴³. Die Toleranz gegenüber dem eigenen Versehen bedeutet natürlich zugleich eine gewisse Intoleranz dort, wo die Ereignisse entgegen unseren eigenen Erwartungen verlaufen. Unser Abstecher trägt dazu bei, einen neuen Kontext wachzurufen, in dem sich die oben zitierten, eher vage gebliebenen Bemerkungen Adornos nun sinnvoll lesen lassen. Allerdings bleiben zwei Fragen noch unbeantwortet. Zwar wissen wir nun, dass es tatsächlich die „Motivation“ zur Kausalität im Prozess der Kognition gibt, weiterhin ungeklärt ist aber, warum unser Geist dies tut. Neben Choi/Scholl 2006, S. 398. Kliegl 2007, S. 42.
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dieser sachlichen Frage bleibt auch eine interpretatorische Frage: Lässt sich ein Anhaltspunkt für diesen Denkansatz bei Adorno tatsächlich finden? Und wenn ja, wie? Ein historischer Hinweis liefert den Schlüssel für beide Fragen. Kliegl zufolge wurde die Annahme einer „coincidence avoidance“ bereits von Hermann von Helmholtz (1821– 1894) mit physiologisch-optischen Experimenten nachgewiesen: „Das Prinzip ,Wenn immer möglich, vermeide die Interpretation, daß die Wahrnehmung auf einer Koinzidenz beruht‘ geht zurück auf die Helmholtz’sche (1867) Annahme eines ,unbewußten Schlusses‘.“⁴⁴ An dieser Stelle kreuzt sich Adornos Philosophie genealogisch wie inhaltlich mit der zeitgenössischen kognitiven Psychologie: Die Wahrnehmungstheorie und von Helmholtz’ These von den „unbewussten Schlüssen“, die als Pionierarbeit der Kognitionswissenschaft gilt, sind Adorno seit 1927 bekannt⁴⁵ und gehören zu den deutschen Denkströmungen im 19. Jahrhundert, welche sich den psychischen Bedingungen des menschlichen Erkenntnisvermögens zuwenden. In den oben dargestellten Experimenten wird zwar von bewusster Wahrnehmung gesprochen, das heißt, ihre Ergebnisse basieren auf expliziten Aussagen der Teilnehmer darüber, was sie wahrnehmen; ihr eigentlicher Beitrag findet sich allerdings gerade darin, wie Helmholtz es bereits im 19. Jahrhundert zu bezeichnen weiß, dass sie eine uns unbewusste, aber faktisch wirkende Reaktionsweise aufdecken. Es ist das unbewusste Motiv oder genauer gesagt die psychoanalytische Deutung dieser „Motive zur Kausalität“, die Adornos Überlegungen zur Kausalität zugrunde liegt. Im Folgenden möchte ich anhand von Adornos spärlicher, aber unmittelbarer Bezugnahme auf Hermann von Helmholtz seinen eigenen denkpsychologischen Ansatz entfalten und dabei zeigen, dass Adorno konsequent die Herangehensweise verfolgt, unsere psychische Reaktionsfähigkeit im Blick auf die Außenwelt an der sinnlichen Wahrnehmung zu erläutern.
Kliegl 2007, S. 42. Wie im ersten Kapitel bereits ausgeführt, möchte Adorno in seiner Arbeit von 1927 das Unbewusste mit Kants transzendentaler Lehre zusammenbringen. Adornos eigene Worte lassen erkennen, dass seine Idee vom Unbewussten dabei nicht unmittelbar von Freud stammt, sondern durch die früheren deutschen „Philosophien des Unbewussten im Neunzehnten Jahrhundert“ (Adorno GS 1, S. 98) vermittelt ist. Er kennt Helmholtz’ Theorie nicht nur, sondern stellt zudem die Originalität seiner eigenen Arbeit durch einen Kontrast zu Helmholtz dar: „Wo ein Begriff des Unbewußten sich findet, der irgend mit der Kantischen Lehre vereinbar wäre – wie etwa in manchen Stücken der Wahrnehmungstheorie von Helmholtz –, kann zumindest keine Rede davon sein, daß der Begriff des Unbewußten als philosophisch zentraler Begriff gehandhabt würde.“ (Adorno GS 1, S. 108) Im Vergleich zur Psychoanalyse kennt Helmholtz’ Theorie im 19. Jahrhundert noch keinen konkreten Inhalt des Unbewussten, sie wird aber als Beginn der Fachrichtungen von Erkenntnispsychologie und Cognitive Science anerkannt.
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4.3.4 „(Selbst‐) Attribution der Kausalität“⁴⁶ Adornos expliziter Bezug auf Helmholtz’ Wahrnehmungspsychologie findet sich neben der frühen Habilitationsschrift auch in der Dialektik der Aufklärung. Hier formulieren Adorno und Horkheimer die durchaus ambigue Bemerkung: „Helmholtz [hat] […] mehr von der verschränkten Beziehung von Subjekt und Objekt gewußt als die offizielle Folgerichtigkeit der Schule, der neupsychologischen wie der neukantischen: das Wahrnehmungsbild enthält in der Tat Begriffe und Urteile.“⁴⁷ Der letzte Teil der These,⁴⁸ dass die Wahrnehmung kein rohes Material abbilde, sondern dieses bereits beurteile, spricht von der oben genannten Entdeckung der „unbewußten Schlüsse“ aus Helmholtz’ Handbuch der Physiologischen Optik (1867). Helmholtz zufolge ist Wahrnehmen nicht nur eine physiologische Aktivität; vielmehr ist sie von – unserem Bewusstsein verborgenen – „psychischen Thätigkeiten“⁴⁹ geleitet. Gestützt auf physiologische Experimente vertritt Helmholtz die Ansicht, dass das menschliche Sehsystem reale, drei-dimensionale Gegenstände nicht „als solche“ passiv abbilde, sondern mittels „Zeichen“ interpretiere. Was wir beim Sehen für wahr halten, entspricht somit nicht exakt der Realität; durch die geformten Interpretationsmuster ist jeder Akt des Sehens für einen erfahrenen Betrachter vielmehr ein Prozess des Abstrahierens.⁵⁰ Dies zu können, setzt sowohl logische als auch psychische Fähigkeiten voraus. Etwas als etwas zu sehen, besteht nach Helmholtz aus unbewussten Mikroprozessen, die analog zur
Diesen Titel entlehne ich dem Aufsatztitel von Reinhold Kliegl, an dessen Inhalt sich dieser Kapitelabschnitt anlehnt. „Zur Wahrnehmung und (Selbst‐) Attribution von Kausalität“, in: Kliegl 2007, S. 39 – 45. Adorno GS 3, S. 213. Wie sich die „verschränkte Beziehung“ verstehen lässt, diskutiere ich in Abschnitt 4. Helmholtz 1867, §26, S. 430. Für eine Darstellung von Helmholtz’ Wahrnehmungstheorie vgl. Ruoff 2008, S. 57– 72. Helmholtz 1867, §26, S. 431. Helmholtz’ These, dass Menschen Gegenstände anhand eingeübter Muster wahrnehmen, bedeutet nicht, dass wir autark in diese Muster eingeschlossen wären. Im Gegenteil, die Gegenstände gelten als außerhalb von mir liegende, mich anhaltend stimulierende Quelle. Dies ist deshalb von Relevanz, weil in Bezug auf die gegenwärtige Säuglingsforschung lebhaft diskutiert wird, ob es einen primären Narzissmus gibt, in dem das Kleinkind die Außenwelt nicht von sich unterscheidet. Nach Martin Dornes liefert gerade die Wahrnehmungspsychologie den nachhaltigsten Beweis dafür, dass der Säugling sehr wohl in der Lage ist, stets seiner Wahrnehmung Information zu entnehmen, „daß ,da draußen‘ etwas geschieht“ (Dornes 1997, S. 151).
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bewussten logischen Schlussfolgerung verlaufen:⁵¹ Wenn etwas in die Sicht eines Betrachters kommt, wird es unbewusst daraufhin „beurteilt“, als was es wahrzunehmen bzw. zu identifizieren sei. Helmholtz betont zwar, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung unzählige Wiederholungen als empirische Übung voraussetze; im Unterschied zu den Empiristen ist jedoch das, was Helmholtz zufolge bei der visuellen Wahrnehmung wiederholt „gesehen“ wird, nicht nur der einzelne Eindruck, sondern auch ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Helmholtz vertritt damit eine bemerkenswerte These: Mit der uns Menschen verfügbaren logischen Struktur, dass ähnliche Wirkungen (beim Sehenden) auf ähnliche Ursachen (Gegenstände) verweisen,⁵² wird beim Sehen nicht nur ein einzelnes Zeichen für dieses oder jenes Objekt genommen; es wird zudem ein ‚Zeichen der Gesetzmäßigkeit‘⁵³ gebildet und immer wieder eingesetzt. „Thus“, so wird Helmholtz’ Kernthese rezipiert, „the ‚object‘ is lawlikeness.“⁵⁴ Der Befund, dass im Wahrnehmungsbild immer zugleich ein Kausalverhältnis „mitgesehen“ wird, eröffnet eine neue Perspektive auf die Wahrnehmung. Er weist darauf hin, dass die Objektidentifikation, die für Adornos Erkenntniskritik insgesamt von zentraler Bedeutung ist, nicht nur ein gegenwärtiges Geschehen ist, sondern eine zeitliche Dimension enthält, die über das Jetzt hinausgeht und vom Subjekt stets psychisch erlebt wird. Die zeitliche Dimension der Wahrnehmung ermöglicht Adorno meines Erachtens, die scheinbar positivistisch verifizierbaren Phänomene der ,unbewussten Schlüsse‘ und der Koinzidenzvermeidung zunächst als Indiz einer unbewussten Affizierbarkeit des Menschen existenziell umzudeuten. Denn wenn es um Zeit geht, geht es zugleich um die Aussicht auf das Leben. So erinnern wir uns an die anfängliche Frage in der Moralvorlesung, warum „zwei Zustände aufeinander folgen sollen“. Adornos Antwort darauf lautet schlicht: Weil es uns „Selbstgewissheit“ verschafft, die Welt so zu sehen. Ein identifizierender Blick kann zwar keine materielle Realität herstellen, aber doch eine psychische Realität stiften. Selbst die inhaltsärmste Gesetzmäßigkeit verspricht Zukunft, und zwar eine kontinuierliche und voraussehbare. In der unbewussten Suche nach Gewissheit besteht m. E. der Schlüssel für Adornos „Auflösung“ der dritten Antinomie: Ohne an eine ontologische Kausalstruktur der
Fullinwider erläutert Helmholtz’ Sicht wie folgt: „He [Helmholtz] argued, for example, that the colour red is not just a physiological event, it is a logical event also, in that it is a sign of its cause operating from the outside (trans-subjective) world.“ (Fullinwider 1991, S. 27) Fullinwider 1991, S. 25. Vgl. Helmholtz, 1921, S. 115 f. und Fullinwider 1991, S. 26. Fullinwider 1991, S. 26.
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Natur⁵⁵ zu glauben betrachtet Adorno die Phänomene, die einen Kausalzusammenhang darstellen, als Resultate des Zusammenwirkens eines innerlichen und äußerlichen Geschehens. Das heißt, „Kausalität“ kommt nur dann zur Erscheinung, wenn die für Menschen identifizierbaren Ereignisse der Außenwelt mit einer zum Identifizieren neigenden „Motivation“ zusammenfallen – sie ist also das Ergebnis einer „Koinzidenz“⁵⁶ von Innen und Außen und besitzt an sich keinerlei Notwendigkeit. Die Messtechniken seit Helmholtz und bis unsere Zeit tragen dazu bei, mit immer größerer Genauigkeit die unbewusste psychische Einbindung, also die „motivierte“ Kausalzuschreibung, nachzuweisen. Aber die Gründe, weshalb wir Menschen so verfahren, und ob und wie dies möglicherweise zu ändern sei, lassen sich nicht unmittelbar aus den Daten ableiten. In der Tat findet man bei Adorno unterschiedlichste Spekulationen, die als Interpretationen der unbewussten Motive gelesen werden könnten.Was er mit Helmholtz verfolgt, ist primär die evolutionstheoretische Vermutung, dass eine Erfahrung vorgeschichtlicher Zeit, als sich Menschen wie Tiere stets vor lebensbedrohlichen Gefahren schützen mussten, zu einem Reflex in der Wahrnehmung geworden sei. Adornos Behauptung „In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren“ ist daher keine grundlose Übertreibung, sondern drückt seine Überzeugung aus, dass auch in den flüchtigen Wahrnehmungsvorgängen eine empfindsam-projizierende Psyche am Werk ist.⁵⁷ Für Adorno ist die „unbewusste Tätigkeit“ dennoch nicht „Aktion“, sondern „Reaktion“ bzw. ein Abreagieren, das die „Absicht des Objekts“⁵⁸ verkennt. Sein diesbezüglicher Gedankengang fließt schließlich in dem Ausdruck der „kausalen Interdependenz“⁵⁹ zusammen. Danach bezeugen der Reflex und das Urteilen im Wahrnehmen eine einfache, aber allgemeine Wahrheit: Der Einfluss der Umgebung reicht bis tief in die Psyche hinein.⁶⁰ So ist die unbewusste
Die nähere Erklärung für Adornos Nichtbeachten der Naturkausalität findet sich in seiner Überzeugung von Heisenbergs Theorie, die ich zum Ende des Kapitels darstellen werde. Adorno erkennt es als Schopenhauers Verdienst an, dieser Auffassung Ausdruck verschafft zu haben. Dass „Kausalität“ als „eine solche Koinzidenz von innen und außen“ zu verstehen sei, werde von Kant dagegen „nicht gedacht“ (Adorno PM, S. 79). „Die Projektion von Eindrücken der Sinne ist ein Vermächtnis der tierischen Vorzeit, ein Mechanismus für die Zwecke von Schutz und Fraß, verlängertes Organ der Kampfbereitschaft, mit der die höheren Tierarten, lustvoll und unlustvoll, auf Bewegung reagierten, unabhängig von der Absicht des Objekts.“ (Adorno GS 3, S. 212) Adorno GS 3, S. 212. Adorno GS 6, S. 228. So schreibt er: „In der Reflexion auf Kausalität wird Vernunft, welche diese in der Natur überall dort findet, wo jene von ihr beherrscht wird, auch der eigenen Naturwüchsigkeit sich bewußt.“ (Adorno GS 6, S. 266) Vgl. auch Adorno GS 3, S. 106: „Selbst das Ich, die synthetische
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Kausalzuschreibung auch nicht die letzte „Ursache“; Adorno zieht aus Helmholtz’ Theorie vielmehr den Schluss: „Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurücklässt.“⁶¹ Diese Spuren in unseren Sinnen sind wohl ein nicht mehr auszuradierendes physiopsychologisches ,Brandmal‘, das uns aber gegenwärtig daran erinnern oder gemahnen sollte, dass eine grundsätzliche Neuorientierung der Nutzungsinteressen menschlicher Intelligenz nicht allein durch die Kraft des Einzelnen leistbar ist. Eine bedrohliche Außenwelt – die längst nicht mehr oder nicht nur in Form blinder Naturgewalten, sondern zunehmend in verschiedenen Formen der sozialen Institutionalisierung besteht, die von Menschen selbst geschaffen wurden – führe unvermeidlich dazu, dass die latente Motivation zur Kontrolle und Dingfestmachung nicht nur unsere intellektuelle Kraft erschöpft, sondern auch in der erkenntnistheoretischen Forschung reproduziert wird, als wäre die Natur einschließlich des Menschen selbst einem determinierten und berechenbaren System unterworfen. Nur von einem Verständnis der psychischen Bedürftigkeit der Rationalität aus, welches die entsprechenden Lebensbedingungen als ein gemeinsames Ziel bewusst und vor allem institutionell verfolgt, lassen sich Interesse und Qualität der Erkenntnis verändern. Jede philosophische Kritik dagegen, die ausschließlich dafür plädiert, der Einzelne solle in seinem Denken nicht reaktionär und instrumentell verfahren, führt leicht zu einer „Überforderung des Subjekts“⁶².
4.4 Die unbewussten Motive zum Identifizieren Verlässt man die Thematik der Kausalität und betrachtet den obigen Beweisgang in Bezug auf Adornos gesamte Philosophie, wird vor allem ein Punkt unmissverständlich klar: Adornos bekannte Kritik am identifizierenden Denken – und so auch seine These vom „Vorrang des Objekts“ – stützt sich in Wahrheit auf eine von ihm über Jahrzehnte gehegte, allerdings verdeckte erkenntnispsychologische Voraussetzung, nämlich die, dass die menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen unbewusst zum Identifizieren und zur Konstruktion neige.⁶³ Es ist nämlich
Einheit der Apperzeption, die Instanz, die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz.“ Adorno GS 3, S. 213 f. Adorno PM, S. 151. Dass das Sehen eine mentale Aktivität bzw. eine Art Konstruktionsarbeit ist, wird von Adorno trotz der späteren Erweiterung seiner Philosophie unvermindert angenommen. In der Habilita-
4.4 Die unbewussten Motive zum Identifizieren
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nicht so, wie es in der Rezeption verbreitet dargestellt wird, als würde Adorno das identifizierende Denken einseitig kritisieren und demgegenüber ein quasi utopisches Ideal des Nicht-Identischen postulieren.Vielmehr betrachtet er diesen Hang gerade als einen Beweis für die psychische Sensibilität, die allen Erkenntnisleistungen vorausgeht.⁶⁴ Sei es die Vorlesung aus dem Jahre 1963, seien es die 1944 erschienene Dialektik der Aufklärung oder die unten noch einzubeziehenden Minima Moralia aus dem Jahre 1951 – alle diesbezüglichen Stellen zeigen, dass Adorno sein 1927 verfolgtes Projekt, zwischen Psychoanalyse und Erkenntnistheorie zu vermitteln, stets weiterentwickelt hat. Wie bereits erwähnt, erkannte Adorno den „Hauptfehler“ seines ersten Vermittlungsversuches von 1927 darin, dass er den Lustbegriff bei Freud vernachlässigt habe.⁶⁵ In seinen späteren Schriften ist aber deutlich abzulesen, dass Adorno nicht nur eine überraschend kohärente Selbst-Korrektur durchführt, sondern sich auch nicht auf Freuds triebtheoretisches Vokabular beschränkt. Das psychische Wesen der Kognition erläutert er nicht nur anhand der Begriffe der Lust und des Triebes, vielmehr hebt er das affektive und interaktive Wesen im Denkvorgang hervor, das bei Freud weit weniger präsent ist. Ohne diese beiden Aspekte zu berücksichtigen oder ohne das Letztere von dem Ersteren zu differenzieren, kann man seinen eigenen denkpsychologischen Ansatz nicht angemessen erfassen. Im Folgenden sollen daher die beiden Aspekte mit Blick auf seine Interpretation des Objektidentifizierens dargestellt werden.
tionsschrift von 1927 schreibt der junge Adorno, Erkennen sei eine „Konstitution der Dinge […] durch eine Tätigkeit des Subjekts“, die das Material nicht als solches aufnimmt, sondern es „verändert und formt“ (Adorno GS 1, S. 97). Auf dieselbe Annahme bezieht er sich erneut und explizit in seiner 1957/58 gehaltenen Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie: „[D]ie Frage, ob uns dreidimensionale Raumwahrnehmungen, die Wahrnehmungen also der Raumtiefe, ob die ebenfalls eine unmittelbare Wahrnehmung ist oder ob sie erst aus intellektiven Synthesen, also aus dem Zusammenbringen mit taktilen Erfahrungen […] stammt, ob sie also erst ein Produkt ist, das ist, soviel mir bekannt ist, bis heute immer noch kontrovers, und soviel ich weiß, neigt im allgemeinen die Psychologie eher dazu, das zu bestreiten, daß es sich hier auch bei der Dreidimensionalität der Raumwahrnehmung um eine unmittelbare Wahrnehmung handeln würde.“ (Adorno ET, S. 369) Ohne rhetorische Übertreibung äußert Adorno daher seine Vermutung, dass das nicht sofort Identifizierbare häufig Angst erzeuge: „[D]as Neue [ist] eigentlich ein Moment der Unsicherheit, eine Gefährdung, etwas Beunruhigendes. Vielleicht steht dahinter sogar noch etwas sehr Archaisches, nämlich die Angst vor dem Ungleichen; die Angst vor dem, was nicht bereits von dem Netz unserer Begriffe übersponnen ist, wovor man dann, wenn es in irgendeiner Weise begegnet, erschrickt.“ (Adorno KrV, S. 45 f.) Siehe Kapitel 1, Abschnitt 1.1.2.
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4.4.1 Epistemische Teilhabe am Es In Einklang mit dem, was wir oben im Zusammenhang der Kausalzuschreibung dargestellt haben, weist Adorno immer wieder darauf hin, dass zunächst der unbewusste Drang zur Objektkonstruktion anerkannt werden müsse, denn sich seiner bewusst zu werden, stelle gerade den ersten Schritt zu einer qualitativen Transformation der Erkenntnis dar: Jenes Gefühl im Denken also, daß die tiefsten sogenannten konstitutiven Leistungen, die ich vollbringe, gar nicht die sind, in denen ich selber denke, sondern daß ,es‘ da schon in mir denkt; daß da ein ,Es‘ auch intellektiv am Werk ist, ehe nur das Ich recht konstituiert ist, – diese Erfahrung […] erlaubt dann den Übergang, eben das, was da vor allem individuellen Denken im Individuum denkt, indem es Welt konstituiert, als ein nicht Individuelles sondern als ein Transzendentales, das heißt: als ein nicht nur formal das Individuum unter sich Befassendes, sondern als ein die Individuation überhaupt erst Stiftendes und Ermöglichendes zu konstituieren; so wie ja im Begriff des Transzendentalen die Erinnerung an das Transzendente, also eben an ein Bewußtsein, das mehr sein soll als bloß das individuelle Bewußtsein, immer mitschwingt. Ich glaube, wenn Sie diese Erwägungen hier sich zueignen, dann sehen Sie […] in die Geheimisse des Freiheitsbegriffs hinein […].⁶⁶
Adorno bezeichnet das „Es“ als gleichermaßen transzendent wie transzendental: Es ist ein meta-physisches Dasein, das über das subjektive Können hinausreicht; zugleich ist es „transzendental“, insofern es die universale Vorbedingung für die menschliche kognitive Leistung überhaupt darstellt. Adorno hat nämlich nicht nur die Vorstellung von einer gemeinsamen Triebstruktur der Menschheit, die Freud als „Es“ bezeichnet – in klarem Unterschied zu Freud bestimmt er dieses in seiner erkenntnistheoretischen Ausrichtung als primär epistemisch. Alle Menschen teilen das „Es“, das in uns denkt und verantwortlich ist für unsere Tendenz zum Konstruieren. Der Freud‘sche Trieb zur Selbsterhaltung wird bei Adorno mit einem kritischen Bezug auf Kant somit zur Voraussetzung der Erkenntnis.⁶⁷ Der unbewusste Trieb im Denken ist das geteilte Vermögen der Menschheit, auch wenn die Logik der Identifizierung immer noch stark am Werk ist. Insofern Adorno das Es als eine das individuelle Leben „transzendierende“ Existenz annimmt, eröffnet sich auch eine neue Weise, seinen Ausdruck von der „Logik des Zerfalls“ zu verstehen. Die „Logik des Zerfalls“ wird oft so gedeutet, dass Adorno hier eine pessimistische Geschichtsphilosophie vertrete. Unter der
Adorno LGF, S. 298 f. So kritisiert Adorno Kant wie folgt: „Dieses Triebelement, das eigentlich jeden Akt der Erkenntnis noch in irgendeiner Weise inspiriert und das jeder eigentlich an sich selbst realisieren kann, gerade auch als Erkennender, das wird verleugnet, wird abgewehrt.“ (Adorno KrV, S. 294)
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Voraussetzung des Impulses zur Konstruktion lässt sie sich gerade umgekehrt interpretieren: Der Weg der Zivilisation kann auch als ein fortlaufender Weg der unbewussten psychischen Lockerung verstanden werden. Zum Ende der Negativen Dialektik hin notiert Adorno als Autor das Folgende: „Die Idee einer Logik des Zerfalls ist die älteste seiner philosophischen Konzeptionen: noch aus seinen Studentenjahren.“⁶⁸ Das kann heißen, dass Adorno bereits zu seiner Studentenzeit als Kantianer die Möglichkeit zum Zerfall dieses Konstruktionstriebes in uns gesehen hat. Die „Logik des Zerfalls“ würde in diesem Sinne auf die allmähliche Umformung unserer Triebe hindeuten. Veränderung und Fortschritte gehören keiner irgendwie eschatologischen⁶⁹ oder utopischen Zukunft an, sondern können in jedem Moment des Alltagslebens geschehen, wann immer sich eine Person ihrer unbewusst verwendeten Denkmuster bewusst wird. In diesem Kontext suggeriert der „Verfall“ also keinen metaphysischen Untergang, sondern die von allen getragene allmähliche Transformation des intellektuellen Interesses der Menschheit.
4.4.2 „Verschränkte Beziehung“ Ein weiterer Aspekt von Adornos Interpretation der unbewussten Motive zum Objektidentifizieren liegt darin, dass er die Wahrnehmung als von unterschiedlichen Affekten begleitet erfasst. Das reiche Gefühlsleben der Menschen reduziert Adorno nicht lediglich auf die selbsterhaltende Lust oder existenzielle Bedürfnisse. Hingegen beobachtet er gerade in der Wahrnehmung eine psychische Interaktion bzw. unbewusste Kommunikation zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. In den Minima Moralia schreibt er daher: „[I]st nicht die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen gebildet oder der Begierde danach?“⁷⁰ Was sich unbewusst im Wahrnehmen abspielt, enthält also eine weitere Dimension, eine, die über die endogene, sich eher auf sich selbst beziehende „Organlust“ hinausgeht. Adorno verortet unsere Gefühle und Regungen, seien es solche der Angst oder der Begierde, stets in einer personifizierten Doppelbeziehung in der Wahrnehmung. Er deutet nämlich darauf hin, dass selbst die leblosen Dinge oder die nicht-menschliche Natur unmerkliche Gefühle in uns hervorrufen. Die Außenwelt konstituiert also unsere Psyche längst, bevor wir uns dessen bewusst werden, ja wir kommen gar nicht umhin, unablässig auf etwas,
Adorno GS 6, S. 409. Repräsentativ dazu Theunissen 1983. Adorno GS 4, S. 138.
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das da ist oder da war, zu reagieren. Unmittelbar darauf notiert Adorno: „Ist nicht das Gedächtnis unabtrennbar von der Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? […] Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig die absolute Tautologie übrig.“⁷¹ In diesem Absatz sowie in dem dazugehörigen Aphorismus §79 „Intellectus sacrificium intellectus“ in den Minima Moralia bringt Adorno seine genuinen Gedanken zum Ausdruck: Das Denken vollzieht sich in der Liebe, in Wünschen und Emotionen. Welcher Art und wie formal auch immer, ist das Denken die unerlässliche Erwiderung auf etwas. Angst, Begierde und Antizipation in der Wahrnehmung sprechen von einem seelisch empfindsamen und verwundbaren Subjekt, das in der ihm nicht bewussten Abhängigkeit stets die Bindung zu Anderen oder Anderem herstellt bzw. herstellen will. Adorno hat also die Vorstellung, dass nicht nur zwischen Mensch und Mensch, sondern auch zwischen Menschen und Dingen affektive Bindungen bestehen, deren Inhalt von der Beschaffenheit der sinnlichen Wahrnehmung mitbestimmt wird: Sehen, Hören, Fühlen und Riechen – in den unterschiedlichen Wahrnehmungen entstehen unterschiedliche emotionale Interaktionen: Es wird nämlich nun unter den Sinnesorganen […] der Primat dem Auge zuerkannt; wobei ich vielleicht, ehe ich darauf eingehe, gerade sagen darf, daß von den Sinnesorganen das Auge ja eigentlich das objektivierende Organ ist, also das Organ, durch das wir am ehesten fähig sind, der Gegenstände in ihrer Objektivität, in ihrer Gegenständlichkeit uns zu versichern, so daß das Auge in gewisser Weise mit Rationalität mit Erhellung mit dem Prinzip der Naturbeherrschung am engsten verknüpft worden ist – im Gegensatz zum Ohr, das ja eine derartige gegenständliche Beziehung nicht eindeutig kennt; und dann vollends zu Sinnen wie dem Geschmacksinn und dem Geruchssinn, die eigentlich viel archaischere, viel mimetischere Sinne sind und die denn auch vermutlich in der zivilisatorischen Entwicklung allmählich verkümmern. Beim Geruchssinn kann kein Zweifel daran sein.⁷²
In seiner Rangordnung, die offenbar einer normativen Implikation gehorcht, verleiht Adorno dem Sehen keineswegs einen Primat, es gilt eher als der dominanteste Sinn. Denn im Sehen werden das Andere und die Anderen notwendig vergegenständlicht, wodurch stillschweigend eine psychisch erlittene „Trennung“ verstärkt wird, während wir etwa im Riechen, das keine feststellbaren Formen besitzt, auf eine natürliche Weise viel inniger miteinander verbunden sind: „Von allen Sinnen zeugt der Akt des Riechens, das angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem Drang, ans andere sich zu verlieren und
Adorno GS 4, S. 139. Adorno ÄS, S. 154 f.
4.4 Die unbewussten Motive zum Identifizieren
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gleich zu werden. Darum ist Geruch, als Wahrnehmung wie als Wahrgenommenes – beide werden eins im Vollzug.“⁷³ Gerade weil die innerliche Verbundenheit⁷⁴ für Adorno die ethische Grundlage der Erkenntnis darstellt, hat der optische Sinn, der in der Identifizierung mit der unbewussten Neigung zur Vergegenständlichung einhergeht, bei Adorno einen selbstzentrierenden Charakter. Allerdings sind wir selbst im Sehen und in der Objektivierung keine isolierten Monaden. Dass wir uns gar durch einen Blick ein Gefühl der Sicherheit verschaffen können, deutet gerade darauf hin, dass das Subjekt, um sich in einer solchen Selbstgewissheit wiegen zu können, von einer Rückbestätigung durch die Außenwelt abhängig ist. Daher gilt selbst für die primitive Projektion, in der das Objekt nicht wirklich in seiner Eigenständigkeit wahrgenommen, sondern eher als Projektionsfläche genutzt wird, dass sich der Wunsch nach Beständigkeit nicht nur auf das eigene Fortbestehen, sondern zugleich auf das Zusammenbleiben richtet. Wiederholt betont Adorno: Um denkend eine richtige Beziehung zum Anderen aufbauen zu können, muss es als Tatsache anerkannt werden, dass die unbewusste Abhängigkeit und Bedürftigkeit auch in der von Kant als „rein“ beschriebenen Objektivierung statthat. Daher lobt Adorno Helmholtz, der die Antizipation in der Wahrnehmung entdeckt und unumwunden anerkannt habe.⁷⁵ Helmholtz bringe auf diese Weise nämlich eine „verschränkte Beziehung“ zwischen Subjekt und Objekt zum Ausdruck – und „[w]enn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich“⁷⁶. Auch aus diesem Grund erkennt Adorno in allen philosophischen und wissenschaftlichen Ansätzen, die den Trieb und die Gefühle aus unserer Rationalität tilgen wollen, eine repressive „Kontrollinstanz“, die uns an unserer Selbsterkenntnis hindert: Adorno GS 3, S. 209. Diese primäre Verbundenheit lässt sich bei Adorno auf die zwischenmenschliche Beziehung zurückführen; vgl. dazu das nächste Kapitel, Abschnitt 5.3.3. Zwar nimmt Adorno Helmholtz’ Ansatz auf und entwickelt ihn mit den psychoanalytischen Spekulationen weiter, aber dennoch sollte eine klare Differenz zwischen Adorno und dem Weltbild des 19. Jahrhunderts nicht übersehen werden. An seinem eigenen Befund, dass Menschen an jedem stillen Objekt eine zeitliche Abfolge, eine Gesetzmäßigkeit, mitsehen, erkennt Helmholtz, dass die menschliche Kausalwahrnehmung subjektbedingt ist, dass wir die Realität somit nicht als solche wahrnehmen und daher auch das Wahrgenommene nicht mehr als etwas annehmen können, das der Realität 1:1 abgebildet wäre. In einem Zeitalter allerdings, in dem Newtons Physik und das Kausalitätsprinzip nach wie vor als absolute Wahrheit gelten, kann Helmholtz freilich nur zu dem Schluss gelangen, wir bräuchten dem Kausalitätsprinzip lediglich zu vertrauen: „[J]eder Induktionsschluß stützt sich auf das Vertrauen, daß ein bisher beobachtetes gesetzliches Verhalten sich in allen noch nicht zur Beobachtung gekommenen Fällen bewähren werde. Es ist dies ein Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens.“ (Helmholtz 1921, S. 133) Dieses unbeirrbare Vertrauen trennt Adorno von Helmholtz. Adorno GS 3, S. 214.
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Die Kastration der Wahrnehmung aber durch die Kontrollinstanz, die jegliche begehrende Antizipation ihr verweigert, zwingt sie eben damit ins Schema der ohnmächtigen Wiederholung von je schon Bekanntem. Daß eigentlich nicht mehr gesehen werden darf, läuft aufs Opfer des Intellekts hinaus.⁷⁷ [W]ohl versagt Erkenntnis, wo ihre vergegenständlichende Leistung im Bann der Wünsche bleibt. Sind aber die Triebe nicht im Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr.⁷⁸
Die unreflektierte Vergegenständlichung kann die Menschen zwar zur Sinnestäuschung und kognitiven Armut führen, aber selbst in solchen einfachsten Erkenntnisakten lässt sich eine primitive Vorform der psychischen Interaktion erkennen. Um das subjektivistische Erkenntnismodell Kants zu überwinden, reicht es offenbar für Adorno nicht aus, ein unverbindliches Gegenmodell vorzuschlagen. Hingegen soll die Ermöglichungsbedingung für eine inhaltsreiche Wahrnehmung bereits in der „vergegenständlichenden Leistung“ nachgewiesen werden. Adornos denkpsychoanalytisches Konzept enthält offenbar spekulative Elemente, aber genau deswegen eröffnet es ein Theoriefeld, das weder eindeutig Freud, Kant oder der kognitiven Psychologie zuzuordnen ist. In seiner Darstellung der unbewussten Interaktion reicht es weit über Freuds an der Lustökonomie orientiertes intrapsychisches Paradigma hinaus. Sowohl das Vokabular als auch der Fokus von Adornos psychoanalytischer Theorie des Denkens weichen deutlich von der herkömmlichen Psychoanalyse und der kognitiven Wissenschaft ab. Adorno deutet immer wieder darauf hin, dass die identifizierende Betrachtungsweise modifiziert werden kann. Im Schlusskapitel soll gezeigt werden, wie Adorno im Rahmen der individuellen Entwicklung die Möglichkeit einer psychischen Bildung erkennt. Im Folgenden möchte ich jedoch noch einen anderen Ansatz seiner Überlegungen herausarbeiten: In Adornos Überzeugung, dass die menschliche Psyche wesentlich dazu fähig sei, eine andere Beziehung zur Natur zu etablieren als die identifizierende, spricht sich auch seine ungewöhnliche Faszination gegenüber der Quantenphysik und Heisenbergs Unschärferelation aus. Für ihn könnten die neueren Entwicklungen innerhalb der Physik nicht nur dazu beitragen, dass wir uns unserer unbewussten Motivation zur Objektivierung bewusst werden und sie auf diese Weise verändern. Sie gelten darüber hinaus als erkenntnistheoretische wie ontologische Rückversicherung für Adornos behauptete „Auflösung der dritten Antinomie“.
Adorno GS 4, S. 139. Adorno GS 4, S. 138 f.
4.5 Exkurs: Emanzipation durch Naturwissenschaft
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4.5 Exkurs: Emanzipation durch Naturwissenschaft Es ist in der Tat ungewöhnlich, im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit Adornos Moralphilosophie auf die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik zurückzugreifen. Und doch ist dieser Bezugsrahmen von keiner geringen Bedeutung. Nicht nur in verschiedenen Vorlesungen, auch in seinen Schriften hat Adorno seine Überzeugung vom Aufklärungspotenzial der Quantentheorie, wenn auch mit aller Vorsicht, festgehalten.⁷⁹ Zum Thema Kausalität weist Adorno zudem immer wieder darauf hin, dass die Kantische Bestimmung der Kausalität durch die Entdeckungen der Quantentheorie „erschüttert“⁸⁰ oder gar „erledigt“⁸¹ worden sei. Die Bezugnahme auf die Quantentheorie wirkt zwar auf den ersten Blick merkwürdig, wird jedoch nachvollziehbar, wenn man sich mit ihren Hintergründen beschäftigt. Seit Anfang des letzten Jahrhunderts entzündet sie anhaltende Debatten darüber, ob das Kausalitätsprinzip (entweder in der Natur selbst oder aber in der Struktur unserer Erkenntnis) weiter aufrechtzuerhalten sei. Die Diskussionen greifen dabei weit über die naturwissenschaftlichen Fächer hinaus. Äußerungen zur Quantentheorie finden sich beispielsweise bei Philosophen wie Max Scheler, Herbert Marcuse, Ernst Bloch und Martin Heidegger sowie bei Schriftstellern wie Bertolt Brecht, um hier nur einige zu nennen, die zu Adornos Zeitgenossen gehören und deren Arbeiten ihm bekannt sind.⁸² Man kann davon
Ausnahmslos in jeder Diskussion zur Kausalität beruft sich Adorno auf die Quantentheorie, vgl. Kants Kritik der reinen Vernunft (S. 12, S. 350 f.), Probleme der Moralphilosophie (S. 60 f., S. 76 f.), Metaphysik. Begriff und Probleme (S. 118 f.) sowie allen voran „Zur Krisis der Kausalität“, in: Negative Dialektik (Adorno GS 6). Im Vergleich zur Vorlesung werden die Quantentheorie oder die Relativitätstheorie in den Schriften jedoch meist mit Vorsicht und häufig verdeckt unter der Vokabel „moderne Naturwissenschaft“ erwähnt. Vgl. beispielsweise folgende Passage: „Für den Vorrang des Objekts spricht wohl ein mit Kants Konstitutionslehre Unvereinbares: daß die ratio in den modernen Naturwissenschaften über die Mauer blickt, die sie selbst errichtet; ein Zipfelchen dessen erhascht, was mit ihren eingeschliffenen Kategorien nicht übereinkommt. Solche Erweiterung der ratio erschüttert den Subjektivismus.“ (Adorno GS 10.2, S. 748) Adorno KrV, S. 12. Adorno KrV, S. 351. Siehe Ernters 1995. In dieser Studie werden auch Adorno und Horkheimer kurz behandelt. Bezogen auf eine Stelle in der Dialektik der Aufklärung – „Natur ist, vor und nach der Quantentheorie, das mathematisch zu Erfassende, selbst was nicht eingeht, Unauflöslichkeit und Irrationalität, wird von mathematischen Theoremen umstellt“ – geht Ernters davon aus, dass die neueren Ansätze aus der Physik von den Autoren nicht aufgenommen wurden (Ernters 1995, S. 91). Diese Lesart lässt sich nun mit mehreren unzweideutigen Stellen aus den Vorlesungen widerlegen. Adornos Bezugnahmen auf die Quantenphysik fallen vor allem in die Zeit nach seiner Rückkehr aus Amerika. Seinen ähnliche Gedankengänge sind in John Deweys Die Suche nach
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ausgehen, dass nicht allzu viele der genannten Denker naturwissenschaftlich gebildet sind. Doch die Hemmung und die Scheu, die sie als Nicht-Naturwissenschaftler den höchst spezialisierten Naturwissenschaften gegenüber aufbringen, sowie die Tatsache, dass die Philosophie zu den naturwissenschaftlichen Entwicklungen weitgehend schweigt, sind in Adornos Sicht keine Tugenden. Es sei vielmehr eine unproduktive Defensivhaltung seit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert gewesen, dass „die Philosophie eigentlich glaubt, sich als ein Bereich unabhängig von den Wissenschaften und jenseits der Wissenschaften behaupten zu müssen. […] Dadurch ist die Philosophie in sich selber in jener merkwürdigen Weise verarmt“⁸³. Daher ist es durchaus konsequent, wenn Adorno ausdrücklich über eine neuere Entwicklung innerhalb der Naturwissenschaften reflektiert und deren Einfluss aufnimmt. Exemplarisch dafür ist eine Stelle aus der Abschluss-Sitzung zur Kritik der reinen Vernunft, in der Adorno seine Hochschätzung gegenüber der Quantentheorie in aller Offenheit äußert: [W]enn ich das heute, in dieser letzten Stunde, sagen darf, […] als ob die Entdeckungen, welche die Naturwissenschaft ungefähr während der letzten 60 Jahre gemacht hat […] durch die Relativitätstheorie und durch die Quantentheorie, wesentlich damit zusammenhängen – bis zu einem gewissen Grad ist das übrigens auch die Konsequenz der Atomtheorie – daß es dem Gedanken gelungen ist, durch seine Konsequenz und durch die Beziehung seiner Konsequenz auf mögliche Beobachtungen gewissermaßen ein kleines Guckloch zu finden, durch das wir aus dem Gefängnis herausschauen können, das uns durch unsere anthropologische intellektuelle Konstitution auferlegt wird.⁸⁴
Während es für Kant ausgeschlossen ist, Freiheit durch die Naturwissenschaften zu erklären, ja Natur und Freiheit seiner Auffassung nach kategorisch auseinandergehalten werden müssen, können die neuen physikalischen Erkenntnisse, so Adorno, zu einer nachdrücklichen Emanzipation der gesamten Menschheit beitragen. Diese Erwartung ist nicht gering, besonders wenn man sie an Adornos
Gewissheit zu finden. Dewey erörtert hier, inwiefern das naturwissenschaftliche Verfahren als eine „Erkenntnispraxis“ (Dewey 1998, S. 206) herrschende Gewissheiten reproduziert und die Möglichkeit zur Erfahrung konkreter Qualitäten beeinträchtigt. Nach Axel Honneth sah Dewey in Kants Zwei-Welten-Lehre sowie deren Einfluss auf die deutsche Mentalität die Ursache für das deutsche humanitäre Scheitern in den beiden Weltkriegen. Deweys Ansatz, die Bedeutung von Moral bereits in der Erkenntnis aufzuzeigen, hat unverkennbare Nähe zu Adornos Versuchen, die Kognition als Sphäre der Moral zurückzugewinnen. Siehe Dewey 1998, Kapitel 8, und Honneth 2014. Eine Bemerkung Adornos bezüglich seiner Hochachtung für Dewey wird von Rolf Tiedemann im Blick auf die Vorlesung über Negative Dialektik festgehalten; Tiedemann 2003, S. 304 f. Adorno ED, S. 198. Adorno KrV, S. 350.
4.5 Exkurs: Emanzipation durch Naturwissenschaft
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genereller Enthaltsamkeit gegenüber Zukunftsvorstellungen misst. Sie drängt zu den Fragen: Was hat Adorno in diesen Theorien gesehen? Warum erschienen sie ihm so hoffnungsvoll? Frankfurt, Dezember 1964 Die Welt sollte untergehen. […] Alles starrte auf den Himmel. Halb im Bewußtsein zu träumen, fragte ich, ob denn nun die Welt wirklich untergehen werde. Das wurde mir bestätigt, so wie technisch versierte Leute reden, alle waren Fachleute. […] Da ertönte aus Lautsprechern eine Stimme: um 8.20 wird noch einmal Werner Heisenberg sprechen. Ich dachte: das ist gar nicht er selbst, der den Weltuntergang kommentiert, nur die Wiederholung einer bereits mehrfach abgespielten Bandaufnahme. Mit dem Gefühl: genau so wäre es, wenn es wirklich geschähe, wachte ich auf.⁸⁵
Die Quantentheorie umfasst ein großes Forschungsgebiet und die Geschichte langer und intensiver Debatten, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus einer Vielzahl konkurrierender und sich stets gegenseitig ergänzender Theorien besteht. Sie lässt sich in verschiedenste Richtungen deuten. Bis zu Adornos Vorlesung hat sie bereits zwei Weltkriege erlebt und konnte sich über 60 Jahre hinweg etablieren. Zwar äußert Adorno seine Hochschätzung gegenüber der Quantentheorie unverhohlen (und dies häufig genug), eine genaue Nennung von Forschern oder Thesen wird uns in den meisten Schriften allerdings vorenthalten.⁸⁶ Das hier zitierte Traumprotokoll, in welchem die Echtheit der Rezeption von Werner Heisenbergs Aussage mit der Wahrhaftigkeit des Weltuntergangs zusammenhängt, kann zwar kein Argument liefern, aber es weist doch darauf hin, wessen Theorie Adorno möglicherweise vor Augen gehabt haben könnte, wenn er pauschal von der Quantentheorie spricht. Betrachtet man die allgemeine Darstellung oder auch nur einzelne Stichwörter aus Heisenbergs Theorie, so scheint die Vermutung einer Bezugnahme Adornos kaum von der Hand zu weisen zu sein.
4.5.1 Werner Heisenberg: Wechselwirkung Heisenberg stellte im Jahr 1927 seine Theorie der „Unschärferelation“⁸⁷ auf, die in jeder Darstellung der Quantentheorie als derjenige Schritt bezeichnet wird, der
Adorno GS 20.2, S. 581. Vgl. Adorno GS 10.2, S. 748. Heutzutage wird die Theorie eher als „Unbestimmtheitstheorie“ bezeichnet; vgl. Kiefer 2002. Heisenbergs Theorie und Niels Bohrs „Komplementaritätsprinzip“ bilden gemeinsam die berühmte Kopenhagener Deutung von 1927. Die folgende Diskussion bezieht sich jedoch ausschließlich auf Heisenberg.
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die klassische Definition der Realität und der Kausalität fundamental verändern sollte. Für eine Einschätzung dessen, was Adorno als emanzipatorisch an der Quantentheorie empfand bzw. auf diese projizierte, ist keine umfassende Wiedergabe der Heisenbergschen Ansätze vonnöten.⁸⁸ Die von mir grob herausgearbeiteten Aspekte dienen hier lediglich der Konturierung einer philosophischen Idee, die zu einem Verständnis von Adornos Philosophie beitragen können soll. Grundsätzlich ist es nicht verkehrt, zu wissen, dass die physikalische Diskussion inhaltlich wie historisch auf den seit dem 17. Jahrhundert umstrittenen „WelleTeilchen-Dualismus“ zurückgeht. Schon Isaak Newton und Christiaan Huygens debattieren darüber, ob das Wesen des Lichts als „Welle“ oder als „Teilchen“ zu verstehen sei. Beide Bestimmungen schließen sich gegenseitig aus, was ein Grundproblem der Quantentheorie darstellt. Zentral dabei ist die Rolle der Messung, und zwar die Messung der jeweiligen Eigenschaft eines Elementarteilchens (als Welle oder als Teilchen), die die jeweils andere Messung verunmöglicht (man kann beispielsweise nie den „Ort“ und den „Impuls“ eines Elektrons gleichzeitig messen). Heisenbergs Unschärferelation erschließt eine neue Dimension nicht dadurch, dass sie dieses Dilemma auflöst, sondern weil sie erklärt, was dieses Unauflösbare für die naturwissenschaftliche Definition von Messung, Beobachtung, Beschreibung, Realität und Objektivität und schließlich für das menschliche Erkennen bedeuten könnte.
Als eine Ergänzung füge ich hier jedoch John Polkinghornes Erläuterung von Heisenbergs Unschärferelation bzw. Unbestimmtheitstheorie an: „Heisenberg’s concern was […] with idealized ,thought experiment‘ that sought to explore the physical content of quantum mechanics. […] The idea is to find out in principle how accurately one might be able to measure the position and momentum of an electron. […] [I]f the theory really works, it should not be possible to know the values of both position and momentum with arbitrary accuracy. Heisenberg wanted to understand in physical terms why this was so. Let’s start by trying to measure the electron’s position. In principle, one way to do this would be to shine light on the electron and then look through a microscope to see where it is. (Remember this are thought experiments.) Now, optical instruments have a limited resolving power, which places restrictions on how accurately objects can be located. One cannot do better than the wavelength of the light being used. Of course one way to increase accuracy would be to use shorter wavelengths. […] As a result, decreasing the wavelength subjects the electron to more and more by way of an uncontrollable disturbance of its motion […]. The implication is that one increasingly loses knowledge of what the electron’s momentum will be after the position measurement […]: it is not possible simultaneously to have perfect knowledge of both position and momentum.“ (Polkinghorne 2002, S. 32 f.; vgl. Paul 2008, S. 11) Bei dem Letzteren wird noch betont, dass es für die „Unbestimmtheit“ in der Quantentheorie keinen entsprechenden Begriff in der klassische Physik gibt. Während in der klassischen Physik Unbestimmtheit dem Mangel an Information gleicht, bedeutet sie in der neuen Physik unser „Unvermögen“, Information zu erlangen.
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Was das Problem der „objektiven Realität“ betrifft, so ist zunächst auf den ursprünglichen Namen der Theorie zu verweisen: Mit „Unschärferelation“ wird eine in der klassischen Physik unvorstellbare Subjekt-Objekt-Beziehung benannt. Bis heute gilt es als herrschende Auffassung des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses, dass das Subjekt ein neutraler Beobachter sei und dass es auf der Grundlage von Beobachtung die Eigenschaften von Objekten feststellen könne. Diesem simplen Realismus gegenüber erklärt Heisenberg diese dualistische Beziehung im Mikrokosmos als nicht möglich, denn die von der Quantenphysik untersuchten Objekte verhalten sich diesbezüglich anders. Die zur Beobachtung nötige Messung, die schließlich nicht nur vom Messapparat ausgeht, sondern auch von menschlichen physischen sowie intellektuellen Voraussetzungen abhängt, bestimmt und verändert die Eigenschaften ihrer Objekte maßgeblich. Beim Beobachten innerhalb der Quantenphysik ergibt sich nämlich eine Paradoxie: Um überhaupt etwas beobachtend feststellen zu können, muss man auf das beobachtende Subjekt referieren, und gerade deshalb (weil die Beobachtung durch das Subjekt geschieht) wird diese „Feststellung“ nie vollständig exakt sein können. Das Subjekt wird also zur „Störung“ der anvisierten objektiven Realität. Die hier geschilderte Überlegung wird (abstrahiert man einmal von ihrem physikalischen Inhalt) heutzutage im Bereich der Sozialforschung oder der Geisteswissenschaften weitgehend anerkannt. Hier ist man bereits seit Wilhelm Dilthey darum bemüht, eine „andere“ Art von Objektivität geltend zu machen, mit der sich die interpretierende (und damit auch dem Interpreten verpflichtete) Geisteswissenschaft gegenüber dem naturwissenschaftlichen Maßstab zu behaupten beginnt. Wie aber nun Heisenberg als Naturforscher die Quantentheorie deutet, verstört die Naturwissenschaften nachhaltig. Selbst im engen Kreis löste seine These von der ,Wechselwirkung‘ eine über Jahrzehnte anhaltende Kritik aus. Der philosophisch gesinnte Physiker selbst thematisiert den erfahrenen Widerstand gegen seine Theorie mit Blick auf die Ideengeschichte der Objektivität und ihre Konsequenzen für ein Verstehen der Natur sowie für das Denken schlechthin. In mehreren Vorlesungen und Aufsätzen, in denen Heisenberg die neue Sicht trotz der unvermeidlichen fachwissenschaftlichen Hindernisse für Nichtphysiker und Laien zugänglich machen will, ist er sich dessen bewusst, „wie schwierig es wird, wenn man versucht, neue Sachverhalte in ein altes aus früherer Philosophie stammendes System von Begriffen zu pressen“⁸⁹. Er sieht die „Befürchtung“ seiner Kollegen, die klassische Realität könne verloren gehen:
Heisenberg 1956, S. 300.
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Alle Gegner der Quantentheorie sind sich […] über einen Punkt einig: Es wäre nach ihrer Ansicht wünschenswert, zu der Realitätsvorstellung der klassischen Physik oder, allgemeiner gesprochen, zur Ontologie des Materialismus zurückzukehren; also zur Vorstellung einer objektiven, realen Welt, deren kleinste Teile in der gleichen Weise objektiv existieren wie Steine und Bäume, gleichgültig, ob wir sie beobachten oder nicht.⁹⁰
Was in der klassischen Physik für „faktisch“, „objektiv“ und „real“ gehalten wird – wie die Eigenschaften der Dinge oder die Gesetzmäßigkeiten zwischen bestimmten Geschehen –, ist „natürlich kein Zufall“⁹¹, aber sie sind nicht umstandslos in das neue Gebiet „extrapolierbar“. Daher könne die klassische Physik mit ihren Regeln nicht das Ganze der Natur für sich beanspruchen. Natur meine nicht automatisch Gesetzmäßigkeit. Dessen ungeachtet weiterhin fest an eine ,objektive Realität‘ zu glauben, wäre schlicht „Illusion“⁹². Einen Schritt weiter geht Heisenberg in seiner Reflexion über die abbildende und identifizierende Herangehensweise der Naturwissenschaft: „Die Naturwissenschaft beschreibt und erklärt die Natur nicht einfach so, so wie es ‚an sich‘ ist. Sie ist vielmehr ein Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst. Sie beschreibt die Natur, die unserer Fragestellung und unseren Methoden ausgesetzt ist.“⁹³ Mit diesen Aussagen, die sich nicht mehr nur auf den atomaren Bereich beziehen, bestreitet die Quantenphysik im Kern die herrschende positivistische Denkweise der Naturwissenschaft insgesamt: „[W]ir [können] aber nicht von der Tatsache absehen, daß die Naturwissenschaft vom Menschen gebildet ist.“ – „Eine scharfe Trennung zwischen der Welt und dem Ich [wird] unmöglich.“⁹⁴ Man kann sich unschwer vorstellen, dass Adorno als Dialektiker und Kritiker positivistischer Methoden Heisenbergs Worte mit großer Zustimmung und Sympathie zur Kenntnis genommen hätte. Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang an Adornos Erklärung zur Dialektik: Wenn „Dialektik einen Vorzug auf dieser [methodischen; M.-C. L.] Ebene besitzt, dann würde ich ihn darin sehen, daß es gerade als eine solche Methode der Mobilität und der permanenten Selbstbesinnung vielleicht ein Moment enthält“⁹⁵. Was bei Heisenberg über die Herausforderungen physikalischer Forschung gesagt wird, demonstriert vorzüglich einen Denkprozess, der „eine permanente Selbstbesinnung […] enthält“.
Heisenberg 1956, S. 294. Heisenberg 1956, S. 304. Heisenberg 1956, S. 304. Heisenberg 1959, S. 60. Heisenberg 1959, S. 61. Adorno ED, S. 224.
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Es lässt sich aber weiter fragen: Was erreichen die quantentheoretischen Ansätze genau, was die bereits im 19. Jahrhundert ausgearbeitete Methode der Dialektik nicht zu erreichen vermochte? Zwar wird die Unschärferelation generell so erklärt, als zeige diese Theorie, dass selbst die Naturwissenschaft subjektbedingt sei – allerdings ist diese Bedingtheit genau genommen keine nur einseitige. Denn das Reflexionsvermögen des Physikers wird genau in dem Moment deutlich, in dem das Objekt dem Forscher zeigt, dass seine Fähigkeit einer vollkommenen Identifizierung dem Objekt nicht gewachsen ist, und stattdessen einen Prozess der Selbstkorrektur hervorruft. Im Akt des Erkennens wird ein Denkender nämlich vom Objekt dazu gedrängt, nicht nur der eigenen Anwesenheit, sondern auch der Beschränktheit seines Erkenntnisvermögens gewahr zu werden. Diese ,Wechselwirkung‘ hat ein Moment, das sie von der Dialektik unterscheidet: Es handelt sich nicht um eine Methode, die man unter anderen auswählen kann. Die Wechselwirkung findet notwendig statt. Ein Quantenforscher kann, so die Betonung Heisenbergs, nicht anders, als das vermittelte Wesen des Wissens anzuerkennen. „[Z]um ersten Mal in der Geschichte der Naturwissenschaft [sind] deren eigene Erkenntnisgrenzen empirisch nachgewiesen worden“⁹⁶ – so erklärt Schiemann diesen physikalischen Durchbruch. Es ist diese erkenntnistheoretische Signifikanz, die Adorno beeindruckt. Indirekt sagt Adorno, dass „hier eine Art Reziprozität zwischen der Form und der Materie der Erkenntnis [herrscht]“⁹⁷ und dass die Auffassung nicht mehr zu halten sei, dass „die reinen Formen der Anschauung einem möglichen Inhalt absolut unvermittelt gegenübergesetzt werden“⁹⁸. Ein Physiker soll traditionell das Kantische kognitive Subjekt par excellence darstellen. Nun aber wird nachgewiesen, dass selbst innerhalb der Physik die scheinbar universal gültigen Erkenntnisformen infrage gestellt werden können. Zwar findet sich bei Adorno keine weitere Erläuterung dieser Infragestellung, es reicht jedoch, die wesentliche Einschränkung des konstruktivistischen und positivistischen Denkens als solche aufzuzeigen. Das reine „Ich denke“ stößt zum ersten Mal in der Geschichte der Naturwissenschaften auf Widerstand und muss sich seiner selbst gewahr werden und reflektieren.
Schiemann 2009, S. 297. Adorno KrV, S. 351. Adorno KrV, S. 351. In seiner „Metakritik der Erkenntnistheorie“ führt Adorno das Argument ausführlicher aus. Dabei bestreitet er erneut die Apriorität und Eigenständigkeit der Kantischen Erkenntnisformen: „Keine Materie ist von den Formen abzusondern, dennoch aber ist die Form einzig als Vermittlung der Materie. In solchem Widerspruch drückt Einsicht in die Nichtidentität, die Unmöglichkeit sich aus.“ (Adorno GS 5, S. 152)
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Das Reziproke im Erkennen wird nun nicht mehr nur als Alternative vorgeschlagen, sondern empirisch und verbindlich im Kern der Naturwissenschaften verankert. Im Hinblick auf die Macht, welche die positivistische Weltanschauung und die Naturwissenschaften in der modernen Lebenswelt innehaben – was Adorno mit seiner Kritik der instrumentellen Vernunft zur Sprache bringt –, kann diese Entdeckung aus der Physik, so offenbar Adornos Hoffnung, eine neue Epoche in der Geschichte einläuten. Das Kantische Modell der Kognition, das nach Adornos Darstellung sowohl dem naturalistischen Bild von Menschen selbst wie auch unserer Beziehung zur Außenwelt zugrunde liegt, wird nun „erschüttert“. Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, begreift Adorno die Sphäre des Erkennens angesichts seiner unbewussten psychischen Einstellung und Reaktionsweise als eine Sphäre der Moral. Solange sich die kognitiv-psychischen Reaktionsweisen im Kern erziehen, also modifizieren lassen (wovon Adorno ausgeht), gehören sie zum Reich der Freiheit. Daher würde eine epistemische Transformation vom Subjektivismus weg hin zur Anerkennung einer immanenten Wechselwirkung für Adorno einen normativen Durchbruch darstellen, der die Menschen von ihrem falschen Selbstbild befreien könnte. Dazu gehört wohl auch seine Vorstellung, dass, wären wir in der Lage, in jedem Moment der Wahrnehmung unsere eigene Grenze zu gewahren, (d. h. ins Erkennen eine reflektierte Selbstrestriktion einzubringen), jeder ein achtungsvolles Verhalten im Erkennen erlernen und ausüben würde, durch welches sich eine anerkennende praktische Beziehung zwischen uns und den Anderen weitgehend realisieren ließe.⁹⁹ Führen wir abschließend noch einmal Adornos Hochschätzung der Quantentheorie an, „daß es dem Gedanken gelungen ist, durch seine Konsequenz und durch die Beziehung seiner Konsequenz auf mögliche Beobachtungen gewissermaßen ein kleines Guckloch zu finden, durch das wir aus dem Gefängnis herausschauen können, das uns durch unsere anthropologische intellektuelle Konstitution auferlegt wird“¹⁰⁰, erhalten seine Worte durch die angeführten Perspektiven einen durchaus nachvollziehbaren Sinn.
Dieser Gedanke wurde weitläufig rezipiert, wodurch er zugleich tendenziell an Wirkungskraft verliert. Erinnert man sich allerdings an den kognitiv-psychologischen Ansatz zur Zeit des Nationalsozialismus, wie etwa „Rasse ist Gestalt“ (Ash/Ebisch 2010, S. 234), wird erneut deutlich, weshalb die Erziehung zu einer nicht-identifizierenden Haltung anhand der optischen Wahrnehmung für Adorno von so großer Bedeutung ist. Über die moralische Implikation der falschen Projektion in der Wahrnehmung vgl. Abel 1981, S. 146 f. Adorno KrV, S. 350.
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4.5.2 Indeterminierte Natur Auf der Basis der von Heisenberg betonten notwendigen ,Wechselwirkung‘ kann man bereits erahnen, dass und inwiefern diese das gängige Verständnis der Kausalität herausfordert. Die klassische Physik geht davon aus, dass die Natur im Ganzen durch Gesetze bestimmt ist. Alle Veränderungen lassen sich berechnen, sobald die Regeln festgestellt sind.¹⁰¹ Heisenberg widerlegt aber nun diesen Newtonschen Kanon im Quantenbereich durch die Unbestimmtheit: [A]n der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: ‚Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen‘, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen.¹⁰²
Seine Widerlegung der Kausalität ist also weiterhin erkenntnistheoretisch fundiert. Der Tatsache, dass die Welt der klassischen Physik im Kausalgesetz gefasst werden konnte und kann, ist es schließlich zu verdanken, dass wir Menschen als eine Gattung mit bestimmten sinnlichen und logischen Vermögen dazu fähig sind, bei bestimmten Phänomenen auf eine scheinbar beziehungslose Weise ein kausal-mechanisches Weltbild zu konstruieren. Lässt man das Buch, das man gerade in der Hand hält, los, weiß man vorher mit Gewissheit, dass es nach unten fällt. Diese Fähigkeit zum Vorhersehen stößt aber im Mikrokosmos an ihre Grenzen. Es bestehen zwar immer noch Ursache-Wirkungs-Verhältnisse, aber die Vorstellung einer übergreifenden Gesetzmäßigkeit kann sich nicht bis in die kleinste Welt durchsetzen. Dort wird sie aufgrund meiner subjektiven Beobachtung gebrochen. Die Bewegung eines Elektrons entspricht nicht länger der Idee der „Bahn“, so Heisenberg: „Ich glaube, daß man die Entstehung der klassischen ,Bahn‘ prägnant so formulieren kann: Die ,Bahn‘ entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten.“¹⁰³ „[D]ie klassische Physik und das Kausalgesetz [besitzen] nur einen begrenzten Anwendungsbereich.“¹⁰⁴ In dem neuen Bereich muss sich das Subjekt stets und ausdrücklich auf seine einheitliche Wahrnehmungsweise und seine methodischen Eingriffe, die die reine Objektivität unmöglich machen, besinnen.
„A basic credo of a classical physicist is that any physical variable has a perfectly sharp value, at any time, irrespective of whether we have measured (or even are able to measure) it or not.“ (Paul 2008, S. 11) Heisenberg 1927, S. 197. Diese Grundidee erläutert Heisenberg in verschiedenen Texten. Heisenberg 1927, S. 185. Heisenberg 1959, S. 69.
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Die „Selbstbegegnung“¹⁰⁵ bildet also eine Bruchstelle in der vorgestellten Kausalkette. Sie ist nicht mehr „lückenlos intakt“¹⁰⁶, wie es die klassische Physik der Natur unterstellt. Sobald man diese Lücken erkennt, sind sie logisch nicht mehr mit der alten Vorstellung verträglich. Eine einzige winzige Ausnahme reicht, um eine sich auf das Ganze beziehende Aussage zu widerlegen. Mit Adornos Auffassung, dass die Quantentheorie Kants Kausalitätsbegriff überholt habe, scheint es mir passend, mit Adorno Folgendes auf Kant zu erwidern: Wenn es nur ein bißchen Freiheit, nur ein ganz kleines Eckchen Freiheit geben würde, dann bedeutet das doch eigentlich, daß die ganze Geschichte mit der Kausalkette ein Loch hat, dann kann ich der Universalität nicht mehr zusprechen.¹⁰⁷
Schiemann 2009, S. 315. Adorno PM, S. 97. Adorno PM, S. 97.
5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit „Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig die absolute Tautologie übrig.“ (Adorno, Minima Moralia)¹ „It is a mechanism for interpersonal engagement that operates before thought […] that allows us to think about things in an imaginative way.“ (Peter Hobson, The Cradle of Thought)²
Die vorherigen Kapitel konnten bereits aufzeigen, dass Adorno die Möglichkeit des historischen Fortschritts grundsätzlich bejaht. Eine im zweiten Kapitel aufgeworfene zentrale Frage blieb allerdings bis jetzt unbeantwortet: Liegt Adornos philosophischem Ideal ein entwicklungspsychologisches Konzept zugrunde? Und wenn ja, wäre dieses anschlussfähig im Blick auf den heutigen Wissensstand, der der zweiten Person in der individuellen psychischen Entwicklung eine konstitutive Rolle zuerkennt? Alle psychoanalytischen Theorien sind sich heute darüber einig, dass die frühe interpersonelle Interaktion die individuelle Mentalität zutiefst prägt und strukturiert. Im Rahmen Adornos Denkpsychologie lässt sich auch weiter fragen, welche Elemente ihm zufolge in der frühen Sozialisation ein Kind dazu befähigen, später nicht zu quasi-mechanischen Vorurteilen und Stereotypisierungen zu neigen (wie es seine empirischen Forschungen zeigen³), sondern aus einem nicht willkürlichen Grundmotiv heraus offene und angstfreie soziale Beziehungen unterhalten zu können. Die eingangs als Motto vorangestellten Zitate von Adorno und Peter Hobson sollen die Ausrichtung dieses Kapitels vorzeichnen: Danach verfügt Adornos Denkpsychologie über eine immanente Anschlussfähigkeit an die heutige Entwicklungspsychologie. Seine Überzeugung vom affektiven Wesen der Vernunft
Adorno GS 4, S. 139. Hobson 2004, S. 48. Die Möglichkeit eines Dialoges zwischen Adorno und der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie wird wegweisend von Axel Honneth erschlossen (Honneth 2005c). Honneths diesbezüglicher Interpretationsansatz, den ich in Abschnitt 5.3.1 näher diskutiere, stellt einen wichtigen Ansporn dafür dar, die bisher vorgelegte Rekonstruktion von Adornos Denkpsychologie auf eine entwicklungspsychologische Grundlage zu stellen. Vgl. vor allem die Abhandlung „Prejudice in the interview material“ aus Studies in the Authoritarian Personality (in: GS 9.1) sowie „Schuld und Abwehr“ (in: GS 9.2). https://doi.org/10.1515/9783110642476-007
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
steht in deutlichem Einklang mit der gegenwärtigen entwicklungspsychologischen Auffassung, die zwischenmenschliche emotionale Interaktion als eine elementare Ermöglichungsbedingung des kindlichen Erwerbs von intellektuellen Fähigkeiten zu begreifen. Die Darlegung der intersubjektiven Voraussetzung für die geistige Entwicklung soll deutlich machen, dass Adorno die eigentliche Kraft zum sozialen Fortschritt primär nicht in der elitären Kunst oder der Leidenserfahrung erkennt – sie ist vielmehr ein realisierbares und reproduzierbares Ergebnis der Erziehung.
5.1 Das Problem der Intersubjektivität Die Adorno-Interpretation der letzten Jahrzehnte wird von der herausfordernden Unterstellung dominiert, Adornos Philosophie sei nicht in der Lage, das intersubjektive Wesen der Rationalität zu artikulieren. Die diesbezüglich maßgebende Kritik formuliert Jessica Benjamin aus der Sicht der Psychoanalyse: The crucial problem in […] this [Adorno and Horkheimer’s; M.-C. L.] conception of the ego and of the nature is […] the lack of a concept of […] subject to subject relations or societal interaction. […] The world is not conceived of as an intersubjective realm in which the objects encountered are really themselves subjects who have the capacity to act and be affected by another’s actions.⁴
Diese Kritik deutet auf ein schwerwiegendes Manko hin, nämlich, dass sich Adornos kritische Beschreibungen des „Subjekts“ oft nur schwer an die reale Lebenswelt zurückbinden lassen. Wie bereits im zweiten Kapitel dargelegt, fungiert das Subjekt in Adornos „problemanleitenden“⁵ Sozialdiagnosen häufig als repressiver, für autoritäre Macht, horoskopischen Aberglauben und rassistische Vorurteile anfälliger Protagonist. Es wirkt wie eine Figur, die in keiner normativ strukturierten sozialen Umgebung lebt und auf keine alltägliche Weise kommuniziert. Nach Benjamins Kritik sind derartige Beschreibungen kaum dazu in der Lage (oder verhindern es sogar), ein entwicklungspsychologisches Spektrum aufzuzeigen, das zu erklären vermag, wie rationale Fähigkeiten – auch pathologisch verzerrte – aus dem tagtäglichen Umgang von Menschen hervorgehen. Meine bisherigen Darlegungen zur Denkpsychologie haben hingegen gezeigt, dass Adornos Auffassung von der menschlichen Psyche weit über sein sozialpsychologisches Instrumentarium hinausgeht und dass er im Blick auf die Her-
Benjamin 1977, S. 49. Bonß 1983, S. 214.
5.2 Behütetes Kind
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ausbildung einer rationalen Mentalität ein nicht-pathologisches Konzept vertritt. Eine Äußerung wie die folgende zeigt weiter, dass Adorno sich durchaus der Problematik bewusst ist, dass ein einseitiges entwicklungspsychologisches Konzept in falsche sozialpsychologische Vorstellungen münden kann, und genau dafür kritisiert er Freud mit klaren Worten: Freud [tendiert] dazu, überhaupt die Möglichkeit der Individuation außerordentlich zu unterschätzen, […] die Menschen selber in weitem Maß für unveränderlich zu halten, und deshalb schließlich dann auch die Verhältnisse gesellschaftlicher Repression als unabdingbar, nämlich als einzige Möglichkeit einer sozial akzeptablen Auflösung des sogenannten Ödipuskomplexes anzusehen.⁶
Adorno ist dagegen überzeugt, dass der Prozess der „Individuation“ nicht zwingend pathologisch geartet sein muss. Allerdings formuliert er die Veränderbarkeit des Menschen gegen Freuds Auffassung nicht auf eine systematische Weise aus. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der Interpretationsrahmen der Denkpsychologie es erlaubt, sowohl Adornos eigenes Konzept von Individuation als auch seinen intersubjektivistischen Ansatz ans Licht zu bringen.
5.2 Behütetes Kind Jedes einigermaßen behütete Kind nämlich, dem nicht bereits in den allerersten Jahren die Reaktionsfähigkeit ausgetrieben ward, verfügt über unendliche Möglichkeiten von Erfahrung.⁷
Adorno ES, S. 193. Das Manko des Ödipus-Modells liegt darin, dass es für Freud als universale Struktur der kindlichen Sozialisation gilt, als eine, deren konflikthafter Kern unvermeidlich zu einer pathologischen Entwicklung tendiert. Denn nach diesem Modell, das sich auf Freuds bahnbrechende Entdeckung der kindlichen Sexualität stützt, kann ein Kind den Triebverzicht nicht ohne Angst erlernen. Ein (männliches) Kind beginnt, den überlegenen Vater nachzuahmen, den es als Rivalen in seinem Begehren nach der Mutter betrachtet und daher nur ambivalent liebt. Mit einem solchen Modell lässt sich nur schwer eine „normale“ Herausbildung der Psyche artikulieren. Diese einer bestimmten Familienstruktur zugehörige Entwicklungspsychologie überträgt Freud weiter auf die Kulturentwicklung der Menschheit: „Was am Vater begonnen wurde, vollendet sich an der Masse.“ (Freud SA IX, S. 258) In dieser schlichten Verlängerung erscheint die gesamte Zivilisation lediglich als eine Geschichte des Triebverzichts und „Ambivalenzkonflikts“. Genau dagegen richtet sich Adornos obige Kritik.Vgl. auch den Exkurs zu Freud im ersten Kapitel. Zweifellos lassen sich bei Adorno zustimmende Äußerungen zu Freud finden. Diese lasse ich hier jedoch außer Acht, da das Ziel und das Interesse der vorliegenden Arbeit vielmehr darin bestehen, unberücksichtigte und unentwickelte Ansätze bei Adorno selbst hervortreten zu lassen. Adorno GS 11, S. 672.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
Adornos Aufmerksamkeit gegenüber der kindlichen Seele wird oft nicht wahrgenommen. Ein Grund dafür könnte sein, dass seine empirischen Forschungen kein Material darüber enthalten. Berücksichtigt man allerdings die biographischen Angaben, zeigt sich, dass Adorno sich während seines Aufenthaltes in den USA vor allem in Psychologenzirkeln bewegte und über die verschiedenen Strömungen informiert war. In seinem privaten Briefwechsel ist zu lesen, dass er die Treffen mit Heinz Hartmann und die häufigen Diskussionen mit Erik H. Erikson⁸ als fruchtbar und ergiebig betrachtete, so dass von einer kategorischen Ablehnung der Ich-Psychologie, wie es der gängige Eindruck vermittelt, nicht die Rede sein kann. Darüber hinaus betont Adorno in einem 1945 skizzierten Projekt zum kindlichen Vorurteil die Wichtigkeit, Kinder, bei denen noch keine Vorurteile vorhanden sind, mit solchen, die „weniger frei“ sind, zu vergleichen.⁹ Über die Freiheit eines Kindes, so lässt sich hier lesen, entscheiden die sozialen Vorurteile, die es geprägt haben, und nicht der Ödipus-Komplex. Um noch ein Beispiel zu nennen: In den 1950er Jahren notiert Adorno für sich: „Man müßte wohl in der Deskription der frühen kindlichen Verhaltensweisen unvermeidlich viel genauer und nuancierter sein als bis heute.“¹⁰ Solche Hinweise liefern uns eine wichtige Perspektive, die sich sowohl von einem sozialpsychologischen als auch von einem rein philosophischen Blickwinkel unterscheidet. Ob nun innerhalb der Sozialpsychologie oder der Philosophie: Die Überlegungen zur menschlichen Psyche müssen durch eine deskriptive Psychologie des Kindes unterstützt oder durch sie korrigiert werden können. Und die Beobachtung früher kindlicher Verhaltensweisen sollte, wie Adorno schreibt, inhaltlich noch viel subtiler durchgeführt werden, als es Freud und auch der zeitgenössischen Psychologie bis dahin gelungen war. Hält man sich Adornos Anspruch und sein psychologisches Interesse vor Augen, ist seine zuversichtliche Aussage, jedes Kind verfüge über ein unendliches geistiges Potenzial zur Kreativität, solange es eine förderliche Umgebung habe, keine solitäre Bemerkung, sondern muss als Teil eines Konzepts der individuellen Entwicklung verstanden werden. In diesem Zusammenhang lässt sich bei Adorno weiter fragen: Welche Vorbedingungen sind im Prozess der Formation eines psychischen Subjekts konstitutiv und wie wirken sie sich später im Leben eines Kindes aus?
Siehe zum Beispiel Adorno/Horkheimer BWH2, S. 300, S. 330 und S. 353. Zu dieser Zeit hatte Erikson bereits ausgereifte Überlegungen zur Psyche von Kindern publiziert; vgl. Erikson 1995. Adorno/Horkheimer BWH3, S. 21. Müller-Doohm 2003, S. 590.
5.3 „What happens before thought?“
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5.3 „What happens before thought?“¹¹ Die Frage, die diesem Abschnitt seinen Titel verleiht, stammt aus Peter Hobsons The Cradle of Thought. Es ist aber nicht allein eine Frage des Entwicklungspsychologen Hobson, sondern die Frage all jener, die an den Entstehungsbedingungen unserer Denkfähigkeit interessiert sind – und Adorno gehört zu ihnen. Hobsons Buch beginnt mit einem Rückblick: Ever since the seventeenth century, when Aristotle’s distinction between knowledge and desire was elaborated into a threefold division of mental activity involving cognition (thought), conation (the will) and affect (feelings), we have had a terrible time trying to piece Humpty Dumpty together again. The best and perhaps the only way to heal these rents in our pictures of the mind is to study early development.¹²
Anhand dieser Zeilen ist unschwer zu erkennen, dass sich Hobson und Adorno derselben Aufgabe stellen: erneut die Einheit von Denken, Fühlen und Wollen aufzuweisen, was Adorno mit dem Begriff der „Revokation“¹³ belegt. Die Gemeinsamkeit zwischen den beiden Autoren besteht aber nicht allein darin. Beide erkennen nicht nur einen internen Zusammenhang zwischen diesen drei Aspekten der Vernunft, sondern betonen, dass die emotionale Fähigkeit, das heißt die Fähigkeit, von dem Gefühlszustand einer anderen Person affiziert zu werden und entsprechend darauf reagieren zu können, das Denken allererst ermöglicht. Es ist eine falsche, jedoch weit verbreitete Vorstellung, so Hobson, dass die Intelligenz als solche natürlich oder, in der Sprache Kants, apriorisch gegeben sei, „as if thinking arises from nowhere“¹⁴. Diese Vorstellung, gestärkt von der geläufigen Charakterisierung des Menschen als Homo sapiens, sei deswegen irreführend, weil sie undifferenziert sei. So gelte zwar: „[A]lmost any aspect of the mind will depend on innate abilities in some way or other“¹⁵, aber zugleich müsse man festhalten: „[T]he challenge is to discover which abilities underpin which other abilities.“¹⁶ Menschen sind zwar vernunftbegabt, aber diese Begabung ist es nicht allein, was uns als einzigen gegeben ist – und vor allem: Sie erwächst nicht aus sich selbst.
Hobson 2004, S. 48. Diese Frage bildet den roten Faden des gesamten Buches; sie führt zu den emotionalen und intersubjektiven Ursprüngen des Denkens zurück. Die letzte Formulierung geht auf den Ansatz von Martin Dornes zurück, siehe Dornes 2005. Hobson 2004, S. xiii. Adorno ED, S. 68. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3.3. Hobson 2004. S. 29. Hobson 2004, S. 29. Hobson 2004, S. 29.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
Von der gemeinsamen Betonung des emotionalen Ursprungs des Denkens aus möchte ich im Folgenden drei Perspektiven erläutern, die klären, inwiefern wir bei Adorno von einem genetischen Zusammenhang zwischen den frühen intersubjektiven Beziehungen und der Fähigkeit zu denken sprechen können. Zunächst möchte ich anhand von Axel Honneths Verweis auf Hobson nachzeichnen, warum das frühe Imitieren von Personen für die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten beim Kind essenziell ist. In diesem Zusammenhang werde ich auch auf den im vierten Kapitel dargestellten wahrnehmungspsychologischen Ansatz Adornos zurückgreifen (5.3.1). Davon ausgehend möchte ich anhand verschiedener Schriften Adornos zeigen, dass er noch auf der Grundlage von zwei weiteren Aspekten einen genetischen Zusammenhang zwischen der frühen interpersonellen Interaktion und der kindlichen intellektuellen Entwicklung formuliert: in Bezug auf die Triebregulierung (5.3.2) und den primären Trennungsprozess von Mutter und Kind (5.3.3).
5.3.1 „Nachahmung der geliebten Person“¹⁷ „Das Humane haftet an der Nachahmung: Ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert.“¹⁸ Bezogen auf diese Stelle, an der Adorno das Imitieren der anderen Menschen als Äußerung der „Urform der Liebe“¹⁹ herausstellt, zeichnet Honneth die Gemeinsamkeit zwischen Adorno und der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie nach, insofern auch Adorno „die Entstehung des menschlichen Geistes […] an die Voraussetzung einer frühen Nachahmung der geliebten Bezugsperson“²⁰ bindet.²¹ Honneths Verweis auf die
Das in dieser Formulierung gefasste Konzept verfolgt Honneth vor allem in seinem Vortrag anlässlich der Adorno-Konferenz 2003 sowie in seinen Tanner-Lectures Verdinglichung. Siehe Honneth 2005b; 2005c, insbes. S. 51– 53, S. 75 ff. Adorno GS 4, S. 176. Adorno GS 4, S. 176. Honneth 2005c, S. 51. Honneth formuliert diese Deutung am Rande seiner anerkennungstheoretischen Begründung der Verdinglichungskritik. Gestützt auf Hobsons und auch Michael Tomasellos Entwicklungspsychologie definiert er die natürliche, nicht verdinglichte zwischenmenschliche Beziehung als eine „anteilnehmende“ praktische Beziehung. Der Begriff der „Anteilnahme“ erläutert jene unwillkürliche emotionale Interaktion zwischen Menschen, die allen Erkenntnissen sowohl im genetischen als auch im kategorialen Sinne vorangeht. Die subtile affektive Bindung und Reaktion von Person zu Person betrachtet Honneth als eine elementare Anerkennungsbeziehung, die für alle Menschen von existenzieller Bedeutung ist (Honneth 2005c, vor allem Kapitel 3 sowie S. 60, Fußnote 19).
5.3 „What happens before thought?“
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kindliche Nachahmung geht aus seiner lang entwickelten Adorno-Interpretation hervor, die den Anspruch erhebt, Adornos Philosophie mit ihren eigenen psychoanalytischen Voraussetzungen zu konfrontieren. Genauer gesagt zielt Honneth darauf ab, mit diesem bereits bei Adorno angelegten Ansatz die einschränkende Subjektphilosophie-Kritik zu überwinden. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungsweise, die durch die Anerkennungstheorie und die ihr impliziten empirisch-psychologischen Ressourcen ermöglicht wird, lässt sich der Gedankengang bei Adorno freilegen, dass all unsere intellektuellen Fähigkeiten genealogisch auf die in unbewusster Dynamik sedimentierten Kindheitserfahrungen zurückzuführen seien.²² Im Folgenden möchte ich die Bedeutsamkeit der Nachahmung für Adorno jeweils durch ihre psychisch dezentrierende Funktion (A) sowie die sinnliche Wahrnehmung (B) darlegen.
A Dezentrierung der Perspektive Im Alltag betrachten wir uns selbst wie auch andere Menschen als rational und vernünftig nur insofern, als wir ganz bestimmte Sachverhalte nicht willkürlich und rein subjektiv begreifen. Objektiv zu sein, „die Wirklichkeit neutral erfassen“²³ zu können – dieser scheinbar so „natürliche“ Zugang zur Welt ist jedoch nach Hobsons Theorie keine angeborene Fähigkeit, sondern ein Resultat von Identifikation und Nachahmung. Warum die Nachahmung einer Bezugsperson gerade für entpersönlichte Denkverfahren so wichtig ist, fasst Honneth im Begriff der „Dezentrierung“²⁴ zusammen. Dieser bezieht sich zugleich in einem doppelten Sinne auf den entwicklungspsychologischen Sachverhalt bei Hobson und auf Adornos philosophische Widerlegung des Subjektivismus. Die Frage, warum die emotional motivierte Dezentrierung in der Nachahmung ihre Voraussetzung für das neutrale, objektive Erfassen der Wirklichkeit findet, erklärt Hobson so: Sich niemals in die Perspektive einer anderen Person hineinversetzt zu haben, bedeutet schlicht und Den entwicklungspsychologischen Rekurs erklärt Honneth so: „[D]ie eigentliche Quelle all unserer Überzeugungen und Ideen liegt, wie Adorno in Zusammenführung von Nietzsche und Freud immer wieder behauptet hat, in der vorrationalen Schicht von Triebbesetzungen, frühkindlichen Ängsten und Sehnsüchten.“ „[G]enealogisch“, so Honneth, „[ist] die Herkunft unserer geistigen Errungenschaft in tieferen, triebdynamischen Schichten unseres Lebens beheimatet“ (Honneth 2006, S. 21). Siehe Honneth 2005c, S. 34. Die Bedeutsamkeit der emotionalen Dezentrierung erläutert Honneth vor allem in 2005c, Kapitel 3. Honneths Betonung des emotionalen Aspekts der Dezentrierung ist zugleich eine Erwiderung auf Habermas. Zur Habermas’ Diskussion zum Verhältnis von Verdinglichung und Dezentrierung vgl. Habermas 1981, S. 102– 113.
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einfach, überhaupt keine Perspektive einnehmen zu können.²⁵ Hobson belegt durch zahlreiche experimentelle Ergebnisse die zunehmend anerkannte Einsicht, dass Kinder anfänglich über keine klare Vorstellung von „Objektivität“ verfügen.²⁶ Dingliche Eigenschaften – zum Beispiel, ob ein Gegenstand noch weiter existiert, wenn er bedeckt und somit nicht mehr sichtbar ist – werden von Kindern in ihrer frühesten Lebensphase nur subjektiv wahrgenommen.²⁷ Säuglinge sind also nicht wirklich „frei“ in ihrem Denken, da sie Sachverhalte lediglich so intendieren oder sehen können, wie sie es unmittelbar tun: „[T]his is not really a perspective at all. […] [I]t is simply the way things are.“²⁸ Was muss also geschehen, damit die Kinder später eine „entpersönlichte, objektive Vorstellung von Gegenständen gewinnen“?²⁹ Hier kommt die entscheidende Rolle der Nachahmung und Identifikation mit der geliebten Person zum Zuge: Dass das Objekt von ihren eigenen Einstellungen und Gefühlen unabhängig (detached) sein kann, erfahren Kleinkinder nur, indem sie die Einstellungen und Gefühle der Mutter oder anderer wichtiger Bezugspersonen erkennen und nachahmen. So kann ein Spielzeug für ein Kleinkind durchaus beängstigend wirken – ab seinem neunten Lebensmonat jedoch achtet es auf die Reaktion der Anderen und lernt so allmählich, das Sosein dieses Gegenstandes auch anders zu betrachten.³⁰ Der suchende und fragende Blick von Kindern setzt aber Vertrauen und Liebe voraus, so auch die Modifizierung der eigenen und die Übernahme der Perspektive der Bezugspersonen. Die Fähigkeit zum „Perspektivenwechsel“ – als eine für die rationale Kommunikation zwischen Menschen und auch für die moralische Vorstellungskraft entscheidende Fähigkeit – kann also ein Kind nicht von sich alleine aus leisten. Nur durch motivierte Nachahmung eines anderen Menschen versteht es etwas von der Pluralität der Perspektiven und gewinnt eine Idee von einer gemeinsam geteilten Objektivität. Der primäre Interaktionsraum zwischen Eltern und Kindern eröffnet dem Kind nämlich eine intellektuell-psychische Distanz, innerhalb derer es nun über etwas nachdenken kann, anstatt impulsiv darauf reagieren zu müssen. Es ist das anerzogene „mental movement“³¹
Hobson 2004, S. 102. Die hier referierte Sicht von Hobson bezieht sich auf die Kapitel 3 und 4 in Hobson 2004. Die Objektpermanenz war schon in Jean Piagets Entwicklungspsychologie ein zentrales Thema. In ihr geht es um die Frage, ob ein Kind, wie Martin Dornes erläutert, die Vorstellungsfähigkeit hat, „an die Weiterexistenz eines Gegenstandes zu glauben“. Siehe das Kapitel „Objektpermanenz“ in Dornes 1997, S. 90 f. Hobson 2004, S. 102. Honneth 2005c, S. 47. Hobson 2004, S. 70 ff., S. 87 f. Hobson 2004, S. 105.
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von sich zu anderen Personen, welches die Kinder von der „unidimensional, soleview apprehension of the world“³² wegführt. Diese mentale Bewegung, so betont Hobson, kann nur durch jemand anderen geschehen.³³ Die Fähigkeit zum „neutralen Erfassen der Wirklichkeit“ überhaupt, wie Honneth mit Hobson erklärt, wird erworben, indem die Kinder die geliebten Personen nachahmen. Erst in diesem Zusammenhang wird deutlich, wie sehr sich Adornos Gedanken mit der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie überkreuzen. Vernunft ist kein „Denkapparat“³⁴, so heißt es in den Minima Moralia: Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig die absolute Tautologie übrig. Die ganz reine Vernunft derer, die der Fähigkeit, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart vorzustellen“, vollends sich entschlagen haben, wird mit der reinen Bewußtlosigkeit […] konvergieren.³⁵
„Bewußtlos“, wie wir im selben Aphorismus lesen können, weil eine solche theoretische „Objektivierung des Denkens […] die Bedingung seiner selbst [zerstört]“³⁶. Hier zeigt Adorno nicht nur, dass man im Denken vergangene emotionale Spuren findet, dass also die Emotionalität der Rationalität vorausgeht. Es zeigt sich ferner, wie Axel Honneths Interpretation deutlich macht, dass die Emotionen im Denken offenbar dezentrierten Wesen zugehören. Denn nur durch sie vermag sich das Denken auf den Anderen zu beziehen, was uns vor einer „Tautologie“, das heißt vor einer erstickenden Selbst-Verdoppelung bewahrt. So schreibt Adorno über die falsche Vorstellung von „Sachlichkeit“: „Das absolut beziehungslose Denken […], das einen jeglichen Anteil des Subjekts, eine jegliche ,Besetzung‘, jeglichen Anthropomorphismus von dem Objekt abzieht, ist das Bewußtsein des Schizophrenen. Seine Sachlichkeit triumphiert im pathischen Narzißmus.“³⁷ Zwar scheinen die leblosen Objekte (wenn wir uns an das letzte Kapitel über die optische Wahrnehmung erinnern) vom Subjekt „getrennt“ zu sein, doch auf eine unsichtbare Weise sind wir durch unsere Triebe und Wünsche an sie gebunden. Damit betont Adorno nicht nur erneut das affektiv-responsive Wesen des menschlichen Verstandes. Vielmehr scheint er auf einen genetischen Zusammenhang von zwischenmenschlicher Erfahrung und der allgemeinen Erkenntnisaktivität vom Subjekt auf ein Objekt hinzudeuten. Der emotionalen Spur fol-
Hobson 2004, S. 103. Hobson 2004, S. 105. Adorno GS 4, S. 139. Adorno GS 4, S. 139. Adorno GS 4, S. 138. Adorno GS 5, S. 285.
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gend lässt sich die Subjekt-Objekt-Beziehung auf eine Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt zurückführen. „Anthropomorphismus“ bedeutet schließlich, menschliche Eigenschaften auf nicht-menschliche Wesen zu übertragen. Die Kantische Epistemologie, auf die Adorno im Blick auf diese Thematik stets kritisch Bezug nimmt, kann zwar nachträglich als Theorie eine absolute Beziehungslosigkeit zwischen Subjekt und Objekt behaupten – im realen Leben aber ist die emotionale Spur nicht eliminierbar.³⁸ Mit Adorno hebt Honneth hervor, dass in einer gesunden, nicht pathologischen Entwicklung die in Liebe und Anerkennung geübte Dezentrierung als Motiv und Grundstruktur des Denkens bewahrt wird: „Diese Zuwendung oder, wie Adorno psychoanalytisch sagt, diese libidinöse Besetzung des Objekts ist es, die das Kleinkind sich in der Weise in die Perspektive des Andren hineinversetzen läßt, daß es mit ihrer Hilfe eine erweiterte und schließlich entpersönlichte Vorstellung von der umgebenden Wirklichkeit erwirbt.“³⁹ Emotionale Kraft und Denkfähigkeit, so würden die drei Autoren übereinstimmend festhalten, sind nicht nur intern miteinander verbunden – die Emotionalität hat vielmehr einen genetischen Vorrang: Ohne andere Personen liebend nachzuahmen, können sich Kinder geistig nicht entwickeln. In Adornos Schriften gibt es eine Tendenz, solches, was zum Gefühl, zum Trieb und zum Nicht-Epistemischen gehört, als etwas „Naturhaftes“ darzustellen, oft ohne es in seiner sozialen Umgebung zu lokalisieren.⁴⁰ Was durch diese Darstellungsstrategie verloren geht, ist enorm: Die konstitutive Rolle der anderen
Daher weist Honneth darauf hin, dass man bei Adorno in einem derivativen Sinne auch von Verdinglichung der natürlichen Wesen sprechen könne, wobei das Erkenntnissubjekt „im Zuge des Erkennens von Gegenständen die Aufmerksamkeit für all die zusätzlichen Bedeutungsaspekte […] verlier[t], die ihnen aus der Perspektive anderer Menschen zukommen.“ (Honneth 2005c, Kapitel 4, hier S. 77) Diesen Prozess, der nach Adorno vor allem durch die ökonomischen Zwänge reproduziert wird, bezeichnet Honneth daher als einen Prozess der „Rezentrierung“ (Honneth 2005b, S. 175). Wenn Menschen andere Menschen und auch nicht-menschliche Wesen achtlos zu Gegenständen und Objekten „verdinglichen“, stellt dies eine Vergessenheit der Anerkennung dar, die Honneth durch Adornos Satz „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“ fundiert (Honneth 2005c, Kapitel 4 und 6). Honneth 2005c, S. 51. Exemplarisch dafür ist der als Oberbegriff der Nachahmung geltende Begriff der Mimesis, der denkpsychologisch betrachtet das reichhaltige emotionale und unbewusste Wesen der Vernunft zum Ausdruck bringen soll. Adorno behandelt ihn vorwiegend im Rahmen der Ästhetik oder der Naturgeschichte – zur Erinnerung an diesen Bezugsrahmen genügen bereits der Ausdruck „Mimesis ans Tote“ oder sein Rekurs auf Schamanen und die Natur. Dementsprechend wird in der Rezeption der „instrumentellen Rationalität“ immer wieder eine „mimetische Rationalität“ gegenübergestellt. Diese begriffliche Polarisierung in der Interpretation nivelliert Adornos Gedanken jedoch zu kritischen Denkfiguren, die keine empirische Nachweisbarkeit beanspruchen.
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Menschen für unsere geistige Entwicklung ist nur noch schwer erkenntlich. In Adornos die Negative Dialektik dominierender Subjekt-Objekt-Terminologie lässt sich zwar je nach Kontext unterscheiden, ob mit dem Objekt Menschen oder Dinge gemeint sind – dennoch bleiben sie „Objekte“ eines Erkenntnissubjekts. Honneths Hervorhebung der zentralen Bedeutung der Nachahmung von Personen trägt somit zu einer Differenzierung bei, indem sie zeigt, dass sich bei Adorno Ansätze finden lassen, die an das intersubjektivistische Entwicklungsmodell angeschlossen werden können.
B Das Gesicht der Mutter Anhand des Phänomens der kindlichen Nachahmung möchte ich im Folgenden auf eine weitere Dimension verweisen: Meines Erachtens ist es Adornos frühes kantianisches Interesse an den Wahrnehmungsphänomenen und den universalen Erkenntnisbedingungen, das ihn dazu führt, im Unterschied zu Freud und seiner Triebtheorie die geistig konstitutive Rolle der zweiten Person in der vorsprachlichen psychischen Kommunikation zu erkennen. Wie im ersten und vierten Kapitel gezeigt, sucht Adorno einen Zugang zur Psychologie zunächst mit Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft. Die Idee eines Unbewussten eignet er sich mit Rücksicht auf die Wahrnehmungspsychologie des 19. Jahrhunderts an. Diese Orientierung unterscheidet sich schon im Ansatz dahingehend von der orthodoxen Triebtheorie, dass das Kantische Subjekt (selbst in seiner Vorstellung als Infant) stets mit sinnlichen Organen die Außenwelt perzipiert. Die Wahrnehmung im vollen Sinne geschieht nicht nur endogen, sondern umfasst das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Mit seiner Achtsamkeit auf die sinnlichen Wahrnehmungen im Allgemeinen – vergessen wir nicht Adornos eigenen extraordinären ästhetischen Scharfsinn – betrachtet Adorno die Entwicklung eines Kindes also nicht so sehr aus einer phasenweisen Vorstellung, in der die unbewussten Triebe trotz der ständigen Erweiterung an empirischer Fülle die eines endogenen Wesens bleiben. Seine phänomenologische Sensibilität führt ihn vielmehr dazu, die mögliche psychische Empfindung in einem mikrologischen Maß zu vermuten, wobei er die Rolle der lebendigen Menschen für das Kind grundsätzlich von derjenigen der Dinge unterscheidet. In der Einleitung zur Erkenntnistheorie können wir einen wichtigen Beleg für Adornos eigene Auffassung von der psychischen Formation und geistigen Entwicklung des Kindes finden: [Es] gibt […] unzählige Erkenntnisse, die wir selbst haben, etwa Erkenntnisse höchst individueller Art, Wahrnehmungen, die wir an bestimmten Menschen machen, psychologische Beobachtungen in dem Sinn, in dem man von einer sinnvollen Psychologie sprechen könnte,
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alle möglichen subliminalen Regungen und Reaktionsformen, die für unser Leben durchaus die Bedeutung und die Dignität von Erkenntnis haben, die aber ihrem eigenen Wesen nach […] zu flüchtig sind, um sich in den kodifizierten Apparat der Wissenschaft einfangen zu lassen […].⁴¹
Um die Bedeutung dieser Bemerkung besser fassen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die Entwicklung der Psychoanalyse.⁴² Er soll nicht zuletzt zu der Erklärung der Frage beitragen, weshalb die undifferenzierte Etikettierung Adornos als eines orthodoxen Freudianers die Rezeption seiner Philosophie so sehr erschwert hat. Die ursprüngliche Auffassung der Triebtheorie,⁴³ die wir in unserem Exkurs zu Freud möglichst fair darzustellen versuchten, lässt sich als ein psychologischer Subjektivismus bezeichnen. Subjektivistisch, weil in diesem Rahmen „die Menschen“ in der frühen Entwicklung eines Kindes nur eine funktionale Bedeutung besitzen. Die Kinder werden so vorgestellt, als lägen ihre Interessen lediglich in der Befriedigung der Organlust. Zwar können kleine Kinder ohne die Fürsorge der anderen Menschen nicht überleben, so dass ihr Lebenserhalt in einer sozialen Umgebung gedacht wird, aber einer wirklichen zwischenmenschlichen Beziehung mit stetigen reziproken emotionalen Kontakten wird nicht Rechnung getragen. Die Zuwendung und Zuneigung zwischen Säugling und Bezugsperson hat Freud als für die prä-ödipale Phase nicht entscheidend betrachtet. Bildlich dargestellt ist das Gesicht der Mutter in der triebtheoretischen Darstellung des Alltagslebens eines Kindes kaum sichtbar. Ob sie liebevoll, angespannt oder gar deprimiert mit dem Neugeborenen umgeht, hat für die seelische Formation des Säuglings keine entscheidende Bedeutung. Denn schließlich verlange das Baby
Adorno ET, S. 29. Die Zusammenfassung zum Paradigmenwechsel in der Psychoanalyse stützt sich auf die Analysen und Darstellungen folgender Arbeiten: Greenberg/Mitchell 1983, S. 1– 20; Benjamin, „Introduction“ und „The first Bond“, in: Benjamin 1988, S. 3 – 50; Honneth, „Muster intersubjektiver Anerkennung: Liebe, Recht, Solidarität“, in: Honneth 1992, S. 148 – 174. Ein Vergleich zwischen der Neugeborenenforschung und der Triebtheorie findet sich in Lichtenberg 1991, Kapitel 1. Lichtenberg, der nach eigener Darstellung erst nach jahrzehntelanger Arbeit als Psychoanalytiker auf die neue Ausrichtung der Säuglingsforschung aufmerksam wurde, bringt die Kontrastpunkte zwischen Freud und der Objektbeziehungstheorie besonders erhellend auf den Punkt. Wie im Exkurs zu Freud deutlich wurde, ist Freuds Triebtheorie keine einheitliche Theorie. In ihrer späteren Entwicklung nimmt die konstitutive Bedeutung der zweiten Person stets zu. Während die frühe Auffassung ihre Schwerpunkte auf die Befriedigung der Organlust legt, weisen einige seiner späteren Arbeiten auf die Rolle der Trennungsangst in der psychischen Entwicklung hin, was der Orientierung der Ich-Psychologie und Objektbeziehungstheorie näher steht. Zu den intersubjektiven Ansätzen bei Freud vgl. Küchenhoff 1996, S. 90 – 117.
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über die Ernährung hinaus nach keiner Annäherung.⁴⁴ Die anfängliche Innenwelt eines Menschen sei also nahezu monadisch und von der emotionalen Bestätigung und Aufmerksamkeit durch die Mutter weder abhängig noch an ihr interessiert. Spitzt man diese anthropologische Annahme zu, sollen Säuglinge also ihre Intelligenz nach und nach von sich aus entwickeln können, solange ihre physischen Bedürfnisse in den ersten Monaten ausreichend gestillt werden. Dies wurde jedoch bereits in den 1940er Jahren empirisch widerlegt.⁴⁵ Vor diesem Hintergrund können wir nun die oben zitierten Zeilen noch einmal lesen. Jenseits der idealistischen Subjekt-Objekt-Thematik hebt Adorno zwei wichtige Gesichtspunkte hervor, die seine psychologische Auffassung charakterisieren: Die Bestimmung der Psychologie durch Sozialisationsprozesse sowie den im letzten Abschnitt bereits dargestellten genetischen Zusammenhang zwischen intersubjektiver Erfahrung und subjektiver Erkenntnisfähigkeit. Adorno gibt unzweideutig zu verstehen: Ohne die Genesis der Psyche in der Subjekt-SubjektBeziehung zu studieren, bleibt jegliche Form von Psychologie ohne Sinn. Diese kategoriale Definition der Psychologie unterscheidet Adorno endgültig von der orthodoxen Triebtheorie und somit auch von dem ihr impliziten psychologischen Subjektivismus. Ein Kleinkind interessiert sich nicht nur für die biologische Befriedigung seiner Organlust. Es sind die unzähligen sublimen und flüchtigen Momente in der Interaktion mit anderen Menschen, die das Kind zu einem psychischen Wesen heranbilden. So wird etwa die „Mimik“, wie Adorno an einer anderen Stelle schreibt, „kraft eines unbewußten Nachahmungsprozesses durch jede frühe Kindheit hindurch auf Generationen vererbt“⁴⁶. Ob emotionale Äußerungen, Gesichtsausdrücke, Körpergeruch, Stimme, Berührungen – Kinder reagieren unablässig auf die feinen, für sie so wichtigen Gemütszustände von Anderen. Was Adorno in seiner Zeit noch als schwer feststellbare psychische Reaktion im flüchtigen Wahrnehmungsvorgang beschreibt, wird seit den 1960er Jahren in der immer breiter werdenden empirischen Säuglingsforschung dezidiert nachgewiesen. So erklärt beispielsweise Benjamin, dass „newborns already pre Lichtenberg formuliert den Unterschied wie folgt: „Die Wichtigkeit des Hungers und seiner Befriedigung werden von der Neugeborenenforschung nicht bestritten, aber seine Bedeutsamkeit verringert sich.“ (Lichtenberg 1991, S. 7) Diese Sicht lässt sich durch die Forschungen zum „Hospitalismus“ endgültig als falsch erwiesen. Eine Untersuchung aus der Nachkriegszeit belegt, dass der Entzug von Aufmerksamkeit und Zuwendung durch Bezugspersonen bei den Kindern massive geistige Schäden hinterlässt. In den Waisenhäusern in Rumänien fand man Kinder vor, die während der Kriegszeit zwar eine minimale materielle Versorgung genossen, aber unter den harten objektiven Verhältnissen kaum genuine Kontakte zu Menschen gehabt hatten; sie alle wiesen Beschädigungen in ihrer geistigen Entwicklung auf. Siehe Hobson 2004, 199 ff. Adorno GS 3, S. 207.
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fer the sight, sound, and the smell of their mothers“⁴⁷. Die innerliche Resonanz zur Mutter geht unmittelbar mit den sinnlichen Kontakten einher. In Übereinstimmung mit der Säuglingsforschung sieht Adorno, dass selbst die sublimsten Regungen nur durch andere Menschen ihre Form erhalten. Adornos Interesse an der sinnlichen Wahrnehmung bringt ihn nämlich dazu, die Sozialisation der Triebe im subtilen interpersonellen Umgang zu studieren. Dies ist ein entscheidender Punkt, der Adornos Herangehensweise von derjenigen Freuds unterscheidet. An der obigen Stelle ist weiter zu lesen, dass Adorno die kindlichen „Reaktionsformen“ auf andere Menschen und die „Erkenntnis“, die „für unser Leben […] Bedeutung und […] Dignität“ hat, als korrelativ betrachtet. Das heißt, die Art des Umgangs mit den Bezugspersonen, welche die Kleinkinder zu bestimmten Reaktionsweisen veranlassen, wird sich später in spezifischen Erkenntnisformen und Denkgewohnheiten niederschlagen. Dass Interaktionsmuster zu Denkweisen des Subjekts verinnerlicht werden – diese These möchte ich in den folgenden zwei Abschnitten mit Bezug auf die intrapsychische Triebregulierung und auf den Mutter-Kind-Trennungsprozess weiterentwickeln.
5.3.2 Angst, Autorität und Triebmobilität In Adornos empirischen Forschungen der 1940er und 1950er Jahre geht es immer wieder darum, wie unreflektiert die Menschen in Ideologien und Vorurteilen verhaftet sind.Wenn Adorno nun die Erkenntnismodelle auf die primäre kindliche Interaktion mit den Eltern zurückführt, stellt sich die Frage, warum sich bei manchen Kindern das Potenzial zu Kreativität weniger eingeschränkt entwickelt, während andere zu ideologischen Identifikationen tendieren. Wo beginnen die beiden Modelle, sich voneinander zu scheiden? Adornos Antwort lautet schlicht: Autoritäre Erziehung durch den Affekt der Angst führt notwendig zu Dummheit. Um zu erklären, weshalb die Angst dem Prozess der Individuation notwendig schadet, verweist Adorno in verschiedenen Schriften auf den Beginn eines jeden Erkenntnisprozesses, nämlich auf die Neugier. Überhaupt etwas wissen zu wollen, setzt eine gewisse Neugier voraus: „Wenn Neugier da, wo sie zuerst sich regt, durch autoritäre Mächte abgeschnitten wird, wo sie eins aufs Dach bekommt, [werden] dann eben auch Schädigungen des Erkenntnisvermögens eintreten; nämlich das Phänomen der neurotischen Dummheit.“⁴⁸
Benjamin 1988, S. 13. Adorno KrV, S. 112.
5.3 „What happens before thought?“
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Neugierig zu sein ist die Äußerung einer inneren Regung, die sich nach etwas Unbekanntem ausrichtet. Dieser Drang zum Verstehen hat nach Adorno ein „erotisches“, „sexuelles“ Wesen. Wie Freuds Entdeckung der kindlichen Sexualität, welche bei den Fachpsychologen des 19. Jahrhunderts so großes Entsetzen hervorrief, fordert nun auch Adorno die Erkenntnistheorie zu einer ‚sexuellen Aufklärung‘ auf. Seine Kritik richtet sich nämlich immer wieder gegen Kants Vorstellung einer „reinen“, desinteressierten Vernunft, die zur Zerspaltung unseres Selbstbildes führe. In der lutherischen Beschimpfung der grenzenlosen Neugier als „Hure Vernunft“⁴⁹ sieht Adorno eine Wahrheit enthalten, die dem luststrebenden Charakter des Denkens geschuldet ist. Sowohl hier als auch in ähnlichen Kontexten erläutert Adorno das erotische Wesen der intellektuellen Aktivitäten allerdings oft in einem eingeschränkten Sinne. So hat das Sexuelle bei Freud bekanntlich eine umfassendere Bedeutung als das Geschlechtliche.⁵⁰ Alle neugierigen Aktivitäten und Fragen des Kindes sollen unbewusste erotische Regungen enthalten, keineswegs nur die Neugier am Sexuellen. Dass Adorno aber gerade das „kindliches Verlangen nach der Wahrheit übers Geschlechtliche“⁵¹ betont, hat seinen Grund wohl darin, dass sich üblicherweise gerade hier die Eltern plötzlich aufgerufen fühlen, der Neugier mit autoritären Kräften entgegenzutreten. Das von den Erwachsenen mit hartem Ton befohlene „,Das geht dich nichts an‘“⁵² bezeichnet Adorno gar als „brutal“⁵³. In unserem gegenwärtigen Zeitalter, wo der Angstaffekt in vielen Kulturen nicht mehr als akzeptables Erziehungsmittel gilt, scheint Adornos Kritik an der autoritären Haltung zunächst lediglich die gängige Einstellung widerzuspiegeln. Es ist aber wichtig, Adornos harsche Kritik einer genaueren Prüfung zu unterziehen: Haß auf diese [Neugier; M.-C. L.] gesellt sich dem auf Mobilität; beides bläut die überfällige Spruchweisheit: Bleibe im Lande und nähre dich redlich, auch dem Geist ein.⁵⁴
Auf diese Weise „bleib[t] das Subjekt im dumpfen Wiederholungszwang eingekerkert, entfalte[t] nie sich zur Erfahrung“⁵⁵. Erinnern wir an dieser Stelle kurz an
Adorno KrV, S. 111 f. Nach Laplanches und Pontalis‘ Erklärung bezeichnet Sexualität „eine ganze Reihe von Erregungen und Aktivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine Lust verschaffen, die nicht auf die Stillung eines physiologischen Bedürfnisses reduzierbar ist.“ Laplanche/Pontalis 1973, S. 466. Adorno GS 6, S. 487. Adorno GS 6, S. 486. Adorno GS 6, S. 486. Adorno GS 6, S. 486. Adorno GS 6, S. 487.
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die im dritten Kapitel ausgeführte These, dass Adorno den der Philosophie des Geistes zugehörigen Begriff „Erfahrung“ als einen unbewussten Prozess auffasst. Eine Erfahrung machen zu können heißt, die Diskrepanz zwischen dem bereits Gekannten und dem Fremden gewahren und auch verarbeiten zu können und zu wollen. Sie beschreibt eine ‚reisende Mentalität‘, die nicht zwangsläufig der innerlichen oder äußerlichen Landschaft verhaftet bleiben muss. Die auf Angstaffekten aufbauende Erziehung erzwingt hingegen einen Stillstand. Das verinnerlichte Nicht-mehr-weiter-Fragen verbietet willkürlich jede Form einer psychischen Wandlung. Mit der Vorstellung einer innerlichen Mobilität zeigt Adorno, dass Kinder stets eine Lust zur intellektuellen Integration des Unverständlichen mitbringen, die nur durch eine falsche Erziehung gehemmt wird.⁵⁶ Falsche Erziehung lässt nämlich das Sublimierungsinteresse als angstvoll erlebt werden. So ist die daraus resultierende ‚Dummheit‘ nicht nur ein kognitives Phänomen, sie geht mit psychischen Hemmungen einher. Dummheit ist wesentlich „neurotisch“, so Adorno, weil hier Wünsche in einem unauflösbaren Konflikt verhaftet bleiben, da das Subjekt zur Verarbeitung des Unverständlichen unfähig geworden ist. Was Adorno an der kindlichen Neugier schildert, betrifft nicht nur Kinder. Vielmehr macht er auf diese Weise deutlich, dass und wie drei Aspekte im Prozess der Individuation miteinander zusammenhängen: Die Interaktionsweise zwischen Eltern und Kindern, die hier als exemplarischer Ausschnitt dargestellt wurde, die intrapsychische Triebökonomie und die intellektuelle Lernfähigkeit bzw. kognitive Leistung. Bei Freud wird der Zusammenhang zur Verinnerlichung einer autoritären Vaterfigur üblicherweise über den Aufbau einer moralischen Instanz thematisiert. Wo bei Adorno von einer solchen autoritären Repression die Rede ist, wird jedoch weniger über deren Wirkung im Aufbau einer antagonistischen intrapsychischen Struktur gesprochen. Auch bei Erwähnung des klassischen Beispiels der „Kastrationsdrohung gegen die kindliche Sexualforschung“⁵⁷ befasst sich Adorno nicht mit Ödipus-Komplex, Minderwertigkeitsgefühlen, narzisstischen Störungen oder bestimmten psychischen Symptomen, die bei Freud thematisch dazugehören. Vielmehr ist sein Ansatz ein erkenntnistheoretischer:
In Bezug auf das Thema Sublimierung bei Freud vertritt Axel Honneth die These, bei Freud bestehe die subjektive Verwirklichung der Willensfreiheit in einer stetigen intellektuellen Integration der eigenen Regungen (Honneth 2007). Bei Adorno geht Honneth dagegen davon aus, „dass uns Wege der produktiven Verarbeitung unseres Triebpotentiales eigentlich nicht zur Verfügung stehen.“ (Honneth 2009, S. 11) Honneth übersieht allerdings, dass Adorno durch die Umdeutung des Leidensbegriffs jeden Erkenntnisakt sowie den Sprachgebrauch im Alltag als wesentliche Wege der Sublimierung betrachtet. In diesem Sinne lässt sich Honneths Freud-Interpretation meines Erachtens auch für Adorno geltend machen. Vgl. auch Honneth 2000b. Adorno GS 6, S. 486.
5.3 „What happens before thought?“
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Sein Interesse liegt nämlich nicht darin, wie ein Kind später seine persönliche Vergangenheit und seine Lebensgeschichte bearbeitet, sondern wie sich Erziehungsmuster in unbewusste Muster der geistigen Integration umwandeln. Die Kinder können entweder in einer schützenden sozialen Umgebung ihr Reaktionspotenzial entwickeln oder „unterm Druck frühkindlicher Versagung“ künftig „reaktiv“ werden, was aber eigentlich nur die ursprüngliche Regung „entstellt, was einmal vom Immergleichen, Identischen loswollte“⁵⁸. Die Lust oder Unlust zur vereinfachten Stereotypisierung ist nämlich das Resultat der frühkindlichen Erziehung.
5.3.3 Geborgenheit und Vergegenständlichung Unsere Überlegungen sind wesentlich von der Frage Hobsons geleitet, was eigentlich vor dem Denken geschieht. In diesem Abschnitt möchte ich anhand eines Aphorismus die Hypothese aufstellen, dass Adorno – ob sachlich oder intuitiv durch Strömungen der Psychoanalyse in den 1940er Jahren motiviert – eine ursprüngliche Verbundenheit zwischen Kind und Bezugsperson vermutet und diese zum Beweggrund freien Denkenkönnens erklärt. Meine Hypothese stelle ich wiederum im Kontrast zu den Ausrichtungen der Triebtheorie und der Objektbeziehung dar. Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit, man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, das Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener.Wer sagt, er sei glücklich, lügt […]. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.⁵⁹
Der Frage, welche anthropologischen Auffassungen ein Philosoph vertritt bzw. was für ein Menschenbild er hat, kann man sich auch dadurch nähern, dass man herausarbeitet, wie er das menschliche Glück definiert. Im Kontext der psychoanalytischen Entwicklung lassen sich zwei Grundmodelle des Glücks skizzieren.
Adorno GS 6, S. S. 487. Diese Sicht ist wohl stark von dem als Vertreter der Ich-Psychologie geltenden David Rapaport beeinflusst. Dafür spricht nicht nur Adornos Hochschätzung dieses Autors; in Rapaports Arbeit ist auch zu lesen, dass die Triebmobilität die Flexibilität des Denkens erkläre. Vor diesem Hintergrund lässt sich Adorno hinsichtlich seiner Rezeption der Psychoanalyse deutlich näher an der Ich-Psychologie und der von Rapaport verkörperten psychoanalytischen Theorie des Denkens einordnen. Siehe Adorno ET, S. 12; vgl. Rapaport 1959, S. 690 – 730. Adorno GS 4, S. 126.
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Eines kreist um die intrapsychische Konstanz, um die Reduzierung innerlicher Spannungen – man kann dieses Modell vor allem Freud zuschreiben. Die postfreudianische Entwicklung der Psychoanalyse dagegen kreist um einen Prozess der Neumodellierung,⁶⁰ dessen Kern darin besteht, das Glück eines Kindes vom gelingenden Trennungsprozess von der Mutter abhängig sein zu lassen. Wo das Kind allmählich die Eigenständigkeit der Mutter anerkennen und die Trennungsangst überwinden kann, vermag es auch seine eigene Individualität herauszubilden. Die anfängliche Geborgenheit wird nicht gebrochen, sondern auf eine sublimierte Weise bewahrt. Das Glück des Kindes und auch des späteren Erwachsenen ist dann nicht eine beziehungslose Selbstgenügsamkeit, sondern eine Souveränität, die in Anerkennung der Unabhängigkeit der Anderen zugleich Verbundenheit empfindet. Adornos Beschreibung ist wortwörtlich zu entnehmen, dass die ursprüngliche Erfahrung des Glücks ungetrennt „in der Mutter“ war, ein Zustand des Verschmolzenseins. Im Unterschied zu Freud, bei dem das Glück nicht als lebendiges zwischenmenschliches Geschehen beschrieben wird,⁶¹ steht diese Vorstellung in unverkennbarer Nähe zu postfreudianischen Untersuchungen der Innenwelt des Säuglings, in denen die anfängliche Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind als genuine Erfahrung der Liebe verstanden wird, die die menschliche Vorstellung von Glück überhaupt prägt. Was aber bei Adorno einzigartig ist, ist seine Überführung dieser SymbioseThematik in die Sphäre der Erkenntnis und der Begriffsverwendung: Auch das in ihrem Schoß glückliche Kind bei Adorno muss sich von der Mutter trennen. Den Trennungsprozess erläutert Adorno in Abweichung von der Psychoanalyse jedoch nicht rein psychologisch, sondern denkpsychologisch. Das heißt, in Adornos Beschreibung ereignet sich die Trennung im Vorgang des Denkens: Das Glück ist nicht in der Zeitform des Präsens sagbar, weil die sprachliche Bestimmung an sich
Die vorliegende Skizze des intersubjektivistischen Modells der Individuation, dem die Objektbeziehungstheorie zugrunde liegt, stützt sich auf Jessica Benjamins und Axel Honneths Analysen zu Anerkennungsverhältnissen in der primären Erfahrung der Liebe zwischen Kleinkindern und ihren Eltern (Benjamin 1988, S. 11– 50 und Honneth 1992, S. 148 – 174). In Benjamins Darstellung wird die Entwicklung der Thematik Symbiose-Trennung anhand unterschiedlichster, keine Einheitlichkeit anstrebender Theorien erklärt. Uns interessieren hier nicht die genauen Unterschiede verschiedener Schulen. Die Zusammenfassung soll vielmehr zeigen, dass das postfreudianische psychoanalytische Paradigma hinsichtlich der Problematik von Einheit und Trennung in der Mutter-Kind-Beziehung bei Adorno durchaus vorhanden ist. Glück lässt sich bei Freud entweder triebökonomisch oder als gelungene intrapsychische Struktur zwischen Über-Ich und Ich artikulieren, wobei die verinnerlichte Autorität das Ich nicht nur tadelt, sondern auch schützt. Die im Alltag stattfindenden lebendigen Kontakte und emotionalen Austauschprozesse werden bei Freud nicht als Quelle des Glücks angesehen.
5.3 „What happens before thought?“
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bereits einen Akt der Vergegenständlichung, das heißt der gedanklichen Trennung darstellt. In demselben Moment, in dem sich die Sprechenden dessen bewusst werden, sich reflexiv als „Ich“ zu bezeichnen, kommt es zu einer Gegenüberstellung zwischen uns selbst und den Anderen, zwischen Ich und Du,⁶² was eine Zäsur in die Untrennbarkeit einbringt. Dass für Adorno schon der begrifflichsprachlich vermittelte Satz „Ich bin glücklich“ wie ein performativer Widerspruch die Vollkommenheit des Glücks schwächt, unterstützt die Hypothese, dass seiner psychologischen Auffassung nach die Genesis wie auch das Wesen des menschlichen Glücks in einem zwanglosen Verbundensein bestehen, aus dem die Differenzierung allererst hervorgeht. Adorno bringt damit den Sachverhalt zur Sprache, dass die Qualität und die Qualitätsänderungen der zwischenmenschlichen Beziehung immanent mit dem Vorgang des Identifizierens und Vergegenständlichens einhergehen. In welcher begrifflichen und sprachlichen Form wir uns auf die Anderen beziehen, spiegelt unsere innere Einstellung und Wahrnehmung von ihnen wider und verändert sie zugleich. Dieser hier etwas abstrakt dargestellte Gedanke ist leicht nachvollziehbar, wenn man sich an den kindlichen Erwerb der Pronomina erinnert. Anzufangen, die Mutter als „Du“ und sich selbst vom Blick der Anderen aus als „Ich“ zu bezeichnen, zeigt, dass das Kind allmählich das Selbstbewusstsein erwirbt, sich reflexiv in einer Beziehung zu lokalisieren, was die vorsprachliche, primäre Liebesbeziehung transformiert.⁶³ Liebe verbindet, der Begriff differenziert. Gemeinsam bilden sie eine rationale und wertschätzende Zweierbeziehung im Progress: Das gedanklich herausgetretene Ich erkennt gerade durch die Vergegenständlichung der Mutter ihre Eigenständigkeit, ist aber im gelungenen Fall der Individuation in der Lage, in der sprachlich vermittelten Trennung die vorgängige Verbundenheit mit Dankbarkeit
Nur von Adornos Vorstellung her, dass die Vollkommenheit des Glücks als eine Art Verbundenheit empfunden werde, wird verständlich, dass seine Kritik an Martin Bubers Konzept der IchDu-Beziehung keine Ablehnung von Intersubjektivität darstellt (siehe Adorno GS 6, S. 273). Im Gegenteil: Wenn eine Philosophie die intersubjektive Beziehung von Anbeginn an als Ich-und-Du auffasst, hypostasiert sie eine wechselseitige Vergegenständlichung, die das anfänglich unzertrennbare, von Adorno als mimetisch bezeichnete Wir-Erlebnis nicht zum Ausdruck bringen kann. Dass Adorno das Glück als einen Moment des Einswerdens auffasst, findet sich auch in seiner Ästhetik wieder: Weil Kunst „einen Zustand wieder [herstellt], in dem es eigentlich die Differenz von Subjekt und Objekt nicht gegeben hat“ (Adorno ÄS, S. 70). Die kognitiv-psychologische Bedeutung der Verwendung von Pronomina wird auch von Hobson diskutiert, siehe Hobson 2004, Kapitel 4.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
zu bewahren.⁶⁴ Dankbar, weil es die Genesis seiner eigenen Identität (Ich) durch die Anderen anerkennen kann. Führt man diesen idealtypisch dargestellten Prozess der Individuation zurück zur Rezeptionsgeschichte von Adornos Philosophie, wird ein kategorialer Fehler der Letzteren sichtbar. Die theoretische Grundlage der Negativen Dialektik als Begriffs- und Sprachkritik aufzufassen, stellt eine folgenreiche Verkürzung dar insofern, als sie die der begrifflichen Vergegenständlichung innenwohnende emotionale Bindung und vorgängige soziale Beziehung vergisst, die Adorno aber offenbar im Blick hat. Das Subjekt, das zur Verwendung des Begriffs und der Sprache fähig ist, wurde nicht als ein psychisches Subjekt wahrgenommen, welches die begriffliche und sprachliche Identifizierung in Geborgenheit erlernt. Adorno erfasst den Übergang von der Verschmolzenheit von Subjekt und Subjekt (vorgängige Erfahrung der Liebe) zur Subjekt-Objekt-Spaltung (Verwendung des Begriffs) hingegen als einen kontinuierlichen Prozess. Die Unvollkommenheit des begrifflichen Denkens ist daher nur eine relative und vorläufige – und ihr Maß ist nicht die Kunst als ein nicht-begriffliches Medium, sondern die Wiederherstellung des „Nachbildes“ jenes Glücks, das heißt, der uneingeschränkten Zugehörigkeit zu Anderen. Im Einklang zu dem oben Dargestellten schreibt Adorno: „Wo man liebt, versteht man. Intelligenz ist kein abgespaltenes Vermögen der Seele, sondern verflochten mit dem, was einen bewegt, was man will.“⁶⁵ Schließlich ist es die Liebe, die das Verstehen überhaupt ermöglicht. Mit der These, dass sich Adornos Philosophie in einem entwicklungspsychologischen Boden verankern lässt, möchte ich im folgenden Abschnitt ansatzweise auch die Rolle der Sprache denkpsychologisch erläutern. Denn wenn sich jede Art des Verstehens der Fähigkeit zu Lieben verdankt, dann muss auch in allen sprachlich vermittelten Erkenntnis- und Kommunikationsprozessen die vorgängige „emotionale Spur“ bewahrt sein. Oder man könnte umgekehrt zu der entwicklungspsychologischen Lesart fragen: Wie wirken früh erlebte Liebe und Anerkennung nach Adornos
Die bewusste Aneignung der eigenen Kindheit und der eigenen Beziehung zu den Eltern ist für Adorno darüber hinaus ein notwendiger Schritt des Reifungsprozesses. Die Psychoanalyse als Fach hat emanzipatorische Bedeutung, weil durch sie der „schmerzhafte Konflikt mit den Eltern und die Ablösung von ihnen ins Bewußtsein fand“. „[K]ünstlerisch so wenig wie psychologisch wird der Ablösungsprozeß dadurch geleistet, daß man das Gedächtnis an die Eltern verdrängt.“ In der Unfähigkeit, den Trennungsprozess zu reflektieren, so lässt sich daraus ablesen, kann die Ablösung nie gelingen; man bleibt somit nach Adorno sowohl in der Musik als auch in der Realität „infantil“ (Adorno GS 16, S. 140). Adorno GS 20.1, S. 319 f.
5.4 Liebe, Sprache und Erkenntnis
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Vorstellung auf den weiteren Wege der Individuierung? Die folgenden zwei Abschnitte können jeweils einen Aspekt dieser Frage erläutern.
5.4 Liebe, Sprache und Erkenntnis Im Rückblick auf die philosophische Entwicklung des 20. Jahrhunderts scheint Adornos Philosophie an der Schwelle der Sprachkritik ihre Grenze zu finden.⁶⁶ Sein reifstes Werk – die Negative Dialektik – wird generell als Begriffs- bzw. Sprachkritik eingestuft, wobei der Begriff als ein Mittel verstanden wird, das die volle Rationalität einschränkt.⁶⁷ Da die begrifflich-sprachliche Operation zur eigentlichen Quelle des Identifizierenmüssens erklärt wird, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns damit zu begnügen, mit begrifflichen und identifizierenden Mitteln etwas Nicht-Identisches zu fassen. Die tiefsitzende Unstimmigkeit einer solchen Begriffskritik wird bekanntlich von Habermas unter der Kategorie des „performativen Widerspruchs“ prägnant beschrieben. Habermas verweist auf die einfache Wahrheit, dass eine Philosophie, die die Begrifflichkeit der Sprache zur eigentlichen Wurzel der Irrationalität macht, sich letztlich nicht begründen kann und somit notwendig dem Selbstwiderspruch verfällt.⁶⁸ Jürgen Ritsert formuliert die Schwierigkeit noch einmal zutreffend so, dass man, auch wenn man Adornos Philosophie schätze, den Eindruck nicht loswerde, bei Adorno stehe „hinter jedem Akt der sprachlogischen Identifikation nichts als die Strategie der Beherrschung von Sachen und/oder Personen“⁶⁹. Daran anschließend muss man fragen: Wie kann es überhaupt sein, dass die Sprache auf einer psychologischen Ebene derart dürftig gefasst wird? Wenn die Psychoanalyse
Nach Demmerling hat Adorno „die linguistische Wende in der Sozialphilosophie bereits […] vollzogen“ (Demmerling 1994, S. 139). Er geht einerseits davon aus, dass Adorno die konstitutive Rolle der zweiten Person anerkenne, andererseits bemerkt er, Adorno habe den möglichen Weg zur Intersubjektivität nicht eingeschlagen: „Adorno selbst ist viel zu sehr mit der Tradition der Vernunftkritik Kants verbunden, als daß es ihm darum gehen könnte, Kants Unterscheidung rückgängig zu machen. […] [E]ine psychologistische Subjektkonzeption im Stile der englischen Empiristen dürfte für ihn keine (materialistische) Alternative zum idealistischen Begriff des Subjektes dargestellt haben.“ (Demmerling 1994, S. 141) Die Rekonstruktion der Denkpsychologie hingegen zeigt, dass Adorno diesem Vorschlag durchaus nahesteht. Sie lässt sich in der Tat als ein psychologisch ausgeführtes „rückgängig Machen“ der Kantischen Unterscheidung auffassen. Demmerling fasst den von Adorno kritisierten Sachverhalt so zusammen: „Wie das Werkzeug nivellieren Begriffe die Dinge der Welt, reduzieren deren Vielfältigkeit auf einzelne Aspekte und machen sie dem menschlichen Nutzen verfügbar.“ (Demmerling 1994, S. 128) Vgl. Habermas 1985a, S. 219. Ritsert 2011, S. 31.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
lehrt, bereits aus einem einzigen Versprecher die tiefsten verborgenen Konflikte einer Person heraushören zu können, und wenn für Adorno schon ein Blick die unbewussten Sehnsüchte und Wünsche eines Menschen verraten kann, wie überzeugt es dann, dass er in der Sprache, die ja dem menschlichen Zusammenleben zugrunde liegt, nichts anderes erkennt als „Identifizierung“ und Beherrschung? Der mit der Psychoanalyse umgedeutete Leidensbegriff – im Sinne der kognitiven Dissonanz – weist bereits darauf hin, dass hinter jedem Akt der festlegenden Identifizierung etwas anderes steckt, oder besser gesagt, dass zeitlich bereits vor jeder begrifflichen Verwendung etwas im Unbewussten geschieht, was die Qualität der Begriffsverwendung bestimmt. Hiervon ausgehend erscheint es mir nicht nur angemessen, sondern notwendig, eine immanente Verbindung zwischen Adornos Theorie der Sprache und seiner Denkpsychologie anzunehmen. Als einen diesbezüglichen Ansatz würde ich die Formulierung vorschlagen, dass er den gelingenden sprachlichen Ausdruck als einen Vorgang der Regenerierung der individuellen Psyche begreift, der den Aufbau der Individualität befördert. Zur Definition von „Individualität“ verwendet Adorno nicht zwingend psychoanalytisches Vokabular; er beschreibt sie vielmehr als einen Prozess, in dem es darum gehe, „wie die je einzelnen Subjekte, indem sie sich ihrer Einzelheit und Einzigkeit bewußt werden, in einen bestimmten Gegensatz zu der Gesamtheit treten und erst in dem Bewußtsein dieses Gegensatzes sich als das je Einzelne, als das Besondere überhaupt bestimmen“⁷⁰. „Individuum“ im wahren Sinne heißt also für Adorno, stets wachsam die eigene Zugehörigkeit zu der Gesellschaft zu prüfen. Formulierungen wie diese liest man freilich bei Adorno nicht ohne Bedenken, denn sie scheinen die Kritik zu bestätigen, Adorno verzichte in seiner eifrigen Kritik der Philosophie des Geistes nicht auf die Sprache der Letzteren.⁷¹ Diese Kritik behält ihr Recht aber nur dann, wenn die psychoanalytische Grundlage seines Denkens außer Acht gelassen wird. Denn ohne diese versteht man Adornos Bemerkung so, als hinge die geistige Entwicklung allein vom Subjekt ab, als habe Adorno also die Grenze der bewussten Reflexion nicht gekannt. Nach der bisherigen Rekonstruktion seiner Denkpsychologie und nach der Darlegung dessen, dass Adorno alle intellektuellen Leistungen genetisch auf die frühe Erfahrung der Liebe zurückführt, lässt sich seine dialektische Sprache jedoch auch anders lesen. Denn schließlich sind der Hegel-Interpret Adorno und der psychoanalytisch arbeitende Philosoph derselbe.
Adorno LGF, S. 104. Gripp 1986, S. 19.
5.4 Liebe, Sprache und Erkenntnis
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Aus der Perspektive der Psychoanalyse gilt das „Allgemeine“ – die sozialen Normen,Werte oder Ideologien – nicht nur als objektive Realität, es wird auch seit der Kindheit durch die soziale Interaktion und das gesellschaftliche Milieu im Unbewussten des Subjekts sedimentiert.⁷² Da sich die präreflexive Formation der Mentalität notwendig auch sprachlich vollzieht, kann man annehmen, dass eine erneute Beziehung zu sich selbst sowie zur Außenwelt zugleich mit einer Erneuerung der mir ,eingeschriebenen‘ Sprache einhergeht. Wohl in diesem Sinne schreibt Adorno: „[J]eder gelungene Ausdruck des Subjekts, ließe sich sagen, ist ein kleiner Sieg über das Kräftespiel.“⁷³ Der geglückte Prozess zum Aufbau der Individualität enthält also für Adorno eine Dimension, in der die Innenwelt des Subjekts im Ausdruck reorganisiert und neu ausgerichtet wird. Dass Adorno in Bezug auf die „Individualität“ einen Zusammenhang zwischen sprachlichen Aktivitäten und unbewusster Dynamik aufdeckt, wird meines Erachtens an einer Passage bezüglich seines Leidensbegriffs deutlicher, die lautet: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“⁷⁴ Diese als anfänglicher Impuls der vorliegenden Arbeit geltenden Zeilen lassen sich als eine denkpsychologische Beschreibung der Sublimierung in nuce deuten. Bei ihr handelt es sich um einen nicht allein vom Subjekt bestimmbaren Prozess, der sich – im Unterschied zu den meisten psychologischen Lehren – auch nicht allein als private Erfahrung verstehen lässt: Liest man den Begriff „Leiden“ nicht notwendig als Unglück und Leiden an Fehlzuständen, sondern auch als ein unbewusstes Geschehen (wie es die vorliegende Interpretation vorschlägt), dann scheint Adorno mit ihm einen stetigen Wiederherstellungsprozess zwischen dem Individuum und der sozialen Objektivität im Blick zu haben. Es handelt sich um einen Prozess, der durch die innersten Regungen eines Subjekts veranlasst und durch
In seinem Vortrag „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“ spricht Adorno daher davon, dass sich rassistische Vorurteile unbewusst in der Kindheit etabliert haben und möglicherweise durch die schulische Erziehung noch zu bekämpfen sind: „Die frühkindlichen Ursprünge des Antisemitismus sind im allgemeinen im Elternhaus zu suchen. In der Schule ist meist alles schon entschieden.“ (Adorno GS 20.1, S. 373) Adorno GS 4, S. 244. Damit zusammen betrachten lässt sich Honneths Hinweis auf die Affektivität der philosophischen Sprache. Honneth geht davon aus, dass für Adorno die Stringenz der philosophischen Sprache darin bestehe, bei der präzisen Darlegung eines Sachverhalts die subjektiven Affekte noch auf eine vermittelte Weise ausdrücken zu können: „Adorno ist also der Überzeugung, daß die Philosophie die ihr angemessene Sprache dort findet, wo die subjektive Empfindung im gewählten Begriff noch mitschwingt, ohne dessen Vermögen zur exakten Bestimmung von Sachverhalten zu beeinträchtigen.“ (Honneth 2006, S. 25) Adorno GS 6, S. 29.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
dessen sprachliche Habe vermittelt wird, die beide nicht vollkommen bewusst im Subjekt präformiert sind. Jeder Versuch, die empfundene Diskrepanz zwischen der eigenen Erfahrung und dem gesellschaftlichen Allgemeinen, was Adorno auch als Leiden bezeichnet, nicht z. B. durch aggressive Gewalt, sondern durch den Sinn kommunizierender sprachlicher Aneignung zu überbrücken, gilt nicht ganz als Eigenleistung. Vielmehr setzt er das sozial vorgeformte, unwillentliche „Bedürfnis“ zur intellektuellen Integration voraus, das einen asozialen Rückzug ins Private vermeidet. Eine solche psychische Fähigkeit in der Erkenntnis, ob Adorno sie nun wechselweise als „Leiden“, „Lust“ oder Liebe akzentuiert, ist darüber hinaus auch in der Ausübung der Sozialkritik zu finden. Sozialkritik als eine Form der Erkenntnis ist Adorno zufolge ohne die nicht-epistemische Zuwendung des Kritikers nicht möglich. In Anlehnung an Theodor Reiks Lehre, die ich im nächsten Abschnitt diskutieren werde, hebt Adorno die Rolle des Hineinfühlens in der wahrhaften Erkenntnis der Gesellschaft hervor, „nämlich: daß ich das Wesen der Gesellschaft […] nicht etwa dann erkennen kann, wenn ich dabei von mir als einem Erkennenden möglichst absehe, sondern wenn ich alles, was ich selber an Innervationen, an Regungen, an Willen, an Intentionen habe, in diese Erkenntnis mit hereingebe“⁷⁵. Dabei tritt ein Aspekt zutage, der wohl im Zusammenhang der „Sozialkritik“ bei Adorno bislang wenig thematisiert wurde: Kritisch zu sein, beherbergt immer das innerste Motiv des Kritikers, die Gesellschaft verstehen zu wollen, und dieses Motiv lässt sich nach Adorno auch mit Max Scheler darauf zurückzuführen, dass der „Ursprung der Erkenntnis“ schließlich „in der Liebe“⁷⁶ geschieht.
5.5 Intersubjektive Kommunikation Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich Adornos lang ignoriertes Konzept der intersubjektiven Kommunikation anhand von Theodor Reiks Theorie darlegen. Mit der Widerlegung der verbreiteten Kritik, Adorno hege ein tiefes Misstrauen gegenüber der psychoanalytischen Praxis,⁷⁷ vertrete ich die These, dass seine
Adorno ET, S. 36. Adorno ET, S. 36. Vgl. Scheler 1955. Dieses Thema stellt den Ausgangspunkt des Konferenzbandes Kritische Theorie und psychoanalytische Praxis dar. In dessen Vorwort ist zu lesen: „Mit Theodor W. Adorno fand dieses Misstrauen gegenüber […] [der psychoanalytischen] Praxis […] ihren gewichtigsten und wortmächtigsten Vertreter.“ (Decker/Türcke 2007, S. 8) Diese Auffassung kann zunächst durch einige biographische Angaben in Frage gestellt werden. So erkundigte sich Adorno bereits vor der
5.5 Intersubjektive Kommunikation
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diesbezügliche Kritik nicht als Feindschaft gegenüber der psychoanalytischen Praxis, sondern im Gegenteil als die stärkste Verteidigung des normativen Charakters der analytisch exemplifizierten Kommunikation zu verstehen ist, der als Maßstab aller möglichen Formen von Kommunikation gilt. [Der] sprachlichen Kommunikation [ist] ein Telos von gegenseitiger Verständigung eingebaut. An diesem Leitfaden gelangt man zu einem Begriff von kommunikativer Rationalität, der […] auch den wenigen affirmativen Äußerungen Adornos über ein nicht verfehltes Leben zugrunde geleg[en] hat.⁷⁸
Wie unten zu zeigen sein wird, hegt Adorno tatsächlich eine konkrete Vorstellung von kommunikativer Rationalität, wie Habermas schreibt, aber ihre Besonderheit tritt gerade in ihrer Differenz zu der Bestimmung durch Habermas zutage. Für Adorno liegt das Telos der Verständigung jeder Kommunikation zugrunde; es lässt sich jedoch nicht allein durch sprachliche Kommunikation erreichen, da – wie es Adornos tiefer Überzeugung vom Unbewussten entspricht – in der menschlichen Interaktion neben dem sprachlichen inhaltlichen Austausch zugleich ein reicher Austausch an unbewussten Regungen und Emotionen stattfindet. Einige Beispiele aus den originär psychoanalytischen Schriften reichen aus, um die obige These zu entfalten. Wenn Freud in sachlichem Ton eine Fallanalyse verfasst, in der er einer Patientin „versprach, […] sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien“, und Jahre später aus Anlass entsprechender Nachrichten notiert, sie habe sich wohl „dem Leben wiedergewonnen“⁷⁹; oder wenn Winnicott Sätze wiedergibt, die zeigen, wie eine Patientin über zwei Stunden Brüchiges, Widersprüchliches und anscheinend Zusammenhangsloses von sich gibt, aber doch durch befördernde Deutung und Fragen am Ende dazu gelangt, ein Stück Auswanderung nach einem zuverlässigen Analytiker für seine Frau (Adorno/Horkheimer BWH1, S. 67) und bezog es angesichts der ungewissen akademischen Aussichten in den USA in seine Überlegungen ein, sich beruflich zum Analytiker ausbilden zu lassen (Adorno/Horkheimer BWH2, S. 193). – Dennoch lässt sich in der Tat harsche Kritik aus dem Munde Adornos auch außerhalb seiner sozialpsychologischen Schriften finden, etwa wenn er die psychoanalytische Praxis als eine Art psychologische „Massage“ bezeichnet. Man greift aber zu kurz, wenn man diese Kritik verallgemeinert, ohne ihren kulturellen Bezug zu berücksichtigen. Eine wissenssoziologisch gut belegte Analyse von Shannon Mariotti zeigt, dass Adornos Kritik an der analytischen Praxis vor dem Hintergrund des popularisierten Konsums von Psychopharmaka in den 1940er und 50er Jahren in den USA zu verstehen ist. Mariotti weist darauf hin, dass der Aufschwung der psychoanalytischen Therapie in der Nachkriegszeit den verbreiteten Wunsch „to be fixed, to be happy“ widerspiegelt, dem die amerikanische Vorstellung einer „perfectability of the self“ (T. M. Luhrmann) innewohnt (Mariotti 2009, hier S. 182). Habermas 1985b, S. 173. Freud SA VI, S. 185 f.
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5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
„zu sich zu kommen“⁸⁰ – dann lässt sich trotz aller Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen und der praktischen Umsetzung der analytischen Schulen erkennen, dass in diese Gespräche von beiden Seiten etwas mehr als nur rationale Sprachkompetenz eingeflossen ist, was dann zu einem genuinen Verständnis zwischen zwei Menschen werden konnte.⁸¹ Dieses „etwas mehr“ ist nach Adornos Auffassung für die Kommunikation entscheidend. Dies erläutert er in seiner Vorlesung zur Erkenntnistheorie genauer. So weist Adorno in den späten 1950er Jahren die Studenten zunächst darauf hin, dass man Psychoanalyse diejenige Form von Psychologie nennt, „die es vermag, etwas vom Unbewußtsein und von den Motivationen anderer Menschen zu erfahren, [und] daß in dieser Psychologie es sich herausgestellt hat, daß Sie eigentlich nur so viel von dem Unbewußten des anderen Menschen erfahren können, wie Sie von Ihrem eigenen Unbewußten in den Erkenntnisakt mit hereingaben.“⁸² Bekanntlich hebt Adorno in seiner Kritik des naturwissenschaftlichen Verfahrens hervor, dass es zum wahren Erkennen „nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt“⁸³ bedürfe. Allerdings bleibt innerhalb der Terminologie von Subjekt und Objekt vage, worauf sich dieses „Mehr“ bezieht. Im Zusammenhang der analytischen Gespräche dagegen macht Adorno deutlich, dass wir den anderen Menschen erst dann wirklich – das heißt nicht nur ihre geäußerten Worte, sondern ihre verborgenen Wünsche und tiefsten Motivationen – verstehen, wenn wir seelisch mit dem Anderen korrespondieren. Wie dies zu verstehen sei, zeige die psychoanalytische Praxis: „Der bedeutende Psychoanalytiker Reik hat in einem Buch Listening with the Third Ear geradezu diese These bis ins einzelne dargelegt.“ Reiks Arbeit zeige, so Adorno, wie „psychologisches Verständnis möglich ist“⁸⁴. Theodor Reiks Buch Hören mit dem dritten Ohr trägt den Untertitel Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers. Im Unterschied zu Freud, bei dem die intrapsychische Struktur und die Logik des Triebes im Vordergrund stehen, handelt Reiks Untersuchung von der reflektierten Erfahrung, wie er in der analytischen Situation durch feinfühliges Beobachten und Selbstbeobachtung in die Innenwelt einer anderen Mentalität vordringt. „Das Hören mit dem dritten Ohr“, wie Reik
Winnicott 1973, S. 76. Eine analytische Situation ist zwar aufgrund ihres therapeutischen Wesens asymmetrisch, insofern sie auf die heilende Selbsterkenntnis des Patienten abzielt, aber dies ändert nichts daran, dass dabei ein Verständigungsprozess stattfindet, an dem beide Seiten beteiligt sind. Selbsterkenntnis erwirbt daher nicht nur der Patient, sondern auch der Analytiker. Adorno ET, S. 35. Adorno GS 6, S. 50. Adorno ET, S. 36.
5.5 Intersubjektive Kommunikation
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lebendig belegt, ist ein Hören mit Augen, mit dem Geruchssinn, mit Gefühlen und Einbildungskraft, es ist ein Hören mit der „Bereitschaft […] zu empfangen“⁸⁵. Was empfunden wird, ist alles, was von einem Anderen bewusst oder unbewusst ausgesendet wird. Das dritte Ohr, so Reik, vernimmt „auf zwei Kanäle[n]“⁸⁶, es richtet sich nach außen und nach innen: „Es kann erfassen, was andere Leute nicht sagen, sondern nur fühlen und denken. Es kann Stimmen aus dem Innern hören, die sonst nicht hörbar sind, weil sie vom Lärm unserer bewussten Gedankenprozesse übertönt werden.“⁸⁷ Reik meint damit, dass der aufmerksame Zuhörer sich bewusst affizieren lässt, die eigene Innenwelt wie ein Medium anbietet, so dass das nicht Gesagte oder nicht Sagbare der anderen Person, das Formlose und daher für den Redenden selbst nicht Bearbeitbare sich in ihm niederschlägt. „Der Analytiker“, so erläutert Joachim Küchenhoff Reiks Sicht, „benutzt die eigenen Gefühle und Empfindungen als Resonanzraum, was beim Patienten antönt, erklingt in ihm wieder.“⁸⁸ Wenn ein Ton zwischen den beiden Kanälen lauter klingt oder die Sinne sich zuspitzen, so geschieht dies häufig dort, wo eine Unstimmigkeit bzw. „Lücke“⁸⁹ verspürt wird. Der Analytiker, so Reik, wird sicher nicht als erstes den Sinn oder die Widersprüchlichkeit von Worten, Gesten und unbewußten Zeichen, die auf verborgene Impulse und Ideen hindeuten, verstehen. Eher lösen diese Zeichen als erstes in ihm selbst unbewußte Impulse und Ideen mit ähnlicher Tendenz aus. Die unbewußte Aufnahme der Zeichen wird nicht zuerst zu ihrer Deutung führen, sondern zur Induktion der verborgenen Impulse und Gefühle, die ihnen zugrundeliegen.⁹⁰
Man hört beispielsweise „ein skeptisches Gefühl, als kleiner Anklang einer subtilen Ablehnung oder als eine kleine Handlung formuliert“⁹¹, ohne aber dabei klar zu wissen, was dies bedeutet. „Erst später“ bemerkt der Analytiker, „daß etwas nicht stimm[t].“⁹² Eine Person kann solche Unstimmigkeiten wahrnehmen, gerade weil sie sie mit etwas Ähnlichem aus der eigenen Lebenserfahrung vergleicht. Ein wohlwollender, voluntativer Zuhörer und Gesprächspartner empfindet die Dissonanz in Konsonanz und bringt diese phänomenologisch nachgängig in verschie-
Reik 1983, S. 169. Reik 1983, S. 168 f. Reik 1983, S. 169. Küchenhoff 2005, S. 146. Reik 1983, S. 163. Reik 1983, S. 429. Küchenhoff 2005, S. 147. Reik 1983, S. 176.
154
5 Adornos Denkpsychologie (3): Sozialisation und Denkfähigkeit
denen sprachlichen Formen – wie Nachfragen, Widerspruch oder polemischem Disput – zu einer Erwiderung, die dann den Anstoß zur Klärung oder zu einem neuen Verständnis gibt. Ein rein passiver oder defensiver Hörer, der ohne selbstbewusste Dissonanz oder ohne solidarische Konsonanz zuhört, kann hingegen keinen Dialog bestreiten. Was man sprachphilosophisch als Verständigung fasst, lässt sich so mit Rücksicht auf die psychische Hingabe als innerliche Kooperation zweier Personen verstehen. Bei Adorno gilt die Zusammenarbeit als Maß für einen genuinen „Ausdruck“. Philosophische Sprache soll beispielsweise in der Lage sein, dem „Nichtidentisch[en] zum Ausdruck zu helfen.“⁹³ Was in der Subjekt-Objekt-Beziehung in einem übertragenen Sinne zu verstehen ist, hat im intersubjektiven Gespräch ein sachliches Fundament. Der „Ausdruck“ ist für Adorno nichts rein Subjektives (wie häufig unterstellt wird) – nur wenn das bewusste oder unbewusste Anliegen der Anderen auch durch all meine subtilen Regungen, mein Wissen, meine Vorstellungskraft usw. hindurch eine Form findet, gilt die Aussage als ein „Ausdruck“, der eine reziproke Verständigung herbeizuführen vermag. Durch die Berufung auf Theodor Reik tritt Adornos lang verdecktes Ideal der intersubjektiven Kommunikation zu Vorschein. Reiks Erfahrungen bezüglich der psychoanalytischen Übertragung zeigen, dass in der sozialen Interaktion außerhalb der Sprache zahlreiche flüchtige Signale mitschwingen. Der Anspruch an die Gesprächspartner besteht darin, „sich auf alle möglichen feinsten Mitteilungen zu verlassen“⁹⁴. Nur wenn diese Mitteilungen am Rande des Sagbaren rezipiert werden können, kommt es zu einem tieferen Verständnis. Ohne Einfühlung und Hingabe ist die begriffliche Sprache allein nicht ausreichend für die Kommunikation.⁹⁵ Mit Adornos Zustimmung zu Reik lässt sich somit der Vorwurf widerlegen, „der kommunikative Aspekt der Sprache“ als solcher sei von ihm „abgewertet“⁹⁶ worden. Auch für Adorno liegt der Kommunikation zwischen Menschen – das heißt zwischen psychischen Wesen⁹⁷ – das Telos der Verständigung zugrunde, aber zu dessen Realisierung müssen die Gesprächsteilnehmer neben dem Anspruch auf Wahrhaftigkeit auch sich selbst als „Resonanzraum“ für den An-
Adorno GS 5, S. 336, Herv. M.-C. L. Adorno expliziert dieses kooperierende Moment kaum im Rahmen der intersubjektiven Kommunikation, um so wichtiger ist der Bezug auf Reik. Reik 1983, S. 166. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass Adorno in seiner ersten Habilitationsschrift von 1927 die Übertragung noch für sekundär hielt; in seiner weiteren Entwicklung sieht er dagegen zunehmend das affektive Wesen der menschlichen Rationalität ein. Rath 2008, S. 125. Daher bezeichnet Reik die Beziehung im analytischen Gespräch als eine „Beziehung zwischen zwei Unbewussten“ (Reik 1983, S. 427).
5.5 Intersubjektive Kommunikation
155
deren einsetzen, so dass ein Wir entsteht, zwischen dessen beiden Seiten, wie Adorno sagt, „kein so starres, fixes Verhältnis […] herrscht“⁹⁸.
Adorno ET, S. 36.
Ausblick Erst im Verlauf der Untersuchung wurde mir bewusst, wie viele autoritäre Vorurteile innerhalb der Adorno-Interpretation herrschen, die latent oder unmittelbar auf die Lektüre wirken: Danach soll Adorno als radikaler Aporetiker keine positive Bestimmung von Rationalität haben, als dialektischer Sozialkritiker interessiere er sich nicht für die Naturwissenschaften, und die technische Entwicklung verkörpere in seinen Augen nichts als instrumentelle Vernunft; als elitärer Ästhet wiederum erkenne Adorno nur die transformative Kraft der Kunst an und keineswegs die der alltäglichen zwischenmenschlichen Kommunikation. Bei all dem wird man vor die Frage gestellt: Wie soll eine Philosophie ihre Überzeugungskraft nicht einbüßen, wenn gleich am Anfang so viel Ablehnung gegenüber den Interessen des rationalen gesunden Menschenverstandes laut wird? Tatsächlich ist es – zumindest über eine gewisse Zeit hinweg – genau so gewesen.¹ Die vorliegende Studie versteht sich als ein Versuch, Adornos Philosophie auf eine kohärentere Weise zu erfassen. Die Ausgangsfrage, ob es gelingen kann, durch eine Ausarbeitung der psychoanalytischen Implikationen seines Leidensbegriffs die allgemeine anthropologische Voraussetzung seiner Philosophie darzulegen, hat zu folgenden Ergebnissen geführt: In Adornos Überlegungen zum Leiden bleiben die psychoanalytischen Einsichten in die Innenwelt des Menschen keineswegs unberücksichtigt. Ob es um psychisches, physisches oder existenzielles Leiden geht – Adorno betrachtet all diese negativen Erfahrungen als Teil unbewusster Umwandlungsprozesse. Allerdings, so zeigte sich, geht es Adorno keineswegs nur darum, mit der Psychoanalyse bestimmte Phänomene zu interpretieren. Er adaptiert sie vielmehr in einer erkenntnistheoretischen Hinsicht und entwickelt das eigene anthropologische Konzept einer „Denkpsychologie“. Mit Blick auf den gesamten Beweisgang ist es nicht unangemessen, zu sagen, dass der Begriff des „Leidens“ allmählich an den Rand rückt oder in ein anderes Spektrum übergeht: Eine interpretatorische Verschiebung dahingehend, dass sich das „Leiden“ als Deckwort für das in der Psychoanalyse behandelte Verhältnis von „Lust“ und „Unlust“ – also als unbewusste Kraft – umdeuten lässt, zeigt, dass Adornos ambigue Verwendung des Leidensbegriffs nur ein Teil des viel umfangreicheren Projektes ist, die menschliche Rationalität mit den zeitgenössischen Lehren vom Unbewussten zu reformulieren. Dieses Projekt hat eine einfache
So notiert Axel Honneth zu dem im Jahr 2003 ausgerichteten Jubiläum zum 100. Geburtstag Adornos: „In den letzten Jahren hat sich in den Hauptströmungen der Geistes- und Sozialwissenschaften, so lässt sich wohl ohne Übertreibung sagen, eine dramatische Abkehr von der Theorie Adornos vollzogen.“ (Honneth 2005a, S. 8) https://doi.org/10.1515/9783110642476-008
Ausblick
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Wahrheit zum Kern: Was unbewusst in uns drängt, was uns affiziert und widerfährt, geht dem Denken voran. Sei es das normative Urteil, seien es die intersubjektive Kommunikation, die sprachliche Aussage oder auch die sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt – alle diese Formen der Rationalität setzen das gleichermaßen rezeptive, verletzbare wie triebhafte Wesen der Psyche voraus. Adornos „Denkpsychologie“ handelt daher nicht allein vom „Denken“ oder von „Psychologie“; vielmehr hebt er in diesem Gedankengang stets die formenden sozialen Kräfte hervor, die über die rationalen Fähigkeiten des Subjekts hinausgehen und diese allererst fundieren. In diesem neuen Rahmen stehen die negativen Erfahrungen nicht mehr im Zentrum. Es ist dagegen Adornos tiefe Überzeugung, dass die Ausbildung eines rationalen, autonomen Subjekts primär durch „psychologisch[e] Erziehung“² zu erreichen sei. Die Tatsache, dass Adorno in all seinen philosophischen Überlegungen die unbewusste Psyche das Erste sein lässt, kann in zweierlei Hinsicht relevant für die Forschung sein. In Bezug auf Adornos Philosophie als Ganze lassen sich auch weitere Aspekte seines Denkens – die Sozialkritik, die Ästhetik, die Sprachphilosophie sowie seine Lehre der Mimesis – unter der psychoanalytischen bzw. denkpsychologischen Lesart auf eine einheitliche Weise betrachten. Darüber hinaus könnte Adornos produktive Vermittlung von Philosophie und Theorien des Unbewussten ein Modell darstellen, das zeigt, dass die Psychoanalyse nicht nur in ihrem herkömmlichen Gebiet, sondern auch als allgemeine anthropologische Grundlage der Rationalität fruchtbar gemacht werden kann. Ich möchte jedoch mit einigen Worten zu dem anfänglichen Motiv, Adornos Denken aus der Perspektive des menschlichen „Leidens“ zu erschließen, enden. Der humanistische Kern seiner Philosophie, das Leiden abzuschaffen, lässt sich nun unter Einbeziehung seiner Denkpsychologie so verstehen: Wann und wie einer Person zwischenmenschliche Verletzungen, Ungerechtigkeit oder die Gewalt der Natur widerfahren, ist stets von kontingentem Charakter; und auch, auf welche Weise eine Person in ihrer Lebensführung mit Leid konfrontiert wird, und ob sie sich dieser Konfrontation gewachsen zeigt oder nicht, ist nicht vorherzusehen. Aber zum Schutz ihr Mitglieder lässt sich eine Gesellschaft doch so organisieren, dass nicht nur die objektiven Quellen des Leidens „bis zu einem Grad“ reduziert sind, „der theoretisch nicht vorwegzunehmen“ ist.³ Sie sollte und kann darüber hinaus jedes Subjekt psychisch so befördern, dass selbst im privatesten Adorno GS 20.1, S. 373. „Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört […].“ (Adorno GS 6, S. 203)
158
Ausblick
Leid die solidarische Kraft des Sozialen aus dem tiefsten Unbewussten mobilisiert werden kann. In Adornos Schriften ist der Leidensbegriff stets in seiner schillernden Zweideutigkeit zu lesen: Ob das Leiden ein „suffering“ ist oder aber ein unbewusstes Geschehen bedeutet, bleibt offen. Diese semantische Ungewissheit soll eben das zum Ausdruck bringen, was jedes Leiden betrifft: Es muss nicht so sein – jeder Leidenszustand birgt potenziell die Möglichkeit zur Transformation in sich. Diese Möglichkeit der Überwindung des Falschen ist immer da – sowohl in der Realität als auch in Adornos Philosophie.
Siglen Schriften von Theodor W. Adorno Zur Zitierweise: Sämtliche Werke Adornos, die in die Gesammelten Schriften aufgenommen wurden, werden nach dieser Ausgabe zitiert. Die nachgelassenen Schriften, die Briefwechsel sowie alle anderen Texte werden anhand der angegebenen Sigle nachgewiesen.
Gesammelte Schriften GS Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970 – 1986.
Nachgelassene Schriften Hg. vom Theodor W. Adorno-Archiv, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 ff.
ÄS ES
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Siglen
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2 Angaben zu den zitierten Bänden der Werkausgaben Sigmund Freuds Studienausgabe [SA] SA I
Vorlesungen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1916 – 17), S. 33 – 445. „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933), S. 447 – 608. SA II Die Traumdeutung SA III Psychologie des Unbewußten „Triebe und Triebschicksale“ (1915), S. 75 – 102. „Die Verdrängung“ (1915), S. 103 – 118. „Das Unbewußte“ (1915), S. 119 – 173. „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), S 213 – 272. „Das Ich und das Es“ (1920), S. 273 – 330. „Die Verneinung“ (1925), S. 371 – 377. SA IV Psychologische Schriften „Der Humor“ (1927), S. 275 – 282. SA V Sexualleben „Drei Abhandlungen zur Sexualität“ (1905), S. 37 – 145. SA VI „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ (1905), S. 83 – 186. SA IX Fragen der Gesellschaft/ Ursprünge der Religion „Zeitgemässiges über Krieg und Tod“ (1915), S. 33 – 60. „Die Zukunft einer Illusion“ (1927), S. 135 – 189. „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), S. 191 – 270. SA Ergänzungsband Schriften zur Behandlungstechnik „Zur Psychotherapie der Hysterie“ (1895), S. 37 – 97. „Die Frage der Laienanalyse“ (1926), S. 271 – 349.
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Danksagung Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2014/15 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Für mich ist diese Studie nicht nur das Ergebnis einer unschätzbaren Forschungszeit, sie beinhaltet auch das Wohlwollen all jener, die mich auf diesem Weg begleitet haben. Mein Doktorvater Axel Honneth hat mich in allen Phasen dieser Arbeit vertrauensvoll unterstützt. Auf seine fördernde Art hat er mir stets dabei geholfen, das vorhandene Potenzial fruchtbar zu machen, und die Einschränkungen, die jedes vorläufige Ergebnis auszeichnen, möglichst zu überwinden. Ihm gilt mein aufrichtiger Dank für alles, was ich von ihm gelernt habe. Zu Dank bin ich auch meinen Freunden Emmanuel Renault, Heiner Michel, Jinbum Chung und Fabian Heubel verpflichtet, die mit mir über einzelne Kapitel diskutiert und mir anregende Kommentare gegeben haben. Bedanken möchte ich mich auch bei Byoungho Kang, nicht nur für seine sehr hilfreichen Hinweise zum Kant-Kapitel, sondern auch dafür, dass wir so vieles während der Promotionszeit gemeinsam erleben konnten. Mein warmer Dank geht auch an Tzu-Kuang Chen, Hsiao-Peng Yueh, Haengnam Lee, Daehun Chung, Frauke Köhler, Tzu-Fang Huang und Shuo-Chun Hsieh für alle ihre wertvollen Vorschläge und Hilfestellungen. Cathrin Nielsen hat den Text sprachlich und stilistisch verbessert, für ihr hervorragendes Lektorat sowie ihre stete Hilfsbereitschaft danke ich ihr herzlich. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch meinen besonderen Dank an drei Freundinnen aussprechen: Anette Mönich und Tina Günschmann danke ich dafür, dass ich bei ihnen bei allen Änderungen meiner Lebensumstände immer einen festen Rückhalt in Frankfurt habe. Yi-Ling Cheng danke ich für die Freundschaft, die mich über diese Jahre begleitet hat. Es ist mein tiefes Bedauern, dass mein ehemaliger Lehrer Ting-Kuo Chang die spätere Entwicklung dieser Arbeit nicht mehr sehen konnte. Mein bleibender Dank an ihn, wie auch an andere, die mir bei der Realisierung dieses Projekts geholfen haben, die ich aber hier nicht alle nennen kann, bringe ich mit dem vorliegenden Text zum Ausdruck. Es ist mir eine große Freude, dass diese Arbeit zu Adorno in der Reihe der Sonderbände der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erscheinen kann. Ich danke Serena Pirrotta und Christoph Schirmer für ihren Vorschlag zur Begutachtung der Schrift und den Herausgebern für ihre Aufnahme in die Reihe. Tim Vogel danke ich für sein Engagement in der Bearbeitung des Manuskripts.
https://doi.org/10.1515/9783110642476-011
Danksagung
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Ein Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) hat die erste Phase meiner Promotion gefördert. Das von Arto Laitinen geleitete Forschungsprojekt „Pathologies of Recognition“ der Finnischen Akademie sowie das von Fabian Heubel geleitete Projekt „The notion of communication and the paradoxical constellation of modern politics: A transcultural study of Axel Honneth’s theory of social freedom“ des Taiwan Ministry of Science and Technology haben die Anfertigung der Arbeit finanziell unterstützt. Ihnen gebührt mein herzlicher Dank. Schließlich möchte ich meinen Eltern Chih-Hua Lo und Yueh-Hsiu Chen dafür danken, dass sie mich auf meinem Weg immer vorbehaltlos unterstützt haben.
Personenregister Abel, Angelika 124 Angehrn, Emil 75, 78 Anselm, Sigrun 11 Aristoteles 79, 83, 131 Auerbach, Erich 79 Benjamin, Jessica 9, 13, 24, 49 – 52, 128, 138 – 140, 144 Bernstein, Jay 2, 45 f., 52 Bonacker, Thorsten 60 Bonß, Wolfgang 2, 48, 71, 128 Brede, Karola 63 Brunkhorst, Hauke 97 Buck-Morss, Susan 4, 11, 13, 97 Cooper, Joel 86 Cornelius, Hans 13 – 15, 19, 22 Demmerling, Christoph 91, 147 Dewey, John 117 f. Dornes, Martin 6, 23, 107, 131, 134 Erikson, Erik H.
Heisenberg, Werner 9, 92, 100, 109, 116, 119 – 123, 125 Helmholtz, Hermann von 8, 23, 106 – 110, 115 Hobson, Peter 9, 127, 131 – 135, 139, 143, 145 Honneth, Axel 5, 9, 19, 27, 51 f., 55, 63, 71, 80, 82, 90, 118, 127, 132 – 138, 142, 144, 149, 156 Hume, David 48, 54 f., 58, 73, 80 f., 103 Kant, Immanuel 5, 7 – 9, 16 f., 20 – 23, 55, 80 f., 90 – 103, 106, 109 f., 112, 115 – 118, 123 f., 126, 131, 136 f., 141, 147 Kleinman, Richard 57 Kliegl, Reinhold 103 – 107 Kohlmann, Ulrich 57 Küchenhoff, Joachim 36, 138, 153 Laplanche, Jean 26, 32, 35, 39, 65, 87, 141 Lear, Jonathan 5 Lichtenberg, Joseph 138 f.
130
Festinger, Leon 86 Freud, Sigmund 4 – 7, 11 – 15, 17 – 19, 21 – 44, 46, 50, 54 f., 57 – 68, 75, 78, 87, 97, 99, 102, 106, 111 f., 116, 129 f., 133, 137 f., 140 – 142, 144, 151 f. Fromm, Erich 50 Früchtl, Josef 48, 71, 83, 91 Gadamer, Hans-Georg 76 Geuss, Raymond 1 f., 62, 71 Greenberg, Jay R. 138 Grüny, Christian 52 Habermas, Jürgen 2, 4, 15, 25, 44, 49 – 52, 97 – 100, 133, 147, 151 Hammer, Espen 15 Hegel, G. W. F. 5, 8, 71, 75 f., 78, 81, 86, 97, 99, 101, 148 Heidegger, Martin 59, 69, 76, 117 https://doi.org/10.1515/9783110642476-012
Mariotti, Shannon 151 Menke, Christoph 55 Müller-Doohm, Stefan 4, 11, 13 f., 50, 130 Münch, Dieter 23 Nitzschke, Bernd
13
Pohl, Rolf 61 Pontalis, Jean-Bertrand 141
26, 32, 35, 39, 87,
Rantis, Konstantinos 59 Rapaport, David 143 Rath, Nobert 154 Reiche, Reimut 5 Reik, Theodor 150, 152 – 154 Ritsert, Jürgen 147 Scheidt, Carl Eduard 14, 16 Scheler, Max 13 f., 117, 150
Personenregister
Schiemann, Gregor 123, 126 Schmid Noerr, Gunzelin 59, 61 Schmidt, Alfred 47 f. Schnädelbach, Herbert 47, 77 Söllner, Alfons 61 Sommer, Manfred 16, 22
Wellmer, Albrecht 47 Whitebook, Joel 39, 63 – 65, 77, 97 Wiggershaus, Rolf 4, 13 f. Willaschek, Marcus 95 Williams, Bernard 35 Winnicott, Donald W. 151 f.
Theunissen, Michael 113 Tiedemann, Rolf 4, 14, 21 f., 48, 118
Zepf, Siegfried 27 Zuidervaart, Lambert
2, 53
173