Verschwörungen: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2015 Heft 04 [1 ed.] 9783666800139, 9783525800133, 9783525351208, 9783647351209, 9783734401558, 9783734401046


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German Pages [160] Year 2016

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Verschwörungen: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2015 Heft 04 [1 ed.]
 9783666800139, 9783525800133, 9783525351208, 9783647351209, 9783734401558, 9783734401046

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EDITORIAL ΞΞ Felix Butzlaff / Matthias Micus

Alles, so scheint es, wird immer undurchschaubarer. Werden wichtige politische Anweisungen – öffentliche Investitionen, Steuern, Arbeitsmarkt, Außenpolitik etc. betreffend – noch von den nationalen Regierungen gegeben oder steuern in Zeiten der Globalisierung längst international verflochtene Konzerne den Kurs? Warum braucht Griechenland ein Milliardenpaket nach dem anderen, wohin fließt das viele Geld? Überhaupt: Wer ist schuld an den ganzen Krisen, von den Banken über den Euro und die Flüchtlinge bis hin zu VW? Wir können es nicht mehr sagen. Damit einher geht ein Gefühl der Unsicherheit, das längst auch den Privatbereich erfasst hat. Das Tablet macht Fotos von uns, ohne dass wir es merken. Die Computer verfolgen uns überall hin. Durch Handys können alle unsere Bewegungen nachvollzogen werden. Die Presse soll informieren – aber steckt sie mit »denen da oben« nicht womöglich unter einer Decke? Undurchschaubarkeit führt zu Unsicherheit, führt zu Misstrauen, führt zu Verdacht. Das sind die Ingredienzen des Verschwörungsglaubens. Irgendjemand, daran halten wir unverändert fest, muss ja verantwortlich sein, eben: Schuld haben. Und wenn sich konkrete Personen nicht oder nurmehr undeutlich identifizieren und krisenauslösende Entscheidungen immer weniger exakt benennen lassen, dann tritt an die Stelle des Einzelnen der Kollektivsingular: die politische Klasse, die globale Elite, das Finanzkapital. Und den darstellbaren Ort der Entscheidungsverkündung ersetzt das Arkanum des exklusiven Zirkels, des verschwiegenen Geheimbundes, ja des elitären Paralleluniversums. Denn dass hinter Beschlussfassungen weiterhin handfeste Interessen und Profitabsichten stehen, und seien sie dem Auge des Normalbürgers auch verborgen: Auch von dieser Gewissheit rückt der gesunde Menschenverstand nicht ab. Und ist die Konjunktur des Verdachts denn verwunderlich? Ist unser Vertrauen in der Vergangenheit nicht bei allzu vielen Gelegenheiten erschüttert worden? Von Politikern, bei denen Rhetorik und Handeln unüberbrückbar auseinanderklaffen; von Unternehmern, die sich um das Gemeinwohl nicht scheren; von wissenschaftlicher Forschung, die sich als Bluff herausstellt; von Werbung, deren Verheißungen sich partout nicht einstellen wollen. Im Übrigen ist die Gewissheit von lenkenden Kräften und untergründigen Strömen, die drücken, ziehen oder schieben, kein ausschließliches Signum

INDES, 2015–4, S. 1–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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unserer Tage. Als dunkle Vorahnung durchzieht sie unsere Gesellschaften vielmehr seit ewigen Zeiten. Und seitdem sich der Mensch auf sein eigenes Urteil zurückverwiesen sieht und das Individuum zur zentralen Größe und zum letztgültigen Bezugspunkt geworden ist, seit diesem Moment schwand auch noch die Fähigkeit oder – je nach Blickwinkel – die Naivität, gläubig oder – wiederum abhängig von der Perspektive – blind zu vertrauen. Die Entwicklung der westlichen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert, die politische zumal, lässt sich insofern auch als Geschichte einer erodierenden vertrauensbasierten Integrationskraft beschreiben. Milieus, Vereine, Nachbarschaften, Familien – sie alle leiden unter der Individualisierung und der schwindenden Bedeutung lebenslang verpflichtender Solidarität. Die vielfach beklagte Vereinzelung ist bloß die Kehrseite des ursprünglich selbstgewählten Rückzugs der Einzelnen auf sich selbst. Und da wir mutmaßen, dass unsere Gegenüber genauso selbstbezogen denken und agieren wie wir, trauen wir ihnen – den Politikern, Journalisten, Unternehmern – schlichtweg alles zu. Die Vertrauen stiftenden Leitplanken integrativer Weltbilder sind darüber brüchig geworden. Parteien, Gewerkschaften und Kirchen singen dieses Requiem seit Langem, manchmal enervierend laut, stets folgenlos. Die allgemeine Parole jedenfalls lautet gegenwärtig stärker denn je in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Traue niemandem, erst recht nicht denjenigen, denen Entscheidungsmacht zuteilwird! Wir merken das an vielen Stellen. Und in Maßen ist dieses Misstrauen die Basis jeder modernen Demokratie. Immerhin basiert das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung ja auf wechselseitiger Kontrolle. In parlamentarischen Demokratien, in denen die Trennlinie nicht zwischen der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt verläuft, sondern idealtypisch zwischen der Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit auf der einen, der oppositionellen Parlamentsminderheit auf der anderen Seite, besteht die Funktion dieser Opposition neben der Formulierung von Alternativen und Kritik ebenfalls in der Ausübung von Kontrolle. Das deutsche Grundgesetz schließlich und erst recht hat als Lehre aus den sogenannten Weimarer Erfahrungen ein System aus Checks and Balances, aus Kräftegleichgewichten und Kontrolleinrichtungen, festgeschrieben, das ein grundlegendes Misstrauen institutionell arrangiert und systemisch abbildet. Misstrauen, heißt das, ist allgegenwärtig – und nicht per se schlecht, kontraproduktiv, gar undemokratisch. Dies zeigt sich paradoxerweise eben dort, wo es nicht oder zunehmend weniger hinreicht. Vom Misstrauen ausgenommen sind die Lautsprecher der Misstrauensartikulation. Die etablierten Parteien verlieren Mitglieder und Wähler, auf der anderen Seite boomen

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EDITORIAL

populistische Bewegungen. Die Kirchen büßen rasant Zuspruch ein, spiritualistische Konventikel verbuchen dagegen Zulauf. Die Leute wenden sich desinteressiert ab, pseudo-investigative Bücher, die Licht in das Dunkel des vermeintlich Bösen zu bringen behaupten, erzielen Rekordauflagen. Die Menschen, so kann man also sagen, glauben, sie hängen nur in ungebremst abnehmendem Maße dem alten, etablierten Glauben an. Wir widmen die aktuelle Ausgabe von INDES im Schwerpunkt mit dem Thema »Verschwörungen« einem markanten Phänomen dieses neuen Glaubens. Was macht das Verschwörungsdenken aus, wann lässt sich seriös von einer Verschwörungstheorie sprechen? Wer glaubt an Verschwörungen und wie wird dieser Glaube instrumentalisiert? Wie verändert sich der Verschwörungsglaube über Regionen und Epochen hinweg und in welcher Weise zeigt sich dieser Wandel? Diese und weitere Fragen thematisiert das vorliegende Heft. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.

EDITORIAL

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INHALT 1 Editorial ΞΞFelix Butzlaff / Matthias Micus

VERSCHWÖRUNGEN >> ANALYSE



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Der Teufel ist ein Logiker

Verschwörung, Verwandlung und die Macht des Bösen im Zeitalter der Aufklärung ΞΞSabine Doering-Manteuffel

14 Nichts ist, wie es scheint

Die Erfindung des modernen Konspirationismus in der Aufklärung ΞΞRalf Klausnitzer

25 Das Pegasus-Paradox

Die Ontologie von Verschwörungstheorien ΞΞKarl Hepfer

33 Konspirative Wirklichkeiten

Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien ΞΞAndreas Anton / Michael Schetsche

43 Im Klima der gefühlten Desinformation

Verschwörungsglaube in der weltanschaulich-religiösen Gegenwartskultur ΞΞMatthias Pöhlmann

51 Rückverzauberte Rationalitäten Die Sehnsucht nach dem »Wärmestrom« ΞΞJöran Klatt

60  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb

in Deutschland

Von Profillosigkeit, Heimatverlust und Verschwörungsvorwürfen ΞΞHolger Onken

73 Polen

Vaterland der Verschwörungsapostel? ΞΞJulia Walter

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INDES, 2015–4, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

80 Der Feind im Innern

Stalinistische Schauprozesse und Verschwörungsdenken im Kalten Krieg ΞΞUte Caumanns



>> PORTRAIT 88 Wilhelm Reich

Von sterbenden Göttern und wundersamen Maschinen ΞΞTobias Neef



>> INSPEKTION 103 »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus« Aus den Jahren der Zerschlagung aller sozialdemokratischen Traditionen im ostsächsischen Freital, das heute eine Hochburg von Pegida ist ΞΞFranz Walter



>> KOMMENTAR 118 Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen Das Dilemma der Geheimdienste in Zeiten des Cyberwar ΞΞWolfgang Krieger

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 127 Willkommenskulturen in Ostdeutschland Flüchtlinge, Flüchtlingsbilder und Flüchtlingsgegner ΞΞFrank Eckardt



>> DEBATTE 135 Paradoxien der Klimadiplomatie Welten und Weltbilder im Wandel ΞΞFrank Uekötter



>> INTERVIEW 143  »Forschungsförderung muss Erwartungs­ durchbrechungen erwartbar machen«

Ein Gespräch über Freiheitsräume und Innovationsdynamiken in der Wissenschaft ΞΞPeter Strohschneider

Inhalt

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SCHWERPUNKT: VERSCHWÖRUNGEN

ANALYSE

DER TEUFEL IST EIN LOGIKER VERSCHWÖRUNG, VERWANDLUNG UND DIE MACHT DES BÖSEN IM ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG ΞΞ Sabine Doering-Manteuffel

»Der Teufel ist ein Logiker«, behauptet der Dichter Heinrich Heine, »und über seine Gestalt lässt sich in der Tat nichts Genaues angeben«.1 Gibt es eine bessere Camouflage für Verschwörungen jedweder Art? Wenn das Böse in Allerweltsgestalt und in jedermanns Gewand erscheinen kann, so lauert es auch überall. Unter dieser Voraussetzung mag es ein Leichtes für den Teufel – die Urgestalt des Bösen – sein, durch das Zwielicht der Verwandlung seine Taten zu verschleiern. Verwandlungsgestalten haben in der europäischen Erzähltradition immer den Ruch des Unheimlichen und Numinosen. Sie sind 1  Heinrich Heine, Elementargeister. Neuausgabe hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin 2013, S. 30 (nach der Originalausgabe Paris 1834/1837). Die Bemerkung geht auf den 27. Vers der Höllendarstellung in Dantes »Göttlicher Komödie« zurück: Tu non pensavi ch’io loico fossi.

Zwischenwesen zwischen Mensch und Tier, zwischen Kultur und Natur oder zwischen Diesseits und Jenseits, dem Leben und dem Tod. Durch die dem Teufel zugeschriebene Fähigkeit, sich den Menschen in verschiedenen Gestalten zu zeigen, um sie vom Pfad der Tugend abzubringen und einzuschwören auf die Gesetze der Zerstörung, der Gewalt, der Sittenlosigkeit und Sünde, bediente er sich eines besonders gemeinen Tricks. Er erschien in Flugschriften und Sagen der Vormoderne paradoxerweise häu-

2  Warhaffte Historische Abbild: und kurtze Beschreibung/ was sich unlangst in des Heyl: ReichsStatt Augspurg/mit einer ledigen/von einem stummen Teuffel besessen Weibsperson/ und ihren zweyen zauberrischen Wartterinnen zugetragen: auch wie endtlich durch sonderbahre schickung Gottes alles offenbar worden; und dahero mit verwunderung erschröcklich anzuhören ist. Augspurg 1654 (Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts [im Folgenden VD17 abgekürzt]: VD17 23:675370B).

fig als harmlose Figur, als Kaufmann und Kartenspieler, als Steinmetz und Galan, als Doppelgänger oder »alswie eine große Brumfliege« (Jean Paul). Einer einfachen Magd trat »der laidige Satan« in »Schneiders gestalt« entgegen. Seither kam »auß ihrem Mund ein zweyspitzige Zungen herfür gereckt«.2 Einem liebestollen Freier erschien der Teufel nach einem Kölner Druck aus dem Jahr 1693 auf einer der Pariser Brücken gar als feine Dame: »Kaum hat er eine Viertelstunde da auffgepasset/so kömmt eine über alle massen schöne/und mit einer gantz sondern hohen Fontange und rarer Kleidung von der neuesten Façon wohlgezierte Dame zu ihm getreten/grüsset ihn mit einem freundlichen und lächlenden Bonjour, und fraget ihn/ob er ihr nicht ein gut Logier wüste zuzuweisen.« Die Geschichte nahm ein böses Ende, der

INDES, 2015–4, S. 7–13, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Teufel gab sich zu erkennen, der Edelmann erschrak beinahe zu Tode im Angesicht seiner wahren Buhlschaft und versuchte verzweifelt, Hilfe bei einem Pfarrer zu finden. Die Fontange, die modisch hohe Damenperücke aus der Zeit Ludwig XIV., sei dem Teufel sehr zupassgekommen, denn unter ihr ließen sich die Hörner besonders leicht verstecken. Der Autor resümierte dann auch, »was der Teuffel vor ein listiger Affe ist«3. Die massenhafte mediale Verbreitung solcher Anekdoten trug die Nachrichten vom listigen Affen und seinen Ränken in alle Winde. Der Teufel lockte sein Opfer in die Falle und zog es in seinen Bann. Das Ziel lautete: Die Zahl derer zu mehren, die das Böse in die Welt bringen, deren Seele kalt und verschlossen ist und die sich der großen Bewegung des Unheilbringers anschließen. Was könnte da besser geeignet sein, den Glauben an Verschwörungen mit der jenseitigen Welt zu nähren, als die Geschichten von der Personifikation des Teufels im Gewand des braven Bürgers? War das gar eine Metapher für die Schlechtigkeit der ganzen diesseitigen Welt? Viel ist über den Teufel und seine Schandtaten geschrieben worden. Das Für und Wider des Glaubens an seine Existenz hat ganze Generationen von Aufklärern und Theologen beschäftigt, bis er schließlich, am Ende des 18. Jahrhunderts, vor der Hexenversammlung seinen Rücktritt selbst bekannt gab – mit der Begründung, ihm lägen die Antihexentraktate des Hallenser Juristen Christian Thomasius (1655–1728) zu sehr im Magen und der Glaube an seine Macht schwände unter den Zeitgenossen beständig. In einem bewegenden Traktat erklärte der Teufel, dass er ab sofort nicht mehr in dem bekannten rußgeschwärzten Gewand und in Bocksgestalt sein Unwesen treiben, sondern einer neuen Profession im Stil der Zeit nachgehen werde: Er werde nun Autor werden und seine Zunft werde sich fortan von der Druckerschwärze nähren. Dabei berief er sich darauf, dass ohnedies »schreckliches Zeug in den Buchläden zu finden«4 sei. In diesem Milieu fände auch er in Zukunft ein gutes Auskommen. Der Gestaltwandel vollzog sich also ein letztes Mal vor den Toren des neuen Zeitalters der Rationalität, in dem wir noch heute zuhause sind. Geschmeidig scheint der Herr der Finsternis jedenfalls zu sein. Karl Kraus greift dieses Motiv in seinem Traktat über den »Hexenprozeß von Leoben« zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch einmal auf. Darin fragt er nach der Verurteilung einer

3  Wahre Abbildung Eines Teuffels: Welcher sich unlängstens einem Frantzösischen Edelmanne in Gestalt einer schönen Dame praesentieret, Cöln 1693 (VD17 3:651548E).

Dirne: Ist es »… Nostalgie nach dem Mittelalter, die in der Gerichtsbarkeit des Volkshasses sich heimlich kündet? Wie müssen wir jene aufgeklärten Zeiten beneiden, in denen der Zauberin bloß physische Qual bereitet, aber der Pranger europäischer Publizität erspart wurde. […] Aber die Technik des Hexenprozesses hat durch die Erfindung der journalistischen Schwarzkunst

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Verschwörungen — Analyse

4  Amandus Gottfried Adolf Müllner, Spuckereyen des Teufels in Prosa und ­Poesie. Abschiedsrede an die Hexenversammlung auf dem Blocksberge, Greiz 1788, S. 64.

eine unerhörte Vervollkommnung erfahren. Denn die Hexenrichter müssen die Publizität nicht fürchten, die ihre Ruchlosigkeit bekanntmachen könnte, sondern benützen sie, weil sie die Pein der Angeklagten vergrößert. Durften die Folterwerkzeuge bloß Geständnisse herauspressen, so dient die Druckmaschine der Verbreitung jener schmerzlichen Fragen, die als Eingriff in die privateste Sphäre einer Frau Sinn und Wirkung verfehlten, wenn sie bloß vom Richter zur Angeklagten gesprochen wären. Durch tausend Zeitungsberichte einer Welt voll Bosheit kundgemacht, wiegen sie wohl die Qual ›unter die Arme gebrannter Schwefelfedern‹ auf.«5 So Karl Kraus in seiner Kolumne über die juristische und publizistische Variante der Teufelsverwandlung. TEUFELSWERKE – VON DER VOLLZEITBESCHÄFTIGUNG ZUM NEBENERWERB 5  Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, Wien u. Leipzig 1908, Bremen 2012, S. 113. 6  Heine, S. 30. 7  Der achte Teil aller teutschen Bücher und Schrifften des theuren seeligen Mannes Gottes, Doc. Martini Luther […]. Altenburg in Meissen 1662, S. 988.

Verfolgen wir seine Machenschaften ein wenig über jene Zeit hinweg, in der er, der alte Verschwörer und Verführer, in Turbulenzen geriet, die seine Macht infrage stellten, das Zeitalter der Aufklärung. Aber habt Acht! Denn der Teufel ist ein Logiker und über seine Gestalt lässt sich in der Tat nichts Genaues angeben: »Finde ich doch in der ›Daemonologia‹ von Horst«, so Heinrich Heine, dass »der Teufel sich sogar zu Salat machen könne«.6 Und Martin Luther polterte einst: »Wieviel meinstu/sind wol teufel gewest im vergangenen Jahr/auf dem Reichstage zu Augspurg?/Ein jeder Bischoff hat so viel Teuffel mit sich dahin gebracht/so viel ein Hund Flöh hat …« Aber Gott

8  Die drey erschröckliche W Wasser/Wetter und Wind: Damit Gott der Allmächtige in diesem forteilenden Tausend sechshundert und acht und neunzigsten Jahr die im Argen liegende Welt bezeichnen/und zur Warnung vor den unausbleiblichen und erfolgenden härtern Straffen voran schicken wollen, Leipzig 1698 (VD17 1: 640164H).

schickte genügend Engel herab, hieß es, die das Problem schließlich in den Griff bekamen. Martin Luther war jedoch überzeugt: »Der Teuffel ist stark an Vernunft/Macht und Weisheit.«7 Von der Macht, der List und dem Teufelspakt ist noch viel die Rede in den Flugschriften, Traktaten und geistlichen wie weltlichen Schriften des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Von den Buhlschaften, aber auch vom üblichen Tagesgeschäft, dem Verführen zu bösen Taten aller Art. Gemessen jedoch an den Maßnahmen des strafenden Gottes, der die »drey erschröcklichen

9  Rupert Gansler, Lugenschmid/ Das ist: Unter dem Schein der Warheit verborgener anjetzo aber entdeckter Welt-Betrug: Dem günstigen Leser Zu dem Predig-Ambt/mit Biblischen Historien/neuen Concepten/Theologisch- und Philosophischen Discursen; Mathematisch- Juridisch- und Medicinalischen Anmerckungen/Politischen Staats-Reglen/seltzamen Begebenheiten/und denckwürdigen Sinn-Bildern, Augspurg 1700.

W/Wasser, Wetter und Wind«8 in großem Stile vom Himmel kommen lassen kann, wenn er den Menschen zur Buße und zur Umkehr verleiten will, kann der Teufel ziemlich wenig anrichten. Rupert Gansler, ein Augsburger Prediger, weiß um das Jahr 1700 zu jedem Monat eine schauerliche Geschichte zu erzählen über den strafenden Gott – Geschichten vom Tod und Verderben. Einmal predigt er von der Kanzler herunter gegen das Fastnachtstreiben, genau genommen gegen das Verkleiden: »Oh thorrechte Welt! du vulcane mach dich fertig mit Blitz- und Donner-Keul. Es muß gestraffet seyn.«9 In der Macht des Teufels erkennt man aber keine Großtaten; jedenfalls kann Sabine Doering-Manteuffel  —  Der Teufel ist ein Logiker

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dieser die Elemente nicht in Bewegung setzen wie der Gott des Lichts, wenn diesem die schlechte Moral der Erdenbürger die Zornesröte aufsteigen lässt. Der Teufel ist eben trotz seiner gefährlichen Ränkespiele nur ein kleines, obskures und trübes Licht und der Zorn gehört überdies zu seinen Wesensmerkmalen. Er sät gern Unrat unter Nachbarn und lässt in manchem Kuhstall die Milch verderben. Er entzweit die Menschen und macht sie bösgläubig. Einige von diesen Märlein stammen ebenfalls aus der Feder von Kanzelpredigern, die ihrem Kirchenvolk am Sonntag ein paar deftige Bauernpredigten auftischten. Man wetteiferte in der Schilderung dunkler Mächte, die sich auf die Sünder werfen, um mit ihnen gemeinsam das Schlechte in die Welt zu bringen. Und immer noch hat der Teufel, und so zieht es sich durch das Jahrhundert der Aufklärung hindurch, die Macht der Phantasie auf seiner Seite, immer noch glaubt man an seine Übernatur und immer noch müssen vornehmlich Frauen unter den Denunziationen leiden, die über den Umgang mit seiner Person kolportiert werden. Auch im 20. Jahrhundert kursieren die Geschichten seiner Untaten vornehmlich in den hinteren Winkeln abgelegener Landstriche wie zum Beispiel in den Dörfern der Waldkarpaten, in der »mythoepischen Erzählwelt« altösterreichischer Holzknechte. Die Bewohner des Wassertals kannten bis weit in die Nachkriegszeit hinein »tär Teiwl« noch in vielerlei Gestalt: als Katze, »als Kavalier, Wandersmann oder reiche[n] Händler«. Er suchte Verbündete, wurde aber auch betrogen und verprellt. Längst war seine Macht gebrochen und zum Schluss konnte er selbst bei den Oberwischauer Zipsern keinen Stich mehr machen; denn diese wanderten aus in die globalisierte Gegenwart bundesdeutscher Städte und ließen die alten Fabeln und Mären einfach zurück. Sogar in den Waldkarpaten gibt es nunmehr keine Wohnstatt für den bocksfüßigen Unheilbringer.10 Doch was war in der Zwischenzeit mit dem Teufel und seinen Buhlschaften geschehen, bevor er sich in den okkulten Untergrund der Mythopoesie zurückgezogen hat? Was ihm am Ende die drei Goldenen Haare aus dem Schopf gezogen hat, sind die Wirkung allgemeiner Begriffe und die Systematik erkenntnisgestützter Denkstile. Da passt etwas nicht mehr zusammen: die trockene Kost der Abstraktion, die auf der Frage gründet, was Natur und Kosmos im Innersten zusammenhält, mit den rußgeschwärzten Ammenmärchen der altvorderen Erzählwelt. Ja, es sind die Max Weber’sche »Entzauberung der Welt« und die prinzipielle »Beherrschung aller Dinge durch Berechnung«, die ihm den Garaus machen und die alte Sage von der Verschwörung mit dem Fliegengott verklingen lassen. Großen Anteil an den verstummenden Weisen über die Werke

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Verschwörungen — Analyse

10  Anton-Joseph Ilk, Die mytho­ epische Erzählwelt des Wassertales, Wien 2009 [Diss.], S. 178 f.

des Teufels hat der Amsterdamer Prediger Balthasar Bekker (1634–1698). Vernunftbegriffe auf der Grundlage der Philosophie Descartes’, eine Wertschätzung für das Gedankengebäude der Mathematik und ein Gottesbild vom vernünftigen Gott prägen sein Hauptwerk »De Betoverde Wereld«, erstmals erschienen zwischen 1691 und 1693 in Leeuwarden und bestehend aus vier Büchern. Der Teufel verliert seine Wesenheit – denn Dinge, die über die Natur hinausgehen, gehören zu Gott – und damit verliert er auch die ihm zugeschriebenen Fähigkeiten, mit den Menschen einen Pakt zu schließen. Wenn das alles nicht mehr gelten soll, dann gibt es auch kein Hexenwerk, das auf der Grundlage eines solchen Paktes beruht. Der Mensch kann zwar böse sein, das bezweifelt der Prediger gar nicht; aber der Grund dafür läge nicht im Kontrakt mit dem Teufel. Daraufhin brach eine publizistische Welle los des Für und Wider dieser Lehrmeinung. Als sich die Frühaufklärung gegen ihren Mittag wendete, da wandelte sich auch das Bild vom Teufel mehr und mehr zu einer Vorlage für die Schmonzetten und die Lustspielbühne, für das Rokokohafte, für den herumstolzierenden Gecken, der so manches galante Abenteuer im verbotenen Gelände einfädelt und der nur eine Angst hat, nämlich dass man ihn an seinem Pferdefuß erkennen könnte. Aus dem Antichrist wurde der Antimoralist, eine umherirrende Figur mit nicht mehr als niederträchtigen Absichten. LIST UND LUSTSPIEL – DER TEUFEL ALS PANTOFFELHELD »Soweit ich weiß«, so der Königlich Dänische Hofmedicus Johann Clemens Tode, »hat noch kein dramatischer Schriftsteller einen Eheteufel auf die Theaterbühne gebracht.« Um diesem Versäumnis endlich abzuhelfen, verfasste er 1784 ein stolperndes Stückchen mit dem Titel »Der Eheteufel oder der Bankerott«. Hier tritt die verlogene Zofe Bolette als Kammerdienerin einer vornehmen Kopenhagener Kaufmannsgattin auf, die Unrat zwischen dem Ehepaar sät. Herr Banks, der Ehemann, will nach 13 Ehejahren seine Gattin wieder für sich gewinnen und wissen »wie ich mein Haus von diesen Galanen säubere«11. Doch er selbst hat den meisten Dreck am Stecken, hat er sich doch mit Bolette verbündet, die er für ihre Spionage in den geheimen Gemächern seiner Gattin gut bezahlt: »Nu, das kann man einen Teu11  Clemens Johann Tode, Der Eheteufel oder Der ­Bankerott, Leipzig 1784, S. 1. 12  Ebd., S. 35. 13  Ebd., S. 80.

fel von Kammermädchen nennen. Wie ist es möglich, daß zwischen zwey Eheleuten, die eine solche Ohrenbläserinn, eine solche Aufwieglerin, eine solche Betriegerinn um sich haben, und ihr beyde glauben, Fried und Einigkeit seyn kann?«12 Der Teufel wird zur Kanaille und dem Ehepaar wird irgendwann klar: »Es wird nie hier im Hause Ruhe und Einigkeit bis wir den Satan fortgejagt haben.«13 Sabine Doering-Manteuffel  —  Der Teufel ist ein Logiker

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Der Rest der Geschichte ist ebenso zum Vergessen wie der vordere Teil, wäre da nicht ein Indiz, dass der Teufel des Herrn Tode im Jahre 1784 zu einer ziemlichen Lachnummer verkommen war. Eine Aufwieglerin aus der Dienerschaft also, eine verblassende Verwandlungsgestalt, die sich kaum noch auf die alte List versteht und schließlich den Kürzeren zieht. Der Fürst der Finsternis ist auf der Bühne längst zum Tippelbruder Unrat im Zofengewand mutiert. Die Oberwischauer Zipser in den Waldkarpaten mussten sich hingegen noch zwei Jahrhunderte länger mit ihrem echten »Teiwl« herumschlagen. Was sagt das aus? Nichts weiter als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, eine Phasenverschiebung der Denkmodelle und Klassifikationen der natürlichen und kulturellen Umwelt unter verschiedenen Kulturträgern Europas. Aus der großen Verschwörung, den Ritten zum Blocksberg, dem Hexentanzplatz und den Wellen von Prozessen gegen Unschuldige wurde in den Zentren der Aufklärung eine Vorlage für die Lustspielbühne. Und dann gab es auf den deutschsprachigen Bühnen kein Halten mehr für die Miniaturausgabe des einst so mächtigen Fürsten der Finsternis. Er stolperte sich buchstäblich von Akt zu Akt. Am sächsischen Hoftheater in Dresden bspw. ist »der Teufel ein Hidraulikus« und purzelt mit einem »Wirthschaftsbeamten«, einem reisenden Studenten und dem hübschen Hannchen übers Parkett. Wilhelm, der Student, versucht es bei Hannchen gegen den forschen Ingenieur so: »Unbesorgt, liebes Hannchen; ein Mann wie ich kann den Teufel mahlen wie er will. Schwarz, weis, roth, blau, grün. Er kann im lichten Gewande erscheinen oder dunkel wie die Nacht. Im gestickten Kleide oder im Bettlerkleide.«14 Oder eben wie der Hidraulikus. So kann man sich auch an eine schmucke Dirn heranschleichen. Zumindest hat der Student noch etwas vom alten Wissen über den Teufel bewahrt, schwarz, weis, roth, blau, grün: Das ist doch schon etwas. »Ihr seyd mir kein Teufel nicht. Ihr seyd ein Spitzbube«, bricht es aus »Lady Sarah« im Lustspiel »Die zweyte Heirath« heraus, als eine Teufelslarve hinter dem Lehnstuhl ihres Gemachs hervortritt und fortwährend »Bah Hu« schreit. Als ob das Auftreten einer Teufelslarve oder eines echten Teufels einen großen Unterschied machen würde. Aber es war eben doch nur »Robert«, der sie wieder auf den Pfad der Tugend lenken wollte. Weiterhin bevölkerten die Bühne ein »Sir Supplecoat«, ein »Projectmacher« namens »Plausible« und jede Menge listige Bedienstete, die alles erlauschten. Bah Hu! Mehr geht nicht in diesem Durcheinander aus Intriganten und Moralaposteln, und zum Schluss wird alles gut. Aber wir nähern uns ja auch, es ist jetzt schon das Jahr 1809, den großen und kleinen Kinderschreckfiguren, dem Teufel in

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Verschwörungen — Analyse

14  Johann Friedrich Ernst Albrecht, Der Teufelein Hidraulikus. Ein Lustspiel in drei Akten. Nach dem Bettelstudenten fürs Sächsische Hoftheater bearbeitet, Leipzig 1795, S. 54.

seinem pädagogischen Gewand.15 Die Revolution ist jedenfalls vorüber und die hat der wahre Teufel vermutlich im publizistischen Untergrund überlebt. Seine alte Larve zeigt sich zwar noch hier und da auf der Theaterbühne, aber der gerissene Verwandler hat sich längst in andere Gefilde zurückgezogen. Freilich, als Satire verspürt der Teufel auch bei Christian Dietrich Grabbe in den 1820er Jahren noch den Drang, eine Heirat zu verhindern, nachdem er aus seiner Unterkühlung aufgewacht ist, die ihm die Sommerhitze zugefügt hatte. Bevorzugt sitzt er im Kamin des Schlosses, um sich aufzuwärmen; denn neugierige Naturforscher haben ihn aus der Erstarrung gerettet und Mutmaßungen über den unansehnlichen Kadaver angestellt, der auf ihrem Tisch gelegen hat. Auch sie hielten das seltsame Wesen entweder für einen Schriftsteller, einen Rezensenten, gar einen Theaterkritiker oder aber eine Pastorentochter. Nur einer erkannte in der eigenartigen Gestalt den Teufel, aber die anderen zweifelten am rechten Zeitalter: »Der Teufel paßt nicht in unser System«, heißt es in der dritten Szene des ersten Aktes. Der Teufel selbst gibt sich als Generalsuperintendent aus und spielt diese Rolle mehr oder minder perfekt, um an sein Ziel zu kommen. Aus dem Lustspiel war zwar eine Gesellschaftskritik geworden, aber der Leibhaftige war immer 15  Die zweyte Heirath. Ein Lustspiel in fünf Akten. Gedruckt zu Amsterdam im Kunst- und Industriecomptoir 1809, S. 598. 16  Christian Dietrich Grabbe, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, entstanden 1822, Erstdruck in: Dramatische Dichtungen, Frankfurt a. M. 1827, Uraufführung am 07.12.1876 in Wien.

noch mit von der Partie.16 Der Teufel passte dann doch ins System und änderte seine Gestalt fort und fort: Im Laufe der Geschichte, die er selbst, laut Christian Dietrich Grabbe, auf fünfmal hunderttausend Jahre bemisst, war er Brummfliege und Kavalier, Schneidergeselle und Küchenmagd. Und endlich ein Schreiberling. Wer also glaubt, dem Fürsten der Hölle sei es nicht heiß genug unter den Menschen der heutigen Zeit, der habe Acht! Denn der Teufel ist ein Logiker und über seine Gestalt lässt sich in der Tat nichts Genaues angeben.

Prof. Dr. Sabine Doering-Manteuffel, geb. 1957, ist Ethnologin mit dem Schwerpunkt auf das Europa der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Dabei setzt sie sich auseinander mit Denkmodellen, Logiken und Weltanschauungen sowie der Frage, was das Denken steuert. Seit 2011 ist sie Präsidentin der Universität Augsburg.

Sabine Doering-Manteuffel  —  Der Teufel ist ein Logiker

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NICHTS IST, WIE ES SCHEINT DIE ERFINDUNG DES MODERNEN KONSPIRATIONISMUS IN DER AUFKLÄRUNG ΞΞ Ralf Klausnitzer

Wer erinnert sich noch an den nicht unbeträchtlichen Erfolg des US-amerikanischen Schema-Literaten Dan Brown? Am 15. September 2009 erschien bei der Random-House-Tochter Doubleday sein Roman »The Lost Symbol« – und brach schon am ersten Verkaufstag mit einer Million umgesetzter Exemplare einen Rekord. Der Thriller, in Deutschland zum Start der Frankfurter Buchmesse am 14. Oktober 2009 veröffentlicht, kreiste um die geheimnisumwitterte Rolle der Freimaurerei in Geschichte und Gegenwart der USA. Wie in den Vorgängern »Angels & Demons« und »The Da Vinci Code« war auch diesmal wieder der Kunsthistoriker und Symbolforscher Robert Langdon unterwegs, um mithilfe von Kryptografie und Semiotik ein Wissen aufzudecken, das die moderne Welt in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Und wieder ist er nicht nur dem Imperativ zur Enthüllung einer verborgenen Wahrheit gefolgt – »Reveal the Truth!« –, sondern auch den Maximen eines Verschwörungsdenkens, dessen Ursprünge viel weiter zurückliegen, als dem Autor selbst und den meisten seiner Leser wohl bewusst gewesen ist. Bereits Browns 2003 erschienener und weltweit über achtzig Millionen Mal verkaufter Roman »The Da Vinci Code« hatte seinen kommerziellen Erfolg weniger besonderen ästhetischen Qualitäten oder herausragenden intellektuellen Ansprüchen zu verdanken. Auch der Absatz dieses Werkes, das in einer Vorbemerkung unter dem Titel »Fakten und Tatsachen« den authentischen Status zentraler Textelemente reklamierte, war vielmehr Resultat einer Marketing-Maschine und des vollmundigen Versprechens, die laut Klappentext »größte Verschwörung der letzten 2000 Jahre« aufzuklären – wozu dann auch alle konspirationistischen Register gezogen wurden. Gegen den Harvard-Professor Robert Langdon und die Kryptologin Sophie Neveu agierten scheinbar omnipotente Drahtzieher weitreichender Pläne mit willigen Vollstreckern; mysteriöse Zeichen und chiffrierte Botschaften waren zu entziffern, um ein Geheimnis aufzudecken, welches eine Umkehr des gesamten christlichen Weltbildes bedeuten sollte: Jahrhundertelang habe die institutionalisierte Kirche die Überlieferungen darüber unterschlagen, dass der Menschensohn Jesus und Maria Magdalena verheiratet gewesen seien

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INDES, 2015–4, S. 14–24, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

und ein Kind gehabt hätten. Aus machtpolitischen Gründen habe der Klerus zugleich versucht, die Nachkommen dieser Ehe auszurotten – und damit auch alle Bedeutungen des Weiblichen aus der christlichen Kultur zu tilgen. Doch wird nicht nur die »größte Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit« (so der Romantext) aufgedeckt. Im Wettlauf mit den Drahtziehern und Exekutoren des konservativen katholischen Ordens Opus Dei setzen sich mit Langdon & Co. schließlich zudem die Angehörigen der Geheimgesellschaft Prieuré de Sion durch, die ihre Mission zur Wahrung des Wissens um die Identität des Menschen Jesus und seiner Nachkommen auch gegen Widerstände erfüllen können. Zugleich brachte dieser in Deutschland unter dem Titel »Sakrileg« veröffentlichte Roman eine einträgliche Verwertungsindustrie samt Erläuterungen und Imitationen, Computergames und Verfilmung hervor; allein der flaue Hollywood-Streifen mit Tom Hanks in der Hauptrolle spielte 758 Millionen Dollar ein. Selbst ein Plagiatsprozess und Boykottaufrufe durch Amtsträger der katholischen Kirche schadeten nicht. »The Lost Symbol«, Produkt fünfjähriger Recherchen, kopiert dann den Plot des Vorgängers nahezu vollständig; auch wenn die hier auf zwölf Stunden verkürzte Handlungszeit die Ereignisse zusammendrängt. Wieder wird der Harvard-Professor Robert Langdon in einen mysteriösen Fall verwickelt, der sich als raffiniertes Komplott zur Erlangung streng geheimen Herrschaftswissens erweist: Sein väterlicher Freund Peter Solomon, wie schon George Washington und zahlreiche andere Gründerväter der USA ein Freimaurer und als Angehöriger des 33. Grades in vermeintlich uralte Kenntnisse eingeweiht, ist entführt worden; um dessen Leben zu retten, muss Langdon in die unterirdischen Gänge von Washington D. C. eintauchen und dieses Geheimwissen zutage fördern. Wie schon der Vorgängerroman entfaltet »The Lost Symbol« nun die scheinbar verwirrende, doch schließlich ohne größere Überraschungen aufgelöste Suche nach diesem verborgenen Wissen, das unendliche Macht verspricht und darum auch von nationalem Interesse ist. Wie schon im »Da Vinci Code« wird der Symbologe misstrauisch von Organen der staatlichen Sicherheit observiert. Und wie zuvor agiert ein scheinbar omnipotenter Gegenspieler, der vor keiner Brutalität zurückschreckt. Im Kampf gegen den zugleich von der CIA verfolgten Kidnapper findet Dan Browns Held Robert Langdon wiederum typische Verbündete: Katherine Solomon, die Schwester seines gekidnappten Mentors, laboriert in ihrem Institut für Noetische Wissenschaften an Prozeduren zur mentalen Steuerung physischer Prozesse. Dass die vermeintlich uralte Weisheit der Freimaurerei und moderne Noetik – die nicht weniger anstrebt als eine Beherrschung der subatomaren Welt durch die Kraft gebündelter Ralf Klausnitzer  —  Nichts ist, wie es scheint

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Gedanken – im Verlauf der zwölfstündigen Jagd zusammenfinden, kann den Leser kaum verwundern. Zu eindeutig hat der Autor seinen Plot konstruiert, zu flach und ohne jede Tiefenschärfe seine Figuren und ihre Konstellationen angelegt. Sobald Emotionen jenseits des obligaten Erschreckens aufkommen, taucht garantiert ein Bösewicht auf. Wenn Gespräche oder Reflexionen die Grenze der Falllösung überschreiten, erzwingen plötzliche Einbrüche von Gewalt ihren Abbruch. Selbst die unterirdischen Gänge, Kammern und Tempel der US-amerikanischen Hauptstadt vermitteln nur selten den Eindruck eines geheimnisvollen Untergrunds; sie bleiben konstruierte Elemente einer gleichsam am Reißbrett des Erfolgs entworfenen Romanwelt. Damit ließe sich schließen, wenn der Roman und sein kommerzieller Erfolg nicht noch einiges mehr verrieten. Denn ohne Zweifel verweist dieses Werk, das schon am 25. September 2009 die Spitze der New-York-Times-Bestseller-Liste für Hardcover Fiction besetzte, auf tiefer liegende Bedürfnisse. Es ist Resultat und zugleich Katalysator einer Populärkultur, die angesichts fortschreitender Banalisierung des Alltags bei zunehmender Undurchschaubarkeit politischer und ökonomischer Systeme nach inszenierten Geheimnissen und deren wortreicher Enthüllung verlangt. Die symbolüberfluteten Untergrund-Geschichten aus dem Computer Dan Browns erfüllen diese Wünsche. Sie schreiben ein Verschwörungsdenken fort, das im Land der schon paranoiden Furcht vor der eigenen Regierung lange zuvor bizarre Blüten getrieben hat (und noch immer treibt). Und doch sollte man sich hüten, diese und andere Werke als Produkte einer konspirationssüchtigen Fiktionsindustrie »made in USA« zu stempeln. Verschwörungsszenarien der Gegenwart haben vielmehr eine Geschichte, die in der europäischen Aufklärung beginnt, die nicht nur ein Zeitalter des Selbstdenkens und der reinen Vernunft, sondern auch eine Zeit vielfältiger Recherchen nach verborgenem Wissen und arkanen Kenntnissen begründet hat, welche sich immer auch mit der Suche nach unsichtbaren Drahtziehern hinter den sichtbaren Verwerfungen einer zunehmend komplexeren Gesellschaft verbunden haben. Diese Bewegungen – von deren Intensität wir uns heute kaum mehr eine Vorstellung machen – kulminieren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Während Adam Weishaupt an der Universität Ingolstadt am 1. Mai 1776 den Bund der Perfektibilisten gründet und die Repräsentanten der neuenglischen Kolonien in Philadelphia am 4. Juli die Unabhängigkeitserklärung verabschieden, laborieren europaweit vernetzte Freimaurerlogen an Projekten zur Regeneration angeblich verschütteter Weisheiten vorchristlicher Herkunft. Im gleichen Jahr 1776 erscheint Adam Smiths wirtschaftswissenschaftliches Grundlagenwerk »An Inquiry into the Nature and Causes of

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the Wealth of Nations«. Diese Untersuchung über die Natur und die Gründe des Reichtums der Nationen formuliert im zweiten Kapitel des vierten Buches eine Aussage, nach der das Wirken einer »invisible hand« die Gesamtheit der individuellen Intentionen so koordiniere, dass die Tätigkeiten selbstbezogener Einzelsubjekte in gesellschaftliche Wohlfahrt mündeten.1 Während der schottische Steuereintreiber auf die traditionsreiche Metapher der »unsichtbaren Hand« zurückgreift, um zu zeigen, wie das egoistische Bestreben des Einzelnen das allgemeine Wohl (den Commonwealth) einer Gesellschaft befördere (weil eine verborgene Steuerungsinstanz gleichsam hinter dem Rücken der Wirtschaftssubjekte wirke und ohne Rücksicht auf deren Intentionen ein allgemeines Gleichgewicht herstelle), bestimmt der deutsche Philosoph Immanuel Kant die Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«2 – um nur wenige Sätze nach dieser immer wieder zitierten Bestimmung vor einer Verschwörung gegen das Emanzipationsprojekt zu warnen.3 Neben Kant kämpfen die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, Friedrich Gedicke und Johann Erich Biester, gegen die verborgenen Netzwerke, die untergründig und scheinbar omnipotent, unsichtbar und vermeintlich omnipräsent ihr Projekt einer umfassenden Aufklärung bedrohten. Als protestantische Propagandisten der Vernunft ermitteln sie seit Beginn der 1780er Jahre vermeintlich konspirative Widersacher, die sich der aufklärerischen Geheimgesellschaften bemächtigt und Potentaten wie den preußischen König Friedrich Wilhelm II. manipuliert haben sollen. Doch auch die Gegenseite ist nicht untätig: Katholische Gegner der Aufklärer observieren den Illuminaten-Orden von Adam Weishaupt, der sich mit jesuitischen Praktiken der Selbst- und Fremderforschung als Speerspitze radikaler Reformen in Szene setzt und als »Staat im Staate« massives Misstrauen weckt. Von »unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken«, welche 1 

Vgl. Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, in: The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. 2, Oxford 1981, S. 456. 2  Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift vom Dezember 1784, zit. nach Ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 53–61, hier S. 53. 3  Siehe ebd., S. 57 f.

die gesamte politische Welt unterminierten, schreibt der Weimarer Minister Johann Wolfgang Goethe 1781 an den Züricher Prediger Johann Caspar Lavater; in Eisenach, also in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, verfasst Ernst August von Göchhausen 1786 seine Enthüllung des Systems der Weltbürgerrepublik und entlarvt in dieser die Zeitgenossen nachhaltig irritierenden Darstellung nicht weniger als das »geheime Laboratorium« für »Römisch­ jesuitisch cosmopolitische Zaubertränke«. Als im Juli 1789 die Pariser Bastille gestürmt wird, bestehen keine Zweifel: Hinter der revolutionären Eruption muss ein heimliches Planungszentrum mit überwältigenden Ideen und organisatorischer Logistik stecken. An der nun folgenden Suche nach den verborgenen Ursachen und versteckten Machinationen beteiligen sich der französische Ex-Jesuit Augustin Barruel (dessen vierbändige »Denkwürdigkeiten Ralf Klausnitzer  —  Nichts ist, wie es scheint

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zur Geschichte des Jakobinismus« 1797/98 in London und drei Jahre später in Münster veröffentlicht werden) und der schottische Akademie-Professor John Robison (mit der Darstellung »Proofs of a Conspiracy against all Religions and Governments of Europe«), aber auch deutsche Illuminaten-Gegner wie der Theologe Johann August Starck, der mit dem erstmals 1803 erschienenen Werk »Der Triumph der Philosophie im Achtzehnten Jahrhundert« eine konspirationistisch fundierte Ideengeschichte vorlegt, die als Geschichte der Verschwörung des Rationalismus gegen Religion und Kirche, Fürsten und Staaten mehrfach wiederaufgelegt wird. Nichts ist, wie es scheint, lautet das Motto dieses modernen Verschwörungsdenkens, das genaue Beobachtungen einer zunehmend undurchschaubaren Sozialwelt mit ungebremster Kombinatorik verbindet und einen kollektiven Verfolgungswahn entwickelt. Die Folgen dieser dunklen Seite der europäischen Aufklärung sind nicht zu unterschätzen. Sie reichen von Geschichtsschreibung und politischer Theoriebildung bis zu Weichenstellungen in Literatur und Wissenschaft. Und sie beeinflussen – wie nicht nur Dan Browns Romane zeigen – nachhaltig noch die heutige Populärkultur. CAPITOL SBB XIII ODER: IM UNTERGRUND Nur kurz sei hier nochmals an Dan Browns Roman »The Lost Symbol« erinnert. Nachdem Harvard-Professor Robert Langdon unter einem Vorwand in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten gelockt worden ist, macht er in der Rotunde des Capitol eine grausige Entdeckung: Mitten im gewaltigen Kuppelsaal des Kongress-Gebäudes befindet sich die abgetrennte rechte Hand seines Freundes Peter Solomon, die mit seltsamer Fingerstellung zur Decke deutet. Auf jeder Fingerspitze befindet sich eine Tätowierung: Krone, Stern, Sonne, Laterne, Schlüssel. Zeichen mit mehrfacher Bedeutung: Sie versprechen die Einweihung in Geheimnisse, die nur dem Würdigen zugänglich sind. Warum der aufgereckte Zeigefinger der noch blutigen Hand in die Höhe und also auf Constantino Brumidis Fresko »Die Apotheose Washingtons« (mit der Verwandlung des ersten US-Präsidenten in einen Gott) weist, wird später aufgeklärt. Zunächst gilt es, ein weiteres kryptisches Zeichen zu entziffern, das sich auf Solomons Handfläche befindet. Nach mehreren Anläufen kann es als »SBB XIII« dechiffriert werden; es verweist also auf einen noch unter der Krypta befindlichen Raum im Subbasement (SBB) des Capitol. In dieser nur schwer zugänglichen Kammer tief unter den Fluren, Sälen und Büros der sichtbaren politischen Welt wird Robert Langdon zu jenem geheimen Wissen geführt, das kriminelle Gegner und der Sicherheitsdienst der Vereinigten Staaten für sich beanspruchen.

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Dieser Einstieg in die unterirdischen Gänge bildet aber nicht nur den Auftakt weiterer Suchbewegungen. Er demonstriert vielmehr in gleichsam mustergültiger Weise jenes Spannungsverhältnis, das Dan Browns Romane im Einzelnen und verschwörungstheoretische Projektionen überhaupt antreibt: die Differenz zwischen sichtbarer Oberfläche und verborgenem Untergrund. Diese Differenz ist keine Erfindung von Verschwörungstheoretikern. Es gibt sie keimhaft schon in der Trennung von Wesen und Erscheinung, Grund und Folge, Ursache und Wirkung. Doch in den Versuchen zur Erklärung einer zunehmend unübersichtlichen Welt im Zeitalter der Aufklärung gewinnen die Unterstellungen einer tiefgehenden Diskrepanz zwischen Schein und Sein, trügerischer Sichtbarkeit und heimlichem Untergrund eine neue (und bis in die Gegenwart wirksame) Dimension. Sie reagieren auf den Zuwachs von Komplexität in ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen Zusammenhängen, indem sie zunehmend undurchschaubare Vorgänge auf koordinierte Aktivitäten heimlich verabredeter Akteure zurückführen. Mit dieser Simplifizierung amorpher bzw. undurchschaubarer Zusammenhänge erlauben sie deren Erklärung und Verarbeitung. Ihren Konvergenzpunkt bildet ein personalistischer Dezessionismus: Verschwörungstheorien unterstellen die Existenz von personalen Subjekten, die eine bestehende Ordnung zur Durchsetzung eigener Interessen umzugestalten suchen oder für die (falsche) Einrichtung der Verhältnisse verantwortlich sind. Zumindest implizit vorhanden sind Bewahrer dieser Ordnung bzw. Retter vor dem Chaos, das beim Sieg der Verschwörer droht. Verschwörungsszenarien sind also nicht nur in fiktionalen Texten oder Spielfilmen anzutreffen. Sie erscheinen vielgesichtig und erklären Konstellationen und Entwicklungen in sozialen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen etc. Zusammenhängen als Resultat des heimlich verabredeten und koordinierten Handelns der Verschwörer. Beobachtbare Ereignisse und Vorgänge in der sozialen Welt werden als zusammenhängende Phänomene gedeutet und als Wirkungen verborgener Ursachen erklärt; wobei die Intentionen einiger Weniger sowie ihre heimlichen, der Öffentlichkeit bewusst vorenthaltenen Pläne als verborgene Wirkursachen sichtbarer Ereignisse gelten. Ob für die schlechte Einrichtung der Verhältnisse oder für den geplanten Umsturz der bestehenden Ordnung verantwortlich: Koordiniert handelnden Akteuren im konfessions- oder gesellschaftspolitischen Raum (im 18. Jahrhundert etwa Jansenisten, Jesuiten, Illuminaten), im Wissenschaftssystem (wie Franz Anton Mesmer und den Anhängern seiner Lehre vom »animalischen Magnetismus«, den Teilnehmern an der »romantischen Gelehrtenverschwörung« etc.) oder im literarischen Feld werden Planungen Ralf Klausnitzer  —  Nichts ist, wie es scheint

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sowie Aktionen zur Durchsetzung versteckter Absichten zugeschrieben, indem von »sichtbaren« Ereignissen und Konstellationen auf »unsichtbare« Verursacher geschlossen wird. Zur Offenlegung der heimlich verbundenen und koordiniert handelnden Akteure wie zur Mitteilung der konstruierten Komplott-Strukturen bedarf es stets auch einer Beobachterposition, die in konspirationistischen Szenarien auf unterschiedliche Weise präsent ist. In nicht-fiktionalen »Enthüllungsschriften« bzw. historischen Darstellungen agiert ein anonymer, pseudonymer oder namentlich bekannter Autor bzw. Herausgeber, der über angeblich »reale« Verschwörungen informieren will und sich dazu verschiedener Darstellungsformen bedient. Signifikantes Zeugnis für den take-off des modernen Konspirationismus ist das im Jahr 1755 in Paris veröffentlichte Werk »La réalité du projet de Bourg-Fontaine, démontrée par l’exécution« des Jesuiten Henri Michel Sauvage. Es wird 1793 auf Deutsch als »Beweis von der Wirklichkeit der Zusammenkunft in Bourgfontaine« veröffentlicht. Sauvages »Demonstration« sucht einen bereits 1654 veröffentlichten und in den nachfolgenden Jahrzehnten heftig umstrittenen Bericht über einen angeblich 1621 in der Kartause von Bourgfontaine abgehaltenen Geheimkongress von Jansenisten – auf dem ein heimlicher Plan zur Einführung der deistischen Vernunftreligion und zur Abschaffung der Ordensgeistlichkeit verabredet worden sei – durch einen Abgleich mit historischen Tatsachen zu beweisen und kann als ein erstes Zeugnis für die moderne Ausprägung konspirationistischer Kombinatorik gelten. Eine in unterschiedlichen Masken auftretende Autor- bzw. Herausgeberfunktion findet sich auch in explizit als fiktional markierten Texten, die geheime Intrigen insinuieren, um zu unterhalten und ein symbolisches Probehandeln zu ermöglichen. Zugleich bewegen sich in diesen Textwelten Figuren, die in oftmals komplizierten Beziehungen zu geheimen Konspirateuren stehen, die »verkappten« oder »verlarvten« Verschwörer letztlich aber »demaskieren«, »entlarven« oder entdecken können. Adressat ist ein Leser, der durch Nachvollzug der realen oder fiktionalen Geltungsansprüche zur Instanz der Beobachtung und Entlarvung maskierter Konspirateure wird. Mit dieser durch Personalisierung und Simplifizierung realisierten Komplexitätsreduktion verbinden sich jedoch stets auch Annahmen, die zu einer internen Komplexitätssteigerung führen. Indem die konspirationistische »Mentalität der heimlichen Hand« alle Phänomene der sozialen Welt als Indizien zur Bestätigung der eigenen Vorstellungen identifiziert und einen Beziehungssinn erzeugt, für den alle Elemente und Konstellationen zu Belegen für die vorausgesetzte Verschwörung werden, erweitern sich die erdachten Szenarien zu vielgestaltigen Weltbildern mit gegliederten Strukturen und Ralf Klausnitzer  —  Nichts ist, wie es scheint

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dichtgesponnenen Verweisungszusammenhängen. In der Welt von Konspirationstheoretikern gibt es nicht nur eine Gruppe von maskiert oder mit falscher Identität auftretenden Verschwörern, sondern zugleich auch die partiell eingeweihten Handlanger und Exekutoren der geheimen Pläne. Gleichzeitig ist stets auch eine »Gegenmacht« präsent, die als einzeln oder in Gruppen agierende Verteidigerin der »Ordnung« ein bestimmtes Wissen um die geheimen Machenschaften besitzt und deren Ziel in der Entlarvung des allumfassenden Komplotts besteht. Resultat der so vollzogenen Ausgestaltung einer personalistischen Weltdeutung ist ein paranoides Weltbild mit universalem Erklärungsanspruch und umfassendem Misstrauen: In der Maximierung der Diskrepanz zwischen täuschendem Anschein und »eigentlicher« Bedeutung avanciert jedes Phänomen der sozialen Welt zum Bestandteil und Indiz eines verborgenen Zusammenhangs, dessen omnipräsente und omnipotente Erzeuger die schlechten Geschicke nach genauem Plan lenken oder den Umsturz der herrschenden Zustände vorbereiten. Rettung kommt allein durch die Enthüllung des bewusst produzierten »Scheins« bzw. durch Beseitigung der »Maske«. Die Komplementärbegriffe »Maske« und »Demaskierung«, »Geheimnis« und »Enthüllung«, »Schein« und »Entschleierung« bilden deshalb den Grundstock aller verschwörungstheoretischen Rhetorik – von der 1784 veröffentlichten »Ersten Warnung« »Ueber Freymaurer, besonders in Bayern« des Joseph Marius Babo über Ernst August von Göchhausens »Enthüllung des Systems der Weltbürgerrepublik« aus dem Jahre 1786 und dem Pamphlet »Les conspirateurs demasqué« des Comte de Ferrand von 1790 bis zu Johann August Starcks bereits erwähnter Ideengeschichte, die den »Philosophen« ein »allgemeines Umwälzungsprojekt« zuschrieb, das diese hinter der nun endlich gelüfteten »Larve der Duldung und der Menschenliebe« verbargen. Das Prinzip dieser Beobachtung hatte schon der Dichter und Minister Johann Wolfgang Goethe am 22. Juni 1781 gegenüber dem Physiognomiker Johann Caspar Lavater ausgesprochen: »Ich habe Spuren, um nicht zu sagen Nachrichten, von einer großen Masse Lügen, die im Finstern schleicht, von der du noch keine Ahndung zu haben scheinst. Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freyem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe.«4

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4  Johann Wolfgang von Goethe an Johann Caspar Lavater. Brief vom 22. Juni 1781, in: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung: Goethes Briefe, Bd. 5, S. 149 f.

Dass der berühmte Autor in seinem 1795/96 veröffentlichten Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« dann detaillierte Informationen über Aufnahmerituale und Beobachtungsverfahren des Illuminatenordens integrieren und die traditionsreiche Gattung des Bildungsromans so mit der Idee einer heimlichen Lenkung menschlicher Geschicke verbinden sollte, gehört in einen Zusammenhang, der an dieser Stelle nicht einmal anzudeuten ist. DIE EULE DES ILLUMINATENORDENS AUF DER EIN-DOLLAR-NOTE ODER: IM ZEICHEN-WAHN Natürlich taucht in Dan Browns Roman auch die bekannteste Banknote der Welt auf. In Kapitel 75 findet sich das Bild der Pyramide mit dem abgehobenen Schlussstein und dem allsehenden Auge abgebildet. Und wie unter Konspirationstheoretikern aller Couleur üblich, werden auch die umgebenden Worte entsprechend gedeutet: Die aus Vergils Epos »Aeneis« entlehnten Worte ANNUIT CŒPTIS (lat.: er hat das Begonnene gesegnet) und die gleichfalls Vergil entnommene Phrase vom NOVUS ORDO SECLORUM (neue Ordnung der Zeitalter) ergeben bei Kombination mit dem Davidstern den Begriff M-A-S-O-N (Freimaurer). Wie originell. Dabei geben nicht nur die ungewöhnliche dreidimensionale Darstellung der dreizehnstufigen Pyramide und die naturalistische Darstellung von Gestrüpp und Unkraut vor ihrer (mit der Jahreszahl MDCCLXXVI, dem Jahr der Gründung des Illuminatenordens, beschrifteten) Basis zu denken. Denn auf der Vorderseite des Geldscheins fällt bei genauer Betrachtung ein Detail auf, das gleichfalls erklärungsbedürftig ist: Links über der schildähnlichen Einfassung der Ziffer 1 unmittelbar neben der zweiten Blattspitze befindet sich das winzige und doch deutlich sichtbare Bild einer Eule, Begleittier der griechischen Göttin Pallas Athene. Und Symbol des im bayrischen Ingolstadt gegründeten Bundes der Perfektibilisten, der zwei Jahre später den Namen »Illuminatenorden« erhalten sollte. Wie die winzige Eule auf den bekanntesten und am meisten gebrauchten Geldschein der Welt gelangt ist und was sie bedeutet, kann an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Denn der Hinweis auf dieses Detail hat einen anderen Zweck: Er demonstriert, dass nahezu jeder Bestandteil unserer sozialen Welt zum Indiz für größere Zusammenhänge werden kann – bei entsprechender Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, sich auf das Prinzip jenes universalen Misstrauens einzulassen, das Dan Browns Romane wie auch andere Texte und Filme der Populärkultur befeuert. Alles ist Zeichen, lautet das Credo einer solchen tendenziell selektionslosen Aufmerksamkeit, die dann in verschwörungstheoretische Paranoia umschlägt, wenn sie sich mit Ralf Klausnitzer  —  Nichts ist, wie es scheint

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unkorrigierbaren Überzeugungen von vermeintlichen Bündnissen des Bösen gegen die eigene Position verbindet. Denn die für Konspirationsszenarien konstitutive Zuschreibung von verborgenen Intentionen, heimlichen Verabredungen und koordinierten Planungen erzeugt und befördert einen Sog, dem man sich zum Teil nur schwer entziehen kann. Trügerische Oberfläche und verborgene Gründe, vorgetäuschtes Tun und tatsächliche Absichten der heimlich verabredeten und koordiniert handelnden Akteure treten in einer Weise auseinander, dass in diesen Projektionen nichts ist, wie es scheint, und nahezu jedes Element der so erzeugten Textwelt zum Träger von Bedeutung(en) werden kann. Ob es sich um die martinistische Chiffre »C – H – R« handelt (die der Mitherausgeber der Berlinischen Monatsschrift Johann Erich Biester in den 1780er Jahren als Signum einer jesuitisch gesteuerten Sammlung der »Catholiques Romains« gedeutet hat) oder um eine Geste von Goethes literarischer Figur Wilhelm Meister, der bei seiner Aufnahme in die »Turmgesellschaft« zum Schutz vor dem blendenden Sonnenlicht die Hand heben muss (und damit ein Initiationsritual des Illuminatenordens nachvollzieht, dem der Autor des Romans angehört hat): In konspirationistischer Perspektive können nahezu alle Attribute von textuell fixierten Welten als bedeutsame Zeichen erscheinen und eine »unbegrenzte Semiose« (Umberto Eco) in Gang setzen. Wenn nichts ist, wie es scheint, erweist sich jedes Detail der sozialen Welt als bedeutungsvolles Indiz, das mit tendenziell selektionsloser Sensibilität wahrgenommen und mit universalem Misstrauen ausgewertet werden muss. Resultat dieser seit der Aufklärung auf innerweltliche Akteure fokussierten und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensivierten Beobachtungs- und Deutungsverfahren ist eine kollektive Paranoia, die Immanuel Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als »besondere Art mit Vernunft zu rasen«5 bestimmte und deren Folgen sowohl politische Theoriebildung und Geschichtsschreibung als auch das Literatur- und Wissenschaftssystem in noch zu klärender Weise beeinflussten.

Dr. Ralf Klausnitzer, geb. 1967, ist Literaturwissenschaftler und habilitierte zu »Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850«. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin.

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5  Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Berlin 1907, S. 215.

DAS PEGASUS-PARADOX DIE ONTOLOGIE VON VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN ΞΞ Karl Hepfer Als Gegenstand seriöser Forschung treten Verschwörungstheorien vor allem in den Sozialwissenschaften, der historischen Forschung und der Psychologie auf. In der Philosophie, die sonst gern für Ordnung in der abstrakten Welt der Theorien sorgt, sind sie dagegen bisher kaum Gegenstand ernsthafter Auseinandersetzung geworden. Dabei unterscheidet sich die philosophische Perspektive erheblich von derjenigen der gerade genannten Disziplinen, weil es hier in erster Linie weder darum geht, Verschwörungstheorien zu »widerlegen« (oder zu bestätigen), noch darum, ihre soziologischen oder psychologischen Wirkungen näher zu untersuchen; sondern es geht um ihre Strukturmerkmale. Die Philosophie fragt bspw., welche Eigenschaften Verschwörungstheorien mit unseren »normalen« Theorien in Alltag und Wissenschaft teilen und an welchen Stellen sie sich von ihnen unterscheiden. Wenn wir eine Antwort auf diese Fragen geben wollen, so zwingt uns die Beschäftigung gerade mit 1  Für die ausführlichere Analyse der philosophischen Strukturmerkmale von Verschwörungstheorien siehe: Karl Hepfer, Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld 2015. 2  Für weitere Definitionen siehe: Charles Pigden, Popper Revisited, or What is Wrong with Conspiracy Theories?, in: Philosophy of the Social Sciences, Jg. 25 (1995), H. 1, S. 3–34, hier S. 20, abgedruckt in: David Coady (Hg.), Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Aldershot 2006, S. 17–43; Lee Basham, Living with the Conspiracy, in: The Philosophical Forum, Jg. 32 (2001), H. 3, S. 265–280, hier S. 61, abgedruckt in: Coady, Conspiracy Theories, S. 61–75; Brian L. Keely, Of Conspiracy Theories, in: The Journal of Philosophy, Jg. 96 (1999), H. 3, S. 109–126; David Coady, Conspiracy Theories and Official Stories, 2003, in: Coady, Conspiracy Theories, S. 115–127.

solchen Theorien, denen wir von vornherein mit einem gewissen Argwohn begegnen, dazu, auch die Mechanismen, mit denen wir unsere Realität herstellen, einer genaueren Prüfung zu unterziehen. So zeigt uns der philosophische Blick auf die Strukturmerkmale von Verschwörungstheorien eben auch, wie gut oder schlecht es um unsere »normalen« Theorien bestellt ist. Dies wird im Folgenden anhand einer Analyse der Rolle und Funktion von Existenzaussagen in Verschwörungstheorien illustriert.1 Zunächst jedoch einige Vorbemerkungen und ein kurzer Blick auf den Begriff. Was definiert die »Verschwörung«? Wenigstens zwei Merkmale liegen auf der Hand: Erstens sind an einer Verschwörung immer mehrere Personen beteiligt. Zweitens ist eine Verschwörung durch Geheimhaltung bestimmt. Darüber hinaus nehmen wir, drittens, an, dass einer Verschwörung eine »böse« Absicht zugrunde liegt – von einer Verschwörung zum Guten, d. h. zum Vorteil anderer, sprechen wir normalerweise nicht. Nimmt man dies zusammen, so lässt sich eine »Verschwörung« als das Zusammenwirken einer Gruppe von Personen bestimmen, deren Absprachen und Handlungen darauf zielen, im Geheimen die Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil zu beeinflussen. Entsprechend ist eine Verschwörungstheorie der Versuch, Ereignisse als Folge geheimer Absprachen und Aktionen (einer Gruppe von Personen zu ihrem eigenen Vorteil) zu erklären.2

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Da Verschwörungstheorien in der Regel hochgradig schlüssig sind und oft einigen Aufwand betreiben, um die üblichen Kriterien für wissenschaftliche Theorien wenigstens dem Anschein nach zu erfüllen,3 liegt zwar nahe, sie bei ihrem Gegenstandsbereich zu packen. Unglücklicherweise jedoch weiß die Geschichte von hinreichend vielen (zunächst überaus abenteuerlich klingenden) Verschwörungstheorien zu berichten, die sich später als zutreffend herausgestellt haben. Allein die Behauptung, die Ereignisse seien die Folge einer Verschwörung, verbannt solche Theorien also nicht automatisch aus dem seriösen Diskurs. Auch eine andere naheliegende Strategie, um ohne großen Aufwand einer Diskussion auszuweichen, greift hier nicht. Der Versuch, mit ihrer Hilfe Verschwörungstheorien beizukommen, ist jedoch aufschlussreich. Denn wenn es im Alltag oder in den Wissenschaften um die Feststellung geht, welcher von mehreren konkurrierenden Theorien der Vorzug zu geben ist, um ein Phänomen oder Ereignis zu erklären, greifen wir gern auf das sogenannte »Sparsamkeitsprinzip« zurück. Dieses wird für gewöhnlich William von Ockham, einem Denker des 13. Jahrhunderts, zugeschrieben und legt uns nahe, unsere Theorien nicht mit mehr Annahmen, Grundsätzen und Gegenständen auszustatten, als zur Erklärung der Ereignisse unbedingt erforderlich sind. Wenn verschiedene Erklärungsmodelle denselben Phänomenbestand erklären, so wäre nach dem Sparsamkeitsprinzip also jeweils dasjenige vorzuziehen, das eine geringere Menge an Annahmen benötigt – bzw. mit derselben Menge von Annahmen die größere Erklärungsleistung erreicht. Wenn wir diesem wissenschaftlich anerkannten und in vielen Fällen überaus nützlichen Prinzip folgen, geraten wir in unserem Zusammenhang allerdings in eine paradoxe Situation. Denn schließlich genügt Verschwörungstheoretikern als alleiniges Erklärungsprinzip bereits das geheime Wirken der Verschwörer. Im direkten Vergleich verschiedener Erklärungsansätze für dasselbe Phänomen wird eine Verschwörungstheorie daher immer die Oberhand behalten, weil sie die »einfachere« Theorie ist, also diejenige Theorie, die mit weniger Annahmen auskommt. Das heißt, der Verschwörungstheorie wäre im Wettstreit der Erklärungen in jedem Fall der Vorzug zu geben. Denn obwohl gilt, dass jede Theorie Vereinfachungen vornimmt und Einzelfallbetrachtungen ausblendet, damit sie den Datenbestand überhaupt in einem Modell abbilden kann, so schießen Verschwörungstheorien – ähnlich wie religiöse »Erklärungen« – hier oft über das Ziel hinaus. Sie vereinfachen so stark, dass ihre Behauptungen allein schon aus diesem Grund unser Misstrauen erregen (sollten).4 Nähern wir uns nach diesen Vorbemerkungen nun den Existenzbehauptungen. Mit ihrer Hilfe strukturieren wir unsere Wirklichkeit. Wenn wir verstehen

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3  So »begründen« sie ihre Zweifel an der offiziellen Version, »belegen« ihre Behauptungen und halten sich an die Regeln der Logik. Anders als esoterisch oder religiös inspirierte Ansätze bemühen sie sich zudem, mit ihren Erklärungen nicht über unser modernes Weltbild, das jedem Ereignis (außerhalb der Quantenphysik) eine Ursache zuschreibt, hinauszugehen. Ausführlicher hierzu auch: Hepfer, Verschwörungstheorien, bes. die Abschnitte 1.6–1.11. 4  Eine wichtige Randbedingung des in der Wissenschaftstheorie so beliebten und hilfreichen Sparsamkeitsprinzips muss daher die Forderung sein: »Misstraue jeder Idee, die alles aus einem einzigen Prinzip erklärt«.

wollen, warum sich die »Wirklichkeit« derjenigen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, oft signifikant von der »Wirklichkeit« derjenigen unterscheidet, die der offiziellen Version zuneigen, empfiehlt sich, die jeweiligen Behauptungen darüber, was es gibt oder nicht gibt, genauer zu betrachten. Denn anders als man lange angenommen hat, bildet unser Gehirn die äußeren Gegebenheiten eben nicht einfach getreu ab.5 Im Gegenteil: Es bearbeitet die Eindrücke unserer Sinne und errechnet aus ihnen erst ein (stark vereinfachtes) Modell der Welt. Seit Beginn der Neuzeit setzte sich deshalb mehr und mehr die Einsicht durch, dass auch mit entsprechendem Forschergeist und der nötigen Sorgfalt die eine richtige Sicht der Wirklichkeit nicht zu ermitteln ist – schlicht, weil es diese eine richtige Sicht für uns nicht geben kann. Nachdem zunächst Thomas Hobbes, der Begründer der modernen politischen Philosophie, die Regeln und die Institutionen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens als arbiträre Festlegungen ausgewiesen hatte,6 folgte seinem soziologischen Befund schnell die epistemische Einsicht, dass auch unser gesamtes Wissen auf willkürlichen Festlegungen beruht. Und davon ist weder das Kausalitätsprinzip7 noch die Einteilung der Erfahrungswelt in 5  Diese Meinung war im Anschluss an die aristotelische These, wonach der menschliche Geist die äußere Wirklichkeit weitgehend unverfälscht abbilde (vgl. Aristoteles, De anima/Über die Seele, gr./dt. Übers. H. Seidl, Hamburg 1995, bes. 428a f.), bis in die Frühe Neuzeit die weithin akzeptierte Meinung über das Verhältnis von Geist und Welt. 6  Siehe Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth Ecclasiasticall and Civil, 1651, Cambridge 1996. 7  Siehe David Hume, A Treatise of Human Nature, 1739/40, hg. v. D. F. Norton/ M. J. Norton, Oxford 2000. 8  Siehe Immanuel Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 1781 und 1787, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998; für Literatur hierzu siehe die Angaben zu Abschnitt 2.3 in: Karl Hepfer, Die Form der Erkenntnis. Immanuel Kants theoretische Einbildungskraft, Freiburg 2006.

bestimmte diskrete Einheiten (»Gegenstände«) ausgenommen.8 Auch sie beruhen auf Akten menschlicher »Willkür«: Das, was wir »Wirklichkeit« nennen, wird also bereits auf einer ganz fundamentalen Ebene durch eine aktive Interpretation des Gehirns erst hergestellt. Da sich an eine beliebige Menge von Daten immer eine potenziell unendliche Menge gleichermaßen zutreffender Funktionen (»Interpretationen«) anlegen lässt, haben Verschwörungstheorien vor diesem Hintergrund leichtes Spiel – solange es ihnen denn nur gelingt, ihre Abweichungen von den anerkannten Verfahren der Theoriebildung elegant zu verschleiern. Auch wenn es, zumal in der Gemengelage von »echten« Verschwörungstheorien und solchen, die allein der Phantasie entspringen, oft schwer fällt, den Punkt zu bestimmen, an dem letztere die empirische Unterbestimmtheit auf unlautere Weise ausnutzen, so sind es im Wesentlichen eben doch nur zwei Typen von Behauptungen, mit denen wir unsere »Wirklichkeit« erschaffen und strukturieren: Neben den genannten Existenzaussagen, die hier verhandelt werden, sind dies unsere epistemischen Aussagen, um die es an dieser Stelle aber nicht weiter gehen soll. Wenn Verschwörungstheorien unsere bisher für wahr gehaltenen Meinungen infrage stellen, um den Boden für ihre alternativen »Gewissheiten« zu bereiten, müssen sie daher entweder behaupten, es gebe bestimmte Dinge oder Phänomene (von denen bis dahin oft noch nie ein Normalsterblicher gehört hat), oder sich an den Tatsachen, d. h. an den Dingen, die wir für wahr halten, abarbeiten. Zwar sind unsere Existenzaussagen Karl Hepfer  —  Das Pegasus-Paradox

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selbstverständlich eng mit denjenigen Aussagen verbunden, in denen wir unsere Wissensansprüche formulieren – schon deshalb, weil wir nur dann sinnvoll von Wahrheit und Falschheit sprechen können, wenn wir uns dabei auf Dinge beziehen, von denen wir annehmen, dass es sie in der einen oder anderen Weise »gibt«. Für Analysezwecke ist es, wie wir sehen werden, jedoch nützlich, diese beiden Typen von Aussagen voneinander zu trennen. Dann nämlich wird deutlich, wie allein schon durch die Wahl der Existenzaussagen das Fundament für eine überzeugende verschwörungstheoretische Interpretation der Ereignisse gelegt werden kann. Doch was meinen wir überhaupt mit der Behauptung, etwas »existiere«? Gibt es bspw. die Jahre zwischen 614 und 911 unserer Zeitrechnung oder wurde diese »Phantomzeit« von finsteren Geschichtsfälschern nur erfunden, wie eine Verschwörungstheorie behauptet?9 Oder gibt es, weggeschlossen in den Katakomben der großen Ölkonzerne, tatsächlich jene hypereffizienten Motoren, die mit einem halben Liter Sprit vom Nordkap bis Gibraltar kommen, wie eine andere meint? Und schließlich: Was ist mit den Strahlen, mit denen sie unser Bewusstsein kontrollieren und unsere Gedanken steuern, was mit den UFOs über New Mexico oder den letzten Dinosauriern im Loch Ness? Dass Existenzbehauptungen auch schon außerhalb verschwörungstheoretischer oder esoterischer Zusammenhänge zuverlässig zu Kontroversen führen, liegt wesentlich daran, dass einem Gegenstand »Existenz« zu- oder abzusprechen etwas anderes ist, als zu behaupten, er sei blau, warm oder groß: »Existenz« ist kein reales Prädikat. Das bedeutet, die Behauptung, ein Gegenstand »existiere«, fügt der Liste seiner Eigenschaften nichts hinzu. Denn offensichtlich können nur Dinge, die es gibt, auch reale Eigenschaften besitzen. Deshalb ist es bspw. eine völlig sinnlose Frage, ob die gegenwärtige Königin der Schweiz braune Augen hat oder nicht. Sie lässt sich mit dem gleichen (Un-)Recht mit »ja« wie mit »nein« beantworten, weil aus Falschem – die Schweiz kommt bisher erstaunlich gut ohne Königin zurecht –, nach den Gesetzen der Logik, Beliebiges folgt. Kurz: Die Existenz eines Gegenstandes zählt als Voraussetzung dafür, dass diesem überhaupt sinnvoll Eigenschaften zugeschrieben werden können, nicht selbst zu dessen normalen Eigenschaften. Doch machen wir die Sache nicht unnötig kompliziert? Denn für gewöhnlich informieren uns doch unsere fünf Sinne recht zuverlässig darüber, was es gibt und was nicht; und das selbst unter erschwerten Bedingungen. Der Kaffee auf dem Tisch vor uns nach der langen Nacht: echt oder vom Restalkohol ausgelöste Einbildung? Ein Griff nach dem Becher entscheidet die Frage (normalerweise). Was wir dagegen weder sehen, fühlen, riechen, schmecken noch hören können, das gibt es eben nicht. Knifflig wird die Angelegenheit

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9  Siehe Heribert Illig, Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte, Berlin 1998.

jedoch, weil die »Wirklichkeit« eben doch weit mehr als die Gesamtheit dessen ist, was wir mit unseren Sinnen direkt überprüfen können. Für Bakterien und Elektronen brauchen wir die Hilfe eines Mikroskops; anfassen können wir sie selbst im nüchternen Zustand nicht. Noch kleinere Bestandteile unserer Welt lassen sich sogar nur indirekt und mit erheblichem Aufwand nachweisen. Auch bei entfernten Gegenständen stützen wir uns auf Informationen aus zweiter oder dritter Hand. Schließlich hat nicht jeder die Muße, sich schwitzend durch die Wüste zu kämpfen, um zu überprüfen, ob die Pyramiden mehr sind als ein clever inszeniertes Postkartenmotiv, das ahnungslose Urlauber nach »Ägypten« locken soll – Urlauber, die nach ihrer Rückkehr natürlich voller Scham verschweigen, dass sie einem Schwindel aufgesessen sind. Ebenso werden die wenigsten ihren Jahresurlaub drangeben wollen, um sich selbst von der Existenz oder Nicht-Existenz eines Kontinents am Südpol zu überzeugen. Und schließlich werden auch noch so viele Urlaubstage wohl nicht ausreichen, um eigenhändig zu erforschen, ob die leuchtenden Punkte am Nachthimmel tatsächlich Pixelfehler in der Hintergrundmatrix sind. Nicht viel anders geht es uns mit abstrakten Gegenständen, denn ihre Existenz lässt sich mit unseren Sinnen auch nicht so recht nachweisen. Wer könnte von sich schon behaupten, je eine Tatsache gesehen, wer ein Prinzip in freier Wildbahn erlegt zu haben? Wer weiß, wie Bedeutungen aussehen? Oder, um die Verwirrung komplett zu machen, kann man an dieser Stelle natürlich noch weiter fragen, bspw. danach, auf welche Weise etwa die Figuren und Gegenstände »virtueller« Umgebungen »existieren«. Denn obwohl wir mit dem virtuellen Schwert problemlos den ebenso virtuellen Drachen erschlagen können, so schreckt die auf dem Bildschirm so wirksame Menge von Bits und Bytes den realen Einbrecher eben nicht im Geringsten.10 Um Klarheit in die Sache zu bringen, empfiehlt sich der Umweg über negative Existenzaussagen und eine Paradoxie, welche die Philosophie schon lange umtreibt; denn dieser Umweg erlaubt uns, der Angelegenheit auf recht elegante Weise auf die Schliche zu kommen. Betrachten wir das Rätsel in seiner ursprünglichen Fassung, in welcher der »Held« der Geschichte eine Gestalt aus der griechischen Mythologie ist, nämlich Pegasus, das geflügelte Pferd, das mit dem Bellerophon in den Kampf gegen die Chimäre zog. Die entscheidende Frage ist dabei diese: Wie können wir von Pegasus behaupten, er existiere nicht? Müssen wir nicht, um ihm seine Existenz absprechen zu können, zunächst einmal voraussetzen, dass es ein Wesen mit diesem 10  Die im Folgenden vorgeschlagene Weise des Umgangs mit Existenzaussagen bringt Licht auch in dieses Dunkel.

Namen gibt? Denn doch wohl erst danach, im zweiten Schritt, können wir seine Existenz verneinen – weil wir uns ja schließlich auf irgendetwas beziehen müssen, dem wir die »Existenz« absprechen. Karl Hepfer  —  Das Pegasus-Paradox

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Bei dem Versuch, dieses Paradox zu lösen, hilft uns der oben erwähnte Gedanke, dass die Zuschreibung von Existenz etwas anderes ist als die Zuschreibung normaler Eigenschaften. Denn mit dieser Einsicht im Rücken ist der Vorschlag leichter zu verstehen, mit dem die Sprachphilosophie das vermeintliche Paradox im letzten Jahrhundert aufgelöst hat. Der Eindruck, hier liege eine Paradoxie vor, hängt nämlich ganz wesentlich davon ab, dass wir es bei »Pegasus« mit einem Gegenstand zu tun haben, der durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Und dies erweckt den Anschein, hier müsse allein schon deshalb irgendetwas als »existierend« angenommen werden, weil es einen Namen trägt. Diese Denkfalle gilt es zu vermeiden. Und das ist gar nicht einmal so schwer, wie der britische Philosoph Bertrand Russell vorführt. Er weist darauf hin, dass dazu letztlich der Eigenname nur in eine Beschreibung überführt werden muss. Wenn man sich auf sein Manöver einlässt, so lautet unsere negative Existenzaussage in ihrer überarbeiteten Version also: »Es gibt keinen Gegenstand, der die Eigenschaft hat, ein Pferd zu sein, Flügel zu besitzen und zusammen mit Bellerophon in den Kampf gegen die Chimäre gezogen zu sein.« Damit verschwindet der Eindruck, hier läge ein Paradox vor. An diesen Vorschlag Russells schließt nun sein Kollege William van Orman Quine direkt einen für unseren Zusammenhang entscheidenden Gedanken an. Er nimmt nämlich Russells Strategie zum Umgang mit negativen Existenzaussagen zum Anlass, mit noch größerem Nachdruck auf den »logischen« Charakter von Existenzbehauptungen hinzuweisen; denn, so betont er, bei Existenzaussagen gehe es doch letztlich immer darum, den Geltungsbereich sprachlicher Zeichen abzustecken.11 Quine erklärt dies so: Nehmen wir an, »x« wäre der Platzhalter für eine beliebige Gegenstandsbezeichnung, so besteht die eigentliche Funktion einer Existenzaussage in der Festlegung von »x« nach einem der folgenden Muster: »für alle x gilt …«, »für einige x gilt …«, »es gibt ein x, für das gilt …« oder eben »es gibt kein x, für das gilt …« Dies sieht auf den ersten Blick zwar wie ein philosophischer Taschenspielertrick aus, der nur dazu dient, elegant der eigentlichen Frage danach auszuweichen, was es denn nun wirklich gibt – und scheint uns bei den UFOs über New Mexico oder den Seeungeheuern in Schottland nun doch nicht den erhofften Schritt weiterzubringen. Doch langsam: Die Verlagerung der Diskussion auf die logisch-sprachliche Ebene ist durchaus sinnvoll, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei wichtige Eigenschaften von Existenzbehauptungen. Erstens: Existenzbehauptungen sind immer Aussagen vor dem Hintergrund einer ganzen Theorie, weil der Geltungsbereich sprachlicher Zeichen sich eben nur vor einem solchen Hintergrund sinnvoll bestimmen lässt.

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11  Willard van Orman Quine, On what there is, 1948, in: W. O. Quine, From a Logical Point of View, Cambridge 1980, S. 1–19.

Genau deshalb verraten uns Existenzaussagen und ihre Analyse tatsächlich wenig über die Welt, dafür aber umso mehr über uns. Genauer: über den Aufbau und die logische Struktur unserer Theorien über die Welt; indem sie nämlich anzeigen, welche Gegenstände wir in unseren Theorien an welcher Stelle zuzulassen bereit sind. Zweitens: Die Behauptung von Existenz als einen Vorgang zu nehmen, der den Geltungsbereich sprachlicher Zeichen absteckt, erklärt, wie auch negative Existenzaussagen eine »Bedeutung« haben können. Ebenso wie solche über abstrakte Gegenstände. Dieses Vorgehen lässt uns verstehen, wie Äußerungen sowohl über Pegasus als auch über »Tatsachen«, »Bedeutungen« und fiktive Gegenstände falsch sein können, obwohl die sprachlichen Ausdrücke sich in diesen Fällen nicht auf »normale«, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände beziehen. Ihre Bedeutung erlangen sie, folgt man Quine, nämlich als Teil einer Theorie, in die sie sich einfügen, ohne zu Brüchen und Widersprüchen zu führen. Und diese Überlegungen verschaffen uns dann eben doch, und entgegen dem ersten Anschein, einen klaren Vorteil im Umgang mit Verschwörungstheorien. Denn deren übliche Existenzbehauptungen – etwa über geheimnisvolle Strahlen zur Bewusstseinskontrolle, Benzinmotoren mit phantastischem Wirkungsgrad oder über UFOs – erscheinen vor diesem Hintergrund plötzlich weit weniger folgenlos, als man zunächst hätte annehmen können. Ganz offensichtlich erfordern sie weitaus mehr, als dass wir dem, was wir für wahr halten, nur eine einzige weitere Behauptung hinzufügten. Genauer: Wenn wir solche Annahmen unserem Meinungssystem hinzufügen wollen, zwingt uns dies zu einer weitreichenden Anpassung des gesamten Systems, weil sie weitere Behauptungen nach sich ziehen, die oft quer zu unseren derzeitigen wissenschaftlichen Theorien oder unserer Alltagstheorie stehen, in die sie angeblich eingebettet sind. So müssten wir in den eingangs genannten Beispielen viele unserer Meinungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns grundsätzlich ändern, damit die Möglichkeit, seine Arbeitsweise durch eine technische Manipulation gezielt aus der Ferne zu steuern, Überzeugungskraft erlangte; ebenso wie wir unsere Meinungen über die Eigenschaften von Werkstoffen und Wirkmechanismen (bzw. über den gesamten Stand der Technik) revidieren müssten, um den behaupteten Wirkungsgrad von Benzinmotoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch nur für möglich zu halten. Vergleichbares gilt auch für Monster und UFOs. Um es kurz zu machen: Auch wenn es zunächst so scheint, als ob Verschwörungstheorien uns dazu aufforderten, unseren Existenzannahmen lediglich eine oder zwei weitere hinzuzufügen, ohne dass dadurch größere Anpassungen in unserem Meinungsgefüge nötig würden, so trügt dieser Schein. Karl Hepfer  —  Das Pegasus-Paradox

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Das Gegenteil ist der Fall: Zusätzliche Existenzbehauptungen dieser Art erfordern erhebliche Änderungen in unserem gesamten Meinungssystem. Die Aufmerksamkeit für den logischen Charakter von Existenzbehauptungen hilft uns deshalb abzuschätzen, wie weit wir uns bereits durch eine einzige zusätzliche Existenzbehauptung von unserer gewohnten Interpretation der Realität entfernen.12 Deshalb lässt sich festhalten: Ein wichtiges Merkmal, an dem sich messen lässt, wo auf der Skala von »frei erfunden« bis »bedenkenswert« eine Verschwörungstheorie einzuordnen ist, sind ihre Existenzbehauptungen. Sie sind weit weniger unschuldig, als es auf den ersten Blick erscheint, weil sie mitunter erhebliche Folgelasten generieren – auch wenn sich Verschwörungstheorien oft sehr große Mühe geben, diesen Umstand zu verschleiern. Um einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich bestimmte Phänomene am besten durch eine Verschwörungstheorie erklären lassen, empfiehlt sich also, die ontologischen Behauptungen solcher Theorien konsequent auf ihre Folgen zu prüfen.

12  Will man im Angesicht fortgesetzter gegenläufiger Erfahrung dauerhaft an einer bestimmten Existenzbehauptung festhalten, ohne sich der Logik zu entledigen, so müssen daher im Zweifel über die Zeit immer mehr Meinungen »angepasst« werden.

So gerüstet, muss uns auch nicht schrecken, wenn Verschwörungstheorien, entgegen den normalen Gepflogenheiten, zur Absicherung ihrer Behauptungen und Theorien, darauf hinweisen, dass gerade die Abwesenheit von Beweisen ein schlagkräftiger Beleg für das Vorliegen einer Verschwörung sein könne – zeige das Fehlen von Beweisen doch eindrucksvoll, wie lang der Arm der Verschwörer beim Verwischen ihrer Spuren sei. Zwar berauben sie uns damit eines unserer wirksamsten Kriterien für die Beurteilung der Validität empirischer Aussagen – nämlich eines direkten Abgleichs mit der Erfahrung. Doch wir besitzen eine Methode, mit der wir über einen kleinen Umweg dieses Manko ausgleichen können. Denn es stimmt: Nicht nur in den Theorien, die allein der Phantasie entspringen, hintertreibt der Untersuchungsgegenstand aktiv seine Erforschung; sondern dies gilt eben auch für solche Theorien, die sich später durch Verrat, Zufall oder (historische) Forschung als zutreffend erwiesen haben werden – auch wenn sie anfangs noch so weit hergeholt geschienen hat. Selbst wenn es also durchaus in der Natur des Untersuchungsgegenstandes liegt, dass in diesem besonderen Fall der direkte Kontakt mit der Erfahrung stark eingeschränkt ist, weil gemäß der Ausgangshypothese die Verschwörer gezielt Belege beseitigen und falsche Fährten legen, um ihre geheimen Machenschaften zum Nachteil der übrigen Gemeinschaft zu vernebeln, hilft uns doch die Aufmerksamkeit für die weitreichenden Implikationen der entsprechenden Existenzbehauptungen, den empirischen Bezug auf indirekte Weise eben doch wiederherzustellen. Denn am Ende steht selbstverständlich die Entscheidung, ob die eingehende inhaltliche Auseinandersetzung mit einer bestimmten Theorie lohnt oder nicht.

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Dr. Karl Hepfer, geb. in Hamburg, ist Philosoph mit den Arbeitsschwerpunkten praktische Philosophie, Sprachtheorie und Erkenntnistheorie und derzeit Privatdozent an der Universität Erfurt.

KONSPIRATIVE WIRKLICHKEITEN ZUR WISSENSSOZIOLOGIE VON VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN ΞΞ Andreas Anton / Michael Schetsche

Über längere Zeit gab es eine im doppelten Sinne merkwürdige Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung von Verschwörungstheorien und der kaum oder gar nicht existierenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem kulturellen Phänomen. Ursache hierfür war vor allem der Umstand, dass Verschwörungstheorien in der Öffentlichkeit ein unseriös-zweifelhafter Charakter zugeschrieben wurde und sie deshalb auch wissenschaftlich als degoutant galten. Dabei dürfte insbesondere die Angst vor dem Verlust der eigenen wissenschaftlichen Reputation infolge der Beschäftigung mit einem kulturell unerwünschten Thema eine Rolle gespielt haben. Die Wenigen, die dennoch wagten, sich mit Verschwörungstheorien auseinanderzusetzen, grenzten sich in aller Deutlichkeit von ihrem Untersuchungsgegenstand ab, um am Ende nicht selbst zu jenen »Verschwörungstheoretikern« gezählt zu werden, denen spätestens seit dem paradigmatischen Essay »The Paranoid Style in American Politics«1 (1964) des US-amerikanischen Historikers Richard Hofstadter ein Hang zu paranoiden Denkformen diagnostiziert worden war. Somit herrschte beim Thema »Verschwörungstheorien« eine Wahrnehmung vor, die Distanz zum Untersuchungsgegenstand nicht nur bewahrte, sondern sie analytisch auch noch einmal explizit markierte und damit das Phänomen gesellschaftspolitisch (und wohl auch sozialethisch) diskreditierte.2 1  Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, in: Harper’s Magazine (November 1964), S. 77–86. 2  Vgl. Andreas Anton u. a., Einleitung: Wirklichkeitskonstruktion zwischen Orthodoxie und Heterodoxie – zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, in: Dies. (Hg.), Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 9–25, hier S. 9 f.

Erst seit den 1990er Jahren sind Verschwörungstheorien verstärkt zum Gegenstand geistes- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen geworden – allerdings noch immer in der »Tradition« der bisherigen diskreditierenden Auseinandersetzung. Aus dieser Perspektive sind Verschwörungstheorien eine illegitime Form von Wissen, weil sie für sich in Anspruch nehmen, über Kenntnisse von Verschwörungen zu verfügen, die es nach herrschender (kultureller und wissenschaftlicher) Lesart »in Wirklichkeit« nie gegeben hat. Vor dem Hintergrund des unterstellten negativen ontologischen Status erscheinen Verschwörungstheorien in dreierlei Hinsicht problematisch: Erstens wird proklamiert, dass Verschwörungstheorien auf irrigem

INDES, 2015–4, S. 33–42, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Wissen, haltlosen Behauptungen oder fiktiven Verdachtsmomenten aufbauten. Zweitens wird angenommen, der »Glaube« an eine entsprechende Verschwörungswirklichkeit beruhe nicht nur auf sachlich falschen Alltagsüberzeugungen, sondern würde darüber hinaus Zweifel an der geistigen Gesundheit jener »Gläubigen« erlauben, wenn nicht gar nahelegen. Drittens schließlich werden Verschwörungstheorien als eine politische Bedrohung wahrgenommen, weil sie als Nährboden für irrationale, politisch extreme Haltungen jeglicher Couleur dienten. Letztlich erscheinen Verschwörungstheorien als eine Art »kulturelle Krankheit«, die es wissenschaftlich und politisch zu »behandeln« gilt. Entsprechend werden in den meisten Studien Ursachen für die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien genannt, die untrennbar mit negativen Bewertungen verbunden sind und eine unvoreingenommene wissenschaftliche Analyse des Untersuchungsgegenstands von vornherein unmöglich machen. Verschwörungsdenken wird (die Liste ist dabei lediglich exemplarisch zu verstehen)3 durch folgende psychosoziale »Faktoren« zu erklären versucht:

3  Siehe dazu Andreas Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, Berlin 2011, S. 61 f. 4  Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 1992. 5  Siehe Ted Goertzel, Belief in Conspiracy Theories, in: Political Psychology, Jg. 15 (1994), H. 4, S. 731–742; Marina Abalakina-Paap u. a., Beliefs in Conspiracies, in: Political Psychology, Jg. 20 (1999), H. 3, S. 637–647. 6  Daniel Pipes, Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998.

• »Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens«4; • Misstrauen, Angst, Gefühle der Sinnlosigkeit, Verlorenheit und Ohnmacht, Autoritätshörigkeit, geringes Selbstwertgefühl und Benachteiligung;5 • »Paranoia-Haltung«6; • strukturelle Elemente der klinischen Paranoia als Erklärungsmodell für kollektive Verschwörungstheorien;7 • pathogene Störungen in der frühkindlichen Eltern-Kind-Beziehung;8 • »Verschwörungsmentalität«, »autoritäre Persönlichkeit«, Verunsicherung und Desorientierung in Krisen- und Umbruchphasen;9 • politische Entfremdung.10 All diesen Diagnoseversuchen ist gemein, dass sie von dem dargelegten dreifachen Problematisierungskontext geprägt sind, also vorrangig die behaupteten negativen sozialpsychologischen und gesellschaftspolitischen Auswirkungen von Verschwörungstheorien in den Blick nehmen und diese Abwertung auf die Ursachen des Phänomens rückprojizieren. Die axiomatische Grundannahme fast aller Studien ist dabei, dass es sich bei Verschwörungstheorien stets um »sachlich falsches« Wissen handele. Auf Grundlage dieser Prämisse konzentrieren sich diese und ähnliche Erklärungsansätze vornehmlich auf die Rekonstruktion immanenter Strukturmerkmale, anhand derer die kognitive Inferiorität verschwörungstheoretischen Denkens demonstriert werden soll. Verschwörungstheorien wird dabei

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7  Siehe Dieter Groh, Die verschwörungstheoretische Versuchung oder: Why do bad things happen to good people?, in: Ders. (Hg.), Anthropologische Dimensionen der Geschichte, Frankfurt a. M. 1999, S. 267–305. 8  Hans-Joachim Maaz, Zur Psychodynamik von Verschwörungstheorien. Das Beispiel der deutschen Vereinigung, in: Ute Caumanns u. Mathias Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten, historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 31–45. 9  Armin Pfahl-Traughber, »Bausteine« zu einer Theorie über »Verschwörungstheorien«, in: Helmut Reinalter (Hg.), Verschwörungen. Theorie – Geschichte – Wirkung, Innsbruck 2002, S. 30–44. 10  Siehe Volker Heins, Nachdenken über Verschwörungstheorien, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 2 (2005), H. 2, S. 135–144.

prinzipiell eine epistemische Naivität zugesprochen: Es handele sich bei ihnen um monokausale, nach außen hin abgeschlossene (d. h. nicht-falsifizierbare) und komplexitätsreduzierte Erklärungszusammenhänge, die historische Ereignisse oder Entwicklungen auf das Wirken weniger identifizierbarer Akteure zurückführten, alle strukturellen Ursachen hingegen ausklammerten. Ohne jeden Zweifel verdienen auch die problematischen kulturellen bzw. gesellschaftlichen Aspekte des Verschwörungsdenkens Beachtung in der wissenschaftlichen Analyse. Allerdings können, so unsere Überzeugung, Verschwörungstheorien analytisch nicht auf irrationales Denken und ein gesellschaftspolitisch negatives Wirkpotenzial reduziert werden. Eine solche Sichtweise wird diesem komplexen sozialen Phänomen nicht gerecht. Im Folgenden werden wir versuchen, eine andere, wissenssoziologisch informierte Lesart für das kulturelle Phänomen des Verschwörungsdenkens zu entwickeln. DER WISSENSSOZIOLOGISCHE BLICK AUF VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Aus wissenssoziologischer Perspektive sind die geschilderten Verweisungshorizonte und Erklärungsfolien analytisch wenig zielführend. So werden Verschwörungstheorien in der beschriebenen Perspektive prinzipiell an einem außersozialen Realitätsverständnis gemessen und stellen im Sinne Michel Foucaults »disqualifiziertes Wissen«11 dar. Zudem liegen diesen Zuschreibungen, wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben sollten, mehr oder weniger unreflektierte politische und psychologische Normalitätsvorstellungen zugrunde. Das grundsätzliche Problem solcher essentialistischer Zugänge besteht darin, dass sie in ihrer Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien implizit oder explizit Common-Sense-Klassifizierungen einer massenmedial geprägten Leitkultur und damit vorwissenschaftliche Kontextualisierungen übernehmen. Der Begriff der »Verschwörungstheorie« ist keineswegs ein rein analytischer, der einer wissenschaftlichen Deutungssphäre entstammt. Bei ihm handelt es sich vielmehr um einen delegitimierenden bzw. stigmatisierenden Begriff aus dem öffentlichen Diskurs selbst (wie z. B. dem medialen Feld), mit dem Aussagen über eine Verschwörung als falsches bzw. illegitimes Wissen klassifiziert werden. Mit anderen Worten: Der Begriff »Verschwörungstheorie« und die dazuge11  Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975–76), Frankfurt a. M. 2001, S. 22.

hörigen Prädikate stellen Bestandteile diskursiv ausgetragener Machtkämpfe um die Bestimmung gesellschaftlicher Wirklichkeit dar. Damit ist die Frage, ob bestimmte Ereignisse als fiktionale Verschwörungstheorie oder als reale Verschwörung gehandelt werden, vor allem von dem Verlauf gesellschaftlicher Andreas Anton / Michael Schetsche  —  Konspirative Wirklichkeiten

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Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion abhängig. Verschwörungstheorien bestimmen sich mithin nicht a priori durch strukturimmanente Diskurseigenschaften, sondern durch ihre antagonistische Beziehung zu anerkannten Wirklichkeitsbestimmungen: »In diesem Sinne handelt es sich bei Verschwörungstheorien zunächst einmal um nichts anderes als um heterodoxe Wissensbestände, die im Widerspruch zu jenen anerkannten (eben orthodoxen) Wissensbeständen der Gesellschaft stehen.«12 Dieser relationale Status von Verschwörungstheorien als kulturell heterodoxe Wirklichkeitsbeschreibungen lässt sich – um ein prominentes empirisches Fallbeispiel anzuführen, das wohl wie kein anderes die öffentliche Diskussion um Verschwörungstheorien in den 2000er Jahren geprägt hat – in aller Deutlichkeit hinsichtlich der Verschwörungstheorien zum 11. September beobachten. Deren Identität als Verschwörungstheorien konstituiert sich offenkundig durch ihr antagonistisches Verhältnis zum »offiziellen« und gesellschaftlich anerkannten Verschwörungsnarrativ der US-amerikanischen Regierungsstellen sowie der etablierten Massenmedien. Dieser Zusammenhang ist bezeichnend für den derzeitigen Gebrauch des Begriffes sowohl im sozialen, aber auch im wissenschaftlichen Feld. In dieser Verwendung neigt der Begriff dazu, als prinzipielle Delegitimierungs- und Immunisierungsstrategie gegenüber jeglicher Kritik politischer Administrationen und deren Verlautbarungen zu fungieren. Wenn wissenschaftliche Autoren den Begriff und das damit verbundene (delegitimierende und stigmatisierende) Konzept der »Verschwörungstheorie« aus dem medialen und auch lebensweltlichen Diskurs übernehmen, reproduzieren sie damit die abwertenden sozialen Zuschreibungen und versehen sie lediglich mit der Aura der Wissenschaftlichkeit – ein klassischer Fall der unreflektierten wissenschaftlichen Verdopplung lebensweltlicher Erklärungsmuster.13 In Opposition dazu wird eine wissenssoziologische Betrachtungsweise genau jene Prozesse in den Blick nehmen, durch die Verschwörungstheorien als heterodoxes (und damit illegitimes) Wissen diskursiv konstituiert werden. Wissen wird aus dieser Perspektive immer als gesellschaftlich konstru12  Michael Schetsche, Die ergoogelte Wirklichkeit. Verschwörungstheorien und das Internet, in: Kai Lehmann u. Michael Schetsche (Hg.), Die Google-Gesellschaft. Vom digitalen Wandel des Wissens, Bielefeld 2005, S. 113–120, hier S. 118. 13 

Siehe auch Anton u. a., Einleitung, S. 13 f.

iert betrachtet und kann eben nicht im positivistischen Sinne auf »objektive Fakten« reduziert werden. In Bezug auf Verschwörungstheorien bedeutet dies, dass vor allem die Frage interessiert, unter welchen Bedingungen sie von welchen Teilen der Bevölkerung (und ggf. auch von welchen kulturellen Instanzen) für zutreffend gehalten werden, respektive in welchen Fällen und in welchem Umfang sie von bestimmten Akteuren als unzutreffend zurückgewiesen werden. Eine derartige Analyse orientiert sich dabei an dem von Berger und Luckmann formulierten wissenssoziologischen Leitsatz: »Wir Andreas Anton / Michael Schetsche  —  Konspirative Wirklichkeiten

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behaupten also, dass die Wissenssoziologie sich mit allem zu beschäftigen habe, was in einer Gesellschaft als Wissen gilt, ohne Ansehen seiner Gültigkeit oder Ungültigkeit.«14 Für die (wissenssoziologische) Bestimmung des Begriffes »Verschwörungstheorie« hat dies zur Folge, dass der Wahrheitsgehalt von Verschwörungstheorien nicht per definitionem festgelegt werden kann, da dieser immer vom konkreten Stand der diskursiven Konstruktionen von Wirklichkeit abhängt. Um diesem Umstand gerecht zu werden, schlagen wir folgende begriffliche Differenzierung15 vor: • Bei einer heterodoxen Verschwörungstheorie handelt es sich um ein Überzeugungssystem oder Erklärungsmodell, welches aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretiert, wobei die Existenz dieser Verschwörung von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien oder anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen nicht anerkannt wird. • Eine orthodoxe Verschwörungstheorie ist ein von der Mehrheit der Bevölkerung, den Leitmedien oder anderen gesellschaftlich legitimierten Deutungsinstanzen anerkanntes Überzeugungssystem oder Erklärungsmodell entsprechender Art. Welche »Verschwörungstheorie« dabei jeweils in einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als orthodox und welche als heterodox zu gelten hat, ist eine ausschließlich empirisch (nicht aber normativ oder gar definitorisch) zu beantwortende Frage. Beide Kategorien stellen dabei letztlich Extrempunkte eines analytischen Kontinuums dar, auf dem empirisch untersuchte Fälle zu positionieren wären. Wenn wir im Folgenden von orthodoxen oder heterodoxen Verschwörungstheorien sprechen, ist dies entsprechend als relative (und temporäre) Positionierung eher an dem einen oder dem anderen Ende dieses Spektrums zu verstehen. VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN ALS SPEZIFISCHE FORM KOLLEKTIVEN WISSENS Aufgrund der enormen Heterogenität verschwörungstheoretischer Deutungen ist es schwierig, generell gültige Aussagen über sie zu machen. Mithilfe der wissenssoziologischen Perspektive, die gleichsam einen »Schritt zurück« tritt und sich nicht primär mit dem Wahrheitsgehalt und konkreten Inhalten von Verschwörungstheorien beschäftigt, sondern auf ihrer strukturellen Ebene nach ihrem »kleinsten gemeinsamen Nenner« sucht, können jedoch

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Verschwörungen — Analyse

14  Peter Berger u. Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 3. 15  Siehe auch Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten, S. 29 f.

einige übereinstimmende Merkmale herausgearbeitet werden. Erst eine solche fallübergreifende Komparatistik ermöglicht, Verschwörungstheorien als eigenständige Kategorie kulturellen Wissens zu beschreiben. Dieser Ansatz erlaubt auch eine allgemeinere Definition von Verschwörungstheorien, als sie bislang üblich gewesen ist: »Verschwörungstheorien stellen eine spezielle Formkategorie sozialen Wissens dar, in deren Zentrum Erklärungs- oder Deutungsmodelle stehen, welche aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretieren. Als gesellschaftlich konstruierte Wissensbestände, welche sich über Prozesse der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung konstituieren, erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion, menschliches Erleben und Handeln mit Sinn zu versehen.«16 Die psycho-soziale Hauptfunktion von Verschwörungstheorien besteht aus dieser Perspektive darin, Ereignisse und kollektive Erlebnisse sinnhaft deuten zu können, die ansonsten nicht in bestehende Weltanschauungen, Überzeugungen oder Sinnkonstruktionen integriert werden könnten. Dabei besteht phänomenologisch betrachtet kein grundlegender Unterschied zwischen orthodoxen und heterodoxen Verschwörungsdeutungen: Verschwörungen (wissenssoziologisch: orthodoxe Verschwörungstheorien) unterscheiden sich von Verschwörungstheorien zunächst einmal nur durch den Grad ihrer gesellschaftlichen Anerkennung. Während Erstere als »real« gelten, wird dies bei Letzteren von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder und – was noch wichtiger ist – den Wirklichkeitswissen verbreitenden Instanzen vehement bestritten. Mit anderen Worten: Ob sich hinter einer Verschwörungstheorie eine »reale Verschwörung« verbirgt oder nicht, wird letztlich diskursiv bestimmt, etwa in den Massenmedien. Dabei, und dies gehört untrennbar zu der hier konstatierten Dialektik von orthodoxem und heterodoxem Wissen, kann heute »reale Verschwörung« sein, was gestern noch als »abstruse Verschwörungstheorie« gegolten hat – und gelegentlich auch umgekehrt.17 Hinsichtlich der Entstehung von Verschwörungstheorien können im Rahmen dieses wissenssoziologischen Verständnisses einige sehr generelle Grundannahmen postuliert werden: Der konkrete Hintergrund für die Entstehung und Verbreitung einer Verschwörungstheorie kann bspw. eine politische Ideologie, ein spezifisches Weltbild, ein Ressentiment, aber eben auch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber (Meinungs-)Autoritäten, eine kri16 

Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten, S. 119.

17  Siehe Anton u. a., Einleitung, S. 15 f.

tische oder skeptische Grundhaltung oder schlichtweg der »gesunde Menschenverstand« sein. Daraus folgt, dass Verschwörungstheorien nicht nur negatives, sondern durchaus auch positives gesellschaftspolitisches Potenzial aufweisen können. Gesetzt den Fall, sie verfügen über ein Mindestmaß an Andreas Anton / Michael Schetsche  —  Konspirative Wirklichkeiten

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Plausibilität, sind sie nicht weniger richtig oder falsch als andere politische Deutungen. Natürlich ist wichtig, auf das Gefahrenpotenzial von Verschwörungstheorien hinzuweisen: Sie können – historische Beispiele lassen sich ausreichend finden – dazu genutzt werden, totalitäre Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Unterdrückung und Zerstörung zu rechtfertigen. Sie können Vorund Fehlurteile bestimmter Ereignisse begünstigen oder extreme politische Meinungen legitimieren. Andererseits können sie aber auch zur Aufdeckung tatsächlicher Verschwörungen dienen, Betrug oder Machtmissbrauch aufzeigen, auf ökonomische Manipulationen oder politische Korruption hinweisen. Sie können Verheimlichtes offenbaren, unterdrückte oder diskreditierte Meinungen transportieren und zuvor unbekannte Zusammenhänge offenlegen.18 Wir sprechen uns deshalb nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus gesellschaftspolitischen Gründen gegen eine pauschale Abwertung des Verschwörungsdenkens und insbesondere die damit vielfach einhergehende Pathologisierung der Protagonisten solcher Deutungen aus. Namentlich die bis heute sowohl die öffentliche als auch wissenschaftliche Debatte dominierende kognitive Defizitthese wird dem kulturellen Phänomen »Verschwörungstheorien« analytisch (und auch gesellschaftspolitisch) nicht gerecht. Ausgehend von der dargelegten wissenssoziologischen Konzeptualisierung des Phänomens scheinen es vielmehr vier interdependente Faktoren zu sein, die das Verschwörungsdenken in der Moderne maßgeblich beeinflusst haben und auch bis heute beeinflussen:19 Erstens: Das kulturelle Wissen um die Existenz realer Verschwörungen in Politik und Wirtschaft. Zu den gesellschaftlich anerkannten Wissensbeständen gehört, dass politische, militärische oder wirtschaftliche Verschwörungen immer wieder den Gang der Geschichte beeinflusst haben – sei es nun das erfolgreiche Mordkomplott gegen Julius Cäsar im Jahre 44 v. u. Z., das misslungene Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 oder die sogenannte Watergate-Affäre, die US-Präsident Nixon 1974 sein Amt kostete. Die Vorstellung erfolgreicher und gescheiterter politischer wie ökonomischer Verschwörungen ist grundlegender Bestandteil unseres kulturellen Wissens – und erhöht in den Augen vieler Menschen die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit weiterer Verschwörungen. Anders gewendet: Dadurch, dass Verschwörungen innerhalb unseres kulturellen Kontextes grundsätzlich im Bereich des Möglichen liegen, bleibt für von Menschenhand verursachte Ereignisse im Prinzip immer auch ein verschwörungstheoretischer Interpretationsspielraum. Zweitens: Das damit zusammenhängende generelle Misstrauen von Teilen der Bevölkerung gegenüber Rechtschaffenheit und demokratischer Einstellung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Machteliten. In den vergangenen

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18  Vgl. Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten, S. 53. 19  Siehe Anton u. a., Einleitung, S. 17 ff.

Jahrzehnten wurden immer wieder staatlich geförderte oder militärische Operationen bekannt (z. B. die sogenannte Gladio-Affäre20), die jeder demokratischen Legitimitätsgrundlage entbehrten und sowohl gesetzliche als auch ethische Verhaltensrichtlinien staatlicher Akteure missachtet haben. Darüber hinaus wurden immer wieder Komplotte innerhalb wirtschaftlicher Strukturen bekannt, bei welchen die beteiligten Akteure moralisch zweifelhaft oder schlichtweg kriminell gehandelt haben. So ist das Misstrauen von Teilen der Bevölkerung gegen das Handeln politischer und ökonomischer Eliten nicht nur analytisch nachvollziehbar (weil funktional) – sondern, um hier einmal gesellschaftspolitisch zu werten, vor einem demokratietheoretischen Hintergrund auch als sinnvoll zu betrachten. Drittens: Der Wunsch nach plausiblen Erklärungen gerade für unerwartete Ereignisse in der gesellschaftlichen Umwelt. Als unwahrscheinlich angesehene und deshalb die Subjekte kollektiv überraschende politische wie auch wirtschaftliche Entwicklungen oder Entscheidungen, die durch die von den Leitmedien angebotenen orthodoxen Deutungen – scheinbar oder tatsächlich – nur schwer zu erklären sind, erzeugen eine Nachfrage nach alternativen Erklärungsmustern und verstärken die Bereitschaft, diese als zutreffend zu erachten oder ihnen zumindest eine gleichrangige bzw. ähnliche Plausibilität zuzuschreiben. Letztlich können solche Alternativerklärungen sogar als realitätsgerechter erscheinen und kulturelle Gewissheiten erzeugen, die dem orthodoxen, in der traditionellen Öffentlichkeit dominierenden Verständnis politischer, sozialer und ökonomischer Wirklichkeit in mehr oder weniger großem Ausmaß widersprechen. Der Erklärungsgewinn der alternativen Wirklichkeitsbeschreibung ist dabei umso größer, je defizitärer die Erklärungskraft der orthodoxen Deutung ist und je unglaubwürdiger sie nach Alltagsplausibilitäten erscheint. Die Stärke (d. h. die Popularität) heterodoxer Deutungen wird mithin von der Schwäche orthodoxer Wirklichkeitsbeschreibungen verursacht. Viertens: Die Möglichkeit einer weitgehend unkontrollierten Verbreitung gesellschaftspolitisch abweichender (heterodoxer) Überzeugungen in den Netzwerkmedien. Das Internet erlaubt einen nahezu unbegrenzten Austausch hetero20  Siehe z. B. Daniele Ganser, NATO-Geheimarmeen in Europa: Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2008. 21  Vgl. hierzu Michael Schetsche, Wissenssoziologie sozialer Probleme, Wiesbaden 2000, S. 106.

doxer Interpretationen – die Abgrenzung der Produzenten von Konsumenten medialer Interpretationen ist in den modernen Netzwerkmedien obsolet geworden. Die Verbreitung entsprechender Inhalte findet in Echtzeit über den kompletten Globus hinweg statt und generiert Aufmerksamkeit für kulturell unerwünschtes oder gar verbotenes Material. Kontrolle und Prüfung des zur Verfügung gestellten Materials finden nur bedingt statt und bleiben, wenn überhaupt möglich, ohne großen Effekt.21 Die virtuelle Welt kennt so gut wie Andreas Anton / Michael Schetsche  —  Konspirative Wirklichkeiten

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keine Zensur. Aus diesen strukturellen Gründen stellt das Internet die perfekte Plattform für die Ausbreitung kulturell marginalisierter Informationen, heterodoxer Interpretationen und alternativer Beschreibungen von Wirklichkeit dar. Damit entsteht – erstmals in der Moderne – die Möglichkeit einer ergebnisoffenen Konkurrenz zwischen orthodoxen und heterodoxen Wissensbeständen und Wirklichkeitskonzepten. In ihrem Zusammenspiel bringen diese Faktoren nicht nur verschwörungstheoretische Deutungen aktueller oder historischer Entscheidungen, Ereignisse und Prozesse kollektiv hervor – sie entscheiden auch darüber, wo auf dem oben skizzierten Kontinuum zwischen orthodoxer und heterodoxer Verschwörungstheorie ein bestimmtes Deutungsmuster zu einem konkreten historischen Zeitpunkt seinen Platz findet. Abschließend bleibt zu bemerken, dass es in offenen Gesellschaften immer Kämpfe zwischen dominierenden und abweichenden Wirklichkeitsbestimmungen um Deutungshoheit geben wird. Gerade diese Kämpfe sind es aber, die einen erheblichen Teil der dynamischen Entwicklung des Wissens innerhalb von Gesellschaften ausmachen. Eine prinzipielle Negation abweichender Wissensformen käme einer wissenstechnisch gleichgeschalteten Gesellschaft gleich. Dies kann nach unserer Überzeugung kein Leitwert einer demokratischen Öffentlichkeit sein.22

Andreas Anton, M. A., Studium der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Kognitionswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Derzeit Promotion im DFG-Projekt »Im Schatten des Szientismus. Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken in der DDR«.

Prof. Dr. Michael Schetsche arbeitet als Forschungskoordinator am IGPP Freiburg und lehrt Soziologie und Kulturanthropologie an der Albert-LudwigsUniversität. Jüngste Publikation: »An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik«, Stuttgart 2015 (hg. zus. mit G. Mayer, I. Schmied-Knittel, D. Vaitl).

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22  Vgl. Andreas Anton, Verschwörungstheorien zum 11. September, in: Ders. u. a. (Hg.), Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 157–180, hier S. 178.

IM KLIMA DER GEFÜHLTEN DESINFORMATION VERSCHWÖRUNGSGLAUBE IN DER WELTANSCHAULICH-RELIGIÖSEN GEGENWARTSKULTUR ΞΞ Matthias Pöhlmann

Der Blick hinter den Vorhang des Weltgeschehens hat Menschen von jeher fasziniert. In einer globalisierten, hochtechnisierten und durch vielerlei Krisenherde erschütterten Welt artikuliert sich das Unbehagen an der Moderne in einem tiefen Misstrauen gegenüber Institutionen und Organisationen in Politik, Wirtschaft, Medien und Religion. Werden Fakten von Interessengruppen bewusst verschleiert oder gar unterdrückt? Wer sind die heimlichen Drahtzieher des Weltgeschehens? Heutiger Verschwörungsglaube speist sich aus unterschiedlichen Quellen und Motiven. In der Literatur wird er charakterisiert als »Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens« (K. Popper), als »Paranoia-Haltung« (D. Pipes) oder als Versuch einer Komplexitätsreduktion bzw. als Ausdruck diffuser Ängste. Eine neuere wissenssoziologische Studie definiert Verschwörungstheorien als »eine spezielle Formkategorie sozialen Wissens […], in deren Zentrum Erklärungs- oder Deutungsmodelle stehen, welche aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als Folge einer Verschwörung interpretieren«1. Verschwörungstheorien dienen dazu, »menschliches Erleben und Handeln mit Sinn zu versehen«2. Damit ist jedoch noch nichts über den Wahrheitsgehalt und die weltanschauliche Einbettung solcher Verschwörungstheorien ausgesagt. Im Folgenden soll hier zwischen Verschwörungsmythen in säkular und religiös bzw. esoterisch motivierten Varianten unterschieden werden. 1  Andreas Anton u. a., Einleitung: Wirklichkeitskonstruktion zwischen Orthodoxie und Heterodoxie – zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, in: Dies. (Hg.), Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden 2014, S. 9–25, hier S. 15. 2 

Ebd.

WER REGIERT DIE WELT? Verschwörungstheorien sind in der Geschichte stets wiederkehrende Versuche, hinter bestimmten Ereignissen heimliche Drahtzieher am Werk zu sehen. Damit ist der Anspruch verbunden, die wahren Hintergründe und Zusammenhänge zu durchschauen, die der Normalbevölkerung bewusst vorenthalten würden – sei es durch Täuschung oder durch gezielte Desinformationskampagnen. Oft werden diese Mythen mit einer Sündenbocktheorie

INDES, 2015–4, S. 43–50, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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verknüpft. Verschwörungstheorien können daher besser als Verschwörungsmythen bezeichnet werden. In der Vergangenheit ging es darum, Aggressionen gegen bestimmte Gruppen zu schüren, wie etwa die Juden oder die Freimaurer. Diese Gruppen waren oft die Hauptzielscheibe solcher säkularen, mit politischen Mythen angereicherten Verschwörungstheorien. Ihre Verbreitung ist eine Reaktion auf Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung, Ängste und Orientierungsprobleme. Vor allem verheißen sie dem Einzelnen einfache Antworten auf komplizierte politische Sachverhalte. Derjenige, der die angeblich wahren Zusammenhänge und Hintergründe durchschaut, avanciert zum selbsternannten Experten. In einer Verschwörungstheorie gibt es, ähnlich wie in einem individuellen Verfolgungswahn, letztlich keine Zufälle mehr: Alles hat einen geheimen (esoterischen) Sinn, und dieser ist wiederum auf das eigene Ich bzw. auf die Wir-Gruppe bezogen. Im eigentlichen Sinn handelt es sich bei Verschwörungstheorien um »in Regie genommene Ängste innerhalb einer Gesellschaft oder einer bestimmten Bezugsgruppe«3. Dass solche Verschwörungstheorien seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 besonders virulent geworden sind, ist kein Zufall. Neue technische Verbreitungsmöglichkeiten taten ein Übriges. »Das Internet hat sich in den vergangenen Jahren zu einer gewaltigen Empörungsmaschine entwickelt, einer Gerüchteschleuder, zu einem Propagandavehikel für jede noch so obskure Theorie. Die eingebildete Wahrheit verdrängt die Fakten, eine scheinbare Welt die Realität.«4 Zu dieser Einschätzung gelangt der Chefredakteur für alle digitalen Produkte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mathias Müller von Blumencron. Wahrheit und Lüge sind oft nur einen Mausklick voneinander entfernt. Das Verdrängen von Fakten ist das eine. Ob und inwieweit kruden Verschwörungstheorien Glauben geschenkt wird, das andere. »Wahrheit und Propaganda« – so hieß eine vierteilige Reihe zu Verschwörungstheorien des Wochenmagazins Die Zeit im Sommer 2015. Eine dafür in Auftrag gegebene Studie zum Medienvertrauen ergab, dass nur vier von zehn Deutschen »sehr großes« bzw. »großes Vertrauen« in die Medienberichterstattung hätten. Die überwiegende Mehrheit, rund sechzig Prozent, habe hingegen wenig oder gar kein Vertrauen.5 Das bei Pegida-Demonstrationen in Dresden skandierte Wort »Lügenpresse« scheint ein ebenso überzogener wie aggressiver Ausdruck für ein Empfinden zu sein, wonach – wie es die Gesellschaft für deutsche Sprache umschreibt – »ein System an seinem Volk vorbeiregiert und dessen Interessen nicht angemessen vertritt« und bestimmte Meinungen vom »System oder nicht näher bezeichneten ›Lügnern‹ unterdrückt werden«.6

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3  Rudolf Jaworski, Verschwörungstheorien aus psychologischer und aus historischer Sicht, in: Matthias Pöhlmann (Hg.), »Traue niemandem!« Verschwörungstheorien – Geheimwissen – Neomythen, EZW-Texte 177, Berlin 2004, S. 33–51, hier S. 39. 4  Mathias Müller von Blumencron, Unsere tägliche Desinformation, in: FAZ.net, 12.01.2015, URL: http://www. faz.net/aktuell/politik/das-internet-als-propagandavehikel-obskurer-theorien-13364530.html [eingesehen am 18.10.2015]. 5  Siehe Götz Hamann, Wer vertraut uns noch?, in: Die Zeit, 25.06.2015. 6  Gesellschaft für deutsche Sprache e. V., Pressemitteilung vom 7. Januar 2015, URL: http://gfds.de/volksverraeter-und-luegenpressedie-pegida-und-ihre-woerter [eingesehen am 07.10.2015].

Trotz vielfältiger Medien- und Informationsangebote über Fernsehen, Internet und Soziale Medien verstärkt sich bei vielen Menschen das Gefühl, dass bestimmte Nachrichten und Meldungen im Interesse der Regierung oder bestimmter Interessengruppen unterdrückt würden. Mehrere Internetportale wollen mit unzensierten Meldungen gegen dieses angebliche Meinungskartell, gegen die Political Correctness ansteuern. Mit der Digitalisierung der menschlichen Lebenswelt und der vielfältigen Möglichkeiten zur Kommunikation über Blogs, Internetforen und Soziale Medien gelingt den Betreibern eine ebenso rasante wie anonymisierte Verbreitung ihrer irrationalen Überzeugungssysteme. Ihr Kampf richtet sich gegen die herkömmliche Medizin, Impfbefürworter, die Medien und eine angebliche »Welteinheitsregierung«. WAHRHEITSBEWEGUNG, REICHSBÜRGER-BEWEGUNG Im öffentlichen Diskurs haben vor allem politisch motivierte, säkulare Verschwörungstheorien mittlerweile eine gewisse Bekanntheit erreicht – allen voran die sogenannte »Wahrheitsbewegung« zum 11. September (9/11 Truth Movement). Es handelt sich hierbei um eine Sammelbezeichnung für Gruppen und Initiativen in den USA. Sie ziehen geschichts- und naturwissenschaftliche Erklärungen der Terroranschläge vom 11. September 2001 ganz oder in wesentlichen Teilen in Zweifel und bieten stattdessen Alternativerklärungen an. Eine gemeinsame Basis bildet dabei die Überzeugung, die US-Regierung oder Teile davon seien heimlich an den Anschlägen beteiligt gewesen (»inside job«). Diese These hat auch hierzulande zahlreiche Anhänger und publizistische Multiplikatoren gefunden. Allerdings handelt es sich hierbei um eine uneinheitliche Bewegung, deren Anhänger recht unterschiedlichen Interessen folgen. So wird dort unter anderem die Chemtrails-Verschwörung verbreitet, wobei der Begriff »Chemtrails« bestimmte langlebige und teils in Gittern auftretende Kondensstreifen bezeichnet, die – so die konspirologische Hypothese – auf eine politisch motivierte Wettermanipulation schließen ließen. Viele gehen davon aus, dass die Welt von geheimen Mächten bzw. von einer kleinen Interessengruppe regiert wird. Die breite Bevölkerung sei unwissend und letztlich unkritisch. Die Wahrheitsbewegung bzw. diejenigen, welche die angeblich wahren Hintergründe durchschauen, betreiben alternative Medienportale mit angeblich unterdrückten oder zensierten »Fakten«. Das Themenspektrum reicht von Impfgegnern über Esoterik, Ufologie und alternative Medizin bis hin zur sogenannten Exopolitik – einer Denkrichtung, die von der Präsenz außerirdischen Lebens auf der Erde überzeugt ist. Eine weitere Variante säkularer Verschwörungstheorien zeigt sich bei der »Reichsbürgerbewegung«. Diese geht davon aus, dass die Bundesrepublik Matthias Pöhlmann  —  Im Klima der gefühlten Desinformation

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Deutschland ein unrechtmäßiger Staat sei. Das Deutsche Reich – so die Behauptung – bestehe in den Grenzen von 1937 fort und werde durch eine Kommissarische Reichsregierung ( KRR) oder Exilregierung des Deutschen Reiches vertreten. Unterschiedliche, miteinander oft konkurrierende Gruppen erheben aus finanzieller oder rechtsextremistischer Motivation den Anspruch, die Interessen des Deutschen Reiches zu vertreten und wahrzunehmen. Anhänger stellen selbst gestaltete Pässe, Baugenehmigungen und Führerscheine aus, organisieren Tauschringe und haben Fantasiestaaten gegründet wie das Fürstentum Germania im nördlichen Brandenburg, das Königreich Deutschland in Wittenberg oder Germanitien in Württemberg. Einzelne Initiativen und Gruppen werden inzwischen in Berichten der Landesämter für Verfassungsschutz erwähnt. BRAUNE ESOTERIK UND VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Vorherrschend bei einem religiös bzw. esoterisch motivierten Verschwörungsglauben sind oftmals anti-institutionelle Affekte: Sie wenden sich gegen alle organisierten Formen von Religion und damit auch gegen die Kirchen. Die moderne Esoterik ist mittlerweile zum festen Bestandteil heutiger Religionskultur geworden. Dabei handelt es sich um keine einheitliche Bewegung, sondern um ein eher marktförmiges Gebilde, das sich zwischen Wellness, Spirituellem und praktischer Lebenshilfe bewegt. Es partizipiert in besonderer Weise an kultur- und zivilisationskritischen Strömungen, die sich in ihrer rationalitäts-, wissenschafts- und religionskritischen Ausrichtung zu erkennen geben. In Teilen der Esoterik haben Verschwörungsmythen Konjunktur. Es handelt sich dabei um weltanschaulich-religiöse Überzeugungen und Einstellungen, die politische, okkult-esoterische und Science-Fiction-affine Elemente miteinander verbinden. Sie haben die Funktion, die vermeintlichen Feinde, die heimlichen Drahtzieher des Weltgeschehens, zu entlarven. Mit der publizistischen Verschwörungsindustrie ist ein von außen mittlerweile schwer zu durchschauendes Geflecht von Einzelpersonen, Initiativen, Verlagen und Internetaktivitäten entstanden. Ende der 1990er Jahre traten im Randbereich moderner Esoterik erstmals die braunen Flecken deutlich hervor. Das war kein Zufall. Jene Jahren waren durch gewaltige politische Verwerfungen geprägt: Der Zusammenbruch und das Ende des Kommunismus im Osten Europas und nicht zuletzt die veränderte Stellung der USA ließen neue Verschwörungstheorien entstehen. Sie beförderten Ängste vor einer drohenden Welteinheitsregierung durch die Vereinten Nationen und entsprangen dem verbreiteten Gefühl von Menschen, die sich vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlten. Für

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zusätzliche Verunsicherung in Europa sorgte die Einführung des Euro als neue Einheitswährung. Die wachsende Bedeutung der Europäischen Union als Beispiel für die weltweite Zunahme von supranationalen und intergouvernementalen Verbünden und die immer tiefer werdende Kluft zwischen Politik und Wählerschaft können als weitere Ursachen für esoterische Verschwörungstheorien betrachtet werden. Ende der 1990er Jahre tauchten esoterische Bücher auf, die eine »neue« Deutung der jüngeren deutschen Geschichte vornahmen. Kritiker bezeichnen diese Richtung als »rechte Esoterik«, »braune Esoterik« oder »antisemitische bzw. völkische Esoterik«. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass esoterische Auffassungen mit rechtsextremem Denken eine Kompatibilität aufweisen können. Dabei wird oft auf die inhaltliche Nähe esoterischer Überzeugungen zu Sozialdarwinismus, Ausleseprozess und dem ewigen Kampf zwischen Starken und Schwachen verwiesen. Der Reinkarnationsglaube führt im Einzelfall dazu, dass den Opfern die Schuld für ihr Schicksal zugeschrieben wird – mit der Konsequenz, dass die Täter letztendlich entlastet und die Opfer aufgrund »karmischer Verfehlungen« an ihrem Schicksal angeblich selbst schuld seien. Teilweise kommt es in diesem esoterischen Feld auch zu Vermischungen mit ufologischen Elementen. Dabei gehen die braun-esoterischen Autoren von der festen Überzeugung aus, dass Fakten von bestimmten Interessengruppen unterdrückt würden. Inzwischen hat sich ein unüberschaubares Netz von Einzelpersonen, Initiativen, Internetplattformen (Bewusst.TV, Jeet TV, Querdenken-TV), Verlagen und Kongressangeboten gebildet, über das gezielt verschwörungstheoretisches Gedankengut verbreitet wird. Eine maßgebliche Rolle für die Verbreitung kruder Verschwörungstheorien, Esoterik und Geheimpolitik spielt der Kopp Verlag mit Sitz in Rottenburg/Neckar. Er hat sechzig Mitarbeiter und versendet eigenen Angaben zufolge pro Tag zwischen 10.000 und 15.000 Bücher. Mit dem Slogan »Bücher, die ihnen die Augen öffnen« führt er Titel zu »verbotener Archäologie«, Prophezeiungen, Geheimbünden, freier Energie und neuen Wissenschaften. Im niederbayerischen Regen gibt es seit vielen Jahren den Regentreff. 1986 wurde er zunächst unter dem Namen UFO -Interessententreff gegründet. Rund 360 Besucher zählt der jährlich stattfindende Kongress, der zurzeit von Oliver Gerschitz geleitet wird. Ende Oktober 2015 wurde für dessen Vortrag über das sogenannte Philadelphia-Projekt geworben: »Oliver Gerschitz erklärt eindrucksvoll, dass diese Projekte von einer geheimen Macht aus dem Verborgenen gesteuert wurden. Ihre Ursprünge gehen zurück bis ins Deutschland der 1920er Jahre, wo bestimmte Gruppierungen Matthias Pöhlmann  —  Im Klima der gefühlten Desinformation

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durch Manipulation der vierten Dimension Verbindung mit außerirdischen Kräften suchten. Hier wurde modernste Wissenschaft mit höchstem esoterischem und okkultem Geheimwissen verbunden. In einer gezielt geplanten Aktion geschah das Unglaubliche. Man verursachte einen Riss in der RaumZeit. Dieser Riss bedroht nun den Fortbestand der menschlichen Spezies, da er die Übernahme unseres Planeten durch eine fremde außerirdische Intelligenz ermöglicht!«7 Jan Udo Holey alias Jan van Helsing (Jg. 1967), der wohl bekannteste wie auch umstrittenste Esoterik-Autor, hat das zweibändige Werk »Geheimgesellschaften« veröffentlicht, das 1996 als volksverhetzend vom Markt genommen wurde. Darin entfaltet er esoterische wie auch geschichtsrevisionistische Perspektiven. Holey hat insgesamt über ein Dutzend thematische Bücher zu Esoterik, Verschwörungstheorien u. a. unter seinem eigenen Namen wie auch unter seinem Pseudonym veröffentlicht. Heute betreibt er in Fichtenau den Amadeus-Verlag, der konspirologische und esoterische Bücher zu Geheimpolitik, Ufologie und Magie publiziert. Holey geht von der Theorie einer jüdischen Weltverschwörung durch die sogenannten Illuminati aus. Dabei soll es sich um eine jüdisch-freimaurerische Elite handeln, die im Hintergrund agierend faktisch die gesamte Weltwirtschaft kontrolliere. Als Beweis beruft sich Holey auf eine antisemitische Fälschung, die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion. In Holeys Werk kommt es zu einer Verknüpfung von neurechter Mythologie und Esoterik. Jo Conrad (Jg. 1958) ist ein weiterer esoterischer Autor, der mit verschiedenen konspirologischen Büchern insbesondere bei verschiedenen Aktivitäten und Initiativen hervorgetreten ist. Er knüpft in vielem an Holeys Thesen an. Gleichzeitig ist Conrad ein Anhänger der pseudowissenschaftlichen Germanischen Neuen Medizin. Seine regelmäßigen Botschaften, die er auch über Facebook verbreitet, empfangen über 8.000 Abonnenten. DIE MULTIMEDIALE VERSCHWÖRUNGSWELT DES IVO SASEK Eine besondere Mischung aus Verschwörungsglauben und radikalem Bibelglauben zeigt sich bei der umstrittenen Organischen Christus-Generation des Schweizers Ivo Sasek (Jg. 1956). Deren Zentrum befindet sich im Schweizer Walzenhausen. Dort finden auch die sogenannten Bemessungen statt. Damit soll überprüft werden, ob und inwieweit Christus schon in den Anhängern Gestalt gewonnen hat. Sasek vertritt zahlreiche radikale Sonderlehren und ist dazu übergegangen, auch außerchristliches Gedankengut wie die Karma- und Reinkarnationsvorstellung zu verbreiten. Zentral ist bei ihm der Gedanke der Unterordnung: So wie sich die Anhänger ihren geistlichen

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7  Regentreff, URL: http:// www.regentreff.de/oktober-2015 [eingesehen am 18.10.2015].

Führern, insbesondere Sasek, bedingungslos unterordnen, so sollen dies auch Kinder gegenüber ihren Eltern tun. »Mama, bitte züchtige mich!« heißt ein Buch, in dem zwei Söhne und eine Tochter Saseks empfehlen, Kinder zu züchtigen, um deren Willen zu brechen. Das Buch der ältesten Sasek-Kinder wird offiziell nicht weiter verbreitet. Sasek, ein gelernter Automechaniker, der sich 1977/78 zum christlichen Glauben bekehrt hatte, rief auch die sogenannte Anti-Zensur-Koalition (AZK) ins Leben. Sie dient seither als »Frontorganisation« zur Rekrutierung von Anhängern im Milieu der Wahrheitsbewegung. Im März 2015 fand der alljährliche AZK-Kongress mit rund 2.500 Besuchern statt. Neben Vorträgen zu angeblich unterdrückten Themen gab es auch den Beitrag »Stopp den Meinungsmachern«.8 Zu sehen war darin eine Szene mit menschlichen Marionetten, die von Presse, Rundfunk und Fernsehen gelenkt werden: »Die da oben sagen klar, was sei Lüge, was sei wahr. Leider denk ich nicht mehr frei, dank der Meinungsmacherei!« Saseks Kampf richtet sich auch gegen den Mobilfunk, der aus seiner Sicht eine »verschwiegene Gefahr« darstelle. In einer Broschüre zum Thema wendet er sich an »die Wissenschaftler, die vertuschen, an Politiker, die ignorieren, und an die Medien, die verschweigen«. Auf Klagemauer TV, einem weiteren Internetportal, suggeriert Sasek in einem Videobeitrag, bei der derzeitigen Flüchtlingshilfe in Europa könne es sich womöglich um eine gezielte »Schwächung und Destabilisierung der ganzen nicht amerikanisierten Welt« handeln. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden in einem Clip als die weltweit gefährlichsten Organisationen bezeichnet, da sie als sogenannte Mainstream-Medien »größtenteils zu willfährigen Handlangern von Kriegstreibern geworden« seien. ZWISCHEN ANGSTINDUSTRIE, ABGRENZUNG UND RADIKALISIERUNG Heutige Verschwörungstheorien sind Ausdruck und Symptom tiefgreifender Umbruchs- und Krisenzeiten. In ihnen artikulieren sich Verunsicherung, Angst und Enttäuschung. Sie sind auf Öffentlichkeit angelegt und finden rasche Verbreitung. Es gibt eine Angstindustrie, die aus dem gefühlten Klima der alltäglichen Desinformation mit der Verbreitung kruder Verschwörungstheorien Kapital zu schlagen vermag. Hinter den verschiedenen 8  Anti-Zensur-Koalition, Stopp den Meinungsmachern, URL: http://www.anti-zensur.info/ azkmediacenter.php?mediacenter=conference&topic=11 [eingesehen am 18.10.2015].

säkularen Verschwörungstheorien, wie etwa im Bereich der ReichsbürgerBewegung, stecken mitunter gezielt strategische bzw. rechtsextremistische Überlegungen. Der Verschwörungsglaube im religiös-weltanschaulichen Bereich dient dazu, sich von der als bedrohlich empfundenen Außenwelt Matthias Pöhlmann  —  Im Klima der gefühlten Desinformation

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abzugrenzen, vermeintliche Gegner zu identifizieren und die eigene Gruppenidentität zu stärken. Derjenige, der dies durchschaut habe, verfüge – so der esoterische Anspruch – über höhere Erkenntnisse und sei damit Teil einer wissenden Elite. Bei den vielfältigen Ausprägungen des Verschwörungsglaubens sind die jeweilige Motivation, die dahinter liegende weltanschaulich-religiöse Orientierung sowie die Stoßrichtung zu beachten. Verschwörungstheorien kommen nicht ohne Sündenbocktheorie aus. Ihre Unterstützung und Verbreitung führt daher auch auf antisemitisches Terrain. Auf die personellen wie ideologischen Verflechtungen im Milieu der Verschwörungsgläubigen wird in Zukunft genauestens zu achten sein.

Dr. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Kirchenrat, ist seit 2014 Beauftragter für Sekten- und Welt­ anschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München. Letzte Publikation (als Mitherausgeber): »Religiöse Gemeinschaften und Freikirchen«, Gütersloh 2015.

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RÜCKVERZAUBERTE RATIONALITÄTEN DIE SEHNSUCHT NACH DEM »WÄRMESTROM« ΞΞ Jöran Klatt

Im Jahr 1997 nahm das Hydrofon-Netzwerk der U. S. Navy ein mysteriöses Geräusch auf, das seinen Ursprung irgendwo im Südostpazifik zu haben schien. Wissenschaftler der in den Vereinigten Staaten zuständigen Behörde, der National Oceanic and Atmospheric Administration ( NOAA), begannen zu spekulieren: Handelte es sich bei dem Geräusch etwa um die Explosion eines Unterseebootes oder gar einen Bombentest? War es ein Experiment des Militärs, das die Regierung geheim halten wollte? Oder geschahen im Südpazifik Dinge, die bisher selbst dem amerikanischen Militär und der NOAA verborgen geblieben waren? Am ehesten vermuteten die Wissenschaftler zwar die Kollision eines Eisbergs mit dem Meeresboden; doch Dr. Christopher Fox von der NOAA wollte auf Nachfrage noch eine weitere Theorie nicht ganz ausschließen: Das Geräusch passe zu den Lauten eines sehr großen Tieres.1 Jedoch war – und ist – kein Tier bekannt, groß genug, das »Bloop« genannte Geräusch zu erzeugen. In den folgenden Jahren haben Hydrofone immer wieder unbekannte Laute aus den Tiefen des Pazifiks aufgenommen. Manche bekamen Namen, manche gute Erklärungen (meist Eisberge). Eines haben jedoch alle gemeinsam: Sie bieten Raum für Spekulationen und Forschungen, mindestens ein wenig auch Anlass zum Träumen und Gruseln. Immerhin ist das Meer, vor allem die Tiefsee, einer der letzten Räume, die sich fortwährend einer Totalüberwachung entziehen. Gut möglich also, dass in der schwarzen 1  Vgl. David Wolman, Calls from the Deep, in: New Scientist, Bd. 175 (2002), H. 2351, S. 26. 2  2005 gelangen einem Team um den Japaner Tsunemi Kubodera sogar die ersten Aufnahmen eines solchen Riesen; siehe hierzu: Tsunemi Kubodera u. Kyoichi Mori, First-ever observations of a live giant squid in the wild, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, Bd. 272 (2005), H. 1581, S. 2582–2586.

Tiefe noch so manche Faszinosa dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Möglicherweise kam der Bloop von einem Riesenkalmar. Dass es diese gigantischen Geschöpfe gibt, ist längst kein Seemannsgarn und auch keine Kryptozoologie mehr, wie das oft pseudowissenschaftliche Studium verborgener Tiere genannt wird.2 Doch Exemplare in Größen, die für den Bloop infrage kommen, sind auch unter Riesenkalmaren unbekannt. So lässt das Geräusch weiter Raum für allerlei Spekulationen, vor allem im Internet. Ein Ausflug ins Netz zeigt, dass sich dort die wenigsten mit der Eisberg-Hypothese zufriedengeben. Warum ist ausgerechnet das Netz, das doch eigentlich für die vermeintliche

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Schwarmintelligenz gefeiert und mit allerlei Erwartungshaltungen an den Fortschritt aufgeladen worden ist, ein Ort der anderen Erklärungen? Wem Spekulationen in der Art des Bloops gefallen, dem sei vor allem ein Ausflug auf das Video-Portal YouTube empfohlen. Dort gibt es schaurige und spannende Videos, die z. T. auf unterhaltsame Art gegen das wissenschaftliche Prinzip der Sparsamkeit verstoßen. Viele Videos sind Zusammenschnitte, in denen meist kreativ besorgtes Bild- und Videomaterial aneinandergereiht wird und ein Kommentator (überwiegend sind dies Männer) Fakten mit Spekulationen verbindet. So gibt es bspw. eine Top 5 der mysteriösen Unterwassergeräusche oder eine Top 5 mysteriöser Videos.3 Darüber hinaus gibt es unzählige Videos über Sichtungen von geisterhaften Entitäten, verborgenen Kreaturen, Yetis, Feen, Mottenmännern, Seeungeheuern, plötzlich verschwindenden oder auftauchenden Menschen bis hin zu – natürlich – zahlreichen nicht-identifizierbaren Flugobjekten. Solche Videos sind nicht selten unterlegt mit wabernder Spannungsmusik und erzeugen, je nachdem, wie weit man sich auf sie einlässt, entweder eine schaurige Schönheit oder einfach nur Unterhaltung und Komik. Das Internet scheint jedenfalls eine passende Plattform für Geisterjäger aller Art zu sein, was zunächst paradox anmutet: Denn anstelle einer fortschreitenden »Entzauberung der Welt«4, wie sie vom technologischen Überwachungszeitalter eigentlich ausgehen müsste, scheint sich die Welt der Dämonen und Fabelwesen, auch der Geheimnisse und Verschwörungen im digitalen Zeitalter sehr wohl zu fühlen. Was wir dort beobachten, wirkt zuweilen wie eine Rückverzauberung der Welt. 3  Vgl. 5 Most Mysterious Underwater Sounds Ever Recorded, URL: https://www.youtube. com/watch?v=ZZ4g5NVWaVw [eingesehen am 09.11.2015]; 5 Incredibly Mysterious & Unexplained Videos, URL: https://www.youtube.com/ watch?v=3IGkmtcTWhU [eingesehen am 09.11.2015]. 4  Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin 1984, S. 17. 5  Vgl. David Wilkes, Have Apple’s maps found the Loch Ness Monster?, URL: http:// www.dailymail.co.uk/news/ article-2607667/Is-THIS-LochNess-Monster-Apples-Mapssatellite-image-Nessie.html [eingesehen am 07.11.2015].

SCHAUER UND ÜBERWACHUNG Besonders auffällig ist die große Anzahl an Videos, die auf Aufnahmen von Überwachungskameras zurückgehen. Auf Satellitenbildern, die heutzutage über Google Earth oder Apple Maps einem großen Publikum zugänglich sind, glaubte schon so mancher das Ungeheuer von Loch Ness, andere Seeungeheuer oder aber geheime Projekte (der Nordkoreaner, der Chinesen usw.) entdeckt zu haben.5 Wenn Nessie und seine unheimlichen Kollegen sich den etlichen Touristen, Wissenschaftlern und Sonaruntersuchungen vor Ort bisher entziehen konnten, so die Hoffnung der Bilderjäger, so könnte ja eines dieser Wesen von einem Satelliten erfasst worden sein. Auffällig ist auch die Menge an Videos aus und über Russland. In den letzten Jahren hat die Präsenz nicht nur von öffentlichen Überwachungstechnologien, sondern auch von privaten Kameras nahezu überall auf der Welt zugenommen. Insbesondere die in Russland weitverbreitete Ansicht, dass die Jöran Klatt  —  Rückverzauberte Rationalitäten

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dortige Verkehrspolizei häufiger korrupt und deshalb bei Unfällen nicht immer Neutralität gegeben sei, hat dazu geführt, dass in zahlreichen russischen PKW nun eine fest installierte Kamera während der gesamten Fahrt aufzeich-

net. Nebeneffekt sind zahlreiche Videos spektakulärer Sichtungen wie etwa die eines Meteoritenabsturzes am 15. Februar 2013 bei Tscheljabinsk, aber auch z. T. mysteriöser Erscheinungen und nicht-identifizierbarer Kreaturen am Fahrbahnrand, oft nur für einen kurzen Moment und aus dem Augenwinkel. Angeblich ebenfalls aus Russland stammt ein Video, das eine merkwürdige, etwa zwanzig Meter große spinnenartige Kreatur zeigt, die an einem Mehrfamilienwohnhaus entlang klettert.6 Es ist längst als Fälschung entlarvt, aber an der großen Klickzahl ändert solch ein Malus in der Regel nichts. Manche der Bilder (womöglich sogar die meisten) mögen manipuliert sein; doch nichtsdestoweniger erzielen sie den Effekt, der von ihnen ausgehen soll. Bilder, zeigt das, sind »keineswegs nur Zeichen, Abbilder oder Illustrationen«, »sie entfalten eine ganz eigene Wirkungsmacht […]«.7 Die Verzauberung der Tiefsee in eine terra incognita liegt nahe. Und wenn Russland ebenfalls ein auffällig beliebter Ort für die Macher von Mystery-Videos ist, dann liegt das nicht nur an den kameratechnischen Schutzvorkehrungen der potenziellen Opfer polizeilicher Willkür. Wenn hier von Russland die Rede ist, dann ist damit vor allem eine Vorstellung davon gemeint. Dieses Russland ist ein mysteriöser Ort. Die kyrillischen Schriftzeichen, die nur von den wenigsten Bürgern des amerikanischen und europäischen Kulturraums beherrscht werden, bilden schon eine rein sprachliche Hürde. Kryptisch ist jedoch nicht nur die Sprache, sondern auch der russische Raum selbst. Der Historiker Jürgen Osterhammel hat den Prozess der Entzauberung Asiens als

6  Strange Creature Climbs Russian Building, URL: https:// www.youtube.com/watch? v=yRRDBaranLs [eingesehen am 09.11.2015].

einen Kernbestand moderner europäischer Identitätsbildung beschrieben.8 Worauf die Videos hindeuten, ist eine digitale Wiederkehr dieser kulturellen Anderswelt, die einen ungebrochenen ästhetischen Reiz auf Menschen aus dem europäischen Kulturraum auszuüben scheint. Russland ging nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als Kulturraum nicht eins zu eins im Westen auf, sondern blieb auf erstaunliche Art und Weise verschlossen. Die schiere Größe des flächenmäßig größten Landes der Welt, gepaart mit den sowjetischen Superbauten und dem bröckelnden Gigantismus der kommunistischen Architektur, fasziniert. Dieses Russland-Bild gestalten diverse Mammutprojekte, riesige Militärkomplexe, Funktürme sowie U-Boot-Hangars, die vor sich hin rosten und vom fantastischen Größenwahn einer kryptischen Supermacht zeugen. Solche Lost- oder auch Abandoned Places ermöglichen allerlei Projektionen des Andersartigen und auch des Unerklärbaren. Um sie ist inzwischen sogar eine Form von Abenteuertourismus entstanden.9

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7  Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 330. 8  Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 2010. 9  Vgl. Felix Stephan, Fenster zur ungeschönten Vergangenheit, in: SZ.de, 15.05.2012, URL: http://www.sueddeutsche.de/ kultur/urban-explorer-steigenin-verlassene-gebaeude-einfenster-zur-ungeschoentenvergangenheit-1.1355456 [eingesehen am 03.11.2015].

Der Philosoph Slavoj Zizˇek verweist auf das populäre Buch »Die Welt ohne uns« von Alan Weisman, in welchem dieser Vermutungen darüber anstellt, was mit der Erde passieren würde, wenn die Menschen unmittelbar verschwänden. »›Die Welt ohne uns‹ ist somit Phantasie in ihrer reinsten Form: dabeizusein, wie die Erde ihren Zustand der Unschuld vor der Kastration zurückgewinnt, bevor wir Menschen sie mit unserer Hybris verdorben haben. Die Ironie dabei ist, daß Weismans prominentestes Beispiel die Katastrophe von Tschernobyl und ihre Folgen ist; die überbordende Natur breitet sich auf die verfallenden Trümmer der nahe gelegenen Stadt Pripjat aus, die so, wie sie war, verlassen wurde.«10 Auch ohne dass die Menschheit tatsächlich verschwindet, gibt es also solche verlassenen Plätze, die eine ganz eigene Magie ausstrahlen und zu schaurig-schönen Sehnsuchtsorten werden können. Die Perspektive der Mystery-Jäger im Internet ist dabei das Vordringen zu diesen Orten durch Kameras. Der Blick, den sie erheischen, ist für sie offenbar nicht nur schauderhaft, sondern auch spannend, abenteuerlich, romantisch und aufregend. Die Technologie, in diesem Fall die Kamera, wird somit in der Postmoderne paradoxerweise zum Gesinnungsgehilfen des Vormodernen. Ein Blick ins Kino unterstützt diese These: Erstaunlich viele Horrorproduktionen der letzten Jahre haben mit den Möglichkeiten der in der Alltagskultur omnipräsenten Kamera zu tun. In »Chernobyl Diaries« (US 2012) jagen durch die Nuklear-Katastrophe mutierte Kreaturen die Protagonisten, die alles mit einer Handkamera filmen und einen ersten Blick auf die Kreaturen durch ein Foto erheischen. In »Trollhunter« (NO 2010) gerät eine Studentengruppe mit ihrer Kamera in die Abenteuer eines für die norwegische Regierung arbeitenden Trolljägers, dessen Aufgabe ist, die Existenz dieser Wesen im Norden des Landes geheim zu halten. In »Cloverfield« (US 2008) filmen Postadoleszente ihre Flucht vor dem Angriff eines gigantischen Ungetüms auf New York mit einer Handkamera.11 In den »Resident Evil«-Filmen (US 2002–2012) kehrt das Motiv der Überwachungskameras immer wieder, welche die Kreaturen und Zombies ankündigen, mit denen die Protagonisten noch zu tun bekommen werden. 10  Slavoj Zizˇek u. Nikolas Born, Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M. 2008, S. 53. 11  Vgl. Jöran Klatt, Das Monster von unten, in: Alexander Hensel u. a. (Hg.), Parteien, Protest und Populismus, Stuttgart 2015, S. 345–348, hier S. 348.

Während bei »Psycho« (US 1960) und »Jaws« (US 1975) die Kamera noch den Blick des Mörders und des Hais auf ihre Opfer inszeniert hatte, so scheint in den letzten Jahren der kurze, knappe Blick durch eine Kamera, die andeutet, aber nicht zu viel verrät, populärer geworden zu sein. Vor allem Steven Spielbergs Motiv aus »Jaws« wird hier weitergedacht, indem bewusst die Fantasie der Zuschauerin und des Zuschauers unterstützt wird. Der Archetyp dieses (post-)modernen Kamerahorrors ist »The Blair Witch Project« (US 1999), in Jöran Klatt  —  Rückverzauberte Rationalitäten

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welchem sich eine Gruppe junger Menschen im Wald mit einer Handkamera auf die Suche nach einer Hexe begibt. Der Film zeigt zwar gar keine Hexe, sondern nur die wackeligen Bilder von umherirrenden, verzweifelten Studenten, aber der Zuschauer füllt die Ereignisse dabei selbst aus. Und auch in der Realität sind es häufig vage Blicke, welche die Fantasie beflügeln. Als 1975 die Raumsonde »Viking I« die Region Cydonia Mensae auf dem Mars fotografierte, meinten viele Menschen auf der schlechten Aufnahme einer Formation ein Gesicht, damit auch vermeintlich den Hinweis auf eine künstlich geschaffene Struktur, zu erkennen. Das sogenannte Marsgesicht ist bis heute ein beliebtes Motiv in der Science-Fiction, aber auch ein gutes Beispiel für das Phänomen der Pareidolie, der menschlichen Eigenart, in Zufälligem gewohnte Strukturen erkennen zu glauben. MYSTERIÖSE MASSENKULTUR Das Kino zeigt, wie tief Mysteriöses und auch Verschwörungstheorien in der Massenkultur etabliert sind. In den 1990er Jahren war die Serie »The X-Files« (US 1993–2002), in der die Hauptfiguren Dana Scully und Fox Mulder Woche für Woche eben Mysteriöses und gigantische Verschwörungen aufklären mussten, äußerst populär. Seit Ende der 1990er Jahre wird ein anderer, subjektiverer Typus von Verschwörung beliebter: der Konstruktivismushorror. Den Anfang machte die »Truman Show« (US 1998), deren Protagonist Truman Burbank nicht weiß, dass sein ganzes Leben nichts weiter als der Hauptbestandteil einer Reality-Unterhaltungsshow ist. Ein weiteres Beispiel ist »The Village« (US 2004), in welchem ein ehemaliger Geschichtsprofessor ein autarkes Dorf errichtet. Die Bewohner werden in dem Glauben gehalten, in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu leben. Um den Einflusskreis des Dorfes und der näheren Umgebung gegen die Neugierde der darin gefangenen Menschen abzusichern, täuschen der Professor und seine Gehilfen Dämonen vor, die angeblich in den umliegenden Wäldern lebten. Mit diesen gäbe es einen Status Quo, demzufolge sie die Menschen in Ruhe ließen, wenn diese ihre Wälder nicht beträten. In der »Matrix« (US 1999) ist die Realität eine von Maschinen erzeugte Simulation. Wie bei den Ungeheuern, die von Google Earth oder der Handkamera verfolgt werden können, ist die Technologie dabei gleichzeitig Gesinnungsgehilfe der Verschwörer wie auch möglicher Ausweg. Immerhin ist Neo, der Held, der in »Matrix« den Kampf gegen die Maschinen aufnimmt, zunächst ein Hacker. Im »Village« wirkt die symbolische Ordnung mit den Ungeheuern für einen Teil des Films erstaunlich akzeptabel. Bis sich herausstellt, dass es sich bei

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den Wesen nur um ein rational erklärbares Täuschungsmanöver handelt, ist der Zuschauer durchaus bereit, zumindest kurz, für die Zeit des Zuschauens, die Existenz dieser Wesen, auch einen eventuellen Pakt mit ihnen, zu akzeptieren. Verstörend wird der Film hier nicht durch die vermeintliche Existenz dämonischer Wesen, sondern durch die Möglichkeit, in einer künstlichen Welt neben der echten zu leben und diese letztendlich zu verpassen. In »2012« (US 2009) wird der nahestehende Untergang der Erde von einem Verschwörungstheoretiker angekündigt, der so ziemlich alle Klischees erfüllt. Ein Einsiedler, der seit Jahren Informationen sammelt, sich darüber dem sozialen Leben, den Konventionen und der Körperhygiene weitgehend entzogen hat, warnt den Helden vor der bevorstehenden Katastrophe, auf die sich die Regierungen der Welt insgeheim schon vorbereiten. Die Ironie liegt darin, dass der offensichtliche Verschwörungstheoretiker hier sogar recht behält und damit dem Helden und dessen Familie das Leben rettet. Humorvoller dagegen ist »Iron Sky« ( FIN/D/AU 2012). Der Film persifliert zahlreiche Verschwörungstheorien, indem er sie einfach verfilmt. In »Iron Sky« kehren die Nazis im Jahr 2018 auf die Erde zurück, nachdem sie sich 1945 auf die dunkle Seite des Mondes zurückgezogen haben. Auf der Erde verbünden sie sich dann mit der US-Präsidentin in deren Wahlkampf. Das Motiv der verborgenen Nationalsozialisten, die sich entweder auf die dunkle Seite des Mondes oder in die hohle Erde (Hollow-Earth-Hypothese) zurückgezogen haben, geht zurück auf die Verschwörungstheorie der Reichsflugscheiben, angeblich von den Nazis erbauten geheimen Luftfahrtzeugen. Filme wie »Iron Sky« zeigen, wie der Modus der Ironie das Kino als Medium der gesellschaftlichen Metareflexion nutzt. »2012«, »Truman Show«, »Matrix« und »The Village« stehen für eine tiefsitzende Angst unserer Zeit, die längst politisch geworden ist. In den Filmen wird die Normalität schwer erschüttert und infrage gestellt. Somit entsteht eine Entfremdung vom Mainstream aus der Angst heraus, von diesem im Stich gelassen zu werden. Ein solcher Vertrauensverlust zeigt sich auch in der Realität. WIDERSPRÜCHLICHE RATIONALITÄTEN In jüngster Zeit findet die Verschwörungstheorie über »Chemtrails« vermehrt Anhänger. Diese geht davon aus, dass die eigentliche Ursache von Flugzeugen hervorgerufener Kondensstreifen Chemikalien sind, die aus den verschiedensten Gründen in die Erdatmosphäre eingebracht werden. Dabei zeigt sich vermehrt ein Effekt, der »Galileo-Gambit« genannt wird. Dieser meint eine Immunisierung von VertreterInnen einer Theorie durch die Kritik an eben dieser. Das Argument geht so: Galileo wurde dafür kritisiert, dass er eine mit Jöran Klatt  —  Rückverzauberte Rationalitäten

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der allgemein anerkannten Theorie in Widerspruch stehende Theorie vertrat. Aber hatte er nicht recht? Daraus folgt dann der logische Fehlschluss, dass auch die eigene Theorie, wie eben jene Galileos, nur aufgrund ihrer Opposition (und nicht der mangelnden Falsifizierbarkeit) kritisiert wird. Die Journalistin Jodi Dean hat darauf hingewiesen, dass es im Konflikt zwischen akzeptierter wissenschaftlicher Meinung und Pseudowissenschaften oder Verschwörungstheorien (ihr Beispiel ist die UFO-Community) oftmals die Wissenschaft sei, die mit einem autoritären Tonfall auftrete, während umgekehrt aufseiten der Pseudowissenschaften die Referenz auf Fakten wichtig sei: »›Scientists‹ are the ones who have problems with the ›rationality‹ of those in the UFO community. ›Scientists‹ are the ones who feel a need to explain why some people believe in flying saucers, or who dismiss those who do so as ›distorted‹ or ›prejudiced‹ or ›ignorant‹.«12 VerschwörungstheoretikerInnen, UfologInnen, Mystery-JägerInnen ist also nicht alleine mit den Mitteln der Rationalität beizukommen. Sie sehen sich selbst entschieden auf der Seite selbiger. Der Konflikt gründet vielmehr auf sich widersprechenden Rationalitäten. Der Philosoph Ernst Bloch hat einst einen Nebeneffekt der Modernisierung beschrieben: Die Aufklärung habe sich, so Bloch, zu sehr auf harte Fakten, Technik und Beschleunigung – er bezeichnet das als »Kältestrom« – konzentriert, dabei jedoch das Emotive, die gesellschaftlichen Befindlichkeiten – den »Wärmestrom« – vernachlässigt. Die Folge sei eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die längst nicht vor jenen haltmache, die in den urbanen Lebenswelten der Moderne fest verwurzelt seien: »Die Bauern glauben zuweilen noch an Hexen und Hexenbanner, doch längst nicht so häufig und stark wie eine große Schicht Städter an die gespenstischen Juden und den neuen Baldur. Die Bauern lesen zuweilen noch das sogenannte sechste und siebente Buch Mosis, eine Kolportage gegen Krankheiten im Stall, auch über die Kräfte und Geheimnisse der Natur; doch der halbe Mittelstand glaubt an die Weisen von Zion, an Judenschlingen und Freimaurer-Symbole allüberall, an die galvanischen Kräfte des deutschen Bluts und Meridians.«13 Der Attraktivität von Verschwörungstheorien kann also womöglich nicht einfach mit dem Verweis auf deren Verrücktheitsgrad begegnet werden. Mit Verweis auf ebenjene Rationalitätsfortschritte, im Zuge derer aus dem mythischen Riesenkraken von einst das kategorisierte und entzauberte Tier ­Architeutis dux geworden ist, glauben auch Chemtrail-VertreterInnen an die hinter ihrem Mythos liegende Wahrheit. Das Internet ist dabei der Ort der

12  Jodi Dean, Aliens in America. Conspiracy Cultures from Outerspace to Cyberspace, Ithaca 1998, S. 9.

Teilrationalitäten geworden. Und das Kino zeigt, wie im »Zeitalter der Simulation« (Jean Baudrillard) die Grenze zwischen Realem und Gemachtem schwindet. Der Soziologe Roger Caillois hat dieses paradoxe Phänomen

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13  Ernst Bloch, W ­ erkausgabe. Bd. 4. Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 109.

bereits 1973 anhand des Kraken-Mythos beschrieben: »Im 19., mehr noch im 20. Jahrhundert, wo der Rationalismus, die Wissenschaft und die Technik triumphieren, wird die Mythologie zu neuen Ausdrucksweisen gezwungen: illustrierte Zeitschriften in hoher Auflage, Film und Fernsehen verbreiten vielfältige Phantasmagorien, die nicht unbedingt als solche empfunden werden: Sie gehören zweifellos dem fiktionalen Bereich an, profitieren aber von der vagen Leichtgläubigkeit, die der Welt des Phantastischen gemeinhin entgegengebracht wird. Der Riesenkrake ist da selbstverständlich auch vertreten […]. Gleichzeitig verbreitet die neue Blüte von auf Vermutungen beruhenden Pseudowissenschaften, die von den wirklichen Wissenschaften das Vokabular übernehmen, hybride Mythologien.«14 Für die Fans des Schriftstellers H. P. Lovecraft, einem frühen Horrorliteraten und Vertreter der Romantik, liegt indes auf der Hand, wer den Bloop verursacht hat. Das Geräusch wurde schließlich nicht weit entfernt von der in seinen Romanen beschriebenen Unterwasserstadt R’lyeh aufgenommen. Gleichermaßen ironisch wie leidenschaftlich vertreten Fans von Lovecraft daher die These, es könne sich bei den Geräuschen aus der Tiefe nur um 14  Roger Caillois, Der Krake. Versuch über die Logik des Imaginativen, München 1986, S. 93.

den mythischen Gott Cthulhu handeln, der in dieser Tiefe ruhe, bis er eines Tages wiederauferstehe. Diesen Literaturfans ist klar, dass der Bloop und seine Verwandten Cthulhus Rufe sind – gleichgültig, ob dieser Glaube letz-

15  Siehe H. P. Lovecraft, Chthulhu’s Ruf (Kabinett der Phantasten), Hannover 2013.

ten Endes lediglich von einer Sehnsucht nach dem Fantastischen und einem gestauten Wärmestrom zeugt.15

Jöran Klatt, geb. 1986, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kulturtheorie, Semiotik und Wissensgeschichte.

Jöran Klatt  —  Rückverzauberte Rationalitäten

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NATIONALE ERZÄHLUNGEN UND PARTEIENWETTBEWERB IN DEUTSCHLAND VON PROFILLOSIGKEIT, HEIMATVERLUST UND VERSCHWÖRUNGSVORWÜRFEN ΞΞ Holger Onken

Die gegenwärtigen Diskussionen über den Zustand der Parteiendemokratie in Deutschland sind in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich. Einerseits wird die Profillosigkeit der Parteien beklagt. Andererseits werden innerparteiliche Konflikte, die zu einer Profilbildung beitragen könnten, als Nachteil im politischen Wettbewerb angesehen. Zwischenparteiliche Konflikte, sofern sie sich auf politische Sachfragen beziehen, werden häufig als unnötiger Parteienstreit zurückgewiesen oder – seltener – als Inszenierungen gedeutet, die lediglich dazu dienten, Unterschiede zwischen den Parteien zu simulieren, die in deren politischem Handeln jedoch keine nennenswerte Rolle spielten.1 Und in der Tat: Durch den konsensuellen Gleichklang der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in zentralen Politikdimensionen entsteht der Eindruck, die Würfel seien von vornherein gefallen. Man hat sich darauf verständigt, dass Deutschland in gesellschaftspolitischen Fragen offen, bunt und tolerant zu sein hat und dass alle bedeutenden ökonomischen Fragen der Wettbewerbsfähigkeit des Landes unterzuordnen sind. Wenn man so will, gibt es in gesellschaftspolitischen Fragen öffentlich einen linksliberalen Konsens (wenn es konkret wird, stellt sich die Frage allerdings meist neu); in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik scheint es dagegen einen rechtsliberalen Konsens zu geben (auch wenn vielfach das Gegenteil behauptet wird). Im vermeintlichen Widerspruch dazu ermittelt die moderne Politikwissenschaft mit anspruchsvollen Methoden große Unterschiede zwischen den verschiedenen Wahl- und Parteiprogrammen der konkurrierenden Parteien.2 Das Problem dabei ist, dass diese für das politische Handeln kaum mehr relevant sind. Zudem sind diese Differenzen insbesondere zwischen den Volksparteien fast nur noch in einzelnen Sachfragen zu erkennen. An die Stelle ehemals konsistenter Weltanschauungen, die von den politischen Lagern repräsentiert wurden, ist ein »Ideologiemukefuck«3 getreten, dessen Fragmente von den politischen Vertretern mit strategischem Kalkül jeweils

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INDES, 2015–4, S. 60–72, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

1  Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008. 2  Vgl. Marc Debus, Die programmatische Entwicklung der deutschen Parteien auf Bundesund Landesebene zwischen den Bundestagswahlen 1998 und 2005, in: Frank Brettschneider u. a. (Hg.), Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfs und der Wahlergebnisse, Wiesbaden 2007, S. 43–63. 3  Franz Walter, Ruhe im Sturm? Deutungsverlust und Demokratieschwund in der Krise, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 3 (2013), H. 1, S. 6–12.

situationsangemessen serviert werden. Die ideologischen Leitplanken für das Handeln der Regierung bilden Sachzwangargumente einer alternativlosen Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und einer wünschenswerten Toleranz, die aber nichts kosten darf und ihrerseits an Nützlichkeitserwägungen orientiert ist. Auf der Basis dieses Einvernehmens dreht sich der politische Elitendiskurs routiniert um Detailfragen politischer Inhalte und um die Taktiken der Parteien im politischen Tagesgeschäft. Diese Routine ist jedoch in jüngster Zeit häufiger gestört worden. Die politischen Beobachter und das interessierte Publikum blicken verwundert auf die zunehmenden Eruptionen, die sich aus der Gesellschaft heraus immer öfter in das etablierte politische Kräftefeld ergießen und die eingespielte Harmonie stören. Politisch wirksam werden sie insbesondere dann, wenn sie auf das Parteiensystem ausstrahlen. Seien es der Aufstieg, kurzzeitige Höhenflug und alsbaldige Absturz der Piratenpartei 2011/12 oder der zwischenzeitliche Erfolg der AfD, der durch deren Spaltung ebenfalls binnen Kurzem infrage gestellt scheint – wobei die Flüchtlingskrise der Partei gerade wieder neue Zustimmung verschafft. Schon früher haben sich weitere Veränderungen in der Parteienlandschaft gezeigt, die mittlerweile aber wieder aus dem Blickfeld der politischen Beobachter geraten sind. Zu nennen sind hier die in einigen Bereichen erfolgreiche Westausdehnung der Linkspartei nach 2005 sowie die Erfolge der Freien Wähler bei bayrischen Landtagswahlen seit 2008. Vergleichsweise wenig Beachtung finden zudem die in der Tendenz immer weiter sinkende Wahlbeteiligung und der sukzessiv zunehmende Stimmenanteil für Kleinstparteien, die (bisher) außer in Kommunalversammlungen und im Europäischen Parlament kaum über Chancen auf parlamentarische Repräsentation verfügt haben. Ein weiterer Punkt sind die zunehmenden Schwankungen, denen die Wahlergebnisse auf allen Ebenen unterliegen. Diese Veränderungen könnten die Vorboten sein für weit größere Umwälzungen im deutschen Parteiensystem, die sich in anderen westeuropäischen Ländern bereits viel deutlicher abzeichnen. »DU BIST DEUTSCHLAND« – EINE HEGEMONIALE SUGGESTION Die bisher zaghaften Veränderungen der deutschen Parteienlandschaft finden vor dem Hintergrund von Diskussionen um einen zunehmenden Glaubwürdigkeitsverlust der gesellschaftlichen Deutungseliten, insbesondere der politischen Elite, und der immer häufiger verschmähten »Mainstreammedien« statt. Bisher ist diese Kritik überwiegend in gesellschaftlichen Nischen ertönt. In zahlreichen Internetforen und Blogs machen politisch Interessierte und Aktive, die sich dem scheinbar immer noch breiten Konsens verweigern, Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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ihrem Ärger schon seit geraumer Zeit Luft. Mittlerweile aber hat der Protest auch die Straße erreicht (Pegida, Mahnwachen, Blockupy). Sicher, aus der dahinterstehenden Unzufriedenheit wird sich wohl keine einheitliche Protestbewegung entwickeln können. Zu heterogen, teilweise sogar gegensätzlich sind die politischen Vorstellungen und Ziele der Protestler. Sie reichen von Nationalisten und Rechtsextremen, die im Islam ein Symbol ihrer Überfremdungsangst gefunden haben, über Libertäre, die einen zunehmenden Marxismus in Europa entdeckt haben wollen, der vor allem vermittels des Zentralbanksystems in Wirtschaft und Gesellschaft hineinwirke, bis hin zu linken System- und Kapitalismuskritikern. Hinzu kommen noch Ad-hoc-Proteste gegen einzelne Großprojekte wie Stuttgart 21 oder im Rahmen grundsätzlicher Fragen, etwa im Fall des Freihandelsabkommens TTIP. Gegensätze finden sich zudem nicht nur zwischen den unterschiedlichen Protestgruppen; teilweise sind diese auch in sich gespalten. Diese Entwicklung ist offenbar Ausdruck einer gesellschaftlichen Differenzierung, die sich, vermittelt über eine zunehmende Zahl sozialer Milieus, auch politisch auswirkt.4 Viele kleine Gruppen sehen ihre Spezialinteressen von den Parteien nicht mehr hinreichend repräsentiert. Gemeinsamkeiten finden sich lediglich in einer tiefsitzenden Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungsprozessen und den zentralen Akteuren des politischen Systems; das Gefühl, von den politischen Eliten übergangen worden zu sein, ist häufig das einzig Verbindende zwischen diesen Gruppen. Angela Merkel scheint bisher, jüngsten Verlusten bei den Umfragewerten zum Trotz, weit weg von all dem zu sein. Ein aus kleineren Segmenten der Gesellschaft geäußerter Unmut kann weiter ignoriert werden, weil und solange er die Mehrheitsfähigkeit der Kanzlerinnenpartei nicht bedroht. Ein Anschwellen des Protestes aber könnte Merkels Machtposition, die durch die starke Stellung des Kanzlers im Grundgesetz und den angesprochenen, medial vermittelten Elitenkonsens getragen wird, perspektivisch sehr wohl 5

gefährlich werden. Die spürbare Unzufriedenheit in Teilen der Gesellschaft ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Das Bröckeln des Konsenses zwischen einem wachsenden Teil der Gesellschaft und den Eliten sowie das Ausfransen der Parteienlandschaft haben viel tiefer gehende Ursachen. Das deutsche Parteiensystem ist offenbar immer weniger in der Lage, seine Aufgabe als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den gesellschaftlich vorhandenen Vorstellungen und Bedürfnissen auf der einen und dem Regierungshandeln auf der anderen Seite zu erfüllen. Die dahinterstehenden Probleme sind nicht nur auf Kommunikationsprobleme zwischen den Parteien und den Wählern zurückzuführen;

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Verschwörungen — Analyse

4  Vgl. Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der FriedrichEbert-Stiftung, Bonn 2007. 5  Habermas etwa spricht von den »merkelfrommen Medien«; vgl. dazu Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie – Kleine Politische Schriften XII, Berlin 2013. Zum Verhältnis deutscher Journalisten zur Politik der Kanzlerin siehe auch George Packer, The quiet German, in: New Yorker, 01.12.2014, URL: http://www.newyorker.com/ magazine/2014/12/01/quiet-german [eingesehen am 04.11.2015].

ebenso handelt es sich dabei um eine Wahrnehmungsstörung oder eine besondere Verdrängungsleistung der Deutungseliten: Der gesellschaftliche und politische Pluralismus und die zunehmend offen zutage tretenden Konflikte passen nicht zusammen mit dem hegemonialen Harmoniebedürfnis der führenden Politiker, Journalisten, politikberatenden Wissenschaftler und Vertreter von Verbänden, die für sich in Anspruch nehmen, »ganz Deutschland« zu vertreten. Der politische Streit ist einerseits zunehmend fragmentiert, andererseits gibt es keine fundamentalen Streitpunkte mehr zwischen den beiden großen Parteien. Ernsthafte Versuche widerstreitender Parteien, eine kulturelle Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis durchzusetzen, bleiben aus. Eigentlich sollten sich die politischen Agenten unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen darum bemühen, die eigenen Werte und Interessen als Gemeinwohl darzustellen.6 Unter demokratischen Wettbewerbsbedingungen ginge es in einer solchen politischen Auseinandersetzung darum, die eigenen grundsätzlichen politischen Vorstellungen mehrheitsfähig zu machen. Stattdessen wird der anschwellende Protest durch das Ausbleiben eines Konfliktes auf der Grundlage prinzipieller Gegensätze konkurrierender politischer Eliten genährt. Die Deutungseliten aus den beiden ehemaligen politischen Lagern und weiten Teilen der Medien sind politisch und sozial gewissermaßen verschmolzen. Sie vertreten gemeinsam die hegemoniale Vorstellung der Stunde: Die Erzählung vom harmonischen Erfolgsmodell Deutschland, das wegen eigener Verdienste im weltweiten Wettbewerb so gut dasteht. Diese Erzählung darf keinesfalls Kratzer erhalten. Wer sie infrage stellt, gilt schnell als Nestbeschmutzer. Damit ist der Gegensatz zwischen den politisch-gesellschaftlichen Eliten insgesamt und dem Volk an die Stelle eines Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen politischen Ideen konkurrierender Eliten getreten. Aus der Mischung einer Entkopplung zwischen der Bevölkerung und seiner Führungsschicht einerseits, der großen inhaltlichen und habituellen Nähe der Eliten untereinander andererseits ergibt sich ein erhebliches Demokratiedefizit. Eine solche Entkopplung ist dabei prinzipiell weder neu noch auf Deutschland beschränkt. Auch ein Grundkonsens konkurrierender politi6  Vgl. Nigel Greaves, Resisting Abstraction: Gramsci’s Historiological Method, in: International Gramsci Journal, Jg. 4 (2011), H. 3, S. 37–56.

scher Eliten ist normaler Bestandteil von Demokratien.7 In beiden Fällen ist jedoch mittlerweile das Ausmaß problematisch. Einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hat der erfolgreich durchgesetzte wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel: Die im Grundsatz vorhandene Einigkeit der etablierten Parteien über die Unvermeidbarkeit neo-

7  Vgl. Pierre Bourdieu, Schriften zur politischen Ökonomie 2, Konstanz 2010.

liberaler Reformen in Staat und Gesellschaft wurde von allen machtpolitisch relevanten Führungsgruppen spätestens mit der Agenda 2010 hergestellt. Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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Dass diese Position unzweifelhaft richtig ist, wird von Wissenschaftlern, Journalisten, wirtschaftlichen Eliten und der politischen Führung immer wieder bestätigt. Ein mehr oder weniger geschlossener Personenkreis befindet sich in einer Art Selbstvergewisserungsspirale und wendet sich dabei mit der immer gleichen Botschaft an das Publikum. Kritiker bekommen zu dem entsprechenden Mediendiskurs nur dann Zugang, wenn es darum geht, einen gewissen Unterhaltungswert aufrechtzuerhalten. Diese auf sozialen und machtpolitischen Strukturen basierenden Entwicklungen bilden einen fruchtbaren Nährboden für einen zunehmenden Verschwörungsglauben. Die Umsetzung der Agenda-Politik, von der rot-grünen Bundesregierung 2003 initiiert, war zwar ein einschneidendes Ereignis, doch die Entfremdung zwischen Eliten und Bevölkerung hatte schon vorher begonnen. Ein oftmals übersehenes Ergebnis der Implementierung neoliberaler Reformen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten ist, dass zumindest einer beachtlichen Minderheit die Darstellung eines prosperierenden Deutschland durch die politische und gesellschaftliche Führungsschicht wie eine Erzählung aus einer statistischen Parallelwelt erscheinen muss. Exemplarisch trifft dies für das neue Dienstleistungsproletariat zu, das in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist. Diese Gruppe verdient trotz einer beruflichen Inanspruchnahme, die über eine Vollzeitbeschäftigung hinausgeht, durchschnittlich tausend Euro. Sie umfasst zwölf bis 15 Prozent der Arbeitnehmer – und damit ist nur eine Teilgruppe der prekär Beschäftigten erwähnt.8 Gegenwärtig ist lediglich ein kleiner Teil dieser ökonomisch und sozial benachteiligten Gruppen politisch gebunden, deutlich überproportional neigen sie zur Wahlenthaltung.9 Das muss jedoch nicht so bleiben – ein Umstand, der in den Zentralen der etablierten Parteien für einiges Kopfzerbrechen sorgen sollte. DIE WÄRMENDE SONNE DES KALTEN KRIEGES Den Referenzrahmen für die Diskussionen um die Folgen des gesellschaftlichen und politischen Wandels und der darauf beruhenden Veränderungen der deutschen Parteienlandschaft bildet die nach wie vor stabilste Phase der politischen Entwicklung in der übersichtlicheren alten Bundesrepublik. Zwischen 1961 und 1983 waren nur drei Parteien im Deutschen Bundestag vertreten. Die Unionsparteien und die Sozialdemokraten bildeten als große

8  Vgl. Heinz Bude, Wutbürger. Die Koalition der Angst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.2015.

Sammlungsbewegungen zugleich die gegensätzlichen politischen Pole in der Bundesrepublik ab. Sie entfalteten eine Integrationskraft, die alle größeren gesellschaftlichen Gruppen erfasste und jeweils in eine weitläufige Weltanschauungsgemeinschaft integrierte. Auf der sozialdemokratischen Seite standen insbesondere Arbeiter, Gewerkschaftler, Intellektuelle und die

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Verschwörungen — Analyse

9  Armin Schäfer u. a., Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013. Studie der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2013.

Bevölkerung in den großen Städten; auf der christdemokratischen Seite Gewerbetreibende, Konservative, praktizierende Christen und die Landbevölkerung. Aufgrund ihrer inneren Gegensätze waren diese Koalitionen aus gesellschaftlichen Gruppen innerhalb der beiden großen politischen Parteien durchaus nicht frei von Konflikten. Dennoch wurde der gesellschaftliche Wandel, der auch in dieser Zeit stattfand – man denke an die 68er-Bewegung, die Bildungsexpansion, die zunehmende Kirchenferne weiter Bevölkerungsteile, den ökonomischen Strukturwandel –, scheinbar mühelos von den großen Parteien absorbiert. Neben den beiden Volksparteien (CDU und CSU dabei als eine Partei gerechnet) konnte in diesem Zeitraum lediglich die FDP überleben. Die FDP hatte in dieser Phase des gemäßigt bipolaren Parteiensystems10 die Aufgabe einer Funktionspartei übernommen, die sich jeweils in eines der beiden Lager integrierte und diesem dadurch zu einer Mehrheit verhalf. Sie verkörperte in einem gewissen Maße auch den gesellschaftlichen Wandel in dieser Entwicklungsphase der Bundesrepublik, indem sie sich in den späten 1960er Jahren von der wirtschaftsliberalen FDP mit einem starken nationalliberalen Flügel zur sozialliberalen F.D.P. transformierte und eine Koalition mit der SPD einging – um gut zehn Jahre später, erneut als wirtschaftsliberale Partei, abermals eine Koalition mit der CDU/CSU zu bilden. Bei allen Gegensätzen, Konflikten und der teilweise aufgeheizten gesellschaftlichen Atmosphäre in dieser Phase: Letztlich waren sich beide politischen Lager darin einig, den Sozialstaat auszubauen und den liberalen Rechtsstaat zu erweitern. Bis heute ist die Sehnsucht nach dieser Überschaubarkeit und Beständigkeit inklusive des Zugehörigkeitsgefühls zu einer politischen Richtung, das auch und gerade aus der vehementen Polarisierung zwischen den großen Parteien bei gleichzeitiger Beachtung demokratischer Spielregeln resultierte, weitverbreitet. Die Stabilität, die mit einem beinahe stetigen Wirtschaftswachstum und zunehmender sozialer Sicherheit einherging, war aber nur unter besonderen Voraussetzungen möglich. Solch eine überschaubare Konfliktsphäre konnte nur unter den Bedingungen der bipolaren Welt entstehen und andauern. Der reinen Existenz der Systemalternative des real existierenden Sozialismus wohnte der Zwang zum sozialen Kompromiss in der freien Welt inne. Im Falle Deutschlands kam die Teilung hinzu. Sie sorgte dafür, dass eine Vielzahl von gesellschaftlichen Konflikten, die noch im Kaiserreich und in der 10  Vgl. Wolfgang Rudzio, Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 116 f.

Weimarer Republik politisch relevant gewesen waren, gewissermaßen suspendiert wurden oder in dem neuen politischen Kräftefeld in der Bundesrepublik aufgingen. Der Kalte Krieg und die Bürde, dass die Befreiung vom Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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Nationalsozialismus nur durch äußere Mächte möglich gewesen war, ferner die grundlegenden Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland hatten diese Entwicklung ermöglicht. Die skizzierte Konstellation begünstigte seinerzeit das heute mystisch verklärte Wirtschaftswunder und die Herausbildung der von Helmut Schelsky attestierten »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Auch wenn letztere nicht annähernd realisiert wurde, konnte doch ein gewisser Ausgleich zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten geschaffen werden, die verbliebenen und z. T. erheblichen Unterschiede wurden zumindest übertüncht.11 Die Rentenpolitik, die Bildungsexpansion und eine weitgehend vereinheitlichte umfassende Gesundheitsversorgung wurden von beiden politischen Lagern getragen. Trotzdem reichte die verbliebene Polarisierung zwischen den Parteien aus, um den stabilisierenden Effekt einer politischen Selbstvergewisserung innerhalb der traditionellen sozialen Gruppen zu erzeugen und auf diese Weise das bipolare Parteiensystem zu stabilisieren. Die egalisierende Wirkung dieser Phase lebt in der Vorstellungswelt vieler bis heute weiter, sie hat aber immer weniger mit der sozialen Wirklichkeit zu tun. Die politischen Folgen eines solchen gesellschaftlich-ökonomischen Wandels werden meist nur langsam wirksam. Wenn sich soziale Gruppen neu formieren, hat das oftmals zur Folge, dass sich ehemals stabile politische Orientierungen allmählich auflösen. Politisch Heimatlose, die sich in einer schwierigen sozialen Lage oder in großen Unsicherheiten befinden, können sich aber in kurzer Zeit politisch neu orientieren. Davon dürften insbesondere Parteien profitieren, die außerhalb des Elitenkonsenses stehen. POLITISCHE KONFLIKTE UND HEGEMONIALE ANSPRÜCHE Die wirtschaftliche, soziale und politische Stabilität der Bundesrepublik war keineswegs selbstverständlich. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 hatte 11  Vgl. Joachim Raschke, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Die politischen Parteien in Westeuropa, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 12–45. 12  Vgl. Jürgen W. Falter, Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 22 (1981), H. 3, S. 236–263.

es noch so ausgesehen, als würde die Reise direkt zurück nach Weimar gehen. Im ersten Bundestag waren elf Parteien vertreten. Es zeigte sich eine hohe Kontinuität der politischen Ausrichtung der im Bundestag vertretenen Parteien zum Weimarer Reichstag von 1928. Diese Wahl gilt als letzte, die noch den Weimarer Normalzustand abgebildet hatte, bevor der kometenhafte Aufstieg der NSDAP das Ende der Republik einleitete.12 Die bundesrepublikanische Parteiendemokratie begann sich jedoch bereits in den 1950er Jahren zu konsolidieren. Dies geschah insbesondere durch die Integrationsleistung der Unionsparteien, die viele der kleineren sonstigen Par-

13  Vgl. Karl-Heinz Naßmacher, Parteien im Abstieg, Opladen 1989.

teien regelrecht »aufsaugten«.13 Ein charakteristisches Merkmal der Weimarer Republik blieb jedoch erhalten: Wesentliche Teile der Bevölkerung stimmten Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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weiterhin im Einklang mit ihrer politisch-psychologischen Disposition bzw. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe für eine bestimmte Partei. Um die Bedeutung einer solchen Disposition zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Genese der politischen Parteien. Die Entstehung von Parteien ist auf Konflikte zurückzuführen, die in der gesellschaftlichen Tiefenstruktur verankert sind. Diese von Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset14 als Cleavages bezeichneten Konflikte führen zu einer nachhaltigen Politisierung von Teilen der Sozialstruktur, bei der soziale Gruppen Koalitionen mit politischen Parteien bilden. Parteien verkörpern Ideologien, die letztlich Vorstellungen davon sind, was die die jeweilige Partei tragenden, politisch und soziologisch definierten Bevölkerungsgruppen für eine wünschenswerte Gesellschaft halten. Parteiprogramme sind vor diesem Hintergrund Destillate, die von den Parteien in ihrer Funktion als »Interessenagenturen« jeweils für bestimmte soziale Gruppen entwickelt worden sind. Die Modernisierungs- und Demokratisierungstheorie von Rokkan und Lipset enthält einen weiteren Aspekt, der von ihren Urhebern aus der historischen Perspektive beobachtet worden, aber dennoch auf die gegenwärtige Situation übertragbar ist: Die von randständigen bzw. durch gesellschaftlichen Wandel neu entstandenen sozialen Gruppen an die etablierten Eliten herangetragenen politischen Anliegen werden von diesen anfangs häufig als verschwörerisch zurückgewiesen. Erst wenn die neuen Forderungen eine »Schwelle der Legitimation« überschreiten, werden sie im politischen Prozess vollständig anerkannt. Im Zuge einer damit verbundenen konflikthaften Situation kann es zur Gründung einer neuen politischen Partei kommen; insbesondere wenn die etablierten politischen Kräfte die Tragweite des betreffenden Anliegens nicht erkennen. Möglicherweise greift auch eine bereits bestehende Partei mit Außenseiterstatus die Forderungen auf. In Deutschland begann die Institutionalisierung der Parteien um 1870. Die organisatorischen Ausprägungen der Parteien und die Formen ihres Zusammenhalts mit den sozialmoralischen Milieus,15 die sie repräsentierten, variierten dabei zwischen den vier großen politischen Richtungen (Katholiken, Sozialisten, Liberale, Konservative). Bei den Katholiken war die Bindung an die Zentrumspartei am stärksten; die Bindung der (nicht-katholischen) Arbeiter an die Sozialisten war etwas schwächer. Konservative Wähler (insbesondere die protestantische Landbevölkerung, Teile des Bürgertums und der Adel) verfügten dagegen nur über geringe Bindungen an eine Partei. Bei den zudem in Links- und Rechtsliberale gespaltenen Liberalen waren sie am schwächsten ausgeprägt. Diese fanden ihre Wähler im Wesentlichen im protestantischen Bürgertum.

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Verschwörungen — Analyse

14  Seymour Martin Lipset u. Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 1–64. 15  Vgl. M. Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Gerhard A. R ­ itter (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 56–80.

Das politische Machtzentrum im Kaiserreich stützte sich auf dieses protestantische Bürgertum und den Adel – die Bevölkerungsteile also, die am wenigsten an Parteien gebunden waren. Diese Konstellation hatte zur Folge, dass die Politisierung gesellschaftlicher Interessen bis zum Ersten Weltkrieg von der unpolitischen bürgerlichen Kulturromantik preußisch-protestantischer Provenienz, ihrem Militarismus und autoritären Moralvorstellungen, die eben in diesen Gruppen vertreten wurden, überlagert wurde.16 Politisierte Interessen sozialer Klassen und religiöser Gruppen wurden als illegitim angesehen. Die Aussage Wilhelms II. unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, steht symbolisch für diese Haltung. Die Ablehnung von Parteien durch große Teile der gesellschaftlichen Eliten blieb in der Weimarer Republik bestehen, Teile der politischen Kultur des Kaiserreichs lebten weiter. Politische Unterschiede traten nun aber aufgrund der Demokratisierung durch die weitergehende Parlamentarisierung des politischen Systems deutlicher zutage. Die weitergeführte politische Mobilisierung durch die linken Klassenparteien SPD und KPD sowie das Zentrum als Konfessionspartei hatte zur Folge, dass die tradierten hegemonialen Vorstellungen aus dem Kaiserreich viel stärker infrage gestellt wurden als noch vor dem Ersten Weltkrieg. Auch der Zugriff auf die Machtstrukturen war aufgrund der Mehrheitsverhältnisse unter demokratischen Bedingungen nicht mehr nur den alten Eliten vorbehalten. Ein Zustand, mit dem sich viele nicht abfinden mochten. Aufgrund der unversöhnlich-gegensätzlichen politischen Vorstellungen befand sich die Republik in einem Krieg mit sich selbst17 – eine traumatische Erfahrung, die sich bis heute auswirkt. Unmittelbar trugen diese Konflikte – oder genauer gesagt: die Unfähigkeit, damit umzugehen – zu einer anderen Entwicklung bei. In der krisenhaften Situation nach 1930 konnte die NSDAP als »Sammelpartei des nicht-katholischen, nicht-sozialistischen Lagers«18 reüssieren. Die rechtskonservative Deutsch Nationale 16  Vgl. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1974. 17  Vgl. Fritz Stern, Five Germanys I have known, in: European Review, Jg. 10 (2002), H. 4, S. 429–445. 18  Jürgen Falter u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 120.

Volkspartei ( DNVP) und die beiden liberalen Parteien verloren zwischen 1924 und 1930 etwa drei Viertel ihrer Wähler an die Nationalsozialisten. Als sich herauskristallisierte, dass sich die hegemoniale Dominanz der unpolitischen Kulturromantik des protestantischen Bürgertums in der Weimarer Republik nicht aufrechterhalten ließ, wandten sich große Teile der Bevölkerung, vor allem die nicht-katholischen Mittelschichten, der völkischrassistischen Hegemonie des Dritten Reiches zu. Die völkische Harmonie wurde im Vergleich zur demokratischen Auseinandersetzung als bessere Alternative angesehen. Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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UNSER NEUER NATIONALISMUS HEISST WETTBEWERBSCHAUVINISMUS Eine hegemoniale Erzählung, die einen offensiven Nationalismus beinhaltet, ist in Deutschland aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für lange Zeit nicht mehr vertretbar gewesen. Diese Haltung ist offenbar mittlerweile weitgehend verblasst. Seitdem die Finanz- und Wirtschaftskrise mit Bravour gemeistert zu sein scheint, stimmt ein breiter Chor in den Gesang der nationalen Selbstvergewisserung mit zugleich lehrmeisterlichen Klängen gegenüber den europäischen Krisenländern ein. Die wirtschaftliche Stärke, die vermeintlich ausschließlich auf eigene Verdienste zurückzuführen ist, bildet die Grundlage hierfür. Widerspruch gegenüber der herrschenden Lehre ist die Ausnahme. »Kritische Stimmen [werden] kaum gewürdigt, vielmehr als Irrmeinung abgetan – von Journalisten gemeinsam mit Unternehmern, Wissenschaftlern und Politikern in einem nationalen Schulterschluss. Gleichzeitig stimmen selbst linksliberale Zeitungen und Zeitschriften ein Hohelied auf die sogenannte deutsche Handwerkskunst an, auf deutsche Organisation oder auf deutsche Präzisionsarbeit, ohne zu erklären, was in diesem Kontext ›deutsch‹ zu bedeuten hat.«19 Diejenigen, die diese Sichtweise ohne Unterlass vertreten, scheinen noch nicht einmal zu erkennen, dass sie einem zunehmend aggressiven Nationalismus aufsitzen. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf, wird diese Rolle der AfD zugeschrieben. Dabei handelt es sich bei den Deutsch-Alternativen lediglich um einen etwas offensiveren Ausläufer der eigenen Position. Die damit verbundene Grundhaltung scheint in der angeblich unpolitischen gesellschaftlichen Mitte durchaus zu verfangen. Die nachlassende Bindung an die traditionellen politischen Lager macht viele nur noch anfälliger für nationalistische Erzählungen, die auch von den etablierten Parteien – mehr oder weniger – zunehmend vertreten werden. Zugleich wird die Darstellung von einem weltoffen bunten und toleranten Deutschland von den Deutungseliten im öffentlichen Diskurs aufrechterhalten. Welche Blüten das paternalistische Herrschaftsverhältnis zwischen Regierten (gemeint sind die Deutschen) und Regierenden (gemeint sind die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten, nicht jedoch allein die Bundesregierung!) noch treiben wird, hängt wesentlich davon ab, wie lange sich die positive wirtschaftliche Entwicklung und die Illusion eines »Wir ziehen alle an einem Strang«-Deutschland aufrechterhalten lassen. Sollte diese nationale Erzählung konjunkturzyklisch oder Crash-ähnlich zu einem Ende kommen, könnten die Protest-Rinnsale beträchtlich anschwellen.

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Verschwörungen — Analyse

19  Klaus Hödl, Falsches Selbstbewusstsein führt zu Pegida, in: Deutschlandradio Kultur, 19.01.2015, URL: http:// www.deutschlandradiokultur.de/ neuer-deutscher-nationalstolzfalsches-selbstbewusstsein.1005. de.html?dram:article_id=309035 [eingesehen am 04.11.2015].

Die Politikwissenschaft leistet gegenwärtig kaum einen Beitrag, die diskutierten Phänomene und Entwicklungen zu erklären. Dabei bestünde für die Profession hier die Chance, eine Aufgabe wahrzunehmen, die über das vermeintlich wertfreie Messen von Kompetenzen und Positionen im luftleeren Raum hinausgeht. Politischer Wandel verlangt immer nach einer Einordnung. Für die Sinnhaftigkeit empirischer politikwissenschaftlicher Analysen ist die Berücksichtigung historischer Hintergründe unerlässlich. Nur so lassen sich die Ursachen politischen Protests und dessen Wirkungen verstehen und verorten. Ob die unpolitische Kulturromantik des Kaiserreichs, mitsamt Militarismus und autoritären Moralvorstellungen, die weit in die Weimarer Republik hineinreichte; die Erfahrungen mit den unüberbrückbaren politischen Vorstellungen und Konflikten in der Weimarer Republik selbst; der völkische Rassismus der nationalsozialistischen Zeit; das heute mystisch anmutende Wirtschaftswunder, das einen relativ weitgehenden sozialen Ausgleich ermöglicht hatte – all diese identitätsstiftenden hegemonialen nationalen Erzählungen und historischen Erfahrungen haben Spuren hinterlassen, die bis heute fortwirken. Neuerdings wird nun die eigene wirtschaftliche Stärke nach außen getragen. Statt die in dieser Situation auch in Deutschland vorhandenen sozialen Verwerfungen zu erkennen und abzubauen, werden anderen Ländern ihre Defizite aufgezeigt. Dieser mit z. T. rassistischen Vorurteilen vorgetragene Wettbewerbschauvinismus ist nach außen und innen brandgefährlich. Bedenklich ist dabei, dass sogar diese im politischen und publizistischen Mainstream verortete Haltung mit einigem Erfolg von rechts kritisiert wird. In einem solchen Umfeld entsteht ein politisches Klima, das alle sozialen, ökonomischen und politischen Konflikte innerhalb Deutschlands als illegitim erscheinen lässt. Die Unterschiede zwischen den Volksparteien, die gerade diese einst ausgemacht haben, verschwinden beinahe vollends. Aus dieser vermeintlich konfliktfreien Sphäre heraus entwickelt sich in vielen gesellschaftlichen Nischen politischer Protest, der von den Deutungseliten, die etablierten Parteien eingeschlossen, als geradezu unverschämt empfunden wird. Im Umgang mit dem unerwünschten Protest lassen sich unterschiedliche Strategien beobachten. Gegenüber dem dezidiert rechten Protest, der mit teilweise irrationalen und menschenfeindlichen Behauptungen aufwartet und es fertig bringt, das gegenwärtig vorherrschende nationale Narrativ noch als links anzusehen, schwankt man zwischen schroffer Zurückweisung und nachsichtigem Aufklärungswillen. So gestehen führende Politiker der meisten Parteien etwa den Pegida-Demonstranten – ausgenommen sind hier lediglich die Organisatoren der Demos – immer noch den Status des »besorgten Holger Onken  —  Nationale Erzählungen und Parteienwettbewerb in Deutschland

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Bürgers« zu. Dezidiert linker Protest, der die Erzählung der nationalen Erfolgsgeschichte als unfair infrage stellt, etwa indem auf prekäre Lebenslagen als Nebenwirkung der ökonomischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verwiesen wird, und der die asymmetrische politische und ökonomische Machtsowie Ressourcenverteilung beklagt, wird ignoriert oder ins Lächerliche gezogen. Wobei diese Zurückweisung immer von Personen ausgeht, die kaum jemals in die Nähe einer prekären Lebenslage kommen. Privilegierte stellen ihre Privilegien nun einmal selten selbst infrage. Offenbar ist ein Diskurs notwendig, der nicht nur den Eindruck vermittelt, es gäbe etwas zu besprechen. Es wäre nicht überraschend, wenn ein solcher Diskurs von der gesellschaftlichen Elite und ihrer Entourage als verschwörerisch zurückgewiesen würde.

Dr. Holger Onken, geb. 1971, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er hat zum Thema Parteien und Parteiensysteme promoviert. Weitere Forschungsinteressen sind insbesondere politische Partizipation und Wirtschaftspolitik.

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POLEN VATERLAND DER VERSCHWÖRUNGSAPOSTEL? ΞΞ Julia Walter »Das, was zu sehen ist, ist nur eine Illusion für die Naiven, die Realität spielt sich hinter den Kulissen, in geheimen Hinterzimmern ab. Dort werden die Entscheidungen getroffen […], die der Nation Leid durch Fremde oder die eigenen Leute zufügen. […] Das ist vielleicht die Quintessenz seiner politischen Vision, ein wirkliches Credo: Umso mehr die Existenz einer unsichtbaren Welt sich nicht beweisen lässt, umso wahrscheinlicher wird sie.«1 ´ KACZYNSKI GEGEN DIE »LÜGENELITEN« Auf diese Weise beschrieben die Journalisten Mariusz Janicki und Wieslaw Wladyka im Oktober 2015 die Weltsicht von Jaroslaw Kaczyn´ski, dem Vorsitzenden der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Sie taten das in der Absicht, ihren Lesern wenige Tage vor der Parlamentswahl zu vergegenwärtigen, was ein Wahlsieg der nationalkonservativen Partei K ­ aczyn´skis für Polen bedeuten würde: die Abkehr von »dem berechenbaren Modell der liberalen Demokratie hin zu den Ideen und Obsessionen eines einzigen ­Menschen«2. Genützt haben diese Warnungen bekanntermaßen nicht viel. Seit dem Wahltermin verfügt die PiS als erste Partei in der Geschichte der Dritten Polnischen Republik über eine absolute Mehrheit der Mandate im Sejm. Und obwohl die zurückhaltende Beata Szydlo das Amt der Regierungschefin übernommen hat, sind sich doch alle politischen Beobachter einig, dass Parteigründer Kaczyn´ski der eigentliche Strippenzieher der Regierung sein wird. Damit spricht einiges dafür, dass Verschwörungstheorien in der polnischen Politik demnächst wieder Hochkonjunktur haben werden. Denn Kaczyn´ski schöpft seine politische Legitimation nahezu ausschließlich aus der permanenten Mobilmachung des eigenen Lagers gegen vermeintliche Gefahren und Bedrohungen von außen. Während der ersten Regentschaft der PiS in den Jahren 2005 bis 2007 – damals freilich noch in einer Koalitionsregierung – 1  Mariusz Janicki u. Wieslaw Wladyka, Kaczyn´ski: tak – nie, in: Polityka, 20.10.2015. 2  Ebd.

richtete sich das Misstrauen der PiS vor allem gegen den von ihr so betitelten uklad. Dieses geheime Bündnis aus Nachrichtendiensten, Politikern und Wirtschaftsbossen mit meist volksrepublikanischer Vergangenheit sei zwar »bereits benannt, aber noch nicht überwunden« und lenke deshalb weiterhin

INDES, 2015–4, S. 73–79, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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»die politischen, wirtschaftlichen und in gewissem Sinne auch die sozialen« Geschicke Polens, bedauerte Kaczyn´ski im Jahr 2006.3 Intellektuelle Zweifler an der These vom uklad diffamierte seine Partei gerne als »Lügeneliten«. In den vergangenen Jahren war es dann vor allem die These von einem gezielten Anschlag feindlicher Kräfte, welcher das Flugzeug des polnischen Staatspräsidenten und Kaczyn´ski-Zwillingsbruders Lech im russischen Smolensk zum Absturz gebracht habe. Der Präsident und die Erste Dame seien einem perfiden Attentat zum Opfer gefallen und die polnische Regierung trage nichts zur Aufklärung dieses Verbrechens bei, lautete die gängige Erzählung der PiS. Im zurückliegenden Wahlkampf schließlich fokussierte sich Kaczyn´ski Paranoia vorwiegend auf muslimische Flüchtlinge und die europäischen Feinde Polens, die den Zuzug unerwünschter Fremder nach Polen erzwingen wollten. In einer Parlamentsdebatte nach dem europäischen Flüchtlingskompromiss, bei dem Polen anders als die restlichen Visegrád-Staaten einer quotierten Verteilung von 120.000 Flüchtlingen zugestimmt hatte, bezichtigte Kaczyn´ski die damals noch liberal geführte Regierung eines Bruchs »der Verfassung, der Bürgerrechte und der Souveränität Polens«. Schließlich sei klar, was dem Land nun bevorstehe: Zuerst steige die Zahl der Immigranten, dann würden diese die Werte und Gesetze Polens missachten und in einem dritten Schritt ihren angestammten Lebensstil »aggressiv und gewalttätig« auch den alteingesessenen Polen aufdrücken. Überall in Westeuropa lasse sich die Verachtung der Muslime für die Werte der aufnehmenden Gesellschaften beobachten. In Schweden etwa gebe es inzwischen 54 Zonen, in denen statt der schwedischen Verfassung die Scharia gelte. Schülerinnen könnten dort nicht mehr in kurzer Kleidung den Unterricht besuchen. Und auch das Hissen der Landesflagge sei wegen des darauf abgebildeten Kreuzes nicht länger angstfrei möglich. In Bezug auf die europäischen Politiker, die Polen zuvor zu mehr Solidarität in der Flüchtlingsfrage ermahnt hatten, sprach Kaczyn´ski von einer »Diffamierungskampagne«, die von »den Todfeinden Polens, Menschen, verrückt vor Hass auf unser Land«, geführt werde. Trotz des geringen Substanzgehalts solcher Behauptungen sprachen bei der Wahl 37 Prozent der Urnengänger der PiS ihr politisches Vertrauen aus. Zählt man die Stimmen hinzu, welche die ebenfalls rechtspopulistisch argumentierenden Kandidaten Pawel Kukiz und Janusz Korwin-Mikke auf sich vereinigen konnten, stimmte sogar jeder zweite Wahlteilnehmer für eine Partei, die ihr politisches Lebenselixier hauptsächlich aus der Verbreitung von Verschwörungstheorien zieht.

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Verschwörungen — Analyse

3  Michal Karnowski u. Piotr Zaremba, O dwóch takich. Alfabet braci Kaczyn´skich, Warszawa 2006, S. 22.

Die deshalb naheliegende Frage, ob unsere östlichen Nachbarn besonders empfänglich für politische Paranoia sind, lässt sich laut Krzysztof ­Korzeniowski dennoch nicht ganz so einfach bejahen. Die Studien des Sozialpsychologen weisen vielmehr darauf hin, dass es weltweit und auch milieuübergreifend eine große Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien gibt. Nachweislich überproportional ausgeprägt sei in Polen hingegen die Bereitschaft des Individuums, sich als Anhänger einer konkreten Verschwörungstheorie zu outen und diese offensiv zu artikulieren. In den etablierten Demokratien Westeuropas gelte der Glauben an unsichtbare Netzwerke oder geheime Komplotte demgegenüber als politisch inkorrekt oder schlichtweg naiv.4 Dabei ist das Schmieden von Komplotten, Intrigen und geheimen Bündnissen einem erfolgreichen Politiker wohl keineswegs wesensfremd. Bereits in feudalen Zeiten gehörten Verschwörungen und Verrat zu den selbstverständlichen Begleiterscheinungen der Macht. Und selbst in intakten Republiken üben Lobbyisten oder graue Eminenzen erheblichen politischen Einfluss aus, ohne dafür aus demokratischen Legitimationsquellen schöpfen zu können. HISTORISCHES TRAUMA Dass die Polen diesen nach außen oft unsichtbaren, zumindest aber schwer durchschaubaren Strukturen der Macht besondere Bedeutung beimessen, mag in der bewegten Geschichte der polnischen Nation begründet liegen. Zwischen 1795 und 1918 war Polen aufgrund der Teilungen zwischen Preußen, Österreich und Russland von der Landkarte verschwunden. Nach einer nur kurzen Phase der staatlichen Souveränität in der Zwischenkriegszeit fiel Polen dann im Jahr 1939 dem Hitler-Stalin-Pakt zum Opfer, bevor es infolge der Konferenzen von Jalta und Potsdam nicht nur seine Ostgebiete, sondern für über vier Jahrzehnte auch seine politische Eigenständigkeit an die Sowjetunion verlor. Jahrhundertelang waren Verschwörungen anderer Nationen gegen Polen somit keine autosuggestiven Imaginationen, sondern eine ebenso prosaische wie brutale Alltagesrealität. Insbesondere die wiederholte Erfahrung des Verrats durch die beiden großen Nachbarn im Westen und im Osten ist ein wichtiger Bestandteil der kollektiven polnischen Identität. So sind sich auch die nachwachsenden Generationen der geografischen Schicksalslage ihres Landes bewusst, auch wenn sie Polen längst als selbstverständlichen 4  Siehe Jolanta Chylkiewicz, »Polskie paranoje«. Psycholog o obron´cach krzyz· a i teoriach spiskowych, in: Newsweek Polska, 23.08.2010.

Teil Europas betrachten. Als Ergebnis der andauernden Fremdherrschaft entstand zudem der Mythos des polnischen Aufständischen. In keinem anderen Land Europas kam es im 19. und 20. Jahrhundert zu derart vielen Erhebungen gegen die Obrigkeit. Julia Walter — Polen

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Zunächst richteten sich die Rebellionen gegen die Teilungsmächte, dann gegen die nationalsozialistischen Besatzer und schließlich gegen die moskauhörige Staatsmacht. In jedem Fall aber erforderten die Vorbereitungen der jeweiligen Widerstandsaktionen ein hohes Maß an Geheimhaltung; sie waren, so kann man sagen, Verschwörungen gegen die Verschwörer. Dem Ethos der Aufständischen wohnte somit stets auch das Ethos von Verschwörern inne.5 Die Verschwörungsmentalität war nicht nur verquere Paranoia, sondern auch Ressource für zähe Resistenz und couragierten Eigensinn. Die moralische Relativierung, die der Vorgang der Verschwörung im Laufe dieser Entwicklung erfuhr, spiegelt sich auch in der polnischen Sprache wider, die gleich zwei Vokabeln für das deutsche Wort »Verschwörung« bereithält. Während der allgemeinere Begriff spisek zunächst einmal die objektive Tatsache einer geheimen Absprache schildert, hat das Wort konspiracja in polnischen Ohren einen unzweifelhaft positiven Klang – umschreibt es doch den legitimen nationalen Komplott gegen die Okkupanten.6 Auch ein weiteres gängiges Sprachbild geht auf die Zeit der Fremdbestimmtheit zurück. My i oni (dt.: »Wir und sie«) beschrieb über Jahrhunderte hinweg zunächst die Gegensätzlichkeit zwischen Polen und Besatzern, später dann zwischen dem einfachen Volk und den Repräsentanten des kommunistischen Machtapparates. Aufgrund der historischen Bedeutung dieser Dichotomie fungiert die Wir-Gruppen-Bildung über den my i oni-Gegensatz

5  Vgl. Pawel Dybicz, Warto byc´ paranoikiem? – rozmowa z prof. Krzysztofem Korzeniowskim, in: Przegla¸d, 22.04.2012.

bis heute als wichtiges sprachliches Element in der polnischen politischen Rhetorik und kann selbstredend mit jeder beliebigen Verschwörungstheorie gefüllt werden.7 Doch noch einmal zurück zu den Aufständen: Abgesehen vom Posener

6  Vgl. Krzysztof Korzeniowski, Polska paranoja polityczna. · Zródla, mechanizmy i konsekwencje spiskowego mys´lenia o polityce, Warszawa 2010, S. 21.

Aufstand von 1918/19 endete ausnahmslos jedes polnische Aufbegehren mit einer Niederlage. Damit prägte die Abwägung zwischen der halsbrecherischen Rebellion und dem weniger heroischen, aber möglicherweise klügeren »Ausharren und die nationale Substanz bewahren« über zweihundert Jahre lang den Generationenkonflikt in Polen. Während die Jugend stets neue Komplotte gegen die Besatzer schmiedete, warnten die durch die eigenen Niederlagen und Misserfolge gezeichneten Alten vor dem nächsten bevorstehenden Desaster.8 Gehör fanden die Ratschläge der Eltern und Großeltern zwar nie. Jedoch wuchs mit jedem Aufstand, der trotz bester Planungen und höchster Geheimhaltungsvorkehrungen scheiterte, das Bedürfnis nach Erklärungen für den erneuten Misserfolg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kursierten daher insbesondere unter den Nationaldemokraten krude Theorien über einen Vaterlandsverrat durch jüdische oder freimaurerische Denunzianten.9

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Verschwörungen — Analyse

7  Siehe Ute Caumanns u. Matthias Niendorf, Raum und Zeit, Mensch und Methode. Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie, in: Dies. (Hg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 197–210, hier S. 205. 8  Vgl. Teresa Bogucka, Verschwörungstheorien in Polen. Reminiszenzen und Reflexionen, in: Caumanns u. Niendorf, S. 125–136, hier S. 126. 9  Vgl. Janusz Tazbir, Od Haura do Isaury, Warszawa 1989, S. 219.

DIE AUSNAHME WIRD ZUM DAUERZUSTAND Ohnehin gedeihen Verschwörungstheorien besonders verwegen in historischen Ausnahmesituationen, etwa in Momenten, in denen politische Vorgänge eine Komplexität erlangen, die gedanklich nur noch schwer zu durchdringen ist. Oder eben in Zeiten von Unglücken und Katastrophen, in denen einfache Erklärungen der Kontingenzbewältigung dienen sollen.10 In kaum einem anderen europäischen Land aber war in den zurückliegenden Jahrhunderten die Ausnahmesituation so sehr perpetuiert wie in Polen. Kaum war die nationale Dreiteilung überwunden, überzogen nationalsozialistischer und stalinistischer Terror das Land. Anschließend folgte, zunächst ebenfalls noch unter den Vorzeichen des Stalinismus, die politische Anbindung an die Sowjetunion bei zugleich unsicherer Westgrenze. Der Stalinismus, so scheint es, leistete dem Verschwörungsglauben in Polen weiteren Vorschub. Denn nun zählten allgegenwärtiges Misstrauen sowie die Vermutung eines stets angriffsbereiten Feindes im Westen zu den obersten Bürgerpflichten.11 Plötzlich war der Staat der wichtigste Träger von Verschwörungstheorien und Unterstellungen. Dabei bereitete die reale historische Erfahrung mit deutschen Expansionsgelüsten einen fruchtbaren Boden für Warnungen vor dem westdeutschen Imperialismus. Auch nach dem Ende des Stalinismus schreckte die kommunistische Propaganda nicht vor der Instrumentalisierung ethnischer Stereotype zurück. Im Zuge der antisemitischen Kampagne des Jahres 1968 verloren zigtausende Menschen ihre Arbeit und, von wirtschaftlicher Not und der feindseligen Stimmung in die Emigration gezwungen, nicht selten auch ihr Heimatland. Während der realsozialistische Machtapparat auf der einen Seite latent vorhandene Feindbilder und Verschwörungstheorien bediente, belegte er – immer dort, wo die Sowjetunion mit im Spiel gewesen war – tatsächlich dagewesene Verschwörungen gegen die polnische Nation mit einem Tabu. We10  Vgl. Dieter Groh, Verschwörungstheorien revisited, in: Caumanns u. Niendorf, S. 187–196, hier S. 190. 11  Vgl. Korzeniowski, S. 18. 12  Vgl. Kazimierz Wójcicki, Die Polen und die Deutschen – der Verlust der Ostgebiete und das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn, in: Karl Schlögel u. Beata Halicka (Hg.), Oder-Odra. Blicke auf einen europäischen Strom, Frankfurt a. M. 2007, S. 287–298, hier S. 288.

der über den Hitler-Stalin-Pakt noch über das Massaker von Katyn oder den Verlust der polnischen Ostgebiete durfte im volksrepublikanischen Polen öffentlich debattiert werden. Zugleich konnten aber die Ereignisse allein wegen ihres schieren Ausmaßes und der persönlichen Betroffenheit von Millionen von Polen kaum aus dem tagtäglichen Bewusstsein der Bevölkerung verschwinden.12 Es scheint zumindest nicht ausgeschlossen, dass die lange unterbliebene Aufarbeitung der sowjetischen Verbrechen der 1930er und 1940er Jahre der aktuellen Neigung zu Verschwörungsvermutungen gegenüber Russland einigen Vorschub geleistet hat. Als die Revolution Polen schließlich aus dem Einflussbereich der Sowjetunion herauslöste und die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze garantiert Julia Walter — Polen

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war, brachten die Auswirkungen der ökonomischen und politischen Transformation neue Komplexitäten und Unsicherheiten mit sich. Die wirtschaftliche Schocktherapie bescherte dem Land allein im Jahr 1990 eine Inflation von über 500 Prozent und massive Jobverluste. Zugleich hatte die politische Szenerie an Übersichtlichkeit verloren. Plötzlich gab es in Polen nicht mehr nur eine einzige staatlich verordnete Wahrheit, der man entweder Gehör schenken oder die man mit oppositioneller Geste ablehnen konnte. Stattdessen vertrat die Regierung Standpunkte, die gänzlich andere sein konnten als die des Präsidenten. Hinzu kam die neue Meinungsvielfalt in den Medien, ganz zu schweigen von den vielen verschiedenen Ansichten der jetzt frei gewählten Legislative. Denn die im politischen Bereich bis dato so simple und ordnende Wir-gegensie-Dichotomie war in der neu entstehenden Demokratie plötzlich überholt. Nachdem »sie«, also die Repräsentanten des volksrepublikanischen Regimes, ihre frühere Bedrohlichkeit verloren hatten, zerfiel das »wir« der antikommunistischen Opposition in viele kleine Egos mit jeweils ganz eigenen politischen Vorstellungen und persönlichen Karrierezielen. Gegenwärtig ist es um das Wir-Gefühl in der polnischen Gesellschaft schlecht bestellt. Das zumindest suggeriert die im Zweijahresabstand durchgeführte »Sozialdiagnose« des Soziologen Janusz Czapin´ski. Nur zwölf Prozent der Polen waren bei der letzten Umfrage im Jahr 2013 der Meinung, dass man »der Mehrheit der Menschen trauen« könne. Ein Jahr zuvor hatte der »European Social Survey« nur leicht bessere Vertrauenswerte von 18 Prozent ermittelt. Einzig die Portugiesen und Bulgaren zeigten sich noch argwöhnischer ihren Mitbürgern gegenüber.13 NEUE QUALITÄT DER POLNISCHEN VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN? Insofern haben polnische Verschwörungssorgen im Laufe der letzten Jahre eine bemerkenswerte Neuausrichtung erfahren. Haben Generationen von Polen die Verschwörung irgendwo im Fremden gewittert, blicken sie mittlerweile mindestens ebenso kritisch ins Inland. So erklärten laut »Eurobarometer« 2013 bloß 17 Prozent der Polen ihr Zutrauen in das polnische Parlament. Nur wenig mehr, nämlich 19 Prozent, vertrauten der polnischen Regierung. Demgegenüber erschien die EU immerhin 45 Prozent der Befragten als eine seriöse und zuverlässige Institution.14 Diese Beobachtung geht einher mit einem weiteren Trend: Verschwörungstheorien besonders zugeneigt zeigen sich in Polen neuerdings vor allem viele junge Menschen. Das legen die Studien der Sozialpsychologen Michal Bilewicz und Miroslaw Kofta nahe. Bei der Suche nach den Quellen des

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Verschwörungen — Analyse

13  Janusz Czapin´ski u. Tomasz Panek, Diagnoza Spoleczna 2013. Warunki i jakos´c´ z· ycia Polaków, Warszawa 2013, S. 286. 14  Siehe Komisja Europejska (Hg.), Standardowy Eurobarometr 80. Opinia publiczna w Unii Europejskiej, Jesien´ 2013, Raport krajowy Polska, S. 4.

jugendlichen Verschwörungsglaubens sind die Wissenschaftler jedoch nur selten auf dezidiert nationalistische Stereotype gestoßen. Die konspirative Weltsicht rührt ihrer Ansicht nach vielmehr aus dem Gefühl der Überforderung mit politischen Prozessen und dem Bedürfnis nach simplifizierenden Erklärungsmustern.15 Der Verschwörungsglauben der nachwachsenden Generationen mag so nunmehr weniger eherner Bestandteil in der Tradierungskette historischer 15  Siehe Agnieszka Kublik, Mlodzi, spiski, Kukiz. Rozmowa z Michalem Bilewiczem, in: Gazeta Wyborcza, 19.06.2015.

Traumata sein, sondern kann vielmehr als Ausdruck einer Normalität gerade moderner, wandlungsfreudiger Gesellschaften nach dem Ende einst gesicherter kultureller und normativer Gewissheiten betrachtet werden.

Dr. Julia Walter, geb. 1980, war viele Jahre beruflich in Polen tätig, zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Warschauer Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Jahr 2014 wurde sie mit der Arbeit »Der polnische Bund der Demokratischen Linken (SLD). Zur Anatomie einer postkommunistischen Partei« promoviert.

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DER FEIND IM INNERN STALINISTISCHE SCHAUPROZESSE UND VERSCHWÖRUNGSDENKEN IM KALTEN KRIEG1 ΞΞ Ute Caumanns

Manchmal hilft der Blick zurück. Ein Phänomen zu beobachten, das scheinbar immer und überall zu finden ist, eine anthropologische Konstante möglicherweise. Und doch spezifisch, in Staaten und Gesellschaften eingebunden, mit je eigenen Protagonisten, Inhalten und unterschiedlicher gesellschaftlicher Akzeptanz. Verschwörungsdenken prägt nicht erst seit dem 11. September 2001 die öffentliche Debatte. Dabei könnte die scheinbare Dominanz im World Wide Web zu dem Gedanken verführen, bei Verschwörungstheorien handle es sich um ein subkulturelles Phänomen. Dass dem keineswegs so ist, zeigt der Blick in die jüngere Geschichte. FIRST COLD WAR Der Kalte Krieg, so wie die Zeitgenossen ihn in den frühen 1950er Jahren erlebten, hatte viele Fronten. An der Heimatfront wurde besonders intensiv gekämpft: um die je eigene Bevölkerung von einer akut drohenden Gefahr zu überzeugen und sie zur aktiven Unterstützung des eigenen Systems zu mobilisieren. »Spione – Brandstifter – Giftmischer« titelte eine der vielen zeitgenössischen Broschüren zum Thema: Das narrative Potenzial des First Cold War war groß.2 Die staatlich erdachten und medial vermittelten Meistererzählungen enthielten alles, was eine spannende Geschichte ausmacht. Nicht wenige glaubten deren Details und der abschließenden Moral, lagen doch Fakten und Fiktionen kaum jemals so eng beieinander. Die Frontstadt Berlin etwa war Zentrum von Nachrichtendiensten, von Agenten jeglicher Couleur und vielfältigen Spionageaktivitäten. Warum sollte dies die Zeitgenossen nicht geprägt haben? Für sie war es schwer, ja kaum möglich, zwischen Wahrheit und Erdachtem zu unterscheiden. Vieles von dem, was die Meistererzählun-

1  Dieser Artikel greift auf die Ergebnisse eines Projektseminars an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zurück, das sich zum Ziel gesetzt hat, Schauprozesse auf ihre Inszenierung und Medialisierung hin zu untersuchen. Die Ergebnisse werden im Rahmen einer Online-Präsentation (www.schauprozesse.de) ab Dezember 2015 für drei Jahre öffentlich zugänglich sein. Ich danke Aletta Beck, Tim Mörsch, Meinhard Schwager und Malte Windrath für ihre Anregungen.

gen aufboten, war lebensweltlich erfahrbar. Diese kollektive Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen, Unterstellungen und Spionagevorwürfe gab es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Allein die geradezu hysterische Kommunisten-Furcht in den USA während der McCarthy-Ära zeugt von der in ihrer Intensität beachtlichen Konjunktur

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INDES, 2015–4, S. 80–87, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

2  Siehe Amt für Information (Hg.), Spione – Brandstifter – Giftmischer. [Fünf Prozesse vor dem Obersten Gerichtshof der Deutschen Demokratischen Republik], Berlin/Ost 1952.

politischen Verschwörungsdenkens. Diese Ära hatte Richard Hofstadter vor Augen, als er in den 1960er Jahren die Formel vom paranoid style einführte. Denn, so Hofstadter, auch in liberalen Demokratien erführen »Verschwö3  Siehe Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics, in: Ders., The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, London 1966, S. 3. 4  Norbert Elias, Über die Natur, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 40 (1986), H. 448, S. 469–481, hier S. 472.

rungsfantasien« politische Bedeutung.3 VERSCHWÖRUNGSDENKEN Die Rede ist von einem Krisenphänomen. Als solches finden wir es eng verbunden mit politischen Umstürzen, wirtschaftlicher Depression (auf der Seite der Verlierer) oder allgemein: mit Angst und einem »Horror des Nichtwissens«4. In existenziellen Krisen suchen die Menschen nach konkreten, einfachen Antworten. Sie wollen dem Nichtwissen mit Erklärungen begegnen, möglichst die diffuse Angst gegen eine personalisierte Furcht tauschen,5 um

5  Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: Sabine Eickenrodt u. a. (Hg.), Übersetzen – Übertragen – Überreden, Würzburg 1999, S. 145–162. 6  Vgl. Dieter Groh, The Temptation of Conspiracy Theory, or: Why Do Bad Things Happen to Good People?, in: Carl F. Graumann u. Serge Moscovici (Hg.), Changing Conceptions of Conspiracy, New York 1987, S. 1–37.

so dem Missstand das Gesicht eines konkreten Feindes geben zu können. Der Glaube an Verschwörungen macht Mangelsituationen und Krisen erklärbar und damit erträglicher. Why Do Bad Things Happen to Good People?, so hat der Konstanzer Historiker Dieter Groh schon in den 1980er Jahren die verschwörungstheoretische Grundfrage formuliert.6 Und sie hat seither nicht an Bedeutung verloren. Eine Antwort, welche die innere Logik dieser Frage aufnimmt, könnte etwa so lauten: Es gibt eine Gruppe von Verschwörern, sie verfolgt einen bösen Plan und sie tut dies im Geheimen. Damit bekommen der Missstand, die Krise, der persönliche Schaden nicht nur einen Verursacher, ein Gesicht, sondern auch – und dies ist nicht weniger wichtig – eine Geschichte.

7 

Daniel Pipes, Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998, S. 47.

8  Vgl. Arno Meteling, The Parallax View. Verschwörungstheorie zur Einführung, in: Transkriptionen, H. 9/2008, S. 15–18, hier S. 15; vgl. auch Andreas Anton, Unwirkliche Wirklichkeiten. Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien, Berlin 2011, S. 14.

Die Plausibilität dieser Geschichte ist allerdings nur bedingt zu überprüfen. Gerade hier zeigt sich der besondere Charakter von Verschwörungstheorien. Keineswegs nämlich kennzeichnet deren Vertreter, wie der amerikanische Historiker Daniel Pipes vertritt, »eine total andere Denkweise«7. Denn es geht in hohem Maße um Vermittlung: Dazu operieren Verschwörungstheoretiker in einer Grauzone zwischen Fakten und Fiktionen; sie oszillieren geradezu zwischen beiden.8 STALINISMUS IN OSTEUROPA

9 

Zur Differenzierung von individueller Paranoia und kollektivem Verschwörungswahn vgl. Rudolf Jaworski, Verschwörungstheorien aus psychologischer und aus historischer Sicht, in: Ute Caumanns u. Mathias Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 11–30.

Das Phänomen Verschwörungsdenken wird immer wieder an die Person Stalins geknüpft. Meines Erachtens greift aber die personale Zuspitzung auf Stalin als Paranoiker zu kurz, denn ein klinisches Krankheitsbild lässt sich nicht einfach auf eine ganze Gesellschaft übertragen.9 Zu verschieden sind die Erfahrungen und Interessen ihrer Mitglieder. Tatsächlich geht es um ein gesellschaftliches Phänomen, zu beziehen auf das gesamte sozialistische Lager. In diesem Sinne ist auch der Ute Caumanns  —  Der Feind im Innern

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polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz zu verstehen, wenn er für die frühen 1950er Jahre durchaus selbstkritisch von einer Kollektivatmosphäre ständiger Maskierung spricht, in der alle und insbesondere die geistigen Eliten zwangsläufig zu Schauspielern geworden seien.10 Angst, Feindbilder und Verschwörungsdenken kennzeichnen insofern – und hiervon soll im Weiteren die Rede sein – die stalinistische Phase der osteuropäischen Geschichte. Das Jahr 1948 markiert die Zäsur, ein erster Einschnitt kam 1953 mit Stalins Tod, die Nachwirkungen reichten in einigen Volksdemokratien noch über das Jahr 1956 hinaus. Für diesen stalinistischen First Cold War möchte ich von Verschwörungsdenken als einer staatlichen Veranstaltung sprechen. Es waren die politischen Führungen, die zu solchen Erklärungen griffen, wie die diversen Schauprozesse, die damals in Szene gesetzt wurden, eindrucksvoll zeigen. Die Führungskader taten dies aus unterschiedlichen Gründen. Sicherlich spielten dabei Erfahrungen aus der eigenen konspirativen Arbeit in kommunistischen Organisationen eine Rolle. Hatte es doch Infiltrationsversuche seitens der Staatsmacht – etwa im zaristischen Russland – tatsächlich gegeben. Wohl deshalb auch gehören Einkreisungsängste seit der Oktoberrevolution 1917 zum Kerninventar kommunistischer Weltdeutung. Im Kalten Krieg lebte all dies wieder auf. Damals verbanden sich reale Bedrohungsszenarien mit obsessiven Zwangsvorstellungen oder, um noch einmal Groh zu zitieren, mit einer »verschwörungstheoretischen Disposition«. Besonders anfällig hierfür waren die fragilen Partei- und Staatsführungen. Dabei sind Taktik und Glaube kaum auseinanderzuhalten. Auch wenn generell schwer zu beweisen ist, was Menschen glauben: Es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass hohe Funktionsträger die in den Schauprozessen präsentierte »Schuld« tatsächlich geglaubt haben. So im Falle des langjährigen sowjetischen Außenministers Vjacˇeslav M. Molotov: Jahrzehnte später, also zu einer Zeit, in der ein Zwang von außen als Grund nicht mehr bestand, glaubte er offenbar immer noch an die »Schuld« Bucharins und ließ auch nicht von der Verbindung Trotzkis zu Hitler oder Trotzkis zu Bucharin und anderen Angeklagten ab. In Molotovs Verschwörungsdenken waren 10 

Vgl. Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, Köln 1980, S. 64 ff.

11  Lorenz Erren, »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1918–1953), München 2008, S. 328.

eben »alle miteinander verbunden«11. Ein zweiter Vertreter dieser Weltsicht kommt aus Polen: Roman Werfel, Chefideologe der Partei und verantwortlicher Redakteur des ZK-Organs Nowe Drogi (dt.: Neue Wege). Rückblickend hat er seine verschwörungstheoretische Publizistik, die selbst gegen Parteigenossen aggressiv gerichtet war, als Fehler bezeichnet. Umso bemerkenswerter ist da Werfels spätes Eingeständnis: »Ich betone: Ich war der Meinung, daß das, was ich […] schrieb (und was Ute Caumanns  —  Der Feind im Innern

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übrigens auch mit den Geständnissen der Angeklagten beim Prozeß in Einklang stand), der Wahrheit entsprach.«12 SCHAUPROZESSE Sie gelten wohl zu Recht als Signum des Stalinismus. Sie sind der Ort, an dem Verschwörungsdenken zur Aufführung gelangte. In der Sowjetunion haben Schauprozesse eine lange Geschichte. Die didaktische Bedeutung des Gerichtssaals – konkreter Ort vieler Prozesse war das Moskauer Haus der Gewerkschaften – hatte schon Lenin erkannt. Stalin entwickelte dieses Erbe dann weiter. So führt der Weg von den frühen Tribunalen wie dem Prozess gegen die Sozialrevolutionäre (1922) zu den berüchtigten Moskauer Schauprozessen (1936–1938), die diese Form der Inszenierung zur Perfektion brachten – oder ihr jedenfalls sehr nahe kamen. Blickt man auf die Nachkriegsprozesse in Osteuropa, sind die Vorbilder unverkennbar. Dass diese zentral von Moskau koordiniert und kontrolliert wurden, scheint unbestritten, doch waren sie keine bloßen Kopien der Moskauer Prozesse. Die im Zuge der stalinistischen Säuberungen erprobte Dramaturgie gelangte nach dem Krieg der Form nach ähnlich, aber mit anderer Zielsetzung in die Tschechoslowakei, nach Polen, Ungarn wie auch in die DDR.13 Sie entfaltete sich hier in einer zentralen Konfliktzone des Kalten Krie-

ges, in der unterwürfige Satelliten erst noch geschaffen werden mussten und die Sowjetunion vor der Daueraufgabe stand, den ideologischen Einfluss des Westens einzudämmen. Warum aber überhaupt diese Schauprozesse? Sie irritierten die Zeitgenossen schon damals und sie lassen – trotz aller Forschungserkenntnisse – die Historiker noch heute mit Fragen zurück. Glaubten die Regisseure an ihr Werk? Gab es innerhalb der osteuropäischen Gesellschaften wirklich diese Akzeptanz, die uns die offizielle Propaganda glauben machen will? Warum unterschrieben bekannte Künstler Resolutionen, in denen härteste Strafen gefordert wurden – legitimierten sie damit nicht das Werk der Henkersknechte? Auf der Suche nach Antworten ist hilfreich, die in den Schauprozessen präsentierten Narrative anzusehen, denn sie geben Aufschlüsse über die Funktion der Botschaften. Ein narratives Grundmuster lautet etwa so: Ein äußerer Feind findet im Lande bzw. in der Partei für seine böse Tat – sei es Sabotage, Diversion oder Agententätigkeit – Mitverschwörer, die dadurch zu inneren Feinden werden. Der im Narrativ aufgehobene notwendige Schutz vor Verschwörern (diese durch verborgenen Handschlag agierenden inneren und äußeren Feinde) führt konsequenterweise zur Aufwertung der Partei und der Sicherheitsorgane. Er zielt auf eine Integration der Bevölkerung,

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12  Teresa Toran´ska, Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln 1987, S. 134 f. 13  Vgl. Antony KempWelch (Hg.), Stalinism in Poland, 1944–1956. Selected Papers from the Fifth World Congress of Central and East European Studies, Basingstoke 1999, S. 3; zur Zielsetzung vgl. Georg Herman Hodos, Säuberungen in Osteuropa 1948–1954, Frankfurt a. M. 1988, S. 14.

die sich idealerweise durch Wachsamkeit sowie Vertrauen in die politische Führung auszeichnet. Das Narrativ vermittelt aber noch eine zweite Botschaft: Gewissermaßen als Kehrseite von intendiertem Vertrauen und Wachsamkeit steht die Einschüchterung. Sie soll potenzielle, d. h. zukünftige Abweichung verhindern. An dieser Stelle zeigt sich die spezifische Dysfunktionalität von Verschwörungstheorien: Denn die Schauprozesse antworteten nicht nur auf Krisen, sie schufen auch Krisen, indem sie Sicherheit versprachen und doch gleichzeitig die Bevölkerung durch Einschüchterung verunsicherten. VERSCHWÖRUNGSERZÄHLUNGEN ALS PERFORMATIVER AKT Die Schauprozesse stellten den Lernort zur Verfügung. Sie bereiteten die Bühne für Verschwörungsnarrative – für die Beobachter im Gerichtssaal wie für eine medial angesprochene, erweiterte Öffentlichkeit außerhalb. Manchmal sogar ganz real, wie 1950 im Falle des »Prozesses gegen Herwegen, Brundert und Komplicen«, der vor 1.200 Zuschauern auf der Bühne des Dessauer Stadttheaters stattfand. Was die Anklage vertrat und die Angeklagten gestanden, konnte das Publikum nicht nur hören, sondern auch sehen. Verschwörungsdenken geriet hier zum performativen Akt – zum Akt der Aufdeckung, der Entlarvung – vor den Augen des Beobachters. Dies führt zur weithin unterschätzten Rolle des Publikums – zu einem dritten Akteur jenseits der an den Schauprozessen beteiligten Täter und Opfer. Das heißt: Eigentlich muss mit Adelheid von Saldern von »Publika«14 gesprochen werden. Denn im Gerichtssaal waren höchst unterschiedliche Personengruppen beteiligt. Das zeigen schon die Moskauer Schauprozesse der 1930er Jahre, an denen nicht nur überzeugte sowjetische Arbeiter oder Parteigenossen teilnahmen, sondern auch akkreditierte Korrespondenten der internationalen Presse und ausländische Diplomaten wie der amerikanische 14  Adelheid von Saldern, Öffentlichkeiten in Diktaturen. Zu den Herrschaftspraktiken im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Günther Heydemann u. Heinrich Oberreuter (Hg), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003, S. 442–475.

Botschafter Joseph E. Davies. Sie alle nahmen den performativen Akt, eine facettenreiche Verschwörungsgeschichte zu erzählen, nicht nur passiv zur Kenntnis.15 Auf ganz unterschiedliche Weise spielten sie eine aktive Rolle, ihre Rolle. Etwa, indem sie die Handzettel lasen, die sie auf ihren Stühlen vorfanden: Das war ein schon in der Sowjetunion erprobtes Verfahren, das 1950 im Dessauer Prozess gegen den Conti-Gas-Konzern in der DDR zum Einsatz kam. Oder, indem sie an den richtigen Stellen applaudierten bzw. Missfallen bekundeten. Manchmal saßen sie auch im Saal, um zu lernen, so wie

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Vgl. Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012.

in Ostberlin 1954 die zwanzig »Staatsanwälte vom Staatsanwaltslehrgang« im Prozess gegen die »Hintermänner« des 17. Juni 1953. Und noch andere Ute Caumanns  —  Der Feind im Innern

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nahmen teil, um als Journalisten die Leserschaft ausländischer Zeitungen (oft wohlwollend) zu informieren, wie dies nach Moskauer Vorbild in Budapest und Prag der Fall war. Die konkrete Aufführung eines Schauspiels ist selbst bei sorgfältiger Inszenierung immer mit einem Restrisiko verbunden. Die Verschwörungsgeschichte konnte in den Schauprozessen nur dann überzeugend erzählt werden, wenn dieses Risiko zuvor minimiert worden war. So war die Vorbereitung in der Regel langwierig: Die Drehbuchautoren mussten ihr Manuskript wieder und wieder überarbeiten, um Widersprüche aufzulösen und den Angeklagten den richtigen Text zum Auswendiglernen zu geben. Das vermitteln eindrucksvoll die Erinnerungen Artur Londons und Eugen Loebls als Überlebende des Slánsky´-Prozesses, der im November 1952 in Prag stattfand.16 In einem der am stärksten beachteten Schauprozesse der Nachkriegszeit wurde damals dem ehemaligen Generalsekretär der KPC, Rudolf Slánsky´, und 13 Mitangeklagten unterstellt, ein »staatsfeindliches Verschwörerzentrum« geleitet zu haben. Die Auswahl des Publikums war sorgfältig geplant. Im Prozess gegen den Primas von Ungarn, Kardinal József Mindszenty, der 1949 in Budapest durchgeführt wurde, geriet die Akkreditierung zum Gegenstand von Beschwerden aus dem Ausland. Im Falle des Prozesses gegen die »Hintermänner« des 17. Juni sollte die westliche Presse sogar überhaupt keinen Zugang erhalten. Dafür war aber eine auf den ersten Blick unerwartete Gruppe als Publikum vorgesehen: Es ging wohl um ein Lehrstück, wenn gerade die am Aufstand von 1953 Beteiligten im Auditorium saßen. Sie sollten die Meistererzählung vom »faschistischen Putschversuch« hören und sehen: Geschichten, welche die Angeklagten erzählten, etwa über ihre verschwörerische Zusammenarbeit mit dem Bonner Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands, dem angeblichen »Generalstab« des Putsches. Nebenbei bemerkt: Vermutlich wäre der Forschungsbeirat gerne aktiver beteiligt gewesen, als er es tatsächlich war, denn er wurde selbst von den Ereignissen überrascht und musste seine Planungen den neuen Umständen anpassen. Kernbestandteil des verschwörungstheoretischen Narrativs ist der Akt des Aufdeckens. Ohne diesen wäre die Verschwörungsgeschichte nicht erzählbar, fehlte dem Aufdecker und Erzähler seine Rolle. Doch er hat eine Botschaft zu vermitteln. Die Aufdecker im östlichen Teil Europas vermittelten ihre Version einer bipolaren Welt: einer Welt von Dunkelheit und Licht, von verbrecherischen inneren Feinden und Architekten einer wundervollen kommunistischen Zukunft. Der Prager Hauptankläger, Staatsanwalt Josef Urválek, ließ im Abschlussplädoyer gegen Slánsky´ und »Komplicen« beides aufscheinen:

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Verschwörungen — Analyse

16  Vgl. Artur London, Ich gestehe. Der Prozeß um Rudolf Slansky, Hamburg 1970; Eugen Loebl, Die Aussage. Hintergründe eines Schauprozesses, Stuttgart 1978.

»Aber alles hat ein Ende! Sie erreichten wirklich den Gipfel an Heuchelei, als sie vor der Partei und dem gesamten Volke ihre dunkle Vergangenheit geheimhielten und mit der außergewöhnlichen Meisterschaft von Doppelzünglern ihre niederträchtige Diversionstätigkeit maskierten. [… An Slánsky´ gerichtet:] Sie sagten: ›Es ist wahr, daß jeder Feind sich zu maskieren, sein Einverständnis mit der Politik der Partei vorzutäuschen trachtet, aber die Erfahrung lehrt uns auch, daß der Feind, mag er sich auch noch so sehr zu maskieren bemühen, eben doch irgendwie und irgendwo sein fremdes Innere [sic] zeigt.‹ Maskieren konnten Sie sich und doch ist zum Schluß ihr fremdes Innere [sic] enthüllt worden!«17 Der Aufdecker Urválek steht hier stellvertretend; denn Staatsanwälte wie Andrej J. Vysˇinskij in der Sowjetunion oder Richterinnen wie Hilde Benjamin in der DDR erzählten nicht anders. In den stalinistischen Schauprozes17  Tschechoslowakisches Justizministerium (Hg.), Prozess gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slánsky´ an der Spitze, Prag 1953, S. 636 f.

sen des Kalten Krieges fanden Aufdeckung und Demaskierung des inneren Feindes als performativer Akt statt. Dieser entgrenzt Justiz und Theater: Ein Vorhang wird aufgezogen und der Schleier des Geheimnisses vor den Augen des Publikums gelüftet.

Dr. Ute Caumanns, geb. 1960, ist Historikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte und Kulturen Osteuropas der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Ute Caumanns  —  Der Feind im Innern

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PORTRAIT

WILHELM REICH VON STERBENDEN GÖTTERN UND WUNDERSAMEN MASCHINEN ΞΞ Tobias Neef

Es ist das große Finale. Am 4. Mai 1956, dem dritten Verhandlungstag, will Wilhelm Reich den großen Bogen spannen und dem Gericht erkennbar machen, in wessen Dienste es sich stellte, wenn es ihn für schuldig befände. Bis zum Ende ist er sich sicher. Er braucht keinen Anwalt. Denn er hat Freunde, mächtige Freunde, und sie alle sind informiert. Eisenhower, Hoover, die Air Force – sie haben seine Berichte erhalten, und wenngleich sie sich nicht offen dazu bekennen, werden sie es nicht geschehen lassen. Sie werden ihm helfen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Am 4. Mai 1956 findet der dritte Verhandlungstag im Verfahren Wilhelm Reich et al., Defendants, Appellants, versus United States of America statt. Wilhelm Reich, einst kontroverser und doch anerkannter Psychoanalytiker der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, nunmehr der Öffentlichkeit bekannt durch eine Vielzahl desavouierender Zeitungsartikel, die seit 1947 über ihn erschienen sind, hat sich entschieden, auf einen Anwalt zu verzichten. Er verteidigt sich selbst. In dem Prozess geht es um den Verstoß gegen das Verbot des Handels mit Schriften und Geräten, die Reich in der Counterculture der 1950er Jahre Popularität eingebracht haben. Der Prozess gegen Reich stößt auf große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, vor allem aufgrund dessen Symbolik für die amerikanische Nachkriegsmentalität: Reich verkörpert die Angst vor kommunistischen Umtrieben in den USA , vor Sittenverlust und den sich seit den 1940er Jahren formierenden subkulturellen Gruppen, vor Hipstern und Beatniks, die an West- und Ostküste alternative Lebensmodelle praktizieren und damit die biedere Kultur des mittleren Westens herausfordern. 1956 ist das Jahr der Niederlage. Auf Anordnung des Gerichts werden Reichs Bücher verbrannt und die noch in seinem Besitz befindlichen OrgonAkkumulatoren zerstört. Die Kräfte, auf die Reich hofft – das muss ihm im

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INDES, 2015–4, S. 88–102, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

Laufe des Jahres 1957 bewusst werden –, lassen ihn fallen. Am 3. November 1957 stirbt Reich in Haft. Zehn Jahre später erleben Reichs Schriften einen regelrechten und keinem vorherigen Maßstab standhaltenden Boom. Von den USA bis nach Europa hallt der Ruf nach sexueller Befreiung. Und Wilhelm Reich wird zu einer der wichtigsten Ikonen dieser Bewegung. Es ist der junge Reich, auf den sich die Studentenbewegung bezieht; es sind die Werke der 1920er und 1930er Jahre, die sie liest. DIE BEDEUTUNG DER BIOGRAFIE Googelt man heutzutage den Namen »Wilhelm Reich«, so zeigen sich zwei konträre Deutungen: eine, die sein Werk seziert, die gleichermaßen Wahrheit und Wahn bei Reich zu identifizieren sucht; und eine andere, die den Wahn insgesamt infrage stellt, von einem Komplott amerikanischer Regierungskreise und Behörden ausgeht und das Scheitern des häretischen Genies der Verhärtung der Gesellschaft zuschiebt. Die eine, gespeist von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft, stellt einen Mann dar, der als Verfechter einer politisierten Psychoanalyse das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Sexualität infrage gestellt hat, bevor er vom Wahn befallen wird und sich dem ätherischen Ganzen widmet, um schlussendlich als gebrochener Mann zu sterben. Die andere Geschichte zeugt von der Bedeutung, die gerade das späte Werk Reichs für Diskurse eines »Gegenwissens« einnimmt. Diese Geschichte setzt im Grunde genommen erst da an, wo die erste Geschichte aufhört; sie versucht auf der Basis der Anerkennung des frühen Reich den späteren zu rehabilitieren. Diese Geschichte erzählt von einem Menschen, der sich über die Grenzen von Wissenschaft und bürgerlicher Moral hinwegsetzt und daher, Galileo Galilei gleich, verstoßen wird. Der Diskurs, der dieses Bild entwirft, ist nicht so homogen wie die psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Debatte über Reich. Er entsteht in den Nischen der Öffentlichkeit, in Magazinen, auf Webseiten und in Vorträgen, die sich mit Esoterik und alternativer Medizin befassen, mit Ufo-Sichtungen und verdecktem, verdrängtem und verleugnetem Wissen. In diesen Nischen sind Reichs Aussagen noch lebendig, hier wird die große Erzählung von Verrat, Vertuschung und der Potenz seiner Entdeckungen, die von einer Mainstreamwissenschaft verlacht worden sind, gehandelt. Wilhelm Reich selbst betonte immer wieder, dass sich ein roter Faden durch sein Werk ziehe. Daher möchte ich hier eine andere, biografiebasierte Betrachtungsweise für das Leben und Wirken Reichs vorschlagen. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Aspekten seines theoretischen Wirkens und seines wissenschaftlichen Werdegangs, die unter Betrachtung von biografischen Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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Erfahrungen in einem neuen Licht erscheinen; und ebenso scheinen seine Lebenserfahrungen Erklärungen dafür zu liefern, warum sein Werk selbst die bizarrsten Winkel parawissenschaftlicher Diskurse erreicht hat. Hierfür ist die Trennung in eine Phase des »Wahns« und eine »gesunde« Phase seines Lebens, so naheliegend sie angesichts der offensichtlichen Distanz zwischen den psychoanalytischen Gesellschaftsstudien und den späten, parawissenschaftlichen Werken auch erscheint, zunächst hinderlich. Es geht hier daher um den Menschen Reich, der sich in seinem Werk spiegelt. Seine ersten autobiografischen Notizen hat Reich in den Jahren 1919 bis 1922 verfasst, sie werden jedoch erst Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Wenn man sie liest, mutet es erstaunlich an, dass sich bisher kein Psychologe der Jugend Reichs intensiver gewidmet hat; denn sie scheint es zu sein, die seinen gesamten wissenschaftlichen Werdegang – vom talentierten Freudianer zum Ufologen und Verfechter ätherischer Verschwörungstheorien – prägt und sich immer wieder in seinem Denken Bahn bricht. EROS UND THANATOS Reich wird 1897 in Galizien als Sohn eines jüdischen, jedoch nicht gläubigen Paares geboren. Seine Eltern entstammen großbäuerlichen, wohlhabenden Familien. Er ist das erste von drei Kindern, seine zweitgeborene Schwester stirbt kurz nach der Geburt. Eine gewisse Ambivalenz scheint sein Leben von Anfang an zu prägen: Auf der einen Seite eine liebevolle, sanfte Mutter, Cecilia, die von Reich geradezu glorifiziert wird; auf der anderen Seite der Vater, Leon Reich, den er insbesondere in seiner Kindheit als furchteinflößend und distanziert erlebt. Zwar hebt Reich in seiner Autobiografie an mehreren Stellen die prinzipielle Hilfsbereitschaft und den kosmopolitischen Charakter seines Vaters hervor. Jedoch betont er zugleich die Züge eines ausgeprägten Narzissten mit sadistischen Tendenzen, eines Mannes, der keinen Widerspruch duldet und auf seinem Hof und in der Familie ein strenges Regiment führt. Um 1900 beginnt für Reichs Mutter eine lange Phase aneinandergereihter Aufenthalte in Kurbädern. In seiner Autobiografie betont Reich, dass in diesen Jahren keine Gelegenheit zu innigerem Kontakt bestanden, und dass dies wohl auch ein Konkurrenzverhältnis zu seinem Vater in den kommenden Jahren geprägt habe. Denn nach der Rückkehr seiner Mutter sieht Reich sich als ihr Lieblingskind, buhlt um ihre Aufmerksamkeit und weiß um die Bevorzugung seines Bruders Robert durch seinen Vater.1 Zu seiner Mutter fühlt sich Reich hingezogen, sie scheint aber zugleich als leicht fremde Frau immer etwas Mysteriöses an sich zu haben. Zumindest

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1  Vgl. Wilhelm Reich, Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiographie 1897–1922, Köln 1994, S. 13–21.

ist auffällig, dass Reich in seiner Autobiografie keine auch nur annähernd so präzise Beschreibung von ihr abgibt wie von seinem Vater. Und noch ein Umstand ist bemerkenswert an Reichs vorpubertärer Phase: Die Kindheit verbringt er in Distanz zur ländlichen Bevölkerung. Freunde tauchen in dieser Phase in seiner Erzählung nicht auf, Reich streift alleine über die großen Ländereien seiner Familie, beobachtet Tiere und genießt die gelegentlichen Abwesenheiten des Vaters.2 Als Reich etwa zwölf Jahre alt ist, fängt seine Mutter eine Liaison mit seinem Hauslehrer an, die das Kind heimlich beobachtet. Die Affäre seiner Mutter stürzt Reich in tiefe Konflikte, zugleich lässt sie Mitleid mit seinem bislang eher verhassten Vater aufkommen. Eines Nachts, Reichs Vater ist auf Geschäftsreisen, beobachtet er seine Mutter, wie sie sich in das Zimmer des Hauslehrers schleicht. Noch 1919 wühlen ihn die Ereignisse dieser Nacht auf, und in schon fast pathetischem Ton notiert er: »Gleich in der ersten Nacht (ich hatte vor Spannung kein Auge geschlossen) hörte ich Mutter vom Bett steigen und – (der Ekel schnürt mir die Kehle zu) sah sie, nur mit dem Schlafgewand bekleidet, auf Fußspitzen durch unser Zimmer schlüpfen. Bald vernahm ich, wie die Tür in sein Zimmer aufging und sich nicht vollkommen schloß, dann Ruhe. Ich sprang vom Bett und schlich ihr nach. […] Oh! Gräßliche Erinnerung, die mir das Andenken der Mutter in den Staub zerrt, ihr in mir ruhendes Bild immer von neuem mit Dreck und Unflat beschmutzt! Muß ich denn alles sagen? Die Feder sträubt sich, nein, mein Ich, mit ganzer Kraft dagegen, und doch, ich will und mußte es tun, soll ich dem Motto dieser Niederschrift gerecht werden. Ich hörte Kuss, flüstern, die fürchterlichen Geräusche des Bettes, und darin lag meine Mutter, und drei Meter entfernt stand ihr Kind und hörte die Schande.«3 Reich beginnt, die Affäre seiner Mutter zu bespitzeln. Er ist eifersüchtig, hat ein schlechtes Gewissen, fantasiert davon, das Verhältnis zu stören und seine Mutter zum Koitus zu zwingen. Den Konflikt löst Reich schlussendlich, indem er sich auf die Seite der Autorität stellt. Als sein Vater aufgrund eines eigentlich unbegründeten Ausbruchs von Eifersucht seine Kinder drängt, ihm zu erzählen, was sie wissen, lässt er die Affäre auffliegen, was zum Zu2  Siehe Myron Sharaf, Fury on Earth. A Biography of Wilhelm Reich, New York 1983, S. 39. 3  Reich, Leidenschaft der Jugend, S. 44.

sammenbruch der Beziehung zwischen seinen Eltern führt. Infolgedessen begeht seine Mutter 1911 Selbstmord, auch sein Vater stirbt früh, im Jahr 1914, an Tuberkulose. Während sein Vater als gebrochener Mann versucht, den Wohlstand der Familie aufrechtzuerhalten, verliert sich Reich in Bordellen, in denen er, Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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obgleich er seine frühen sexuellen Erfahrungen mit Hausangestellten betont, doch eine Art Schlüsselerlebnis zu haben scheint. Zugleich fängt er an, sich in die Arbeit zu stürzen, und, von Sehnsucht getrieben, Fantasien über die perfekte Frau zu entwickeln, die ihn in seinem Kontakt zum anderen Geschlecht in dieser Lebensphase hemmen.4 Nach dem Tod seines Vaters übernimmt Reich zunächst die Führung des Hofes, bis er 1915, kurz nach seinem Abitur, mit seinem Bruder vor der russischen Invasion fliehen muss und sich daraufhin der Österreichisch-Ungarischen Armee anschließt. Nach dem Krieg ist der Hof verloren, Reich landet mittellos in Wien, wo er zunächst ein Jurastudium aufnimmt, das er jedoch nach einem Semester abbricht, um zur Medizin zu wechseln. Die Schuldgefühle für die Familientragödie werden Wilhelm Reich sein Leben lang nicht loslassen. Spätestens 1919 fängt er an, sich intensiver mit dem Thema der Sexualität auseinanderzusetzen: Reich referiert im »Sexuologischen Seminar« des Psychoanalytikers Otto Fenichel zum »Trieb- und Libidobegriff von Forel bis Jung«. Im Zuge der Mitarbeit am Seminar lernt Reich Sigmund Freud kennen und ist wie elektrisiert. Wenngleich er sein familiäres Drama zu einem Geheimnis erhebt, das er zu Lebzeiten nur wenigen Menschen mitteilt,5 stellt er dieses Szenario in seiner ersten Veröffentlichung 1920,6 damals schon als praktizierender Psychoanalyst, als besonders pointierten Fall des Durchbrechens von kindlichen Inzestwünschen in der Pubertät vor – bezeichnenderweise in der Form einer anonymisierten Patientengeschichte. In seinem gesamten Leben vermeidet Reich, über diesen Artikel zu sprechen. Die einzige Person, die über die Geschichte hinter dem Artikel in Kenntnis gesetzt wird, ist seine Tochter Eva. Seine erste Publikation ist Selbstaufarbeitung, zugleich ist sie als Selbstanalyse weichenstellend für die kommenden Jahre: In dem Artikel diagnostiziert Reich bei sich selbst einen verstärkten Ödipus-Komplex, den er auf seine Beziehungen mit Frauen überträgt. Die Tagebucheinträge der Jahre 1919 bis 1922 zeigen immer wieder den mütterlichen Bezugspunkt; etwa, wenn er Ende 1919 in Bezug auf seine Mutter von Onanie-Fantasien berichtet, wenn er aufgewühlt über den Wunsch schreibt, seine Mutter zu »besitzen«, und er Lore Kahn, die das zweite Drama um Sexualität und Tod in seinem Leben verkörpert, nach deren Tode zu seiner »Geliebten und Mutter« stilisiert.7 DIE POLITISIERUNG DES SEXES Wien ist in diesen Jahren des Kollapses der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ein Pol neuer kultureller und politischer Strömungen, und Reich beginnt, sich bei der sozialdemokratischen Jugendbewegung zu engagieren. Die

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4  Vgl. Reich, Leidenschaft der Jugend, S. 46–65. 5  Vgl. Sharaf, Fury on Earth, S. 40 f. 6  Siehe Wilhelm Reich, Über einen Fall von Durchbruch der Inzestschranke Pubertät, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Jg. 7 (1920/21), S. 220–226. 7  Reich, Leidenschaft der Jugend, S. 128, S. 142 u. S. 173. Lore Kahn, zunächst eine von Reichs Patienten, dann eine Geliebte Reichs, die bis zu ihrem Tode kaum Erwähnung in seinen Tagebucheinträgen findet – auch, weil Reich in dieser Zeit unglücklich verliebt zu sein schien. Kahns Mutter beschuldigte Reich, Kahn durch Nötigung zur Abtreibung getötet zu haben. Als auch Kahns Mutter sich das Leben nimmt, sieht Reich sich selbst als untrennbar mit der Tragik der Sexualität verbunden.

Wiener Jahre sind einerseits die Zeit, in der sich Reichs politisches Bewusstsein ausbildet, er seine ersten sexualpsychologischen und gesellschaftskritischen Schriften verfasst. Andererseits markieren sie eine Phase verzweifelter Sehnsüchte, inbrünstiger Liebe und ständiger Reflexionen über die eigene Sexualität. Über seine Arbeit als Psychoanalytiker – Reich erhält ab September 1919 die Möglichkeit, Patienten zu behandeln – öffnen sich ihm Wege zu Frauen, die ihm zuvor nicht offen gestanden haben. Bezeichnenderweise lernt er kurz nach Kahns Tod seine spätere Frau, Annie Pink, als Patientin kennen und verschiedentlich zeugen die Tagebucheinträge von einem Überschreiten der Grenzen zwischen Therapeut und Patientin. Reich gelangt darüber zu Selbstbewusstsein – die Frauen, die ihn in der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Wien noch verschmäht haben, liegen nun bei ihm auf der Couch.8 In seinen frühen Veröffentlichungen untersucht Reich das Drama der Sexualität in seinem Verhältnis zu neurotischem Verhalten; er widmet sich der gesellschaftlichen Funktionsweise der Sexualunterdrückung, die er von seinen Beobachtungen in der klinischen Arbeit ableitet. Dabei überschreitet er manche Grenze der seinerzeitigen Psychoanalyse, was ihn in den Wiener Kreisen zu einer kontroversen Figur macht. Ausgehend von der LibidoKonzeption Freuds, entwickelt er ein psychoenergetisches Modell, das die Grundlage seiner weiteren Untersuchungen bildet. Die Unterdrückung des Sexualtriebes ist für Reich die Ursache von Neurosen. Die orgastische Potenz, wie er diese Energie anfangs nennt, soll daher den Ausgangspunkt für Anstrengungen um die kollektive Gesundung der Bevölkerung bilden – wobei er dabei insbesondere an präventive Maßnahmen zur Verbesserung der sexuellen Aktivität denkt. In der praktischen Sexualberatung hat Reich zunächst noch die Unterstützung Freuds. Jedoch kommt es schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu vermehrten Auseinandersetzungen. Die Reduktion alles Neurotischen auf verfehlte Sexualität ist Freud zu simpel und durch die Politisierung der Psychoanalyse sieht er sein Lebenswerk gefährdet. Das Verhältnis zu seinem einstigen Vorbild wird für Reich schließlich zu einer immer größeren Belastung. 1930 entscheidet er schließlich, nach Berlin zu gehen; zuvor trifft er sich jedoch noch einmal mit Freud. In dem Gespräch bittet er diesen um die Vermittlung eines Psychoanalytikers, um zu analysieren, ob sich hinter seinem Verhältnis zu Freud Neurosen verbergen. Die Therapie bei Sandor Radó wird allerdings nicht abgeschlossen, da dieser von einer Amerika-Reise 1931 8  Vgl. Christopher Turner, Adventures in the Orgasmatron. How the sexual Revolution came to America, New York 2011.

nicht zurückkehrt. Jedoch ist bemerkenswert, dass Reich sich einer Analyse aussetzt, um sein Verhältnis zu Freud zu klären, dessen Kritik er als Abwehrreaktion begreift. Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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In Berlin gründet Reich in den Jahren des aufkommenden Faschismus eine sozialistische, sexuelle Befreiungsbewegung, den deutschen Reichsverband für Sexualpolitik (SexPol), angesiedelt im Umfeld der KPD. Wenngleich Reich mit der Verbindung von Psychoanalyse und marxistischer Theorie im Berlin der 1930er Jahre zu einem prominenten Zirkel gehört, zu dem auch weitere Koryphäen wie Erich Fromm, Otto Fenichel, Edith Jacobson und Karen Horney zählen, so verstößt er doch mit vielen seiner Positionen gegen marxistische Dogmen und überfordert mit Forderungen nach einer liberalen Sexualerziehung, nach Aufklärungsunterricht für die Jugend und einem Recht auf rein sexuelle Beziehungen die Toleranz der vielfach biederen kommunistischen Parteikader.9 Als die Nazis die Macht ergreifen, flieht Reich zunächst nach Wien, wo sein für die spätere Psychoanalyse wohl wichtigstes Werk, »Charakteranalyse«, erscheint, dann weiter nach Dänemark, um schlussendlich 1934 in Norwegen ein Zuhause zu finden. Mittlerweile haben sich Reichs Therapiemethoden und auch seine Forschungen geändert: Im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse verlässt er die fragende, sich im räumlichen Sinne hinter das Sichtfeld des Patienten zurückziehende Position und fokussiert zusehends die körperlichen Effekte psychischer Neurosen. Vor seiner Emigration nach Norwegen erlebt er jedoch noch seinen bisherigen beruflichen Tiefpunkt: Die KPD muss Reich bereits 1933 verlassen und auf einem Kongress der Inter-

nationalen Psychoanalytischen Vereinigung wird er zu einer Anhörung geladen, die mit seinem Ausschluss endet.10 DIE GEBURT DES HÄRETIKERS In Norwegen gründet er das Institut für sexualökonomische Lebensforschung und stürzt sich in die Arbeit mit dem Ziel, einen zunehmend aussichtslosen Kampf zu gewinnen. Diese Jahre sind für die spätere Entwicklung Reichs richtungsweisend: Reich beginnt die ersten Untersuchungen zu elektrischen Spannungen bei sexueller Erregung und Angst. Er nimmt zunächst Studenten und Studentinnen als Probanden, die verschiedenen sexuellen und nichtsexuellen Reizen ausgesetzt werden, während die elektrische Spannung an mehreren Körperstellen gemessen wird. Einer dieser ersten Probanden ist der junge Willy Brandt, der sich ebenso wie Reich im norwegischen Exil befindet und mit dessen Sekretärin Gertrud Gaasland liiert ist.11 Um seine

9  Vgl. Sharaf, Fury on Earth, S. 133 ff.

Thesen zu verifizieren, sucht sich Reich auf dem für ihn neuen Gebiet die Unterstützung des Physiologen H. Löwenbach. Um dessen Zweifel an den Interpretationen der Ergebnisse zu widerlegen, zieht Reich zusätzlich noch den Physiologen Wilhelm Hoffmann zurate. Als dieser Löwenbachs Kritik

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10  Vgl. Turner, Adventures in the Orgasmatron, S. 165 ff. 11 

Vgl. ebd., S. 173 f.

teilt, bricht Reich mit beiden und findet in einem Tagebucheintrag im September 1935 seine eigene Erklärung für die doppelte Ablehnung: »Löwenbach ist ein Intrigant. Versuchte Hoffmann durch Unwahrheiten aufzuhetzen […]. Löwenbach = Prototyp Furz-Wissenschaftler, die jahrzehntelang die feinsten Fäserchen an Blättern untersuchen, wenn sie sagen sollen, wie ein Baum aussieht […]. Kommt dann einer und beschreibt den Baum im Ganzen, dann sind sie exakt – und verkleinern«12. Sind schon die Veröffentlichungen zur Sozialpathologie der Sexualität in den 1920er und frühen 1930er Jahren von Kontroversen begleitet gewesen, so verschärft sich der Ton in den Osloer Jahren und Lager von Unterstützern und Kritikern bilden sich, die sich über die Tagespresse einen Schlagabtausch liefern. Reich ordnet die verschiedenen Widerstände, die ihm entgegenschlagen, einer einheitlichen Quelle zu: Ob es Wissenschaftler sind, die seine Ergebnisse öffentlich infrage stellen, oder Journalisten; ob es Freunde sind oder Lebenspartner: »[… A]lle Menschen sind in Wirklichkeit prächtig, nur die Seuche macht sie so«13, notiert Reich im November 1936 und rekurriert damit auf die von ihm diagnostizierte Kollektivneurose, unter der die bürgerliche Gesellschaft leide. Wenngleich der Begriff sich mit den Jahren auch wandelt, so bleibt der Erklärungsansatz in den Folgejahren doch stets derselbe. In Norwegen beginnt Reich, sich in der Rolle des Häretikers einzurichten. Er wähnt sich mit seinen Forschungen auf einer neuen Erkenntnisebene. Die bioenergetischen Forschungen zur sexuellen Erregung und die damit einhergehenden Debatten bringen Reich zunächst dazu, eine eigenständige Energieform zu proklamieren, die er später »Orgon« tauft. Bei Experimenten, die im Nachhinein zum zentralen Gegenstand der wissenschaftlichen Kontroverse über Reich werden sollen,14 bemerkt Reich ein blaues Schimmern.15 Er ist der 12  Wilhelm Reich, Jenseits der Psychologie. Briefe und Tagebücher 1934–1939, Köln 1997, S. 107.

Überzeugung, eine Energieform gefunden zu haben, die eine Übergangsform zwischen lebloser und lebender Substanz darstelle, während ihm seine Kritiker – insbesondere der Biologe Albert Fischer und der Bakteriologe Lejv

13 

Ebd., S. 127.

14  Ausführlicher dazu: Turner, Adventures in the Orgasmatron, S. 191–199. 15  »Habe soeben mit Dr. Bon, Amersfort, gesprochen. Weil ich strahle – An Händen, Handoberflächen und Fingerspitzen, am Penis«, notiert Reich im März 1939 in seinem Tagebuch (Reich, Jenseits der Psychologie, S. 290).

Kreyberg, denen er Proben seiner »Bione« schickt – Unwissen über seinen Arbeitsbereich unterstellen und die von Reich beobachteten Phänomene auf herkömmliche Erklärungsmodelle zurückführen. Reichs Annahmen zu Orgon, die seine Forschungen im Bereich der Psychoanalyse und der Psychophysiologie mit den Beobachtungen an seinen Bion-Proben, einem vollkommen anderen Gegenstand, verbinden, festigen sein Selbstbild als Häretiker in der Zeit der heftigsten Attacken gegen seine Person: »Ich habe tatsächlich das Leben entdeckt. Es ist wahrhaftig nicht zu glauben. Ich – eine große Null – ein Unakademikus, ein sexueller Strolch im Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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bürgerlichen Sinne, mache die größte Entdeckung des Jahrhunderts«, notiert er im Herbst 1939, kurz nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten.16 DAS BLAUE LEUCHTEN Als Reich in die USA emigriert, ist er weitestgehend mittellos. Er bekommt eine Lehranstellung an der New School for Social Research, wo er bis Mai 1941 lehrt, um dann aufgrund von Differenzen über seine Forschung und seinen Umgang mit Kollegen entlassen zu werden. Er beantragt eine Zulassung als niedergelassener Arzt, die ihm jedoch von der American Medical Association verweigert wird. Im Dezember 1940 beginnt Reich dennoch mit dem Einsatz von Orgon-Akkumulatoren zur medizinischen Behandlung von Patienten.17 Zugleich kontaktiert er Albert Einstein, um ihn von seinen bahnbrechenden Erkenntnissen zu überzeugen. Einstein lässt sich einen Orgon-Akkumulator und ein Orgonoskop zuschicken, um diese Geräte zu untersuchen. Im Januar 1941 findet dann ein Treffen zwischen den beiden statt. Einstein und Reich unterhalten sich den gesamten Nachmittag über und Reich hat das Gefühl, endlich von einem Physiker ernst genommen zu werden. Die Nachforschungen Einsteins fallen jedoch negativ aus, was Reich nicht akzeptieren will: Er schreibt Einstein mehrere Briefe, die in letzter Konsequenz unbeantwortet bleiben. Deutlich zeigt sich, dass Reich die Zurückweisung durch Einstein ebenso wenig hinnehmen kann, wie die vorherige durch Freud.18 Reichs umstrittener Status, seine provokanten Thesen zur Sexualität und seine unkonventionellen Therapiemethoden verschaffen ihm in den 1940er Jahren Prominenz in der entstehenden Hipster-Szene. Avantgardistische Intellektuelle wie J. D. Salinger, William S. Burroughs, Paul Goodman oder Jack Kerouac zählen sich zu seinen Anhängern. Und wenngleich vielen die Orgon-Akkumulatoren wie Reliquien aus dem 18. Jahrhundert erscheinen,19 gehört es in diesen Kreisen zum guten Ruf, Reich zu lesen und sich einige seiner Erfindungen zu leisten. Sein Ruf als politischer Provokateur und sexueller Revolutionär trifft jedoch im Amerika der 1940er Jahre nicht nur auf Freunde. Im Januar 1940, 16 

Vgl. ebd., S. 359.

einige Monate nach seiner Ankunft in New York, wird das FBI auf Reich aufmerksam. Es sind die Jahre, in denen J. Edgar Hoover beginnt, einen um-

17  Vgl. ebd., S. 289.

fassenden Überwachungsapparat aufzubauen, der insbesondere den Strom

18  Vgl. Sharaf, Fury on Earth, S. 285 ff.; Turner, Adventures in the Orgasmatron, S. 225–230.

pen in den Vereinigten Staaten ins Visier nimmt. Am 12. Dezember 1941

19  Vgl. Turner, Adventures in the Orgasmatron, S. 223.

an Migranten aus Europa sowie kommunistische und faschistische Grupwird Reich nachts von zwei Special Agents des FBI zuhause abgeholt und erkennungsdienstlich behandelt. Mit Reichs Zustimmung wird eine Hausdurchsuchung bei ihm durchgeführt, bei der minutiös jeder verdächtige oder Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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erwähnenswerte Gegenstand aufgelistet wird.20 Zwei Wochen bleibt Reich inhaftiert. Einige Monate später wird er vom FBI in die »Gefahrenklasse B« eingeordnet, was dazu führt, dass die Überwachung Reichs zumindest sporadisch fortgesetzt wird. Im Sommer 1943 kommt es zu einem vorläufigen Ende der Überwachungen. Der Generalbundesanwalt der Vereinigten Staaten, Francis Biddle, ordnet das Ende von Hoovers Bespitzelungspolitik an.21 Zudem stellt sich heraus, dass Reichs Einstufung in die Gefahrenklasse B auf seiner Verwechslung mit William Robert Reich basiert, einem amerikanischen kommunistischen Aktivisten in New York.22 Die Akte Reich ist damit vorläufig geschlossen. DEADLY ORGONE Im März 1947 veröffentlicht das Harper’s Magazine einen Artikel der Journalistin Mildred Edie Brady mit dem Titel »The strange Case of Wilhelm Reich«. In dem Artikel wird Reich als Exponent einer Popularisierung der Psychoanalyse dargestellt, die ihre krudesten Blüten treibe. Brady ist auf Reich aufmerksam geworden, nachdem sich zwei Freunde von ihr, die an Krebs erkrankt sind, Orgon-Akkumulatoren bestellt haben. Der infolgedessen entstandene Artikel beschreibt Reich als Ikone der Counterculture, die zudem unter Psychoanalytikern weitestgehend anerkannt sei. Und tatsächlich ist Reich in den Jahren zuvor, insbesondere mit seinen Positionierungen zur Sexualität und seinen unkonventionellen Therapiemethoden, zu einem schillernden Gegenentwurf der amerikanischen Nachkriegsprüderie geworden. Seine Therapiestunden waren gut gefüllt, seine privaten Schulungen, obgleich kostenintensiv, sehr begehrt, die Orgon-Akkumulatoren ein Verkaufsschlager. Mit ihrem Artikel projiziert Brady die Angst vor kommunistischen und anarchistischen Umtrieben und sittlicher Verwahrlosung auf die Gestalt des psychoanalytischen Gurus und Quacksalbers. Im Jahr der Truman-Doktrin fällt der Artikel auf fruchtbaren Boden. Die FDA leitet Ermittlungen gegen Reich ein, insbesondere in christlich-konservativen Kreisen wird Reich nun zur Inkarnation kommunistischer Unterwanderung der amerikanischen Moral. Und auch die Akte Reich beim FBI erwacht zu neuem Leben. Ab 1947 gehen eine Vielzahl von Anfragen und Zuschriften beim FBI ein, die sich auf Reich beziehen. 1949 wird nochmals ein Agent damit beauftragt, »Substanzielles« über die Aktivitäten auf Reichs Anwesen »Orgonon« herauszube-

20  Vgl. Federal Bureau of Investigation, Wilhelm Reich, BUFILE 100–14601, Section 1, S. 37–48. 21  Vgl. ebd., S. 77 f.

kommen; mehr als Gerüchte findet der zuständige Agent jedoch nicht. Eine Quelle habe angegeben, auf dem Gelände werde eine Atombombe gebaut. Einer anderen seien die Mitarbeiter des Institutes suspekt, da sie alle Ausländer seien.23

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22  Vgl. ebd., S. 79 f. 23  Vgl. BUFILE 105– 111461, Section 1, S. 5 ff.

Einige Monate später geht ein Schreiben des Vereins Youth Problems, inc. beim FBI ein, das ein Paradebeispiel für die Mentalität des amerikanischen Nachkriegskonservatismus ist. Darin wird an Reich der Gegensatz zwischen Gut und Böse festgemacht: Die guten Amerikaner, »clean minded« »Christians«, gegen die böse »rotten philosophy«, Kommunisten, Lügner, Rabbis und sämtliche Minderheiten. Zu letzteren zählten auch die Psychoanalytiker, welche die jugendliche Moral zerstören wollten – und New York sei der Moloch, dem dieses giftige Gemisch entsteige.24 Es sind diese Jahre, in denen sich der Druck auf Reich wieder einmal erhöht, nicht zuletzt, weil seine umstrittenen Theorien Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen sind. Gleichwohl verfolgt das FBI die Hinweise eher widerwillig. Zudem kontaktiert Reich nun selbst das FBI, um auf mögliche Gefährdungen seiner Arbeit durch Spionage und Sabotage hinzuweisen, die er seinerseits auf »kommunistische Aktivitäten« zurückführt. In diesem Klima beginnt Reich, mit radioaktivem Material zu experimentieren. Im Dezember 1950 lässt er dem FBI eine Ausgabe des Orgone Energy Bulletin über seine Experimente mit Radium zukommen, die im Auftrag des FBI durch einen Atomphysiker rezensiert werden. Dieser erachtet die For-

schungen allerdings als unwissenschaftlich. Die »Oranur-Experimente«, wie Reich sie später nennen wird, sind eine weitere Modifikation seiner OrgonExperimente. Vor dem Hintergrund des atomaren Wettrüstens der Nachkriegsjahre installiert Reich dabei in seinen Orgon-Akkumulatoren Radium, um die Effekte von Orgon auf radioaktives Material zu untersuchen. Bei den Experimenten kommt es entgegen Reichs Erwartungen nicht zu reduzierten Strahlungseffekten. Reich interpretiert dieses Ergebnis so, dass durch das Radium Orgon in negative Gegenenergie umgewandelt werde. Er nennt diese Energieform DOR (Deadly Orgone). Damit rundet Reich sein Konzept ab und behauptet seither zwei gegensätzliche universelle Kräfte, die Leben und Tod repräsentierten und deren letztere durch den von ihm konstruierten Cloudbuster aus der Atmosphäre abgezogen und über Schläuche in Wasser abgeleitet werden könne. Reich wittert in dieser Lebensphase überall Spione: »Rotfaschisten«, wie er sie mittlerweile nennt, wähnt er als Agenten, die das »amerikanische System« infiltrierten und gegen das Wissen über Orgon und DOR arbeiteten, um eine wirklich freie Gesellschaft zu verhindern. In dieser Phase, ab ca. 1952, beginnt Reich, den Dialog mit dem FBI und insbesondere mit J. Edgar Hoover zu forcieren. Mit immer intensiveren Warnungen wendet er sich an das 24  Vgl. BUFILE 105–111461, Section 3, S. 28–31.

FBI, das zunächst noch standardisiert antwortet. Bald jedoch wird aus dem

Dialog ein Monolog, ab 1954 wird schließlich die Direktive herausgegeben, Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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dass bis auf Weiteres keine Schreiben aus dem Orgone Institute mehr beantwortet werden sollen.25 Im März 1954 erwirkt die FDA einen gerichtlichen Beschluss gegen Reich und das Orgone Institute. Die Verbreitung von Schriften, die behaupten, dass Orgon existiere und ihm heilende Wirkung zuschreiben, sei bis auf Weiteres untersagt, ebenso die Verbreitung von Geräten, die beanspruchen, Orgon zu sammeln, zu verstärken oder irgendwie nutzbar zu machen. Damit ist Reichs finanzielle Basis für weitere Forschungen verloren. Das Geschäft mit dem Orgon hatte sich in den vergangenen Jahren als äußerst profitabel erwiesen; wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm die Artikel über den Guru des Orgasmus unfreiwillige Popularität eingebracht hatten. Keine zwei Monate nach dem Gerichtsbeschluss hat Reichs Denken die letzten Grenzen überwunden: Als er eines Abends mit dem Cloudbuster arbeitet, richtet er ihn auf zwei Sterne, die laut Reich daraufhin ihr Leuchten eingestellt hätten. Für Reich, der schon im November dem FBI gegenüber die Andeutung gemacht hat, dass nur er Gefahren aus dem Weltraum abwenden könne,26 ist die logische Schlussfolgerung, dass es sich bei den Sternen nicht um Sterne, sondern um Ufos handeln müsse.27 Reich wähnt sich forthin in einem interstellaren Krieg, in dem er seine Brigade der Cosmic Engineers in den Kampf schickt.28 In dieser Phase ist das Team um Reich auf einige wenige Mitarbeiter und Familienmitglieder geschrumpft und insbesondere Reich selbst, sein Assistent Michael Silvert sowie sein Schwiegersohn, der Künstler William Moise, fangen an, das FBI in Person Hoovers, den amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower sowie die Air Force mit Pamphleten, Telegrammen, Besuchen und Briefen zu bombardieren. Die »emotionale Seuche«, der ständige Bezugspunkt in Reichs Anschreiben und Publikationen, nimmt in den Veröffentlichungen und Briefen aus den Jahren 1954–1955 personelle Züge an. Sie steuert das Geschehen, findet Erwähnung als Master Mind Conspirator oder auch einfach als The Plague. Das FBI leitet einen großen Teil dieses Briefverkehrs an die FDA weiter.29 Im zweiten Gerichtsverfahren wird Reich schlussendlich ein Verstoß gegen die Auflagen von 1954 nachgewiesen.30 Nach Abschluss des Verfahrens reicht Reich am 10. Januar 1957 nochmals Widerspruch bei Gericht ein. Die Begründungsschrift ist fast einhundert Seiten lang. Die Entdeckung der OrgonEnergie, heißt es da, involviere völlig neue Probleme in Bezug auf den Weltraum: Der Antragsteller habe es geschafft, ein Ufo außer Betrieb zu setzen. Rechtlich sei dieser Fall daher vollkommen neu zu bewerten. Reich referiert auf sich selbst in dem Schreiben als »Discoverer of the Life Energy«31. Das

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Verschwörungen — Portrait

25  Vgl. BUFILE 105–111461, Section 1, S. 102–109. 26  Vgl. BUFILE 100– 14601, Section 2, S. 24. 27  Vgl. BUFILE 105–111461, Section 2, S. 240 f. 28  Reichs Sohn aus zweiter Ehe, Peter Reich, hat eine plastische Darstellung von Reichs Abdriften in diese Phantasiewelt geliefert; siehe Peter Reich, A Book of Dreams, New York 1973. 29  Vgl. BUFILE 105–111461, Section 1, S. 137 f.; BUFILE 105– 111461, Section 2, S. 92. 30  Vgl. Sharaf, Fury on Earth, S. 454. 31  BUFILE 105–111461, Section 2, S. 223–323, hier S. 238.

Dokument soll den roten Faden zwischen sämtlichen Zusammenhängen herstellen, zwischen Reichs frühen Beobachtungen, der Entdeckung der OrgonEnergie und der Verschwörung gegen ihn. Es hilft nichts, am 11. März 1957 muss Reich die Haft antreten. Zu Reichs Tod veröffentlicht Elsworth Baker, einer von Reichs letzten Getreuen, einen Nachruf, der par excellence aufzeigt, wie Ikonisierung und öffentliche Ablehnung im Diskurs des Gegenwissens einander verstärken: »Once in a thousand years, nay once in two thousand years, such a man comes upon this earth to change the destiny of the human race. […] We have witnessed it all, The Murder of Christ.«32 DER ROTE FADEN Wo ist nun der zu Beginn postulierte rote Faden? Aufgrund von Reichs Kindheitserlebnissen und seiner eigenen Rolle im Konflikt zwischen Vater und Mutter verwundert nicht, dass ihm die Psychoanalyse als Offenbarung erscheint. Denn sie liefert ihm eine Erklärung, die nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter von Schuld freispricht. Schließlich sind es insbesondere die frühen Schriften Freuds, die den Zusammenhang zwischen unterdrückter Sexualität und Neurose propagieren, der am Ausgangspunkt von Reichs Werk steht. Insbesondere in Reichs Tagebüchern wird deutlich, wie er seine Identität um das Wesen der Sexualität aufbaut – und wie sehr er sich als Teilnehmer eines Dramas wähnt. Das Leiden der Sexualunterdrückung durchdringt zwar insbesondere die erste Hälfte von Reichs Werk; gerade zum Ende seiner Laufbahn hin geht er jedoch in gewisser Weise wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück, wenn er mit DOR und Orgon die beiden miteinander ringenden Kräfte beschreibt, die todbringende und neurotische Energie einerseits, die Leben schaffende, orgastische Energie andererseits, deren Verhältnis auch noch ein wechselhaftes zu sein scheint, dass Orgon zu DOR werden und aus lebensspendender Lust Leid und Tod entstehen könne. Schließlich fällt die Art und Weise auf, wie sich das Werk Reichs in immer fantastischere Höhen schraubt. Sein ehemaliger Mitarbeiter und Biograf Myron Sharaf weist darauf hin, dass Reich in Freud’schen Begriffen durch Rettungsfantasien geprägt war:33 Ausgehend von den Fantasien in Bezug auf 32  Turner, Adventures in the Orgasmatron, S. 428. »The Murder of Christ« war ein Buch Reichs, das 1953 veröffentlicht wurde. 33  Vgl. Sharaf, Fury on Earth, S. 240 f.

seine Mutter lassen sich solche Vorstellungen in Zusammenhang mit dem Anspruch erkennen, ein verkanntes Genie zu sein, von dessen Erkenntnissen das Schicksal der gesamten Welt abhänge. Gerade in den Momenten, in denen dieses Selbstbild durch Kritik angegriffen wird, erweitert er sein Werk, forscht erst physiologisch, dann biologisch, schließlich physikalisch, um endlich in den ganz großen Umlaufbahnen einer esoterischen Astrophysik zu landen. Tobias Neef  —  Wilhelm Reich

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Reich war, so drückte es sein Sohn Peter später aus, ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Ein Mensch, der an Maschinen baute, die vom Glauben an ihre Funktion angetrieben wurden und ihm die fantastische Welt hinter der wissenschaftlichen Rationalität eröffneten. Beim Übertritt in diesen Kosmos ließ er die Welt der 1950er Jahre, eine Welt sterbender Götter und tödlicher Maschinen, wie Philip Rieff es ausdrückte, hinter sich zurück.34 Die Betrachtung Reichs sollte diese Leistung nicht vernachlässigen. Denn er hat damit einen fantastischen Kosmos geschaffen, in dem eigene Gesetze gelten und den er bis heute mit seinen Jüngern teilt. Das faszinierendste an Reich ist jedoch die Art, wie er sein fantastisches Gebilde aufgebaut hat. Er verifiziert nicht, sondern er baut auf einer Hypothese die nächste auf und entfernt sich so sukzessive von jeder möglichen Kritik. Die Bedeutung, die er seiner Erkenntnis beimisst, speist sich geradezu aus der Abweisung, die er erfährt. Dieses Denken hat sich in der Rezeption Reichs im Diskurs des Gegenwissens in verschiedenen Formen beibehalten. Mit Einwänden kann man dieses folglich so wenig irritieren wie Reich selbst.

Tobias Neef, geb. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung mit den Schwerpunktbereichen Transformation westlicher Demokratien und neue soziale Bewegungen.

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Verschwörungen — Portrait

34  Vgl. Philip Rieff, Cosmic Life Energy was just what the Doctor ordered, in: The New York Times Book Review, 11.09.1960, S. 3 u. S. 26.

INSPEKTION

»PARTEIFEINDE« UND »AGENTEN DES IMPERIALISMUS« AUS DEN JAHREN DER ZERSCHLAGUNG ALLER SOZIALDEMOKRATISCHEN TRADITIONEN IM OSTSÄCHSISCHEN FREITAL, DAS HEUTE EINE HOCHBURG VON PEGIDA IST ΞΞ Franz Walter

»Der Ort, für den sich Deutschland schämt«, lautete am 2. August 2015 eine Schlagzeile in der Bild. Dieser Ort, von dem dann eine für das Blatt bemerkenswert lange Reportage handelte,1 war das ostsächsische Freital. Hier hatte im vergangenen Sommer gewissermaßen die Welle wütender, bald militanter und zunehmend von Rechtsextremisten organisierter und fanatisierter Krawalle vor Asylheimen in Deutschland eingesetzt. Mittendrin hat sich verlässlich und 1  Geschrieben von Michel Friedman, Der Ort, für den sich Deutschland schämt, in: Bild, 02.08.2015. 2  Zit. nach Doreen Reinhard, Rassismus als Happening, in: Zeit Online, 25.06.2015, URL: http:// www.zeit.de/politik/deutschland/2015–06/freital-fluechtlingsheim-proteste-stellungskrieg [eingesehen am 05.11.2015.]. 3  Zum Ergebnis der Freitaler Bürgermeisterwahl siehe Bürgermeisterwahl 2015, URL: http://www.statistik.sachsen.de/ wpr_neu/pkg_s10_bmlr.prc_erg_ bm?p_bz_bzid=BM151&p_ebene=GE&p_ort=14628110 [eingesehen am 05.11.2015].

mit erkennbarem Behagen, da natürlich prominent ins Scheinwerferlicht gerückt, der Gründer und Lenker von Pegida getummelt: Lutz Bachmann, der in Freital ansässig ist. In dieser Stadt durften sich damals Bachmann, Pegidisten und irgendwie selbst die Kader mit Springerstiefeln noch weiter rechts einer zumindest raunenden Zustimmung der kommunalpolitischen Führungsgarnitur erfreuen. Der neue christdemokratische Bürgermeister Freitals hatte im Kommunalwahlkampf dieses Sommers jedenfalls eifrig bekundet, »pöbelnden und gewalttätigen Ausländern«2 mit Sanktionen scharf entgegentreten zu wollen, sollten ihm die Bürger das Amt an der Spitze des Rathauses anvertrauen, was ihr wählender Teil zu 51,3 Prozent auch getan hat.3 MUSTERKOMMUNE DES SOZIALDEMOKRATISCHEN REFORMISMUS In der Tat, in dieser Gegend, im Plauenschen Grund, nahe Dresden, hat der Populismus, auch der harte Extremismus rechts der Mitte seit den frühen

INDES, 2015–4, S. 103–117, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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1990er Jahren fruchtbaren Boden gefunden. Dabei hatte es historisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch komplett anders ausgesehen. Nirgendwo sonst war Deutschland seit der Industrialisierung bis zur Zeitenwende 1945/46 in der Bevölkerungsmentalität und im Organisationsverhalten so rot wie hier. Der Raum Freital – der Plauensche Grund – gehörte zu den fortgeschrittensten Pionierregionen einer hochdifferenzierten Industrieproduktion. Die Kommune selbst war lange Zeit die Hochburg der Arbeiterbewegung schlechthin. Freital existierte als Stadt erst seit 1921. Die Stadtgründung zu Beginn der Weimarer Republik entsprang einer Initiative der Sozialdemokraten dieser Gegend. Zur neuen städtischen Kommune schlossen sich seinerzeit drei Industriegemeinden (Deuben, Potschappel und Döhlen) zusammen, in denen die SPD mehr als zwei Drittel der Wähler auf sich vereinte.4 Und diese Zweidrittelmehrheit schuf sich eine Stadt, die »frei« sein sollte von »Ausbeutung und Unterdrückung«, daher eben der Name: Freital. Stadt und sozialistische Arbeiterbewegung verschmolzen während der 1920er Jahren in einer Weise, die in Deutschland ansonsten beispiellos blieb. Sie war die einzige Stadt im nur vermeintlich »roten Sachsen«5 mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, mit absoluten Mehrheiten bei Wahlen6, mit einer andernorts unerreicht hohen Mitgliederquote der SPD – über 3.000 der insgesamt 36.000 Einwohner besaßen das sozialdemokratische Parteibuch7. Und schließlich war das ganze Tal gefüllt von sozialistischen Arbeiterchören, Naturfreundegruppen, Arbeiter-Turner-Klubs, Arbeiter-Fußballvereinen und anderen linken Freizeitorganisationen.

4  Vgl. Hellmut Heinz, V ­ ierzig Jahre Freital, in: Kulturleben Kreis Freital, Jg. 7 (1961), H. 10, S. 1; Karl Prager, Freital, Sachsens jüngste Stadt, in: Sächsischer ­Volkskalender, Jg. 48  (1925), S. 57 ff. 5  Siehe hierzu Franz ­Walter, Das »rote Sachsen«. Der ge­ brochene Mythos, in: Ders. u. ­Felix Butzlaff (Hg.), Mythen, Ikonen, Märtyrer. Sozial­ demokratische Geschichten, Berlin 2013, S. 105–117. 6  Siehe etwa Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Sachsen, 48. Ausgabe (1929), S. 334 f.; Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 315, H. 4, S. 59.

Freital hatte in den 1920er Jahren überdies die Ambition, zur Wohlfahrtsinsel im trüben kapitalistischen Gewässer der Weimarer Republik zu wer-

7  Vgl. Freitaler Volkszeitung, 14.01.1930 u. 17.02.1932.

den. Infolgedessen zahlte die Stadt überproportional hohe Wohlfahrtssätze. Sie gerierte sich als Oase für die Verlorenen und Gestrandeten der Gesellschaft: für Arbeitslose, für ledige Mütter, für Kleinrentner – und vor allem für Kranke. Alles im Heil-, Fürsorge- und Wohlfahrtswesen war kommunalisiert, für alles sorgte die sozialdemokratische Gemeinde.8 Die Gesundheitspolitik

8  Siehe etwa den Artikel des Freitaler Oberbürgermeisters Gustav Klimpel, Städtische Wäschereien, ein neues Gebiet für die Gemeinwirtschaft, in: Die Gemeinde, H. 15/1928, S. 678–682.

bildete dabei das Herzstück des Freitaler Kommunalsozialismus.9 Schon unmittelbar nach der Stadtgründung hatten die Lenker im Rathaus eine Gruppe frisch approbierter, links orientierter Ärzte in die Industriestadt des Plauenschen Grundes geholt. Die Freitaler Stadtverwaltung verfügte – was sonst in

9  Siehe H. Zimmermann, Über das Freitaler Gesundheitswesen der zwanziger Jahre, in: Sächsische Heimatblätter, 5, 1955, S. 292–295.

Deutschland nicht üblich war – über einen ganzen Stab verbeamteter Ärzte und Hebammen, Fürsorger und Betreuerinnen. Außerdem ragte eine ungewöhnlich expansive Wohnungspolitik heraus. An etlichen Stellen der Stadt errichteten die Sozialdemokraten Siedlungen – teils als Genossenschaftler, teils als städtische Bauherren.10 Das betrieben sie

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10  Zum Kampf ums Rathaus 1929, o. O., o. J. (Freital 1929), S. 20; o. V., Wrede, eine sächsische Versuchssiedlung, in: Deutsche Bauhütte, Jg. 35 (1931), S. 377–379.

so massiv, dass man Freital in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre als »Rotes Wien in Sachsen« etikettierte – in Anspielung an die modellhafte Bautätigkeit der sozialistischen Gemeindespitze in der österreichischen Hauptstadt. Und infolgedessen hatten die Sozialdemokraten in diesen Siedlungen fortan auch ihre Hochburgen, hatten hier ihre besonders treuen, loyalen, hoch mobilisierbaren Wähler. Durch das sozialdemokratische (Kommunal-)Projekt wuchs die sozialräumig fragmentierte, ohne gewachsenes Zentrum gebündelte Stadt zusammen. Dadurch besaß sie eine integrative Idee, welche die Identifikation der Einwohner mit ihrer Gemeinde bewirkte, die Selbstbewusstsein verlieh, Vitalität und Energie freisetzte. In Freital herrschten in den Jahren der Weimarer Republik Bewegung, Tempo, Zuversicht – trotz aller bedrückenden ökonomischen Krisen. Niemand empfand Freital in den 1920er Jahren als langweilig, steril, öde. Auch Intellektuelle und Konvertiten des Bildungsbürgertums zog es hierhin, in das »Tal der Arbeit«, das durch seine Arbeiterkultur und das alternative Wohlfahrtsmodell, auch durch ein wunderschön gelegenes FKKBad des Vereins Volksgesundheit11 (mit immerhin 1.400 Mitgliedern vor Ort) weithin über den Raum Dresden hinaus und ebenfalls auf die Bohème ausstrahlte. Diese Stadt besaß eine spezifische politische Idee ihrer selbst. Freital war in den Weimarer Jahren eine Stadt ohne die anderorts vielfach virulente massive politische Gewalt mit einer hoch verantwortungsbewussten kommunalpolitischen Elite aus gemäßigten, kooperationsfähigen Reformisten. Die Nationalsozialisten insbesondere kamen hier nicht weit, blieben bei den letzten Wahlen der Weimarer Republik um 15 Prozentpunkte hinter ihrem Durchschnitt in Deutschland zurück. Selbst noch bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933, als die SPD unter dem Druck und den Verfolgungen der am 30. Januar installierten NS-Diktatur deutschlandweit auf 18,3 Prozent abrutschte, erreichten die Sozialdemokraten in Freital immerhin noch 40,2 Prozent der Stimmen. Damit waren sie weiterhin die unzweifelhaft stärkste Partei der Stadt, lagen mit markantem Vorsprung vor der NSDAP, die in Freital lediglich von einem Viertel des Elektorats Unterstützung erhielt, was hier ebenso die Kommunisten schafften – womit die beiden Parteien der sozialistischen Arbeiterbewegung trotz allen braunen Terrors zwei Drittel der Freitaler Wählerschaft hinter sich scharen konnten.12 11 

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Vgl. Festprogramm zur 100 Jahrfeier der Sparte »Volksgesundheit am Windberg« Freital, o. O., o. J. (1987), S. 8. Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 434, S. 224.

MIT DER SED BEGANN DIE TRAGÖDIE Und die Braunen an der Macht drängten das Rote in Freital auch in den folgenden zwölf Jahren noch nicht fort. Denn kaum waren die Nazis weg, kehrten die Sozialdemokraten wieder vollständig zurück. Erneut schlossen Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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sich weit über 3.000 Freitaler der SPD an.13 Auch bei den für lange Jahrzehnte letzten halbwegs freien Wahlen im Osten, im Herbst 1946, votierten zwei Drittel der Freitaler Wähler für die frisch gegründete SED – es war das Spitzenergebnis für die Einheitssozialisten in Sachsen schlechthin. Doch mit der SED14 begann die Tragödie von Freital und der Sozialdemokratie. Am Ende der SED -Herrschaft war von der sozialdemokratischen Tradition, war von der großen munizipalsozialistischen Idee der Stadt buchstäblich nichts mehr übrig geblieben. Selbst die Erinnerungen daran waren zum Ende der 1980er Jahre ausgelöscht. Noch 1947 hatte die Mehrheit der früheren Sozialdemokraten in Freital jedoch gehofft, die sozialdemokratischen Traditionen auch in der SED bewahren zu können. In der Tat konnte zu diesem Zeitpunkt von einer sichtbaren Dominanz der Kommunisten noch immer keine Rede sein. Weiterhin schienen auf dem Rathaus die alten vertrauten Weimarer Sozialdemokraten zu herrschen. Als Oberbürgermeister fungierte Karl Wenk, der langjährige Fraktionsvorsitzende der Freitaler SPD vor 1933 im Stadtparlament, und als Stadtverordnetenvorsteher präsidierte der frühere rechte Sozialdemokrat Ernst Völkel, der dieses Amt ebenfalls bereits bis 1926 ausgeübt hatte. So hoffte die Mehrheit der früheren Sozialdemokraten bis Anfang der 1950er Jahre noch auf eine Sozialdemokratisierung der SED. Der Fraktionsvorsitzende der SED in der Freitaler Stadtverordnetenversammlung war ein alter Sozialdemokrat, früher ein Mann des linken Flügels, aber nie ein Freund der Kommunisten und auch in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre kein willfähriges Instrument der Stalinisten. Von den fünf besoldeten Stadträten Freitals im Jahr 1949 hatten zwei einst zur SPD gehört, nur einer zur KPD, die anderen beiden waren von der CDU und LDPD. Einer der beiden sozialdemokratischen Stadträte war zugleich Vorsitzender des FDGB in Freital.15 Und auch der Vorstand der höchst populären Gartensparte »Volksgesundheit«, die über das schöne Freibad verfügte, war fest in der Hand von alten Sozialdemokraten. Den Vorsitz dort übte bis in die frühen 1950er Jahre ein früherer Stadtverordneter für die SPD der Weimarer Zeit aus.

Vor allem aber: An der Spitze des Freitaler Rathauses stand als Oberbürgermeister nach wie vor Karl Wenk, in der ganzen Stadt seit den 1920er Jahren beliebt, zweifellos ein Sozialdemokrat alten Schrot und Korns, nüchtern im Urteil, pragmatisch im Handeln. Mit ihm an der Spitze konnte schon nichts schiefgehen, so beruhigten sich damals wohl viele in der Stadt. Wenk war 1887 in Potschappel – einer der drei Arbeitergemeinden also, aus denen dann 1921 Freital hervorging – als siebtes Kind eines Kutschers geboren worden.16 Nach der Volksschule besuchte er noch zwei Jahre die Gewerbeschule,

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13  Siehe Mitgliederstatistik, in: Haus der Heimat (Freital). 14  Zur Konstituierungsphase der SED in Sachsen vgl. Stephan Doth, Die Gründung der SED in Sachsen, URL: http://www. kas.de/upload/ACDP/HPM/ HPM_03_96/HPM_03_96_5.pdf [eingesehen am 05.11.2015]; vgl. auch Ders. u. Mike Schmeitzner, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002. 15  Vgl. Stadtarchiv Freital, Signatur: 4766. 16  Siehe Lebenslauf von Wenk, in: Landesparteiarchiv der PDS-Sachsen, nun Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden/HStA [im Folgenden LPA abgekürzt], Signatur: IV/405 089; auch Sächsische Volkszeitung, 09.08.1946.

um schließlich ein Metallhandwerk zu erlernen. In seinem Beruf arbeitete er bis 1918. 1908 hatte er sich der sozialdemokratischen Partei angeschlossen. Zu dieser Zeit gehörte er im Plauenschen Grund zu den Mitbegründern der sozialistischen Jugendbewegung, die er dann über Jahre als Vorsitzender leitete. Seit 1918 war er – beruflich nun Geschäftsleiter der Dresdner Volksbuchhandlung – Gemeinderatsmitglied, seit Gründung der Stadt Freital bis 1933 führte er die sozialdemokratische Stadtratsfraktion im Rathaus an. Wenk war der Realpolitiker der Freitaler SPD. Seine Politik richtete er nicht nach starren ideologischen Prinzipien, sondern nach Möglichkeiten und Gelegenheiten aus. Seine normative und handlungsleitende Überzeugung war: Die Solidarität der Stärkeren hatte über die Organe des Staates, der Gemeinden, der Verbände für die minderbemittelten, armen, kranken Hilfsbedürftigen einzutreten. Das Proletariat sollte sich durch die eigenen Organisationen und mithilfe des sozialdemokratisch durchdrungenen Staates materiell allmählich verbessern und kulturell emanzipieren. So könnten die Gemeinden, die Gesellschaft, das Deutsche Reich schließlich sozialer, gerechter, eben: sozialdemokratischer werden. Das hatte Karl Wenk vor Augen. Und in Freital fand – bzw. bestellte – er das für sein Politikverständnis geeignete Terrain. Dort gab es die nötigen Mehrheiten, er selbst war fest in der Stadt verwurzelt, verfügte über eine Hausmacht in der Partei und in den Vereinen. Er war ein geschickter Stratege, fädelte klug und ganz unorthodox im Stadtrat Koalitionen ein, meist allerdings mit den Bürgerlichen. Wenk war zu Beginn der 1920er Jahre ein heftiger Gegner der sozialdemokratisch-kommunistischen Annährung, die auf der sächsischen Landesebene im Herbst 1923 schließlich zu einer exekutiven Allianz von SPD und KPD führte. Von den Kommunisten hielt Wenk denkbar wenig. Konstruktive Politik – das und nur das zählte für ihn – traute er ihnen nicht zu; Kommunisten waren für ihn pure Agitatoren, schrille Schreier, unreife Radikalinskis allein des Wortes, mehr nicht. Mit der Politik seiner sächsischen Landespartei stimmte Wenk nicht überein. Ihn überzeugte mehr die preußische Sozialdemokratie unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun. Dessen Vorbild wäre er gern auch in Sachsen gefolgt; dessen Bündnismodell, welches das Spektrum der republikanischen Parteien notfalls bis hin zur DVP umfasste, hielt er für vernünftig und unter den obwaltenden Verhältnissen in der Republik für erstrebenswert. So respektierte auch das Freitaler Bürgertum Wenk; schließlich war er kein Revolutionär, auch kein weltfremder Visionär, sondern ein kühl kalkulierender, pragmatischer Politiker, der für einen ehemaligen Arbeiter erstaunlich selbstbewusst auftrat und über eine ebenfalls erstaunliche Bildung verfügte, die er sich autodidaktisch erarbeitet hatte. Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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Gleichwohl: Alle Hoffnungen auf eine Neuauflage der bis 1929 erfolgreichen sozialdemokratischen Kommunalpolitik nun im Gewande der SED waren spätestens ab Mitte Januar 1947 Illusion. Am 16. Januar 1947 wurden in Sachsen die 17 kreisfreien Städte, darunter eben auch Freital, aufgelöst und in die neu gebildeten Landkreise überführt. Damit war die Kerngemeinde des Plauenschen Grundes gewissermaßen wieder in die Zeit vor der Stadtgründung zurückgefallen; damit auch war die Basis einer politisch eigen- und selbstständig konzipierten Kommunalpolitik, also das Herzstück der sozialdemokratischen Tradition in Freital, verschwunden. Die wichtigste Entscheidung fällte jetzt der Kreis, die Gemeinde hatte lediglich zu administrieren. Das nahm allen Freitaler (Ex-)Sozialdemokraten jegliches Fundament ihres Selbstverständnisses und bisherigen Tuns. Kurzum: Im Freitaler Rathaus wurde seit Januar 1947 die Musik nicht mehr gemacht. Insofern bedeutete die auf den ersten Blick beeindruckende Repräsentanz von früheren Sozialdemokraten an der Spitze der Kommunalverwaltung bloß eine Verschleierung der wirklichen Machtverhältnisse. Den Einwohnern Freitals vermittelte die Besetzung des Oberbürgermeisteramtes, des Fraktionsvorsitzes der SED und des Stadtverordnetenvorstandes den Eindruck von Kontinuität; sie sollten sich in dem Glauben wiegen, ihre Stadt wäre noch in bewährten, verlässlichen sozialdemokratischen Händen. Viel zu sagen aber hatten die ehemaligen Sozialdemokraten im Freitaler Rathaus nicht. DIE »PARTEI NEUEN TYPS« IM KAMPF GEGEN »IMPERIALISTISCHE DIVERSION« UND »KOSMOPOLITISMUS« Während das Freitaler Rathaus nach außen wie ein Hort sozialdemokratischer Tradition wirkte, hatten die Kommunisten in der Parteiorganisation schon längst, aber unter Ausschluss der öffentlichen Wahrnehmung, das Ruder übernommen. Die anfängliche Parität zwischen ehemaligen Sozialdemokraten und Kommunisten im Vorstand der Freitaler SED war im Frühjahr 1949 abgeschafft worden, da einige frühere Sozialdemokraten – so das Urteil der neuen Partei-Kontroll-Kommission, welche die ideologische Klarheit der SED zu überprüfen und zu bewachen hatte, also ganz ein Instrument zur Bolschewisierung der Partei war – »ideologisch zu schwach waren und aus dem Vorstand herausgenommen werden mussten«. So begab sich 1949 auch die Freitaler SED mithilfe eines nun allgegenwärtigen Verschwörungsverdachts gegen jede potenzielle Fronde auf den Weg zur »Partei neuen Typus«17. Dazu brauchte sie auch Funktionäre neuen Typs; solche, die der Partei absolut ergeben waren, die diszipliniert den Vorgaben der Zentrale folgten, die ohne innere Skrupel alle ideologischen und politischen Wendungen des

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17  Vgl. allgemein hierzu Andreas Malycha, Partei von Stalins Gnaden? Die Entwicklung der SED zur Partei neuen Typus in den Jahren 1946 bis 1950, Berlin 1996.

Weltkommunismus mit- oder nachzuvollziehen bereit waren.18 Sozialdemokraten aber, selbst wenn sie sich zuweilen oder auch häufiger opportunistisch verhielten, schleppten in der Regel noch moralische Skrupel mit sich herum. Als pure Befehlsempfänger taugten sie meist nicht recht, da sie in einer anderen, zumindest in sich heterogeneren, pluraleren Parteikultur aufgewachsen waren. Übrigens auch nicht jeder alte Weimarer Kommunist, den die wilden inneren Kämpfe der Weimarer KPD und deren eher antiautoritärer Aktionismus geprägt hatten, war als Funktionär »neuen Typus« in dieser Frühzeit der DDR probat geeignet. Und so musterte die Partei-Kontroll-Kommission sie alle aus, als im März 1949 der Freitaler SED-Vorstand durchleuchtet wurde: den Organisationssekretär, einen alten Arbeitersportler und Reichsbannermann, der nun wieder ins Glied treten musste; den Sekretär für Schulung und Werbung – ebenfalls ein früherer Sozialdemokrat, der nun zum Pförtner degradiert wurde; die Altkommunistin, die ihre Partei schon 1924 im Freitaler Stadtparlament vertreten hatte, nun aber kalt als totale Versagerin fallen gelassen wurde.19 Die Traditionen der alten Arbeiterbewegung blieben somit zwangsläufig auf der Strecke. Es war bezeichnend und wies in die Zukunft der DDR , welche vier Figuren aus dem Büro der Freitaler SED 1949 hingegen das Wohlgefallen der Kontrollkommission fanden: ein disziplinierter, unbedingt linientreuer Kommunist; ein früherer sozialdemokratischer Lehrer, der nach 1933 18 

Siehe auch Ralph Jessen, Partei, Staat und »Bündnispartner«: Die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur, in: Matthias Judt (Hg.), DDRGeschichte in Dokumenten: Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1998, S. 27–86, hier S. 30 f. 19  Vgl. hierzu und im Folgenden Situationsbericht über die personelle Besetzung des Ortsgruppenvorstandes bzw. der Arbeitsgebietsleitung Freital, 16.03.1949 und PPABericht über das Arbeitsgebiet Freital, 30.07.1949, in: LPA, Signatur IV/5.01.201, Bd. 22. 20  Zur Bedeutung der HJ-Generation vgl. schon Lutz Niethammer, Volkspartei neuen Typs? Sozialbiographische Voraussetzungen der SED in der Industrieprovinz, in: Prokla, Jg. 20 (1990), H. 80, S. 40–70.

der NSDAP beigetreten, dadurch erpressbar war und seinen Fehltritt durch Überanpassung an die neuen Strukturen und Sprachformen kompensierte; schließlich noch zwei junge Frauen, die ihr Sozialisationserlebnis nicht in der Arbeiterbewegung hatten, sondern: im BDM. Beide waren dort Scharführerinnen gewesen; die eine hatte sich 1944 zudem noch der NSDAP angeschlossen. Beide legten einen größeren ideologischen Eifer an den Tag als jeder andere im SED-Vorstand in Freital, beide hatten die Kreisparteischule besucht, eine überdies noch die Landesparteischule. Ihre Lehrer hatten ihnen die besten Zeugnisse ausgestellt; die jungen Frauen galten daher der Kontrollkommission als »ideologisch sehr klar« und vielversprechende Hoffnungen für die Zukunft. Die »Partei neuen Typus« brauchte nicht so sehr den Sozialcharakter, wie ihn die klassische, zumal sozialdemokratische Arbeiterbewegung hervorgebracht hatte; sie benötigte vielmehr den Sozialisationstyp, den die HJ und das nationalsozialistische Deutschland produziert hatten: gefolgsam, nach oben autoritätsgläubig und nach unten autoritär, sich einer Ideologie ganz und gar hingebend, in Schwarz-Weiß-Mustern aufgewachsen, jederzeit bereit, die von oben dekretierten Verschwörungsparadigmen zu übernehmen und in denunziatorische Kampagnen zu übersetzen.20 Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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Zwischen 1949 und 1951 fand in der Freitaler Partei das große Aufräumen statt. Der Traum von der Sozialdemokratisierung der SED erwies sich damit endgültig als Schimäre. Denunziation, Bespitzelung und Misstrauen: Sie beherrschten fortan die Atmosphäre in der SED. Kaum jemand durfte sich sicher sein, nicht irgendwann der »imperialistischen Diversion« oder eines schändlichen »Kosmopolitismus« bezichtigt zu werden; auch alte, stets parteitreue Kommunisten nicht, selbst wenn sie Jahre im Konzentrationslager gelitten hatten. Es reichte, wenn sie sich – wie einige Freitaler Kommunisten – »sehr häufig von Stimmungen der Belegschaft in Schlepptau nehmen« ließen; solcherlei Nähe zum wirklichen Proletariat machte sie in hohem Maße verdächtig, dem Klassenfeind auf den Leim gegangen zu sein.21 Vor allem witterten die Parteikontrolleure, insbesondere eben in der früheren sozialdemokratischen Metropole Freital, allseits Agenten des Ostbüros der SPD, Sendlinge des Antikommunisten Kurt Schumacher, des damaligen Vorsitzenden der bundesrepublikanischen SPD.22 Der »Sozialdemokratismus« wurde Ende der 1940er Jahre parteioffiziell zum Hauptfeind, ganz ähnlich wie der »Sozialfaschismus« in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Infolgedessen lief auch Karl Wenks Zeit ab. Im Sommer 1950 zwangen ihn die Kommunisten zum Rücktritt von seinem Posten als Oberbürgermeister der Stadt. Flucht kam für den heimatverbundenen, bodenständigen alten Sozialdemokraten nicht infrage, konspirative Tätigkeit hielt der notorische Realpolitiker für sinnlos. Der SED gehörte er zwar weiterhin an, aber an der Parteiarbeit nahm er aktiv nicht mehr teil. Als Rentner – nach seinem Rausschmiss aus dem Rathaus war er eine Zeit lang noch Betriebsleiter einer Fass- und Bottichfabrik gewesen – widmete sich der frühere Obmann des sozialdemokratischen Bildungswesens im Frei21  Vgl. die Unterlagen in: Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung/Zentrales Parteiarchiv [im Folgenden IfGA, ZPA abgekürzt], IV 2/5/1177 u. IV 2/5/227.

taler Unterbezirk dann ganz der Kulturarbeit. Trotz dieses Rückzugs in die

22  Vgl. Entschließung zur Verbesserung der ideologischen Arbeit im Arbeitsgebiet Freital, in: LPA, Signatur IV/5.01.201 und Situationsbericht über den ideologischen Zustand in Freital, 27.07.1949, in: ebd.

»Analyse über opportunistische und revisionistische Erscheinungen sowie

23  Analyse über opportunistische und revisionistische Erscheinungen sowie Feindesarbeit im Kreis Freital, in: IfGA, ZPA, Signatur IV/2/4/056.

innere Emigration des Kulturellen hatten die Parteikontrolleure noch Ende der 1950er Jahre ein wachsames Auge auf den Rentner. Er sei »besonders zu beobachten«, schrieb die Kreis-Partei-Kontrollkommission 1959 in einer Feindesarbeit im Kreis Freital«.23 Wenk hatte gleichsam den Idealtypus des intelligenten, tüchtigen, soliden, realistischen und populären sozialdemokratischen Kommunalpolitikers aus der Facharbeiterschaft inkarniert. Hätte Freital im Westen gelegen, dann hätte er diese Stadt wohl über Jahrzehnte als Oberbürgermeister nach den Maßstäben einer wohlfahrtsstaatlichen Sozialdemokratie geformt. Er wäre wahrscheinlich als hoch geachteter Mann gestorben, dessen Verdienste selbst die bürgerliche Opposition in einem Nachruf zu würdigen nicht umhin Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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gekommen wäre. Nach ihm würden heute zumindest eine Schule und eine Straße, vielleicht auch ein Stadion oder ein Kulturhaus benannt sein. Die persönliche Tragödie Wenks war, dass die Verhältnisse anders lagen. Als der Beschluss zur Überprüfung der Mitglieder und zum Umtausch der Parteidokumente in der SED Ende Oktober 1950 bekannt gegeben wurde, herrschte in Freital – wie die Stadtorganisation in einem Bericht zugab – eine regelrechte »Angstpsychose« unter den Mitgliedern.24 Vor allem den ganz alten Sozialdemokraten reichte es jetzt. Viele von ihnen waren nicht bereit, sich einem Verfahren zu unterwerfen, das sie als zutiefst demütigend empfanden. Schließlich standen sie nun schon über Jahrzehnte in der Arbeiterbewegung, waren stets treue Parteimitglieder gewesen, hatten der Gewerkschaft angehört und in den sozialistischen Freizeitorganisationen mitgewirkt. Da sollten sie sich noch einmal im hohen Alter von jungen, karrierebewussten Kommunisten auf ihre sozialistische Verlässlichkeit hin examinieren lassen? Trotz mehrfacher Aufforderung erschienen sie dann einfach nicht vor der Prüfungskommission, und in Briefen an die Parteileitung machten sie ihrer Empörung über die Anmaßung der Kommission Luft. Je älter die Belegschaft eines Freitaler Betriebs, je höher der Anteil der Rentner in einer Wohngegend war, desto geringer war die Bereitschaft, die Parteiüberprüfung über sich ergehen zu lassen – desto größer war dann aber auch die Quote der Parteiausschlüsse. Die alten sozialdemokratischen Traditionen schwanden so nun auch quantitativ in der Freitaler SED dahin, nachdem sie in ihrer Substanz schon ziemlich ausgehöhlt und weitgehend zurückgedrängt worden waren. BÜRDE EINER IDENTISCHEN SYMBOLIK Wer von den Sozialdemokraten nun nicht die Flucht ergriff, musste hernach mit den Verhältnissen leben, wie sie waren. Im dauernden Hader mit den äußeren Bedingungen zu leben, ist schwer. Also stellte man Skrupel zurück, hüllte Zweifel ein, verdrängte den Widerspruch und suchte sich das, womit man übereinstimmte. Es gab ja durchaus einiges in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR , worin sich frühere Sozialdemokraten wiederfinden und politisch-kulturell repräsentiert sehen konnten. Die junge DDR tradierte eben in der Tat zumindest symbolisch, wohl aber auch politisch mehr aus der alten sozialistischen Arbeiterbewegung insgesamt als die frühe Bundesrepublik. In der Bundesrepublik verschwand die sozialistische Arbeiterkultur, in der DDR schien sie dagegen staatlich gefördert und zum gesellschaftlichen Maßstab schlechthin erhoben worden zu sein: die Maidemonstrationen, die Jugendweihen, die roten Fahnen, das alte sozialistische Liedgut, die internationalistischen Parolen, selbst noch die Uniformen der FDJ, die

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24  Vgl. hierzu Bericht über die Durchführung der Mitgliederversammlungen zum Umtausch der Parteidokumente und Überprüfung der Mitglieder und Kandidaten, in: LPA, Signatur: IV/4.05.1120.

an die Tracht der sozialistischen Arbeiterjugend der SPD erinnerten. All das war für die sozialdemokratische Lebenswelt insbesondere in Freital bis 1933 nachgerade konstitutiv gewesen. Die Metaphorik der Arbeiterkultur bildete die Brücke zu den symbolischen Angeboten der DDR-Gesellschaft, die alten sozialdemokratischen Funktionären den Übergang von ihrer Partei in die SED-Diktatur erleichterte.

Zumindest war es prinzipienfesten Sozialdemokraten auf tückische Weise schwer, gegen die neuen Verhältnisse zu opponieren. Für sie erwiesen sich die Umstände in der SBZ bzw. in der DDR , was makaber genug war, als noch ungünstiger als unter der nationalsozialistischen Tyrannei. Denn zwischen 1933 und 1945 hatte die sozialdemokratische Funktionärselite, soweit sie dem physischen Zugriff des Regimes entging, als nicht-öffentliche Solidargemeinschaft einigermaßen homogen überwintern können. Nach 1946 aber war dieser Weg versperrt. Unter Hitler standen die alten sozialdemokratischen Führungsschichten mit ihren Familien geschlossen in Distanz und Resistenz gegenüber der herrschenden Diktatur. Unter Ulbricht jedoch zog sich der Riss oft mitten durch das zuvor noch so kohärente Milieu: Die einen trugen das System aufgrund der sozialistischen Selbstinterpretation, die anderen lehnten es aus überlieferten reformistisch-republikanischen Motiven ab; was sie aber nun selbst im engsten familiären und nachbarschaftlichen Kreis nicht mehr offen zu artikulieren wagten.25 Zudem: Im Osten Deutschlands hatte man die Adligen verjagt und die Monopolkapitalisten enteignet. Kein klassischer Sozialdemokrat mochte dagegen etwas einwenden; im Gegenteil: Endlich wurden für ihn alte Forderungen der eigenen, früheren Partei verwirklicht. So war es auch in Freital. Dass dem Kriegsgewinnler Flick die Gussstahlwerke genommen wurden, befriedigte auch die Sozialdemokraten. Und was später auf dem Gelände des durch die Russen demontierten Gussstahlwerks entstand, schien ebenfalls ganz in der Kontinuität der kollektiv-wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Freitaler Sozialdemokraten zu stehen: ein Edelstahlwerk mit bald nahezu 5.000 Beschäftigten, das sich über 3,5 Kilometer durch die Stadt zog, über Kindergärten und Kinderkrippe verfügte, eine Betriebspoliklinik hatte mit mehreren Ärzten und Zahnärzten und zu dem überdies noch eine Betriebsberufsschule, ein Sozialgebäude, ein Kulturhaus sowie ein Bungalowdorf an einem märkischen See gehörten. Das kollektivistische Versorgungsmodell 25  Vgl. Franz Walter u. Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 76 f.

und Freizeitwesen der Freitaler Sozialdemokraten aus den 1920er Jahren erlebten, wie es schien, in den 1950er Jahren eine Renaissance; nun nicht mehr über die Kommunalpolitik, sondern durch den Staat in den Betrieben, durch Betriebsküchen, Kinderhortplätze, medizinische Versorgungseinrichtungen, Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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durch Betriebssport, Laienspielgruppen und Volksbühnenbetriebsabonnements. Frühe Sozialdemokraten entdeckten vieles wieder aus ihren Projekten während der Zeit des sächsischen »Roten Wien«. Und schließlich: dass Antifaschismus prämiert wurde, dass im Zuge des radikalen Elitenwechsels neue Lehrer, neue Richter, neue Betriebsleiter, neues Behörden- und Verwaltungspersonal aus den Reihen der sozialistischen Arbeiterschaft herangebildet wurden, davon profitierten auch die sozialdemokratischen Familien. Binnen weniger Monate wurden aus Facharbeitern Werksleiter, Schulmeister, Staatsanwälte, Abteilungsleiter. Die Sozialgruppe, aus der sich bis dahin das Funktionärskorps der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gespeist hatte, veränderte ihr soziales und schließlich mentales Profil radikal. Im Grunde verschwand sie durch gesellschaftlichen Teilaufstieg. Die soziale Emanzipation integrierte sie in die Gesellschaft der DDR , band sie an Partei und Staat. Insgesamt hatte sich die Stadt nach 1945 soziodemografisch stark verändert. Im Jahr 1946 wies die städtische Statistik 9.500 Einwohner als »Neuansässige« aus; 2.334 darunter erschienen in der Rubrik »Evakuierte aus Dresden«, 7.158 fielen unter die Kategorie der »Umsiedler«.26 Über ein Fünftel der Stadtbewohner von 1946 waren also gewissermaßen gar keine »richtigen« Freitaler. Sie standen außerhalb der Tradition dieser Stadt, wussten nichts von deren Geschichte, teilten nicht die Mentalität der Alteingesessenen, waren nicht in der sozialistischen Arbeiterkultur des roten Plauenschen Grundes aufgewachsen. DER TRADITIONSFLUSS VERRINNT Im Übrigen: All die tausende von »Neuansässigen« brauchten Wohnraum. Die Vertriebenen mussten untergebracht werden, die Evakuierten, die neuen Wismut-Arbeiter, die Edelstahlwerker, dann noch die Angehörigen der sowjetischen Kommandantur. Zudem benötigten noch die neu gegründeten Massenorganisationen, die Kindertagesstätten und Krippen, dann nach der DDR-Gründung noch die Staatssicherheit Quartier. Freital war größer ge-

worden, der Bedarf an Wohnraum erhöhte sich infolgedessen erheblich, der Wohnungsbestand indes hatte sich verringert. Mehrere Hundert Genossenschaftswohnungen waren allein durch den Luftangriff am 24. August 1944 zerstört worden. Andere Häuser zerfielen seit dem Ende des Krieges immer mehr, vor allem in den sozialdemokratischen Traditionsquartieren. Aber in diesen Nachkriegsjahren wurde weder instand gesetzt noch neu gebaut. Dazu fehlte es an Geld und vor allem an Baumaterial.27 Die Wohnungsmisere hatte seit der Industrialisierung immer schon zu den dringlichsten Problemen im

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26  Statistik der Stadt Freital, Meldung vom 31.01.1947, in: Stadtarchiv Freital, Signatur: 5236. 27  Vgl. Jahresberichte der Stadtverordnetenversammlung, in: Stadtarchiv Freital, Signatur: 1949.

Plauenschen Grund gehört; aber jetzt belastete sie die Kommune mehr als alles andere und brachte die Bevölkerung gegen die SED-Stadtregenten auf. In diesen Jahren und an diesem Problem verlor die Freitaler SED einen beachtlichen Teil des Kredits, den ihr die Bevölkerung anfangs noch eingeräumt hatte. Früher hatten die Sozialisten über die Wohnungspolitik Zustimmung und Anhänger gewonnen, jetzt verprellte die Wohnungspolitik der SED einstige Wähler und Sympathisanten. Der Sozialismus war in Freital vom Hoffnungsträger zur Enttäuschungserfahrung geworden. Denn da Wohnungen nicht gebaut werden konnten, blieb der Kommune lediglich die Zwangsbewirtschaftung. Der vorhandene Wohnraum musste umverteilt werden, und das hieß: Alteingesessene Freitaler Familien mussten zusammenrücken, Platz für Vertriebene, Evakuierte, Russen und fremde Wismut-Arbeiter machen. Das wiederum führte zu einer ungeheuren Verbitterung in der Freitaler Bevölkerung, entlud sich schon damals in fremdenfeindlichen Ressentiments und Affekten – die auf den sozialistischen Festtagen einst beschworene Solidarität hatte in Freital auch ihre Grenzen; schon im 19. Jahrhundert waren die böhmischen und rumänischen Glasarbeiter, die italienischen Stein- und Bergarbeiter und ganz besonders stark die polnischen Landarbeiter bei vielen ihrer deutschen Arbeitskollegen im Plauenschen Grund auf erhebliche Ressentiments gestoßen28 – und richtete sich schließlich gegen die sowjetische Besatzungsmacht sowie die SED. Dabei blieb abermals ein Stück sozialdemokratischen Traditionsbezugs auf der Strecke. Denn der Mann, der als Leiter des Freitaler Wohnungsamtes die Verantwortung für die ungeliebte »Umsiedlerunterbringung« trug und sich dadurch den Zorn tausender von Freitalern zuzog, war ebenfalls ein alter stadtbekannter Sozialdemokrat, Schwager von Karl Wenk, auch Stadtverordneter vor 1933, lange Jahre Vorsitzender eines sozialdemokratischen Ortsvereins, Reichsbannerführer und Organisator der Maidemonstrationen zu Zeiten der Weimarer Republik. Mit ihm, mit seiner alten und neuen Partei, identifizierten nun zahlreiche Freitaler die verhasste Wohnraumlenkung, die ihnen die Schlesier in die Küche gesetzt hatte. Was vor 1933 noch das stärkste Pfund der Freitaler Sozialdemokraten gewesen war, die Wohnungspolitik, trug nun nach 1945, als diese Form der Kommunalpolitik nicht mehr kreativ durch üppigen Siedlungsbau betrieben, sondern lediglich als schmerzhafte, unpopuläre Restriktions- und Lenkungsmaßnahme vollzogen werden konnte, erheblich zur weiteren Auflösung sozialdemokratischer Identitäten und zur 28  Vgl. hierzu die Unterlagen zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Plauenschen Grund in: LPA, Signatur: IV/4.05–136.

Abkehr von der SPD-Vergangenheit in Freital bei. Zuletzt ging auch der Ort verloren, in dem sich autonome Arbeiterfreizeitkultur mit dem organisierten sozialdemokratischen Vereinswesen verbunden, Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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zumindest getroffen hatte: die alte Arbeiterkneipe. »Die Kneipe war immer ein, wenn nicht sogar das Kommunikationszentrum schlechthin.«29 In den Hinterzimmern der Arbeiterkneipen hatten bis 1933 die Arbeitersänger geprobt, die Freidenker dissidentische Vorträge gehört, die Ortsvereine der SPD ihre Zahlabende abgehalten. Vorne im Schankraum hatten die Arbeiter an der Theke gestanden, getrunken, geschwatzt und auch ein bisschen politisiert. In Kneipen eben wird, egal zu welchen Zeiten und unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen, frei weg geredet, geschimpft und vom Leder gezogen. Republikanische Staatswesen können damit umgehen, Diktaturen haben damit jedoch ihre Probleme. Die DDR erlaubte die private Nische, nicht aber einen öffentlichen Raum zur Artikulation von Unzufriedenheit, wozu das Wirtshaus gewiss gehört hätte. Die öffentliche Freizeit unterlag dem kontrollierenden Zugriff der Massenorganisation. Die alten Treffpunkte sozialdemokratischer Arbeiter und Arbeitervereine, in denen bis zum Nationalsozialismus unzählige Feste und Feiern, Aufführungen und Kundgebungen stattgefunden hatten, wurden bis auf wenige Ausnahmen geschlossen, zu anderen Zwecken verwendet oder einfach dem Zerfall preisgegeben. Die Schließung der Arbeiterkneipen und der Verlust der sozialdemokratischen Freizeitorganisation bedeuteten nicht nur das Ende der alten Freitaler Arbeiterkultur, sondern auch den Niedergang der städtischen Freizeitkultur insgesamt. Freital büßte dadurch erheblich an Lebensqualität ein, wurde kulturell ausgedorrter, entschieden langweiliger und schließlich spießig. Vorher war das Freizeitleben in Freital trotz sozialer Not und häufig wirtschaftlicher Krisen lebendig, bunt, vielseitig und interessant gewesen. Die Stadt war in Bewegung gewesen. In den SED-Zeiten war das Leben nach der Arbeit in Freital dagegen fade, steril und ohne Reiz; die Stadt wurde öde, sie wirkte apathisch, von Jahr zu Jahr mehr. Das üppige Freizeitangebot in Freital bis 1933 rechneten die Einwohner seinerzeit den Sozialdemokraten gut, prämierten das auch bei den jeweiligen Wahlen und machten seinerzeit Freital so zur sozialdemokratischen Stadt. Für den Niedergang der Stadtkultur machten die Freitaler indes ebenfalls die Sozialisten verantwortlich – und straften sie nach dem Ende der DDR harsch ab. Als das Honecker-Regime verschwand, waren alle früheren sozialdemokratischen Einstellungen, Orientierungen, Kulturen in Freital perdu. Es existierte nichts mehr, woran eine neu gegründete Sozialdemokratie hätte anknüpfen können. So fanden sich lediglich ein paar Individualisten, aus dem protestantischen Bereich, zur neuen Sozialdemokratischen Partei zusammen. Von der imposanten Geschichte der Freitaler SPD hatten sie nie ein Wort gehört. Und wie hätten sie diese auch nur erahnen sollen? Denn nichts war in Freital

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29  Hierzu u. a. Armin Owzar, Konfliktscheu und beredtes Schweigen. Die Kneipe als Kommunikationsraum im deutschen Kaiserreich, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 31/2004, S. 43–58, hier S. 43 f. u. S. 48.

mehr rot. Als die kleine Truppe der neuen Freitaler Sozialdemokratie – ungefähr zwanzig Personen – Anfang 1990 ihren ersten Wahlkampfstand in der Stadt aufstellte, wurde sie ausgebuht, als »rote Schweine« beschimpft. Der Ausgang der ersten freien Wahlen nach etlichen Jahrzehnten im März 1990 30  Zum Ergebnis der Kommunalwahlen siehe Gemeinderatswahl 2014, URL: http://www.statistik.sachsen. de/wpr_neu/pkg_s10_erg. prc_erg_gr?p_bz_bzid=GR14&p_ ebene=GE&p_ort=14628110 [eingesehen am 05.11.2015].

geriet dann zum Desaster, gleichsam zur historischen Tragödie für die Sozialdemokratie in Freital: 9,8 Prozent der Stimmen bekam die SPD hier. Zuletzt, bei den Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 lag die SPD mit 10,9 Prozent um 2,7 Prozentpunkte hinter den Parteien der extremen Rechten (AfD mit 9,6 und NPD mit 4,0 Prozent)30 – ausgerechnet in ihrer früheren Hochburg, ihrer Stadt, die ihr unterdessen komplett abhandengekommen ist.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Franz Walter  —  »Parteifeinde« und »Agenten des Imperialismus«

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KOMMENTAR

DER STAAT SOLL ALLES KÖNNEN, ABER NICHTS DÜRFEN DAS DILEMMA DER GEHEIMDIENSTE IN ZEITEN DES CYBERWAR ΞΞ Wolfgang Krieger

Aus zwei Gründen hat das weitverbreitete Unbehagen an den Geheimdiensten in den letzten Jahren zugenommen und zu teilweise heftigen öffentlichen Debatten geführt. Zum einen begreifen wir erst allmählich, welche Auswirkungen die moderne Datenökonomie, das Internet und die damit verbundenen Kommunikationsmöglichkeiten auf unser Privatleben sowie auf Staat und Gesellschaft haben. Die Verbreitung des Internets war zunächst als konsumentenfreundliche High-Tech-Neuerung, als grenzenlose Erweiterung einer globalen Spaßkultur rezipiert worden, bei der kaum jemand die Frage stellte, wer eigentlich diese wohlfeile Technologie finanzierte, warum er sie dem Publikum gratis zur Verfügung stellte und was mit den Daten geschah, die von den Konsumenten »ins Netz gestellt« wurden. Dann, Mitte 2013, begann Edward Snowdens Medienkampagne, die sich gegen bestimmte Praktiken der US-amerikanischen Geheimdienste richtete, dabei aber – beinahe nebenbei – eine reichlich unangenehme Wahrheit aufdeckte: Dass nämlich das Internet weder global noch unschuldig ist, sondern anscheinend zu großen Teilen von einer Handvoll amerikanischer Konzerne kontrolliert wird, die zumindest teilweise mit den von Snowden angeklagten Geheimdiensten kooperieren. Damit ist noch gar nicht die Einsetzbarkeit des Internets als Kriegswaffe ins Kalkül gezogen, also der cyber warfare, die inzwischen nicht nur die Großmächte, sondern auch einige kleinere Staaten und Terrornetzwerke beherrschen. Diese Möglichkeit entstand hauptsächlich durch das »Internet der

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INDES, 2015–4, S. 118–125, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

Dinge«, also durch die rasche Ausbreitung der Steuerung von Maschinen und technischen Systemen über das Internet. Wenn man darin eine Verschwörung gegen die unschuldigen InternetNutzer der Welt sehen will, so muss man folglich amerikanische Firmen wie Google, Amazon, Facebook, Microsoft und ein paar weitere in einem Atemzug mit NSA , CIA und den übrigen US-Geheimdiensten nennen. Ein wenig von dieser Verschwörungstheorie steckt gewiss in dem jüngsten Urteil des Europäischen Gerichtshofes, wonach die Lagerung europäischer Daten in US-Datenspeichern, mithin auf US-Territorium, hinsichtlich des bürgerrechtlichen Schutzes nach europäischen Normen nicht sicher sei.1 Der zweite Grund für das weitverbreitete Unbehagen an den Geheimdiensten liegt in einer Reihe von akuten internationalen Krisen, auf welche die westlichen Regierungen schlichtweg nicht vorbereitet waren. Schlimmer noch: Diese Krisen passen in keines der Perzeptions- und Handlungsmuster, nach denen der Westen seit Ende des Kalten Krieges internationale Politik betreibt. Zuerst kam es zu einer internationalen Finanzkrise, die im Jahr 2008 ausbrach; obgleich die Ursachen und Abläufe von den gängigen, genauer gesagt: den damals aktuellen, um nicht zu sagen in Mode befindlichen Theorien eigentlich ausgeschlossen wurden. Dabei handelte es sich um nichts weiter als um eine jener gigantischen Kreditblasen, wie man sie seit Jahrhunderten kennt, deren Auswirkungen allerdings durch die Vernetzung 1  Vgl. Benedikt Fuest u. Thomas Heuzeroth, EuGH bringt Geschäftsmodell der IT-Riesen ins Wanken, in: Die Welt, 06.10.2015. 2  Eine Spätfolge ist die Währungskrise des Euro, einschließlich der Griechenlandkrise, die niemand unter den bestimmenden Politikern und beinahe niemand unter den europäischen Großökonomen für möglich hielt, weil die Perspektive eines zerfallenden Euro schlichtweg nicht ins etablierte Denkschema passte und deshalb geleugnet wurde. Gewiss, die Mehrzahl der amerikanischen Ökonomen hatte den Euro seit Anbeginn für verfehlt gehalten. Doch die EU-internen Kritiker einer europäischen Einheitswährung wurden über drei Jahrzehnte hinweg bekämpft, marginalisiert und lächerlich gemacht (siehe o. V., How the Euro Turned into a Trap, in: New York Times, 29.07.2015).

der Kapitalströme potenziert werden.2 Dann kam der Arabische Frühling, der keiner war, sondern nahezu alle betroffenen Staaten in einen Abwärtsstrudel des Staatszerfalls zog, aus dem sich nur Ägypten retten konnte – wenn auch durch einen hässlichen, weltweit für unzeitgemäß gehaltenen Militärputsch. Auch hier kam es zu ebenso fundamentalen wie folgenschweren Fehleinschätzungen durch die Politik des Westens. Die Hoffnung auf demokratisch orientierte Reformkräfte, denen man nur den Weg freischießen müsse (Beispiel Libyen-Intervention 2012), auf Akteure, die man mit Vertrauen und Geld auf den Weg der Mäßigung führen (Beispiel des »reformwilligen« Ägypten der Muslimbrüder unter Präsident Mursi) oder denen man durch Waffenlieferungen und demokratische Hilfsangebote zum Sieg über die Streitkräfte eines bösen Diktators verhelfen könne (Beispiel Syrien seit 2011) – sämtliche Hoffnungen also, der Arabische Frühling werde zu einer Demokratisierung und rechtsstaatlichen Öffnung der arabischen Welt führen, wurden bitter enttäuscht. Damit hat sich die Strategie von der »weltweiten Ausbreitung der Demokratie und der Menschenrechte« (Bill Clinton), gesteuert und gefördert von den westlichen Regierungen, als total unrealistisch, ja sogar kontraproduktiv Wolfgang Krieger  —  Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen

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erwiesen. Syrien versinkt noch weiter im Bürgerkrieg. Der Irak und Libyen kommen nicht zur Ruhe. Der demokratische Hoffnungsschimmer in Tunesien wird allenfalls ein isoliertes Phänomen bleiben. Und als Quittung für das Versagen westlicher Analysen und Strategien strömen Millionen von Flüchtlingen in die Nachbarstaaten und nach Europa, wo sie zunehmend Ängste in den dortigen Bevölkerungen wecken. Zudem überfordern sie die Verwaltungen und teilweise auch die finanziellen Ressourcen. Hinzu kommt, dass die »Flüchtlingskrise« eine neuerliche Ost-West-Spaltung in Europa bewirkt, weil die Staaten Osteuropas, die nicht zu multi-ethnischen Gesellschaften werden wollen, wie es einem verbreiteten westeuropäischen und nordamerikanischen Ideal entspricht, diese Flüchtlinge nicht aufnehmen. Diese Ost-West-Spaltung hat sich allerdings bereits während der Krim- und Ukrainekrise seit 2014 angebahnt, in der Westeuropa kaum Unterstützung anbot und stattdessen auf eine Beschwichtigung Russlands setzte, während die Osteuropäer eine konfrontativere Haltung gegenüber der Putin-Regierung wünschten. Auf dem Nährboden des Zusammenbruchs mehrerer islamischer Staaten, und zusätzlich einiger muslimisch geprägter Staaten Afrikas, haben sich zudem allerlei dschihadistisch-terroristische Gruppierungen, die von mehreren muslimischen Regionalmächten, vor allem vom Iran und von Saudi-Arabien, finanziert und unterstützt werden, entwickelt. Eine dieser Gruppen, die sich Islamischer Staat (IS) nennt, hat sich Territorien und Bevölkerungen unterworfen, die sie mit quasi-staatlichen Strukturen beherrscht, terrorisiert und ethnisch ebenso wie religiös »säubert«. Diese (zumindest teilweise) neue Form des islamistischen Terrorismus operiert zunehmend auch in den westlichen Staaten, wo sie Angst und Schrecken verbreitet. Zunächst kaum bemerkt, bemächtigte sich der islamistische Terrorismus des Internets, das er heute für seine interne Kommunikation, für Propaganda (darunter die Beeinflussung der westlichen Medien), für die Anwerbung von »Kämpfern« und für anderes mehr einsetzt. Zu Recht hat man festgestellt, dass der Islamische Staat die erste kriminelle Organisation sei, die zweierlei territoriale Herrschaft ausübe: auf dem unterworfenen Territorium, wie beschrieben, und im Internet, wo sie Webseiten in der Form von virtuellen Kolonien betreibe.3 Zudem verfügt der IS über eine rasch anwachsende Fähigkeit zur CyberKriegsführung, wie sie allenfalls von einem Duzend der knapp 200 etablierten Staaten vorgehalten wird. Damit wird die verschärfte Überwachung des Netzes und der übrigen elektronischen Kommunikation, ausgeübt vor allem durch die Geheimdienste, zu einem wichtigen Teil der Terrorismusbekämpfung.

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Verschwörungen — Kommentar

3  Vgl. Yassin Musharbash, Das Internet als Schlachtfeld, in: Die Zeit, 16.04.2015.

Allerdings entsteht hier zugleich ein Zielkonflikt, weil die Bevölkerungen der westlichen Staaten zwar jede erdenkliche Sicherheit vor Terrorangriffen wünschen, aber die staatlichen Eingriffe in die elektronische Kommunikation mit Sorge um die bürgerlichen Freiheiten betrachten. Kurz gesagt: Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen. Zusammengenommen hat es also der Westen mit einem grundstürzenden Versagen auf mehreren Feldern der internationalen Politik zu tun, das vor allem ein intellektuelles Versagen und zugleich eines der Analyse, der Konzepte und der außenpolitischen Grundsätze ist. Von einer Systemkrise des Westens sind wir zwar weit entfernt. Auch mag stimmen, dass die meisten Bürger die Tiefe dieses Versagens nicht präzise zu begreifen vermögen. Aber sie spüren doch, dass die Regierenden mitsamt den etablierten Kräften der politischen Opposition die Kontrolle verloren haben, dass sie die Probleme kleinreden, kaschieren und mit Heftpflaster-Strategien angehen. An dem einen Tag werden die Flüchtlinge medienwirksam willkommen geheißen (Angela Merkels »Wir schaffen das«), am nächsten errichtet man Sperrzäune und verspricht eine rigorose Ausweisung der (mutmaßlich) nicht Asylberechtigten. In der Außenpolitik agieren die demokratischen Machthaber heute so hilflos, wie man es seit den 1930er Jahren nicht mehr erlebt hat. Vor diesem Hintergrund muss man die überall aufblühenden Verschwörungstheorien begreifen. Denn die Schuld für die Malaise des Westens lässt sich nicht allein den Politikern zuschreiben. Die Mehrzahl der Bürger hat die in der Praxis untauglichen außenpolitischen Glaubenssätze mit ihnen geteilt und teilt sie noch immer. Deshalb sucht man nach versteckten Mächten und Kräften, welche die an sich richtige und moralisch gebotene Außenpolitik aus dem Gleis geworfen haben könnten. Die einen greifen zu rechtspopulistischen Parolen gegen Einwanderung und vermeintliche Islamisierung. Parteien wie der französische Front National und Bewegungen wie die deutsche Pegida erhalten massenhaft Zulauf. Die anderen klammern sich an die Moralisierungskampagne von Edward Snowden und nehmen Zuflucht zur europäischen Tradition des Anti-Amerikanismus, mit dem sie nicht nur das Datenimperium NSA , sondern – durch eine Fundamental-Opposition zur transatlantischen Freihandelszone ( TTIP) – auch die Hegemonialstellung der USA insgesamt bekämpfen wollen.

Immerhin haben einige westliche Staaten in der Innenpolitik die Initiative und allerlei Maßnahmen zur Terrorismusabwehr ergriffen. Vor allem Frankreich und Großbritannien haben ihren Geheimdiensten und Regierungen weitreichende neue Befugnisse gewährt oder sind im Begriff, dies zu tun. In den USA kam es zu einer minimalen Abänderung des seit 2001 geltenden Wolfgang Krieger  —  Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen

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Patriot Act, der bereits tiefe Eingriffe in die Bürgerrechte gestattete. Eine signifikante Reaktion auf die »Snowden-Krise« blieb dort aus. Snowdens Klage einer »Verschwörung [der NSA] gegen das amerikanische Volk« fand in den USA wenig Echo. Sorge bereitet den Amerikanern allenfalls die Telefonüber-

wachung einheimischer Bürger, während die Überwachung von Ausländern kaum infrage gestellt wird. Durch den USA Freedom Act von 2015 werden nun die Metadaten nicht mehr von den Geheimdiensten selbst, sondern von den Telefongesellschaften auf Vorrat gehalten; wobei diese jedoch den Geheimdiensten bei Bedarf den Zugriff gewähren müssen. In Großbritannien stellte jüngst eine parlamentarische Untersuchungskommission fest, dass die Überwachung durch die britischen Geheimdienste vollständig gesetzeskonform, die Gesetzgebung selbst jedoch reformbedürftig sei. Deshalb wird nun das Parlament eine verbesserte Gesetzesgrundlage verabschieden, welche die elektronische Überwachung insgesamt verstärkt.4 Desgleichen in Frankreich, wo die einschlägigen Gesetze verschärft und durch eine sozialistische Regierung über alle parlamentarischen Hürden gebracht wurden – mit weitgehender Zustimmung der Opposition. Um allen Zweiflern den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte die französische Regierung von sich aus die neuen Bestimmungen dem Verfassungsrat vorgelegt, der – ähnlich dem deutschen Bundesverfassungsgericht – das letzte Wort in Sachen Verfassungskonformität hat und die Gesetze für zulässig erklärte.5 Schließlich wäre von anderen westlichen Demokratien zu berichten, bspw. von der Schweiz, Australien und Kanada, die ihre Bürgerrechte gewiss nicht weniger schätzen als Deutschland, aber doch die Befugnisse ihrer Geheimdienste massiv ausgebaut haben. Somit ist Deutschland außen- wie innenpolitisch ein Sonderfall unter den westlichen Demokratien. Hier schränkt das Parlament mittels eines Untersuchungsausschusses die Befugnisse der Geheimdienste sogar ein und intensiviert zugleich deren parlamentarische Kontrolle, statt ihre Tätigkeit effizienter zu machen. Man könnte beinahe glauben, die deutschen Sicherheitsbehörden seien gefährlicher als die Bedrohung, mit deren Bekämpfung sie beauftragt sind. Zugleich wirkt die Bundesrepublik Deutschland angesichts des Staatszerfalls und der Flüchtlingskatastrophen im arabischen Raum wie gelähmt. Insofern erklärt sich das Merkel’sche »Wir schaffen das« vermutlich so, dass die deutsche Außenpolitik sehr viel stärker den genannten wohltätigen Illusionen verpflichtet ist als Staaten wie Großbritannien und Frankreich, die seit Langem die Umwälzungen in der arabischen Welt als akute Bedrohung für die eigene Sicherheit erkannt und deshalb in der Terrorismusbekämpfung frühzeitig einen sehr viel härteren Kurs eingeschlagen haben.

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4  Vgl. James Dunn, Security Services Given New Rights to Spy on Your Phones and Computers, in: Daily Mail, 21.10.2015. 5  Vgl. Paule Gonzales u. Anne Rovan, Les Sages approuvent la loi sur le renseignement, in: Le Figaro, 24.07.2015.

Dabei braucht es keine prophetischen Gaben, um zu erkennen, dass die deutsche Art des regierungsamtlichen und parlamentarischen Umgangs mit den Geheimdiensten das öffentliche Unbehagen eher schüren als besänftigen wird. Da passt das römische Sprichwort, dass auch bei unwahren Behauptungen »immer etwas hängen bleibt«. Wenn also die Politik weiterhin so viel Misstrauen zum Ausdruck bringt, werden sich auch brave, staatstreue Bürger, die nicht zu Verschwörungsphantasien neigen, die Frage stellen, ob man den deutschen Sicherheitsorganen, insbesondere den Geheimdiensten, vertrauen darf. In den deutschen Debatten, vor allem im Rahmen des NSA-Untersuchungsausschusses, geht man – ziemlich unreflektiert – davon aus, dass eine verstärkte parlamentarische Kontrolle von Geheimdiensten den Schutz der Bürgerrechte verbessern würde. Aber stimmt das überhaupt? Im Geist der alten Radio-Eriwan-Witze wäre diese Frage mit »Im Prinzip ja, aber …« zu beantworten. Denn die Praxis der parlamentarischen Aufsicht weist eher in eine andere Richtung.6 Vor allem die Erfahrungen in den USA und in Deutschland, wo die parlamentarische Kontrolle sehr viel weitreichender ist als in anderen westlichen Demokratien, stimmen skeptisch. Die USA haben in den vergangenen Jahrzehnten die größten Geheimdienstskandale und massive geheimdienstliche Missbräuche durch die Exekutive erlebt, obwohl es dort bereits seit Mitte der 1970er Jahre ein Kontrollregime gibt, das weiter und tiefer reicht als irgendwo sonst auf der Welt. Als Beispiele nehme man die Terroranschläge vom 11. September 2001 und den Streit um die (angeblichen) Massenvernichtungswaffen sowie die Querverbindungen zwischen al-Qaida und der Diktatur Saddam Husseins im Irak (2002/03). Im einen Fall wusste der Kongress seit Langem, wie schlecht die US-Geheimdienste untereinander kooperierten. Im anderen war er darüber unterrichtet, wie fadenscheinig die Beweise der Bush-Administration für die Existenz irakischer WMD-Programme waren und dass Hussein mit al-Qaida nichts zu tun hatte. Gleichwohl wollten die Parlamentarier von einer Mitschuld nichts wissen. Auch in Deutschland war das NSU-Desaster bei Polizei und Verfassungsschutz möglich, obgleich beide seit Jahrzehnten einer vielfältigen Kontrolle in Bund und Ländern unterlagen. Als in der Folge von 9/11 die deutschen Sicherheitsgesetze dann verschärft wurden, erfolgte eine nochmalige Ausweitung der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste des Bundes, 6  Ich stütze mich nachfolgend auf meinen Aufsatz »Das Parlament und die Geheimdienste«, in: Merkur, Jg. 68 (2014), H. 9, S. 757–766.

und zwar in dem noch heute gültigen Gesetz von 2009. Dieses Kontrollrecht erlaubt unangemeldete Besuche aller Liegenschaften und Einrichtungen sowie das Recht, ausnahmslos jeden Mitarbeiter vorladen zu dürfen, wo andere Demokratien nur die Vorladung der jeweiligen Geheimdienstchefs zulassen. Wolfgang Krieger  —  Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen

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Umso seltsamer mag erscheinen, dass einige dieser Kontrollinstrumente bisher gar nicht ausgeschöpft worden sind – vor allem die Möglichkeit, entsprechend sicherheitsüberprüfte wissenschaftliche Mitarbeiter zu beschäftigen, die den Abgeordneten bei der Sichtung von Akten und Datenbergen behilflich sein könnten, um damit eine langjährige Kontinuität der vertieften Expertise zu etablieren. Hier wie überall haben die Abgeordneten weder die Zeit noch das Interesse, sich mit der geheimdienstlichen Tätigkeit eingehender zu befassen. Kein Abgeordneter wird wiedergewählt, weil er sich in einem geheim tagenden Kontrollgremium besonders bewährt hat. Da ist viel lohnender, im Fall eines Skandals vor eine Fernsehkamera zu treten und über die mangelnde Kontrolle der Dienste zu lamentieren. Als das ganze Ausmaß des NSU-Skandals sichtbar wurde, lenkten die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse alle Blicke auf das Versagen der Sicherheitsbehörden, ohne viel über das eigene Kontrollversagen nachzudenken. Obwohl also eine erweiterte parlamentarische Kontrollbefugnis zugleich mit einer erweiterten Verantwortung für die Geheimdienste verbunden ist, erscheinen Parlamentarier und sogar Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission immer wieder in den Fernseh- und Rundfunkstudios, um ihr Nicht-Wissen zu diesem oder jenem Skandal mit der Begründung zu beteuern, in Deutschland gäbe es keine wirksame parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste. Wer jedoch die Möglichkeit hat, alle Fragen an alle Verantwortlichen, nämlich die Geheimdienstleute und ihre exekutiven Auftraggeber, zu richten und (nahezu) alle Akten einzusehen, kann diese Verantwortung eigentlich nicht von sich weisen. Im Übrigen umfasst die parlamentarische Kontrolle nicht nur die Prüfung auf Rechtmäßigkeit und Sinnhaftigkeit der geheimdienstlichen Tätigkeit, sondern auch eine Mitverantwortung für deren Effizienz (oder Ineffizienz) – einschließlich der Frage, ob das eingesetzte Personal und die technische Ausstattung den sicherheitspolitischen Anforderungen genügen. Der Bundestag prüft bekanntlich den Mittelbedarf und bewilligt das Geld. Wenn er die bestehenden Gesetze für unzureichend hält, kann er neue verabschieden. Im Bereich der Cyber-Abwehr und insgesamt der Spionageabwehr sind die Defizite in Deutschland besonders gravierend; insbesondere wenn man sie mit den hohen Investitionen in Großbritannien und Frankreich vergleicht. Experten behaupten, selbst die technisch fortschrittlichsten westeuropäischen Staaten befänden sich gegenüber den USA in puncto Internet etwa zehn Jahre im Rückstand. Vielleicht sind es ein paar Jahre weniger. Aber selbst das wäre bereits ein gewaltiges Defizit, wenn man das rasante Entwicklungstempo in

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Verschwörungen — Kommentar

der Netzwelt betrachtet. So gesehen, sind die Snowden-Enthüllungen ein schmerzlicher Weckruf, der die deutsche Rückständigkeit bei der Abwehr von Bedrohungen aus dem Internet bloßstellt. Deshalb ist zu fragen: Was hat eigentlich der Bundestag, was haben die politischen Parteien und die Regierungen getan, um diesen Rückstand und damit die Gefährdung der Bürgerrechte rechtzeitig zu erkennen und nicht noch größer werden zu lassen? Diese Fragen werden kaum gestellt, wenn über die deutschen Geheimdienste diskutiert wird. Man greift lieber zu Verschwörungstheorien. Sie sind bequemer und passen besser zu den eingefahrenen Denkmustern.

Prof. Dr. Wolfgang Krieger, geb. 1947, ist Historiker der Neuen Geschichte und seit 1995 Universitätsprofessor für Neue Geschichte an der Universität Marburg. Sein Forschungsinteresse liegt vor allem auf der Geschichte der Internationalen Beziehungen und seit einigen Jahren auf der Geschichte der Geheimdienste, aktuellen Geheimdienstpolitik und internationaler Sicherheitspolitik.

Wolfgang Krieger  —  Der Staat soll alles können, aber nichts dürfen

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

WILLKOMMENSKULTUREN IN OSTDEUTSCHLAND FLÜCHTLINGE, FLÜCHTLINGSBILDER UND FLÜCHTLINGSGEGNER ΞΞ Frank Eckardt

Während Deutschland in den letzten Wochen in den Modus des Krisenmanagements geschaltet hat, stellt sich die Frage nach den langfristigen Perspektiven, die sich aus der Flüchtlingsaufnahme für die Gesellschaft ergeben werden. Zu erwarten ist, dass bei den schon prognostizierten Konkurrenzen um Wohnungen, Arbeitsplätze und andere knappe Güter nach weitergehenden Begründungsnarrativen gesucht werden wird. Diese Narrative werden die allgemeine Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme mit konkreten politischen Entscheidungen zu verbinden haben. Zu beobachten ist, dass die »Willkommenskultur« nicht unangefochten ist. Ihr stehen diffuse Diskurse gegenüber. Die Stärke des Willkommensnarrativs ist dessen positive emotionale Besetzung. Welchen Unterschied dies machen kann, hat man in den vergangenen Monaten in Ostdeutschland beobachten können. Zu sehen ist hier auch, dass es sich um einen nach wie vor ambivalenten Zustand handelt, der nicht automatisch in zunehmender Weltoffenheit enden muss. Sachsen und Thüringen: Beide Freistaaten werden – wie manch anderes Bundesland zweifellos auch – in einer bislang ungekannten Weise mit der Aufgabe der Flüchtlingsaufnahme konfrontiert. Die soziale Ausgangslage zwischen Thüringen und Sachsen unterscheidet sich dabei kaum. Unerfahrenheit im Umgang mit Fremden und kultureller Diversität lassen sich hier wie dort konstatieren. In Dresden hat die Pegida-Bewegung bislang die Agenda vorgegeben, in Kleinstädten wie Freital wurde medienwirksam gegen Asylbewerber gehetzt. Demgegenüber scheint es bis dato in Thüringen relativ ruhig zu sein, selbst Neonazi-Angriffe wie bei der jüngsten Erste-Mai-Kundgebung in Weimar verlieren schnell wieder an Aufmerksamkeit, obwohl sich der Landessprecher der Thüringer Alternative für Deutschland

INDES, 2015–4, S. 127–134, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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(AfD), Björn Höcke, aktuell als neueste Galionsfigur der Nationalkonservativen – mit engen Verbindungen zur Neuen Rechten – zu etablieren scheint. Eine jährliche repräsentative Telefonumfrage der Universität Jena, der sogenannte Thüringen-Monitor, weist insofern wenig überraschend auch für Thüringen eine anhaltend hohe Zustimmung zu xenophoben und rechtsextremen Weltbildern auf, die sich ebenfalls in entsprechenden Straftaten manifestiert. Der Unterschied zwischen Thüringen und Sachsen liegt indes in ihrer politischen Kultur. Die Etablierung von rechtsextremen Parteien hat in Sachsen inzwischen den Landtag und viele lokale politische Arenen erreicht, wovon in Thüringen nicht in der gleichen Weise die Rede sein kann. Zwar hat sich auch hier eine sehr rechtslastige AfD in den Erfurter Landtag wählen lassen; aber deren programmatische Nähe zur NPD lässt sich nicht mit der Etablierung der NPD selbst vergleichen, die in der sächsischen Politik reüssiert. Ansatzweise verwischen die Differenzen zwar, etwa wenn die CDU im Eisenacher Stadtrat einen Antrag der NPD unterstützt. Dennoch scheint die politische Situation in Thüringen im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Bundesländern verhältnismäßig moderat zu sein, ohne sich dabei – noch einmal – grundsätzlich im Hinblick auf die vorhandene Fremdenfeindlichkeit zu unterscheiden. Wie erklärt sich das? »THÜRINGEN BLEIBT BUNT!« Als sich in der thüringischen Kleinstadt Suhl ein Ableger der Pegida-Bewegung gründete und mit wöchentlichen Mahnwachen gegen die Errichtung eines Erstaufnahmelagers mobilisierte, reagierten die Verantwortlichen in einer Weise, die sich von dem sächsischen Beispiel Freital erheblich unterscheidet. Lokale Politiker und andere Akteure sammelten sich zu einer Gegendemonstration unter dem Motto »Suhl bleibt bunt!«. Während in Sachsen Gegendemonstrationen durch Politik und Polizei eher entmutigt werden und sich vielerorts lokale Politiker aus Angst vor dem fremdenfeindlichen Mob zurückhalten, hat es in Suhl ein lokales Bündnis geschafft, der Sügida-Bewegung eine Alternative entgegenzusetzen. Der gewählte Slogan lässt natürlich jeden objektiven Beobachter (von außen) zumindest schmunzeln, da es in Suhl bis dato quasi keine Ausländer gegeben hat und so etwas wie kulturelle Vielfalt seit der Ermordung und Vertreibung der kleinen jüdischen Gemeinde in Suhl in den 1930er Jahren nicht existiert. Freilich, Weltoffenheit und kulturelle Verschiedenheit werden nicht nur durch die Präsenz der »Anderen« hervorgerufen oder durch diese sichtbar. Auch in den ferneren und peripheren Regionen Ostdeutschlands ist

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Perspektiven — Analyse

man mit der kulturellen Vielfalt dieser Welt, zumindest medial, konfrontiert und muss sich dazu irgendwie verhalten. Das Fehlen von Fremden an jenen abgekoppelten Orten bedeutet vielmehr, dass sich Vorstellungen und Ideen über die Welt jenseits des Thüringer Waldes, der Sächsischen Schweiz und der Mecklenburgischen Seenplatte nicht durch Interaktionen mit jenen imaginierten Fremden korrigieren lassen. Das heißt, dass es zu einer sehr abstrakten und naiven Vorstellung von den »Anderen« kommt, die hochgradig emotional besetzt ist. Wenn man also in Suhl in voller Aufrichtigkeit behauptet, man sei schon immer bunt gewesen, dann in dem Sinne, dass es in der Tat bei vielen ostdeutschen Bürgern diese Sehnsucht nach dem Unbekannten gibt, dem man aber teilweise hilflos gegenübersteht, wenn es zu realen Begegnungen mit Fremden kommt. Der Spielfilm »Sushi in Suhl« veranschaulicht diese einseitige Liebeserklärung ebenso wie die Hoffnung auf den Weltfrieden in seiner Ohnmacht schmerzlich: Ein junger Mann verliebt sich während des Kalten Kriegs in die japanische Kultur, zu der jemals einen realen Kontakt aufzubauen er aber keine reale Chance hat. Diese exotisierte Form der Fremdenfreundlichkeit erscheint aus der Sicht der kritischen Politikbetrachtung als problematisch. Denn in ihr steckt die Gefahr, dass die Enttäuschung über den Wirklichkeitstest nach der ersten Begegnung mit den Fremden in eine ebenso große Fremdenfeindlichkeit umschlägt. In unserem Forschungsprojekt »Willkommensstädte« in sechs thüringischen Kommunen haben wir solche Prozesse empirisch nachweisen können. So haben etwa an einem Ort ältere Frauen ein Patenschaftsprogramm aufgebaut, um Flüchtlingen privaten Deutschunterricht zu geben. Nach anfänglicher Begeisterung wollten die Paten allerdings nicht mehr weitermachen, weil die sechs eritreischen Männer zwar sehr fleißig lernten, aber darüber hinausgehende Ansprüche an den Aufbau von freundschaftlichen Kontakten nicht bedienten. Ähnliche Erfahrungen lassen sich von den unzähligen lokalen Initiativen berichten, die massenweise Kleidung sammeln oder andere Güter zur Verfügung stellen. An diesen Beispielen zeigt sich auch, dass aufseiten der einheimischen Helfer paternalistische Gesten an die Stelle der Interaktion mit den Flüchtlingen treten, indem bspw. anonym Möbelstücke vor den Unterkünften abgestellt werden. Selbst Sozialarbeiter erfinden in den Auffanglagern allerlei Routinen, die im Kern jedoch Vermeidungsstrategien darstellen. Es ist offensichtlich, dass es in Ostdeutschland flächendeckend an interkulturellen Kompetenzen mangelt. Dennoch gibt es unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Fremden und dafür lassen sich gesellschaftliche und Frank Eckardt  —  Willkommenskulturen in Ostdeutschland

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politische Faktoren ausfindig machen, welche die Unterschiede erklären. In Thüringen spielt die geografische Nähe zu den Westländern eine entscheidende Rolle. In manchen ehemaligen Grenzgebieten ist die geringe Entfernung von Kassel, Göttingen, Braunschweig oder Nürnberg durchaus sozial relevant. Die ökonomische Vernetzung geht dabei über die enormen Pendlerbewegungen noch hinaus. Während in manchen Kommunen im Kyffhäuserkreis bis zu einem Drittel der Gesamtbevölkerung in Niedersachsen arbeitet, hat sich in den südlichen Gemeinden Thüringens teilweise außerdem eine Verflechtung der Produktions- und Dienstleistungsökonomie ergeben, sodass z. B. in Sonneberg die Arbeitslosigkeit unter dem Bundesdurchschnitt liegt und die Stadt in die Metropolregion Nürnberg aufgenommen worden ist. Die soziale Vermischung verläuft aber insbesondere auch entlang der Grenze zu Hessen, etwa bei der gemeinsamen Gestaltung der Schulen. Dadurch werden insgesamt mehr Möglichkeiten zur Interaktion mit »unbekannten« Menschen geschaffen. Gemäß der Kontakthypothese der Sozialwissenschaften bestehen deshalb mehr Chancen auf ein realistischeres, d. h. für Fakten offenes Weltbild. Doch die geografische Position, die insbesondere Sachsen benachteiligt, ist nur ein Erklärungsfaktor. Thüringen hatte zwar wie Sachsen bis zum Jahr 2014 eine konservativ geführte Landesregierung; jedoch war diese nie von einer derart großen Mehrheit getragen wie im Nachbarstaat. Vielmehr waren Koalitionsregierungen die Regel. Hinzu kommt, dass die Stammwählerschaft der Thüringer CDU sich stärker auf einzelne Regionen bezieht, vor allem im ländlichen Raum, der von den Schrumpfungsprozessen besonders betroffen ist. Der Kern der gesellschaftlichen Unterstützung für die Regierungen von Ministerpräsident Dieter Althaus und jene davor bestand aus Wählern in traditionsbewussten Regionen wie dem katholisch geprägten Eichsfeld. Die sich entwickelnde Vielfalt in den urbanen Zentren haben die Konservativen dagegen nicht nachvollziehen können; und der Versuch, dies mit der Weimarerin Christine Lieberknecht nachzuholen, musste scheitern. Denn trotz konservativer Prägung hat sich Thüringen auf lokaler Ebene politisch und kulturell erheblich diversifiziert, weswegen alle Städte heute durch die SPD, die LINKE oder entsprechende Koalitionen regiert werden. Die Wahl

der rot-rot-grünen Regierung ist in diesem Sinne nur eine Konsequenz des demografischen Wandels, der die konservativen Regionen benachteiligt. Zugleich ist der gesellschaftliche und politische Wandel mit einer Identitätssuche verbunden, die sich auf den Umgang mit dem Fremden ganz grundlegend auswirkt. Während es in Sachsen gelungen ist, eine regionale Identität zu formulieren, die relativ stabil und eindringlich erscheint, hat

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Perspektiven — Analyse

Thüringen lange mit den unterschiedlichsten Slogans – zwischen »Grünem Herz Deutschlands« und »Denkfabrik Deutschlands« – experimentiert und mit jeder Selbstbeschreibung einen Teil derer verprellt, die sich mit dem Freistaat eigentlich identifizieren wollen. Wichtiger noch ist, dass das Fehlen eines starken regionalen Narrativs über die eigene Identität vermutlich mehr Raum für unterschiedliche Selbstbeschreibungen gelassen hat. Das Bürgerbündnis gegen Rechts in Weimar kann dies veranschaulichen: Mit Anschluss an das bildungsbürgerlich-konservative Selbstverständnis der Stadtgesellschaft gelang hier, im Laufe der 1990er Jahre zunächst ein alternatives Selbstverständnis zu formulieren, unter dessen Motto sich eine linke Minderheit gegen NPD und Neonazis sammelte. Nach und nach hat dieses Bündnis ein kreativ-bürgerliches Selbstverständnis ausgebildet, das sich mit Aktionen wie Luftballon-Steigenlassen etc. in der Mitte der Stadtgesellschaft verankert hat und heute für die Mehrheit der Bürger selbstverständlich ist. Eine solche Konsensualisierung eines alternativen Narrativs wird durch die relative Überschaubarkeit der Städte in Thüringen begünstigt. Jena, Erfurt, Weimar, Gera, Gotha und Eisenach – die sogenannte Städtekette entlang der A4 – sind im Unterschied zu Leipzig oder Dresden nicht derart groß, als dass einzelne Stadtteile ein Eigenleben entfalten und sich ohne Konflikt dauerhaft als rechte Hochburgen etablieren könnten. In den kleineren Städten der Thüringer Peripherie halten sich rechte Subkulturen teilweise zwar lange, ihr Binnengefüge ist aber weitaus eingeschränkter, ihre Ausstrahlung reicht selten über die Gemeindegrenzen hinaus – sodass sich in Orten wie Saalfeld oder Pößneck, die ehedem eine ausgesprochen rechte Klientel besaßen, die Beharrlichkeit demokratischer Akteure auszahlen kann. Es gibt aber auch weniger ermunternde Beispiele, gleichsam die Kehrseite der Medaille, am prägnantesten sichtbar in Jena-Winzerla. Hier wuchsen Beate Zschäpe und andere Rechtsextreme auf und terrorisierten bis in die 2000er Jahre den Stadtteil. Heute hat sich diese Plattenbausiedlung zu einem Viertel mit einer teilweise hohen sozialen und städtebaulichen Lebensqualität gewandelt, die Familien und Menschen mit mittleren Einkommen anzieht. In der Boomtown Jena weist der Wohnungsmarkt quasi keinen Leerstand auf, insbesondere in Zentrumsnähe ist dort eine bezahlbare Wohnung nur schwer zu finden. Der partielle Austausch der Bewohnerschaft ermunterte Pläne für den Bau einer Flüchtlingsunterkunft durch die Stadt Jena in Winzerla. Umso überraschter waren die Politiker bei der öffentlichen Diskussion vor Ort, als sie auf massiven und teilweise verbal-aggressiven Widerstand stießen. Während sich nach wie vor Rechte in Winzerla tummeln, hat sich in die Wut der Frank Eckardt  —  Willkommenskulturen in Ostdeutschland

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Bewohner eine Xenophobie gemischt, die sich bis in ostentative Ablehnungsgesten hineingesteigert und eine offene Kommunikation mit den ankommenden Flüchtlingen verhindert hat. Die Akzeptanz kultureller Diversität hat sich insgesamt mithin noch nicht so weit entwickelt, dass flächendeckend empathische oder auch nur neugierige Begegnungen mit den Flüchtlingen stattfinden. Das bizarre Zusammenleben von Neonazis und traumatisierten Flüchtlingen in einem Haus wird zurzeit noch durch ein Arrangement gewährleistet, das durch ein Sich-ausdem-Weg-Gehen geprägt ist. Aus den Gesprächen mit den Asylsuchenden ist aber eine deutliche Unterschätzung der Gefährdung durch rechte Gewalt erkennbar, da diese noch wesentlich größere Bedrohungen verarbeiten müssen. WILLKOMMEN IN THÜRINGEN Nach dem Regierungswechsel im Dezember 2014 hat die thüringische Landesregierung buchstäblich über Nacht den Betriebsmodus »Krisenbewältigung« einschalten müssen, da die plötzliche und für Thüringer Verhältnisse massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen den Freistaat praktisch unvorbereitet getroffen hatte. Damit ist nicht nur gemeint, dass es keine ausreichenden Unterbringungskapazitäten gab, in die sofort hätte eingezogen werden können. Zunächst beherrschten die Debatte über die Flüchtlingspolitik in Thüringen Fragen nach der Eröffnung von Erstaufnahmelagern und nach Möglichkeiten zur dezentralen Unterbringung, die das Bundesland im Gegensatz zu Sachsen prioritär umsetzen wollte (und will). Unvorbereitet war Thüringen auch mit Blick auf die lokalen Befindlichkeiten und den vor Ort jeweils auffindbaren Diskussionsbedarf. Dieser ist nicht einfach nur auf Fremdenfeindlichkeit zurückzuführen, sondern auch auf den Schock einer plötzlichen und drastischen Erfahrung von Veränderungen im konkreten Lebensumfeld. Entscheidend scheint zu sein, dass den mit der Aufnahme von Flüchtlingen konfrontierten Bürgern durch eine staatlich-politische Autorität eine ambivalenzfreie Position vermittelt wird, die einerseits an der Notwendigkeit der Aufnahme keine Zweifel lässt und andererseits eine Form des positiven, integrativen Narrativs vermitteln kann. Thüringen kann beides durch eine Glaubwürdigkeit des politischen Personals vermitteln, die wegen aktiver Beteiligungen an Demonstrationen gegen rechts oder gegen Sügida nicht infrage gestellt wird. Doppeldeutige Aufrufe an die Toleranz »auf beiden Seiten«, wie sie etwa der sächsische Ministerpräsident formuliert hat, um dann im nächsten Atemzug auf schnellere Abschiebungen zu pochen, suggerieren für viele Aufnahme-Gegner hingegen eine gewisse Zustimmung und ein generelles Verständnis für ihre Sorgen.

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Perspektiven — Analyse

Als schwerwiegender noch ist aber zu beurteilen, dass es in Sachsen kein diskursives Alternativangebot gab und gibt, mit dem eine andere Integrationsperspektive mit divergierenden Schwerpunkten eingeschlagen werden könnte, jenseits der Rede von Belastung, Kriminalität, Asylmissbrauch etc. Das Fehlen eines solchen Narrativs bewirkt, dass die Wahrnehmung der Flüchtlinge verzerrt und selbstreflexiv bleibt, womit sich schließlich auch keine Meinungsund Verhaltensänderungen im Sinne eines demokratischen und bürgerlichen Umgangs mit den Flüchtlingen ergeben können. Die Fremdheit wird in der ambivalenten Rhetorik von Toleranz und Abwehr eingefroren. Hingegen hat die Thüringer Regierung mit ihrer von Beginn an auch auf symbolische Neuinterpretation und Deutungshoheit ausgelegten Diskursivität den Versuch gestartet, durch das Narrativ der Willkommenskultur – das in vielen Variationen in den öffentlichen Debattenbeiträgen des neu eingeführten Ministers für Migration immer wieder bemüht wird – eine Erzählung anzubieten, der sich letztlich auch die Gegner von Flüchtlingsheimen nicht so einfach entziehen können. Die Willkommenskultur appelliert sehr an jene tradierte, unschuldige Fremdenliebe und Weltoffenheit, die man sich trotz der Abgeschiedenheit und Enttäuschung über die Wiedervereinigung bewahrt hat. Nein, man habe ja gar nichts gegen Flüchtlinge im Allgemeinen und man sei auch gar nicht rechts, sind dann die Antworten, wenn es in Debatten mit Lager-Gegnern einmal grundsätzlich wird. Nur hier soll eine solche Unterkunft halt nicht gebaut werden. Das erinnert stärker an die »NotInMyBackyard«-Politik, die es etwa in reichen Hamburger Stadtteilen gibt, als an die Parolen von Rechtsextremen, die gleichzeitig gegen die Flüchtlinge demonstrieren. Andererseits: Wenn eine Rechtsextremistin bei einer Erfurter Demonstration auf die Frage, was sie gegen Flüchtlinge habe, sagt, »gegen Ausländer zu sein, ist normal«, dann zeigt dies den Normenkonflikt an, in dem Thüringen sich nichtsdestotrotz befindet und der die Widersprüchlichkeit der politischen Diversität markiert: Das Narrativ der Willkommenskultur erlaubt vielen, ihr Gesicht zu wahren, selbst wenn sie kein Flüchtlingsheim in ihrer Nachbarschaft wollen. Damit ist gleichwohl viel gewonnen, weil hier eine Gemeinsamkeit hergestellt wird, die ansatzweise die tiefen Gräben zwischen den konträren Meinungen zur Flüchtlingsaufnahme überbrücken kann. So geschehen bspw. am Ende einer Debatte in Gera, in der sich die Heim-Gegner von den Befürwortern diskriminiert gefühlt haben, obwohl sie ja eigentlich auch für Flüchtlinge gewesen seien. Dieser Formelkompromiss erlaubte die Fortsetzung des Gesprächs über das Wie der Flüchtlingspolitik. Frank Eckardt  —  Willkommenskulturen in Ostdeutschland

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WILLKOMMENSPARADOXIE Freilich: So erfreulich und konstruktiv die Propagierung einer Willkommenskultur ist, so problematisch ist der zweite Blick auf dieses Narrativ. Dieser zweite Blick gleicht dem Eindruck, der nach der ersten Verliebtheit eintritt, wenn die Flüchtlinge sich als reale Menschen herausstellen und teilweise erheblich von idealisierten Vorstellungen abweichen, die gut gemeint, aber naiv mit dem unbekannten Fremden verbunden worden sind. Wie schon Jacques Derrida in seinem Essay über die Gastfreundschaft herausgestellt hat, ist der Gast oder der Fremde eine äußerst flüchtige Persönlichkeit. Den Gast heißt man willkommen, weil er fremd ist. Sobald man ihn aber als einen solchen begrüßt und in sein Haus bittet, setzt eine paradoxale Logik ein: Der Gast kann nicht Gast bleiben, er kann aber auch nicht NichtGast sein. Sobald die Hausregeln auf die Gäste angewandt werden, können sich diese den Regeln des Anderen nicht mehr entziehen und werden Teil der Welt des Gastherrn – nach dessen Regeln. Die Regeln sehen aber vor, dass man ihm gegenüber besondere (Gast-)Freundlichkeit bezeugt, welche die Unterwerfung unter die Regeln und die Macht des Gastherrn – der die Regeln und Rollen definiert – camouflieren. Flüchtlinge willkommen zu heißen wie ein Hausherr seinen Gast, legt diese Logik der Beziehungen zwischen Deutschen und Flüchtlingen nahe. Die Willkommenskultur ruft die Flüchtlinge über die Schwelle des Flüchtlingsheims, in dem die Regeln festgelegt sind. Nicht nur einer der von uns befragten Sozialarbeiter zeigte sich genervt davon, dass die Heimbewohner die Hausordnung nicht befolgten, und die oftmals erste Frage an uns war, ob wir diese durch unsere Studierenden auf Arabisch übersetzen lassen könnten. Die Angst vor Regellosigkeit geht dabei oftmals mit teilweise rigiden Vorstellungen einher, wie solche Regeln zu befolgen sind. Willkommenskultur in einem übertragenen Sinn bedeutet also, das Prinzip »Heim« mit seiner dualen Konstellation von Bewohnern und Gästen anzuwenden. Die Beteiligung der Betroffenen, d. h. der Gäste bzw. Flüchtlinge, an der Definition der Normen kommt in diesem Bild nicht vor. »Wir brauchen keinen Übersetzer, wir brauchen eine Stimme«, hat mir ein eritreischer Flüchtling in einem Flüchtlingsheim gesagt, das zehn Kilometer von der nächsten Kleinstadt entfernt liegt und zweimal pro Tag von einem Bus angesteuert wird. Die dezentrale Unterbringung, die freie Wohnortwahl und die schnellere Teilhabe an Bildung und Arbeit, wie sie die Thüringer Regierung auch vertritt, verweisen auf die Notwendigkeit einer anderen, emanzipatorischen Erzählung: des Flüchtlings als zukünftiger Bürger.

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Perspektiven — Analyse

Prof. Dr. Frank Eckardt, geb. 1967, Studium der Politikwissenschaften, Neueren und Mittleren Geschichte und Deutschen Philologie. Seit 2009 hat er die Professur für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus Universität Weimar inne.

DEBAT TE

PARADOXIEN DER KLIMADIPLOMATIE WELTEN UND WELTBILDER IM WANDEL ΞΞ Frank Uekötter

Man kann Stuttgart 21 für vieles kritisieren, aber gewiss nicht dafür, dass die Öffentlichkeit überrumpelt worden wäre. Seit den 1990er Jahren wurde rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof fleißig geplant und geworben, mit allem, was Infrastrukturprojekte heute so zu bieten haben. Da wurden Machbarkeitsstudien angefordert, Genehmigungsverfahren initiiert, Ausstellungen konzipiert und Computersimulationen gebastelt. Der öffentliche Enthusiasmus hielt sich in Grenzen, aber die meisten Menschen hatten noch andere Sorgen; und wenn sich über Jahre nur Papiere und Pixel bewegen, dann macht sich irgendwann die Gewissheit breit, dass aus dem Projekt sowieso nichts mehr werden wird. Aber dann kam ein Ministerpräsident, der das Projekt zur Chefsache erklärte und gegen alle Zweifel durchdrückte. Der Rest ist bekannt. Auch die Klimadiplomatie ist ein Großprojekt, das nach endlosen Verhandlungen Ergebnisse produziert, mit denen niemand glücklich wird. Ein Beispiel ist das Atomkraftwerk Hinkley Point C, das derzeit in Somerset im Südwesten Englands gebaut wird. Da stand am Anfang ein Premierminister namens Tony Blair, der sich im Vorfeld des Klimagipfels von Kopenhagen als Vorkämpfer des Klimaschutzes präsentieren wollte. Blairs Amtszeit ist längst Geschichte und Kopenhagen zum größten Fiasko der internationalen Umweltpolitik geworden; aber die Verhandlungen über neue Atomkraftwerke auf den britischen Inseln sind trotzdem lustlos weitergelaufen. Die Energiekonzerne waren nicht begeistert, konnten aber darauf vertrauen, dass sich die Politik ein Scheitern irgendwann nicht mehr leisten konnte. Und so ist am Ende nach fast sechs Jahren ein Vertrag unterschrieben worden, über den sich die Stromkunden künftiger Jahrzehnte noch lebhaft beklagen werden. Wer sich über die üppige Subventionierung regenerativer Energien in

INDES, 2015–4, S. 135–142, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Deutschland beschweren möchte, sollte sich einmal den Vertrag für Hinkley Point C anschauen. Politikprofis werden verständnisvoll nicken: Man gewöhnt sich an alles, wenn man nur lange genug verhandelt. Die Klimakonferenz, die im Dezember 2015 in Paris stattfand, war die 21. jährliche Konferenz der Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention von 1992; Kenner reden von COP 21 (COP steht für Conference of the Parties). Damit kommt man allein für die Conferences of the Parties auf die stolze Zahl von 261 offiziellen Verhandlungstagen (tatsächlich waren es noch etwas mehr), und wenn man die zahllosen Vorbereitungstreffen in aller Welt mit einbezieht, dann fragt man sich schon, ob da eigentlich noch irgendjemand den Überblick behalten hat – von zielstrebiger Gestaltung einmal ganz zu schweigen. Seit 2005 wird zudem zweigleisig verhandelt, weil sich parallel die Vertragsstaaten des Kyoto-Protokolls treffen, das die USA nie ratifiziert haben; und Kanada ist 2012 ausgetreten. Hinzu kommt eine eigene Welt von Abkürzungen, mit denen man sich wunderbar missverstehen kann: Wenn ein Konferenzteilnehmer von »NAPs« schwärmt, geht es nicht zwangsläufig um ein Nickerchen. Die anreisenden Journalisten versuchen längst nicht mehr, ihre Leserschaft über die wahre Komplexität der Klimaverhandlungen zu informieren; und man kann es eigentlich niemandem verdenken, wenn er (oder sie) beim Thema Klimadiplomatie innerlich abschaltet. Und wenn dann irgendwann die Konsequenzen in Beton gegossen werden, wie derzeit an der Küste von Somerset, ist es zu spät. Dabei hat das Ganze einst ziemlich schwungvoll begonnen. Historiker wie Spencer Weart betonen zwar den langen wissenschaftlichen Vorlauf der heutigen Klimadebatte, aber auf dem Radarschirm der Politik tauchte das Thema erst in den 1980er Jahren auf.1 In den USA wurde der Klimawandel erstmals 1988 intensiv diskutiert, als eine Dürreperiode den amerikanischen Mittelwesten heimsuchte. In der Bundesrepublik hatte die Debatte schon etwas früher begonnen: Der legendäre Spiegel-Titel mit dem versinkenden Kölner Dom erschien im August 1986 (übrigens dank des atomfreundlichen Arbeitskreises Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, der nach Tschernobyl mit drastischen Warnungen vor einer Klimakatastrophe wieder in die Offensive kommen wollte).2 Binnen weniger Jahre hatte die Debatte über nationale Grenzen hinweg so sehr an Dynamik gewonnen, dass 1992

1  Vgl. Spencer R. Weart, The Discovery of Global Warming, Cambridge 2008.

auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro die Klimarahmenkonvention verabschiedet werden konnte; seither bildet sie das Grundgerüst der internationalen Klimadiplomatie. Nach nur zwei Jahren war die Klimarahmenkonvention von einer hinreichenden Zahl von Ländern ratifiziert, und 1995 fand in Berlin die erste Conference of the Parties statt.

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Perspektiven — Debatte

2  Vgl. Peter Weingart u. a., Von der Hypothese zur Katastrophe. Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien, Opladen 2008, S. 49.

Die Klimarahmenkonvention spiegelte unverkennbar die Welt am Ende des Kalten Krieges. Entscheidend war das Einvernehmen zwischen West und Ost: Erst mit der Perestroika Michail Gorbatschows konnte man sich überhaupt eine internationale Umweltdiplomatie vorstellen, die sich nicht in Unverbindlichkeiten erschöpfte. Entsprechend konzentrierten sich die klimapolitischen Ambitionen ganz auf die industrialisierte Welt, während unterentwickelte Länder zunächst keinerlei Verpflichtungen eingingen, ihre Klimaemissionen zu reduzieren. Eine Welt, in der kein Land mehr Kohlendioxid ausstößt als China, lag noch weit jenseits des Horizonts. Zudem hatten die Diplomaten mit dem Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht einen verlockenden Präzedenzfall vor Augen, der Träume von einer kommenden »Erdpolitik« beflügeln konnte.3 Im September 1987 unterzeichneten 25 Delegationen in Montreal einen Vertrag, der sie dazu verpflichte, den Ausstoß ozonschädlicher Substanzen innerhalb von zehn Jahren zu halbieren. Auch hier standen die Industrieländer im Mittelpunkt, aber der Grund war denkbar banal: Ohne eine gut entwickelte Chemieindustrie war ein Land gar nicht in der Lage, in nennenswertem Umfang Fluorchlorkohlenwasserstoffe und andere für die Ozonschicht schädliche Stoffe zu produzieren. Der Kampf gegen das Ozonloch prägte die Klimadiplomatie nicht nur auf einer metaphorischen Ebene. Bewusst akzeptierten die Verhandlungsführer beim Schutz der Ozonschicht zunächst eine unzulängliche Lösung, um später nachzubessern: Drei Jahre nach Montreal beschlossen die Unterzeichner auf einer Vertragsstaatenkonferenz in London, dass die Produktion ozonschädlicher Stoffe weltweit bis zum Jahr 2000 auslaufen sollte. Ähnliche Hoffnungen verbanden sich mit dem Kyoto-Protokoll von 1997, das die allgemeinen Vorgaben der Klimarahmenkonvention erstmals in konkrete rechtsverbindliche Regeln umsetzte. Im Lichte des Gesamtproblems waren die Vorgaben des Kyoto-Protokolls geradezu lächerlich schwach, aber vielleicht würde es sich ja als ein erster Schritt entpuppen, dem weitere folgen würden? Nach und nach zeigte sich freilich, dass der Trend eher in die entgegengesetzte Richtung ging. Die Vorgaben des Kyoto-Protokolls sind im Zuge der langwierigen Ratifizierung immer mehr verwässert worden, und ein Folgeabkommen steht weiterhin aus. Das sollten die Verhandlungen von Paris ändern. Während der Drucklegung dieses Beitrags gingen die Vorbereitungen in die heiße Phase, so3  Vgl. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, Darmstadt 1994.

dass man über mögliche Ergebnisse nur spekulieren konnte. Aber die großen Hoffnungen auf den »Global Deal« haben sich anscheinend schon im Vorfeld verlaufen: Eine Erwartungshaltung wie vor dem Kopenhagen-Gipfel 2009 ist jedenfalls nirgends zu spüren. Anscheinend ahnt man, dass die Frank Uekötter  —  Paradoxien der Klimadiplomatie

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Voraussetzungen ungünstiger sind als noch vor sechs Jahren, als die Weltwirtschaft in der Krise steckte und die neoliberalen Priester des freien Wettbewerbs ziemlich kleinlaut geworden waren. Immerhin scheint sich US-Präsident Barack Obama energisch für eine vorzeigbare Lösung zu engagieren; auch wenn man nach den Erfahrungen mit Tony Blair doch eine gewisse Skepsis gegenüber Politikern hat, die plötzlich die Klimapolitik entdecken, wenn das Ende der eigenen Karriere in Sichtweite gekommen ist. Wohl kaum ein anderes Thema erlaubt es, sich derart souverän über die Niederungen der Alltagspolitik zu erheben: für den Staatsmann im Abendrot die heroische Pose im Kampf um das Weltklima und für den Nachfolger dann die lästigen Details. Saßen in Paris überhaupt die richtigen Verhandlungspartner am Tisch? Um 1990 war noch ausgemacht, dass Nationalstaaten die natürlichen Akteure einer Welt-Umweltpolitik waren. Im Kalten Krieg besaßen die Staaten des Westens weitreichende Steuerungsinstrumente für ihre Ökonomien, und in den Staaten des Ostblocks war das ohnehin der Fall: Beim Montreal-Protokoll hatten die Verhandlungsführer sorgfältig darauf geachtet, dass die Vereinbarungen mit den Mechanismen der sozialistischen Fünf-Jahres-Pläne kompatibel waren. Im Zeichen der Deregulierung wurde die Ägide der Staatsverwaltungen jedoch zunehmend brüchig. Ein Übriges tat die Arbeitsteilung der Weltwirtschaft im Zeitalter der Globalisierung. Wem soll man eigentlich die Klimagase anrechnen, wenn ein deutscher Autokonzern zusammen mit Lieferanten aus aller Welt ein Fahrzeug baut, das er dann in die USA verkauft – oder an ein Scheichtum am Persischen Golf? Apropos: Auch die rohstoffreichen Länder gehören zu den Faktoren, die man um 1990 irgendwie noch nicht im Blick hatte. Selbst ein demokratisches Land wie Australien wirkt plötzlich wie eine »Bananenrepublik«, wenn man das Hin und Her der dortigen Klimapolitik betrachtet: Bergbauinteressen sind beim größten Kohlenexporteur der Welt nun einmal eine Macht. Viel wäre schon gewonnen, wenn solche Länder die üppig vorhandenen Energieträger nicht noch zusätzlich subventionieren würden. Aber kann man mit Ländern wie Venezuela oder Saudi-Arabien wirklich ernsthaft über solche Forderungen verhandeln? Von den weitergehenden Forderungen der »Divestment«Bewegung, die darauf abzielt, einen Großteil der fossilen Brennstoffe im Boden zu lassen, einmal gar nicht zu reden. Dabei wäre es gar nicht so schwer, im Rahmen eines Klimagipfels einmal nichtstaatliche Akteure ins Visier zu nehmen. Eine internationale Übereinkunft, endlich die steuerliche Begünstigung des Flugbenzins zu beenden, wäre zum Beispiel ein guter Weg – seit Langem eines der peinlichsten umweltpolitischen Versäumnisse überhaupt. Und warum nicht gleich dazu eine Strafsteuer für

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Perspektiven — Debatte

Sprit fressende Luxusautos? Natürlich gäbe das einen Aufschrei von all jenen, die gerne mit dem Geländewagen durch die Vorstadt fahren. Aber dann hätte man immerhin schon mal Klarheit, an wem der Global Deal gescheitert ist. Alles wäre natürlich viel einfacher, wenn sich an der Diagnose des Problems noch rütteln ließe. Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren konnte man über Zweifel am anthropogenen Klimawandel noch ernsthaft reden. Inzwischen macht man sich damit nur noch lächerlich: Indizienkette, Modelle, Temperaturmessungen – über die Gesamttendenz des Weltklimas sind wir bestens im Bilde und auch über die Rolle des Menschen in diesem Drama. Vor ein paar Jahren mutmaßte ein Forscherteam des Bielefelder Instituts für Wissenschaftsund Technikforschung, dass die Klimadebatte auf ewig in einem Dreieck aus Wissenschaft, Politik und Medienöffentlichkeit pendeln würde.4 Inzwischen ist klar, dass es in Sachen Klima durchaus so etwas wie einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess gegeben hat. Das heißt natürlich nicht, dass alle naturwissenschaftlichen Fragen beantwortet wären; das wäre bei einem so komplexen Gegenstand wie dem Weltklima auch kaum zu erwarten. Man kann auch einzelne Informationen zusammenbasteln, alle Ungewissheiten in eine Richtung auslegen und dann auf Entwarnung setzen – Fritz Vahrenholt lässt grüßen.5 Aber entlarven sich solche Himmelsstürmereien nicht inzwischen von selbst? Zweifellos wird es auch immer Leute geben, die bei einer Kältewelle sarkastische Bemerkungen machen. Aber muss uns das kümmern? Wir richten ja auch unsere Verkehrspolitik nicht unbedingt nach dem aus, was Menschen im Zugabteil oder hinter dem Lenkrad so sagen. Manchmal möchte man geradezu sehnsüchtig an die Zeiten zurückdenken, als die Skeptiker der anthropogenen Erwärmung noch eine echte intellektuelle Herausforderung waren. Immerhin war die fachliche Kritik doch auch ein Hemmschuh für jene sukzessive Enthemmung, bei der die Dramatik der Diagnose nahezu jedes Mittel zu rechtfertigen schien. Selbst individuelle Freiheitsrechte stehen zur Disposition, wenn sie der Transformation zur kli4  Vgl. Weingart u. a. 5  Vgl. Fritz Vahrenholt u. Sebastian Lüning, Die Kalte Sonne. Warum die Klimakatastrophe nicht stattfindet, Hamburg 2012. 6  Siehe Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderung, Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation, Berlin 2011, S. 85.

maverträglichen Gesellschaft entgegenstehen – nachzulesen im Hauptgutachten »Welt im Wandel« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderung.6 Ein Ökonom, der in ähnlichem Stil an Wertvorstellungen und Wohlstandsmodellen herumbastelt, würde wohl sehr schnell als Inbegriff des hässlichen Experten gelten. Klimaforscher kommen damit bislang problemlos durch. Sie sind nicht arrogant. Sie sind besorgt. Der Bericht über die »Welt im Wandel« liefert beunruhigende Einblicke in eine Expertenriege, die sich von allen irdischen Verpflichtungen souverän emanzipiert hat. Zum Beispiel bei der Grünen Revolution: Generationen von Frank Uekötter  —  Paradoxien der Klimadiplomatie

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Analysten und Aktivisten haben sich die Finger wund geschrieben über ungeplante Nebenfolgen, die Ahnungslosigkeit der Experten und den Kontext des Kalten Kriegs. In »Welt im Wandel« ist die Grüne Revolution hingegen eine Transformation, die »besonders durch wissenschaftliche Akteure und einen hohen Grad politischer Steuerung gekennzeichnet« gewesen sei. Kritische Aspekte werden in eingeschobene Sätze verbannt, die abstrakt und seltsam zusammenhanglos von »sozialen und ökologischen Folgen« sprechen. Daraus wird dann in der Zusammenfassung der Hinweis für die Klimapolitik, »dass darauf geachtet werden muss, alle Staaten und ihre Bürger mitzunehmen«.7 Nebenwirkungen können so einfach sein. Herrje, wie konnten die Architekten der Grünen Revolution nur vergessen, die Bürger »mitzunehmen«! So bietet der Klimadiskurs eine paradoxe Mixtur aus utopischer Planungseuphorie und realer Politikverachtung. Einerseits insistiert man auf einer Politik mit Weitsicht und suggeriert ernsthaft, man könne für generationenübergreifende Planungen belastbare Zahlen liefern. Andererseits betrachtet man die Entscheidungsträger der Gegenwart als Kleingeister und sagt das sogar öffentlich. Im Vorfeld des Pariser Gipfeltreffens gab der Leiter des PotsdamInstituts für Klimafolgenforschung, Hans Joachim Schellnhuber, langjähriger Berater der Bundeskanzlerin und Teilnehmer zahlloser Verhandlungsrunden, seine Ansicht kund, Klimagipfel seien eine »kafkaeske Veranstaltung«, bei der man sich frage, »ob es intelligentes Leben auf der Erde gibt«.8 Wie aber will man als Forscher Respekt vor der Wissenschaft einfordern, wenn man selbst keinerlei Respekt vor der Politik und ihren spezifischen Modalitäten hat?

7 

Ebd., S. 104 f. u. S. 114.

8  O. V., »Dann hausen wir in Mondstationen«, in: Der Spiegel, 31.10.2015.

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Die Kluft zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, seit Max Weber in Deutschland Teil der politischen Sprache, scheint bei der Klimapolitik unüberbrückbar zu sein. Wer am Zwei-Grad-Ziel festhält und nicht an Wunder glaubt, der gelangt zwangsläufig zu drakonischen politischen Forderungen, bei denen jede ökologische Realpolitik mickrig aussieht. Aber muss es denn immer ein großer Wurf sein, mit Partnern aus aller Welt und drei Jahrzehnten Laufzeit? Die deutsche Energiewende begann ziemlich unscheinbar im Jahr der Wiedervereinigung, als ein Einspeisegesetz mit Garantiepreisen für regenerative Stromproduktion irgendwie durchs Parlament rutschte.9 Wer immer nur von großen Masterplänen für das Jahr 2050 träumt, begegnet der Frage nach den nächsten Schritten leicht mit Geringschätzung. Wenn dieser Beitrag in den Tagen nach dem Pariser Gipfeltreffen erschienen sein wird, ist die Weltöffentlichkeit vermutlich mit klimamoralischen Floskeln bestens versorgt. Verantwortung für unsere Kinder, für die Armen der Welt, für die Menschen auf Inseln, die untergehen werden, für Küstenbewohner und eigentlich auch für den Rest der Menschheit: Kein anderes Thema lässt sich leichter universalisieren, und kein anderes ist so anfällig für das unspezifische »wir«. Dabei gibt es auch eine sehr viel greifbarere und konkretere Verantwortung, über die nur kaum jemand spricht. Natürlich sollen Klimapolitiker die Welt retten. Aber sollten sie nicht auch bestrebt sein, unbeabsichtigten Schaden zu vermeiden? Es ist ja schon bemerkenswert, mit welcher Nonchalance sich die Klimapolitik um die unintendierten Nebenfolgen ihrer politischen Instrumente herumdrückt. Wann hört man zum Beispiel eine Fundamentalkritik am Emissionshandel? Der Wert dieses marktförmigen Regulierungsinstruments für den Klimaschutz ist selbst für wohlmeinende Beobachter offen, wohingegen dessen Attraktivität für allerlei Betrügereien unbestritten ist. Im Kern ist der Emissionshandel ein Relikt aus jener Zeit, in der marktförmige Steuerung in der amerikanischen Umweltpolitik der letzte Schrei war – auch eine Einstellung, über welche die Zeit hinweggegangen ist. Trotzdem bringt jeder neue Skandal nur Beteuerungen hervor, dass man künftig mehr aufpassen werde. Dabei wäre die Klimapolitik gut beraten, in finanziellen Dingen besonders penibel zu sein. Einiges spricht dafür, dass für Klimaadaption sowie die Abscheidung und Speicherung klimaschädlicher Gase in Zukunft enorme Budgets zur Verfügung stehen werden. Wenn man da nicht vorsichtig ist, kann es sehr schnell sehr finster werden. 9 

Vgl. Klaus-Dieter Maubach, Energiewende. Wege zu einer bezahlbaren Energieversorgung, Wiesbaden 2014, S. 47.

Die unbeabsichtigten Nebenfolgen beschränken sich längst nicht mehr auf politische Steuerungsinstrumente. In Le Monde diplomatique war zum Beispiel kürzlich nachzulesen, »wie der Klimawandel Konflikte anheizt« – und Frank Uekötter  —  Paradoxien der Klimadiplomatie

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zwar ausgerechnet mit dem Beispiel Syrien.10 Ist solchen Autoren nicht klar, dass sie damit den wahren Schuldigen des Bürgerkriegs geradezu eine Steilvorlage liefern, um von der eigenen Verantwortung abzulenken? Ist das nicht letztlich die pseudowissenschaftliche Bestätigung jener Vermutung, auf die sich die schlichteren Gemüter im Nahen Osten noch immer haben einigen können: Am Ende ist doch immer der Westen an allem Schuld? Und wie stellen sich solche Autoren eigentlich einen Wiederaufbau vor in einem Land, das man gerade aus der Ferne für unbewohnbar erklärt hat? Das Gerede von »Klimamigration« hat längst Züge eines moralischen Ablassritus: Man kann Mitgefühl mit fernen Ländern heucheln, ohne sich mit der Situation in diesen Ländern näher zu beschäftigen. Der Artikel in Le Monde diplomatique schließt mit billiger Moral. »Denn derzeit sind mindestens so viele Menschen auf der Flucht vor den Folgen vor Umweltzerstörung wie vor Gewalt und Kriegen. Doch der Westen schreckt trotz seiner historischen Verantwortung für die globale Erwärmung davor zurück, sie als Flüchtlinge anzuerkennen.«11 Aber, pardon: Werden die wahren Helden der Klimageschichte des 21. Jahrhunderts nicht jene Menschen sein, die sich auch unter widrigen Bedingungen durchbeißen, neue Wege der Landbewirtschaftung und Ressourcennutzung finden und gerade nicht auswandern? Man würde als Historiker auch gerne einmal wissen, mit welchen Belegen Wissenschaftler eigentlich für das Gebiet des heutigen Syrien »die größten Ernteverluste seit den frühesten Zivilisationen im Fruchtbaren Halbmond«12 nachweisen wollen. Das klingt doch arg nach einem superlativus conscientiae, bei dem die robuste ethische Gesinnung alle Vorbehalte über das zuverlässig Belegbare auffrisst. Der gemeine Universitätshistoriker warnt seine Studenten doch schon bei Erntestatistiken aus dem 19. Jahrhun-

10  Agnès Sinai, Verwüstung. Wie der Klimawandel Konflikte anheizt, in: Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, September 2015, S. 1 u. S. 18. 11 

Ebd., S. 18.

12 

Ebd., S. 1.

dert, dass unser Wissen unvollständig ist. Ohnehin kommt man mit Wunschvorstellungen bei Wetter und Klima meist nicht sehr weit; denn optimal ist beides in den seltensten Fällen. Als Bewohner der britischen Inseln weiß ich, wovon ich rede. So ist es vielleicht an der Zeit, für die Klimaszene eine Art hippokratischen Eid zu formulieren: eine moralische Verpflichtung, alles zu vermeiden, was der Menschheit schadet, jedenfalls sofern sich mit dem Schaden kein äquivalenter Nutzen verbindet. Das würde die Menschheit und ihr Klima zwar nicht retten. Aber es würde helfen, über Klimawandel und Klimapolitik in einer Weise zu reden, die sich durch Nebenfolgen nicht gleich moralisch diskreditiert. Und vielleicht würde eine solche Selbstverpflichtung der Klimaszene sogar etwas bescheren, was sie derzeit wahrscheinlich mehr braucht als irgendetwas anderes: ein Erfolgserlebnis.

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PD Dr. Frank Uekötter, geb. 1970, war ­Mitbegründer des Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft in München und lehrt seit September 2013 geisteswissenschaftliche Umweltforschung an der University of Birmingham. Sein Buch »Deutschland in Grün. Eine zwiespältige Erfolgsgeschichte« erschien 2015 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.

INTERVIEW

»FORSCHUNGSFÖRDERUNG MUSS ERWARTUNGSDURCHBRECHUNGEN ERWARTBAR MACHEN« EIN GESPRÄCH ÜBER FREIHEITSRÄUME UND INNOVATIONSDYNAMIKEN IN DER WISSENSCHAFT ΞΞ Peter Strohschneider In Interviews mit Ihnen, Prof. Strohschneider, stößt der Leser häufig auf das Wort der »Exzellenz«: Exzellenzinitiative, Exzellenzuniversität, Exzellenzcluster, Exzellenzzentren, allesamt geradezu programmatische Begriffe der aktuellen Wissenschaftsförderung. Was verstehen Sie unter Exzellenz? »Exzellenz« ist eher eine wissenschaftspolitische Marke – und die habe nicht ich mir ausgedacht – denn ein programmatischer Begriff. Als solchen verwende ich lieber den Ausdruck »allerbeste Forschung«. Wenn man Wissenschaft allein unter dem Code »exzellent/nicht-exzellent« beobachtete, dann würde das mit erheblichen Einbußen an Analysefähigkeit einhergehen. »Exzellenz« ist nämlich ein digitaler Ausdruck. Brauchbarer sind Kategorien wie »Qualität«, die man skalieren kann. In diesem Sinne verwenden wir selbstverständlich auch in der DFG Namen wie »Exzellenzinitiative« und »Exzellenzcluster« oder »Exzellenzzentrum«, während dann typischerweise von Forschung auf einem sehr guten oder außerordentlichen Qualitätsniveau die Rede ist, wenn es anstatt um die Marke um Kategorien geht. Wie misst man denn Exzellenz oder Qualität in der Wissenschaft? 2008 wurde vom Wissenschaftsrat unter Ihrem Vorsitz ein Forschungsrating durchgeführt. Eines der angelegten Kriterien war die Anzahl der Promotionen. Mittlerweile vertreten Sie dagegen die Position, dass die Vielzahl der Promotionen eher ein Indiz für Qualitätsprobleme denn einen Gütebeleg darstelle. Hängt von flüchtigen Stimmungen oder Moden ab, was Qualität ist?

INDES, 2015–4, S. 143–157, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015, ISSN 2191–995X

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Ich meine, dass man Qualität von Forschung und Lehre zwar gut beurteilen, aber schlecht messen kann. Messungen beziehen sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Wissenschaft selbst, sondern auf sekundäre Indikatoren wie Publikationszahlen, die Zitationshäufigkeit oder Gewichtigkeitsfaktoren wissenschaftlicher Zeitschriften. Solche Indikatoren lassen sich auch, wie beim sogenannten Hirschfaktor, aggregieren. Und derartige Verfahren mögen in manchen Wissenschaftsbereichen immerhin möglich sein; ob sie wünschenswert sind, ist eine ganz andere Frage. Meine grundsätzliche Skepsis gegenüber solchen rein quantitativen Verfahren rührt daher, dass Zahlen immer in Sinnzusammenhänge eingeordnet werden müssen, wenn sie etwas besagen sollen. Und das gilt erst recht für hochaggregierte bibliometrische Maßzahlen. Insofern ist es mit Bemessungen nicht getan, man muss zu Bewertungen von Forschung kommen: Quantitäten können gemessen, wissenschaftliche Qualitäten müssen bewertet werden. Widerspricht Letzteres nicht der Intention des angesprochenen Forschungsratings des Wissenschaftsrates? Der Wissenschaftsrat hatte seinerzeit Pilotstudien zu einem Forschungsrating in ausgewählten Disziplinen durchgeführt, nämlich zur Soziologie, Chemie, Elektrotechnik und Anglistik in Deutschland. Diese Pilotstudien waren keineswegs so angelegt, dass aus der Anzahl der Promotionen in einem Organisationsbereich direkt auf dessen Leistungsfähigkeit geschlossen worden wäre. Vielmehr bildeten Promotionszahlen gemeinsam mit anderen Ziffern etwa zur Finanz- und Personalausstattung eine Datengrundlage, auf welcher die Bewertung der Leistungsfähigkeit eines Lehrstuhls oder Instituts vorgenommen wurde. Und dabei spielte dann, jedenfalls in den Geistes- und Sozialwissenschaften, insbesondere die Lektüre wissenschaftlicher Publikationen eine entscheidende Rolle. Das ist ein hochseriöses Verfahren, gegenüber dessen regelmäßiger und flächendeckender Durchführung man gleichwohl skeptisch bleiben wird, weil seine unerwünschten Nebenfolgen unklar und das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu ungünstig sind; das Gutachtenwesen des Wissenschaftssystems ist – wie wir in der DFG mit Sorge beobachten – ohnehin an den Grenzen seiner Belastbarkeit angelangt. Um nun auf die Frage: »Wie bewertet man die Anzahl der Promotionen überhaupt und diejenige der Promotionen in einem bestimmten Fach?«, zu kommen, so will ich sagen, dass ich da stets ziemlich skeptisch gewesen bin. In Deutschland wird überdurchschnittlich viel promoviert; alleine die DFG finanziert in ihren unterschiedlichen Förderformen derzeit schätzungsweise mehr als 21.000 Promovierende. Dabei erfüllen Promotionen in Deutschland

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allerdings unterschiedliche Funktionen: In der Praxis gibt es einerseits das Professionsdoktorat, das im Sinne einer Studienabschlussarbeit für einen Beruf qualifiziert, und andererseits das Forschungsdoktorat, das für eine Karriere in der Wissenschaft qualifizieren soll. Andere Wissenschaftssysteme unterscheiden diese Promotionstypen auch formal: In den USA ist der PhD etwas anderes als der Medical Doctor. Ein Medical Doctor oder ein Doctor of Education sind Professionsdoktorate, deren Qualifizierungsanspruch deutlich vom PhD als einem Forschungsdoktorat abgesetzt ist. Überdies ist bei der Einschätzung der Promotionszahlen zu bedenken, dass in der Berufswirklichkeit der deutschen Gesellschaft Bildungszertifikate eine erstaunlich wichtige Rolle spielen, während in Amerika etwa Sozialpositionen eher über performance on the job bestimmt werden. Was folgt daraus? Das heißt, im deutschen System funktionieren Promotionen in sehr unterschiedlicher Weise. In der Medizin etwa sind die allermeisten Doktorate Professionsdoktorate. In der Chemie zwar auch; dort gibt es eine Promotionsquote von an die neunzig Prozent, weil die deutsche chemische Industrie überwiegend promovierte Chemiker sucht. Doch schlägt der Sachverhalt, dass es sich insofern auch um Professionsdoktorate handelt, nicht auf die Qualität in dem Sinne durch, dass die Arbeiten inhaltlich nicht als Forschungsdoktorate anzusehen wären. In der Jurisprudenz hingegen muss man von Fall zu Fall entscheiden: Geht es um den Doktortitel für eine Rechtsanwaltspraxis oder geht es um Forschung im Hinblick zum Beispiel auf eine akademische Karriere? So lassen sich Wissenschaftsdisziplinen durchdeklinieren. Wenn Sie jetzt fragen, ob die Anzahl der Promotionen, die in einer bestimmten Betriebseinheit gemacht werden, ein guter Leistungsindikator für diese Betriebseinheit ist, dann sage ich nein. Trotzdem ist es bei der Bewertung einer Forschungseinheit nützlich zu wissen, wie viele Leute dort arbeiten. In den meisten Fächern, vor allem in den Experimentalwissenschaften, wird ja ein Großteil der praktischen Forschungsarbeit von den Promovierenden oder von frisch Promovierten gemacht. Was uns interessiert, ist nicht nur die Messbarkeit, sondern Ihre Auslegung des Charakters von Exzellenz, inwiefern sie biografisch gefärbt ist. Sie sind Germanist. Welche Rolle spielen in Ihrem Exzellenzverständnis Faktoren wie Schönheit und Ästhetik? Dafür würde ich selbst den Ausdruck »Exzellenz« überhaupt nicht verwenden. Herausragend gute Forschung in meinem eigenen Fachgebiet erfordert Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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Sachangemessenheit, theoretische und begriffliche Konsistenz, methodische Sauberkeit, historische Reflexivität, Theoriebewusstsein, sprachliche und begriffliche Prägnanz. Kurz, es geht um die Genauigkeit der Wahrnehmung und um die Differenziertheit des Ausdrucks. Das sind skalierbare Größen. Und wenn jemand zugleich wie Adorno und wie Luhmann zu schreiben versucht, dann geht das meistens schief, und zwar nicht nur ästhetisch, sondern auch begrifflich. Aber messen kann ich das freilich nicht. Lese ich etwas, das ich noch nicht wusste, das neue Einsichten eröffnet und das mich produktiv irritiert, dann spreche ich von Forschung hoher Qualität. In meinem eigenen Fach, der Germanistik, ist der Innovationsimperativ moderner Forschung vielleicht eher als ein Imperativ der produktiven Irritationen zu beschreiben. Was mich fasziniert, ist der neue Blick auch auf ein bekanntes Problem, jene Perspektive auf einen Sachzusammenhang, die ich noch nicht kannte. Über das Präsidium und den Senat der DFG hört man oft, auch von Professoren: »Die sind ganz weit weg von der tatsächlichen Forschung.« Ist es problematisch, dass sich die Laufbahnen des Wissenschaftlers auf der einen und die des Wissenschaftsorganisators auf der anderen Seite frühzeitig trennen? Und können Wissenschaftsorganisatoren, die insofern relativ weit von der praktischen Forschung entfernt sind, eigentlich Exzellenzkriterien für wissenschaftliche Arbeit aufstellen? Vizepräsidentinnen und Senatoren der DFG arbeiten ehrenamtlich. Sie investieren viel Zeit und intellektuelle Energien in diese Aufgaben; und es wäre erstaunlich, wenn dies ganz ohne Auswirkungen auf ihre Forschungsintensität bliebe. Dass sie aber von der Forschung ganz weit weg seien, dies kann ich allein als sachfremde Polemik verstehen. Die Bewertungsgesichtspunkte für die Exzellenzinitiative nun wurden im Allgemeinen von Bund und Ländern in der sogenannten Exzellenzvereinbarung festgelegt. Es geht um wissenschaftliche Qualität. Auf konkrete Anträge wurde dieses Kriterium dann im Wettbewerb nicht von Wissenschaftsfunktionären angewandt, sondern von den Forschenden selbst, die als Gutachtende beteiligt waren. Aber selbstverständlich ist die Ausdifferenzierung von Forscherkarrieren und von Wissenschaftsfunktionärskarrieren ein Sachverhalt, den man reflektieren muss. Sie ist womöglich unvermeidlich angesichts der Komplexität und Systemgröße moderner Wissenschaft. Wir haben es schließlich nicht mehr wie im 18. Jahrhundert mit einer kleinen Gruppe von Universitätslehrern oder mit aristokratischen Laienforschern zu tun – um vom Hochmittelalter mit seiner monastischen Forschung hinter Klostermauern zu schweigen. In dem Maße, in dem das Wissenschaftssystem selbst expandiert, sich intern

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ausdifferenziert, in seinen infrastrukturellen, personellen, intellektuellen, finanziellen Voraussetzungen immer komplexer wird, in dem Maße wächst die Notwendigkeit formaler Organisation. Moderne gesellschaftliche Teilsysteme können nicht ohne den Aufbau von Eigenbürokratien funktionieren. Es gibt eine Finanzbürokratie, es gibt eine Sozialbürokratie und es gibt eben auch eine Wissenschaftsbürokratie. Was meine eigene Person anbelangt, so interessiert mich am allermeisten die Frage, wie weit man als Wissenschaftsfunktionär in politische und administrative Handlungsfelder vorstoßen kann, ohne eine analytische Perspektive aufgeben zu müssen. Ich selbst habe vor der DFG-Präsidentschaft sechs Jahre im Wissenschaftsrat gearbeitet; davor hatte ich so gut wie keine Wissenschaftspolitik betrieben. Und dies ist nun keine Position, für die man sich bewerben kann, sondern in sie wird man ohne eigenes Zutun berufen. Nach meiner Zeit beim Wissenschaftsrat habe ich knapp zwei Jahre wieder als Literaturwissenschaftler gearbeitet, davon ein Jahr als Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies, währenddessen ich ein mediävistisches Buch schreiben konnte. Von dort aus wurde ich zum Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewählt. Heute bin ich nun gewiss nicht mehr so nahe dran an meiner eigenen Disziplin, wie das vor zehn Jahren der Fall gewesen sein mag, aber doch auch nicht so weit entfernt von ihr, dass mir die Mittelaltergermanistik wie ein fremder Stamm mit unbekannten Sitten vorkäme. Können Sie sich an die Situation erinnern, als Sie sich zum ersten Mal vorstellen konnten, eine Zeit lang im Wissenschaftsmanagement zu bleiben, wo Sie vielleicht sogar dachten, das liegt mir stärker als die Wissenschaft? Ich hatte drei Plenarsitzungen im Wissenschaftsrat mitgemacht, dann entschieden die Kollegen sich, mich zum Vorsitzenden zu wählen. Das ist in meiner Wahrnehmung genauso überraschend geschehen wie zuvor die Berufung in den Wissenschaftsrat. Ich kann mich daran erinnern, dass ich diese Spannung zwischen dem Agieren in dem und dem Blick auf das System von außen sehr aufregend fand. Und ich habe es an meiner Tätigkeit im Wissenschaftssystem immer als besonders reizvoll empfunden, einerseits praktische politische und institutionelle Handlungsmöglichkeiten auszuloten und mich andererseits zugleich analytisch verstehend verhalten zu können. Und das ist bis heute so geblieben. Wir würden gerne nochmal auf das Irritationspostulat zurückkommen. Sie haben auch einmal davon gesprochen, das Denken des »Undenkbaren« sei eines der zentralen Forschungsziele. Wie geht man vor diesem Hintergrund mit dem Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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Konservatismus einer Gremienstruktur um, in der diejenigen über die Förderung von Anträgen entscheiden, die den bestehenden Forschungsstand, mithin das Denkbare repräsentieren? Und wie lässt sich das Denken dieses Undenkbaren sicherstellen angesichts der Feststellung des amerikanischen Soziologen Richard Svedberg, demzufolge der Wissenschaft das Beweisen alter Theorien und Hypothesen leichter falle als die Produktion neuer Annahmen? Die knappste mir mögliche Antwort darauf steht in einem Büchlein, das Jürgen Kaube und Jörn Laakmann kürzlich herausgeben haben, dem »Lexikon der offenen Fragen«. Dort habe ich zu skizzieren versucht, dass alles Organisatorische auf Erwartungssicherheiten gestellt ist, der Neuheitsimperativ der Wissenschaft aber auf Erwartungsdurchbrechungen. Insofern sind Forschungsorganisationen paradoxe Einrichtungen: Sie müssen Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen. Und nun kann man fragen: Wenn dieses Paradox nicht aufzulösen ist, wie lässt sich dann daran festhalten, dass Forschung mit der Produktion neuen Wissens befasst sei? Man könnte ja auch sagen, in der Forschung gehe es um die Produktion wahren Wissens, wie das von den Vorsokratikern bis zur »Sattelzeit« der Fall war. Erst seither werden ja wissenschaftliche Wissensansprüche nicht allein auf ihre Wahrheit, sondern zugleich auch auf ihre Neuheit geprüft; es kommt schließlich weder auf wahres altes, noch auf falsches neues Wissen an. Solange man daran indes festhält, gilt: Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechung erwartbar machen. Und die typische Antwort auf die Frage, wie das nun aber gehen könne, lautet, es werde nicht die Forschung selbst, sondern es werden ihre Möglichkeitsbedingungen gefördert – jene Räume also, in denen produktive wissenschaftliche Irritationen wahrscheinlich werden können. Nun ließe sich einwenden, moderne Forschung sei so voraussetzungsvoll, so teuer, so wirkungsreich, so relevant für die enorm wissenschaftsabhängige Gesellschaft, dass der Verweis auf die schiere Möglichkeit von Erwartungsdurchbrechungen vermutlich die gesellschaftliche Alimentation von Forschung kaum hinlänglich zu begründen vermöchte. Auf dieses Risiko reagieren die Organisationen der Wissenschaft typischerweise mit Versprechungen: Forschung werde den Krebs besiegen, mit ihr bekomme man die Finanzkrise in den Griff oder die Folgen des Klimawandels. Und das ist einerseits ja auch nicht unvernünftig. Nur besteht andererseits die Gefahr, dass Wissenschaft die Erwartungen an ihre eigene Leistungsfähigkeit dabei so sehr in die Höhe treibt, dass es – mit gravierenden Folgen für die gesellschaftliche Legitimität von Wissenschaft – zu Enttäuschungen dieser Erwartungen kommen wird: Die Menschen sind nach wie vor sterblich, die Armut auf der Welt ist noch längst nicht besiegt und die Gletscher schmelzen weiter.

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Für dieses Dilemma moderner Wissenschaft gibt es womöglich keine Lösung, man kann allerdings mehr oder weniger reflektiert mit ihm umgehen. Ist aber nicht gerade dann, wenn das Neue, das Unerwartbare in Forschungsvorhaben systematisch erspürt und erdacht werden soll, ist dann das Verfahren, Fachkollegien über Förderanträge entscheiden zu lassen, nicht eher kontraproduktiv? Alternativ könnte ja auch ein Einzelner an der Spitze über die Förderung entscheiden, kontrolliert und eingeschränkt womöglich durch Aufsichtsgremien und eine begrenzte Amtszeit, aber losgelöst von den Kompromisszwängen und Verwässerungsgesetzmäßigkeiten der Mehrheitsentscheidung. Es ist nicht sicher, dass Mehrheiten alles platt treten, und auch nicht, dass alternative Entscheidungsverfahren intellektuelle Hochleistungen wie von alleine befördern. Es dürfte im Gegenteil ziemlich schwer fallen zu zeigen, dass andere Begutachtungs- und Entscheidungssysteme schon per se mit höherer Wahrscheinlichkeit risikoreiche Forschung privilegieren als die Verfahren der DFG. Wenn aber solche Verfahrensweisen jeweils Vor- und Nachteile haben, dann könnte es klug sein, unterschiedliche Entscheidungssysteme zu kombinieren. Und teilweise ist das ja auch der Fall. Denken Sie an das Berufungsverfahren: Ein System zur Entscheidung über Wissenschaft, das relativ spät in der Wissenschaftskarriere einsetzt, dafür dann aber enorme Freiheitsgrade gewährt. Wer durchgekommen ist, kann künftig in außerordentlicher Unabhängigkeit wissenschaftlich tätig werden. Darin steckt das Prinzip, dass vorangegangene Bewährung einen Vertrauensvorschuss auch für die Zukunft begründe. Wer ihn genießt, kann dann für Jahrzehnte mehr oder weniger forschen und lehren, was er will. Es gibt kaum noch Nachweispflichten, die die Freiheit auch zu intellektuell risikoreicher Forschung einschränken würden. Komplementär dazu folgt die Projektförderung der DFG einem anderen Prinzip. Grundlage der Förderentscheidung ist die Bewertung von Projekten, also nicht von bisheriger Forschung, sondern von Entwürfen und Vorhaben. An sie ist zukünftige Forschung gebunden, jedenfalls für die Dauer der stets befristeten Finanzierung. Dabei ist jene Besonderheit zu bedenken, dass die DFG öffentliche Mittel verausgabt, ohne dass man dagegen klagen könnte, wenn man die beantragten Mittel nicht bekommt. Das ist eine ziemlich interessante rechtliche Konstruktion: Wie schafft der Rechtsstaat es überhaupt, die Verausgabung öffentlicher Mittel von der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfbarkeit zu entkoppeln, um sie an wissenschaftliche Qualitätskriterien zu binden? Die DFG ist sozusagen die Antwort auf diese Frage. Sie ist ein eingetragener Verein, Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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der öffentliche Gelder vergibt und auf einer komplexen Legitimationsstruktur aufbaut. In diese sind auf der einen Seite die öffentlichen Universitäten und Forschungseinrichtungen als Vereinsmitglieder eingebunden. Andererseits haben die Zuwendungsgeber, also der Bund und die Länder, in allen Entscheidungsgremien ein Stimmrecht. Und drittens ist die DFG-Förderung durch die Wahlen zu den Fachkollegien mit den jeweiligen scientific communities verkoppelt. Die DFG hat also eine sozusagen trianguläre Legitimationsstruktur: die Mitgliedsorganisationen, die Forschenden selbst und die Zuwendungsgeber, die das Geld bereitstellen. Wie lässt sich nun in diesem Rahmen zumal auch risikoreiche Forschung in besonderer Weise fördern? Der Politologe Hubertus Buchstein aus Greifswald hat einmal in einem interessanten Gedankenexperiment vorgeschlagen, den Zufall eingreifen zu lassen und einen kleinen Teil der Fördermittel zu verlosen. Es ist keineswegs sicher, dass dies ein unvernünftiges System wäre. Gewiss ist nur, dass es sich politisch, gesellschaftlich, verwaltungsrechtlich schlechter legitimieren ließe als die bestehenden Verfahren. Wieder anders setzte ein Kollege an, der mir einmal sagte: »Jemand wie Sie, der müsste fünfzig Millionen im Jahr bekommen und sie für die Forschungsförderung so ausgeben können, wie er möchte.« Das ist das Prinzip aristokratischen Mäzenatentums. Der Kollege ist Experte unter anderem für die Kunst der Renaissance und er kennt daher die Logik fürstlicher Gnadengaben. Sie würde die Möglichkeiten riskanter Forschung deutlich steigern. Mäzene sind nicht rechenschaftspflichtig, sie brauchen lediglich einen Sensus fürs Riskante und Herausragende. Doch gibt es eben keine Garantie dafür, dass sie den auch haben. Kurzum: Man könnte den Zufall einschalten, man könnte das Entscheidungssystem in der Form von Gnadenakten personalisieren, man kann auf kollektive Prozeduren wissenschaftlicher Urteilsbildung setzen, wie es die DFG tut, oder man kann, wie im Berufungsverfahren, auf Vertrauen bauen. Bei alledem, so muss man sich klarmachen, geht es freilich zugleich um die Frage nach dem Verhältnis von universitärer Grund- und Drittmittelfinanzierung. Sie bildet das eigentliche Zentrum der Debatte. Ich gehe als Verantwortlicher für eine Einrichtung der Drittmittelförderung so weit zu sagen: Die Grundfinanzierung der Universitäten muss deutlich erhöht werden, Drittmittel sind allein dann wissenschaftlich produktiv, wenn sie auf einer soliden Grundfinanzierung universitärer Forschung aufbauen. Die Frage, wie (im hier verwendeten Sinne) irritationsreich, wie riskant, wie neu Forschung insgesamt sein kann, hängt in erheblichem Umfang davon ab, dass die verschiedenen Systeme der Entscheidung über die Wissenschaftsfinanzierung

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in einem ausbalancierten Verhältnis zueinander stehen. Da liegt in der Bundesrepublik das eigentliche Problem. Wissen scheint eine entscheidende Ressource für unsere Gesellschaft zu sein, Stichwort »Wissensgesellschaft«. Gleichwohl ist über die letzten Jahre durchaus ein Statusverlust der Wissensproduzenten zu beobachten, sowohl ideell als auch finanziell. Wie erklären Sie sich das? Es gibt mit Blick auf das Wissenschaftssystem Basisprozesse in modernen Gesellschaften. Ich würde vier solcher Basisprozesse unterscheiden: Der erste heißt quantitatives Wachstum, das System expandiert immer weiter – personell, finanziell, epistemisch. Wir wissen nicht, wie wir das überhaupt denken sollen, die unbegrenzte Expansion gesellschaftlicher Teilsysteme. Wir wissen aber auch nicht, wie eine Gesellschaft mit einer Akademikerquote von 100 Prozent sollte umgehen können, was es also für sie bedeutet, wenn der Code »Akademiker/ Nicht-Akademiker« entfallen ist, weil es keine Nicht-Akademiker mehr gibt; hier verbergen sich ziemlich massive gesellschaftliche Widersprüche. Erstens also Expansion und, zweitens sodann, Differenzierung. Disziplinäre und subdisziplinäre Spezialisierungsprozesse ebenso wie fortschreitende Auffächerung der Organisationsformen von Wissenschaft – das System differenziert sich intern immer weiter aus. Der dritte elementare Prozess ist Beschleunigung. Es gibt die Akzeleration von Forschungspraxen, es gibt eine problematische Kurzfristigkeit in der Forschungsförderung. Und es gibt in manchen Bereichen eine geradezu brachiale Verschärfung des wissenschaftlichen Wettbewerbs auch in zeitlicher Hinsicht, sodass seine Zeiteinheiten immer weniger die Jahre und Monate, zunehmend vielmehr die Wochen, gar die Tage sind. Und es gibt, viertens, Prozesse einer Veralltäglichung. Wissenschaft wird im Maße ihrer wachsenden Bedeutung auch etwas ganz Alltägliches. Das kann man an den Durchschnittsgehältern und dem Verlust an Distinktionsgewinnen beobachten, die mit einem akademischen Studium zu erzielen sind, oder am Schwinden der Reputation, die mit dem Doktortitel verbunden ist; denken Sie nur zum Beispiel an die öffentlichen Debatten über die Qualität von Promotionen oder daran, wie nachdrücklich Fachhochschulen an dieses symbolische Kapital zu gelangen versuchen. In den 1920er Jahren verdienten Professoren, wenn ich die Zahlen recht erinnere, etwa das Zehnfache des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens, heute ist es noch das 1,5-fache. Schauen Sie sich den Lebensstil eines Mandarins wie Adolf von Harnack um 1910 an und vergleichen Sie das mit dem Reihenmittelhaus eines Münchner Professors. Die Organisationen der Wissenschaft erzählen auf der einen Seite die Geschichte von der wachsenden Bedeutung von Wissenschaft; und die stimmt Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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auch, insofern als Gesellschaften in wachsendem Maße von wissenschaftlichem Wissen abhängig werden. Aber das heißt nicht, dass damit ein Geltungswachstum von Wissenschaft oder ihren Sozialformen verbunden wäre. Nehmen wir das ZDF: Vor den 19-Uhr-Nachrichten wird so gut wie ausschließlich Werbung für Pensionäre und Rentner gesendet, und dabei handelt es sich durchweg um Wissenschaftsinszenierungen: Kurven, die nach rechts oben laufen, Menschen im weißen Mantel, Laborumgebungen. Auch das meine ich mit Veralltäglichung: Kaum eine Zahnpasta wird verkauft, ohne dass sie als Ergebnis von Forschung inszeniert würde. Ein weiterer Aspekt solcher Veralltäglichungen zeigt sich in der Umbenennung von Kunsthochschulen in Universitäten: Die Folkwang Hochschule in Essen, einer der wichtigsten Orte der künstlerischen Praxis in der Bundesrepublik, nennt sich jetzt Folkwang Universität. Hier wie an vielen anderen Beispielen lässt sich eine Sogwirkung des Wissenschaftssystems beobachten. Aber mit ihr wird auch die Abgrenzung von Wissenschaft unscharf. So entsteht die geradezu kardinale Frage: Wo liegt die Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft? Als vor drei Jahren im italienischen L’Aquila die Erde gebebt hatte, wurden hernach die Seismografen für das Erdbeben juristisch haftbar gemacht. Wissenschaftsbasierte gesellschaftliche Praxen wie Erdbebenvorhersagen und diejenigen, die in diesen gesellschaftlichen Praxen tätig sind – und die sich selbst ebenfalls als Wissenschaftler verstehen mögen –, sind selbstverständlich haftbar für das, was sie tun. Wenn Sie als Handwerker eine Garantie geben und das Werkstück oder die Dienstleistung hat Mängel, dann haften Sie dafür ja auch. Aber solche Haftung muss innerhalb des Wissenschaftssystems gerade ausgeschlossen bleiben, weil anders jeder Irrtum inkriminiert werden müsste. Sich irren zu können ist indes konstitutiv für jede wissenschaftliche Erkenntnisanstrengung. Es geht ihr ja um die Möglichkeit, etwas denken zu können, was bisher noch nicht gedacht worden oder sogar undenkbar gewesen ist. Die Grenzen zwischen wissenschaftsbezogenen professionellen Praktiken einerseits und der Forschung selbst andererseits ist außerordentlich schwer zu ziehen; nicht zuletzt deswegen, weil das Wissenschaftssystem als ein vielfältig besonders privilegiertes System in unserer Gesellschaft für andere Gesellschaftsbereiche sehr attraktiv ist. Zugleich ist diese Grenze aber als Bedingung der Möglichkeit, das noch nicht Gedachte zu denken, nicht weniger konstitutiv für moderne Wissenschaftssysteme als die Ermöglichung von riskanter Forschung. So sehr man sich darum kümmern muss, die strukturellen Beharrungskräfte der Finanzierungs- und Fördersysteme einzudämmen, so sehr muss man sich darum kümmern, die Grenze von Wissenschaft und

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Nicht-Wissenschaft scharf zu halten, wenn denn riskante Forschung wahrscheinlich soll werden können. Wenn man sich anschaut, dass in den letzten Jahren die öffentlichen Mittel, die jährlich in das Wissenschafts- und Forschungssystem fließen, deutlich angestiegen sind und sich trotzdem die Lage des Nachwuchses oder des Mittelbaus tendenziell verschlechtert hat, sind dann also alle Forderungen nach Verbesserungen für den Nachwuchs letztlich illusionär? Darf man als junger Wissenschaftler gar nicht auf Beständigkeit und Kontinuität setzen, muss man stattdessen von vornherein akzeptieren, dass Triumph und Scheitern kaum kalkulierbar sind und nahe beieinanderliegen – nach dem alten Motto »C4 oder Hartz IV«? Max Weber sprach vom Wissenschaftsberuf als einem Hazard, und dieser war verbunden mit der Verheißung, dass, wenn man ihn denn durchsteht, eine wirklich herausgehobene gesellschaftliche Position winkt, also beachtliche soziale und finanzielle Gratifikationen. Diese Zeiten sind vorbei. Insofern ist die soziale Plausibilität des Hazards deutlich gesunken. Im Hinblick auf promovierende und promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollte man eine System- und eine Subjektperspektive unterscheiden, und beide sind gegenläufig. Die Subjektperspektive ist auf Erwartungssicherheit und damit auf Planbarkeit ausgerichtet. Die Systemperspektive hingegen ist zwiespältig: Einerseits muss man aus Gründen der Sicherung von Leistungsfähigkeit darauf bestehen, dass wissenschaftliches Scheitern möglich sein muss. Andererseits liegt es durchaus auch im Eigeninteresse des Systems, dass wissenschaftliches Scheitern, dass der Irrtum nicht sogleich auf die soziale Existenz durchschlagen. Als soziale Ordnung konkurriert die Wissenschaft nämlich mit außerakademischen Arbeitgebern um dieselben Leistungseliten. Und in Bereichen wie den Lebenswissenschaften, der Informatik oder vielen Ingenieurswissenschaften muss sie sich um ihre diesbezügliche Wettbewerbsfähigkeit durchaus Gedanken machen. Lassen Sie mich hinzufügen, dass das deutsche Hochschulsystem strukturell besonders schlecht imstande ist, diese Spannung von Scheiternsmöglichkeit und Karrieresicherheit auszubalancieren. Das Wissenschaftssystem der USA kann das aufgrund seiner enormen Größe und einer entsprechenden Tiefenstaffelung viel besser. Es reicht von Weltspitzenuniversitäten bis herab zu in ihren Ansprüchen höchst bescheidenen Community Colleges. Hier gibt es im Scheiternsfall ganz andere Auffangmöglichkeiten, sozusagen »negative Karrierewege«, die aber doch innerhalb der Wissenschaft liegen: Wer in Harvard mit seiner Karriere nicht weiterkommt, der kann es ein paar Meilen weiter an einer immer noch ziemlich soliden Einrichtung erneut versuchen; Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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und vielleicht nicht ohne Erfolg, weil es ja nur die Wenigsten schaffen, in Harvard auch nur zu scheitern. Solche Muster sind in Deutschland sehr selten, weil wir ein wesentlich kleineres und in seinen Leistungsniveaus sehr viel homogeneres Hochschulsystem haben. Doch steckt darin ja auch eine Qualität, und sie wäre auch bei der Weiterentwicklung der Exzellenzinitiative zu bedenken: Die Herausbildung einer kleinen Gruppe von Spitzenuniversitäten dürfte nicht um den Preis erfolgen, die auf einem relativ hohen Leistungsniveau liegenden Mindeststandards der deutschen Hochschulen abzusenken. Warum eigentlich, wenn das nach Ihrer Deutung doch die Tiefenstruktur in Deutschland erhöhen und das beklagte Paradox von Scheiternsmöglichkeiten und Karrieresicherheit auflösen würde? Ihre Frage war ja, ob eine Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses illusorisch sei. Das glaube ich nun nicht. Die Lage ist prekär, weil gegenwärtig drei langfristige Prozesse kulminieren. Der eine Prozess ist die nahezu flächendeckende Umstellung der Personalstrukturen für nicht-professorale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf Befristung; und das hat wesentlich mit der Ideologie vom »schlanken Staat« und mit der Annahme zu tun, dass Konkurrenz als solche leistungssteigernd wirke. Im Ergebnis stehen zahlreiche Stellen zwar dauerhaft zur Verfügung, sie werden aber lediglich befristet besetzt. Der zweite Prozess ist ein Rückgang auch der dauerhaft verfügbaren Stellen, wie er durch die Verschiebung der Universitätshaushalte von der Grundzur Drittmittelfinanzierung seit den 1990er Jahren bewirkt wird. Im Rahmen von New Public Management-Konzepten werden die Universitäten als autonom konzipiert. Zugleich gibt der Staat Steuerungsmacht nicht einfach ab, sondern er sichert sie sich auf neue Weise, indem er einen wachsenden Anteil der von ihm investierten Finanzen einerseits unter Qualitätsgesichtspunkten, andererseits indes nur befristet zuteilt; wir sprechen von Drittmitteln. Es ist ja kein Zufall, dass mit der Autonomisierung der Universitäten das Fördervolumen und die Bedeutung der DFG so beachtlich und deutlich überproportional wachsen. Bei der Personalstruktur hat das die Konsequenz, dass der Anteil der drittmittelfinanzierten Stellen deutlich ansteigt – und das heißt: der Anteil der allein befristet verfügbaren Stellen. Drittens ist der sprunghafte Ausbau des Hochschulsystems durch die Exzellenzinitiative um etwa 9.000 Stellen zu bedenken. Und die Effekte dieser drei Entwicklungen kumulieren nun zu einer öffentlichen Debatte über die prekäre Lage des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses. Eine

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schlagartige und umfassende Verbesserung dieser Situation ist derzeit vor dem Hintergrund von Schuldenbremse, staatlicher Schuldenkrise und Auslaufen des Solidarpakts kaum in Sicht. Klar scheint mir aber zu sein, dass es mehr unterschiedliche Stellentypen im Wissenschaftssystem geben sollte, dass der Anteil an unbefristeten Stellen erhöht werden muss und dass Karrierepfade mit tenure track-Option eine wichtigere Rolle spielen werden. Ich bin auch dafür, das Lehrstuhlprinzip aufzugeben, ich bin nachdrücklich für sehr viel flachere Hierarchien und außerdem für eine Erhöhung der Anzahl des professoralen Personals – dies nicht einfach dadurch, dass man den Mittelbau so lässt, wie er ist, und die Anzahl der Professuren erhöht, sondern auch durch Differenzierung der Professurentypen. Doch wird das alles nicht ausreichend sein, wenn es nicht zugleich gelingt, das Problem der strukturellen Unterfinanzierung der Universitäten schrittweise aufzulösen. Balance ist Ihnen ein wichtiges Stichwort, auch die Balance zwischen dem Wettbewerb um Ressourcen und der Konkurrenz um Ideen im wissenschaftlichen Feld. Sie haben betont, dass der Wettbewerb um Ressourcen nicht zu viele Kräfte absorbieren dürfe, weil er sich dann negativ auf die wissenschaftliche Produktivität auswirke. Trotzdem ist der Wettbewerb um Ressourcen so intensiv wie vielleicht nie zuvor, eine erfolgreiche Drittmittelakquise bei Bewerbungen oft zentral. Müsste die DFG da nicht gegensteuern? Die DFG macht ja ein ausgesprochen breites Förderangebot für sehr unterschiedliche Forschungsformen im ganzen Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen. Eine Emmy-Noether-Gruppe ist etwas anderes als ein Graduiertenkolleg, in dem eine Gruppe von Doktorierenden unter dem Mentorat einiger Principal Investigators an Dissertationen arbeitet, die einem gemeinsamen wissenschaftlichen Problem oder Feld zugeordnet sind; eine Sachbeihilfe ist etwas anderes als ein Sonderforschungsbereich. Diese Vielfalt und Differenziertheit der DFG-Fördermöglichkeiten sind eine große Stärke des deutschen Forschungssystems. Andererseits hat der Drittmittelwettbewerb in der Tat in einer nicht unproblematischen Weise an Schärfe gewonnen – und, wir sprachen schon davon, auch an Tempo. Man muss sich also zum Beispiel fragen, ob es nicht auch Möglichkeiten der Entschleunigung der Projektförderung gibt. Könnte nicht manches anstatt in Zwei- oder Dreijahresfristen auch in Fünf- oder Siebenjahresfristen gefördert werden? Das würde Druck aus dem System nehmen und übrigens auch Gutachterkapazitäten schonen. Andererseits sind schon jetzt an die achtzig Prozent unseres jährlichen Budgets durch Förderentscheidungen der Vorjahre gebunden. Ein noch höherer Anteil gebundener Mittel würde unsere Flexibilität und Förderfähigkeit sehr einschränken. Peter Strohschneider  —  »Forschungsförderung muss Erwartungsdurchbrechungen erwartbar machen«

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Ist die DFG nicht einer der wichtigsten Katalysatoren dieses in den letzten Jahren immer weiter extensivierten Systems von Evaluationen, Gutachten, Projektanträgen? Nein, das ist sie gerade nicht! Was es gibt, ist vielmehr eine Überlastung des gesamten Begutachtungssystems. Zu ihr tragen die Verfahren des peer review bei Publikationen ebenso bei wie die sehr umfangreichen Studiengangsakkreditierungen durch entsprechende Agenturen oder auch die steigende Zahl der Studierenden. Die Betreuungsrelationen an den deutschen Hochschulen sind im internationalen Vergleich relativ schlecht und sie verschlechtern sich weiter: Auch Studien- und Prüfungsleistungen sehr großer Studierendenkohorten binden indes Kapazitäten der wissenschaftlichen Urteilsbildung. Die DFG selbst nimmt dagegen zwar sehr viele Gutachter in Anspruch, jedoch nicht überproportional mehr als vor, sagen wir, 15 Jahren. Und der Anspruch an die Qualität unserer Förderentscheidungen verbietet es ja zu sagen – wie es der Bundesrechnungshof vor Jahren einmal getan hat –, es müssten nicht immer zwei oder drei Gutachten sein, die zu einem Förderantrag eingeholt werden, öfters tue es auch ein einzelnes Gutachten. Fairness, Offenheit und Qualität von Förderentscheidungen hängen in hohem Maße davon ab, dass sie in einem gestuften Begutachtungs-, Bewertungs- und Entscheidungssystem auf einer Mehrzahl von durchaus auch konkurrierenden Expertisen aufruhen. Scharfe Kritik an dem Peer-Review-Wesen, wie auch Sie sie andeuten, ist nicht ganz selten. Gleichzeitig ist etwa in Berufungskommissionen für gewöhnlich völlig unumstritten, dass die schiere Anzahl an begutachteten Artikeln eines der zentralen Auswahlkriterien ist. Wie kommt das? Ein System des hochgradig formalisierten peer review gibt es vor allem in den Natur-, Lebens- und Ingenieurwissenschaften und es hat Voraussetzungen, die in manchen Bereichen der Geistes- und Sozialwissenschaften kaum gegeben sind. Dort muss man dann zu anderen Formen der Sicherung der wissenschaftlichen Qualität kommen. In einem Kleinen Fach wie der Finnougristik zum Beispiel ist die community so überschaubar, dass anonymisierter peer review einfach eine Fiktion bleibt. Und in meinem eigenen Fach, das durchaus kein Kleines Fach ist, ist das ähnlich. Als Mitglied des review boards einer Zeitschrift erkenne ich den intellektuellen und sprachlichen sound von Fachkolleginnen oder -kollegen öfters auch dann, wenn mir ein anonymisierter Text vorliegt. Zum zweiten Aspekt Ihrer Frage will ich zu bedenken geben, dass im Wissenschaftssystem unentwegt Prioritäten oder Präferenzen begründet werden

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Perspektiven — Interview

müssen durch den Vergleich dessen, was in vieler Hinsicht unvergleichbar ist. Stellen Sie sich den Kanzler einer großen Universität mit vielleicht sechsoder siebenhundert Professuren vor. Der führt unentwegt Berufungsverhandlungen, mehrmals jede Woche hat er also mit sehr selbstbewussten Persönlichkeiten zu tun, die unter Verweis auf ihre besondere wissenschaftliche Leistungsfähigkeit oder die Relevanz ihrer Forschung Finanzierungs- und Ausstattungsansprüche begründen, die der Kanzler keinesfalls alle gleichzeitig befriedigen kann. Was soll er tun? Er nimmt zu sekundären Indikatoren seine Zuflucht, und zwar unter dem gegebenen Entscheidungszwang auch dann, wenn ihm die vernehmliche Kritik an dem ganzen Syndrom der Indikatorisierung und Quantifizierung von wissenschaftlichen Aktivitäten durchaus einleuchtet. Viele Verfahren der bibliometrischen oder szientometrischen Messung von Wissenschaft lassen sich kritisieren; damit hat unser Gespräch ja begonnen. Noch wichtiger ist es allerdings, die Probleme zu bearbeiten, für welche Kennzahlensysteme eine vielleicht unzulängliche, aber eben vorderhand praktikable Lösung anzubieten scheinen. Diese Probleme haben überwiegend damit zu tun, dass für die sich endlos ausdifferenzierenden und spezialisierenden Wissenschaften Aggregationsebenen gefunden werden müssen, auf denen institutionelle Entscheidungen jeweils zugunsten des einen Bereichs und zulasten anderer Sektoren von Wissenschaft getroffen werden können. Wenn allerdings die Wissenschaft mit ihren Organisationen, auch ihren Förderorganisationen wie der DFG, an dieser Aufgabe scheitern würde, dann würde gewiss die Politik mit ihren rasch wechselnden Relevanzhierarchien, mit der Kürze der Funktionsketten und der Enge der Zeithorizonte, unter denen sie typischer Weise operiert – dann würde sie derartige Entscheidungen einfach von außen, auf dem Wege der Budgetierung vornehmen. Das schiene mir aus vielerlei Gründen die schlechtere Alternative zu sein.

Das Gespräch führten Felix Butzlaff und Matthias Micus.

Prof. Dr. Peter Strohschneider, geb. 1955, ist Lehrstuhlinhaber für Germanistische Mediävistik an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Er war von 2006 bis 2011 Vorsitzender des Wissenschaftsrates und ist seit 2013 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft in seiner mittlerweile zweiten Amtszeit.

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Kiegeland, Leona Koch, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Felix Butzlaff Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes). Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 68,– D / € 70,00 A / SFr 85,50; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 36,90 D / € 38,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 16,95 D / € 17,50 A / SFr 23,50. Inst.-Preis € 128,– D / € 131,60 A / SFr 157,00. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-525-80013-3 ISSN 2191-995X © 2015 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany

BEBILDERUNG benSwerk (aka Susanne Beneš) Als Grafikerin und freie Künstlerin bewegt sich mein Interesse von klassischer Gestaltung über Illustration zu freiem, künstlerischem Arbeiten. Als Illustratorin freue ich mich über Aufträge, die es mir ermöglichen, über mich hinauszudenken und neue Blickwinkel sichtbar machen zu können. Eine Bandbreite von ernsthaften Themen bis hin zu Texten mit skurrilem Humor ist mir wichtig. Kostproben meiner Arbeiten gibt es hier: http://www.golkonda-verlag.de/ https://benswerk.wordpress.com/

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