Konservatismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2015 Heft 03 9783666800122, 9783525800126, 9783801204778


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German Pages [168] Year 2015

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Konservatismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2015 Heft 03
 9783666800122, 9783525800126, 9783801204778

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EDITORIAL ΞΞ Leona Koch / Danny Michelsen / Matthias Micus

Die Zeit der Ideologien ist vorbei, sie gehören im 21. Jahrhundert auch sym­ bolisch der Vergangenheit an. Unter Geisteswissenschaftlern ist es üblich, das 20. Jahrhundert eine »Zeit der Ideologien« (Karl Dietrich Bracher) zu nennen. Auch schon das 19. Jahrhundert, in dem sich der Liberalismus, Konservatis­ mus sowie Sozialismus, desgleichen Nationalismus und Imperialismus zu­ vor herausgebildet hatten, wird ganz ähnlich als »Zeitalter der Ideologien« (Klaus von Beyme) bezeichnet. Heute dagegen scheinen die Großideologien von der politischen Bühne weitgehend verschwunden zu sein. Zu plural – so heißt es – seien mittler­ weile die Strukturprofile nationaler Bevölkerungen, zu undurchsichtig die gesellschaftlichen Entwicklungslogiken, zu vielfältig verflochten nationale und globale Entscheidungen, Probleme, Trends, als dass sich noch homogene Gruppen massenhaft mit konzisen Welterklärungsmodellen hinter ein und derselben Fahne zu Überzeugungsgemeinschaften zusammenbinden ließen. Zugegeben: Gesetzt diesen Fall, liefe das Schwerpunktthema »Konservatis­ mus« der vorliegenden Ausgabe von INDES der Intention unserer Zeitschrift zuwider, Beiträge zu aktuellen Debatten zu liefern. Freilich: Wenn alle Ismen atavistisch geworden sind, wie erklärt sich dann die Konjunktur etwa des Populismus und entsprechend titulierter Parteiengruppen? Liegt es daran, dass der Populismus eine »dünne Ideo­ logie«, kompatibel also mit Versatzstücken ganz unterschiedlicher Denk­ traditionen, und insofern keine »richtige« Weltanschauung ist? Doch ließe sich selbiges nicht gleichfalls vom Konservatismus sagen? Für die gewohnte Distanz zwischen Konservativen und Intellektuellen bspw. wird gerne die Ablehnung einer »Herrschaft ideologischer Sinnproduzenten« (Helmut Schelsky) durch erstere als Begründung herangezogen. Hierin wäre dann der Konser­vatismus, obwohl ein Ismus, ganz zeitgemäß: im Glauben daran, dass für kollektives Handeln Prinzipien weitgehend entbehrlich sind und auf grundlegende Doktrinen verzichtet werden kann. Eine solche Offenheit gegenüber sämtlichen politischen Lösungsmöglichkeiten neigt dazu, die Existenz unterschied­licher Interessen auszublenden, und resultiert leicht in verwissenschaftlichten Politik­a nsätzen, welche die Geltung umfäng­ licher Sachzwänge postulieren. Wie gesagt und mit Blick auf Angela M ­ erkel: ganz modern.

INDES, 2015–3, S. 1–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Nun fällt bezüglich traditionell »konservativer Parteien« ein potenzielles Dilemma des Konservatismus ins Auge, das auf einer ganz anderen Ebene liegt. Womöglich ist das Problem, dass die von den neokonservativen – und damit gleichbedeutend: neoliberalen – wirtschaftspolitischen Leitlinien vo­ rangetriebene kapitalistische Liberalisierungsdynamik gesellschaftliche Mo­ dernisierungsprozesse befeuert, die sie zu ständigen Kurswechseln in Poli­ tikfeldern wie Ehe und Familie zwingt – also gerade dort, wo konservative Parteien noch ein klar konturiertes, deutlicher: genuines Profil besitzen. Gleichwohl auch hier: Die europäischen Mitte-Rechts-Parteien scheinen von diesem Verlust ihres Kernprofils eher zu profitieren, während ihre liberalen und sozialdemokratischen Konkurrenten dafür in jüngerer Zeit immer wie­ der abgestraft worden sind. Unumkehrbar, für alle Zeiten in Stein gemeißelt, ist diese Verteilung von Profit und Verlust allerdings nicht. Die durch die anhaltende Ortlosigkeit des Konservatismus aufgerissene Repräsentationslücke ist vielmehr längst unübersehbar geworden. In Deutschland manifestiert sie sich nicht nur in der Gründung neuer Parteien rechts von der Union (AfD, ALFA); auch Pro­ testbewegungen wie Pegida repräsentieren traditionell konservative Euro­ pabilder (europäisches Abendland, Europa der Vaterländer usw.) und eine diffuse Angst vor »Werteverfall« und dem Verlust nationaler Identität ange­ sichts von »Überfremdung«. An dieser Stelle wird bereits das Problem virulent, mit dem sich die Mehr­ heit der Beiträge in diesem Heft auseinandersetzt: mit der Unmöglichkeit, den Konservatismus auf inhaltliche Kernmotive festzulegen. Muss der Kon­ servatismus immer als Abwehrreaktion auf das Fremde und Ungewohnte auftreten? Zeichnet er sich nicht eher durch eine Haltung aus, die »Maß und Mitte« Experimenten mit ungewissem Ausgang vorzieht? In diesem Fall wäre das spezifisch Konservative ganz einfach das Unbeha­ gen an den Extremen und einem allzu naiven Fortschrittsoptimismus. Des­ halb ist es spätestens seit Michael Oakeshotts Diagnose, der Konservative sei jemand, der »das Reale dem Möglichen, das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit einem utopischen Glück« vorziehe, in Mode gekommen, den Konservatismus mit einer spezi­ fischen Denkart anstatt einem politischen Programm zu identifizieren. Ganz ähnlich charakterisierte zuerst Edmund Burke – salopp gesprochen, der Ur­ vater des Konservatismus – die konservative Weltsicht: als eine Denkweise, die dem Rationalismus, der reinen Vernunft, mit Skepsis begegnet. Irrig wäre jedenfalls die Annahme, den Konservatismus heute noch pau­ schal als Gegen-Aufklärung abtun zu können. Ohne Wandel kein Bedarf nach

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EDITORIAL

Konservierung – wer bewahren möchte, akzeptiert folglich, auf dem Boden der Veränderung, des Fortschritts, der Moderne zu stehen. Gerade der Verlust des Vertrauten im Zuge von Innovationen und Umgebungswechseln erzeugt oder zumindest verstärkt das kompensatorische Bedürfnis nach dem Gewohnten und Gleichbleibenden, nach Traditionspflege und Herkunftsvergewisserung. Vielleicht ist sogar gerade das Gegenteil von obiger Behauptung richtig: Es dürfte kein Zufall sein, dass Denker aus dem Dunstkreis der linken »Frank­ furter Schule« bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutmaßten, Revolutionen der Gegenwart seien nicht mehr die »Lokomotive der Weltge­ schichte«, als die Karl Marx sie gesehen hatte, sondern diametral entgegen­ gesetzt »der Griff des in einem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse« (Walter Benjamin). Und in den Theoriedebatten der Gegenwart wird gerade den kompromiss­ losen Verteidigern der Aufklärung, die im »unvollendeten Projekt der Mo­ derne« (Jürgen Habermas) Spuren universalistischer Vernunftprinzipien ent­ decken, die Rolle der Konservativen, der Bewahrer einer mühsam errungenen westlichen Freiheit, zugeschrieben, während sich Post-Fundamentalisten mit dem Verweis auf eine typisch konservative Denkfigur – inkommensurable kulturelle Differenzen – in einer Dekonstruktion dieser Prinzipien üben. Ist also – wie Paul Nolte im Gespräch mit Herfried Münkler behauptet – »Libe­ ral das neue Konservativ«? Aus diesen Vorüberlegungen wird deutlich, dass die Suche nach dem ge­ nuin Konservativen in einer so unübersichtlichen Zeit, wie wir sie erleben, zunehmend schwieriger wird. Wir hoffen, dass die vorliegende INDES hierzu dennoch einige Denkanstöße geben kann.

EDITORIAL

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INHALT 1 Editorial ΞΞLeona Koch / Danny Michelsen / Matthias Micus

KONSERVATISMUS 7 »Dem Konservativen ist das zu Konservierende abhandengekommen« >> STREITGESPRÄCH

Ein Gespräch über die intellectual history des bundesdeutschen Konservatismus ΞΞInterview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

>> ANALYSE 21 Auf der Strecke geblieben?



Über das Verschwinden des Konservatismus als politische Ideologie ΞΞJens Hacke

29 Der »Ruf der Jungen«

Max Hildebert Boehm und der junge Konservatismus in der Weimarer Republik ΞΞAndré Postert

38 Konservatismus »von unten«?

Soziale Unterschichten und der englische Konservatismus im 19. Jahrhundert ΞΞJörg Neuheiser

49 Zwischen Nostalgie und modernem



Rechts­extremismus

Wellen der Slawophilie in Russland bis in die Ära Putin ΞΞKlaus von Beyme

58 Der Konservatismus der Mitte

Zum Toleranzdiskurs im schiitischen Islam ΞΞStephan Kokew

65 Zwischen Aufbruch und Beharrung Die bürgerliche Rechte in Frankreich ΞΞTeresa Nentwig

77 Konservativ sein – ist das noch zeitgemäß? Erkundungen mit Michael Oakeshott ΞΞMichael Becker

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INDES, 2015–3, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

84 »Erkenne die Lage!«

Über die rechtspopulistische Versuchung des bundesdeutschen Konservatismus ΞΞKarin Priester

93 Konservatismus als Mentalität und Methode

Zur politischen Technik Konrad Adenauers und Angela Merkels ΞΞFranz Walter



>> PORTRAIT 103 Edmund Burke

Betrachtungen zum politischen Denken eines Gründungsvaters des Konservatismus ΞΞDirk Jörke / Veith Selk



>> INSPEKTION 111 Trutzburgen des Konservatismus Auf Spurensuche im konservativen Milieu

ΞΞFlorian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp



>> MANIFEST 123 Red Tories, vereinigt euch!

Das Individuum, der Staat und die Gesellschaft ΞΞRon Dart

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 131 Die Freiheit des Einzelnen als Grundlage und Grenze

Perspektiven des Liberalismus in Deutschland ΞΞDieter Langewiesche



>> PORTRAIT 143 »Politik heißt: etwas wollen«

Der demokratische Sozialist Olof Palme zwischen Idealismus und Realpolitik ΞΞArmin Pfahl-Traughber



>> DEBATTE 155 Im Grenzraum

Zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses ΞΞKatia Henriette Backhaus



>> MANIFEST 162 Das Konferenz-Manifest

Wider das akademische Tagungsunwesen ΞΞChristy Wampole

Inhalt

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SCHWERPUNKT: KONSERVATISMUS

STREITGESPRÄCH

»DEM KONSERVATIVEN IST DAS ZU KONSERVIERENDE ABHANDENGEKOMMEN« EIN GESPRÄCH ÜBER DIE INTELLECTUAL HISTORY DES BUNDESDEUTSCHEN KONSERVATISMUS ΞΞ Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

Im Urteil vieler Zeitgenossen zählen Sie beide selbst zu dem – im Vergleich zu früheren Jahren – inzwischen relativ kleinen Kreis ernstzunehmender konservativer öffentlicher Intellektueller. Widersprechen Sie dieser Fremdzuschreibung? Münkler: Ich fühle mich nicht als konservativ. Diese Zuschreibung hat vielleicht etwas mit MünklerWatch zu tun. Es mag auch durchaus sein, dass ich manche konservative Neigung habe. Ich würde mich aber nicht einen Konservativen nennen. Nolte: Bei mir ist das etwas anders. Ich habe mich ja selber einmal so ge­ nannt, in einer Phase, als ich auf der Suche nach meiner eigenen politischen Identität war. Ich muss aber zugeben, dass ich damals in diese Bezeichnung »neokonservativ« etwas naiv hineingestolpert bin. Die mit diesem Begriff üblicherweise assoziierte Bedeutung ist ja, dass es sich bei dem Neokonser­ vativen sozusagen um einen besonders schlimmen Konservativen handelt. Ich dagegen hatte einen Konservatismus im Sinn, der sich der Moderne an­ passt und versucht, eine Innovationsschwelle zu überschreiten, vor der der alte Konservatismus noch steht. Inzwischen sehe ich mich als linkskonser­ vativen Liberalen, als Liberalen, der manchmal konservative Neigungen hat. Was heißt denn heute überhaupt noch »konservativ sein«; meint das eine Idee oder, mit Andreas Rödder, eher eine Haltung? Münkler: Der Begriff des »Konservativen« hat schon immer etwas Schil­ lerndes gehabt, und als er in Reaktion auf die Französische Revolution ent­ standen ist – als das Reflexivwerden der Tradition – und politische Konturen

INDES, 2015–3 S. 7–20, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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ausgebildet hat, war auch nicht immer klar, was konservativ und wer ein Kon­ servativer ist. Zwischen Edmund Burke und den sich selbst als konservativ wahrnehmenden Reaktionären de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés liegen Welten. Von daher ist »konservativ«, wenn ich das aus der Perspek­ tive der politischen Ideengeschichte betrachte, stets ein umkämpfter Begriff gewesen. Heute ist er das nicht mehr, weil der Traditionsbestand des Kon­ servatismus, den die alte Bundesrepublik in den 1950/60er Jahren durchaus noch hatte, zunehmend der ökonomischen Dynamik zum Opfer gefallen ist. Gesellschaften, die ihre politische Agenda letzten Endes von der Wirtschaft geschrieben bekommen, haben große Schwierigkeiten mit Konservativen bzw. das Konservative wird in diesen Gesellschaften von der Ökonomie zermah­ len. Der Grundgedanke einer zeitgemäßen liberalkonservativen Agenda wäre von daher heute wohl die Annahme, dass wir, je schneller die Veränderun­ gen dieser Welt in sozioökonomischer Sicht stattfinden, desto mehr darauf angewiesen sind, über gewisse Balancen lebensweltlicher Art zu verfügen. So wie der Sozialwissenschaftler Karl Deutsch das einmal sehr schön gesagt hat: »Ein Auto kann umso schneller fahren, je bessere Bremsen es hat.« Ent­ scheidend ist ein Bewusstsein der Erfordernis des Kompensatorischen, des Ausgleichenden. Hierin – also in der Überzeugung, dass man angesichts der dramatischen Beschleunigung Stützen und Haltepunkte braucht – würde ich so etwas wie einen intellektuell aufgeklärten, anspruchsvollen liberalen Konservatismus sehen. Nolte: Ich weiß gar nicht, ob das so neu ist. Schließlich sind die den ge­ sellschaftlichen Veränderungen zugrunde liegenden Spannungsverhältnisse auch schon lange vor dem, was wir jetzt als neue kapitalistische oder neo­ liberale Beschleunigung wahrnehmen, ganz ähnlich definiert worden. Im Konservatismus steckte von Anfang an das Moment der Reflexion drin, ein Innehalten, ein Begriff der Skepsis. In diesem Sinne konservativ war die Ge­ neration von Joachim Ritter, Hermann Lübbe, Odo Marquard oder auch Tho­ mas Nipperdey, um mal jemanden aus meinem Fach zu nennen. Es muss in meinen Augen das Ziel von intelligenten Konservativen sein, zu sagen: »Mo­ ment mal, wir stellen uns gegen Eindeutigkeit.« Das wäre für mich eine For­ mel, wenn man zum Beispiel sagt: »Das, was die Linken machen, das ist mir zu eindeutig. Es kann gar nicht sein, dass eine Expansion des Sozialstaates automatisch gut ist. Das muss komplizierter sein.« So in etwa stellt sich die Form konservativen Argumentierens in meinen Augen dar. Münkler: Was Sie da beschreiben, erklärt, warum es eigentlich einen Kon­ servatismus im Sinne einer geschlossenen Weltanschauung gar nicht geben kann. Was es geben kann, sind konservative Einsprengsel – innerhalb der

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Konservatismus — Streitgespräch

SPD, innerhalb der CDU, innerhalb der Grünen, wo auch immer. Aber es ist

unmöglich, eine geschlossene konservative Welthaltung – in der Form, in der Sie es beschrieben haben – zu entwickeln. Nolte: Die Kanzlerin, die sich ja selbst gar nicht als Konservative bezeich­ nen würde, setzt diese konservativen Aporien in ihrem Politikstil meisterlich um: Sie nimmt das auf, was an Veränderungen sinnvoll oder unumgänglich ist; gleichzeitig bedenkt sie die vorhandenen Widerlager mit – und löst die Aporien in einem Kompromiss oder in allmählichem Fortschritt auf. Sicher ist Merkel klar, dass die Homo-Ehe kommen wird, aber Konservative sagen: »Muss das denn jetzt sofort sein?« Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das, was Sie das Schillernde und Unbestimmte des Konservatismus nannten, eine konservative Besonderheit ist. Oder ob nicht alle politischen Haltungen auf­ grund der breiten Spektren, die sie abdecken, eine solche Unbestimmtheit gemeinsam haben. Natürlich kann man ideologische Verbindungslinien zwi­ schen Lübbe und einem rechten Ideologen wie Gerd-Klaus K ­ altenbrunner ziehen. Aber dann müsste man auch fragen, was Lenin mit Willy Brandt ver­ bindet. Das Liberale ist ebenfalls äußerst unbestimmt, wenn man sich die Unterschiede der transatlantischen Verwendung dieses Begriffes anschaut. Während »liberal« im amerikanischen Sinn immer mehr nach links driftet, bis zur Überlappung mit »sozialistisch«, lässt sich für den europäischen und insbesondere den deutschen Kontext konstatieren: Liberal ist das neue Kon­ servativ. Wenn ich also sage, ich verstehe mich heute als Liberaler und nicht mehr als Konservativer, dann sagen manche Linke: »umso schlimmer«! Oder: »mindestens genauso schlimm«! Hier offenbart sich ein grundlegender Kon­ flikt über das, was heute als konservativ gelten kann. Nehmen Sie die Spal­ tung der AfD: Alexander Gauland und Konrad Adam sind beide konservativ, indem sie gegen die Marktwirtschaft sind. Bernd Lucke hingegen ist gerade insofern konservativ, als er neoliberal und für den Markt ist. Da stehen zwei programmatische Positionen konträr zueinander, die aber beide mit der Zu­ schreibung des Konservativen belegt werden. Eine andere Spaltungslinie scheint uns im konservativen Lager die Haltung zu Europa zu sein, zu Europa als Wertegemeinschaft, die eben nicht mehr so unumstritten wirkt wie zu Zeiten Adenauers oder Kohls. Zeigt sich hier eine weitere Veränderung im konservativen Denken? Münkler: Zunächst einmal war die Beschreibung Europas als Wertege­ meinschaft, wenn wir uns rückerinnern an die Adenauer-Ära, aber auch an die Regierungszeit Helmut Kohls, eine genuin konservative Position. Und wenn Sie da heute schauen und sich fragen, wer beschwört eigentlich Europa als Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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identitätsstiftende Wertegemeinschaft, dann könnte man fast meinen: In be­ stimmter Hinsicht ist das vor allen Dingen und in aggressiver Weise PEGIDA … Nolte: … und Heinrich August Winkler, d. h. es gibt die Wertegemein­ schaft durchaus noch im politischen Mainstream! Als konservativ haben Sie, Herr Nolte, einmal das Veto gegen die Ego-Gesellschaft bezeichnet – und in diesem Zusammenhang gesagt, das Anliegen, die Gemeinschaft zu stärken, sei gleichbedeutend mit der Stabilisierung demokratischer Einstellungen. Nolte: Was ich damit zu beschreiben versuchte, war ein kommunitäres Argument, das selber zwischen linken und rechten Kritiken eines radikal-in­ dividualistischen Liberalismus changiert und da sehr schnell die Farbe wech­ seln kann. Auch hier gilt wieder: Egal, welchen Begriff Sie auch nehmen, sie stoßen alsbald immer irgendwo an Grenzen. Nehmen sie bspw. die bereits aufgeworfene Frage nach dem Einfluss der Märkte und der Kritik daran als Beispiel für eine unklar gewordene konservative Selbstbestimmung. Auf der einen Seite haben wir weiterhin – und gegenwärtig vielleicht wieder stärker wahrnehmbar – die klassische konservative Marktkritik; und auf der anderen Seite eine radikal marktkonforme Position, die nicht minder für konservativ gehalten wird, seit in der deutschen und europäischen Debatte Konservatis­ mus und Neoliberalismus eine Art von Fusion eingegangen sind. Viele der angesprochenen konservativen Unsicherheiten oder Redefini­ tionen hängen eng mit einem Bruch im Spektrum der Linken zusammen: mit dem Verlust des Optimismus, dem Verlust der Eindeutigkeit auf Seiten der Linken und ihrer Übernahme relationaler oder relativistischer Positio­ nen, z. B. des Kulturrelativismus. Kulturrelativisten waren früher durchweg Konservative, die Liberalen waren die Universalisten. Seit diesem – für die Geistes-, Ideen-, Politik- und Kulturgeschichte, nicht nur des 20. Jahrhunderts, sondern der westlichen Moderne, ganz fundamentalen – historischen Switch im Selbstverständnis der Linken um die 1970er Jahre herum ist das alles da­ gegen nicht mehr so klar. Handelt es sich um einen innerlinken Streit, wenn Jürgen Habermas noch den westlichen Universalismus verteidigt? Oder ist Habermas damit schon konservativ? Hier zeigt sich, dass in mancher Hinsicht nun gerade die Liberalkonservativen zu den Verfechtern der Eindeutigkeit, der Entschiedenheit geworden sind. Westliche Werte und die repräsentative Demokratie, die mancher Konservative auch realpolitisch bis in die Anfangs­ jahrzehnte der Bundesrepublik hinein beargwöhnt hat, sind längst konsoli­ diert und zählen heute zum Traditionsbestand der deutschen Gesellschaft. Der Konservatismus ist infolgedessen mit einem Gestus der Entschiedenheit

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Konservatismus — Streitgespräch

angereichert worden, der gerade die relativistisch und modernitätsskeptisch gewordenen Positionen der Linken kritisiert und eindeutig Position bezieht. Also: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft und der moderne Individualismus las­ sen sich heute gar nicht mehr trennen oder gegeneinander in Stellung bringen. Münkler: »Gemeinschaft« ist ohnehin, pauschal verwandt, ein schwieri­ ger Begriff. Es gibt einerseits Gemeinschaften, die den Anspruch erheben, man sei in sie hineingeboren und könne sie nie verlassen. Das ist die, wenn man so will, traditionelle oder konservative Vorstellung von Gemeinschaft. Aber wenn wir andererseits in eine Spielgemeinschaft – vom Würfelclub bis zum Fußballverein – eintreten, dann treffen wir als Individuen eine Entscheidung für eine ganz bestimmte Situation, für eine ganz bestimmte Zeit in der Woche und stellen das Beharren auf unserer ausschließlichen Individualität befristet zugunsten einer Gemeinschaftserfahrung zurück. In diesem Fall ist die Gemeinschaft ein Therapeutikum gegen die Zumu­ tungen der Gegenwartsgesellschaft und ihre Einsamkeiten sowie Härten. Insofern: Eo ipso ist der Gemeinschaftsbegriff nicht konservativ. Es gibt je­ doch bestimmte Vorstellungen von Gemeinschaften, die konservativ sind – die aber stark an Bedeutung verloren haben. Die Dorfgemeinschaft bspw. gibt es nicht mehr, auch weil die sozialen Träger eines konservativen Den­ kens – eine starke Bauernschaft – allenfalls noch in einer rudimentären Schrumpfform existieren und abgelöst worden sind durch Agrarökonomen. Insofern sollten wir uns klarmachen, dass der soziale Träger einer wirklich konservativen Position im Verlauf der 1960/70er Jahre im Zuge der Trans­ formation der agrarischen Produktionsweise verschwunden ist. Seither gibt es nur noch Leute, die in Einzelpunkten, in dieser oder jener Frage, kon­ servativ sind, aber ansonsten in ihrem Berufs- und Geschäftsverhalten das genaue Gegenteil bewirken. Nolte: Einspruch! Ich bin mir nicht sicher, inwieweit diese sozialgeschicht­ liche Erklärung trägt. Für Deutschland mag sie ein Stück plausibel sein; aber stimmt sie auch für andere Gesellschaften, die ähnlich radikale Transforma­ tionen durchgemacht haben, in denen das Konservative – als Selbstbezeich­ nung von Parteien ebenso wie in breiteren Gesellschaftsschichten – aber viel selbstverständlicher geblieben ist? In Großbritannien oder den USA etwa gibt es bis heute die tendenziell konservativ eingestellten suburbanen Mittelschich­ ten, viel beschrieben wurde etwa das Milieu von Orange County an der Pe­ ripherie von Los Angeles. Dort waren es in den 1960er Jahren nicht Bauern, es war die gut situierte Mittelschicht, die sagte: »Diese Kulturrevolution, die Hippies, das geht mir zu weit!«, und die in Reaktion auf diesen Schub der Modernisierung konservative Positionen übernahm. Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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Münkler: Die Mentalitäten sind die Gefängnisse der langen Dauer – diese Erkenntnis der französischen Annales-Schule gilt auch hier. Die sozioökono­ mische Basis eines in sich kohärenten Konservatismus ist zwar verschwunden, aber die Mentalitäten überdauern zunächst noch. Das können wir auch an uns selber beobachten. Aber in der nächsten oder übernächsten Generation gehen dann auch die Mentalitäten verloren, wenn sie nicht mehr den festen Halt der sozialstrukturellen Lage haben. Nolte: Damit interpretieren Sie den Konservatismus als Atavismus – ich glaube das nicht! Wenn Konservatismus eine Haltung ist, so wie Sie es gesagt haben, die sich unabhängig von konkreten inhaltlichen Positionen im Prinzip immer mobilisieren lässt, dann wird es ihn auch in Zukunft geben, als Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft und natürlichen Gegenpol zur Linken. Letzt­ lich werden wir die Gegenposition zum linken Standpunkt immer konservativ nennen. Deswegen ist der Konservatismus kein Atavismus. Sondern das, was konservativ ist, bestimmt sich ständig neu relational zu dem, was die jeweilige Avantgarde der Gesellschaft gerade artikuliert. Und beides treibt sozusagen in einer Art von Ziehharmonikaspiel die gesellschaftliche Dynamik voran. Inso­ fern bin ich links, als Weltgeist-Hegelianer. Ich glaube, es gibt eine fundamen­ tale Dynamik der Entwicklung – aber es gibt immer auch das, was zurückzieht. Münkler: Vielleicht erklärt eben das, warum es der Konservatismus so schwer hat und warum er nicht mehr sichtbar ist. Wenn wir in der Diagnose übereinstimmen, dass es diesen überzeugten Forschrittsgestus und Zukunfts­ glauben der Linken nicht mehr gibt, dann fehlt den Konservativen der Wi­ derpart, gegen den sie konservativ sein können. Dann können sie allenfalls noch skeptisch sein! Nolte: In Deutschland hat sich – dies freilich im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich – in den letzten zwei Jahrzehnten eine sehr zentristische politische Kultur herauskristallisiert, die weder eine klare linke Position kennt noch einen deutlich umrissenen Konservatismus. Das kann man gut an der Semantik der politischen Berichterstattung ablesen. Die AfD ist dann nicht konservativ, sondern »rechtskonservativ«, womit ihr automatisch etwas Marginales angeheftet wird, drei Prozent und hoffentlich nicht mehr. Wenn Mitte die Chiffre für den Verlust des Widerparts und die Diffusion einstmals klarer Konturen ist; und wenn als das genuin Konservative just die Skepsis, die Mäßigung und das Maß, das bedeutet die Mitteposition gilt – ist dann also die Auflösung des Konservatismus in ihm selbst angelegt? Münkler: Wenn der Konservatismus provoziert wird durch eine bestimmte Form von Beschleunigung, dann wird man wohl sagen müssen, dass die

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Konservatismus — Streitgespräch

Zentrierung der deutschen Gesellschaft – also der Umstand, dass sich so viele der Mitte zurechnen und im Prinzip in Deutschland keine Regierung bildbar ist, die sich als rechts oder links bezeichnet – ein Gegenmodell zu dem politischen Modell der USA , aber auch Frankreichs, Großbritanniens und Italiens ist. Wir haben es mit, wenn man so will, unterschiedlichen For­ men des Bedeutsamwerdens geschichtlicher Erinnerungen zu tun. Dass die Mitte für uns so sehr mit Bedeutung aufgeladen ist, ist auch die Folge des­ sen, dass das Scheitern der Weimarer Republik als das Ergebnis einer Ero­ sion der Mitte angesehen worden ist. Deshalb wird eine Polarisierung des politischen Systems und der sozialen Lagen noch heute so sehr gefürchtet. Die gründungsmythische Narration der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg lautet: »Jungs, haltet die Mitte. Dann wird es gut gehen.« In der Politikwissenschaft spricht man gerne von Pfadabhängigkeiten. Wenn gleichsam von diesem Zeitpunkt an die Deutschen auf einen bestimm­ ten Pfad gesetzt worden sind – lassen wir einmal dahingestellt, inwiefern sie vorher schon solch einem Pfad gerne gefolgt wären –, dann bewegen wir uns innerhalb eines Systems, in dem es keine sehr ausgeprägte politische Linke und, weil ich nicht Rechte sagen will, keine profilierten Konservativen mehr geben wird. Selbst jene dezidierten Konservativen wie Franz Josef Strauß, der, wenn er noch leben würde, mit seinem Auftreten auch in Bayern keine Mehrheitsverhältnisse mehr erreichen würde, oder die »Stahlhelmer« unter ihrem Anführer Alfred Dregger aus Hessen sind heute kaum noch vorstell­ bar. Insofern scheinen wir in der Tat immer mittiger geworden zu sein. Das würde dann auch erklären, warum in dieser speziellen politischen Kultur Deutschlands das Konservative nicht als Logo für eine mehrheitsfähige Par­ tei taugt. Andererseits: Das wusste die CDU schon bei ihrer Gründung, des­ halb hat sie sich christlich genannt und Union und sich nicht namentlich in die Tradition von konservativen Gruppierungen gestellt. Nolte: Auch die Zentrumspartei war schon im Kaiserreich und in der Wei­ marer Republik nicht ohne Weiteres als konservative Partei zu bezeichnen. Vor allem das Protestantische, das nach 1945 dazukam, gab der CDU ihre kon­ servative Note. Die Frage nach Maß, Mäßigung und Mitte ist schwer zu be­ antworten. Denn natürlich ist auch dies begriffs- und wirkungsgeschichtlich ein ideologisches Konstrukt der Selbststilisierung – und letztlich wiederum Produkt und Folge einer besonderen intellektuellen Tradition des deutschen Konservatismus aus der Erfahrung der Weimarer Republik und des Natio­ nalsozialismus heraus, womit er, nochmals, in den USA nicht weit käme. In der deutschen Debatte hat die Mitte-Ideologie vom hiesigen gemäßigten Kon­ servatismus nicht viel zu befürchten, ebenso wenig von der Sozialdemokratie. Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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Einzig die heterodoxen linken sozialen Bewegungen jenseits der Sozialdemo­ kratie fechten den Konsens maßvoller Mittigkeit an. Der Konservatismus lässt sich auch auffassen als »Sozialmentalität ruhebedürftiger Gesellschaften«, man denke etwa an die Nachkriegszeit und frühe Ära Adenauer. Haben wir heute eine ähnliche Situation, lässt sich für die Gegenwart ein konservativer Zeitgeist diagnostizieren? Wollen die Leute wieder in Ruhe gelassen werden, sind sie zufrieden, wenn der politische Betrieb ohne ihr Zutun funktioniert und sie selbst nicht aktiv tätig werden müssen? Münkler: Vermutlich weisen Gesellschaften, die sogenannte »heiße Gesell­ schaften« sind – in denen also fünfzig Prozent der Bevölkerung unter zwan­ zig Jahre alt sind –, sehr viel stärker ausgeprägte, nicht nur soziale, sondern auch politische Gegensätze auf. Mit dem Effekt, dass dann auch eine kon­ servative Position gewissermaßen erzwungen wird. Alternde oder gealterte Gesellschaften hingegen unterliegen diesen Dynamiken nicht in vergleich­ barer Weise. Sie zeichnen sich eher durch eine heitere Skepsis aus, wie sie Odo Marquard beispielhaft vertreten hat und die gleichsam zur Grundaus­ stattung eines gewöhnlichen, sich irgendwo in der gesellschaftlichen Mitte ansiedelnden Bürgers gehört. Das Feuer des politischen und sozialen Kampfes spielt in solchen Gesellschaften keine Rolle. Warum auch? In einer alternden Gesellschaft werden schließlich für die nachdrängenden jungen Leute hin­ reichend Positionen frei. Die müssen hier nicht um Positionen und positio­ nale Güter konkurrieren, sie fallen ihnen gleichsam zu. Man kann es auch ein bisschen böse sagen: Wenn sie den Mund aufreißen, dann kriegen sie Geld zugesteckt oder eine Beamtenposition in Aussicht gestellt, dann sind sie ruhig. Es gibt keinen Zwang, extreme Positionen einzunehmen, um den eigenen Anspruch auf eine entsprechende Positionierung innerhalb der Ge­ sellschaft sichtbar zu machen, sondern derlei fällt dem Einzelnen mehr oder minder automatisch zu. Man kann sagen, das sind Zeiten des Glücks. Wobei: Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat einmal gemeint, die Seiten des Glücks, das seien die leeren Seiten der Weltgeschichte. Nolte: Ich finde den Vergleich mit der Adenauer-Zeit schwierig, die ja eine Ära konservativer Modernisierung war. Sicher, es handelte sich um eine ru­ hebedürftige Gesellschaft, aber doch nur im Sinne dieses Gegenpols zu ganz dramatischen Beschleunigungen, etwa der rasanten Reindustrialisierung nach 1945 oder den enormen demografischen Herausforderungen der Nach­ kriegszeit. Und die eigentliche Zeit einer geschärften konservativen Position, die dann auch intellektuell artikuliert wurde, das waren nicht die 1950er und frühen 1960er Jahre, sondern erst die Zeit, als die Linke hegemonial wurde.

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Konservatismus — Streitgespräch

Insofern war die schärfste Zeit in der intellectual history des bundesdeutschen Konservatismus die Periode zwischen 1974 und 1984, als sich noch einmal eine neue Generation von Neokonservativen zu Wort meldete. Wenn man da den Merkur durchblättert, zwischen den frühen 1970er Jahren und dem Historikerstreit, dann taucht man in die wohl letzte Zeit, in der auch intel­ lektuell versucht worden ist, konservative Positionen zu markieren. Jetzt be­ finden wir uns wieder in einer sich rasch verändernden Gesellschaft; aber ob wir ein großes Ruhebedürfnis haben, da bin ich mir abermals nicht so sicher. Vielmehr ist doch verblüffend, geradezu sensationell, wie wir diese Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte – die digitale Revolution und den Multikulturalismus – bewältigen, ohne dass es zu größeren Verwerfun­ gen oder kulturellen Gegenreaktionen kommt, mithin: wie bemerkenswert umstandslos dieses Veränderungstempo von einem großen Teil der Gesell­ schaft mitvollzogen wird. Münkler: Es handelt sich um Veränderungen, die im Allgemeinen nicht politisierbar sind, sondern an denen alle in unterschiedlicher Weise partizi­ pieren können. Der Mittemechanismus über Konsum funktioniert hier. Das Ergebnis ist ein lebensweltlicher Konservatismus, den man aber nicht als politischen Konservatismus beschreiben kann, sondern der sich in indivi­ duellen Präferenzentscheidungen im Umgang mit dem Fortschritt, der im einen Fall als Segen und im anderen als Fluch begriffen wird, niederschlägt. Täuscht denn der Eindruck, dass es durch beschleunigte Wandlungsprozesse aktuell so etwas gibt wie einen Teilrückzug aus dem Politischen aus einer zunehmenden Veränderungsunsicherheit heraus? Und manifestiert sich in diesen Gefühlen der Überforderung durch Veränderungen sowie Trends zum Selbstrückzug so etwas wie eine Renaissance des Konservativen? Münkler: Aber worauf bezieht sich denn dieses Konservative? Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es den Rückzug in den familiären Privatraum als Re­ aktion auf die öffentliche Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus. Die Erschöpfung heute ist allenfalls eine Erschöpfung, die aus dem tagtäglichen Berufsleben resultiert, d. h. man reagiert auf die permanente Konfrontation mit Innovationen im Beruf mit dem Wunsch nach Ruhe im privaten Bereich. Das aber ist dann etwas völlig anderes als die Bedeutsam-Machung der Fa­ milie in den 1950er und 1960er Jahren. Nolte: Ich glaube, dass diese Zyklentheorie, die Sie entwickelt haben, heute nicht mehr aufgeht und dass darin vielleicht auch eine Beschreibung oder eine Diagnose liegt. Man konnte ja häufig beobachten, dass einem Re­ gierungswechsel ein Mentalitätswandel vorauslief; aber mit der Häutung Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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der Schröder-Regierung, der rot-grünen Koalition, mit den Hartz-Reformen, scheinen diese antizipierenden Wandlungsprozesse vorerst an ihr Ende ge­ kommen zu sein. Mit der Agenda-Politik hat Schröder das politische Koordi­ natensystem der alten Bundesrepublik völlig durcheinandergeworfen. Da hat er buchstäblich eine Agenda gesetzt, die die Grünen und die Union für sich übernommen haben. Der Kanzlerwechsel von 2005 spielt unter diesem Ge­ sichtspunkt eigentlich keine Rolle, denn Angela Merkel führte letztlich nur das von Schröder ins Werk gesetzte und auf den Weg gebrachte Programm aus. Seitdem leben wir in einer Zeit, in der wir genaugenommen eine per­ manente Große Koalition haben. Aktuell wird sie von der CDU geführt und die Gesellschaftspolitik machen Sozialdemokraten wie Andrea Nahles und ­Manuela Schwesig – aber es könnte genauso gut umgekehrt sein. Worauf warten wir eigentlich? Warten wir auf den nächsten Umschwung, bis mal wieder die Konservativen ohne die SPD richtig regieren können? Oder war­ ten wir darauf, dass die Konservativen weg sind und die Linken die Regie­ rung führen? Diese Eindeutigkeit der Selbst- und Fremdzuschreibung über das, was gegenwärtig den politischen Zeitgeist und den politischen Zyklus ausmacht, haben wir nicht mehr. Möglicherweise resultiert eben daraus der Umstand, dass wir in unserem Wahrnehmungssystem viel stärker auf den Gegensatz zwischen Eliten und Volk umgepolt haben. Es ist auch insofern vollkommen egal, ob die Kanzlerin weiter Merkel heißt oder vielleicht dem­ nächst Gabriel heißen wird. Das ist für die Menschen die Obrigkeit, gegen die sie opponieren. Das ist eine Wahrnehmung von Politik, die das LinksRechts-Schema in viel fundamentalerer Weise durcheinanderwirft als in der Verwechslung von Lechts und Rinks durch Ernst Jandl. Münkler: Das ist ein interessanter Punkt. Weil das einen Hinweis da­ rauf gibt, dass in dem Maße, in dem die Polarisierung zwischen der Linken und der Rechten oder die Erkennbarkeit von zwei opponierenden Positio­ nen in der Gesellschaft schwindet, der alte Gegensatz transformiert wird in ein Oben-Unten-Denken. Dieses Oben-Unten-Denken ist ganz zweifel­ los die Substanz, von der populistische Bewegungen zehren – egal, ob sie rechts- oder linkspopulistisch sind. Nun ist die spannende Beobachtung aber doch eigentlich die, dass sich die Bundesrepublik als erstaunlich re­ sistent gegen Populismen zeigt. Wenn man die erste Hälfte des 20. Jahr­ hunderts zugrunde legt, konnte man das überhaupt nicht erwarten. Die Vorbilder noch für meine Generation, die skandinavischen Länder oder England und Frankreich als das, wie man werden müsse, damit man wieder etwas sein kann, die stehen ja doch jetzt eher fast peinlich da in der Frage europa­skeptischer rechtspopulistischer Parteien. Vielleicht steckt da drin

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Konservatismus — Streitgespräch

eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Ich würde meinen, die Erfolglosigkeit der deutschen populistischen Rechten an den Wahl­urnen ist im Effekt eine der Erklärungen dafür, warum die Bundesregierung zurzeit eine so hohe Verhandlungsmacht in Europa besitzt. Sie hat keinen Front Nationale und deswegen hat die deutsche Politik sehr viel größere Spiel­ räume als andere. Das ist ein aufregender Punkt. Das ist umgekehrt aber auch der Punkt, an dem die AfD ansetzt: Sie will durch ihr Auftreten die Spielräume der deutschen Politik begrenzen; und das wäre der Fall, sobald sie im Bundestag säße. In einem Text, den Sie, Herr Münkler, geschrieben haben, skizzieren Sie mit Verweis auf Platon unterschiedliche Politikertypen: den »Zuckerbäcker« und den »Diätetiker«. Über letzteren heißt es unter anderem, er wisse um das Erfordernis von Gegengewichten, zeichne sich durch eine allgegenwärtige Skepsis aus und lehne die Vorstellung von Maximierung als Königsweg ab. Sind das Merkmale, mit denen man einen konservativen Politiker heute identifizieren könnte? Münkler: In der heutigen Welt würde ich sagen, dass der Diätetiker kein genuin Konservativer, sondern eher ein liberaler Skeptiker ist, der misstrau­ isch ist sowohl gegenüber dem generalisierten Fortschrittsversprechen als auch gegenüber dem genuin konservativen Versprechen des Festhaltens an von wem auch immer überkommenen Werten. Dieser Diätetiker hat eigent­ lich gar keine klar ausgeprägte Position; er ist weder konservativ noch fort­ schrittlich, er schaut nur danach, wo gerade Hypertrophien auftreten. Und wenn der Fortschritt hypertroph ist, dann denkt er konservativ, wenn die Beharrung hypertroph wird, dann ist er eher fortschrittlich. Er ist sozusa­ gen das ausgleichende Element. Aber natürlich ist das ein Idealtypus. In der Realität werden wir vermutlich einen solchen Politiker gar nicht antreffen. Nolte: Ich fand gerade, dass das eine ganz gute Beschreibung von An­ gela Merkel ist. Münkler: Die Politik von Frau Merkel ist in erster Linie von der Devise der Fehlervermeidung geleitet. Keine Visionen, weder eine starke konser­ vative noch – und schon ganz und gar nicht – eine starke progressive Vi­ sion. Gute Politik besteht für Merkel darin, Fehler zu vermeiden. Das ist möglicherweise in der gegenwärtigen politischen Situation genau das Rich­ tige. Dennoch: Der Diätetiker hat eine ziemlich genaue Vorstellung, was die Idealmaße eines Leibes sind, während Frau Merkel in dieser Hinsicht gar nicht festgelegt ist, sondern lediglich schaut, wo der nächste Fehler lauert, den sie machen könnte und vermeiden muss. Insofern sind die beiden ver­ wandt, aber nicht identisch. Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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Lassen sich in der deutschen Politik überhaupt keine genuin Konservativen mehr identifizieren? Münkler: Wenn, dann Alexander Gauland. Das ist momentan vielleicht der Einzige, den man politisch und habituell als Konservativen anführen könnte. Nolte: Ich finde schon, dass man noch ein paar Politiker der CDU nennen könnte. Interessanterweise aber nicht der CSU, unter anderem, weil hier die sozialpopulistischen Elemente so stark sind. Zwar mag es sein, dass die Rolle des konservativen Fackelträgers, die früher einmal Alfred Dregger gespielt hat und die später von Friedrich Merz übernommen wurde, aktuell ein we­ nig unbesetzt ist. Aber ich würde mich nicht scheuen, Wolfgang Schäuble als einen dezidiert konservativen Politiker zu bezeichnen. Schäuble entwickelt seine Politik von einer konservativen staats- und sozialtheoretischen Fun­ dierung her – im Übrigen ist er aus meiner Sicht einer der intelligentesten Politiker, die die Bundesrepublik seit Langem gehabt hat. Münkler: Was die Intelligenz und die Analysefähigkeit anbetrifft, stimme ich zu. Ob Schäuble aber wirklich ein Konservativer ist, das weiß ich nicht. Wenn Sie eine gewisse Orientierung an Staatlichkeit, an Korruptionsresis­ tenz – das sage ich ganz bewusst so – ins Zentrum stellen, dann ist das viel­ leicht konservativ. Aber das trifft in mancher Hinsicht auch auf Linke zu. Wenn Gauland ein konservativer Prototyp ist, würde das dafür sprechen, dass der Konservative nur noch eine marginalisierte Figur ist, rechts der Union und selbst in der AfD nur Teil einer Strömung. Münkler: Das ist wohl so etwas wie die Summe unseres Gesprächs. Dennoch fällt auf, dass es innerhalb der CDU immer mal wieder Gründungen konservativer Zirkel und Netzwerke gibt. Münkler: Die kriegen aber nichts auf die Beine! Aber wenn Sie jetzt einen solchen Zusammenschluss beraten sollten: Gibt es ein Thema, bei dem Sie sagen würden, das müsste man auf diese und keine andere Weise in den Vordergrund stellen? Münkler: Das ist, glaube ich, nochmals ein ganz guter Punkt, um das Grundproblem deutlich zu machen. Die Politik ist inzwischen so komplex geworden, dass es quasi unmöglich ist, eine geschlossene konservative Posi­ tion zu vertreten, wenn man mehrheitsfähig sein will. Mehrheitsfähigkeit kann sich heute nur daraus ergeben, dass man bei einem Thema eine eher konservativere Position hat, bei einem anderen aber eine fortschrittlichere

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Konservatismus — Streitgespräch

und bei den meisten eine irgendwie liberale bis indifferente. Der Zwang der Mehrheitsfähigkeit ist in Deutschland ja unter dem Gesichtspunkt der MitteOrientierung ein ganz besonderer. Von daher glaube ich, wäre ich vielleicht in der Lage, einen Politiker im Hinblick darauf zu beraten, wie er Mehrheiten gewinnt – aber nicht im Hinblick darauf, dass er diese Mehrheiten gewinnen kann, wenn er sich das Etikett »Ich bin konservativ« aufklebt. Zumal dann nicht, wenn stimmt, worin wir, glaube ich, übereingestimmt haben: dass sich nämlich die Inhalte des Konservativen ebenso schnell verändern wie be­ stimmte Formen der Habitualität des Konservativen. Kurzum: Das Problem ist, dem Konservativen ist das Konservative oder das zu Konservierende ab­ handengekommen. Weil das nun mal so ist, glaube ich nicht, dass einer von uns klug beraten wäre, wenn er einen Politiker, der Kanzler werden will oder jedenfalls der Partei angehört, die den Kanzler stellt, im Sinne eines Konser­ vativen beraten würde. Nolte: Das gilt übrigens spiegelbildlich für die SPD genauso. Der Sog in die Mitte wirkt nach beiden Seiten. Auch deshalb weiß eigentlich niemand, was denn heute noch eine geschlossene linke Position wäre. Ich stimme Herrn Münkler zu, dass man eigentlich niemandem guten Gewissens emp­ fehlen kann, jetzt sei mal für die Atomenergie und sei gegen die Homose­ xuellen-Ehe. Man kann aber sagen: Findet dazu eine komplexe relationale Position. Das ist nämlich nach aller Erfahrung – insofern stehen die Kon­ servativen gerade nicht auf verlorenem Posten, falls man die Union mit dem Konservatismus verbindet – eine Position, die bei Wahlen in Deutsch­ land relativ viel Erfolg verspricht, zuletzt 41,5 Prozent und fast die absolute Mehrheit der Mandate. Münkler: Kluge Konservative wussten immer schon, dass sie beide Ele­ mente – technologische Fortschrittlichkeit und eine gewisse lebensweltliche Traditionalität – miteinander kombinieren müssen. Franz Josef Strauß’ Re­ dewendung von den Konservativen, die an der Spitze des Fortschritts mar­ schieren müssen, mag das verdeutlichen. Aber weder das eine noch das an­ dere ist genuin politisch. Das eine ist sozusagen Laptop: Alles was neu ist und was das Leben erleichtert, wird sofort unterstützt und derlei mehr. Aber zum Oktoberfest oder zu anderen folkloristischen Veranstaltungen tragen diese Leute dann wieder Lederhose. Unter diesen Umständen kann es kei­ nen Konservatismus mehr geben. Hermann Lübbe hat das Wort vom »bestandserhaltungsnötigen Systemwandel« geprägt. Was bedeuten soll, dass man beständig verändern muss, um den Bestand zu erhalten. Bedingt das eine das andere? Lassen sich Reformen nur Interview mit Herfried Münkler und Paul Nolte

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bewerkstelligen, wenn man gleichzeitig den Traditionsbestand, der in diesem Fall kein Ballast wäre, bewahrt? Münkler: Ich würde es als einfache Machttechnik beschreiben, dass Re­ formen die Menschen nicht überfordern dürfen. Jemand wie Lenin war ja bekanntlich in kulturellen Fragen eher konservativ und hat diejenigen, die lebensweltlich in den wilden Jahren des frühen Sowjetrussland alles Mögli­ che in Gang setzen wollten, immer wieder gestoppt und zurückgehalten, weil er wusste, dass er dann die Leute verliert, denen zu viel zu rasch verändert wird. Von daher sind das gar nicht genuin konservative Fragen, sondern Fra­ gen, die im Prinzip jeder Machttechniker vor Augen hat. Sie können in einer Gesellschaft umso tiefgreifendere Veränderungen durchsetzen, je mehr sie gewisse feststehende Gepflogenheiten beibehalten. Wohingegen jene franzö­ sischen Revolutionäre, die nicht nur die Gesellschaftsordnung, sondern auch den Kalender verändern wollten, scheiterten, ja scheitern mussten. Daraus haben im Laufe der Zeit die Gesellschaftsveränderer gelernt: Wenn wir eine neue Gesellschaftsordnung einführen wollen, dann lassen wir doch wenigs­ tens den Sonntag Sonntag sein. Oder: Wir gehen zwar nicht mehr in die Kir­ che, aber wir lassen sie im Dorf. Nolte: Insofern ist es nicht nur eine Frage der Machttechnik, sondern auch eine Frage der kulturellen Identität. Und in mancher Hinsicht ist Lübbe je­ mand, der in seinem Leben immer auf verlorenem Posten stand, aber dann auch wieder ein – wenn man so will – Sieger der Geschichte ist. »Zukunft braucht Herkunft«: Hermann Lübbe ist der große Gewinner. Das Interview führten Leona Koch und Matthias Micus.

Prof. Dr. phil. Herfried Münkler, geb. 1951, lehrt Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Wichtige Veröffentlichungen sind u. a.: »Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung« (Berlin 2010); »Der große Krieg. Die Welt 1914–1918« (Berlin 2013); »Macht in der Mitte« (Körber-Stiftung 2015). Prof. Dr. Paul Nolte, geb. 1963, lehrt seit 2005 Neuere Ge­ schichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Sozial-, Ideenund Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts und die Geschichte der Demokratie. Im Oktober 2015 erscheint sein neues Buch »Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitge­ nosse« (München).

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Konservatismus — Streitgespräch

ANALYSE

AUF DER STRECKE GEBLIEBEN? ÜBER DAS VERSCHWINDEN DES KONSERVATISMUS ALS POLITISCHE IDEOLOGIE ΞΞ Jens Hacke

Es gehört zu den oft verdrängten Trivialitäten der Ideen- und Begriffsge­ schichte, dass der Konservatismus ein Phänomen der Moderne ist, welches sich erst als Reaktion auf Emanzipations- und Liberalisierungsbewegungen ausgebildet hat. Die Herausforderung des Fortschritts machte die Reflexion vermeintlich konservativer Werte und Traditionen notwendig; denn die Er­ fahrung, dass die herkömmliche soziale und politische Ordnung fragil und mithin revolutionär veränderbar wurde, mündete in intellektuelle Anstren­ gungen, sich dagegen zu wehren. Der Konservative als Fortschrittsgegner – diese Gleichung war allerdings von Beginn an zu einfach. Die meisten Konservativen standen zwangsläu­ fig auf dem Boden der Moderne, und nicht wenige versuchten – lange vor Franz-Josef Strauß’ berühmtem Ausspruch – »an der Spitze des Fortschritts zu marschieren«. Machtpolitischer Pragmatismus leitete bereits konserva­ tive Politiker wie Benjamin Disraeli und Otto von Bismarck, weitreichende Sozialreformen »von oben« einzuführen, um den Forderungen der Arbeiter­ bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. So ist kaum verwunderlich, dass der Konservatismus an der Schwelle zum demokratischen Zeitalter dauernd damit beschäftigt war, die programmati­ schen Forderungen der Modernisierer zu absorbieren und sich gleichzeitig vom Ballast des altständischen Denkens zu trennen. Die Orientierungsmar­ ken konservativer Ideologie wurden immer verschwommener; denn auch wenn Hierarchie, Ordnung, Heimat oder Religion als vage Leitbegriffe dien­ ten, so war doch nie klar, wie sie sich in politische Konzepte für im Moder­ nisierungsprozess befindliche Gesellschaften umsetzen ließen. Auch unter selbsternannten Konservativen war stets umstritten, was genau bewahrt und mit welchen Werten dies begründet werden sollte.

INDES, 2015–3 S. 21–28, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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BEGRIFFSBESTIMMUNGEN Eine politische Bedeutung hat der Begriff erst erlangt, als François-René de Chateaubriand seine Zeitschrift Le Conservateur (1818) gründete und Kon­ servatismus von nun an als positive Selbstbezeichnung fungierte, um die überwiegend negativ konnotierten Fremdzuschreibungen »Reaktion« und »Restauration« abzulösen. Der Wissenssoziologe Karl Mannheim hat bekannt­ lich den Konservatismus als Reflexivwerden des Traditionalismus bestimmt.1 Seither haben die Definitionsversuche und begrifflichen Fixierungsbemü­ hungen nicht nachgelassen. Einschlägig geworden ist die Klassifizierung des früh verstorbenen Historikers Klaus Epstein, der idealtypisch differenzierte zwischen einer rückwärtsgewandten konservativen Reaktion, die die Vergan­ genheit eines goldenen Zeitalters wieder zu beleben sucht, einem gegenwarts­ zufriedenen Status-quo-Konservatismus und dem Reformkonservatismus, der in Burke’scher Tradition für institutionell vermittelten graduellen Wandel ein­ tritt.2 Nimmt man noch den Befund des ebenso genialischen wie eigenbröt­ lerischen Privatgelehrten Panajotis Kondylis hinzu, der mit der politischen Entmachtung des Adels auch das Ende des »Konservativismus« gekommen sah,3 und vergegenwärtigt man sich die Aporien einer »Konservativen Re­ volution«, deren heterogene Ableger für alternative Modernen unterschied­ licher hierarchisch-autoritärer Provenienz Ideen sammelten,4 dann wird die ideologische Familie des Konservatismus vollends unübersichtlich. Theoretische Unübersichtlichkeit ist freilich kein Argument gegen die Ver­ wendung von Orientierungsbegriffen. Der Liberalismus in all seinen Spielar­ ten vom Sozial- bis zum Neoliberalismus teilt seit ewigen Zeiten ein ähnliches Los. Relevanter als eine präzise Definition erscheinen die konjunkturellen Schwankungen, die der Gebrauch ideologischer Termini durchläuft – deren Attraktivität als Schlagwort und Sammelbegriff für heterogene Strömungen

1  Siehe Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens (1926). Herausgegeben von David Kettler u. a., Frankfurt a. M. 1984.

bemisst sich an der jeweiligen Integrationskraft. Der Begriff des Konservatismus war in Deutschland nach 1945 aus of­ fensichtlichen Gründen kontaminiert. Konservative Eliten galten als Steig­ bügelhalter des Nationalsozialismus, die Ideologen einer »Konservativen Revolution« waren die Staatsfeinde der Weimarer Republik, die sich als Ab­ bruchunternehmer der modernen liberalen Demokratie präsentierten, aber keinerlei positive Programmatik zustande brachten, sondern nur krude For­ meln von Autorität, Hierarchie, »Deutschtum« und Ständestaat aufriefen. »Zustände zu schaffen, deren Erhaltung sich lohnt« – diese Formel Arthur

2  Vgl. Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservati­ vismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Heraus­ forderung durch die Franzö­ sische Revolution 1770–1806, Frankfurt a. M. 1973, S. 19–24. 3  Siehe Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschicht­ licher Gehalt und U ­ ntergang, Stuttgart 1986.

Moeller van den Brucks stellte das Prinzip eines hegenden und pflegenden Konservatismus auf den Kopf, weil hoch umstritten war, welche Wertbe­ stände denn das rechte Utopia begründen sollten. Die einen idealisierten die

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Konservatismus — Analyse

4  Als Überblick vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservati­ ven Revolution, Darmstadt 1995.

ständische Gesellschaft des Mittelalters, die anderen suchten Halt in der Ro­ mantik und weitere rechtsradikale Sprengmeister plädierten für den »Arbei­ ter« (Ernst Jünger) als neuen Sozialtypus, der im Industriezeitalter endlich den Bürger ablösen sollte – der Jünger-Freund Ernst Niekisch phantasierte gar von einer nationalbolschewistischen Revolution. Kurz: Diese extreme neue Rechte in ihren unterschiedlichen nationalisti­ schen, völkisch-antisemitischen und militanten Schattierungen hatte die Ver­ bindungen zur bestehenden bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung weit­ gehend gekappt und damit auch den Konservatismusbegriff ad absurdum geführt. Denn Konservatismus erscheint ja nur dann plausibel definierbar, wenn er eine Relation zu bestehenden Institutionen und lebendigen Tradi­ tionen herstellen kann. 1968 UND DIE FOLGEN Es dauerte deshalb auch eine ganze Weile, bis der Konservatismusbegriff überhaupt wieder Einzug in die politisch-soziale Sprache hielt. Wie in der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, gab es auch in der Bundesrepublik keine Partei, die für sich explizit reklamierte, konservativ zu sein. Erst im Zuge der Achtundsechzigerbewegung ergab sich eine intellek­ tuelle Polarisierung der politischen Lager, und es wurde wieder heftig darum gestritten, wer oder was konservativ sei. Zum einen sammelten sich die verschiedenen Gegner der Neuen Lin­ ken, um sich gegen die vermeintliche »Kulturrevolution« und den »Marsch durch die Institutionen« zu wehren. Zum anderen witterten Linke und Linksliberale in diesen intellektuellen Sammlungsbewegungen die For­ mierung eines »neuen Konservatismus«, der in Wahrheit antidemokrati­ sche und antiliberale Ziele verfolge.5 Rückwirkend wird man in einer har­ monisierenden Lesart sagen können, dass die 1970/80er Jahre – abseits langfristig unbedeutender ideologischer Splittergruppen – eigentlich von der intellektuellen Debatte um die Identität der Bundesrepublik bestimmt wurden, in der sich de facto liberalkonservative und sozialliberale Demo­ kraten gegenüberstanden. Es ging vor allem um »weiche Themen« wie Bildung und Erziehung, die Demokratisierung gesellschaftlicher Lebensbereiche, Umweltschutz oder den Umgang mit der NS-Vergangenheit, nicht so sehr um sozioökonomische Fra­ gen. Will man den Konflikt philosophisch personalisieren, so standen sich 5  Vgl. etwa Martin Greif­ fenhagen (Hg.), Der neue Konservatismus der siebzi­ ger Jahre, Reinbek 1974.

Jürgen Habermas und Hermann Lübbe gegenüber: Wann soll ein Diskurs in Dezision münden? Wie stabil oder flexibel dürfen Institutionen sein? Wel­ che Rolle spielen die vorpolitischen Ressourcen aus Religion und Traditionen Jens Hacke  —  Auf der Strecke geblieben?

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für eine moralische Begründung der Politik? Inwieweit lässt sich eine ver­ nünftige kollektive Identität stiften, und was trägt die Geschichte dazu bei?6 Aus der Distanz betrachtet lagen die damaligen Kontrahenten gar nicht so weit auseinander; es war im Kern eine innerliberale Positionsklärung und es ging weit eher um Deutungshoheit und die Etablierung eines bestimmten Vokabulars als um unüberbrückbare sachliche Differenzen. Der ehemalige Utopist der Herrschaftsfreiheit Habermas erschloss für sich den Verfassungs­ patriotismus und entwickelte in seinem 1992 erschienenen Hauptwerk »Fak­ tizität und Geltung« eine Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates, die einen neuen Wert auf Institutionen legte, während der Institutionalist Lübbe sich immer stärker den Elementen »direkter Demokratie«, der Zivil­ gesellschaft und den zunehmenden Demokratisierungszwängen moderner Gesellschaften zuwandte.7 ENTKRAMPFUNG UND »NEUE BÜRGERLICHKEIT« Diese Annäherung zwischen sozialliberalen und liberalkonservativen Wi­ dersachern war die Begleiterscheinung eines demokratischen Normalkon­ servatismus in Deutschland, dessen Emergenz Paul Nolte 2001 beiläufig in einem Merkur-Essay registrierte, als er nicht nur für eine Entkrampfung im Umgang mit dem Konservatismusbegriff plädierte, sondern zudem sei­ nerseits Konservative aufforderte, programmatisch und intellektuell krea­ tiver zu werden.8 Die Stichworte, die Nolte für ein solches konservatives Programm nannte und zu denen er in den Folgejahren einiges publizieren sollte, fanden sich in den bald folgenden Debatten um eine »neue Bürger­ lichkeit« wieder: Bildung, Erziehung, Kritik an der Ökonomisierung des Lebens, Befähigung zur individuellen Verantwortung, bürgerliche Lebens­ stile und Werte.9 Kurzzeitig sah es so aus, als sollte sich in der Endphase der Regierung Schröder/Fischer, als nach neuen Orientierungen und Begründungen für den Umbau des Sozialstaats gesucht wurde, die Renaissance eines werte­ basierten, liberal grundierten Konservatismus ereignen, der nicht nur intel­ lektuell, sondern auch politisch nachhaltig wirken könnte. Doch als die Fi­ bel eines solchen bundesrepublikanischen Liberalkonservatismus – Udo Di Fabios »Kultur der Freiheit« – im Herbst 2005 diskutiert wurde, schien das

6  Zu dieser Debatte vgl. Jens Hacke, Philosophie der Bürger­ lichkeit. Die liberalkon­servative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2008. 7  Siehe u. a. Hermann Lübbe, Modernisierungsge­ winner. Religion, Geschichts­ sinn, direkte Demokratie und Moral, München 2004. 8  Vgl. Paul Nolte, Konservatis­ mus in Deutschland. Geschich­ te – und Zukunft?, in: Merkur, Jg. 55 (2001) H. 627, S. 559–571.

Momentum für eine solche Renaissance wieder vergangen. Merkels Wahl­ kampf mit dem »Professor aus Heidelberg« und die für ihre Verhältnisse ge­ wagte Rhetorik, mit der sie von der schwersten Krise seit der Nachkriegszeit sprach und die wirtschaftsliberalen Grundsätze des Leipziger Programms von 2003 zu bewerben suchte, waren krachend gescheitert.

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Konservatismus — Analyse

9  Einen Überblick aus der Flut der zahlreichen Publikationen zum Thema gibt: Heinz Bude u. a. (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir?, München 2010.

Fortan sollte die CDU konzeptionelle Bemühungen meiden, sich weder auf Wertedebatten um Leitkultur oder Familienbilder noch auf eine markt­ liberale Neupositionierung einlassen. Der amerikanische Weg, ein traditio­ nelles, z. T. religiös geprägtes gesellschaftliches Denken mit einem rigorosen Wirtschaftsliberalismus zum Neokonservatismus zu amalgamieren, ließ sich in Deutschland nie umsetzen. Insofern waren die vielbeklagte Sozialdemo­ kratisierung der Union und die gleichfalls diagnostizierte Neoliberalisierung der SPD zwei Seiten derselben Medaille: Anstatt zu einer Polarisierung von politischen Gegensätzen kam es zu einem noch härteren Wettbewerb um die politische Mitte.10 Zwei große Koalitionen in drei Legislaturperioden sind die Folge dieser Entwicklung. So hat denn auch die zunehmende programmatische Anglei­ chung der sogenannten Volksparteien dazu geführt, dass »progressiv« und »konservativ« als bewegliche Begriffe zur Codierung politischer Optionen eher in den Hintergrund getreten sind;11 zumal das lange Zeit gültige Para­ digma eines sozialliberalen Fortschrittsverständnisses, das eben auf der Leis­ tungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates beruhte, seine Leitfunktion einbüßte. Zwar hat es in der Union vereinzelte Bemühungen gegeben, ein »konser­ vatives Profil« zu schärfen. Solche Versuche sind aber weitgehend folgenlos geblieben. Zum einen zeigten bereits die Debatten der Nullerjahre, dass sich sogar ein Begriff der Bürgerlichkeit kaum mehr konservativ vereinnahmen 10  Zur anhaltenden Bedeutung der Mitte als politischer Orientie­ rungsgröße vgl. Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010. 11  Siehe Niklas Luhmann, Der politische Code. »Kon­ servativ« und »progressiv« in systemtheoretischer Sicht, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 21 (1974) H. 3, S. 253–271. 12  Zur Erosion des konservati­ ven Milieus in der Bundesrepu­ blik der 1960er Jahre siehe Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Samm­ lungspolitik, Göttingen 2002, S. 212 ff. 13  Siehe dazu Dominik Geppert u. Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008.

ließ, da sich das Verständnis von einem bürgerlichen »guten Leben« inso­ weit pluralisiert und entpolitisiert hatte, als auch alle ehemals alternativen Lebensformen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ihren Platz gel­ tend machen konnten. Es gab kein abgrenzbares Sozialmilieu mehr, das den Habitus konserva­ tiver Bürgerlichkeit für sich beanspruchen konnte oder verteidigen musste.12 Die Emanzipation gleichgeschlechtlicher Partnerschaften weitete traditionelle Bürgerlichkeitsvorstellungen auf ehemals diskriminierte Randgruppen aus und festigte gleichzeitig eine Pluralität der Lebensstile, die es politisch inop­ portun machte, herkömmliche Modelle der Lebensführung zu privilegieren. Vorbei schien die Zeit, als sich nominell Konservative in kontroversen Iden­ titätsdebatten zu demokratischen Patrioten deklariert und für eine »selbstbe­ wusste Nation« geworben hatten, während die Linke vor dem neuen Obrig­ keitsstaat gewarnt hatte.13 Spätestens seit dem »deutschen Sommermärchen« von 2006 hat sich ein entspannter Umgang mit Nationalsymbolen etabliert, der in den 1980er Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, nun allerdings nur noch als ein Zeichen der Normalisierung, keineswegs aber als das eines gesellschaftsweiten politischen Rechtsrucks zu deuten war. Jens Hacke  —  Auf der Strecke geblieben?

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ENDE DES POLITISCHEN KONSERVATISMUS? Vor dem eben skizzierten Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass der Konservatismusbegriff seine politisch orientierende Wirkung verloren hat. Schon die Unterscheidung von »wertkonservativ« oder »strukturkonser­ vativ«, die schöpfungsbewahrende Umweltpolitik, verschiedene Modelle der Nachhaltigkeit, aber auch ideell konservative Widerstände gegen eine Durchökonomisierung der Bildungs- und Universitätspolitik haben das Label

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Konservatismus — Analyse

»konservativ« für die früher standardisierte Bezeichnung des politisch eher rechtsstehenden Lagers unbrauchbar gemacht. Umgekehrt kann man den in Europa grassierenden und auch in Deutsch­ land immer einmal wieder reüssierenden ressentimentgetriebenen Populis­ mus, der fremden- und europafeindliche Register bedient, kaum mehr als konservativ bezeichnen. Jemanden in denunziatorischer Absicht als Konser­ vativen zu diffamieren, um ihn aus linker oder liberaler Perspektive zum Gegner zu erklären – ein solches Vorhaben würde heute nur noch auf wenig Verständnis stoßen. Der Polarisierungseffekt ist dahin, denn das politische Feld wäre mit einem derartigen Feindschema nicht mehr zu ordnen. Nun sollte man aus diesem Befund keineswegs den Schluss ziehen, dass sich politische Gegensätze generell auflösen und dass die Politik zu einer Verwaltungsaufgabe für alternativlose Sachzwänge degeneriert. Es scheint vielmehr so, als ob der Konservatismus-Begriff wenig hilfreich ist, wenn es um aktuelle politische Konfliktlagen geht. Weder lassen sich mit ihm augen­ blicklich die Differenzen in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen benen­ nen, noch kann er für europa- und außenpolitische Fragen programmatische Unterschiede verdeutlichen. Zwar war von jeher unmöglich, eine konservative politische Theorie aus einem Guss zu formulieren; aber mit dem Abschied von einer weitgehend ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft wird auch der Anspruch auf nicht universalisierungsfähige moralische Leitwerte und einseitige Traditions­ pflege illusionär. Oder um es anders zu pointieren: Die Herausbildung eines allgemein anerkannten philosophischen Konservatismus im Sinne eines »Mo­ dernitätstraditionalismus« (Odo Marquard), der sich dem Erbe der Aufklärung und dem modernen Verfassungsstaat der Neuzeit verbunden fühlt, hat einer antiliberalen politischen Rechten den Konservatismusbegriff entwendet.14 Mit einer gewissen Erleichterung ist deshalb allgemein registriert worden, dass sich der Begriff des »Konservatismus« im modernen politischen Sprach­ gebrauch langsam zu einem Ausdruck für bürgerlich-traditionelle Orientie­ rungen innerhalb der demokratischen Ordnung gewandelt und damit den Weg zu einem verfassungspatriotischen »Normalkonservatismus« zurück­ gelegt hat. Damit verlor er allerdings seine Kraft zur politischen Distinktion, denn in diesem Sinne konnte sich nun fast jeder Demokrat als liberalkon­ 14  Die zentrale Bedeutung eines philosophischen Kon­ se­rvatismus unterstreicht auch A ­ nthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999, S. 84.

servativ verstehen. Wir haben eine schleichende Anthropologisierung des Konservatismusver­ ständnisses erlebt, im Zuge derer mit »konservativ« sehr allgemeine Eigen­ schaften, oft positiv bewertete Tugenden, bezeichnet werden: Skepsis, Vorsicht, Pragmatismus, Common Sense, Ironiefähigkeit, Kultiviertheit, Besonnenheit, Jens Hacke  —  Auf der Strecke geblieben?

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Geschichtsbewusstsein. Eine solche Begriffsverschiebung hat zumindest in der Gegenwart zur Entpolitisierung des Begriffs geführt, die freilich nichts mit einer Aufhebung des politischen Streits zwischen links und rechts zu tun hat. Das muss nicht für alle Zeiten so bleiben, denn der Konservatismus lebt politisch davon, eine Relation zu bezeichnen, also eine starke Verbindung zu einem Ordnungsmodell, zu Werten oder Traditionen herzustellen, um sie im Ernstfall zu verteidigen. Es könnten sich Konstellationen ergeben, in denen notwendig wird, für Überzeugungen einzustehen und sie zu verteidigen, eben weil es etwas zu bewahren gilt. Menschenrechte, individuelle Freiheit und Lebenschancen avancieren dann aus westlicher Sicht zu konservativen Werten, die kulturellen Pluralismus eben nicht mit Relativismus gleichset­ zen. Konservativ wäre dann auch, mit den Mitteln des sozialen Rechts- und Wohlfahrtsstaats weiterhin für Chancengerechtigkeit zu sorgen und die ge­ sellschaftlichen Kosten des Kapitalismus in Schranken zu halten. Man mag ein politisches System deshalb für sehr stabil halten, solange ein Grundkon­ sens zur Bewahrung des Vorhandenen einen Konservatismus als politische Gegenbewegung überflüssig macht. So wünschenswert die hier vorgeschlagene Festschreibung des heutigen Konservatismus als eines demokratischen Liberalkonservatismus auch ist: Sie ist nur eine normativ favorisierte Möglichkeit und bliebe naiv, wenn man nicht auch andere Vereinnahmungen in Betracht ziehen würde – ein Blick in die Ideengeschichte des Konservatismus belehrt über die zahlreichen Be­ griffseroberungsversuche, die es gegeben hat.15 Insofern tut jede Beschäfti­ gung mit dem Konservatismus gut daran, die relationale Komponente – also das, was konserviert werden soll – zu problematisieren. Denn in höherem Maße als seine großen Konkurrenten, Liberalismus und Sozialismus, die sich stets an den Werten Freiheit und Gleichheit orientier­ ten, ist der Konservatismus als Ideologie auf stetigen Wandel und offensive Begriffspolitik angewiesen gewesen, um die eigene Selbsterhaltung sicher­ zustellen. Er wurde häufig totgesagt, aber behielt seine Attraktion für die Skeptiker der Demokratie und die Feinde des Liberalismus, die ganz eigene Traditionslinien und Relationen beanspruchten. Insofern bleibt offen, wer als nächstes für sich reklamieren kann, die Kraft eines politischen Konservatis­ mus zu repräsentieren.

Dr. Jens Hacke, geb. 1973, arbeitet als Politikwissen­ schaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine jüngste Buchveröffentlichung erschien 2009 unter dem Titel »Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung«.

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Konservatismus — Analyse

15  Vgl. etwa Martin Greif­ fen­­­­hagen, Das Dilemma des Kon­ser­vatismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1986; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahr­ hundert bis zur Gegenwart, München 1998.

DER »RUF DER JUNGEN« MAX HILDEBERT BOEHM UND DER JUNGE KONSERVATISMUS IN DER WEIMARER REPUBLIK ΞΞ André Postert

MANIFEST EINER BEWEGUNG Der »Ruf der Jungen« gilt als eines der frühesten Traktate jenes radikalen Nachkriegskonservatismus, der im Verlauf eines Jahrzehnts die Republik von Weimar intellektuell aushöhlte. 1920 im Leipziger R.F. Koehler-Verlag erschienen und ein Jahr später erneut nachgedruckt, lieferte Max Hildebert Boehms Schrift einer politischen Bewegung den Namen und gab ihr die Leit­ ideen an die Hand. »Wir brauchen scharfe Worte der Kritik an der nieder­ gehenden Generation und an der Gegenwart, für die sie verantwortlich ist«, lautete die Maxime eines sich revolutionär gebenden Jungkonservatismus.1 Wie wenige andere Texte brachte der »Ruf der Jungen« das Lebensgefühl und die Haltung einer Generation von politischen Intellektuellen zum Aus­ druck, die in der Zeit nach 1919 den Liberalismus und Parlamentarismus als erstarrt, überaltert, leblos und mechanisch deklarierten. Die junge Demokratie von Weimar, von Beginn an durch den Versailler Vertrag belastet, bot die Grundlage für einen bewusst gesuchten Generatio­ nenkonflikt. Wer jung war oder sich zur Jugend bekannte, der wollte bürger­ liche, vermeintlich überalterte Formen des Politischen hinter sich lassen. Ju­ gend und Jugendlichkeit avancierten zu dominanten Schlagworten. Die Suche nach neuen politischen Organisationsformen und das Experimentieren mit dem Radikalen charakterisierten die neuen Konservativen ebenso wie ihre bisweilen bizarre Hybris und die irrationale Beschwörung großer Gefühle. Bezeichnend für diese »jungen« Intellektuellen war, dass sie jede Form der rationalen »Interessenpolitik« verwarfen und Parteipolitik ablehnten, zugleich 1  Max Hildebert Boehm, Ruf der Jungen, Leipzig 1920, S. 21. 2  Vgl. Hans Mommsen, Gene­ rationenkonflikt und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, in: Jürgen Reulecke u. Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Generationalität und Lebens­ geschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 115–127.

aber kaum erklären konnten, worin Alternativen bestehen sollten.2 Auch Boehms Traktat war weniger eine Forderung für etwas als vielmehr giftige Polemik gegen beinahe alles – da der Text sowohl mit der untergegangenen Monarchie als auch mit den republikanischen Verhältnissen hart ins Gericht ging, erfreute er sich bei all jenen großer Beliebtheit, die als »konservative Revolutionäre« nach radikalen Gegenmodellen suchten. Max Hildebert Boehm, 1891 in Livland geboren, hatte Philosophie und Soziologie studiert und war mit einer Arbeit über Fichte promoviert worden.

INDES, 2015-3, S. 29–37, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191-995X

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Im Ersten Weltkrieg war er, wie mehrere seiner späteren Weggefährten, in der deutschen Kriegs- und Kulturpropaganda tätig. Zu dieser Zeit beschäftigte sich Boehm, dessen baltendeutsche Wurzeln seine Arbeit künftig entscheidend prägten, erstmals intensiv mit dem damals sogenannten Grenz- und Auslands­ deutschtum; nach 1918 entwickelte er sich dann zu einem anerkannten Ex­ perten in diesem Forschungszweig, der aus einem Grenzbereich der Wissen­ schaft in die staatliche Geo- und revisionistische Machtpolitik hineinreichte.3 Boehm zählte zu jener Gruppe von Konservativen, die den Weltkrieg als Zeitenwende erlebten – nicht nur als Untergang einer Epoche, vielmehr als Anlass und Notwendigkeit, um über Politik ganz neu nachzudenken.4 Der »Ruf der Jungen«, sein erstes Traktat nach der Novemberrevolution 1918, stellte den Versuch dar, einen neuen Konservatismus in griffige Formeln zu gießen: »Jungsein ist alles. Und der Glaube an Jugend ist der Weg zur Ver­ jüngung. […] Unsere Reihen sind jedem offen, der jung sein will und jung sein kann: noch jung oder wieder jung – gleichviel.«5 Seiner Ansicht nach befand sich das Deutschland der Nachkriegszeit im Würgegriff einer alten Generation, deren Politik stets rückwärtsorientiert zu sein schien: hier die Monarchisten mit ihren restaurativen Hoffnungen, dort die »verwestlichten« und liberalen Träumer mit den Ideen eines versunkenen 19. Jahrhunderts, zuletzt die »greisenhafte[n] Professoren des Marxismus« und die »Stehkragenproletarier«, die eine an und für sich richtige soziale Idee zum Klassendogma erhoben hätten.6 Weil diese überalterten Strömungen nur gegeneinander wirkten, statt das Volk zusammenzuführen, sei die Nation ihren äußeren Feinden schutz- und wehrlos ausgeliefert worden. Boehm verband seine konservative Fundamentalkritik am 19. Jahrhundert wirkungsvoll mit der nationalistischen Stimmung, die 1919 auf den psycho­ logischen Schock des Versailler Friedens folgte. Volk, so propagierte Boehm, sei nicht »Masse, nicht totes Geschiebe zerpulverter Atome«, sondern »leben­ diger, durchbluteter und gegliederter Leib, in dem alle auseinanderstreben­ den Einzelkräfte elementar gebunden sind«.7 Zu dieser Erkenntnis sei seiner Ansicht nach nur die junge Kriegsgeneration fähig, die entweder in den blu­ tigen Schützengräben oder durch patriotische Aufopferung an der »Heimat­ front« zu kameradschaftlichem Geist gefunden habe. Hier allein schien das wirklich lebendige, nicht allein begriffliche Verständnis für Volk und Nation

3  Vgl. Ulrich Prehm, Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundes­ republik, Göttingen 2013; vgl. zur »Volkstumsforschung« ausführlicher Ingo Haar, His­ toriker im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 25–57. 4  Vgl. Armin Pfahl-Traughber, »Konservative Revolution« und »Neue Rechte«: Rechtsextremis­ tische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungs­ staat, Opladen 1998, S. 63 f.

entstanden zu sein. Auch diesen Argumentationsstrang richtete Boehm, wie die meisten »kon­ servativen Revolutionäre« der Weimarer Republik, gegen die Generation des Wilhelminismus. Während diese Alten den Begriff »Volksgemeinschaft« näm­ lich lediglich als Phrase ohne Substanz und Inhalt gebrauchten, hätten die

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Konservatismus — Analyse

5  Boehm, Ruf der Jungen, S. 4. 6  Ebd., S. 20–26. 7 

Ebd.

Jungen im Krieg eine Gemeinschaft tatsächlich erlebt, erlitten oder zumin­ dest erfühlt. Nur ihnen bescheinigte Boehm, dass sie einen neuen, wie auch immer aufgebauten Staat errichten und in Zukunft führen könnten: »Unsere Ziele sehen wir erst im losen Umriß. Der Nebel der Zukunft verbirgt sie uns. Wir werden sie suchen und wir werden sie finden. Wir sind eine ungeheure Macht, wenn wir uns eins sind. Wir sind des deutschen Volkes neuer Leib, wenn wir es sein wollen.«8 Was war an diesem »Ruf der Jungen« nun aber konservativ? Immerhin kritisierte Boehm die außenpolitischen Verfehlungen, ja selbst den poltern­ den Militarismus des wilhelminischen Konservatismus vernichtend; er er­ klärte die Monarchie für tot und bewegte sich noch dazu, zumindest rheto­ risch, auf Forderungen der Arbeiterschaft zu. Konservativ blieb er vor allem darin, sich weit in eine romantisierte Vergangenheit zu flüchten und deutsche Traditionen zu beschwören, um dort nach der Medizin für den vermeintlich erkrankten »Volkskörper« in der Gegenwart zu suchen. Die größte geistig-politische Errungenschaft der Deutschen, so propagierte Boehm, sei der korporative Gedanke, die »Ausgeburt urtümlicher deutscher Überlieferung« und – hier klang er genauso wie Oswald Spengler oder Arthur Moeller van den Bruck – die Grundlage für einen echten »deutschen Sozia­ lismus«.9 In den mittelalterlichen Ständen, Einigungen, Gilden und Zünften bis hin zu den Gewerkschaften der Gegenwart zeige sich der deutsche Wille zur »Einordnung in die Zucht des körperschaftlichen Gemeinlebens«10. In solchen vermeintlich spezifischen Traditionen deutschen Gemeinschafts­ lebens wähnte Boehm jene Kräfte verborgen, die ein fehlgeleitetes liberales 8  Boehm, Ruf der Jungen, S. 33.

19. Jahrhundert verschüttet habe. Der »Ruf der Jungen« entfaltete Wirkung allerdings nicht zuerst aufgrund

9 

Ebd., S. 28. 10 

Ebd.

11  Vgl. Rainer Hering, »Parteien vergehen, aber das deutsche Volk muß weiter­ leben.« Die Ideologie der Überparteilichkeit als wichtiges Element der po­li­tischen Kultur im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Walter Schmitz u. Clemens Vollnhals (Hg.), Völki­ sche Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialis­ mus. Aspekte einer politisierten Kultur. Kultur und antidemo­ kratische Politik in Deutsch­ land, Dresden 2005, S. 33–43.

seines nationalkonservativen Profils; schon gar nicht, indem er dem Leser ein Programm politischer Zielsetzung bot. Boehms Manifest im Miniaturformat erschien vielmehr zahlreichen bildungsbürgerlichen Zeitgenossen interessant, weil es die Überwindung überkommener Denkmuster zum eigentlichen Ziel gegenwärtiger Politik erklärte. In dieser Hinsicht kam es dem Zeitgefühl ge­ rade bürgerlicher Intellektueller und vieler junger Akademiker entgegen. Die in der Burgfriedenszeit des Ersten Weltkriegs geprägte »Ideologie der Über­ parteilichkeit« brachte es in Reinform zum Ausdruck.11 Im pathetisch vorgetragenen Versprechen, dass eine neuartige und irgend­ wie gemeinschaftsbildende Politik jenseits alter Parteiprogramme möglich sei, lag das Faszinosum der Schrift. Am Ende stand jene Utopie, die Boehms Freund und Weggefährte Moeller van den Bruck in seinem wirkungsmächti­ gen Buch »Das dritte Reich« 1923 beschrieb: ein Staat, in dem alles Trennende, André Postert  —  Der »Ruf der Jungen«

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jede Parteilichkeit und jeder Egoismus, durch den kollektiven Glauben an die Nation überwunden und zusammengeführt wäre.12 Es war die Idee eines Konservatismus, der sich nicht in erster Linie in einem Programm, in Organi­ sationen oder Parteien wiederfinden, sondern vielmehr über alldem thronen sollte. »Metapolitik« wurde zum Lieblingsbegriff dieser jungen Konservati­ ven – ein Schlagwort, das philosophischen Duktus suggerierte und gegen die republikanischen Institutionen gerichtet wurde. Boehm hatte einen gänz­ lich anders aufgebauten Staat in seinem »Ruf der Jungen« bereits 1919 ge­ fordert. Erst wenn Individualismus durch Korporatismus, Parteilichkeit und

12  Vgl. Volker Weiß, Mo­ derne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatis­ mus, Paderborn 2012; André Schlüter, Moeller van den Bruck. Leben und Werk, Köln 2010.

Partikularismus durch echte Gemeinschaft, Kapitalismus und Sozialismus durch einen »dritten Weg« ersetzt würden, sei die »echte Leibwerdung einer lebendig beseelten Volksgemeinschaft« erreicht.13 Mit seinem Traktat sprach Boehm – ebenso wie Moeller van den Bruck – für eine Gruppe von Intellektuellen, Journalisten und Publizisten, die sich seit 1919 in eigenen politischen Diskussionskreisen zusammenfanden. Offensicht­ lich durch die Schrift Boehms inspiriert, nannten sie sich »jungkonservativ« – ein Begriff, den die Geschichtsschreibung erst viel später übernahm.14 Mit der Vereinigung für parteifreie Politik, nur einem von zahlreichen Foren für radikalisierte Konservative, hofften sie, einer »von den alten Parteischemen losgelösten Politik«15 den Boden zu bereiten. Ebenfalls 1919 wurde der JuniKlub in Berlin gegründet, eine weitere Plattform des überparteilichen Ge­ sprächs, zu der Schriftsteller wie Thomas Mann oder Philosophen wie Hans Blüher ebenso Zugang fanden wie der spätere Reichskanzler Heinrich Brü­ ning. Eine Vielzahl ähnlicher Vereinigungen wurde in den folgenden Jahren ins Leben gerufen – darunter der sogenannte Jungkonservative Klub, der sich an aufstrebende Politiker und junge Studenten richtete, und der Volksdeut­ sche Klub, in dem sich zahlreiche Vertreter des völkischen Spektrums trafen.16 Das einflussreichste dieser politischen Debattierforen gründete sich 1925: Im Deutschen Herrenklub, in dem primär Adelige, Unternehmer, leitende Staatsbeamte und konservatives Bildungsbürgertum verkehrten, diskutierte eine zunehmend republikfeindliche Elite über Wege zur Etablierung einer Prä­ sidialdiktatur. Der Reichstag sollte ausgeschaltet und das Dritte Reich durch die Diktatur einer nationalgesinnten Führungsschicht herbeigeführt werden.17 Als 1932 das Herrenklub-Mitglied Franz von Papen zum Kanzler berufen wurde, befanden sich die Jungkonservativen auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. In all die genannten Klubs und Vereinigungen war Boehm involviert. Er glaubte, dass solche Kontaktstellen – »Kristallisationspunkte des Geistes«, wie er sie nannte – politisch Interessierte, junge Politiker und Intellektuelle zusammenführen könnten, die sich vom »Parteigeist« freimachen wollten. In

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Konservatismus — Analyse

13  Boehm, Ruf der Jungen, S. 22. 14  Eingeführt wurde der Begriff als ideengeschichtliche Kategorie erstmals bei Armin Mohler, Die Konservative Revo­ lution in Deutschland 1918–1932, Basel 1949; zur Verwendung der Selbstbeschreibung durch Boehm vgl. ders., Großdeutsch und Jungkonservativ, in: Ge­ wissen, Jg. 8 (1926) H. 4. 15  Bericht über die Gründungsversammlung der Vereinigung für parteifreie Politik im Festsaal des Herrenhauses am 2. Mai 1919, in: Universi­ tätsarchiv Jena, Teilnachlass Max Hildebert Boehm, Be­ stand V Abt. IX, Nr. 2, S. 192. 16  Vgl. Jungkonservativer Klub, Arbeitsbericht für 1927, in: Gewissen, Jg. 10 (1928) H. 7. 17  Vgl. hierzu Berthold Petzinna, Erziehung zum deut­ schen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonserva­ tiven »Ring«-Kreises 1918–1933, Berlin 2000; Claudia Kemper, Das »Gewissen« 1919–1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011; André Postert, Von der Kritik der Parteien zur außerpar­ lamentarischen Opposition. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalso­ zialismus, Baden-Baden 2014.

der Folge sollte jene echte konservative Aristokratie entstehen, die einen Aus­ weg aus der »Massenpolitik« der Parteien weisen würde. Parteiprogramme waren für Boehm und seine Mitstreiter Ausdruck eines »einförmigen Sys­ tems«.18 Aus diesem sollte ausgebrochen werden. DIE JUNGKONSERVATIVEN UND DIE PARTEIEN Über ein Jahrzehnt hinweg radikalisierten die Jungkonservativen ihre Ansich­ ten über die Weimarer Demokratie und die Parteien. 1919, als Boehm seinen »Ruf der Jungen« verfasste, hatten noch zahlreiche personelle und organisato­ rische Verbindungen zu konservativen und nationalen Parteien existiert, ins­ besondere zur DNVP und DVP. Diese Verbindungen wurden über die Jahre hinweg gekappt. Jene, die sich der Parteipolitik verbunden fühlten oder auf diesem Wege Karriere machten, traten in den 1920er Jahren aus den jung­ konservativen Klubs vermehrt aus; während wiederum die Jungkonservati­ ven ihre Kritik an den Weimarer Parteien Mal um Mal schärfer formulierten. Auf diese Weise entwickelte sich das Ideal der Überparteilichkeit de facto zur Parteiferne. Boehms »Ruf der Jungen« hatte den Weg vorgezeichnet: »Alt ist, wer nicht begreift, daß alte Formen gesprengt werden müssen, damit Deutschland aus seinem Kerne wieder erwachsen kann. Im Glauben an eine neue Leibwerdung unseres zerfetzten Volkes aus dem Geist lebendiger Ge­ meinschaft findet sich, was im Kern und in der Kraft jung ist.«19 Die modernen Massenparteien, angeblich bloß Reste eines alten 19. Jahrhunderts, müssten aus Sicht Boehms ebenso überwunden werden wie die wilhelminische Mo­ narchie, die sich im Krieg als unterlegen erwiesen habe. Ein neues Reich zu schaffen sei nicht möglich »ohne klaren und entschiedenen Abstand von der alternden Generation, die niedergeht und dem Auftrieb der jungen Kräfte im Wege ist. Es ist heute an der Zeit, den Bruch innerlich zu vollziehen, dem Gegensatz Form zu geben und ihn ins Bewußtsein der Jungen zu erheben.«20 Erst am Ende der 1920er Jahre sahen sich die Jungkonservativen, die zu­ vor ihre Ideen in der Hauptsache publizistisch geäußert hatten, vor einen politischen Praxistest gestellt. Die parlamentarische Zersplitterung erreichte mit über 35 Parteien, rund die Hälfte von ihnen mit Reichstagsmandat, ihren Höhepunkt. Im Versuch, den »Altparteien« Wähler abspenstig zu machen, 18  Vgl. Max Hildebert Boehm, Unser Standort, in: Gewissen, Jg. 3 (1921) H. 16. 19 

Boehm, Ruf der Jungen, S. 6. 20 

Ebd., S. 7.

buhlten politische Gruppierungen und Kleinstparteien um Stimmen. Destabi­ lisierung war eine der weitreichenden Folgen dieses parlamentarischen Zer­ splitterungsprozesses, zusätzlich verschärft durch die Weltwirtschaftskrise. Zu den neuen Parteien zählte die u. a. von Walther Lambach und Gottfried Treviranus gegründete Volkskonservative Vereinigung, die 1930 als Konser­ vative Volkspartei zur Reichstagswahl antrat. Sie hatte sich von der DNVP, der André Postert  —  Der »Ruf der Jungen«

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bis dahin bedeutendsten Rechtspartei, abgespalten. Die Abtrünnigen, die sich in der Kritik an der Hugenberg-DNVP zur Gründung der neuen Partei zusam­ mentaten, beriefen sich auf die Ideen der Jungkonservativen und warben um sie. Mit auffälligen Parallelen zu Boehms »Ruf der Jungen« kritisierten sie jene alte Generation, die sich mit parlamentarischen Instrumenten im Weimarer Staat angeblich eingerichtet habe und den Jüngeren die politische Teilhabe bewusst vorenthalte. Explizit warben sie um Menschen, die sich den Parteien bisher enthalten hatten.21 Ansonsten war das Programm der Vereinigung vage angelegt. Ebenso wie die Schriften ihrer ideologischen Vordenker bediente sich die neue Partei im Grundsätzlichen einer Metapolitik, die statt mit kon­ kreten Forderungen oder Vorschlägen lieber mit allgemeingültigen Topoi operierte. Das Programm konstatierte immerhin: »Das 1918 zur Herrschaft gelangte Parteisystem hat versagt.«22 Die Lösung der innenpolitischen Kri­ sen und eine vernünftige Außenpolitik seien nur möglich mit einer »Staats­ führung konservative[r] Kräfte«23. Mitglieder, Sympathisanten und Gründer der Partei lasen jungkonserva­ tive Texte, zum Teil verkehrten sie in deren Klubs. Viele Konservative setzten ihrerseits auf die neue Gruppierung, die versprach, Kanzler Brüning – gestützt auf die Autorität und Macht des Reichspräsidenten – gegen den Reichstag poli­ tische Mehrheiten zu beschaffen. Das Dritte Reich, das der Publizist Moeller

21  Vgl. Walther Lambach, Volkskonservative Vereinigung (Konservative Volkspartei), in: Ludwig Heyde u. Rigomar Rieger (Hg.), Internationales Hand­ wörterbuch des Gewerkschafts­ wesens, Bd. 2. Kober-Zwiedineck, Berlin 1932, S. 1930–1932. 22  O. V., Gründungsaufruf der Konservativen Volkspartei 1930, in: Erasmus Jonas, Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielset­ zung, Bonn 1965, S. 188 f.

van den Bruck beschworen hatte, schien jetzt am Horizont verheißungsvoll aufzuleuchten. »Jugend will Entfaltung«24, hatte Boehm im »Ruf der Jungen« behauptet. Nun unterzeichnete er den Gründungsaufruf der neuen Vereini­ gung, ebenso wie viele andere Protagonisten aus seinem Umfeld.

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Konservatismus — Analyse

23  Ebd. 24  Boehm, Ruf der Jungen, S. 26.

Mittlerweile waren die jungen Konservativen allerdings so festgefahren in der Kritik an Parteien, Parlamentarismus und sogenannten »unorganischen« Formen – wozu alles zählte, was irgendwie mit Massenpolitik in Verbindung gebracht werden konnte –, dass politisches Engagement im Rahmen des be­ stehenden Systems sofort in den Verdacht der Korrumpierung geriet. Auch Boehm war seine anfängliche Unterstützung bald peinlich. Da die jungkon­ servativ beeinflusste Partei, um bei der Reichstagswahl 1930 überhaupt wahr­ genommen zu werden, auf die Etablierung von Parteistrukturen angewiesen war, geriet sie zudem in einen ideologischen Widerspruch: Zwar sollte den Parteien in Zukunft keine tragende Bedeutung mehr zukommen, nun aber trat man selbst als Partei bei Wahlen an.25 Dies ergab wenig Sinn. Als dann auch noch die Umbenennung von Volkskonservative Vereini­ gung in Konservative Volkspartei erfolgte, wovon man sich mehr Zuspruch im bürgerlichen Lager erhoffte, beendete die Mehrheit der jungen Konserva­ tiven ihre Unterstützung. Streit und Diffamierungen brachen sich Bahn, ur­ sprüngliche Unterstützer wandelten sich zu aggressiven Gegnern. Die Partei scheiterte letztlich kläglich und errang im November 1930 nicht einmal ein Prozent der Stimmen. Es war das einzige und letzte Mal, dass sich ein Groß­ teil der Jungkonservativen an einer Reichstagswahl unmittelbar selbst oder mit anfänglicher Sympathie beteiligt hatte.26 Im Dezember 1932 stellte Boehm – dessen Spezialgebiet die »Volkstums­ forschung« war und blieb – im Zusammenhang mit seiner Bewerbung auf die Professur für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena daher fest: »Auf Ihre Frage nach meiner parteipolitischen Zugehörigkeit kann ich […] mitteilen, dass ich mich von festen parteipolitischen Bindungen fast immer freigehalten habe. […] Ich bin […] vor einiger Zeit aus der ja auch ziemlich bedeutungslos gewordenen ›Volkskonservativen Vereinigung‹ wie­ der ausgeschieden, ohne mich anderweitig parteipolitisch zu binden, da ich gerade in den letzten Jahren sehr deutlich empfand, dass der Konservatis­ mus, den ich vertrete, parteipolitisch gesehen, noch immer heimatlos ist.«27 ÜBERGANG ZUM NS-STAAT Mit dem Scheitern der Präsidialpolitik und dem Abgang Franz von Papens als 25  Vgl. Jonas, S. 79–122. 26 

Vgl. ebd.

27  Max Hildebert Boehm an Rothacker v. 05. 12. 1932, in: Universitätsarchiv Jena, Teilnach­ lass Boehm, Bestand V, Nr. 4.

Reichskanzler im Dezember 1932 waren die jungkonservativen Hoffnungen auf ein Drittes Reich ohne Mitwirkung der Parteien zerschlagen. Bis dahin hatten sie weiterhin gehofft, dass eine auf die Macht des Reichspräsidenten gestützte Diktatur errichtet werden könne, wofür man sich lediglich über die Parteien hinwegsetzen müsse. Zwar besaßen die konservativen Denker in der Endphase der Republik ideologisch großen Einfluss – sie sorgten u. a. dafür, André Postert  —  Der »Ruf der Jungen«

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dass die Nationalsozialisten sich des mythischen Begriffs vom Dritten Reich erfolgreich bedienen konnten – und trugen erheblich zur Destabilisierung des Parlamentarismus sowie zur Verbreitung antidemokratischen Gedankenguts bei. Allerdings hatten sie es bis zuletzt nicht zu realpolitischer Macht oder Mit­ wirkung gebracht. Boehms »Ruf der Jungen« war Anfang der 1930er Jahre vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise zwar nicht verhallt, doch wurden die Forderungen nach einem völkischen Gemeinschaftsstaat inzwischen von den Nationalsozialisten mit mehr agitatorischer Durchschlagskraft vorgetragen. Die »Machtergreifung« Hitlers am 30. Januar 1933 leitete das Ende des jun­ gen Konservatismus ein. Mit der NSDAP setzte ja nun gerade eine Partei ihren Monopolanspruch rücksichtslos durch. Das stand durchaus dem entgegen, was Boehm und seine Freunde ein Jahrzehnt lang gefordert und für die Zu­ kunft vorhergesagt hatten. Aber immerhin ließ sich, so die Sicht vieler Jung­ konservativer, auf diesem Wege die Weimarer Parteiendemokratie endlich abwickeln. Man konnte dies mindestens als Teilerfolg werten. Viele schwenk­ ten als »Märzgefallene« auf den Nationalsozialismus ein, einige wenige – wie der 1934 ermordete Publizist Edgar Julius Jung – hielten an anti-parteilichen Idealen fest und gingen in den frühen konservativen Widerstand.28 Die zahlreichen Klubs und Foren, die während der 1920er Jahre so aktiv ge­ wesen waren, schalteten sich meist freiwillig gleich oder lösten sich angesichts der Repressionen des NS-Regimes auf. Manche Autoren oder Herausgeber bemühten sich, ihre jungkonservativen Schriften an den NS-Staat anschluss­ fähig zu machen, darunter auch Boehm. Bei Moeller van den Brucks »Das dritte Reich« lag ein Erfolg schon aufgrund des Titels am ehesten nahe, doch das neue Regime förderte bevorzugt eigenes Schrifttum. Als intellektuelle und eigenständige Größe verschwand daher der Jungkonservatismus, der sich seit 1919 so revolutionär gegeben hatte, bereits in der ersten Phase der Diktatur. Boehm entschied sich, seine wissenschaftliche Karriere im Dienste der neuen Machthaber fortzuführen. Nun schien möglich, was er sich als Prota­ gonist des völkischen Revisionismus lange erträumt hatte: die Neuordnung Europas auf der Grundlage von Völkern und Volksgruppen.29 Anfänglich um zumindest parteiliche Distanz zum Nationalsozialismus bemüht, trat der inzwischen anerkannte Jenaer Volkstumsforscher 1937 der NSDAP bei – zu­ vor hatte er der Gauleitung in Weimar gegenüber seine Bitte um Aufnahme in die Partei damit begründet, dass schon seit geraumer Zeit keine Notwen­ digkeit mehr für parteipolitische Zurückhaltung bestünde.30 Aus karrieris­ tischen Motiven ebenso wie aufgrund seiner Verwurzelung in völkisch-ras­ sistischen und irredentistischen Gedankensystemen verstrickte sich Boehm zunehmend in den Apparat der NS-Diktatur.31 Dabei rechtfertigte er u. a. an

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Konservatismus — Analyse

28  Vgl. zum jungkonservativen Widerstand André Postert, Das Ende der konservativen Ambi­ tionen. Franz von Papen und die Vizekanzlei im Sommer 1934, in: Karl-Heinz Braun u. a. (Hg.), His­ torisches Jahrbuch, Jg. 134 (2014), S. 340–371; Rainer Orth u. André Postert, Franz von Papen an Adolf Hitler. Briefe im Sommer 1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschich­ te, Jg. 63 (2015) H. 2, S. 259–287. 29  Vgl. Udine Ruge, Die Er­ findung des »Europa der Regio­ nen«. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt a. M. 2003, S. 235. 30  Vgl. Max Hildebert Boehm an den Gauleiter durch den Herrn Gauführer des NS-Rechtswahrerbundes v. 27. 4. 1937, in: Stadtarchiv Mönchengladbach, Nachlass Brauweiler, Nr. 15/13/181. 31  Vgl. Ingo Haar, Bevölke­ rungspolitische Szenarien und bevölkerungswissenschaftliche Expertise im Nationalsozialismus – Die rassistische Konstruktion des Fremden und das »Grenz- und Auslandsdeutschtum«, in: Rainer Mackensen u. Jürgen Reulecke (Hg.), Das Konstrukt »Bevöl­ kerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«, Wiesbaden 2005, S. 340–371, hier S. 354.

32  Vgl. Ulrich Prehn, Max Hildebert Boehm. Radika­ les Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik, Göttingen 2013, S. 337–440; Joachim Petzold, Die späte Einsicht des Jenenser Lehrstuhlinhabers Max Hildebert Boehm, in: Herbert Gottwald (Hg.), Universität im Aufbruch, Erlangen 1992, S. 317–323, hier S. 322; Jürgen Reulecke, Konti­ nuitäten und Wandlungen eines deutschen Rechtsintellektuellen [Buchbesprechung zu Ulrich Prehn], in: Gudrun Fiedler u. a. (Hg.), Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv, Göttingen 2014, S. 217–221. 33  Max Hildebert Boehm, Einleitung, in: Ders., Ruf der Jungen. Eine Stimme aus dem Kreise um Moeller van den Bruck, Freiburg 1933, S. 29 f. 34  Ders., Vorwort, in: ebd., S. 7. 35  Rundschreiben des Deutschen Klubs v. 7. 11. 1933, in: Institut für Zeitgeschich­ te, Archiv für Zeitgeschichte, ED 103 (Deutscher Klub).

der Akademie für deutsches Recht zuletzt eine »Flurbereinigung«, die kon­ sequent im Völkermord gipfelte. Viel zu spät kam er zu der Einsicht, dass er mit seiner Arbeit ein verbrecherisches Regime gestützt hatte.32 Zu jenen konservativen Texten, die 1933 wieder neu aufgelegt worden wa­ ren, gehörte auch das frühe Manifest der Jungkonservativen. Boehm selbst verfasste für den Neudruck des »Rufs der Jungen« ein Vorwort mit neuer Ein­ leitung: »Jetzt liegt das Werk des 11. August 1919 in Trümmern«, konstatierte er über den Zusammenbruch der Demokratie von Weimar; »und zugleich tritt endlich die wilhelminische Führerschicht von der Bühne ab, in deren Spätblüte auf dem Boden der Republik wir von je das Verhängnis der deut­ schen Nachkriegsentwicklung gesehen haben. Heute haben […] die Jungen das Wort und die Verantwortung, die 1919 einen Ruf ins Leere ausstießen […]. Das deutsche Volk ist zur Einigung aufgebrochen und weiß heute, wer der Führer ist.«33 Das Wirken der Jungkonservativen deutete Boehm gerad­ linig als »ein Stück Vorgeschichte des Dritten Reiches«34. Der schamlosen Anbiederung blieb ein Publikumserfolg jedoch versagt. Ohnehin richtete sich der Neudruck in erster Linie an die einstigen jung­ konservativen Sympathisanten. An deren Adresse wurde die dritte Auflage dann auch recht zahlreich verschickt – mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass das Buch »wesentliche Parallelen zur nationalsozialistischen Termino­ logie«35 aufweise. Viele Jungkonservative waren im NS-Staat bemerkenswert schnell gealtert.

Dr. André Postert, geb. 1983, Studium (Geschichte und Sozialwissenschaften) und Promotion an der ­Universität Duisburg-Essen, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden und forscht zurzeit schwerpunktmäßig zur Jugend im Nationalsozialismus sowie zur Geschichte des Konservatismus in der Weimarer Republik.

André Postert  —  Der »Ruf der Jungen«

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KONSERVATISMUS »VON UNTEN«? SOZIALE UNTERSCHICHTEN UND DER ENGLISCHE KONSERVATISMUS IM 19. JAHRHUNDERT ΞΞ Jörg Neuheiser

Für Karl Mannheim, den großen Weimarer Analytiker des Konservatismus, war die Sache klar: Denkstile sind an soziale Schichten gekoppelt und der Konservatismus im Besonderen wird von jenen getragen, die in den großen Prozessen der aufklärerischen Rationalisierung der Welt und des industriel­ len Wandels im 19. Jahrhundert auf der Verliererseite stehen: allen voran der Adel, daneben aber auch Bauern und kleinbürgerliche Handwerker. Bürger­ tum und Arbeiterschaft sind dagegen Träger der gesellschaftlichen Umbrü­ che und der revolutionären Veränderung – auch wenn Mannheim durchaus sah, dass das »proletarische Denken« auf vielen Ebenen eine Affinität zum Konservatismus besaß.1 Panajotis Kondylis geht in seiner Analyse weiter: Für ihn ist der Konser­ vatismus im engsten Sinne eine Adelsideologie zur Abwehr absolutistischer Ansprüche von Königen, die er in der Frühen Neuzeit verortet. Diese Ideo­ logie verliert mit dem Untergang der adeligen Welt im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Ironischerweise just zu dem Zeitpunkt, als das dem Adel eigene Denken nach 1800 auf den Begriff des Konservatismus gebracht wird.2 Auch wenn kaum ein anderer Theoretiker Kondylis’ radikaler Interpre­ tation des Konservatismus folgt: Können Arbeiter und Arbeiterinnen – oder weiter gefasst: soziale Akteure aus den Unterschichten – im engeren Sinne »konservativ« sein, wenn man Konservatismus, wie allgemein üblich, vor al­ lem mit sozialen Eliten verbindet, die ihre Stellung gegenüber neuen struk­ turellen Herausforderungen zu behaupten versuchen? Jedenfalls können sie Parteien wählen, die sich selbst als konservativ ver­ stehen. 2005 bereitete es Jürgen Rüttgers, seinerzeit frisch gekürter CDU-Mi­ nisterpräsident von Nordrhein-Westfalen, diebische Freude, als er nach Wäh­ leranalysen feststellen konnte, dass die CDU die meisten Stimmen aus der Arbeiterschaft erhalten hatte und folglich er »der Vorsitzende der Arbeiter­ partei in Nordrhein-Westfalen« sei.3 Im Zeitalter der demokratischen Massen­ wählerschaft scheint zunächst wenig überraschend, dass Parteien, die sich als Volksparteien verstehen, Wählerinnen und Wähler aus allen sozialen Gruppen

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INDES, 2015–3, S. 38–48, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

1  Vgl. Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt 1984, S. 83–91. 2  Vgl. Panajotis Kondylis, Konservatismus: Geschicht­ licher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. 3  Zit. nach Wilfried Goebels, Ab Freitag wird verhandelt, in: Kölnische Rundschau, 23. 05. 2005, URL: http:// www.rundschau-online.de/ home/ab-freitag-wird-verhan­ delt,15184882,15852046.html [eingesehen am 15. 07. 2015].

an sich binden können. Aber schon im 19. Jahrhundert, als das Wahlrecht und die gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft alles andere als selbstver­ ständlich waren, klagten etwa Marx und Engels darüber, dass wahlberech­ tigte Arbeiter – die männliche Form genügt hier, denn das Frauenwahlrecht lag noch in weiter Ferne – ihre Stimme gegen ihre vermeintlich eindeutigen Klasseninteressen an Konservative verteilten. 1848 stand »das Volk«, und mit ihm die zaghaften Anfänge der organisier­ ten Arbeiterbewegung, auf den Barrikaden; aber im preußischen Berlin und anderen deutschen Staaten spielten städtische Mobs, die sich mit »Thron und Altar« verbündeten, eine nicht unbedeutende Rolle bei der Niederschlagung der Revolution.4 Im deutschen Kaiserreich konnten die Sozialdemokraten nie mehr als etwa die Hälfte der Arbeiterstimmen auf sich vereinigen. Dass das nicht nur am Unvermögen der SPD lag, ins katholische Milieu einzudringen, in dem katholische Arbeiter mehrheitlich Zentrum wählten, zeigt das englische Beispiel. Seit im späten 19. Jahrhundert das aktive Wahl­ recht auf nahezu alle erwachsenen Männer ausgedehnt worden war, stimmten größere Teile der Arbeiterschaft und der städtischen Unterschichten stets für die konservativen Tories – oft zu deren eigener Überraschung. In der Forschung wird seit Langem darüber gestritten, wie man den kon­ servativen Erfolg bei Arbeitern und schließlich auch Arbeiterinnen schlüssig erklären kann. Unabhängig davon, ob man soziale Differenzen in einer hete­ rogenen Arbeiterschaft oder besonderes organisatorisches Geschick der Kon­ servativen, die große Bedeutung von traditioneller Anhänglichkeit an soziale Eliten oder gar eine grundlegend konservative englische Mentalität ins Feld führt: Fast alle Deutungen neigen dazu, Akteuren aus der Unterschicht eine genuin konservative Überzeugung abzusprechen. Erst bei genauerer Betrach­ tung zeigt sich eine lange Tradition des »Konservatismus von unten«, die hel­ fen kann, konservative Wahlerfolge bis in die Gegenwart besser zu verstehen. DIE LOYALISTISCHE REAKTION AUF DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION Die Suche nach den Wurzeln einer konservativen Mobilisierung breiter Teile der englischen Unterschichten führt zunächst in die ersten Jahre nach der 4  Vgl. Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847–1849, Göttin­ gen 1990; Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik und Ge­ sellschaftsgeschichte, Bonn 1997.

Französischen Revolution. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung des kon­ servativen Klassikers par excellence, Edmund Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1793), formierte sich in Großbritannien eine loyalis­ tische Bewegung, die sich gegen »französische Ideen« und deren britische Anhänger richtete. Wichtiger als Burke waren freilich andere Vertreter des englischen Establishments wie etwa der in Oxford ausgebildete Richter John Jörg Neuheiser  —  Konservatismus »von unten«?

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Reeves, der im November 1792 in London die Society for Preserving Liberty and Property against Republicans and Levellers gründete. In kürzester Zeit bildeten sich über 2.000 lokale Ableger des Vereins, die in nahezu allen eng­ lischen Städten antirevolutionäre Aktionen und Maßnahmen koordinierten – von der Verteilung loyalistischer Flugblätter und Pamphlete über Predigten von Pfarrern insbesondere der anglikanischen Staatskirche bis hin zu phy­ sischen Attacken auf bekannte Anhänger der Französischen Revolution.5 Besonders dramatisch war eine Welle ritueller Verbrennungen von Pup­ pen von Thomas Paine, dessen Darstellung der »Rights of Man« im Früh­ ling 1792 zum Kassenschlager geworden war und die englische Regierung in Angst und Schrecken versetzt hatte, weil sie revolutionäre Ideen bis in die abgelegensten Winkel der britischen Inseln verbreitete. Im Winter 1792/93 folgte die Reaktion: In hunderten Städten und Dörfern versammelten sich große Menschenmengen, um der symbolischen Verurteilung des Unruhe­ stifters beizuwohnen, in großen Fackelzügen durch die Orte zu ziehen, die Nationalhymne oder »Rule, Britannia« zu singen, das erfundene »Geständ­ nis« des Verräters zu hören und ihn schließlich symbolisch den Flammen zu übergeben. Zurückhaltende Schätzungen vermuten Teilnehmerzahlen von mindestens einer halben Million, etwa einem Sechstel der erwachsenen Be­ völkerung von England und Wales zu dieser Zeit.6 Lange Zeit galten solche rituellen Bekräftigungen der Loyalität zu Krone, Religion und traditionellen gesellschaftlichen Werten als »von oben« insze­ niertes Zwangstheater, das die tatsächliche Stimmung der englischen Bevöl­ kerung am Beginn der Auseinandersetzung mit dem revolutionären Frank­ reich nicht authentisch abgebildet habe. Tatsächlich waren sie alles andere als spontane Äußerungen einer breiten antirevolutionären Haltung seitens der englischen Bevölkerung. Dennoch konnte die jüngere kulturgeschichtli­ che Forschung mit ihrem Interesse an rituellen Formen politischer Identitäts­ bildung in detaillierten Lokalstudien zeigen, wie bereitwillig auch Gruppen aus den Unterschichten an entsprechenden Ritualen teilnahmen. Die Paine-Verbrennungen der Jahre 1792 und 1793 müssen dazu in einen Kontext patriotisch-loyalistischer Feste und Rituale gesetzt werden, zu denen auch öffentliche Feiern an Königsgeburtstagen oder an Jahrestagen von Krö­ nungen und militärischen Erfolgen sowie Festakte lokaler Natur gehörten.

5  Vgl. Boyd Hilton, A Mad, Bad and Dangerous People? England 1783–1846, Oxford 2006, S. 69. 6  Vgl. Frank O’Gorman, The Paine Burnings of 1792–1793, Past & Present, H. 193/2006, S. 111–155.

In vielen Städten und Dörfern prägten Feiern mit patriotisch-loyalistischer Färbung den Jahreskreis.7 Die ihnen eigene Verbindung von Musik und öf­ fentlichen Reden, rituellen Inszenierungen und gemeinsamem Essen und Trinken war fast überall populär. Oft zogen sich entsprechende Festlichkei­ ten über viele Stunden oder ganze Tage hin.

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Konservatismus — Analyse

7  Vgl. Frank O’Gorman, Polit­ ical Ritual in Eighteenth-Century Britain, in: Jörg Neuheiser u. Mi­ chael Schaich (Hg.), Political Rit­ uals in Great Britain 1700–2000, Augsburg 2006, S. 17–36.

Raumgreifende Elemente wie Paraden und die Verteilung der Höhepunkte auf verschiedene Plätze und Straßen bezogen den gesamten Ort mit ein und machten die Veranstaltungen zugleich zu Ereignissen, die von den lokalen Amtsträgern und Eliten kaum zu kontrollieren waren. Wo mit Protesten und jakobinischen Störungen zu rechnen war, etwa in den Londoner Hochburgen des englischen Radikalismus, verzichtete man deshalb lieber ganz auf ent­ sprechende Manifestationen. Das auffällige Fehlen etwa von Paine-Verbren­ nungen in Westminster oder Holborn betont umgekehrt aber den reibungs­ losen Verlauf und die begeisterte Teilnahme breiter Massen der englischen Bevölkerung an anderen Orten.8 Das lautstarke Grölen der Nationalhymne und die oft wohl von der Aus­ sicht auf Freibier, Volksfeststimmung und Abwechslung geprägte Teilnahme an patriotischen Festen ergeben freilich noch kein konservatives Weltbild. Über die konkreten Motive und die politischen Einstellungen der mitwirken­ den Zuschauer lässt sich zunächst wenig sagen. Dennoch hatte die loyalis­ tische Mobilisierung eine klare Botschaft. Sie inszenierte auf lokaler Ebene eine schichtübergreifende Gemeinschaft, die im Namen der britischen Na­ tion, des Königs und des protestantischen Glaubens öffentlich zusammentrat. Soziale Grenzen wurden nicht geleugnet, aber das gemeinsame Interesse aller sozialen Gruppen betont. Die Abwehr von revolutionären Ideen, von Atheismus und Verrat standen im Mittelpunkt, loyale Geschlossenheit und Zusammenhalt galten als Garanten der Zukunft. Redner und Pamphlete sprachen viel von englischer Freiheit, aber niemand konnte im Zweifel sein, dass es hier nicht um Menschen- oder Naturrechte ging, sondern um spezi­ fisch englische Liberties, garantiert durch Krone und Parlament, die gegen den französischen Feind verteidigt werden mussten. Die Vorstellung einer Nation, die sich gegen Adel, König und Klerus für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammenschloss, war weit entfernt. Das alles war nicht neu, verdichtete sich aber in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zu einer in sich schlüssigen Erzählung britischer Identität, die angesichts der militärischen Konfrontation mit dem revolutionären Frank­ reich eine hohe Plausibilität entfalten konnte.9 Als die englische Regierung nach 1803 neue Freiwilligenverbände aushob, strömten Menschen aus allen Schichten zu den Waffen. 8  Vgl. O’Gorman, The Paine Burnings, S. 146. 9 

Vgl. Emma Vincent Macleod, British Attitudes to the French Revolution, in: Historical Journal, Jg. 50 (2007) H. 3, S. 689–709.

In mancher Hinsicht waren solche Entwicklungen ambivalent: Auch loya­ listisch mobilisierte Unterschichten können soziale Rechte, größere Anerken­ nung und eine bessere Versorgung der Bevölkerung einfordern. Zum Teil drangen radikale Gedanken weit in loyalistische Argumentationsketten ein und verliehen diesen einen subversiven Anstrich. Dennoch gilt, was der Jörg Neuheiser  —  Konservatismus »von unten«?

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Historiker Eckhart Hellmuth schon vor 25 Jahren festgestellt hat: Die Exis­ tenz einer »genuin plebejischen Feindschaft gegen die radikale Sache« lässt sich nicht leugnen und loyalistische Vorstellungen waren um 1800 in Eng­ land ebenso verbreitet wie radikale.10 KRONE, KIRCHE UND VERFASSUNG: DER ENGLISCHE KONSERVATISMUS UND DIE UNTERSCHICHTEN GEGEN MITTE DES 19. JAHRHUNDERTS Szenenwechsel: Ende Juli 1837 stand der konservative Parlamentskandidat Sir John Beckett vor etwa 60.000 Menschen auf einer großen Holztribüne in Leeds, einer textilindustriell geprägten Großstadt mit etwa 150.000 Einwoh­ nern im Norden Englands. Neben ihm warteten zwei liberale Gegenkandi­ daten darauf, zur Menge sprechen zu dürfen. Zwei Sitze waren zu vergeben: Die Liberalen hofften darauf, beide zu gewinnen. Vor dem eigentlichen Wahlgang aber stand ein Ritual, das die Beteiligung der breiten Masse vor der Tribüne erforderte. Nach den Reden der Kandi­ daten durften alle, die den Weg zur öffentlichen Wahlversammlung gefun­ den hatten, per Hand für die Kandidaten stimmen, die den Wahlkreis ver­ treten sollten. Erst danach erfolgte auf Bitten des unterlegenen Kandidaten die eigentliche Auszählung der Stimmen, bei der dann nur noch die rund 6.000 Männer beteiligt waren, die auch nach dem strengen Zensuswahlrecht wahlberechtigt waren. Vor den wohlhabenden Wählern kam also die Masse der Nichtwähler zu ihrem Recht, und deren Votum war nicht bedeutungslos. Schon in den Wo­ chen vor dem Wahlgang waren die Nichtwähler auf vielfältige Weise in die Wahlkämpfe eingebunden, die häufig mit tagelangen Volksfesten, Tumulten und ausgesprochen handfesten »Diskussionen« über die Kandidaten einher­ gingen. Gegen einen populären Kandidaten zu stimmen, erforderte durch­ aus Mut: Da auch die eigentliche Stimmabgabe bis 1871 öffentlich erfolgte, wusste am Ende jeder in der Stadt, wer welchen Kandidaten gewählt hatte. Schon deshalb sorgten alle beteiligten Parteien dafür, möglichst viele ihrer Anhänger vor den Wahltribünen zu versammeln.11 Als Sir John Beckett schließlich zur Menge sprach, versuchte er nicht, sich als konservativer Sozialreformer zu präsentieren. Das wäre zwar möglich ge­ wesen, denn die regierenden Liberalen waren bei vielen Arbeitern der Region alles andere als beliebt – 1832 waren sie, getragen von einer breiten Massen­ bewegung, in Verbindung mit einer großen Wahlrechtsreform an die Macht gelangt. Jetzt aber lehnte die liberale Regierung nicht nur eine weitergehende Ausdehnung des Wahlrechts ab, sondern auch die Gesetze gegen Kinderarbeit

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Konservatismus — Analyse

10  Eckhart Hellmuth, Kommunikation, Radikalismus, Loyalismus und ideologischer Pluralismus: ›Popular Politics‹ in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung, Jg. 4 (1989) H. 1, S. 79–103, hier S. 84. 11  Vgl. Jörg Neuheiser, For­ gotten Gentleman Leaders. Local Elites, Conservative Constitu­ tionalism and the Development of the Public Sphere in England (c.1820–1860), in: Journal of Modern European History, Jg. 11 (2013) H. 4, S. 474–494.

und für eine Beschränkung der langen Arbeitszeiten, die zahlreiche Arbei­ terkomitees seit Jahren forderten. Die harsche Reform des Armenrechts, als deren Folge die liberale Regierung 1837 die verhassten Arbeitshäuser auch in Nordengland einführte, hatte in den Monaten vor der Wahl zu regionalen Massenprotesten geführt. Becketts Botschaft aber lautete anders: »Kirche und Königin« bzw. »Kirche und Verfassung« waren seine Slogans. Über Wochen hatte er die Wähler mit traditionellen konservativen Botschaften umworben, in denen er den Son­ derstatus der anglikanischen Staatskirche verteidigte, die besondere Rolle des Adels innerhalb des Oberhauses pries und die Bedeutung der Krone im Kampf gegen liberale Reformvorstellungen hervorhob. Seine Rede vor den 60.000 Zuhörern am Wahltag forderte »Loyalty to the Throne« und warnte davor, mit der Staatskirche auch das protestantische Selbstverständnis der englischen Nation preiszugeben. Beckett mischte anti-katholische und pa­ triotische Töne und distanzierte sich in klassischer Tory-Manier von jedem Versuch, die englische Gesellschaft demokratisch und liberal zu öffnen.12 Becketts Bemühungen wurden unterstützt von den Anhängern der Leeds Operative Conservative Association, einem Verein, der 1835 unter dem Motto »The Altar, the Throne and the Cottage« gegründet worden war. Operatives: Das waren Fabrikarbeiter, kleine Handwerksmeister oder Ladenbesitzer, die sich in solchen Vereinen der kleinen Leute sammelten, um für die konserva­ tive Sache einzutreten. Ihre Mitgliederstruktur ähnelte sozial etwa jener der frühen sozialdemokratischen Vereine in Deutschland und unterschied sich nicht wesentlich von entsprechenden Vereinen der englischen Liberalen oder von Organisationen aus dem Umfeld des Radikalismus. Um 1840 gab es in fast allen wichtigen englischen Industriestädten ent­ sprechende konservative Klubs und Vereine, die in der Regel einige hundert bis an die tausend Mitglieder hatten und landesweit vielleicht 50.000 Men­ schen organisierten. Ihr Mobilisierungspotenzial ist allerdings damit nicht ausreichend beschrieben; denn wie in allen politischen Klubs der Arbeiter­ schaft wurde im frühen 19. Jahrhundert längst nicht jeder Anhänger offiziell Mitglied, weil angesichts der knappen Löhne und Gehälter selbst niedrige Beiträge für die Klientel der Operative Associations kaum zu stemmen waren. Dafür war die Mitgliedschaft auch etwas wert: Die Vereine fungierten nicht 12 

Vgl. ebd.

13  Vgl. Philip Salmon, Electoral Reform at Work. Local Politics and National Parties, 1832–1841, London 2002.

nur als politische Organisationen, sondern auch als Selbsthilfebünde, sparten etwa für Krankheitsfälle und Beerdigungskosten, stellten Leseräume bereit und teilten sich Zeitungsabonnements. Vor allem aber waren sie an Wahl­ kämpfen beteiligt und bildeten auch in anderen lokalen politischen Kontex­ ten das konservative Fußvolk.13 Jörg Neuheiser  —  Konservatismus »von unten«?

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Was trieb Arbeiter in derartige Vereine? Manchmal war es wohl der Arbeit­ geber, denn in einigen Orten stammten die Mitglieder der Operative Associati­ ons überwiegend aus Betrieben mit bekannten Tory-Fabrikanten. Dennoch wa­ ren die Arbeiterklubs nicht einfach Zeichen von patriarchaler Herrschaft oder Zwang – dafür streikten die Belegschaften auch in diesen Fabriken zu häufig, sympathisierten zu viele einfache Beschäftigte gleichzeitig mit der anderen Seite des politischen Spektrums. Die Möglichkeit, durch den Verein bisweilen auch persönlich mit höherstehenden Kreisen, Abgeordneten oder einflussrei­ chen Adeligen in Kontakt zu treten, spielte sicher eine Rolle. Zumindest für den großen Teil der Mitglieder müssen aber die konservativen Werte und Hal­ tungen innerhalb der Vereine eine hohe Überzeugungskraft besessen haben. Der soziale Rahmen, den die Vereine ihren Mitgliedern boten, ließ sich nicht von dem semantischen Raum trennen, in dem sie sich bewegten: Kon­ servative Symbole und Tory-Rhetorik bildeten eine in sich schlüssige Einheit mit Patronage und sozialen Leistungen, Freizeitmöglichkeiten und politischen Forderungen. In der Verbindung dieser Elemente konnten die Associations eine konservative Identität entwickeln, die bis weit in die Unterschichten mobilisierend wirkte.14 Ideologisch kreiste diese Identität um drei zentrale Faktoren. Erstens stand das loyale Bekenntnis zur Krone und zur Nation im Mittelpunkt, das mit der Verteidigung der bestehenden Verfassungsordnung und ihren Institutionen verbunden war. Während Radikale und Liberale häufig Patriotismus mit der Forderung nach Reformen verknüpften, war die konservative Variante des Patriotismus auf die Erhaltung des Status quo ausgerichtet, einschließlich der vielen Elemente von sozialer Ungleichheit, die das bestehende britische poli­ tische System umfasste. Reformer galten den Konservativen als Destructives, die leichtfertig gewachsene Strukturen zerstörten und damit gerade für die Unterschichten größten Schaden anrichteten. Zweitens bekannten sich die konservativen Operatives zum Protestantis­ mus und zur anglikanischen Staatskirche; wobei die Abgrenzung zu den Nonkonformisten eine nur wenig geringere Rolle spielte als der traditionell stark ausgeprägte Antikatholizismus, dessen Bedeutung angesichts der stei­ genden Zuwanderung von katholischen Iren in englische Arbeiterviertel nach 1840 allerdings tendenziell eher zunahm. Fremdenfeindlichkeit und Antika­ tholizismus konnten sich hier leicht ergänzen. Drittens schließlich war mit dem Bekenntnis zur bestehenden Verfassung auch ein Anspruch auf sozia­ len Ausgleich verbunden, der nicht auf Emanzipation und Gleichheit zielte, sondern auf angemessene Verteilung und einen gerechten Anteil am gesell­ schaftlichen Wohlstand für den einfachen Mann.15

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Konservatismus — Analyse

14  Vgl. Jörg Neuheiser, Krone, Kirche und Verfas­ sung. Konservatismus in den englischen Unterschichten 1815–1867, Göttingen 2010. 15  Vgl. ebd. sowie Mathew Cragoe, The Great Reform Act and the Modernization of British Politics. The Impact of Conserv­ ative Associations, 1835–1841, in: Journal of British Studies, Jg. 47 (2008) H. 3, S. 581–603.

Das war gar nicht so weit entfernt von jener moral economy, mit der Hun­ gerproteste im späten 18. Jahrhundert gerechte Preise für Brot und angemes­ sene Löhne für ein gut ausgeführtes Handwerk forderten.16 Einfach gespro­ chen, rechneten sich die konservativen Operatives aus, dass sie besser fuhren, wenn sie für soziale Stabilität, die Erhaltung des Eigentums und eine ange­ messene Versorgung der breiten Masse »von oben« kämpften. Zurück nach Leeds, in den Juli 1837: Sir John Beckett sprach in seiner Bewerbungsrede vor den 60.000 Zuhörern genau von diesen Vorstellungen und Werten. Nachdem auch seine liberalen Gegenkandidaten ihre Reden ge­ halten hatten, folgte die Handabstimmung der Menge. Sie musste wiederholt werden. Und gleich darauf noch einmal. Erst nach etlichen Versuchen meinte der verantwortliche Wahlbeamte, eine Mehrheit zugunsten der Liberalen fest­ stellen zu können – eine Entscheidung, gegen welche die Konservativen auf und vor der Wahltribüne sofort lautstark protestierten.17 Eine konservative Niederlage, keine Frage. Aber unabhängig von der tat­ sächlichen Mehrheit und der folgenden eigentlichen Abstimmung der Wahl­ berechtigten (Sir Beckett verlor gegen seine liberalen Gegner) belegen die Wahlversammlung und der nicht eindeutige Ausgang der Handabstimmung zwei Dinge: Nur wenige Jahre nach der großen Mobilisierung einer Massen­ bewegung für liberale Reformen und einer deutlichen Erweiterung des alten Wahlrechts konnten konservative Politiker sich auf englische Wahltribünen wagen und in offenen Kampfabstimmungen etwa die Hälfte der teilnehmen­ den Bevölkerung für sich gewinnen. Und: Das versammelte Wahlvolk war quer durch alle Schichten gespalten, politische Mehrheiten waren unabhän­ gig vom strikten Zensuswahlrecht heftig umstritten und ein wichtiger Teil derjenigen Gruppen aus den Unterschichten, die ins politische Geschehen eingriffen, konnte mit konservativen Positionen gewonnen werden. Leeds war um 1840 zudem kein Einzelfall: Selbst in der Konfrontation mit dem Chartismus – üblicherweise verstanden als erster organisierter Versuch der englischen Arbeiterschaft, durch eine Massenbewegung das allgemeine Wahlrecht zu erkämpfen – konnten konservative Kandidaten wenige Jahre später mit der Unterstützung ihrer Operative Associations auf breiter Front nennenswerte Mobilisierungserfolge erzielen. 16  Vgl. E. P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in: Past & Present, H. 50/1971, S. 76–136. 17  Vgl. Neuheiser, Forgot­ ten Gentleman Leaders.

Das lag freilich nicht nur an den konservativen Arbeitervereinen, sondern letztlich auch daran, dass die englischen Konservativen gegenüber dem kon­ tinentalen Konservatismus einen erheblichen Vorteil hatten. Aufgrund der langen Tradition des englischen Parlamentarismus stand die Frage, ob über­ haupt Wahlen, Verfassungen und Parlamente geschaffen werden sollten, für sie nicht zur Debatte. Wenige Tory-Kandidaten, zumal in den großen Städten, Jörg Neuheiser  —  Konservatismus »von unten«?

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zögerten vor der Auseinandersetzung mit der grölenden Menge, die schon im 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich zu Wahlkämpfen gehört hatte. Überdies kleideten in den grundlegenden öffentlichen Verfassungsdebat­ ten vor 1850 auch Reformer und selbst radikale Kritiker der englischen Ge­ sellschaft ihre Forderungen meist in die Sprache eines Konstitutionalismus, der sich unter dem Schlagwort »Old Corruption« zwar über den Verfall des bestehenden politischen Systems empörte, an den grundsätzlichen Institu­ tionen aber nicht zweifelte und durch politische Reformen lediglich eine im Grunde seit jeher freiheitliche Verfassung wiederherstellen wollte.18 Die politische Sprache der Konservativen, ihre loyalen Bekenntnisse zur Krone und zur Verfassung kreisten also um die gleichen Begriffe wie die ihrer Gegner und setzten dem reformorientierten Tenor der Liberalen und Radika­ len ihre eigene Version des Konstitutionalismus entgegen. Dabei profitierten sie nicht zuletzt davon, dass loyalistische Vorstellungen auch weiterhin in der öffentlichen Festkultur tief verankert waren. Als die Liberalen in den 1830er Jahren auch auf lokaler Ebene vielfach die Kontrolle über Stadträte und Ver­ waltungen erlangten, machten sie sich wenig Freunde, wenn sie versuchten, die lokalen Feiern um die Krone aus Kostengründen abzuschaffen. Noch die Chartisten waren in der Regel begeisterte Untertanen ihrer Majestät.19 AUF DEM WEG INS 20. JAHRHUNDERT: VOLKSTÜMLICHKEIT, NATION UND EMPIRE ALS VORAUSSETZUNG KONSERVATIVER ERFOLGE Die Erfahrung, dass konservative Politiker im Bündnis mit Arbeitern und klei­ nen Leuten Erfolge erzielen konnten, wurde in Städten gemacht und beruhte auf lokalen Organisationsstrukturen. Auf parlamentarischer Ebene spielte sie für die Tories keine wesentliche Rolle; eine landesweite Vernetzung der Ope­ rative Associations blieb aus. Die Parteispitze war skeptisch. Die Mehrzahl der konservativen Abgeordneten stammte aus ländlichen Wahlkreisen, in denen die Politik der wilden Mengen eine geringere Rolle spielte. Die Spaltung der Partei im Jahre 1846 bedeutete dann zunächst das Ende der Arbeitervereine. Als mit Benjamin Disraeli 1867 ausgerechnet ein konservativer Premier die zweite große Wahlrechtserweiterung durchsetzte, befürchteten nicht wenige Tories im Oberhaus das Ende ihrer Partei. Aber die Conservative Party konnte sich auch im späten 19. Jahrhundert und angesichts eines zunehmend demokratischeren Wahlrechts behaupten. Dazu trug eine neue Welle von Vereinsgründungen bei, die gezielt auf In­ dustriearbeiter und soziale Gruppen unterhalb bürgerlicher Schichten ausge­ richtet waren. Nach 1867 entstanden zahlreiche Working Men’s Conservative

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Konservatismus — Analyse

18  Vgl. John Belchem, Radical Language, Meaning and Identity in the Age of the Chartists, in: Journal of Victorian Culture, Jg. 10 (2005) H. 1, S. 1–14. 19  Vgl. Neuheiser, Krone, Kirche und Verfassung.

Associations, oftmals besonders früh in eben jenen Städten, in denen dreißig Jahre zuvor Operative Associations bestanden hatten; ab etwa 1880 wurden ihre Mitglieder dann in die eigentlichen Parteistrukturen integriert.20 In den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts trat mit der Primrose League eine weitere konservative Massenorganisation hinzu, die – wenngleich sie streng genommen nicht Teil der Konservativen Partei war – mit über einer Million Mitgliedern um 1900 zur größten politischen Organisation in Großbritannien wurde. Auch in der League wiederholte sich die Mischung aus konservativer Propaganda und einer Vielzahl von sozialen Aktivitäten, bei denen die Begegnung von kleinen Leuten und gesellschaftlichen Eliten aus Adel und Politik eine entscheidende Rolle spielte.21 Schon Disraeli hatte nach 1870 den Begriff »Tory Democracy« geprägt und damit eine Politikvorstellung verbunden, die Reich und Arm in einer pater­ nalistischen Verbindung für ein konservatives England kämpfen sah. Unter den konservativen Eliten im Parlament spielte diese Idee im späten 19. Jahr­ hundert freilich nur eine bedingte Rolle – will man die konservativen Erfolge auf Wahlkreisebene verstehen, muss man stärker auf die komplexen Verbin­ dungen zwischen lokalem Paternalismus, konfessionellen Bindungen und ethnischen Differenzen blicken, die schon im frühen und mittleren 19. Jahr­ hundert vermeintlich einfache Wahrnehmungen von sozialen Interessen und politischer Parteinahme überlagert hatten. Die Konservativen blieben auch um 1900 eine Partei, der es gelang, breite Interessenbündnisse zu schaffen, in denen es vor Ort darauf ankam, Politik und öffentliche Rituale geschickt zu verbinden, traditionelle Vorstellungen vom Recht des einfachen Mannes auf sein Bier und gleichzeitig die Rolle respektabler Familienwerte zu verteidigen, vorsichtige soziale Reformen zu­ gunsten der kleinen Leute zu unterstützen und diese Alltagsbedürfnisse in die große Sprache der Nation und des Patriotismus zu kleiden. Konserva­ tive Politiker verließen sich dabei einerseits auf einen relativ geschlossenen Wertehimmel, in dem Patriotismus, Religion und Sozialpaternalismus eine 20  Vgl. Alex Windschef­ fel, Popular Conservatism in Imperial London 1868–1906, Woodbridge 2007, S. 92. 21  Vgl. Martin Pugh, The Tories and the People 1880–1935, Oxford 1985. 22  Vgl. Matthew Roberts, Political Movements in Urban England, 1832–1914, Basing­ stoke 2009, Kap. 5 u. 6.

in sich schlüssige Verbindung eingingen. Andererseits konnten sie mit ihrer pragmatischen Haltung je nach politischer Großwetterlage sehr viel flexib­ ler reagieren als ihre liberalen, radikalen und zunehmend auch sozialisti­ schen Gegner.22 Als neues Element trat nach 1870 vor allem die Idee des Empire hinzu, die bis dahin für die konservative Mobilisierung praktisch bedeutungslos gewesen war. Um 1900 spielten das britische Kolonialreich und die damit verbundene Stellung als Weltmacht eine immer wichtigere Rolle in der briti­ schen Selbstwahrnehmung und in der Propaganda konservativer Politiker; Jörg Neuheiser  —  Konservatismus »von unten«?

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gerade für Wähler aus der Arbeiterschaft gaben imperialistische Töne häufig den Ausschlag bei der Wahlentscheidung.23 Zwar gilt auch hier, dass der britische Imperialismus nicht per se eine Do­ mäne der Konservativen war – gerade in der geschickten Verschmelzung von nationalen Fragen und eher lokalen Aspekten der Wählermobilisierung waren Tory-Politiker aber auffallend erfolgreich. In manchem spiegelte der Erfolg der Conservative Party um 1900 daher die Zugewinne, die nationalistischimperialistische Verbände und völkische Parteien im frühen 20. Jahrhundert in vielen europäischen Ländern und nicht zuletzt im deutschen Kaiserreich für sich verzeichnen konnten. Anders als in den meisten kontinentalen politischen Systemen hatte es der englische Konservatismus aber leichter, traditionelle konservative Vorstel­ lungen mit modernen parlamentarischen und massendemokratischen Erfor­ dernissen zu verbinden. Durch die lange vor der Französischen Revolution erfolgte Durchsetzung von Parlamentarismus und Wahlen als wesentliche Faktoren des politischen Entscheidungsprozesses gerieten nur wenige Tories in die Gefahr, eine rein rückwärtsgewandte reaktionäre Position einzuneh­ men. Meist agierten sie schon im frühen 19. Jahrhundert wie moderne kon­ servative Parteien, die außerhalb Großbritanniens zumeist erst nach 1918 bzw. 1945 zunehmend in der Lage waren, breite klassenübergreifende Bündnisse zu schmieden, mit denen sich demokratische Mehrheiten organisieren ließen. Im englischen Fall spielte vor allem die Fähigkeit eine entscheidende Rolle, vermeintlich einfache Leute ernst zu nehmen und auf unterschiedli­ che Weise in die Parteistrukturen zu integrieren, ohne damit einen demo­ kratischen Gleichheitsanspruch zu verbinden. Gerade die betonte Akzeptanz und die Verteidigung sozialer Differenzen gegenüber liberalen und radika­ len Reformforderungen ermöglichten konservativen Politikern, Stimmen und Stimmungen »von unten« aufzunehmen und sie zugleich »von oben« in ein kohärentes konservatives Weltbild zu integrieren. So sehr viele konservative Parteiführer jeden Schritt zur Demokratisierung der englischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert fürchteten: Nach allen gro­ ßen Reformen konnte die Partei stets darauf zählen, dass »von unten« neue konservative Wähler nachwuchsen. Dr. Jörg Neuheiser, geb. 1974, ist Akademischer Mitarbei­ ter am Seminar für Neuere Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist Autor von »Krone, Kirche und Verfassung. Konservatismus in den englischen Unterschich­ ten 1815–1867« (Göttingen 2010) und schreibt derzeit an einem Buch über das Arbeitsethos in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1990.

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Konservatismus — Analyse

23  Vgl. Paul Readman, The Conservative Party, Patriotism and British Politics. The Case of the General Election of 1900, in: Journal of British Studies, Jg. 40 (2001) H. 1, S. 107–145.

ZWISCHEN NOSTALGIE UND MODERNEM RECHTS­ EXTREMISMUS WELLEN DER SLAWOPHILIE IN RUSSLAND BIS IN DIE ÄRA PUTIN ΞΞ Klaus von Beyme

GRUPPENDYNAMIK Der Konflikt zwischen Westlern und Slawophilen im Russland des 19. Jahr­ hunderts war eine der wichtigsten intellektuellen Auseinandersetzungen dieser Zeit und prägt die philosophischen und sozialtheoretischen Debatten des Landes bis heute. Die Slawophilen waren jedoch nie eine geschlossene Gruppe: Von Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew bis Alexander Issajewitsch Sol­ schenizyn kämpften viele Denker für ein starkes slawisches Gebilde und einen Weg Russlands, der unabhängig vom Westen war. Tschaadajew, Be­ linski oder Turgeniev strebten hingegen nach westlichen Werten. Die klassischen Slawophilen waren eine Gruppe konservativer Aristokra­ ten, die überwiegend in Moskau studierten. Ihr geistiger Anführer war Alek­ sej Stepanowitsch Chomjakow (1804–1860). Zu dieser Bewegung gehörten auch Ivan Wassiljewitsch Kirejewski (1806–1856) und Konstantin Sergeje­ witsch Aksakow (1817–1860), deren Brüder sowie Jurij Samarin (1819–1876). Die Mystik der Volkseinheit hatte ihr gruppendynamisches Pendant. Für die Epigonen (Berdjajew) konnte die »Tiefe ihrer Gedanken« nur Ausfluss einer überindividuellen Anstrengung sein. Gleichwohl hatten die verschie­ denen Exponenten der Bewegung ihr unverwechselbares Profil. Gemeinsam war ihnen letztlich nur der soziale Hintergrund einer Grundbesitzerschicht, die gegenüber ihren Bauern ein paternalistisches Verantwortungsgefühl ent­ wickelt hatte. Kaum einer hat slawophiles Gedankengut so prägnant auf den Nenner ge­ bracht wie der Dichter Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (1803–1873), den einige Literaturhistoriker den größten Lyriker seit Puschkin nannten. Ernst Moritz Arndts Lied »Was ist des Deutschen Vaterland« war bescheiden in seiner Pro­ klamierung ethnischer Grenzen im Vergleich zu Tjuttschews Grenzvisionen für ein russisches Universalreich mit Konstantinopel als Hauptstadt. In dem Gedicht »Russische Geographie« wurden die beliebten Flussmetaphern arg

INDES, 2015–3, S. 49–57, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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strapaziert: »Vom Nil bis zur Newa, von der Elbe bis nach China.« Der Glaube an die Mission Russlands stützte sich dabei nicht auf empirische Fakten, wie ein anderes vielzitiertes Gedicht von 1860 zeigte: »Man kann Russland nicht mit dem Verstand verstehen und es mit gewöhnlichem Metermaß messen, es ist besonderer Natur, man muss an Russland einfach glauben«. Diese erste Generation der Slawophilen war noch keineswegs panslawistisch gestimmt. Erst nach dem Krimkrieg erwachte in Russland das Interesse an den West- und Südslawen. Die russischen Denker, die vielfach unter dem Einfluss von Friedrich Wilhelm Schelling und Franz von Baader – einige auch von Georg Wilhelm Friedrich Hegel – gestanden hatten, widmeten sich der Religions- und Geschichtsphilosophie. Ihr Beitrag zur Theorie der Politik war vergleichsweise bescheiden. Dennoch gerieten die Slawophilen rasch in Gegensatz zu den Propagandisten des offiziellen Nationalismus um Uwarow, da sie sich in ihrem anarchoiden Religionsverständnis nicht »gouvernemen­ tal« vereinnahmen ließen. Die Slawophilen waren eine Gruppe von Amateuren und Dilettanten. Ei­ nige von ihnen hatten zwar eine spezielle Ausbildung, wie Chomjakow als Mathematiker oder Dostojewski als Militäringenieur. Aber von ihrem Spe­ zialwissen machten sie wenig Gebrauch – mit Ausnahme des Panslawisten Danilewskij, der jedoch überwiegend fernab politisch-historischer Themen publizierte. Die Gruppe liebte das Schöngeistige und verabscheute die »deut­ sche Systematik« ebenso wie das Studierzimmer-Denken. Trotz höchst unterschiedlicher Ansätze kamen viele Slawophile durch ihr Interesse am Leben des Volkes zu einer rudimentären Sozialanalyse. Sie wur­ den so – ohne dies anzustreben – zu Pionieren einer in Russland noch nicht existierenden Soziologie. Jedoch vertraten sie diese, ähnlich wie Frédéric Le Play in Frankreich, in einer Mischung von Soziografie mit Einsprengseln au­ toritärer Ansichten. Andrzej Walicki hat die Soziologie der Slawophilen mit Ferdinand Tönnies’ Typologie von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« ver­ glichen.1 Tönnies schrieb später als die Slawophilen und es gab keine direk­ ten Einflüsse. Aber beide Seiten benutzten verwandte Quellen der deutschen historischen Rechtsschule. Westler und Slawophile hatten ursprünglich die gleichen Salons besucht. Der Bruch kam nicht nur durch Differenzen in der Politik zustande, sondern vor allem durch die atheistische Entwicklung des westlich orientierten linken

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Konservatismus — Analyse

1  Vgl. Andrzej Walicki, The Slavophile Controversy, Oxford 1975, S. 169 ff.

Flügels der »Intelligenzija«.2 Das Schema »Wir – Sie« wurde propagiert. »Viel Feind – viel Ehr« schien die kompromisslose Devise der streitbaren slawophilen Aristokraten zu sein: Sie polemisierten gegen eine angebliche Verschwörung, die von den radikalen Linken über die Jesuiten und russischen Bürokraten bis hin zu den deutschen Philosophen – als Ausfluss des Protestantismus – reichte. Alexander Herzen hat in seinen Memoiren über »Wir und die anderen« und »unsere Feinde, die Freunde« berichtet.3 Der Kampf schien zu diesem Zeitpunkt schon beendet, weil man sich die Hände gereicht hatte. Herzen selbst hatte eine Rückwendung zu Russland durchgemacht. Jedoch nahm er den Slawophilen noch immer übel, dass sie die eigenen Einsichten behindern würden, weil »ihre Ideale im Stile von Heiligenbildern und Weihrauch« eine klare soziale Analyse unmöglich gemacht hätten. Noch immer war Herzen ein Kritiker eines übertriebenen Nationalgefühls, das er »an und für sich« zu einer konservativen Idee erklärte. Nur in Verbindung mit einer Revolution – wie in Polen und Italien – schien das Nationalbewusstsein akzeptabel, sonst war es für ihn »abgeschmackt« – wie in Deutschland. Die Polarisierung der Intelligenzija konnte nicht verdecken, dass die Sla­ wophilen durchaus keine Einheit darstellten. Aber alle pflegten ein dichoto­ misches Denken, das sie in einem Anziehungs- und Abstoßungsverhältnis von der deutschen Romantik übernommen hatten. Deutschland war wissen­ schaftliches Vorbild und gehasster Aufenthaltsort zugleich. Die Vorstellung der Gott-Einheit und die Erklärung des Übels der Welt aus dem egoistischen Streben der Teile gegen das Ganze trugen die unverkennbare Handschrift von Baaders. Von Schelling stammte der Gedanke, dass die Reformen Peters des Großen zu abrupt erfolgt seien, um wirkliche Wurzeln im russischen Volk zu schlagen. Daher sei in Russland viel Altes erhalten worden, das im Westen durch Absolutismus und Revolution vergangen sei.4 Weitere Parallelen des preußischen und russischen Romantizismus sind unverkennbar: Beide Länder hatten noch kein starkes Bürgertum, beide ver­ dankten die Reformen aufgeklärten Despoten von oben (Friedrich II. und Peter dem Großen) und konnten daher die vorkapitalistische Gesellschaft im Ganzen erhalten. Selbst zwischen dem Konzept des ganzen Menschen bei

2  Vgl. Nicholas V. ­Riasanovsky, Russland und der Westen. Die Lehre der Slawophilen, München 1954, S. 84.

Karl Marx und Kirejewskis »integraler Persönlichkeit« sind Parallelen gezo­

3  Alexander Herzen, Mein Le­ ben. Band I, Berlin 1962, S. 685 ff.

DIE GESCHICHTE UND RUSSLANDS IDENTITÄT

gen worden, obwohl hier eine direkte Entlehnung nicht bestand.

Russland wurde in den Theorien der Slawophilen für das Gute, der Westen für 4  Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Geschichte, Wien 1829, S. 271 f.

das Böse gesetzt. Das Böse umfasste den Rationalismus, dem Russland sein Ganzheitsdenken entgegenstellen sollte. Der protestantische Individualismus Klaus von Beyme  —  Zwischen Nostalgie und modernem Rechts­e xtremismus

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und der katholische Zentralismus wurden gegen russische kommunitäre Rechtgläubigkeit ausgespielt. Die Rechtgläubigkeit Russlands wurde als ge­ bunden an uralte Volksbräuche verherrlicht. Die Vereinzelung sei im Leben der Gemeinschaft, der obsˇcˇinnost’, in Russland nicht möglich. Die Russen wurden als unpolitisches Volk gepriesen. Die Polemik bekam damit eine Stoßrichtung gegen die Autokratie, die im­ mer stärker in das Gesellschaftsleben eingriff. 1849 wurden Samarin und Ivan Aksakow für kurze Zeit verhaftet. Zar Nikolaj selbst hatte diese Maßnahme unter dem Vorwand angeordnet, die beiden hätten regierungsfeindliche Pro­ paganda verbreitet. 1853 griff die Zensur anlässlich eines slawophilen Kon­ gresses mit Repressionen ein. Schließlich war schon das Tragen altrussischer Kleidung und der traditionellen Barttracht verdächtig.5 Die Meinung der Slawophilen, der Staat sei ein notwendiges Übel – eine Idee von Schelling und anderen –, wurde nun als Ausfluss der Weisheit des gesamten russischen Volkes interpretiert. In Russland waren die Waräger6 als Eroberer angeblich »eingeladen« worden. Sie führten erstmals staatli­ chen Zwang ein. Die russische Identität wurde von einigen Slawophilen durch ein Denken in Antithesen herausgearbeitet. Im Gegensatz zu Hegel kam dabei jedoch keine echte Synthese heraus. Vergröberungen wie die Behauptung, Peters­ burg sei die Antithese zum eigentlich Russischen, wurden geduldet. Aber die Negation von Petersburg, wie sie Aksakow vertrat, erzeugte kein klares Bild von einem »neuen Moskau« als Synthese. Nach der slawophilen Lehre hatte Russland einst organisch, harmonisch und ohne Klassen weitgehend herrschaftsfrei gelebt. Die Zeit der Wirren vor den Romanows wurde zur Lieblingsperiode dieser Amateurhistoriker, weil das Volk ohne starke Autokratie die Feinde besiegt hatte. In seinen Klöstern hatte Russland die wahre Wissenschaft in Verbindung mit dem Volk entwi­ ckelt – bis Peter der Große diese Verbindung zerstörte. Russland war nach dieser Geschichtsdeutung in den ersten Jahrhunderten seines historischen Lebens dem Westen an Bildung ebenbürtig. Drei Eigen­ tümlichkeiten aber unterschieden die russische von der westlichen Kultur­ entwicklung: die spezifische Form des Christentums, die Besonderheit in der Rezeption der Antike und die Andersartigkeit seiner Staatlichkeit.7 Die rus­ sische Kirche wurde dafür gelobt, dass sie niemals versucht habe, sich eine weltlich-staatliche Macht anzueignen wie vor allem die Katholische Kirche.

5  Vgl. Peter K. Christoff, An Introduction to Nineteenth Century Russian Slavophilism. Band 3: K. S. Aksakov: A Study in Ideas, Princeton 1982, S. 443. 6  Aus Skandinavien stammende Händler und Krieger, die ab dem 8. Jahrhundert in das Gebiet des heutigen Russlands kamen.

Von allen Völkern kamen die Engländer am besten weg, zumal Chomjakow das Land persönlich kannte und einen »Brief über England« (1847) geschrie­ ben hatte, der ähnlich positiv klang wie einst Karamzins Betrachtungen über

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Konservatismus — Analyse

7  Vgl. Ivan W. ­Kirejewski, Russland und Europa, Stuttgart 1948, S. 15.

England im Vergleich zu Frankreich. Anglophilie hat die liberalen wie die konservativen Aristokraten in Russland vielfach geeint. Meinungsverschie­ denheiten gab es unter den Slawophilen dagegen darüber, was der Westen geleistet hatte. Einig wiederum war man sich freilich, dass das »Land heili­ ger Wunder«, wie Chomjakows berühmtes Gedicht »mecˇta« (»Der Traum«) verkündete, dem Untergang geweiht sei: »Doch seine Zeit ist um! Mit einem Leichentuche bedeckt der Westen sich und schwarze Wolken nahen. Vernimm des Schicksals Ruf, steh auf in neuem Glanze: erwache, du schlummernder Osten!«8 Der Westen jedoch verstand dieser dichterischen Perzeption zufolge sein Schicksal nicht. Er verzettelte sich weiter in Konflikte, Revolutionen und Kriege – während die russische Geschichte sich wie ein Heiligenleben freier und demütiger Menschen ausnahm. Staat und Recht waren Fremdkörper im organischen Denken der Sla­ wophilen. Für sie waren beide Begriffe römische Erfindungen, die von den Deutschen auf die Spitze getrieben worden seien. In einer Botschaft Chom­ jakows an die Serben wurde 1860 behauptet, die Slawen hätten ein grau­ sames Strafrecht erst durch die Tataren und die Deutschen übernommen.9 Viel Wissen – wie die Deutschen es besäßen – zu erlangen, sei nicht schwer. Aber Russland sei zur »moralischen Gesinnung« bestimmt, die zu erlangen wesentlich schwieriger sei. Diese ursprüngliche Slawophilie erlebte nach zwei Jahrzehnten heißer Debatten ihren Niedergang. Aber ihre Ideen starben nicht aus. Sie wurden einerseits von den Panslawisten radikalisiert, politisiert und zugleich ihres religiösen Impetus beraubt und andererseits von immer neuen Wellen des »neuen religiösen Bewusstseins« weitergeführt.

8  Quellennachweise in: Klaus von Beyme, Politi­ sche Theorien in Russland, Wiesbaden 2001, S. 73 ff.

DER NEOSLAWOPHILISMUS UND DAS NEUE RELIGIÖSE BEWUSSTSEIN Zu Beginn der Debatte zwischen Slawophilen und Westlern war noch ein phi­ losophischer Idealismus dominant gewesen. Er wurde später weitgehend vom Positivismus und von sozialistischen Ideen abgelöst. Aber durch die Enttäu­

9  Das Dokument ist ab­ gedruckt in: Peter K. Christoff, An Introduction to Nineteenth Century Russian Slavophi­ lism. Band 1: A. S. Xomjakov, Princeton 1961, S. 265.

schungen der revolutionären Bewegungen in den 1870er und 1880er Jahren und nachdem auch die Revolution von 1905 die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatte, kam es zu neuen Wellen einer idealistischen politischen Theorie, die auf die Philosophie der Religion gegründet war. Klaus von Beyme  —  Zwischen Nostalgie und modernem Rechts­e xtremismus

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In der ersten Welle war Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853–1900) der bedeutendste Denker, Sohn des liberalen Historikers Sergej Solowjow, der den Slawophilen einst mit historischen Fakten entgegengetreten war. Um 1883 löste er sich von den Slawophilen und trat für eine Vereinigung aller Kirchen ein. Er kämpfte gegen alle Formen des Nationalismus und der Ver­ folgung von Minderheiten. Die Idealisierung der Orthodoxie bei den Slawo­ philen konnte er nicht mehr mittragen. Zum Entsetzen von Reaktionären wie Leontjew glaubte Solowjow an einen Fortschritt. Der Staat habe die Aufgabe, alle Kräfte der Menschheit zu ver­ einigen. Früh operierte Solowjow mit einem dreigliedrigen Schema, ähnlich den Slawophilen. Der islamische Osten kenne nur einen Gott ohne Menschen und überspanne das Prinzip der Einheit. Der Westen zersplittere die Gottheit in eine Vielheit. Die Slawen bekamen die Mission zugesprochen, eine neue Einheit in der Idee des »Gottmenschentums« zu verwirklichen. Während die Slawophilen Kirche und Staat als Gegensätze auffassten, bestand Solowjow in seiner Schrift »Der große Streit und die Christliche Politik« darauf, dass nicht nur »Wahrheit«, sondern auch »Autorität« bei der Kirche liegen müsse. Die bedeutendsten Religionsphilosophen der nächsten Generation wie Evgenij Trubetskoj, Sergej Bulgakow und Nikolaj Berdjaew waren seine Schüler, die eine »neurussische Renaissance« in Anlehnung an slawophiles Gedankengut herbeiführten. Der Neoidealismus Solowjows war eine doppelte Reaktion auf den Nie­ dergang der Narodniki (»Volkstümler«) einerseits und den Aufstieg des Mar­ xismus in Russland andererseits. Die Frustrationen, welche die Revolution von 1905 ausgelöst hatte, trugen zum Aufschwung eines neuen religiösen Gefühls bei. Symbolismus und Dekadenz als literarische Bewegungen haben diese Wende ebenfalls gefördert.10 Im Gegensatz zu den älteren Symbolisten, die sich der Gottsuche verschrie­ ben hatten – wie die Träger der »Religiös-philosophischen Vereinigungen«, von Mereschkowski bis Rozanow –, war die zweite Generation zwar litera­ risch bedeutender, aber ihre religiöse Mystik stammte gleichsam aus zweiter Hand – aus der Kunst und nicht aus dem direkten religiösen Erleben. Diese Symbolisten zeigten in der Oktoberrevolution ihre weltliche Seite, als die großen Lyriker Blok, Brjussow und Belyj religiöse Visionen mit revolutionärpolitischem Pathos zu vermengen begannen.11 Diese Anpassungsleistung hat ihnen freilich wenig genutzt, weil die Leninisten die »Salonmystiker« (Trotzki) politisch nicht ernst nahmen. Allzu streng jedoch sollte eine empiristische Theorieauffassung mit den neuen Idealisten nicht ins Gericht gehen. Es war eine Zeit des Aufbruchs, die

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Konservatismus — Analyse

10  Vgl. Jutta Scherrer, Die Petersburger Religiös-Philo­ sophischen Vereinigungen, Wiesbaden 1973, S. 424. 11  Nachweise bei: von Beyme, S. 98 ff.

selbst tief in der Linken religiöse Ideen erzeugte, etwa bei den Gottsuchern und »Gottbauern«. In einer Ludwig Feuerbach-Renaissance haben Männer wie der Schriftsteller Maxim Gorki und der spätere Volkskommissar Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski (1908) zum Entsetzen der Parteileitung vom religiösen Wesen des Sozialismus gesprochen und Revolutionsmystik mit christlicher Apokalypse zu verbinden versucht. Von den Schülern Solowjows waren Berdjaew und Bulgakow die bedeu­ tendsten. Beide wurden anfangs zu den »legalen Marxisten« in Russland gerechnet – einer Gruppe, die im Gegensatz zu den orthodoxen Marxisten publizieren durfte und daher legal, d. h. nicht im Untergrund tätig war. Ins­ besondere Nikolai Aleksandrowitsch Berdjaew (1874–1948) galt im Westen als eine Art Inkarnation russischer Weisheit. Das orthodoxe theologische In­ stitut mit Bulgakow, Florowski und Zenkowski entwickelte erneut eine kriti­ sche Solidarität mit dem Slawophilismus. Als Berdjaew und Bulgakow dann aber vom neokantianisch beeinflussten transzendentalen zum transzenden­ ten Idealismus übergingen, gaben sie die sozialwissenschaftliche Forschung zugunsten der Religionsphilosophie weitgehend auf. Die Marxisten hatten ihnen schon immer verübelt, dass sie den Klas­ senkampf als Idee nicht akzeptierten. Den Erben der orthodoxen Liebes­ ethik und der slawophilen Gemeinschaftsideen war unklar, warum sie eine andere Klasse des eigenen Volkes mehr hassen sollten als andere Völker. Sie, die außenpolitisch für Frieden eintraten, wurden vielfach auch innen­ politisch zu Pazifisten. Der Klassenkampf schien den Neoidealisten auch deshalb in Russland überflüssig, weil die Bourgeoisie klein und die Ober­ schicht eine Quantité négligeable war, sodass ihre Solidaritätsideen alle Schichten umfassten. Hauptanliegen der neuen Idealisten war jedoch zunehmend die Religion. Selbst die vorgeblichen Atheisten unter den Radikalen wie Lawrow, welche die Religion durch die »kritische Schaffung realer Gedanken« ersetzen woll­ ten, waren der maximalistischen Ethik der Religionsphilosophie nicht so fern, wie sie glaubten. Vielmehr waren die sogenannten »realen« Gedanken die­ ser antireligiösen Feuerbachianer den vermeintlich »fiktiven« Gedanken der Religionsphilosophen wenigstens in ihrer logischen und psychologischen Struktur zum Verwechseln ähnlich. In der Literatur wurde diese »Übereinstimmung der Gegensätze« viel­ fach als typisch russisch angesehen. Dabei wurde allerdings vergessen, dass in Spanien zur gleichen Zeit ähnliche intellektuelle Entwicklungen zu be­ obachten waren und Russland als Spätmodernisierer nur nachvollzog, was in Deutschland bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor sich gegangen Klaus von Beyme  —  Zwischen Nostalgie und modernem Rechts­e xtremismus

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war. Die Saint-Simonisten und die Schüler Auguste Comtes – selbst die Protestanten unter ihnen – haben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch im fortschrittlicheren Frankreich eine merkwürdige Vorliebe für kir­ chenhierarchische Strukturen und quasi-theologische Argumentationswei­ sen demonstriert. Im Gegensatz zu diesen westlichen »Soziokraten« aber entwickelten die russischen Konservativen eine slawophile Geringschätzung der Organisation und des Politischen. Daher gab es auch so wenig Rechtsphilosophie, und wo sie entstand – außer bei einigen Liberalen –, da wurde sie rasch zur essen­ tialistischen Ethik. Den Versuch Kants, die Rechtslehre und Ethik unter dem Dach einer allgemeinen Sitten- und Pflichtenlehre zu versöhnen, zitierte man zwar in der neukantianischen Phase der legalen Marxisten. Aber er blieb weitgehend unverstanden, weil das naturrechtliche Denken des Westens in Russland seit jeher ein Fremdkörper gewesen war. Die Devise »Menschen – nicht Institutionen« als konservativer Slogan war in Russland besonders gefährlich, weil 1905 noch keine konsolidierten In­ stitutionen bestanden. In England, wo dieser Gemeinspruch entstanden war, waren seine Folgen ungleich harmloser. GESUNKENES SLAWOPHILES GEDANKENGUT IN DER ÄRA PUTIN Ein Liberal-Konservativer wie Pjotr Struve klagte einst enttäuscht: »vremja slavofilstvuet« – »die Zeit slawophilisiert«. Slawophiles Denken hat nur im Sowjetsystem eine Pause gemacht. Allenfalls in der Emigration konnte ein Denker wie Iwan Alexandrowitsch Iljin in der Schweiz weiterhin slawophil auftreten. Aber selbst am Ende der Sowjetherrschaft klagte Wladimir Tuma­ now, der spätere zweite Präsident des russischen Verfassungsgerichts und erste russische Richter am »Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte«, über den »latenten Rechtsnihilismus« und die »Scheinwelt der Rechtsstaat­ lichkeit« in Russland.12 Putin und seine Gefolgsleute schließlich haben sich als halbsozialistische Kämpfer für den Wohlfahrtsstaat entpuppt – ebenso wie auch die Slawophi­ len immer wieder soziale Gedanken betont hatten. Mit ihren Plänen für eine »Eurasische Konföderation«, die sie mit der Besonderheit der slawischen Ge­ biete begründeten, knüpften sie indirekt an slawophiles Denken an. Ihre Ge­ ringschätzung westeuropäischer Rechtsstaatlichkeit hat Ähnlichkeit mit den Gedankengebäuden der Slawophilen. »Russische Geografie« als slawophi­ ler Begriff wurde in Thesen über »Geostrategie« und »Geopolitik« zu einer politischen Ideologie ausgebaut. Der Westen, so die grundlegende Annahme,

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Konservatismus — Analyse

12  Vladimir Tumanov, Sudebyj kontrol’ za konstitucionnost’ju normativnych aktov, in: Sovietskoe gosudarstvo i pravo, Jg. 20 (1988) H. 3, S. 10–19, hier S. 17.

verzettele sich erneut mit imperialistischen Interventionen, während Russland legitimerweise darum bemüht sei, auf friedliche Weise russische Minderhei­ ten in fremden Gebieten zu schützen. Am krassesten ist das krause Gemisch zwischen neoslawophilen Theorien und modernem Rechtsextremismus in den Werken von Alexander Dugin vertreten.13 Die »Eurasische Bewegung« be­ ruft sich auf den berühmten Ethnologen und Sprachwissenschaftler Nikolaj S. Trubetskoj, der den Niedergang des Goldenen Zeitalters in Russland als Ergebnis eines Sündenfalls auffasste, welcher darin bestanden habe, dass die nomadischen Prinzipien der Herrschaft Dschingis Khans aufgegeben worden seien. Gegen den universalen Geltungsanspruch der »romanisch-germani­ schen Kultur« wird das Bollwerk »Russland-Eurasien« gesetzt.14 Zu diesen Ideen hat Putin sich niemals offen bekannt. Aber es hält sich die Vermutung, 13  Vgl. u. a. Alexander G. Dugin, Die vierte politische Theorie, London 2013 u. Ders., Konflikte der Zukunft. Die Rück­ kehr der Geopolitik, Kiel 2014.

14 

Siehe Mathias Bröckers u. Paul Schreyer, Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren, Frankfurt a. M. 2014, S. 169.

15  Vgl. Katja Lebedewa, Neoslawophile Tendenzen in der russischen Gegenwarts­ kultur als Seismograph von Modernisierungskonflikten, in: Berliner Debatte Initial, Jg. 5 (1994) H. 3, S. 65–69.

dass Theorien der Neoslawophilen eine gewichtige Rolle im heutigen russi­ schen Herrschaftsapparat spielen. In jedem Fall ist die neoslawophile Debatte ein Seismograf für Modernisierungskonflikte in Russland.15 Nach 1990/91, kurzum, tauchte slawophiles Gedankengut meist ohne Stu­ dium der klassischen Slawophilen wieder auf. Für den russischen Sonderweg unter Putin wurde eine enge Allianz zwischen Kirche und Staat wichtig. Die moralische Gesinnung der Russen wurde wieder gegen die rationalistischen Spitzfindigkeiten des Westens ausgespielt. Die alten Träume, dass Konstantinopel zum russischen Großreich gehören müsse, waren zwar gegenstandslos geworden. Aber viele Westler und west­ liche Betrachter verstehen meist nicht, dass das heute ukrainische Land des Kiewer »Rus«, mit einer Blütezeit im 10. Jahrhundert, als gesunkenes slawo­ philes Kulturgut in vielen russischen Köpfen umher spukt und für Neosla­ wophile unbedingt zu einer russisch-slawischen Föderation gehört.

Prof. h. c. Dr. Dr. h. c. Klaus von Beyme, geb. 1934, war von 1974 bis 1999 Professor für Politikwissen­ schaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

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DER KONSERVATISMUS DER MITTE ZUM TOLERANZDISKURS IM SCHIITISCHEN ISLAM ΞΞ Stephan Kokew

Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Dies wird sich wohl auch der iranische Geistliche und passionierte Kalligraf, Ayatollah Abdolhamid Masoumi-Tehrani, gedacht haben, als er im April 2014 eine Internetbotschaft auf seiner privaten Homepage veröffentlichte, die über den Iran hinaus auch in einigen westlichen Medien Beachtung gefunden hat. Dabei ging es nicht etwa um das iranische Atomprogramm oder die Menschenrechtslage des Landes. Vielmehr wurde der Geste eines im Westen nahezu unbekannten iranischen Gelehrten Aufmerksamkeit geschenkt. Was war geschehen? Auf seiner Internetseite hatte der im erzkonservati­ ven Qom ausgebildete und heute in Teheran lebende Masoumi-Tehrani eine Nachricht veröffentlicht, in der er seine Landsleute zum bedingungslosen Respekt gegenüber den Angehörigen anderer Religionen und zu religiöser Toleranz und Brüderlichkeit gegenüber den religiösen Minderheiten seines Landes aufrief. Bemerkenswert an seinem Appell war, dass er diesem mit einer vielbeachteten Geste einen praktischen Ausdruck verlieh: Er über­ reichte den Repräsentanten der in seinem Heimatland massiv unterdrück­ ten Religionsgemeinschaft der Bahais als Geschenk eine von ihm selbst an­ gefertigte prachtvoll ausgestaltete Kalligrafie, in deren Zentrum er deutlich erkennbar eines der wichtigsten Symbole des Bahai-Glaubens platziert hatte, umrandet von Kalligrafien aus Versen der heiligen Schrift der Bahais, dem »Ketab-e Aqdas«. Masoumi-Tehranis Nachricht wurde letztlich nicht nur im Iran von der obersten Riege schiitischer Geistlicher aufgenommen, sondern auch in an­ deren Nahost-Staaten mit einer schiitischen Bevölkerung rezipiert. Zudem wurde seine Initiative auch von den Vertretern der christlichen Kirchen, wie dem anglikanischen Bischof Rowan Williams, als »mutiger Schritt« gewür­ digt.1 Er selbst verstand seine Geste als Ausdruck seines persönlichen Res­ pekts gegenüber den Bahai und der Betonung der unveräußerlichen Würde

1  URL: http://iran.bahai. de/2014/04/15/erzbischoflobt-mut-von-ayatollah-ab­ dol-hamid-masoumi-tehrani/ [eingesehen am 05. 04. 2015].

aller im Iran lebenden Menschen, egal welcher Religion diese angehörten.2 Was veranlasst einen schiitischen Geistlichen im Iran dazu, einer religiösen Minderheit, die in seinem Heimatland staatlicher Repression ausgesetzt ist, in

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INDES, 2015–3, S. 58–64, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

2  URL: http://www.amasumi. net/article154.html [ein­ gesehen am 05. 04. 2015].

einem symbolischen Akt eine Anerkennung zu erteilen, für die er in seinem konservativen Umfeld mit scharfen Repressalien rechnen muss? Vor allem dann, wenn er, wie Masoumi-Tehrani, als schiitischer Ayatollah über den Titel einer »Quelle der Nachahmung« (marja al-taqlid) verfügt, die ihn innerhalb der konservativen schiitischen Geistlichkeitshierarchie zu einer leitenden Instanz in Fragen der Auslegung des religiösen Gesetzes (al-sharia) macht? Anders als die Sunniten, die die Mehrheit der Muslime ausmachen, verfügen die Schiiten als zweitgrößte muslimische Strömung über eine derartige Hierarchisierung von theologischer und rechtlicher Kompetenz. Ein Ayatollah steht dabei an der Spitze der klerikalen Rangordnung. Im Iran, wo der schiitische Islam seit dem 16. Jahrhundert als Staatsreligion verankert ist, haben Ayatollahs seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 führende Staatsämter inne. Masoumi-Tehrani steht mit seiner öffentlichen Anerkennung der Bahais als Religionsgemeinschaft unter seinesgleichen freilich nicht alleine dar. Bereits 2008 hatte der prominente Ayatollah Montazeri (gest. 2009), ein ehemaliger Weggefährte des Staatsgründers Ayatollah Khomeini und später einer von dessen schärfsten Kritikern, in einem Rechtsgutachten gefordert, den Bahais im Iran den Rechtsstatus einer religiösen Minderheit zu gewähren, so wie er nach Art. 3 der Verfassung der Islamischen Republik auch Christen, Juden, und Zoroastriern zugesprochen wird. Bis heute besitzen die Angehörigen dieser im 19. Jahrhundert im Iran ent­ standenen Religionsgemeinschaft und derzeit größten nichtmuslimischen Minderheit des Landes in der Islamischen Republik keine Rechtssicherheit. Stattdessen sind sie willkürlichen Repressalien vonseiten der Staatsmacht ausgesetzt, da sie nach klassischer schiitischer Rechtslehre, die im Iran als Grundlage für Staat, Recht und Gesellschaft festgelegt ist, als Abtrünnige des Islam betrachtet werden. Auf eine öffentliche Ausübung des Bahai-Glau­ bens steht die Todesstrafe. Die von staatlicher Seite initiierte Ausgrenzung der Bahais aus der iranischen Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt anhand der Tatsache, dass ihnen verboten ist, an iranischen Hochschulen zu studieren. Diese Zustände haben Masoumi-Tehrani, wie er selbst schreibt, dazu bewo­ gen, mit seiner Geste ein nach außen hin deutliches Zeichen der Menschlich­ keit und der Toleranz zu setzen. Wie sehr seine Kalligrafie von den iranischen Machthabern als ein politisches Statement verstanden wurde, zeigt die Tat­ sache, dass er unmittelbar nach der Veröffentlichung seiner Internetbotschaft vor das berüchtigte Teheraner Sondergericht für Geistliche geladen wurde, vor dem sich schon etliche Dissidenten vor ihm hatten verantworten müssen. Masoumi-Tehrani ist somit einerseits tief in der konservativen Kle­ rikerhierarchie seiner eigenen religiösen Tradition verwurzelt. Er hat die Stephan Kokew  —  Der Konservatismus der Mitte

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verschiedenen Stadien der Ausbildung eines schiitischen Ayatollah durch­ laufen und verfügt damit unweigerlich über einen klassisch-konservativen Werdegang. Das hält ihn andererseits jedoch nicht davon ab, traditionelle Denkmuster zu überwinden und sein Handeln auf der Grundlage eines uni­ versell geltenden Humanitätsbegriffs zu begründen. Hier stellt sich allerdings die Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, Masoumi-Tehranis Denken und das vieler anderer führender muslimischer Theologen pauschal unter die Kategorie »konservativ« zu subsumieren. Um sich dieser Frage in einem gesamtislamischen Kontext anzunähern, muss zunächst eine entschei­ dende Grundeigenschaft des Begriffs »Konservatis­ mus« genannt werden: Er entstammt dem europäischwestlichen Denken. In erster Linie steht er hier für eine politische Haltung, findet jedoch auch im Bereich der Religion Anwendung. Man spricht schließlich von »konservativen Politikern« wie auch von »konserva­ tiven Geistlichen«. So einhellig diese Tatsachen erscheinen mögen, so problematisch gestaltet sich die Übertragung des Begriffs auf Kulturen und Religionen, die außerhalb dieses ideengeschichtlichen Kontextes entstanden sind. Dies gilt im Besonderen für den Umgang mit dem Islam und seinen Anhängern, die man hierzu­ lande gerne in »konservative« und »liberale« Mus­ lime einteilt. Denn die Kategorisierungen des einen gegenüber dem anderen übermitteln meistens nicht den gleichen Bedeutungsinhalt, den man bei dem je­ weils anderen zu finden erwartet. Im Arabischen, das zugleich die konstituierende Sakralsprache des Islam ist wie auch eine eigene Kul­ tursprache, findet sich als Äquivalent hierzu das Wort muhafiz, welches, ganz im Sinne einer wörtlichen Rückübersetzung des englischen conservative, eine konkrete parteipolitische Zugehörigkeit ausdrückt. Auch im religiösen Bereich spielt dieser Begriff mit seiner Konnotation von »bewahren« eine wichtige Rolle, allerdings in Gestalt einer anderen Wortform. So werden Muslime, die den gesamten Koran aus­ wendig rezitieren können, im Islam als »Bewahrer«

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Konservatismus — Analyse

(arab.: hafez) bezeichnet – ein Ehrentitel, der sich auch in der europäischen Literaturgeschichte wiederfindet, wo kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe seinen berühmten »West-östlichen Divan« dem persischen Natio­ naldichter Hafez (gest. 1389) gewidmet hat, dessen Name auf seine bereits im Kindesalter erworbene Fähigkeit des Auswendiglernens des Korans hinweist. Die Konnotation von »konservativ« lässt sich darüber hinaus auch an einem anderen Begriff der islamischen Geistesgeschichte verorten: der Methodik der »blinden Nachahmung« (al-taqlid) vorhergegangener Lehrmeinungen, ohne diese zu hinterfragen. Diese Methodik ist jedoch ebenfalls nicht auf der politi­ schen Ebene angesiedelt, sondern im theologischen und rechtlichen Denken des Islams verankert. Die »Bewahrung«, die im taqlid zum Ausdruck kommt, ist eine rein reproduzierende, weil unreflektierte Über­ nahme überlieferter Entscheidungen vorheriger Ge­ lehrtengenerationen. Durch den taqlid werden Lehr­ meinungen etabliert und Lehrtraditionen konstruiert, aus denen schließlich Theologie, Recht und Ethik in Gestalt unterschiedlicher Denkschulen – wie den vier sunnitischen Rechtsschulen – hervorgehen. Im schii­ tischen Islam bildet taqlid die Grundlage für die spe­ zifisch schiitische Klerikerhierarchie. War Hafez für Goethe ein »Bruder im Geiste«, so ist der Islam für die Mehrheit der Muslime vor allem eine Religion, die sich ihrem theologischen Selbstver­ ständnis zufolge grundsätzlich nicht mit den primär im politischen Bereich verorteten Kategorien »kon­ servativ« bzw. »liberal« erfassen lässt. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass in Bezug auf Muslime die Kategorie »konservativ« von vornhe­ rein einen unvereinbaren Gegenpol zu »freiheitlich, liberal« suggeriert und bei dem Betitelten eine ver­ meintlich reaktionäre Einstellung vorab als gegeben festmacht. Allerdings wird die Problematik einer derartig un­ differenzierten Einteilung allmählich auch in den Me­ dien diskutiert. So ist in einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom Januar 2015 mit dem Titel »Die Heimat der Muslime« zu lesen: »Einteilungen Stephan Kokew  —  Der Konservatismus der Mitte

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in liberale und konservative Muslime zwingen die Menschen dazu, sich zu einer dieser Richtungen zu bekennen, wobei Konservative mit Argwohn be­ trachtet werden. Die meisten Muslime wollen jedoch unabhängig von irgend­ welchen politisierten Begriffen einfach nur ihre Religion ausüben.«3 Diese Einschätzung scheint die Sicht vieler Muslime zu bestätigen, die ihre Religion selbst oftmals einfach als eine »Religion der Mitte« bezeich­ nen. Ein Selbstverständnis, das sie unmittelbar aus dem Koran ableiten, wo es in Sure 2 Vers 143 heißt: »So machten wir euch zu einer Gemeinde, die in der Mitte steht, auf das ihr Zeugen für die Menschen seid und der Ge­ sandte für euch Zeuge sei«. Allgemein gesprochen wäre ein konservativer, »bewahrender« Muslim somit jemand, der in seinem Denken und Handeln einen »mittleren Weg« anstrebt und sich zu seiner religiösen Pflicht macht, sich von Übertreibungen und Extremen fernzuhalten, die nicht mit dem im Koran und Hadith offenbarten Gesetz als vereinbar aufgefasst werden. Es geht letzten Endes immer darum, wie die sharia und damit die islamischen Offenbarungsquellen ausgelegt werden: wie viel Freiheit aus ihnen erschlos­ sen wird, um dynamisch und flexibel auf äußere Veränderungen reagieren zu können, und wie viel Bewahrung notwendig erscheint, damit sich die eigene religiöse Wahrheit nicht zwangsläufig relativiert. Diesen Mittelweg begreift nicht zuletzt Ayatollah Masoumi-Tehrani als eine Ethik der Toleranz und der Humanität. Das persische Wort für »Toleranz«, modara, bedeutet seinem Wortsinn nach »Umgänglichkeit«, »Höflichkeit«. Es steht für einen konfliktverhütenden Umgang mit dem anderen, der diesem den notwendigen Freiraum für seine persönliche Entfaltung lässt. Innerhalb seiner eigenen religiösen Tradition kann sich Masoumi-Tehrani dabei auf unterschiedliche Ausgangspunkte stützen, die eine Ethik der anerkennen­ den Toleranz und des mitmenschlichen Umgangs gebieten. So bspw. auf die Nahj al-Balagha, die wichtigste schiitische Überlieferungssammlung, in der Sprüche, Reden und Briefe des ersten schiitischen Imams und vierten Kalifen Ali (gest. 661) abgefasst sind und die innerhalb des schiitischen Islam einen autoritativen Stellenwert besitzt. In einem darin überlieferten Sendschreiben ruft Ali einen seiner Statthalter dazu auf, seinen nichtmuslimischen Unter­ tanen mit Barmherzigkeit (rahma) und Liebe (mahabba) zu begegnen, da sie seine »Brüder im Glauben seien«.4 Zeitgenössische Muslime verweisen heute wieder explizit auf den ethischen Gehalt dieses frühen Konzepts einer islamischen good governance als Begrün­ dung für religiöse Toleranz.5 Zudem sind Koranstellen wie 109:6 (»Euch eure Religion und mir die meine!«) und 2:256 (»Kein Zwang ist in der Religion«) von Muslimen seit jeher als Aufforderung zur Erteilung religiöser Toleranz

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3  Timur Tinç, Die Heimat der Muslime, in: Frankfurter Rundschau, 23. 01. 2015. 4  Ali ibn Abu Talib, Nahj al Balagha, Beirut o. J., S. 622. 5  Siehe Reza Shah-­Kazemi, Tolerance, in: Amin S ­ ajoo (Hg.), A Companion to Muslim Ethics, London 2010, S. 167–186, hier  S. 181.

verstanden worden. Ein Pluralismusgebot lässt sich zudem aus Koran 2:148 ableiten: »Es hat ein jeder eine Richtung, nach welcher er sich wendet. Wett­ eifert daher um das Gute!« Einer der bedeutendsten schiitischen Gelehrten des Iran, Mohammed Hosein Tabatabai (gest. 1981), hat in seiner Kommen­ tierung dieses Verses die Meinung vieler Exegeten auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt, dass es für ein gottgefälliges Leben vor allem darauf an­ komme, Gutes zu tun. Die Menschen sollten sich deshalb untereinander nach dem ethischen Gehalt ihres Handelns beurteilen und nicht nach ihrer reli­ giösen oder kulturellen Herkunft.6 Für Masoumi-Tehrani steht eine Politik der Diskriminierung und der Exklusion einer religiösen Minderheit im unauflösbaren Widerspruch zu den Grundwerten des Islam. In seiner Internetbotschaft zieht er zur Recht­ fertigung seiner Anerkennung der Bahai sämtliche Register seiner eige­ nen religiösen und kulturellen Tradition. Er verleiht seinem Appell zudem eine interreligiöse Note, indem er neben dem Koran auch die Aussagen zur Nächstenliebe aus dem Alten Testament und aus der Bergpredigt Jesu zi­ tiert.7 Schließlich ruft er seinen Landsleuten mit einem berühmten Gedicht des großen persischen Poeten Saadi (gest. 1291) aus dessen Gedichtzyklus »Golestan« (»Der Rosengarten«) eine spezifisch iranische Begründung von Empathie und Humanität in Erinnerung: »Die Menschenkinder sind ja alle Brüder, aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder. Hat Krankheit nur ein ein­ zig Glied erfasst, so bleibt den andren weder Ruh noch Rast. Wenn andrer Schmerz dich nicht im Herzen brennet, verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet!«8 Für den westlichen Leser mag zunächst etwas befremdlich erscheinen, dass ein muslimischer Theologe über den Koran hinaus seine Ansichten mit der Bibel und dem Vers eines Dichters begründet. Thora, Evangelium und die biblischen Psalmen gelten im Islam jedoch als heilige Schriften. Die in ihnen als universell aufgefassten Prinzipien, wie z. B. die Nächstenliebe, müs­ sen somit nach islamischem Verständnis auch von Muslimen als verbindlich 6  Vgl. Mohammed Hosein Taba­ tabai, Al Mizan fi Tafsir al-Quran, Bd. 2, Teheran 1973, S. 330. 7  Siehe URL: http://www. amasumi.net/article154.html [eingesehen am 05. 04. 2015]. 8  Muslih ad-Din Saadi, Der Rosengarten, Übersetzung von Karl Heinrich Graf, neu be­ arbeitet und herausgegeben von Dieter Bellmann, Leipzig 1982.

betrachtet werden. Nicht zuletzt ist die klassische persische Literatur vielerorts eine wahre Fundgrube ethisch-moralischer Sinnsprüche, Weisheiten und konkreter Handlungsmaximen. So war es ein dem mystischen Islam und dem Wein zugeneigter Hafez, der in seinem berühmten Gedichtband folgende ethische Maxime aufzustellen wusste: »Gegenüber Freunden, Großherzigkeit; Gegen­ über Gegnern, Toleranz.« Diesen Vers führt der iranische Intellektuelle Ab­ dolkarim Soroush (geb. 1945) in seinem 2004 erschienenen »Traktat über die Toleranz« (»Treatise on Tolerance«) als Grundlage einer kulturspezifischen Stephan Kokew  —  Der Konservatismus der Mitte

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iranischen Toleranzbegründung an.9 Demnach ist nicht ungewöhnlich, dass durch den Vers oder das Gleichnis eines Dichters ein philosophischer Ge­ danke untermauert wird. Auch wenn Soroush offenkundig einen ganz anderen Werdegang als Ma­ soumi-Tehrani aufweist – als promovierter Chemiker hat er nicht die Ausbil­ dung eines klassischen schiitischen Religionsgelehrten durchlaufen –, verbin­ det ihn mit dem künstlerisch begabten Ayatollah der Anspruch, als Vordenker einer Kultur der anerkennenden Toleranz in seinem Heimatland zu fungieren. Der Preis hierfür war für ihn jedoch – wie für viele andere seiner Mitstreiter bis heute auch – der Gang ins ausländische Exil. Toleranz und humanitäres Handeln können sich in der heutigen irani­ schen Gesellschaft in unterschiedlicher Art und Weise zeigen. In Form einer wirkungsvollen Geste etwa, wie der Anfertigung einer Kalligrafie, begrün­ det durch die ethischen Gleichnisse und Maximen eines mittelalterlichen Dichters, die jenseits des klassisch-konservativen religiösen Schrifttums an­ gesiedelt sind. Saadis Gedicht von der Einheit aller Menschen findet sich auf dem Eingangsportal des Hauptgebäudes der Vereinten Nationen in New York verewigt. Abdolhamid Masoumi-Tehranis Kalligrafie ist heute im Besitz der weltweiten Bahaigemeinschaft. Was einer der größten Dichter Irans im 13. Jahrhundert in starke Worte zu fassen wusste, hat ein Repräsentant des konservativen iranischen Klerikerestablishments zu Beginn des 21. Jahrhun­ derts mit einer mutigen Geste in die Praxis umgesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass seine Geste nicht umsonst gewesen ist.

Dr. Stephan Kokew, geb. 1979, ist Islamwissenschaft­ ler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Orientalische Philologie und Islamwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2014 erschien seine Dissertation »Annäherung an To­ leranz. Ausgangspunkte, Kontexte und zeitgenössische Interpretationen des Toleranzbegriffs aus dem schiiti­ schen Islam« (Ergon Verlag).

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Konservatismus — Analyse

9  Abdolkarim Soroush, Treatise on Tolerance, Amsterdam 2004, S. 10.

ZWISCHEN AUFBRUCH UND BEHARRUNG DIE BÜRGERLICHE RECHTE IN FRANKREICH ΞΞ Teresa Nentwig

Paris, 30. Mai 2015, Gründungskongress der Partei Les Républicains (LR). Noch während der frühere Premierminister und heutige Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé, spricht, branden »Nicolas! Nicolas!«-Rufe auf. Kurz darauf betritt Sarkozy die Tribüne. Die versammelten 10.000 Mitglieder und Sympathisanten sind jetzt nicht mehr zu halten, sie stehen auf und skan­ dieren abermals lautstark seinen Vornamen, klatschen und schwenken die Trikolore. Und auch die sehnlich erwartete dreiviertelstündige Rede, in der Sarkozy den Aufbau einer »Republik des Vertrauens« verspricht, wird immer wieder von frenetischem Beifall unterbrochen. Wie ist es dazu gekommen, dass der frühere Staatspräsident, der nach sei­ ner Wahlniederlage 2012 seinen Abschied aus der Politik verkündet hatte, derart gefeiert wird? Sind die magere Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit und all die Affären, in die Sarkozy noch immer verwickelt ist, bereits vergessen? Vergessen auch die hohen Schulden der Partei, für die er eine Mitverantwor­ tung trägt? Und klingt nicht das, was Sarkozy jetzt in bisweilen erschreckend demagogischem Tonfall vorträgt, teilweise ganz anders als das, was er noch vor ein paar Jahren verkündete? Kaum einer der Anwesenden scheint sich diese Fragen ernsthaft zu stellen. Die Beerdigung der UMP, mit der Sarkozy 2007 das Präsidentenamt der fran­ zösischen Republik erobert hatte, sowie die Neugründung der Républicains sollen ein Neubeginn sein: kein Blick zurück mehr auf die Regierungszeit von 2007 bis 2012 und auf die sich anschließenden drei, von allerlei Affären und innerparteilichen Auseinandersetzungen geprägten Jahre. Stattdessen: Fokussierung auf die Präsidentschaftswahl 2017. 13 JAHRE UMP: VON GANZ OBEN NACH GANZ UNTEN Ein wesentliches Merkmal des französischen Parteiensystems sind dessen Zersplitterung und Instabilität: Immer wieder kommt es zu Auflösungen, Neugründungen, Umbenennungen und Abspaltungen. Dies trifft auch auf die bürgerliche Rechte zu, die seit der Gründung der V. Republik 1958 di­ verse Parteien kennt, darunter das 1976 von Jacques Chirac gegründete

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Rassemblement pour la République (»Sammlungsbewegung für die Repub­ lik«, RPR). Die UMP als die zuletzt dominierende Partei auf der bürgerlichen Rechten entstand am 23. April 2002 zunächst als Wahlbündnis, zwei Tage nachdem Jean-Marie Le Pen den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl erreicht hatte, und vereinte vor allem die Anhänger Chiracs und Juppés aus dem RPR und den beiden Zentrumsparteien Démocratie libérale (DL) und Union pour la démocratie française ( UDF). Zuvor waren alle Versuche, die verschiedenen Komponenten der bürgerlichen Rechten und des Zentrums in einer Partei zu einen, gescheitert.1 Wie der Name Union pour la majorité présidentielle (»Union für die präsi­ dentielle Mehrheit«) bereits zeigt, bestand das primäre Ziel der Neugründung darin, bei der Parlamentswahl im Juni 2002 in möglichst vielen Wahlkrei­ sen mit einem gemeinsamen Kandidaten anzutreten, um auf diese Weise ein Stimmensplitting zwischen den beiden Wahlgängen zu verhindern und so zu einer starken Stütze des Staatspräsidenten und dessen Regierung zu werden. Am 17. November 2002 entstand aus diesem Wahlverein eine Partei, die sich den Namen Union pour un mouvement populaire (»Union für eine Volksbe­ wegung«) gab und dadurch die bisherige Abkürzung UMP behalten konnte.2 Wie fast alle Parteien der bürgerlichen Rechten entstand auch die UMP zu einem Zeitpunkt, als sie den Staatspräsidenten stellte. 2012 führte Sarkozy seine Partei jedoch in die Opposition. An die verlorene Präsidentschafts­ wahl im Mai 2012 schloss sich zudem eine Niederlage bei der Parlaments­ wahl im Juni 2012 an. Doch damit nicht genug: Die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden stürzte die UMP im November 2012 in eine »tiefe Krise«3. Nachfolger Sarkozys woll­ ten der ehemalige Premierminister François Fillon und der Generalsekretär der Partei, Jean-François Copé, werden. Die Abstimmung, zu der alle UMPMitglieder aufgerufen waren, führte zu einem äußerst engen Ergebnis – Copé hatte 98 Stimmen Vorsprung vor Fillon – und in der Folge zu Betrugs- und Missbrauchsvorwürfen seitens der Anhänger Fillons. Der frühere Premier­

1  Vgl. Florence Haegel, L’UMP: un dixième anniversaire sous tensions (2002–2012), in: Pascal Delwit (Hg.), Les partis politi­ ques en France, Brüssel 2014, S. 149–166, hier S. 150 f.

minister gründete schließlich sogar eine eigene Parlamentsfraktion namens Rassemblement UMP (R-UMP). Zumindest oberflächlich konnten die Wogen zwar relativ rasch wieder ge­ glättet werden, sodass die 73 abtrünnigen Abgeordneten Mitte Januar 2013 zu

2  Zur Entstehung und Ent­ wicklung der UMP bis 2012 vgl. ausführlich Florence Haegel, Les droites en fusion. Transforma­ tions de l’UMP, Paris 2012.

ihren 122 Kollegen in der eigentlichen UMP-Fraktion zurückkehrten. Doch bald darauf folgte mit der sogenannten Bygmalion-Affäre die nächste Krise: Im Frühjahr 2014 enthüllten Medien, dass Sarkozy sein per Gesetz vorgege­ benes Budget für die Präsidentschaftswahl 2012 um mindestens elf Millionen Euro überzogen hatte, indem ein Teil der Wahlkampfkosten mittels falscher

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3  Haegel, L’UMP, S. 149. Bei dieser und allen weite­ ren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche handelt es sich um Überset­ zungen durch die Verfasserin.

Rechnungen der Kommunikationsagentur Bygmalion über die Parteikasse finanziert worden war. Im Zuge der Affäre trat Ende Mai 2014 Copé und mit ihm der gesamte Parteivorstand zurück. Wenige Wochen später, am Morgen des 1. Juli, wurde schließlich Nicolas Sarkozy in Polizeigewahrsam genommen – als erster ehemaliger Staatsprä­ sident in der Geschichte seines Landes. Zuvor hatte die Justiz über Monate hinweg Sarkozys Zweithandy angezapft, das er für heikle Gespräche – ins­ besondere mit seinem Anwalt Thierry Herzog – auf einen anderen Namen angemeldet hatte. Eigentlich wollten die Ermittler Klarheit über mögliche illegale Wahlkampfspenden des libyschen Diktators Gaddafi an Sarkozy im Jahr 2007 erhalten. Aus den im Januar und Februar 2014 geführten Ge­ sprächen ging aber hervor, dass sich Sarkozy und Herzog von dem Kassa­ tionsrichter Gilbert Azibert, einem der höchsten Richter Frankreichs und Studienkameraden Herzogs, über ein weiteres gegen Sarkozy laufendes Er­ mittlungsverfahren informieren ließen und im Gegenzug Azibert einen ho­ hen Posten im Fürstentum Monaco in Aussicht stellten. Nachdem Sarkozy 15 Stunden in Polizeigewahrsam verbracht hatte und anschließend noch von den beiden Untersuchungsrichterinnen angehört worden war, wurde gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eröffnet – wegen »aktiver Korruption«, »akti­ ver illegaler Einflussnahme« und »Verletzung des Ermittlungsgeheimnisses«. DER NEUSTART Dennoch wurde Sarkozy Anfang Dezember 2014 nach zweijähriger Absti­ nenz von den UMP-Mitgliedern mit 64,5 Prozent der Stimmen erneut zum Parteivorsitzenden gewählt. Schon kurz nach seiner Wahl schwang er sich zum Erneuerer auf, was er u. a. mit der erwähnten Umbenennung der Partei demonstrierte. Mit dem neuen Namen sind weitere Veränderungen einher­ gegangen: So haben die Mitglieder der UMP am 28. und 29. Mai 2015, also einen Tag vor dem Gründungskongress von Les Républicains, eine umfang­ reiche Reform der Parteistatuen beschlossen, deren zentrale Merkmale mehr innerparteiliche Demokratie und mehr Dezentralisierung sind. Zum Beispiel sollen künftig die Parteimitglieder regelmäßig über wichtige Themen abstimmen, wobei das erste Sujet bereits feststeht: die Frage, ob der automatische Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft für Kinder aus­ ländischer Eltern, die in Frankreich geboren werden, infrage gestellt werden muss. Sarkozy will – entgegen seiner früheren Haltung – eine Debatte über dieses Fundament des »republikanischen Paktes« anstoßen und sich dafür den Rückhalt der Parteimitglieder einholen. Diese bekommen noch in an­ derer Hinsicht mehr Einfluss: Zukünftig sind es die Mitglieder – und keine Teresa Nentwig  —  Zwischen Aufbruch und Beharrung

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Wahlmänner mehr –, von denen die Vorsitzenden der regionalen Parteiglie­ derungen bestimmt werden. Für eine weitere Reform – die Aufnahme der Durchführung offener Vor­ wahlen zur Bestimmung des Präsidentschaftskandidaten in die Parteisat­ zung – hatten die UMP-Mitglieder bereits im Juni 2013 gestimmt. Sarkozy war zwar lange Zeit gegen eine solche Vorwahl eingestellt gewesen – gemäß der Tradition der gaullistischen und neogaullistischen Parteien sah er sich als »natürlichen« Kandidaten seines Lagers, als »Mann der Stunde«. Doch im November 2014, wenige Tage vor der Abstimmung über den neuen Par­ teivorsitzenden, versprach er, dass die von seinen Konkurrenten Alain Juppé, François Fillon und Xavier Bertrand geforderte Vorwahl im Jahr 2016 statt­ finden werde, falls er zum neuen UMP-Chef gewählt werden sollte. Auf diese Weise wollte Sarkozy einen Streitpunkt in seiner Partei ad acta legen und sich als rassembleur4 (»Einiger«) seines Lagers präsentieren. Die Verfahrensregeln der Vorwahl sind inzwischen beschlossene Sache. Sie wird am 20. und eventuell am 27. November 2016 stattfinden; wobei es zu einem zweiten Wahlgang kommt, falls kein Kandidat mehr als fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten sollte. Bei der Vorwahl darf nur antreten, wer von mindestens 250 Mandatsträgern (darunter zwanzig Parla­ mentarier) aus mindestens dreißig Departements und 2.500 Parteimitgliedern aus mindestens 15 Departements unterstützt wird. Diese Regelung gilt aller­ dings nur für Kandidaten von LR. Wollen ihr nahestehende Parteien (etwa die Zentrumspartei Union des démocrates et indépendants, UDI) Kandidaten aufstellen, müssten sie selbst über entsprechende Bestimmungen entscheiden. An alle Kandidaten richtet sich hingegen folgende Vorschrift: Jeder Vor­ wahlkandidat muss sich verpflichten, den Sieger öffentlich zu unterstützen und an dessen Wahlkampf teilzunehmen. Auf diese Weise soll eine dissiden­ tische Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl verhindert werden. Abstim­ men können bei der Vorwahl alle Personen, die auf den Wählerlisten stehen oder zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl 18 Jahre alt sein werden. Um ihre Stimme in einem der rund 10.000 Wahllokale abgeben zu können, müs­ sen sie pro Wahlgang zwei Euro zahlen und folgenden Satz unterschreiben: »Ich teile die republikanischen Werte der Rechten und des Zentrums, und ich engagiere mich für den Regierungswechsel, damit der Wiederaufschwung Frankreichs gelingt.«5 Die Verantwortlichen hoffen, auf diese Weise die Be­ teiligung von zwei Millionen Franzosen zu erreichen.

4  Alexandre Lemarié, Sarkozy, le défi du »rassemblement de tous«, in: Le Monde, 02. 12. 2014.

Mit der Vorwahl knüpfen die Republikaner an das Jahr 1989 an, als der kürzlich verstorbene Altgaullist Charles Pasqua erstmals die Durchfüh­ rung offener Vorwahlen vorschlug. Anschließend entwickelte eine eigens

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Konservatismus — Analyse

5  Zit. nach Les Républi­ cains, Charte de la pri­ maire, Paris 2015, S. 2.

eingerichtete Arbeitsgruppe ein Konzept, woraufhin das – in der Folgezeit freilich zunächst gar nicht und später bloß auf lokaler Ebene für die Pariser Bürgermeisterwahl 2014 angewendete – Prinzip der Vorwahl Eingang in eine Charta fand, welche die UPN (die gemeinsame Koordinierungsinstanz des RPR und der UDF) 1991 beschloss.6

Alles in allem gewinnen die Republikaner durch die Vorwahl noch stärker als die UMP den Charakter einer parti présidentialisé (»präsidentialisierte Par­ tei«). Mit diesem Begriff werden in Frankreich Parteien bezeichnet, die »sich langfristig in personeller, struktureller und inhaltlicher Hinsicht an einem Ziel orientier[en]«7: der Eroberung bzw. der Kontrolle des Präsidentenamtes. Mit Blick auf die nächste Präsidentschaftswahl will Sarkozy aus den Repu­ blikanern eine »elektorale Kriegsmaschine« (die Franzosen sprechen von machine de guerre électorale 8) machen. Mit den erhofften wie versprochenen 500.000 statt den heutigen 213.000 Mitgliedern im Rücken will er dann 2017 den Elysée-Palast zurückerobern. ALTE PROBLEME IN NEUER VERPACKUNG Mit dem neuen Parteinamen und den Reformen geht jedoch kein vollständi­ ger Neuanfang einher. So werden die Nachwirkungen diverser Affären auch in den nächsten Monaten noch zu spüren sein. Die Korruptionsermittlungen gegen Sarkozy wurden zwar im Herbst 2014 auf richterliche Anordnung hin ausgesetzt, weil sie sich auf einen möglicherweise illegalen Lauschangriff ge­ 6  Vgl. Haegel, Les droites, S. 95–97; Dies., L’UMP, S. 151 u. S. 153.

stützt hatten. Doch am 7. Mai 2015 entschied das Pariser Berufungsgericht,

7  Christine Pütz, Rolle und Funktion der Parteien in der V. Republik, in: Sabine Ruß u. a. (Hg.), Parteien in Frankreich. Kontinuität und Wandel in der V. Republik, Opladen 2000, S. 77–89, hier S. 86.

Aber auch um die neue Partei steht es nicht zum Besten. Vor allem erbe

8  Zum Beispiel ­Lemarié, Sarkozy. 9  Zit. nach Alexandre Lemarié, UMP: le nouveau nom suscite des polémiques, in: Le Monde, 17. 04. 2015. 10  Zit. nach Gérard Courtois, Idées en l’air pour droite en vrac, in: Le Monde culture & idées, 06. 12. 2014.

dass die Telefonmitschnitte vor Gericht gegen Sarkozy verwendet werden dürfen. Damit droht dem Sechzigjährigen nun ein Prozess. sie die große programmatische Leere der UMP, so Bruno Le Maire, unter­ legener Kandidat für den Parteivorsitz und ambitionierter Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur 2017: »Die Namensänderung der Partei ist nicht die Hauptsorge der Franzosen. Das Wesentliche besteht darin, Lösungen für ihre Probleme beizusteuern und sie mit der Politik zu versöhnen, anstatt uns selbst anzuschauen.«9 Wie die Republikaner die Rekordarbeitslosigkeit zu bekämpfen, die Kaufkraft der Franzosen zu erhöhen oder den Klima­ wandel zu bewältigen beabsichtigen, ist unbekannt. Doch nach den Plänen ­Sarkozys sollen die Republikaner erst im Juni 2016 mit einem Programm an die Öffentlichkeit treten. Hier rächt sich nun die »intellektuelle Lethargie der Rechten«, von wel­ cher der Philosoph Marcel Gauchet Ende vergangenen Jahres gesprochen10 und die in den gesamten letzten Jahren dazu geführt hat, dass neue Ideen Teresa Nentwig  —  Zwischen Aufbruch und Beharrung

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Mangelware sind, ja: Die Konturen eines allgemeinen Projekts, das in der Lage ist, dem Handeln einen Sinn zurückzugeben, die Zukunft zu erhellen, die Erwartungen der Franzosen anzusprechen und Antworten auf die Verän­ derungen in Frankreich und der Welt zu geben, zeichnen sich nicht ab. Den Grund hierfür formulierte Gauchet kurz und knapp: »Warum soll man sich den Kopf zerbrechen, wenn die Linke so geschwächt ist?«11 Doch jetzt, wo François Hollande entschiedener denn je zu sein scheint, noch einmal bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, wird die programmatische Leere umso manifester. Zudem erbt die Partei einen inzwischen auf 69,3 Millionen Euro12 gesenkten Schuldenstand von der UMP, der die Möglichkeiten der Republi­ kaner beim Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 2017 limitieren dürfte. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der »Vielzahl von Clubs und von Thinktanks«13, die in den letzten Jahren ein Kernmerkmal der UMP ge­ wesen sind und vor allem aus sich ideologisch nahestehenden Parlamenta­ riern bestehen, darunter z. B. La Droite forte (»Die starke Rechte«). Obwohl die Parteistatuten seit 2002 die Überführung dieser Gruppierungen in so­ genannte Mouvements, d. h. deren innerparteiliche Institutionalisierung, vor­ sehen, ist diese Bestimmung erst 2012 umgesetzt worden. Doch auf Drängen Sarkozys, der die unterschiedlichen Strömungen Anfang 2015 als »Fermente der Spaltung«14 bezeichnet hat, tauchen die Mouvements in den neuen Par­ teistatuten nicht mehr auf. Ob er auf diese Weise sein Ziel – die Parteieinheit – erreicht, ist zwei­ felhaft. Denn die bürgerliche Rechte ist in Frankreich derart disparat, dass der Versuch, das Eigenleben ihrer Bestandteile abzuwürgen, von vornhe­ rein zum Scheitern verurteilt ist. Traditionalistisch, souveränistisch und etatistisch ausgerichtete Kreise, die der Front National (FN) Paroli bieten können, auf der einen und weltoffene, liberale und moderne Rechte auf der anderen Seite werden auch zukünftig innerhalb der republikanischen Partei um Einfluss kämpfen. Hinzu kommen die diversen écuries présidentielles (wörtlich: »präsidentielle Rennställe« – gemeint sind die Unterstützer von Anwärtern auf das höchste Staatsamt), die ein weiteres Strukturmerkmal sind, welches LR von der UMP übernommen hat. Was es deshalb – neben einem überzeugenden Projekt für das Land – braucht, ist eine »Philoso­ phie«15, die in der Lage ist, die verschiedenen Komponenten der bürgerli­ chen Rechten zu einen. Überdies müssen die Republikaner auch ihr Verhältnis zu anderen Par­ teien des rechten Spektrums klären, in erster Linie zum Zentrum und zur FN. Mit der Zentrumspartei UDI hat es zwar zuletzt erfolgreich Wahlbündnisse gegeben, doch ist die Gefolgschaft nicht gesichert: »Um 2017 zu gewinnen,

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Konservatismus — Analyse

11 

Zit. nach ebd.

12 

Stand Ende Mai 2015.

13 

Haegel, L’UMP, S. 161.

14  Zit. nach Ludovic Vigogne, Sarkozy coupe les courants, in: L’Opinion, 09. 03. 2015. 15  So der konservative Denker Roger Scruton; zit. nach Laetitia Strauch-Bonart, Roger Scruton: »Sarkozy a besoin d’une philo­ sophie«, in: Le Point, 18. 06. 2015.

ist es nicht nur notwendig, dass er [Sarkozy] seine Partei überzeugt, son­ dern auch das rechte Zentrum und einen Teil der zentristisch-linken Wäh­ lerschaft, die von Hollande enttäuscht wurde«, so der Politologe Dominique Reynié.16 Doch gerade indem sich Sarkozy – wie zuletzt – programmatisch sehr weit nach rechts bewegt, riskiert er, die zentristisch orientierten Wähle­ rinnen und Wähler zu verlieren. Diese hatten ihm schon 2012 gefehlt – das Resultat ist bekannt. Ob sich das Zentrum an der Vorwahl der Republikaner beteiligen wird, ist bislang noch offen: Der Vorsitzende des MoDem, François Bayrou, der sich vor dem zweiten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahl für Hollande ausge­ sprochen hatte, hat zwar bereits durchblicken lassen, dass er Alain Juppé bei der Vorwahl unterstützen werde und 2017 wieder als Präsidentschaftskan­ didat antreten würde, sollte Sarkozy die Vorwahl gewinnen. Doch die UDI will erst Anfang 2016 entscheiden, ob sie einen eigenen Kandidaten aufstellt. Ebenfalls als kompliziert erweist sich das Verhältnis der Bürgerlich-Kon­ servativen zur extremen Rechten. Wie gespalten sie in dieser Hinsicht sind, zeigte sich besonders anschaulich bei der Teil-Parlamentswahl im vierten Wahlbezirk des Departements Doubs. Nachdem dort am 1. Februar 2015 zur Überraschung vieler der Kandidat der UMP im ersten Wahlgang den Kan­ didaten der PS und der FN unterlegen gewesen war, stand die UMP vor der Frage, wie sie sich vor dem zweiten Wahlgang positionieren sollte. Von seiner eigenen Partei war erwartet worden, dass sich Nicolas Sarkozy für die Linie des »Weder-noch« (d. h. die Empfehlung, weder die PS noch die FN zu wählen, sondern sich stattdessen zu enthalten oder einen leeren Stimmzettel abzugeben) entscheiden würde, die er schon 2011 bei der Kan­ tonalwahl verfolgt hatte und die anschließend sein Nachfolger als Parteichef, Jean-François Copé, aufgriff. Zunächst äußerte sich Sarkozy jedoch nicht. Andere bekannte UMP-Politiker hingegen positionierten sich unmittelbar nach der Wahlniederlage ihres Kandidaten, darunter die »Nummer zwei« der Partei, Nathalie Kosciusko-Morizet, die betonte: »Wenn ich persönlich vor dieser Entscheidung stehen würde, dann würde ich für den Kandida­ ten stimmen, der gegen die FN antritt.«17 Unter anderem waren es Alain 16  Zit. nach Alexandre Lemarié, Nicolas Sarkozy cherche son cap à droite toute, in: Le Monde, 03. 12. 2014. 17  Zit. nach Jean-Baptiste Garat u. Judith Waintraub, Doubs: l’UMP récuse le »front républi­ cain«, in: Le Figaro, 03. 02. 2015.

Juppé und der ehemalige Staatssekretär für Verkehr, Dominique Bussereau, die sich Kosciusko-Morizet anschlossen. Es gab aber auch zahlreiche füh­ rende Politiker in der UMP, die sich für die Linie des »Weder-noch« aus­ sprachen, darunter François Fillon, Bruno Le Maire und Generalsekretär Laurent Wauquiez. In dieser Situation wollte Nicolas Sarkozy seine Autorität durchsetzen und den Parteichef verkörpern, dem es gelingt, seine politische Familie um eine Teresa Nentwig  —  Zwischen Aufbruch und Beharrung

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gemeinsame Linie herum zu einen. Er versuchte deshalb, einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Positionen herzustellen, indem er zwei Tage nach dem ersten Wahlgang im erweiterten Parteivorstand der UMP über zwei Texte abstimmen ließ. Während der eine den Weg des »Weder-noch« vorschlug, sprach sich der andere Text für die freie Entscheidung der Wäh­ lerinnen und Wähler aus: Stimmabgabe für den sozialistischen Kandidaten, Enthaltung oder Abgabe eines leeren Stimmzettels. Die erste Vorlage wurde u. a. von Bruno Le Maire, Laurent Wauquiez und Jean-François Copé vertreten, die zweite u. a. von Nathalie Kosciusko-Mo­ rizet, Dominique Bussereau, Jean-Pierre Raffarin und – entgegen der ers­ ten Erwartungen – von Nicolas Sarkozy, der allerdings an der Abstimmung selbst nicht teilnahm, zuvor jedoch vor einem Wahlerfolg der FN gewarnt hatte. Nach über zwei Stunden angespannter Debatte erhielt der erste Text 22 und der zweite 19 Stimmen. Damit erlitt Sarkozy mit seinem Weg einer »Synthese zwischen der von Alain Juppé geforderten Stimmabgabe für die PS und dem strikten ›Weder-noch‹ der Parteirechten«18 eine Niederlage. Al­ les in allem hat sich die nationale UMP in dieser Debatte »so zerfleischt wie noch nie«, wie der Politikwissenschaftler Jean-Yves Camus konstatierte,19 und vor allem: ohne dass eine Lösung für die Zukunft gefunden wurde. So haben die Republikaner das Fehlen einer internen Strategie gegenüber der FN von der UMP mitgenommen. Offen ist auch die Frage, ob man sich den Positionen der FN annähern darf. Für Sarkozy ist die Antwort schon lange klar: Bereits seit dem Prä­ sidentschaftswahlkampf 2007 versucht er, Wählerinnen und Wähler der FN anzusprechen, etwa indem er einen harten Kurs in Fragen der Ein­ wanderung und inneren Sicherheit vertritt. 2007 war diese Strategie von Erfolg gekrönt, bei der Präsidentschaftswahl 2012 hingegen nicht. Den­ noch greift Sarkozy auch in seiner Funktion als Vorsitzender der Republi­ kaner Themen der FN auf und macht sich die wachsende Islamophobie in der Gesellschaft zunutze. Ob diese Strategie Erfolg hat? Radikalisiert sich Sarkozy in seinen Positionen zu sehr, dann besteht die Gefahr, dass Teile der republikanischen Wählerschaft der Versuchung nachgeben, das Ori­ ginal, also die FN, der Kopie vorzuziehen. Und dies wohl umso eher, als es in der letzten Zeit zahlreiche sogenannte transfuges (»Überläufer«) von der UMP zur extremen Rechten gegeben hat. Der bekannteste von ihnen ist der 42-jährige Sébastien Chenu, der 2001 Mitbegründer von Gaylib, der Homosexuellen-Vereinigung der UMP, war und sich im Dezember 2014 dem Rassemblement Bleu Marine, also der Sammlungsbewegung von Marine Le Pen, angeschlossen hat.

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18  Matthieu Goar u. Alexandre Lemarié, A l’UMP, l’autorité de M. Sarkozy ne s’impose plus, in: Le Monde, 05. 02. 2015. 19  Jean-Yves Camus, L’UMP doit engager une offensive tous azimuts contre l’extrême droite, in: Le Monde, 11. 02. 2015.

»RECHTSRUCK DER RECHTEN« Regelmäßig gibt es Umfragen und Untersuchungen, die auf einen Rechts­ ruck der bürgerlichen Rechten in Frankreich hindeuten. So hat die jährliche Umfrage »Baromètre d’image du Front national« (etwa: »Image-Barometer der Front national«) im Februar 2015 in mehrerlei Hinsicht die wachsen­ den Sympathien von UMP-Wählerinnen und -Wählern für die FN gezeigt. Zum Beispiel ist der Anteil derjenigen unter ihnen, die lokale Bündnisse mit der FN wünschen, von vierzig Prozent im Jahr 2014 auf fünfzig Prozent im Jahr 2015 gestiegen, ja: 43 (+ 6) Prozent der UMP-Sympathisanten sprechen sich sogar für ein nationales Übereinkommen ihrer Partei mit der FN aus.20 Ein weiteres Indiz für die zunehmende Porosität zwischen Sympathisanten der FN und der UMP lieferte der zweite Wahlgang der angesprochenen TeilParlamentswahl am 8. Februar 2015: Laut einer Untersuchung des Politik­ wissenschaftlers Joël Gombin wählten 49 Prozent derjenigen Wähler, die im ersten Wahlgang für die UMP gestimmt hatten, im zweiten Wahlgang die FN, lediglich 26 Prozent die PS und nur 25 Prozent enthielten sich oder ga­ ben einen leeren Stimmzettel ab.21 20  Vgl. Abel Mestre, Le Front national séduit de plus en plus à droite, in: Le Monde, 17. 02. 2015; TNS Sofres, Baro­ mètre d’image du Front national, Février 2015, S. 2 u. S. 25. 21  Vgl. Arnaud Focraud, Dans le Doubs, un électeur UMP sur deux aurait voté FN, in: leJDD.fr, 13. 02. 2015, URL: http://www.lejdd.fr/Politique/ Legislative-partielle-dans-leDoubs-un-electeur-UMP-surdeux-aurait-vote-FN-717876 [eingesehen am 04. 07. 2015]. 22  So die Politologen Nonna Mayer, Guy Michelat, Vincent Tiberj und Tommaso Vitale; zit. nach Commission nationale consultative des droits de l’hom­ me, La lutte contre le racisme, l’antisémitisme et la xénophobie. Année 2013, Paris 2014, S. 167. 23 

Vgl. ebd.

Daneben deuten auch weitere Entwicklungen auf einen Rechtsschub der Konservativen hin. So hat die Toleranz gegenüber Ausländern seit 2009 all­ gemein stark abgenommen, wobei die Zunahme fremdenfeindlicher Vor­ urteile, der »Ablehnung des ›anderen‹ in all seinen Formen«22 (hauptsächlich von Muslimen, aber auch von Roma) und einer ethnozentristisch-autoritä­ ren Haltung besonders in der bürgerlich-konservativen Wählerschaft wahr­ nehmbar ist.23 Daneben ist es die Familienpolitik der sozialistischen Regierung, die in den letzten Jahren gemäßigt konservative bis offen rechtsextreme Franzo­ sen auf den Plan gerufen hat. So kam es am 13. Januar 2013 in Frankreich zur größten Kundgebung seit 1984: An diesem Tag demonstrierten in Paris zwischen 340.000 (laut Polizeipräfektur) und 1.000.000 (laut Organisato­ ren) Menschen gegen die »Homo-Ehe«. Die Beratung des entsprechenden Gesetzentwurfes im Parlament stand damals kurz bevor; die Gegner woll­ ten deshalb noch einmal all ihre Kräfte mobilisieren. Demonstranten reisten mit Omnibussen und Sonderzügen aus ganz Frankreich an. Weitere Proteste folgten in den Wochen danach. Unter dem Namen Manif pour tous (»Demo für alle«) sind sie in die Geschichte eingegangen und untermauern die These von der droitisation de la droite (»Rechtsruck der Rechten«), von welcher der Professor für Politikwissenschaft Pierre Bréchon spricht.24

24  Siehe Pierre Bréchon, Des électeurs de droite qui se radica­ lisent, in: Le Monde, 08. 04. 2015.

Für die Bürgerlich-Konservativen ist dieser Rechtsruck Fluch und Segen zugleich: Einerseits eröffnet er ihnen neue Wählerschichten; andererseits Teresa Nentwig  —  Zwischen Aufbruch und Beharrung

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besteht die Gefahr, dass ein Teil ihrer Wähler zur FN abwandert, die unter Marine Le Pen konsequent den Weg der »Entdiabolisierung« geht und da­ durch für immer mehr Franzosen wählbar wird. LES RÉPUBLICAINS – QUO VADIS? Eine wichtige Etappe auf dem Weg zurück in den Elysée-Palast stellt für die Republikaner die Regionalwahl im Dezember 2015 dar. Nachdem die UMP bei der Kommunalwahl 2008 und der Regionalwahl 2010 Niederlagen er­ litten hatte, konnte sie zuletzt eine positive Entwicklung für sich verbuchen, zunächst bei der Kommunalwahl im März 2014 und dann bei der Departe­ mentswahl im März 2015, die Sarkozy bereits zu einer Vorrunde der Prä­ sidentschaftswahl gemacht hat. Möglicherweise vollzieht sich derzeit eine ähnliche Entwicklung wie in den 1980er/90er Jahren: Nach dem Regie­ rungswechsel zugunsten der Linken im Jahr 1981 eroberte sich die bürger­ liche Rechte die Macht auf nationaler Ebene über die lokale Ebene zurück. Für die erforderliche Dynamik auf dem Weg zur Übernahme der Präsi­ dentschaft durch den Kandidaten der Republikaner soll vor allem die Vor­ wahl Ende 2016 sorgen. Ob diese tatsächlich zu einem Erfolg wird oder – wie im Sommer 2013 im Vorfeld der Pariser Bürgermeisterwahlen – in einem Desaster endet, hängt von vielen Variablen ab. Florence Haegel hat das »de­ mokratische Defizit« der UMP u. a. daran festgemacht, dass »die Debatten, die Anträge und die öffentlichen Meinungsverschiedenheiten oft im Namen der Angst vor Spaltungen und des Einmütigkeitskults zurückgedrängt wer­ den«25. Derzeit scheint es so, als ob die Republikaner durch die Vorwahl mit dieser Tendenz brechen könnten; denn die schon erklärten wie potenziellen Kandidaten arbeiten z. T. bereits intensiv an ihrem Programm, mit dem sie auf Stimmenfang gehen wollen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es 2016, insbesondere während des eigentlichen Wahlkampfes, zu einer Konfronta­ tion der Programme bzw. einzelner Punkte daraus kommen wird. Es ist aber ebenso nicht ausgeschlossen, dass eine solche Debatte ausbleibt und statt­ dessen persönliche Rivalitäten im Mittelpunkt stehen werden. Interessant wird vor allem sein, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Bruno Le Maire und Nicolas Sarkozy entwickelt. Derzeit sieht es so aus, als ob sich das Duell der beiden um den Parteivorsitz vor der Vorwahl wieder­ holen wird. Anders als François Fillon und Alain Juppé hat Le Maire seine Kandidatur zwar noch nicht offiziell angekündigt – die definitive Entschei­ dung will er erst Anfang 2016 treffen. Gleichwohl bereitet sich Le Maire, der für einen Mitte-Rechts-Kurs steht, intensiv auf die Vorwahl vor. Seine Popu­ larität zeigte sich bei dem Gründungskongress der Republikaner: Selfies mit

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Konservatismus — Analyse

25  Haegel, L’UMP, S. 162.

ihm waren bei Jung und Alt äußerst begehrt; auch die Medien rissen sich um ein Interview mit dem 46-Jährigen; seine Rede schließlich, die er zwar mit Krawatte, aber auch – anders als seine Parteikollegen – mit hochgekrem­ peltem Hemd und ohne Jackett hielt, wurde immer wieder von lauten »Bru­ no«-Rufen unterbrochen. Kein Vergleich zu seinen Konkurrenten Fillon und Juppé, die zu Beginn ihrer Reden sogar ausgebuht worden waren! Einen Mo­ nat nach dem Gründungskongress widmeten zwei große Magazine26 Le Maire 26  L’Express vom 17. 06. 2015 und Le Figaro Magazine vom 20. 06. 2015.

und seinen Präsidentschaftsambitionen zeitgleich eine sehr lange Titelstory, während ein anderes Magazin27 parallel titelte: »La droite contre Sarkozy« (»Die Rechte gegen Sarkozy«). Anlass für diese Schlagzeile war die parteiin­

27  Le Point vom 18. 06. 2015. 28  Lazorthes war von 1995 bis 1997 bei dem damaligen Generalsekretär des ElyséePalasts, Dominique de Villepin, Berater für »Zukunftsfragen«. 29  Zit. nach Gérard Courtois, »Elle n’est pas prête à gouverner«, in: Le Monde culture & idées, 06. 12. 2014 (Interview mit Lazorthes).

terne Kritik an Sarkozy, die im Frühsommer 2015 stark zugenommen hatte. Dennoch dürfte Sarkozy Le Maires größter Konkurrent werden, denn von vielen Parteimitgliedern und Sympathisanten wird der ehemalige Staatsprä­ sident noch immer als eine Art Heilsbringer verehrt. Eine Erklärung hier­ für liefert der Historiker und Essayist Frédéric Lazorthes28: »Die Berufung auf kulturelle oder sogar religiöse Determinanten und die Geltendmachung von ›rechten Werten‹ ersetzen die Fähigkeit, kohärente politische Antworten zu formulieren, durch eine empathische Rhetorik und eine Art identitären Rausch.«29 Ob die Inbesitznahme des Wortes »Republik« für die neue Partei Teresa Nentwig  —  Zwischen Aufbruch und Beharrung

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oder sein Eintreten – im Namen der Laizität – für ein Kopftuchverbot in den Universitäten und die Abschaffung von Ersatzessen für muslimische Kinder, wenn in den Kantinen öffentlicher Schulen Schweinefleisch auf dem Spei­ seplan steht; ob sein Wille, die Werte »Arbeit«, »Verdienst«, »Anstrengung«, »Exzellenz« und »Autorität« zu rehabilitieren, oder seine äußerst scharfe, geradezu aggressive Verurteilung einer Linken, die »mit derart viel Verbis­ senheit« die Schule »zerstört«, die Familie »diskreditiert« und dem »Erbe« Frankreichs »derart viel Verachtung entgegenbringt«30: Sarkozy verkörpert die von Lazorthes beschriebene Haltung wahrlich meisterhaft und zieht da­ mit viele Bürgerlich-Konservative in seinen Bann. Mit diesem Auftreten gehen eine Dehnbarkeit und ein Opportunismus bei allen großen Themen der Zeit einher: Hatte Sarkozy noch 2004 im Na­ men eines »multikulturellen, multiethnischen, multireligiösen«31 Frankreichs das Konzept der Integration verteidigt und das der Assimilation entschieden abgelehnt, so wurde er elf Jahre später zum Verfechter der Assimilierung: »Derjenige, der zu uns kommt, muss sich anpassen, muss unsere Lebens­ weise, unsere Kultur annehmen.«32 Für solche Äußerungen wird Sarkozy von seinen Anhängern frenetisch gefeiert. Doch spätestens wenn Sarkozys Konkurrenten im Kampf um den Sieg bei der Vorwahl ihre Programme präsentieren, könnte sich sein Politikstil als Fall­ beil erweisen. Denn die Parteimitglieder und Sympathisanten werden dann sehen, dass nicht alle republikanischen Spitzenpolitiker von der allgemeinen intellektuellen Trägheit betroffen sind. Möglicherweise liegt genau darin die Chance für einen echten Aufbruch der bürgerlichen Rechten in Frankreich. Jetzt, im Sommer 2015, muss aber (noch) festgehalten werden: Alles in allem sind die Bürgerlich-Konservativen in Frankreich ohne Projekt für ihr Land, zersplittert in zahlreiche, mal mehr moderate, mal klar rechte Zirkel, hin- und hergerissen zwischen dem reaktionären, aber auf Wahlerfolge ab­ zielenden Populismus der FN und dem rechten Zentrum, das seine huma­ nistischen und europäischen Werte nicht aufgeben möchte. Lediglich eine Richtung steht bereits fest: Man will 2017 zurück in den Elysée-Palast.

Dr. Teresa Nentwig, geb. 1982, hat Politik und Französisch in Göttingen und Genf studiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die niedersächsische Landesgeschichte und -politik, die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Frank­ reich sowie Skandale. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeite­ rin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

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30  So Sarkozy in seiner Rede auf dem Gründungs­ kongress von LR. 31  Nicolas Sarkozy, La République, les Religions, I’Espérance, Paris 2004, S. 22. 32  Zit. nach Cécile Chambraud u. Matthieu Goar, L’islam, variable électorale de Sarkozy, in: Le Monde, 04. 06. 2015.

KONSERVATIV SEIN – IST DAS NOCH ZEITGEMÄSS? ERKUNDUNGEN MIT MICHAEL OAKESHOTT ΞΞ Michael Becker

Umfassende politische Theorien und Lehren unterliegen seit geraumer Zeit einer erheblichen Relativierung. Ungefähr seit den 1970er Jahren sehen sich die auf je eigene Weise emanzipatorischen »Erzählungen« des Liberalismus und des Sozialismus, dann aber auch die des Modernismus und der Aufklä­ rung, einer durch die Vorsilbe »Post« angezeigten Entwertung ausgesetzt: »Postliberalismus«, »Postsozialismus«, »Postmodernismus«, »Postsäkularis­ mus«. Im Unterschied zu Theorien der »Postdemokratie«, bei denen reale westliche Demokratien mittels einer weiterhin als gültig erachteten Theorie starker bürgerlicher Partizipation kritisiert werden, soll das »Post« bei den anderen Theorien anzeigen, dass die Alttheorien ihre Zeit nicht mehr auf den Begriff bringen können und ihre Deutungshoheit verloren haben. Merkwürdigerweise scheint der Konservatismus von solchen Veränderun­ gen nicht betroffen zu sein; zumindest ist das Wort »Postkonservatismus« im akademischen Diskurs bislang noch nicht etabliert. Diese Resistenz hängt womöglich mit der Eigenart konservativer Theorien zusammen – sofern man hier überhaupt von Theorien im engeren Sinne sprechen kann. Ein Blick in Programme der ihrem Selbstverständnis zufolge konservativen Parteien bestätigt zunächst, dass sich nicht ohne Weiteres eine klare Agenda des Konservatismus ausmachen lässt. Der britischen Conservative Party etwa geht es um Arbeitsplatzsicherheit und ein ordentliches Auskommen für Fami­ lien; um Freiheit, aber auch um Sicherheit, ein stabiles Wirtschaftssystem mit moderaten Steuern, ein leistungsfähiges Bildungssystem, das Ansehen der Nation in der Welt. Und der deutschen Union der Christsozialen sind Familie und Zusammenhalt, d. h. Solidarität, aber auch Sicherheit und Freiheit wichtig. Beide Parteien weisen programmatische Überschneidungen auf, aber es fehlt letztlich doch die Kohärenz, die man zumindest früher bei Weltanschau­ ungsparteien sozialistischer bzw. sozialdemokratischer oder liberaler Prove­ nienz finden konnte, deren Leitthema (entweder soziale Gerechtigkeit oder in­ dividuelle Freiheit) für eine wahrnehmbare thematische Geschlossenheit sorgte. Zwar hat die Sozialdemokratie in Deutschland und anderswo längst Züge einer Allerweltspartei angenommen; aber die Tatsache, dass die amtierende

INDES, 2015–3, S. 77–83, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Kanzlerin zentrale sozialdemokratische Inhalte problemlos übernehmen konnte, hat nicht nur taktische Gründe, sondern hängt auch mit der programmatischen Offenheit und Flexibilität ihrer konservativen Partei zusammen. Man muss nicht so weit gehen und behaupten, der Konservatismus sei grundsätzlich nicht theoriefähig und verfüge von daher über kein spezifisches Programm, das sich parteipolitisch realisieren ließe. Aber im Vergleich mit dem Liberalismus und dem Sozialismus bzw. deren Säulenheiligen Immanuel Kant, John Stuart Mill und Karl Marx fällt schon auf, dass herausragende Referenztheoretiker des Konservatismus so leicht nicht zu benennen sind. Natürlich lässt sich Edmund Burke anführen, weil der Konservatismus als modernes Phänomen für gewöhnlich mit seiner Kommentierung der Franzö­ sischen Revolution in Verbindung gebracht wird. Mit seinen »Betrachtungen«1 reagierte Burke auf Anstrengungen einiger seiner Landsleute, zentrale Prin­ zipien der revolutionären Neugestaltung von Staat und Politik in Frankreich auch in England zum Durchbruch zu verhelfen. Auf die Forderungen, den König vom Volk sowohl wählen als auch absetzen zu lassen und ihm außer­ dem die Aufgabe zuzuweisen, eine Staatsverfassung zu entwerfen, antwortete Burke, das Königreich verfüge seinerseits über verfassungsähnliche Doku­ mente und über Deklarationen, die zwar nicht die »Rechte des Menschen«, aber immerhin die der Engländer postulierten. Er verwies außerdem auf eine geglückte (»glorious«) Revolution und darauf, dass der englischen Monarchie seitdem eine beachtliche parlamentarische De­ mokratie abgerungen worden war. Das sich schon bald abzeichnende Scheitern der französischen Republik wird ihn darin bestätigt haben, dass funktionie­ rende und legitime staatliche Ordnungen nicht am Reißbrett entworfen werden können. Burkes »Reflexionen« sind geistreich und polemisch, aber man wird sie, wie andere seiner Schriften, nicht als »theoretisch« bezeichnen können. KONSERVATISMUS ALS »DISPOSITION« Von daher ist es vielleicht hilfreich, den Konservatismus zunächst einmal gar nicht unter dem Theorie-Gesichtspunkt zu betrachten und ihn stattdessen als »Disposition«, d. h. als Gesinnung oder Haltung in konkreten geschichtlichen Verhältnissen zu begreifen. Diesen Versuch hat der Engländer Michael Oakes­ hott in den 1950er Jahren unternommen. Oakeshott lässt sich zwar nicht einfach als der Konservatismus-Theoretiker im 20. Jahrhundert bezeichnen; denn dazu ist sein Werk zu komplex und vielschichtig. Gleichwohl hat er den vielbeachte­ ten Aufsatz »On Being Conservative« geschrieben und außerdem, einige Jahre zuvor, mit »Rationalism in Politics« eine vehemente Kritik an einem Übermaß an »konstruktivistischer« politischer Theorie verfasst, was eine Diskussion

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1  Edmund Burke, Betrach­ tungen über die Französische Revolution, Frankfurt a. M. 1967.

seiner Thesen unumgänglich macht, wenn man sich die Frage stellt, was den Konservatismus als eine spezifische Denkhaltung eigentlich auszeichnet.2 Die konservative Gesinnung umfasst nach Oakeshott Folgendes: »[D]as Ver­ traute dem Unbekannten vorziehen, das Erprobte dem Unerprobten, das faktisch Gegebene dem Verborgenen, das Nächstliegende dem Entfernten, das Reale dem Möglichen, das Begrenzte dem Unbegrenzten, das Maß dem Überfluss, das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit einem utopischen Glück.«3 Diese Grundhaltung, die sich auch unter das Motto »Keine Experimente« stellen lässt, tritt nach Oakeshott vorwiegend bei Menschen im höheren Alter auf und ist daher eher kein Jugendphänomen. Junge Leute sind tendenziell experimentierfreudiger (»no risk, no fun«), und diese Unterschiede in den individuellen Haltungen erklärt z. B. die sogenannte »Lebenszyklustheorie« mit einer bei Älteren viel eher als bei Jüngeren anzutreffenden Saturiertheit und Arriviertheit bzw. mit dem Bestreben, vor allem den wirtschaftlichen Status quo nicht aufs Spiel setzen zu wollen – was progressiven Jugendlichen wiederum als borniert erscheint. Aber darauf will Oakeshott nicht hinaus, denn die Bewahrungshaltung der konservativ Gesinnten sei gar nicht primär materialistisch motiviert. LEBENSWELTLICHER KONSERVATISMUS Vielmehr resultiere sie aus so etwas wie einer ontologischen Verfasstheit der Welt, in der auch moderne Menschen leben. Grundsätzlich sei die Lebens­ welt geradezu durchzogen von Bewahrenden einerseits und Bewahrtem an­ dererseits:4 In der sozialen Welt setzten sich Akteure durch Handlungen mit anderen permanent in Beziehung; und in der Freundschaft, als einer beson­ deren Form zwischenmenschlicher Beziehungen, leisteten sie erhebliche An­ strengungen, um sie zu erhalten – auch und gerade dann, wenn es sich nicht um ein nutzenbringendes Verhältnis handelt. Bewahrungsmentalität spiegele sich auch im instrumentellen Handeln: im Werkzeuggebrauch, bei dem archaisch anmutende Hämmer nach wie vor noch gute Dienste leisteten, oder beim Kochen nach altbewährten Rezepten. Außer­ dem kämen auch in sozialen Interaktionen spezifische »Werkzeuge« zum Einsatz, 2  Siehe Michael ­Oakeshott, Rationalism in Politics, Indianapolis 1991. 3  Michael Oakeshott, Konservative Wesensart, in: Ders., Rationalismus in der Politik, Neuwied 1966, S. 180. 4  Vgl. ebd., S. 187 ff.

nämlich Handlungs- und Verhaltensregeln, die zu komplexitätsreduzierenden Routinen quasi verdinglicht werden könnten. Das Festhalten am Hergebrachten gehört für Oakeshott also zum unverzichtbaren Bestandteil menschlicher Praxis. POLITISCHER KONSERVATISMUS Für eine solche lebensweltliche Ontologie spricht sicher einiges, aber was lässt sich daraus für die Politik ableiten? Zunächst gibt es auch auf dem Gebiet Michael Becker  —  Konservativ sein – ist das noch zeitgemäß?

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des Politischen zahlreiche regelhafte Prozeduren, an denen festgehalten wird. Oakeshott erwähnt z. B. die Reglementierung der Parlamentsdebatte in Eng­ land, und man könnte in diesem Zusammenhang auch noch auf das etwas angestaubte Ritual der Parlamentseröffnung verweisen. Das Naturrecht aber, der organische Begriff der Gesellschaft, die durch die Vorsehung bestimmte weltliche Ordnung, der Royalismus – Merkmale, die dem Konservatismus oft zugerechnet werden –: Dies alles ist für ihn dagegen nicht typisch konserva­ tiv. Denn ein solcher Katalog erscheint ihm zu programmatisch und starr; er passt nicht zu der beschriebenen konservativen Haltung, die ja gerade eine inhaltliche Flexibilität erfordert. Mit anderen Worten: Die politische Theorie des Konservatismus geht nicht von einem kontextenthobenen »archimedischen Punkt« aus, sondern vom Hier und Jetzt eines konkreten Gemeinwesens. Dazu gehören Einzelne, die auf verschiedenen Ebenen – familiär, örtlich, regional und national – in diverse, sich teilweise überlappende und einander ergänzende Gemeinschaf­ ten eingebunden sind; die eigene Meinungen vertreten und andere davon zu überzeugen versuchen; Einzelne, die ihre selbstgesteckten Ziele verfol­ gen und deshalb mit anderen kooperieren oder mit ihnen in Konflikt geraten. »Im Großen und Ganzen« sei das »unsere Situation«, an deren Herbeifüh­ rung Unzählige mit ihren individuellen Handlungen beteiligt gewesen seien, ohne dass sie dabei einem umfassenden gemeinsamen Plan gefolgt wären. Die Aufgabe der Politik – d. h. für Oakeshott in diesem Zusammenhang: der »Regierung« – ist es, in diesem Mit-, Neben- und auch Gegeneinander indi­ vidueller Meinungen und Interessen durch allgemeinverbindliche Rechtsre­ geln eine verlässliche Ordnung zu schaffen: »Kurzum, in der konservativen Einstellung zur Regierung kommt die Haltung zur Geltung, die wir gegen­ über Regeln des Verhaltens als angemessen erkannt haben.«5 Der politische Konservatismus erweist sich also als Konservatismus zwei­ ter Stufe, der die Bewahrung von Bewährtem auf der ersten Stufe der Hand­ lungsregeln als seine Aufgabe betrachtet. Darüber hinaus zeigt sich zumindest an dieser Stelle, dass sich konservative Positionen auch liberalen Auffassun­ gen erstaunlich weit annähern können (und umgekehrt): Denn Oakeshotts Skizze des Ausgangspunktes konservativer Politiktheorie lässt sich durchaus als Vorwegnahme von Hayeks »spontaner Ordnung« verstehen – einer Ord­ nung, die sich aus freien, ungeplanten Interaktionen vieler einzelner unter gleichzeitiger Achtung des staatlichen Rechts ergibt.6 Genauso wie der konservative Denker vor revolutionären Neuentwürfen zur »Rettung der Gesellschaft« zurückschreckt, so verliert das »konservative Temperament« im Allgemeinen nicht den Kontakt zur Realität: »Der Mensch

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Konservatismus — Analyse

5  Oakeshott, K ­ onservative Wesensart, S. 199. 6  Siehe Friedrich A. von Hayek, Arten der Ord­ nung, in: Ders., Freiburger Studien, Tübingen 1994.

konservativer Prägung gibt etwas, was ihm vertraut ist und gut erscheint, nicht gern für ein unbekanntes Besseres hin. Er ist nicht in Gefahr oder Schwierig­ keiten verliebt […] Zwingt man ihn zur Fahrt auf unbekannten Gewässern, so hält er es für richtig, jeden Zentimeter des Weges auszuloten. Was andere plausiblerweise als Ängstlichkeit ansehen, ist für ihn nüchterne Klugheit. An­ dere mögen seine Haltung als Untätigkeit interpretieren.«7 Ein überzeugter Konservativer hat also durchaus Gründe, bei der Einführung weitreichender Neuerungen zu zögern; wobei zu ergänzen ist, dass diese Haltung jederzeit auch »ausgebeutet« werden kann, weil Zauderern und Opportunisten so im­ mer der Weg offenbleibt, sich als konservativ auszugeben. Zur Vervollständigung des Bildes vom Konservativen und seinem Denken müssen noch seine geistigen Gegner in ihrer idealtypischen Ausprägung bei Oakeshott berücksichtigt werden, vor allem der Rationalist. Die rationalistische Grundhaltung äußere sich in einer »Feindschaft« zu allem, was mit Autorität, Vorurteil, Gewohnheit, kurz: mit dem Überlieferten zu tun hat. Dies alles könne bezweifelt, hinterfragt und vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden. Die Einstellung des Rationalisten sei die des Problemlösers. Politik werde daher aus der Perspektive des Technikers betrieben, für den nur perfekte Lösungen akzeptabel seien. Machiavelli habe als erster eine Technik der Macht entwor­ fen (bezeichnenderweise für Fürsten, die über keine politische Erfahrung ver­ fügten), und mit Francis Bacon und René Descartes habe ein methodisch dis­ zipliniertes, auf »Gewissheit« abzielendes Denken seinen Siegeszug angetreten, das alles nicht mit dem Technikideal übereinstimmende Praxiswissen entwerte. In diesen Punkten stimmt Oakeshott durchaus überein mit Arendts »Vita activa« oder Horkheimers »Kritik der instrumentellen Vernunft«; generell empfiehlt er, Politik wieder als »praktische Philosophie« zu verstehen. Weil Politik mit dem Beginn der Neuzeit zunehmend von sozial aufsteigenden Schichten betrieben worden sei, die keine im wörtlichen Sinn »traditionelle« politische Erziehung genossen hätten, habe man einen Ausweg darin gesehen, die normativen Gehalte der Tradition in Prinzipienform zu bringen, diese dann aus ihrer geschichtlichen Gewordenheit herauszulösen und in der (mensch­ lichen) Natur zu verankern. Danach habe man sich das prinzipielle Wissen auch ohne eine klassische politische Erziehung intellektuell aneignen können. Man muss sich dieser Ad-hoc-Erklärung zur Entstehung des neuzeit­ lichen Politikdenkens nicht unbedingt anschließen; und ganz sicher über­ 7 

Oakeshott, Konserva­ tive Wesensart, S. 183.

8  Siehe Oakeshott, Ratio­ nalism in Politics, S. 11.

zieht O ­ akeshott, wenn er, ähnlich wie Burke 150 Jahre vor ihm, schreibt, der Gedanke der Gründung einer Gesellschaft auf dem Fundament der Menschen­ rechte könne nur der »rationalistischen« Denkweise entspringen.8 Bei dem Ver­ such, die bewährte norm- und werthaltige Praxis gegenüber den vermeintlich Michael Becker  —  Konservativ sein – ist das noch zeitgemäß?

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blutleeren und unerprobten Entwürfen der Rationalisten in Schutz zu neh­ men, übersieht er die bei allen Fragen der gesellschaftlichen Veränderung – auch bei dem von ihm sogenannten »Verfolgen von Andeutungen« (»pursuit of intimations«) – unentbehrliche Orientierungsfunktion politischer Theorien. Wie man beides, eine umfassende politische Theorie einerseits und eine existierende Praxis (zumindest die »wohlüberlegten Urteile« über sie) an­ dererseits, zusammendenken und womöglich auch zur Übereinstimmung bringen kann, zeigt das von Rawls verwendete Verfahren des »Überlegungs­ gleichgewichts«9: Eine politische Theorie mit gut begründeter Prinzipienbasis erläutert die realen, gut durchdachten politischen Auffassungen von Bürgern, und deren Urteile stützen wiederum die Theorie. KONSERVATISMUS, HOMO-EHE UND FAMILIE Ein Beispiel, an dem sich konservatives Denken veranschaulichen lässt, ist die aktuelle Diskussion um die »Homo-Ehe« sowie die daraus womöglich entstehenden Folgen. G. W. F. Hegel, weithin als konservativer Denker ange­ sehen, hat die Idee der Ehe einmal als ein sittliches Verhältnis begriffen, in dem sich zwei Personen durch Neigung zugetan sind und dies auch durch die freie Einwilligung bestätigen, zukünftig »eine Person auszumachen«, also einen Ehevertrag zu schließen. In der Ehe manifestiere sich eine »rechtlich sittliche Liebe«, bei welcher »der natürliche Trieb zur Modalität eines Natur­ moments […] herabgesetzt wird, das geistige Band in seinem Rechte als das Substantielle […] an sich Unauflösliche sich heraushebt«.10 Hegels eigene Kommentierungen lassen keinen Zweifel daran, dass er selbst die Ehe als ein aus sittlicher Pflicht bestehendes Verhältnis von Mann und Frau begreift; an einer Stelle spricht er z. B. von der »äußerlichen Einheit der natürlichen Geschlechter«. Gleichwohl spricht nichts dagegen, die von ihm rekonstruierte Idee der Ehe auch auf gleichgeschlechtliche Paare auszu­ dehnen: An allen Stellen, an denen von den »beiden Personen« gesprochen wird, die eine Ehe eingehen können, ist dies jedenfalls problemlos möglich. Die Katholische Kirche mag darin zwar, wie jüngst geäußert, »ein wenig eine Niederlage der Menschheit« erblicken; aber die Philosophen-Idee der Ehe steht auch einer Verbindung zweier Partner desselben Geschlechts nicht im Wege. Eine solche Liberalisierung könnten auch Konservative durch das bereits erwähnte »Verfolgen von Andeutungen«, die in gesellschaftlichen In­ stitutionen enthalten sind, befürworten. Das wäre dann sozusagen der kon­ servative Weg der gesellschaftlichen Modernisierung. Anders verhält es sich mit der Erweiterung sowohl der homosexuellen als auch der heterosexuellen, ungewollt kinderlos gebliebenen Ehe zu einer

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Konservatismus — Analyse

9  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frank­ furt a. M. 1979, S. 68 ff. 10  G. W. F. Hegel, Grund­ linien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1970, S. 310 u. S. 313.

Familie. Dies wird oft nicht ohne Verfahren der Reproduktionsmedizin bzw. »Leihmutterschaft« möglich sein; und deshalb stellt sich hier die grundsätzli­ che Frage, ob allein der Kinderwunsch der Ehepartner ausschlaggebend sein soll. Reproduktionsmedizinische Verfahren haben z. T. erhebliche gesundheit­ liche oder soziale Folgen für die an ihnen beteiligten oder aus ihnen hervor­ gehenden Personen. Hegels Idee der Familie besagt zudem, dass Kinder eine Veranschaulichung der Einheit der Ehepartner darstellen, oder, wie es in die­ sem Zusammenhang auch einmal hieß, die »Mitte« zwischen den Eheleuten. Aus konservativer Sicht wäre daher die unbegrenzte (liberalisierte) Zuläs­ sigkeit reproduktionsmedizinischer Verfahren bei der Gründung von Familien als problematisch zu betrachten, weil dann Kinder, biologisch gesehen, als »Mitte« zwischen drei Personen (den Ehepartnern und einer weiteren, »spen­ denden« bzw. »austragenden« Person) anzusehen wären, die unter sozialem Gesichtspunkt nicht unbedingt zusammengehören und sich noch nicht einmal kennen müssen. Bei der Frage, ob die bestehenden rechtlichen Regelungen, die der Leihmutterschaft z. B. in Deutschland entgegenstehen, geändert, d. h. gelockert oder ganz aufgehoben, werden sollten, scheinen die Konservativen mit ihrer diesbezüglichen »Modernisierungsverweigerung« zurzeit noch in der Mehrheit zu sein. Die Entwicklung auf dem Gebiet der Reproduktions­ medizin legt aber auch die Vermutung nahe, dass einmal verlorenes (kon­ servatives) Terrain – in diesem Fall: restriktivere Regelungen – schwerlich wiederzuerlangen sein wird. KONSERVATISMUS ALS ZEITGEMÄSSE HALTUNG »Konservatismus«, so lässt sich mit Oakeshott resümieren, meint jene Hal­ tung, die sich dem Bestandsschutz von bewährten gesellschaftlichen Institu­ tionen und Verhaltensweisen verschrieben hat. Dabei wird unterstellt, dass sich diese Bewährtheit näher bestimmen lässt und Konservative nicht ledig­ lich als Befürworter autoritärer Strukturen oder als Reaktionäre auftreten. Obwohl er ideologischen Großprojekten wie dem Liberalismus und erst recht dem Sozialismus skeptisch gegenübersteht, muss er einräumen, dass sich bei ihnen Maßstäbe legitimer Ordnungen finden lassen: also etwa gleich­ große Grundfreiheiten oder nicht entfremdete zwischenmenschliche Be­ ziehungen. Werden solche Ideen z. B. im Rahmen von Verfassungsstaaten implementiert und erhalten öffentliche Anerkennung, dann wäre das »Ver­ nünftige« durchaus »wirklich« geworden und Konservative könnten ihre Be­ Dr. Michael Becker, geb. 1958, ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft und Soziolo­ gie an der Universität Würzburg.

wahrungs-Arbeit leisten. So gesehen ist Konservatismus auch im liberalen Westen durchaus zeit­ gemäß. Michael Becker  —  Konservativ sein – ist das noch zeitgemäß?

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»ERKENNE DIE LAGE!« ÜBER DIE RECHTSPOPULISTISCHE VERSUCHUNG DES BUNDESDEUTSCHEN KONSERVATISMUS ΞΞ Karin Priester

Altbundeskanzler Konrad Adenauer wird gern mit dem Satz zitiert: »Kinder kriegen die Leute immer«. Er hat es in zwei Ehen auf acht Sprösslinge ge­ bracht und stammt selbst aus einer Familie mit fünf Kindern. Weniger be­ kannt sind dagegen seine erfinderischen Leistungen, darunter ein batterie­ betriebenes, von innen beleuchtetes Stopfei für löchrige Socken: »Gestopft wird immer.« Für den rheinischen Katholiken gehörte das generative Verhal­ ten ebenso zur unhinterfragbaren Tradition wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung; denn das beleuchtete Stopfei hat er zwar erfunden, aber als Mann natürlich nicht benutzt. Dieser Traditionalismus ist, in der Unterscheidung von Karl Mannheim,1 noch kein Konservatismus; aber er ist der Humus, auf dem dieser gedeiht. Erst wenn Traditionen brüchig werden und ihre Bindekraft verlieren, schlägt die Stunde des Konservatismus: »Als politische Kraft, als Ideologie und schließlich als organisierte Partei setzt [er] die Erfahrung dynamisierter Geschichte voraus. Das heißt: Es muss ein Wandel sichtbar geworden sein, der in gerichteter Weise die Lebensordnungen transformiert, und zwar nicht zuletzt unter dem Druck einer Philosophie, die die so geöffnete Zukunft vor Gegenwart und Vergangenheit normativ auszeichnet.«2 Konservatismus lässt sich daher nicht inhaltlich, sondern nur relational als retardierende Erwiderung auf Modernisierungsschübe definieren. Hierin eng mit dem Populismus verwandt, ist er nicht primär Aktion, sondern Reaktion auf zwei elementare Herausforderungen: raschen, von oben induzierten ge­ sellschaftlichen Wandel sowie Statusverlust und kulturelle Entwertung. Wenn aber die destruktiven Folgen von Modernisierung so weit gediehen sind, dass nichts mehr aufzuhalten ist, kann er auch revolutionär werden und die Neuschaffung tradierungswürdiger Strukturen und Institutionen anstreben. War der soziale Träger des Konservatismus im 18. und teilweise noch im 19. Jahrhundert der grundbesitzende Adel, so haben sich Konservative der Hegemonie des Bürgertums angepasst. Ursprünglich keineswegs national

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INDES, 2015–3, S. 84–92, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

1  Vgl. Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1984. 2  Hermann Lübbe, Fort­ schrittsreaktionen. Über kon­­servative und destruktive Modernität, Graz 1987, S. 13.

eingestellt, haben sie nolens volens den bürgerlichen Nationalstaat akzep­ tiert und Front gemacht gegen Liberale und Linke. Auf die Frage, was bei so viel Flexibilität noch unverwechselbar konserva­ tiv genannt werden könne, verweisen Konservative auf die Transzendenz. Der Jungkonservative Albrecht Erich Günther definierte 1931: »Das Konservative ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern […] ein Leben aus dem, was immer gilt.«3 Dieses »immer Gültige« beruht auf vier Glaubensartikeln: Skeptizismus, menschliche Unvollkommenheit, pessimistisches Menschenbild und von Gott oder der Natur gewollte Rangunterschiede unter den Menschen. Seit Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution lehnen Kon­ servative einen raschen, nicht evolutionär aus dem Fluss der Geschichte her­ vorgehenden Wandel ab. Ihre Präferenz gilt dem »organisch« Gewachsenen, nicht dem rational Geplanten und Gemachten. Es gelte, schreibt der Publi­ zist Alexander Gauland, heute Exponent des konservativen Flügels der Al­ ternative für Deutschland (AfD), die Geschwindigkeit der technischen und gesellschaftlichen Veränderung zu drosseln. »Stärker noch als Ungerechtig­ keit quält uns das Tempo der Veränderung.«4 Auch wenn der konservative Soziologe Arnold Gehlen glaubte, seine In­ stitutionenlehre aus der Instinktunsicherheit des Menschen ableiten zu kön­ nen, gehört eine anthropologische Fundierung nicht zu den unverzichtbaren Merkmalen von Konservatismus. Der britische Philosoph Michael Oakeshott 3  Albrecht Erich Günther, Wandlungen der sozialen und politischen Weltanschau­ ung des Mittelstandes, in: Der Ring, Jg. 4 (1931) H. 22, S. 408–410, hier S. 409. 4  Alexander Gauland, Anleitung zum Konservativ­ sein, München 2002, S. 8.

definiert Konservatismus vielmehr als eine psychische Disposition, eine Hal­ tung neben anderen: »[…] die konservative Haltung entspricht dem Menschen, der genau weiß, dass er etwas zu verlieren hat, an dem er sehr hängt; und das ist ein Mensch, dem bis zu einem bestimmten Grade vielfältige Möglichkeiten des Lebensgenusses zu Gebote stehen, die aber doch wiederum nicht in solcher Fülle vorhanden sind, dass ihn der Verlust unberührt ließe.«5

5  Michael Oakeshott, On Being Conservative (1956), dt. Konservative Wesensart, in: Ders., Rationalismus in der Politik, Neuwied 1966, S. 179–206, hier S. 180. 6  Vgl. ebd., S. 183. Zu Oakeshotts politischen Optionen vgl. Perry Anderson, Die eiserne Rechte am Ende des Jahrhun­ derts. Über Michael Oakeshott, Carl Schmitt, Leo Strauss und Friedrich von Hayek, in: Frei­ beuter, H. 55/1993, S. 7–37.

Lange vor dem jüngst verstorbenen konservativen Philosophen Odo Mar­ quard hat Oakeshott auch die »Beweislastumkehr« gefordert. Die Last des Beweises, dass eine Veränderung besser als die Bewahrung des Bestehenden sei, liege nicht beim Bewahrer, sondern beim Veränderer.6 Mit dem Abklingen der Fortschritts- und Emanzipationseuphorie der 1970er Jahre hat konservatives Gedankengut Einzug in den kulturellen Mainstream gehalten. Dieser Wandel des Zeitgeistes wurde deutlich, als der Linke Er­ hard Eppler zu Beginn der 1980er Jahre zwischen einem positiven Wert­ konservatismus und einem negativen Strukturkonservatismus unterschied. Karin Priester  —  »Erkenne die Lage!«

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Fortschrittskritik, Kritik an der Aufklärung, Bewahrung der natürlichen Le­ bensgrundlagen, Kulturkritik an der Konsumgesellschaft, ästhetische Kritik an der Massenkultur, ja selbst das Nationale sind nicht mehr ausschließlich rechts besetzt.7 Klaus von Beyme unterscheidet fünf Gruppierungen innerhalb des konservati­ ven Spektrums: erstens »Status-quo-ante Konservative«, die nach der Französi­ schen Revolution eine Rückkehr zum monarchischen Absolutismus anstrebten; zweitens »Status-quo-Konservative«, drittens die »Konservativen Revolutio­ näre«, die in der angelsächsischen Literatur »radikale Konservative« genannt werden, und viertens die »christlichen und christlich-sozialen Konservativen«; fünftens schließlich die meist anglophilen »Reformkonservativen« mit ihrem Ahnherrn Edmund Burke, zu denen auch der AfD-Politiker Alexander Gauland gehört. Letzteren gelten Vielfalt, Dezentralisierung und Föderalismus als die wichtigsten Widerlager gegen Uniformität, Nivellierung und die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse«8. Widerlager sind gewissermaßen die Wellenbrecher im »Katarakt des Fortschritts« (Hans Freyer) oder die »Aufhalter« Carl Schmitts.9 Nach 1945 war der deutsche Konservatismus diskreditiert. Er galt nicht nur als Steigbügelhalter des Nationalsozialismus, sondern verströmte auch den Hautgout des Abgelebten und Ranzigen. Indessen hat er immer schon mit Umorientierungen und Neuausrichtungen gelebt und sich auf neue Ge­ gebenheiten eingestellt. In den 1960er Jahren stand seine Versöhnung mit der Industriegesellschaft an, die von den Vertretern des sogenannten Neokonser­ vatismus – namentlich von Arnold Gehlen, Erich Forsthoff, Hans Freyer und Helmut Schelsky – propagiert wurde. Das von »Sachzwängen« beherrschte 10

7  Näher dazu: Karin Priester, Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M. 2012, S. 207–225. 8  Alexander Gauland, Was ist Konservativismus? Frankfurt a. M. 1991, S. 53.

technokratische System entmachte Politik zugunsten reiner Verwaltung und mache Ideologien im stationären Zustand des »post-histoire« (Arnold Gehlen) obsolet. Was als Lageanalyse präsentiert wurde, war aber zugleich ein nor­ matives Plädoyer für einen Soll-Zustand. Expertokratie sollte sein, weil sie de­ mokratischen Entscheidungsfindungen jede Legitimationsgrundlage entzog. Gleichwohl verstanden sich die Neokonservativen als Liberale. Hermann Lübbe, einer ihrer Wortführer, dekretierte: »Konservativ, das heißt liberal«11. Und li­ beral hieß Verteidigung des Rechtsstaats gegen die Ausweitung demokrati­ scher Partizipation, freies gegen imperatives Mandat, Burke gegen Rousseau. Auch die CDU, die nie eine genuin konservative Partei gewesen ist, hat sich auf den Boden eines liberalen Konservatismus in Verbindung mit dem christ­ lichen Menschenbild gestellt. Es gibt, so Andreas Rödder, keinen grundle­ genden Unterschied zwischen dem konservativen und dem christlichen

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Konservatismus — Analyse

9  Vgl. Klaus von Beyme, Kon­ servatismus. Theorien des Kon­ servatismus und Rechtsextremis­ mus im Zeitalter der Ideologien 1789–1945, Wiesbaden 2013, S. 11. 10  Zum Wandel des Konser­ vatismus und zum technokrati­ schen Neokonservatismus vgl. Hans-Jürgen Puhle, Konservatis­ mus und Neo-Konservatismus: deutsche Entwicklungslinien seit 1945, in: Rainer Eisfeld u. Ingo Müller (Hg.), Gegen Barbarei. Essays Robert M. W. Kempner zu Ehren, Frankfurt a. M. 1989, S. 399–423. 11 

Lübbe, S. 36.

Menschenbild.12 Dieses Amalgam manifestiert sich in der Kritik am »Mach­ barkeitswahn« (Volker Kauder), in der Orientierung an »Maß und Mitte«, im Subsidiaritätsprinzip, in der Stärkung der Zivilgesellschaft, in der Berufung auf den erfahrungsgestützten Common Sense mit seiner »allgemein verbind­ liche[n] Vorstellung von ›falsch‹ und ›richtig‹«13 gegen rationalistisch-deduk­ tives Denken, in der behutsamen Verbesserung des Bestehenden. Auch der liberalkonservative Historiker Paul Nolte tritt als Anwalt einer neuen »Ethik der Behutsamkeit« auf.14 Bis zur Hegemonie des Neoliberalismus ab den 1970er Jahren und dem durch die Globalisierung ausgelösten Modernisierungsdruck fühlten sich Konservative von der CDU repräsentiert, in Bayern von der CSU. Mit der Forcierung der europäischen Einigung unter neoliberalem Vorzeichen hat die CDU indessen einen Modernisierungs- und Liberalisierungskurs ein­ geschlagen, den Konservative in ihren Reihen als »Sozialdemokratisierung« wahrnehmen und mit Loyalitätsaufkündigung quittieren. Rechts davon stehen jungkonservative, zur konservativ-revolutionären Familie zählende Gruppierungen, die aber nicht dem rechtsextremen Spek­ trum, vertreten durch die NPD und die inzwischen aufgelöste DVU, zuge­ rechnet werden können. Sie firmieren unter der Bezeichnung »Neue Rechte« und verstehen sich als metapolitische Gegenöffentlichkeit ohne direkte Ein­ flussnahme auf die Parteipolitik. Zu den umtriebigsten Exponenten der Neuen Rechten gehört die »EinMann-Kaserne« Götz Kubitschek. Er und seine Frau, die Journalistin Ellen Kositza, haben nach der Wende auf dem Rittergut von Schnellroda (SachsenAnhalt) ein Institut (Institut für Staatspolitik), einen Verlag (Antaios-Verlag) und eine Zeitschrift (Sezession) gegründet und stehen überdies dem rechts­ konservativen Organ Junge Freiheit nahe. Aber der Reserveoffizier Kubitschek ist nicht nur Intellektueller, sondern auch Tatmensch. 2008 gründete er die 12  Vgl. Andreas Rödder, Was heißt heute konservativ?, in: Die politische Meinung, Teil I, Jg. 53 (2008) H. 465, S. 29–33 und Teil II, Jg. 53 (2008) H. 466, S. 59–63. 13 

Ebd., Teil II, S. 60.

Konservativ-Subversive Aktion ( KSA) und schritt mit einigen Jungmannen zur Tat: hier die Störung einer unliebsamen Veranstaltung, dort ein subversives Go-In mit Vertretern der rechten Zeitschrift Blaue Narzisse – folgenloser Ta­ tendrang mit dem Charme studentischer Happenings und weit entfernt vom subkulturell geprägten, nationalrevolutionären Aktivismus des neofaschis­ tischen CasaPound-Netzwerks in Italien, das die Blaue Narzisse mit interes­ sierter Berichterstattung würdigt.

14  Vgl. Paul Nolte, Kon­ servatismus in Deutschland. Geschichte – und Zukunft?, in: Ders., Generation Reform. Jen­ seits der blockierten Republik, München 2005, S. 200–232.

Nach dem unverhofft großen und raschen Erfolg der AfD wittern e­ tliche Neurechte inzwischen Morgenluft. Soll man diese Chance zur politischen Intervention ungenutzt verstreichen lassen und weiter im Elfenbeinturm der Metapolitik verharren oder soll man sich, auch um den Preis kosmeti­scher Karin Priester  —  »Erkenne die Lage!«

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Abtönungen und rhetorischer Konzessionen, auf die Tagespolitik ein­l assen und als Koalitionspartner der CDU einen rechten Bürger­block an­s teuern? Der Historiker Karlheinz Weißmann, einer der namhaftesten Publizisten der Neuen Rechten, zeigt strategischen Weitblick. Es gelte, die Kröte des Populismus zu schlucken und das heroische Lebensideal bis zur Wieder­ verwendung im Ordner für unerledigte Fälle abzulegen. Noch 2009 hatte Weißmann in der Sezession einen »konservativen Katechismus« veröffent­ licht. Mit Carl Schmitt rief er dazu auf, sich auf »den wirklichen Fall, den Ernstfall«, die »eigentliche Auseinandersetzung«, die »klare Entscheidung« vorzubereiten.15 Abzulehnen seien alle Kompromissformeln wie Liberal­ konservative, Kulturkonservative, Wertkonservative oder Freiheitlich-Kon­ servative. Die Linke, natürlich nur die Ernstfall-Linke, gilt als ebenbürtiger Gegner; die Mitte wird dagegen mit Verachtung gestraft: »Das juste-milieu ist immer unselbständig, zu feige, eine Richtung einzuschlagen, es folgt dem, was links oder rechts vorgegeben wird.«16 Konservative seien heute zwar eine Minderheit, aber Geschichte werde immer von entschlossenen Minderheiten gemacht. Den konservativen Revolutionär erkennt man daran, dass er in seine Texte mindestens einmal den Imperativ »Erkenne die Lage!« einfließen lässt.17 Weißmann hat also die Lage erkannt. Ohne Massenmobilisierung bleibt die Neue Rechte ein Nachtschattengewächs. Das Gebot der Stunde lautet: stra­ tegische Umorientierung von der »entschlossenen Minderheit« zur »verdros­ senen Mehrheit«. Erteilte der Rechtskonservative gestern noch der Volkssouveränität eine klare Absage, setzt er sie heute als Waffe für den »Umbau« des Parteiensys­ tems und langfristig für den »Umbau« des Staates ein. »Subversion« und »Ernstfall« werden vorerst aus dem Vokabular gestrichen; das könnte die bürgerliche Klientel – 2009 noch das »feige« Justemilieu genannt – verschre­ cken. Auch die aristokratische Attitüde eines Oswald Spengler wirkt nicht mehr zeitgemäß; seriös-bürgerlicher Habitus ist gefragt. Weißmann fühlt

15  Karlheinz Weißmann, Der konservative ­Katechismus, in: Sezession, H. 29/2009, S. 34–36, hier S. 36.

sich zur britischen United Kingdom Independence Party ( UKIP) hingezogen, deren Seriosität und Vertrauenswürdigkeit der AfD in nichts nachstehe. Bei den jüngsten Parlamentswahlen vom Mai 2015 haben die Briten der UKIP indessen eine Abfuhr erteilt. Die AfD ist als Alternative zur Europapolitik der »politischen Klasse« ange­ treten. Das Versprechen einer inhaltsleeren Alternative ohne konsistentes Programm in allen nicht Euro-relevanten Politikfeldern erklärt den Erfolg die­ ser neuen Partei, fördert aber zugleich den bandwagon effect. Wo der Wagen

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Konservatismus — Analyse

16 

Ebd.

17  Nicht jedes eherne Diktum stammt von Carl Schmitt, auch wenn die Neue Rechte sich gern auf ihn beruft. Dieses hier stammt von Gottfried Benn, Erkenne die Lage!, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Prosa 2 (1933–1945), hg. von Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn, Stuttgart 1989, S. 362 f.

Fahrt aufnimmt, springen viele auf, die bisher am rechten Rand eher erfolg­ los waren: die gedankenreiche, aber tatenarme Neue Rechte, die Partei Die Freiheit des ehemaligen CDU-Mitglieds René Stadtkewitz, lokale Gruppen der PRO-Partei, ehemalige Schill-Anhänger oder Republikaner. Auch partei­ intern melden sich rechte Stimmen mit der Patriotischen Plattform (2014) oder der »Erfurter Erklärung« (2015) zu Wort. Sie verstehen sich in der Tradition der Weimarer DNVP als nationalkonservativ. Unter diesem Etikett kann so manches völkische Süppchen wieder aufgewärmt und der Antimodernismus in der Familien- und Geschlechterpolitik gepflegt werden. Einen – zumindest für die AfD – neuen Ton schlägt dagegen ein Philo­ soph an, der die Debatte ins Klassenkämpferische wendet und mit der AfD Großes vorhat. Im Januar 2014 erschien in der Zeitschrift Cicero das so­ genannte »AfD-Manifest« von Marc Jongen. Jongen, Philosophiedozent in Karlsruhe und stellvertretender Sprecher der AfD in Baden-Württemberg, schafft es, in einem knappen Artikel vier der genannten Ausprägungen des Konservatismus zu einer Synthese zu vereinen: den Status-quo-ante-Konser­ vatismus, den Status-quo-Konservatismus, den Reformkonservatismus und die Konservative Revolution. Sie bilden das Planquadrat der »Anschauungs­ weise« (!) der AfD, die »vor der ganzen Welt offen dargelegt« werden soll.18 Eine Nummer kleiner wäre Verrat an der Sache – ist die AfD aus Jongens Sicht doch zu Höherem berufen. Sie habe eine »historische Mission« zu er­ füllen, mindestens in Europa. Jongen definiert: »Genuin liberal zu sein, heißt heute, konservativ zu sein. Zuweilen sogar reaktionär.« Restauration des Status quo ante lautet das erste Gebot: Rückkehr zu den Maastrichter Verträgen und, wenn nötig, zur nationalen Währung. Den Status-quo-Konservatismus bedient Jongen mit Sprach- und Familienpolitik: Tradierung der heterosexuellen bürgerli­ chen Familie und der deutschen Sprache, die durch das Englische der Global Player bedroht sei. Die reformkonservativ-liberale Facette betont dagegen die Förderung von echtem Bürgersinn und Meritokratie, also nicht nur so­ zialer Aufstieg durch Verdienst und Leistung, sondern Herrschaft der Bes­ 18  Marc Jongen, Das Märchen vom Gespenst der AfD, in: Cicero online, 22. 01. 2014, URL: http:// www.cicero.de/berliner-republik/ afd-ein-manifest-fuer-einealternative-fuer-europa/56894 [eingesehen am 23. 06. 2015]. Die nachfolgend in Anführungs­ zeichen gesetzten Begriffe oder Wendungen beziehen sich auf diesen Text und werden nicht eigens als Zitate ausgewiesen.

ten. Von hier lässt sich bei Bedarf eine Brücke zum technokratischen Neo­ konservatismus der 1960er Jahre schlagen; vor allem aber lassen sich die Parteienherrschaft und der Parlamentarismus diskreditieren. Zentral ist für Jongen jedoch der Kerngedanke der Konservativen Revolution: Das Zerstö­ rungswerk der Moderne sei auf graduellem Wege nicht mehr aufzuhalten. Der Zug der Zeit fahre nicht nur zu schnell, sondern auch in die falsche Richtung. Nun gelte es, tradierungswürdige Zustände neu zu schaffen, und zwar durch Revolution: Karin Priester  —  »Erkenne die Lage!«

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»Die bürgerliche Mitte ist heute […] die eigentlich revolutionäre Klasse. Der Endzweck dieser Revolution ist freilich nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern die Wiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft und der Souveränität des Volkes.« Wo aber der Ernstfall bereits eingetreten ist, muss der Konservative seinen »organischen Standpunkt« (Arthur Moeller van den Bruck), seinen gradualis­ tischen »konservativen Reformismus« (Alexander Gauland) aufgeben und den Lauf der Geschichte umkehren. Er tritt nicht mehr als Entschleuniger, son­ dern als Beschleuniger der Umkehr zu einer rückwärtsgewandten Utopie auf. Wo diese Utopie liegt, ist historisch variabel, aber die Rückkehr zu einem Goldenen Zeitalter gehört zu den Kerngedanken auch eines ansonsten ideo­ logisch dürftigen Populismus. Heutige Populisten, auch linke, haben dabei etwa in Deutschland den »rheinischen Kapitalismus«, in Frankreich die »drei­ ßig glorreichen Jahre« (les trente glorieuses) zwischen 1945 und der ersten Ölkrise 1974 vor Augen, als Vollbeschäftigung herrschte, Immigranten noch Gastarbeiter hießen, ein höherer Lebensstandard erreicht wurde und die europäische Idee auf ein Europa der Vaterländer begrenzt war. Die Frage, ob diese vermeintlich so goldenen Jahre nicht an den Wiederaufbau der Nach­ kriegszeit geknüpft waren und ökonomisch eine Ausnahme von der (kapita­ listischen) Regel darstellten, wird dagegen nicht aufgeworfen. Während Liberalkonservative wie Paul Nolte populistischen Parolen eine ent­ schiedene Absage erteilen, hat Jongen deren massenmobilisierendes Poten­ zial erkannt. Seine liberal-konservativ-reaktionär-revolutionäre Vision setzt auf den Populismus. Nur so kann der Konservatismus massenkompatibel werden. Wo liegt nun das Populistische? Es zeigt sich vor allem in den Topoi, den immer wiederkehrenden polarisierenden Denkschemata.19 Sie markie­ ren den Gegensatz zwischen »Wir« und »Sie« und strukturieren die bipolare Wahrnehmung des politisch-sozialen Feldes. Hier Freund, dort Feind: die Steuerzahler gegen die »Spekulantenklasse«, die bürgerliche Mitte gegen die »winzige Finanznomenklatura«, die Souveränität des Volkes gegen den Lobbyismus, die Interessen der Bürger gegen die Interessen nationaler und internationaler Bürokratien und Konzerne, die Souveränität der Nationalstaa­ ten gegen das »Zentralmonster« der Europäischen Union (EU), das weitere Monstren an seinem Busen nährt. Die Metaphern »Vampir«, »Krake« und »Blutsauger« für das Finanzkapital, »Monster« oder »Leviathan« für die EU oder »keynesianisches Monster« für den welfare consensus nach 1945 sind im rechtspopulistischen Diskurs gängige Münze. Schon Ernst Jünger wusste: »Das Volk bedarf anschaulicher und nicht begrifflicher Wahrheiten.«20

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Konservatismus — Analyse

19  Genauer hierzu: Karin Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a. M. 2007 und Dies., Rechter und linker Populismus, S. 40 ff. 20  Ernst Jünger, R ­ ivarol, Stuttgart 1989, S. 54.

Polarisierung und Moralisierung gehen im populistischen Diskurs Hand in Hand. Auch Jongen teilt das politische Feld nach moralischen Kriterien ein. »Korruption« lautet sein Schlüsselwort. Die politische Elite sei »struk­ turell korrupt«, weil sie sich willfährig am Gängelband der »Finanznomen­ klatura« führen lasse, statt den Primat der Politik wieder in Kraft zu setzen.21 Hier also die gute »produktive, kulturtragende Schicht«, dort die bösen »maß- und schamlosen« Spekulanten. Die Polarisierung zwischen produkti­ vem und spekulativem Kapital hat eine lange Tradition und lautete in anderen Zeiten »schaffendes« und »raffendes« Kapital. Populisten stehen von jeher auf der Seite des »schaffenden« Kapitals und teilen Jongens Diagnose: Es drohe »die Proletarisierung der bürgerlichen Mittelschicht«, diese stehe im »Zangen­ griff von ausufernder Sozialindustrie unten sowie asozialen Finanzeliten oben«. Auch diese Wahrnehmung der heutigen Gesellschaft als Eieruhr mit einer immer schmaler werdenden Mitte hat eine lange Tradition. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der »Verfall der Mitte« beklagt. In den 1920er und 1930er Jahren war von der Verelendung der Mittelschicht oder von »Panik im Mittelstand« (Theodor Geiger) die Rede. Rund zehn Jahre nachdem die SPD in den 1990er Jahren die »neue Mitte« entdeckt hatte, fragte 2006 der

Soziologe Stefan Hradil: »Erodiert die gesellschaftliche Mitte?« Rechtspopu­ listen beklagen zwar stereotyp die »ausufernde Sozialindustrie«, vergessen dabei aber, dass von der Expansion des Wohlfahrtsstaates seit den 1950er Jahren vor allem die Mittelschicht profitiert hat. Genuiner Populismus entsteht als Protestbewegung von Zwischenschich­ ten (ursprünglich Bauern, dann kleine Ladeninhaber und Steuerprotestler, heute Jongens »bürgerliche Mitte« mit dem Prototyp des gut verdienenden, akademisch gebildeten IT-Ingenieurs), die sich von oben und unten gleicher­ maßen unter Druck fühlen. Zugleich ist Populismus ein radiales Phänomen, das unter den Bedingungen von Deindustrialisierung, Arbeitsplatzunsicher­ heit und Prekarisierung in die unteren sozialen Segmente ausstrahlt. Politisch wird diese Ausstrahlung dadurch begünstigt, dass die Linke nicht mehr als Volkstribun auftritt, weil sie sich entweder sozialdemokratisiert oder am lin­ ken Rand marginalisiert hat. Diese »tribunizische Funktion« ist heute in die 21  Der US-amerikanische Dichter Ezra Pound, der sich dem italienischen Faschismus als Pro­ pagandist zur Verfügung stellte, schrieb in einem seiner Cantos: »Vom Aufsichtsrat der Bank/ wurden Regierungsmitglieder ausgeschlossen./Bankdirektoren überwachen Regierungsgelder/ und betrügen das Volk.«

Hand von Rechtspopulisten übergegangen. Sie vertreten die moral majority, die ehrlich ihre Steuern zahlt, hart arbeitet, Familien gründet und Kinder großzieht, also den Eliten oben und der Sozialstaatsklientel unten moralisch überlegen ist. Gauland liegt zwar wählersoziologisch falsch, wenn er die AfD als »Par­ tei der kleinen Leute« bezeichnet; aber ohne diese »kleinen Leute« wird die AfD keine Zukunft haben. Damit handelt sie sich jedoch Konfliktpotenzial Karin Priester  —  »Erkenne die Lage!«

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ein. Die österreichische FPÖ, viel länger im politischen Geschäft als die AfD, hat das seit Langem erkannt. Der Interessenkonflikt zwischen der bürger­ lichen Mitte und den »kleinen Leuten« entzündet sich am Sozialstaat und kann nur entschärft werden, wenn der Fokus auf einen gemeinsamen äuße­ ren Feind gerichtet wird. Der liberale Flügel der AfD versucht zwar, diese Fokusverschiebung zu verhindern, und hält Abstand zur Protestbewegung Pegida, die zwischen innen (Abendland) und außen (Islamisierung) polari­ siert. Aber alle rechtspopulistischen Parteien Europas, vom Front National bis zur liberalkonservativen Schweizer SVP oder zur britischen Anti-Immi­ grationspartei UKIP, verdanken ihren Erfolg der simplen Botschaft: Alles Übel kommt von außen. Das Problem des Populismus liegt in seiner Ambivalenz. Er spricht immer auch etwas Richtiges an: reale Probleme, kritikwürdige Zustände, undemo­ kratische Tendenzen. Die EU ist in der Tat ein Elitenprojekt, der Lobbyismus grassiert ohne Frage, das Finanzkapital hat sich zweifellos in den letzten zehn Jahren immens bereichert. Populisten sind Agenda-setter und haben immer auch die Funktion von Warnschildträgern. Zugleich verspielen sie jeden Kredit durch ihren anschwellenden Erregungspegel und die Illusion der Rückkehr zur »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, die schon in den 1950er Jahren, als Helmut Schelsky den Begriff prägte, Makulatur war. Der Konservatismus kann sich heute nicht mehr auf alternativlose Sach­ zwänge berufen. Diese Argumentationsfigur haben ihm die neoliberalen Modernisierer entrissen. Aber auch der Maß-und-Mitte-Konservatismus der CDU hat kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Wieder einmal gärt es in der

gesellschaftlichen Mitte, aber wo sie liegt, ist Auslegungssache. Sie ist das semantische Vakuum, das sich mit Statusängsten und Angst vor kultureller Entwertung füllen lässt. Links reden und rechts denken ist ein erprobtes populistisches Rezept, auch wenn die Mitte von Klassenkampf und Revolu­ tion noch nie viel gehalten hat. Was nun die AfD angeht, ist, mit Carl Schmitt zu sprechen, die Entschei­ dung gefallen. Bernd Lucke und mit ihm die Liberalkonservativen haben das Schiff verlassen. Ob es deswegen aber sinkt oder nicht eher steigt, hängt von den Kräfteverhältnissen innerhalb und den Gegenkräften außerhalb des nun­ mehr rechteren AfD-Spektrums ab.

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Konservatismus — Analyse

Prof. Dr. Karin Priester, geb. 1941, war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie am Insti­ tut für Soziologie der Universität Münster. In den letzten Jahren ist sie mit zahlreichen Veröffentli­ chungen, darunter zwei Büchern, zum Thema »Populismus« her­ vorgetreten.

KONSERVATISMUS ALS MENTALITÄT UND METHODE ZUR POLITISCHEN TECHNIK KONRAD ADENAUERS UND ANGELA MERKELS ΞΞ Franz Walter

Zumindest Sozialdemokraten, wenngleich selbst keineswegs mehr strahlende Bannerträger stürmischen Veränderungsfurors, lieben es, in Wahlkampfzeiten die christdemokratischen Gegner verächtlich als »Konservative« zu brandmar­ ken. Das sozialdemokratische Kalkül ist unschwer zu erkennen. Denn immer­ hin, so hat zumindest eine Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2010 ergeben, reagieren 55 Prozent der Bundesdeutschen mit dezidierter Antipathie, wenn sie den Begriff »konservativ« zu hören bekom­ men; sie denken dann an eine geistige Enge, auch an einen moralischen Ri­ gorismus, »gegen den sich die moderne Gesellschaft sträubt«1. Nicht zuletzt deshalb sind sich die Christdemokraten selbst seit Jahren höchst unsicher, ob sie überhaupt noch konservativ sein mögen. Vor allem: Sie können we­ der sich noch anderen plausibel erklären, was denn eigentlich im Jahr 2015 die Schlüsselvorstellungen und Leitideen eines zeitgemäßen Konservatismus sind. Schon in der allmählich verblassenden Partyzeit des fröhlichen anything goes fragten sie sich mindestens still und heimlich, ob konservative Normen überhaupt noch, auch für sie selbst, erstrebenswert seien, auf Bedarf stoßen. LEERE MARMORKLIPPEN So nahm die Zahl der klassisch Konservativen zumindest innerhalb der Christlich Demokratischen Union Jahr für Jahr ab. Die Lebenswelten gottes­ fürchtiger Kirchgänger, treuer Ernst-Jünger-Anhänger, raunender MartinHeidegger-Epigonen und dezisionistischer Carl-Schmitt-Schüler schrumpf­ ten beträchtlich. Weder Stahlgewitter noch Marmorklippen oder Holzwege bildeten lockende Orte für die Bundesdeutschen. Einem modernen Konser­ vatismus fehlten dazu halbwegs originelle Denker, wie es sie in Frankreich nicht zuletzt unter den Konvertiten aus dem linken Lager regelmäßig als ver­ lässliche Provokateure im nach Querdenkern dürstenden Feuilleton gab. In 1  Renate Köcher, Politik in der pragmatischen Gesellschaft, in: Frankfurter A ­ llgemeine Zeitung, 24. 02. 2010.

Deutschland hat der Konservatismus während der 1980er und 1990er Jahre lediglich den Typus des verklemmten Verbindungsstudenten hervorgebracht, der als Kreisvorsitzender der Jungen Union mit weinerlicher Monotonie über

INDES, 2015–3, S. 93–102, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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den 68er-Wertezerfall, allgegenwärtige Müsli-Grüne in der eigenen gymna­ sialen Lehrerschaft, quotengeförderte Emanzen und den Nestbeschmutzer Heiner Geißler lamentierte. Natürlich, die Krise des Konservatismus der Rechten datiert nicht erst seit heute oder gestern. Schon in den gesellschaftlich aufgewühlten Jahrzehnten zwischen 1870 und 1945 hatte es der Konservatismus schwer, sich als Idee und Konzept im rechtsbürgerlichen Spektrum zu behaupten. Die Nation

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Konservatismus — Analyse

seinerzeit war jung; und auch in der Gesellschaft dominierten währenddes­ sen die jugendlichen und jungerwachsenen Kohorten. Aus dieser Konstella­ tion nährten sich die Massenbewegungen mit ihrem Heilsverlangen: radikale Sozialisten, wüste Nationalisten, aggressive Alldeutsche und Antisemiten, exzentrische Lebensreformer.2 Konservative dagegen vermochten es nicht, aus ihrer Grundeinstellung ein funkelndes Programm zu machen. Konservative verfügen nun einmal nicht über rauschhafte Lieder, grelle Farben und betörende Poesie einer alle Übel beseitigenden Zukunft. Noch zugespitzter: Sie dürfen dergleichen nicht im Repertoire haben. Denn eben das ist der innere Kern der konservativen Hal­ tung zu den Menschen, zur Gesellschaft, zur Politik: Man hat nichts davon, nach ideologischen Vorgaben oder Wunschträumen zu modellieren und da­ durch zu vergewaltigen. Im Unterschied zu den anderen weltanschaulichen Großsystemen des 19. und 20. Jahrhunderts hat der Konservatismus – und dies ganz bewusst – keine Zukunftsversprechen feilzubieten. Er kennt auch – sieht man von Edmund Burkes »Reflections on the Revolution in France« von 17903 ab – »keine ursprüngliche Programmschrift im Sinne eines ›konser­ 2  Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent, München 2009, S. 228 ff.

vativen Manifests‹«4. Der Konservatismus strebt nicht die Transzendenz an, sondern die Wah­ rung des Bewährten. Er ist nicht auf der Suche nach »neuen Menschen«,

3  »Die Reflections, von denen man gesagt hat, daß sie für den Konservatismus dasselbe seien wie das Kommunistische Manifest für den Sozialismus«, so HeinzJoachim Müllenbrock, Edmund Burke (1729–1797), in: Bernd Heidenreich (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002, S. 71–80, hier S. 72. 4  Andreas Rödder, Eine Frage der Haltung. Wie konservativ kann und soll die Union sein?, in: Volker Kronenberg u. Tilmann Mayer (Hg.), Volksparteien: Erfolgs­modell für die Zukunft? Konzepte, Konkurrenten und Konstellationen, ­Freiburg 2009, S. 84–100, hier S. 86. 5  Vgl. besonders Arnold Geh­ len, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, S. 99 ff. 6  Johannes Gross, Phönix in Asche, Stuttgart 1989, S. 109.

sondern geht vom schuldhaften, irrenden, orientierungsarm schweifenden, von sinisteren Gefühlen geleiteten, im Zustand institutioneller Obdachlosig­ keit verhaltensunsicheren, ja närrischen Menschen aus, dessen wölfische Potenziale allein durch Ordnungen, Autoritäten, Bindungen, Institutionen von Dauer zu zähmen und zu disziplinieren sind.5 »Das war der Mensch der Erbsünde, bedürftig der Rechtsordnung nach der dunklen Wendung des Apostels Paulus, um den jederzeit möglichen Untergang aufzuhalten, und vor allem bedürftig der Staatsgewalt, die ihn zu zähmen hatte.«6 Konservative neigen zum Zweifel und Abwarten, wo ihre »progressiven« Gegner sich vom historischen Optimismus und von stürmischer Begeisterung antreiben lassen. Das gilt auch für gegenwärtig exponierte Konservative, einst im Kontext der CDU, nun prominent der AfD, wie Alexander Gauland, der das Credo seiner politischen Richtung so formuliert: »Dabei müssen Konser­ vative gerade auf dem Erhalt der Kräfte bestehen, die das gesellschaftliche Gleichgewicht bewahren helfen. Alles, was das Tempo verlangsamt, den Zer­ fall aufhält, indem es die Globalisierung einhegt, ist dabei gut und richtig: Traditionen und Mythen, Glaubensbekenntnisse und Kulturen, Ethnien und Grenzen. Selbst Vorurteile haben da, sofern sie nicht in Gewalt und Rassis­ mus umschlagen, ihre stabilisierende Wirkung. Die Moderne ist nur dann Franz Walter  —  Konservatismus als Mentalität und Methode

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auszuhalten, wenn die Unbehaustheit des Wirtschaftssubjekts eine Ergän­ zung in der Geborgenheit von Kultur und Geschichte findet. Deshalb dür­ fen wir Traditionen und Lebenswelten nicht gleichgültig aufs Spiel setzen.«7 Nur: Gerade deshalb wirkte der Konservatismus in den erregten gesell­ schaftlichen Momenten des 19. und 20 Jahrhunderts verstaubt, altväterlich, behäbig, lahm, jedenfalls: reaktiv und defensiv.8 Im ersten Drittel des 20. Jahr­ hunderts war die bürgerliche Jugend folglich nationalimperialistisch, dann radikalfaschistisch, keineswegs aber konservativ. Zwischen Kolberg und Re­ magen lag sie in groß- und alldeutschen Fieberfantasien, gab sich Träumen von erlösenden Führern und »Dritten Reichen« hin. Konservativ jedenfalls waren die Sprösslinge der Gebildeten und Wohlhabenden nicht. Und weil die Konservativen daraufhin fürchteten, den Zug der Zeit zu verpassen und den eigenen Nachwuchs zu verlieren, streckten auch sie die Hand zum Füh­ rergruß, wandelten sich der nationalen Erhebung an und verliehen ihr nach 1933 die Legitimation des traditionellen Deutschlands. Das hatte den Kon­ servatismus – trotz seiner inspirierenden Wirkung auf die Widerständigkeit alter Eliten 1944 – als Ideologie der deutschnationalen Rechten weithin dis­ kreditiert; und das machte seither jeden Versuch der Renaissance rechts von der Mitte innerhalb des parlamentarischen Spektrums nicht einfach. KONSERVATISMUS ALS SOZIALMENTALITÄT RUHEBEDÜRFTIGER GESELLSCHAFTEN Nun mag man einwenden, dass ja unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die beste Zeit des Konservatismus in Deutschland während des 20. Jahrhunderts erst begann. In der Tat: Gerade die 1950er Jahre waren das Jahrzehnt einer breiten konservativen Basismentalität. Kon­ servative haben es immer dann schwer, wenn der Geist der Zeit auf Zukunft, Moderne, Innovationen, Reformen gepolt ist, wenn der Manichäismus das politische Feld durchdringt. Doch dieser Geist der Zeit lag in den späten 1940er/50er Jahren in Trümmern, wurde von der deutschen Gesellschaft nach den turbulenten, anstrengenden Jahrzehnten der sozialen Unruhen, Krisen, Vertreibungen, nach Kriegen und Vernichtungen lediglich als Be­ drohung wahrgenommen. Die Deutschen waren müde, waren der großen Versprechen überdrüssig, zu politischen Aufbrüchen ganz und gar unwillig. Sie suchten stattdessen nach Entlastung. Deshalb überantworteten sie sich dem Patriarchen im Bundeskanzleramt,

7  Alexander Gauland, Wer verändern will, trägt die Beweislast, in: Rheini­ scher Merkur, 16. 03. 2006. 8  Vgl. Peter Fritzsche, Re­ hearsals for Fascism: Populism and Political Mobilization in Weimar Germany, Oxford 1990.

Konrad Adenauer, der Ruhe, Sicherheit, Experimentlosigkeit und die christ­ liche Gnade der Vergebung für schuldhaftes Verhalten versprach.9 Hörte man allein seine Stimme, so jedenfalls erinnerte sich der spätere bayrische

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Konservatismus — Analyse

9  Immer noch das vorzüglichs­ te Werk hierzu: Frank Bösch, Die Adenauer-CDU, Stuttgart 2001.

Kultusminister Hans Maier an diese Zeit (des Radios), dann stellte sich der Eindruck ein: »Hier sprach ein großer Ernüchterer; schon durch seinen rhei­ nischen Tonfall, in dem nicht alles ganz ernst klang (wenigstens für unsere Ohren), war er das genaue Gegenstück zum Rauschhaft-Übersteigerten, Töd­ lich-Entschlossenen der vorangegangenen Zeit« und auch zum »hämmernden Niederdeutsch seines Kontrahenten Schumacher«.10 Kurzum: Es herrschte ein mentaler, ein »natürlicher Konservatismus« (Karl Mannheim) eines ruhebedürftigen, politisch erschöpften Volkes; es ging nicht um großartige konservative Weltanschauungen, nicht um Ideen vom Preußentum, von aristokratischer Kultur, ständischer Ordnung. »In dem politischen Klima der Bundesrepublik war es für Parteien schädlich, sich nach außen hin als konservativ zu bezeichnen, hingegen nützlich, konservativ zu sein, sich als Bewahrerin und Beschützerin des Status quo auszuweisen.«11 Dementsprechend hatte die CDU der 1950er Jahre, hier streng von Ade­ nauer an der Leine geführt, Bekenntnisse zum politischen Konservatismus weitgehend vermieden. Adenauer drängte mit Macht auf das Etikett einer »Partei der Mitte«, fürchtete die auch koalitionspolitisch abträgliche Rand­ lage in einem rechten, konservativen Spektrum, das sich noch dazu durch dessen Bündnis mit den Sturmscharen der nationalen Erhebung 1932/33 er­ heblich um demokratischen Kredit gebracht hatte. Der große Realist Adenauer wusste, dass es in der politisch erschöpften Gesellschaft der 1950er Jahre einer Partei wohl nutzte, wenn sie sich konservativ verhielt und vor Experi­ menten warnte, dass es ihr allerdings schadete, sich offiziell in die Reihe der Hugenbergs und von Papens einzugliedern. An einem Zurück zum Konser­ vatismus der alten Façon hatte er nicht das geringste Interesse, für zackigen Stahlhelm, schnarrende Offiziersrhetorik, menetekelige Zerfallsorakel oder nationalistische Hurrarufe hatte er wenig übrig. Adenauer war ein Konser­ vativer nicht der rhetorischen Selbstzuschreibung, erst recht nicht einer ideo­ 10  Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff., München 2011, S. 58 u. S. 60.

logischen Doktrin, sondern der politischen Methode und einer der Verän­ derungsfreude des Gros der Menschen misstrauenden Alltagspsychologie. Das Signum dieses Konservatismus war, »daß es sich bei ihm mehr um den

11  Hermann Meyn, Die Deutsche Partei. Entwicklung und Problematik einer nationalkonservativen Rechtspartei nach 1945, Düsseldorf 1965, S. 127. 12  Paul-Hermann Gruner, Die inszenierte Polarisierung. Die Wahlkampfsprache der Parteien in den Bundestags­ wahlkämpfen 1957 und 1987, Frankfurt a. M. 1990, S. 142.

bündigen Ausdruck einer Mentalität und weniger um eine politisch durch­ strukturierte Konzeption handelt«12. IMPLOSION UND SELBSTAUFLÖSUNG DES KONSERVATIVEN LAGERS Aber ist es damit in der Ära Merkel vorbei? In substanziellen gesellschafts­ politischen Fragen ist die Merkel-CDU mittlerweile zumindest grundverschie­ den von der Partei Adenauers und Kohls. In der Energie-, Wehrpflicht- und Franz Walter  —  Konservatismus als Mentalität und Methode

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Schulpolitik, selbst der Familienpolitik hat die Kanzlerinnenpartei ohne auf­ wühlende Debatten teils die Grünen, teils die Sozialdemokraten lässig ad­ aptiert und so die »Modernisierung des Konservatismus in Deutschland«13 forciert. Zugleich – und jenseits unmittelbarer Akteursverantwortung – ist das traditionelle Terrain der Christdemokraten schmaler geworden, da zu­ nehmend weniger Menschen im nachtraditionellen Deutschland noch treue Kirchgänger und gehorsame Adepten päpstlicher oder bischöflicher Moral­ imperative sind. Diese sozialkulturelle Entwicklung öffnete allerdings den Raum eben auch für christdemokratische Würdenträger, neue, angenehm flexibel handzuhabende Ungebundenheiten im Privaten auszuprobieren. So begann vor einigen Jahren eine neue, nachgewachsene christdemokrati­ sche Parteielite, wie zuvor längst die zwar stets beschimpften, aber durchweg im Stillen beneideten 68er, gleichermaßen die Vorzüge lockerer Individualität zu entdecken und zu goutieren. Fortan trauten sich auch christdemokratische Regierungschefs, was in der rheinisch-katholischen Republik noch schlechter­ dings unvorstellbar gewesen war: Sich stolz mit einer neuen Lebensgefährtin in aller Öffentlichkeit zu zeigen, obwohl die vorangegangene Ehe – der »Bund fürs Leben«, wie es früher gerade im christdemokratischen Lager geheißen hatte – noch gar nicht offiziell geschieden worden war. Kurzum: Das junge und mittelalte Bürgertum christdemokratischer Pro­ venienz in Deutschland ging ebenso zweite und dritte Ehen ein, ließ sich ebenso wenig für alle Zeiten in Partnerschaften, Religionsgemeinschaften und lokale Sozialkontrollen zwingen und festklammern wie der früher ge­ rade deshalb wütend geächtete linke Gegner. Dazu wollten allmählich nicht ganz wenige Christdemokraten am Sonntagmorgen, selbst wenn das Glocken­ geläut zum Kirchgang ermunterte, lieber in Ruhe ausschlafen. So verlor der Konservatismus in der CDU sukzessive an Boden. Für genuine Konservative und strenggläubige Katholiken kamen schwere Zeiten auf. Sie sollten einer Partei die Treue halten, die sich zunehmend mehr selbstsäkularisierte und von Traditionen gelöst hatte: in der Familienpolitik, beim Embryonenschutz, in der persönlichen Lebensführung des Spitzenpersonals. Aufgrund der Abschwächung des einst so emotionalisierenden kulturel­ len Konflikts mit der moralisch als lasziv denunzierten Linken gelangen der CDU in der Folge keine aggressiven Lagerwahlkämpfe à la Adenauer und

Kohl mehr. Die militante Gesinnungsfront dafür war zerbröselt, eben auch endogen, innerhalb des eigenen Lagers. Die einst tief konservativen Mo­ ralüberzeugungen, Ethiken, Glaubensinhalte im Bürgertum Deutschlands waren pulverisiert worden. Die alten klassischen politischen Kampfgemein­ schaften waren perdu. Denn solche Truppen brauchen den Feind und das fest

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Konservatismus — Analyse

13  Judy Dempsey, Das Phänomen Merkel. Deutsch­ lands Macht und Möglichkei­ ten, Hamburg 2013, S. 188.

umrissene Feindbild. Aber auch der Feind war perdu. Denn man schied sich nicht von ihm, sondern hatte sich ihm schleichend angepasst. Die Dämme, welche die Union lange gegen die Kulturrevolte, den Hedonismus, den liber­ tären Postmaterialismus errichtet hatte, waren gebrochen. Die christdemo­ kratische Parteielite hatte mit dem neuen Jahrtausend die Waffen gegen das, was die Carstens’, Dreggers und Strauß’ in den 1970er Jahren noch verächt­ lich den »Zeitgeist« genannt hatten, gestreckt. Indes: Bereits im Jahrzehnt darauf lagen etwa die Reden des von 1979 bis 1984 zum Bundespräsidenten avancierten Karl Carstens »über Patriotismus, Familienbindung und Geschichtsbewußtsein« derart fern »von den Realitäten der beginnenden 80er Jahre«, dass sie in keinem Moment mehr eine Wirkung entfalten konnten, die sie als »Wegbereiter konservativer Wertewenden iden­ tifizierbar gemacht hätten«.14 Alfred Dregger wiederum, seit 1983 Fraktions­ vorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, war jetzt – da er 1982 auch im vierten Anlauf die Ministerpräsidentschaft in Hessen nicht erreicht hatte – der falsche Mann im »falschen Amt«, war nach den polarisierenden und hochgradig aggressiv geführten Landtagswahlkämpfen in seinem Hei­ matland ausgelaugt und entkräftet. »Politiker, die wie er Wahlkämpfe füh­ ren, als seien sie Schlachten, die Schlappen empfinden wie die Niederlage eines Feldherren, verbrauchen sich vorzeitig«15, erscheinen dann »wie ein erloschener Vulkan«16. Und Franz Josef Strauß schließlich, der Kanzlerkandidat der Unionspar­ teien 1980: Über ihn schrieb Hans Maier, 1980 dem Schattenkabinett von Strauß zugehörig, in seiner Autobiografie nicht viel Freundliches. »Aus dem Wahlkampf habe ich einen ungewöhnlich frostigen, unlustigen, unfreundli­ chen Strauß in Erinnerung. […] So sehr, dass manchmal sogar die Treuesten der Treuen unter den CDU-Schattenministern – Gerhard Stoltenberg und 14 

Hubert Kleinert, Carstens hinter seiner Zeit, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 41 (1994) H. 4, S. 340–344, hier S. 343.

Manfred Wörner – völlig ratlos waren. Er grollte, er schrie, er verließ plötz­ lich die Sitzung, er beschimpfte die CDU-Kollegen wegen ihrer ›Weichheit‹ und ›Nachgiebigkeit‹. Hatte Strauß am Ende gar keine Lust nach Bonn zu gehen? Oder sah er als Realist die unvermeidliche Niederlage voraus – und die anschließende Schwächung seiner Position im Bund und in der Union?«17

15  Klaus Dreher, Machtverfall der Unions-Fraktion, in: Süd­ deutsche Zeitung, 10. 08. 1988. 16  Günter Müchler, Ein Abgeschriebener gewinnt neue Statur, in: Augsburger Allgemeine, 27. 11. 1984. 17  Maier, S. 261.

So war es wohl. Die 1980er Jahre wurden, aller Slogans von den geistig-mo­ ralischen Wenden zum Trotz, kein gutes Jahrzehnt für den zwischenzeitlich so militanten und expansiven Konservatismus. IDEOLOGIE ALS METHODE Gibt es also in Zukunft keine Chance mehr für einen genuinen Konservatis­ mus? Unzweifelhaft ist, dass die Reste des klassischen Konservativen in der Franz Walter  —  Konservatismus als Mentalität und Methode

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Union von der zuweilen aufblitzenden normativen Nonchalance der Bundes­ kanzlerin verunsichert sind. Sie erkennen das Wertefundament ihrer Partei nicht mehr. Man erinnert dann gerne an den großen Konrad Adenauer, der sich zum Ende seines Lebens zu einer solchen Erosion des christdemokra­ tischen Sinns sorgenvoll äußerte: »Entweder wir sind eine weltanschaulich fundierte Partei«, mahnte er die Mitglieder des CDU-Bundesvorstandes im Juni 1965 beschwörend, »oder wir gehen heute, morgen oder übermorgen auseinander.«18 Insofern hadern die Konservativen in der CDU wohl ein wenig mit Angela Merkel, artikulieren aber ihre Kritik nicht mehr allzu vernehmlich. Zum einen verfügen sie nicht über auch nur halbwegs plausible Gegenent­ würfe zu Merkel, zum anderen imponiert den Altkonservativen dann doch die kalte und eiserne Machtpolitik der Regierungschefin. Macht ist immer noch die Raison d’Être klassischer konservativer Bürgerlichkeit. Insofern darf man auch die geschickte Adaption Merkels an veränderte Stimmungslagen und Lebensweisen der Bürger nicht zu sehr als modernen Antikonservatismus überinterpretieren.19 Merkel ist vom Adenauer’schen Konservatismus als Methode gar nicht so weit entfernt. Konservative – die nie Reaktionäre sein mochten – hatten meist eine feine Witterung für Men­ talitätswechsel und orientierten sich häufig elastisch um, damit sie nicht ins Hintertreffen gerieten. Viel wichtiger als ideologisches Klammern war Kon­ servativen ihre Anthropologie. Und in dieser anthropologischen Sicht auf Gesellschaft und Politik ist Angela Merkel genuin konservativ. Und deshalb reüssiert die Kanzlerin in einem Land, dessen Bürger alt geworden sind, und in einer Situation, die mit Blick auf die Finanzwirtschaft gerade älteren Wäh­ lern höchst bedrohlich erscheint. Solche Konstellationen bilden nachgerade den Kairos für den konser­ vativen Appell. In derartigen Momenten geht es nicht um fiktionale Bilder eines Zukunftsexperiments. Die Kanzlerin ist eine kongeniale Repräsentan­ tin eines daraus schöpfenden Zeitgeistes. Mit ihrer naturwissenschaftlichen Aura unterstreicht sie, dass sie in der Politik nichts von Luftschlössern, Fan­

18  Zit. nach Günter Buchstab (Bearb.), Adenauer: »Stetigkeit in der Politik«. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1961– 1965, Düsseldorf 1998, S. 939.

tasiegebilden, Literatenprojekten hält.20 Ihr gilt nur das Reale, das jeder sieht, was wirklich zählt – ein geradezu klassisches Muster des konservativen Prag­ matismus. Konservative sehen sich nicht als Baumeister neuer menschlicher Ordnungen. Auch Merkel präsentiert sich nicht (mehr) als Demiurgin einer neuen bürgerlichen Freiheit, sondern als Monteurin, die Schäden beseitigt, als Klempnerin, die repariert, ebenfalls als Gärtnerin, die schneidet, lichtet, aber auch gießt und pflegt, was gut zu gedeihen und zu blühen verspricht. Mehr haben sich Konservative vom Politischen nie versprochen. Der fran­ zösische Anthropologe Emmanuel Terray hat diese »Denkart der Rechten«

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Konservatismus — Analyse

19  So etwa Ulrich Reitz: »Nur Merkel ist eben nicht konservativ […], sondern: liberal.«; Ders., Konservative tragen kein blaugelbes-Hemd, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 01. 08. 2005. 20  Auch Matthias Micus, Fremdherrschaft. Wie Angela Merkel die CDU führt, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 60 (2013) H. 7–8, S. 57–60.

anschaulich zu machen versucht, indem er die Haltung der Konservativen zur politischen Handlung ausleuchtete und illustrierte. Handeln könne in deren Augen nur punktuell (ponctuelle) und vorsichtig (prudente) sein. »Punktuell: Die enge Beziehung der penseurs de droite zu den einzelnen Individuen und Objekten sowie ihre Zurückhaltung gegenüber Gesamtheiten führt dazu, dass sie lokalisierte Eingriffe bevorzugen. Steht der penseur de droite einer schwie­ rigen Situation gegenüber, so schlägt er vor, einen bestimmten oder mehrere bestimmte Aspekte anzugehen, aber er weigert sich, die Möglichkeit einer umfassenden Veränderung zu berücksichtigen, und zwar entweder, weil er nicht die Meinung vertritt, dass man die Situation als ein Ganzes betrach­ ten könne, oder weil wir, wie [die Historikerin und Philosophin, Anm. d. V.] Chantal Delsol schreibt, ›keine Totalität erfassen können‹.«21 Schmerzhaft ist die verbreitete Zustimmung zu einer solchen Politik vor allem für die Verfechter und Verteidiger von Volkssouveränität und parlamen­ tarischer Repräsentation. Seit Adenauer hat sich kein zweiter Regierungschef so unsentimental über die Prinzipien aus den demokratischen Lehrbüchern hinweggesetzt wie Merkel. Aber es schadet ihr nicht. Auch und gerade in diesem Fall gewinnt sie durch eine typisch konservative Geste. Konservative haben nie viel vom Parlament gehalten. Es war ihnen ein Ort des ziellosen Palavers. Die Metaphern der Konservativen lauteten stattdessen: Entschei­ dung, Handlung, Tat, Sieg über den anderen. Die deutsche Republik mag sich kulturell durch die rot-grünen Generationen und Lebensstile verändert, in Teilen auch liberalisiert haben; aber im Verdikt gegen das »Parteiengezänk« und im Spott über das »Dauergeschwätz« der Parlamentarier haben sich die konventionellen vordemokratischen Traditionen, ja: hat sich die Ignoranz gegenüber dem Modus moderner parlamentarischer Repräsentation in der Parteiendemokratie aufbewahrt, eben: konserviert. In der Wahlgeschichte haben Konservative vor allem dann gewonnen, wenn sie das Anti-Chaos-Argument wirksam ins Feld bringen konnten. Dass Menschen überwiegend in berechenbarer Ordnung zu leben wünschen, hat Reformisten und Revolutionären in der Regel geschadet, Konservativen in­ dessen nachhaltig genutzt. Als die schwarz-gelbe Regierung zwischen 2009 und 2011 ihrerseits Produzentin von Konfusion war, schlitterten die Werte der 21  Emmanuel Terray, Penser à droite, Paris 2012, S. 35. 22  Siehe Daniela Kallinich u. Frauke Schulz (Hg.), Halbzeit­ bilanz. Parteien, Politik und Zeit­ geist in der schwarz-gelben Koali­ tion 2009–2011, Stuttgart 2011.

beiden Parteien tief in den Keller.22 Seither aber achtet Merkel darauf, dass zumindest in ihrer Partei nicht groß gestritten wird, kein programmatischer Zwist nach außen dringt, vor allem auch kein Konkurrent ihrer selbst in der Partei unterwegs sein darf. Denn Ordnung benötigt Autorität. Und Autorität ist in dem Moment schon beschädigt, wenn Kontroversen nicht beherrschbar sind, Diadochen zu scharren beginnen. Franz Walter  —  Konservatismus als Mentalität und Methode

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In ihrer Methode ist Angela Merkel durch und durch konservativ. Ideolo­ gisch ist sie ganz indifferent. Nur: Wenn diese Methode mal nicht greift, dann stiften auch keine Ideen oder Loyalitäten noch Rückhalt. Dann ist da nichts. Dabei verändern sich Parteien mit guten Aussichten allein dann, wenn sie ihre Lernprozesse aus der eigenen Tradition heraus erörtern und erklären. Denn Formationen wie die Christdemokraten oder auch die Sozialdemokraten sind historische Wesen, die bislang politische Systembrüche, große gesellschaft­ liche Transformationen und soziale Wandlungen überstanden haben – weil sie über einen Wertekern verfügen, der Situationen, Ereignisse, Personen, Beliebigkeiten und Moden überdauert. Davon wird man wenig bei Angela Merkel finden. Man mag das als die Achillesferse ihres Konservatismus als Methode sehen und werten. Zumindest der zum Konservatismus (gemischt mit einem wirtschaftlichen Radikalliberalismus) konvertierte frühere Sozial­ demokrat Arnulf Baring malt die Zukunft der CDU von und nach Merkel in denkbar düsteren Farben: »Paradigmatisch für den Niedergang der Parteikultur steht die CDU. Deren personelle und programmatische Auszehrung ist enorm. Sollte Angela Merkel aus gesundheitlichen oder persönlichen Gründen eines Tages abtreten, wird sie eine nicht zu füllende Lücke hinterlassen. Die Union wird in eine schwere Identitätskrise geraten, weil die gar nicht mehr weiß, wofür sie eigentlich steht. Angela Merkel hat eine Partei geschaffen, die unter dem Druck der Meinungskonformität ihr Profil verloren hat. Unter CDU-Leuten weiß man, dass jede Meinung, die nicht jener der Kanzlerin entspricht, negative Konsequenzen hat – Abweichler werden das nächste Mal nicht mehr aufgestellt. Die Parteitage sind streng hierarchisch von oben nach unten durchorganisiert, kaum einem Kritiker gelingt es, als Delegierter zu einem Parteitag entsandt zu werden. CDU-Parteitage sind mittlerweile Veranstaltungen, wie wir sie aus ehemals kommunistischen Ländern kennen. Das Machtbewusstsein der Kanzlerin zeigt sich darin, dass sie nur zweitklassige Politiker um sich schart, die ihr nicht zu widersprechen wagen. Das führt zu Ängstlichkeit und Duckmäuserei, untergräbt die wichtigsten Prozesse innerparteilicher Demokratie. Schon jetzt kann niemand mehr erklären, warum man die CDU wählen sollte.«23

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

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Konservatismus — Analyse

23  Arnulf Baring, Der Un­ bequeme. Autobiografische Notizen, Wien 2013, S. 317 f.

PORTRAIT

EDMUND BURKE BETRACHTUNGEN ZUM POLITISCHEN DENKEN EINES GRÜNDUNGSVATERS DES KONSERVATISMUS ΞΞ Dirk Jörke / Veith Selk

Viele Menschen sind Traditionalisten. Sie folgen dem Gewohnten und ma­ chen die Dinge so, wie sie scheinbar immer schon gemacht worden sind. Sie halten sich an Üblichkeiten und Traditionen. Die geben Halt und helfen bei der Orientierung, auch in der Politik, in der man es mit dem Zwang zur Ent­ scheidung vor dem Hintergrund stets unvollkommenen Wissens und nicht vollends abschätzbarer Folgen zu tun hat. Deshalb ist der Traditionalismus auch in Zeiten der Beschleunigung und Individualisierung lebendig. Viel­ leicht ist er sogar, wie Karl Mannheim meinte, eine »allgemein menschli­ 1  Karl Mannheim, Das konservative Denken. Sozio­ logische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland, in: Ders., Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 408–508, hier S. 412. 2  Karl Marx u. Friedrich Engels, Manifest der Kom­ munistischen Partei, in: Dies., Werke. Bd. 4, Berlin 1972 (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1959, Berlin/ DDR), S. 459–493, hier S. 465. 3  Immanuel Kant, Kri­ tik der reinen Vernunft, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. II, Darmstadt 2005, S. 467, B 529/A 501.

che«1 Eigenschaft. Die Bezugspunkte des Traditionalismus, die Üblichkeiten und Traditio­ nen, werden in der Moderne prekär. Denn die Moderne ist die Epoche, in der »alles Stehende und Ständische verdampft«2 und in der, vermittelt über Aufklärung und Säkularisierung, Kontingenzbewusstsein und Kritikerwar­ tung entstehen: Was ist, kann auch anders sein. Und was ist, muss vor dem »Gerichtshof der Vernunft«3 begründet werden können. Andernfalls muss es weichen. So lautet jedenfalls das Credo aller modernen Rationalisten. Der Konservatismus reagiert auf die Kontingenzerfahrung und Begrün­ dungsbedürftigkeit der Moderne.4 Er versucht nicht nur zu zeigen, warum das Überlieferte wertvoll ist und warum es geschützt oder wiederhergestellt werden muss. Er will begründen, warum es gilt und weiterhin gelten sollte. Edmund Burke (1730–1797) ist bekanntlich ein, wenn nicht sogar der Va­ ter des Konservatismus. Zu seinen Lebzeiten trug sein Kind noch nicht den Namen, den es heute trägt: Als politischer Strömungsbegriff war »Konser­ vatismus« zu Burkes Zeit unbekannt. Vielleicht aber hätte Burke diese Be­

4  Vgl. ebd.; dort auch die Unterscheidung zwischen Tradi­ tionalismus und Konservatismus.

zeichnung sogar abgelehnt, denn die Verabsolutierung eines Prinzips – und sei es des Prinzips der Bewahrung – war ihm zuwider. Aber die konservative

INDES, 2015–3, S. 103–110, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Stoßrichtung, die Begründung der Geltung des Überlieferten, ist auch für Burkes wohl einflussreichsten Text, die »Reflections on the Revolution in France«, charakteristisch. Liest man das dort entfaltete politische Denken als einen solchen Be­ gründungsversuch, dann muss man sagen, dass dieser aus heutiger Per­ spektive gescheitert ist.5 Die theologische Metaphysik sowie die Verteidi­ gung einer ständischen Ordnung, die Burke in den »Reflections« und in weiteren Schriften zur Bekämpfung der Französischen Revolution in An­ schlag bringt, sind dem modernen Bewusstsein nicht mehr zuzumuten.6 Wir wollen sie im Folgenden soweit wie möglich aussparen. Umso wirk­ mächtiger ist hingegen Burkes politische Rhetorik, mit der wir uns statt­ dessen beschäftigen wollen. Burkes politisches Denken ist ein eingreifen­ des, aktives Denken, ein Denken in (Re-)Aktion. Damit erweist sich Burke als ein Konservativer nicht so sehr in der Hinsicht, dass er die Geltung des Überlieferten begründen will. Vielmehr will er die Vorzüge des Überliefer­ ten rhetorisch stark machen. Burkes ätzende Kritik der revolutionären Ereignisse in Frankreich ist ein Meilenstein in der europäischen Geistesgeschichte. Seine Abrechnung mit den Ideen der Aufklärungsphilosophie im Allgemeinen und ihrer demokra­ tischen Interpretation im Besonderen ist zu einer der Grundfiguren des kon­ servativen Denkens geworden (I).7 Und doch handelt es sich bei all dem nur um einen halbierten Burke. Denn Burke ist von seinen Zeitgenossen zumin­ dest bis zur Veröffentlichung seiner Streitschrift gegen die Französische Re­ volution gerade nicht als ein Verteidiger der alten Ordnung, sondern als ein Kämpfer für die Rechte des Parlaments sowie – und darauf werden wir uns hier beschränken – für die Rechte der Opfer der britischen Kolonialherrschaft wahrgenommen worden (II). Den Abschluss bildet dann die Frage nach der Aktualität von Burkes Denken ( III). I DIE »REFLECTIONS ON THE REVOLUTION IN FRANCE«. EIN GRÜNDUNGSDOKUMENT DES KONSERVATIVEN DENKENS Die »Reflections« sind ein bemerkenswerter Text. Obwohl sie während der Frühphase der Französischen Revolution veröffentlicht wurden, prognos­ tizierten sie die spätere Radikalisierung und die Entwicklung zum Terror. Dies trug wesentlich zur Popularität des Textes bei, der in der Folge politisch außerordentlich einflussreich geworden ist. Es handelt sich bei den »Reflecti­ ons« letztlich nicht um ein philosophisches, sondern um ein politisches Trak­ tat. Und Politik lebt laut Burke wesentlich von der Kunst der Inszenierung und der Übertreibung. In der Politik bedient man sich zwar auch rationaler

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Konservatismus — Portrait

5  Eine Verteidigung von Burkes politischem Denken als Begründungsfigur findet sich u. a. bei Peter J. Stanlis, Edmund Burke and the Natural Law, Ann Arbor 1958; deren Scheitern de­monstrieren Craw­ ford B. Macpherson, Burke, Oxford 1980 und Donald J. Herzog, Puzzling through Burke, in: Political T ­ heory, Jg. 19 (1991) H. 3, S. 336–363. 6  Vgl. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, in: Leslie G. Mitchell (Hg.), The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. VIII, The French Revolution, Oxford 1989, S. 53–293. 7  Vgl. ausführlicher Albert O. Hirschman, Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Re­ aktion, München 1995.

Argumente, doch diese müssen, wenn sie ihre Wirkung nicht verfehlen sol­ len, rhetorisch verpackt werden. Nur so erreichen Sie ihre Adressaten. Es sind die Gefühle und die Vorurteile, die prejudices, die für Burke eine Ge­ sellschaft zusammenhalten und die eben auch in der Politik angesprochen werden müssen. Und es geht Burke um Politik, namentlich um die Einhegung der Ideen der französischen Aufklärer. Zu diesem Zweck genügen sachliche Begründungen nicht. Vielmehr ist es die Kraft rhetorischer Übertreibung, die ihm zufolge zu den Argumenten hinzutreten muss, wenn denn die Men­ schen vom Wahnsinn der »barbarous philosophy«8 der Revolutionäre über­ zeugt werden sollen. Die »Reflections« sind eine Übung in intellektueller Quarantäne. Den Ideen der Französischen Revolution muss, so glaubt Burke, der Boden ent­ zogen werden, damit ihr Eindringen nach England verhindert werden kann. Zu diesem Zweck bringt Burke eine metaphorische, überzeichnende Spra­ che in Stellung und deutet die Glorious Revolution auf eine Weise um, die sie von der Französischen Revolution in möglichst prägnanter Weise abhe­ ben soll. Burke zufolge ist die Glorious Revolution eine Restauration der alten Ordnung und des alten Rechts gewesen – und insofern gerade kein Bruch mit der Vergangenheit. Diese alte Ordnung ist eine ständische Ordnung. Politisch entspricht ihr die Mischverfassung einer konstitutionellen Monarchie mit starker Stellung des Adels. In Frankreich ist für Burke aber nicht nur die alte Ordnung, son­ dern Ordnung überhaupt zersetzt worden. Ohne König, ohne selbstbewuss­ ten Adel und ohne Religion gibt es keine Ordnung. Den Individualismus der Aufklärungsphilosophie bezeichnet Burke als Anleitung zum Aufruhr. Würden soziale und politische Institutionen auf freie und gleiche Zustimmung zurückgeführt, so führe das nicht zur Bestimmung einer legitimen Ordnung. Vielmehr erodierten hierdurch staatliche Herrschaft, gesellschaftliche Hierarchie und der kulturell gestiftete Geist der Unterord­ nung. Den Rationalismus der französischen Aufklärer begreift Burke, in An­ lehnung an einen Gedanken aus der Schottischen Aufklärung, als ein Rezept für politisches Chaos. Gesellschaft und Staat lassen sich ihm zufolge nämlich gerade nicht planen und gemäß einem einzigen Grundprinzip oder einem Bauplan vernünftig einrichten. In polemischer Abgrenzung zu französischen Aufklärungsphilosophen wie Rousseau, Helvétius oder Voltaire vertritt Burke eine negative Anthropologie. Allerdings begreift er den Menschen damit ganz ähnlich wie die skeptischen und die materialistischen Vertreter der Aufklärung, nämlich als Wesen, das 8  Burke, Reflections, S. 128.

vor allem durch seine Leidenschaften angetrieben wird. Hieraus zogen diese Dirk Jörke / Veith Selk  —  Edmund Burke

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Aufklärer den Schluss, die Vernunft müsse die Leidenschaften leiten, kanali­ sieren oder zähmen. Burke antwortet ihnen mit einem spektakulären rheto­ rischen Gegenangriff: Damit die Leidenschaften von ihrem zerstörerischen Tun – das in Frankreich wüte – abgehalten werden können, bedarf es nicht mehr, sondern weniger Aufklärung! Es sind für Burke nämlich vor allem Vorurteile, die die Leidenschaften kanalisieren und sie so steuern, dass Ordnung nicht prekär wird: »We fear God; we look with awe to the kings; with affection to parliaments; with duty to magistrates; with reverence to priests; and with respect to the nobility.«9 Ordnung entstehe durch Unterordnung. Und am Grunde des Geistes der Unterordnung, da liegen für Burke die Vorurteile. Sie sind es, die den Men­ schen überhaupt erst in die Lage versetzen, in einer wohlgeordneten Ge­ sellschaft zu leben: »Prejudice renders a man’s virtue his habit; and not a series of unconnected acts. Through just prejudice, his duty becomes a part of his nature.«10 Vorurteile sind für Burke unumgänglich. Wir können nicht nicht vor-urtei­ len. In Burkes Augen gibt es aber gute Vorurteile und schlechte Vorurteile. Schlechte Vorurteile sind die rationalistischen Kopfgeburten der französischen Aufklärer und Revolutionäre. Gute Vorurteile sind diejenigen, die sich über lange Zeit und Erfahrung bewährt haben. Das Überlieferte hat laut Burke die besseren Vorurteile für sich. Wie werden die Vorurteile erzeugt und wie stabilisieren sie sich? Burke beantwortet diese Frage in den »Reflections« mithilfe von Überlegungen zu einer symbolischen Herrschaftstechnik, die er implizit bereits früher in seiner Ästhetik entwickelt hat. Die Vorurteile werden durch das Erhabene gestärkt. Das Erhabene überwältigt den Menschen, es zeigt ihm seine End­ lichkeit und weist ihm seinen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung zu. Religiöse, gesellschaftliche und staatliche Autoritäten sind nur dann Auto­ ritäten, wenn sie Ehrfurcht hervorrufen – wenn sie also nicht schön, son­ dern erhaben sind. Zwar kann Burke seinen unterschwelligen Neid auf die Wucht der Revo­ lution nicht verbergen. Die Französische Revolution ist durchaus erhaben. Aber im revolutionären Frankreich wird in seinen Augen ein »falsches Erha­ benes« erzeugt.11 Es stattet das Volk mit Phantasien von Allmacht aus und stellt dergestalt die »natürliche Ordnung« auf den Kopf.12 In einer berühmten Passage der »Reflections« klagt Burke über das Ein­ dringen des Pariser Mobs in die Gemächer der Königin: »I thought ten thou­ sand swords must have leaped from their scabbards to avenge even a look that threatened her with insult. – But the age of chivalry is gone. – That of

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Konservatismus — Portrait

9  10 

Burke, Reflections, S. 137. Ebd., S. 138.

11  Vgl. hierzu ausführlicher Ian Hampsher-Monk, Rhetoric and Opinions in the Politics of Edmund Burke, in: History of Political Thought, Jg. 9 (1988) H. 3, S. 455–484; Paul Hindson u. Tim Gray, Burke’s Dramatic Theory of Politics, Aldershot 1988, S. 142–149; Stephen K. White, Edmund Burke. M ­ odernity, Politics, and Aesthetics, Thou­ sand Oaks 1994, S. 60 ff. 12  In den »Reflections« findet sich immer wieder der Verweis auf eine ›natürliche‹ Ordnung und die mit diesen korrespondierenden ›natürlichen‹ Empfindungen; siehe Burke, Reflections, S. 175 u. S. 182.

sophisters, oeconomists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever. Never, never more shall we behold that ge­ nerous loyality to rank and sex, that proud submission, that dignified obe­ dience, that subordination of the heart, which kept alive, even in servitude itself, the spirit of an exalted freedom.«13 Im alten age of chivalry sei der Geist der Unterordnung noch lebendig gewesen – und mit ihm die natürli­ che Ordnung. Dieser Geist sei nun von Aufklärern, Wirtschaftsbürgern und Revolutionären vertrieben worden – zum Schaden aller. Denn die moderne Freiheit der Revolution führe in neue Formen der Knechtschaft. In der alten Knechtschaft hingegen, das versucht Burke seinen Lesern hier einzureden, sei noch eine echte Freiheit lebendig gewesen. II  DER ANDERE BURKE: KRITIKER DES EMPIRE Burke ist kein grundsätzlicher Kritiker des britischen Empire gewesen. Er stellte sich aber gegen damals vorherrschende Überzeugungen, als er für mehr Autonomie der amerikanischen Kolonien plädierte, politische Rechte für die Katholiken Irlands einforderte und ein langwieriges Impeachment-Ver­ fahren gegen den Gouverneur Bengalens, Warren Hastings, betrieb. In allen drei damit berührten politischen Konflikten hat sich Burke nicht durchgesetzt. Lediglich die schrittweise Aufhebung der penal laws gegen die irischen Ka­ tholiken konnte Burke als einen Erfolg seines parlamentarischen Kampfes verbuchen (bei dem er freilich nicht alleine stand). Seine Ansichten zu diesen drei Brennpunkten des britischen Empire sind über zahlreiche Reden zerstreut. Einige Grundideen lassen sich dennoch be­ nennen. Zunächst ist da Burkes skeptische Position gegenüber dem britischen Imperialismus, die ihn vom Mainstream seiner Zeitgenossen abhebt. Als Ve­ hikel der Freiheit hat Burke den Kolonialismus nämlich nicht verstanden.14 Eine dem Imperialismus und Kolonialismus gegenüber apologetische Position, 13 

Burke, Reflections, S. 126 f.

14  Vgl. Jennifer Pitts, Burke and the Ends of Empire, in: Da­ vid Dwan u. Christopher J. Insole (Hg.), The Cambridge Compan­ ion to Edmund Burke, Cambridge 2012, S. 145–155, hier S. 146. 15  Vgl. Oliver Eberl, Kolo­ nialismus oder: die Rechtferti­ gung externer Herrschaft über Barbaren und Wilde, in: Frauke Hönztsch (Hg.), John Stuart Mill und der sozialliberale Staats­ begriff, Stuttgart 2011, S. 103–122.

wie sie sich beispielsweise noch knapp hundert Jahre später bei John Stuart Mill findet,15 vertritt Burke ausdrücklich nicht. Stattdessen benennt er deren Schattenseiten. Zwar fordert er niemals die Aufgabe der überseeischen Be­ sitzungen und hält stets an der engen Verbindung zwischen Irland und dem britischen Königshaus fest. Aber Burke setzt sich sowohl für die Stärkung der zivilen wie politischen Rechte der Bewohner der Kolonien als auch für die Achtung der jeweiligen lokalen Traditionen ein. Von der kulturellen Überlegenheit der westlichen Zivilisation, der Vor­ rangstellung des Protestantismus oder der Vorzüglichkeit der englischen Lebensweise geht Burke nicht aus. Vielmehr betont er den Wert der in­ dischen Kultur und Religion. Er unterstreicht die positive Mentalität der Dirk Jörke / Veith Selk  —  Edmund Burke

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amerikanischen Siedler und lobt ihre freiheitlichen Institutionen der Selbst­ verwaltung. Er kritisiert den Kulturchauvinismus und die Abwertung des Fremden als Folge eines übersteigerten Rationalismus. Beides sind ihm zu­ folge die maßgeblichen Gründe für das brutale Vorgehen gegen die indi­ sche Bevölkerung und für die Behandlung der irischen Katholiken. Burke verweist zudem auf die Verbindung zwischen staatlichen Institutionen mit gewachsenen historisch-kulturellen Rahmenbedingungen. Die Program­ matik, in allen Regionen des Empire die gleichen Institutionen zu schaffen, lehnt Burke deshalb entschieden ab, ohne dabei einen moralischen Relati­ vismus zu propagieren. Die bis heute populäre Auffassung, es gäbe eine Art »geographische Mo­ ralität«16, weist Burke damit entschieden zurück. Geprägt worden ist die An­ sicht von der regionalen Verschiedenheit der Moralgeltung wesentlich durch Montesquieus Diktum über den vermeintlichen »Sklavengeist«17 Asiens, dem­ zufolge dort andere moralische und politische Standards gelten. Warren Has­ tings hat unter Berufung auf diese These seine Politik in Indien verteidigt. Burke hingegen insistiert darauf, dass in allen Teilen der Welt zwar nicht die gleichen politischen Maßstäbe gelten würden, aber sehr wohl die gleichen moralischen Standards anzuwenden seien. In seiner Eröffnungsrede zum Impeachment gegen Hastings bringt Burke ein göttliches Naturrecht in Stellung, das für alle Menschen gelte. Bei Burke findet sich die Unterscheidung zwischen basalen Menschen­ rechten, die für ihn göttlichen Ursprungs sind und die körperliche Integrität von Menschen, ihr Eigentum und ihre kulturellen Gemeinschaften schützen, einerseits; und den modernen revolutionären menschenrechtlich-individua­ listischen Forderungen, die in seinen Augen Statusunterschiede einebnen und ins Chaos führen, andererseits. Burke lässt sich vor diesem Hintergrund als Kritiker eines falsch verstandenen westlichen Universalismus interpre­ tieren18 – eines Universalismus, der lokale Traditionen in der Praxis nicht selten überfordert. Burkes Schriften zum Imperialismus sind durch die Ablehnung eines auf unverrückbaren, abstrakten Prinzipien gegründeten Handelns zugunsten einer kontextsensiblen Politik gekennzeichnet, die historische Entwicklun­ gen und empirische Gegebenheiten in Rechnung stellt. In den »Reflections« wirft er den radikalen politischen Theoretikern der Revolution vor, ihr abs­ traktes Räsonnement sei moralisch verantwortungslos und politisch unklug: »The pretended rights of these theorists are all extremes; and in proportion as they are metaphysically true, they are morally and politically false.«19 Diesen Gedanken wendet er kritisch gegen die imperiale Politik Englands,

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Konservatismus — Portrait

16  Edmund Burke, Speech on Opening of Impeachment, in: Peter J. Marshall (Hg.), The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. VI, India: The Launching of the Hastings Impeachment 1786–1788, Oxford 1991, S. 264–471, hier S. 346. 17  Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Bd. 1, Tübingen 1951, S. 378. 18  Vgl. Bruce P. Frohnen, Burke and the Conundrum of International Human Rights, in: Ian Crowe (Hg.), An Imagina­ tive Whig. Reassessing the Life and Thought of Edmund Burke, Columbia 2005, S. 179–202. 19 

Burke, Reflections, S. 112.

wenn er etwa nach dem Ausbruch des Krieges mit den amerikanischen Ko­ lonien bereit ist, die Unabhängigkeit der Kolonien als das kleinere Übel an­ zuerkennen. Zudem betont er immer wieder, dass man den kulturellen wie auch den räumlichen Gegebenheiten Rechnung tragen müsse. Schon auf­ grund der Entfernung könnten die Kolonien nur in begrenztem Ausmaß von London aus regiert werden und müssten allein aus diesem Grund über mehr Autonomie verfügen. III  ZUR AKTUALITÄT VON BURKES DENKEN Trotz dieser für damalige Zeiten durchaus herrschaftskritischen Positionen ist Burke ein Denker, der für eine hierarchische, auf Ungleichheit basierende Staats- und Gesellschaftsordnung eintritt. Wer im Dienste sozialer, politischer und ökonomischer Ungleichheit nach apologetischen Argumenten sucht, der wird deshalb bei Burke fündig. Zu überzeugen vermögen diese Argumente freilich nicht mehr. Burkes Rhetorik ist zwar geschliffen und wirkt häufig fes­ selnd, aber sie atmet den Geist einer anderen Zeit. Zuweilen schlägt sein Stil auch ins Altfränkische um; in diesen Momenten wirkt er gestelzt und abge­ lebt. Die theologischen Grundlagen seines Denkens wiederum sind mittler­ weile aus der Zeit gefallen. Die Säkularisierung haben sie nicht überstanden, jedenfalls nicht politisch. Hinter Freiheit und Gleichheit, wie auch immer ins­ titutionalisiert, führt normativ kein Weg zurück. Die marktradikale Botschaft schließlich, die Burkes Schriften zur politischen Ökonomie verkünden, vor allem die »Thoughts and Details on Scarcity« (1795),20 ist heute intellektuell und politisch blamiert. Was also bleibt von Burkes Denken und was ist at­ traktiv an ihm, jenseits des Bedürfnisses nach einem Arsenal rhetorischer Invektiven gegen Freiheit und Gleichheit? Wie wir schon angedeutet haben, erweist sich Burke in seiner Kritik am imperialen Kolonialismus seiner Zeit als äußerst hellsichtig. Gerade sein Plä­ doyer für eine kontextsensible Politik, die mit lokalen Gegebenheiten und 20  Vgl. Edmund Burke, Thoughts and Details on Scarcity, in: Robert B. McDowell (Hg.), The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. IX, I: The Revolutionary War 1794–1797, II: Ireland, Oxford 1991, S. 119–145.

Eigenarten rechnet, hat nichts von ihrer Aktualität verloren, wie das Scheitern neo-kolonialer »Befriedungsmissionen« und anspruchsvoller State BuildingProjekte – im Irak und anderswo – zeigt. Solche außenpolitischen Vorhaben sind von einem utopischen Rationalismus geprägt, der nicht zur Wirklichkeit findet. Er wird von Prinzipien, aber nicht von Erfahrung geleitet.21 Der innenpolitische Rationalismus heutiger Tage ist hingegen ein ande­

21  Vgl. Trutz von Trotha, Jen­ seits des Staates: Neue Formen politischer Herrschaft, in: John E. Akude (Hg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, Wiesbaden 2011, S. 26–49.

rer als noch zu Burkes Zeiten. Burke attackiert vor allem die rationalistische Gesellschaftsvertrags- und Naturzustandstheorie seiner Zeit. Bei ihr han­ delte es sich um eine kritische Theorie. Ihr Individualismus, ihre resolutivkompositorische Methode, ihre methodische Abstraktion von Geschichte Dirk Jörke / Veith Selk  —  Edmund Burke

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und Vergesellschaftung und schließlich ihr Ausgangspunkt bei der rationa­ len Begründung von Prinzipien erlaubten nicht nur eine Distanzierung von der historischen Faktizität der damaligen Verhältnisse, sondern auch deren kritische Prüfung. Der heutige Rationalismus ist im Unterschied dazu ein Rationalismus der politischen Projektemacher und Entscheidungseliten, der, flankiert von expertokratischen, deliberativen und technokratischen Theo­ rien und Ideologien und im Zeichen von Konsens oder Alternativlosigkeit, Politik als ein rationales Problemlösungshandeln drapiert. Das ist Rationa­ lismus als Ideologie. Ein von Burke inspirierter Skeptizismus kann hier vielleicht als ein antidot wirken und dabei helfen, Politik wieder als das zu sehen, was sie – neben der ja tatsächlich notwendigen Lösung von kollektiven Problemen – ist: ein zuweilen kooperatives, häufig aber auch konfliktives Handeln unter Bedin­ gungen der Unsicherheit und vor dem Hintergrund widerstreitender Mei­ nungen, rhetorischer Manipulationsversuche, hartnäckiger Vorurteile und im Angesicht nie ganz abschätzbarer Folgen. Ein Handeln, bei dem – wie Burke im Angesicht der revolutionären Erschütterung der alten Privilegien selbst erkennen muss – nicht selten die einen das gewinnen, was die an­ deren verlieren.

Prof. Dr. Dirk Jörke, geb. 1971, ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte des Politischen Denkens (insbes. 18. Jahrhundert), Demokratietheorie und Pragmatismus. Dr. des. Veith Selk, geb. 1980, ist wissenschaftli­ cher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theorien der Politik und die Geschichte des politischen Denkens.

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Konservatismus — Portrait

INSPEKTION

TRUTZBURGEN DES KONSERVATISMUS AUF SPURENSUCHE IM KONSERVATIVEN MILIEU ΞΞ Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp

Sie sagen, sie seien konservativ. Die Mitarbeiter und Veranstaltungsbesucher der Berliner Bibliothek des Konservatismus, die jungen Christdemokraten, die sich während des Treffens »Zukunftswerkstatt« in Lübeck Gedanken über ihre Parteien machen, sowie die Studenten und Besucher, die sich im Verbindungshaus der Burschenschaft Hannovera zu Göttingen versammeln, um über den Bürgerkrieg in Syrien zu diskutieren. Zufällige Stippvisiten, gewiss. Doch stießen die Autorinnen dieses Textes an den inspizierten Or­ ten auf Menschen, die sich bemerkenswert selbstverständlich dem Konser­ vatismus zugehörig fühlen, ihn nach eigenem Dafürhalten (vor-)denken und (vor-)leben, ihn zu schützen und zu bewahren suchen. Auf welche Art dies geschieht, welche verbindenden Erzählungen, welche Lebens- und Denk­ entwürfe dabei zu erkennen sind, die von hier aus entwickelt und beworben werden, danach fragt diese Inspektion. BIBLIOTHEK DES KONSERVATISMUS – ANSICHTEN VON DER RÜCKSEITE DES MONDES? Die Erkundung beginnt im Zentrum (West-)Berlins, genauer: in Charlotten­ burg zwischen Technischer Universität, Kurfürstendamm und Zoologischem Garten. Hier liegt – völlig unscheinbar – die Bibliothek des Konservatismus. Sie erstreckt sich an der Fasanenstraße 4, gegenüber dem Ludwig-ErhardHaus, über mehrere Etagen eines Bürokomplexes mit großer Glasfassade. Schon allein äußerlich umgibt die Bibliothek eine Aura der Seriosität – angesiedelt mitten im gutbürgerlichen Teil Berlins. Die Bibliothek des Kon­ 1  Homepage der Bibliothek des Konservatismus, URL: http:// www.bdk-berlin.org/bibliothek/ [eingesehen am 14. 07. 2015].

servatismus sieht ihren Platz ganz offenkundig in der Mitte der Gesell­ schaft, als »Ort der Forschung und des Wissens« sowie als »Denkfabrik und Ideenschmiede«.1

INDES, 2015–3, S. 111–122, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Als konservativ geltende Medien betonen, dass hier die wissenschaft­ liche Auseinandersetzung mit dem Konservatismus vorangebracht werde – offen, frei, fortschrittlich.2 Dem Selbstverständnis nach linksliberale Pres­ seerzeugnisse sehen dagegen in der Bibliothek ein zentrales »Netzwerk der Neuen Rechten«3 bzw. eine ihrer bedeutendsten Einrichtungen, deren Ziel sei, »deutschnationale und völkische Positionen einer breiten Masse zugänglich« zu machen, um langfristig eine »rechte Hegemonie« zu erringen.4 Auch das linke Bewegungsspektrum schmäht die Bibliothek in BerlinCharlottenburg als einen wesentlichen Anlaufpunkt für rechte und (rechts-) konservative Akteure.5 Die Bibliothek selbst teilt indes mit, sie stehe – nach vorheriger Anmeldung – jedem Interessierten zum Forschen, Denken, Dis­ kutieren zur Verfügung. Was zeichnet diesen Ort also aus? Wenn man die Bibliothek des Konservatismus betritt, fällt zuerst die Schlichtheit im Eingangsbereich auf. Die Theke ist dezent, aber stilvoll ein­ gerichtet. Flyer liegen aus und ein paar Bücher werden beworben – Werke von Caspar von Schrenck-Notzing, Biografien von Alain de Benoist über Carl Schmitt und Hans-Christof Kraus bis hin zu Bismarck, daneben die eigens von der Bibliothek herausgegebene Bücherreihe »Erträge«. Die Begrüßung durch den Leiter der Einrichtung, Wolfgang Fenske, sowie einen weiteren Mitarbeiter ist freundlich. Beide tragen Anzug, Hemd, Jackett, das gegelte Haar ist eher modisch als streng gekämmt, der Ton höflich und zuvorkommend. Ein Mitarbeiter führt durch die Räumlichkeiten, berichtet durchaus stolz vom bisher Erreichten und in Zukunft Geplanten. Auffällig ist, dass sich alle siezen – auch die Mitarbeiter untereinander. Wofür die Bibliothek steht, geht bereits aus einer ausliegenden Broschüre hervor. Ihr Titel: »Konservative Köpfe braucht das Land«. Darin heißt es: »Orte des akademischen Austausches für Konservative waren rar. Konser­ vative Denkfabriken und Institute gab es in Deutschland so gut wie nicht.« In diese Lücke des epischen Präteritums sei die Bibliothek gestoßen. Sie sei

2  Siehe Joachim Güntner, Bekenntniszwang ist hier nicht gefragt, in: Neue Zürcher Zeitung, 14. 12. 2012; Heimo Schwilk, Der wahre Konservative ist für den Fortschritt offen, in: Welt Online, 26. 11. 2012, URL: http://www. welt.de/kultur/literarischewelt/ article111486176/Der-wahreKonservative-ist-fuer-den-Fort­ schritt-offen.html [eingesehen am 26. 06. 2015]. 3  Marina Mai, Lange Nacht der rechten Bücher, in: die tageszeitung, 24. 10. 2013. 4  Arne Zillmer, Lange Nacht der Neuen Rechten?, in: Stö­ rungsmelder, 22. 10. 2013, URL: http://blog.zeit.de/stoerungs­ melder/2013/10/22/lange-nachtder-neuen-rechten_14230 [eingesehen am 26. 06. 2015].

mithin »einzigartig«, denn »[h]ier haben konservative Intellektuelle und Akademiker endlich einen Ort, sich über aktuelle Fragen auszutauschen«. Ein ambitionierter Anspruch, der sich auf die Tradition der Zeitschrift Criticón beruft. Deren Gründer, der bereits erwähnte Caspar von SchrenckNotzing, rief im Jahr 2000 die Förderstiftung Konservative Bildung und For­ schung ins Leben und amtierte als deren Vorsitzender, bis ihm 2007 Dieter Stein nachfolgte. Die Förderstiftung ist zugleich Träger der Bibliothek, die erst 2012 gegründet worden ist, Stein außerdem Chefredakteur der Jungen Freiheit. Den Grundstock der Bibliothek bildet der Nachlass von Schrenck-Not­ zings, der noch um den Nachlass von Günter Rohrmoser erweitert worden

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Konservatismus — Inspektion

5  Siehe Recherche & Aktion Berlin, Neue Rechte auf Langer Nacht der Bibliotheken, 17. 10. 2013, URL: http://www.re­ cherche-und-aktion.net/2013/10/­ konservatismus-neue-rechte-auflanger-nacht-der-bibliotheken/; Berlin Rechts­­außen, Neue zentrale Punkte des Rechtskonservatismus, 10. 04. 2013, URL: http://www. blog.schattenbericht.de/2013/04/ neue-zentrale-punkte-desrechtskonservatismus/ [beide eingesehen am 26. 06. 2015].

ist. Bisher ist die Arbeit der Bibliothek begrenzt. »Neben der Pflege und Er­ weiterung der bibliothekarischen und archivalischen Sammlungen finden seit 2013 etwa zwei Mal im Monat Vortragsveranstaltungen zu aktuellen Themen« statt, geht aus der Broschüre hervor. Man befindet sich also noch am Anfang, wobei »eine Vision […] klar vor Augen [steht]: eine konservative Denkfabrik für Deutschland!« Wer durch die Bibliothek geht, entdeckt auf insgesamt drei Etagen einen Lesesaal, einen Seminarraum und ein Magazin mit 200 Zeitschriften, Zei­ tungen sowie einer eigenen Sammlung von Plakaten und Bildern. Über 60.000 Bücher soll es hier geben, von denen rund die Hälfte zugänglich ist. Betritt man den Lesesaal, der nicht größer ist als ein Seminarraum einer Uni­ versität, fallen zuerst die Bücherregale auf, die sich bis unter die hohen weiß gestrichenen Decken erstrecken. In der Mitte des Raums befindet sich ein kleiner Tisch, an der Wand ist ein Projektor für Vorträge installiert, an der Seite der Fensterwand stehen ein paar Arbeitstische mit Blick auf den Platz des Ludwig-Erhard-Hauses. Statt Bildern oder Fotografien hängen Videokameras an den Wänden im Lesesaal. In einer Ecke sind Tages- und Wochenzeitungen an einer gro­ ßen Zeitschriftenwand ausgestellt. Im Bestand finden sich neben FAZ, Welt, Süddeutsche oder Zeit auch der Preußische Generalanzeiger, der Bayernkurier, die Junge Freiheit und die Deutsche Sudetenpost. Neben dem Merkur und der Zeitschrift für deutsche und internationale Politik fallen Periodika wie Deutsche Zeitung, Nationalzeitung, Blaue Narzisse, Sezession, Compact oder die Burschenschaftlichen Blätter ins Auge. Der Bücherbestand konzentriert sich auf den Konservatismus und die deutsche Geschichte. Ein großer Bereich beinhaltet ausschließlich Literatur über die »Konservative Revolution« der Weimarer Zeit. Darüber hinaus finden sich noch kleine Themenbereiche speziell zu »Preußen«, »deutsche Volkskunde« oder zum »Auslandsdeutsch­ tum«, aber auch zur »Militär(geschichte)« oder zur »Abtreibungsproblematik« bzw. zum »Lebensrecht«. Überlaufen ist dieser sich so ambitioniert gebende Ort indes nicht: An die­sem Donnerstagmittag ist der Verfasser einziger Gast, insbesondere der Bibliotheksleiter Fenske scheint deshalb viel Zeit für Auskünfte zu haben. Der evangelische Theologe, der über den jungkonservativen Theologen Karl Bernhard Ritter promoviert hat und eine Zeit lang Redakteur der Jungen Freiheit gewesen ist, strahlt Souveränität und Gelassenheit aus. Bevor er Leiter der Bibliothek geworden ist, absolvierte er sein Vikariat in Berlin. Mehrfach innerhalb kürzester Zeit erfolgt die Nachfrage, ob alles zur Zufriedenheit sei oder man Fragen habe. Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp  —  Trutzburgen des Konservatismus

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Während einer Zigarettenpause kommt der Verfasser mit einem der Mit­ arbeiter vor dem Gebäude ins Gespräch. Ein vermeintlich Obdachloser sitzt vor dem Haupteingang, was dem Bibliotheksmitarbeiter offenkundig miss­ fällt. Er entschuldigt sich, dass »solche Gestalten« hier in Berlin herumlägen, und fügt hinzu, dass der Verfasser dies ja »leider« kennen müsse, da er aus Göttingen komme – die »Rote Straße« und »die vielen Autonomen« seien schließlich weithin bekannt. Es beginnen die Vorbereitungen für die Abendveranstaltung. Die Biblio­ thek lädt zu einem Vortrag des Islamwissenschaftlers Tilman Nagel ein. Das Thema des Abends: »Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam«. Rund 100 Personen haben sich kurz vor Beginn im Veranstaltungsraum ein­ gefunden, viele der Anwesenden sind zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Die Mehrheit ist ähnlich förmlich gekleidet wie die Bibliotheksmitarbeiter, eine kleine Gruppe trägt russische Tracht, eine dazugehörige Frau blättert in einem Compact-Buch, die anderen unterhalten sich über Putin. Es herrscht eine entspannte Stimmung, viele lachen, unterhalten sich. Man kennt sich, ist unter sich. Es geht überwiegend um Vernetzungsgespräche: Eine Person lädt Umstehende zu einem offenen Abend der AfD in Steglitz ein, eine Frau macht Werbung für einen Diskussionsabend über Russland. Bibliotheksleiter Fenske begrüßt jeden Gast persönlich, leitet den Abend ein und kündigt den »sachkundigen, nüchternen, aber auch unerschrockenen« Referenten an. Tilman Nagel beginnt seinen Vortrag. Er kritisiert, dass man in Deutsch­ land keine »richtige Auseinandersetzung« über den Islam führen könne. Man wolle das »Menschenbild« oder »Demokratieverständnis« des Islam nicht »richtig« analysieren, ja dürfe nicht einmal darüber sprechen, die Islam-Pro­ blematik werde von der Gesellschaft verdrängt und verharmlost. Dies, so Nagel, müsse sich ändern, denn, wie er mit Belegen aus dem Koran heraus­ arbeitet, der Islam sei unvereinbar mit dem Rechtsstaat. Diese Unvereinbarkeit sei »evident«. Doch statt darüber zu diskutieren, habe die CDU – in Person des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff – 2010 verkündet: »Der Islam gehört zu Deutschland.« Das Publikum lacht an dieser Stelle lautstark, ein Mann haut mit den Händen gegen seinen Stuhl, es wird sich geräuspert, eine Frau ruft: »Hach, die Ahnungslosen!« Danach sucht Nagel zu belegen, dass »der Islam« keine menschliche Freiheit, keinen Pluralismus und keine Menschenrechte kenne. Er nutzt Koranzitate, um aufzuzeigen, dass »der« Islam nach der »Herrschaft« in Europa strebe, und zieht das Buch »Die Unterwerfung« des französischen Autoren Michel Houellebecq heran – als Literatur gewordene Wahrheit, die

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keiner wahrhaben wolle. Der Islamwissenschaftler fordert daher eine »sach­ kundige Kritik« am Islam. Diese sei notwendig – »sonst steht die BRD am Abgrund«. Ende des Vortrags. Wenige Sekunden später herrscht kurz eine bedrückende Stille im Raum, als wären alle fassungslos. Eine lange und intensiv geführte Debatte schließt sich an. Zunächst geht es vor allem um die Frage, ob sich der Islam überhaupt reformieren könne – was kategorisch verneint wird. Auch die öffentlichen »Lippenbekenntnisse« von Politikern und Kirchenvertretern, die behaupten würden, der Islam sei eine »friedliche Religion«, werden diskutiert – laut Nagel eine reine »Verblen­ dung«, woraufhin das Publikum lacht und eine Frau »Idioten!« ruft. Die Zuhörer formulieren auch Vorschläge, wie man mit »der Situation« umgehen müsse. Ein Mann sieht die einzige Lösung darin, dass das Chris­ tentum sich stärker gegen den Islam positioniert. Die orthodoxe Kirche in Russland tue dies bereits – und zwar mit Erfolg. Dort gebe es – »eben genau deshalb« – keinen Islam. Ein anderer sagt, dass der »Islamische Staat« (IS) das »wahre Gesicht« des Islams zeige, weil der IS den Koran befolge. Eine Frau meint: »Ich habe wahnsinnige Angst, dass der Islam, wie der IS, sich in Deutschland ausbreitet.« Die Stimmung heizt sich weiter auf, man diskutiert hoch engagiert, teils empört. Die Leute artikulieren nun immer stärker ihre Ängste und Befürch­ tungen, aber auch die Aversionen gegen die »Mehrheitsgesellschaft« werden offensichtlicher. Viele berufen sich auf die Bibel. Einige ziehen Goethe als Beleg ihrer Meinung heran, lassen Sätze mit »wie Goethe schon sagte« oder »wie Goethe richtig erkannte« beginnen. Hier zeigt sich die Bemühung, die eigenen Argumente in eine »deutsche Kulturtradition« einzubetten. Mehrere Personen reden davon, dass »die« doch »Realitätsverweigerer« seien und die Gefahren des Islam verkennen würden. Andere fragen fast verzweifelt: »Was sollen wir dagegen machen?« Es wird laut nach dieser Zwischenfrage, man­ che rufen »PEGIDA!«; ein jüngerer Mann tönt: »Es muss von unten kommen«; andere sekundieren: »Die Massen mobilisieren!« Tilman Nagel geht darauf nur indirekt ein und plädiert dafür, erst einmal das »persönliche Umfeld« aufzuklären. Doch Ängste, Sorgen und Vorurteile der Anwesenden brechen sich im weiteren Verlauf immer stärker Bahn. Sei es, dass ein älterer Mann sagt: »Ich hoffe, meine Enkel werden nicht bald Mus­ lime werden müssen«; sei es, dass eine Frau verzweifelt klagt: »Wir werden hier diskriminiert von den Muslimen […] Ich muss die Straßenseite wech­ seln für Frauen, die Hartz IV bekommen«. Ein Diskussionsteilnehmer been­ det seinen längeren Redebeitrag mit den Worten: »Es wird zu Auseinander­ setzungen kommen.« Nach dem Abschluss der Veranstaltung hat man das Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp  —  Trutzburgen des Konservatismus

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Gefühl: Für diesen Abend haben sie genug geredet, insgesamt jedoch längst noch nicht alles gesagt. Relativ oft wurde an diesem Tag in den Räumen der Bibliothek von »wir Konservativen« oder unbestimmt vom »Konservativen« gesprochen; nie wurde indes ausgeführt, was damit genau gemeint war oder ist. Diese Form der weltanschaulichen Zuordnung definiert sich offenbar eher über die Abgren­ zung: Der Konservative ist – das lässt sich der Diskussion indirekt entneh­ men – »der Anständige«, »der Vernünftige«, der die Realität betrachtet, sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzt und vor allem den Mut hat, die gro­ ßen gesellschaftlichen Probleme zu thematisieren. Der vermeintliche Gegen­ spieler des Konservativen ist die »Mehrheitsgesellschaft«, der »linksliberale« »Tugendterror« (Sarrazin). Diese Art Konservatismus definiert sich hauptsächlich über die Artikula­ tion der Bedürfnisse der sogenannten einfachen Leute. Eben diese würden von »der Politik« nicht mehr wahrgenommen, wie es heißt. Gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen werden hier weniger – im Sinne einer Weltanschau­ ung – diskutiert; stattdessen geht es um ein Bekenntnis zu dem, was man eben nicht will. Der Geist der Verneinung zeigt sich an diesem Abend aus­ zugsweise, hauptsächlich gemünzt auf den Islam und damit verbunden auf die multikulturelle Gesellschaft, die man ablehnt. Aber die Stimmung und vor allem der Duktus der Veranstaltung geben Hinweise darauf, dass es bei anderen Themen nicht anders verlaufen dürfte. Man sagt und zeigt demonstrativ, was man nicht will; kein einziges Mal wird aber die Frage aufgeworfen, warum man denn nicht will, was man ab­ lehnt bzw. was man stattdessen möchte. Die Abgrenzung und das Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens von Politik, Parteien, Medien, der Öffentlichkeit insgesamt sind der dominante Eindruck. Zu spüren ist in der Bibliothek der Stolz darüber, »alternative« Materia­ lien im Bestand zu haben, die sonst kaum jemand hat, der Stolz auch auf das selbstzugewiesene Etikett des Mutigen, der als einziger »alle wissen­ schaftlichen Materialien« zur »offenen Auseinandersetzung« ausbreitet. Die Anwesenden sind in der Eigenwahrnehmung der Teil der Gesellschaft, der die »wahren« Probleme erkennt und eine »offene« Diskussion darüber ohne repressive Tabus führt – und der eben deshalb von Öffentlichkeit und Ent­ scheidungsträgern nicht gehört wird. Am nächsten Morgen, ein abschließendes Gespräch mit Bibliotheksleiter Fenske. Es geht um irrige Vorstellungen von konservativ, die falsche Gleich­ setzung von konservativ und rechts und darum, ob die christdemokratische Partei für ihn eine konservative sei. Er verneint. Er kenne Wolfgang Bosbach,

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dieser sei »einer der Letzten«, die noch für das Konservative in dieser Partei öffentlich einträten, einer der »kämpfe«. Vor Kurzem hielt auch Bosbach in der Bibliothek einen Vortrag. Dabei sagte er, so Fenske, dass Konservative in der CDU heute keine Chance mehr hätten. Das sei vorbei. Bloß laut, nach außen, vor laufenden Kameras dürfe man das nicht sagen. »NICHT SO DIE 1-A-KONSERVATIVEN« – EIN TAG MIT DER JUNGEN UNION Ortswechsel: Lübecker Hafen. Die Media Docks wirken noch recht verlassen an diesem stürmischen Samstagvormittag. Nur ein paar unauffällige Schil­ der lassen erahnen, dass sich in Kürze irgendwo auf dem Areal Mitglieder der Jungen Union Deutschlands zu ihrer nunmehr fünften Zukunftsdebatte versammeln werden. Die Themen der Veranstaltung – Familie, Ehe, Inte­ gration und Flüchtlinge – versprechen Diskussionen mit ausreichend Raum für konservative Positionen. Eine Tür öffnet sich, vier junge Leute treten ins Freie. Geht’s hier zur JU? Einer der Männer grinst, zupft sein Polohemd zu­ recht und sagt: »Nö, wir sind die Jusos.« Seit ihrer Gründung im Jahr 1947 versteht sich die Junge Union als eigen­ ständige Größe, bestrebt, die Inhalte ihrer Mutterpartei im Sinne der christde­ mokratischen Jugend mitzugestalten. Doch parteinahe Jugendverbände haben es mit diesem Anspruch oft nicht leicht, nur schwer lässt sich oftmals zwischen eigenständigem Idealismus und familiärer Verbundenheit die Balance halten. Schon in ihrer Anfangsphase galt die Junge Union mal als ergebene Wahl­ kampfhelferin, mal als reaktionärer Block der CDU.6 Auch dem bis 2014 am­ tierenden JU-Bundesvorsitzenden Philipp Mißfelder wurde nachgesagt, er habe zum einen aus der Organisation einen gestrigen »Fan-Club«7 Helmut Kohls gemacht, der dem alten Bundeskanzler mit Geburtstagsständchen seine unerschütterliche Loyalität bekundete. Zum anderen habe er den Kurs der Kohl-Nachfolgerin Angela Merkel regelmäßig als zu linkslastig, zu sozial­ 6  Vgl. Helmut Bilstein u. a., Jungsozialisten, Junge Union, Jungdemokraten. Die Nachwuchsorganisationen der Parteien in der Bundesrepu­ blik, Opladen 1971, S. 43. 7  Katharina Schuler, Wer ersetzt den kleinen Kohl?, in: Zeit Online, 18. 09. 2014, URL: http://www.zeit.de/ politik/deutschland/2014–09/ missfelder-cdu-junge-union [eingesehen am 21. 07. 2015].

demokratisch, zu mittig gegeißelt und sei dafür von der JU gefeiert worden. Zumeist nahm die Jugendorganisation der Unionsparteien unter dem im Sommer 2015 so jäh verstorbenen Mißfelder insofern auch noch in der jüngs­ ten Vergangenheit eine mahnende Haltung ein, die die Mutterparteien an überkommene Gültigkeiten und Werthaltungen zu erinnern suchte. In den Augen mancher Beobachter mochte das devot, antiquiert und verstaubt wir­ ken. Für Jungunionisten selbst war und ist dies indes nicht selten der Kern ihres Engagements – überzeugter Konservatismus. Wie zeigt sich das an diesem Tag in Lübeck? Die Atmosphäre ist zu­ nächst professionell, aber herzlich, beim Sektempfang werden emsig Hände Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp  —  Trutzburgen des Konservatismus

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geschüttelt. Neuankömmlinge stellen sich höflich nickend vor, gesellen sich dann lächelnd zu befreundeten Mitstreitern oder schließen beim empörten Fachsimpeln über den gemeinsamen schleswig-holsteinischen Ministerprä­ sidenten, einen Sozialdemokraten, rasch neue Bekanntschaften. Die routinierte Etikette kann dem geselligen Beisammensein wenig an­ haben; es wird gescherzt, gelacht, geschäkert. Ob sie denn gleich gemein­ sam in die Ehe gingen, fragt ein junger Mann seine Begleiterin und erntet Gekicher – gemeint ist die Arbeitsgruppe. Für Amüsement sorgt auch die feierliche Übergabe einer Flasche Sangria zum Dank an die Organisatoren, nicht zu vergessen die ausliegenden Bierdeckel mit der Aufschrift »Freibier für alle!«. Vorab: Der unbeschwerte Übermut wird die Zukunftsdebatte der Jungen Union völlig unbeschadet überstehen. Zu ernsthaften Disputen kommt es hier nämlich nicht, auch wenn im Anschluss des Öfteren betont wird, dass man »sehr kontrovers« diskutiert habe. Tatsächlich hat die »Debatte« aber mehr von einem politisierten Kaffee­ klatsch, einer heiteren Plauderei bei Sekt, Saft und Tomatensuppe. Es gibt sie natürlich immer wieder, die Gegenpositionen und kritischen Stimmen; aber sie erheben sich nur leise und ohne Ausdauer. Die Diskussionen bleiben respektvoll, gelassen. An vier verschiedenen Thementischen sitzen die Teil­ nehmer beisammen und sinnieren angeregt über polarisierende Punkte wie »Homoehe« und Flüchtlingsheime, erarbeiten mit Filzstiften und Plakaten kurze Präsentationen, die später an der Tafel, die hier Rednerpult genannt wird, vorgestellt werden. Man arbeitet diszipliniert, konsensorientiert; emotionale Ausbrüche und Streit kennen die Teilnehmer anscheinend nicht – oder vermeiden sie ge­ konnt. Nach einer Dreiviertelstunde sind die Gruppengespräche bereits be­ endet. Teilnahmslos lauscht man den kurzen Präsentationen der anderen, flüsternd mit den Umstehenden die Autofahrt zum anschließend stattfinden­ den Deutschlandrat planend. Eine gemeinsame Debatte der vorgestellten Er­ gebnisse ist nicht vorgesehen. Das Miteinander in Lübeck verharrt in Harmonie, und auch von den Mut­ terparteien wird Abgrenzung kaum beschworen. Stattdessen verweist man reflexartig auf die traute politische Gegnerschaft; es sind immer wieder »die Linken«, die als Ankerpunkt milder wie ernster Polemik fungieren. Was sie eigentlich von den jungen Kräften rechts der Union halten, die mitunter kon­ servative Gesinnungen geloben? Nun, für konservativ halte man »PEGIDA« und AfD zwar eher nicht, entgegnet eine Gruppe junger Frauen zögernd, aber es handele sich doch immerhin um Bürger – insofern sei wirklich nicht in Ordnung, dass sich die linken Parteien hier Gesprächen verweigerten.

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In den Linken erkennt später auch der Ehe-Arbeitskreis die eigentlichen Widersacher des christdemokratischen Wertekanons: An homosexuellen Paa­ ren, die an der Institution Ehe und den damit assoziierten Werten festhalten wollen, wird keineswegs Anstoß genommen; dagegen kenne man aber »Links­ autonome, die sagen, sie wollen gar nicht heiraten!« Fassungsloses Schwei­ gen. Die Linken, so heißt es dann seufzend, gingen mal wieder viel zu weit. Die Junge Union mag sich an ausgemachten Eiferern von links stören, gibt sich an diesem Tage jedoch selbst betont progressiv. Eine im Grundgesetz verankerte Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft wird klar befürwortet; zwei Mädchen wundern sich kopfschüttelnd darüber, was eigentlich gegen ein Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Lebenspart­ ner einzuwenden sei. Dies sei immerhin »besser als Heim«, pflichtet eine an­ dere Teilnehmerin eifrig bei. Ein junger JUler beeilt sich indes lächelnd, das Geschehen zu erklären: »Wir sind hier nicht so die 1-A-Konservativen. Da musst du mal nach Bayern fahren oder so.« Kurz darauf wird es einigen dann aber doch zu bunt – rechtliche Gleich­ stellung ja, den Begriff der Ehe mag man aber doch noch nicht für ihre gleich­ geschlechtliche Form öffnen. »Das ist so ein traditionelles Ding für viele hier, so ein religiöses Ding«, murmelt ein Diskutant und rutscht auf seinem Stuhl hin und her. »Da geht es tatsächlich ums Prinzip«, fügt er hinzu. Seine Sitz­ nachbarn eilen ihm argumentativ zu Hilfe. Irgendwann werde die Gesellschaft schon so weit sein, von der Heirat gleichgeschlechtlicher Paare zu sprechen; dieser Entwicklung wolle man aber nicht vorgreifen. Hier wird dann doch ein »konservativer Geist« herangezogen; dieser sei »das komplette Gegenteil« von der »Katastrophe Veggie-Day«. Linke Politik wolle Veränderung »viel stärker normativ« und »von oben« erzwingen, noch bevor die Gesellschaft selbst dazu bereit sei – konservative Politik orientiere sich demgegenüber an dem, was sie bereits in der Gesellschaft vorfinde. So lasse sich »das Gute bewahren, aber auch das Neue hinzufügen«. Die Um­ stehenden nicken erleichtert, wenden sich ab, Widerspruch gibt es keinen. ZWISCHEN »STREBEN« UND »PFLICHT« – EIN BESUCH IN DER BURSCHENSCHAFT HANNOVERA ZU GÖTTINGEN So offen, ja fast strukturlos Konservatismus bei der Jungen Union daher­ kommt, so geschlossen erscheint er in der Burschenschaft Hannovera zu Göt­ tingen, dem dritten Ort dieser Inspektion. Die Blickrichtung hier wirkt klar ausgerichtet: national(-konservativ), vaterlandsliebend, freiheitlich-patriotisch, lebensbündisch, pflicht- und ordnungsbewusst. So jedenfalls lautet die Selbst­ darstellung der farbentragenden, quasi pflichtschlagenden Burschenschaft, Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp  —  Trutzburgen des Konservatismus

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die sich 1848 gegründet hat. Ihr Motto: »Freiheit durch Einigkeit«. Kritische Beobachter halten die Gruppierung indes für reaktionär, revisionistisch, au­ toritär, antipluralistisch, antidemokratisch, nationalistisch. Mancher spricht gar von einem »Nazizentrum«8. Es herrscht folglich kein Mangel an Zu­ schreibungen. Das Haus ist schlicht, heller Anstrich, grüne Fensterläden, und doch im­ poniert der klassizistische Bau an der Herzberger Landstraße mit den hohen Fenstern und den alten Bäumen, die ihn umsäumen. Von dem benachbarten Grundstück einer anderen Verbindung dringen an diesem Abend Stimmen herüber. Doch ansonsten ist es ruhig, nur lautlos deuten sich die Konflikte an, die sich um den Ort und seine Bewohner ranken. An der Fassade bunte Flecken, Überbleibsel von Farbbeuteln, Symbole des Widerspruchs mutmaß­ lich linker Gruppen der Stadt. Die ordentlich gestrichenen Fensterläden im Erdgeschoss sind geschlossen und die Hecken um das Gelände mannshoch. Ein Blick hinein, in den Gar­ ten oder gar das Haus, ist Außenstehenden kaum möglich. Gegenüber dem Grundstück steht ein Polizeiwagen mit ausgeschaltetem Motor. Auch an die­ sem Veranstaltungsabend wird mit Protesten gerechnet. Vereinzelt begeben sich Menschen in die bourgeois anmutende Stadtvilla. Die Burschenschaft Hannovera gilt als Teil des rechten Randes der Göttin­ ger Verbindungsszene. Ihr Bezug auf deutschnationale Werte und der Versuch ihrer Verwirklichung im eigenen Kollektiv drücken sich etwa in dem Prinzip des »Lebensbundes« aus, auf dem die studentische Korporation basiert. Tritt die Verbindung in Göttingen mit ihren Farben (grün, weiß, rot mit silberner Perkussion) kaum öffentlich in Erscheinung, stellt sie ihre Anschauung und Überzeugung insbesondere online zur Schau. Friedrich der Große wird bspw. zur Ikone verklärt. Da werden in Bezug auf den »Alten Fritz« das »Streben« und die »Pflicht« hervorgehoben, die allein »dem Vaterlande und unserem Deutschen Volk« zu gelten hätten, »ohne das wir identitätslose Individuen in einer Welt von identitätslosen Individuen wären!«9 Das Individuum rangiert folglich hinter dem Volk und der Nation. Die Verbindungsbrüder der Hannovera wähnen sich in einer exponierten Rolle, mit der eine besondere Aufgabe einhergehe, der »bundesrepublikani­ sche Normalbürger« nur unzureichend nachkämen.10 Auf einigen im Inter­ net veröffentlichten Fotos posieren junge Männer mit Verbindungsfahnen auf Waldlichtungen oder vor dem Göttinger Bismarckturm – beides, der Wald und Bismarck, Symbole der deutschnationalen Bewegung. Hierzu passt, dass ein führender Aktiver der Hannovera auf seiner Face­ book-Seite die »Romantik« und »Richard Wagner« als seine Interessen angibt,

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8  Siehe dazu bspw. ­Antifa ­ öttingen, Nazizentrum G Burschenschaft Hannovera angegriffen, in: Linksunten Indymedia, 14. 01. 2012, URL: https://linksunten.indymedia. org/de/node/53349 [eingesehen am 22. 07. 2015]. 9  Burschenschaft Hannovera zu Göttingen, 7. Mai 2015, URL: https://www.facebook.com/ BurschenschaftHannovera/photos/ a.681789781904783.1073741828. 339455456138219/832547896828 970/?type=1&theater [eingesehen am 09. 07. 2015]. 10  Siehe Burschenschaft Han­ novera zu Göttingen, 7. Mai 2015, URL: https://www.facebook.com/ BurschenschaftHannovera?fref=ts [eingesehen am 12. 08. 2015].

außerdem die »heimattreue« Band »Frei.Wild«. Überdies gehört er der nie­ dersächsischen Jungen Alternative an, der Jungendorganisation der Alterna­ tive für Deutschland. Die Burschenschaft selbst, so heißt es, sei zwar politisch, jedoch nicht par­ teipolitisch gebunden. Eine Nähe vieler Burschenschafter der Hannovera zur AfD ist über einschlägige Nachweise im Internet indes festzustellen. Auffäl­ lig ist dabei auch die Sprache: In den Kommentarzeilen der Burschenschaft wird immer wieder von »Heimatseiten« und »Weltnetz«11 statt von Homepage und Internet gesprochen – Eindeutschungen von Anglizismen, wie sie auch rechtsextreme Gruppierungen im Rahmen einer »Schutzpolitik für die deut­ sche Kultur« vorzunehmen pflegen.12 Während man so noch Aktivitäten der Hannovera auf dem Smartphone verfolgt, gelangt man in den Garten, wo Einlass gewährt wird. Ein junger, Anzug und Schärpe tragender Mann fragt nach dem Namen – um Anmel­ dung war schließlich gebeten worden. Ausnahmsweise sind auch »Damen« zu der Veranstaltung »auf dem Haus« erlaubt. Die Eingangshalle verliert bei genauerem Hinsehen auffällig rasch ihren Glanz: Die Wände sind vor vielen Jahren das letzte Mal frisch gestrichen worden, auf Flächen und Fotorahmen hat sich Staub gelegt. Hohe, helle Räume gibt es nicht, stattdessen Verklei­ dungen aus dunklem Holz, die Wände nahezu vollständig behängt mit Schat­ tenschnitten oder Fotos von Mitgliedern vergangener Jahre. Die Fensterläden sind verschlossen, trotz Sonnenscheins ist es innen eher düster. Zigarettenqualm liegt in der Luft. Korporierte und Bekannte tauschen sich an der aus schlichten Holzplatten gezimmerten Bar aus und trinken Pils 11  Kommentar vom 21. Mai 2013 der Burschenschaft Normannia-Leipzig zu Marburg, URL: https://www.facebook.com/ BurschenschaftHannovera/photos/ a.461840290566401.1073741826. 339455456138219/461840413 899722/?type=1&theater [eingesehen am 09. 07. 2015].

vom Fass. Einer der Vorhänge ist einen Spalt weit geöffnet, ein Verbindungs­ bruder eilt schnell heran und zieht ihn sorgfältig wieder zu. Hofiert wird an diesem Abend ein hagerer Mann mit blonden Haaren und Ziegenbärtchen: Billy Six, ein 29-jähriger Kriegs- und Krisenreporter der rechtskonservativen Tageszeitung Junge Freiheit und Buchautor, wird heute referieren. In seinem Vortrag thematisiert Six seine Erlebnisse in Sy­ rien als Beispiel für die »Bürgerkriegsschauplätze im Nahen Osten« und

12 

Vgl. Toralf Staud, »Welt­ netz, Heimatseite, Fratzen­ buch« – die Naziszene im Netz, in: Störungsmelder, 14. 04. 2013, URL: http://blog.zeit.de/ stoerungs­melder/2013/04/14/ weltnetz-heimatseite-fratzenbuchdie-naziszene-im-netz_12590 [eingesehen am 12. 08. 2015]. 13 

URL: http://billys-reisen.de/ [eingesehen am 22. 07. 2015].

berichtet seinen rund dreißig Zuhörern anhand einer Fotopräsentation von seiner Geiselnahme durch Islamisten, seiner Inhaftierung durch den syri­ schen Staat und vom Leben der syrischen Bevölkerung. Bereits auf seiner Onlinepräsenz, die den Titel »Billy’s Reisen – Auf der Suche nach Wahr­ heit« trägt, inszeniert sich der Reporter als eine Art konservativer Indiana Jones, dessen Reiseberichte unter Titeln wie »Die letzte Schlacht des Mai­ dan«, »Marsch ins Ungewisse« oder »Billy’s Reise – Wie alles begann« nach­ gelesen werden können.13 Florian Finkbeiner / Julika Förster / Julia Kopp  —  Trutzburgen des Konservatismus

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Auch die Rubrik »Gold- und Schatzsuche« findet sich auf seiner Seite. An diesem Abend zu Gast bei der Göttinger Burschenschaft gibt Six indes nicht den Suchenden, eher denjenigen, der bereits fündig geworden ist. Er erzählt von einem Gespräch mit einem aus Deutschland ausgewiesenen Imam, der an seiner Ausweisung »die harte Hand des Staates« schätze und respektiere. Entlang der Berichte über seine Erlebnisse in Syrien wird ein überaus ethnisches Nationalverständnis deutlich. Von der Globalisierung gehe eine große Gefahr aus, wie er mit dem Verweis auf Ägypten belegen zu können meint. Six berichtet von den Erfahrungen mit Menschen in Syrien; seine Erzäh­ lungen über die Zeit seiner Gefangenschaft sind eindrücklich, seine Kritik an dem syrischen Assad-Regime ist harsch. Die mörderische Sanktionspra­ xis der Steinigung durch Vertreter des »Islamischen Staates« und Teile der Bevölkerung wird von den Zuhörenden als »barbarisch« verurteilt. Seine Er­ klärungsansätze für die Ursachen des Bürgerkrieges und die verheerende Situation in Syrien verharren auf der Ebene der Religion. In seinem Vortrag drückt sich jedoch auch Faszination aus, die Faszination für ein Kollektiv, das gegen Feinde in einen Kampf tritt, der das eigene Leben kosten könnte. Nach der Veranstaltung berichtet Billy Six auf seiner Facebook-Seite über den Abend in Göttingen. Er schreibt: »Auch von Göttingen ist der Nahe Os­ ten nicht weit«, und beklagt »Übergriffe durch die linksextreme Szene« auf das Haus der Hannovera. Er stellt fest: »Die Gegenbewegung hockt in der Roten Straße.« Der Abend selbst jedoch sei ruhig verlaufen und zudem mit drei Stunden Vortragsdauer so lang wie noch nie gewesen. Six fügt hinzu: »Und die Diskussionen in kleinem Kreise zogen sich bis früh um 4.00 Uhr.«14

Florian Finkbeiner, geb. 1988, Studium der Poli­ tikwissenschaft und Soziologie in Trier und Göt­ tingen. Er arbeitet am Göttinger Institut für Demo­ kratieforschung.

Julika Förster, geb. 1991, studiert im Bachelor Politikwissenschaft, Religionswissenschaft und Ethnologie. Sie arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Julia Kopp, geb. 1986, arbeitet am Göttinger Insti­ tut für Demokratieforschung. Dort beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Protesten und Engage­ ment in Deutschland.

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14  URL: https://www. facebook.com/billy.six.35?fref=ts [eingesehen am 09. 07. 2015]

MANIFEST

RED TORIES, VEREINIGT EUCH! DAS INDIVIDUUM, DER STAAT UND DIE GESELLSCHAFT ΞΞ Ron Dart

Der Politologe Ron Dart ist einer der bekanntesten kanadischen Vertreter der sogenannten Red Tory-Bewegung, einer sozialkonservativen Denkrichtung, die auch in Großbritannien namhafte Anhänger hat. Wir haben Professor Dart gebeten, einige Kernthesen des »Red Toryism« zusammenzufassen. Von welchen Prinzipien ist der anglo-kanadische Red Toryism geleitet und wie kann uns eine solche Vision dabei unterstützen, die Malaise der Moderne zu bewältigen? Die philosophischen und politischen Wurzeln des historischen Toryismus reichen tief in die westliche Kulturgeschichte, weshalb eine aus­ führliche Rekonstruktion an dieser Stelle nicht möglich ist – ich möchte mich daher im Folgenden auf elf Punkte beschränken. Erstens: Tories vertrauen auf die bewährte Weisheit der Tradition, die er­ probten Einsichten in die condition humaine, welche wir unseren Vorvätern zu verdanken haben. Bernard von Chartres hat diese Denkweise recht gut zusammengefasst, als er schrieb: »Wenn wir weiter sehen als jene, die vor uns gingen, dann nur, weil wir Kinder auf den Schultern von Giganten sind.« Wenn Tories bestrebt sind, die Stimmen der Vergangenheit in ihre Urteile einzubeziehen, heißt das jedoch nicht, dass sie dies in einer romantisieren­ den Weise tun. Es geht vielmehr darum, sich auf einen vorbehaltlosen Dialog mit der Geschichte einzulassen, in dem selbst die weisesten Köpfe über die Unwägbarkeiten der menschlichen Reise belehrt werden können. Die Ge­ schichte vermag auf dieser nicht immer ganz ungefährlichen Reise im Meer der Zeiten Orientierung zu stiften. Zweitens: Tories haben eine Leidenschaft für das Gemeinwohl und für die Allmende. Das Individuum, die Gemeinschaft und die einzelnen Nationen

INDES, 2015–3, S. 123–129, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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sollen ihren Platz innerhalb eines größeren Ganzen finden. Dieses Bekennt­ nis zur organischen Natur des Staates und der Gesellschaft, die beide dem Gemeinwohl verpflichtet sind, bildet die Grundlage des Toryismus. In sei­ ner 17. Meditation hat John Donne diese integrative und holistische Vision zusammengefasst: »Niemand ist eine Insel, ganz für sich allein; jeder ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen. […] Jedermanns Tod schmälert mich, da ich ein Teil der Menschheit bin.« Diese Einsicht, dass wir alle einan­ der verpflichtet und miteinander verbunden sind, steht konträr zum Atomis­ mus des modernen und postmodernen Liberalismus, der den Individuen die Freiheit gibt, ihre eigene Zukunft so zu gestalten, wie sie möchten, und der jegliche kollektive Pflichten infrage stellt. Die Sorge um das Commonwealth ist der Grund dafür, dass die Tories in Kanada sich stets für eine starke Bun­ desregierung eingesetzt haben – denn nur ein robuster Staat ist in der Lage, die Gesundheit und das Wohlbefinden der kanadischen Bürger zu schützen. Drittens: Die Trennung von Ethik und Ökonomie ist einem Tory fremd. Wenn der Profit zum Fixpunkt allen Handelns, d. h. zum dominanten Krite­ rium wird, nach dem wir Wohlstand, Gesundheit, Erfolg und Entwicklung beurteilen, werden wir zu moralischen Krüppeln. Für Red Tories gründet das politische Leben in klassischen Tugenden wie Courage, Weisheit, Ge­ rechtigkeit und Mäßigung. Das zunehmende Gefälle zwischen Arm und Reich ist ein natürliches Produkt einer Deregulierung des Kapitalverkehrs, die unabhängig von einer ethischen Richtlinie vollzogen wird, nach der be­ urteilt werden sollte, welche Vermögen gerechtfertigt sind und wie Güter auf gerechte Weise verteilt werden können. Ganz anders als etwa die ame­ rikanischen Neokonservativen betrachteten kanadische Tories die korrum­ pierende Wirkung eines ungezügelten Kapitalismus auf die eben genannten Tugenden stets als eine der größten Bedrohungen der Moderne. Zeitlose Do­ kumente dieser Opposition gegen die Auswüchse des Marktradikalismus, die jeder Red Tory studieren sollte, sind z. B. Stephen Leacocks »Arcadian Adventures with the Idle Rich« oder auch die berühmten Radioansprachen des konservativen Premierministers Richard B. Bennett, der Kanada Anfang der 1930er Jahre durch die Große Depression führte und für ein »Ende des ­laissez faire« kämpfte. Viertens: Die Dichter der englischen Hochromantik (Coleridge, Words­ worth, Southey) waren bekanntlich eingefleischte Konservative, und ihr Plä­ doyer für die Bewahrung der Schöpfung brachte sie dazu, gegen die rohe und kurzsichtige Art und Weise zu protestieren, mit der die Industriellen damals die Umwelt zerstörten. Kurz gesagt, die Tory-Tradition hatte schon immer tiefen Respekt vor der ländlichen Natur – wenn wir, so ihr Gusto, den

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Ast, auf dem wir sitzen, absägen, werden wir sehr tief fallen. Deshalb kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Green Party in Kanada, die seit 2011 mit ihrer Vorsitzenden Elizabeth May zum ersten Mal im Unterhaus vertreten ist, zutiefst konservativ ist. Sie muss sich noch immer gegen Kräfte behaupten, die dafür plädieren, die Natur zu beherrschen, anstatt in koope­ rativer Weise mit ihr zu leben. Fünftens: Im Gegensatz zu Liberalen trennen Tories Staat und Gesell­ schaft nicht voneinander. Der Staat ist, ebenso wie die Gesellschaft, un­ verzichtbar, wenn es darum geht, das Gemeinwohl zu generieren. Man könnte sogar sagen, dass dem Staat hier die Hauptrolle zukommt, denn es ist an ihm, darüber zu entscheiden, was für jeden von uns notwendig ist. Der Gesellschaft kommt die Nebenrolle zu, auf der Graswurzelebene sich mit Problemen zu befassen, die am besten von der lokalen Gemeinde oder der Familie gelöst werden. Die Bedeutung intermediärer Strukturen – von Sphärensouveränität, freiwilligen Organisationen und Subsidiarität – ver­ weist in der Tat auf die wichtige Rolle der Gesellschaft; aber es ist am Staat sicherzustellen, dass die wichtigsten Basisgüter auf sozialen, ökonomischen und kulturellen Ebenen bereitstehen. Die exzessiven Beschimpfungen des Staates vonseiten der neoliberalen Rechten und der anarchistischen Linken sind ganz im Interesse der Großunternehmen und ihrer Vision von einer möglichst freien, d. h. enthemmten, Marktwirtschaft. Nur ein starker Staat ist in der Lage, dafür zu sorgen, dass diese Vision von multinationalen und transnationalen Konzernen nicht verwirklicht oder gar zu einem hegemo­ nialen Projekt wird. Sechstens: Selbstverständlich ist es eine der ersten Pflichten eines Rechts­ staates, privates Eigentum zu garantieren. Aber es muss zudem eine Vielzahl öffentlicher Güter und Räume geben, die wir miteinander teilen. Das klas­ sische Buch »Die politische Theorie des Besitzindividualismus« des großen kanadischen Politikwissenschaftlers C.B. Macpherson ist daher Pflichtlektüre für jeden Bürger. Die Neigung der liberalen Klasse, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen auf Besitzgüter absolut zu setzen und die Bedürfnisse sozial be­ nachteiligter Menschen auszublenden, ist für Tories besorgniserregend. Und weil dieser Besitzindividualismus von den Tories als problematisch angesehen wird, erscheinen sie manchmal als Teil der politischen Linken – eben als Red Tories. Die Ausbreitung privater Einrichtungen und materiell saturierter bür­ gerlicher Gettos, in denen die Menschen sich immer mehr voneinander iso­ lieren, hat viel zur Erosion der öffentlichen Tugenden beigetragen – wie der des liberalen Erbes insgesamt. Es ist die Aufgabe des Staates, die Commons zum Wohle des Volkes vor Privatisierung zu schützen – wobei mit »Volk« Ron Dart  —  Red Tories, vereinigt euch!

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nicht nur die Teile der Bürgerschaft gemeint sind, die bereits leben, sondern auch jene, die noch kommen. Siebtens: Für einen Tory bedeutet gute Bildung im weiteren Sinne, in dem Besten verwurzelt zu sein, das in der Vergangenheit gedacht, gesagt und getan wurde. Schüler und Studenten sollen zum eingehenden Stu­ dium der Klassiker angehalten werden, damit sie lernen, wofür sich zu le­ ben lohnt und was es zu vermeiden gilt. Gute Bildung ist nicht in erster Linie die Vermittlung bestimmter Fertigkeiten oder Techniken, durch die wir befähigt werden, unsere Welt noch effizienter zu beherrschen. Die Auf­ gabe von Bildung ist, das Bewusstsein für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu erweitern und die nächste Generation zum verantwortungsbe­ wussten Handeln zu ermuntern. So wie die Ethik der Leitstern der Öko­ nomie sein sollte, so sollte eine an den Erkenntnissen der Alten geschulte Weisheit jenen Orientierung geben, die sich heute noch einseitig an Fakten und Statistiken halten. Achtens: Tories nehmen an, dass die menschliche Natur unvollkommen und fehlbar ist, anfällig für das Beste, das Schlechteste und das Mittelmä­ ßige. Dies bedeutet zunächst einmal, dass wir denjenigen zuhören müs­ sen, die die Dinge anders sehen. Starre ideologische Herangehensweisen an politische Probleme begünstigen in den Kulturkriegen unserer Zeit eine Art Stammesgesellschaft, in der keine denkende Person leben sollte. Es gibt immer die Gefahr, im Leben wie in der Politik, dass die Ideologie dominanter ist als das Bedürfnis nach Dialog. Die Tories geben zu, dass sich die menschliche Natur zum Schlechten wenden kann; die besten Ab­ sichten können von dem Streben nach übermäßiger Macht durchlöchert sein. Deshalb sind Tories stets skeptisch, wenn es darum geht, dass eine bestimmte Person, ein bestimmter Ort oder eine bestimmte Institution zu viel Macht erhalten soll. Neuntens: In Abgrenzung von verschiedenen Ansätzen extremer oder milder Säkularisierung sind Tories davon überzeugt, dass das menschliche Herz sowie die Seele, der Verstand und die Vorstellungskraft ein Verlangen nach mehr als der endlichen Welt haben. Dieser Hunger auf das Unendliche wird nicht verschwinden, wie manche Säkularisten prophezeit haben. Peter Emberleys hervorragendes Buch »Divine Hunger: Canadians on Spiritual Walkabout« macht dies deutlich. Die religiösen Institutionen, die die alten Mythen, Erinnerungen und Symbole der Veränderung hervorbringen und tragen, sind nicht perfekt; aber sie zu verleugnen, zu ignorieren und zerstö­ ren, würde bedeuten, dass die Gegenwart und die Zukunft von einer tieferen Weisheit der Vergangenheit abgeschnitten werden würden.

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Konservatismus — Manifest

Genauso wie der Geist der geschichtlichen Religion von dem Schiff der Institutionen durch die Zeit getragen werden muss, so braucht die politische Vision der Tories das Schiff der politischen Parteien, um realisiert zu werden. Kurz gesagt: Die Haltung des Zynismus und der Apathie, welche die heu­ tige Kultur in den Bereichen Religion und Politik so stark dominiert, ist aus der Sicht der Tories kurzsichtig. Jene, die vorgeben, an Spiritualität und nicht Religion interessiert zu sein (so wie es heutzutage viele tun), verstehen nicht, dass institutionalisierte Religion etwas bieten kann, was die Dekoration der Spiritualität nicht zu bieten vermag. Wenn Spiritualität idealisiert und Re­ ligion verteufelt wird, dann werden wir es mit einer neuen Form der Ideo­ logie zu tun haben (samt ihrer charismatischen Anführer, und Institutionen werden geschaffen, um diesen Dualismus zu unterstützen). Es ist viel weiser, die Tiefen der geschichtlichen Religion zu erforschen, als sie einfach zu verwerfen. Wenn unsere Reise wirklich eine gemeinschaftliche ist, dann sind wir genauso verantwortlich für uns selbst wie für das über­ geordnete und größere Wohl und dieses wird von Generation zu Generation durch Gemeinden und deren institutionelle Strukturen weitergegeben. Lei­ der ist es so, dass die meisten in unserem Alter und mit unserer Gesittung eher an ihre private Reise (oder ihre Reise mit ein paar anderen) denken als an die größere geschichtliche und gemeinschaftliche Reise – hier liegt der Grund für den Schwund und die Ausdünnung der Politik und des religiö­ sen Strebens unserer Zeit. Zehntens: Tories fühlen sich der Idee verpflichtet, dass es verschiedene Ebenen der Realität gibt, positive wie negative. Es gibt Ideale, die es wert sind, dass man ihnen mit Offenheit und Aufnahmebereitschaft begegnet; und es gibt innere Zwänge und suchterzeugende Tendenzen, die trügen und viel Schaden und Schmerz verursachen. Eine Erweckungsreise zu solchen höheren Gütern und damit einhergehend einem ausgeglichenen Herzen, Verstand und Willen wird dazu führen, dass wahre Freiheit erfahren und weiter gelebt werden kann. Allerdings können die andauernden Debatten über Freiheit, Gleichheit, Individualität, Entscheidungsfreiheit und andere liberale Dogmen und Cre­ dos auf der Ebene von Prinzipien schnell zu Verzerrungen und Ablenkun­ gen von dem, was wesentlich ist, ausarten. Wenn es kein höheres Gut oder keine Realität hinter solchen Prinzipien gibt, die sie formen und leiten, sind Liberale ausweglos in ihrem eigenen Käfig eingesperrt. Tories haben eine viel offenere Ansicht vom Leben und von der Art und Weise, wie solche höheren Realitäten der menschlichen Seele Flügel verleihen können. Elftens: Offensichtlich wäre es nachlässig von mir, wenn ich bei der Samm­ lung von Einblicken in die besten Traditionen der Red Tories – die in vielerlei Ron Dart  —  Red Tories, vereinigt euch!

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Hinsicht dem traditionalistischen High Toryism sehr ähnlich sind – die Art ignorieren würde, wie die Engländer, Franzosen und die First Nations zu der Gründung und dem andauernden Wachstum Kanadas beigetragen haben. Die, die sich die Zeit genommen haben, sich aufmerksam in die Einsichten und Schriften von Henri Bourassa und Lionel Groulx einzulesen, werden in das Zentrum der französischen nationalistisch-föderalistischen Debatte he­ reingeführt werden. Gleiches gilt für eine Lektüre der Werke von Stephen Leacock und George Grant, welche einen tieferen Konservatismus im Herzen des kanadischen politischen Denkens ans Licht bringen wird. Die zweibändige Veröffentlichung »The American Empire and the Fourth World: The Bowl with One Spoon and Earth into Property: Colonization, Decolonization and Capitalism« von Tony Hall ist eine Pflichtlektüre, wenn man sich mit der Frage beschäftigen will, wie die indigenen Völker von einem herzlosen Kapitalismus unterdrückt wurden. Halls älterer Artikel »Red Tories, Red Power: The Protection of Indian Rights and the Security of the Canadas« spricht Bände über die Allianz zwischen Red Tories und indigenen Völkern im Kampf für deren Autonomieansprüche. Dem aktuel­ len Multikulturalismus (welcher mit so vielen liberalen Klischees beladen ist) fehlt es allerdings an Tiefe – diesem Mangel muss begegnet werden, damit es gelingen kann, eine ältere, weitgehend vergessene Melange aus französischem, englischem und indigenem Red Toryism zu rekonstruieren und wiederzubeleben und diese – wie oben angedeutet – um einen Green Toryism zu ergänzen. Es gibt eine engstirnige ideologische Tendenz innerhalb des Liberalismus, die viele Liberale davon abhält, ihre toten Winkel zu erkennen. Dies lässt sich anhand von Publikationen wie dem von Katherine Fierlbeck herausge­ gebenen Sammelband »The Development of Political Thought in Canada: An Anthology« verdeutlichen. Das meiste des Buches ist ein insgesamt aus­ gewogenes Lesematerial über die kanadische politische Reise, aber wo sich Fierlbeck dem widmet, was sie die Dritte Welle (1980er Jahre bis heute) des kanadischen politischen Denkens nennt, werden nur die Autoren aufgelis­ tet, die die etablierte moderne liberale Agenda verkörpern: Charles Taylor, James Tully, Will Kymlicka und Michael Ignatieff – sicherlich ist die kana­ dische politische Philosophie weitaus vielfältiger, als es die Verteidiger der liberalen Agenda suggerieren. Aber dies ist das Dilemma derer, denen die Fähigkeit fehlt, ernsthaft das moderne liberale Projekt zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Der Philo­ soph George Grant, der mit seinem »Lament for a Nation« von 1965 eine Art Manifest des kanadischen Red Toryism verfasst hat, hat uns deutlich gezeigt,

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Konservatismus — Manifest

dass wir in Nordamerika in eine alles beherrschende Matrix des Liberalis­ mus eingehüllt sind und dass es uns zunehmend schwerer fällt, außerhalb dieser Voreingenommenheit zu denken. In seinem Buch beschreibt Grant das Dahinschwinden eines spezifisch kanadischen »Tory touch« im Schat­ ten des von den USA vorangetriebenen Modernismus. Seine Einsichten sind aktueller denn je, denn der Jargon und die Klischees des Multikulturalis­ mus, der Diversität und Toleranz entfalten heute eine noch viel zwanghaf­ tere Wirkung als vor fünfzig Jahren, was zur Folge hat, dass andere Perspek­ tiven immer mehr an den Rand gedrängt werden. Das meinte Grant, als er schrieb: In der Konsequenz »legitimiert die Rhetorik des Pluralismus die monistische Weltsicht«. Um dies zu ändern, müssen sich die Red Tories von Kanada zusammen­ schließen. Sie müssen die bequemen goldenen Handschellen des Liberalis­ mus abschütteln, die die meisten von uns in einem unsichtbaren Gefängnis halten. Nur wenn diese Ketten abgeschüttelt werden, können der Preis und die Bedeutung von Freiheit in ihrem tiefsten und anspruchsvollsten Sinn er­ fasst werden. Übersetzung: Karin Schweinebraten und Danny Michelsen

Ron Dart, Ph.D., geb. 1950, lehrt Politikwissen­ schaft an der University of the Fraser Valley (Brit­ ish Columbia). Er ist Autor von mehr als dreißig Büchern u. a. zur Geschichte des kanadischen Na­ tionalismus und der Red-Tory-Tradition.

Ron Dart  —  Red Tories, vereinigt euch!

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

DIE FREIHEIT DES ­EINZELNEN ALS GRUNDLAGE UND GRENZE PERSPEKTIVEN DES LIBERALISMUS IN DEUTSCHLAND1 ΞΞ Dieter Langewiesche

Wer politisch langfristig wirken will, muss mit den eigenen Wertideen die Gesellschaft durchdringen und sie in die Institutionenordnung einbauen. Nur wenn dies gelingt, gewinnen Ideen Handlungsmacht und den Anspruch, be­ folgt zu werden. Unter allen Parteirichtungen hat der Liberalismus damit die reichsten Erfahrungen, denn seine Geschichte führt am weitesten zurück, rund zwei Jahrhunderte. Im 19. Jahrhundert war er dabei außerordentlich erfolgreich. Es wurde das Jahrhundert des Bürgertums und des Liberalismus. Selbst im deutschen Kaiserreich, dessen Herrschaftssystem ihm keine Chance einräumte, die Regierung zu stellen, formte der Liberalismus die Gesellschaft mit seinen Ideen. Die Rechtsordnung wurde nach liberalem Muster verändert, ebenso die Wirtschaftsordnung, und bürgerliche Verhaltensmaximen legten fest, was sich ziemte und was nicht. Daran orientierte sich auch, wer dem Bürgertum nicht angehörte und dem Liberalismus fernstand. Nach der Zäsur des Ers­ ten Weltkriegs mit dem Sturz aller deutschen Monarchien schien vollends die Stunde des Liberalismus zu schlagen. Liberale gestalteten die Verfassung der ersten parlamentarischen Republik in Deutschland und ihre Parteien wurden an den Regierungen beteiligt. Als sie dann aber in den Wahlen ab­ stürzten, enthüllte dies den Bedeutungsverlust liberaler Werte in der Gesell­ 1  Der Text nimmt Argumente und Formulierungen eines Vor­ trags auf, den der Autor 2014 in der Friedrich-Naumann-Stiftung auf einer Tagung zu Perspektiven der Liberalismus-Forschung im 21. Jahrhundert gehalten hat.

schaft. Das Jahr 1933 besiegelte diesen dramatischen Wertewandel, der die Liberalen politisch ins Abseits stellte und den Weg in den nationalsozialisti­ schen Unrechtsstaat öffnete. In der Gegenwart scheint es diesen engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Geltung liberaler Werte und politischem Erfolg oder

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Misserfolg liberaler Parteien nicht mehr zu geben. Wenn die FDP nicht ins Parlament gewählt wird, ist das offensichtlich kein Zeichen für eine Abwen­ dung der Gesellschaft von liberalen Werten. Um sie konkurrieren neuer­ dings offen mehrere Parteien; neben der FDP, der geborenen Erbin des Par­ teiliberalismus, auch die SPD und die Grünen. Als deren Repräsentanten Christian Lindner, Olaf Scholz und Anton Hofreiter 2014 ein Streitgespräch führten, bei welcher Partei das Liberale am besten aufgehoben sei, bestritt keiner der drei, dass etwas davon in jeder ihrer Parteien vorhanden sei.2 Die AfD würde dies zumindest wirtschaftspolitisch ebenfalls für sich beanspru­ chen, für die Christdemokraten gilt dies sowieso. Hat sich also das Liberale vom Parteiliberalismus abgekoppelt? Bildet es nun das Wertefundament der Gesellschaft insgesamt und ist es in der Politik so fest verankert, dass der liberalen Partei die eigenständigen Wertideen abhandengekommen sind? Scharf zugespitzt: Kann der Erfolg liberaler Ideen zum Misserfolg des Libe­ ralismus als Partei führen? Die Frage, ob der Liberalismus sich totgesiegt habe, ist nicht neu.3 Sie zu bejahen, ist nicht zu empfehlen; denn eine Partei, die sich stets auf das In­ dividuum bezieht, ganz gleich, worauf die Politik Antworten zu finden hat, ist in der Gegenwart ebenso unentbehrlich, wie sie es in der Vergangenheit gewesen ist. Die Probleme haben sich geändert, nicht aber die Aufgabe des Liberalismus, die politische Ordnung vom Einzelnen her zu denken und zu gestalten. Es genügt, an die staatlichen Kompetenzabtretungen innerhalb der Europäischen Union und an die globalen Verflechtungen zu erinnern, die heute die Rechtsordnungen, die Wirtschaft und das Arbeitsleben bestimmen, die Handlungsmöglichkeiten von Regierungen und Parlamenten stärker be­ grenzen, als man es früher kannte, und auch Lebensstile verändern. Oder man denke an die Migrationsbewegungen, die Menschen aus unter­ schiedlichen Kulturräumen zusammenführen mit konkurrierenden Wert­ ideen, anderen Rechtsvorstellungen, anderen Formen von Religiosität, an­ deren Erwartungen an die Familie, an das Rollenverhalten von Frauen und Männern. Wie kann erreicht werden, so ist zu fragen, dass Gesellschaften, die ihre überlieferten Lebensformen, ihre nationale Identität bewahren wol­ len, sich für anders orientierte Wertegemeinschaften öffnen, um die Freiheit jedes Einzelnen zu einem selbstgestalteten Leben zu garantieren? Auf solche Fragen muss eine liberale Partei spezifisch liberale Antwor­ ten finden – Antworten also, die das Individuum ins Zentrum rücken. Nur wenn ihr das gelingt, verdient der Parteiliberalismus eine Zukunft. Ansons­ ten braucht man ihn nicht. Auf dem Weg in die Zukunft kann der Rückblick in die Geschichte helfen, aber er genügt nicht. Gefordert ist ein liberales

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Perspektiven — Analyse

2  Vgl. Marc Brost u. Merlind Theile, Die Freiheit nehm ich mir, in: Die Zeit, 03. 04. 2014. 3  Vgl. etwa Hans Vorländer, Hat sich der Liberalismus tot­ gesiegt? Deutungen seines his­ torischen Niedergangs, in: Ders. (Hg.), Verfall oder Renaissance des Liberalismus? Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, München 1984, S. 5–34.

Zukunftsprojekt, das den historischen und zugleich überzeitlichen Kern des Liberalismus – das Individuum als das Maß einer jeden Politik – überall, wo es um politische Gestaltung geht, in den Mittelpunkt stellt. Wie das möglich sein könnte, wird in der Politischen Philosophie inten­ siv diskutiert. Welchen Grundprinzipien muss eine liberale Politik in einer Gesellschaft, die nicht-liberale Wertegemeinschaften einschließt, verpflich­ tet sein, um das Liberale zu bewahren, ohne dabei die Freiheit des Einzelnen zur Gestaltung seines Lebens zu bestreiten? Eine liberale Gesellschaft muss Illiberalität nicht nur ertragen, sondern ihr auch faire Möglichkeiten bieten, sich zu entfalten. Philosophen wie John Rawls und Martha C. Nussbaum su­ chen diesen Freiraum und seine Grenzen zu erkunden. Sie unterscheiden den umfassenden vom politischen Liberalismus. Der erste Typus bezieht sich auf alle Lebensbereiche und das Gesamtbild vom guten Leben. Der zweite ist in seinem Gestaltungswillen bescheidener, wenngleich ebenfalls höchst anspruchsvoll, indem er sich auf die politische Ordnung begrenzt. Der poli­ tische Liberalismus, so Rawls, »besteht in einer Konzeption der Politik und nicht des ganzen Lebens«4. Eine solche Selbstbegrenzung sucht Otfried Höffe in seiner philosophi­ schen Klugheitslehre zu vermeiden. Er misst mit weitem historischen Blick die Zukunftsfähigkeit des Liberalismus daran, ob auf die großen Fragen unserer Zeit – Umgang mit Natur und Technik, Medizin am Lebensanfang und Lebensende, Bildung als Erziehung zur Freiheit, Freiheit in Wirtschaft, Gesellschaft und Kunst, politische und personale Freiheit – spezifisch libe­ rale Antworten gefunden werden. Diese erkennt er daran, dass sie von einem Pluralismus von Lebensformen und Werten ausgehen. Einen solchen Libera­ lismus nennt er aufgeklärt. Dieser erkenne aus empirischer Erfahrung »das 4  John Rawls, Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten, in: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hg. v. Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1997, S. 366. Ausführlicher: Ders., Political Liberalism, New York 2005; Mar­ tha C. Nussbaum, Perfectionist Li­ beralism and Political Liberalism, in: Philosophy & Public Affairs, Jg. 39 (2011) H. 1, S. 3–45; Thom Brooks u. Martha C. Nuss­ baum (Hg.), Rawls’s Political Liberalism, New York 2015.

anthropologische Gesetz der Knappheit« als ein »Element der Conditio hu­ mana« an, vertrete normativ einen »legitimatorischen Individualismus«, der alles Soziale auf das Individuum bezieht, und erweitere die auf Friedenssi­ cherung gestimmte Zukunftsvision »politische Gerechtigkeit« um die Vor­ stellung von einem »vieldimensionalen Wohlstand«.5 Diese philosophischen Debatten sind eine Herausforderung für alle, die nach der Zukunftsfähigkeit der liberalen Gesellschaft fragen und den Partei­ liberalismus als ihren politischen Hüter und Ideengeber verstehen. Sie bieten zudem eine Orientierungshilfe beim Blick zurück in die Geschichte auf der Suche nach Grundhaltungen, die eine Partei nicht aufgeben kann, wenn sie liberal sein will. Um diese Suche auf die politische Situation in der Gegen­

5  Otfried Höffe, Kritik der Frei­ heit. Das Grundproblem der Mo­ derne, München 2015, S. 112–117.

wart zu beziehen, gehe ich von der Selbstverortung heutiger Parteien aus. In dem eingangs erwähnten Streitgespräch fiel den drei Führungspersonen aus Dieter Langewiesche  —  Die Freiheit des E­ inzelnen als Grundlage und Grenze

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FDP, SPD und Grünen schwer, ihren Freiheitsbegriff gegeneinander abzu­

grenzen. Alle forderten staatliche Regulierungen, der Vorsitzende der FDP sprach sogar vom Staat als Schiedsrichter – »Ich sehe meine Partei in der Tradition der sozialen Marktwirtschaft, und in der ist der Staat Schiedsrich­ ter und sorgt dafür, dass eben keiner Macht über einen anderen ökonomisch ausüben kann.«6 –, und alle verlangten zugleich Schutz vor staatlichen Zu­ griffen und den Zugriffen anderer. Wie ein solches Konzept des Schutzes durch den Staat und vor ihm und anderen Mächtigen in Wirtschaft und Gesellschaft von Liberalen umgesetzt werden soll, erläutern die »Karlsruher Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürgergesellschaft«7 von 2012. Wenn sie nun in eine historische Perspektive gerückt werden, so geht es nicht um eine politische Bewertung dieses ak­ tuellen Grundsatzprogramms des Parteiliberalismus. Ich nutze es vielmehr als Ausgangspunkt, um nach historisch verbürgten liberalen Wertideen zu fragen und um zu prüfen, wie man früher versucht hat, diese in die Insti­ tutionenordnung einzubauen und damit handlungsmächtig zu machen. Die historische Vergewisserung soll helfen, abzuschätzen, ob diese Wertideen auch heute noch dem Liberalismus zugeschrieben werden oder ob sie sich nach ihrer Institutionalisierung von ihm gelöst haben und gesellschaftliches Gemeingut geworden sind. Die »Freiheitsthesen« nennen »sechs Traditionen des Liberalismus«, die zeitgemäß weitergeführt werden sollen: 1. Bürgerrechts- und Rechtsstaatsli­ beralismus; 2. sozialer Liberalismus; 3. Fortschrittstradition; 4. »die Tradition des nationalen Liberalismus, die wir zu einer neuen Tradition des internatio­ nalen Liberalismus fortentwickeln«; 5. Wirtschaftsliberalismus und 6. »die Tradition des politischen Liberalismus«.8 Das Programm, über einhundert Seiten lang, verbindet – in der Begrifflichkeit der philosophischen Debatte – Elemente des umfassenden und des politischen Liberalismus und ließe sich auch als Aktionsprogramm eines aufgeklärten Liberalismus (Höffe) verstehen, denn es fragt nach den Voraussetzungen für »ein selbstbestimmtes Leben«: »Liberale Chancenpolitik für den Einzelnen und liberale Ordnungspolitik für die Gesellschaft«.9 Wie wurden die Wertideen, die diesen Liberalismustra­ ditionen zugrunde liegen, institutionalisiert, was bewirkte dies? Mit diesen Fragen sollen nun die sechs Bereiche betrachtet werden. BÜRGERRECHTS- UND RECHTSSTAATSLIBERALISMUS Das ist die Grundlinie in der Geschichte des politischen Liberalismus. Sie schließt tiefgreifenden Wertewandel ein; am deutlichsten wohl abzu­ lesen am langen Weg zur Akzeptanz der Gleichberechtigung der Frau. Am

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Perspektiven — Analyse

6  Brost u. Theile. 7  Freie Demokratische Partei (Hg.), Verantwortung für die Frei­ heit. Karlsruher Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürger­ gesellschaft, Karlsruhe 2012, URL: http://www.fdp.de/files/408/ Karlsruher_Freiheitsthesen.pdf [eingesehen am 14. 07. 2015]. 8  Ebd., S. 5. 9 

Ebd., S. 4.

Bürgerrechts- und Rechtsstaatsliberalismus erkennen wir, wie die Institutio­ nalisierung einer Wertidee die parteipolitische Zurechnung löschen kann. Indem sie in die Verfassung aufgenommen wird, ist sie für die Parteien als Unterscheidungsmerkmal nicht mehr verfügbar. Oder nur noch in politischen Ausnahmesituationen, während sie in Normalzeiten in die Details von ge­ setzlichen oder freiwilligen Regelungsverfahren eingeht, die lebenspraktisch wichtig sind, aber nicht mehr als starke Trennlinien zwischen den Parteien hervortreten. Frauenquoten in bestimmten Berufsbereichen oder gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu fordern, sind Beispiele für den zähen Alltag im langwierigen Gleichstellungsprozess. Die liberale Wertidee, die dem Bürger­ rechts- und Rechtsstaatsliberalismus zugrunde liegt, wird schon lange nicht mehr dem Parteiliberalismus gutgeschrieben. Das war im 19. Jahrhundert anders, die Trennlinien waren scharf gezogen. Liberal zu sein, hieß damals vor allem anderen, eine Verfassung zu fordern, die den Freiheitsraum des Einzelnen schützt, indem sie die staatlichen Ein­ griffsrechte strikt begrenzt und den Status des Staatsbürgers vom religiösen Bekenntnis gänzlich löst – die liberale Verfassungsordnung als Freiheitsga­ rant für alle, unabhängig von den Wertidealen des Einzelnen. Doch es gab noch eine zweite, damit konkurrierende Seite des Liberalismus. Sie band die vollen staatsbürgerlichen Partizipationsrechte im Staat und in den Kommunen an die Fähigkeit des Einzelnen zu einer bürgerlichen Lebensführung. Das liberale Wertideal des bürgerlichen Lebens zielte auf die selbstständige Per­ sönlichkeit. Wer diesem Ideal nicht entsprach, sollte nicht die vollen staats­ bürgerlichen Rechte besitzen. Das schloss damals zwei große Personengrup­ pen aus: alle Frauen und die unterbürgerlichen Schichten; zusammen also die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Für die Frauen war dieser Ausschluss auf Dauer gedacht, für die unterbürgerlichen Männer auf Zeit, nämlich solange sie nicht ökonomisch selbstständig lebten oder nicht das Bil­ dungsniveau besaßen, das der Liberale vom Bürger erwartete. Diese beiden Kriterien waren auf Entwicklung angelegt: politische Diskriminierung mit Aufstiegstür. Für Frauen gab es diese Tür nicht. Jedenfalls nicht im Weltbild des Mehrheitsliberalismus. Dieser bürgerrechtliche Strang im deutschen Frühliberalismus war, ob­ wohl er die gesellschaftliche Mehrheit in eine politisch inferiore Position ver­ wies, dennoch politisch progressiv, denn er forderte einen Verfassungsstaat mit einem starken Parlament, das der Gesellschaft Teilhabe am Staat sichern sollte. Als wichtigstes Instrument, um ihren Wertideen Geltung und Dauer zu verschaffen, galt den Liberalen die Verfassung. Mit der Verfassungsstiftung schlug die Stunde des Liberalismus. Das war allerdings an Voraussetzungen Dieter Langewiesche  —  Die Freiheit des E­ inzelnen als Grundlage und Grenze

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gebunden. 1848 und 1919 waren sie erfüllt. Die alte Ordnung war weitgehend zusammengebrochen, die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung sollte eine Radikalisierung des gesellschaftlichen Reformwillens verhindern und die Neuordnung wie auch alle künftige Reformen der parlamentarischen Entscheidung überantworten. Zu dieser Parlamentarisierung als Revolutions­ eindämmung gehörte auch, dass die neue Verfassung von einem Experten­ gremium formuliert wurde. In ihm dominierten Liberale. 1848/49 führte die Chance, die sich zur Institutionalisierung zentraler poli­ tischer Werte des Liberalismus ergab, zu einer grundlegenden Revision in der politischen Strategie der Liberalen. Um für ihr politisches Hauptziel, den Nationalstaat als Verfassungsstaat, eine parlamentarische Mehrheit zu erhal­ ten, zeigten sie sich in der Paulskirche bereit, alle Männer mit dem Wahlrecht auszustatten. Sie taten das widerwillig, aber anders war die Zustimmung der Demokraten nicht zu erhalten. In der Begrifflichkeit der politischen Philosophie bedeutet dies: Die libera­ len Abgeordneten gaben den umfassenden Liberalismus, der das volle Staats­ bürgerrecht an die Fähigkeit zu einem bürgerlichen Leben knüpfte, zugunsten eines im Ordnungsanspruch begrenzteren politischen Liberalismus auf. Nicht mehr Erziehung zum Bürger als Voraussetzung für den Status des Staats­ bürgers, sondern die Zuversicht, der Staatsbürger werde die Verfassungsord­ nung respektieren – unabhängig von seinen Lebensformen. Das meinte vor allem zweierlei: unabhängig vom sozialen Status, einschließlich der Bildung, und von der Religion bzw. Konfession, also staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden, und auch hier ohne die Vorbedingung einer Verbürgerlichung. Dies war ein Paradigmenwechsel in der Geschichte des Liberalismus. Doch es bedurfte einer weiteren Revolution, bis auch die Frauen, erneut unter li­ beraler Federführung beim Entwurf der Weimarer Verfassung, in das politi­ sche Gleichheitspostulat einbezogen wurden. Sobald es verfassungsrechtlich institutionalisiert war, konnten es alle nutzen, auch die politischen Gegner des Liberalismus. Sie waren darin erfolgreicher als die liberalen Parteien. Institutionalisierung einer liberalen Wertidee bedeutete hier, den Partei­ liberalismus an der Wahlurne zu schwächen. Heute sind spezifische Institu­ tionen zuständig, um die Einhaltung des Gleichheitspostulats zu erzwingen und es aktualisierend auszuweiten. Parteien wirken daran mit, etwa über die Asylgesetzgebung oder bei der Gleichstellung von gleichgeschlechtli­ chen Partnerschaften mit der traditionellen Form der Ehe. Doch hier sind die Parteien nur ein Akteur unter vielen; und nicht immer der wichtigste. Nicht selten geben Gerichte durch ihre Verfassungsauslegung vor, was der Gesetzgeber dann ausfüllt.

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Perspektiven — Analyse

Als Bilanz einer längerfristigen Entwicklung lässt sich festhalten: Der Er­ folg des Bürgerrechts- und Rechtsstaatsliberalismus, seine Wertidee in der Verfassung, in Gesetzen, in zwischenstaatlichen Verträgen und im Völker­ recht zu institutionalisieren, erschwert dem Parteiliberalismus, sich als Hüter dieser Wertidee zu profilieren. Diese hat nun viele Hüter. Um sie dennoch als ein exkludierendes Zuschreibungskriterium politisch nutzen zu können, müsste die liberale Partei den historischen Markenkern des Liberalismus – den Freiheitsraum des Individuums sichern – in allen Politikfeldern zum Maß ihres Gestaltungswillens machen. SOZIALER LIBERALISMUS UND WIRTSCHAFTSLIBERALISMUS Diese beiden Bereiche, die in dem Grundsatzprogramm der FDP getrennt aufgeführt werden, fasse ich zusammen, weil sie stets eng aufeinander be­ zogen waren. Was soziale Sicherung des Individuums bedeuten soll, war im Liberalismus zu allen Zeiten umstritten, und das gesellschaftliche Um­ feld, auf das die liberalen Konzepte ausgerichtet werden mussten, hat sich stark verändert. Hier werden in der heutigen politischen Debatte gänzlich irrige Bilder vom historischen Liberalismus entworfen. Ein Beispiel bietet das vielbeach­ tete Buch »Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeit­ gemäßen Liberalismus« von Lisa Herzog.10 Ihr Feindbild ist der homo oeconomicus, der allein auf Marktliberalität und Kapitalismus setze und ethisch defizitär nicht erkenne, »dass enorme wirtschaftliche Ungleichheit für die Rechte der Einzelnen eine Gefahr ist«11. Genau diese Einsicht durchzog je­ 10  Lisa Herzog, Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalis­ mus, München 2013. Eine Zusammenfassung bietet Dies., Freiheit gehört nicht nur den Rei­ chen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04. 03. 2012. 11 

Ebd., S. 81.

12  Siehe Lothar Gall, Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft«. Zur Charakteri­ sierung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Jg. 220 (1975) H. 2, S. 324–356; Ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Dieter Hain u. a., München 1996, S. 99–125.

doch schon die Debatten im Frühliberalismus mit seinem »Ideal mittlerer Bürgerexistenzen«, wie es vor vier Jahrzehnten Lothar Gall in der damali­ gen Historikerkontroverse über Wandel und Kontinuitäten im deutschen Li­ beralismus genannt hatte.12 Dieses mittelständische Bürgerideal ließ sich angesichts der wirtschaft­ lichen Entwicklung allerdings nicht durchhalten. Deshalb suchten die Libe­ ralen es anzupassen. Zunächst hoffte ein Teil von ihnen, in Produktionsge­ nossenschaften einen Weg zu finden, der den Einzelnen zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit führe. Doch das blieb nur eine Chance für wenige. Daher musste der Liberalismus in der Industriegesellschaft sein Bürgerideal funda­ mental verändern. Ökonomische Selbstständigkeit gehörte nicht mehr dazu. Noch im 19. Jahrhundert öffneten sich die Liberalen dem neuen Prinzip einer Sozialversicherung für diejenigen, die lohnabhängig arbeiteten. Da in Deutschland die staatliche Sozialversicherung einsetzte, als das Deutsche Reich noch in erheblichem Maße ein Obrigkeitsstaat war, gerieten Dieter Langewiesche  —  Die Freiheit des E­ inzelnen als Grundlage und Grenze

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sozialer und politischer Liberalismus in einen Konflikt, der sich erst mit der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik auflöste. Bis dahin sah der Linksliberalismus, der die politische Reform ins Zentrum rückte, in der staatlichen Sozialversicherung die Gefahr, dass der Obrigkeitsstaat dann die Lebenswelt vieler Menschen durchdringen würde, wodurch diese in eine kaum noch aufzubrechende Abhängigkeit geraten wären. Keine Machtsteigerung des illiberalen Staates durch Sozialversicherung – so hieß die Leitlinie der liberalen Linken, während der rechte Flügel, die so­ genannten Nationalliberalen, den sozialpolitischen Reformen zustimmte. Da es bis 1933 stets mehrere liberale Parteien gab, musste der Liberalismus im Konflikt zwischen politischer und sozialer Reform nicht mit einer Stimme sprechen. Der Ein-Parteien-Liberalismus, der nach 1945 entstanden ist, muss also für die Liberalen kein Vorteil sein. Bislang ist wenig beachtet worden, dass es mit dem Kommunalliberalis­ mus noch einen weiteren Handlungsbereich gab, in dem das liberale Konzept einer Gesellschaft, welche die Lebensmöglichkeiten aller im Blick hat, zeit­ gemäß weitergebildet wurde.13 Denn es waren vorrangig Liberale, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Stadt zu dem Ort gemacht haben, an dem neue Wege zur Daseinsvorsorge erprobt worden sind. Sie überließ der Kommunalliberalismus nicht dem sog. Freien Markt. Sozial- und wirt­ schaftspolitisch zeigte er sich vielmehr ausgesprochen interventionswillig. Er folgte nicht mehr dem überlebten Ideal wirtschaftlicher Selbstständigkeit als der alleinigen Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben, sondern war bereit, dafür kollektive Grundlagen zu schaffen, um auch den wirtschaftlich Unselbstständigen individuelle Freiheitsräume zu öffnen. Damals entstand eine vielgliedrige kommunale Infrastruktur von Verkehrsund Versorgungsbetrieben über Bäder, Parks und Museen, Arbeitsvermitt­ lungen und Sozialkassen bis zum Schul- und Wohnungsbau. Heute würde man von Gemeingütern sprechen. Die städtischen Schulden stiegen enorm, investiert wurden sie in beträchtlichem Umfang in städtische Wirtschafts­ unternehmungen, die sich am Gemeinwohl orientieren sollten. Dass diese Formen kommunaler Daseinsvorsorge in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg vorrangig von Liberalen durchgesetzt worden sind, ist gründlich in Vergessenheit geraten. Das hat mehrere Gründe: Die wenigsten denken bei »Sozialstaat« an die Stadt, obwohl auch weiterhin ein Großteil der sozialstaatlichen Leistungsverwaltung in kommunaler Hand liegt. Doch beschlossen werden diese Leistungen in den zentralstaatlichen Instanzen. In Deutschland kommt hinzu, dass die Anfänge des Sozialstaates vorrangig mit Bismarck als Gründungsheros des Nationalstaates verknüpft werden.

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Perspektiven — Analyse

13  Das habe ich, dabei mein Buch »Liberalismus in Deutsch­ land«, Frankfurt a. M. 1988 korri­gierend, sodann ausführlich ana­ lysiert in: Kommunaler Libe­ra­lismus im Kaiserreich. Bürger­ demokratie hinter den illiberalen Mauern der DaseinsvorsorgeStadt, in: Detlef Lehnert (Hg.), Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900, Köln 2014, S. 39–71.

Andere Ideengeber und Organisatoren, wie der Sozialkatholizismus oder die liberalen Reformer in den Städten, verblassen gegenüber der Faszina­ tion des Nationalen. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, warum von der kommunalen Daseinsvorsorge nichts Vergleichbares ausging. In ihr gerieten soziale und politische Demokratisierung zumindest in der Formierungsphase vor dem Ersten Weltkrieg in Konflikt miteinander. Die städtischen Leistungen sollten zwar allen zugutekommen; doch Entscheidungen treffen konnte nur die Min­ derheit derjenigen, die den Rechtsstatus des Bürgers besaßen. Diese Stadt­ bürger schufen hinter der illiberalen Schutzmauer der Wahlrechtsbeschrän­ kungen nicht nur eine immer breitere Palette an Daseinsvorsorge, sondern sie praktizierten im Kreis der politisch Berechtigten auch erstaunlich innovative Formen von Bürgerbeteiligung an der städtischen Politik. Was wir heute gerne unserer Zeit zuschreiben – die informellen, z. T. re­ gelwidrigen Formen von Bürgerbeteiligung an staatlichen oder kommunalen Entscheidungen –, ist in den Städten des späten Kaiserreichs sehr intensiv praktiziert worden. Bis hin zu einer öffentlichen Urwahl, in der diejenigen Personen gefunden wurden, aus denen dann die politischen Gruppen ihre Kandidaten für die Wahlen zu den städtischen Gremien bestimmten. Alles informell, an den rechtlichen Bestimmungen vorbei. Basis-Bürgerdemokra­ tie in der Stadt, allerdings im sozial begrenzten Kreis der politisch Partizi­ pationsberechtigten. In die Sprache der Politischen Philosophie übersetzt: Die Städte blieben bis zur Weimarer Verfassung die Domäne eines umfassenden, auf die ge­ samte Lebensführung angelegten Liberalismus mit begrenzter politischer Liberalität. Besitz als Voraussetzung für eine bürgerliche Lebensführung sollte weiterhin die Zuerkennung politischer Rechte steuern. Die politisch egalitäre Figur des Staatsbürgers, die der Liberalismus seit 1848 program­ matisch verfocht, stand also in Konkurrenz zu dem Stadtbürger, der sich illiberal hinter Wahlrechtsmauern, mit denen sich die Gemeinden umzäun­ ten, verschanzte, dort aber soziale Grundlagen schuf, ohne die das staats­ bürgerliche Gleichheitspostulat für viele unerreichbar geblieben wäre. Der Kommunalliberalismus hielt, obwohl er politisch ausgrenzte, das Wissen wach, dass eine liberale Staats- und Gesellschaftsordnung an soziale Vo­ raussetzungen gebunden ist, die zu schaffen eine kollektive Aufgabe dar­ stellt, weil die meisten Menschen sie individuell nicht leisten können. Er öffnete im kommunalen Raum Wege, diese Einsichten umzusetzen, indem er seine Wertideen dort institutionalisierte, wo er über politische Gestal­ tungsmacht verfügte. Dieter Langewiesche  —  Die Freiheit des E­ inzelnen als Grundlage und Grenze

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Soziale und politische Wertideen standen im Widerspruch zueinander. Sie miteinander zu verbinden, ist im Liberalismus bis heute ein Problem ge­ blieben. Die wohlmeinende Streitschrift von Lisa Herzog, Ökonomin und Philosophin, bezeugt es. Um den heutigen Liberalen neue Perspektiven zu öffnen, verkürzt sie den historischen Liberalismus auf Marktliberalität und Individualismus, eine Mischung, die blind gemacht habe für die Gefahren großer wirtschaftlicher Ungleichheit. Falls in dieser Einsicht die Zukunft des Liberalismus liegen sollte, käme sie einer Rückverweisung an dessen Geschichte gleich. Man muss sie aller­ dings in ihrer gesamten Weite kennen. Dazu gehört wiederum die Einsicht, dass bei der Institutionalisierung sozialstaatlicher Wertideen der Parteilibe­ ralismus auf der staatlichen Ebene – im Gegensatz zur kommunalen – nicht als Initiator auftrat. Es war das Geschehen auf der nationalstaatlichen Ebene, und nicht was in den Städten geleistet worden ist, das die gesellschaftliche Wahrnehmung geprägt hat. Deshalb ist die Wertidee, die staatlicher Sozial­ politik zugrunde liegt, auch nie von größeren Bevölkerungsgruppen vorran­ gig dem Liberalismus zugerechnet worden. Der soziale Liberalismus bildet im Parteiliberalismus eine notorisch schwache Traditionslinie. Gleichwohl hat er im liberalen Feld Wirkungen gezeigt. Sie nachzuzeich­ nen würde eine komplexe, veränderungsreiche Geschichte freilegen, zu der von Beginn an die Überzeugung gehört hat, dass die Wirtschaft staatliche Ordnungsvorgaben benötigt, um liberalen Fairnessregeln und den individu­ ellen Ansprüchen auf ein selbstbestimmtes Leben zu genügen. Im Frühlibe­ ralismus zielten diese wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen auf eine mittelständische Wirtschaftsstruktur. Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich im deutschen Liberalismus Zukunftsvorstellungen durch, die den heraufkommenden Industriekapitalismus bejahten. In den 1920er Jahren, als der gesellschaftliche Verfall liberaler Wertideen zur Flucht des Bürgertums aus dem Liberalismus führte, verkümmerten die liberalen Parteien schließ­ lich weitgehend zu industriellen Interessenvertretungen. Politisch ist ihnen das schlecht bekommen. Aus dieser historischen Perspektive müsste sich der Gegenwartsliberalis­ mus gesellschafts- und wirtschaftspolitisch vor allem mit zwei Problemen auseinandersetzen: Zum einen wird man hier auf ein Feld verwiesen, in dem die Vorstellungen von Liberalen stets umstritten waren und sich stark ver­ ändert haben. Und zum anderen ist in jüngster Zeit der Begriff Liberalismus gerade mit Blick auf die Wirtschaftsordnung stark pejorativ besetzt worden, indem vieles von dem, was man an Fehlentwicklungen wahrnimmt, in der öffentlichen Debatte als Neoliberalismus gebrandmarkt wird.

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Perspektiven — Analyse

Für die negative Aufladung des Begriffs Liberalismus stehen den deutschen Liberalen durchaus historische Erfahrungen zur Verfügung. Aber keine gu­ ten. Auch das kann hilfreich sein. In der Weimarer Republik vermieden die Parteien, die den Liberalismus des Kaiserreichs fortführten, sich mit ihrem Namen als liberal zu bekennen. Das honorierten die Wähler nur wenige Jahre. Eine offensive Auseinandersetzung mit den antiliberalen Gesellschaftsbil­ dern, die gegenwärtig in der Neoliberalismus-Polemik kulminieren, dürfte notwendig sein, um Liberalismus seinen historischen Glanz als Fürsprecher des Individuums in allen Lebensbereichen zurückzugeben. FORTSCHRITTSTRADITION Damit spricht das FDP-Programm ein außerordentlich komplexes Feld an; und zu keiner Zeit in unserem Beobachtungszeitraum, den letzten beiden Jahrhunderten, war es so umstritten und so sehr auf Neubewertung ange­ legt wie heute. Als Stichworte genügen Ökologie und Nachhaltigkeit. Der historische Liberalismus scheint dazu keine ihm eigenen Wertideen entwi­ ckelt und deren Institutionalisierung gesteuert zu haben. Genauer erforscht ist das allerdings nicht. Um wenigstens einen großen Bereich zu nennen, in dem Veränderungen von Wertideen und deren Institutionalisierung zu betrachten und auf spezi­ fisch liberale Interventionen zu befragen wären: Fortschritt durch Industria­ lisierung. Das war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Über­ zeugung vieler Liberaler; doch sie teilten sie mit anderen, vor allem mit der Sozialdemokratie, lange Zeit ein politischer Hauptgegner. Das Abrücken von dieser Form des Fortschritts ging nicht auf die Initiative liberaler Parteien zurück. Doch im Frühliberalismus steckt ein starkes wider­ ständiges Potenzial gegen eine Einstellung, die gesellschaftlichen Fortschritt mit Industrie gleichsetzt. Ob es Hilfen für ein ökologisches Verständnis von Fortschritt bietet, sollte geprüft werden. Dass auch hier das Individuum im Zentrum zu stehen hat, war für den Frühliberalismus keine Frage. VOM NATIONALEN ZUM INTERNATIONALEN LIBERALISMUS Die Nation bezeichnet eine Leitidee des Liberalismus seit seinen Anfängen; und zweifellos war er führend an ihrer Institutionalisierung beteiligt. Der deutsche Liberalismus ist als nationale Bewegung entstanden. Das trug ihm weit über den Kreis der Liberalen hinaus Zustimmung in der Gesellschaft ein. Doch mit der Institutionalisierung der Wertidee Nation in Gestalt des Nationalstaates wurde diese parteipolitisch verfügbar. Auch hier gab es kein liberales Monopol auf diese Wertidee. Mehr noch, der Liberalismus verlor Dieter Langewiesche  —  Die Freiheit des E­ inzelnen als Grundlage und Grenze

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die Deutungshoheit über sie zunächst an die alte, dann vor allem an die neue völkische Rechte – und heute stehen wir vor ihrer feindlichen Übernahme durch illiberale Populisten. Einen Internationalismus, in seiner Anziehungskraft vergleichbar mit dem Nationalismus, hat es im historischen Liberalismus nicht gegeben. Das liberale Grundsatzprogramm entwirft hier also eine Zukunftsvision, die über die historische Erfahrung hinausgeht. Das gilt auch für andere Weltanschauungen und Parteien, doch keine ist historisch so eng mit der Idee Nation verbunden wie der Liberalismus. Dass die Vision eines neuen Internationalismus schwer mit spezifisch liberalen Wertideen zu füllen sein wird und sie bislang kaum jemand dem Parteiliberalismus politisch zurech­ net, ist nicht zu übersehen, wenn man den europäischen Einigungsprozess betrachtet. Doch unverkennbar ist auch, dass die liberale Kernidee – das Individuum als Maß aller Politik – eine bedeutende Aufgabe im Projekt Europa sein wird. Als letzten Punkt ruft das FDP-Grundsatzprogramm, das ich als Pfad in die Vergangenheit nutze, um diese auf Zukunftsperspektiven zu befragen, die »Tradition des politischen Liberalismus« auf. Dieser Programmpunkt führt alle Einzelbereiche unter einem Leitmotiv zusammen und findet dafür eine prägnante Formulierung: »Die Freiheit des Einzelnen ist Grund und Grenze liberaler Politik.«14 Dies war das Leitmotiv des historischen Liberalismus seit seinen Anfängen, es ist der überzeitliche Kern des liberalen Credos. An ihm erkannte man den Liberalen und erkennt ihn auch weiterhin.

Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Langewiesche, geb. 1943, war von 1978 bis 1985 Professor für Sozialgeschichte an der Universität Hamburg, von 1985 bis 2008 Lehrstuhlinhaber für Neuere Ge­ schichte der Universität Tübingen und von 1997 bis 2001 Mit­ glied des Rektorats beim Aufbau der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte von Liberalismus und Bürgertum sowie Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur.

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Perspektiven — Analyse

14  Freie ­Demokratische Partei, S. 13.

PORTRAIT

»POLITIK HEISST: ETWAS WOLLEN« DER DEMOKRATISCHE SOZIALIST OLOF PALME ZWISCHEN IDEALISMUS UND REALPOLITIK ΞΞ Armin Pfahl-Traughber

»Politik heißt: etwas wollen.«1 Diese Aussage klingt zunächst einmal inhalts­ leer und nichtssagend. Indessen kommt ihr in einer Ära, in der Politik we­ 1  Olof Palme, Politik heißt: etwas wollen (1964), in: Freimut Duve (Hg.), Olof Palme. »Er rühr­ te an die Herzen der Menschen«. Reden und Texte, Reinbek 1986, S. 52–57, hier S. 52. 2  In deutscher Sprache liegt lediglich eine ausführliche Biografie vor: Henrik Berggren, Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Tage. Die Biographie, München 2011. In schwedischer Sprache findet man hingegen eine Fülle von Lebensbeschrei­ bungen; die ausführlichste und neueste Gesamtdarstellung ist: Kjell Östberg, I takt med tiden: Olof Palme 1927–1969, Stock­ holm 2008; Ders., När vinden vände: Olof Palme 1969–1986, Stockholm 2009. Eine kürzere Biografie findet man in: Klas Eklund, Palme, Stockholm 2010. Die vorliegende Abhandlung stützt sich bei der Beschreibung und den Daten auf diese drei genannten Werke. 3  Olof Palme, Därför ar jag socialist. Inlägg i partiledardebat­ ten i TV den 17 september 1982, in: Ders., En levande vilja, Stock­ holm 1987, S. 24 f., hier S. 24.

niger als Gestaltung der Zukunft und mehr als Verwaltung von Zuständen verstanden wird, womöglich größere Bedeutung zu. Sie erinnert an den Ent­ scheidungsspielraum wie an die Wertgebundenheit politischen Handelns. Beachtet man darüber hinaus den historischen und politischen Kontext der Aussage, so erhält sie in Form und Inhalt sehr wohl Konturen. Aufmerksam­ keit verdient dabei selbstverständlich in erster Linie die Person, die den Satz geprägt hat: Olof Palme2, der frühere schwedische Ministerpräsident, der in Deutschland meist nur im Zusammenhang seiner Ermordung in Erinnerung gerufen wird. Doch hier soll es nicht um neueste Deutungen des noch immer ungeklärten Attentats gehen. Ganz im Gegenteil, spielt dieses im Folgenden keine Rolle. Im Zentrum stehen vielmehr die Ideen und die Praxis eines de­ mokratischen Sozialisten, wie Palme ihn verkörpert hat. Denn er selbst hatte sich in einer Fernsehdebatte der Parteivorsitzenden vor den Reichstagswahlen 1982 dazu bekannt: »Ich bin ein demokratischer Sozia­ list mit Stolz und mit Freude.«3 In einer Zeit, die in der westlichen Welt mit der Dominanz einer neoliberalen Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan und Mar­ garet Thatcher verbunden war, gehörte dazu durchaus ein gewisser Mut. Das von Idealismus und Pathos geprägte politische Bekenntnis formulierte Palme geplant und nicht spontan. Die heute problemlos im Internet abrufbare Auf­ zeichnung der Fernsehdebatte zeigt, wie der ansonsten als freier Redner und glänzender Rhetoriker bekannte Palme ein vorbereitetes Redemanuskript zückt. Doch was meinte der seinerzeit wiedergewählte Ministerpräsident mit den beiden Bekenntnissen, dem zum »demokratischen Sozialismus« und jenem

INDES, 2015–3, S. 143–154, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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zur »Politik als Wille«? Dieser Frage will hier das Porträt Palmes als Politiker zwischen Idealismus und Realpolitik nachgehen. Dazu bedarf es zunächst der Aufmerksamkeit für die Besonderheiten der Sozialdemokratie und für das Verständnis von Folkshemmet und Wohlfahrtsstaat in Schweden, womit der historisch-politische Hintergrund von Palmes Wirken nachgezeichnet wer­ den soll. Erst danach geht es um Palmes Entwicklung zum Sozialdemokraten und seine Mitarbeit am Aufbau des Wohlfahrtsstaates in der Ära von Minis­ terpräsident Tage Erlander. Die damit einhergehenden Erfahrungen veran­ schaulichen die Bedeutung der Auffassung von »Politik heißt: etwas wollen«. Anschließend stehen Palmes Reformpolitik zur Vertiefung des Wohlfahrts­ staates und seine Deutung des »demokratischen Sozialismus Schwedens« im Mittelpunkt des Interesses. Dessen normative Grundlagen prägten auch Palmes Außenpolitik, was ein entsprechender Exkurs veranschaulichen soll. Und schließlich folgen eine Einschätzung von Palmes Regierungszeit zwi­ schen Idealismus und Realpolitik sowie eine Erörterung zum Einklang von Freiheit, Gleichheit und Individualität im Wohlfahrtsstaat. I BESONDERHEITEN DER SOZIALDEMOKRATIE IN SCHWEDEN Der Blick auf die Besonderheiten und die Entwicklung der Sozialdemokratie in Schweden kann hier nur kursorisch und problemorientiert erfolgen:4 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Land von einer traditionellen Agrar- zu einer modernen Industriegesellschaft, womit auch das Anwachsen der Arbeiterschaft und die Entstehung sozialer Probleme ein­ hergingen. Die daraufhin gegründeten Gewerkschaften setzten mit wenigen Ausnahmen bereits früh zur Verbesserung der Arbeits- und Lohnverhältnisse auf Kooperationen mit Unternehmern. Auch die 1889 als politische Interessenvertretungsorganisation gegründete Schwedische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP), die kurz als Sozial­ demokraten (S) bezeichnet wird, setzte in der praktischen Politik konkreter Handlungen frühzeitig auf ein reformerisches Vorgehen. Dieses artikulierte sich insbesondere in der Akzeptanz von Parlamentarismus und Wahlen, wobei es bezogen auf den letztgenannten Punkt vorerst um die Gewährung eines allgemeinen Wahlrechts ging. Nicht zuletzt mithilfe von Streiks erzielte die SAP Erfolge, die ein starkes Anwachsen der Mitgliedschaft sowohl in den

Gewerkschaften als auch in der Partei mit sich brachten. Ihnen kam fortan kontinuierlich steigende Bedeutung für das gesellschaftliche und politische Leben in Schweden zu. Gleichzeitig führten die beschriebenen Erfahrungen zur Marginalisierung revolutionärer Bestrebungen, deren Anhänger 1917 aus der SAP austraten

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Perspektiven — Portrait

4  Vgl. u. a. Yvonne Hirdman, Vi bygger landet: den svenska arbetarrörelsens historia fran Per Götrek till Olof Palme, Stockholm 1979; Francis Sejersted, Socialdemokratins tidsalder. Sverige och Norge unter 1900-talet, Nora 2005.

und 1921 Schwedens Kommunistische Partei (SKP) gründeten. Im Verlauf der 1920er Jahre verabschiedete sich die SAP von Sozialisierungsforderun­ gen und setzte zunehmend auf eine Umverteilungspolitik. Diese Ausrichtung passte auch mehr zur bisherigen Entwicklung der Partei, die in enger Ko­ operation mit den Gewerkschaften auf eine direkte Besserung der Arbeitsund Lebensbedingungen der abhängig beschäftigten Menschen und nicht auf den revolutionären Weg hin zu einer »Diktatur des Proletariats« setzte.

II FOLKSHEMMET UND WOHLFAHRTSSTAAT IN SCHWEDEN Die damit einhergehende Reformpolitik, die auch Kompromisse und Koopera­ tion mit den Arbeitgebern einschloss, stand aber nicht für eine Unterordnung der Sozialdemokratie oder den Verzicht auf Wandel. Ganz im Gegenteil, bilde­ ten sich mit den besonderen Auffassungen von einem Folkshemmet und einem Wohlfahrtsstaat spezifische Bezugspunkte für eine Neuorientierung heraus. Der erstgenannte Begriff lässt sich ungefähr mit »Volksheim« übersetzen und hat seit der Zwischenkriegszeit ein konstitutives Prinzip des sozialdemokratischen Armin Pfahl-Traughber  —  »Politik heißt: etwas wollen«

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Selbstverständnisses dargestellt. Eigentlich entstammt die Formulierung Folkshemmet dem konservativen und nationalen Kontext, wurde nun aber sozialde­ mokratisch und wohlfahrtsstaatlich umgedeutet. In einer programmatischen Rede von 1928 beschwor der Parteivorsitzende Per Albin Hansson das Bild von einem Land, das wie ein Heim von Gleichheit und Fürsorglichkeit geprägt sein und ohne Benachteiligte und Privilegierte auskommen sollte. Derartige Auffassungen und Forderungen erklären zum Gutteil den fol­ genden Aufstieg der SAP bei Wahlen. Hansson wurde 1932 Ministerpräsi­ dent und blieb es mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod 1946. Der Beginn des Aufbaus eines Wohlfahrtsstaates fällt in diese Ära. Dieser richtete seine Aktivitäten nicht nur auf bedürftige Einzelne, sondern zielte auf die gesamte Gesellschaft. Idealtypisch lassen sich ein konservatives, ein liberales und ein sozialdemokratisches Wohlfahrtsstaatsmodell unterschei­ den.5 Letzteres setzt auf ein hohes Ausmaß sozialer Umverteilung, wobei die finanziellen Ressourcen aus den Steuereinnahmen des Staates zu einem Mehr an Sozialleistungen für alle führen sollen. Demnach geht bzw. ging es darum, die Existenz einer entwickelten Marktwirtschaft mit einer auf Gleich­ heit zielenden Sozialpolitik in Einklang zu bringen. III PALMES ENTWICKLUNG ZUM SOZIALDEMOKRATEN Indes war die Hansson-Regierung beim Aufbau des Wohlfahrtstaates zu­ nächst nur schleppend vorangekommen – was nicht zuletzt den Handlungs­ zwängen innerhalb der Allparteien-Koalition geschuldet war, die das Land während des Zweiten Weltkriegs regierte. Als nach Hanssons überraschen­ dem Tod 1946 Tage Erlander das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, begann jedoch die lang ersehnte »Erntezeit« der Sozialdemokratie. Endlich wollte man mit der angestrebten Umgestaltung der schwedischen Gesellschaft in Richtung des Folkshemmet beginnen. Und in der Tat knüpfte Erlander an Hanssons Politik an und trug in den 23 Jahren seiner Regierungszeit maß­ geblich zur Weiterentwicklung des Wohlfahrtstaates bei. Als politischer Begleiter und Unterstützer stand ihm sein späterer Nachfol­ ger als Ministerpräsident und Parteivorsitzender, Olof Palme, zur Seite. Dieser nahm dabei die Rolle eines »linken Korrektivs« ein. Angesichts von Palmes sozialer Herkunft aus einer großbürgerlich-konservativen Familie dürften sowohl seine inhaltliche Positionierung wie sein politischer Weg verwun­ dern. Somit stellt sich hier als erstes die Frage: Welche Gründe erklären die Entwicklung des Großbürgerkindes zum Sozialdemokraten? Da Palme später der teilweise hasserfüllte Vorwurf des »Klassenverrats« gemacht wurde, ist die Antwort darauf auch aus diesem Grund von Interesse.

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5  Vgl. Gösta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990; bezogen auf Schweden vgl. Erik Gurgsdies, Schweden. Zivil­ gesellschaft im universalistischen Wohlfahrtsstaat, in: Thomas Meyer (Hg.), Praxis der Sozialen Demokratie, Wiesbaden 2006, S. 45–129; Bernd Henningsen, Der Wohlfahrtsstaat Schweden, Baden-Baden 1986.

Die berufliche Entwicklung des 1927 geborenen Palme verlief mit Jura­ studium und Militärdienst zunächst in den durch seine soziale Herkunft vorgegebenen Bahnen. Bis Mitte der 1940er Jahre scheint er noch eine kon­ servative Einstellung eingenommen zu haben, allerdings bereits mit einem modernen Einschlag. Letzteres erklärt sich wohl auch durch die internatio­ nale Dimension seiner Sozialisation in einer Familie mit engen Verbindun­ gen in andere Länder. Palmes Hinwendung zur Sozialdemokratie erfolgte aber erst in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre – nicht als rigoroser Bruch, sondern als schrittweise Entwicklung. Dabei waren bestimmte Ereignisse und deren intellektuelle Verarbeitung in Kombination miteinander ausschlaggebend: Hierzu gehört zum einen die Debatte um Steuerpolitik, die in besonders emotionaler und polarisierter Form 1947 geführt wurde. Palme zeigte sich von der argumen­ tativen Schlüssigkeit und rhetorischen Überlegenheit der Argumentation des sozialdemokratischen Finanzministers Ernst Wigforss stark beeindruckt. Zum anderen sammelte Palme prägende Erfahrungen im Ausland: Infolge eines USA-Aufenthaltes als Student 1947/48 zeigte er sich begeistert von der amerikanischen Freiheit und Offenheit, aber auch erschüttert von Rassismus und Verarmung. Gerade die letztgenannte Erfahrung ließ ihn die Bedeutung des schwedischen Wohlfahrtsstaates erkennen. Bei einem Aufenthalt in der Tschechoslowakei, wohin er 1949 als Repräsentant der schwedischen Studen­ tenorganisation anlässlich einer internationalen Konferenz gereist war, erlebte Palme die Auswirkungen einer kommunistischen Diktatur im Alltagsleben. Diese Erfahrung begründete seine Festlegung auf ein dezidiert antikommu­ nistisches Sozialismusverständnis. Und schließlich konnte Palme bei einer Südostasien-Reise 1953 die Folgen von Kolonialismus und Verelendung mit eigenen Augen sehen. Sein großes Interesse für Entwicklungspolitik dürfte dadurch eine zusätzliche, persönliche Motivation erfahren haben. IV PALMES MITARBEIT AM AUFBAU DES WOHLFAHRTSSTAATES 1952 trat Palme dem Sozialdemokratischen Verband der Studenten (SFS) bei, womit ein entscheidendes organisatorisches und politisches Bekenntnis zur Sozialdemokratie erfolgte. Bereits zuvor hatte er eher zufällig den Minis­ terpräsidenten Erlander bei einer Zugfahrt kennengelernt. Als dieser 1953 einen kompetenten persönlichen Referenten suchte, entschied er sich für Palme, womit der Beginn einer engen Kooperation bis zu Erlanders Rücktritt von seinem Amt 1969 gegeben war. Fortan entwickelten sich Erlander und Palme zu einem eng miteinander kooperierenden Duo. Palme wurde dabei im Laufe der Jahre immer mehr zu einem eigenständigen, herausfordernden Armin Pfahl-Traughber  —  »Politik heißt: etwas wollen«

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und innovativen Faktor. Darüber hinaus hatte er ab 1963 als Staatsrat, ab 1965 als Verkehrsminister und ab 1967 als Bildungsminister diverse Ämter inne. Zunächst als politisch Lernender, dann als konstruktiver Mitgestalter be­ gleitete Palme den Aufbau bzw. die Verfestigung des Wohlfahrtsstaates. 1953 wurde das Gesetz für eine allgemeine Krankenversicherung verabschiedet; 1957 erfolgte eine starke Erhöhung der Kindergeldbeiträge; und 1960 kam es zur Reduzierung der Arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden. Besonders hef­ tige politische Auseinandersetzungen löste die Debatte um die allgemeine Zusatzrente aus, welche 1959 eine denkbar knappe Mehrheit im Reichstag fand. Auch in den folgenden Goldenen Sechzigern setzte man die Reform­ politik fort; 1963 garantierte ein Gesetz etwa den vierwöchigen Jahresurlaub. Mittlerweile sahen politische Beobachter in Palme den aufgehenden neuen Stern der SAP. Einerseits stand er für respektloses Auftreten und rhetorisches Geschick, andererseits für höchste Loyalität und technokratisches Vermögen. Ersteres artikulierte sich etwa darin, dass Palme auf dem Höhepunkt der 68erBewegung persönlich seine Positionen als Bildungsminister gegenüber den pro­ testierenden Studenten verteidigte. Letzteres erklärt, warum er 1969 zum Nach­ folger von Erlander als Ministerpräsident und Parteivorsitzender gewählt wurde. V PALMES POSITIONEN IN DER REDE »POLITIK HEISST: ETWAS WOLLEN« Worin bestanden nun die politischen Positionen von Palme? Um diese Frage zu beantworten, soll hier ein Blick in den Text seiner bereits einleitend zitier­ ten programmatischen Rede »Politik heißt: etwas wollen« geworfen werden. Vorab darf allerdings darauf hingewiesen werden, dass Palme sich bei allem Interesse für ideologische Fragen immer als politischer Praktiker und nie als politischer Theoretiker verstand. Palme definierte sich nicht als Ideologe, sondern als Reformer. Gleichwohl lieferten seine Erklärungen und Vorträge die inhaltliche Basis für eine besondere Konzeption von »demokratischem Sozialismus«, die man aber nur vor dem Hintergrund der skizzierten histo­ risch-politischen Entwicklung verstehen kann. Die erwähnte Rede von 1964 hielt Palme zehn Jahre nach dem Beginn seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von Erlander und kurz nach seiner erstmaligen Ernennung zum Minister. Sie beginnt mit den Worten: »Politik heißt: etwas wollen. Sozialdemokratische Politik heißt: Veränderungen wollen, weil Veränderungen Verbesserungen verheißen […]«6 Als Repräsentant einer Regierung, die schon länger im Amt war, ging es ihm hier nicht um eine Beschwörung der Alternativlosigkeit und der Konti­ nuität, sondern des Wandels und der Verbesserungen. Das bisher Erreichte

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Perspektiven — Portrait

6  Palme, Politik heißt: etwas wollen, S. 52.

bedürfe einer kritischen Prüfung hin auf das noch Mögliche. Eine solche Absicht, so Palme, benötige ein Ziel. Dieses sah er im demokratischen So­ zialismus, den Palme sowohl vom Kommunismus der Sowjetunion wie vom Privatkapitalismus der USA abgrenzte. Die Fixierung beider Ideologien und Systeme auf eine einheitliche Formel lehnte er zugunsten eines von Diskus­ sion, Experimenten und Kritik geprägten politischen Denkens ab. Der Gehalt des demokratischen Sozialismus bestand für ihn in der Einsicht und Erfah­ rung des Sozialismus als Ausdruck von Freiheit und Gleichheit. »Was Sozialisten zu allen Zeiten und in allen Ländern unabhängig von ihren übrigen Meinungsverschiedenheiten vereint hat«, so Palme, »ist der Abscheu von einer Klassengesellschaft und das Streben nach Ausgleich und Gleichberechtigung.«7 Belege für die Fortexistenz einer Klassengesellschaft liefere der Blick auf die Einkommensteuer-Statistik und die Vermögensver­ teilung; die Verwirklichung von Gleichheit stehe noch aus. Palme betonte in der genannten Rede aber auch die demokratische Komponente seines Sozia­ lismusverständnisses: »Der Sozialismus ist eine Freiheitsbewegung. Unser Ziel ist die größtmögliche Freiheit vom Druck äußerer Verhältnisse, Freiheit für die Menschen, ihre eigenen Anlagen zu entwickeln, Freiheit für das In­ dividuum, sein Leben nach eigenen Wünschen einzurichten.«8 Gegen Ende seiner Rede beschwor Palme insbesondere für die Jugend die Möglichkeiten der Gestaltung von Politik: Man kenne die Größe der Probleme, aber auch die Möglichkeiten der Veränderung. VI PALMES REFORMPOLITIK ZUR VERTIEFUNG DES WOHLFAHRTSSTAATES Letztere wollte Palme als Ministerpräsident und Parteivorsitzender mit seiner Reformpolitik noch stärker nutzen.9 Indessen sah er sich in seiner Regierungs­ 7 

Ebd., S. 54.

8  Ebd., S. 55.

zeit mit gewandelten ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen konfrontiert, denn gegen Ende der 1960er Jahre ging die Ära der geringen Arbeitslosigkeit und boomenden Wirtschaft ihrem Ende entgegen. Es kam zu größeren Arbeitskämpfen mit wilden Streiks, wobei etwa auch die schlechte

9  Eine Gesamtdarstellung dazu liefert: Peter Antman, Olof Palme och välfärdsstaten, in: Ders. u. Pierre Schori (Hg.), Olof Palme. Den gränslöse reformisten, Stockholm 1996, S. 11–122. 10  Dieses Bild nutzte der Biograf Kjell Östberg zur Betitelung der beiden Bände seiner voluminösen Palme-Bio­ grafie (siehe Anm. 2).

soziale Situation von Grubenarbeitern deutlich wurde. Gleichzeitig schwan­ den aufgrund der beginnenden Wirtschaftskrise, die fortan für viele europäi­ sche Länder ein Problem darstellen sollte, die finanziellen Ressourcen. Um die Reformpolitik dennoch fortsetzen zu können, erhöhte die Palme-Regie­ rung massiv die Steuern, was insbesondere in den sozialen Kreisen, die bes­ ser verdienten und mehr zahlen mussten, großes Missbehagen mit starker medialer Resonanz auslöste. Während Palme bislang mit dem Takt der Zeit hatte gehen können, drehte sich nun der Wind.10 Armin Pfahl-Traughber  —  »Politik heißt: etwas wollen«

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Gleichwohl setzte die Regierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Reformpolitik fort – wobei es einerseits um die Stärkung der Rechte von Arbeitnehmern und der Stellung der Gewerkschaften und andererseits um die Verbesserung der Lebenssituation von Familien und Frauen ging. Für Maßnahmen im erstgenannten Sinne standen bspw. der Ausbau der Mitbe­ stimmung, die Erweiterung von Rechten älterer Arbeitnehmer, die Pflicht zur Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in Vorstände oder die Verbesserung des Arbeits- und Kündigungsschutzes. Für Reformen im letztgenannten Sinne standen die Einführung einer Elternversicherung mit Elterngeld und Eltern­ zeit, die Erhöhung der Betreuungsplätze in Kindertagesstätten oder die Li­ beralisierung des Scheidungsrechts mit der Aufhebung der Unterhaltspflicht. Bei vielen dieser Maßnahmen kam Palme selbst die Rolle einer treibenden Kraft zu; wobei er aber keine festgelegte Agenda durchsetzte, sondern prag­ matisch den gegebenen Möglichkeiten folgte. Durch die erwähnten Reformen erhöhte sich die Belastung durch Steuern ebenso wie sich der Einfluss des Staates vergrößerte, was in Kombination mit einschlägigen öffentlichen Kampagnen gegen diese Politik zu einem negati­ ven Bild von Regierung und Sozialdemokratie führte. In der Folge dieser Ent­ wicklung konnte ein Rückgang der Stimmen bei Wahlen nicht verwundern: 1976 führte dies zum Gang in die Opposition. Die SAP konnte erst 1982 er­ neut den Ministerpräsidenten stellen, abermals war dies Palme. Angesichts von Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten und Inflation hatte sich der nötige Spiel­ raum für Reformpolitik weiter verengt. Stattdessen musste Palme die Folgen der Wirtschaftskrise in den Griff bekommen. Mitten hinein in diese Bemü­ hungen fiel 1986 seine bis heute nicht überzeugend aufgeklärte Ermordung. VII PALMES AUSSENPOLITIK IN DEMOKRATIETHEORETISCHER PERSPEKTIVE Auch sein außenpolitisches Engagement spielt für die Einschätzung des Poli­ tikers Palme eine herausragende Rolle11, kann doch aus der Kommentierung des Agierens unterschiedlicher Staaten auf sein politisches Selbstverständnis auch und gerade in demokratietheoretischer Perspektive geschlossen wer­ den. Am Anfang der Betrachtung steht die Einstellung zu den USA: Bereits zu Beginn seiner politischen Entwicklung hatte Palme auf dieses Land glei­ chermaßen mit Begeisterung wie mit Skepsis reagiert. Indessen nahm er im Kalten Krieg bei aller Neutralität Schwedens immer eine positive Haltung gegenüber den USA ein, was allerdings Kritik am Vietnamkrieg nicht aus­ schloss. So formulierte Palme bereits 1965 in seiner Rede in Gävle seine Ein­ wände mit deutlichen Worten; 1968 beteiligte er sich unter großer medialer

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Perspektiven — Portrait

11  Eine Gesamtdarstellung dazu liefert: Peter Schori, Olof Palme i världen, in: Antman u. Schori, S. 123–204.

Aufmerksamkeit an einem Fackelmarsch gegen den Krieg; und 1972 setzte Palme den US-Krieg öffentlich mit anderen Menschheitsverbrechen gleich. Ebenso eindeutig kritisierte er die militärischen Interventionen der Sow­ jetunion in anderen Ländern, sei es 1968 in einer Rede gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei, sei es 1980 in einer Stellungnahme gegen den Ein­ marsch in Afghanistan. Palmes Kritik richtete sich aber auch gegen diktato­ rische Systeme, die wie das Franco-Regime in Spanien während des Kalten Krieges aufgrund ihres Antikommunismus auf der Seite der NATO-Staaten standen. Während andere westliche Politiker aufgrund von außenpolitischen Rücksichten meist schwiegen, bestand Palme auf der universellen Akzeptanz von Demokratie und Menschenrechten. Sosehr dies Palme hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit und Wertgebun­ denheit auszeichnete, so gab es doch auch bei ihm durchaus Inkonsequen­ zen. Diese bezogen sich auf Befreiungsbewegungen und Revolutionsregie­ rungen in den Entwicklungsländern. So solidarisierte sich Palme bereits früh distanzlos mit dem African National Congress (ANC), um dessen Kampf gegen die rassistische Apartheid zu unterstützen. Die auch finan­ ziell von Schweden in seiner Regierungszeit geförderte Organisation be­ ging indessen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen. Noch problema­ tischer verhält es sich mit einem Besuch Palmes in Kuba, wo er 1975 als erster westlicher Regierungschef von Fidel Castro mit propagandistisch motivierter großer öffentlicher Aufmerksamkeit empfangen wurde. Zwar galt Castro als engagierter Sprecher der Entwicklungsländer, er regierte Kuba aber als Diktator, was Palme in diesem Fall nicht zu einer Distanzie­ rung oder Kritik motivierte.12 VIII PALMES DEUTUNG DES »DEMOKRATISCHEN SOZIALISMUS SCHWEDENS« Dies wäre aber eine inhaltlich notwendige Konsequenz aus seiner Grund­ 12  Das in derartigen Fragen inkonsequente und widersprüch­ liche Agieren von linken Intellek­ tuellen und Politikern in Schwe­ den problematisiert zwar einseitig in der Bewertung, aber treffend in der Darstellung: Per Ahlmark, Vänstern och tyranniet. Det galna kvartsseklet, Stockholm 1994, be­ zogen auf Palme vgl. S. 157–172. 13 

Olof Palme, Die Gleichheit freier Menschen – der demo­ kratische Sozialismus Schwedens (1970), in: Duve, S. 58–65.

auffassung vom »demokratischen Sozialismus Schwedens« gewesen. Wo­ rin diese bestand, darüber äußerte sich Palme 1970 wie folgt: »Die Vorstel­ lung des demokratischen Sozialismus in einer besseren Gesellschaft kann in der Idee der Gleichheit freier Menschen zusammengefasst werden. Gerade diese Vision war es, die bei der Sozialdemokratie frühzeitig an die Stelle des Glaubens an eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die früher oder später zu einer Revolution und zu einem Sieg des Proletariats führen würde, getreten ist.«13 Der Gesichtspunkt des Einklanges von Freiheit und Gleichheit des In­ dividuums bildete für Palme neben der Negation eines deterministischen Geschichtsbildes den grundlegenden Unterschied zu den Kommunisten im Armin Pfahl-Traughber  —  »Politik heißt: etwas wollen«

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eigenen Land und zu Regierenden in den Systemen des »real existierenden Sozialismus« des seinerzeitigen Ostblocks. Deren ideologische Repräsentanten erblickten umgekehrt im demokrati­ schen Sozialismus von Palme und anderen linken Sozialdemokraten der 1970er Jahre eine »Ideologie des Sozialreformismus«: Sie sei mehr an Kant und Popper denn an Marx und Lenin orientiert; man setze auf Reformen des Kapitalismus statt auf dessen Überwindung durch Revolutionen; es gehe nicht um die Ent­ eignung von Produktionsmitteln, sondern um die Politik der Umverteilung; und statt an einer Abschaffung des bürgerlichen Systems orientiere man sich an der Freiheit der einzelnen Persönlichkeit. Der Betonung dieser Differen­ zen kann – lässt man die ideologischen Bewertungen dabei unberücksichtigt – durchaus zugestimmt werden. Ein bedeutender Unterschied zwischen dem demokratischen Sozialismus Palmes und dem diktatorischen Sozialismus der Sowjetunion bestand eben in der Akzeptanz von politischen Grund- und Frei­ heitsrechten – sollte doch der Schritt in Richtung einer tiefgehenden Umgestal­ tung der Gesellschaft auf demokratischem und rechtsstaatlichem Weg erfolgen. Bedeutende Änderungen der politischen und sozialen Gegebenheiten schloss das Bekenntnis zum »demokratischen Sozialismus Schwedens« frei­ lich keineswegs aus. Palme stellte seine Arbeit in die Kontinuität der Politik seiner Partei, die seit den 1930er Jahren den langen Prozess hin zu mehr so­ zialer Gleichheit vorangetrieben habe. Dem Kampf um politische Grundrechte sei der Kampf um soziale Sicherheiten gefolgt. Daraus ergab sich Palme zu­ folge nun »die Pflicht, politisches und wirtschaftliches Geschehen mehr als bisher mitzubestimmen und mitzugestalten«14. Was diese Formulierung nur zaghaft andeutet, war die Forderung nach einer Erweiterung der politischen hin zu einer wirtschaftlichen Demokratie, in der die Arbeiter in den Betrie­ ben und die Gewerkschaften als deren Repräsentanten über die etablierten Mitbestimmungsmöglichkeiten hinaus mehr Einfluss auf die Ausgestaltung der Produktionsprozesse erhalten sollten. IX PALMES REGIERUNGSZEIT ZWISCHEN IDEALISMUS UND REALPOLITIK Bekanntlich kam diese Entwicklung nur in Ansätzen voran, was sich mit den Grenzen für die Durchsetzung von Idealen durch die Gegebenheiten der Realität von Politik erklärt.15 Denn den beabsichtigten Reformen stan­ den auf unterschiedlichen Ebenen die verschiedensten Widerstände ent­ gegen: Die Arbeitgeberverbände stellten sich quer und die Sozialdemo­ kratie konnte bei Wahlen nur selten eine absolute Mehrheit gewinnen. So musste sie entweder auf einen Koalitionspartner Rücksicht nehmen oder als

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Perspektiven — Portrait

14 

Ebd., S. 64.

15  Palme-Biografen sprachen in diesem Kontext denn auch von einem Ergebnispolitiker und Ro­ mantiker; vgl. Eklund, S. 121; im Zusammenhang mit Skandalen vom Bild des skrupelfreien und tricksenden Politikers vgl. Öst­ berg, När vinden vände, S. 171.

Minderheitenregierung um politische Zustimmung werben. Palme kritisierte immer wieder heftig die Bestrebungen der bürgerlichen Parteien, welche sei­ ner Reformpolitik ihren Widerstand entgegensetzten. Insbesondere die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeitgeber wird an­ gesichts des hohen Stellenwertes der Gewerkschaften leicht unterschätzt. In den 1950er und 1960er Jahren kam es auch in Schweden parallel zur Ent­ wicklung des Wohlfahrtsstaates zu einem wirtschaftlichen Konzentrations­ prozess, wobei die Stärkung der ökonomischen auch mit einer Stärkung der politischen Unternehmensmacht einherging. Darauf musste die Sozialde­ mokratie direkt oder indirekt Rücksicht nehmen – insbesondere angesichts wachsender Arbeitslosigkeit in ökonomischen Krisenphasen. Mitunter führte dies bei Palme zu ambivalentem Agieren, wenn etwa der außenpolitische Be­ fürworter von internationaler Abrüstung gleichzeitig ein ökonomischer För­ derer der schwedischen Rüstungsindustrie war. Und immer wieder stellte sich die Frage: Findet man in der Bevölkerung eine Mehrheit für die ange­ strebte Politik? Denn nach dem großen Erfolg 1968 mit 50,1 Prozent gingen die Ergebnisse für Palme mit 45,3 Prozent 1970 und 43,6 Prozent der Stim­ men 1973 kontinuierlich zurück. Insbesondere die besser bezahlten Angestellten und Arbeiter fühlten sich immer weniger von der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatspolitik ange­ sprochen, weshalb ein gewisser Anteil des Stammwählerpotenzials kontinu­ ierlich wegbrach. Zu Beginn der 1970er Jahre machte sich darüber hinaus auch in Schweden immer mehr die internationale Wirtschaftskrise bemerk­ bar. Und schließlich bedingte eine heftige Kontroverse um die Steuerpolitik einen weiteren Ansehensverlust der Palme-Regierung. 1976 führte der damit einhergehende Stimmenrückgang auf 42,7 Prozent dazu, dass die SAP erst­ mals seit 44 Jahren in die Opposition gehen musste. X SCHWEDISCHE LEHREN Im Kontext dieser Entwicklung kamen erneut Behauptungen auf, die nicht nur bezogen auf die Palme-Administration, sondern auch auf das Wohlfahrtsstaat16  Vgl. Thomas Etzemüller, Total, aber nicht totalitär. Die schwedische »Volksgemeinschaft«, in: Frank Bajohr u. Michael Wildt (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesell­ schaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 41–59; wobei der Autor die angedeute­ ten politischen Gleichsetzungen später wieder relativiert bzw. zurücknimmt, vgl. S. 57.

System von Bürokratisierung und Paternalismus wie von Kollektivismus und Unfreiheit sprachen. Mitunter findet man gar das Bild von einer totalen, aber nicht totalitären Gesellschaft sowie die Rede von der schwedischen »Volks­ gemeinschaft«.16 Derartige Einordnungen, die häufig auf Basis einer Abso­ lutsetzung ökonomischer Freiheit vom Staat erfolgen, verkennen jedoch em­ pirisch wie theoretisch den möglichen Einklang von Freiheit, Gleichheit und Individualität im Wohlfahrtsstaat. Bezogen auf Schweden als Analyseobjekt kommt hinzu, dass auch die durchaus existenten Ideen oder Praktiken einer Armin Pfahl-Traughber  —  »Politik heißt: etwas wollen«

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Gesellschaftssteuerung durch den Staat nicht mit der Suspendierung indivi­ dueller Freiheiten und Rechte einhergingen. Die gegenteilige Sicht verkennt darüber hinaus das hohe Ausmaß von Individualität und Unabhängigkeit als grundlegende Merkmale in Geschichte, Gesellschaft und Kultur des Landes.17 Einen ebenso hohen Stellenwert nimmt die Gleichheit ein, wobei hierfür keineswegs die Arbeiterbewegung von konstitutiver Bedeutung war. Aus historischer Perspektive geht deren Verankerung je nach gewählter Sicht entweder bis auf die altgermanischen Lebensformen oder die Bauernbewe­ gung des 19. Jahrhunderts zurück. Indessen wies die Gesellschaft des Lan­ des durchaus erhebliche soziale Unterschiede auf. Über Palmes Politik als Erlanders Mitarbeiter wie Nachfolger heißt es, durch sie sei eine hierarchi­ sche und starre Klassengesellschaft zu einem der egalitärsten Länder der Welt umgestaltet worden.18 Dieses Agieren hat indessen den Wohlfahrtsstaat nicht neu gegründet, gleichwohl vertieft. Eine mehr egalitäre, nicht eine total ega­ litäre Gesellschaft führt denn auch von der Bildung über Chancengleichheit und Gesundheit bis zur Kriminalitätsbelastung zu Verbesserungen.19 Wenn Schweden im Ländervergleich in den einschlägigen Untersuchungen dabei häufig einen Platz an der Spitze einnimmt, hat dies etwas mit den länger­ fristigen Folgen dieser Politik zu tun. Auch und gerade angesichts der Gefahren von Globalisierung und Wirt­ schaftskrisen stellt sich darüber hinaus die Frage, ob das Modell des skan­ dinavischen Wohlfahrtsstaates nicht eine Alternative für ökonomische und soziale Entwicklungswege darstellt.20 Eine Fülle von empirischen Fakten legt eine solche Perspektive nahe. Insofern kann man mit dem vergleichenden

17  Vgl. Henrik Berggren u. Lars Trägardh, Är svensken människa? Gemenskap och oberoende i det moderna Sverige, Stockholm 2006, wo auch der in diesem Kontext bedeutsame »Staatsindividualismus« behan­ delt wird; vgl. ebd., S. 33–54. 18  So die Einschätzung des Palme-Biografen Berg­ gren, Olof Palme, S. 628. 19  Vgl. Richard Wilkinson u. Kate Pickett, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2009; vgl. zu entgegengesetzten Ent­ wicklungen u. a. Joseph Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, Mün­ chen 2012.

Blick auf die politische Entwicklung eines Landes wie Schweden viel lernen. Für damit einhergehende Betrachtungen und Handlungen empfiehlt sich als Leitprinzip das politische Credo des folgenden Palme-Zitats: »Bei uns ist die Debatte an die Stelle festgenagelter Thesen getreten. Unser Los ist es, dau­ ernd Fragen zu stellen und immer von neuem sachlich zu experimentieren, Autoritäten anzuzweifeln und Autoritäten zu mißtrauen. Es ist unsere Ver­ pflichtung, unsere Kenntnisse zu vertiefen, selbständig zu denken und unsere Ideen in einer persönlichen Überzeugung zu verankern. Das nimmt sich vielleicht weniger grandios aus. Aber darin liegt unsere Freiheit und Ehre.«21

Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, geb. 1963, ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er arbeitet als hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bun­ des für öffentliche Verwaltung in Brühl und gibt eben­ dort seit 2008 das »Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung« heraus.

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Perspektiven — Portrait

20  Vgl. u. a. Cornelia Heintze, Wohlfahrtsstaat als Standortvor­ teil. Deutschlands Reformirrweg im Lichte des skandinavischen Erfolgsmodells, Leipzig 2005; Andreas Oppacher, Deutsch­ land und das Skandinavische Modell. Der Sozialstaat als Wohlstandsmotor, Bonn 2010. 21  Palme, Politik heißt: etwas wollen, S. 53.

DEBATTE

IM GRENZRAUM ZUR LAGE DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES1 ΞΞ Katia Henriette Backhaus

»Nur nach langem Zögern habe ich meine Scheu, Ihnen zu schreiben, über­ winden können. Hätte ich auch nur einen einzigen Ausweg gesehen, ich hätte diesen eingeschlagen. Da ich alle Auswege versucht habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich an Sie zu wenden, auch wenn ich wohl verstehe, dass meine persönlichen Sorgen neben den Ihren, die die ganze Nation betreffen, ganz und gar nichtig sind.«2 Mit diesen Worten beginnt Joachim Lichtbeelt, der Protagonist in Harry Mulischs Erzählung »Die Grenze«, sein Schreiben an die niederländische Königin, in dem er das Schicksal seiner Frau nach einem schweren Autounfall an einer Fernstraße schildert. Aus dem Wagen geschleudert, kommt die Ehefrau unter einer Hochspannungsleitung zu lie­ gen, die just die Grenze zwischen zwei Verwaltungsbezirken markiert. Aus diesem Grund weisen die Rettungsdienste beider Bezirke die Zuständigkeit ab. Der nach acht Tagen eintreffende zuständige Ingenieur des staatlichen Kartografenamts stellt dies fest und erläutert: »Die Schwierigkeit liegt nur darin, dass die Karte den größten Maßstab hat, der in der niederländischen Kartographie geläufig ist. Das aber bedeutet zum Unglück, dass die Grenz­ linie, wie sie hier eingezeichnet ist, die gleiche Breite hat wie der Abstand 1 

Ich danke Claudia Czingon und Henning Meinken, die frühere Fassungen dieses Textes mit mir diskutiert haben, sowie Thorsten Thiel für seinen guten Rat.

2  Harry Mulisch, Die Grenze, in: Ders., Vorfall. Fünf Erzählun­ gen, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 5–28, hier S. 5. 3  Ebd., S. 21 f.

zwischen den äußeren Drähten der Hochspannungsleitung über uns. Das Ge­ biet zwischen den Drähten, auf dem Ihre Frau liegt, existiert somit in einem gewissen Sinne nicht, zumindest nicht in kartographischer Hinsicht. Es ist die Grenze selbst, es trennt Utrecht von Gelderland, aber es ist selber nicht so etwas wie das, was es trennt, es ist lediglich das Trennende.«3 Dieses Problem ist der Kern von Mulischs Erzählung. Wie sich dort wei­ ter zeigen wird, bestimmt dieses unbestimmte, in gewisser Weise nicht exis­ tente Stück Land Lichtbeelts Schicksal. Ich möchte behaupten, dass wir es kennen. Der Grenzort, der trennenden, nicht klar bestimmbaren und damit

INDES, 2015–3, S. 155–161, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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unbeständigen Charakters ist, ist das passende Bild für die Situation, in der sich der wissenschaftliche Nachwuchs deutscher Hochschulen befindet. Im Folgenden möchte ich diesen Ort weiter erkunden und damit eine Skizze der Lage des deutschen Nachwuchses vorstellen, anhand derer ihre Fragili­ tät und zugleich die Dysfunktionalität ihrer Logik zu erkennen sein sollen. Erforschen wir Lichtbeelts Lage genauer, erscheint sie bereits von der ersten Seite an absurd. Denn schon früh wird implizit deutlich, dass seine Frau, in »sozusagen unmöglicher Stellung«4 auf der Wiese liegend, bereits beim Auf­ prall auf jenes Niemandsland zu Tode gekommen ist. Doch zugleich scheint Lichtbeelt, um Hilfe für die Verunglückte bemüht, dies auch nach über einer Woche nicht anzuerkennen. Er ist gefesselt an die Situation, die durch einen selbstläuferischen, seiner eigenen Logik folgenden Prozess, angestoßen durch den Unfall, geprägt wird. Die Tatsache, dass er die Situation nicht kontrollie­ ren, den Prozess nicht zu einem Ende bringen kann, ja, es nicht einmal einen Ausblick auf ein Ende gibt, macht Lichtbeelt zum Gefangenen der Grenze. Die Spanne zwischen den Drähten der Hochspannungsleitung, das kar­ tografische Niemandsland, ist das Symbol für diesen Prozess, der immer nur trennend sein kann. Der Punkt, der trennt, wäre sein Ende – ein Ende, das es bei Mulisch nicht gibt. Der Grenzort schafft keinen klaren Übergang zwi­ schen den Verwaltungsbezirken, und im übertragenen Sinne ebenso wenig zwischen Leben und Tod. All diese Gegensätze können nicht klar sein, weil der trennende Prozess unabgeschlossen bleibt. Der Grenzort ist kein an­ erkannt existierender und damit auch kein dauerhafter, beständiger Raum. Lichtbeelt ist im Schwebezustand zwischen den in den beginnenden Herbst­ stürmen schwankenden Drähten gefangen, festgesetzt in einer Situation, die durch die Unbestimmtheit des Ortes, an dem seine Frau verunglückt liegt, geprägt wird. Er könnte gehen, aber nicht abschließen. In der Idee des unbestimmten, seiner eigenen Logik folgenden Prozesses, dessen Ende nicht klar abzusehen ist, liegt meines Erachtens die Parallele zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Nach dem Studium den Weg in die Wissenschaft wählend, finden sich Nachwuchswissenschaftler_innen schnell im unbeständigen Raum der befristeten Finanzierung wieder. Ob Stelle, Stipendium, nicht-wissenschaftliche Lohnarbeit oder Erspartes: Immer bedeutet diese eine Zeit, in der die Zahl der Monate mit gedecktem Konto zum Maßstab von Sorge oder Beruhigung wird. Ich spreche hier von einem Prozess mit offenem und uneinsehbarem Ende, weil eben dann, wenn die Monate weniger und die Sorgen größer werden, auch die Hoffnung zunimmt. Abschluss- und Anschlussfinanzierungen, weitere Stellen oder Stipendien lassen den Prozess mit ein wenig Glück weiterlaufen. Nicht zu kontrollieren

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Perspektiven — Debatte

4  Mulisch, S. 6.

oder planbar, aber mit etwas Glück machbar: So stellt sich der unbestimmte Prozess der »wissenschaftlichen Karriere« dar. Nur im Nachhinein wird man ihn so nennen können – zumindest, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Karriere« im Sinne einer Fahrbahn erinnert, die wir als stetig fortführend denken und deren Ziel wir ausmachen können. Wie diese unbestimmten Fälle der Finanzierung ist auch der Prozess des Kartografierens in Mulischs »Vorfall« von überraschenden Schritten geprägt. Wenn man schließlich, so der Ingenieur, eine genauere Karte im Maßstab eins zu eins angefertigt habe, müsse die Lage weiter untersucht werden. »Sollte dann die Grenze quer über den Körper Ihrer Frau hinweglaufen, müsste von Sachverständigen geklärt werden, ob sich ihre Identität im Kopf, im Herzen oder meinetwegen auch im kleinen Zeh befindet, wenn es nur ein Körperteil ist, der sich voll und ganz entweder in Utrecht oder in Gelderland befindet.«5 Welche Schritte würde das wiederum nach sich ziehen? Lichtbeelt bleibt un­ aufgeklärt. Voller Verständnis für die Wechselhaftigkeiten des Arbeitspro­ zesses richtet er sich darauf ein, zu warten. »Immerhin«, so Lichtbeelt, nachdem er das Abschleppen seines Wagens verhindert hat, »war ich froh, dass ich meine Schlafstelle gerettet hatte, denn sonst hätte ich bei [den Bauersleuten] ein Bett mieten müssen […], das wäre dann doch wieder ein schwerwiegendes Attentat auf meinen Geldbeutel ge­ wesen. Es stellte sich zudem heraus, dass die Preise für Äpfel und Birnen […] plötzlich scharf angezogen hatten.«6 Er bleibt zuversichtlich. »Das schöne Wetter hielt an […] und am Sonnabend tat ich nicht viel mehr, als einen Brief an das Sozialamt in Amstelveen zu schreiben, indem ich meine Lage darlegte und um eine Arbeitslosenunterstützung nachsuchte.«7 Prekär, so könnte man Lichtbe­ 5  Ebd., S. 22. 6  Ebd., S. 16.

elts Lage auch nennen – und damit von einem unter dem akademischen Nach­ wuchs wohlbekannten Zustand sprechen.8 Dieser ist gekennzeichnet durch einen stetigen Wechsel zwischen den Höhen des privilegierten Daseins und den Tiefen der unbezahlten Perspektivlosigkeit, und dauert schlichtweg an, weil

7 

Ebd., S. 19.

8  So gibt es bspw. bereits ein Netzwerk »Prekäres Wissen« (https://prekaereswissen.word­ press.com/), das sich diese Situa­ tion explizit zum Thema gemacht hat. Forschungsliteratur zu dem Thema prägt den Begriff vom »akademischen« oder auch »pro­ movierten« Prekariat, der inzwi­ schen in regelmäßigen Abständen nicht nur Zeitungstitel schmückt, sondern auch Eingang in den politischen Diskurs gefunden hat.

die Hoffnung auf die Höhen keine ist, die man allzu leicht sterben lassen will. An diesem Punkt der Erzählung, an dem Lichtbeelt seinen bisherigen Wohnort, im Prinzip sein ganzes bisheriges Leben, für unbestimmte Zeit auf­ gibt, müsste das Verständnis der Lesenden aufbrechen. Doch es scheint logisch, der eindringlich-naiven Schilderung Lichtbeelts zu folgen, der den Prozess, der noch nicht zu einem Ende gekommen ist, nicht verlassen kann und will. Dabei hat ihn die Situation inzwischen vollkommen vereinnahmt. Bis zu diesem Punkt hätten wir die Lage noch als eine Art Schwebezustand bezeich­ nen können, der aus einer Unklarheit der äußeren Umstände entstanden ist. Doch nun wird deutlich, dass Lichtbeelt sich nicht nur äußerlich, sondern Katia Henriette Backhaus  —  Im Grenzraum

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auch innerlich der Lage anpasst. Fixiert auf die Klärung des kartografischen Sachverhalts, ist seine Urteilskraft getrübt. Weder kann er den Tod seiner Frau anerkennen noch die Drohung der Kündigung seiner Arbeitsstelle ab­ wägen. Lichtbeelt hat seinen inneren Standpunkt verloren, der für die Be­ urteilung seiner Lage notwendig ist. Der äußere Schwebezustand, die Aus­ wirkungen des unbestimmten Ortes, des unkontrollierbaren Prozesses und seiner uneinsehbaren Eigenlogik, hat zur Blockade von Lichtbeelts Fähigkeit des vernünftigen Urteilens geführt. Die Bedeutung der Vorstellung, einen »Ort zu haben in der Welt«, und, dem entgegengesetzt, die Unsicherheit, die aus (Orts-)Unbestimmtheit und Unstetigkeit resultiert, finden hier eine strahlkräftige Illustration. Verstehen wir den »Ort« in der Welt mit Hannah Arendt nicht als privat-abgegrenzte Zuflucht, sondern im Sinne eines eigenen Standpunktes, zeigt sich, dass er notwendige Voraussetzung für die Sichtbarkeit und Anerkennung anderer Standpunkte ist. Dieser Ort entsteht und besteht aufgrund der Fähigkeit zu urteilen, der Ausbildung der Urteilskraft, so Arendt. Einen Standpunkt als ideellen »Ort in der Welt« zu verstehen, meint, die Suche nach einem solchen zur Aufgabe von höchster Bedeutung zu machen. Sich einen eigenen Stand­ punkt zu erarbeiten, ist zugleich erste Aufgabe des wissenschaftlichen Nach­ wuchses und bleibt stets Aufgabe des wissenschaftlichen Arbeitens, solange dieses als gemeinsame Suche nach Erkenntnis, als fortlaufender Diskussions­ zusammenhang und argumentativer Konflikt, verstanden wird. Weswegen aber ein solcher, ideeller Ort keine Entsprechung in der Vor­ stellung einer heimisch-abgegrenzten Zuflucht findet, ist sein prozeduraler Charakter. Der Prozess der wissenschaftlichen Standpunktsuche unterschei­ det sich klar von jenem, in welchem Lichtbeelt unmündig gefangen ist. Dies zeigt die normative Doppelbödigkeit solcher Prozesse auf. Während die äu­ ßere Unbestimmtheit in Mulischs Erzählung negativ wirkt und Lichtbeelt aus dem Rahmen seines geordneten Lebens fällt, kann in anderer Perspektive eine Zeit der inneren Suche auch auf positive Art und Weise den bekannten Boden verlassen, als Erprobung von Möglichkeiten gesehen werden. Nicht ein hilfloses Schweben, sondern vielmehr ein Prozess des Ausprobierens, des Wechsels, des Suchens und Findens vollzieht sich. In diesem Sinne kann der Aufenthalt in einem trennenden Grenzraum die Ablösung von überholten Überzeugungen, einen Erkenntnisgewinn oder auch einen Argumentations­ prozess symbolisieren – kein Postulieren von Positionen und Ergebnissen, sondern deren Erarbeitung. Wissenschaftliches Arbeiten und Denken braucht Bodenhaftung ebenso wie den potenziell kreativen Schwebezustand. Standpunkte zu markieren und

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anderen zu präsentieren, ist das eine Moment. Zum Sprung der Kritik, der un­ bekannten Erkenntnis, der Neubewertung, kurz: zur Auseinandersetzung an­ zusetzen, ist das andere. Wer dieser Logik nicht folgen kann oder will, stolpert. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs, der am Anfang steht und darum kämpft, eigene Standpunkte zu finden, wirken sich äußere Unbestimmtheiten und Unabsehbarkeiten der Prozesse der Befristung und Berufsperspektiven besonders stark aus. Dass Rahmensicherheiten gerade für jene, die sich durch innere Sprunghaftigkeit auszeichnen, von besonderer Bedeutung sind, ist hier logischer Schluss. Dessen Umkehr ist die Blockade innerer Prozesse – wenn Katia Henriette Backhaus  —  Im Grenzraum

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der äußere Schwebezustand des wissenschaftlichen Nachwuchses über Ge­ bühr und weder zum Besten noch nach den Wünschen der Arbeitenden auf­ rechterhalten wird, wird die Spannung der inneren Unbestimmtheit übergroß. Wir können bei Lichtbeelt eine bemerkenswerte Selbstsicherheit und Gleich­ mut ob seiner Lage ausmachen, die mit der Logik und dem Charakter des un­ kontrollierbaren Prozesses, der ihn passiv werden lässt, zusammenhängt. An­ ders hingegen die Lage der Nachwuchswissenschaftler_innen: Nicht andere, sondern die je eigene Sicht und die persönlichen Forschungsaktivitäten bilden den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Logik. Arbeit ist hier nicht nur in­ dividualisiertes und eigenständiges Werk, sondern auch häufig wichtiges Iden­ tifikationsobjekt für das (akademische) Selbst. Angesichts unsicherer äußerer Rahmenbedingungen dieser Arbeit kann eine daraus resultierende übergroße innere Spannung, wie oben bereits formuliert, in eine Blockadesituation füh­ ren. Noch immer der wissenschaftlichen Logik folgend, werden ihre genuinen Aufgaben des Hinterfragens und des Zweifels, der Neubewertung und Kritik auf diese angewandt. Die kritische Überprüfung des eigenen, akademischen Selbst findet im negativen Fall Ausdruck in Selbstzweifeln und Unsicherheit. Dieser inneren Verfassung begegnet die rationale Erfassung der äußeren Situation. Durch die fortlaufende Verknappung ohnehin »knapper Ressour­ cen«, wie man unbefristete Stellen im deutschen Wissenschaftssystem wohl unzweifelhaft nennen darf, erhöht sich deren Wert. Eine Folge dieser Situa­ tion ist das Gefühl, auch den eigenen Wert legitimerweise hoch ansetzen zu müssen. Daraus erwächst der Eindruck, ständig der Forderung umfassender Selbstlegitimierung ob der Zugehörigkeit zum akademischen Betrieb ausge­ setzt zu sein. Ohne bereits auf den eigenen Ort in der (akademischen) Welt als Antwort verweisen zu können, wird die ursprünglich positive Unbestimmt­ heit des Suchprozesses zur negativen Verunmöglichung. Der letzte aktive Schritt ist die Selbstauslese. In wissenschaftslogisch festgelegter Manier, individualisiert und eigenständig kritisch zu bewer­ ten, verwendet das Subjekt diese Fähigkeit gegen sich selbst.9 Ob des un­ bestimmten Dunkels, in dem der Weg einer wissenschaftlichen Karriere liegt, und des unabgeschlossenen Prozesses einer Suche nach einer eige­ nen Standortmarkierung entlang dieses Weges verlässt ein Großteil jener Gruppe, die im regierungspolitischen Verständnis »zum gesellschaftlichen Erkenntnisgewinn beiträgt und zugleich die Deckung des Bedarfs an hoch qualifizierten Arbeitskräften in der modernen Wissensgesellschaft absi­ chert«10, die Hochschule.11 Diejenigen, die bereits ihr Studium gegenüber den fixen Stammtisch­ ideen, Universitäten bestünden aus elitären Leuchtturmeinrichtungen und

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Perspektiven — Debatte

9  Konrad Paul Liessmann be­ zeichnet dies als »Autonomie« in der Wissensgesellschaft. In seiner Theorie der Unbildung heißt es: »Nicht zuletzt am Bildungsbereich lässt sich ablesen, dass wir uns anstelle einer Wissensgesellschaft rasant auf eine Kontrollgesell­ schaft zubewegen. Fast alles, was gegenwärtig unter dem Begriff ›Autonomie‹ verhandelt wird, gehorcht dem Imperativ einer sol­chen sozialen Formation: Herr­schaft durch Selbststeuerung. Niemandem wird etwas befohlen; alles, was geschieht, geschieht freiwillig.« Konrad Paul Liess­ mann, Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesell­ schaft, München 2008, S. 173. 10  Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (Hg.), Bundesbericht Wissen­ schaftlicher Nachwuchs 2013. Statistische Daten und For­ schungs­befunde zu Promo­ vierenden und Promovierten in Deutschland, Bielefeld 2013, S. 20, URL: http://buwin.de/site/assets/ files/1002/6004283_web_verlinkt. pdf [eingesehen am 14. 07. 2015]. 11  Eine Personalstandsstudie an 18 deutschen Universitäten aus dem Jahr 2009 zeigt, dass 82 Prozent der 22- bis 34-Jähri­ gen, die eine ­wissenschaftliche Mitarbeiter_innenstelle in den Rechts-, Wirtschafts- oder Sozial­wissenschaften hatten, die akademische Arbeitswelt verließen. Ihre Verträge hatten eine durchschnittliche Laufzeit von 22 Monaten und gehörten damit zu den 98 Prozent der befristeten Verträge, die Nach­ wuchswissenschaftler_innen ihrer Altersgruppe 2009 angeboten wurden. Der Umstand eines be­ fristeten Arbeitsverhältnisses war dementsprechend bei fast drei Vierteln (73 Prozent) der Grund, die Universität zu verlassen. Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nach­ wuchs 2013, S. 241 f. u. S. 257.

abgeschotteten Elfenbeintürmen, rechtfertigen mussten und gleichzeitig ihre Seminare auf Fußböden absaßen, mögen zur Selbstrechtfertigung nicht mehr bereit sein. Nicht mehr bereit zu sein, bedeutet nicht: zu Recht aufgegeben zu haben. Es bedeutet, den Kampf für den Fortgang eines unbestimmten Prozes­ ses, der nicht unbedingt an ein Ziel führen wird, nicht mehr führen zu wollen. Lichtbeelts Bericht endet vier Monate nach dem Unfall seiner noch immer im unkartografierten Grenzgebiet liegenden Frau. »Meine letzte Hoffnung be­ steht also darin, dass Sie, Majestät, meine Frau persönlich ins Krankenhaus bringen, mit Ihrer Staatskarosse…«12 Ohne den Appell an höhere Autoritäten und rettende Staatskarossen scheint nichts mehr möglich zu sein. Im Fall des wissenschaftlichen Nachwuchses sind jahrzehntelang und seit Kurzem13 ver­ stärkt einige Appelle ergangen. Meiner wäre, die dysfunktionale Logik des bestehenden hochschulpolitischen Systems zu ändern. Denn ich wünsche mir ein funktionales Wissenschaftssystem, das nicht 12 

Mulisch, S. 27.

13  Siehe etwa die Petition »Wissenschaft als Beruf – für bessere Beschäftigungsbedingun­ gen und planbare Perspektiven«, URL: https://www.openpetition. de/petition/online/wissenschaftals-beruf-fuer-bessere-beschaef­ tigungsbedingungen-undplan­bare-perspektiven u. die Petition »Für gute Arbeit in der Wissenschaft – Offener Brief an die Deutsche Gesellschaft für Soziologie«, URL: https://www. openpetition.de/petition/online/ fuer-gute-arbeit-in-der-wissen­ schaft [beide eingesehen am 14. 07. 2015]. Ob sich die jüngst beschlossenen Eckpunkte zur Änderung des Wissenschaftszeit­ vertragsgesetzes tatsächlich als substanzielle Verbesserungen der Befristungspraktiken des Hoch­ schulsystems erweisen werden, bleibt abzuwarten.

diejenigen, denen man in öffentlich lauten Tönen doch immer zutraut, die intellektuelle Spitze im globalen Wettbewerb zu schärfen, diejenigen, denen man Innovation, Fortschritt und ach, überhaupt: die ganze Zukunft dieses Landes, inklusive seines Nachwuchses, als Aufgabe öffentlich zuspricht, entmutigt. Eines, in dem man Menschen nicht erst verlockende Möglich­ keiten gibt, sich denkend und kritisch zu bilden, um dann mit einer Art resignierendem Achselzucken zuzuschauen, wie diese sich, sobald diese Möglichkeiten weniger werden, kritisch selbst wegrationalisieren. Damit sind nicht diejenigen gemeint, die sich aus guten Gründen für andere Wege entscheiden – es geht um die Tatsache, dass Selbstauslese ein immanent forcierter Prozess ist, der unter externem Druck zu verzerrten Ergebnissen führt. Das bestehende System und seine prozedurale Logik nenne ich dys­ funktional, weil es die äußeren Bedingungen für notwendige Zeiten innerer Unbestimmtheit und Suche nicht sichert, weil es am Wegesrand der wissen­ schaftlichen Karriere keine Laternen aufzustellen vermag und deshalb Un­ fälle geschehen. Es soll einige geben, die diesen Weg aus diesen Gründen gar nicht erst einschlagen.

Katia Henriette Backhaus, geb. 1986, schreibt am Exzel­ lenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt a. M. eine Doktorarbeit über das Verhältnis von Freiheit und ökologischer Nach­ haltigkeit. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel erwarb sie ihren Magisterabschluss in Politikwissenschaft, Neuester Geschichte und Psychologie.

Katia Henriette Backhaus  —  Im Grenzraum

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MANIFEST

DAS KONFERENZ-MANIFEST WIDER DAS AKADEMISCHE TAGUNGSUNWESEN1 ΞΞ Christy Wampole

Wir sind der akademischen Konferenzen überdrüssig. Wir sind Geisteswissenschaftler, die weder im Format noch im Inhalt von Konferenzen Geist erkennen können. Wir saßen geduldig und brav Vorträge ab, die Zeile für Zeile monoton von einem Redner vorgetragen wurden, der nicht ein einziges Mal aufschaute, und fragten uns, warum wir das Paper nicht im Voraus haben lesen können, denn davon hätten wir mehr gehabt. Wir versuchten, das Fehlen einer These oder gar eines einzigen interes­ santen Satzes in einem zwanzigminütigen Vortrag zu ignorieren. Unsere Kinnlade klappte fassungslos herunter, wenn ein Redner versuchte, einen dreißigminütigen Vortrag in ein Zeitfenster von zwanzig Minuten zu quetschen, indem er so schnell vorlas, dass man ihn nicht verstehen konnte. Wir waren einer von zwei Teilnehmern an einem Panel. Wir litten still, als jemand während eines kompletten Vortrages einfach nur die Passagen auflistete, in denen ein bestimmtes literarisches Motiv in einem Roman vorkam. Unsere Gesichter verzogen sich, weil unsere Kollegen vorgaben, sie hätten die akademische Redeweise des Redners verstanden. Wir hörten uns die ersten fünf Minuten eines Vortrages an, gerade lange genug, um begierig ein Wort aufzugreifen, aus dem man für die Fragerunde eine Pseudo-Frage machen konnte. Wir fragten Diskussionsteilnehmer, ob sie »ein bisschen mehr über dies oder das erzählen«, »jenes etwas mehr aufschlüsseln« oder »hier noch etwas mehr herauskitzeln« könnten. Wir hörten zu, wie Kollegen Fragen stellten, die mit ihrer eigenen For­ schung zu tun hatten, aber keinerlei Relevanz für jemand anderen als sie selbst besaßen.

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INDES, 2015–3, S. 162–165, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

1  Im Original erschienen in »The Stone«, einem Forum für zeitgenössische Philoso­ phen und Denker zu aktuellen und zeitlosen Themen auf der Homepage der New York Times unter dem Titel »The Confe­ rence Manifesto«, 04. 05. 2015, URL: http://opinionator.blogs. nytimes.com/2015/05/04/theconference-manifesto/?_r=0 [eingesehen am 13. 08. 2015].

Bei besonders schlimmen Sitzungen bekamen wir Zettelchen oder reich­ ten sie weiter, auf denen »Bring mich jetzt sofort um« stand. Wir stellten gedanklich ein Klassifizierungsschema mit verschiedenen Konferenztypen auf: der Querdenker, der Entertainer, das Mauerblümchen, der Großtheoretiker, der Namedropper, der Konformist, der Nachplapperer, der philosophierende Angeber. Wir kritzelten unsere Notizbücher voll und antworteten auf unwichtige E-Mails, während wir im Publikum eines Panels saßen. Wir knabberten an unseren Fingernägeln und zählten die leeren Stühle im Raum. Auf nationalen Konferenzen waren wir nur bei unseren eigenen Vorträgen anwesend und verbrachten den Rest des Wochenendes an der Poolbar, wo man mehr über die Freien Künste lernen konnte als auf der Konferenz selbst. Wir hatten die Idee, uns ein Konferenz-Bingo patentieren zu lassen, bei dem die Spieler Bingokarten erhalten, auf denen verschiedene Konferenzvo­ kabeln stehen, welche während der Gruppendiskussionen gesammelt wer­ den müssen – »sub-semantisch«, »dialektisch«, »Normativität«, »mythopoe­ tisch«, die Adjektivierung des Namens eines Philosophen (Meillassouxsisch, Cixousisch), »post«-irgendwas. Wir hatten Tagträume, in denen nach der Art des Nummernprogramms im Varietétheater ein riesiger Stock aus einem der Bühnenflügel hervortrat und den leiernden Redner vom Pult wegzog. Wir fragten uns: »Wenn das aus den Geisteswissenschaften geworden ist, sollten sie dann weiterhin existieren?« Akademische Konferenzen sind eine Gewohnheit aus der Vergangenheit, die von der »Verwaltuniversität«2 – ein Begriff, der den momentanen Zustand auch der amerikanischen Gesellschaft insgesamt beschreibt, welche im Zu­ stand eines bürokratischen Gefängnisses steckt, in dem das Gehirn nicht mehr arbeiten muss – als eine Möglichkeit wahrgenommen wurden, um Wissen vorzuführen und die Produktivität in Form von veröffentlichten Konferenz­ berichten zu steigern. Wir trugen daran Mitschuld. Bis jetzt. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, uns selbst zu fragen: Was ist der Sinn einer Konferenz? Was hat dazu geführt, dass wir sie jedes Jahr wieder or­ ganisieren, ohne deren Grundlage zu hinterfragen? Gibt es Möglichkeiten, Konferenzen ein neues Format zu geben oder soll man sie ganz abschaffen und sie durch etwas Intellektuelleres, Professionelleres und Zufriedenstellen­ 2  Im amerikanischen Original »administrativersity«, eine Wort­ schöpfung aus »administration« und »university«.

deres für alle Beteiligten ersetzen? Was ist unsere tatsächliche Motivation für die Organisation einer Konferenz und die Teilnahme an ihr? Besteht unser Antrieb darin, unsere Lebensläufe aufzupolieren? Wollen wir netzwerken Christy Wampole  —  Das Konferenz-Manifest

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oder interessiert uns, welche Forschung aktuell auf unserem Feld durchge­ führt wird? Wenn Konferenzen, wie viele Wissenschaftler vertraulich zugeben, ein ein­ facher Weg sind, um die eigenen Freunde bequem wiederzusehen oder neue Kollegen kennenzulernen, sollten sie dann nicht durch ein weniger formelles Format ersetzt werden? Wie wäre es bspw. mit einem dreitägigen »Salon Philo­ sophique«; oder mit großen Arbeitsgruppen? Möglich wäre auch das Szenario eines Speed Datings oder einer Wanderfreizeit. Warum sollte ein Doktorand mehrere Hundert Dollar ausgeben – die er zudem oft aus der eigenen Tasche bezahlen muss –, um zu einer Konferenz zu fliegen, ein Hotelzimmer zu bu­ chen und einen Vortrag vor drei Teilnehmern zu halten, von denen zwei noch dazu seine Freunde sind, die am Vorabend in besagtem Hotelzimmer bereits die Generalprobe gehört haben? Wenn andererseits alle zufrieden sind mit Konferenzen als einem gewohnheitsmäßigen Brauch, warum reichen dann die Gefühle nach einer Konferenz typischerweise von Enttäuschung bis hin zu un­ bändiger Wut – das Ganze freilich immer in gedämpften Tönen ausgedrückt? Wir verstehen, dass dies ein sensibles Thema ist. Konferenzen ­f ühlen sich notwendig an, doch ihr Zweck ist unklar. Wir bestreiten nicht ihr theoreti­ sches Potenzial für die Geisteswissenschaften, sie schöpfen es bloß praktisch nicht aus. Uns ist zweifellos klar, dass wir nicht für alle sprechen. Manche Wissenschaftler lieben Konferenzen. Sie lieben das ­gerade beschriebene Ri­ tual. Allerdings nehmen wir doch eine wachsende Unzufriedenheit bei vielen Wissenschaftlern wahr, welche sich dadurch zeigt, dass nach dem Ende von Konferenzen Augen verdreht werden und geseufzt und gemurrt wird. Des­ halb legen wir das Thema jetzt offen zur Diskus­sion auf den Tisch. Wir erwarten nicht, dass sich das Konferenzsystem in nächster Zeit än­ dert. Bis es so weit ist, legen wir bescheiden den folgenden Vertrag vor, wel­ chen Sie gern im Vorhinein an die Redner Ihrer nächsten Konferenz vertei­ len dürfen. Und die Einladung könnte gebunden sein an das Lesen und die Unterzeichnung einer Vereinbarung zur Einhaltung der folgenden Kriterien für die Konferenzvorträge: 1. Ich verstehe, dass der Konferenzvortrag etwas tun soll, was ein wissen­

schaftlicher Artikel nicht tun kann. Da direkter, realer Kontakt mit anderen Menschen stattfindet, sollte der Redner diese nicht alltägliche und deshalb besondere Möglichkeit nutzen und sich ernsthaft um einen Austausch mit den anderen Wissenschaftlern bemühen. 2. Ich werde meine Aufzeichnungen nicht monoton Zeile für Zeile und ohne

in das Publikum zu schauen vorlesen. Ich werde mich nicht krampfhaft der

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Perspektiven — Manifest

verschiedenen Unterhaltungsgebote bedienen, wie Witzen, Anekdoten oder albernen Folien; aber ich werde mir Mühe geben, mich in mein Publikum hineinzuversetzen, das sich meinen Vortrag anhören muss. 3. Ich verstehe, dass eine Liste kein Vortrag ist. Ich werde nicht einfach das

Vorkommen von literarischen Motiven in einem Werk auflisten. 4. Ich werde eine These haben – und falls nicht, werde ich zumindest einen

Grund haben, warum ich meinen Vortrag halte. 5. Ich werde so wenig direkte Zitate wie möglich verwenden und nicht auf

sie zurückgreifen, nur um Zeit zu füllen. Ich verstehe, dass das Publikum durch lange Textblöcke in »PowerPoint«-Präsentationen oder auf Tischvor­ lagen abgeschreckt wird. 6. In der Fragerunde werde ich keine irrelevanten Fragen stellen, nur um

eine Frage zu stellen. Wenn meine Frage sehr spezifisch und bedeutungslos für alle anderen außer mir selbst ist, werde ich nach dem Vortrag mit meiner Frage auf den Redner zugehen. 7.

Ich werde keine Aussage treffen und dann ein Fragezeichen an das Ende

setzen, um sie wie eine Frage klingen zu lassen. 8. Wenn ich tatsächlich eine Frage stelle, werde ich erstens nicht mehr als

eine Minute brauchen, um sie zu stellen, und zweitens trage ich sie höflich vor, auch wenn ich mit dem Redner nicht übereinstimme. 9.

Ich respektiere die Zeit, die sich meine Kollegen genommen haben, um

mich reden zu hören. Ich werde mein Bestes tun, um so klar und prägnant wie möglich vorzutragen und deren Geduld zu belohnen. 10. Ich verstehe, dass ich mich möglicherweise mitschuldig mache am Tod

der Geisteswissenschaften, wenn ich diese Empfehlungen nicht berück­ sichtige. Übersetzung: Karin Schweinebraten

Christy Wampole, geb. 1977, ist Assistant Professor in der Abteilung Französische und Italienische Phi­ lologie an der Princeton University und Autorin des kürzlich erschienenen Buches »The Other Serious: Essays for the New American Generation«.

Christy Wampole  —  Das Konferenz-Manifest

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: David Bebnowski, Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Kiegeland, Leona Koch, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Leona Koch, Danny Michelsen Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes). Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,– D / € 70,00 A / SFr 85,50; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 36,90 D / € 38,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 16,95 D / € 17,50 A / SFr 23,50. Inst.-Preis € 128,– D / € 131,60 A / SFr 157,00. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-525-80012-6 ISSN 2191-995X © 2015 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany

BEBILDERUNG Die Digitalkünstlerin Simone Held beschäftigt sich seit etwa sieben Jahren ernsthaft mit Bildbearbeitung und Fotomontagen. Die ersten gelungenen Bilder wurden bei Deviantart, einer sehr populären ­Homepage für professionelle und laienhafte Künstler, ausgestellt (http://simoneheld.deviantart.com). »Meine Inspiration entnehme ich meist alltäglichen Situationen, Träumen, anderen Künstlern, Filmen oder Büchern. Meine Bilder beschäftigen sich sehr oft mit dem Surrealen und Düsteren, da ich beides psychologisch betrachtet sehr spannend finde.« Neben der Bildkunst beschäftigt sich Simone Held mit Fotografie.

Foto Prof. Dr. Klaus von Beyme: Universität Heidelberg Foto Prof. Paul Nolte: Bernd Wannenmacher Foto Dr. Jens Hacke: Michael Zapf

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www.dietz-verlag.de