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German Pages 658 [666] Year 2021
Moritz Hinsch
Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland
Historia
Alte Geschichte
Franz Steiner Verlag
Historia – Einzelschrift 265
historia
Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |
Journal of Ancient History | Rivista di storia antica
einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend)
Christelle Fischer-Bovet | Mischa Meier | Sabine Panzram | Henriette van der Blom | Hans van Wees Band 265
Ökonomik und Hauswirtschaft im klassischen Griechenland Moritz Hinsch
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Sog. Charon-Relief; Kerameikos-Museum, Athen, P. 396 (Bild-Nr. D-DAI-ATH-2001/1065, Autor Hans Rupprecht Goette), © Deutsches Archäologisches Institut Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12841-4 (Print) ISBN 978-3-515-12842-1 (E-Book)
Meinen Eltern und Rahel
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht, angenommen und am 11. Juli 2018 verteidigt wurde, Dekanin war Prof. Dr. Gabriele Metzler. Viele Personen haben zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Aloys Winterling, der mein Interesse an der antiken Sozialgeschichte seit dem Studium bestärkt und auf vielfältige Weise konstant gefördert hat. Ihm verdanke ich die Anregung zu einer Arbeit zur Rolle von oikonomia und Wirtschaft bei Aristoteles; seiner intellektuellen Großzügigkeit den Freiraum, diese Fragestellung auf eigenen Wegen zu verfolgen. Dank gilt auch Prof. Dr. Wilfried Nippel, der das Zweitgutachten übernahm und mir mit praktischen Hinweisen und kritischen Anmerkungen manchesmal geholfen hat. Etliche Gesprächspartner gaben Denkanstöße und bewahrten mich vor Fehlschlüssen. Für die Gelegenheit, meine Überlegungen auf die Probe zu stellen, danke ich den Mitgliedern der Forschungsgruppe ‚Oikonomia‘ des Exzellenzclusters Topoi sowie den Gastgebern und Teilnehmern der althistorischen Forschungskolloquien in Rostock, Darmstadt, Berlin (HU) und Cambridge sowie von Tagungen in Bonn, Darmstadt, Tübingen und Trier. Viele Kollegen und Freunde haben die Thesen dieser Arbeit mit mir diskutiert und Teile davon mit kritischem Blick gelesen. Genannt seien Philip Aubreville, Robert Bellin, Lukas Bossert, Marco Blumhofer, Christopher Degelmann, Wilfried Hinsch, David M. Lewis und Jan Meister. Besonderer Dank gilt Lukas Bossert als verlässlichem Partner für jegliche Art von Projekt und Jan Meister für viel praktische Hilfestellung und ungezählte Stunden fachlichen Austauschs über die Tische unseres Büros hinweg. Allen Verantwortlichen des Excellenzclusters Topoi und der Berlin Graduate School of Ancient Studies sei für die viefältige materielle und immaterielle Unterstützung gedankt, die ich als Stipendiat erhalten habe. Den Herausgebern der Historia danke ich für die Aufnahme in die Einzelschriften, den Gutachtern für wertvolle Hinweise im Peer-Review-Verfahren. Ricarda Berthold danke ich für ihr zuverlässiges Korrektorat. Patrick Pertsch danke ich für die Mithilfe beim Erstellen des Registers. Verbleibende Fehler jeglicher Art verantworte ich selbst. Meinen Eltern danke ich für ihre unablässige Unterstützung und die Bestärkung in Phasen des Zweifels. Meiner Schwiegermutter Susanne danke ich für die Großzügigkeit, mit der sie einer jungen Familie unter die Arme gegriffen hat. Karl, Heinrich und
8
Danksagung
Martha sei für ihre Geduld mit einem Vater gedankt, den die Vergangenheit allzuoft von der Gegenwart abgelenkt hat. Der größte Dank aber gilt meiner Frau Rahel; sie selbst weiß am besten, welchen Anteil ihre langjährige Geduld und Zuwendung am Entstehen dieses Buchs gehabt hat.
Inhalt Teil I Einführung 1 1.1 1.2
Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Hauswirtschaft als Problem der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2 2.1 2.2 2.3
Vorüberlegungen zu Theorie und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem einer Wirtschaftsgeschichte vormoderner Epochen . . . . . . . . . . Das ‚ganze Haus‘: Definitionen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirtschaft des Hauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Hauswirtschaft und peasant economy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Eine allgemeine Theorie der griechischen Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die interne Organisation der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Die griechische Hauswirtschaft in vergleichender Perspektive . . . . . . . . . . . .
28 28 34 40 41 43 46 51
3 3.1 3.2
Die Umwelt des Hauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stadt und das Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stratifizierung, Mobilität und Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Wahrnehmung von Statuskonkurrenz und Gelderwerb . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Wachstum, Mobilität und Konkurrenz in klassischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Grabaufwand, Mobilität und Konkurrenz im klassischen Athen . . . . . . . . Status und Erwerb: Das Adels-Dilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die utopische Abschaffung der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Performative Distanzierung von der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 56 62 66 72 78 84 85 89
3.3
10
Inhalt
Teil II Die Theorie der Hauswirtschaft: Die Literarische Ökonomik 4 4.1
Der soziale Kontext der Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Adressaten und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.1.1 Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.1.2 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.2 Die Sprache des Geldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.3 Der Ursprung der Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.3.1 Ökonomik als Fachliteratur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.3.2 Die Sprache des Hausvaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.3.3 Reichtumsdiskurs und Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5 5.1
5.2 5.3 6 6.1
6.2 6.3
Die literarische Gestaltung der Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xenophon: Dialog und Witz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Der dialogische Aufbau des Oikonomikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Witz und Humor im Oikonomikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Sokrates der Ökonom? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles: Theorie und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Theoretisieren als soziale Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Zitate als soziale Marker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . .
145 145 149 155 158 163 163 168 173
Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.1.1 Die Gleichsetzung von Erwerb und Haushaltung bei Platon . . . . . . . . . . . . 184 6.1.2 „Das Haus vergrößern“: Die gewinnorientierte Haushaltung bei Xenophon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.1.3 Die Unterscheidung von Haushaltung und Erwerb bei Aristoteles . . . . . . . . 193 6.1.4 Die Unterordnung der Erwerbskunst bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.1.5 Oikonomika I: Die Rückkehr zum konventionellen oikonomia-Begriff . . . 212 6.1.6 Oikonomika II: oikonomia als Finanzverwaltung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Nutzen und Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.2.1 Der konventionelle Begriff des Nutzens bei Xenophon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.2.2 Der teleologisch verankerte Begriff des Nutzens bei Aristoteles . . . . . . . . . . . 234 Herrschaft und Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6.3.1 Die Haushaltsführung als Königsdisziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 6.3.2 Der ökonomische Aspekt der Sklaverei bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.3.3 Effizienzsteigerung als Zweck der Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Inhalt
11
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 6.4.1 Die anthropologische Verwendung von autarkeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.4.2 Die soziologische Verwendung von autarkeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 6.4.3 Autarkeia als Schlüsselkonzept bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 6.4.4 Das Ideal der autarkeia: Sittenkritik und Unabhängigkeitsstreben . . . . . . . 297 7
Zwischenergebnis: Die literarische Ökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Teil III Die Praxis der Hauswirtschaft I: Strukturen
8 8.1 8.2 8.3
9
Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Der öffentliche Charakter der literarischen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Die kommunikative Grenze zwischen Haus und Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8.2.1 Die Regeln des Sagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 8.2.2 Das Sichtbare und das Unsichtbare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft . . . . . . . . . . . . . 320 8.3.1 Gerichtsreden und Komödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 8.3.2 Inschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 8.3.3 Materielle Hinterlassenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Der Ort des Geschehens: Das Wohnhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute . . . . . . . . . . . . . . . . 332 10.1 Die Rolle des Mannes als Hausherr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 10.1.1 Der Mann als Eigentümer des Hauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 10.1.2 Der Hausvater als Prinzipal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 10.2.1 Die Frau und das Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 10.2.2 Die Arbeit der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 10.2.3 Die Mitgift als Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 10.2.4 Der Ehrgeiz der Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten . . . . . . . . . . . . . . . . 365 11.1 Die Kooperation von Vätern und Söhnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 11.2 Die Kooperation von Brüdern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 11.2.1 Brüder als Vermögenspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 11.2.2 Brüder als Handelspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 11.2.3 Die Aufteilung des väterlichen Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 11.2.4 Altersspezifische Arbeitsteilung und Statuserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
12
Inhalt
11.3 Altersspezifische Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 11.3.1 Händler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 11.3.2 Söldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 11.3.3 Familiäre Strategien und Generationenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 11.3.4 Bauern, Handwerker und Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 11.4 Soziale Mobilität und der Generationenzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 12 12.1 12.2 12.3
Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Die wirtschaftliche Bedeutung von Sklavenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Gekaufte Sklavenarbeit und ihre Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Die Rentabilität von Sklavenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 12.3.1 Die quantitative Kontrolle der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 12.3.2 Die Akkumulation von Humankapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 12.3.3 Die qualitative Kontrolle der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 12.3.4 Vertrauen und Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 12.3.5 Die Intensivierung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 12.3.6 Repräsentation und performative Distanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Teil IV Die Praxis der Hauswirtschaft II: Strategien
13 13.1 13.2 13.3
Rationalisierung und Rationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Rationalität und Effizienzsteigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Die räumliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung . . . . . . . . . . . . . . 454 13.3.1 Rechenhaftigkeit der Haushaltsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 13.3.2 Die Technik der Buchführung: Das Zeugnis der Tempelbau-Inschriften . . . 460 13.3.3 Die Berechnung des Verbrauchs des Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 13.3.4 Die Berechnung der Einkünfte des Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 13.3.5 Die Verbreitung hauswirtschaftlicher Buchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
14 Gelegenheitsoptimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 14.1 Das Kontinuum der Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 14.2 Die Suche nach guten Geschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 14.2.1 Der Gelegenheitshandel großer Haushalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 14.2.2 Die Gelegenheitsarbeit kleiner Haushalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 14.2.3 Die Suche nach wertvollen Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 14.3 Unabhängigkeit und Verhandlungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
Inhalt
13
15 Risikominimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 15.1 Die Akkumulation von Vorräten und Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 15.2 Die Diversifizierung des Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals . . . . . . 524 16.1 Die soziale Funktion des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 16.1.1 Kommensalität: Soziale Integration und Distinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 16.1.2 Privater Konsum und Luxuskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 16.2 Das Kalkül des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 16.3 Die Funktionen des Konsums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 16.3.1 Soziales Kapital als Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 16.3.2 Guter Ruf, gute Geschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 16.4 Ehre und Gewinn: Ein Zielkonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Teil V Schluss 17
Skaleneffekte: Die Ungleichheit der Haushalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
18
Statt einer Zusammenfassung: Ausdehnung und Konflikt . . . . . . . . . . . . . 556
19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 19.1 Kontinuität und Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 19.2 Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Abbildungs-/Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Verwendete Textausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Personen-, Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
Teil I Einführung
1 Fragestellung 1.1 Die Hauswirtschaft als Problem der Forschung Die Antike war die Epoche der Hauswirtschaft. Diese These des Nationalökonomen Karl Bücher wird in dieser Arbeit für das klassische Griechenland erneut vertreten. Grundlage dieser These ist allerdings ein völlig anderes Modell von Hauswirtschaft als Bücher es entwarf, und das Ergebnis dieser Untersuchung ist ebenso gegensätzlich zu Büchers Urteil. Die Leitthese dieser Arbeit ist, dass der Haushalt in klassischer Zeit deshalb die zentrale Organisationsform der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern und Leistungen blieb, weil sich seine institutionelle Ordnung so flexibel an die Erfordernisse der expandierenden geldbasierten Verkehrswirtschaft anpassen ließ, dass keine ausreichenden Anreize bestanden, grundsätzlich neue Institutionen oder Techniken zu entwickeln. Bücher hatte seine These zur Hauswirtschaft in seiner 1893 erschienen Abhandlung zur Entstehung der Volkswirtschaft aufgestellt.1 Darin entwarf er ein Stufenmodell, in dem die wirtschaftliche Entwicklung von der Hauswirtschaft über die Stadtwirtschaft bis zur Volkswirtschaft fortschritt. Büchers Einschätzung der antiken Wirtschaft lehnte sich dabei an diejenige des Nationalökonomen Karl Rodbertus an.2 Rodbertus hatte in einer mehrteiligen Studie, die eigentlich nur der „Geschichte der römischen Tributsteuern seit Augustus“ galt und zum Zeitpunkt von Büchers Abhandlung bereits 25 Jahre alt war, einige grundsätzliche Bemerkungen zur antiken Wirtschaft gemacht. Die „Autarkie des Oikos“ sei, so Rodbertus, „Grundpfeiler der antiken Gesellschaft“ gewesen und erklärt den „naturalwirthschaftlichen Charakter“ des Abgabesystems
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Bücher [1893] 1906, 92–116; zur Bücher-Meyer-Kontroverse s. Schneider 1990; vgl. den Überblick bei Reden 2015, 91–94 zur älteren Forschung und ebd. 94–105 zu Ansätzen seit den 1950ern; eine andere Perspektive bietet Eich 2006, 1–104; vgl. Wagner-Hasel 2009 für einen Überblick mit Fokus auf Bücher und Weber; Wagner-Hasel schließt mit dem Hinweis auf zwei Ansätze, die auch in dieser Arbeit wichtig sind, ebd. 201: 1) die Annahme, dass „das Liturgiensystem“, also die Übernahme öffentlicher Leistungen durch Privathaushalte, „zur Kommerzialisierung ländlicher Überschüsse“ beitrug; 2) die Annahme, dass es sich um eine „[n]icht geschlossene, sondern ‚global‘ agierende Hauswirtschaft“ gehandelt habe. Wie Bücher später selbst (verteidigend?) betonte, Bücher [1901] 1922, 1 f.
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Roms, das trotz seines Weltreichs dem Wesen nach „Polis“ geblieben sei.3 Der „wohlbestellte Oikos beschaffte alle Bedürfnisse dieses umfassenden Haushaltungskreises so ziemlich selbst und gewährte ihm deshalb eine Autarkie“, was es dem „Oikenherrn“ erlaubt habe, „sich dem Dienst seines Staates ganz und umsonst hinzugeben“.4 Dementsprechend ordnete auch Bücher die griechisch-römische Antike nur der ersten – untersten – Stufe zu, jener der geschlossenen Hauswirtschaft. Ihr Merkmal ist laut Bücher, „daß der ganze Kreislauf der Wirtschaft von der Produktion bis zur Konsumtion sich im geschlossenen Kreise des Hauses (der Familie, des Geschlechts) vollzieht“.5 Diese Geringschätzung der wirtschaftlichen Komplexität der klassischen Antike, zumal aus der Feder von fachfremden Vertretern der in diesen Jahrzehnten auftrumpfenden Nationalökonomie, provozierte den Widerspruch von Althistorikern. Welche Relevanz hatte die griechisch-römische Zivilisation der ‚klassischen‘ Antike noch für die Gegenwart, wenn sie zusammen mit den ‚primitiven‘ Völkern auf der untersten Stufe wirtschaftlicher Entwicklung stand? Wie konnte die Antike die Epoche der Hauswirtschaft sein, wenn es so viele Belege für Handel, Geldverkehr und gewerbliche Produktion gab? Um all dem Rechnung zu tragen, lieferte Eduard Meyer in seiner Replik auf Bücher 1895 nicht weniger als einen Abriss der gesamten Wirtschaftsgeschichte der Antike.6 Damit setzte sich die bereits bei Rodbertus und Bücher angelegte Tendenz zur Vogelperspektive fort, die an Modellbildung weniger interessiert war als am universalgeschichtlichen Urteil. Die ‚Hauswirtschaft‘ wurde zum Schlagwort reduziert, ihre Existenz zum umstrittenen Beweisstück beim Urteil über den Entwicklungsgrad der antiken Wirtschaft, ja der gesamten antiken Zivilisation. Es ging nicht darum, die Hauswirtschaft als Betriebsform besser zu verstehen oder zu definieren, sondern nur um die Frage, welcher Epoche oder Weltregion man dieses Etikett aufkleben dürfe. Julius Beloch, der Meyer argumentativ assistierte, störte sich nicht an Rodbertus’ und Büchers Gleichsetzung von „Naturalwirtschaft“ und „Hauswirtschaft“. Er störte sich daran, dass dieser Begriff auf die Antike Anwendung fand, denn in Griechenland habe es bereits im 5. Jh. eine „sehr ausgebildete Geldwirtschaft“ gegeben.7 Bücher, der sich nicht zum empirie-fernen Theoretiker abstempeln lassen wollte, reagierte auf die Kritik an seinem Modell nicht mit einer Differenzierung desselben, sondern mit methodischer Polemik gegen Meyers und Belochs mangelhafte Quellenkritik8 und ihre spekulative Art histo-
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Rodbertus 1867, 446–448. Rodbertus 1865, 343–350, hier 347. Bücher [1893] 1906, 92. Meyer [1895] 1910. Beloch 1902, 96. Bücher [1901] 1922, 7: „Freilich man schämt sich fast feststellen zu müssen, daß für die Geschichte des Altertums Männer als Autoritäten gelten, die über eine so gut beglaubigte Tatsache wie über den hauswirtschaftlichen Charakter der antiken Kleiderbeschaffung sich im unklaren befinden und die Dichterstellen wie Sätze aus modernen Geschäftsbriefen interpretieren.“ Vgl. ebd. 93: „Hier [bei Meyer und Beloch] sind die häuslichen Spinn- und Webstuben griechischer Frauen zu
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rischer ‚Statistik‘.9 Wenn Meyer und Beloch die attischen Werkstätten hyperbolisch als „Industrie“ und „Fabriken“ bezeichnet hatten, um den bloßen Gedanken an eine Haus-Wirtschaft abzuweisen,10 antwortete Bücher nun mit einer rhetorischen Reduktion der Hauswirtschaft auf die kleinteilige Fleißarbeit der Hausfrau.11 Büchers methodische Kritik war berechtigt; aber seine Kategorie ‚Hauswirtschaft‘ war nun endgültig zu einem defizitär definierten, die Sachverhalte primitivisierenden Gegenbegriff zum modernisierenden Sprachgebrauch seiner Kontrahenten verkommen.12 Max Weber reagierte auf die Debatte und versuchte, ihre einseitigen Übertreibungen durch komplexere Modelle zu ersetzen. In den Agrarverhältnissen im Altertum (1909) etwa gestand er der griechisch-römischen Antike eine durchaus entwickelte „Stadtwirtschaft“ mit Handel und Geldgeschäft zu, begründete allerdings auch, warum die antiken Verhältnisse nicht ‚modern‘ im Sinne Meyers waren.13 In Wirtschaft und Gesellschaft (postum 1921) griff er in ähnlicher Weise Rodbertus’ Kategorie des „Oikos“ auf, aber verzichtete auf die Gleichsetzung der Hauswirtschaft mit geschlossener Naturalwirtschaft und entkoppelte sie als Idealtyp von Büchers Stufenmodell.14 Weber betonte, dass sich Häuser in „der Realität des Empirischen“ regelmäßig und intensiv an handwerklicher Produktion und Handel beteiligt hätten: „Denn nur der letzte Sinn: rentenbringende Nutzung eines vorhandenen Vermögensbestandes, charakterisiert den ‚Oikos‘, und dieser kann von einem primären Verwertungsinteresse von Unternehmerkapital tatsächlich ununterscheidbar und schließlich auch inhaltlich mit ihm identisch werden.“15 Als Beispiel einer solchen Hauswirtschaft mit kommerziellen Mitteln verweist Weber interessanterweise auf ein Beispiel aus dem klassischen Griechenland, den Haushalt von Demosthenes dem Älteren, der im. 4. Jh. gewerbliche Produktion und Kreditgeschäft unter dem Dach seines oikos vereinte. Webers Differenzierungen verdienen Beachtung (dazu Kap. 2.3), fanden diese in der althistorischen Forschung zur griechischen Wirtschaft allerdings zunächst nicht. Einige deutschsprachige Monographien setzten die Polarisierung der Ausgangsdebatte fort,16 während gerade jene Gesamtdarstellungen, die zu Standardwerken wur-
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kapitalistischen Wollmanufakturen, die Haussklavinnen und Lohnwerkerinnen zu Fabrikarbeiterinnen, die Träger von feinen Wollkleidern zu Einfuhrhändlern derselben geworden.“ Bücher [1901] 1922, 7, 9–39. Vgl. die vielen ‚Fabriken‘ und ‚Fabrikanten‘, die Beloch 1902, 21 f. nennt, um „das Fortschreiten des industriellen Großbetriebes“ im klassischen Athen zu beweisen. Bücher [1901] 1922, 93. Den negativen Charakter räumte Bücher [1901] 1922, 94 selbst ein. Weber [1909] 2006, 320–373. Weber [1921] 1972, 230–232. Weber [1921] 1972, 232. Robert Pöhlmanns zuletzt in dritter Auflage 1925 erschiene Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt trieb die Modernisierung der antiken Welt ins Extrem, um Lehren für die ‚soziale Frage‘ seiner eigenen Zeit ziehen zu können; Hasebroek 1928 und 1931 polemisierte
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den, zusammen mit der Polarisierung auch auf die Theoretisierung verzichteten.17 Das Modell der Hauswirtschaft fiel damit einer eigentümlichen Ironie der Forschungsgeschichte zum Opfer. Die These von der griechisch-römischen Antike als Epoche der Hauswirtschaft löste die bis heute andauernde Grundsatzdebatte über den Charakter der antiken Wirtschaft aus. Das Modell der Hauswirtschaft selbst wurde im Verlauf dieser Debatte jedoch von Anfang an vernachlässigt. Ein Zeichen dieser Vernachlässigung sind die entsprechenden Leerstellen in den Handbüchern, Gesamtdarstellungen und Einführungen zur antiken (griechischen) Wirtschaft. Finley geht zu Beginn seiner Ancient Economy (1973) zwar ausführlich auf die antike Ökonomik, die Lehre von der guten Führung des Hauses, ein und kritisiert an Harvey Mitchells Economics of Ancient Greece (1957), dass „oikos“ dort nicht einmal im Index zu finden sei.18 Eine eigene Behandlung der Praxis der Hauswirtschaft – etwa der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder der Kooperation von Verwandten – fehlt bei Finley allerdings ebenfalls.19 Den zahlreichen Handbüchern und Sammelbänden zur Familien-, Geschlechter-, Erziehungs-, Religions-, Ernährungs- und Rechtsgeschichte des griechischen Haushalts steht keines zu dessen Wirtschaftsgeschichte gegenüber.20 Das ist wohl kein Zufall. Denn aller Polarisierung zum Trotz bestand und besteht in der Beurteilung der Hauswirtschaft ein überraschender Konsens zwischen sogenannten ‚Modernisten‘ und ‚Primitivisten‘. Die Hauswirtschaft gilt beiden als definitionsgemäß primitiv-archaische Organisationsform: Naturalwirtschaft statt Geldwirtschaft, Autarkie und Subsistenz statt Handel und Verkehr.21 Studien, welche die zunehmende Diversität und Komplexität der griechischen Wirtschaft in klassischer Zeit betonen, thematisieren die Hauswirtschaft deshalb gerade nicht oder allenfalls negativ. Armin Eichs wichtige Studie zur Politischen Ökonomie des antiken Griechenland (2006) wertet es als Kennzeichen der wirtschaftlichen Entwicklung, dass „die griechischen Gesellschaften das Stadium autarkieorientierter Hauswirtschaft in
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entschieden gegen die ‚modernistische‘ Auffassung und bezog sich dabei ausdrücklich auf Weber, sein Modell der ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ glich jedoch eher demjenigen Büchers. Heichelheim 1938 und Rostovtzeff [1941] 1955 etwa bedienten sich zwar einer anachronistischen Begrifflichkeit, sahen in der Sache jedoch durchaus die Differenzen zur modernen Wirtschaft; Saller 2005, 233–228 hat darauf hingewiesen, dass die sachlichen Differenzen zwischen dem ‚Modernisten‘ Rostovtzeff und dem ‚Primitivisten‘ Finley geringer sind, als meist angenommen wird. Finley [1973] 1993, 20; Mitchell 1957, 9 bezeichnet sein Thema als „the Greek in his economic life, in the workshop, the market place, the counting house and in international commerce“. Der Haushalt ist hier nicht einmal eingeschränkt ein Ort des Wirtschaftens. Das Gleiche gilt für Austin/Vidal-Naquet [1972] 1984 und die an sich sehr guten Darstellungen der griechischen Wirtschaft von Eich 2006 und Bresson 2016. Erwähnt seien nur Überblickswerke: Lacey 1968; Pomeroy 1997; Patterson 1998; Schmitz 2004b und 2007; Bodel/Olyan 2008. Das gilt selbst für Arbeiten speziell zum Haushalt und zu Aspekten seiner Wirtschaft: vgl. Bodei Giglioni 1996, 749 und Reuthner 2006, 87 f.
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der klassischen Zeit hinter sich ließen“.22 Alain Bresson nennt unter den wirtschaftsgeschichtlich relevanten Faktoren zwar neben Politik und Religion auch Verwandtschaft („tissu humain“).23 Seine zweibändige Darstellung der griechischen Wirtschaft (2007/2008) kommt allerdings ohne Rückgriff auf diesen Faktor aus und in der 2016 erschienen überarbeiteten englischen Fassung stehen „household“, „family“ und „kinship“ nicht einmal im Index. Für die Kategorie Geschlecht („gender“) gibt es nur einen Eintrag (eine kurze Erwähnung des Landbesitzes von Frauen in Sparta) und die Arbeit von Frauen und Sklaven wird an keiner Stelle zusammenhängend diskutiert. Der Verzicht auf eine systematische Thematisierung dieser institutionalisierten Formen häuslicher Arbeit fällt umso mehr auf, als Bresson seiner Darstellung ausdrücklich eine institutionentheoretische Rahmung gibt. Der Sammelband The Ancient Greek Economy. Markets, Households and City-States (2015) führt den Haushalt zwar im Titel, das eigentliche Schlüsselkonzept ist jedoch der Markt, wie die Einführung und die einzelnen Beiträge zeigen. Haushalte sind hier, wie in der klassischen ökonomischen Theorie, vor allem konsumtive Einheiten. In allgemeinen Einführungen zur antiken Wirtschaft erscheint der Haushalt zwar, aber die Autoren scheinen unschlüssig, wie sie ihn als Betriebsform, die zwar ‚archaisch‘ war, aber auch nach der archaischen Zeit fortbestand, in eine dynamische Wirtschaftsgeschichte einordnen sollten.24 Aufschlussreich ist das Verfahren in der Cambridge Economic History of Greco-Roman-Antiquity (2007). Richard Sallers nützliches Kapitel zu „Household and Gender“ behandelt nur diejenigen wirtschaftlichen Aspekte des Haushalts, die mit dem modernen Verständnis von ‚Haushalt und Familie‘ übereinstimmen (vgl. die Zwischenüberschriften „Women’s Labor“, „Children’s Labor“).25 Die Organisation von Handwerk, Geldgeschäften und Handel im Rahmen des Haushalts, insbesondere mithilfe von Sklavenarbeit, wird erst im folgenden Kapitel von Bruce
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Eich 2006, 611 f. Bresson 2007, 36; vgl. seine Ausführungen zur Organisation der Produktion und zum Charakter der antiken griechischen Wirtschaft, ebd. 193–228, sowie den zweiten Band (2008). Glotz 1920 behandelt die „travail en famille“ im Abschnitt zur homerischen Zeit; dessen erstes Kapitel trägt den bezeichnenden Titel „De l’économie familiale à l’économie urbaine“; die famille, bei Glotz die Übersetzung für γένος, habe vorwiegend Weide- und Landwirtschaft betrieben und nach „autarkie“ gestrebt, wobei sich Glotz auf den Begriff der geschlossenen Hauswirtschaft der ‚Ökonomen‘ beruft, ebd. 12 f.; diese Wirtschaftsweise sei allerdings verschwunden, als sich die Geschlechter zu „petites familles“ auflösten, ebd. 13 f. Kloft 1992, 101–107 hält ‚Hauswirtschaft‘ für den angemessenen Begriff für die „Organisationsform der frühen Landwirtschaft“; in klassischer Zeit hätten sich Handwerk und Handel ausgelagert; Kloft gesteht gleichwohl ein, dass sich die Hauswirtschaft trotz allen Wandels bis in die Spätantike „als Typus durchgehalten“ habe; ähnlich behandelt Sommer 2013, 80 f. den oikos im Abschnitt „Institutionen“ nur für Hesiods Zeit und lässt offen, welche Bedeutung diese ‚Institution‘ in späterer Zeit hatte; Reden 2015 behandelt „Hauswirtschaft“ nur im Abschnitt „Theorien der Wirtschaft“, ebd. 81–83, und 177 f. (ähnlich Migeotte 2007, 25–32), und betrachtet als wichtigsten kollektiven Akteur der Wirtschaft nicht das Haus, sondern den ‚Staat‘ resp. die Stadt, ebd. 1 f. Saller 2007.
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1 Fragestellung
Frier und Dennis Kehoe zu „Law and Economic Institutions“ beschrieben. Dort wird es unter der Zwischenüberschrift „Firms“ behandelt, obwohl die Autoren sich beeilen darauf hinzuweisen, dass antike Geschäftspartnerschaften keine Firmen im modernen Sinn gewesen seien und der institutionelle Rahmen für die beschriebene betriebliche Organisation der oikos resp. die familia gewesen sei.26 In dieser Richtigstellung deutet sich ein beginnender Wandel in der Darstellung des Haushalts in den Handbüchern und Einführungen an. Winfried Schmitz betont in seiner Einführung zu Haus und Familie im antiken Griechenland (2007): „Trotz der starken beruflichen Ausdifferenzierung blieb das Haus die Basis der antiken Wirtschaft. Vom Haus losgelöste Manufakturen, Geldinstitute oder Handelskontore bildeten sich nicht heraus.“27 Joseph Manning erklärt den Haushalt in seinem Überblick über die Wirtschaftsgeschichte des östlichen Mittelmeerraums im 1. Jt. v. Chr. (2018) ebenfalls für zentral und ergänzt, dass Haushalte gerade nicht abgeschlossen und autark waren, sondern gezielt Überschüsse produzierten.28 Robin Osbornes Beitrag zu Privateigentum und Haushalt im New Oxford Handbook for the Economies of the Ancient World (in Vorbereitung) lässt die unfruchtbare Gegenüberstellung von autarkieorientierter Hauswirtschaft und gewinnorientierter Tauschwirtschaft hinter sich und antizipiert damit viele Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Diese allmähliche Neubewertung der Hauswirtschaft stützt sich auf eine Reihe von Studien, die Einzelaspekte der Wirtschaft des klassischen Griechenland mit allgemeineren Überlegungen zur Bedeutung des Hauses als Organisationsform des Wirtschaftens verknüpft haben und dieser Arbeit als Grundlage dienen (vgl. Kap. 2.3). 1.2 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit Das erste Ziel meiner Arbeit ist die Synthese der Ergebnisse dieser Einzelstudien zur Hauswirtschaft. Im Fokus stehen dabei nicht die einzelnen Wirtschaftssektoren, in denen Haushalte aktiv waren, sondern die interne Organisation des Haushalts. Welche Ziele waren der Hauswirtschaft gesteckt und welche Arbeitsteilung und Strategien dienten der Erreichung dieser Ziele? Die Arbeitshypothese ist dabei, dass die entscheidende Einheit des Wirtschaftens nicht das Individuum, sondern der Haushalt war. Natürlich ist der Haushalt wenig ohne seine Menschen, und die interne Aushandlung der Kooperationsbedingungen musste deren Interessen und Fähigkeiten berücksichtigen. Aber der Sinn der Handlungen der einzelnen Hausangehörigen lässt sich, selbst wenn sie räumlich und zeitlich weit getrennt waren, am besten verstehen, wenn der Haushalt
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Frier/Kehoe 2007, 126–134. Schmitz 2007, 23. Manning 2018, 173, vgl. 180–188.
1.2 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit
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als eine ideelle Klammer mitgedacht wird, die selbst über Städte und Generationen hinweg griff. Der historische Vergleich ermutigt dazu, den Haushalt ins Zentrum einer Untersuchung wirtschaftlicher Betriebsformen zu rücken. Der Haushalt war in allen vormodernen ‚Hochkulturen‘ der primäre Bezugsrahmen des sozialen Lebens, vom bronzezeitlichen Mesopotamien bis zur europäischen Frühen Neuzeit. Bis zur industriellen Revolution dachte und handelte nicht bloß der Bauer, sondern auch der Kaufmann und der Handwerker in erster Linie als Hausvater, auf dem Land und in der Stadt.29 Dementsprechend wurde die antike literarische Ökonomik zum Auftakt einer Tradition europäischer Hausbücher mit aufschlussreichen formalen und inhaltlichen Parallelen zu den antiken Texten.30 Selbst in den mittelalterlichen Stadtrepubliken Oberitaliens, die in der althistorischen Forschung immer wieder als Kontrast einer protokapitalischen Wirtschaftweise herangezogen wurden, blieben Haushalt und Verwandtschaft wirtschaftlich entscheidend (vgl. Kap. 2.3.4). Die Zentralität des Haushalts in der Wirtschaft des antiken Griechenland ist also nicht per se ein Beleg für deren Rückständigkeit im vormodernen Vergleich. Der Befund lässt erwarten, dass sich auch die Entwicklung einer dynamischen, monetarisierten Verkehrswirtschaft im 5. und 4. Jh. v. Chr. besser verstehen lässt, wenn man berücksichtigt, dass die an ihr partizipierenden Organisationen keine Unternehmen, sondern Haushalte waren. Das zweite Ziel dieser Arbeit ist es, die antike griechische Theorie von der Kunst der Hauswirtschaft, der Ökonomik – von οἰκονομική (τέχνη/ἐπιστήμη) –, und die Praxis der Hauswirtschaft synoptisch zu behandeln. ‚Theorie‘ bezeichnet dabei, mehr im antiken als im modernen Sinn, den betrachtenden Charakter dieser Texte; sie zielen mehr auf gedankliche Durchdringung und begriffliche Verallgemeinerung als auf die Weitergabe partikularen, empirischen Anwendungswissens. Die drei in der Forschung als literarische Ökonomiken behandelten Texte, Xenophons Oikonomikos, Aristoteles’ Politik I und Pseudo-Aristoteles Oikonomika, sind literarisch überformt und normativ und richten sich an eine kleine, gebildete Oberschicht. Dennoch verraten sie Einiges über die Grundprinzipien der griechischen Hauswirtschaft über Oberschichtshaushalte hinaus. Umgekehrt hilft ein Verständnis der Praxis der Hauswirtschaft dabei, 29
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In Anlehnung an die auf die Frühe Neuzeit gemünzte Formulierung von van Dülmen 1990, 7; vgl. Oexle 1992 zum Haus als Begriff des Wirtschaftens im Mittelalter und Blickle 2008, 19–38 zum Haus als sozialer Grundeinheit im alten Europa; vgl. Brunner [1956] 1980, bes. 109, für die Bedeutung des ‚ganzen Hauses‘ auch innerhalb der Stadt, kritisch differenziert bei Mitterauer 1984; zur wirtschaftlichen Bedeutung des Hauses noch im 18. und 19. Jh. vgl. Medick 1977 und Humphries 2004; zur Bedeutung des Hauses in außereuropäischen Gesellschaften s. Goody 1976, Netting (u. a.) 1984 und Lévi-Strauss 2012; vgl. zur Rolle des Haushalts im antiken Mesopotamien Silver 1995, 50–72 und Dercksen 2014, 65 f. und zum alten Ägypten Manning 2018, 180–183. Einen Gesamtüberblick über die Mittelmeergesellschaften der Bronze- und Eisenzeit (2000–500 v. Chr.) als „house societies“ geben González-Ruibal/Ruiz-Gálvez 2016. Hilfreiche Übersichten bieten die von Irmintraut Richarz verfassten oder herausgegebenen Beiträge in Richarz 1991b und 1994.
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1 Fragestellung
die Begriffe und Normen in den literarischen Abhandlungen richtig einzuordnen. Die Konflikte zwischen Normen und Praktiken, die bei einer Gegenüberstellung von Ideen- und Strukturgeschichte deutlich werden, sollen dabei nicht weggedeutet, sondern als zentrales Phänomen der antiken griechischen Hauswirtschaft erklärt werden. Diese Herangehensweise wendet sich gegen die häufig verfolgte Methode, ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ der Hauswirtschaft im Sinne von ‚Ideologie‘ und ‚Realität‘ gegeneinander auszuspielen. Finley zog die Ökonomik zum Beleg dafür heran, dass Büchers Modell – bei allen Zugeständnissen an die ‚Realität des Empirischen‘ – eben doch zutraf.31 Seine Kritiker wiederholten hingegen das Argument, das bereits Eduard Meyer gebracht hatte: Die Oikonomia-Theorien, insbesondere die des Aristoteles, seien reaktionär und elitär gewesen, ihre kontrafaktische Ablehnung der Erwerbskunst gerade der Beleg für die weite Entwicklung der Marktwirtschaft.32 Beide Seiten waren dann gezwungen, die empirischen Belege der Gegenseite zu ignorieren oder kleinzureden. Ungelöst blieb dabei die Frage: Warum entwickelte die antike Selbstbeschreibung ihre Reflexionen über das Wirtschaften stets unter dem Begriff der Haushaltsführung und warum gerade zu dem Zeitpunkt, als der kommerzielle haus- und stadtübergreifende Austausch sich ausweitete und verdichtete? Daran schließt sich eine weitere Frage an: Warum wurde Reichtumsstreben und Erwerbswesen nicht nur von den Gelehrten kritisiert, sondern galt allen Zeitgenossen als anrüchig, obwohl zugleich die meisten Haushalte mit allen Mitteln nach einer Steigerung ihrer Einkünfte strebten? Die vorliegende Arbeit sucht Antworten auf diese Fragen. Die Dichotomie ‚Hauswirtschaft‘ – ‚Marktwirtschaft‘ steht einer Lösung der Probleme dabei eher im Wege. Empirisch unbrauchbar ist diese Dichotomie einerseits deshalb, weil sie die über Jahrhunderte hinweg gut belegte Verflechtung von Hauswirtschaft und Verkehrswirtschaft nur als Übergangsform kleinreden, aber nicht befriedigend erklären kann. Theoretisch ist sie hinderlich, weil sie eine begriffliche Asymmetrie birgt. Hauswirtschaft be31 32
Finley 1970; vgl. Finley [1973] 1993, 9–31; das entspricht Otto Brunners Analyse der alteuropäischen Ökonomik, vgl. Brunner [1956] 1980. Cohen 1992, 4–6, bes. 6: „Although Aristotle longs for the former system [ebd. 5: „prior system of household production/consumption“], its replacement by impersonal coined money is what he actually portrays – and rues.“ Ähnlich, nur abgeschwächt Engen 2010, 96; genauso interpretiert Bresson 1987, 219–227 Aristoteles’ Ausführungen zur Notwendigkeit des Fernhandels und Stanley 1998, 42–50 seine Bewertung von Handwerkern und Geschäftsleuten; diese Lesart ist alt: bereits Meyer [1895] 1910, 124–126 bezeichnete Aristoteles’ Überlegungen zur Ökonomik als „reaktionäre Theorie“, die gerade deshalb die ‚Modernität‘ der realen Wirtschaftsverhältnisse bezeuge; ähnlich Gelesnoff 1923, 7, 32, der allerdings zugleich meint, Aristoteles’ Idealverfassung sei keine „reaktionäre Schwärmerei“, ebd. 17; Polanyi [1957] 1979, insbesondere 149–152, meint, Aristoteles habe das Entstehen der „Volkswirtschaft“ beobachtet und – zu Recht! – verurteilt; Pellegrin 1982 sieht Aristoteles als resignierten Betrachter des Untergangs der Polis-Gesellschaft, von dem die Entwicklung der widernatürlichen Gelderwerbskunst nur ein Aspekt sei; Spahn 1984, 321 f. schließt sich dieser Deutung an, wenn er die normativen Theorien der Philosophen als „Reaktion“ (im doppelten Wortsinn) auf die liberale Ökonomik der Sophisten und zeitgenössischen Entwicklungen bezeichnet.
1.2 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit
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zeichnet ein System der geplanten Kooperation im Rahmen einer institutionalisierten Ordnung. Marktwirtschaft hingegen bezeichnet ein System ungeplanter Distribution, bei denen nicht institutionell definierte Weisungsbefugnisse, sondern Angebot und Nachfrage über die Allokation von Kapital und Arbeit entscheiden. Bereits Weber kontrastierte deshalb den ‚Oikos‘ nicht mit dem ‚Markt‘, sondern mit dem modernen spezialisierten Wirtschaftsunternehmen.33 Im Übrigen werde ich im Folgenden von ‚Verkehrswirtschaft‘ statt von ‚Marktwirtschaft‘ sprechen. Dieser Ausdruck ist altmodisch, aber er erlaubt es, die vielfältigen Austauschbeziehungen jenseits des einzelnen Haushalts zusammenzufassen, ohne die Konnotationen einer ‚kapitalistischen‘ Wirtschaftsordnung mitzuschleifen und ohne die Antwort auf die empirische Frage vorwegzunehmen, inwiefern die vielen Formen des Austausches, Fernhandel und lokale Märkte eingeschlossen, zu einem globalen System mit elastischen Preisen integriert waren (vgl. Kap. 2.1). Die Leitthese dieser Arbeit ist, dass die Hauswirtschaft nicht deshalb dominant blieb, weil die Wirtschaft insgesamt primitiv war, sondern umgekehrt, weil Haushalte das günstigste Vehikel blieben, um sich an die Bedingungen einer zunehmend kommerzialisierten und monetarisierten Verkehrswirtschaft anzupassen. Diese These ist nicht dahingehend misszuverstehen, dass sich griechische Haushalte in klassischer Zeit insgeheim zu quasi-modernen Wirtschaftsunternehmen entwickelten. Es geht im Gegenteil gerade darum, die Besonderheiten einer historischen Organisationsform zu verstehen, deren eigentümliche Rationalität gerade dort zutage tritt, wo sie sich von der Rationalität des modernen Wirtschaftsunternehmens unterscheidet. Denn das dritte Ziel der Arbeit ist es, die soziale und kulturelle Einbettung der Hauswirtschaft zu beschreiben und zu erklären. Welche gesellschaftlichen Institutionen definierten den Rahmen, an den Haushalte ihre Arbeitsteilung anlehnten (Kap. 10–12) und innerhalb dessen sie ihre Strategien verfolgten (Kap. 14–16)? Welche sozialen Faktoren trieben ihr Optimierungsstreben (Kap. 3)? Wie schrieben die antiken Gelehrten über Hauswirtschaft und warum wählten sie bestimmte literarische Formen (Kap. 5)? Die Antworten auf diese Frage liegen, so meine These, gerade nicht im Bereich einer wirtschaftswissenschaftlichen Erklärung im engen Sinne. Sie laufen darauf hinaus, dass nicht die Irrationalität der Hauswirtschaft der Grund dafür war, dass es nicht zu einer ‚Modernisierung‘ der wirtschaftlichen Organisation kam, sondern es gerade umgekehrt die zunehmende Rationalität war, mit der griechischen Haushalte ihr Wirtschaften an die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt anpassten. Wenn hier und im Folgenden von ‚Griechenland‘ die Rede ist, so sind damit in erster Linie die besonders urbanisierten und vernetzten Küstenstädte der Ägäis und der daran angebundenen Küstenregionen gemeint. Die Binnengebiete der Peloponnes, Nordwestgriechenland, Thessalien und Kreta wurden hingegen ausgelassen entspre-
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Weber [1921] 1972, 230–232.
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1 Fragestellung
chend der Annahme, dass die dortigen geographischen und gesellschaftlichen Umweltbedingungen des Hauses zu verschieden waren, um das hier entwickelte Modell voll anwendbar zu machen. Das schließt nicht aus, dass es Parallelen gibt, die in dieser Arbeit vernachlässigt werden, ebenso wie mögliche Unterschiede innerhalb des gewählten Untersuchungsgebietes. Chronologisch konzentriert sich die Arbeit auf die Periode von etwa 450 bis 300 v. Chr. Ein Grund für diese Eingrenzung ist, dass die Fülle zeitgenössischer literarischer Quellen zu diesem Zeitraum eine vergleichsweise detaillierte Rekonstruktion hauswirtschaftlicher Strategien erlaubt, einschließlich der Möglichkeit, durch den Vergleich verschiedener Gattungen das Verhältnis von hauswirtschaftlicher Praxis und ihrer literarischen Präsentation genauer zu bestimmen. Inhaltlich rechtfertigt sich die Missachtung der traditionellen chronologischen Grenzen damit, dass die politisch definierten Epochengrenzen für eine Wirtschaftsgeschichte nur von begrenzter Bedeutung sind. Wirtschaftsweisen ändern sich nicht über Nacht. Politische Großereignisse wie die Perserkriege und der Alexanderzug hatten zwar große Einflüsse auf die Umwelt, in der Haushalte operierten, diese Einflüsse wirkten sich allerdings erst allmählich auf die internen Strukturen der Haushalte aus. 450 ist insofern ein geeigneter Einstieg, weil in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Entstehung regionaler Hegemonialmächte, zuallererst des Attisch-Delischen Seebunds, deutlich wirksam wurden (Kap. 3). Zugleich fällt der Beginn einer gelehrten Prosa-Literatur in diese Zeit, zu der auch die Ökonomik und ihre Vorläufer gehören (Kap. 4.3). Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil werden Vorüberlegungen zur Theorie und Methode einer Geschichte der Hauswirtschaft in klassischer Zeit umrissen (Kap. 2). Anschließend werden die Umweltbedingungen beschrieben, die in dieser Arbeit als wesentliche Faktoren zur Beschreibung und Erklärung der Entwicklung von Ökonomik und Hauswirtschaft angesehen werden (Kap. 3). Der zweite Teil widmet sich einer Rekonstruktion der normativen Theorie der Hauswirtschaft mithilfe der Schriften zur Ökonomik von Xenophon, Aristoteles und Pseudo-Aristoteles. Die gemeinsame Bezeichnung als ‚Ökonomik‘ darf nicht über die inhaltlichen und gestalterischen Unterschiede dieser Texte hinwegtäuschen. Bei allen Unterschieden ist diesen Texten allerdings gemeinsam, dass sie sich um systematische und normative Bestimmungen der Haushaltsführung (oikonomia) und der Kunst der Haushaltsführung (oikonomikē) bemühen. Es ist sinnvoll, diese drei Ökonomiken im Kontext eines breiteren gelehrten Moraldiskurses zu sehen, wie dies bereits Kurt Singer, Peter Spahn, Todd Lowry, Raymond Descat und Michele Faraguna getan haben.34 Unter den Textartefakten des späten 5. Jhs. sind die Fragmente ethischen Inhalts des Universalgelehrten Demokritos aus Abdera am wichtigsten, die als aus ihrem ur-
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Singer 1958; Spahn 1984; 2003; Lowry 1987; Descat 1988; Faraguna 1994.
1.2 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit
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sprünglichen Kontext herausgeschnittene Denksprüche überliefert wurden.35 Für das 4. Jh. sind Platons Dialoge von besonderer Bedeutung, da er sich im Rahmen seiner ethischen Überlegungen viel, wenngleich meistens ex negativo, mit Hauswirtschaft und Gelderwerb beschäftigte.36 Die Untersuchung zur Ökonomik beginnt mit einer Verortung dieser Texte im gesellschaftlichen Leben ihrer Zeit und den sozialen Gründen für ihre spezifische literarische Gestaltung (Kap. 4 und 5). Die anschließende Inhaltsanalyse behandelt thematisch gegliedert die Grundbegriffe und -prinzipien der Ökonomik nach Ausweis dieser Texte (Kap. 6). Der dritte und vierte Teil widmet sich der Praxis der Hauswirtschaft, zunächst ihren Strukturen, dann ihren Strategien. Mit ‚Strukturen‘ ist dabei die dauerhaft institutionalisierte Rollenverteilung im Haus gemeint, welche die Aufgabenverteilung bei der hauswirtschaftlichen Arbeitsteilung wesentlich vorbestimmte. Zwischen Haushalten gab es zwar eine weit entwickelte technisch-wirtschaftliche Spezialisierung, wie hunderte verschiedene Berufsbezeichnungen zeigen, aber das übergeordnete Muster der innerhäuslichen Arbeitsteilung folgte der allgemeinen Rollenverteilung im Haus.37 Eine technische Spezialisierung in Teilbereichen, etwa einer zum Haus gehörigen Werkstatt, existierte in Maßen, aber war untergeordnet und weniger dauerhaft.38 Dementsprechend behandelt der dritte Teil die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute (Kap. 10), die altersspezifische Arbeitsteilung zwischen Vätern und Söhnen und Brüdern (Kap. 11) und die statusspezifische Arbeitsteilung zwischen Herren und Sklaven (Kap. 12). Die verwandtschaftliche Kooperation und die altersspezifische Mobilität im Rahmen des ‚erweiterten Haushalts‘ wird dabei besonders ausführlich behandelt, weil dieser Aspekt in bisherigen Studien am wenigsten berücksichtigt wurde. Der vierte Teil untersucht als ‚Strategien‘ die Kulturtechniken der Rationalisierung (Kap. 13), Gelegenheitsoptimierung (Kap. 14) und Risikominimierung (Kap. 15). Die Überlegungen zur Kapitalkonvertierung (Kap. 16) und zur Ungleichheit der Haushalte (Kap. 17) schließen den Kreis dieser Untersuchung, indem sie den strategischen Konsum beschreiben, der zugleich Reaktion und Antwort auf jene Statuskonkurrenz war, welche die Hauswirtschaft in klassischer Zeit antrieb (Kap. 3.2). Der fünfte Teil schließt diese Untersuchung mit einer Einordnung ihrer Ergebnisse in die longue durée antiker Wirtschaftsgeschichte.
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Die Denksprüche sind zum größten Teil beim spätantiken Autor Stobaios überliefert und gelten mehrheitlich als echt, vgl. RE 5.2 (1905), s. v. Demokritos 6), sp. 137 f. (E. Wellmann), Nestle 1941, 200–204 und M. Gemelli Marciano in der Tusculum-Ausgabe (S. 537–542). Die Forschungsliteratur zum ‚ökonomischen Denken‘ Platons ist umfangreich und in ihren Ergebnissen weitgehend unkontrovers; vgl. die in Kap. 3.3.1, Anm. 167 und 172 zitierte Literatur; insofern überrascht es, wenn Föllinger 2016, 30 schreibt, „daß eine systematische Beschäftigung mit Platons Ökonomie sich erst in den Anfängen befindet“. Vgl. Harris 2002b, 67–71 zu horizontaler und vertikaler Spezialisierung im klassischen Athen. Vgl. Kap. 12.3.4.
2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode 2.1 Das Problem einer Wirtschaftsgeschichte vormoderner Epochen Die Grundsatzdebatte über die antike Wirtschaft kreiste immer auch um die Frage, ob ‚Wirtschaft‘ bei der Erforschung vormoderner Gesellschaften überhaupt als Forschungsgegenstand isoliert werden könne. Finley sprach nur unter Vorbehalt von ‚Wirtschaft‘, weil die Produktion und Distribution von Gütern und Leistungen im Unterschied zur heutigen Gesellschaft kein eigenständiges gesellschaftliches Teilsystem gebildet habe und demzufolge eine entsprechende Gesamtbezeichnung, entsprechendes Vokabular und eine entsprechende Wissenschaft fehlten.1 Finleys Problembewusstsein wurde seinerzeit von prominenten Historikern anderer Epochen geteilt. Ideologisch konträre Historiker wie Otto Brunner und E. P. Thompson befanden übereinstimmend, dass eine „reine Wirtschaftsgeschichte“ (Brunner) nur für das industrielle Zeitalter möglich sei und man sich für die früheren Epochen bewusst sein müsse, dass die ökonomischen Begriffe der gegenwärtigen „Marktgesellschaft“ (Thompson) nicht den Begriffen und Erwartungen der Menschen in vormodernem Gesellschaften entsprechen.2 Diese Skepsis führender Historiker an einer anachronistischen Perspektive der Wirtschaftsgeschichte ist eine Mahnung zur stärkeren Historisierung ökonomischer Erklärungsmodelle. Im reinen analytischen Sinn lässt sich allerdings die ‚Wirtschaft‘ jeder Gesellschaft im Sinne ihrer Strukturen der Produktion, Distribution und Konsumtion knapper Güter untersuchen, weil die Knappheit materieller und immaterieller Güter eine Grundbedingung menschlichen Lebens ist.3 Die Knappheit der Güter ist eine Umweltbedingung: Sie determiniert das Handeln nicht, aber sie begrenzt dessen Möglichkeiten. Auch ein Haushalt, der nur nach Gefühl oder Gewohnheit seine Mittel verwendet, wird mit der Zeit feststellen, dass sein Budget und sein Kreditrahmen irgendwann erschöpft sein werden. Die wirtschaftlichen Opportunitäten und Restrik-
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Finley [1973] 1993, 13–15. Die Zitate bei Brunner [1956] 1980, 121 f. und Thompson [1978] 1980, 313. Zum ideologischen Gehalt von Brunners Blick auf die ‚alteuropäische Ökonomik‘, der stark von der Lektüre antiker Quellen geprägt ist, vgl. Opitz 1994 und Weiss 2001. Weber [1904] 1988, 161, 163.
2.1 Das Problem einer Wirtschaftsgeschichte vormoderner Epochen
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tionen bilden Grenzen, die man ignorieren, aber nicht umgehen kann.4 In diesem Sinn hat der Ökonom Gary Becker für die Ausweitung der ökonomischen Analyse auf Bereiche jenseits des klassischen Marktgeschehens plädiert.5 Max Weber schrieb bereits 1904 in seinem Aufsatz zur Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, dass der ‚sozialökonomische‘ Charakter eines Vorgangs diesem nicht „objektiv anhafte“, sondern bedingt sei durch das Erkenntnisinteresse des Forschers: Eine sozioökonomische Untersuchung sei durch ihre Fragestellung definiert, nicht durch ihren Gegenstandsbereich.6 Das akzeptierten auch die Skeptiker Brunner, Finley und Thompson und hielten eine Wirtschaftsgeschichte vormoderner Epochen für möglich.7 Viele Fragen werden überhaupt erst denkbar, weil die Theorien und Begriffe der modernen Wissenschaft sich grundlegend von der Selbstbeschreibung der von ihr untersuchten Gesellschaft unterscheiden.8 Brunner schreibt über die Wirtschaft des ganzen Hauses, dass „[i]hre innere Struktur und ihr eigentümliches Verhältnis zur Verkehrswirtschaft […] nur mit Hilfe der Begriffe der modernen Wirtschaftswissenschaften erschlossen werden“ konnten.9 Die Ausweitung der ökonomischen Analyse auf alle Lebensbereiche ist teils als intellektueller ‚Imperialismus‘ der Ökonomen betrachtet worden. Mit Pierre Bourdieu hat allerdings auch ein ethnographisch arbeitender Soziologe gefordert, „das ökonomische Kalkül unterschiedslos auf alle, sowohl materielle wie symbolische Güter auszudehnen, die rar erscheinen und wert, innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Formation untersucht zu werden“. Diese Forderung erhebt Bourdieu gerade deshalb, um den „ethnozentristischen Naivitäten des Ökonomismus“ zu entgehen, ohne umgekehrt „in die volkstümelnde Begeisterung über die edle Einfalt der Ursprünge zu verfallen“.10 Um dieser Forderung gerecht zu werden, erscheint es mir sinnvoll, in der ökonomischen Analyse zwischen theoretischen Prämissen und empirie-gesättigten Modellen zu unterscheiden. Während sich die Modelle der gegenwartsbezogenen Wirtschaftswissenschaften selten auf vormoderne Gesellschaften anwenden lassen, können ihre Prämissen relevant sein, soweit sie hinreichend allgemein sind.11 Laut Becker zeichnet
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Becker 1962, 7–13; Esser 2000c, 1–21; Ulen 1999, 794; Weber [1904] 1988, 161. Becker 1976b, 3–5. Weber [1904] 1988, 161; vgl. 166: „Nicht die ‚sachlichen‘ Zusammenhänge der ‚Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde.“ Brunner [1956] 1980, 122; Finley [1973] 1993, 14; Thompson [1978] 1980, 313. Runciman 1983, 13 am Beispiel der antiken Wirtschaft. Brunner [1956] 1980, 122. Bourdieu [1972] 1979, 345; zustimmend Medick 1982, 170. Einen anderen Weg wählt Jones 2014; Jones verspricht, „to communicate how the logic of contemporary economic theory works, how the theory is applied to address particular questions, and how it can be applied to research topics in the economies of ancient Mediterranean societies“. (op. cit. 3). Der größte Teil der Arbeit ist letztlich jedoch nicht mehr als eine dichte Einführung in den aktuellen Stand der formalen ökonomischen Theorie; den voraussetzungsreichen Forma-
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
sich die spezifisch ökonomische Perspektive durch drei Prämissen aus: 1) die Annahme, dass Akteure rationale Nutzenmaximierung betreiben; 2) die Annahme, dass der Austausch von Gütern auf Märkten erfolgt; 3) die Annahme, dass Präferenzen mehr oder weniger gleich und stabil sind.12 Diese Prämissen bedürfen der Erläuterung. Die Prämisse rationaler Nutzenmaximierung ist keine Rückkehr zum berüchtigten homo oeconomicus. Gemeint ist, dass Akteure – in unserem Fall organisiert als Haushalte – materielle Güter nicht um ihrer selbst willen produzieren oder eintauschen, sondern um mit ihrer Hilfe ‚nützliche‘ Zwischengüter zu produzieren, mit deren Hilfe sie die eigentlich interessanten Güter (Gesundheit, Liebe, Ehre, Macht) erlangen können. ‚Rational‘ tun Akteure dies, insofern sie dabei planvoll und adaptiv vorgehen, um erfolgreich zu sein. In diesem Sinn hat Becker den häuslichen Konsum als Nutzenproduktion rekonzeptualisiert, bei dem Zeit und Einkommen unterschiedlich kombiniert werden, und hat damit das herkömmliche Bild des rein konsumtiven Haushalts verabschiedet.13 Für die Historisierung der ‚rationalen Nutzenmaximierung‘ sind die Grenzen der Rationalität wichtig, die Ökonomen und Sozialwissenschaftler unter dem Leitbegriff der ‚begrenzten Rationalität‘ (bounded rationality) untersuchen. Denn die Grenzen der Rationalität und die Techniken, um mit ihnen umzugehen, sind umweltabhängig und kulturspezifisch – und damit historisch wandelbar. Kein Mensch verfügt über die kognitiven Fähigkeiten oder über die Zeit, um sich vollständig zu informieren und bestmöglich zu entscheiden.14 Die rationale Maximierung des Nutzens resp. Minimierung von Kosten und Risiken ist deshalb selbst mit Kosten und Risiken verbunden. Deshalb bleiben die meisten theoretisch denkbaren Möglichkeiten in der Praxis unberücksichtigt.15 In einer komplexen und wandelbaren Umwelt lebt der Mensch grundsätzlich in relativer Ungewissheit, Maximierung ist strenggenommen unmöglich.16 Noch schwieriger wird es, wenn diese ‚Umwelt‘ aus anderen kalkulierenden Akteuren besteht, deren gegenseitige Zurechnungen theoretisch im infiniten Regress enden.17 Um trotz dieser Ungewissheit entscheidungsfähig zu sein, entwickeln die Entschei-
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lisierungen bestimmter Theoreme (etwa Produktionsfunktionen) stehen banale und meist fiktiv gewählte Beispiele gegenüber, die einen nur nomenklatorischen Bezug zur Antike haben und mit den tatsächlichen Erklärungsproblemen der antiken Wirtschaftsgeschichte wenig zu tun haben; eine praktische Anwendung der Funktionsgleichungen würde überdies quantitatives Material erfordern, dessen Fehlen gerade Teil des Methodenproblems ist. Becker 1976b, 3–5; die Festlegung dieser Prämissen hat auch methodische Bedeutung; sie verhindert ad-hoc-Annahmen zur Rettung gescheiterter Erklärungsversuche, wie der Behauptung eines plötzlichen Wandels der Präferenzen oder einer irrationalen Abweichung von der Nutzenmaximierung, Becker, op. cit., 7–12; vgl. Esser 2000c, 23–94. Becker 1976a; Becker/Michael 1976, 139–148; vgl. Esser 2000c, 59–94. Simon 1993, 21–24. Simon 1972, 173 f.; Becker 1976b, 6–8. Alchian 1950, 212; Simon 1972, 163; 1993, 21–33; Williamson 1975, 21–24; North 1990, 22–24. Heap 1989, 56–66; vgl. Luhmann 1984, 148–190.
2.1 Das Problem einer Wirtschaftsgeschichte vormoderner Epochen
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dungsträger – ob einzelne Menschen oder Haushalte – ‚Entscheidungsprogramme‘, mentale Modelle, die definieren, welche Ziele als ‚hinreichend befriedigend‘ gelten.18 Diese Entscheidungsprogramme beschränken sich nicht auf persönliche psychische Strukturen. Sie finden ihren kulturellen Niederschlag in ‚sozialen Drehbüchern‘, die Rollen und Situationen des Entscheidens sozial differenzieren (wer entscheidet wann und worüber) und kulturell fixieren (wie entscheidet man auf welcher Grundlage).19 Bei der Rekonstruktion der Rationalität der Hauswirtschaft geht es deshalb nicht um die Frage der durchschnittlichen Rationalität individueller Akteure oder die Bewertung der Effizienz der Hauswirtschaft am Maßstab einer überhistorischen Rationalität. Es geht vielmehr darum, die soziokulturelle Evolution der Entwicklung von Techniken und Maßstäben der Rationalität der Hauswirtschaft zu rekonstruieren. Auf der Ebene der individuellen Haushalte werden die Fähigkeiten und die Bereitschaft zur erfolgreichen Anpassung an neue Gegebenheiten unterschiedlich verteilt gewesen sein, genau wie die glücklichen Zufälle. Die Gerichtsreden und Komödien sind voll von Geschichten des Scheiterns und Irrens, die Mitleid, Häme oder Gelächter erregen sollten. Dieser Effekt war nur möglich, weil das Publikum wusste, an welchen idealtypischen Erfolgserwartungen der reale Misserfolg zu messen war. Einer Wirtschaftsgeschichte des antiken griechischen Haushalts fehlen zwar die Quellen, um zu quantifizieren, wie viele Haushalte ihre Strategien bis zu welchem Grad erfolgreich anpassten.20 Dafür lassen sich mithilfe der erhaltenen literarischen Quellen der soziale Ordnungsrahmen und die kulturellen Deutungsmuster rekonstruieren, an denen sich die Haushalte bei ihren Strategien orientierten. Zugleich geht es um die Frage, welche Faktoren überhaupt in Richtung auf eine Rationalisierung der Haushaltsführung drängten. Denn die Evolutionstheorie lehrt, dass es keine automatische Steigerung der rationalen Nutzenmaximierung gibt, solange bestehende Gleichgewichte nicht aus der Balance gebracht werden.21 In diesem Sinn werden in Kap. 3 die Umweltfaktoren beschrieben, die in klassischer Zeit Haushalte unter Druck setzten, die Effizienz ihres Wirtschaftens zu steigern. Mit der ‚Effizienz‘ des Wirtschaftens ist nicht gemeint, dass die kulturellen
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Alchian 1950, 218 f.; Simon 1972, 165–173. Esser 1999, 75–124, 295–358. Vgl. Greif 2006, 124–157 für eine spieltheoretische Auseinandersetzung mit der Rolle institutionalisierter Verhaltensregeln und Lewis 2018a zum Potential der behavioural economics zum Verständnis der antiken griechischen Wirtschaft. Dies als methodischer Vorbehalt gegen die optimistischen Schätzungen von Pro-Kopf-Wachstum und Steigerung der Lebensqualität bei Morris 2004, 2005, 110–125, Ober 2010, 2015, 71–100 und Kron 2015; der archäologische Befund belegt ein Anwachsen des materiellen Reichtums; wie dieser Reichtum verteilt war, lässt sich allerdings höchstens grob schätzen; da das Anwachsen von Handel und Wohlstand mit der militärischen Expansion nach außen und der zunehmenden Einfuhr gekaufter Sklaven einherging, ist Zurückhaltung bei Annahmen über das endogene Wachstum durch Produktivitätssteigerung geboten; sehr skeptisch ist Millett 2001, 26–37; vgl. Scheidel 2003, 126–131 und Saller 2005, 228–236 zu den methodischen Schwierigkeiten quantitativer Verfahren. Alchian 1950, 213–220; vgl. Heap 1989, 130–140.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
und institutionellen Lösungen die bestmöglichen oder gesamtgesellschaftlich produktivsten Lösungen für die wahrgenommenen Probleme waren. Gemeint ist, dass die Lösungen die Chancen des einzelnen Haushalts verbesserten, sich in der Konkurrenz um knappe Güter durchzusetzen. Die Prämisse der Marktförmigkeit des Austauschs meint wiederum nicht mehr als die Annahme, dass der ‚Preis‘ eines Guts, also das Opfer, das man für seine Aneignung erbringen muss, durch ein Wechselverhältnis von Angebot und Nachfrage entsteht, d. h. dem Interesse einiger Akteure, Güter in ihren Besitz zu bringen, und der Bereitschaft anderer, ihnen diese Güter für eine Gegenleistung zu überlassen. Diese Annahme ist weder auf den Austausch materieller Güter beschränkt (man denke an den für die Hauswirtschaft wichtigen Heiratsmarkt), noch erfordert sie, dass alle denkbaren Transaktionen tatsächlich zustande kommen: Selbst wer ein Gut selbst herstellt, anstatt es einzutauschen, zahlt den Schattenpreis des Verzichts auf alternative Verwendungen seiner Zeit (Opportunitätskosten).22 Auch für Güter, die nicht offen vermarktet werden, zahlt man solche Schattenpreise, z. B. in Form des sozialen Aufwands (Aufmerksamkeit, Geschenke), der ihre Beschaffung erfordert. Die zwei Voraussetzungen für die empirische Anwendbarkeit des Modells sind, dass interessante Güter und Leistungsfähigkeiten in einer Gesellschaft erstens ungleich verteilt sind, so dass es wechselseitige Aneignungs-Interessen gibt und dass zweitens ein zumindest partielles Gewaltverbot bewirkt, dass diese Aneignungsinteressen über Tausch-Angebote miteinander konkurrieren. Eine solche Konkurrenz findet auch dann statt, wenn die Teilnehmer wenige sind und nur über begrenzte Informationen verfügen. Der ‚perfekte Markt‘ mit idealerweise unendlich vielen anonymen Teilnehmern, die alle über vollständige Information verfügen, ist strenggenommen unmöglich und auch eine Annäherung empirisch selten. Die universale Anwendbarkeit des Modells von Nachfrage und Angebot ist nicht zu verwechseln mit der Universalität dessen, was heute als ‚Marktwirtschaft‘ bezeichnet wird. Denn der Begriff der Marktwirtschaft beschreibt üblicherweise das Verteilungssystem einer Gesellschaft, in dem Märkte nicht nur analytisch feststellbar sind, sondern auch in der Selbstbeschreibung und der institutionellen Ordnung eine explizite und wichtige Rolle einnehmen. In allen vormodernen ‚Hochkulturen‘ entwickelte sich eine intensive, hausübergreifende Distribution von Gütern mit lokalen Märkten, Fernhandel und Geldgebrauch samt Münzprägung und Kreditwesen.23 Es besteht allerdings ein historisch relevanter Unterschied zur Entwicklung Europas seit
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Becker 1976b, 5–7; 1976a, bes. 112–114. Brunner und Finley betonten das ausdrücklich, wie ihre Kritiker nicht immer hinreichend berücksichtigt haben; vgl. Brunner [1956] 1980, 123 f. und Finley 1975, 117: „the intrusion of genuine market (commercial) trade, on a considerable scale and over very great distances, into the GraecoRoman world had a feedback effect on peasant markets and the rest to such a degree as to render the primitive model [von Karl Polanyi] all but useless.“
1.2 Zielsetzung und Aufbau dieser Arbeit
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dem 16. Jh., als global integrierte Märkte, Institutionen zur Regelung eines spezifisch wirtschaftlichen Wettbewerbs und Organisationen entstanden, welche die Einhaltung dieser Regeln überwachten und die notwendigen Informationen generierten und verbreiteten: Börsen, Handelskammern und Wirtschaftsministerien, Tageszeitungen und Online-Auktionshäuser.24 Die dritte Prämisse des ökonomischen Ansatzes lautet, dass die Präferenzen der Akteure, ihre relativen Bewertungen von Gütern, stabil sind und unter den Akteuren außerdem relativ gleich. Laut Becker beziehen sich diese Präferenzen in erster Linie nicht auf bestimmte materielle Güter (Äpfel, Stühle), sondern „auf grundlegende Aspekte des Lebens, wie Gesundheit, Prestige, Sinnenfreude, Wohlwollen, oder Neid, die nicht immer in einer festen Relation zu Marktgütern und -leistungen stehen“.25 Die Stabilität und relative Gleichheit der Präferenzen ist besonders für die antike Wirtschaftsgeschichte methodisch wichtig, weil die Quellenlage es nicht zulassen würde, verlässliche Informationen über individuelle Präferenzen zu gewinnen. Becker hält die Präferenzen für epochenübergreifend stabil. Auf einer hohen Abstraktionsebene mag es zutreffen, dass alle Menschen nach Existenzsicherung und sozialer Anerkennung streben. Aber die Zwischengüter, die sie darum begehren, sind historisch sehr verschieden, weil ihre Kategorisierung und Bewertung kulturell fixiert ist und durch Sozialisation erlernt wird.26 Zusammenfassend: Nutzenmaximierung mit begrenzter Rationalität, die gesellschaftliche Distribution von Gütern als Zusammenspiel von Interesse und Kontrolle und die Bewertung von Gütern anhand stabiler Präferenzen – diese drei Prämissen können epochenübergreifend angewandt werden, weil sie auf logischen, physikalischen und anthropologischen Konstanten als Prämissen beruhen. Aus demselben Grund lassen sich mit ihnen allerdings keine epochenspezifischen Phänomene erklären. Deshalb müssen die allgemeinen Prämissen für jede Epoche spezifiziert werden (Welche Entscheidungsprogramme befolgten Haushalte? Wie gestaltet sich das Zusammenspiel von Interesse und Kontrolle? Welche nützlichen Zwischengüter wurden präferiert?). Dazu braucht es historisierte Modelle jener sozialen Einheiten, die Entscheidungen trafen und die Sozialisierung der Präferenzen und Entscheidungstechniken prägten. In diesem Sinn soll im Folgenden das ‚Haus‘ als soziale Einheit definiert werden.
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North 1990, 1–10, ähnlich bereits Knight 1921, 136; in althistorischer Perspektive Eich 2006, 175–182. Becker 1976b, 5. Vgl. Esser 2000c, 85–96 zur Sozialisierung kulturspezifischer Präferenzen und 2001, 358–368 zur Stabilität persönlicher Präferenzen; vgl. Lutz 2015 zu Präferenzen in historischer Perspektive.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
2.2 Das ‚ganze Haus‘: Definitionen und Praktiken Das ‚Haus‘ bildete die wichtigste Grundeinheit der griechischen Gesellschaft in klassischer Zeit. Die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Eheleute, ihrer Kinder und des abhängigen Gesindes war der primäre Ort der Sozialisation und der Bestimmung sozialer Identität. Wer keinem ‚Haus‘ angehörte, führte eine marginalisierte Existenz.27 Anders als der moderne Begriff ‚Familie‘ deckt der Begriff des Hauses relativ genau den Bedeutungsumfang des griechischen Wortes οἶκος ab (seltener οἰκία, das im 4. Jh. weitgehend für die Bezeichnung des Wohnhauses reserviert war).28 Als Kompaktbegriff vereinte oikos alle Dimensionen sozialen Sinns:29 1) Das Wohnhaus: die räumliche Dimension des gemeinsamen Lebens ‚unter einem Dach und an einem Tisch‘. 2) Das Vermögen: die sachliche Dimension der verfügbaren Güter, der auf sie bezogenen Rechte und, in einem weiteren Sinne, die Möglichkeiten ihrer Benutzung. 3) Die Hausgemeinschaft/den Haushalt: die soziale Dimension des Geflechts von Autorität und Intimität, das auch die nicht-verwandten Hausgenossen, nämlich das unfreie Gesinde und Gastfreunde für die Dauer ihres Aufenthalts, einschloss. 4) Die ‚Familie‘: die zeitliche Dimension der Abfolge der patrilinearen Geschlechter und die altersspezifischen Rollen und Aufgaben im Haus. Im Folgenden ist jeweils von ‚Wohnhaus‘, ‚Vermögen‘, ‚Haushalt‘ oder ‚Familie‘ die Rede, wenn der mit diesem Wort bezeichnete Aspekt thematisiert wird, vom ‚Haus‘ hingegen, wenn es um den Gesamtzusammenhang dieser Einzelaspekte geht. Otto Brunner schuf in dem bereits zitierten Aufsatz zur alteuropäischen Ökonomik mit dem Begriff des ‚ganzen Hauses‘ eine einprägsame Formel zur Beschreibung dieser sozialen Einheit von Menschen und Besitz, Erwerb und Konsum, Herrschafts- und Familienbeziehungen.30 Vormoderne Selbstbeschreibung und moderner Forschungsbegriff kommen hier ziemlich exakt zur Deckung.31 Das gilt auch für das klassische Griechenland. Aristoteles spricht einmal von „der Herrschaft (ἀρχή) über Kinder und die Ehefrau und das ganze Haus (τῆς οἰκίας πάσης), die οἰκονομική genannt wird“.32 Platon erklärt es in den Gesetzen für das Beste, wenn „das ganze Haus“ (ὅλην καὶ πᾶσαν τὴν οἰκίαν) bis hin zum jungen Diener es zur Ehrenfrage macht, dass die Hausmutter ihre „hauswirtschaftlichen Angelegenheiten“ (τῶν οἰκονομικῶν) immer vorbildlich erledigt; an anderer Stelle heißt es bei ihm, wie Söhne geraten, wirke sich auf „das ganze
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Schmitz 2007, 1; vgl. Lacey 1968, 15–21. MacDowell 1989b, 10 f.; Bodei Giglioni 1996, 735 f.; Pomeroy 1997, 21; Cox 1998, 132–137. Die Unterscheidung von sachlicher, sozialer und zeitlicher Sinndimension nach Luhmann 1984, 111–135; die Ergänzung der räumlichen Dimension folgt Vorschlägen der Raumsoziologie; vgl. Löw 2001, 152–230 und Fischer 2010. Brunner [1956] 1980, 105 f. Weiss 2001, 368. Aristot. pol. 3, 1278 b 37 f.
2.2 Das ‚ganze Haus‘: Definitionen und Praktiken
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Haus (πᾶς ὁ οἶκος) des Vaters“ aus.33 Xenophon schildert, wie ein Athener Dank seines Bäckereibetriebs „das ganze Haus (τήν οἰκίαν πᾶσαν) ernährt und im Überfluss lebt“ – gemeint ist sowohl die Familie des Mannes als auch die Sklaven, die in seinem Betrieb arbeiten.34 Brunners Konzept des ganzen Hauses hat trotz seiner problematischen ideologischen Wurzeln in zweifacher Hinsicht besondere Relevanz für diese Studie. Zum einen ist Brunners Begriff des ganzen Hauses und der Ökonomik als männliches Herrschaftswissen über die kluge Lenkung des ‚ganzen Hauses‘ breit rezipiert worden,35 in der althistorischen Forschung besonders sein Verständnis der Ökonomik.36 Brunner sah die Ökonomik nicht nur als ideengeschichtliches Phänomen. Für ihn sind antike Oikonomia-Literatur und frühneuzeitliche ‚Hausväterliteratur‘ letztlich Ausdruck der tatsächlichen wirtschaftlichen Praxis.37 Dem entspricht, dass Brunner seine Begriffe zur Beschreibung der antiken Praxis den antiken Theorien selbst entlehnt. Er greift auf Aristoteles’ Politik I zurück und schreibt, der Ökonomik stehe die „Chrematistik“ gegenüber, in der „die Vorgeschichte der Nationalökonomie beschlossen“ liege, nämlich „Marktgeschichte“.38 Brunner trug damit wesentlich zur Vorstellung bei, dass die Hauswirtschaft als Sphäre der Ökonomik vom Markt, der Sphäre der Chrematistik, getrennt gewesen sei, entweder tatsächlich oder wenigstens im normativen Denken.39 Brunner führte damit das Modell der ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ unter verändertem Namen erfolgreich in die historische Forschung ein, wo es zunächst durchgefallen war, als Ökonomen es vorgetragen hatten.40 Zum anderen ist Brunners Konzept relevant, weil gerade die Kritik daran methodische Herausforderungen identifiziert und mögliche Perspektiven zur Weiterentwicklung eröffnet. Ein Hauptvorwurf lautet, Brunner verwechsle die normativen Ideale aristokratischer Grundbesitzer mit den realen wirtschaftlichen Praktiken. Haushalte partizipierten bereits lange vor 1800 an Märkten und waren keine autark geschlossenen Einheiten.41 Brunners Bild väterlicher Autorität unterschlage die Bedeutung der Hausmutter und blende aus, dass das reale Zusammenleben im Haus von Austauschbeziehungen, Interessenskonflikten und dynamischen Strategien geprägt gewesen 33 34 35 36 37 38 39 40 41
Plat. leg. 7, 807e–808b; Lach. 185a. Xen. mem. 2.7,6. Für einen forschungsgeschichtlichen Überblick s. Weiss 2001; für eine jüngere Würdigung als adäquate Gesellschaftsbeschreibung s. Blickle 2008, 19–38. Brunner [1956] 1980, 104–112; zur althistorischen Rezeption vgl. Kap. 4, Anm. 5. Vgl. Groebner 1995, 71. Brunner [1956] 1980, 105, 125; vgl. 1956. In diesem Sinn übernommen bei Polanyi 1979, 151–165; Bien 1990, 39–46, 55; Koslowski [1974] 1993, 65 f. Weiss 2001, 344–364. Besonders scharf die Kritik bei Wehler 1987, 81–83 unter der programmatischen Überschrift „Die Legende vom ökonomisch autarken ‚Ganzen Haus‘“; vgl. Richarz 1991a; Opitz 1994, 89–91; Groebner 1995, 73–75.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
sei.42 Die Diskussionslage zum ‚ganzen Haus‘ und der Hausväterliteratur in Mittelalter und Früher Neuzeit gleicht demnach der Diskussion zu Ökonomik und Hauswirtschaft im antiken Griechenland. Hier wie dort tendieren die Vertreter der Extrempositionen dazu, die normative Theorie entweder zum Abbild realer Verhältnisse zu erklären oder umgekehrt als reaktionäre Ideologie abzutun. Hier wie dort bleibt dabei die Frage unbeantwortet, warum sich die Hausväterliteratur gerade in jener Zeit großer Beliebtheit erfreute, als Handel und Geldverkehr an Bedeutung gewannen. Eine mögliche Erklärung für dieses Zusammengehen, die einige von Brunners Kritikern mit Bezug auf die Frühe Neuzeit angedeutet haben,43 ist auch für das antike Griechenland interessant: Womöglich wurde das ‚ganze Haus‘ als normativer Rahmen gerade deshalb wichtiger, weil die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse komplexer, dynamischer und damit unüberschaubarer wurden. Im Sinne dieser Überlegungen verstehe ich in dieser Arbeit unter ‚Haus‘ und ‚Haushalt‘ ein mentales Modell, das Handeln und Kommunikation strukurierte, indem es den Akteuren normative und kognitive Orientierung bot. Diese Definition des Haushalts geht eher von vorherrschenden Leitideen statt von fixierten Machtverhältnissen, Wirtschaftsweisen oder demographischen Merkmalen aus. Das folgt der Einsicht zahlreicher ethnologischer Studien, die zum Ergebnis kamen, dass die demographische Zusammensetzung und die strategischen Entscheidungen von Haushalten stark variierten: innerhalb der derselben Region oder Epoche und sogar im Verlauf des Lebenszyklus eines einzigen Haushalts.44 Die Flexibilität und der Aushandlungscharakter der häuslichen Kooperation sollte allerdings nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Seine Verbindlichkeit als Modell sozialer Ordnung erhielt das ‚ganze Haus‘, weil es durch Institutionen abgestützt war, welche die Rollen der Hausgenossen festlegten und die Machtverhältnisse gegen individuelle Abweichungen stabilisierten. Das Zusammengehen einer institutionell verbindlichen Rahmung mit faktisch fluktuierenden Machtverhältnissen, Einkommenschancen und Mitgliederzahlen lässt sich auch für das klassische Griechenland feststellen. Die Größe eines Haushalts konnte enorm variieren. Der kleinste denkbare Haushalt war im rechtlichen Sinn das Vermö42 43 44
Opitz 1994, 91–93; Groebner 1995, 73 f. Vgl. Opitz 1994, 94; Groebner 1995, 75–77. Hammel 1984, 34: „Instead of looking at households as objects, or even as whole processes through time, we might look at them as samples of decisions. Each household has available to it a potential field of members, under some set of cultural rules.“ Vgl. im selben Sammelband Wilk 1984, 2–5 und Carter 1984, 74: „Rules and strategies thus mediate the manner in which […] household functions interact with household morphology. Such household systems, not fixed ideals but rather adaptive frameworks within which action may be experienced as meaningful and purposive, are a critical element of any attempt to understand how domestic groups cope with and endure in the face of the dispersive effects of demographic fluctuation.“ Vgl. Bourdieu 1976, bes. 117–121 zu Heiratsstrategien im ländlichen Frankreich und 1979, 203–227 zum Verhältnis von Praxis, Habitus und reflektierten Regeln am Beispiel der Kabylen Nordafrikas; vgl. Groebner 1995, 73–77 für spätes Mittelalter und frühe Neuzeit.
2.2 Das ‚ganze Haus‘: Definitionen und Praktiken
37
gen eines mündigen freien Mannes.45 In den Augen der normativen Theorie des 4. Jhs. gehörten zu einem ‚vollständigen‘ Haushalt dagegen neben Ehefrau und Kindern auch Sklaven als unfreies Gesinde.46 In der Zahl ihrer unfreien Angehörigen unterschieden sich Haushalte enorm. Einige Haushalte waren zu arm, um sich einen einzigen Sklaven zu leisten, andere hatten einen oder zwei Sklaven, die als Knechte und Mägde dienten, einige wenige hatten dutzende oder sogar hunderte Sklaven, die in Werkstätten und auf Landgütern arbeiteten.47 Je nach wirtschaftlicher Lage und demographischer Situation schloss ein Haushalt darüber hinaus zumindest zeitweise auch freie Personen jenseits der Kernfamilie ein.48 Das konnten die alten Eltern des Hausherrn sein, unverheiratete weibliche Verwandte oder minderjährige Neffen und Nichten oder Waisenkinder, über die man die Vormundschaft ausübte.49 Haushalte waren deshalb selbst innerhalb einer Generation, d. h. unter Führung eines kyrios, nie statisch. Thomas Gallant hat ein besonders differenziertes Modell des Lebenszyklus antiker griechischer Haushalte entwickelt. Es berücksichtigt Lebenserwartung, Heiratsalter und den wechselnden Wohnort von Männern und Frauen.50 Die verfügbare Arbeitskraft und das verfügbare Kapital sowie der notwendige Bedarf hingen davon ab, wie viele Personen im Haushalt lebten und welche Arbeit sie leisten konnten.51 Die Strategien der Hauswirtschaft mussten flexibel sein und diese Schwankungen genauso berücksichtigen wie demographische und klimatische Kontingenzen.52 Gallant hat sein Modell für bäuerliche Subsistenzwirtschaft entwickelt, doch lässt es sich auch auf Haushalte ausweiten, die stärker an der städtischen Verkehrswirtschaft partizipierten. Trotz aller demographischen und wirtschaftlichen Schwankungen war das Haus das soziale System, das regulierte, welche Aufgaben die beteiligten Menschen hatten und wie die vorhandenen Güter eingesetzt wurden. Dieses soziale System war als solches stabil (wenngleich nicht statisch), weil es nicht nur kulturell fixiert war, sondern auch institutionell. Die Oikonomia-Literatur beschrieb den Haushalt übereinstimmend als menschliche Gemeinschaft (κοινωνία), in welcher der Hausvater als bevollmächtigter Herr (κύριος) eine fürsorglich leitende Herrschaft (ἀρχή) über Ehefrau, Kinder und Sklaven ausübte und nach Gutdünken über seinen Besitz entschied (vgl. Kap. 6). Die Theorie entsprach hier den herrschenden Sitten und Gesetzen. Der Fortbestand des Haushalts als patriarchaler Gemeinschaft wurde von der städtischen Gemeinschaft 45 46 47 48 49 50 51 52
MacDowell 1989b, 15–21 für Athen; vgl. Schaps 1979, 48 für Rhodos. Vgl. Kap. 6.1 und 6.3. Vgl. Kap. 12.3. Pomeroy 1997, 21–33; Roy 1999, 2–4; Schmitz 2004b, 205 f. Gallant 1991, 27–30; vgl. Xen. mem. 2.7; Lys. 19.33; Is. 1.12, 28; Hyp. Gegen Timandros, 3 (Ed. Horvath, 2014) als Beispiele für die Aufnahme von Verwandten. Gallant 1991, 17–22. Gallant 1991, 27–30, ähnlich Cox 1998, 155–167. Gallant 1991, 34–169.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
überwacht, und seit dem 6. Jh. zunehmend in Form von Gesetzen schriftlich fixiert, die Geschlechtsvormundschaft, Erbschaft, Adoption und Vormundschaft regelten.53 Wesentlich für die Beziehungen zwischen Haushalten war die städtische Gesetzgebung zu Eigentum und Verträgen.54 Da jede Stadt ihre eigenen Gesetze erließ, stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt von einem Modell des griechischen Haushalts die Rede sein kann. Die Besitz- und Geschäftsfähigkeit von Frauen war in Athen etwa stärker eingeschränkt als in den meisten anderen Teilen der griechischen Welt.55 Diese Unterschiede sollten nicht ignoriert werden und sind vor allem dort wichtig, wo hauswirtschaftliche Strukturen und Strategien eng an bestimmte institutionelle Regeln angelehnt waren. Finleys Urteil, dass die Gemeinsamkeiten im griechischen Recht banal und die Unterschiede wichtiger seien, ist allerdings zweifach zu relativieren.56 Zum einen waren gerade die Kerninstitutionen des Haushalts allgemeingriechisch, zumindest wenn man den umstrittenen Sonderfall Sparta ausnimmt: Privateigentum, monogame Ehe, Realteilung des Erbes, Vorrecht der patrilinearen Verwandtschaft auf das Erbe kinderlos Verstorbener, Mitgift, Adoption, Erbtochterschaft (epikleros), Kaufsklaverei.57 Zum anderen ist die Frage, ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede wichtiger sind, eine Frage der Perspektive. Im Vergleich mit dem europäischen Mittelalter zeigt sich, dass allgemeine Merkmale des griechischen Familienrechts wie Adoption und niedrige Inzestschranken Besonderheiten waren, welche die besondere Entwicklung der griechischen Hauswirtschaft miterklären (dazu Kap. 19.2). Die Einheit von Familie und Herrschaft, von Arbeits- und Wohngemeinschaft ist die eine Gesamtheit, die mit oikos bezeichnet wurde. Die andere Gesamtheit ist der oikos als patrilineare Verwandtschaftsgruppe, die Abfolge von Vätern und Söhnen als Vorstände eines Hauses und der Brüder als Sprösse des väterlichen Hauses.58 Im Wirrwar der persönlichen Beziehungen, bei denen sich affektive Nähe, soziale Verpflichtung und wirtschaftliches Kalkül kaum trennen ließen, bildete das Haus eine materielle und ideelle Klammer. Geschwister vertrauten einander, weil sie im selben Haus
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Zu den städtischen Gesetzen zum Erhalt des Haushalts im klassischen Athen Harrison 1968, 1–162; Lacey 1968, 84–150; MacDowell 1978, 84–103; Humphreys 2018, 35–106; zu ihrer Entstehung in archaischer Zeit Schmitz 2004b, 149–258. Vgl. Harrison 1968, 200–304; MacDowell 1978, 133–154 und Bresson 2016, 225–259. Vgl. Ste. Croix 1970; Finley [1966] 1975, 138 f.; Cantarella 2011, 344. Finley [1966] 1975. Die relative Einheit des griechischen Privat-‚ und Familienrechts ist von der älteren Forschung betont worden, vgl. Thalheim 1895, 7–17 und Weiss 1923, 3–16; die neuere Forschung hat vor Verallgemeinerungen gewarnt und auf Differenzen hingewiesen, betont jedoch weiterhin die relative Einheit, vgl. zusammenfassend Cantarella 2011. MacDowell 1989b, 15–21; Pomeroy 1997, 19; der Vater lebt in seinen Kindern fort: Aischyl. Choeph. 503–509; vgl. Andok. 1.146 f. für die Doppelbedeutung von oikia als ‚Familie‘ und ‚Wohnhaus‘; vgl. [Demosth.] 43.75, Is. 2.13–17, 7.30 zu athenischen Gesetzen, welche die ‚Verwaisung‘ von oikoi durch das Fehlen von Erben verhindern sollen; vgl. Lys. 7.41; [Demosth.] 43.12; 44.15, 43.
2.2 Das ‚ganze Haus‘: Definitionen und Praktiken
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aufgewachsen waren, zugleich bildeten sie dessen Erbengemeinschaft. Die Einheit des oikos wurde symbolisch gewahrt, etwa durch die Kontinuität des Wohnhauses oder durch eine gemeinsame Grablege,59 aber häufig auch rechtlich: Väter und ihre volljährigen Söhne und ebenso Brüder ließen ihr Vermögen häufig (zunächst) ungeteilt, um die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile eines ungeteilten Vermögens wahrzunehmen (vgl. Kap. 11). Heiraten und Adoptionen dienten in gleicher Weise dazu, die getrennten Haushalte zweier Brüder in der nächsten Generation in einem Haushalt wiederzuvereinen. Familien heirateten abwechselnd exogam, um die Allianzen des Hauses auszuweiten, und endogam, um das Haus zusammenzuhalten.60 Eine typische Form der endogamen Heirat war die Cousinenheirat, aber sogar die Verheiratung der Tochter mit dem eigenen Bruder war denkbar.61 In Athen und anderen Städten war das Fortleben des patrilinearen Haushalts auch gesetzlich abgestützt. Eine ‚Erbtochter‘ (epikleros), die Tochter eines Mannes ohne Söhne, konnte im Zweifelsfall gesetzlich dazu gezwungen werden, den nächsten männlichen Verwandten der Patrilinie zu heiraten.62 Das Band, das diesen ‚erweiterten Haushalt‘ zusammenhielt, war nicht bloße Blutsverwandtschaft, sondern praktizierte häusliche Nähe und insofern schloss er sogar Nicht-Verwandte ein.63 Freundschaftsbeziehungen erbten die Söhne vom Vater genauso wie das Vermögen, meint Isokrates64 und setzt an anderer Stelle eine durch gemeinsam verbrachte Jugend aktualisierte Erbfreundschaft mit Bruderliebe gleich.65 Derartige Behauptungen stammen verdächtigt oft aus Gerichtsreden, in denen ein Erbanspruch gegen Blutsverwandte des Verstorbenen verteidigt werden soll. Aber sie stimmen mit der Praxis überein, nicht nur Blutsverwandte, sondern auch Angeheira59 60 61
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Zum Wohnhaus vgl. Kap. 9; zu Familiengrablegen vgl. Kap. 3.2.3. Cox 1998, 3–66 und Osborne 1985, 128–138 für Attika, Wilgaux 2010, 351–357 und Leese 2017 für ganz Griechenland. Vgl. Thompson 1967 zu Cousinenheiraten in Athen; verschiedene Bemerkungen zeigen, dass solche Ehen von jungen Männern als Pflichterfüllung angesehen wurden – die Sicht der Braut wurde erst gar nicht in Erwägung gezogen, vgl. Plat. leg. 11, 926a–b; Is. 1.39; [Demosth.] 43.74; vgl. Humphreys 2018, 107–123 zu endogamen Heiraten in Athen. Schaps 1979, 39–42 sieht den primären Zweck des Epiklerats in Athen in der Sicherstellung der Verheiratung der Tochter, nicht im Erhalt des Haushalts; in diesem Sinn hingegen Osborne 1985, 136; Schaps gesteht allerdings zu, dass der Patrilinie ein besonderes Anrecht auf die Hand der Erbtochter zugesprochen wurde; dazu zuletzt Humphreys 2018, 105–118. Herman 1987, 70; Patterson 1998, 196 f. mit Bezug auf Menander; ebd. 197: „web of familial household connection, rooted in oikia rather than in genos“. So drückt es auch der Sprecher von Hypereides’ Rede Gegen Timandros aus: „Zuneigung beruht nämlich bei den Menschen auf Vertrautheit und der gemeinsam verbrachten Jugend, eher als auf Verwandtschaft.“ (αἱ γ[ὰρ] εὔνοιαι τοῖς ἀνθρώποις εἰσὶ διὰ τὴν συνήθεια[ν] καὶ τὸ συντρόφους αὐτοὺς εἶναι μᾶλλον ἢ διὰ τὰς συγγενείας.) Hyp. Gegen Timandros, 4, Ed. Horvath, 2014, Übers. H. Maehler; das Prinzip drückt sich auch in der Auswahl derer aus, die in Familiengrablegen beerdigt und erinnert werden, vgl. Closterman 2007, 640–645 und 2013, 52. Isokr. 1.2; vgl. zu geerbten Freundschaften Herman 1987, 69–72 mit App. A, 166–175. Isokr. 19.10 f.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
tete, Freunde und Vertraute als οἰκεῖοι zu bezeichnen, als ‚häuslich Vertraute‘.66 Dieser Wortgebrauch ist kein semantisches Relikt, sondern entspricht der Bedeutung des Hauses als sozialem Raum persönlicher Nahbeziehungen. In einem Lysias-Fragment schildert ein Athener, dass er seinen verbannten Gastfreund so „häuslich“ (οἰκείως) in sein Haus aufnahm, „dass Eintretende nicht erkannten, wenn sie es nicht vorher wussten, wem von uns beiden das Haus (οἰκίαν) gehörte“. Wegen dieser „vertrauenswürdigsten häuslichen Vertrautheit“ (οἰκειότητα πιστοτάτην) bestimmte der Verbannte seinen athenischen Gastfreund zum Gerichtsredner, als er um die Erbschaft eines verstorbenen Mitverbannten focht.67 Ideelle und instrumentelle Aspekte der Freundschaft sind hier unentwindbar verflochten. Lysias’ Schilderung zeigt, wie sich mithilfe des erweiterten Haushalts der Einflussbereich des eigenen Hauses über die Grenzen der eigenen Stadt ausdehnen ließ, und gleichzeitig das Wohnhaus der Ort des Geschehens blieb, an dem entsprechend die Nahbeziehungen gepflegt und inszeniert wurden. 2.3 Die Wirtschaft des Hauses Das Haus war nicht nur die primäre soziale Einheit, sondern auch die primäre wirtschaftliche Einheit. Οἰκονομία ist allerdings kein Synonym zu Ökonomie, economy, économie oder economia, sondern bezeichnet die Haushaltsführung im umfassenden Sinne. Das Wort setzt sich aus οἶκος, ‚Haus, Haushalt‘ und νεμεῖν, ‚verwalten, zuweisen, anordnen‘ zusammen.68 Das Adjektiv οἰκονομική (zu ergänzen durch τέχνη oder ἐπιστήμη) bezeichnet dementsprechend die Kunst / das Wissen, das ‚ganze Haus‘ zu verwalten. Ökonomik ist ein umfassendes Herrschaftswissen, keine spezielle Lehre von der Produktion und Distribution knapper Güter.69 Gleichwohl galt das besondere Interesse der Verfasser der literarischen Ökonomiken dem wirtschaftlichen Aspekt dieses Herrschaftswissens, genauer gesagt der produktiven Funktion der planvollen
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67 68 69
Patterson 1998, 196: „oikeioi are a living network of mutually dependent household members.“ Lys. fr 458 Carey (= Suda s. v. Φαῦλον (φ 141 Adler)) spricht von der „Vertrautheit der Geselligkeit“ (συνουσίας οἰκειότητα); Freunde, Verschwägerte und Verwandte werden gleichermaßen als oikeioi bezeichnet, etwa bei Is. 1.2; 2.29, 33; Demosth. 24.195; [Demosth.] 48.1, 3; Plat. ep. 7, 328a. Das Gleiche gilt für nicht-verwandte Vertrauenspersonen im geschäftlichen Bereich, Isokr. 17.3; [Demosth.] 34.21; 45.64. Weil nicht alle oikeioi blutsverwandt waren, spricht Demon von seinem Onkel Demosthenes als οἰκεῖος γένει, Demosth. 32.31; dementsprechend wird das Adjektiv oikeios in Steigerungsform verwendet, um unterschiedliche Grade von Verwandtschaft oder Vertrautheit auszudrücken, exzessiv etwa in Is. 1, wohl zur Verdeckung einer eher schwachen Verwandtschaftsbeziehung, ähnlich Lys. fr. 85 Carey (= Priscian. 18,252 Hertz); vgl. Aristot. eth. Nic. 8, 1162 a 3, 11. Lys. fr. 286 Carey (= Dion. Hal. Is. 6 f.); zum Kontext s. Lys. fr. 287 Carey (= Suda s. v. οὐσία φανερὰ καὶ ἀφανής (ο 964 Adler); Plut. Pelopidas 8.1, mor. 576c; 577a. Singer 1958, 36–42; das erste entsprechende Kompositum ist der Nominativ οἰκονόμος zur Bezeichnung der Hausmutter, zuerst belegt im späten 6. Jh., vgl. Kap. 6.1. S. Kap. 6.3.
2.3 Die Wirtschaft des Hauses
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Leitung der Hausgenossen und der Verwendung des Vermögens. Dieses Wirtschaften im Rahmen der organisatorischen Strukturen des Haushalts bezeichne ich im Folgenden als ‚Hauswirtschaft‘. Dieser Begriff von Hauswirtschaft ist umfassender als der moderne Begriff einer konsumtiven Hauswirtschaft, der sich im 19. Jh. etablierte und im Bereich privaten Wirtschaftens auf die meist weibliche Haushaltsführung beschränkte. Diese Beschränkung war erst denkbar, als komplementär zu Haushalten Unternehmen als primäre Produzenten entstanden und die Erwerbsfunktion (zunächst nur in bürgerlichen Haushalten) aus der Hauswirtschaft ausgegliedert wurde.70 Er entspricht dafür recht genau der Verwendung von oikonomia in klassischer Zeit, als der Ausdruck wahlweise die Herrschaft des Hausvaters, die Haushaltsführung der Hausmutter, das Wirtschaften mit den Mitteln des Hauses für die Ziele des Hauses also auch die Verwaltung wirtschaftlicher Ressourcen im Allgemeinen bezeichnen konnte.71 2.3.1 Hauswirtschaft und peasant economy Einem umfassenden Verständnis von Hauswirtschaft trugen für die antike Wirtschaftsgeschichte zuerst Studien Rechnung, die das ethnologische Modell der peasant economy, dem Wirtschaften bäuerlicher Haushalte in traditionellen Gesellschaften, auf die Antike anwendeten. Die entsprechenden Untersuchungen zeichneten sich, bei vielen Unterschieden im Detail, durch drei Grundannahmen aus. Erstens nahmen diese Studien an, dass die bäuerliche Hauswirtschaft nicht auf Gewinnmaximierung, sondern auf Bedarfsdeckung ziele – wobei ‚Bedarf ‘ allerdings nicht auf Subistenz beschränkt war, sondern den gesellschaftlich notwendigen Konsum einschloss.72 Zweitens betonten sie, dass diese bäuerliche Wirtschaftsweise nicht statisch war, sondern komplex und variabel, weil die bäuerlichen Landwirte angesichts einer Umwelt voller Ungewissheiten sehr flexibel agieren musste, um Inputs zu optimieren und Risiken zu minimieren.73 Drittens postulierten diese Studien eine Einbettung des häuslichen Wirtschaftens in ein System nachbarschaftlicher Kooperation und sozialer Kontrolle. Der bäuerliche Haushalt war kein spezialisierter Betrieb, sondern ein umfassendes Sozialsystem, seine Wirtschaft korrespondierte mit einer bestimmten Weltsicht, in der Moral und Nutzen eng verquickt waren und die hausübergreifende Kooperation zu gleichen Teilen als reziproker Austausch und erbitterte Nullsummen-Konkurrenz wahrgenommen wurde. Die frühen Beiträge bezogen sich überwiegend auf das archaische Griechenland.74 Bald 70 71 72 73 74
Brunner [1956] 1980, 109–111; Medick 1977; Schwab 1979, 273–299; Humphries 2004; Sokoll 2008; Gestrich/Berger 2008; Harris 2014, 187–189. Vgl. Kap. 6.1. Gallant 1991, 17–30. Osborne 1987, 28–46; Gallant 1991, 75–169; Burford 1993, bes. 75–78 und 100–159; vgl. Hanson 1995, 128–178; methodisch wegweisend war Halstead [1987] 2002. Redfield 1956; Walcot 1970; Millett 1984; vgl. Spahn 1980, 533–545; Schmitz 2004b.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
darauf erschienen jedoch auch Studien, die sich dem klassischen Griechenland widmeten und den bäuerlich-agrarischen Charakter dieser Zeit betonten.75 Die Anwendung des Modells der peasant economy hat wichtige Einsichten gebracht und nützliches Vergleichsmaterial erschlossen. In einigen Hinsichten ist es allerdings nur bedingt auf die Verhältnisse des antiken Griechenland übertragbar, weil es anhand bäuerlicher Gemeinschaften an der Peripherie von Territorialstaaten entwickelt wurde. Das Modell berücksichtigt erstens nicht hinreichend die politische Organisationsform der griechischen Städte. Die sich selbst regierenden griechischen Bürger waren, auch wenn sie vom Ackerbau lebten, gerade keine ‚Bauern‘ (peasants) im Sinn der soziologischen Definition als politisch abhängige Landbevölkerung.76 Das Modell berücksichtigt zweitens die Stratifizierung der Gesellschaft nicht hinreichend. Bei einigen seiner Vertreter erfuhr die Vorstellung eines breiten egalitären Stands von Hopliten-Bauern eine regelrechte Apotheose.77 Selbst im demokratischen Athen war der Landbesitz ziemlich ungleich verteilt, was mit ungleichen Chancen sozialer und politischer Partizipation einherging.78 Im Athen des 4. Jhs. stand eine sehr schmale Schicht reicher Bürger, die zu Liturgien verpflichtet waren (4–6 % der männlichen Haushaltsvorstände), und eine kleine Gruppe wohlhabender Bürgerhaushalte einer sehr viel größeren Schicht von Besitzlosen oder Besitzarmen gegenüber.79 Den Bürgern standen die freien Nichtbürger gegenüber, die sich wiederum in Fremde, Metöken und privilegierte Metöken untergliederten. Den Freien standen die Sklaven gegenüber, die, selbst wenn genaue Zahlen nicht ermittelbar sind, aus dem Wirtschaftsleben nicht wegzudenken waren.80 Diese ständisch gegliederten Bevölkerungsgruppen waren wiederum nach Status binnendifferenziert, wobei das Vermögen eine Rolle spielte, v. a. aber auch das 75 76 77 78
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Burford 1977; 1993, bes. 75–119; Osborne 1987; Wood 1988; Hanson 1995. Die klassische Definition bei Wolf 1966, 2–4; Jameson 1977/8, 136 weist darauf hin, dass es für das Wort peasant kein Synonym im Griechischen gibt; Burford 1993, 86–88 spricht deshalb lediglich davon, dass die Mentalität der Griechen „peasantlike“ gewesen sei. Wood 1988, 118–120; Hanson 1995, 1–3, 128–178; in teilweise ähnliche Richtung geht die Vorstellung einer „middling ideology“ bei Morris 1992, 118–155; 1998, 11–68. Foxhall 1992, 156–159; 1997; 2007, 36 f.; van Wees 2006; Aristot. pol. 2, 1274 a 18–21 fasst die drei oberen Solonischen Zensusklassen als die „Angesehenen und Wohlhabenden“ (τῶν γνωριμῶν καὶ τῶν εὐπορων) zusammen und stellt sie den grundbesitzlosen Theten gegenüber; strittig ist, ob die alten Zensusschranken im 4. Jh. noch Bedeutung hatten; Schmitz 1995 nimmt ihre Abschaffung an, Blösel 2014 hat für ihre anhaltende Bedeutung plädiert. Bei 1.200 liturgiepflichtigen Bürgern auf 20–30.000 Bürger, vgl. Davies 1981, 15–28; Hansen 1995, 111–117; diese Zahl würde sich nur wenig erhöhen, wenn man die Bürger ergänzt, die sich den Reiterdienst leisten konnten, wie Spence 1993, 180–184 vorschlägt, gefolgt von Davies 2010a, 138; Bleicken 1995, 133 f. spricht von einer „breite[n] Mittelschicht“ und meint damit zusätzlich zur liturgischen Klasse jene Bürger, deren Vermögen die Zensus-Mindestgrenze von 2.000 Dr. überschritt, die 322 auf Druck des makedonischen Regenten Antipater erlassen wurde; selbst die 9.000 Bürger, die diesen Zensus erfüllten, bildeten nur 9 % der erwachsenen, männlichen Gesamtbevölkerung nach den jüngsten Schätzungen von Descat 2004a, 472–476 und van Wees 2011a, 107–112. Vgl. unten Kap. 12.
2.3 Die Wirtschaft des Hauses
43
öffentliche Ansehen, verstetigt durch Liturgien, Ämter und Ehrungen und, bei Nichtbürgern, durch Privilegien.81 Eine vergleichbare Stratifizierung der Bevölkerung existierte auch in den Städten jenseits von Athen, nur sind hier keine Zahlenangaben möglich.82 Für die Hauswirtschaft ist diese Differenzierung der Gesellschaft nach Stand und Status wichtig, weil die daraus resultierende Statuskonkurrenz ein wesentlicher Antrieb für die Optimierung der Hauswirtschaft war (Kap. 3.2). Auch in Hinsicht auf das Wirtschaften selbst wird das Modell der peasant economy der Komplexität der griechischen Stadtgesellschaft nicht gerecht. Zweifellos lebte der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land und von der Landwirtschaft. Das gilt allerdings für alle vorindustriellen Weltregionen, einschließlich der Toskana und Flandern, den am höchsten urbanisierten Regionen des Spätmittelalters.83 Wichtig für ein Verständnis der Besonderheiten der griechischen Hauswirtschaft ist die qualitative Bedeutung der Tatsache, dass griechische Haushalte fast immer zu autonomen Stadtgemeinden gehörten, deren Siedlungszentren Orte von Spezialisierung und Arbeitsteilung sowie Austausch auf Märkten waren, die über Häfen und Straßen an stadtübergreifende Distributionssysteme angeschlossen waren (vgl. Kap. 3). Ein Verständnis der Hauswirtschaft in klassischer Zeit erfordert daher ein allgemeines Modell, das nicht auf die bäuerliche Landwirtschaft beschränkt ist. 2.3.2 Eine allgemeine Theorie der griechischen Hauswirtschaft Insbesondere Lin Foxhall hat für ein allgemeines Modell der Hauswirtschaft plädiert und wichtige Aspekte der Hauswirtschaft in klassischer Zeit herausgestellt:84 In classical Greece most people most of the time did not conceptually leave their own households to ‚go to work‘, even if they left the physical confines of the house. Fields,
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Die Stratifizierung der attischen Bevölkerung zuletzt dargestellt bei Kamen 2013. Zur Herausbildung der liturgischen Schicht als „sozialer Elite“ vgl. jetzt Rohde 2019, 189–251. Inschriften, anekdotische Erwähnungen und gelegentliche Schilderungen bei Geschichtsschreibern zeigen, dass Kaufsklaverei, Metökenstand und Privilegienwesen (Atelie, Isotelie usw.) allgemeingriechische Phänomene waren; vgl. Busolt 1920, 272–303 zur Rechtsstellung der NichtBürger und Bresson 2016, 288–293 zu den an sie verliehenen Privilegien. Die Ungleichheit von Ansehen und Vermögen hielten die Gelehrten des 4. Jhs. für universal, nur Sparta und Kreta galten als Sonderfälle, vgl. unten Kap. 3.3.1; zu den griechischen Städten als stratifizierte Gesellschaften s. Winterling 1993 und Roubineau 2015, 21–54. In der Toskana lebten schätzungsweise nur 27 % der Bevölkerung in Ortschaften mit mehr als 800 Einwohnern und nur 14,1 % in Florenz selbst; in den kleinen Städten lebten 32,7 % von der Landwirtschaft; die Zahlen bei Herlihy/Klapisch-Zuber 1985, 123, Tabelle 4.6; in der am dichtesten urbanisierten Region außerhalb Italiens, dem Gebiet der Stadt Ghent in Flandern, waren sogar nur 14,1 % Stadtbewohner, ebd. 54. Foxhall 2007, 37; vgl. Harris 2002b und 2014, sowie den Beitrag von Robin Osborne im noch nicht erschienenen New Oxford Handbook for the Economies of the Ancient World.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
workshops, slaves, and buildings, regardless of their physical locations, were all part of the household in conceptual terms. For classical Greece, then, ‚the economy‘ might be defined as the aggregate of economic activities of households and the relationships (both vertical and horizontal) between households.
Subsistenz („subsistence production“) ist laut Foxhall nicht mit häuslicher Produktion („domestic production“) gleichzusetzen. Autarkie bedeute nicht Subsistenz, sondern die Fähigkeit, die Selbstständigkeit gegenüber anderen Haushalten zu wahren. Im Prinzip diente die Hauswirtschaft der Bedarfsdeckung. Doch in der Praxis war der ‚Bedarf ‘ eines Haushalts keine fixierte Größe, sondern abhängig von sozialen und kulturellen Vorgaben.85 Bedarfsorientierung ist nicht identisch mit Subsistenzwirtschaft im Sinne eines nach außen geschlossenen (oder nach Abschließung strebenden) Kreislaufs von Produktion und Konsumtion. Das Spezifische der Hauswirtschaft war nicht, dass sie ihren Bedarf mit selbst produzierten Gebrauchsgütern deckte. Spezifisch war ihre Zwecksetzung: die soziale Reproduktion des ‚ganzen Hauses‘ mit allen Mitteln. Die Hauswirtschaft war eine umfassende Wirtschaft, keine spezialisierte, sie zielte auf allgemeine Nutzenproduktion im Sinne Gary Beckers: von der Sicherung des Grundbedarfs an Nahrung, Kleidung und Unterkunft über die natürliche Reproduktion bis hin zu den sozialen Gütern Macht und Ehre, alles was dem Haus nutzt also. In diesem Sinn war die Konkurrenz der Haushalte keine speziell wirtschaftliche Marktkonkurrenz, sondern diffuse Statuskonkurrenz. Ihr Ziel war es, mit Foxhhall, „to maintain, or better yet, enhance and increase, the position, status, and rank of the household and the individuals within it“.86 Die griechische Hauswirtschaft, so Foxhall, war komplex, aber nicht technologisch oder ökonomisch spezialisiert.87 Zur Reproduktion des Hauses setzte die Hauswirtschaft alle ihr verfügbaren Güter ein: neben ökonomischen Gütern im üblichen Sinne auch Bildung (kulturelles Kapital), Nahbeziehungen (soziales Kapital) und Ansehen (symbolisches Kapital). Diese sozialen Güter lassen sich als ‚Kapital‘ bezeichnen, insofern sie akkumuliert und unter Risiko investiert werden können.88 Verhalten, das im Rahmen einer klassischen ökonomischen Analyse unproduktiver Konsum wäre, entpuppt sich in dieser Beziehung als Form der Kapitalkonvertierung (vgl. Kap. 16). Nur „der letzte Sinn“ unterscheidet die Wirtschaftsweise des Hauses von derjenigen „eines kapitalistischen Betriebes“, schreibt Max Weber, denn auch Haushalte partizi85 86 87 88
Foxhall 2007, 38. Foxhall 2007, 38; vgl. Harris 2014, 195. Foxhall 2007, 38–53; vgl. Harris 2002b und 2014, 187–195. Diese Ausweitung des Kapital-Begriffs ist durch die Studien von Bourdieu popularisiert worden; vgl. Bourdieu [1979] 1987; 1994; systematischer ausgeführt findet sich das Modell allerdings bei Esser 2000c, 209–268; Esser 1999, 44: definiert „Kapital“ als die „Menge aller Ressourcen, die ein Akteur aktuell unter Kontrolle hat und die somit als Mittel einsetzen könnte. Sie sind der Satz der möglichen Alternativen des Handelns.“
2.3 Die Wirtschaft des Hauses
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pierten nach Maßgabe ihres Bedarfs an kommerziellen Aktivitäten.89 Edward Cohens Arbeiten zum Bankwesen in Athen haben Webers Modell bestätigt: Im 4. Jh. integrierten die Geldwechsler und Bankleute Athens ihre Geldgeschäfte in die bestehenden Strukturen ihres Haushalts; ihr Privatvermögen war zugleich ihr Geschäftsvermögen und sie setzten ihre Ehefrauen und Sklaven als Mitarbeiter ein.90 Cohen ging allerdings auch davon aus, dass diese Anpassung der Hauswirtschaft an die kommerzielle Verkehrswirtschaft den Haushalt aushöhlte, etwa dadurch, dass die Entscheidungshoheit des Hausvaters zugunsten der Geschäftsfähigkeit von Frauen und Sklaven abgeschwächt worden sei. Dem hat Edward Harris widersprochen und betont, dass das athenische Recht (wie auch das römische) gerade deshalb nie die juristischen Konzepte von Stellvertretung und dem Unternehmen als juristischer Person entwickeln musste, weil der Hausvater schon qua seiner Entscheidungshoheit im Haus in der Lage war, Kinder, Sklaven oder die Ehefrau als de-facto-Stellvertreter einzusetzen.91 Haushalte partizipierten deshalb entsprechend ihres Vermögens und ihres Rangs in allen Sektoren der geldbasierten Verkehrswirtschaft, gewerblicher Produktion, Lohnarbeit und Handel, ohne ihre originären Organisationsstrukturen aufzugeben.92 Weber ging in seinem Modell des ‚Oikos‘ wie viele andere davon aus, dass Hauswirtschaft nur eine Sache großer Haushalte gewesen sei.93 Diese Annahme erscheint mir unnötig einschränkend. Natürlich hatten große Haushalte bessere Chancen, die Zielvorstellungen der Ökonomik zu verwirklichen (vgl. Kap. 17). Ein armer Mann, der nur über etwas Hausrat und die Arbeitskraft von sich und seiner Ehefrau verfügte, hätte sich wohl lächerlich gemacht, wenn er seinen Hausstand als oikia bezeichnet hätte, ein Wort mit altertümlichem und heroischem Beiklang.94 Aber trotz aller quantitativen Unterschiede wirtschafteten auch die kleinen Bauern und Gewerbetreibenden im Rahmen qualitativ gleicher institutitoneller Strukturen, folgten dem gleichen Leitmodell der häuslichen Bedarfsdeckung durch arbeitsteilige Kooperation der Hausgenossen und wandten dazu die gleichen Strategien an wie die großen Haushalte: nur im kleineren Maßstab und mit geringeren Erfolgschancen (Kap. 14–16).95
89 90 91 92 93 94 95
Weber [1921] 1972, 230–232. Cohen 1991; 1992; 1998; 2002. Harris 2013, 105–112. Harris 2002b, 73–83; 2014, 194–201. Weber [1921] 1972, 230; so auch noch Weiss 2001, 364 f. und Sokoll 2008 für die Frühe Neuzeit. Zum Beiklang vgl. Aristot. poet. 1453 a 17–22, der die Familien der Tragödien-Helden als oikiai bezeichnet und, unter verkehrten Vorzeichen, Aristoph. Ran. 980–991 mit dem Spott über den kleinen Mann, der sich als großer Herr einer oikia aufspielt. Das ist für die europäische Neuzeit längst erkannt und untersucht worden; vgl. Medick 1977 und Humphries 2004. Vgl. die von Sombart 1916, 188–198 genannten Charakteristika des mittelalterlichen Handwerks: 1) Zweck der Bedarfsdeckung („Idee der Nahrung“); 2) Bündelung der Produktionsgüter und Fachkenntnisse, Arbeitskraft und Produktgestaltung, Organisation von Produktion und Absatz in der Person des Meisters; 3) Organisation der Arbeitenden einschließlich Nicht-Verwandten als „Familiengemeinschaft“.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
2.3.3 Die interne Organisation der Hauswirtschaft Ansätze zur ökonomischen Analyse der Strategien und Strukturen der Hauswirtschaft bietet die sogenannte Neue Institutionenökonomik (im Folgenden NIÖ), die in der Alten Geschichte mittlerweile fest etabliert ist.96 Ausgehend von der Theorie begrenzter Rationalität nimmt die NIÖ an, dass effiziente Kooperation Institutionen voraussetzt. Als Institutionen werden dabei soziale Strukturen bezeichnet, deren Erwartbarkeit nicht nur auf individueller Erfahrung beruht, sondern auch auf kollektiver Geltung: Das erwartete Verhalten findet nicht nur regelmäßig statt, sondern auch regelgemäß.97 Ohne solche Regeln kommt die Kooperation nicht zustande oder nur zu hohen Transaktionskosten, denn beide Seiten müssen fürchten, Opfer des nutzenmaximierenden Opportunismus der Gegenseite zu werden, der Informationsvorteile ausnutzt oder seine Verhandlungsmacht missbraucht.98 Erst formale und informelle Regeln, aber auch gemeinsame Codes und Identitäten generieren das für die Kooperation notwendige Vertrauen und können deren Kosten senken.99 Das wirtschaftswissenschaftliche Interesse an institutionell geregelter Kooperation galt auch Organisationen und unter diesen besonders heutigen Wirtschaftsunternehmen.100 Organisationen – verstanden als Zusammenwirken von Menschen als Mitgliedern zu einem spezifischen Zweck „unter dem Dach einer expliziten institutionellen Regel und ‚Verfassung‘“101 – bieten angesichts imperfekter Märkte dank ihrer institutionell garantierten Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit potentiell Effizienzvorteile. 1. Sie generieren interne Wissensbestände und Kommunikationsmuster, welche die Kooperation zuverlässiger und sparsamer machen. Das geteilte Wissen und die geteilte Sprache kommen als interne öffentliche Güter (club goods) allen Mitgliedern zugute.102 2. Sie generieren Vertrauen. Das Verhalten der Akteure wird erwartbar, weil es an Rollen orientiert ist, deren Handlungsvorgaben und -spielräume den anderen Mitgliedern bekannt sind. Die Grundlage des Vertrauens ist sowohl normative Erwartung als auch faktische Erfahrung. Man darf das Vertrauen nicht missbrau96
Zur Programmatik vgl. Morris/Manning 2005, 34–39; Frier/Kehoe 2007; Bresson 2007, 30–36; 2016, 19–27; Sommer 2013, 79–101; Reden 2015, 1–3, mit 91; Ober 2015, xvi–xx, 45–122 und passim; vgl. Silver 1995 für das gesamte Altertum einschließlich Vorderasiens. 97 North 1990, 3–10; Esser 2000b, 1–43; Bresson 2016, 19 f. 98 Williamson 1975, 26–35. 99 North 1990, 28–32, 61; Alchian/Demsetz 1972, 790 f.; Williamson 1975, 35–39; Heap 1989, 165–171. 100 Grundlegend für die Theorie sind Coase 1937; Alchian/Demsetz 1972; Williamson 1975; für einen Forschungsüberblick vgl. Davis 2005. 101 Esser 2000b, 238; zum hier verwendeten soziologischen Modell der ‚Organisation‘ vgl. Esser 2000b, 237–281 und Luhmann 1975; der Begriff umfasst viele Aspekte institutionalisierter Kooperation, die zuvor unter ‚Verband‘ gefasst wurden, vgl. Weber [1921] 1972, 26–30. 102 Williamson 1975, 25 f., 35–39.
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chen und man wird es auch nicht tun. Durch die längerfristige Zusammenarbeit lernen die Kooperationspartner einander kennen und können die persönlichen Eigenschaften des anderen berücksichtigen. Sie erlauben die kollektive Nutzung von Gütern (pooling), unabhängig von Eigentumsverhältnissen. Insbesondere materielle Güter, etwa Werkzeuge oder Behausungen, werden von ihren Eigentümern nicht kontinuierlich benutzt, ihre zeitweilige Benutzung lässt sich jedoch schlecht vermarkten, ohne die eigene Flexibilität einzuschränken. Die interne Zusammenarbeit erlaubt eine gleichmäßigere Benutzung, weil die Koordination spontan und informell möglich ist.103 Sie ermöglichen ‚Teamwork‘, d. h. eine Form der Kooperation, bei der eine individuelle Vergütung nicht möglich wäre, weil die erbrachte Leistung sich nicht isoliert bewerten lässt.104 Sie ermöglichen außerdem spezialisierte Arbeitsteilung für Gebiete, wo die ungleiche Informationsverteilung und die Seltenheit der Transaktionen andernfalls Opportunismus begünstigen würde.105 Eine spezielle Form der Arbeitsteilung, die über Märkte besonders schwierig ist, ist die Arbeitsteilung zwischen der Ausführung von Aufgaben und deren Planung, Koordination und Kontrolle (management).106 Sie erlauben die effizientere Beilegung von Konflikten.107 Konflikte lassen sich ökonomisch als Negativsummenspiele beschreiben, bei denen die Beteiligten entweder über die Verteilung der Kosten einer missglückten Kooperation verhandeln oder auf die Entschädigung für erlittene Verluste zielen. Werden Konflikte nicht gütlich beigelegt, verursachen sie Folgekosten und verschaffen unbeteiligten Konkurrenten indirekte Gewinne (tertio gaudens). Bei einer internen Beilegung von Konflikten können die Akteure auf eine Eskalation verzichten, weil erwartbar ist, dass sich ihre Zurückhaltung langfristig auszahlt.
Bei alldem ist in Erinnerung zu behalten, dass die Theorie der Organisation und die Hypothesen zu ihrem Effizienzpotential zur Erklärung spezifisch moderner Phänomene wie Bürokratien und Unternehmen entwickelt wurden.108 Unternehmen unterscheiden sich von Haushalten darin grundlegend, dass ihr erklärter Zweck die Investition von Geld zur Generierung von Geldgewinnen ist und ihre interne Arbeitsteilung
103 104 105 106
Wilk 1984, 7–10. Alchian/Demsetz 1972, 780–783. Williamson 1975, 26–35. Knight 1921, 264–312; vgl. allerdings die Kritik bei Coase 1937, 398–401; Alchian/Demsetz 1972, 778–781; Williamson 1975, 30. 107 Williamson 1975, 30 spricht von der Möglichkeit von fiat-Entscheidungen; das gilt für antike Haushalte mehr als für moderne Unternehmen, deren Sanktionsmechanismen letztlich dieselben wie jene des Markts sind, Alchian/Demsetz 1972, 777. 108 Die Besonderheiten moderner formaler Organisationen im Gegensatz zu älteren Formen der Organisation herausgearbeitet bei Luhmann 1997, 827–847.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
und rechtliche Struktur dieser spezifischen ‚wirtschaftlichen‘ Zielsetzung folgen.109 Der Haushalt war dagegen eine alle Lebensbereiche regulierende Gemeinschaft, der man nicht nur als ‚Arbeitnehmer‘ angehörte, sondern als ganze soziale Person – die Bedingungen der ‚Mitgliedschaft‘ im Haus waren weitgehend traditional bestimmt und die Arbeitsleistungen wurden nicht durch vertraglich geregelte Geldzahlungen vergolten. Es klingt deshalb nicht nur merkwürdig, einen Haushalt als „firm“ oder „business enterprise“ zu bezeichnen, wie es gelegentlich geschieht,110 sondern ist auch irreführend, weil es die Unterschiede verwischt, die die historische Eigentümlichkeit der Hauswirtschaft im klassischen Griechenland ausmachen. Eine Einschränkung anderer Art betrifft die Vorstellung der effizienzsteigernden Wirkung von Institutionen. Die Wirtschaftshistorikerin Sheilagh Ogilvie hat bereits vor einigen Jahren mit Blick auf die Wirtschaftsgeschichte des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit festgestellt, dass mittlerweile jede wirtschaftliche Institution, von der Leibeigenschaft bis zur Händlergilde zu einer unter den gegebenen Umständen optimalen Lösung von Effizienzproblemen erklärt worden sei.111 Eine solche Richtung hat auch die Wirtschaftsgeschichte des klassischen Griechenland eingeschlagen. Alain Bresson schreibt im ersten Band seiner grundlegenden Arbeit zur griechischen Wirtschaft, eine ihrer Grundzüge sei „the quest for the most profitable institutional solution“ gewesen.112 Josiah Ober hat sein Buch über den Aufstieg und Niedergang des antiken Griechenland auf die These aufgebaut, dass die Institutionen der griechischen Polis ausschlaggebend für ein außerordentliches wirtschaftliches Wachstum waren.113 Ohne die Wichtigkeit von Institutionen generell zu leugnen, ist doch vor ihrer einseitigen Analyse zu warnen. Daraus, dass Institutionen die Produktivität menschlicher Kooperation steigern können, folgt nicht, dass sie dies tatsächlich tun oder dass sie für diesen Zweck geschaffen wurden. Bestimmte Strukturen können sich evolutionär als wirtschaftlich erfolgreich erweisen, ohne dass dies beabsichtigt war.114 Institutionentheoretiker und Historiker haben darauf hingewiesen, dass institutionalisierte Organisationen Effizienzprobleme eigener Art schaffen und außerdem ihre Macht nutzen,
109 Knight 1921, 155; Weber [1921] 1972, 230; Swedberg 2009, 127. 110 So Silver 1995, 50–53 und Manning 2018, 186; Frier/Kehoe 2007, 126–134 behandeln institutionalisierte Kooperationsformen des Wirtschaftens, viele davon im Rahmen des Haushalts, unter der Zwischenüberschrift „Firms“, obwohl sie selbst eingestehen, dass es Firmen als juristische Personen in der griechisch-römischen Antike nicht gab. 111 Ogilvie 2007, 651–656. 112 Bresson 2016, 222; so schon in der französischen Erstausgabe, Bresson 2007, 228 („recherche de la solution institutionnelle la plus profitable“); vgl. Reden 2015, 2, 33 f. 113 Ober 2015, bes. 101–122. 114 Alchian 1950, 218 f.; Caporaso 1989, 148, 155; Heap 1989, 130–140; Simon 1993, 47–52; vgl. die Kritik von Eich 2006, 98–104 an Silver 1995.
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um Rentengewinne zu realisieren.115 Ogilvie plädiert deshalb dafür, Institutionen nicht als das Resultat einer Suche nach optimalen Lösungen zu sehen, sondern als Ergebnis von Konflikten über die Verteilung knapper Ressourcen. Sie fordert, in der Analyse von Institutionen nicht nur die Gewinne zu berücksichtigen, sondern auch die Kosten in Form suboptimaler Verteilungen und der Verhinderung von Innovationen in Richtung gesamtgesellschaftlich produktiverer Lösungen.116 Im Sinne dieser Kritik ist bei der Analyse der wirtschaftlichen Auswirkung von Institutionen deshalb zwischen partikularen Gewinnen aus Umverteilung und systemischem Wachstum des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands zu unterscheiden. Die Ausbreitung der Kaufsklaverei in klassischer Zeit ist dafür ein gutes Beispiel. Für den einzelnen Haushalt stellte der Kauf importierter Sklaven eine effiziente Lösung für das Problem dar, wie sich Arbeitskraft und Fachwissen für marktorientierte Produktion im Haus akkumulieren ließen (vgl. Kap. 12.3). Global betrachtet war der Sklavenhandel allerdings eine gewaltsame Umverteilung von Arbeitskraft auf Kosten der außergriechischen Herkunftsregionen,117 der mit einer Abwertung von abhängiger Arbeit einherging, die sich negativ auf die Entwicklung freier Lohnarbeit auswirkte. In diesem Sinne fragt diese Studie nur nach der Produktivitätssteigerung einzelner Haushalte, nicht nach dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwachs in klassischer Zeit. Zugleich fragt sie nach den Konfliktkonstellationen, die eine systemische Folge der hauswirtschaftlichen Strukturen und Strategien waren.118 Selbst wo Institutionen die Produktivität steigern, ist diese Entwicklung nicht selbsterklärend. Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität ist kein menschlicher Naturtrieb und findet nicht immer und überall statt.119 Das ist ökonomisch erklärbar: Innovationen sind riskant und Effizienz wird häufig nicht durch die Maximierung der Outputs, sondern durch die Minimierung der Inputs erreicht; die erfolgreiche Stabilisierung eines Wirtschaftssystems durch Institutionen macht zudem jede zukünftige Veränderung zunehmend unwahrscheinlich, ein Effekt der als ‚Pfadabhängigkeit‘
115 116 117 118
119
S. etwa Williamson 1975, 119–129 zu möglichen Problemen interner Organisation; vgl. North 1990, 35 zur potentiellen negativen Wirkung des Staats und ebd. 134 zu Umverteilung durch Machtanwendung. Ogilvie 2007, 662–671 zum „conflict view“ auf Institutionen und ebd. 671–679 zu den Kosten und Hemmnissen; vgl. dies. 2014 zur wirtschaftlichen Rolle von Gilden in Europa. Vgl. Lewis 2018b, 282–286. Vgl. Kap. 10.2.4 zu den widerstreitenden Zielvorstellungen der Eheleute; 11.3.3 zum Generationenkonflikt zwischen Vater und Sohn; 12.3.4 zur Unsicherheit privilegierter Sklaven und Freigelassener; 12.3.5 und 14.2.2 zum Interessensgegensatz bei der Lohnarbeit zwischen kleinen und großen Haushalten; 15.2 zum konfliktsteigernden Potential von Diversifizierung und 17 zur Steigerung gesellschaftlicher Ungleichheit durch hauswirtschaftlichen Erfolg. Wie Untersuchungen zu Jägern und Sammlern und Subsistenzbauern zeigen, vgl. Clark/Haswell 1966, 29–94 und Sahlins 1972, 1–99.
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
bezeichnet wird.120 Die Frage, inwiefern die Entwicklung der Hauswirtschaft einem solchen evolutionären Prozess der ‚Pfadabhängigkeit‘ unterlag, steht am Schluss dieser Arbeit (Kap. 19.2). Haushalte waren nicht die einzigen Einheiten institutionalisierter Kooperation im klassischen Griechenland. Städte und Heiligtümer waren organisatorische Einheiten, deren wirtschaftliche Bedeutung in jüngerer Zeit mehr gewürdigt wurde.121 Sie bildeten zwar keine Alternative zum Haushalt, aber sie waren wichtige Größen seiner sozialen Umwelt. Kultvereine, lokale Heiligtümer und städtische Untereinheiten wie Phratrien oder Demen ermöglichten das Zusammenlegen wirtschaftlicher Ressourcen, den gemeinsamen Konsum, gegenseitige Hilfeleistung, ganz allgemein die Vernetzung unter den Teilhabern. Diese Funktionen waren besonders wichtig für die Vorstände kleiner Haushalte, denen privat keine hinreichenden Mittel zur Verfügung standen, um wirtschaftliches oder soziales Kapital zu akkumulieren. Neben diesen kollektiven Gebilden gab es eine Vielzahl bilateraler Kooperationsformen, deren Grundlage nicht die väterliche Hausgewalt oder die gelebte Verwandtschaft war, sondern vertragliche Vereinbarungen: Pacht, Lohnarbeit, Seedarlehen, Geschäftspartnerschaften. Diese Zusammenschlüsse sind (mit Ausnahme der athenischen Seedarlehen) in unserer Überlieferung schlecht dokumentiert. Aber die Beiläufigkeit, mit der sie in Gerichtsreden erwähnt oder in Inschriften vorausgesetzt werden, lässt vermuten, dass sie ein regelmäßiges Phänomen des Wirtschaftslebens waren.122 In struktureller Hinsicht entscheidend ist allerdings der sachlich oder zeitlich begrenzte Charakter dieser Kooperationsformen. Die Lohnarbeit blieb Gelegenheitsarbeit, die Seedarlehen auf einzelne Fahrten beschränkt und die Geschäftspartnerschaften waren außer bei der Steuerpacht bilaterale Beziehungen zwischen zwei vertrauten Partnern. ‚Banken‘ und ‚Werkstätten‘ waren keine institutionell eigenständigen Organisationen, sondern Teil des Haushalts.123 Was fehlt ist die Entwicklung einer Konzeption der Firma als juristischer Person und des Unternehmens als institutionalisierter, arbeitsteiliger Organisation, als integrierende Einheit der einzelnen Kooperationsbeziehungen.124 Diese Einheit blieb das Haus.
120 Clark/Haswell 1966, 86 für afrikanische Subsistenzbauern; Caporaso 1989, 150: „low-level equilibrium trap“; vgl. Runciman 1989, 178 f., 322 f. 121 Zur Ökonomie der Heiligtümer vgl. Davies 2001 und Chankowski 2011; zur wirtschaftlichen Rolle der Städte vgl. Migeotte 2014 und Bresson 2016. 122 Zur verzerrten Quellenlage vgl. Kap. 8.3.1. 123 Thompson 1982, 68–71; Harris 1988; 2002b, 67–99; Cohen 1992, 184 f. 124 Vgl. Kap. 19.2 zur Entstehung der Firma im nachantiken Europa.
2.3 Die Wirtschaft des Hauses
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2.3.4 Die griechische Hauswirtschaft in vergleichender Perspektive Die Untersuchung der Logik der antiken griechischen Hauswirtschaft profitiert von einer vergleichenden Perspektive, die gleichermaßen erhellende Analogien und historische Eigentümlichkeiten als solche zu erkennen gibt. Kultur- und epochenübergreifende Vergleiche haben von jeher eine besondere Rolle für die antike Wirtschaftsgeschichte gespielt.125 Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass wesentliche Beiträge zur frühen Debatte von Forschern wie Karl Bücher oder Max Weber stammten, die vom neuzeitlichen Kapitalismus ausgehend auf die griechisch-römische Antike schauten.126 Gerade in der Kontroverse zwischen Bücher und Meyer war der Vergleich allerdings weniger heuristisches Instrument um Neues zu entdecken, denn rhetorisches Mittel, um bereits gefassten Meinungen Suggestionskraft zu verleihen oder sie umgekehrt der Lächerlichkeit preiszugeben. Büchers ethnographische Vergleiche erweckten das Bild griechischer Primitivität,127 Meyers berüchtigte Gleichsetzung der griechischen Klassik mit der europäischen Frühen Neuzeit das der Modernität.128 Nimmt man den Vergleich dagegen als heuristisches Instrument ernst, kann er in vierfacher Weise zum Verständnis der eigenen Epoche beitragen. Erstens lassen sich anhand fremder Epochen neue Fragen für die eigene Epoche entwickeln.129 Zweitens lassen sich durch den Vergleich neue Hypothesen zur Beantwortung alter Fragen gewinnen.130 Antike Geschichte lässt sich zwar nicht mit nachantiken Quellen schreiben. Aber die Interpretation der häufig schwierigen oder fragmentierten Überlieferung gewinnt an logischer Plausibilität, wenn sie von Analogien zu besser dokumentierten Epochen gestützt wird.131 Methodisch wichtig ist dabei für Althistoriker, die selten über dokumentarische Quellen aus Privatarchiven verfügen, die Möglichkeit, eine für die Quellenkritik hilfreiche Vorstellung davon zu gewinnen, in welchem Verhältnis die überlieferten Texte zu der Wirklichkeit der Praxis stehen, für deren Rekonstruktion wir sie als Quelle benutzen. So zeigt der Vergleich mit dem spätmittelalterlichen Florenz, für das zahlreiche literarische Werke und hunderttausende Privatdokumente überliefert sind, dass ein Mangel an analytischer Durchdringung wirtschaftlichen Handelns kein Beleg für das Fehlen oder die Primitivität derartiger Praktiken ist. Für den quellenkritischen Vergleich sind die Hausbücher relevant, in denen florentinische Patrizier ihren Söhnen die wichtigsten Lehren der Haushaltung, des Geschäftsgeba125 126 127 128 129 130 131
Golden 1992, 310. Vgl. Osterhammel 1996, 277–291 zu den Anfängen dieser Vergleichsperspektive im 19. Jh. und ihrer Fortsetzung in der historischen Soziologie des 20. Jhs. Vgl. etwa Bücher [1901] 1922, 67; spöttisch dagegen gerichtet Beloch 1902, 97. Meyer [1895] 1910, 118 f. Bloch 1928, 20–23; Osterhammel 1996, 291–295 spricht von „Partialvergleiche[n]“ im Unterschied zu den „großen Fragen“ nach der Entstehung der modernen Welt. Bloch 1928, 24–26. Bloch 1928, 17–19; Golden 1992, 311–313.
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rens und des öffentlichen Lebens mitgaben. Diese Hausbücher, deren Lehren denen der antiken Ökonomik sehr ähnlich sind, geben eine Vorstellung davon, welcher Abstand zwischen wirtschaftlicher Praxis und ökonomischer Theorie bestehen konnte und wie wir uns das Verhältnis von innerhäuslicher Kommunikation und öffentlichem Diskurs zu denken haben (vgl. Kap. 4.3.1 und 8.1). Drittens dienen Vergleiche der Überprüfung bestehender Hypothesen in Form eines ‚indirekten Experiments‘ (Émile Durkheim).132 Die Zwangsläufigkeit einer Erklärung ist widerlegt, wenn sich zeigen lässt, dass an anderem Ort und zu anderer Zeit die in der Erklärung angegebenen Bedingungen nicht dieselben Wirkungen hatten.133 In diesem Sinn widerlegt etwa das Beispiel des Florentiner Seidenhändlers Gregorio Dati, der in fast 50 Jahren (1387–1435) mehr als sechzig Ämter (die höchsten eingeschlossen) seiner Heimatstadt bekleidete, weil er sie als onori betrachtete, die für die antike Stadtgesellschaft vorgebrachte Idee, die Erfüllung von Bürgerpflichten und ein spezifisches Adelsethos hätten kommerzielle Aktivitäten unmöglich gemacht.134 Der vierte Zweck des historischen Vergleichs ist es, durch Aussonderung nur vermeintlicher Besonderheiten die tatsächlichen Besonderheiten der eigenen Epoche zu erkennen. Das Hauptziel des Vergleichs ist insofern nicht die Feststellung epochenübergreifender Ähnlichkeit, sondern die Herausstellung historischer Besonderheiten.135 Aus diesen vier Anwendungen erklärt sich, warum es zwar möglich ist, alles mit allem zu vergleichen, es aber hilfreicher ist, sich auf sozial und kulturell ähnliche Gesellschaften zu konzentrieren. Nur bei hinreichend ähnlichen Rahmenbedingungen lassen sich für die Einzelphänomene, die zur Diskussion stehen, Analogien aufstellen oder widerlegen.136 Für die Wirtschaftsgeschichte des antiken Griechenland hat sich der Konsens herausgebildet, dass Vergleiche zu anderen vormodernen Hochkulturen zielführender sind als zur funktional-ausdifferenzierten Weltgesellschaft des industriellen Zeitalters oder zu den segmentären Gesellschaften der Jäger und Sammler.137
132 133 134
135 136 137
Bloch 1928, 26–30; zur Idee des indirekten Experiments s. Durkheim [1895] 1984, 205–217. Runciman 1983, 192 f.; Golden 1992, 314 f. Herlihy 1995, 211; in seinem libro segreto notiert Dati am 3. Mai 1412, dass er sich über die Wahl zum Gonfaloniere di compagnia freue, weil sein Vater das Amt noch nicht bekleidet hatte und er es wegen der Ehre begehre, die es für ihn und seine Nachfahren bedeute; zugleich beschloss Dati, nun nach den höchsten Ämtern zu streben, Ed. C. Gargiolli (1869), S. 71–73; das Vorhaben gelang: 1425 wurde er zum Priore gewählt, 1429 zum Gonfaloniere di Giustizia; damit hatte er jedes der drei ehrenvollsten Ämter der Republik bekleidet; zu Datis politischer Karriere, s. Brucker 1977, 257 und Najemy 2006, 208 f. Bloch 1928, 30–41; Golden 1992, 314 f. Was ‚hinreichend‘ ist, hängt von der Fragestellung ab: je weitreichender die behaupteten Zusammenhänge sind (etwa zwischen einer Institution und ihren gesellschaftlichen Grundlagen), desto weitreichender müssen auch die Parallelen sein. Finley 1975, 115–119; Thompson 1978, 403; Millett 2001, 26 f.; Foxhall 2007, 25.
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In diesem Sinne zieht diese Arbeit besonders Vergleiche zu den Stadtrepubliken Oberitaliens im späten Mittelalter (ca. 1250–1500). Die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Städte zu den antiken griechischen Städten sind seit Max Webers Abhandlung zur „okzidentalen Stadtgemeinde“ Gemeingut der Forschung.138 Rezipiert wurde dieser Text allerdings wie Webers Agrarverhältnisse im Altertum vorwiegend wegen seiner idealtypisierenden Kontrastierung einer ökonomisch ausgerichteten mittelalterlichen Stadt mit einer politisch ausgerichteten antiken Stadt.139 Bei dieser Rezeption ist unter den Tisch gefallen, dass Weber (in Abgrenzung zu Bücher) durchaus eine entwickelte „Stadtwirtschaft“ mit Handel und Gewerbe in der Antike annahm,140 und dass er speziell die nordeuropäische Stadt zum Idealtyp seiner ökonomisch geprägten mittelalterlichen Stadt erklärte. Von den südeuropäischen Städten meinte Weber ausdrücklich, dass sie den antiken Städten näher stünden als den nordeuropäischen, weil sie politisch unabhängig waren, militärisch expandierten und ihre Oberschicht eine ritterliche Lebensführung kultivierte.141 Die neuere Forschung hat diese Sicht bestätigt. Genau wie antike griechische Städte waren die italienischen Städte Bürgergemeinden, die ein umliegendes Territorium beherrschten und im ständigen Krieg mit ihren Nachbarn lagen.142 Die Adelsgeschlechter waren stadtsässig, sie trieben Politik und Handel.143 Umgekehrt glichen die wirtschaftlich erfolgreichen Aufsteiger, der popolo grasso, sich durch Lebensführung und Landerwerb den etablierten Familien an.144 Wie in der Antike wurden Rang und Ehre durch die Zugehörigkeit zum Bürgerverband und die Verleihung städtischer Ämter und Ehrungen vermittelt.145 Für eine 138
Für Würdigungen aus althistorischer Sicht vgl. Heuss 1965; Finley 1977, bes. 325–327; 1987, 107– 125; Deininger 1989; Nippel 1994; 2001; Descat 2000 speziell zur griechischen Stadt, Winterling 2001 zur römischen Republik. 139 Weber [1921] 1999, 212, 251–288; vgl. die bekannte Formulierung ebd. 275: „Die politische Situation des mittelalterlichen Stadtbürgers wies ihn auf den Weg, ein homo oeconomicus zu sein, während in der Antike sich die Polis während der Zeit ihrer Blüte ihren Charakter als des militärtechnisch höchststehenden Wehrverbandes bewahrte: Der antike Bürger war homo politicus.“ Vgl. ebd. 257; vgl. Weber [1909] 2006, 693–698, 714–716; zum Vergleich von antiker und mittelalterlicher Stadt bei Weber, s. Capogrossi Colognesi 1995 und Nippel 2002 sowie die oben in Anm. 137 zitierte Literatur. Der wichtigste Versuch, Webers Perspektive in empirischen Studien aufzugreifen, sind die Beiträge in Molho (u. a.) 1991. 140 Knapp bereits im Vortrag zu den „sozialen Gründen des Untergangs der antiken Kultur“, Weber [Vortrag 1896] 1988, 291; ausführlicher dann in den Agrarverhältnissen, Weber [1909] 2006, 323– 335. 141 Weber [1921] 1999, 253; vgl. ebd. 107, 132, 134, 148, 162, 191, 222; vgl. Weber [1909] 2006, 163–166, 191 f., 199–212, 215, 234, 253, 288, 692 f., 699–702; dazu Capogrossi Colognesi 1995, 34 f. und Breuer 1984. 142 Breuer 1984, 69–72; Jones 1997, 360–370; Waley/Dean 2010, 67–76. 143 Martines 1979, 45–49; Meier 1994, 54; Jones 1997, 40, 116; Waley/Dean 2010, 129–155. 144 Für Florenz s. Becker 1960, 421–424; 1967, 12 f.; Martines 1963, 30 f.; für Siena: Hicks 1960; Pinto 1990; für Lucca: Blomquist 1971; 1980; 1982; für Genua: Coles 1957, bes. 17 f., 38; Epstein 1996, 21 f. und passim; zu Venedig s. Lane 1973, 90 f., 100, 306 f., 425. 145 Die Abschließung der Vollbürgerschaft zum Adelsstand vollzog sich in Venedig bereits 1297 bis 1323 mit der Eintragung der regimentsfähigen Familien in das „goldene Buch“, vgl. Lane 1973,
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2 Vorüberlegungen zu Theorie und Methode
Studie zur Hauswirtschaft ist wichtig, dass das ‚ganze Haus ‘ (tutta la casa) selbst im ökonomisch weit entwickelten Florenz die zentrale soziale Einheit blieb, auch in der wirtschaftlichen Organisation.146 Der Vergleich der antiken Städte mit den italienischen Stadtrepubliken wurde bislang eher empfohlen als durchgeführt. Beiläufig diente er meist dazu, durch Gleichstellung oder Kontrastierung mit den ‚protokapitalischen‘ Verhältnissen des Mittelalters den Entwicklungsstand der antiken Wirtschaft zu bewerten.147 Zwei neue Studien ziehen den Vergleich zwar systematisch, aber behalten die evaluative Perspektive bei. Dabei gewinnen sie bemerkenswerterweise geradezu konträre Erkenntnisse. Peter Spahn kommt in seinem Vergleich Athens im 5. und 4. Jh. mit dem Florenz des 14. und 15. Jhs. zum Ergebnis, dass die „Stadt Boccaccios“ „der modernen Wirtschaft zweifellos nicht nur zeitlich näher [steht] als die Heimatstadt von Aristophanes“.148 Für Geoffrey Kron dagegen entsprachen die geschätzten Handelsvolumina von Athen und Rhodos in klassischer resp. hellenistischer Zeit denjenigen Venedigs im 15. Jh. und der Niederlande Mitte des 17. Jhs. und übertrafen dasjenige Großbritanniens Ende des 18. Jhs. sogar.149 Unabhängig von der Richtigkeit dieser Bewertung (und ihrer Datengrundlage) stellt sich die Frage, welchen heuristischen Nutzen derartige Vergleiche haben. Das Ergebnis, dass Florenz der modernen Wirtschaft ‚näher‘ stand als Athen oder dass Athen denselben Handelsumsatz wie Venedig hatte, hilft wenig dabei, die Eigentümlichkeiten der wirtschaftlichen Organisation im antiken Griechenland besser zu verstehen und überzeugender zu erklären. In dieser Arbeit dient der Vergleich mit den italienischen Verhältnissen allein als heuristisches Instrument im oben erläuterten Sinn. Dabei ist kein systematischer Vergleich angestrebt. Stattdessen werden in mehreren Kapiteln Vergleiche gezogen, um neue Hypothesen aufzustellen und bestehende zu überprüfen. Im Schlussteil
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111–114; in Florenz fand eine solche Formalisierung erst 1494 statt, bereits zuvor beruhte Ansehen und Regimentsfähigkeit allerdings darauf, zu welchen Ämtern der Vater oder Großvater gewählt worden war, vgl. Brucker 1969, 91–94; Kent 1975; Cooper 1985; zur Entstehung eines ‚Amtsadels‘ in Siena s. Hicks 1960. Im Geschäftsleben verließ man sich auf die eigene casa und ihre Treu- und Nahbeziehungen, dazu Brucker [1962] 1969, 90–93 und Kent 1977; vgl. Goldthwaite 2009, 106 f. und 590–594 und Padgett/McLean 2011 zur ökonomischen Bedeutung von Nahbeziehungen; in Leon Battista Albertis Della Famiglia (1434) heißt es im zweiten Buch: „Contribuischi tutta la casa come a comperare l’accrescimento della famiglia“, Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972), S. 130. Finley hat im Anschluss an Weber diesen Vergleich empfohlen, aber selbst nie ausgeführt, Finley 1987, 130; wo er die mittelalterlichen Städte doch verwendete, diente das der plakativen Kontrastierung, Finley [1973] 1993, 162; die jüngste Empfehlung ohne Anwendung stammt von Humphreys 2018, 184, Anm. 31; wo er gezogen wurde, diente der Vergleich meist dazu, etablierte Positionen rhetorisch zu stärken; Thompson 1978, 403; 1982, 59–83, betont, dass die athenische Wirtschaft nicht hinter derjenigen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zurückstand; Mickwitz 1939, 10–17 betont hingegen den Kontrast. Spahn 2016, 267. Kron 2015, 357–359; ähnlich bereits Thompson 1978, 403, 414–416.
2.3 Die Wirtschaft des Hauses
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soll mithilfe des Vergleichs genauer bestimmt werden, was das historisch Besondere der antiken griechischen Hauswirtschaft war (Kap. 19.2). Denn bei allen behaupteten Analogien kann nicht geleugnet werden, dass es wirtschaftsgeschichtlich wichtige Unterschiede zwischen ‚Athen‘ und ‚Florenz‘ gab: neue Rechtsformen von Handelsgesellschaften, die Bedeutung von Gilden und Zünften, der massenhafte Einsatz von Lohnarbeit in Handwerk und Landwirtschaft, doppelte Buchführung. Das Fehlen derartiger Einrichtungen im antiken Griechenland ist gerade deshalb aufschlussreich, weil es sich nicht einfach mit der Primitivität der antiken Wirtschaft erklären lässt. Ihr Fehlen, so meine These, war vielmehr eine Folge davon, dass sich die Hauswirtschaft im klassischen Griechenland erfolgreich an die Bedingungen einer geldbasierten Verkehrswirtschaft anpassen konnte.
3 Die Umwelt des Hauses 3.1 Die Stadt und das Meer Die Hauptthese dieser Arbeit lautet, dass die Rationalisierung von Theorie und Praxis der Hauswirtschaft eine evolutionäre Anpassung an die Umweltbedingungen der klassischen Zeit war. Deshalb soll im Folgenden das Modell der naturräumlichen und gesellschaftlichen Umwelt der griechischen Haushalte umrissen werden, auf dem die in dieser Arbeit entwickelten Thesen beruhen. Das prägende Merkmal der griechischen Kulturwelt war, wie häufig betont worden ist, die Verbindung von räumlicher Fragmentierung und politischem Polyzentrismus mit hoher Konnektivität, d. h. günstigen Bedingungen für Interaktion und Austausch. Die griechischen Hauptsiedlungsgebiete auf dem Festland, auf den Ägäis-Inseln und an der thrakischen und kleinasiatischen Küste bestehen aus hunderten Mikroregionen, zergliedert durch steile Gebirgszüge und tief eingeschnittene Meeresbuchten. Bodenfruchtbarkeit, Bodenschätze und Niederschlagsmengen variieren innerhalb dieser Gebiete enorm. Variation herrschte nicht nur räumlich vor, sondern auch zeitlich. Die Ernteerträge schwankten von Jahr zu Jahr sehr stark, wiederum regional verschieden. Überfluss und Mangel wechselten sich ständig ab.1 Diese Bedingungen machten es zugleich notwendig und möglich, lokalen Mangel durch Handel auszugleichen und dabei aus lokalen Überschüssen sogar Gewinn zu schlagen.2 Besondere Erwerbschancen aus der Partizipation an Verkehr und Handel ergaben sich für die Bewohner Griechenlands und der Ägäis auch deshalb, weil sie im Zentrum einer zunehmend vernetzten Mittelmeerwelt lagen, in einer Transitzone für Güter, Ideen und Dienstleistungen. Diese Vernetzung und die mit ihr einhergehende wirtschaftliche Prosperität der Küstenstädte waren keine naturgegebene Entwicklung, sondern eine Folge der peer politiy interaction der Städte, deren Grundlage eine ge-
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Ehrenberg 1957, 3–6; Gehrke 1986, 14–18; Horden/Purcell 2000, 54–172, 345–351; Sallares 2007; Bintliff 2012, 11–25; Ober 2015, 21–44; zu Niederschlagsmengen und Bodenbeschaffenheit vgl. auch unten Anm. 13. Morris 2004, 732 f.; Möller 2007, 363; vgl. Weber [1909] 2006, 23 f., 335, 361 f., 533 und 706 für die klassische Formulierung, die typische antike Stadt sei „Küstenstadt“ gewesen, im Unterschied zur „Binnenstadt“ des Mittelalters.
3.1 Die Stadt und das Meer
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meinsame Kultur bei gleichzeitiger politischer Fragmentierung bildete. Die daraus resultierende Konkurrenz sorgte für einen regen Austausch nicht nur von Waren, sondern auch von Menschen und Ideen, wie die Biographien der Gelehrten exemplarisch zeigen, die im 4. Jh. über Ökonomik schrieben (vgl. Kap. 4.1.2). Die peer polity interaction förderte allerdings nicht nur das Wachstum von Wohlstand und Wissen, sondern führte die Städte auch in gewaltsame Konflikte um die Verteilung von Ressourcen und Gewinnen.3 Der graduelle Prozess der Vernetzung erhielt im 5. Jh. einen politisch bedingten Anschub durch die Entstehung des athenischen Seereichs in der Folge des zweiten Perserkriegs. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Reichsbildung auf Athen und seine Bündnerstädte wurden in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. deutlich wahrgenommen. Die anonyme Verfassung der Athener sieht in der Abhängigkeit von Ein- und Ausfuhr den Ursprung des Seereichs: Weil aufgrund der regionalen Schwankungen der Ernteerträge alle Städte auf Ein- und Ausfuhr angewiesen sind, herrsche diejenige Stadt, die den Seehandel kontrolliere.4 Etwa zur selben Zeit beschreibt Thukydides die Entstehung von Seereichen und das Aufblühen der Städte als Folge des „Geldüberschusses“ (περιουσία χρημάτων), der wiederum erst möglich gewesen sei, als Seereiche Sicherheit für Küstenstädte und Seehandel boten.5 Die sich herausbildende regionale Spezialisierung (insbesondere bei Getreideimporten) wurde ebenfalls literarisch kommentiert.6 Wirtschaftliches Wahrzeichen der griechischen Stadt wurde in klassischer Zeit die ἀγορά im Sinne von ‚Marktplatz‘.7 Platon und Aristoteles erdachten Idealstädte, in denen die Bürger sich von kommerziellen Tätigkeiten fernhielten. Doch selbst diese Städte waren für sie undenkbar ohne die Einfuhr und Ausfuhr von Waren und deren
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Zum Begriff der peer polity interaction s. Snodgrass 1986; vgl. Ober 2015, 45–70, der allerdings den kooperativen Charakter der Interaktion überbetont; vgl. Mokyr 2017, 165–224 dazu, wie im frühneuzeitlichen Europa Konnektivität und Konkurrenz die Weiterentwicklung und Verbreitung ‚nützlichen Wissens‘ förderten. [Xen.] Ath. pol. 2.3–12; vgl. Thuk. 1.8,3 für einen ähnlichen Gedanken; vgl. Xen. hipp. 47: in jeder griechischen Stadt finden sich auswärtige Händler, weil alle Städte auf Ein- und Ausfuhr angewiesen sind. Thuk. 1.2–18; dazu Gomme 1945, 9, 114–133; Diesner 1956; Kallet-Marx 1993, 22–36; Soverini 1998, 76–78; Descat 2010, 404 f. Isokr. 7.74; für weitere Belege s. Kap. 6.2.2. Laut Hdt. 1.153 war es aus persischer Sicht Kennzeichen der Griechen, dass sie agorai haben, auf denen sie kaufen und verkaufen und Verträge abschließen – um sich zu betrügen; es handelt sich offenbar um einen Topos; vgl. Diog. Laert. 1.105 und zu beiden Stellen Bresson 2016, 234 f.; die Bedeutung des Marktes zeigt sich auch daran, dass Herodot genau wie Xenophon die Tageszeit nach dem Marktgeschehen benennt; vgl. z. B. Hdt. 3.104,2 und 7.223,1; Herodot, Thukydides und Xenophon verwenden agora ebenso oft als Bezeichnung einer Platzanlage wie eines Marktgeschehens; Knorringa 1926, 20 weist darauf hin, dass für Herodot die Griechen (und nicht die Phönizier!) die Händler schlechthin sind; vgl. Xen. Lak. pol. 7: nur die Spartaner bleiben dem Erwerbsgeschäft (χρηματισμός) fern; in allen anderen Städten lebten die Bürger neben Landwirtschaft von Handwerk, Handel und Reederei; ebenso Plat. leg. 8, 842c.
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3 Die Umwelt des Hauses
Distribution durch geldbasierte Geschäfte auf dem Markt.8 Der Fernhandel mit Luxuswaren existierte seit archaischer Zeit. Die Besonderheit der klassischen Zeit war eine Verdichtung des regionalen Handels und des regelmäßigen Handels auch mit sperriger Fracht (Baumaterialien) und mit Handwerksartikeln und Lebensmitteln für breitere Bevölkerungsschichten (Keramik, Wein).9 Die Zunahme von Schiffswracks und die literarisch überlieferten Zahlen zu Frachtkapazitäten und Hafensteuererträgen bezeugen den außerordentlichen Umfang des Handels.10 Die Monetarisierung alltäglicher Transaktionen zeigt sich in der Verbreitung niedriger Nominale aus Kupfer oder Bronze.11 Archäologische Oberflächenprospektionen (surveys), deren Ergebnisse sich vorsichtig quantifizieren lassen, zeigen, dass das 5. und 4. Jh. in Griechenland eine Zeit ausgeprägten Bevölkerungswachstums und landwirtschaftlicher Intensivierung war. Das Niveau des 4. Jhs. wurde vielerorts erst im 19. Jh. oder nie wieder erreicht.12 Seehandel und Gewerbe waren nicht für jede Stadt von gleicher Bedeutung. Hinweise für wirtschaftliche Dynamik und Intensivierung finden sich besonders für die Küstenstädte der Ägäis sowie entlang der Seerouten, die dieses Gebiet mit den anderen Regionen des Mittelmeers verbanden. Diese Gebiete verfügten nicht über das
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Vgl. Kap. 6.4. Für eine Darstellung und Beurteilung des Befunds s. Eich 2006, 120–173; vgl. Davies 2007, 359–361 und Möller 2007, 383 f.; der regionale Handel mit Baumaterial und Dienstleistungen ist durch die Bauabrechnungen der Heiligtümer in Athen, Delphi, Delos und Epidauros gut belegt; zu Athen s. Hopper [1979] 1982, 165–172; zu Epidauros s. Burford 1969, 147–206 und Prignitz 2014, 172 f.; zu den Handwerkern bes. Feyel 2006; zum Handel von ‚Massenwaren‘ s. Kron 2015, 364–372, der allerdings zu sehr bemüht ist, den Massenkonsum einer laut ihm breiten Mittelschicht nachzuweisen; demgegenüber ist an das Verhältnis von Lohn- und Preisniveau zu erinnern: noch Ende des 4. Jhs. kostete ein einziger Dachziegel in Attika mehr als 1 Dr., d. h. den halben Tageslohn eines ausgebildeten Arbeiters, vgl. Pritchett/Pippin 1956, 283; importierter Wein selbst ‚mittlerer‘ Qualität war noch Luxus; die breite Masse trank den lokalen Wein, vgl. Hopper [1979] 1982, 110–113 und Bresson 2016, 122–127. Zur Statistik datierter Schiffswracks s. Parker 1992, bes. die Diagramme Nr. 3 und 4; Horden/ Purcell 2000, 371 f. nehmen aufgrund dieser Zahlen an, dass das antike Handelsaufkommen im Mittelmeer erst im 19. Jh. übertroffen wurde; vgl. Kron 2015, 357–362 mit Schätzungen zum ägäischen Handelsvolumen im Vergleich zum Umsatz von Handelsmetropolen der Frühen Neuzeit; ähnlich bereits Thompson 1982, 76–83; diese Schätzungen sind suggestiv, beruhen aber auf unsicherer Vorannahmen; so gehen Kron und Thompson beide davon aus, dass die höchsten literarisch überlieferten Tonnage-Angaben regelmäßig erreicht wurden; die Auswertung der besser erhaltenen Schiffswracks zeigt dagegen, dass kleinere Schiffe mit gemischter Fracht die Regel waren; vgl. Dietler 2007, 267–269 und Carlson 2013. Schaps 1997; vgl. Reger 2007, 470 zur Monetarisierung des lokalen Kleinhandels; vgl. Kim 2001, 10–13 und 2002, 46–51 zur Einführung kleiner Nominale bereits Ende des 6. Jhs. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der archäologischen Surveys bei Bintliff 2012, 268–276; zu Böotien s. Bintliff/Snodgrass 1985, 139–144; zur südlichen Argolis s. Runnels/Andel 1987 sowie Ault 1994 und 2007, 264 f.; zu Attika s. Lohmann 1992 und 1995; zu Melos und Keos als Teil eines größeren Trends s. Osborne 1987, 57–62 und Mendoni 1994; das Muster wiederholt sich nicht überall: In Lakonien fällt die dichteste Besiedlungsphase in die Spätarchaik, s. Cavanagh (u. a.) 2002, 184 f., und das Hinterland von Milet prosperierte mehr in der Spätarchaik und im Frühhellenismus, s. Lohmann 2004, 345–349.
3.1 Die Stadt und das Meer
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ausgedehnte fruchtbare Acker- und Weideland Böotiens und Thessaliens oder der Peloponnes (ausgenommen Arkadien), und die Niederschläge waren hier geringer als etwa in Nordwestgriechenland.13 Dafür waren die Küstenstädte besser an die Handelsrouten angebunden, die es ihnen erlaubten, Menschen und Waren ein- und auszuführen.14 Diese Gegenüberstellung vereinfacht den realen Befund. Die kleinasiatischen Städte verfügten gleichermaßen über gute Seeanbindung und fruchtbare Ebenen im Hinterland und waren dementsprechend reich. Dafür litten sie im 5. und 4. Jh. unter den Tributforderungen und Kriegsverwüstungen, die Athener, Spartaner und Perser im Wechsel an sie herantrugen.15 Das Vormachtstreben der großen Städte verteilte Reichtum um und vernichtete ihn mancherorts, aber es trug direkt oder indirekt auch zur Intensivierung von Handel und Geldverkehr bei. Bereits Thukydides’ Darstellung nimmt eine wechselseitige Bedingtheit politischen Hegemonialstrebens und Geldreichtums an (s. o.). Das athenische Seereich schuf eine militärisch begründete Nachfrage nach Getreide und Schiffsbaumaterialien. Der Autor der Verfassung der Athener bemerkt diesen Effekt und ergänzt polemisch, dass das Seereich den Athenern nicht nur als Gemeinwesen Reichtum beschere, sondern auch Privatpersonen neue Einnahme- und Besitzquellen erschloss.16 Das Seereich veränderte auch die Wirtschaft der Bündnerstädte. Die Zahlung der Tribute und die Besoldung der Soldaten und Schiffsmannschaften beschleunigten den Geldumlauf. Athen erzwang die Vereinheitlichung von Münzen und Maßen, zugleich bot es als Seemacht einen besseren Schutz des Seehandels – von dem es selbst besonders profitierte.17 Seeleute und Soldaten rechneten an allen Küsten der griechischen
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Bintliff 2012, 11–17; Ober 2015, 24 f.; Bresson 2016, 31–41, 135–138; die Griechen selbst kommentierten diese regionalen Unterschiede; Thuk. 1.1,2 kontrastiert die Bodenfruchtbarkeit Thessaliens, Böotiens und der Peloponnes (mit Ausnahme Arkadiens) mit derjenigen Attikas und bezeichnet die Peloponnesier als αὐτουργοί, denen das Geld für lange Seekriege fehle, 1.141,3–5, 142,1–7; bereits Hom. Od. 4.601–608 benennt die ökologischen Unterschiede zwischen der Peloponnes und den Inseln. Vgl. die Typisierungen städtischer Wirtschaftsformen bei Gehrke 1986, 96–176 und Jameson 1992, 135–146 und von Hafenstädten bei Rostovtzeff [1941] 1955, 1016 f. Zur Geographie der kleinasiatischen Westküste vgl. Hoepfner 2011, 9–11; das Ausmaß der Belastungen durch das Seereich ist schwer festzustellen. Cook 1962, 123 und Meiggs 1972, 269–271 schätzen sie als schwerwiegend ein; Osborne 1999 weist hingegen auf die methodischen Schwächen von Cooks Argumentation hin und bezweifelt, dass die ionischen Städte außerordentlich unter Athen litten; Studien zu einzelnen ionischen Städten suggerieren, dass sie in archaischer und hellenistischer Zeit mehr prosperierten als in klassischer Zeit, aber die Quellenlage erlaubt nur impressionistische Einschätzungen; vgl. Roebuck 1986, 82–85 und Sarikakis 1986, 121 f. zu Chios; Shipley 1987, 81–90, 202–224 zu Samos; Lohmann 2004, 345–349 zu Milet und Strang 2007, 49–88 zu Teos. [Xen.] Ath. pol. 1.17–20; zum auswärtigen Besitz vgl. Gauthier 1973. Meiggs 1972, 255–272; Humphreys 1978b, 173 f.; Schmitz 1988, 116–125; Eich 2006, 150–173; Vgl. Zenzen 2013, 311–317 zum Umfang attischer Keramikfunde außerhalb Athens als Indikator für das athenische Exportvolumen im 5. und 4. Jh. und Rostovtzeff [1941] 1955, 1016–1018 für die Ver-
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3 Die Umwelt des Hauses
Welt damit, dass sie ihren Bedarf auf Märkten decken und ihre Beute zu Geld machen könnten. Einen ähnlichen Effekt auf die Steigerung des Münzumlaufs hatte auch die Auszahlung von Tagegeldern an Magistrate und Bürger, die an Volksversammlungen teilnahmen oder als Richter dienten.18 Armin Eich hat daraufhin gewiesen, dass diese politisch-militärisch bedingte Entstehung regionaler Verkehrsräume nicht auf das athenische Seereich beschränkt war, sondern sich in kleinerem Maßstab in anderen Teilen der griechischen Welt wiederholte. Das Anwachsen des Verkehrs, der allen Beteiligten nutzte, ging jedoch immer mit Umverteilung einher, bei der sich erfolgreichere Städte die Ressourcen der weniger erfolgreichen Nachbarn einverleibten.19 Trotz der Vormachtstellung einiger Städte blieb Griechenland ein Mosaik unzähliger Gemeinwesen mit jeweils eigenen Sitten und Gesetzen. Jede Stadt war ein Mikrokosmos, in der zwar nicht jeder jeden kannte, aber jede wichtige Interaktion in Rangverhältnisse und Nahbeziehungen eingebettet war, die ständig performativ neu austariert wurden.20 Es bestand daher ein krasser Gegensatz zwischen dem weiten Raum der Erwerbsmöglichkeiten, den das Mittelmeer wagemutigen Männern und einigen wagemutigen Frauen bot, und dem engen Raum der sozialen Kontrolle innerhalb der eigenen Stadt und Nachbarschaft. Trotz der Intensivierung von Handel und Verkehr war der Mittelmeerraum keine global integrierte Marktwirtschaft.21 Eine allgemeine Erfahrung von Ungewissheit prägte Handeln und Denken. Zu klimatisch-natürlichen Ereignissen wie Missernten kamen soziale und politische Ereignisse wie Kriege, Seuchen, Erbfälle oder Verbannungen hinzu. Sie brachten dem einen Verlust, dem anderen hingegen Gewinn.22
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schiebung des Handels Richtung Osten nach dem Abtreten von Athen als Vormacht; umstritten ist, wie geplant diese wirtschaftlichen Folgen waren; Finley 1978, 117–121 bestreitet es, Kallet 2013 sieht die Sicherung von Handelsvorteilen als Hauptmotiv. Eich 2006, 469–486; vgl. Casson 1994, 70 f. zur Marktversorgung von Ruderern; Shipton 2000, 7–14 zur politisch bedingten Monetarisierung Athens; Ashton 2001, 96–99 zu den militärischen Anlässen für die rhodische Münzprägung; Xen. Kyr. 4.5,41 f. zählt es zu den Aufgaben des Feldherrn, sicherzustellen, dass die Soldaten Münzgeld zum Einkaufen haben und auf dem Markt Ordnung herrscht. Eich 2006, 120–173; vgl. Gschnitzer 1958 und van Wees 2003 zu abhängigen Orten griechischer Städte sowie Bresson 1993, 201–214 zu abhängigen Emporien; an die gewaltsame Umverteilung zugunsten Athens im attischen Seereich hat zuletzt Ruffing 2016a erinnert. Veyne 1976, 119; vgl. Finley [1983] 1991, 107 der von einer face-to-face-Gesellschaft spricht, was allerdings zu bäuerlichen Dorfgesellschaften besser passt als zu griechischen Städten, für die Aristoteles die persönliche Bekanntschaft selbst unter Vollbürgern gerade nicht mehr für gegeben hielt; vgl. Lewis 1996, 9–23; Winterling 1991; 1995; Hansen 2006, 89 f. Finley [1973] 1993, 14 f.; Eich 2006, 183–197 hat mit den Ergebnissen von Reger [1997] 2002 auf die starken Preisschwankungen hingewiesen; es ist richtig, dass die Preise durch Angebot und Nachfrage gebildet wurden, wie Harris/Lewis 2015, 1–3 betonen; das ist jedoch kein Maßstab dafür, wie vollkommen der entsprechende Markt funktionierte. Reden 2007, 405 f.; vgl. Davies 1981, 73–87.
3.1 Die Stadt und das Meer
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Nicht nur im Handel schwankten Gewinne und Verluste stark.23 Die handwerkliche Produktion unterlag ebenfalls Schwankungen. Kriegsvorbereitungen oder große Bauprojekte schufen an einzelnen Orten zeitlich begrenzte Verdienstmöglichkeiten.24 Die Ungewissheit der näheren Zukunft spiegelt sich im Bild des Schicksals als wechselhafter Göttin Tyche und des Reichtums als blinder Gott Plutos. Besonders die Unsicherheit materiellen Wohlstands war ein Gemeinplatz.25 In einer Komödie des Antiphanes, die um 350 in Athen aufgeführt wurde, klagt ein Charakter:26 Jeder Mensch, der denkt, dass irgendein Besitz im Leben sicher zu verbuchen (ἀσφαλές τι κτῆμ᾽ […] λογίζεται) sei, wird meist enttäuscht; denn entweder frisst eine Kriegsabgabe alles auf, was angespart ist, oder ihm wird der Prozess gemacht, und er verliert, vielleicht macht er sich schuldig in der Strategie, wird mit der Choregie betraut, spendiert dem Chor die Goldgewänder und trägt selbst nur Lumpenzeug, hängt sich als Trierarch auf oder wird auf See gefasst, wird auf der Straße oder auch im Schlaf von seinen Sklaven umgebracht – nichts ist gewiss, nur das, was man sich jeden Tag
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Eich 2006, 275–280 zur typischen Gefahr für Seehändler, auf einen Markt zu kommen, wo die Waren aufgrund unerwarteter Ereignisse unverkäuflich waren (die sog. ἀπρασία). In Aristoph. Pax 1198–1264 treten Waffen- und Rüstungsschmiede auf, die nach Kriegsende keinen Absatz mehr finden, und Schmiede landwirtschaftlicher Geräte, die sich umgekehrt über den Frieden freuen; die Geschichtsschreibung bestätigt den Hintergrund der komischen Szene: Agesilaos’ Expeditionsheer verwandelte Ephesos 396 in eine „Werkstatt des Krieges“ (πολέμου ἐργαστήριον) und belebte Produktion und Handel, Xen. hell. 3.4,17; Ages. 1.26.; Diod. 14.41–43 berichtet davon, wie die Kriegsrüstungen von Dionysios I. 399–397 in Syrakus auswärtige Handwerker anlockten und Bürger veranlassten, sich der Waffenproduktion zu widmen; beide Schilderungen dienen offenkundig enkomischen Zwecken und das gilt wohl auch für die Vorlage von Plutarchs ähnlich angelegtem Bericht über Perikles’ Bauprogramm, Plut. Perikles 12; entscheidend ist, dass das Lob bei aller Übertreibung einen entsprechenden Wirkungszusammenhang als bekannt voraussetzt; vgl. Burford 1969, 204 zum Effekt großer Bauprojekte, besonders in Heiligtümern; dazu auch McKechnie 1989, 145–147. Dover 1974, 174 f.; das Thema findet sich bereits bei Homer, etwa Od. 17.418–444, 18.130–142, dazu Cecchet 2015, 49–66; die häufig ökonomisch konnotierte Ungewissheit wird zum literarischen Topos, vgl. nur Archil. 130 West (= Stob. 4.41,24); Eur. Hipp. 1102–1110; Hdt. 1.32,4; And. 1.144; Aristot. eth. Eud. 7, 1238 a 11–29; vgl. Thuk. 3.39,4, Demokr. fr. B 176 DK 68 (= Stob. 2.9,5) und Xen. Kyr. 4.1,15 zur Flüchtigkeit von Zufallsgewinnen; den blinden Gott Reichtum hat Aristophanes im Plutos verewigt, bes. 87–142; vgl. Plat. rep. 8, 554b. Antiph. fr. 202 PCG (= Athen. 3.103e–104a): ὅστις ἄνθρωπος δὲ φὺς | ἀσφαλές τι κτῆμ᾽ ὑπάρχειν τῷ βίῳ λογίζεται, | πλεῖστον ἡμάρτηκεν. ἢ γάρ εἰσφορά τις ἥρπακεν τἄνδοθεν πάντ᾽ ἢ δίκῃ τις περιπεσὼν ἀπώλετο | ἢ στρατηγήσας προσῶφλεν ἢ χορηγὸς αἱρεθεὶς | ἱμάτια χρυσᾶ παρασχὼν τῷ χορῷ ῥάκος φορεῖ | ἢ τριηραρχῶν ἀπήγξατ᾽ ἢ πλέων ἥλωκέ ποι | ἢ βαδίζων ἢ καθεύδων κατακέκοφθ᾽ ὑπ᾽ οἰκετῶν. | οὐ βέβαιον οὐδέν ἐστι, πλὴν ὅσ᾽ ἂν καθ᾽ ἡμέραν | εἰς ἑαυτὸν ἡδέως τις εἰσαναλίσκων τύχῃ, | οὐδὲ ταῦτα σφόδρα τι: καὶ γὰρ τὴν τράπεζαν ἁρπάσαι | κειμένην ἄν τις προσελθών ἀλλ᾽ ὅταν τὴν ἔνθεσινἐντὸς ἤδη | τῶν ὀδόντων τυγχάνῃς κατεσπακώς, |τοῦτ᾽ ἐν ἀσφαλεῖ νόμιζε τῶν ὑπαρχόντων μόνον. Adapt. Übers. C. Friedrich.
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3 Die Umwelt des Hauses
mit Freude für sich selbst von Fall zu Fall beschafft. Das ist, weiß Gott, nicht viel, zumal wenn einer kommt und den gedeckten Tisch entreißt. Nur wenn du schon den Bissen hinter deine Zähne eingeschoben hast, das halte für das einzig sichre Stück auf dieser Welt!
Geschildert werden die Risiken eines Haushalts, der zur wohlhabendsten und angesehensten Schicht der Bürgerschaft gehört, die Liturgien leistete und Ämter bekleidete. Die letzten Verse legen nahe, dass der Witz des Monologs darin bestand, dass die Klage über die Ungewissheit nur Vorwand für die Völlerei des Sprechers ist. Gerade die Verwendung als Vorwand bestätigt allerdings, dass es sich um einem Gemeinplatz handelt. Die Pointe am Schluss saß nur, wenn die vorangegangene Klage über die Ungewissheit den Zuschauern vertraut war. Das Diktum lautete: kein Besitz ist sicher zu verbuchen. Dass derartige Sorgen um das materielle Wohlergehen des eigenen Haushalts nicht auf die liturgische Oberschicht beschränkt waren, belegen die Orakelanfragen aus Dodona. In einer gut erhaltenen Anfrage aus der zweiten Hälfte des 5. Jhs. wird das Bedürfnis nach Sicherheit besonders offen ausgesprochen:27 Gott, Gutes Glück! Bōkolō und Polymnaste (fragen) | was sie tun sollen, um Gesundheit, Nachwuchs und männlichen Nachwuchs (γενιὰ κἀνδρογένεια) | zu bekommen, der ihnen erhalten bleiben wird, und Sicherheit | des Vemögens (χρεμάτων ἐπιγγ[ύ]ασις) und Gewinn (wörtl. „Nutzen“) in allen zukünftigen Dingen (τῶν ἰόντων ὄνασις).
Es handelt sich offenbar um ein junges Ehepaar, das sich um den Erfolg des gerade gegründeten Haushalts sorgt. Je weiter man die Statusskala hinabstieg, desto essentieller wurde die Ungewissheit: Antiphanes’ Bühnencharakter setzt den sozialen Tod durch ruinöse Liturgien mit dem physischen Tod gleich, aber er tröstet sich mit etwas zu essen: Bei jenen, die, in Aristophanes’ Worten, nicht arm, sondern ‚elend‘ waren, drohte hingegen Hunger – und echter Tod.28 3.2 Stratifizierung, Mobilität und Konkurrenz Das Wirtschaften vieler Haushalte war davon geprägt, überhaupt den täglichen Bedarf zu decken. Subsistenzsorgen allein erklären allerdings nicht die in allen Quellengattungen der klassischen Zeit greifbare Betriebsamkeit griechischer Haushalte. Diese Betriebsamkeit ist erklärungsbedürftig, weil ‚Wirtschaftswachstum‘ durch Produktivitätssteigerung kein automatischer Prozess ist, der überall dort voranschreitet, wo die 27 28
DVC 313A: θιὸς τύχα ἀγαθά ⋮ Βōκόλō κὴ Πολ̣υμνάστη | τί κα δραόντοιν hυγία κὴ γενιὰ κἀνδρογένεια | γινύο(ι)το κ̣ὴ παραμόνιμος ἰοιὸ̣[ς] κ̣ὴ χρε̄μ̣άτων | ἐπιγγ[ύ]ασις κὴ̣ τῶν ἰόντων ὄνασις; Aristoph. Plut. 551–571.
3.2 Stratifizierung, Mobilität und Konkurrenz
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Möglichkeit dazu besteht. Gerade das ökonomische Prinzip der Effizienzsteigerung spricht eher gegen die Vorstellung grenzenlosen Wachstums und für das Verharren in homöostatischen Gleichgewichten: Es ist sicherer Inputs einzuparen als Outputs zu steigern. In vorindustriellen Gesellschaften steigerten Haushalte ihre Produktion, wenn ihr Bedarf stieg. Deshalb zwangen erst die Anforderungen hausübergreifender Institutionen zur Produktion von Überschüssen: Verpflichtungen gegenüber Verwandten, religiöse Opfer, politische Abgaben.29 Eine Reihe von Forschern haben die verstärkte kommerzielle Aktivität athenischer Haushalte in klassischer Zeit auf diese Weise erklärt und auf die Geldausgaben hingewiesen, die gerade die Oberschicht zu tragen hatte, wenn sie nach Führungspositionen und öffentlichen Ehrungen strebte und ihre Freundschaften und Feindschaften pflegte.30 Die lebhafte Statuskonkurrenz innerhalb der Stadt erhöhte den Bedarf an Geldeinnahmen. Der Bedarf an Geld für eine ehrenvolle Lebensführung lässt sich am besten anhand der Kosten des athenischen Liturgiensystems beziffern. Ca. 1000–1200 Hausvorstände waren liturgiepflichtig, weil sie über ein Vermögen von mindestens drei bis vier Talenten verfügten. Die zu leistenden Liturgien reichten von ‚günstigsten‘, die dem Jahreseinkommen eines Handwerkers entsprachen (300 Dr.), bis zu den teuersten wie der Ausrüstung eines Kriegsschiffes (Trierarchie) oder Chors (Choregie), die bis zum dreifachen des Hoplitenzensus betragen konnten (6.000 Dr.), und von einer kleinen Gruppe von etwa 300 Haushalten ausgeführt wurden.31 Die Ableistung von Liturigen (ebenso wie die Zahlung von Vermögensteuern, den eisphorai) war verpflichtend, und verschiedene Verfahren sollten sicherstellen, dass auch zahlungsunwillige Haushalte sich ihrer Verpflichtungen nicht dauerhaft entziehen konnten. Aber das System beruhte auf Eigeninitiative: Das Vermögen wurde von den Haushalten selbst deklariert resp. ostentativ vorgelebt und die Sanktion des erzwungenen Vermögenstauschs, die Antidosis, griff nur, wenn ein anderer Haushalt den Konflikt suchte.32 Umgekehrt gab es ebenso Anreize, freiwillig Liturgien zu erbringen oder diese über das Notwendige hinaus aufwendig auszuführen. Weil sie dem Gemeinwesen nützten, brachten sie öffentliches Ansehen (vgl. Kap. 16), und weil in Athen institutionalisierte (‚ständische‘) Rangunterschiede innerhalb der Bürgerschaft fehlten, waren Liturgien das sichtbarste Zeichen für die Zugehörigkeit zur Oberschicht.33 Entsprechend der bürgerschaftlichen
29 30 31 32 33
Vgl. Wolf 1966, 15 f. und Sahlins 1972, 101–123 für ethnologische Fallbeispiele; Warburton 2016, 8 f. vertritt die These, dass „tax-based demand“ im bronzezeitlichen Vorderasien und Ägypten die wirtschaftliche Entwicklung anschob. Humphreys 1978a, 149 f.; Thompson 1982, 53 f.; Osborne 1991, 126–130; Mossé 1993, 58–62; Harris 2002b, 85; Eich 2006, 499. Davies 1971, xxi–xxx; 1981, 15–37; Hansen 1995, 112–117; Eich 2006, 496–498; Rohde 2019, 197– 215. Zur Selbstdeklaration des Vermögens Gabrielsen 1986, 112–114; Eich 2006, 440, Anm. 299; zur Antidosis s. Gabrielsen 1987; Christ 1990. Davies 1971, xx–xxvii; 1981, 9–28.
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Selbstorganisation gewann man Ehre und Ansehen nicht durch Adelsbrief oder königliches Privileg, sondern durch die Stellung im Gemeinwesen: Zugehörigkeit zur Bürgerschaft, Wahl zu hohen Ämtern, öffentliche Auszeichnung. Diese ‚politisch-bürgerschaftliche‘ Reproduktion der Rangverhältnisse ist ein allgemeines Merkmal der griechischen Städte.34 Anders als in patrimonialen Königreichen wurden Amtsträger nicht mit Geschenken, Leibrenten oder Lehen entlohnt – diese Privilegien hätten ihnen ihre Konkurrenten, die in Volksversammlung oder Rat versammelten Bürger, die selbst Hausväter waren, gewähren müssen. Hausvorstände mussten deshalb private Mittel aufbringen, um die Kosten der Amtsführung zu bestreiten, einschließlich der indirekten Kosten durch die Abwesenheit von der eigenen Haushaltsführung. Nur für Athen lässt sich die rangkonstituierende Bedeutung gemeinnütziger Ausgaben in vorhellenistischer Zeit dank Inschriften und Gerichtsreden nachvollziehen. Sicher ist aber, dass Liturgien ein allgemeines Phänomen waren, das allerorts und besonders in Demokratien von der Oberschicht als Belastung empfunden wurde.35 Der Unmut etablierter Oberschichten rührte nicht zuletzt daher, dass ein System, das Ehre an Geldausgaben knüpfte, offen für den Eintritt neuer Konkurrenten mit neuem Geld war. Angesichts der Bereicherungschancen gab es derer viele, und die sich selbst verwaltenden Bürgerverbände waren nur schlecht (oder nur zu hohen Kosten) in der Lage, wirtschaftlich potente Aufsteiger dauerhaft auszuschließen. Zwar waren nicht alle Städte demokratisch verfasst (und die wenigsten so wie Athen), aber auch exklusivere Regimenter waren meist nicht gefestigt genug, um die Statuskonkurrenz effektiv zu unterbinden – Sparta und die kretischen Städte galten den Zeitgenossen als bewunderswürdige Ausnahmen.36 Der Zwang zur Steigerung der ostentativen Ausgaben, der wiederum zur Optimierung der eigenen Hauswirtschaft zwang, wurde nicht von einer Zentralmacht ausgeübt, sondern war eine emergente Folge der Statuskonkurrenz der einzelnen Haushalte.37
34 35
36 37
Zum öffentlich-politischen Charakter der Ehrungen s. Veyne 1976, 114–206; Gauthier 1985, 88–109, 128–130, 175; Quass 1993, 19–79, 394–421; Winterling 1993; 2003. Insbesondere Aristoteles’ Politik zeigt, dass Liturgien ein allgemeines Phänomen waren; pol. 2, 1272 a 12–21 hebt es als kretische Besonderheit hervor, dass die Liturgien aus öffentlichen statt aus privaten Mitteln bestritten werden, vgl. 7, 1330 a 11–13; 4, 1291 a 33–38 setzt „Reiche“ (εὐποροί) und Liturgisten gleich; 5, 1305 a 2–7 berichtet von der allgemeinen Gefahr von Umstürzen in Demokratien wegen der Unzufriedenheit der Oberschicht mit Liturigen (vgl. 1302 b 23 f. für das Beispiel eines solchen Umsturzes in Rhodos), während 1309 a 17–20 und 6, 1321 a 32–35 aus demselben Grund die Abschaffung von ‚unnützen‘ aber kostspieligen Liturgien fordern. Vgl. Schmitz 2008 zum Fehlen geschlossener Aristokratien und Simonton 2017 zur strukturellen Instabilität von Oligarchien. Foxhall 2007, 38; das entspricht Hans van Wees’ Überlegung, dass Statuskonkurrenz in vielen vormodernen Gesellschaften ein wichtiger Faktor wirtschaftlicher Intensivierung und Innovation war, van Wees 2011b, 23–28.
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Das städtische Zusammenleben als selbstregierte Bürgerschaft beförderte die Eskalation von Statuskonkurrenz auch deshalb, weil die Städte als Zentralorte mit Marktplätzen, Häfen und Rechtsschutz den einzelnen Haushalten günstige Bedingungen des Wirtschaftens boten, ohne dieses Wirtschaften gesetzlich stark einzuschränken.38 Die Verdichtung der Kohabitation vermehrte zudem sowohl die Anzahl potentieller Konkurrenten im sozialen Raum, als auch die Interaktionen, in denen Status performativ aktualisiert werden musste. In der Stadt muss man reich sein, erklärt eine Figur Menanders; ist man arm, muss man aufs Land ziehen, dorthin wo es nicht so viele „Zeugen“ (μάρτυρες) der eigenen Armut gibt.39 Lebensführung und Ehrstreben (φιλοτιμία) der Oberschicht waren dem kritischen Blick der Städter am meisten ausgesetzt. Aber auch die darunterliegenden Schichten waren in das Gemeinschaftsleben ihrer Nachbarschaft eingebunden, was mit sozialen Verpflichtungen zu angemessenem Konsum und gelegentlicher Freigiebigkeit einherging.40 Jeder Freie pochte auf seine Ehre und pflegte das Ansehen bei Nachbarn, Freunden und Mitbürgern.41 Ehrhaftigkeit musste persönlich und performativ bewiesen werden und war doch nichts Individuelles. Der Einzelne kam in den Genuss des Ansehens seines Hauses, das er durch sein eigenes Handeln vermehren oder schmälern konnte.42 Die Höhe der für den Statuserhalt oder -erwerb notwendigen Kosten war dabei nicht absolut festgelegt. Ob die eigene Freigiebigkeit als ‚freigiebig‘ anerkannt wurde, hing davon ab, was andere zu leisten bereit waren. Die Hauswirtschaft war deshalb zwar im Prinzip auf Bedarfsdeckung ausgelegt, sie konnten diesen Bedarf wegen der ständigen Überbietungskonkurrenz faktisch jedoch nie ganz erfüllen.43
38 39 40
41 42 43
Morris 2007, 237; Ober 2015, 6–11. Men. Georg. 75–82; der besondere materielle Aufwand des Stadtlebens wird schon in Aristophanes’ Wespen einem reichen, aber geizigen Landmann eingebläut, zur Unterhaltung des städtischen Publikums, vgl. Kap. 8.2. Auch kleinere Haushalte pflegten Sozialkontakte in Landgemeinde, Nachbarschaft, Kultverein oder Phratrie, trugen ihren Teil zu Festen bei und investierten in Weihgaben und Grabsteine; das athenische Material umfassend dokumentiert bei Humphreys 2018, 382–422; zum nachbarschaftlichen Zusammenleben s. Osborne 1985, 127–153 und Schmitz 2004b, 411–466; vgl. Hunter 1994, 96–118 zur sozialen Kontrolle in der Nachbarschaft und Hartmann 2002, 90–93 und Pomeroy 1997, 75–82 zum Aufwand bei häuslichen Festanlässen wie Geburt und Hochzeit; vgl. die aufschlussreichen Anmerkungen von Medick 1977, 138–149 und 1982, 166–173 zum ostentativen Konsum der ‚kleinen Leute‘ im 18. Jh. als Investition in soziales Kapital. Fisher 1992, 495; Horden/Purcell 2000, 519–522; Kamen 2013, 12 f. Zu Ehre und Schande in der Populärethik s. Dover 1974, 226–242; zur Ehre des ‚ganzen Hauses‘ ebd. 228 f., 237 f.; vgl. Pomeroy 1997, 67, 83–95 und Horden/Purcell 2000, 503–523. Foxhall 2007, 38.
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3.2.1 Die Wahrnehmung von Statuskonkurrenz und Gelderwerb Die Zeitgenossen registrierten die Zusammenhänge zwischen Statuskonkurrenz und der Intensivierung des Wirtschaftens aufmerksam. Xenophon rechtfertigt die anvisierte „Vergrößerung des Hauses“ (αὔξησις οἴκου, dazu Kap. 6.1.2) ausdrücklich und gleich zu Beginn des Oikonomikos mit Verweis auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Oberschicht-Haushalts. Sokrates konfrontiert seinen Gesprächspartner Kritobulos, ein junges Mitglied der liturgischen Klasse, mit einem Paradox. Obwohl Kritobulos viel reicher ist als Sokrates, leidet er größeren Mangel. Das Paradox führt eine Erläuterung dazu ein, warum gerade Mitglieder der Oberschicht effizient wirtschaften müssen:44 „Das Meinige reicht doch aus, antwortete er [Sokrates], um mir das zu geben, was für mich genug ist. Für die Pracht aber, mit der du [Kritobulos] dich umgibst, und für dein Ansehen reicht dir, wie mir scheint, nicht einmal aus, wenn dir das Dreifache dessen gehörte, was du jetzt besitzt.“ „Wieso?“ fragte Kritobulos. Sokrates erläuterte: „Erstens sehe ich, dass du genötigt bist, viele große Opfergaben darzubringen; andernfalls würden, glaube ich, weder Götter noch Menschen mit dir zufrieden sein. Zweitens bist du verpflichtet, viele Fremde aufzunehmen, und zwar in großzügiger Weise, drittens musst du Bürger bewirten und ihnen helfen oder ohne Verbündete dastehen. Außerdem sehe ich, dass dir auch das Gemeinwesen schon jetzt auferlegt, große Leistungen zu erbringen, das Halten von Pferden, die Ausstattung von Chören, die Ausrichtung von Wettkämpfen und eine politische Führungsrolle; wenn es aber gar zum Kriege kommen sollte, dann weiß ich, dass sie dir auch die Ausrüstung eines Kriegsschiffs und Sondersteuern von solcher Höhe auferlegen werden, dass du sie nicht leicht tragen wirst.“
Xenophon stellt die aufgezählten Verpflichtungen als Bürde dar, die das Volk, der dēmos, den reichen Bürgern auferlegt.45 Genügt Kritobulos diesen Anforderungen nicht, fügt Sokrates hinzu, werden die Athener ihn bestrafen, als ob er ihr Eigentum gestohlen hätte.46 Hier tönt ein typisches Motiv der oberschichtsinternen Demokratiekritik an. Die Masse der einfachen Bürger wälze alle Kosten auf die Reichen ab und
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45 46
Xen. oik. 2.4–6: ἐμοὶ παρέχειν τὰ ἐμοὶ ἀρκοῦντα: εἰς δὲ τὸ σὸν σχῆμα ὃ σὺ περιβέβλησαι καὶ τὴν σὴν δόξαν, οὐδ᾽ εἰ τρὶς ὅσα νῦν κέκτησαι προσγένοιτό σοι, οὐδ᾽ ὣς ἂν ἱκανά μοι δοκεῖ εἶναί σοι. πῶς δὴ τοῦτ᾽; ἔφη ὁ Κριτόβουλος. ἀπεφήνατο ὁ Σωκράτης: ὅτι πρῶτον μὲν ὁρῶ σοι ἀνάγκην οὖσαν θύειν πολλά τε καὶ μεγάλα, ἢ οὔτε θεοὺς οὔτε ἀνθρώπους οἶμαί σε ἂν ἀνασχέσθαι: ἔπειτα ξένους προσήκει σοι πολλοὺς δέχεσθαι, καὶ τούτους μεγαλοπρεπῶς: ἔπειτα δὲ πολίτας δειπνίζειν καὶ εὖ ποιεῖν, ἢ ἔρημον συμμάχων εἶναι. ἔτι δὲ καὶ τὴν πόλιν αἰσθάνομαι τὰ μὲν ἤδη σοι προστάττουσαν μεγάλα τελεῖν, ἱπποτροφίας τε καὶ χορηγίας καὶ γυμνασιαρχίας καὶ προστατείας, ἂν δὲ δὴ πόλεμος γένηται, οἶδ᾽ ὅτι καὶ τριηραρχίας [μισθοὺς] καὶ εἰσφορὰς τοσαύτας σοι προστάξουσιν ὅσας σὺ οὐ ῥᾳδίως ὑποίσεις. Übers. G. Audring. Zur Darstellung des Charmides, vgl. unten Kap. 4.1.1. Xen. oik. 2.6.
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bereichere sich regelrecht an ihnen.47 Xenophon eröffnet diese Perspektive, weitet sie aber nicht aus. Stattdessen soll der Oikonomikos zeigen, wie man den Anforderungen durch effizientes Wirtschaften gerecht wird. Im zweiten Teil der Schrift, dem Dialog zwischen dem jüngeren Sokrates und Ischomachos, einem weiteren Mitglied der liturgischen Klasse, wird klar, dass die ‚auferlegten‘ finanziellen Bürden Folge des eigenen Ehrstrebens sind. Sokrates will von Ischomachos lernen, wie man ein Edelmann, ein καλὸς κἄγαθος, wird. Als Antwort darauf schildert Ischomachos seinen typischen Tagesablauf. Der Tag beginnt mit einem vielsagenden Gebet. Ischomachos wünscht sich „Gesundheit, Körperstärke, Ehre in der Stadt, Wohlwollen bei den Freunden, ehrenvolle Rettung im Krieg und auf anständige Weise sich mehrenden Reichtum zu erlangen“.48 Auf Sokrates’ Nachfrage, ob Ischomachos also reich sein wolle, obwohl ihm das viele Sorgen einbringe, entgegnet Ischomachos, das wolle er, weil es ihm „angenehm“ (ἡδύ) erscheine, die Götter großartig zu ehren, Freunde zu unterstützen und die Stadt mithilfe seines Geldes zu verschönern. Sokrates lobt daraufhin, dass diese Haltung Ischomachos’ Stellung würdig sei.49 Die schwere Bürde der Ausgaben ist also in letzter Konsequenz selbst auferlegt. Xenophon betont die edle Absicht von Ischomachos, deutet aber zugleich an, dass dessen Freigiebigkeit Teil der Statuskonkurrenz zwischen Haushalten ist. Gleich zu Beginn schreibt er, sogar Feinde könnten für den Haushalt nützlich sein, wenn man verstehe, sie sich „zunutze zu machen“.50 Die erläuternde Ergänzung, dass Haushalte schließlich durch den Krieg vergrößert worden seien, suggeriert zwar einen außerstädtischen Kontext; doch die Erläuterung erscheint nachgeschoben, um die moralische Fragwürdigkeit der Aussage zu dämpfen.51 Eine weitere Stelle deutet in die gleiche Richtung. Im Lauf der Schilderung seines Tagesablaufs erklärt Ischomachos, er werde wegen seines Reichtums und seines Ansehens von vielen verleumdet und vor Gericht gezogen.52 Doch Ischomachos setzt sich zur Wehr. Um sich selbst vor „ungerechter Anklage zu verteidigen“ und umgekehrt diejenigen anzuklagen, die im Privaten und gegenüber der Polis Unrecht tun, übe er sich beständig in der Redekunst und ergreife auch selbst die Initiative, was bedeute, Übeltäter anzuzeigen, Freunden vor Gericht zu helfen und zu Unrecht Geehrte anzuklagen.53 Xenophon beschreibt dieses Rivalitätsgebahren als bloße Verteidigung. Aber ihr präventiver Charakter lässt erahnen, welche praktischen Folgen Ischomachos’ Verhaltenskodex hat. Parallelstellen bestätigen die47 48 49 50 51 52 53
Vgl. [Xen.] Ath. pol. 1.13 und Xen. mem. 2.1,8 f. Xen. oik. 11.8: καὶ ὑγιείας τυγχάνειν καὶ ῥώμης σώματος καὶ τιμῆς ἐν πόλει καὶ εὐνοίας ἐν φίλοις καὶ ἐν πολέμῳ καλῆς σωτηρίας καὶ πλούτου καλῶς αὐξομένου. Oik. 11.9 f. Oik. 1.15: ἀπὸ τῶν ἐχθρῶν ὠφελεῖσθαι. Vgl. Pomeroy 1994, 221 zu dieser Stelle: „The competition for honour is a ‚zero-sum‘ game: the enemy’s loss is his opponent’s gain.“ Xen. oik. 11.19–21. Oik. 11.23–25.
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se Interpretation. Im Hieron heißt es, am „süßesten“ (ἥδιστον) überhaupt sei es, dem Feind etwas fortzunehmen; in den Memorabilien wird dazu geraten, die Bösartigkeit der Feinde ebenso „vorwegzunehmen“ wie die Wohltaten der Freunde.54 Ischomachos reagiert nicht nur auf Angriffe; eine als ungerechtfertigt empfundene Ehrung eines Anderen ist Anlass genug, um selbst in die Offensive zu gehen. Das entspricht Aristoteles’ Feststellung, dass es nicht nur zu Konflikten komme, weil man selbst weniger Ehre oder Besitz als andere habe, sondern auch, weil andere mehr davon haben, als man für angemessen halte.55 Xenophon siedelt den Oikonomikos in Athen an; aber die statusbedingt ‚notwendigen‘ Ausgaben, die er nennt, waren nicht auf die athenische Oberschicht beschränkt. Aristoteles führt in der Nikomachischen Ethik zur Veranschaulichung der „Großgeartetheit“ (μεγαλοπρέπεια), definiert als „Tugend in Hinsicht auf Ausgaben“,56 einen Ausgaben-Katalog an, der dem Xenophons gleicht. Aristoteles trennt wie Xenophon nicht strikt zwischen ‚öffentlichen‘ Ausgaben wie Liturgien und ‚privaten‘ Ausgaben für Opfergaben und Feste. Trierarchie und Chorausführung bezeichnet er nicht als Steuern, sondern als „ehrenvolle Ausgaben“ (τῶν δαπανημάτων […] τὰ τίμια) und Hochzeitsfeiern großer Häuser als „quasi-öffentliche“ Anlässe.57 Die Ausgaben sollen zwar im richtigen Verhältnis zum eigenen Reichtum stehen, aber es darf, so Aristoteles, nicht darum gehen, „banausisch“ zu protzen: Man muss wissen, wie man Ausgaben tätigt und es „um des Edlen willen“ (τοῦ καλοῦ ἕνεκα) tun.58 Unter denen, die solche Ausgaben leisten sollten, hebt Aristoteles die „Edelgeborenen“ und „Hochangesehenen“ hervor.59 Wie bei Xenophon geht es also nicht bloß um die Demonstration von Reichtum und Klassenzugehörigkeit, sondern um Standeszugehörigkeit, die Teilhabe an einer Gruppe, für die gilt, dass ‚Adel verpflichtet‘. Allerdings zählt Aristoteles in einem Nachsatz auch „jene, die ihren Reichtum selbst begründeten“ zu dieser Gruppe.60 Wo nur die Ausgaben den Stand definieren, steht die Konkurrenz jedem Aufsteiger offen, ist der Spalt zwischen Klasse und Stand schmal. Bei Xenophon und Aristoteles muss man zwischen den Zeilen lesen, um zu sehen, dass Statuskonkurrenz die Ursache für die ständigen Ausgaben ist, die wiederum zum Gelderwerb zwingen. Seit dem Ende des 5. Jhs. wiesen einige Stimmen allerdings auch
54 55 56 57 58 59 60
Hier. 1.34; mem. 2.3,14. S. Kap. 3.2.2. Aristot. eth. Nic. 4, 1122 a 22 f. Eth. Nic. 4, 1122 b 35–1123 a 5. Eth. Nic. 4, 1122 a 24–28 b 6 f. Eth. Nic. 4, 1122 b 29–33. Eth. Nic. 4, 1122 b 30: τοιαῦτα προϋπάρχει δι’ αὐτῶν; vgl. Winterling 1993, 192–194: nur Reichtum eint die Mitglieder der Oberschicht; bezüglich der Würde divergieren Selbst- und Fremdzuschreibung aufgrund sozialer Mobilität.
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ausdrücklich auf diesen Zusammenhang hin und bewerteten ihn pessimistisch. Der Anonymus Iamblichi schreibt:61 Wer durch Geldgeschenke seinen Nächsten Gutes tut (τις χρήματα διδοὺς εὐεργετήσει τοὺς πλησίον), der wird notwendig auch schlecht sein müssen, indem er das Geld auf der anderen Seite ansammelt (συλλέγων τὰ χρήματα). Sodann kann er es wohl auch nicht so reichlich eintreiben, dass es ihm beim Geben und Schenken nicht ausgeht.
Zu den Gründen, welche die Menschen zum „Geldmachen“ (χρηματισμός) treiben, gehören, in den Worten des Anonymus, „die Rangstreitigkeiten (αἱ πρὸς ἀλλήλους φιλοτιμίαι), die Neidereien und die hohen Posten, derentwegen sie großen Wert auf das Geld legen, weil es zu derlei Dingen nützlich ist“.62 Der Anonymus geht wie Xenophon davon aus, dass Geld begehrt wird, um damit die Statuskonkurrenz zu finanzieren, aber er bewertet diesen Zusammenhang negativ: Schlechte Taten wiegen die guten auf und die Betriebsamkeit nimmt kein Ende. Konsequent stellt er die Frage: Wie kann man wohltätig sein, „ohne Geld (χρήματα) zu verteilen“?63 Platon beschreibt den kausalen Zusammenhang zwischen Statuskonkurrenz und Ehrerwerb in der Politeia ähnlich pessimistisch. Die Oligarchie entstehe, weil die Schätze, die in der Timokratie (der vorausgegangenen Verfassung) heimlich angehäuft wurden, schleichend die Sitten verdorben haben.64 Die Bürger beginnen gemeinsam mit ihren Frauen Ausgaben zu erdenken. Diese Ausgaben, wohl für ostentativen Konsum, heizen die Konkurrenz an, weil einer den anderen sieht und ihm „nacheifert“ (ζῆλον), bis sie alle so geworden sind: „Dann treiben sie es immer weiter mit dem Gelderwerb (χρηματίζεσθαι), und je mehr sie diesen ‚ehren‘, desto weniger die ‚Tugend‘ (ἀρετήν).“65 Platon benutzt fast die gleiche Semantik wie der Anonymus: Das Wetteifern / der Neid (zēlos, zēlein) erzwingt den Gelderwerb (chrēmatismos, chrēmatizesthai). Platons Urteil ist ebenfalls gleich: Die Folge ist ein Verfall der Sitten: „Aus sieg- und ehrliebenden Männern sind sie schlussendlich zu erwerbs- und geldliebenden geworden, und den Reichen preisen sie und bewundern ihn und führen ihn zu den Ämtern, den Armen hingegen entehren sie.“66 Platons Schema vom Verfall der Verfassungen erfordert es, das Geld zum Selbstzweck zu erklären, weil es jede Verfassung durch seinen jeweiligen
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Anon. Iamb. 3.2–5 DK 89: εἰ μέν τις χρήματα διδοὺς εὐεργετήσει τοὺς πλησίον, ἀναγκασθήσεται κακὸς εἶναι πάλιν αὖ συλλέγων τὰ χρήματα· ἔπειτα οὐκ ἂν οὕτω ἄφθονα συναγάγοι, ὥστε μὴ ἐπιλείπειν διδόντα καὶ δωρούμενον. Übers. Th. Schirren / Th. Zinsmaier. Anon. Iamb. 4.5 DK 89: αἱ πρὸς ἀλλήλους φιλοτιμίαι καὶ οἱ ζῆλοι καὶ αἱ δυναστεῖαι, δι’ ἃς τὰ χρήματα περὶ πολλοῦ ποιοῦνται, ὅτι συμβάλλεται εἰς τὰ τοιαῦτα. 2.5 DK 89. Plat. rep. 8, 550d–555a. Rep. 8, 550e. Rep. 8, 551a: ἀντὶ δὴ φιλονίκων καὶ φιλοτίμων ἀνδρῶν φιλοχρηματισταὶ καὶ φιλοχρήματοι τελευτῶντες ἐγένοντο, καὶ τὸν μὲν πλούσιον ἐπαινοῦσίν τε καὶ θαυμάζουσι καὶ εἰς τὰς ἀρχὰς ἄγουσι, τὸν δὲ πένητα ἀτιμάζουσι.
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Hauptzweck identifiziert, der immer schlechter wird: von der Tugend in der Aristokratie über die Ehre in der Timokratie hinab zum Geld in der Oligarchie. Scheinbar ist der Zusammenhang von Statuskonkurrenz und Gelderwerb auf dieser letzten Stufe durchtrennt. Aber nur scheinbar. Denn, wie Platons Worte zeigen, geht es auch den Oligarchen noch darum, gelobt und bewundert und zu den Ämtern herangezogen zu werden. Es ist laut Platon gerade die Entehrung des Vaters im öffentlichen Leben, die den Sohn zum oligarchischen, d. h. auf Gelderwerb zielenden, Menschen macht. Es ist nun am Sohn, die wirtschaftliche Grundlage dafür zu legen, den Misserfolg des Vaters in der Statuskonkurrenz um öffentliche Ehren wettzumachen. Auch der oligarchische Mensch betreibt den Gelderwerb also nicht als Selbstzweck, sondern um Teil der Führungsschicht zu bleiben resp. es wieder zu werden.67 Die Gelehrten behandeln den Zusammenhang von Statuskonkurrenz und Gelderwerb als Sorge der Oberschicht der Bürgerschaft, weil die ihr anvisiertes Publikum war. Der Zusammenhang bestand allerdings schichtübergreifend. Die Metöken waren zwar als ortsansässige Fremde von der Statuskonkurrenz unter Bürgern ausgeschlossen.68 Aber sie waren an der prestigeträchtigen Finanzierung von Festaufführungen beteiligt und in ihrem ‚privaten‘ Konsum waren ihnen keine gesetzlichen Schranken gesetzt. Ihre aufwendigen Grabmäler sind ein Beispiel für die Kompensation eines Standesdefizits durch ostentativen Konsum (s. Kap. 3.2.3). Dieser kompensative Konsum von Nichtbürgern übte einen indirekten Konkurrenzdruck auf Bürger aus, die nicht gänzlich hinter ihnen zurückstehen wollten. Untereinander konkurrierten Metöken und andere NichtBürger (xenoi) außerdem um städtische Ehrungen und Privilegien, die teils ideelle, teils instrumentelle Vorteile boten. Die Vielfalt an möglichen Auszeichnungen schuf eine eigene Ranghierarchie, an deren Spitze die Verleihung des Bürgerrechts stand.69 Alle diese Privilegien waren Positionsgüter, deren materieller und symbolischer Wert desto geringer war, je häufiger sie verliehen wurden. Die Hauswirtschaft von Metöken stand so gesehen unter dem doppelten Leistungsdruck, in einer fremden Stadt wirtschaftlich reüssieren und Standesdefizite kompensieren zu müssen. Konkurrenzdruck lastete auch auf mittleren und kleinen Haushalten. Das legt das ethnographische Vergleichsmaterial nahe70 und es findet Bestätigung in Form der attischen Fluchtafeln. Unter ihnen finden sich nicht wenige Bindezauber, die gegen kleine Gewerbetreibende gerichtet sind.71 Ein besonders ausführlicher Zauber des 4. Jhs. listet sieben Krämer/Wirte (κάπηλοι) in der Nachbarschaft auf, manchmal einschließlich ihrer Ehefrauen, Sklaven und Brüder, außerdem einen Holzhandwerker und eine 67 68 69 70 71
Plat. rep. 8, 553a–d; vgl. 9, 582c: Nicht nur der Ehrliebende (φιλοτιμός) strebt nach Ehre, sondern auch der Reiche, der Weise und der Tapfere; es streben also alle nach Ehre und nur das Kriterium, mit dem sie sie beanspruchen, variiert. Whitehead 1977, 89–121; Kamen 2013, 43–61. Kamen 2013, 54–61; zu den Ehrungen vgl. Bresson 2016, 288–293. Banfield 1958; Foster 1965, modifiziert von Popkin 1979, 95–98; vgl. Walcot 1970, 77–93. Vgl. Gager 1999, 63–74.
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Prostituierte.72 Neben Seele und Körper zielt der Zauber auch auf den Lebensunterhalt, βίος, und das Gewerbe, ἐργασία, der Genannten, bei den Wirten außerdem auf deren Schänken, beim Handwerker auf dessen Fachkönnen, τέχνη. Das Gewerbe der betroffenen Person ist wichtig, weil es den Lebensunterhalt sichert. Aber der Angriff ist nicht Ausdruck von wirtschaftlicher Konkurrenz im engeren Sinne: Er zielt nicht auf die Verminderung des ‚Marktanteils‘ eines anonymen Konkurrenten, sondern auf die ganze Person resp. den ganzen Haushalt eines persönlichen Feindes.73 Einiges spricht dafür, dass die Statuskonkurrenz in der Mitte der gesellschaftlichen Leiter nicht weniger, sondern mehr gespürt wurde als an ihren Enden. Legt man Aristoteles’ Maßstab zugrunde, nach dem die Höhe des von einem Haushalt erwarteten standesgemäßen Konsums nicht nur von dessen Reichtum (also der Klassenzugehörigkeit), sondern auch von dessen bestehendem Status (der Standeszugehörigkeit im Weber’schen Sinn) abhing (s. o.), dann setzte die Statuskonkurrenz den Haushalten besonders arg zu, bei denen die statusspezifischen Erwartungen etwas über den wirtschaftlichen Mitteln lagen, die also z. B. nur knapp den liturgischen Zensus erfüllten, oder dem Zeugiten-Zensus, von dem (formal) die Regimentsfähigkeit abhing.74 Die epischen Stoffe der Tragödie boten eine Projektionsfläche für die Abstiegsängste, die diese Konstellation gebahr. Hier tritt nicht der Arme als per se beklagenswerte Figur auf, sondern speziell der Verarmte.75 Während große Haushalte fürchteten, dass der wirtschaftliche Erfolg anderer Haushalte zu Statusgleichheit führen würde, fürchteten kleine Haushalte, dass ihr eigener wirtschaftlicher Misserfolg zu Statusungleichheit führen würde. In Aristophanes’ Plutos malt Chremylos die Armut (πενία) seiner Schicht in grellen Farben aus. Die ‚Armen‘ müssen beständig schuften, tragen nur Lumpen, der Hausrat ist jämmerlich, die Familie hungert.76 Da tritt Penia höchstpersönlich auf und widerspricht: Nicht das Leben der Armen werde hier geschildert, sondern das der Elenden. Die Elenden hätten gar nichts, die ‚Armen‘ hingegen müssten stets fleißig und sparsam sein, damit sie keinen Mangel litten.77 Dieses Armutsverständnis rührt von der Oberschicht her: Jeder, der noch selbst ‚arbeiten‘ muss, ist ‚arm‘.78 Dabei zeigen Details, dass Chremylos und seine Leidensgefährten durchaus zur besitzenden Schicht des
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DTA 87 (= Gager 1999, 62). Als Ausdruck wirtschaftlicher Konkurrenz gedeutet von Faraone 1991, 11; Gager 1999, 151 f.; dagegen Andreev 1990, 155–159; Eidinow 2007, 193–205. Vgl. Davies 1981, 28 mit [Demosth.] 42.22 zur Situation ‚kleiner‘ liturgischer Haushalte; zum Hoplitenzensus der Zeugiten vgl. van Wees 2004, 55–57 und die im Folgenden zitierten Belegstellen bei Aristophanes’ Plutos. Vgl. Cecchet 2015, 67–95. Aristoph. Plut. 218–226, 253–265, 283, 535–548, 842–847. Plut. 551–554: τοῦ δὲ πένητος ζῆν φειδόμενον καὶ τοῖς ἔργοις προς έχοντα, περιγίγνεσθαι δ᾽ αὐτῷ μηδέν, μὴ μέντοι μηδ᾽ ἐπιλείπειν. Plut. 510–534; zu diesem elitären Armutsbegriff vgl. Hemelrijk 1925, 140 f.; Davies 1981, 9–14; Cecchet 2015; Taylor 2017, 32–67.
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Hoplitenzensus gehören und einen entsprechenden Konsum pflegen.79 Was sie drückt, ist keine Existenzangst, sonder der stete Zwang zu Fleiß und Sparsamkeit, um sich eine ihrem Bürgerstand angemessene Lebensführung weiter leisten zu können. Chremylos ist ein kleiner Ischomachos. Seine Rhetorik unterscheidet sich nicht prinzipiell vom reichen Liturgisten, der vor Gericht behauptet, wegen widriger Umstände kurz vor dem Ruin zu stehen. Die gleichen Bürger, die sich als Richter von solchen Übertreibungen überzeugen ließen, wenn sie aus dem Mund eines Mannes der Oberschicht stammten, lachten über sie, wenn Aristophanes sie einem der Ihrigen in den Mund legte.80 Weil die soziale Existenz kleiner und mittlerer Haushalte unmittelbarer von wirtschaftlichem Misserfolg bedroht war, war ihnen das Bürgerrecht besonders wichtig. Es sicherte die Distinktion gegenüber dem Nichtbürger, der ihn in Lebensführung und Reichtum übertreffen konnte. Daher erstaunt es nicht, dass das Volk in allen Städten mit Bürgerrechtsverleihungen geizte.81 Der Fall des Euxitheos, der um 345 vor Gericht verhandelt wurde, zeigt, dass das Bürgerrecht einerseits vor sozialer Deklassierung durch Armut schützen konnte, das aber längere Armut andererseits auch die Anerkennung des Bürgerrechts gefährdete. Euxitheos’ Gegner hatten die zeitweilige Armut seines Hauses benutzt, um ihm das Bürgerrecht aberkennen zu lassen und hatten ihn öffentlich verächtlich gemacht.82 Verdacht an dieser Schilderung erregt, dass Euxitheos immerhin Demenvorsteher gewesen war und sich eine geschriebene Gerichtsrede leisten konnte. Aufschlussreich ist jedoch, dass er es für erfolgversprechend hielt, die Abstiegsängste ärmerer Bürger in dieser Weise auszumalen, um ihre Sympathien als Richter zu gewinnen. 3.2.2 Wachstum, Mobilität und Konkurrenz in klassischer Zeit Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Umweltbedingungen existierten seit archaischer Zeit.83 Inwiefern wirkten sie in klassischer Zeit besonders als treibende Kräfte einer Optimierung der Hauswirtschaft? Die hier vertretene These ist, dass die oben beschriebenen regionalen Hegemonien und die um sie ausgefochteten Kämpfe
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Aristoph. Plut. 27–51: Chremylos leistet sich eine Reise nach Delphi, begleitet von einem Sklaven; 450 f.: die Ehefrau soll mit gekauften Duftölen und Kleidern edel ausgestattet werden; 532–534: die Hoplitenausrüstung soll nicht gepfändet werden. Cecchet 2015, 162–214; Cecchet interpretiert Aristophanes’ Stück als Kritik an diesem inflationären Gebrauch der ‚Armut‘ als rhetorisches Argument, ebd. 177–179. Garlan [1982] 1995, 89; Kamen 2013, 50; vgl. Isokr. 8.88 f.; [Demosth.] 59.104–106; Aischin. 1.77 f.; Lyk. 37–41 und [Aristot.] Ath. pol. 40.5 für Athen; Demosth. 23.210–213 zu Nachbarstädten Athens; Aristot. pol. 5, 1303 a 28–b 2 mit Fallbeispielen zu Bürgerkriegen wegen der Ausweitung des Bürgerrechts; Dion. Hal. ant. 2.17 im Vergleich zu Rom. Demosth. 57. Vgl. Kap. 19.1.
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die soziale Mobilität als Ursache der Statuskonkurrenz in zweifacher Weise steigerten. Die Verdichtung der Verkehrswirtschaft schuf neue wirtschaftliche Chancen für Aufsteiger, und zugleich dünnten die zahlreichen Kriege und mit ihnen verbundenen innerstädtischen Konflikte (στάσεις) die Oberschichten und Bürgerschaften aus. Sozialer Aufstieg, der in der Gegenwart als positiver Effekt wirtschaftlichen Wachstums begrüßt wird, galt als bedrohlich, weil im Nullsummenspiel der Distinktion und Privilegierung jeder Aufstieg eines neuen Haushalts den relativen Abstieg eines alten Haushalts bedeutete, dem man nur durch eine kostenintensive Steigerung der eigenen Bemühungen um Statuserhalt verhindern konnte. Wirkung und Wahrnehmung sozialer Mobilität lassen sich am besten in Athen beobachten. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Seereichs waren hier am stärksten, weil Athen das Zentrum des ägäischen Verkehrsraums war und seine demokratische Verfassung Auf- und Abstieg innerhalb der Bürgerschaft erleichterte.84 Der anonyme Autor der Verfassung der Athener verortet die besonderen Gewinnchancen des Seereichs beim Volk, dem dēmos. Das ist sachlich falsch (die Oberschicht profitierte mindestens ebenso),85 aber aufschlussreich für die Problemwahrnehmung. Aus der Sicht der etablierten Oberschicht ist wachsender Wohlstand problematisch, wenn Vermögen und Status auseinanderklaffen. Die Inkongruenz von Stand und Klasse spiegelt sich in der Verfassung der Athener in einer semantischen Inkongruenz, ähnlich derjenigen, die Aloys Winterling für Aristoteles’ Politik festgestellt hat.86 Die „Reichen“ (πλούσιοι) sind zugleich die „Edlen“ (γενναῖοι), „Guten“ (χρηστοί), die „rechtschaffenen und hervorragenden Männer“ (οἱ δεξιώτατοι καὶ ἄνδρες ἄριστοι). Das „Volk“ (δῆμος) sind die „Armen“ (πένητες), „Schlechten“ (πόνηροι) und „Volkstümlichen“ (δημοτικοί).87 Scheinbar besteht eine Einheit von Ehre und Reichtum, Stand und Klasse. Doch die Kategorien überkreuzen sich. Auch die Leute aus dem ‚Volk‘ erwerben überseeischen Besitz, besitzen Mietshäuser, Sklaven und Zuggespanne, die sie vermieten, und bekleiden sogar militärische und politische Ämter!88 In der polemischen Wertung des Verfassers ist der dēmos ‚elendes Pack‘ – seiner wirtschaftlichen Potenz und seinen politischen Ambitionen nach jedoch nicht mehr. In den Komödien der Zeitgenossen werden gerade die ‚neuen Männer‘ unter den Politikern nach Perikles attackiert und diffamiert. Demagogen wie Kleon, so die Vorwürfe, brächten das Geschrei und Geschacher des Marktplatzes in die Volksversammlung, sie sind gierig, ungeschlacht und ungebildet.89 Soweit sich die Attackierten 84 85 86 87 88 89
Lotze 1990, 136–140. Gauthier 1973, 177 f.; Davies 1981, 60; Munn 2000, 46 f. Winterling 1993, 183–190. [Xen.] Ath. pol. 1.1–6 und passim. [Xen.] Ath. pol. 2.17–20. Sommerstein 1996 und 2000, bes. 437–442; vgl. Henderson 2014, 182 f.; zur Darstellung bei Aristophanes s. Ehrenberg 1968, 128 f. und Connor 1971, 151–168; Mann 2007, 75–123 hat auf die weitgehende Kontinuität der faktischen Mittel und Ziele der Politik von Perikles bis Kleon
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identifizieren lassen, handelte es sich um erfolgreiche Gewerbetreibende oder – häufiger – deren Söhne, die durch sklavenbetriebene Werkstätten zu Wohlstand gekommen waren.90 Gerade, weil sie das Handwerk nicht persönlich ausübten und nicht einmal mehr die Produktion persönlich überwachten, hatten sie die Zeit, sich der Politik zu widmen.91 Diese Männer entsprechen in etwa dem popolo grasso der italienischen Städte: Sie hatten das Geld und den Ehrgeiz in die Oberschicht aufzusteigen, in die sie nicht hineingeboren waren. Der soziale Aufstieg neuer Leute war gerade dann möglich, wenn Krieg oder Bürgerkrieg die Bürgerschaft und Oberschicht dezimiert hatten und Vermögen umverteilt oder vernichtet worden war. Hinzu kamen Krankheit und Seuchen. Der Peloponnesische Krieg war besonders einschneidend und prägte die Wahrnehmung vor allem in Athen. Thukydides nennt in seiner Beschreibung der Pest die Umkehr der sozialen Ordnung durch die plötzliche Umverteilung des Besitzes.92 Isokrates klagte noch rund 50 Jahre nach dem Ende des Kriegs darüber, dass die Kriege wegen des Seereichs die namhaftesten alten Geschlechter und „die größten Häuser“ (τοὺς οἴκους τοὺς μεγίστους) auslöschten und die öffentlichen Gräber mit Bürgern füllten, während sich die Bürgerlisten mit Personen füllten, „die gar nicht zur Stadt gehörten“.93 Isokrates entwirft ein Schreckensbild, das kein Abbild historischer Realität ist.94 Die neuere Forschung ist sich einig, dass weder Athen noch der Rest Griechenlands im 4. Jh. in einer dauerhaften gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise steckte.95 Aber warum dann
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verwiesen; das spricht erst recht dafür, dass die soziale Herkunft der neuen Männer ausschlaggebend für ihre Ablehnung war; in der Geschichtsschreibung spielt sie eine wenig eindeutige Rolle; während [Aristot.] Ath. Pol. 28.1–4 andeutet, dass die Nachfolger des Perikles nicht Teil der etablierten Oberschicht waren, bezieht sich die berühmte Verurteilung bei Thuk. 2.65,7–10 eher auf moralische Mängel und politische Unvernunft. Connor 1971, 151–168; Davies 1981, 78–82; Mann 2007, 136–141. Zur Produktionsweise der Sklavenwerkstätten, s. Kap. 12.3.4. Thuk. 2.53,1. Isokr. 8.88. Fuks [1972] 1984 deutet Isokrates’ Reden als Beleg für eine sich ausweitende sozioökonomische Krise ganz Griechenlands; Todd 1990a, 153 verwirft Isokrates’ Reden als sozialgeschichtliche Quellen dagegen ganz; ausgewogen Cecchet 2015, 153–157. Die Krisenthese war bis in die 1970er-Jahre Konsens, vgl. Busolt 1920, 187–219; Beloch 1922, 344–350; Bengtson [1950] 1986, 226–308; Mossé [1962] 1979 (für Athen); vgl. die Aufsätze zur Krise in Fuks 1984. Beginnend bei der Neubewertung der attischen Schuldsteine durch Finley 1951, 79–81; 1953, 250–256 (vgl. Audring 1974; 1977, 39) wurde zunächst die Idee einer längeren Wirtschaftskrise ad acta gelegt, vgl. Hornblower 2002, 201–207; Cecchet 2015, 118–139; Davies 2007, 359–361 vermutet sogar Wirtschaftswachstum. Pečírka 1976 erklärte die Krise dann zur Sinnkrise eines ideellen Konflikts zwischen den traditionellen Werten der Bürgerpolis und den Vertretern der progressiven stadtübergreifenden Geldwirtschaft; ähnlich argumentierte zuvor schon Ehrenberg 1968, 367–383 und später noch Mossé 1993, 58–62; Austin/Vidal-Naquet [1972] 1984, 107–120 stellten das 4. Jh. zwar noch unter das Paradigma der Krise, negierten eine solche jedoch gleichzeitig; ähnlich Austin 1994, 532–535 und 563 f. Mittlerweile ist auch der Gedanke einer allgemeinen Krise des 4. Jhs. verabschiedet, s. Davies 1995 für Athen und Schuller 2002, 45–59 für ganz Griechenland.
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das Krisenempfinden? Eine mögliche Erklärung knüpft an die Überlegung von Aloys Winterling an, dass die wirtschaftliche Prosperität und Dynamik eine soziale Mobilität nach sich zog, die als Bedrohung empfunden wurde, weil sie die etablierten Rangverhältnisse destabilisierte und deshalb zu Konflikten führte.96 Isokrates übertreibt, aber er bedient die Erwartungen und Wertungen seines Publikums. Ihm galt der Peloponnesische Krieg als abschreckendes Beispiel massiver sozialer Mobilität, das sich nicht wiederholen sollte. Wie weit lässt sich die athenische Erfahrung des Peloponnesischen Kriegs verallgemeinern? Es wurde bereits argumentiert, dass das Seereich und andere regionale Hegemonien vielerorts Handel und Geldumlauf anschoben. Die zahlreichen Kriege und die notorische Geld- und Getreidenot zwangen gerade kleinere Städte, sich mit Ehrungen, Privilegien oder sogar dem Bürgerrecht erkenntlich zu zeigen, wenn wirtschaftlich erfolgreiche Nichtbürger ihnen mit Sach- oder Geldspenden aus der Klemme halfen.97 Platon nennt Kriege und Seuchen als allgemeine Gründe für einen Austausch der Bürgerschaft und Aristoteles gibt außerathenische Beispiele dafür, wie Kriegsverluste die soziale Ordnung erschütterten.98 Die zahlreichen Kriege um die Hegemonie in Griechenland im 4. Jh. lösten in vielen Städten Parteikämpfe und Regierungsumstürze aus.99 Mancherorts scheint es sich um Konflikte zwischen angestammter Oberschicht und reich gewordenem ‚Volk‘ gehandelt zu haben wie in Korkyra (427–425) oder Samos (412/11).100 Andernorts, etwa in Chios oder Korinth, fehlte der Gegensatz zwischen landbesitzendem ‚Adel‘ und gewerbetreibenden ‚Neureichen‘ hingegen, weil die Oberschicht selbst Handel trieb und Aufsteiger mindestens teilweise in das oligarchische Regiment kooptiert wurden.101 Selbst dort, wo soziale Mobilität nicht die Ursache des Konflikts war, war sie einer seiner Effekte: Bürger wurden getötet oder verbannt, ihre Vermögen zerstört oder umverteilt.102 Ein weiteres Indiz dafür, dass soziale Mobilität ein verbreitetes und allgemein als beunruhigend empfundenes Phänomen war, zeigt die Aufmerksamkeit, mit der die 96 97 98 99
S. Winterling 1991; 1993; 1995; 2003. S. Kap. 16.3. Plat. leg. 5, 741a; vgl. Aristot. pol. 5, 1303 a 1–10 nennt neben Athen Tarent, Argos und Sparta. Zu den innerstädtischen Konflikten vgl. Heuss 1973, 17–34; Gehrke 1985b, 268–308; eth. Nic. 4, 1122 b 29; zur sozialen Dimension dieser Konflikte vgl. Winterling 1993, 198–203, Eich 2006, 509–603. 100 Zu Korkyra s. Thuk. 3.70–85 mit den Kommentaren von Bruce 1971; Heuss 1973, 24–37; Gehrke 1985b, 88–93; zu Samos vgl. Thuk. 8.21, 63,3 f., 72–75 mit Gehrke 1985b, 142–144 und Shipley 1987, 122–128; Thuk. 3.82,8 beschreibt die Bürgerkriege als gewaltsame Fortführung der Statuskonkurrenz: Die führenden Männer treiben sie „aus Habsucht und Ehrstreben“ (διὰ πλεονεξίαν καὶ φιλοτιμίαν) voran. 101 Zu Chios vgl. Roebuck 1986, 82–85 und Sarikakis 1986, 121 f. mit Thuk. 8.24,3–5, 45,4, Hdt. 1.165,1 und Aristot. pol. 4, 1291 b 24; zu Korinth Salmon 1984, 159–164 mit Hdt. 2.167; vgl. Aristot. pol. 3, 1278 a 21–25 zur Teilhabe von Handwerkern an Oligarchien; dazu Spahn 2008, 92 f.; vgl. Thuk. 1.13,5, Strab. 8.6,20 und Dion. Hal. ant. 3.46 zur Rolle des Seehandels. 102 Gehrke 1985b, 210–212; Eich 2006, 543–555.
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Gelehrten das Thema behandelten. Sie lebten zwar meist in Athen, ihr Publikum fanden sie jedoch in ganz Griechenland. Platons Verfassungsentwürfe sind von dem Gedanken bestimmt, wirtschaftlich bedingte soziale Mobilität zu unterbinden, weil sie die gesellschaftliche Ordnung stört.103 In der Politeia ist ein Wechsel zwischen den strikt getrennten drei Ständen nur streng kontrolliert möglich, ausschlaggebend ist Tugend, nicht Vermögen.104 In den Gesetzen wird die vertikale Mobilität innerhalb der vier Zensusklassen mit vielen Gesetzen eingehegt.105 Der Fokus dieser Bestimmungen liegt darauf, wirtschaftliche Dynamik durch freien Handel und Verkehr zu beschränken106 und darauf, den Aufstieg wirtschaftlich erfolgreicher Metöken und Sklaven in die Bürgerschaft zu verhindern.107 Platons Lösungsvorschläge stechen mit ihrer Radikalität heraus, aber sie bezeugen ein verbreitetes Problembewusstsein, wie Aristoteles’ Bericht über die Verfassungsentwürfe von Hippodamos von Milet und Phaleas von Chalkedon zeigt.108 Aristoteles beschäftigte sich selbst ebenfalls intensiv mit wirtschaftlich bedingtem sozialen Aufund Abstieg, weil er sie für einen wichtigen Grund für Bürgerkriege und Umstürze hielt.109 Die Menschen, so verallgemeinert Aristoteles, begännen mit Parteienstreit wegen des „Gewinns und der Ehre“ (διὰ κέρδος καὶ διὰ τιμήν): nicht nur, weil sie diese selbst wollten, sondern auch wenn andere davon in ihren Augen zu viel erhielten.110 Deshalb kann Gleichheit des Besitzes, von Platon und Phaleas vorgeschlagen, das Problem des Bürgerzwists nicht lösen: Die „Edlen“ (χαρίεντες) dulden keine Gleichstellung, weil sie sich für „würdiger“ (ἄξιοι) halten.111 Aristoteles entwickelt die älteren Stasis-Theorien weiter: Nicht ökonomische Ungleichheit per se sei ausschlaggebend, sondern die aus ihr resultierende soziale Instabilität, verbunden mit einer Inkongruenz von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.112
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Vgl. Plat. rep. 4, 421d–422a mit dem Beispiel des reichgewordenen Töpfers. Plat. rep. 3, 415a–d; vgl. Krit. 110c–d. Leg. 5, 744a–745a. Die Landlose sind begrenzt und unveräußerlich, leg. 5, 741b–c; 11, 928a–929a; Handel und Geldgeschäft sind Bürgern verboten, leg. 5, 741e–743c. 107 Metöken und ihre Söhne dürfen sich im Regelfall nicht mehr als 20 Jahre in der Stadt aufhalten, Plat. leg. 8, 850a–c; der Freigelassene darf nicht reicher werden als sein ehemaliger Herr und muss nach 20 Jahren mit seinem gesamten Vermögen fortziehen; Freigelassene und Fremde, deren Vermögen die dritte Vermögensklasse übersteigt, müssen die Stadt innerhalb eines Monats verlassen, leg. 11, 915a–c; vgl. Morrow 1968, 144–152 und Schöpsdau 2005 zur Stellung der Nichtbürger in Platons Gesetzen. 108 Zu diesen Verfassungsentwürfen Kap. 3.3.1. 109 Zur stasis-Theorie des Aristoteles vgl. Winterling 1993, 197 f. und Skultety 2009. 110 Aristot. pol. 5, 1302 a 38–b 2; vgl. 2, 1266 b 37–1267 a 8. 111 Pol. 2, 1267 a 37–41. 112 Vgl. die Interpretation von Winterling 1993, 197–204, der gegen die Interpretationen von Ste. Croix 1981, 69–80 und Gehrke 1985a, 137–140 zu Recht daraufhinweist, dass Aristoteles die Erklärung der Konflikte gerade nicht auf den Arm-Reich-Gegensatz reduziert.
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Aristoteles’ Politik behandelt die Eskalation der Statuskonkurrenz bis hin zum Bürgerkrieg. Die Rhetorik gibt hingegen Aufschluss über die Alltagserfahrung von Mobilität und Konkurrenz. Sie definiert einen speziellen Ausdruck für den Schmerz, den man beim Anblick unverdienten Erfolgs anderer empfinde: νέμεσις, „Entrüstung“.113 Dieser Schmerz werde hervorgerufen von der ungerechten Verteilung bestimmter Güter wie Reichtum und Macht und dergleichen, derer nur die „Edlen“ (ἀγαθοί) „würdig“ (ἄξιοι) seien oder jene, die sie „naturgemäß besitzen“ (οἱ τὰ φύσει ἔχοντες). Weil aber „das Alte naturgemäß erscheine“, entrüste man sich mehr über diejenigen, die ein Gut neu erworben haben, wie „die neuerdings Reichgewordenen“ (οἱ νεωστὶ πλουτοῦντες) als über jene, die es bereits lange und „durch Abstammung“ (διὰ γένος) besitzen. Außerdem empfinde man es bei „Neureichen“ (νεόπλουτοι) als schmerzhafter als bei „Altreichen“ (ἀρχαιόπλουτοι), wenn sie aufgrund ihres Reichtums Ämter bekleiden.114 Der neue Reichtum sorgt also gerade dann für „Entrüstung“, wenn der Klassenaufstieg mit einer Standeserhöhung – Zugang zum städtischen Regiment – verbunden ist. Aristoteles ergänzt, dass auch Hochmut, Ostentation und Herrschaftsanspruch, bei „Neureichen“ besonders gesteigert sei, weil der Neureiche „ungebildet im Reichtum“ (ἀπαιδευσία πλούτου) sei.115 Diese Begriffe und Wertungen sind keine Erfindungen eines Philosophen. Sie wurden zuerst auf attischen Theater- und Rednerbühnen verwendet. Die Wertung ist immer eindeutig: „Altreiche“ sind freigiebig und edel, „Neureiche“ bereichern sich unehrlich und benehmen sich schändlich.116 Mehr als andere frönen sie dem ostentativen Konsum, und das in protziger Art.117 Natürlich hielt sich niemand selbst für einen Parvenü, ganz gleich wie alt sein Reichtum wirklich war.118 Weil es innerhalb der Bürgerschaft keine festgeschriebenen Rangunterschiede gab, war die Frage, wer „neureich“ 113 114 115 116
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Aristot. rhet. 2, 1386 b 8–11; vgl. zum Folgenden Winterling 1993, 202 f. Rhet. 2, 1387 a 13–23. Rhet. 2, 1390 b 32–17. Zuerst Aischyl. Ag. 1042–1045 (458): „altreiche Herren“ (ἀρχαιοπλούτων δεσποτῶν) behandeln ihre Sklaven besser; vgl. Soph. El. 1393; Kratin. fr. 171 PCG, 68 f. ἀρχαιόπλουτός zu sein schließt ungerechte Bereicherung aus; vgl. Aristoph. Plut. 563–571 über sich bereichernde Redner; Krat. fr. 223 PCG (= St. Byz. 237,5): ἀνδρῶν νεοπλουτοπονήρων sind zugleich αἰσχρῶν; vgl. Aristoph. Vesp. 1309 f.: Der Neureiche ist ein Rüpel; vgl. Lys. 19.49 mit der Gegenüberstellung von ἀρχαιοπλούτων und νεωστί; ebd. 14 f. zu standesgemäßen Heiraten und 58: Wer für alten Reichtum bekannt ist, wird eher Liturgien leisten. Vgl. Demosth. 19.314 und 36.45 zum Auftreten im teuren Mantel und das Sich-Umgeben mit Hetären und Dienern; denselben Hintergrund hat womöglich die Anekdote bei Herakl. Pont fr. 44 Schütrumpf (= 61 Wehrli = Athen. 12.552f) über die tragische Liebschaft eines reich gewordenen Geschäftsmanns zu einer Hetäre; vgl. Philippid. fr. 9 PCG (= Athen. 3.230a–b) und Theop. FGrH 115 Fr. 252 (= Athen. 6.230e–f) zu Tafelgeschirr; Aristot. eth. Nic. 4, 1122 a 29–34; 1123 a 18–27 bezeichnet unpassende Ausgaben, die nur dem Protzen dienen und Mangel an Erziehung beweisen, als „banausisches Übermaß“ (ὑπερβολὴ βαναυσία). Alex. fr. 94 PCG (= Athen. 4.159d) bemerkt spöttisch, alle Reichen erzählten, sie seien „aus bestem Geschlecht“ (εὐγενεστάτους); einen „Armen mit edler Abstammung“ (πένητας δ’ εὐπατρίδας) habe noch niemand gesehen.
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und wer „altadelig“ war, nicht verbindlich festgelegt, sondern Spielball widerstreitender Deutungsinteressen. Genau hier liegt ein methodisches Problem bei der Verwendung dieser literarischen Bemerkungen über Neureiche und Aufsteiger als Belege sozialer Mobilität. Für sich genommen ist schwer zu entscheiden, ob sie eine Steigerung der Mobilität bezeugen oder nur eine Steigerung der Wahrnehmung der Mobilität oder sogar nur die bessere Überlieferungslage für das 4. Jh. Zunächst ist anzumerken, dass auch eine bloße Steigerung der Wahrnehmung eines ‚Problems‘ reale Folgen haben kann, insofern sie das reale Handeln lenkt. Vor allem aber gibt es, zumindest für Athen, Belege für soziale Mobilität und mit ihr einhergehender Statuskonkurrenz, die unabhängig von literarischen Meinungsäußerungen ist. John Davies hat festgestellt, dass nur die wenigsten Familien sich mehr als eine Generation in der liturgien-leistenden Schicht hielten; er erklärt diese Schwankungen mit den politischen und wirtschaftlichen Kosten und Risiken der Zeit.119 Wie Davies anmerkt, wird die Aussagekraft dieses Befunds allerdings dadurch geschmälert, dass die Dokumentation liturgischer Familien sehr unvollständig ist und es wahrscheinlich ist, dass auch Familien, die in einer Generation keine Liturgien leisteten, noch von den Verdiensten der Vorgängergeneration zehren konnten.120 Die Annahme hoher intergenerationeller Schwankungen und daraus resultierender Statuskonkurrenz lässt sich jedoch noch mit einem weiteren Befund belegen, der verlässlicher quantifizierbar ist, weil er rein archäologisch ist: die attischen Grabanlagen. 3.2.3 Grabaufwand, Mobilität und Konkurrenz im klassischen Athen Seit dem Ende des 5. Jhs. erhöhte sich der materielle Grabaufwand in Athen, nachdem er um 500 für mehrere Generationen fast völlig verschwunden war. Etwa mit Beginn des Peloponnesischen Krieges tauchen wieder steinerne Monumente auf, und in der Folge steigerte sich der Aufwand im Verlauf des 4. Jhs. kontinuierlich, bevor er mit den Aufwandsgesetzen des Demetrios von Phaleron zwischen 317 und 307 abrupt endete.121 Die Steigerung betraf Umfang und Qualität der Ausführung. Grabbezirke (periboloi) wurden mit Terrassierungsmauern eingefasst, die die einzelnen Grabmarker zu Familiengruppen zusammenfassten und ihre Sichtbarkeit mit einer zur Straße hin ausgerichteten Schaufassade erhöhten.122 Die architektonische Gestaltung, der orna119 Davies 1981, 73–87: von 423 Familien sind 357, also 84 %, nur für eine Generation belegt. 120 Zur Datengrundlage Davies 1971, xxvii–xxx; zum Aussetzen der Liturgien s. Kap. 16.2. 121 Humphreys 1980, 105–121; Schmaltz 1983, 138–147; Morris 1992, 118–155; Scholl 1994; Bergemann 1997, 119–125; Engels 1998, 79–128; Munn 2000, 51–53. 122 Closterman 2007, 633–635 zählt rund 250 Periboloi für den Zeitraum 425–300; vgl. WalterKarydi 2015, 199–202 zu ihrer aufwendigen Gestaltung; aus der vorangegangenen Zeit sind nahezu keine derartigen Anlagen bekannt, Morris 1992, 134 f.
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mentale Schmuck und das Bildprogramm der Monumente und Grabmarker wurden aufwendiger. Ein Monument konnte ein kleines Vermögen kosten. Der größte Teil der Grabmale war zwar weiterhin bescheiden und erschwinglich. Doch die prachtvolleren Monumente entwerteten die Repräsentationswirkung der kleineren Grabmarker, die wortwörtlich überschattet wurden.123 Der gesteigerte Aufwand geht mit einer neuen Konzentration auf das ‚Haus‘ einher. Bilder und Inschriften zeigen den Verstorbenen mit dem Ehepartner, den Eltern oder den Kindern, immer wieder auch unfreien Dienern. Große Grabanlagen beziehen Verwandte und Angeheiratete über mehrere Generationen mit ein.124 Dieser Befund steigenden Grabaufwands wird meist mit einem Mentalitätswandel erklärt. Ein ins Private gewendetes Repräsentationsbedürfnis und ein erwachender Individualismus hätten die egalitäre, kollektivistische Mentalität des 5. Jhs. abgelöst.125 Diese These ist unbefriedigend. Sie beruht nicht zuletzt auf einer unzulässigen Interpretation topischer Klagen des 4. Jhs. über den Verfall der Bürgertugend.126 Das ignoriert, dass die Grabstelen die Verstorbenen als tugendhafte Bürger und Bürgerinnen zeigen und nicht bloß als trauernde Individuen.127 Wenn zuträfe, dass demokratische Verfassung und egalitäre Mentalität den Grabluxus begrenzten, würde man in oligarchischen Städten den höchsten Grabaufwand erwarten. Gerade das ist nicht der Fall: In Athen, der demokratischsten Stadt Griechenlands, ist der Grabaufwand im 4. Jh. am größten.128 Ich möchte deshalb eine andere Erklärung vorschlagen. Der gesteigerte Grabaufwand war eine Reaktion auf gesteigerte Mobilität. Die physische Mobilität der eigenen Familienmitglieder wurde als Gefahr für den Zusammenhalt und Fortbestand des Hauses angesehen, die soziale Mobilität anderer Haushalte als Gefahr für den eigenen Status. Beides drängte dazu, Eintracht und Wohlergehen der eigenen Familie stärker materiell zu repräsentieren. Drei Indizien sprechen für diese Erklärung. Erstens: Der Grabaufwand setzte mit Beginn des Peloponnesischen Kriegs ein. Vermutlich steigerten die Verwerfungen des Krieges – der Verlust von Vermögen und
123
Vgl. Schmaltz 1983, 138–147 und Bergemann 1997, 133–142 mit Schätzungen der Kosten aufwendiger Monumente; vgl. Nielsen (u. a.) 1989, 413–420 zu den niedrigen Kosten bescheidener Grabmäler; zur relativen Entwertung vgl. Engels 1998, 119. 124 Humphreys 1980, 113–117; Bergemann 1997, 123: Familiendarstellungen haben einen Anteil von 35,2 % an den Naiskoi, 53,6 % an den Bildfeldstelen; Closterman 2007, 642–651; WalterKarydi 2015, 198–207. 125 Morris 1992, 118–155; Scholl 1994, 268–271; Bergemann 1997, 125; Engels 1998, 115. 126 Vgl. Lys. 27.9–11, Demosth. 21.158 f., 23.207 f. mit Gauthier 1985, 120–127. 127 Bergemann 1997, 123–130, 146, scharf kritisiert von Himmelmann 1999, 100–127; Himmelmanns Gegenposition, dass die Grabstellen v. a. ‚private‘, familiäre Erinnerung und Trauer darstellten, steht strenggenommen nicht in Widerspruch zu Bergemanns Annahme, dass die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft demonstriert werden sollte. 128 S. Sporn 2013, 273–277 zum aktuellen archäologischen Befund; das widerspricht Morris 1992, 128–155, der das Ganze für ein gesamtgriechisches Phänomen hält.
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Leben, der Aufstieg neuer Leute – das Bedürfnis, Kontinuität und Prosperität des eigenen Hauses zu demonstrieren.129 Im 4. Jh. stieg auch die physische Mobilität. Junge Männer gingen als Kaufleute, Söldner oder Fachleute in die Fremde, in der Hoffnung, als gemachte Männer zurückzukehren (dazu Kap. 11.3). Das diente dem Fortbestand des Hauses, setzte ihn jedoch zugleich aufs Spiel. Es konnte passieren, dass die Söhne in der Fremde umkamen oder nicht zurückkehrten, weil der erhoffte Reichtum ausblieb. Angesichts der Abwesenheit von Familienmitgliedern und der Ungewissheit über den Erfolg des Statuserhalts demonstrierten Grabmäler aus dauerhaftem Material die familiäre und wirtschaftliche Dauerhaftigkeit des Hauses. Der Erfolg war beschränkt: Nur in wenigen Grabbezirken reichen die Bestattungen über zwei Generationen hinaus.130 Zweitens: Vergleichende Studien über den Grabaufwand in verschiedenen Kulturen kommen zu dem Ergebnis, dass hoher Grabaufwand ein Indikator für eine Gesellschaft ist, die zwar stratifiziert ist, in der die Statusposition des Einzelnen jedoch unklar und umkämpft ist. Je stabiler die soziale Hierarchie wird, desto schlichter werden die Bestattungen.131 Die Gräber sind somit nicht direkter Ausdruck materiellen Reichtums, sondern vor allem Ausdruck der Notwendigkeit, diesen Reichtum einzusetzen, um prekären Status zu manifestieren. Zu dieser Erklärung passt der besondere Aufwand, den Aufsteiger und Nichtbürger mit ihren Gräbern trieben, um ihren Mangel an Abstammung zu kompensieren.132 Dem Lexikographen Harpokration zufolge prägten die Komödiendichter den eigenen Ausdruck „Metöken-Grabmäler“ wegen deren besonderen Pracht.133 Das sogenannte Kallithea-Monument, „das bisher aufwendigste und größte erhaltene private Grabdenkmal“ Griechenlands, illustriert, was damit gemeint war.134 Gestiftet wurde das Grabmal in den 330er- oder 320er-Jahren von Nikeratos aus Histria am schwarzen Meer, der wahrscheinlich für Handelsgeschäfte in Athen residierte.135 Die Statuen für ihn und
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Engels 1998, 113 f.; vgl. das Dexileos-Monument im Kerameikos, das in seiner Ausführung einzigartig, aber in seiner Aussage typisch ist; es erinnert an einen jungen Mann aus reicher Familie, der 394 mit etwa zwanzig Jahren, also sehr wahrscheinlich unverheiratet und kinderlos, im Korinthischen Krieg fiel; das Monument war Teil des Grabbezirks seines Vaters Lysanias; später kamen Grabmarker für weitere Mitglieder seiner Familie hinzu; das Monument war also trotz seiner Größe Teil einer Familienstätte; vgl. Morris 1992, 143; Hurwit 2007, 37–41; Walter-Karydi 2015, 182–185. Humphreys 1980, 114–121. Childe 1945, 17 f.; Kamp 1998, 100 f. Ein Beispiel für die aufwendige Familiengrablege eines zu Geld gekommenen Bürgers ist die Grablege, die Isokrates’ Vater anlegen ließ; vgl. Kap. 4.3.1 mit Anm. 185; die Gräber von Nichtbürgern gehörten zu den herausragendsten Monumenten, die Pausanias im 2. Jh. n. Chr. in den attischen Grabbezirken sah, Paus. 1.37,5. Harp. s. v. Μετοίκιον. Ausführliche Beschreibung bei Israel 2013, Zitat ebd. 55; vgl. Engels 1998, 124 f. Dass Nikeratos Händler war, vermutet Israel 2013, 63; das ist plausibel: Die meisten Schwarzmeergriechen in Athen verfolgten, so weit bekannt, Handelsinteressen, und als Metöke besaß Nikeratos kein Land (oder nicht ausreichend), um seinen Wohlstand daraus zu ziehen.
3.2 Stratifizierung, Mobilität und Konkurrenz
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seinen Sohn gleichen den Ehrenstatuen für Bürger und Epheben. Nur das Fehlen eines Demotikons in der Grabinschrift erinnert daran, dass hier kein führender Bürger Athens verewigt ist. Das Kallithea-Monument ist stellvertretend für einen Trend: Es gab zwar weniger prächtige Metökengräber als Bürgergräber, aber die prächtigsten Metöken-Grabmäler entsprachen den Gräbern der Bürger aus der liturgischen Schicht nicht bloß in Ausmaß und Aufwand, sondern auch in ihrer Symbolik.136 Damit setzten sie die etablierten Familien unter Druck, nicht hinter solchen Übertrumpfungsversuchen zurückzustehen. Die Deutung der Grabanlagen als kostspieliges Medium der Statuskonkurrenz deckt sich mit Platons Ideen zur Aufwandsgesetzgebung in den Gesetzen. Das allgemeine Ziel dieser Aufwandsbeschränkungen ist das Verbot von „neiderregendem Besitz“ (ἐπίφθονον κτῆμα), der ostentativ in der Stadt, den Heiligtümern oder dem Wohnhaus ausgestellt ist.137 Dem Bestattungs- und Grabaufwand widmet sich Platon besonders ausführlich und hebt dabei die häusliche Dimension hervor. Weder soll man sein „Haus ruinieren“ (οἰκοφθορεῖν), nur weil der Verstorbene Sohn oder Bruder war, noch soll man die Totenfeier zur Inszenierung des eigenen Hauses in der städtischen Öffentlichkeit missbrauchen.138 Bei der Einschränkung des Grabaufwands geht es also, wie bei allen Aufwandsbeschränkungen, um die Vermeidung ruinöser Statuskonkurrenz. Das dritte Indiz dafür, dass der gesteigerte Grabaufwand Ausdruck gesteigerter Statuskonkurrenz war, ist, dass Aufwandsbeschränkungen im Sinne Platons ausgerechnet unter dem oligarchischen Regiment des Demetrios von Phaleron erlassen wurden. Demetrios selbst begründete sein Programm ethisch. Dessen Ausrichtung lässt allerdings kaum Zweifel daran, dass eine Minderung der kostenträchtigen Statuskonkurrenz zumindest auch erwünscht war.139 Der historische Vergleich zum republikanischen Rom und zum nachantiken Europa bestätigt, dass entgegen landläufiger 136 137 138 139
Bergemann 1997, 138 f.; Engels 1998, 122–125. Plat. leg. 12, 955e–956b. Leg. 12, 958d–960a; bereits 4, 719c–e spielt Platon auf die gesetzliche Beschränkung des Grabaufwands an, wobei er zeigt, wie wichtig in der Wahrnehmung neben der Quantität auch Qualität der Unterschiede waren; vgl. Gherchanoc 2012, 201–203. Zu Demetrios’ Aufwandsgesetzen s. Gehrke 1978; Habicht 1995, 64–66; Gagarin 2000; Lape 2004, 45–59; O’Sullivan 2009, 47–103 mit 47–66 zur Grabgesetzgebung; Gehrke weist auf die engen Parallelen von Demetrios’ Maßnahmen zu aristokratischen Verfassungsideen und -realitäten (Rom im 2. Jh.) hin, op. cit., 162–170, und hält sie dennoch für „Konzessionen“ der neuen Oligarchie, weil er Aufwandsbeschränkungen für grundsätzlich demokratisch hält. O’Sullivan bestreitet wirtschaftliche Schonung der Oberschicht als primäres Motiv und betont die moralisch-didaktische Intention; das folgt letztlich der Selbstrechtfertigung des Demetrios und kann nicht erklären, wieso die Gesetze durchweg Bereiche betrafen, in denen statusspezifische Ausgaben hoch waren; neben dem Grabaufwand und Hochzeitsfesten nämlich auch die Choregie, die als Inbegriff der ruinösen Statuskonkurrenz innerhalb der Oberschicht galt und im Verlauf des 4. Jhs, immer aufwendiger wurde; vgl. Wilson 2000, 268–276 und Rohde 2019, 278–281; Demetrios’ Verkleinerung der Bürgerschaft durch einen Vermögenszensus weist in dieselbe Richtung; vgl. van Wees 2011a.
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Meinung Aufwandsbeschränkungen gerade keine ‚demokratischen‘ Maßnahmen waren, sondern Selbstschutzmaßnahmen exklusiver Führungsschichten.140 Rainer Bernhardt kommt in seiner Untersuchung zu Luxuskritik und Aufwandsbeschränkung im antiken Griechenland zum gleichen Ergebnis: Die Einführung der Demokratie provoziert eine Steigerung des Konsums, Oligarchien verbieten ihn.141 In Sparta und auf Kreta lässt sich die Aufwandsbeschränkung, ebenfalls auch bei Bestattungen und Grabmälern, sogar archäologisch fassen.142 Luxusgesetze und Luxuskritik waren Ausdruck einer Oberschicht, die sich gegen den Konkurrenzdruck von Aufsteigern wehrte und versuchte, den inneren Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Platon, der die Oligarchie als Herrschaft der Reichen definiert, sagt ausdrücklich, dass sie als Regierungsform einerseits auf Bereicherung ziele,143 andererseits auf eine Begrenzung der kostspieligen Statuskonkurenz.144 Und gewiss ist in der eigenen Stadt der Sparsame ein schlechter Mitbewerber um irgendeinen Sieg oder bei anderen Ehreneifern um edle Dinge (ἄλλης φιλοτιμίας τῶν καλῶν), und da er doch des Ansehens und solcher Kämpfe wegen kein Geld aufwenden will, indem er sich immer fürchtet, die verschwenderischen Begierden (τὰς ἐπιθυμίας τὰς ἀναλωτικάς) aufzuregen und zum Bündnis und Wetteifer herbeizurufen, so führt er recht oligarchisch den Krieg immer nur mit wenigen von den Seinigen, wird also gewöhnlich überwunden, bleibt aber reich.
Aristoteles teilt diese Auffassung der Oligarchie als Herrschaft der Reichen zugunsten der Reichen.145 Wie Platon denkt er dabei nicht nur an Bereicherung, sondern auch an Kosteneinsparung durch Dämpfung der Konkurrenz. So schlägt er zur Bewahrung der 140 Wallace-Hadrill 2008, 315–355 zu Rom mit weiterem Vergleichsmaterial; zur Aufwandsbeschränkung durch etablierte Oberschichten in Mittelalter und Neuzeit, gerade auch in selbstregierten Städten, vgl. Bulst 1988; 1993; Jaritz 1993; Selzer 2005. 141 Bernhardt 2003, 317–334; Engels 1998, 147 weist diese Deutung für Athen als Überschätzung von „Statusrivalitäten“ zurück, deutet die Grabluxusgesetze des oligarchischen Massilia jedoch selbst als Mittel um die „für den Zusammenhalt der gesamten Adelsschicht gefährliche […] Statuskonkurrenz“ einzudämmen, ebd. 68–70; für Aufwandsgesetze in einer demokratischen Stadt führt Engels einzig Ioulis auf Keos an, ebd. 60–64; es ist allerdings fraglich, ob es bei dem ioulischen Bestattungsgesetz v. a. um Aufwandsbeschränkung geht und ob sich die Verhältnisse dieser Kleinstadt auf Großstädte wie Athen übertragen lassen. 142 Zu einer solchen Deutung des Verschwindens materiellen Luxus auf Kreta in der Zeit um 600 s. Seelentag 2015, 34–57 mit 40–45 zu Bestattungen; und Whitley 2015; die von Zeitgenossen bewunderte Austerität der Spartaner ist ebenfalls archäologisch belegt, Hodkinson 2000, 209–368 mit 237–270 zu Bestattungen; vgl. Schmitz 2014b, 180–183. 143 Plat. rep. 8, 550c–556e; ausgeführt 551a–b. 144 Rep. 8, 554e–555a: Καὶ μὴν ἀνταγωνιστής γε ἰδίᾳ ἐν πόλει ὁ φειδωλὸς φαῦλος ἤ τινος νίκης ἢ ἄλλης φιλοτιμίας τῶν καλῶν, χρήματά τε οὐκ ἐθέλων εὐδοξίας ἕνεκα καὶ τῶν τοιούτων ἀγώνων ἀναλίσκειν, δεδιὼς τὰς ἐπιθυμίας τὰς ἀναλωτικὰς ἐγείρειν καὶ συμπαρακαλεῖν ἐπὶ συμμαχίαν τε καὶ φιλονικίαν, ὀλίγοις τισὶν ἑαυτοῦ πολεμῶν ὀλιγαρχικῶς τὰ πολλὰ ἡττᾶται καὶ πλουτεῖ. Adapt. Übers. F. Schleiermacher. 145 Aristot. pol. 5, 1308 b 31–1309 a 24; vgl. 6, 1320 b 9–14.
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Demokratie vor, man solle „die kostspieligen, aber nutzlosen Liturgien“ zur Schonung der Wohlhabenden unterbinden, und zwar obwohl die Reichen sie ‚freiwillig‘ besonders aufwendig ausführten!146 In demokratischen Städten, allen voran Athen, waren die Kosten der Oberschichtszugehörigkeit hoch, weil es gerade keine institutionellen Schranken der Statuskonkurrenz in Form von Aufwandsgesetzen gab. Weil es innerhalb der breiten Bürgerschicht keine institutionell verankerte Binnendifferenzierung gab, mussten die Mitglieder der Oberschicht ihre Distinktion ständig performativ manifestieren. Jeder wirtschaftlich erfolgreiche Bürger war berechtigt, mit ostentativem Konsum und gemeinnützigen Ausgaben in die Konkurrenz einzutreten. Als Belastung wurde die Demokratie und ihre Liturgien daher gerade am unteren Rand der Oberschicht empfunden.147 Die Bürgerschaft Athens profitierte als Kollektiv von dieser Konkurrenz um Ehrungen. Die Redner rechneten ihr dies mit bemerkenswerter Offenheit vor.148 Der einzelne Konkurrent hingegen bekam vor allem die der Statuskonkurrenz innewohnende Tendenz zur Eskalation zu spüren. Ehre ist, soweit es um Distinktion geht, ein „Positionsgut“. Der Wert eines solchen Guts hängt davon ab, wie viele andere Personen ebenfalls in seinen Genuss kommen. Eine gesteigerte ‚Nachfrage‘ nach Ehre kann deshalb nicht durch eine inflationäre Vermehrung von Ehrerweisen gedeckt werden. Das gilt auch für privaten ostentativen Konsum. Egal wie kostspielig das eigene Fest oder Grabmal war: Gelingt dem Nachbarn größeres, mindert das den Wert der eigenen Investition in Ansehen. Soweit das öffentliche Ansehen um der Distinktion willen angestrebt wurde, stellte die Konkurrenz darum für die Beteiligten nicht bloß ein Nullsummenspiel, sondern sogar ein Negativsummenspiel dar, bei dem immer mehr materielle Güter geopfert werden mussten, nur um die gleichen Rangverhältnisse aufrechtzuerhalten.149 In diesem Sinn betont Paul Veyne den defensiven Charakter des ostentativen Konsums: „il faut ‚tenir‘ son rang“. Wenn alle ostentativ Aufwand treiben, ist nur noch der Verzicht sichtbar.150
146 Pol. 5, 1309 a 14–21 mit Davies 1981, 26; vgl. 6, 1320 a 17–36. 147 Vgl. Xen. hell. 1.4,16 zum Erfolg eines Mannes wie Alkibiades gerade in der Demokratie und Davies 1981, 28 mit [Demosth.] 42.22 zur Belastung ‚kleiner‘ liturgischer Haushalte. 148 Demosthenes erklärt die scharfe Konkurrenz der Wohltäter, die Athen materiell nütze, mit der Offenheit der Demokratie im Unterschied zur Oligarchie, vgl. Demosth. 20.10–17 und 21.61–67; sein Erzrivale Aischines vertritt die gleiche Ansicht, Aischin. 3.180; zur „Ökonomie der Ehre“ als Argument in Demosth. 20 vgl. Canevaro 2016, 77–97. 149 Ausführlich zur Theorie der Konkurrenz um Positionsgüter Hirsch 1977, 41–51; vgl. van Wees 2011b, 1–5 für eine historische Perspektive auf Statuskonkurrenz, die er Rivalität nennt; Bourdieu [1979] 1987, 266, 273 spricht vom „Prozeß der homothetischen Entwicklung“, wenn alle Gewinne einer Gruppe, die in der Konkurrenz um Güter ‚aufholen‘ will, durch die vermehrten Anstrengungen von der bisher höherstehenden Gruppe ausgeglichen werden, weshalb es nur zu einer Verschiebung der ungleichen Verteilung kommt, nicht zu deren Aufhebung; vgl. zum modernen Beispiel der Konkurrenz um Bildungstitel Esser 2000c, 230 f. 150 Veyne 1976, 110.
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3 Die Umwelt des Hauses
3.3 Status und Erwerb: Das Adels-Dilemma Der hier behauptete Wirkungszusammenhang lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Vervielfältigung der Chancen, durch kriegerischen oder friedlichen Erwerb aufzusteigen, aber auch der Risiken, durch Kriege oder innere Konflikte abzusteigen, vermehrte die soziale Mobilität und diese wiederum die Statuskonkurrenz. Diese Konkurrenz erhöhte die Geldkosten von Haushalten, weil sie zum großen Teil über den ostentativen Konsum bei öffentlichen und semi-öffentlichen Anlässen und über die Leistung gemeinnütziger Spenden und Beiträge ausgetragen wurde. Das wiederum erforderte, die Hauswirtschaft dahingehend zu rationalisieren, mehr Mittel heranzuschaffen und diese effizienter einzusetzen. Genau dieser Zusammenhang führte die Haushalte jedoch in das Dilemma, dass ehrenhafter Konsum Geldeinnahmen notwendig machte, der Gelderwerb selbst jedoch als wenig ehrenvoll oder sogar ehrenrührig galt. Ein edler und gerechter Lebensstil verursachte nicht nur direkte Kosten, sondern beschränkte zugleich die Einnahmemöglichkeiten.151 Dieses Dilemma möchte ich als ‚Adels-Dilemma‘ bezeichnen. Aristoteles formuliert es in der Nikomachischen Ethik prägnant:152 Der Freigiebige wird nicht leicht reich, da ihm weder am Empfangen noch am Bewahren liegt; er gibt leicht aus und schätzt das Geld nicht um seiner selbst willen, sondern um geben zu können. Darum klagt man auch das Schicksal an, dass jene, die es am meisten verdienen, am wenigsten reich sind. Doch ist dies wohl verständlich. Denn beim Geld gilt wie bei anderen Dingen, dass man es nicht besitzen wird, wenn man sich nicht darum kümmert, es zu erwerben.
Aristoteles urteilt hier sympathetisch: Die Freigiebigkeit bringt unverdiente Geldnöte. Rhetorisch ließ sich der unverdiente Ruin durch Freigiebigkeit allerdings leicht zum verdienten Ruin wegen Verschwendungssucht umdeuten. Laut Xenophon gäbe es viele, die zunächst gut mit Geld umgingen und sparsam waren, aber wegen einer Liebschaft verschwenderisch wurden. Am Ende mittellos „wenden sich jene, die sich früher von Gewinn fernhielten, weil sie ihn für schändlich hielten, nun dem Gewinn zu“.153 Der typische Hausvater ist ein widerwilliger Maximierer, den sein Adels-Ethos in ein Dilemma bringt: Gerade weil er Geld geringschätzt, braucht er so viel davon.
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Plat. rep. 8, 550e: Tugend und Reichtum verhalten sich wie die zwei Seiten einer Waage: steigt die eine, sinkt die andere im Verhältnis. Aristot. eth. Nic. 4, 1120 b 13–18: πλουτεῖν δ᾽ οὐ ῥᾴδιον τὸν ἐλευθέριον, μήτε ληπτικὸν ὄντα μήτε φυλακτικόν, προετικὸν δὲ καὶ μὴ τιμῶντα δι᾽ αὐτὰ τὰ χρήματα ἀλλ᾽ ἕνεκα τῆς δόσεως. διὸ καὶ ἐγκαλεῖται τῇ τύχῃ ὅτι οἱ μάλιστα ἄξιοι ὄντες ἥκιστα πλουτοῦσιν. συμβαίνει δ᾽ οὐκ ἀλόγως τοῦτο: οὐ γὰρ οἷόν τε χρήματ᾽ ἔχειν μὴ ἐπιμελόμενον ὅπως ἔχῃ, ὥσπερ οὐδ᾽ ἐπὶ τῶν ἄλλων. Übers. O. Gigon. Xen. mem. 1.2,22: καὶ τὰ χρήματα καταναλώσαντες, ὧν πρόσθεν ἀπείχοντο κερδῶν, αἰσχρὰ νομίζοντες εἶναι, τούτων οὐκ ἀπέχονται. Vgl. mem. 2.6,2.
3.3 Status und Erwerb: Das Adels-Dilemma
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Anders als monarchisch regierte Reiche boten die selbstregierten Stadtgemeinden nur wenig zuverlässige direkte materielle Prämien für ‚Adeligkeit‘. Es gab keine erblichen Pfründe und Lehen; stattdessen brachte die Übernahme gemeinnütziger Aufgaben neben den direkten Kosten auch die indirekten Kosten ein, die eigene Hauswirtschaft vernachlässigen zu müssen. Demokrit formulierte diesen Konflikt zwischen der Rolle als Hausvater und der Rolle als Stadtbürger Ende des 5. Jhs. ebenfalls als Dilemma:154 Den Tüchtigen ist es nicht zuträglich, ihre eigenen Geschäfte zu vernachlässigen und sich um die der anderen zu kümmern. Denn dann befände sich das eigene Vermögen in Gefahr. Wenn einer aber die öffentlichen Angelegenheiten vernachlässigen sollte, so kommt er in üblen Ruf, auch wenn er weder stiehlt noch Unrecht tut, da auch derjenige, der weder vernachlässigt noch Unrecht tut, Gefahr läuft, in Verruf zu geraten und etwas zu erleiden.
Die Autoren Ende des 5. Jhs. kamen pessimistisch zum Ergebnis, dass Ehre und Erwerb unvereinbare Gegensätze waren.155 Die Autoren des 4. Jhs. entwarfen hingegen Idealstädte, in denen sich das Dilemma von Ehre und Erwerb von selbst auflöste. Diese Utopien geben wertvollen Aufschluss über die wirtschaftliche und soziale Dynamik der klassischen Zeit und die moralischen Probleme, die diese Entwicklung hervorrief. Zugleich zeigen sie, dass die Hauswirtschaft nicht als Gegensatz zur geldbasierten Verkehrswirtschaft gesehen wurde, sondern als ihr Kernstück. 3.3.1 Die utopische Abschaffung der Hauswirtschaft Die Schilderung idealer Gemeinwesen des 4. Jhs. sind in dem Sinne Utopien, dass ihre Urheber ihre Unerreichbarkeit mehr oder weniger offen eingestehen. Xenophons Schilderung der altpersischen Verfassung in der Kyrupädie und der altspartanischen Verfassung in der Verfassung der Lakedaimonier geben sich als historische Berichte aus.156 Allerdings liegen unüberwindbare Distanzen zwischen den idealen Gemeinwesen und der Gegenwart des Autors. Das Sparta des legendären Gesetzgebers Lykurg lobt Xenophon als vorbildliches Gemeinwesen: Dort werde der Besitz kollektiv genutzt; anders als „in den meisten anderen Städten“ herrsche hier nicht jeder einzeln über Kinder, Sklaven und Vermögen, sein ganzes Haus also. Denn in allen anderen Städten machten die Leute so viel Geld als nur möglich, durch Landwirtschaft, Schiffsbesitz, Handels154
155 156
Demokr. fr. B 253 DK 68 (= Stob. 4.1,44): τοῖς χρηστοῖσιν οὐ συμφέρον ἀμελέοντας τῶν ἑωυτῶν ἄλλα πρήσσειν· τὰ γὰρ ἴδια κακῶς ἔσχεν. εἰ δὲ ἀμελέοι τις τῶν δημοσίων, κακῶς ἀκούειν γίγνεται, καὶ ἢν μηδὲν μήτε κλέπτηι μήτε ἀδικῆι. ἐπεὶ καὶ ἀμελέοντι ἢ ἀδικέοντι κίνδυνος κακῶς ἀκούειν καὶ δὴ καὶ παθεῖν τι. Übers. M. Gemelli Marciano. Vgl. die oben zitierten Stellen beim Anonymus Iamblichi und einer dem Demokrit-Fragment vergleichbare Klage bei Antiph. fr. B 49 DK 87 (= Stob. 4.22,2). Vgl. Xen. Lak. pol. 1.1 und Kyr. 1.1,6.
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reisen oder andere Gewerbe.157 In Sparta könnten sich die Freigeborenen dagegen ganz dem Gemeinwesen widmen, weil Geldgeschäft (χρηματισμός), ungerechtes Geschäftemachen (ἀδίκων χρηματίζεσθαι) und privater Geldbesitz im eigenen Haus verboten seien. Xenophon geht also für ganz Griechenland von einer diversifizierten, gelderwerbsorientierten Wirtschaftsweise aus, deren Kern das Haus und seine Menschen sind. Als Grund dieser erwerbsorientierten Hauswirtschaft sieht er die allgemeine Statuskonkurrenz, wie die darauffolgende Erläuterung zeigt. In Sparta gebe es keinen Grund nach Reichtum und Geld zu streben: Weil Lykurg die Lebensführung „ebenbürtig“ (ὁμοίως) gemacht habe, seien weder kostspielige Gewänder noch besonderer Tafelaufwand notwendig.158 Xenophon stilisiert Sparta zu einem Ort, wo die Arbeit abhängiger Knechte und die Ausschaltung der Konkurrenz durch Konsum jede private Erwerbstätigkeit und Hausführung überflüssig machen. Aber Xenophon hebt hervor, dass dieses ideale Sparta der Vergangenheit angehört.159 Die spartanische Lösung für das Adels-Dilemma liegt in einer ahistorischen, unerreichbaren Vorzeit.160 In der Kyrupädie entwirft Xenophon ein ähnliches Gegenbild zur Gegenwart der griechischen Städte, diesmal angesiedelt im fernen Persien zur Zeit von Kyros dem Großen (6. Jh.). Ämter und Ehren werden strikt nach Verdienst vergeben,161 die notwendige Erwerbsarbeit leisten Untertanenvölker162 und Markt und Regierung sind städtebaulich getrennt.163 Die Perser essen und trinken bei Gastmählern sparsam und maßvoll.164 Auch diese Idealverfassung ist unerreichbar: Bei den heutigen Persern gelten all diese alten Tugenden nichts mehr: Sie frönen dem Luxus und sind der „schändlichen Gewinnsucht“ (αἰσχροκέρδεια) verfallen.165 Anders als Xenophon gibt Platon ausdrücklich an, Utopien zu entwerfen.166 In der idealen Stadtgemeinde der Politeia ist der private Haushalt – die entscheidende Einheit von Erwerb und Konkurrenz – zugunsten einer Weiber- und Besitzgemeinschaft aufgelöst und es herrscht strikte ständische Arbeitsteilung.167 Die Weisen herrschen, 157 158 159 160
Lak. pol. 6. Lak. pol. 7. Lak. pol. 14. Gemeint ist nicht, dass die spartanische Austerität reine Erfindung ist, vgl. dazu oben Anm. 142; gemeint ist, dass die Autoren des 4. Jhs. ein Ideal entwarfen, in dessen Glanz selbst das echte Sparta ungenügend schien, vgl. Rebenich 1998, 14–35; zum Verhältnis von ‚Ideologie‘ und Wirklichkeit in Sparta vgl. Figueira 2002. 161 Xen. Kyr. 1.2,15. 162 Kyr. 4.3,12, 4,10 f. 163 Kyr. 1.2,4 f. 164 Kyr. 1.3,4–7, 10; 4.5,4–8. 165 Kyr. 8.8; Gewinnsucht, ebd. 18. 166 Die Metapher in der Politeia auf den Einwand der Unverwirklichbarkeit hin formuliert, Plat. rep. 9, 592a–b; ein ganz ähnlicher Gedanke in leg. 5, 745e–746d. 167 Zu wirtschaftlicher Ungleichheit als Thema der Politeia Fuks [1977] 1984; zur Wirtschaft Schofield 1993 und Helmer 2010, passim und bes. 24–221; zur Kritik am Gelderwerbstreben Schriefl 2013, 174–215; zur Auflösung der Haushalte Natali 2005.
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die Wächter sorgen für Sicherheit und nur der dritte Stand, die Bauern und Handwerker, wirtschaften.168 Die Wächter treiben keinerlei Erwerbstätigkeit und haben keinen Privatbesitz, ähnlich wie Xenophons Spartiaten.169 Der Grund für die Auflösung des Haushalts gleicht ebenfalls demjenigen bei Xenophon. Das partikulare Streben der Bürger nach der Vergrößerung ihres Haushalts in der Konkurrenz mit anderen Haushalten, die πλεονεξία, führt zur Vernachlässigung des Gemeinwohls und spaltet die Bürgerschaft.170 Platon wendet sich ganz bewusst gegen jene Vergrößerung des Haushalts/Vermögens (auxēsis oikou), die den attischen Rednern als Erfolgskriterium der Hauswirtschaft galt.171 Der Verfassungsentwurf der Gesetze ist weniger radikal und behält den Haushalt als soziale Grundeinheit bei. Er strebt jedoch ebenfalls konsequent danach, eine wirtschaftlich statische Gesellschaft zu garantieren, indem die Hauswirtschaft eingehegt wird.172 Die Gesamtzahl und die Rangunterschiede der Haushalte werden in vier Zensusklassen eingefroren. Zu diesem Zweck beugen etliche Regeln allen denkbaren wirtschaftlichen und demographischen Gründen für soziale Mobilität vor, vom Verbot des Landverkaufs bis zu zwangsweiser Adoption und der Entsendung überzähliger Söhne als Kolonisten.173 Wie in Xenophons Sparta ist es in Platons Magnesia weder nötig noch erlaubt, mit irgendeinem „unfreiheitlichen Geschäftemachen Geld zu verdienen“ (χρηματίζεσθαι τῶν ἀνελευθέρων χρηματισμῶν) und irgendeine „sogenannte banausische Tätigkeit“ (λεγομένη βαναυσία) auszuüben, denn es gibt keinen legitimen Grund „Geld anzuhäufen“ (συλλέγειν χρήματα).174 Alltägliche Privatausgaben werden mit Münzgeld getätigt, das jenseits von Magnesia wertlos ist; Mitgiften sind verboten; Kreditgeschäfte sind zwar nicht absolut verboten, genießen jedoch keinen Gläubigerschutz; Handwerk, Wucher und Zuhälterei sind den Bürgern verboten, erlaubt ist Landwirtschaft zum Zweck der Bedarfsdeckung.175 Mit Erwerbsformen, die einträglich, aber riskant oder verrufen sind – Reederei, Fern- und Detailhandel, Steuerpacht, Bergwerke und Geldverleih – haben die Bürger nichts zu schaffen.176 Aristoteles’ Idealstadt in Politik VII erinnert in Manchem an die Ausführungen seines Lehrers Platon. In der „besten Verfassung mit der besten Regierung und den gerechtesten Männern“ sollen die Bürger „weder ein banausisches noch ein krämerisches 168 169 170 171 172
173 174 175 176
Plat. rep. 3, 415a. Rep. 3, 415e–417b; vgl. 8, 544c–550c für Platons Sicht auf Sparta. Natali 2005, 216–222; vgl. Helmer 2010, 84–86, 99–147, 223. Natali 2005, 218 f. mit entsprechenden Belegen aus den Gerichtsreden. Platons wirtschaftliche Bestimmungen in den Gesetzen sind Gegenstand einer ausführlichen Forschungsliteratur; vgl. Morrow 1968, 103–152; Rameil 1973; Fuks [1979] 1984; Brunt 1993b, 260–266; Danzig/Schaps 2001; Drechsler 2003; Sauvé Meyer 2003; Piérart 2005; Helmer 2010, 223–235; Schriefl 2013, 217–261; Föllinger 2016, 127–150. Vgl. Plat. leg. 5, 736c–741e; 745a–e; 9, 853d–855c; 11, 923c–929a. Leg. 5, 739e. Leg. 5, 739d–744a. Leg. 8, 842d–e.
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Leben führen“ (οὔτε βάναυσον βίον οὔτ’ ἀγοραῖον δεῖ ζῆν) und auch keine Landwirte sein, denn das Leben als Bürger erfordere Muße.177 Die Bürger regieren und führen Krieg, freie Nichtbürger üben die Handwerke aus, Nichtbürger, Sklaven oder barbarische Periöken bestellen die Äcker.178 Die agora für politische Belange und die agora für Handel liegen getrennt.179 Die Tatsache, dass Aristoteles für eine solche, archäologisch nicht nachgewiesene180 Trennung auf Thessalien verweisen muss,181 zeigt genau wie die superlativischen Voraussetzungen für die gute Stadt,182 dass Aristoteles die Topographie einer Utopie beschreibt. Tatsächlich hält Aristoteles die Realisierungschancen einer Verfassung, die den Bürgern „Muße von der Besorgung des Lebensnotwendigen“ verschafft, für gering; die drei Regionen, die er in dieser Hinsicht für die nachahmenswertesten hält – Lakonien, Thessalien, Kreta –, liegen an der Peripherie des wirtschaftlich dynamischen Ägäis-Raums.183 Athen, wo solche Utopien erdacht wurden, lag in dessen Zentrum. Im Kritias hebt Platon selbst die Bedeutung der Geographie für die Verwirklichungschancen seiner Verfassungsutopien hervor. Die Voraussetzung für die gute Verfassung Ur-Attikas war laut Platon seine natürliche Beschaffenheit. Es verfügte über ausgedehnte Fruchtebenen, bewässert von regelmäßigen Regenfällen, die ein großes Heer müßiger Krieger ernähren konnten, anstatt, „wie heute“, trocken und karg zu sein „wie die Inseln“.184 Die erfolgreiche Trennung von Erwerb und Bürger-Sein hätte also nichts weniger erfordert als eine Umstülpung der naturräumlichen Bedingungen der griechischen Gesellschaft. Gesuchte Kontrafaktizität war kein Spezifikum Platons und seiner Schüler. Laut Aristoteles erklärte Phaleas von Chalkedon Besitzungleichheit für die Ursache aller Bürgerzwiste und forderte für eine gute Stadt strenge Besitzgleichheit, eine kleine Bürgerschaft und öffentliche Sklaven als Handwerker.185 Erstere Regelung hielt Aristoteles für fehlgeleitet, für die letztere fielen ihm kaum empirische Beispiele ein.186 Bemerkenswert ist, dass der Urheber dieser Idealverfassung aus Chalkedon stammte, einer Handelsstadt, die in Aristoteles’ Tagen für Demokratie und ausschweifenden Genuss
177 178 179 180
Aristot. pol. 7, 1328 b 33–1329 a 1. Pol. 7, 1329 a 2–26; ebenso 1330 a 23–33. Pol. 7, 1331 a 30–b 4. Hoepfner/Schwandner 1994, 302, 308 und Hoepfner 2006, 21, gehen von der Existenz dieser Trennung aus und halten Hippodamos von Milet für ihren Erfinder; dagegen Gorman 1995; Shipley 2005, 356–375; Zimmer 2006. 181 Vgl. Moggi 2012, 23–25. 182 Die polis ist ἀρίστη und κάλλιστα πολιτευομένη und verfügt über δικαίους ἄνδρας ἁπλῶς. 183 Vgl. Aristot. pol. 2, 1269 a 34–b 12. 184 Plat. Krit. 108e, 110c–112e; zur Utopie des Kritias vgl. Bichler 2008 und speziell zur Ablehnung der Geldwirtschaft Ruffing 2016b, 185–190. 185 Aristot. pol. 2, 1266 a 37–1267 b 21. 186 Aristoteles nennt nur die kleine Stadt Epidamnos und einen gescheiterten Versuch eines unbekannten Athener Politikers vgl. pol. 2, 1267 b 16–21 mit Schütrumpf 1991, 258.
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gescholten wurde.187 Womöglich war Phaleas’ Verfassungsentwurf also ein Stück Sittenkritik, das den Widerspruch zum Alltag seiner Gesellschaft suchte. Sicher gilt dies für die Utopie, die Zenon aus Kition (334–264), Gründer der stoischen Schule, in seiner Politeia entwarf. Wie Platon forderte Zenon die Abschaffung der Ehe, Grundlage des Haushalts, und des Münzgeldes sogar für Handel und Reisen.188 Er forderte, den Göttern keine Tempel zu bauen, weil ein von Baumeistern oder Handwerkern geschaffenes Werk nichts wert sei.189 Die Äußerung legt eine allgemeine Abwertung materieller Güter und Prachtentfaltung nahe, verbunden vielleicht mit einer Abwertung der Handwerker, die diese Güter hervorbrachten. Bemerkenswert bei Zenon ist der Widerspruch zwischen Lehre und Leben. Er war Sohn eines reichen Kaufmanns und trieb selbst Seehandel, bis er sich in Athen zur Ruhe setzte und der Philosophie zuwandte – auf Grundlage eines enormen Geldvermögens, das er weiterhin in Seehandelsgeschäfte investierte.190 Die utopischen Versuche, den Konnex von sozialer Mobilität, Statuskonkurrenz, ostentativem Konsum und Gelderwerb zu zertrennen, belegen ex negativo, wie sehr Reichtum und Erwerb das normative Denken des 4. Jhs. beschäftigten. Sie zeigen außerdem, wie fest Erwerbswesen und Statuskonkurrenz gedanklich an den Haushalt geknüpft waren. Die radikalsten Utopien zielten immer auf eine Auflösung des Haushalts durch die Aufhebung von Ehe und Privateigentum. ‚Reaktionäre‘ Philosophen wünschten sich nicht die Hauswirtschaft einer vergangenen Zeit zurück; sie forderten das Ende der Hauswirtschaft ihrer Gegenwart. Warum trafen diese provokanten und utopischen Lösungsvorschläge des Adelsdilemmas den Geschmack eines Publikums, das zum größten Teil nicht aus Theoretikern bestand, sondern aus Männern, die sich auf das praktische Leben ihrer Zeit vorbereiteten, zu dem auch Gelderwerb und Haushaltung gehörten? Die im Lauf dieser Arbeit zu begründete Antwort lautet, dass auch diejenigen, die sich Gelderwerb und Haushaltung widmeten, dies nur als notwendige Voraussetzung für die eigentlich edlen und erstrebenswerten Tätigkeiten sahen.191 3.3.2 Performative Distanzierung von der Hauswirtschaft Die Idealentwürfe trafen zwar den Geschmack des Publikums, aber sie boten keine Anleitung für den praktischen Umgang mit dem Adels-Dilemma. Mobilität und Sta187 188
Theop. FGrH 115 F 62 (= Athen. 12.526d–f). Vgl. die Einwände der Kritiker, die Diog. Laert. 7.32–33 zitiert (= Zen. fr. 226, 267 SVF I); Plut. de Alex. fort. 328a–329d (= fr. 262 SVF I) nennt die Schrift zusammen mit Platons Politeia einen Idealentwurf, der gut, aber unverwirklichbar sei, wie ein Traumbild oder Gemälde. 189 Zen. fr. 264 SVF I (= Plut. De Stoic. repugn. 1034b). 190 Zu Zenons Biographie s. Kap. 11.3.1. 191 Vgl Veyne 1976, 121–141 zur Selbstbeschreibung der städtischen Oberschichten.
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tuskonkurrenz ließen sich schlecht per Gesetz verbieten und die Gesetzgebung einzelner Städte hatte kaum Einfluss auf die stadtübergreifende Verkehrswirtschaft. Der praktische Umgang mit dem Adels-Dilemma zielte daher nicht auf seine Aufhebung, sondern auf die Abmilderung seiner Folgen.192 Dazu dienten Strategien, die performativ Distanz schafften zwischen dem Hausvorstand und den Quellen seines Wohlstands, seiner Hauswirtschaft. Der potentielle Erfolg von Strategien performativer Distanzierung beruhte darauf, dass Städte wie Athen zwar keine Face-to-Face-Gesellschaften mehr waren, in der jeder jeden kannte, aber Kommunikation unter Anwesenden in der städtischen Öffentlichkeit entscheidend war, um Rangverhältnisse, Gruppenzugehörigkeiten und Geschäftsbeziehungen zu etablieren und zu manifestieren. Die soziale Identität wurde dabei nicht bloß vorgeführt, sondern überhaupt erst generiert, in einer Wechselwirkung des individuellen Bestrebens eine bestimmte soziale Person zu verkörpern und der Bereitschaft der sozialen Umwelt, diese Verkörperung zu akzeptieren oder zu attackieren.193 Denn verachtet wurde nicht die Zugehörigkeit zu einer abstrakten ökonomischen Klasse, sondern die Lebensführung als Zeichen der Standeszugehörigkeit.194 Um den Konflikt zwischen der Rolle des akribischens Hauswirts und des freigiebigen Bürgers zu entschärfen, bedurfte es der räumlichen und zeitlichen Abschirmung (insulation) von Personengruppen mit inkongruenten Rollenerwartungen an den Hausvater, d. h. seinen Hausgenossen und seinen Standesgenossen.195 Dieses Bestreben um Abschirmung zeigt sich in der Geheimhaltung über die hausinternen Vorgänge (Kap. 8.2). Die Hausgemeinschaft agierte dabei idealerweise als „Team“ im Sinne Erving Goffmans, um die Inszenierung aufrechtzuerhalten. Stadt und Haus bildeten ‚Vorder- und Hinterbühne‘ in Goffmanns Theatermetaphorik.196 Die statusschwächeren Hausgenossen entlasteten den Hausvater darüberhinaus dadurch, dass sie jene Aufgaben übernahmen, deren persönliche Erledigung dem Ansehen des Hausvaters geschadet hätte. Performative Distanzierung war demgemäß ein wichtiger Aspekt der häuslichen Arbeitsteilung, ob bei der Produktion des Vermögens durch Sklaven oder dem stellvertretenden Konsum von Ehefrauen und Söhnen, ob bei der Trennung der Wohn- und Arbeitsbereiche im Wohnhaus oder bei der Bevor-
192 193
Vgl. Migeotte 2007, 27–29. Zu den Strukturen und Mechanismen der Kommunikation unter Anwesenden vgl. Luhmann 1997, 812–826, Kieserling 1999, 213–256 und Stollberg-Rilinger 2004. 194 Vgl. die Art, wie Xen. oik. 4.2 f., 6.5–8 die Handwerker abwertet, weil sie sich in dunklen, schmutzigen, ungesunden Werkstätten aufhalten; ähnlich Aristoph. Eccl. 383–388; vgl. Plat. rep. 8, 556c–d: der Arme, drahtig und sonnenverbrannt, verachtet den Reichen, wenn er ihn neben sich in der Phalanx sieht, bleich und korpulent. 195 Das Konzept der insulation in Anlehnung an Merton 1957, 114–116. 196 Goffman 1959, 77–140.
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zugung von Gelegenheitsgeschäften gegenüber Spezialisierung.197 Die Bezeichnung als ‚Kooperation‘ ist dabei nicht voluntaristisch gemeint: Frauen, Sklaven und Söhne übernahmen diese weniger angesehenen Aufgaben, weil es in der Macht des Hausvaters stand, sie zu delegieren. *** Zusammenfassung. Die Umwelt des Hauses gab die Bedingungen vor, unter denen die Hauswirtschaft operierte: die Opportunitäten, die es zu nutzen, die Restriktionen, die es zu beachten galt. Um die intensivierte Reflexion über Hauswirtschaft ebenso wie die Intensivierung der Hauswirtschaft selbst zu erklären, habe ich vier exogene Faktoren der Entwicklung der Hauswirtschaft aufgeführt. Diese Faktoren waren zweifellos bereits vor der zweiten Hälfte des 5. Jhs. wirksam, aber sie verstärkten sich im 5. und 4. Jh.: 1) Geographischer Faktor war die Verbindung von hoher klimatischer und geographischer Fragmentiertheit der griechischen Siedlungsgebiete mit hoher Konnektivität. Sie zwang zu wirtschaftlicher und sozialer Mobilität und Diversität, aber ermöglichte sie ebenso. Die griechische Welt lag wiederum im Zentrum einer zunehmend vernetzten Mittelmeerwelt, was ihren Bewohnern besondere Chancen bot, wirtschaftlich von dieser Vernetzung zu profitieren. 2) Wirtschaftlicher Faktor war die graduelle Verdichtung und das Anwachsen von Handel und Verkehr, einhergehend mit entsprechenden Institutionen und Techniken. Dieser Prozess wurde durch den politisch-militärischen Faktor der regionalen Integration befördert. 3) Politischer Faktor war der doppelte Polyzentrismus der griechischen ‚Gesellschaft der Städte‘: zum einen die Segmentierung in zahlreiche unabhängige Stadtgemeinden; zum anderen die Segmentierung der Städte in einzelne Bürgerhaushalte, die sich im Regieren und Regiert-Werden abwechselten und miteinander konkurrierten. Das führte zu einem scharfen Kontrast zwischen hoher sozialer Kontrolle im Stadtraum und schwacher, diffuser Kontrolle im Verkehrsraum jenseits der Heimatstadt. 4) Sozialer Faktor war die Stratifizierung der städtischen Haushalte nach Ansehen und Privileg. Die Konkurrenz unter Haushalten war dementsprechend nicht auf wirtschaftlichen Erfolg spezialisiert, sondern auf gesamtgesellschaftliche Statuskonkurrenz.
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Vgl. Thompson [1974] 1980, 176–180 für England im 18. Jh.; die lokale Führungsschicht bewahrte ihre kulturelle Hegemonie, indem sie ihre Rolle als Nehmende nur vermittelt durch Verwalter und andere Stellvertreter ausübte, dafür bei Auftritten als Gebende in sorgfältigen Inszenierungen persönlich agierte.
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Das Zusammenwirken dieser Faktoren hatte vier sich wechselseitig verstärkende Effekte: 1) Hohe Mobilität, sowohl horizontal zwischen Städten, als auch vertikal innerhalb von Städten. Auswärtig erworbene Güter sorgten für eine Instabilität sozialer Hierarchien, die beständig neu austariert werden mussten. 2) Hohe Statuskonkurrenz, verschärft durch diese Mobilität. Entsprechend der städtischen Organisationsform drückte sie sich besonders durch ostentativen Konsum und Konkurrenz um politische Ämter und Ehren aus. Je demokratischer die Verfassung einer Stadt war, d. h. je weniger die bestehende Oberschicht institutionell abgesichert war, desto ausgeprägter war diese Konkurrenz. 3) Intensivierung der Hauswirtschaft: Gesteigerte Statuskonkurrenz erforderte die effektivere Erwirtschaftung materieller Güter und die effizientere Verwendung der erwirtschafteten Güter. Zu dieser Verwendung gehörte auch ihre Konvertierung in soziales und symbolisches Kapital. 4) Intensivierung des Gelehrtendiskurses: Intensiviertes Erwerbsstreben und intensivierte Statuskonkurrenz führten zu einer gesteigerten intellektuellen Auseinandersetzung mit den Themen Erwerb und Haushaltsführung. Diese Auseinandersetzung gruppierte sich zu zwei verknüpften Themenkomplexen. Zum einen ein sittenkritischer Reichtumsdiskurs, der den Reichtum und das Erwerbsstreben zur Hauptursache für Sittenverfall und politischen Niedergang machte. Zum anderen der Versuch, in der Ökonomik die Haushaltung rational zu durchdringen, ihre Prinzipien zu systematisieren und auf den Begriff zu bringen. Hiermit sind in groben Zügen die Vorannahmen des folgenden Versuchs umrissen, Ökonomik und Hauswirtschaft als interdependente soziokulturelle Phänomene zu beschreiben und ihre Entwicklung in klassischer Zeit zu erklären.
Teil II Die Theorie der Hauswirtschaft: Die Literarische Ökonomik
4 Der soziale Kontext der Ökonomik Die Untersuchung der Ökonomik war von Anfang an Nebenschauplatz der Debatte über den Charakter der antiken Wirtschaft. Ende des 19. und Anfang des 20. Jhs. fühlte sich mancher Altertumswissenschaftler angesichts der tendenziellen Geringschätzung der Ökonomik durch die neu aufsteigenden Nationalökonomen zu ihrer Ehrenrettung genötigt. Albert Trevers etwa erklärte es zum Ziel seiner 1916 erschienen History of Greek Economic Thought, nicht nur den Grad zu bestimmen „to which the Greek thinkers grasped the principles of the orthodox economy of Ricardo and Mill“, sondern außerdem festzustellen, wo die antiken Denker der modernen Ökonomie voraus waren, weil sie den ganzen Menschen sähen und nicht nur den homo oeconomicus.1 Joseph Schumpeters History of Economic Analysis brach 1954 nachhaltig mit Traditionspflege dieser Art. Die antiken Griechen hätten zwar in vielen Wissenschaften die Grundlagen gelegt, doch „their economics failed to attain independent status or even a distinctive label“. Die Ökonomik sei bloß „the practical wisdom of household management“ gewesen und Aristoteles’ Chrematistik habe hauptsächlich „the pecuniary aspects of business activity“ bezeichnet.2 Finley griff diese Unterscheidung zwischen antiker Ökonomik und moderner Ökonomie mit großer Wirkung auf. Laut Finley entwickelten die antiken Denker keine eigenständige Theorie der Wirtschaft, weil eine solche Theorie ohne Gegenstand in der zeitgenössischen Realität gewesen wäre. Die Griechen kannten zwar aus praktischer Erfahrung viele und komplexe Formen der wirtschaftlichen Aktivität, sie „sahen aber nicht all diese einzelnen Aktivitäten gedanklich als Einheit, als ‚differenzierte Unterfunktion der Gesellschaft‘“.3 Laut Finley war die Ökonomik keine wirtschaftliche Analyse, sondern eine Herrschaftslehre von der Führung
1
2 3
Trever 1916, 7–9; vgl. die ähnliche Begründung bei Laistner 1923, vii–x und die Behauptung bei Gelesnoff 1923, 1 f. Aristoteles habe, „ein einheitliches System der ökonomischen Ideen entworfen“ und „wenn auch nur flüchtig, dennoch deutlich genug, die Hauptkonturen einer theoretischen Oekonomie gezeichnet“. Vgl. die Versuche, Aristoteles zum Begründer der Grenznutzenlehre zu machen, s. Kap. 6.2.2. Schumpeter [1954] 1994, 53 f.; zu ergänzen ist, dass Schumpeter nicht nach dem „ökonomischen Denken“ allgemein fragt, sondern speziell nach „ökonomischer Analyse“, an die er hohe Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit anlegt, ebd. 3–6. Finley [1973] 1993, 14 f., Zitat ebd. 14.
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des ‚Ganzen Hauses‘ im Sinne von Brunners ‚Hausväterliteratur‘.4 Diese Einschätzung ist insbesondere in der deutschsprachigen Forschung geteilt worden, zuletzt in Renate Zoepffels umfangreichem Kommentar zur pseudo-aristotelischen Ökonomik, der die Ökonomik auch insgesamt behandelt.5 Finley betonte zwar, dass es nicht erkenntnisförderlich sei, antike Ideen und Institutionen an modernen Verhältnissen zu messen, seine Defizit-Beschreibung der antiken Ökonomik tut letztlich jedoch genau das. Finley behandelte die antike Ökonomik nur als eigene Gattung, um zu bestimmen, was sie nicht war. Weil Finley und andere die Ökonomik als Zeichen einer fehlenden wirtschaftlichen Entwicklung interpretierten, sprachen Forscher, die dieses Urteil über die antike griechische Wirtschaft widerlegen wollten, der Ökonomik den Quellenwert ab. Laut Edward Cohen wurden die literarischen Abhandlungen zur Ökonomik von„upper-class ideologues“ geschrieben, welche die „new social reality“ ihrer Zeit nicht anerkannten. Im 4. Jh. habe der oikos zwar als Idealisierung weiterbestanden (Cohen verweist auf Xenophons Oikonomikos), sei aber nur noch eine leere Hülle gewesen: „in economic matters, the oikos was form, the market economy was reality“.6 Das gleicht bis zum Wortlaut einem älteren Verdikt Eduard Meyers.7 Aber auch Sally Humphreys, deren Thesen zur antiken Wirtschaft näher bei Finleys liegen, hielt Xenophons Oikonomikos für eine „idealisation of oikos-life“, „completely denying the realities of Athenian economic life“.8 Die Frage nach dem Realitätsbezug literarischer Texte ist natürlich ein unverzichtbarer Teil der Quellenkritik. Aber die Vorstellung, die Theoretiker antiker Haushaltsführung hätten ihr Publikum und sich selbst systematisch über die sie umgebende Wirklichkeit getäuscht, wird weder der Vielschichtigkeit dieser Texte gerecht noch berücksichtigt sie die sozialen Regeln der literarischen Kommunikation (vgl. Kap. 5 und 8.2). Welchen Zweck hätte eine Täuschung im kleinen Kreis gebildeter Rezipienten gehabt? Wie war sie möglich angesichts der Tatsache, dass die Texte ihren Sitz mitten im städtischen Leben hatten und nicht in Klöstern oder Universitäten? Selbst die radikalen Denker Sokrates und Diogenes zogen sich nicht in ein Eremitendasein zurück und ihre Zuhörer kamen aus den reichsten und angesehensten Haushalten der Stadt (s. u.). Die meisten Schüler Platons und Aristoteles’ wandten sich dem tätigen Leben zu, der ‚Führung von Stadt und Haushalt‘.9 Widersprüche, Idealisierungen und Auslassungen in der literarischen Kommunikation sind deshalb als Hinweise
4 5 6 7 8 9
Finley 1970, 22–25; vgl. Brunner [1956] 1980, 105, 125; vgl. 1956. Zoepffel 2006, 115; zugespitzt Koslowski [1974] 1993, 50, zurückhaltender Bien 1990; vgl. Roscalla 1992, 473 f. Cohen 1992, 87; ähnlich bereits Humphreys 1978a, 153. Für Meyer und ähnliche Urteile s. Kap. 1.1, Anm. 32. Humphreys 1996, 13. Ausführlich untersucht für Platons Akademie s. Morrow 1968, 4–10; Guthrie 1975, 19–24; Sonnabend 1996, 28–33; Flashar 2013, 30 f.; zu Aristoteles’ Lykaion vgl. ebd. 52–58.
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auf Widersprüche, Ideale und blinde Flecken in der täglichen städtischen Kommunikation zu verstehen. In diesem Sinn soll die literarische Ökonomik im Folgenden nicht als ‚Ideologie‘ bewertet werden, sondern als Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung analysiert werden.10 Die normativen Äußerungen zu Erwerb und Haushaltung sollten als Quellen der sozialen Einbettung des Wirtschaftens ernst genommen werden.11 Weil Kommunikation anschlussfähig sein muss, verweist selbst die gezielte Irritation und Provokation, die sich der Übertreibung, Ironie oder Inversion bedient, auf die etablierten Deutungsmuster, die ihr als Kontrastfolie dienen. Selbst radikale Gegenentwürfe zu den realen Verhältnissen wie Platons Politeia sind aufschlussreich für die Art, wie sie die bestehenden Verhältnisse kritisieren oder konterkarieren.12 Eine Selbstbeschreibung muss zwar nicht im wissenschaftlichen Sinne wahr sein, aber sie muss sich an der lebensweltlichen Erfahrung bewähren, um den Akteuren handlungsleitende mentale Modelle bieten zu können.13 Die Untersuchung der Ökonomik als Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung ist der klassischen Ideengeschichte verwandt. Sie unterscheidet sich von ihr darin, dass ihr Interesse weniger der Originalität der Theorien einzelner Autoren gilt als vielmehr deren geteilten Grundbegriffen und Vorannahmen, also den Koordinaten des Erfahrungsraums, innerhalb dessen sich einzelne Denker unterschiedlich positionierten. Insofern die Autoren sich selbst bei abweichenden Interessen und Meinungen eines gemeinsamen Vokabulars bedienen, um anschlussfähig zu sein, ist eine begriffs- und wortgeschichtliche Analyse besonders geeignet, ihre geteilten Vorannahmen und Grundprinzipien zu rekonstruieren.14 Neben den individuellen Unterschieden zwischen Autoren sind die unterschiedlichen Rezeptionskontexte zu beachten. Gelehrte Traktate und Geschichtswerke wurden für kleine exklusive Kreise geschrieben, Reden und Theaterstücke für den öffentlichen Vortrag vor einem breiten Publikum.15 Es ist plausibel anzunehmen, dass sich gewisse hochgestochene und elitäre Gedanken in Letzteren nicht wiederfinden.16 Es wäre jedoch falsch, einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen beiden Kommunikationsformen anzunehmen. Aristophanes hatte großen Erfolg mit Stücken, in denen er die zeitgenössische Demokratie kritisierte, neue Politiker angriff und die Einfalt des Durchschnittsbürgers verspottete.17 Zwischen den Gerichtsrednern aus der litur10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. die theoretischen Überlegungen bei Berger/Luckmann [1966] 1977, 49–69, Geertz [1973] 1983, 15–28 und Luhmann 1997, 866–893. Vgl. besonders das Kapitel „Stände und Status“ in Finley [1973] 1993, 32–64. Finley [1973] 1993, 41; Dover 1974, 7. Berger/Luckmann [1966] 1977, 21–48; weiter entwickelt bei Esser 2001, 117–334. Zur Methode der Begriffs- und Wortgeschichte s. Koselleck 1972 und [1972] 1979. Dover 1974, 7. Dover 1974, 5; Ober 1989, 121–127; Cecchet 2015, 31–35. Sommerstein 2003; ähnlich Dover 1974, 35–37; vgl. Sommerstein 1996, 332–337.
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gischen Klasse und ihrem weniger privilegierten Publikum ist ebenfalls kein ‚ideologischer‘ Bruch erkennbar. Als Mitglieder einer privilegierten Minderheit teilten selbst ärmere und bedeutungslose Athener ‚adlige‘ Ansichten über Ehre, Eigentum, Reichtum und Arbeit.18 Es gibt natürlich immer eine Diskrepanz zwischen Handeln und Haltung19: Ein Gewerbetreibender konnte über Aristophanes’ Witze über reichgewordene ‚Händler‘ wie Kleon lachen und insgeheim selbst hoffen, in ähnlicher Weise aufzusteigen.20 Aber indem er lachte, bestätigte er sichtbar und hörbar die anerkannten Normen. Mit Blick auf die Tendenz, die literarisch überlieferten Ansichten der Oberschicht zu verwerfen, schreibt Finley:21 Die Grenzen der Ideologie decken sich niemals mit den Klassengrenzen; im Gegenteil ist es die Funktion einer Ideologie, wenn sie sinnvoll sein soll, eben gerade die Grenzen zu überschreiten, und in Bezug auf Reichtum und Armut gab es in der Antike eine bemerkenswerte Übereinstimmung.
Die relative Einheit des Wertesystems erfüllt gerade in stratifizierten Gesellschaften eine wichtige integrative Funktion,22 weil es die Sanktionen und Bewertungsmaßstäbe zur Verfügung stellt, um aus bloßer Ungleichheit akzeptierte Rangunterschiede zu machen: Alle erkennen die gleichen Normen an, aber nicht alle haben die gleichen Mittel, ihnen gerecht zu werden.23 Die normativen Texte zur Ökonomik geben in diesem Sinne nicht die Realität des durchschnittlichen Hausvaters wieder, aber durchaus die Idealvorstellungen, an denen ein griechischer Hausvater sein Handeln und die Darstellung seines Handelns orientierte. Die Unterschiede zwischen gelehrtem Diskurs und öffentlichem Vortrag sind nicht primär auf der Ebene der propagierten Werte zu suchen. Unterschiede finden sich vielmehr in der Sprache, Gestaltung und Zielsetzung der Texte, denn diese dienten als Marker sozialer Distinktion (s. Kap. 5). Kunstbegriffe wie oikonomia oder autarkeia sind für die theoretischen Schriften wichtig, in den populären und nicht-literarischen Texten fehlen sie bis auf wenige Ausnahmen (Kap. 6.1, 6.4). Dieses Fehlen bedeutet 18
19 20 21 22 23
Dover 1974, 37–41; Gschnitzer 1981, 128–132; Ober 1989, 251–292; Todd 1990a, 164–167. Die Übereinstimmung des Wertekanons von gelehrtem Diskus und öffentlicher Meinung zeigt sich besonders beim Thema Reichtum und Status: Angriffe auf ‚Reiche‘ beschränkten sich auf Personen, denen man vorwarf unrechtmäßig oder schändlich zu Reichtum gekommen zu sein, vgl. Finley [1973] 1993, 32–35 und Ober 1989, 220–226, 233–238. In Anspielung auf LaPiere 1934. Ste. Croix 1981, 125. Finley [1973] 1993, 35. Vgl. Todd 1990a, 162–167 für Athen; zum ‚aristokratischen Habitus‘ der athenischen Bürgerschaft vgl. Gschnitzer 1981, 126–132 und Spahn 2008, 92–98. Dahrendorf 1961, 20–23; oder um mit Anatole France zu sprechen: „la majestueuse égalité des lois, qui interdit au riche comme au pauvre de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain“. (Le lys rouge, 1894).
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nicht, dass den Begriffen entsprechende mentale Modelle fehlten; es bedeutet nur, dass die Verständigung im Alltag keiner abstrakten Neologismen bedurfte. Ein Mann, der sich um 400 an das Orakel von Dodona wandte, sprach nicht von oikonomia, nicht einmal von oikos. Er fragte vielmehr, „ob es in Bezug auf sein Gesamtvermögen und in Bezug auf den Wohnsitz/das Wohnhaus schöner und besser sei nach Kroton (zu ziehen), für ihn selbst und seine Nachkommen und seine Frau“.24 Nahezu alle Elemente des ‚ganzen Hauses‘ werden hier genannt, sowohl die unbelebten als auch die belebten (nur das Gesinde fehlt). Aber sie werden nicht unter einem abstrakten Oberbegriff zusammengefasst, sondern additiv aufgezählt. Der Grad der Abstraktion ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Alltagskommunikation und Gelehrtendiskurs; nicht nur auf der Ebene der Sprache, sondern auch auf jener der versprachlichten Konzepte. Die Theorie blendet die Details des Alltags aus, weil sie für die Entwicklung des Arguments unwichtig sind und weil sie als unfein gelten, gerade weil sie alltäglich sind (vgl. Kap. 8.2). Komödien und Gerichtsreden erwähnen sie hingegen, teils aus dramaturgischer oder prozesstaktischer Notwendigkeit, teils um einen komischen Effekt zu erzeugen, teils bloß als beiläufige Bemerkungen (s. Kap. 8.3.1). Ich beginne die Untersuchung der literarischen Ökonomik mit der Frage nach ihrem sozialen Kontext. Diese übergeordnete Frage wird in drei Fragen aufgeteilt. Die erste ist die Frage nach dem Sozialprofil, dem wirtschaftlichen Hintergrund und den Interessen der Adressaten und Autoren des literarischen Diskurses über Erwerb und Haushaltsführung. Im Fall der Autoren sind neben den ‚Philosophen‘ im engeren Sinn auch die zeitgenössischen Geschichtsschreiber, Bühnendichter und Redenschreiber berücksichtigt, weil ihre Texte wichtige Quellen für Normen und Praxis der Hauswirtschaft in klassischer Zeit sind und weil sie Teil des gebildeten, literarisch tätigen Umfelds waren, innerhalb dessen der Diskurs über Erwerb und Haushaltsführung geführt wurde. Die zweite Frage ist, was die sprachlichen Bilder, die Vergleiche und Beispiele in den philosophischen Texten über den lebensweltlichen Erfahrungsraum ihrer Autoren und Adressaten verraten. Die dritte Frage ist die nach dem Ursprung der Ökonomik. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen führten zur Entstehung der Ökonomik als literarischen Teilgattung, wie ist diese Gattung literarisch einzuordnen und in welcher Tradition steht sie?
24
DVC 24+25A (= SEG 43.325): περὶ πανπασίας καὶ περὶ Ϝοικέ̄σιος | ἰς Κρ(ό)το̄να ἐ βέλτιων καῖ ἄμεινο(ν) | αὐτοι καὶ γενε- | ᾶι : καῖ γυναικ- | κί; ähnlich wünscht sich ein Fragender des 5. Jhs. Wohlergehen „bezüglich seines Gesamtvermögens für sich selbst, seine Nachkommen und seine Frau“, Lhôte 116; für ähnliche Anfragen vgl. unten Kap. 14.2.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
4.1 Adressaten und Autoren 4.1.1 Adressaten Ein erster Weg, etwas über den sozialen Kontext der Ökonomik zu erfahren, führt über ihre mutmaßlichen Rezipienten. Wer hatte die Mittel und das Interesse, theoretisch und normativ über gute Haushaltsführung belehrt zu werden? Und woher rührte das Interesse? Die Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Fragen liegt bekanntlich darin, dass wir nur wenig direkte Informationen über die Rezeption von Vorträgen und gelehrten Schriften haben und überhaupt keine über die Rezeption der Oikonomia-Literatur. Man ist deshalb auf zwei indirekte Herangehensweisen angewiesen, um Informationen zum Adressatenkreis der Ökonomik zu gewinnen. Was sagen die Texte selbst über ihre mutmaßlichen Adressaten und deren Motive? Und welche prosopographischen Informationen besitzen wir zu den in den Texten erwähnten historischen Personen? Diese Methode ist aus nahe liegenden Gründen auf die sokratischen Dialoge beschränkt. Neben Xenophons Dialogen sollen dabei auch Platons Dialoge als Quelle herangezogen werden. Sie behandeln die Ökonomik zwar nie als Hauptthema, geben jedoch viele Hinweise dazu, wie Platon sich das Verhältnis potentieller Rezipienten seiner Philosophie zum Thema Haushaltsführung und Erwerb dachte. Es liegt weiterhin auf der Hand, dass sich mit dieser Methode nicht feststellen lässt, wer Platons Politeia oder Xenophons Oikonomikos tatsächlich las. Zumindest erfahren wir aber, welche möglichen Adressaten unsere Quellenautoren im Sinn hatten, als sie ihre Texte schrieben. Das Publikum gelehrter Abhandlungen und Vorlesungen war mit wenigen Ausnahmen von Haus aus reich und gebildet. Das gilt nicht nur für Isokrates, der „die mächtigsten jungen Männer Athens und ganz Griechenlands ausgebildet“ haben soll,25 sondern auch für Sokrates und Diogenes, die asketischen Lehrer der Geringschätzung materieller Güter. Platon nennt den Grund: Sokrates verlangte zwar keine hohen Honorare wie die sogenannten Sophisten, aber man musste ökonomisch abkömmlich sein, um sich die Zeit zwischen Volljährigkeit und Heirat mit Philosophie vertreiben zu können, anstatt darauf hinzuarbeiten, die Vermögensgrundlage für einen eigenen Haushalt zu schaffen (s. Kap. 11.3).26 Platons Dialoge sind selbst Demonstrationen dieser Abkömmlichkeit. Sie sind lang, kunstvoll gestaltet und enden häufig in Aporien – sie setzen also Zeit und Bildung voraus und verweigern sich jener ‚Nützlichkeit‘, die das Gebot der Hauswirtschaft war. Die Dialogpartner, prominente Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 5. Jhs., betonen ausdrücklich, dass ihre Muße ihnen erlaubt,
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Dion. Hal. Isoc. 1. Plat. apol. 23c–d: Sokrates’ Schüler verfügen über μάλιστα σχολή, weil sie οἱ νέοι […] οἱ τῶν πλουσιωτάτων sind; vgl. Xen. mem. 1.2,48; zu Diogenes’ Zuhörern vgl. Diog. Laert. 6.67, 78 f.
4.1 Adressaten und Autoren
101
sich der Philosophie zu widmen statt praktischer Geschäfte.27 Viele dieser Personen gehören tatsächlich zu den alten und begüterten Familien Athens.28 Geld, Gewerbe und Gewinn scheinen in der Lebenswelt von Platons Adressaten also bedeutungslos zu sein. Doch die Welt von Platons Dialogen ist komplexer und birgt Ambivalenzen. Platon sagt ausdrücklich, dass die sokratische Lehre das Gegenteil von dem anstrebe, was seine Adressaten für erstrebenswert erachteten. Sokrates widme sein Leben der Belehrung der Athener, die statt nach echter Weisheit nach „Gelderwerb und Haushaltung“ (χρηματισμοῦ τε καὶ οἰκονομίας), nach Feldherrn- und Volksführerschaft, Ämtern, Machenschaften und Parteiungen strebten.29 Der Gelderwerb steht an erster Stelle, der Haushalt an zweiter, erst dann folgen Kriegführung und Politik. Durch Gelderwerb Reichgewordene treten in Platons Dialogen auf. Im Protagoras versammeln sich die Gelehrten und ihre Zuhörer im Haus des reichen Kallias, dessen Familienvermögen aus den südattischen Silberbergwerken stammte. Mit Nikias tritt im Laches ein weiterer Mann auf, dessen legendärer Reichtum aus den Bergwerken stammte.30 Kallias und Nikias hatten allerdings längst die Lebensführung der landbesitzenden Oberschicht übernommen und bekleideten höchste Ämter. Bei anderen platonischen Dialogfiguren ist die Entfernung zum aktiven Gelderwerb geringer. Im Menon wird Anytos als Sohn Anthemions vorgestellt. Anthemion habe seinen Reichtum nicht durch Zufall oder Erbschaft erhalten, sondern „durch eigene Weisheit und Fürsorge erworben“.31 Die Menge der Athener halte seinen Sohn Anytos für gut erzogen und gebildet. Platon spielt darauf an, dass Anthemions Reichtum neu war; dass er aus einem Gerberei-Betrieb stammt, erwähnt er nicht.32 Die Figur seines Sohn Anytos bleibt ambivalent. Er wird zwar als möglicher „Lehrer der Tugend“ vorgestellt, war Platons Rezipienten im 4. Jh. allerdings auch als Ankläger des Sokrates bekannt.33
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31 32
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Vgl. nur Plat. Tht. 172c–d; Gorg. 457c; Phaidr. 227a–d; leg. 1, 625a–c. Das Nomen σχολή taucht 76mal im Korpus auf, Formen des Verbs σχολάζειν 6mal. Vgl. die Prosopographie bei Nails 2002, 1–305. Plat. apol. 36b; vgl. ebd. c–e und Gorg. 526d–e; dass sich Sokrates damit entgegengesetzt zur konventionellen Moral seiner Zeit verhält, zeigt der Wutausbruch des Gesprächspartners Kallikles, Gorg. 484c–486a. Zu Nikias (PAA 712520) vgl. Davies 1971, 403 f., der Nikias für einen neuen Mann hält; ein dritter Mann dieser Art könnte Philippides, Sohn des Philomelos aus Paiana sein (PAA 929010 = 929015), den Plat. Prot. 315a als Schüler des Protagoras erwähnt; sein väterliches Vermögen stammte vermutlich aus dem Bergbau, vgl. Davies 1971, 548 f. und Nails 2002, 238; anders Andreev 1984, 125–131 mit schwachen Gründen. Plat. Men. 90a: ἀλλὰ τῇ αὑτοῦ σοφίᾳ κτησάμενος καὶ ἐπιμελείᾳ. Zu Anytos (PAA 139460) s. Davies 1971, 40 f. und Nails 2002, 37 f. Die Komödie verspottete ihn als Lederer, Archipp. fr. 31 PCG und Theop. com. fr. 58 PCG (beide = Schol. (Arethas) Plat. apol. 18b); vgl. auch die Behandlung bei Xenophon (s. u.); Anytos’ hohes Ansehen wird durch Andok. 1.150 und Isokr. 18.23 bestätigt. Nails 2002, 38 meint, Platon wollte zeigen, „that Anytus is not the man his father was“; Anytos’ abschließende Drohung gegen Sokrates, Men. 94e, interpretiert sie als Anspielung auf den späteren Prozess.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
Xenophon wiederum suggeriert (und Platon deutet es an), dass Anytos sich von Sokrates in kränkender Weise an seine soziale Herkunft erinnert fühlte, als dieser ihn schalt, seinen Sohn bloß das Handwerk der Gerberei zu lehren, obwohl die Stadt ihn (Anytos) mit höchsten Ehren bedacht habe.34 Sokrates habe Anytos also geradezu vorgehalten, den Geruch des banausischen Handwerks nicht durch die Hinwendung zur Philosophie abzuschütteln. Genau diese Hinwendung zur Philosophie vollziehen einige Erwerbsleute in Platons Dialogen. Fälle gibt es insgesamt wenige, aber sie sind jeweils (wie die Szene im Haus des Kallias) prominent in der Eröffnungsszene eines Dialogs platziert. Die Rahmenhandlung des Symposions erzählt ein gewisser Apollodoros von Phaleron. Er galt als besonders leidenschaftlicher Anhänger des Sokrates.35 Apollodoros adressiert einige seiner Freunde, die er als „Reiche und Erwerbsgeschäftige“ (πλουσίων καὶ χρηματιστικῶν) bezeichnet. Er gibt zu verstehen, dass er sich früher wie sie den Geschäften widmete und diese für beachtlich hielt; bis er verstand, dass die Philosophie ihm nicht nur „nütze“ (ὠφελεῖσθαι), sondern auch „erfreue“ (χαίρω). Jetzt bemitleide er seine Freunde, die weiter nur Geschäfte im Sinn hätten, und möchte sie zur Philosophie bekehren; diese halten ihn allerdings umgekehrt für „übel dran“, weil er von der Philosophie wie von einem „bösen Geist“ besessen sei.36 Apollodoros gesteht selbst ein, dass seine Haltung die Ausnahme ist.37 Im Euthydemos sucht Kriton aus Alopeke, der die Landwirtschaft als sein Gewerbe (τέχνη) bezeichnet,38 philosophische Bildung nicht für sich, sondern für seinen Sohn. Für ihn will er nur das Beste. Für eine Mutter von bester Abstammung und für großen Reichtum hat er bereits gesorgt, nun soll noch Bildung (παιδεία) hinzukommen.39 Sokrates rät ihm, zu den ‚Sophisten‘ zu gehen, weil sie versprächen, jeden für ein Honorar zu belehren, unabhängig von Anlage (φύσις) und Alter. Für Kriton sei besonders wichtig, dass „auch den, der mit Erwerb beschäftigt sei (χρηματίζεσθαι), nichts hindere, sich ihre Weisheit sehr leicht anzueignen“. Kriton bevorzugt es allerdings, sich an einen wahren Philosophen, nämlich Sokrates, zu wenden.40 Er erscheint als Erwerbsmann, der den erworbenen Reichtum in der nächsten Generation in kulturelles Kapital konvertieren will.
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Xen. apol. 28; bei Plat. apol. 23e–24a heißt es, Anytos habe Sokrates wegen dessen Äußerungen über „Handwerker und Politiker“ angeklagt. Plat. symp. 172c; zur Person (PAA 143280) vgl. Nails 2002, 38 f. Symp. 173a–d. Selbst die pro-sokratische Überlieferung machte Apollodoros wegen seines Eifers etwas lächerlich, vgl. Xen. apol. 28. Plat. Euthyd. 291e; zur Person (PAA 585850) und zu den Söhnen s. Davies 1971, 336 f. und Nails 2002, 114–119 mit Korrekturen an Davies’ Familienstammbaum. Plat. Euthyd. 306d–307a. Euthyd. 304b–307c.
4.1 Adressaten und Autoren
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Die Rahmenhandlung der Politeia ist ein Gespräch im Haus des reichen Metöken Kephalos aus Syrakus, Vater des Redners Lysias.41 Der alte Kephalos tritt als würdevolles Familienoberhaupt auf, das im Begriff ist, die Leitung des Haushalts an seine Söhne zu übergeben.42 Kephalos bezeichnet sich selbst als „Erwerbsmann“ (χρηματιστής), der sein Vermögen vergrößern will. Sein Reichtum ist allerdings kein Selbstzweck, sondern dient ihm dazu, Göttern und Menschen Gutes zu tun.43 Äußerungen zu Kephalos’ Söhnen ergänzen das Familienporträt. Lysias erscheint im Phaidros als Mann, der wegen seines erwerbsmäßigen Redenschreibens angefeindet wird. Sein älterer Bruder Polemarchos hingegen wird ausdrücklich für seine Hinwendung zur Philosophie gelobt und in diesem Sinne tritt er in der Politeia als Gesprächspartner auf.44 Die Zahl der von Platon explizit als Erwerbsmänner ausgewiesenen Personen ist gering gemessen an der Gesamtzahl seiner fiktiven Dialogpartner. Sie sind allerdings auch die einzigen Dialogpartner, bei denen sich Platon überhaupt zur Herkunft ihrer Vermögen äußert!45 Die Passagen, in denen Platon einen ‚Erwerbsmann‘ als solchen vorstellt, haben spezielle Bedeutung. Sie haben ihr Geldvermögen entweder selbst erworben oder von ihrem Vater geerbt, der es erworben hat. Nun wollen sie dieses pekuniäre Kapital in kulturelles Kapital – paideia – konvertieren. Bühne des Wechsels vom Gelderwerb zum Wissenserwerb ist das Wohnhaus. In schlechten Häusern wird der Rhetorik gelauscht und dem Wohlleben gefrönt;46 in guten, wie dem des Kephalos, den Göttern geopfert und über Gerechtigkeit nachgedacht. Im Haus des Kallias wurde die Vorratskammer (ταμιεῖον) zum üppig ausgestatteten Gästezimmer umfunktioniert, in dem ein Sophist nächtigt.47 Sinnfälliger könnte der Wechsel von Hauswirtschaft zu feiner Bildung kaum veranschaulicht werden. 41 42
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Zu Kephalos und seinen Söhnen s. Dover 1968, 28–46; Davies 1971, 587–590; Nails 2002, 84 f. Nails 2002, 84 vertritt im Widerspruch zu Davies 1971, 589 die Annahme, dass das Haus, in dem das Gespräch stattfindet, dasjenige des Polemarchos sei und nicht des Kephalos; sie beruft sich dafür auf rep. 1, 328b, wo es heißt, man gehe οἴκαδε εἰς τοῦ Πολεμάρχου; der folgende Dialog zeigt jedoch Kephalos als Familienoberhaupt; er führt das Opfer durch und begrüßt Sokrates als Gast, mit den Worten, dieser komme nicht oft genug „zu uns (ἡμῖν) in den Piräus“, 328b–d; als Polemarchos für den sich verabschiedenden Kephalos das Gespräch übernimmt, kommentiert Sokrates, Polemarchos sei ohnehin sein „Erbe“ (κληρονόμος); wichtig ist für Platon also nicht die Frage nach den rechtlichen Eigentumsverhältnissen am Wohnhaus, sondern das Haus als Abfolge der Generationen und als Lebensort einer Familie, deren Sitten porträtiert werden. Plat. rep. 1, 330b–331c. Phaidr. 257b; rep. 1, 327a–c; 331d. Von einigen Dialogfiguren erfahren wir nur aus anderen Quellen, dass sie Erwerbsleute waren, so etwa über Aischines aus Sphettos (PAA 115140), der in Plat. apol. 33d und Phaid. 59b erwähnt wird, aus Lys. fr. 1 Carey (= Athen. 13.611d) und Diog. Laert. 2.62; das Gleiche gilt für Philippides von Paiania, s. o. Anm. 30 oder Nausikydes von Cholarges, s. u. Das Haus des Epikrates, in dem Lysias laut Plat. Phaidr. 227b seine Reden vorträgt, ist ein Ort des ostentativen Konsums – Platon hebt hervor, dass es dem Tragiker Morychos gehörte; der war berüchtigt für sein Wohlleben, Schol. Plat. Phaidr. 227b. Plat. Prot. 315d; vgl. Spahn 2003, 37–40 zur symbolischen Bedeutung von Wohnhaus und Vorratskammer in diesem Dialog; denkbar ist eine Anspielung auf Eupolis’ Kolakes.
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Platons Auswahl von Figuren der goldenen Generation Ende des 5. Jhs. passt gut zu Luca Soverinis These, laut der neben den Abkömmlingen der alten Familien gerade die Söhne ‚neuer Männer‘ zu den Schülern und Zuhörern der Gelehrten zählten.48 Soverini nennt den Politiker Hyperbolos (gest. 411) als Beispiel, dessen Vermögen u. a. aus der Produktion und dem Vertrieb von Lampen stammte.49 In der alten Komödie wurde er für sein Bildungsstreben und seinen Mangel an ererbter Kultivierung verspottet.50 In den Wolken wirbt Aristophanes’ Sokrates damit, selbst Hyperbolos sei es für ein sagenhaftes Honorar gelungen, die Redekunst zu erlernen.51 Das soll den bäurischen Aufsteiger Strepsiades dazu bewegen, seinen Sohn zum Unterricht in die ‚Denkerei‘ zu geben. Unabhängig von Hyperbolos’ tatsächlichem Bildungsgrad gibt dieser Komödienspott Auskunft darüber, dass die Redekunst als Inbegriff von Oberschichtszugehörigkeit galt und man erwartete, dass ein Aufsteiger deshalb keine Unkosten scheuen würde, um sie zu ‚erwerben‘. Xenophons sokratische Dialoge bestätigen Soverinis These und ergänzen das Bild, das Platons Dialoge zeigen. Als Adressaten hauswirtschaftlicher Lehren porträtieren sie nämlich zwei Gruppen: alte ‚Adlige‘ in Geldnot und neue Männer mit Aufstiegsambitionen. Im zweiten Buch der Memorabilien reiht Xenophon vier anekdotenhafte Erzählungen aneinander, in denen Sokrates Freunde in Athen berät, die sich teils aus Unkenntnis (δι’ ἄγνοιαν) und teils aus Mangel (δι’ ἔνδειαν) in wirtschaftlicher Not befinden.52 Im ersten Dialog spricht ein gewisser Aristarchos von seinen Schwierigkeiten, seine Schwestern, Nichten und Cousinen zu versorgen, die wegen der „Zwistigkeiten in der Stadt“ in sein Haus geflüchtet sind.53 Nun muss er vierzehn freie Hausgenossen ernähren, obwohl ihm die Einnahmen vom attischen Land fehlen, das die ‚Gegner‘ in Besitz haben; die Verpachtung von Häusern bringt nichts ein, weil die Stadt entvölkert ist; Hausrat will niemand kaufen und niemand verleiht Geld. Sokrates empfiehlt Aristarchos, seine weiblichen Verwandten als Webstube zu organisieren und vom Verkauf der
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Soverini 1998, 21–40. Soverini 1998, 24–26; zu Person (PAA 902050) und Herkunft s. Camon 1961 und Davies 1971, 517; vgl. Casanova 1995 zum Quellenwert des Komödienspotts. Eupol. (Marikas) fr. 194 PCG (= Schol. Plat. soph. 239c) und 208 (= Quint. 1.10,18); vgl. Plat. com. fr. 183 PCG (= Herodian. p. 926, 3 Lentz); zu Hyperbolos’ ‚Soziolekt‘ vgl. Camon 1961, 186–190 und Colvin 2000, 288–291. Aristoph. Nub. 874–876. Xen. mem. 2.7,1; zu Aufbau und Argumentation dieser Kapitel, s. Gigon 1956, 172–190. Die historische Situation ist nur angedeutet und wohl Ende des 5. Jhs. anzusiedeln; zu möglichen Festlegungen s. Nails 2002, 46 (Regiment der Dreißig, 404/3) und Gigon 1956, 174 (vor 406, Dekeleischer Krieg); vermutlich ließ Xenophon den Kontext bewusst offen, um für Rezipienten jeder Couleur anschlussfähig zu sein; vgl. die vage Bezeichnung der „Gegner“ als ἐναντίοι und Xenophons Umgang mit oligarchischen Ressentiments im Allgemeinen.
4.1 Adressaten und Autoren
105
Gewebe zu leben.54 Aristarchos folgt diesem Rat, nachdem Sokrates seine Bedenken wegen der mangelnden Standesmäßigkeit einer solchen Unternehmung zerstreut hat.55 In der zweiten Geschichte kommt ein gewisser Eutheros nach Ende des (Peloponnesischen) Kriegs aus der Fremde nach Athen zurück. Seine überseeischen Besitzungen hat er verloren, in Attika hat er nichts geerbt.56 Nun muss er seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit bestreiten. Sokrates rät ihm, sich als Hausverwalter gegen Lohn zu verdingen.57 Eutheros’ ablehnende Reaktion auf diesen Vorschlag – er will sich nicht zum Sklaven eines anderen Hausherrn machen – zeigt sein Standesbewusstsein. Die dritte Geschichte stellt uns Archedemos als fähigen aber mittellosen Mann vor. Er verdingt sich für den reichen Kriton als ‚Wachhund‘ gegen Denunzianten, die er für seinen großzügigen ‚Freund‘ verklagt.58 Kriton kennen wir bereits aus Platons Dialogen als gewinnorientierten, aber der Philosophie zugewandten Landwirt. Xenophon lobt ihn als einen jener Schüler des Sokrates, die dessen Gesellschaft suchten, damit sie „anmutig und gut werden und Haus und Sklaven und Verwandten und Freunden und der Stadt und Bürgern auf edle Weise nützen könnten“.59 Während Kriton bei Platon auf der Suche nach echter Philosophie zu Sokrates kommt, verspricht er sich bei Xenophon von Sokrates Belehrung über die praktische Kunst, Haus und Stadt zu führen. Im letzten der vier Dialoge rät Sokrates einem gewissen Diodoros, dass er einen Hermogenes als „Freund erwerben soll“ (ἐκτήσατο φίλον); die Gelegenheit sei günstig, weil Hermogenes kurz davor sei, vom Mangel zugrunde gerichtet zu werden.60 Diodoros ist ansonsten unbekannt, von der historischen Figur des Hermogenes lässt sich etwas erkennen.61 Er war ein illegitimer Sohn des Hipponikos und damit Halbbruder des Kallias. Er tritt auch bei Platon als Gesprächspartner auf; Xenophon ehrt ihn, wie Kriton, dafür, dass er Sokrates’ Unterweisung suchte, um seinem Haus, seinen Freunden und seiner Stadt zu helfen.62 Die Armut, die Xenophon andeutet, ist historisch fragwürdig, es sei denn Xenophon spielt auf eine nur vorübergehende Not an.63 Auf historische Genauigkeit kam es ihm wohl gar nicht an. Wichtig war, dass Hermogenes als prominente Figur des ausgehenden 5. Jhs. seinem Publikum im 4. Jh. noch
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Xen. mem. 2.7,2–12. Zur Deutung dieser Passage vgl. unten Kap. 6.2.1. Es könnte sich bei Eutheros also um einen Kleruchen handeln. Xen. mem. 2.8,1–6. Mem. 2.9; zu dieser Episode Millett 1989, 33 f. und Zelnick-Abramovitz 2000, 69–71. Mem. 1.2.48: ἵνα καλοί τε κἀγαθοὶ γενόμενοι καὶ οἴκῳ καὶ οἰκέταις καὶ οἰκείοις καὶ φίλοις καὶ πόλει καὶ πολίταις δύναιντο καλῶς χρῆσθαι. Vgl. symp. 4.24. Mem. 2.10; vgl. hierzu Zelnick-Abramovitz 2000, 71. Zur Person (PAA 420340) s. Davies 1971, 269 f. und Nails 2002, 162–164. Xen. mem. 1.2.48; die restlichen Belege bei Nails 2002, 162–164. S. o. Anm. 61.
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bekannt sein konnte und deshalb ein geeignetes Beispiel für die Anpassung an schwierige wirtschaftliche Verhältnisse war. Aristarchos, Eutheros, Archedemos, Kriton und Hermogenes erscheinen als Vertreter einer angestammten Oberschicht, die gezwungen sind, ihre Haushaltsführung an die neuen wirtschaftlichen Bedingungen in der Zeit nach dem Peloponnesischen Krieg anzupassen. Xenophons Hinweise auf die kriegsbedingten Umstände sind allerdings so allgemein, dass sie auf jede beliebige Situation im 4. Jh. übertragbar waren. In jedem der vier Fälle gelingt die Anpassung Dank sokratischer Ratschläge, die stets eine Möglichkeit aufzeigen, Ehre und Gewinn in Einklang zu bringen, also das Adelsdilemma zu lösen. Xenophons Dialogszenen verraten außerdem, welche Aufgabe er der praktischen Philosophie, zu der er seine eigenen Texte wohl auch zählte, zuwies: nicht die Vermittlung detaillierten Fachwissens, sondern die exemplarische Vorführung eines bestimmten Habitus sowie der intellektuellen Fähigkeit, Wege zu finden, das Nützliche mit dem Guten zu verbinden und diese Verbindung moralisch zu rechtfertigen. Ein Negativbeispiel verdeutlicht, wie systematisch Xenophon die Figur des notgedrungenen ‚adligen‘ Hauswirts einsetzt. Im Symposion schildert Charmides seine prekäre wirtschaftliche Lage nach dem Ende des Peloponnesischen Kriegs.64 Vor dem Krieg war Charmides reich. Darum musste er fürchten, dass man ihn berauben und ihm schaden wollte. Außerdem war er zu hohen Ausgaben für die Stadt verpflichtet. Nun hat er seine überseeischen Güter verloren, seine attischen Ländereien werfen keinen Gewinn ab und seinen Hausrat musste er verkaufen.65 Charmides’ Lage vor dem Krieg entspricht der von Ischomachos und Kritobulos im Oikonomikos (s. Kap. 3.2.1), die Lage nach dem Krieg der des Aristarchos in den Memorabilien. Xenophon legt Charmides eine kaum verhohlene Demokratie-Kritik in den Mund: In Athen werden die Reichen schlechter behandelt als die Armen.66 Xenophon distanziert sich allerdings: Nicht er selbst als Autor äußert sich so, sondern ein verbitterter Oligarch. Charmides, wohl der Onkel Platons und häufiger Gast in dessen Dialogen,67 stammte aus einer alten Familie mit vielen prominenten Mitgliedern.68 Als Magistrat unter den Dreißig fand er 403 bei den Kämpfen mit der demokratischen Faktion den Tod.69 Xenophon porträtiert Charmides als Mitglied einer angestammten Oberschicht, das zu verbit-
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66 67 68 69
Xen. symp. 4.30 f. Zur Person (PAA 987950 = 987955) s. Davies 1971, 330 f. und Nails 2002, 90–93. Davies 1971, 331 meint, diese Erzählung müsse den Mysterien-Frevel 414 meinen, weshalb Xenophon die Dinge doppelt verwirre, weil das Symposion 421 angesiedelt sei und der als Frevler verurteilte Charmides ein anderer war (nämlich PAA 987950); mir ist allerdings nicht ersichtlich, warum Xenophon genau die Ereignisse von 414 gemeint haben muss; Klagen über Besitzverlust und Steuerlast waren in diesen Jahren allgemein, wie Xenophons Exempel zeigt. Xen. symp. 4.31 f. Davies 1971, 330 f.; Nails 2002, 90–94. Davies 1971, 322–335; vgl. den Stammbaum bei Nails 2002, 244. Xen. hell. 2.4,19.
4.1 Adressaten und Autoren
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tert ist, um sich den Umständen anzupassen und daher arm und diskreditiert bleibt.70 Charmides ist insofern die Gegenfigur zu Ischomachos im Oikonomikos, der die finanziellen Herausforderungen der athenischen Demokratie mit kluger Hauswirtschaft meistert. Diesen Vertretern einer alteingesessenen Oberschicht, die nach neuen Einkünften suchen, stellt Xenophon eine zweite Gruppe gegenüber: ‚Erwerbsleute‘, die durch Geschick und Tüchtigkeit reich werden und dann in die Oberschicht aufsteigen. Dem Aristarchos hält der xenophontische Sokrates eine Liste erfolgreicher athenischer Gewerbetreibender vor.71 Keramon ernähre Dank seiner Sklaven nicht bloß seinen Haushalt, sondern ist sogar zu Reichtum gelangt.72 Nausikydes (aus Cholarges) gelang das Gleiche dank seiner Mühle und jetzt leistet er viele Liturgien. Nausikydes ist auch aus einer Nebenbemerkung Platons bekannt, in der es heißt, er habe zusammen mit drei weiteren Männern eine „Partnerschaft der Weisheit“ gegründet.73 Seinen Sohn verheiratete er an die Tochter einer reichen Grundbesitzerfamilie.74 Nausikydes war offenbar ein wohlhabender Gewerbetreibender, der durch Liturgien, Landkauf, Heirat und Bildung nach sozialem Aufstieg strebte.75 Kyrebos ernährt dank seiner Bäckerei sein „ganzes Haus“ und lebt im Überfluss. Das Gleiche gilt für Demeas aus Kollytos und einen gewissen Menon dank Kleidungsherstellung. Bei all diesen Betrieben handelt es sich um unternehmerische SklavenWerkstätten, deren Organisationsform Xenophon als bekannt voraussetzt.76 Dass Xenophon sozial aufsteigende ‚Unternehmer‘ als Vorbilder nennt, ist bemerkenswert. Aristophanes hatte die Vertreter dieser Gruppe in den Rittern für ihre politischen Ambitionen verspottet.77 Während Aristophanes besagten Müller Nausikydes als einen äußerst unpopulären Getreidehändler darstellt und meint, er könne den Athenern nur Gutes tun, wenn er sein Getreide verschenke,78 bezeichnet Xenophon dessen zahlreiche Liturgien als vorbildlich. Xenophon betont allgemein, dass diese Erwerbsleute potentiell genauso regimentsfähig seien wie Alteingesessene. In einer weiteren Episode der Memorabilien ist der Soldat Nikomachides wütend darüber, dass die Athener statt ihn, den altgedienten 70
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Zur Resignation in der Hauswirtschaft kommt die Ablehnung politischer Beteiligung in einer Demokratie hinzu, Xen. mem. 3.7,5–7; Charmides fürchtet sich davor, vor der Volksversammlung (wörtlich: ἐν τοῖς ὄχλοις) zu sprechen; das seien einfache Gewerbetreibende, die nichts von Politik verstehen, während er selbst es gewohnt sei, mit den „ersten Männern der Stadt“ (τοῖς πρωτεύουσιν ἐν τῇ πόλει) zu sprechen. Mem. 2.7,3–6. PAA 556305; über ihn ist sonst nichts bekannt. Plat. Gorg. 487c: die Männer seien κοινωνοὺς […] σοφίας. Is. 8.8; zur Identifikation s. Davies 1971, 315. Zur Person (PAA 701890 = 701920) s. Davies 1971, 315 und Nails 2002, 210 f. Xen. 2.7,6; Kyrebos (PAA 588820) und Demeas (PAA 306835) sind unbekannt. Aristoph. Equ. 129–144. Eccl. 424–426 mit Sommerstein 1998 ad loc.
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und schlachtbewährten Offizier, einen gewissen Antisthenes zum Feldherrn gewählt haben, obwohl der nie Kriegsdienst geleistet habe und nichts tue oder verstehe außer „Geld zusammenzubringen“ (χρήματα συλλέγειν).79 Sokrates widerspricht: Erstens sei die Fähigkeit zur Geldbeschaffung wichtig für die Versorgung der Soldaten.80 Zweitens bewiesen Antisthenes’ viele Choregie-Siege, dass er „siegeseifrig“ (φιλονίκος) wie ein Feldherr sei. Sokrates schließt mit der Mahnung, die „haushaltskünstlerischen Männer“ (τῶν οἰκονομικῶν ἀνδρῶν) nicht zu verachten: Denn die „Fürsorge für private Angelegenheiten“ (ἡ τῶν ἰδίων ἐπιμέλεια) unterscheide sich nur dem Umfang nach von der Fürsorge für die öffentlichen Angelegenheiten.81 Xenophons Sokrates vertritt hier, genau wie der ‚Sophist‘ Protagoras bei Platon die These, dass es eine allgemeine Kenntnis der Herrschaft/Personenführung gebe, die gelehrt werden könne.82 Deshalb können auch die Familien erfolgreicher Gewerbetreibender in Athens Führungsschicht aufsteigen, wenn sie ihren Söhnen die entsprechende Bildung angedeihen lassen und ihr Vermögen für Liturgien und politische Ämter verwenden. Als Gegenbeispiel führt Xenophon Anytos, den Sohn Anthemions, vor, der auch bei Platon auftritt. In Xenophons Apologie heißt es, Anytos habe seinen Sohn lediglich das Gerber-Handwerk gelehrt, obwohl er selbst von der Stadt mit höchsten Ehren bedacht worden sei.83 Diese „schlechte Erziehung“ (πονηρὰν παιδείαν) sei Schuld daran, dass Anytos’ Sohn zum Trinker wurde und weder der Stadt noch seinen Freunden nutzte. Man muss diese Verleumdung der Familie eines Sokrates-Anklägers nicht beim Wort nehmen.84 Aufschlussreich ist der implizierte Umkehrschluss: Hätte der Sohn eines Gerbereibesitzers zusätzlich zum praktischen Fachwissen standesgemäße Bildung genossen, wäre er als Mitglied der Oberschicht akzeptabel gewesen. Während Platon in seinen Dialogen die ‚Bekehrung‘ zur Philosophie als Abkehr vom Erwerbsleben darstellt, plädiert Xenophon für die Vereinbarkeit von standesgemäßer Lebensführung und erwerbsorientierter Hauswirtschaft. Das notwendige Wissen dafür ist die Ökonomik. Xenophon hat zwei Adressatenkreise im Sinn. Erstens die etablierten Landbesitzer, die Wert auf Abstammung und militärische Tugend legen. Zweitens die zu Geldreichtum gelangten Gewerbetreibenden, die sich an den Werten und Leistungen der eingesessenen Oberschicht orientieren. Diese Gewerbetreibenden bezeichnet er als oikonomikoi. Die Kunst der oikonomia ist also kein Gegensatz zum kommerziellen Gelderwerb, sondern bezeichnet gerade die gekonnte Partizipation an 79 80 81 82 83 84
Xen. mem. 3.4,1. Mem. 3.4,2–6; derselbe Gedanke in Kyr. 1.6,7–11; vgl. Kap. 6.1.6. Mem. 3.4,12. Vgl. Plat. Prot. 323c–324c. Xen. apol. 29–31; gemeint ist wohl u. a. das Feldherrnamt, zu dem er 409 gewählt wurde, so wie seine politische Stellung nach 403. S. o. Anm. 32 und 33; sicher ist nur, dass sein Sohn keine dem Vater vergleichbare öffentliche Stellung einnahm; Anytos hatte allerdings Zugang zu den besten Kreisen, vgl. Davies 1971, 41 mit Belegen; warum hätte er seinen Sohn nicht in die gleiche Richtung schieben wollen?
4.1 Adressaten und Autoren
109
der Verkehrswirtschaft zum Nutzen des Hauses. Deshalb gelten gerade erfolgreiche Erwerbsleute als Vorbild in Sachen Hauswirtschaft. Aber auch die Gegenseite hat etwas zu bieten. Sie hat den Habitus verinnerlicht, den die neuen Männer nachahmen müssen, um ihren Aufstieg abzuschließen und von ‚Reichen‘ zu ‚Edlen‘ zu werden. Im Oikonomikos gibt Xenophon gleich zu Beginn zu verstehen, dass diese beiden Gruppen seine Adressaten bilden. Zwei Arten von Athenern sollte Ischomachos als Vorbild dienen. Zum einen die, die absichtlich darauf verzichten, „ihr Haus/Vermögen durch Arbeit zu vergrößern“ (ἐργαζόμενοι αὔξειν τοὺς οἴκους), obwohl sie über die notwendige Kenntnis und das notwendige Kapital verfügen.85 Weil sie meinen „von sehr guter Abstammung“ (πάνυ εὐπατριδῶν) zu sein, setzen sie ihre friedlichen und kriegerischen Kenntnisse nicht „in Arbeit“ (ἐργάζεσθαι), um damit zu zeigen, dass sie keine Sklaven sind. Stattdessen verbringen sie ihre Zeit mit schädlichem Wohlgenuss.86 Diesen ostentativen Müßiggängern stellt Xenophon jene zur Seite, die sich zwar „scharf an die Arbeit und an das Ausfindigmachen von Einnahmequellen“ (πρὸς τὸ ἐργάζεσθαι ἔχουσι καὶ μηχανᾶσθαι προσόδους) halten, aber dennoch ihre „Haushalte/ Vermögen ‚aufreiben‘ (τοὺς οἴκους κατατρίβουσι)“ und Not litten, weil sie von Leckereien, Ausschweifungen, Trunksucht, kurzum von „einfältigen und kostspieligen Formen des Ehrgeizes“ (φιλοτιμιῶν τινων μώρων καὶ δαπανηρῶν) wie von „Herrinnen“ (δεσποιναί) beherrscht würden.87 Wir begegnen hier den zwei Gruppen der Oberschicht der hauswirtschaftlichen Ratschläge der Memorabilien wieder. Der Verweis auf gute Abstammung, aufwendigen Konsum und Ehrstreben macht deutlich, dass Fragen der Statusbewahrung und -konkurrenz zentrale Motive dieser Gruppe sind. Die Passage formuliert zugleich den normativen Anspruch des Oikonomikos. Das Ziel der richtigen Haushaltsführung ist nicht nur der Erwerb und die Vermehrung eines Vermögens, sondern auch dessen richtige Verwendung zum Nutzen der Freunde und des Gemeinwesens. Zwischen Aufsteigern und Alteingesessenen besteht allerdings eine literarische Asymmetrie. Xenophon erwähnt zwar die Namen ehrgeiziger Aufsteiger, lässt sie jedoch nie selbst zu Wort kommen. Dieser Ausschluss ist nicht nur Ausdruck eines Werturteils, er ahmt zugleich eine Regel der Kommunikation unter Anwesenden nach. Man kann über Aufsteiger sprechen, aber nicht mit ihnen: Denn die Ansprache des Gegenüber als Aufsteiger würde diesen beleidigen und beide Gesprächspartner beschämen. Aufsteiger taten schließlich alles, um die Obskurität ihrer Herkunft vergessen zu machen und wer höflich war, erinnerte sie – anders als Sokrates den Any-
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Xen. oik. 1.16; zur gewerblichen Sprache dieser Passage s. Kap. 6.1.2. Oik. 1.20. Oik. 1.21 f.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
tos – nicht daran. Der Lebenswandel der ‚Altreichen‘ konnte deshalb auch den ‚Neureichen‘ als Vorbild dienen.88 Die bisherigen Überlegungen gingen von der Hypothese aus, dass sich die Rezipienten Platons und Xenophons im 4. Jh. mit den Dialogfiguren identifizieren konnten, obwohl es sich um Zeitgenossen einer längst vergangenen Generation handelt. Die allgemeine Überlegung, dass die Anliegen der Dialogfiguren gut zu dem passen, was über die Praxis der Hauswirtschaft im 4. Jh. bekannt ist, bestätigt der Blick auf die athenischen Schüler des Isokrates. In seiner Antidosis-Rede lobt sich Isokrates selbst mit einer Aufzählung seiner angesehenen Schüler der ersten Stunde. Er nennt Eunomos, Lysitheides und Kallippos, außerdem Onetor, Antikles, Philonides, Philomelos und Charmantides. Diese Männer, führt Isokrates fort, seien von der Stadt mit goldenen Kränzen geehrt worden, weil sie gute Männer waren, die ihr Privatvermögen für die Stadt aufwendeten, anstatt sich an fremden Vermögen zu bereichern.89 Gemeint sind offenbar freiwillige oder besonders großzügige Liturgien und Kriegsspenden (epidoseis).90 Friedrich Blass hat die Prosopographie dieser Personen zusammengestellt und geurteilt, „ein hervorragender Staatsmann oder gar ein Kunstredner ist keiner von ihnen geworden, und nur allgemeine politische Bildung hatten sie bei Isokrates gesucht“.91 Es handelte sich also um vermögende und angesehene Mitglieder der liturgienleistenden Oberschicht, die aber größtenteils keinen politischen Ehrgeiz hatten, sondern sich der Verwaltung ihrer Vermögen und der Pflege ihrer Nahbeziehungen widmeten.92 Mit anderen Worten: Diese Männer entsprachen dem Sozialpro88 89 90 91 92
Der Idealtyp einer solchen Figur ist Apollodoros, Sohn des Freigelassenen Pasion, der als Bankier zu Reichtum gelangte; vgl. Trevett 1992, 1–17, 165–179 und Deene 2011. Isokr. 15.93 f. Davies 1971, 423; vgl. unten Anm. 92. Blass 1892, 17–19, hier 19. Blass, loc. cit. erklärt Eunomos (PAA 440315) für „unbekannt“, aber die Gleichsetzung mit PAA 440305 (Feldherr) und PAA 440310 (Gesandter) ist wahrscheinlich; Lysitheides (PAA 614405; Davies 1971, 356 f.) hatte Teil seines Vermögens in Minenpacht investiert, war 355 Trierarch, (Demosth. 24.11), und wird von [Demosth.] 52.30 als ἀνὴρ καλὸς κἀγαθός beschrieben; Kallippos (PAA 559370) war Proxenos von Herakleia, angesehen und politisch aktiv, [Demosth.] 52.9, 25, 28; Onetor (PAA 748119) war der Schwager von Demosthenes’ Vormund Aphobos und besaß laut Demosthenes ein Vermögen von dreißig Talenten, was ihn zu einem der reichsten Männer seiner Zeit machte, Davies, op. cit., 423; Heliod. FGrH 373 F 6 (= Harp. s. v. Ὀνήτωρ) überliefert, dass er ein Choregie-Monument stiftete; Philonides (PAA 957490) ist sein Bruder; Philomelos (PAA 939780) war ein reicher Mann: Demosth. 24.208 f., 215 bezeichnet ihn als Vertrauten des Meidias und als „oligarchisch“; seine zahlreichen Liturgien sind inschriftlich belegt, Davies, op. cit., 548 f.; Blass, loc. cit. und Davies, op. cit., 573 f. identifizieren Charmantides (PAA 987670) mit einem inschriftlich bekannten Choregen und Trierarchen; Antikles (PAA 133220) ist unbekannt, seine Söhne waren vermutlich reich und prominent, Davies, op. cit., 399. Neben Wohlstand und Liturgien verbindet diese Männer direkte Bekanntschaft: Eunomos ist der einzige der Genannten mit politischem Gewicht: Er war Feldherr und wurde 393/2 zusammen mit Aristophanes, Nikophemos’ Sohn, als Gesandter nach Sizilien geschickt, Lys. 19.19; dieser Aristophanes war wiederum Schwippschwager des Philomelos, ebd. § 13–15; der wiederum trat als Unterstützer jenes jungen Kaufmanns auf, für den Isokrates seine Rede gegen den Bankier Pasion schrieb,
4.1 Adressaten und Autoren
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fil, das Xenophons Ischomachos verkörpert und dem sein Kritobulos nacheifern will. Chronologisch stimmt die Parallele ebenfalls. Stimmen Blass’ Schätzungen, dann fällt die rhetorische Ausbildung dieser Männer und ihre verbürgten Liturgien und Freundschaftsdienste in die Zeit von Xenophons Schriftstellerei.93 Diese Parallelen zwischen Isokrates athenischen Schülern und Xenophons literarischen Figuren sind zwar kein direkter Beleg für die Adressaten des Letzteren. Sie zeigen allerdings, dass es in der Abfassungszeit des Oikonomikos eine Reihe von Männern ‚mittlerer‘ Prominenz gab, die Xenophons Figuren gut entsprachen und ein Interesse an jener Art von praktischer ethischer Belehrung über die Führung von Haus und Stadt hatten, wie Xenophon sie zu vermitteln versprach. 4.1.2 Autoren Ein Blick auf die Autoren unserer literarischen Quellen zeigt, dass ihr familiärer Hintergrund ähnlich durchmischt war wie der ihrer mutmaßlichen Adressaten. Die Vehemenz, mit der ihre Texte Erwerb und Haushaltsführung ausblenden oder problematisieren, erscheint angesichts dessen in neuem Licht. Thukydides, Andokides, Platon und Xenophon stammten aus landbesitzenden und zum Teil alten athenischen Familien. Zugleich waren sie alle mehr oder minder intensiv mit der geldbasierten Verkehrswirtschaft in Berührung geraten. Thukydides’ Familie besaß Goldbergwerke auf dem thrakischen Festland gegenüber von Thasos.94 Andokides trieb nach seiner Verbannung wegen des Hermen- und Mysterienfrevels (415/4) erfolgreich Fernhandel.95 Man kann nur spekulieren, woher ein Mann aus alter Familie, die für politische Ämter und extravaganten Lebenswandel bekannt war, über die dafür notwendigen Kenntnisse verfügte. Sie reichten jedenfalls aus, um Andokides zusätzlich zu einem erfolgreichen Steuerpächter zu machen, der eine Gruppe erfahrener Konkurrenten bei der Versteigerung der Hafensteuer ausstach.96 Platon verfügte über Landbesitz in Attika, er profitierte jedoch auch finanziell von seinem Unterricht,
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Isokr. 17.9, 45; Onetor und Philonides waren Brüder; Lysitheides war Schüler des Isokrates und zugleich dessen „Gefährte“ und „Vertrauter“ genau wie von dessen Adoptivsohn Aphareus; in einem Rechtsstreit zwischen dem Bankier Pasion und dem bereits genanntem Kallippos agierte Lysitheides als privater Schiedsrichter und entschied zugunsten des Kallippos, [Demosth.] 52.14 f., 30; Antikles’ Sohn Neptolemos gehörte wie Philomelos zu den reichen Freunden von Meidias, die auf dessen Seite in den Streit mit Demosthenes intervenierten, Demosth. 21.215. Blass 1892, 18. Thuk. 4.105,1 erwähnt die Goldbergwerke; Eich 2006, 165 hebt in Anschluss an Andreev 1984, 125 unter Verweis auf Marc. Vit. Thuk. 19 f. die politische Dimension dieser Erwerbung hervor. And. 1.137; 2.11, 20 f.; Lys. 6.19; 48 f. And. 1.133–136 mit dem Kommentar von Davies 1971, 31.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
wenngleich in Form von ‚Geschenken‘.97 Plutarch kannte sogar die Tradition, dass Platon – wie andere junge Männer – bei einer Ägyptenreise Handel und Unterricht verband.98 Xenophon ging als Söldner in die Fremde, um die finanzielle Grundlage für einen Haushalt zu legen; aus Athen verbannt wurde er erst durch eine spartanische Schenkung wieder zum Grundbesitzer.99 Die Verbindung von sozialer und geographischer Mobilität ist ein Merkmal gerade der Philosophen-Biographien. Aristoteles’ Vater gelang der Aufstieg aus dem unbedeutenden Stageira zum wohlhabenden Hofarzt König Philipps II., seinen Sohn schickte er zur Ausbildung nach Athen.100 Aristoteles’ Intimfeind Timaios schmähte ihn als Aufsteiger.101 Aristoteles selbst lehrte an mehreren Orten und besaß Häuser in Stageira und Chalkis. Pikant ist für einen Gelehrten, der Wucher verurteilte und eine Theorie der naturgemäßen Sklaverei entwickelte, dass Aristoteles’ Patron und Schwiegervater, der kleinasiatische Potentat Hermias, ein ehemaliger Sklave und Gehilfe eines Geldwechslers/Bankiers gewesen sein soll.102 Aristoteles’ Hauptschüler Theophrast war der Sohn eines offenbar wohlhabenden Walkers aus Eresos.103 Zenon aus Kition, der Begründer der stoischen Schule und Autor einer Utopie ohne Hauswirtschaft, war der Sohn eines vermögenden Kaufmanns und selbst Händler, bevor er sich der Philosophie zuwandte.104 Mehrere Redenschreiber waren Söhne erfolgreicher Unternehmer. Lysias betrieb die Schildwerkstatt seines Vaters weiter, Isokrates’ Vater war durch eine Flötenwerkstatt reich geworden, beide verdienten als Redenschreiber Geld.105 Demosthenes’ Großvater war vielleicht Architekt, sein Vater war ein vielgeschäftiger Erwerbsmann, der zwei Werkstätten betrieb und Kredite vergab, aber kein Land besaß. Demosthenes selbst soll noch am Ende seiner politischen Karriere Seedarlehen vergeben haben.106 97
Vgl. etwa die von Dion bezahlte Choregie, Plut. Dion 17.2, Diog. Laert. 3.3; Landgüter in Stadtnähe erwähnt das Testament, Diog. Laert. 3.41–43; zu Person und Familie vgl. Guthrie 1975, 10–32; Nails 2002, 243–250; Davies 1971, 329–334. 98 Plut. Solon 2.4; Guthrie 1975, 14–16 hält die Reise nach Ägypten für glaubwürdig; Andreev 1984, 131–133 betont das Episodische, hält die Anekdote jedoch nicht für unglaubwürdig. 99 Vgl. Kap. 4.3.1 und S. 367 f. 100 Zu Aristoteles’ Herkunft und Leben ANAGNOSTOPOULOS 2009a und FLASHAR 2013, 9–62; zum Grundbesitz s. die Bestimmungen seines Testaments bei Diog. Laert. 5.13. 101 S. Kap. 4.3.1, Anm. 203. 102 Der früheste Beleg für Hermias soziale Herkunft ist eine Bemerkung bei Theop. FGrH 115 F 291 (= Did. in D. 4.63) (ebenso Strab. 13.1,57); Guthrie 1981, 27 und Flashar 2013, 38 referieren die Passage, ohne eindeutig Stellung zu ihrer Glaubwürdigkeit zu beziehen. 103 So Diog. Laert. 5.36 unter Berufung auf Athenodoros in seinen Peripatoi, vermutlich ein Stoiker des 1. Jhs., vgl. RE 2.2 (1896), s. v. Athenodoros 20), sp. 2045 (A. Gercke). Die Suda (s. v. Θεόφραστος (Adler θ 199)) nennt dasselbe Gewerbe aber einen anderen Vatersnamen, was für eine unabhängige Überlieferung spricht. 104 Zu Zenons Karriere s. Kap. 11.3.1. 105 Zu Lysias s. Kap. 4.1.1 mit den Belegen in Anm. 41; zu Isokrates vgl. 4.3.1 mit den Belegen in Anm. 204–206. 106 Vgl. Hyp. 5.17; ähnlich Deinarch. 1.70.
4.1 Adressaten und Autoren
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Das hielt ihn nicht davon ab, seinem Erzfeind Aischines die Erwerbstätigkeit seiner Eltern vorzuhalten.107 Beide trieben Gelegenheitshandel mit Getreide, das ihnen mächtige auswärtige Freunde überlassen hatten, genau wie ein weiterer Redner, Deinarchos.108 Hypereides kam aus einer vermögenden Familie, was ihm den Unterricht bei Platon und Isokrates ermöglichte. Er verfügte über ein diversifiziertes Vermögen, zu dem neben Haus- und Grundbesitz auch die Pacht einer Silbermine und Einkünfte als Redenschreiber gehörten.109 Demades’ Vater Demeas war ein erfolgreicher Reeder und Schiffseigner, und Demades soll dieses Gewerbe zunächst fortgeführt haben.110 Apollodoros, dem einige Reden des Corpus Demosthenicum zugeschrieben werden, war der Sohn des freigelassenen und eingebürgerten Geldwechslers und Bankiers Pasion.111 Von der Herkunft der Dichter wissen wir insgesamt wenig und kaum etwas davon zuverlässig. Vom Tragiker Sophokles behauptete bereits ein antiker Kommentator findig, die Überlieferung, laut der sein Vater Tischler oder Schmied war, sei wohl so zu verstehen, dass dieser Sklavenwerkstätten besessen habe.112 Euripides, mütterlicherseits von guter Abstammung, hatte einen Vater, der vielleicht als Grundbesitzer gewinnorientiert für den Markt produzierte, ähnlich wie Kriton und Ischomachos.113 Die meisten Autoren der literarischen Quellen, aus denen wir Norm und Praxis des Wirtschaftens zu rekonstruieren versuchen, waren demnach selbst auf die eine oder andere Art in die geldbasierte Verkehrswirtschaft involviert. Dabei deutet sich die gleiche Zweiteilung an wie bei den Adressaten. Einige von ihnen waren die Söhne kommerziell erfolgreicher Aufsteiger, die sich der Politik oder Philosophie zuwandten, andere Landbesitzer, die ihre Einkommensquellen diversifizierten oder, wie Andokides und Xenophon, hofften, nach auswärtigem Erfolg wieder nach Athen zurückkehren zu können. Diese Personen schrieben nicht nur über Gelderwerb, soziale Mobilität und Statuskonkurrenz, sie waren selbst Auf- und Absteiger, die miteinander konkurrierten. Die Prominenz ‚neuer‘ Leute unter den Verfassern und Adressaten hat mitunter zu der Annahme geführt, im 4. Jh. sei der alte ‚Adel‘ von einer ‚Bourgeoisie‘ ersetzt worden, die statt der alten aristokratischen und polis-bezogenen Werte nun neue kos-
107 Demosth. 18.127–131, 257–265; 19.199–201. Zu Demosthenes’ Familie und Vermögen, vgl. PAA 318625; Davies 1971, 113–139; Cohen 1992, 121–129; Pomeroy 1997, 162–182; Cox 1998, 18–20. 108 Vgl. Moreno 2007, 220 f. mit den Belegen. 109 Davies 1971, 518. 110 Suda s. v. Δημάδης (Adler δ 414–415); vgl. PAA 306085 und Davies 1971, 99–102. 111 S. o. Anm. 88. 112 S. RE 2, 3.1 (1927), sp. 1041 (A. v. Blumenthal) mit den Belegen. 113 So die Erklärung von Lesky 1964, 170 für die Beschimpfung der Mutter als „Gemüseverkäuferin“; vgl. Philoch. FGrH 328 F 218 (= Suda s. v. Εὐριπίδης (ε 3695 Adler)) für die Abstammung der Mutter.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
mopolitische, ‚kaufmännische‘ Werte vertreten habe.114 Ein solcher Wandel ist gerade nicht feststellbar. Die steigende Bedeutung von Gelderwerb und neuem Reichtum führte nicht zu deren positiver Verabsolutierung, sondern im Gegenteil zur Verschärfung des kritischen Diskurses über Reichtum und Erwerb. Der Kontrast zwischen Lebenswelt und Doktrin findet sich dementsprechend besonders ausgeprägt bei den radikalsten Vertretern einer asketischen Lebensweise. Der Kyniker Diogenes von Sinope war der Sohn eines Geldwechslers und sein erster Schüler Monimos ein unfreier Geldwechsler in einer Bank in Korinth.115 Seine Zuhörer und Verehrer gehörten hingegen zu den reichen und mächtigen Familien und stifteten ihm nach seinem Tod ein prächtiges Grabmal.116 Die Parallele zu den mittelalterlichen Kirchen der Bettelorden, in denen sich die Gräber der reichsten Familien reihen, drängt sich auf. Das Publikum der Bettelmönche waren jene Kaufleute und Wucherer, deren Geschäftspraktiken ihre Predigten verurteilten.117 Die Analogie legt nahe, dass es bei allen religionsgeschichtlichen Unterschieden einen Zusammenhang zwischen dem Grad der materiellen Orientierung und des Erwerbsstrebens einer städtischen Gesellschaft und ihrem gleichzeitigen antimaterialistischen Wertediskurs gibt. Je wichtiger Geld und Erwerb werden, desto mehr werden sie zum Problem.118 Die Kommerzialisierung der Wirtschaft und die Steigerung der sozialen Mobilität führten gerade nicht zur Entstehung einer neuen Werteordnung, sondern zu einem gesteigerten Interesse an der Rationalisierung und Vermittlung dieser Werte. Die literarisch ausgestaltete Ökonomik bediente dieses Interesse. 4.2 Die Sprache des Geldes Neben dem Sozialprofil der Adressaten und Autoren gibt die Sprache der literarischen Ökonomik Auskunft über deren lebensweltlichen Sinnhorizont. Metaphern, Gleichnisse, Beispiele und Exempel dienen dazu, abstrakte, komplexe oder unvertraute Sachverhalte durch den Verweis auf Anschauliches und Vertrautes verständlich zu machen. 114
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Ehrenberg 1968, 367–383; Mossé [1962] 1979, 65–73; Pečírka 1976, 19–28; Rostovtzeff [1941] 1955, 888–898 spricht zwar unbefangen von „Bourgeoisie“, betont allerdings die Kontinuität: Bis zum späten Hellenismus sei der griechische Bürger „homo politicus“ gewesen und habe sich durch „glühende Hingabe an die Stadt und an die traditionellen Erscheinungen des städtischen Lebens, die politischen, religiösen und gesellschaftlichen“ ausgezeichnet. So der allgemein akzeptierte Bericht von Diog. Laert. 6.20 f., 56; vgl. RE 1, 5.1 (1905), sp. 765 (H. v. Arnim) mit weiteren Quellen, sowie DNP Bd. 3 (1997), s. v. 1), sp. 598 (M. Goulet-Cazé) und Döring 1995, 126–134; zu Monimos s. Diog. Laert. 6.82. Diog. Laert. 6.67 und 78 f. Vgl. Origo [1935] 1989, 68–84 und Le Goff [1986] 2008; vgl. Brucker 1969, 101–127 zum Konflikt zwischen Gelderwerb und ritterlichen und christlichen Werten in Florenz. Die Formulierung in Anlehnung an Schaps 2003; zur Entwicklung des Reichtumsdiskurses vgl. Kap. 4.3.3 und 6.1.4.
4.2 Die Sprache des Geldes
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Das gelingt, wenn die Vergleiche und Beispiele aus der Lebenswelt der Rezipienten stammen.119 Die folgende Auswertung dieser sprachlichen Mittel bei Platon, Xenophon und Aristoteles ergibt, dass Handel und Handwerk, Geld und Erwerb ausgesprochen präsent waren, präsenter als Viehzucht oder Ackerbau. Platon und Xenophon kennzeichnen häufige Handwerker-Vergleiche als Eigenart des Sokrates, die zu seiner Zeit auf Missbelieben gestoßen sei.120 Beide Autoren verwenden diese Vergleiche allerdings auch in Schriften, in denen Sokrates nicht als Gesprächsführer auftritt, und Aristoteles bedient sich derartiger Vergleiche ebenfalls häufig.121 Platons Schilderungen handwerklicher Verfahren sind in ihrer Detailliertheit unübertroffen, was seine Dialoge überraschend zu einer Quelle der Technikgeschichte macht.122 Kaum ein städtisches Handwerk oder Gewerbe ist in ihnen nicht vertreten.123 Die Verwendung von Handwerks-Bildern hat eine gewisse argumentative Eigenlogik, wo es um die Erläuterung abstrakter Ideen wie Arbeitsteilung oder die ZweckMittel-Relation geht.124 Handwerksbezüge erscheinen allerdings auch dort, wo sie thematisch weniger naheliegen. So vergleicht Xenophon den Feldscherer mit einem Flickschneider, erläutert also die militärische Praxis durch die gewerbliche!125 Zu diesen sachlich nicht gerade zwingenden, aber offenbar lebensweltlich nahe liegenden Referenzen gehören auch Sprichwörter über Töpfer, die Platon und Aristoteles zitieren.126 Selbst in die Diskussion abstrakter Grundbegriffe dringt die Sprache von Marktplatz und Haushalt ein, etwa wenn Aristoteles in der Physik seine Begriffe von Zufall, Fügung usw. mit der zufälligen Rückzahlung eines Darlehens während eines Marktgangs
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Müller 1974 untersucht die sprachlichen Bilder bis 400 weitgehend ohne nach deren lebensweltlichem Bezug zu fragen, weil er meint, dass „Schlüsse von der Bildsprache eines Autors auf die Kultur eines Zeitalters“ „immer nur teilweise richtig sein“ könnten, ebd. 336, Anm. 191. Aristoteles’ Bemerkungen über die Wirksamkeit derartiger sprachlicher Mittel gerade bei ‚einfachen‘ Personen weisen jedoch in eine andere Richtung, vgl. rhet. 1, 1356 b 4–11, 1357 a 7–19. 120 Vgl. Plat. Gorg. 491a; Xen. mem. 1.2,31–38. 121 So heißt es etwa in Plat. leg. 11, 921d–922a über die Feldherren, sie seien „Handwerker“ (δημιουργοί), weil sie ein „öffentliches Werk“ (δημόσιον ἔργον) ausführen, für das sie Ehren als „Lohnzahlungen“ (μισθοί) erhalten; Platon spielt damit, dass demiourgos mancherorts einen Magistrat bezeichnete, vgl. Busolt 1920, 505–508; ähnlich entwickelt Aristoteles detailliert das Bild des Gesetzgebers als Handwerker, der ein Werkstück zurichtet, Aristot. pol. 7, 1325 b 40–1326 a 5. 122 Morrow 1968, 145; Burford [1972] 1985, 155 f.; am ausführlichsten ist das Beispiel der Kleiderherstellung zur Erläuterung der Arbeitsteilung in Plat. polit. 279a–290d; vgl. 308b–311c, das von Blümner 1875, 90–178 häufig herangezogen wird; leg. 7, 793c schildert die Errichtung eines Dachgebälks, 7, 803a–b den Schiffsbau, 9, 858b (vgl. 10, 902d) die Maurerarbeit. 123 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: leg. 5, 734e–735a: Weben; 10, 903c: Arzt, Handwerker; 11, 934b: Maler; rep. 4, 420c–d: Bemalen von Statuen; polit. 277a–c: Bildhauer, Maler; 287c–290d: Weben; Gorg. 447d–448c: Schuster, Arzt, Maler; 449d: Weberei, Musik; 490b–491b: Schuster, Gerber, Arzt, Koch; 503e: Maler, Baumeister, Schiffbauer; Prot. 311b–312c: Arzt, Bildhauer. 124 Vgl. auch die Handwerkervergleiche bei Aristot. phys. 2, 194 a 34–195 b 30. 125 Xen. Kyr. 1.6,15 f. 126 Plat. Lach. 187b; Aristot. eth. Nic. 8, 1155 a 32–35.
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illustriert.127 Die Welt des städtischen Gewerbes erscheint den Philosophen näher als die Welt des Ackerbaus, obwohl sie diesen zur besten Erwerbsform küren.128 Handwerksbilder kommen zwar bereits in den Homerischen Epen vor. Aber die Philosophen des 4. Jhs. leben weit entfernt von den Hirten der homerischen Gleichnisse, die ihr Vieh gegen Raubtiere bewachen.129 Der Hirte taucht als Vergleich für den guten Herrscher nur selten auf und ihm haftet die Künstlichkeit des gesuchten Archaismus an.130 Bei Platon dient die Figur des Hirten nicht der Erklärung des besprochenen Sachverhalts, sondern muss selbst erläutert werden – und zwar mithilfe der Figur des städtischen Erwerbsmanns.131 Neben Handwerksbildern finden sich viele Vergleiche zu Handel und Geldgeschäft.132 Im Phaidon vergleicht Platon geistige Tugenden und Laster mit Münzen, die man gegeneinander tauscht, wobei die Vernunft (φρόνεσις) die einzige Münze sei, mit der Kauf und Verkauf erlaubt sein solle.133 Platon bedient sich hier der Sprache städtischer Dekrete über Münzprägung und -umtausch.134 Die innerhäuslichen Beziehungen werden ebenfalls in der Sprache des Geldverkehrs beschrieben. Im vierten Buch der Gesetze entwirft Platon eine Hierarchie von Ehrenpflichten.135 Nach Göttern, Heroen
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Aristot. phys. 2, 196 a 1–197 a 19. Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 571–575; Zimmer 2006; vgl. Ameling 1998, 284–286 für Aristophanes’ städtische Perspektive auf das Landleben. Zu den Homerischen Bildern s. Fränkel 1921 und Müller 1974, 319–321. In Platons Ursprungserzählung der städtischen Gesellschaft stehen die Berghirten für die primordiale Entwicklungsstufe, leg. 3, 677a–680a; an anderer Stelle nennt er sie als eine agrarische Berufsgruppe neben anderen, 8, 842d; 10, 906d; Brock 2013, 43–49 stellt fest, dass das Bild des Hirten nach Homer und Hesiod nur noch selten verwendet wird, bei den Tragikern meist mit Epen-Bezug; Platon bricht das Bild mehrfach ab und erläutert es durch Handwerkergleichnisse, polit. 260c–d; rep. 1, 345e–346d, Xen. Kyr. 1.1 wendet es auf den Perserkönig Kyros an, was der kulturellen Herkunft des Bilds entspricht, Aristot. eth. Nic. 8, 1161 a 14 f. verwendet es wie die Tragiker mit Homer-Bezug. Plat. polit. 260c–268b führt den König zwar als Hirten der Menschen ein, die darauffolgende Erläuterung sozialer Arbeitsteilung erfolgt jedoch am Beispiel der Textilherstellung, 279a–290d; der Unterschied zwischen Herold und König wird als derjenige zwischen Detailhändler (κάπηλος) und Direktverkäufer (αὐτοπώλης) beschrieben, 260c–d; in Plat. rep. 1, 343a–345d beschwert sich Sokrates, dass Thrasymachos den Hirten „wie einen Erwerbsmann“ (ὥσπερ χρηματιστήν) zeige; dann arbeitet er den Zweck der „Hirtenkunst“ anhand von Gewerbe-Analogien bis hin zur „Lohnkunst“ heraus, 345e–346d. Vgl. die Behandlung von Stellen zu Geldkrediten bei Millett 1991, 5–9; vgl. Seaford 2004 zur Prägung des Denkens durch die aufkommende Geldwirtschaft im 6. und 5. Jh. Plat. Phaid. 69a–b; Burnet streicht ὠνούμενά τε καὶ πιπρασκόμενα in der Oxford-Ausgabe, Robin und Méridier lassen es in der Belles-Lettres-Ausgabe stehen; der Grundtenor der Passage bleibt in beiden Fällen der gleiche. Zum Vergleich s. die bekannten Inschriften aus Athen, IG I3 1453 (= Osborne-Rhodes, GHI 155) und SEG 29.87 (= Rhodes-Osborne, GHI 25), sowie aus Olbia, I. Kalchedon 16. Plat. leg. 4, 716d–718a.
4.2 Die Sprache des Geldes
117
und verstorbenenen Vorfahren gilt den noch lebenden Eltern besondere Ehrerbietung:136 Denn göttliches Recht (θέμις) verlangt, dass man als Schuldner die ersten und größten Schulden als die ältesten und ehrwürdigsten aller Verpflichtungen abträgt und dass man alles, was man erworben hat und besitzt, als Eigentum derer betrachtet, die uns erzeugt und aufgezogen haben, damit man dies mit allen Kräften in ihren Dienst stellt […].
Themis, die ehrwürdige, göttlich sanktionierte Sitte wird hier nach den Regeln des zeitgenössischen Schuldrechts erläutert.137 Die Reihenfolge, in der die Forderungen der Gläubiger bedient werden, richtet sich nach Höhe und Alter ihrer Schulden, die Sorge für die Eltern wird zur „Rückzahlung zinstragender Darlehen“ (ἀποτίνοντα δανείσματα),138 als wenn die Sache ein bloßes Geschäft wäre. Bemerkenswert ist das Bild, das Aristoteles wiederholt,139 auch deshalb, weil Platon Geldverleih auf Zins anderswo in den Gesetzen zusammen mit Handel, Reederei und Bergbau aus seiner Idealstadt verbannen will.140 Platon bezeichnet zwar „das Verlangen nach Reichtum“ (ὑπ’ ἔρωτος πλούτου) als Krankheit der gegenwärtigen Städte und will es abschaffen.141 Doch um seine Leser von seiner Kur zu überzeugen, bedient er sich eben jener Sprache des Besitzes und Erwerbs, welche ‚die Vielen‘ (Platons οἱ πολλοί) verstehen, die er eines Besseren belehren will. Am schärfsten ist der Kontrast von anti-materialistischem Inhalt und materialistischer Sprache dort, wo Erwerb und Reichtum direkt verurteilt werden. Platon begründet seine Forderung, die Seele mehr zu ehren als den Körper oder materiellen Besitz, damit, dass er die Seele als „Besitztum“ (κτῆμα) bezeichnet, das man nicht „veräußern“ (ἀποδιδόναι) dürfe, weil sein „Preis“ (τιμή) so hoch sei, dass es keinen angemessenen „Gegenwert“ (ἀντάξιος) gebe.142 Die Bedeutung dieser Wörter ist nicht spezifisch kommerziell. Platon gibt ihnen jedoch ein kommerzielles Gepräge, indem er das Bild eines Aufwiegens von zwei Tauschwaren bemüht.143 Besonders interessant ist dabei die Formulierung „sich nicht um ein Besitztum [die Seele] kümmern“ (τις κτήματος ἀμελεῖν), denn ihr Gegenteil, das κτημάτων ἐπιμέλεσθαι, ist geradezu eine Kurzformel für effektives Hauswirtschaften; Platon verwendet sie selbst und von Xenophon und Iso136
Leg. 4, 717b: ὡς θέμις ὀφείλοντα ἀποτίνειν τὰ πρῶτά τε καὶ μέγιστα ὀφειλήματα, χρεῶν πάντων πρεσβύτατα, νομίζειν δέ, ἃ κέκτηται καὶ ἔχει, πάντα εἶναι τῶν γεννησάντων καὶ θρεψαμένων πρὸς τὸ παρέχειν αὐτὰ εἰς ὑπηρεσίαν ἐκείνοις κατὰ δύναμιν πᾶσαν […]. Übers. K. Schöpsdau. 137 Vgl. zu dieser Passage Millett 1991, 132 f.; zum griechischen Pfandrecht bei mehreren Gläubigern s. Hitzig 1895, 99–104, 117–129; Finley 1951, 107–117; Harris 2015, 128–131. 138 Plat. leg. 4, 717c. 139 Aristot. eth. Nic. 8, 1163 b 13–18; vgl. 9, 1164 b 27–1165 a 2; dazu Millett 1991, 133 f. 140 Plat. leg. 8, 842d. 141 Leg. 8, 831b–c. 142 Leg. 5, 726a–728e. 143 Das sehr allgemeine apodidonai bezieht Platon selbst speziell auf den chrēmatistēs, vgl. rep. 1, 345c; antaxios hat bei Xen. mem. 2.10,3 kommerzielle Bedeutung.
118
4 Der soziale Kontext der Ökonomik
krates wird sie als Schlüsseltugend von Hausvater und -mutter beschworen.144 Wenn Xenophon in seinen Memorabilien dazu auffordert, sich mehr um einen Freund als um materiellen Besitz zu kümmern, weil ein guter Freund „das größte von allen Besitztümern“ sei und „nützlicher“ als jedes Pferd, Zugtier oder Sklave,145 so besteht wie bei Platon eine merkwürdige Spannung zwischen dem anti-materiellen Inhalt der Aussage (Freundschaft ist wichtiger als unbelebter Besitz) und ihre materialistischen Form, die Freunde als quantifizierbaren Vermögenswert neben Ochsen und Sklaven stellt.146 Hier spricht nicht der Moralphilosoph im Elfenbeinturm, sondern der Hausvater, der sein Kapital, symbolisches genau wie materielles, nüchtern zusammenzählt. Selbst das philosophische Gespräch wird zur Transaktion. Bei Platon wird das Argument zur zu prüfenden Silbermünze147 und eine überlange Antwort zu einer Geldschuld, bei der man das Kapital mit Zinseszins zurückzahlt.148 Bei Xenophon heißt es, wenn sich die Gesprächspartner einig seien, sei das so schön, wie wenn zwei Geschäftspartner über ihre Rechnungslegung einig seien.149 Aristoteles kommentiert die kommerzielle Färbung der Sprache selbst. In der Nikomachischen Ethik erläutert er, dass die Ausdrücke „Gewinn“ (κέρδος) und „Verlust“ (ζημία), die er in seiner Gerechtigkeitslehre benutzt, aus dem „freiwilligen Verkehr“ stammen, d. h. Ausdrücke seien, die bei „Kauf und Verkauf “ und dergleichen verwendet würden.150 Aristoteles und Platon entwickelten eine Gerechtigkeitstheorie der politischen Gesellschaft, die das partikulare Gewinnstreben des Haushalts zugunsten wahrer Freundschaft und Bürgertugend überwinden sollten. Gleichwohl nahm diese Theorie das hauswirtschaftliche Nutzendenken nicht nur als gegeben an, sondern setzte es als lebensweltlichen Erfahrungshorizont ihrer Rezipienten geradezu voraus. 4.3 Der Ursprung der Ökonomik Zur Frage nach dem sozialen Kontext der Ökonomik gehört schließlich die Frage nach ihren Ursprüngen als literarische Untergattung. Ein großer Teil der Forschung hat diese Frage sogar vorrangig behandelt. Peter Spahns Aufsatz zur „Entstehung der Ökonomik“ (1984) ist bis heute maßgeblich, weil Spahn darin nicht nur die Vorgeschichte
144 145 146 147 148
Plat. leg. 8, 831b–c; Xen. oik. 9.19; vgl. mem. 2.4,1; Isokr. 12.145; 15.124. Xen. mem. 2.4,1–5. Vgl. Zelnick-Abramovitz 2000, 69–71 zur kommerziellen Sprache dieser Passagen. Plat. Gorg. 486d; vgl. Aristot. rhet. 1, 1375 b 4 f.: Der Richter gleicht dem Silberprüfer. Plat. polit. 267a. Wenn Plat. Euthyphr. 14e Gebet und Opfer als ἐμποριρκὴ τέχνη bezeichnet, weil man von den Göttern etwas erwartet, ist das eine sarkastische Abwertung der durchschnittlichen Frömmigkeit; vgl. polit. 290c–d. 149 Xen. oik. 6.3. 150 Aristot. eth. Nic. 5, 1132 a 25–b 20.
4.3 Der Ursprung der Ökonomik
119
der Ökonomik darstellt, sondern auch eine dezidierte These zur ihrer Entstehung und Entwicklung vorlegt. Spahn nimmt an, dass die Ökonomik als literarische Gattung in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. in Athen entstand, verursacht von einer „neuen Technik marktbezogener und geldwirtschaftlicher Haushaltung“.151 Während die Hauswirtschaft der archaischen Zeit weitestgehend autark gewesen sei, versorgten sich die Bürger nun häufiger auf der Agora und verkauften dort ihre Überschüsse. Spahn sieht diese Entwicklung mehr politisch als wirtschaftlich bedingt: Die gesteigerte politische Partizipation der Bürger in der Demokratie und die Evakuierung Attikas während des Peloponnesischen Kriegs nötigten die Bürger dazu, sich auf dem Markt zu versorgen, statt von ihren eigenen Landgütern zu leben. Das wiederum schuf laut Spahn einen Bedarf an der Vermittlung hauswirtschaftlichen Wissens, den „die sophistischen Haushaltslehren“ zu decken versprachen.152 Diese Texte seien verloren, aber die uns erhaltenen Texte der Philosophen seien die konservative Reaktion auf die „gewissermaßen liberalen Vorstellungen von Ökonomie“ bei den Sophisten. Die philosophisch theoretisierte Ökonomik begrub die aufkeimenden Ansätze zu einer wirtschaftlichen Analyse geradezu: „Die in der Politik und Ethik begründete Begrenzung des aristotelischen οἰκονομία-Begriffs“ verbaute „sich gewissermaßen selbst das Verständnis von ‚Wirtschaft‘ als einem autonomen Handlungsfeld, wie es dann erst seit dem 18. Jahrhundert entdeckt wurde“.153 Der Oikonomia-Begriff bei Xenophon und Pseudo-Aristoteles sei zwar alltagsnäher gewesen, aber habe dafür ein noch geringeres Analyse-Potential gehabt. Aber selbst die aufgeschlossenere ‚sophistische Ökonomik‘ sei letztlich bedarfsorientierte „Naturalwirtschaft“ geblieben und keine auf rentablen Warenabsatz zielende „Kapitalrechnung“ gewesen, auch wenn sie mit Geld rechnete.154 In einem späteren Aufsatz zur ‚sophistischen Ökonomik‘ hat Spahn die Entstehungsgründe der Ökonomik allgemeiner gefasst: Der richtige Gebrauch des Geldes sei Ende des 5. Jhs. zu einem „drängend gewordene[n] ethische[n] Problem“ geworden.155 An der Vorstellung einer reaktionären philosophischen Ökonomik, die in der Überlieferung eine liberalere und praxis-nähere sophistische überdeckte, hält Spahn jedoch fest. Er zieht das Fazit, die Sophisten seien zwar nicht die „geistigen Wegbereiter von Marktwirtschaft und Kapitalismus“ gewesen, aber hätten sich doch „erstaunlich ‚modern‘“ gezeigt.156 Spahns Annahme, dass die verkehrswirtschaftlichen Entwicklungen des 5. Jhs. das Interesse an Hauswirtschaft aber auch die Problematisierung von Reichtum und Er-
151 152 153 154 155 156
Spahn 1984, 307–321, Zitat 314. Spahn 1984, 313–315. Spahn 1984, 316–320, Zitate 318 und 320. Spahn 1984, 322 f. Spahn 2003, 47 f. Spahn 2003, 49.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
werb beflügelten, erscheint mir plausibel und wird von der Forschung weitgehend geteilt (s. u.). Seine zwei speziellen Thesen zur Entstehung der Ökonomik in Athen Ende des 5. Jhs. scheinen mir jedoch problematisch. Die erste These ist, dass die Ökonomik eine Antwort auf die politisch bedingte Rationalisierung der vormals bäuerlichen Haushaltsführung in Attika war. Diese These ist mit den zeitgenössischen Zeugnissen schwer in Einklang zu bringen. Spahn zitiert die Unzufriedenheit des attischen Landwirts Dikaiopolis in Aristophanes’ Acharnern als Beleg für „die schwierige und ungewohnte wirtschaftliche Situation der aus ihren Landgemeinden nach Athen evakuierten bäuerlichen Bevölkerung“.157 Allerdings klagt Dikaiopolis nicht über den Markt als solchen, sondern über die kriegsbedingte Teuerung und seine schwache Verhandlungsposition. Für den Fall, dass der Frieden seine Verhandlungsposition stärkt, wünscht er sich zuallererst einen Markt, auf dem er verkauft, statt kauft.158 Des Weiteren waren nicht die attischen Bauern das Publikum der Sophisten, sondern die stadtansässige athenische Oberschicht. Ein besonderer Förderer von Protagoras, ein Denker, auf den Spahn besonders verweist, war Kallias, dessen Vermögen aus dem Silberabbau stammte.159 Brauchte dieser Mann Nachhilfe im Umgang mit städtischen Märkten und Geld? Der zeitgenössische Komödien-Dichter Eupolis insinuierte im Gegenteil, Protagoras schwatze über weltfremde Dinge und feuere Kallias zu ostentativem Konsum an, um als Parasit davon zu profitieren.160 Von praktischer Belehrung zu hauswirtschaftlicher Sparsamkeit fehlt hier jede Spur.161 Spahns zweite These, das Genre der Ökonomik habe mit einer liberalen, praxisorientierten ‚sophistischen Ökonomie‘ begonnen, ist ebenfalls problematisch.162 Das erste Problem dieser These ist, dass sie ‚Sophisten‘ und ‚Philosophen‘ als objektiv unterscheidbare Gruppen voraussetzt. Tatsächlich aber verwendeten die Zeitgenossen die Bezeichnung ‚Sophist‘ als abwertenden Kampfbegriff, um Konkurrenten und Gegner zu ‚Brotgelehrten‘ abzustempeln: Gerade die Erzphilosophen Sokrates und Platon wurden besonders häufig als σοφισταί verunglimpft.163 Platon, auf den die Identifizie-
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Spahn 1984, 311. Zu dieser Passage ausführlich in Kap. 14.3. Vgl. Davies 1971, 259–261. Vgl. Eupol. fr. 157 (= Diog. Laert. 9.50) und 158 PCG (= Plut. symp. 699a), dazu Carey 2000, 423–425. Vgl. den Hinweis von Weiss 2001, 361 darauf, dass die in Richarz 1991b zusammengestellte nachantike Hausväterliteratur sich nur an den Bedürfnissen der Oberschicht orientierte. Meister 2010, 132–135 hat den Begriff übernommen. Das Sokrates-Bild von Aristophanes’ Wolken ist bekannt; es deckt sich mit allen erhaltenen Äußerungen von Rednern oder Komödien-Dichtern des 4. Jhs.; Aischin. 1.125, 173, 175 bezeichnet Sokrates und Demosthenes zusammen als Sophisten; Lys. fr 449 Carey (= Ael. Arist. 46.407) schimpft Platon und Aischines von Sphettos Sophisten; [Demosth.] 35.40 nennt Isokrates jemanden, der Sophisten ausbildet, und Theop. FGrH 115 F 25 (= Phot. Bibl. 120 b 30) nennt Isokrates selbst so; all das deckt sich mit der öffentlichen Ablehnung der Gelehrten; vgl. Scholz 1998, 11–71; Haake 2008; 2009; Dressler 2014, 347–355.
4.3 Der Ursprung der Ökonomik
121
rung bestimmter Gelehrter als Sophisten maßgeblich zurückgeht, erklärte selbst, es sei nahezu unmöglich, φιλόσοφοι und σοφισταί sicher zu unterscheiden.164 Während der zeitgenössische Begriff also erklärtermaßen wertend war, definiert Spahn wie die meisten Handbücher die ‚Sophisten‘ darüber, dass sie bei allen inhaltlichen Unterschieden alle professionelle, d. h. bezahlte Lehrer gewesen seien. Spahn wendet diese Definition allerdings genauso wenig streng an wie die Handbücher: Zum einen waren auch Platon und Aristoteles letztlich berufsmäßige Lehrer, selbst wenn die Zuwendungen an sie nicht als ‚Bezahlung‘ markiert waren; zum anderen werden viele Denker als Sophisten gezählt, über deren Beruf wir nichts wissen, z. B. der Anonymus Iamblichi, den auch Spahn zitiert.165 Der Grund für diese Inkonsistenz ist, dass Spahns Begriff einer speziell ‚sophistischen‘ Ökonomie letztlich doch die Vorstellung einer inhaltlichen Gemeinsamkeit zugrundeliegt, nämlich die Vorstellung, dass die ‚Sophisten‘ eine besonders liberale und praxisnahe Annäherung an das Wirtschaften im Haus vertraten. Eine solche inhaltliche Grenzziehung zwischen einer liberalen Theorie der Sophisten und einer reaktionären Theorie der Philosophen ist nicht möglich. Bei Platon preist der Sophist Protagoras seinen Unterricht damit an, dass er die jungen Männer „Wohlberatenheit“ (εὐβουλία) in der Leitung ihres Hauses und der Stadtgemeinde unterrichte. Das ist, bis in den Wortlaut hinein, das Programm der praktischen Ethik, das Xenophon Sokrates zuschreibt.166 Da Platon und Xenophon unsere Gewährsmänner für die älteren Sophisten und Sokrates sind, weckt diese Parallele in der Zuschreibung erhebliche Zweifel daran, dass man andere Äußerungen dieser beiden Autoren als Hinweise auf eine neue, praxis-orientierte sophistische Ökonomikliteratur interpretieren kann. Gegen die Existenz solcher Fachbücher spricht im Übrigen das völlige Fehlen eines einzigen entsprechenden Titels in den ansonsten umfangreich überliefer-
164 Plat. soph. 216b–d; vgl. Dressler 2014, 120–131 zur Schwierigkeit der objektiven Abgrenzung ihrer Methoden. 165 Die einschlägigen Handbücher changieren zwischen dem objektiven Kriterium der Berufsmäßigkeit und dem der inhaltlichen Ausrichtung und ethischen Gesinnung, vgl. Guthrie 1971, 35–40; Marrou [1948] 1977, 110; Kerferd/Flashar 1998, 3–5; Meister 2010, 15–17; vgl. Nebelin 2016, 197–310; bereits Nestle 1941, 264 (vgl. 250) hat die Gültigkeit der Grenzziehung deshalb eingeschränkt; Guthrie, loc. cit. 37, sieht ein Merkmal des berufsmäßigen Lehrens darin, dass Protagoras „two classes of pupils“ gehabt habe, „young men of good family who wished to enter politics“ und jene, die selbst „Sophist“ werden wollten; diese Zweiteilung trifft allerdings exakt auf die Schüler von Isokrates, Platon und Aristoteles zu; Schriefl 2012 und 2013, 104–111 hat festgestellt, dass auch in der Frage der Honorare die Grenze weniger klar ist, als meist behauptet; vgl. Schlange-Schöningen 2002; charakteristisch für die Inkonsistenz der Kriterien bei der Trennung von Sophisten und Philosophen sind die Schwierigkeiten, die ‚kleineren Denker‘, die Platon nicht erwähnt, konsistent einer Gruppe zuzuordnen; vgl. Nestle 1941, 424; Guthrie 1971, 304; Marrou [1948] 1977, 130 f. und Th. Schirren und Th. Zinsmaier in ihrer Reclam-Ausgabe (324–327). 166 Vgl. Kap. 4.1.1.
122
4 Der soziale Kontext der Ökonomik
ten Werkverzeichnissen der berühmten Sophisten.167 Dafür finden sich viele inhaltliche Parallelen zwischen ‚Sophisten‘ und ‚Philosophen‘; so z. B. der Gedanke, dass man seinen Reichtum „nutzen“ solle,168 oder der zuerst beim Anonymus Iamblichi fassbare Gedanke, dass eine gute politische Ordnung Vertrauen stifte, das wiederum Austausch und Wohlstand fördere.169 Es gibt demnach keine überzeugenden Gründe, die Existenz einer liberalen und pragmatischen sophistischen Ökonomik mit Fachbuchcharakter anzunehmen, die später durch die philosophische Reaktion verschüttet wurde. ‚Sophisten‘ und ‚Philosophen‘ waren Teilnehmer des gleichen gelehrten Diskurses und teilten dessen Leitfragen, Begriffe und Prämissen. Sondermeinungen und provokante Gegenpositionen waren, dem kompetitiven Charakter des intellektuellen Diskurses entsprechend, zahlreich, doch mehr persönlich als ideologisch und sie setzten die etablierten Wertungen und Kategorien als Folie voraus.170 Während die beiden speziellen Thesen Spahns von darauffolgenden Forschungsbeiträgen zur Entstehung der Ökonomik nicht geteilt wurden, haben sie andere Aspekte seiner Rekonstruktion bestätigt und ergänzt. Raymond Descat meint, eine Ursache für das gesteigerte Interesse an Ökonomik sei gewesen, dass die private Haushaltungsführung im 5. Jh. stärker in den Fokus öffentlicher Beurteilung rückte.171 Die Ökonomik seine eine „science du riche“ und sogar „science du profit“ gewesen, die allerdings ethisch und sozial gebunden blieb.172 Sie richtete sich an Bürger und stellte die Landwirtschaft über das Handwerk.173 Fabio Roscalla und Michele Faraguna haben sich dieser Position angeschlossen.174 Ihre Hauptthese ist, dass die Kommerzialisierung und Monetarisierung des 5. Jhs. zur Entstehung der Ökonomik führte und dass sich daraus erklärt, dass die erhaltenen Abhandlungen vor allem den wirtschaftlichen Aspekt der Kunst der Haushaltsführung behandeln.
167 Vgl. die Übersichten bei Kerferd/Flashar 1998, 28–96; bereits Singer 1958, 46 konstatiert: „there is no hint of any Sophist writer on oikonomia as a whole.“ Ebenso Klees 1975, 58–62, der annimmt, die Sophistik habe zwar „die Grundlage für eine Systematisierung der Oikonomik“ gelegt, sich aber mit der „technischen Seite der erwerbswirtschaftlichen Grundlage des Hauses“ nicht näher beschäftigt. 168 Dazu ausführlich Kap. 6.2.1. 169 Spahn 2003, 43 f. diskutiert Anon. Iamb. 7.1 DK 89 als prominentes Zeugnis für die Aufgeschlossenheit der Sophistik gegenüber der Geldwirtschaft; eine fast identische Formulierung findet sich allerdings bei Isokr. 7.31–35; Spahn zitiert diese Stelle nicht, Faraguna 1994, 583–587 und Soverini 1998, 81–89 stellen sie der Anonymus-Stelle hingegen zur Seite; vgl. auch Ferrucci 2005, 166 f. mit Anm. 56; verwandte Überlegungen finden sich bei Demokr. fr. B 255 DK 68 (= Stob. 4.1,46), Plat. leg. 11, 918b–919b und Aristot. pol. 6, 1320 a 17–b 11; dazu Hinsch (im Druck). 170 Die scharfe Konkurrenz der Gelehrten hat zuletzt Nebelin 2016 zur Grundlage ihrer Analyse des sozialen Orts der Philosophie gemacht; sie hält dabei an der Unterscheidung von ‚Philosophen‘ und ‚Sophisten‘ fest; vgl. ebd. 197–224 und 311–355. 171 Descat 1988, 107–109. 172 Descat 1988, 111–117. 173 Descat 1988, 117. 174 Roscalla 1992, 478–481; Faraguna 1994, 578, 589.
4.3 Der Ursprung der Ökonomik
123
Dieser Mehrheitsposition hat Renate Zoepffel widersprochen. In ihrem Kommentar zu den pseudo-aristotelischen Oikonomika kritisiert sie die Überbetonung des ökonomischen Aspekts der Haushaltsführung, der in der Ökonomik eher nebensächlich gewesen sei.175 Es sei weiterhin falsch, das Aufkommen der literarischen Gattung der Ökonomik als Reflex auf Veränderungen wirtschaftlicher Strukturen zu erklären. Laut Zoepffel dürfe man lediglich „von einer Veränderung in Mentalität und Diskursart“ ausgehen, nicht von faktischen Veränderungen in der Hauswirtschaft.176 Verändert habe sich nicht die Wirtschaft – Hauswirtschaft existierte vor der Erfindung des Worts oikonomia –, sondern die Art der Wissensvermittlung durch die Entstehung einer Fachliteratur am Ende des 5. Jhs.177 Zoepffels Kritik erinnert zu Recht an die Quellenproblematik bei der Auseinandersetzung mit Ökonomik und Hauswirtschaft. Die plötzliche Vermehrung überlieferter Prosatexte um die Wende vom 5. zum 4. Jh. erweckt den Eindruck plötzlich einsetzender Dynamik, obwohl viele Ideale und Praktiken der Hauswirtschaft sich bis in homerische Zeit zurückverfolgen lassen (s. Kap. 19.1). Richtig ist auch, dass kulturelle Entwicklungen eine Eigenlogik haben und sich nicht auf ihre materielle Grundlage reduzieren lassen. Gleichwohl kann eine Auffassung der Ökonomik als bloß kulturgeschichtliches Phänomen weder den besonderen Entstehungszeitpunkt erklären noch das besondere Interesse der Zeitgenossen am wirtschaftlichen Aspekt der Haushaltsführung. Viele Themen, die fester Bestandteil traditioneller Hausväterliteratur sind, wie etwa die Kindererziehung, das Eheleben und die Krankenpflege, fehlen in den uns erhaltenen Texten ganz oder werden nur unter ihrem ökonomischen Aspekt behandelt (vgl. Kap. 6.1 und 6.3). Die Entstehung der Ökonomik war so gesehen ein kulturgeschichtliches Ereignis, dessen Zeitpunkt und anfängliche Problemstellung sozial- und wirtschaftsgeschichtlich zu erklären sind.178 Das bedeutet auch, dass bei der Analyse der Ökonomik deren literarische Gestalt stärker berücksichtigt werden sollte, als dies bisher der Fall gewesen ist.
175 176 177 178
Zoepffel 2006, 54, 60–64, 115. Zoepffel 2006, 122. Zoepffel 2006, 51 f., 115, 118–137. In diesem Sinn übernimmt Sabine Föllinger Zoepffeis Position in ihrem Beitrag zum Handbuch der griechischen Literatur der Antike weitgehend, ergänzt allerdings, „dass auch die Krisensituation, in der sich Athen nach dem Peloponnesischen Krieg befand, die sich aber vorher schon abgezeichnet hatte“, ihren Anteil am vermehrten Interesse an Ökonomik hatte, Asper/Föllinger 2014, 453, 585.
124
4 Der soziale Kontext der Ökonomik
4.3.1 Ökonomik als Fachliteratur? Ein guter Ausgangspunkt für die Untersuchung der literarischen Gestaltung der Abhandlungen zur Ökonomik ist die verbreitete Annahme, dass sie eine Untergattung der sich seit dem 5. Jh. ausdifferenzierenden ‚Fachliteratur‘ gebildet hätten.179 Ist diese Annahme gerechtfertigt? Sabine Föllinger hat auf die allgemeine Problematik der in der Antike unbekannten Bezeichnung ‚Fachliteratur‘ für antike Literatur hingewiesen.180 ‚Fachliteratur‘ setzt Fachwissen, Fachsprache und Fachpublikum voraus. Ihre Kennzeichen sind Spezialvokabular, Konzentration auf Sachfragen, Systematik und Vollständigkeit in der Behandlung des Gegenstands. In der Antike jedoch dienten selbst die Texte von Fachleuten mindestens ebenso der Selbstdarstellung wie der Wissensvermittlung181 und der eigentliche Unterricht erfolgte durch Anschauung und Nachahmung statt durch theoretische Belehrung.182 Man kann den modernen Ausdruck als Idealtyp verstehen, dem antike Texte graduell unterschiedlich nahe kommen können.183 In klassischer Zeit kommen den definierten Bedingungen wohl die Schriften des Corpus Hippocraticum am nächsten.184 Aineas Taktikos’ um die Mitte des 4. Jhs. entstandene Schrift Über die Verteidigung belagerter Städte richtet sich zwar nicht an Spezialisten, weil alle Bürger zur Verteidigung ihrer Heimatstadt verpflichtet waren. Der neutrale, an Sachproblemen orientierte Duktus, verbunden mit der Darstellung historischer Beispiele und der Erläuterung technischer Vorrichtungen, zeigt jedoch die Absicht praktisches Wissen zu vermitteln.185 Die Autoren, welche die erhaltenen Haupttexte zur Ökonomik schrieben, verfassten durchaus Lehrbücher. Aristoteles behandelte die Redekunst systematisch in drei Büchern und Pseudo-Aristoteles stellte im zweiten Buch seiner Oikonomika eine
Eine derartige Einordung von Xenophons Oikonomikos etwa bei Lesky 1971, 695 f. Dihle 1991, 247 nennt Xenophon einen „typische[n] Repräsentant“ der sich ausbreitenden Fachschriftstellerei; vgl. Finley [1973] 1993, 13 zur Gattung allgemein; kritisch zu dieser Einordnung Föllinger 2006, 7 f. 180 Föllinger 2011, 289; vgl. Asper/Föllinger 2014, 453; gleichwohl ordnet Föllinger den Oikonomikos unter die „ökonomische[n] Fachschriften“ ein und zitiert zustimmend Zoepffels Klassifizierung der pseudo-aristotelischen Oikonomika als „Technai im Sinne von systematischen Lehrbüchern“, Zoepffel 2006, 135. 181 Vgl. die kargen Informationen zu den Künstler-Lehrschriften der klassischen und hellenistischen Zeit bei Plin. nat. 34.83 f. (Apelles), 35.67, 79 f. und Vitr. praef. 11 (Pytheas); Ähnliches gilt vielleicht für die gastronomisch-kulinarische Fachschriftstellerei, vgl. Plat. Gorg. 517b und Klearch. fr. 78 Wehrli (= Athen. 8.337b) sowie die Fragmente von Archestratos’ Lehrgedicht Hedypatheia. 182 Meissner 1999, 125–145. 183 Das gilt besonders für die systematisch aufgebauten Fachbücher, die Fuhrmann 1960 analysiert hat; die meisten dieser Texte stammen erst aus nachklassischer Zeit; vgl. Meissner 1999; Fögen 2009. 184 Zum Corpus Hippocraticum s. Oser-Grote 1998; Althoff 2011. 185 Zu dieser Schrift s. Winterling 1991; vgl. Meissner 1999, 148.
179
4.3 Der Ursprung der Ökonomik
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Sammlung von Exempeln als praktische Handreichung zusammen (zu ihrer literarischen Form s. Kap. 5.3). Xenophon schrieb ein Buch über die Jagdkunst und ein weiteres über die Reitkunst. Die Auswahl der Themen ist kaum zufällig – sie stellt schichtspezifisches Wissen zur Schau.186 Man wird über jede von Xenophons Lehrschriften vermuten dürfen, dass sie auch als Monument seines Status und seiner Bürgertugend gedacht war.187 Selbst wenn man den Begriff des Fachbuchs weit fasst, gehören die uns erhaltenen Schriften zur Ökonomik nur bedingt zu dieser Gattung. Das gilt nicht nur für Aristoteles’ Politik I, sondern auch für Xenophons Oikonomikos und das erste Buch der pseudo-aristotelischen Oikonomika. Im Gegensatz zu Spahn erscheint es mir unwahrscheinlich, dass überhaupt je ‚publizierte‘ systematische praxis-orientierte Fachbücher zur Hauswirtschaft existierten. Denn denjenigen Texten, die als Fachtexte gelten können, ist gemein, dass sie spezielle Fähigkeiten und Kenntnisse ihrer Autoren werbend zur Schau stellten, meist mit dem Zweck, sich als Lehrer oder Auftragnehmer zu empfehlen. Erfolgreiche Fachleute nutzten seit dem ausgehenden 5. Jh. das Medium der Schrift, um die traditionell mündliche Vorführung (ἐπίδειξις) ihres Könnens über ihren unmittelbaren Gesichtskreis hinaus auszudehnen. Daraus entwickelte sich eine auch theoretisch und didaktisch interessierte und an ein breiteres Publikum gerichtete Fachschriftstellerei.188 Ein Haus zu leiten war jedoch keine solche spezialisierte Tätigkeit. Jeder freie Grieche war selbst Hausherr oder hoffte, es einmal zu werden.189 Zudem lehnten die Mitglieder der Oberschicht, Adressaten der Lehrschriften und des Unterrichts der Gelehrten, die Unterordnung unter einen Lehrmeister ab und betrachteten die kleinteilige Sorgfalt des Fachmanns als Kleingeistigkeit.190 Der Unterricht der berühmten ‚Sophisten‘, des Rhetorikers Isokrates und der ‚Philosophen‘ Platon und Aristoteles hatten alle denselben Zweck: Er sollte die Söhne wohlhabender Familien auf die von ihnen beanspruchte Führungsrolle in Haus und Stadt vorbereiten. Der Sophist Protagoras habe – laut Platon– damit geworben, dass er die Jugend die richtige Verwaltung von Haus und Stadt lehre:191
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Bezeichnenderweise erwähnt Xenophon zu Beginn seiner Abhandlung einen Athener namens Simon, der ebenfalls eine Schrift über die Reitkunst verfasst habe und beim Eleusinion in Athen eine Pferdestatue weihte, in deren Basis er seine Verdienste einschreiben ließ, Xen. equ. 1.1. 187 Meissner 1999, 144–146 bemerkt, dass nur solche Künste eine Fachliteratur ausbildeten, denen „ein besonderes öffentliches Interesse“ und „gesellschaftliche Anerkennung“ zuteil wurden. 188 Demont 1993, 183–191; vgl. Xen. mem. 4.2,12. 189 Demont 1993, 202: „In einem Bereich, in dem jedermann Spezialist werden konnte, gab es für die Griechen keine Techne mehr.“ Genauso sieht es eine medizinische Schrift der Zeit, Hipp. De prisc. med. 4.1. 190 Demont 1993, 196–201; vgl. Kap. 5. 191 Plat. Prot. 318d–319a: παρὰ δ᾽ ἐμὲ ἀφικόμενος μαθήσεται οὐ περὶ ἄλλου του ἢ περὶ οὗ ἥκει. τὸ δὲ μάθημά ἐστιν εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ, καὶ περὶ τῶν τῆς
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„Wenn sie [die jungen Leute] zu mir kommen, so werden sie über nichts Anderes unterrichtet werden als über das, wofür sie zu mir gekommen sind. Der Unterrichtsstoff ist Wohlberatenheit in den eigenen/häuslichen Angelegenheiten, d. h. die Art und Weise wie man das eigene Haus am besten bestellen könne (εὐβουλία περὶ τῶν οἰκείων, ὅπως ἂν ἄριστα τὴν αὑτοῦ οἰκίαν διοικοῖ), und ebenso in den Angelegenheiten der Stadt, d. h. wie man bei den die Stadt betreffenden Dingen am wirksamsten sein könne, sowohl im Handeln wie im Sprechen.“ „Verstehe ich deine Rede recht?“ sprach ich [Sokrates]. „Mir scheint nämlich, du sprichst von der Kunst des Bürger-Seins und davon es auf sich zu nehmen, Männer zu edlen Bürgern zu machen (τὴν πολιτικὴν τέχνην καὶ ὑπισχνεῖσθαι ποιεῖν ἄνδρας ἀγαθοὺς πολίτας).“
Glaubwürdig ist Platons Darstellung des von Protagoras formulierten Erziehungsversprechens, weil Herodot und Thukydides entsprechend formulierte Ideale für das Athen des 5. Jhs, die Zeit von Protagoras’ Besuch, belegen.192 Protagoras hat eine allgemeine praktische Ethik im Sinn, die Erziehung zum ‚Bürger-Edelmann‘.193 Dieselbe Erziehung erhofften sich laut Xenophon auch die Anhänger des Sokrates. Sie kamen zu ihm, „um Edelleute zu werden und ihrem Haus, ihrem Gesinde, ihren Verwandten, ihren Freunden und der Stadt und den Bürgern zu helfen“.194 Die berühmten ‚Sophisten‘ werden als Redekünstler, geehrte Gesandte ihrer Heimatstädte und als Universalgelehrte dargestellt, jedoch nie als Fachleute eines bestimmten Faches, geschweige denn einer chrēmatistikē technē.195 Der Anspruch der ‚Sophisten‘ geht genau in die entgegengesetzte Richtung. Im Protagoras heißt es, bei Männern wie Protagoras lerne man nicht, um „Fachmann“ (δημιουργός) zu werden, sondern um die einem freien Mann würdige „Bildung“ (παιδεία) zu erhalten.196 Im Gorgias erklärt der titelgebende Gelehrte die Redekunst zur „schönsten aller technai, bestimmt für die besten Männer“.197 Denn sie verhelfe dazu, sich jeden Fachmann zum „Diener“ (δοῦλος) zu machen, einschließlich des „Erwerbsmanns“ (χρηματιστής), „der für andere Geld heranschafft, an-
πόλεως, ὅπως τὰ τῆς πόλεως δυνατώτατος ἂν εἴη καὶ πράττειν καὶ λέγειν. ἆρα, ἔφην ἐγώ, ἕπομαί σου τῷ λόγῳ; δοκεῖς γάρ μοι λέγειν τὴν πολιτικὴν τέχνην καὶ ὑπισχνεῖσθαι ποιεῖν ἄνδρας ἀγαθοὺς πολίτας. 192 Bei Hdt. 5.29,2 gelten gut bestellte Äcker als Ausweis für die Befähigung, „ebenso gut für die öffentlichen Angelegenheiten Fürsorge zu tragen wie für die eigenen“ (τῶν δημοσίων οὕτω δή σφεας ἐπιμελήσεσθαι ὥσπερ τῶν σφετέρων); laut Thuk. 2.40,2 lobte Perikles die Athener dafür, dass sie die „Fürsorge für häusliche und städtische Angelegenheiten“ (οἰκείων ἅμα καὶ πολιτικῶν ἐπιμέλεια) glücklich vereinten. 193 Vgl. Plat. Gorg. 518c; Platon macht den Anspruch der Sophisten lächerlich, „Lehrer der Vortrefflichkeit“ (ἀρετῆς διδάσκαλοι) sein zu wollen. 194 Xen. mem. 1.2,48: ἵνα καλοί τε κἀγαθοὶ γενόμενοι καὶ οἴκῳ καὶ οἰκέταις καὶ οἰκείοις καὶ φίλοις καὶ πόλει καὶ πολίταις δύναιντο καλῶς χρῆσθαι. Fast wörtlich wiederholt bei 2.1,19 und 3.6,2. 195 Platons Porträts großer Sophisten im Protagoras, Gorgias und Hippias hebt eben diesen Universalitätsanspruch als Gemeinsamkeit hervor. 196 Plat. Prot. 311b–312b. 197 Gorg. 448c: τῶν δὲ ἀρίστων οἱ ἄριστοι; τῆς καλλίστης τῶν τεχνῶν.
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statt für sich selbst“.198 Die hier ausgedrückte Ablehnung des Fachmanns, den man beherrschen, aber nicht nachahmen soll, entspricht Aristoteles’ Position in Politik I.199 Ein weiterer Grund spricht gegen die Annahme, es habe inzwischen verschwundene Fachbücher zur Ökonomik und Chrematistik gegeben. Wie in Kapitel 8.2 noch ausführlicher dargelegt wird, gab es gute Gründe, sich über die eigene Hauswirtschaft auszuschweigen. Dazu gehörte neben dem Druck, in der Öffentlichkeit nicht als kleinlicher, eigennütziger Hausvater zu erscheinen, auch die praktische Vorsicht, nützliche Informationen vor potentiellen Konkurrenten geheimzuhalten. Der platonische Protagoras und Xenophon verraten Einiges über die Prioritäten ihrer Adressaten, wenn sie in ihren Aufzählungen das Haus vor der Stadt nennen. Doch öffentlich waren die Hausväter verpflichtet, sich als Bürger zu einer umgekehrten Rangfolge der Prioritäten zu bekennen: „Denn die Menschen preisen nicht dieselben Dinge im öffentlichen (φανερῶς) wie im geheimen (ἀφανῶς), sondern loben zwar das Gerechte und Edle öffentlich am meisten, im Privaten (ἰδίᾳ) aber wünschen sie mehr das Nutzbringende (τὰ συμφέροντα)“ – so Aristoteles.200 Aristoteles’ Behauptung wird von den OrakelAnfragen von Dodona bestätigt. Die allermeisten Fragen betreffen Erfolg im Gewerbe und das eigene Vermögen, gefolgt von Fragen zu den eigenen Nachkommen, vorteilhaften Heiraten, persönlicher Mobilität, Gerichtsprozessen und der eigenen Gesundheit. Öffentliche Angelegenheiten wie Ämter oder Bürgerrechtsverleihungen stehen weit abgeschlagen dahinter.201 Die Hoffnung auf das vor allem materiell definierte Wohlergehen des eigenen Hauses wird in den privaten Orakelanfragen offen artikuliert. Aber welchen Gewinn hätte es gebracht, sich durch die Zurschaustellung einer solchen Gesinnung in Form eines veröffentlichten Fachbuchs mit praktischen Maximen zur Hauswirtschaft der Kritik der Standesgenossen auszusetzen, die auch dann rufschädigend war, wenn sie unaufrichtig war, weil diese im Stillen dasselbe hofften? Die Texte der Gelehrten, die unsere Quellen bilden, formulierten nicht nur ethische Regeln, sie waren als Artefakte sozialer Kommunikation selbst bestimmten sozialen Regeln unterworfen (vgl. hierzu Kap. 8.1 und 8.2). Über Hauswirtschaft zu schreiben, bedeutete, sich selbst und sein ‚ganzes Haus‘ der Öffentlichkeit zu präsentieren. Dementsprechend waren geschriebene Texte Medien sorgfältig kontrollierter Selbstdarstellung. Bei öffentlichen Vorlesungen oder semi-öffentlichen Zusammenkünften im Haus eines Förderers exponierte sich der Autor zwar, aber er konnte auf sein Publikum reagieren und durch Erläuterungen und Auftreten das Geschriebene in ein 198
Gorg. 451e–452e; wenn in Hipp min. 369a–370c berichtet wird, Hippias sei in Olympia mit der Behauptung aufgetreten, alles was er am Körper trage (bis hin zum persischen (!) Gürtel), habe er selbst gefertigt, so steckt hinter der skurrilen Anekdote vielleicht die gleiche Denkfigur, sich vermittelst der Rhetorik alle Güter zu eigen machen zu können. 199 Dazu Kap. 5.2. 200 Aristot. rhet. 2, 1399 a 30–32. 201 Vgl. Bonnechere 2017 mit den Angaben in Tabelle 6; vgl. dazu Kap. 14.2 mit Anm. 31; vgl. Parker 2016, 77–85 zum Charakter der privaten Anfragen.
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bestimmtes Licht rücken.202 In dem Maße, wie sich literarische Werke seit dem Ende des 5. Jhs. zunehmend über den Gesichtskreis des Autors hinaus verbreiteten, war die Bewertung der eigenen Person der spontanen Kontrolle in der Kommunikation unter Anwesenden entzogen und dem Leser überlassen.203 Es ging dabei nicht nur um die Rivalität des literarischen oder philosophischen Könnens, sondern auch um sozialen Status, Erwerbstätigkeit und Aufsteigertum; dabei ließ kaum ein Autor ein gutes Haar am anderen.204 Isokrates’ unwahre Behauptung, er habe nie zum Gelderwerb private Gerichtsreden verfasst,205 die sein Adoptivsohn Aphareus wiederholte, konterte Aristoteles mit dem Verweis auf die zahlreichen Reden dieser Art, die sich unter Isokrates’ Namen bei den Buchhändlern fänden.206 Literarische Texte zu veröffentlichen, verschärfte die soziale Kontrolle; aber es bot zugleich neue Möglichkeiten, eine positive Selbstdarstellung zu verewigen, wie wiederum Isokrates hervorhebt.207 Dabei ging es auch darum, das eigene Verhältnis zu Haushaltung und Erwerb in ein gutes Licht zu rücken und dem eigenen Haus ein Denkmal zu setzen. In seiner Antidosis-Rede leugnet Isokrates zu diesem Zweck seine Tätigkeit als bezahlter Redenschreiber für Gerichtsprozesse zu privaten Geschäftsstreitigkeiten und verschweigt, dass sein Vater Theodoros als Werkstattbesitzer zu Geld gekommen war.208 Die Rede ist damit in gewisser Weise das schriftliche Pendant zu der von Theo-
202 Vgl. Nestle 1941, 259 f. und Guthrie 1971, 41–43 zur Vortragsweise der Sophisten; vgl. Aristox. harm. 39 f. zu Publikumserwartungen bei öffentlichen Vorträgen; vgl. Plat. Parm. 127b–c zum Vortrag eigener Schriften in einem Privathaus. 203 Asper 2007, 95; in Platons Phaidros führt eine entliehene Lysias-Rede zu einem Gespräch über die öffentliche Verachtung von Lysias’ Tätigkeit als Redenschreiber im Vergleich zum Philosophieren seines Bruders Polemarchos, 227a, 228a–e, 257b; ist es eine Retourkutsche, wenn Lysias umgekehrt Platon als Sophisten verunglimpfte? Vgl. Lys. fr. 449 Carey (= Ael. Arist. 46.407); Platons Bemerkung (Phaidr. 257d; vgl. Prot. 316c–317c), Oberschichtsmitglieder zögerten, Schriften zu hinterlassen aus Angst, später als „Sophisten“ verunglimpft zu werden, deckt sich damit, dass Phaidros’ Zeitgenosse Kritias von Archilochos’ Gedichten auf dessen schlechten Lebenswandel schloss, vgl. fr. B 44 DK 88 (= Ail. var. 10.13); Timaios erklärte dieses Vorgehen zur Methode und wandte sie gegen Aristoteles an; s. u. Anm. 204. 204 Theop. FGrH 115 F 25 (= Phot. Bibl. 120 b 30) verbindet ein Eigenlob wegen des Verzichts auf Erwerbstätigkeit mit einem Seitenhieb gegen Isokrates und Theodektes von Phaselis; Aristot. pol. 2, 1267 b 23–28 stellt Hippodamos von Milet als Mann von protziger Lebensart und ohne politische Erfahrung dar; Aristoteles selbst wiederum wurde als prunk- und genusssüchtiger Aufsteiger verunglimpft, besonders von seinem jüngeren Zeitgenossen Timaios, FGrH 566 F 152 (= Pol. 12.24,2); 156 (= P.ol. 12.8, 4); vgl. Plin. nat. 35.162, Ail. var. 3.19; Diog. Laert. 5 als Belege einer denunziatorischen Tradition zu Aristoteles. 205 Isokr. 15.2 f., 37 f. 206 Aristot. fr. 140 Rose3 (= Dion. Hal. Isoc. 18). 207 Isokr. 9.74–76; darin stimmte ihm sein Konkurrent Alkidamas, der sonst die Stehgreifrede bevorzugte, zu; Alkid. Soph. 32 erklärt es zum Vorzug geschriebener Reden, dass man sich selbst damit „ein Denkmal setzen“ (μνημεῖα καταλιπεῖν) könne, weshalb sie dem „Ehrstreben“ (φιλοτιμία) dienten. 208 [Plut.] Vit. Dec. 836e; der Vater Theodoros (PAA 506790) besaß eine sklavenbetriebene Flötenwerkstatt, deren Einkünfte ihn in die liturgische Klasse hoben; wie üblich machte der Bühnenspott
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doros gestifteten Familiengrablege, die Isokrates prächtig ausbauen ließ und in der neben ihm selbst auch seine Eltern, Nachfahren und mehrere Anverwandte bestattet und mit Inschriften geehrt wurden.209 Diskreter verewigte Platon die Mitglieder seines ‚ganzen Hauses‘, indem er sie als Sprecher seiner Dialoge auftreten ließ. Das brachte ihm das Lob Plutarchs ein und ermöglicht es den modernen Forschern, seinen illustren Stammbaum zu rekonstruieren.210 Die vielleicht erfolgreichste Selbstdarstellung im Medium der Literatur ist Xenophon. Die antike Nachwelt hielt ihn auf Grundlage seiner eigenen Schriften für die Verkörperung der von ihm propagierten praktischen Tugenden.211 Die moderne Forschung schließt ähnlich vom Text auf den Autor, wenn sie den Oikonomikos zum Resultat von Xenophons realen Erfahrungen auf seinem Landgut in Skillus erklärt, und hinter der Figur des idealen Hausvaters und Bürgers Ischomachos Xenophon selbst vermutet.212 Damit ist es dem Mann, der seine Heimatstadt als Söldner verließ und wahrscheinlich von ihr verbannt wurde, gelungen, dass man das von ihm entworfene Ideal der Ökonomik als Abbild seiner eigenen Praxis der Hauswirtschaft akzeptierte. Man kann mit Blick auf die florentinischen Hausbücher des 14. bis 16. Jhs. vermuten, dass es Schriften gab, die zur Rezeption in einem kleinen Kreis von Vertrauten bestimmt waren und Ratschläge erteilten, die mehr nützlich als edel waren. Gerade die florentinischen Hausbücher zeigen allerdings auch, dass man von solchen Schriften weder fachbuchartige Systematik noch tiefschürfende ökonomische Analyse erwarten darf. Der Wirtschaftshistoriker Richard Goldthwaite kommt gegen Ende seiner autoritativen Studie der Wirtschaft von Florenz während der Renaissance zu dem Ergebnis:213 den reichen Werkstattbesitzer zum einfachen Handwerker, vgl. Stratt. fr. 3 PCG (= Zosim. Vita. Isocrat. p. 256 Westermann); zur Familie Davies 1971, 245–247. 209 Vgl. Scholl 1994, 240–252 zur mutmaßlichen Gestaltung des nur literarisch überlieferten Grabmals; Isokrates’ Adoptivsohn Aphareus setzte diesen ‚Familienkult‘ mit einer aufwendigen Ehrenstatue für Isokrates in Olympia fort, deren Epigramm Isokrates ausdrücklich „Vater“ nannte und der „elterlichen Tugend“ geweiht war, [Plut.] Vit. Dec. 839b und Paus. 1.18,8; dass Philostr. soph. 1.17,4 dieses Standbild als Beweis dafür zitiert, dass Isokrates nicht Sohn eines Gewerbetreibenden gewesen sein könne, zeigt, den Erfolg der literarischen und monumentalen Selbstdarstellung bei der Manipulation des kulturellen Gedächtnisses. 210 Plut. de frat. 484e; Guthrie 1975, 11 sieht das Auftreten der Verwandten als Dialogfiguren als Zeichen eines „considerable amount of family pride“; der Sokratiker Aischines von Sphettos drehte das Verfahren um und nutzte seine Dialoge, um prominente Mitglieder der Oberschicht lächerlich zu machen und ihren Lebenswandel zu rügen, Athen. 5.220a–c. 211 Diog. Laert. 2.56; vgl. Cic. de orat. 2.58 und Suda s. v. Ξενοφῶν (Adler ξ 48). 212 Delebecque 1957, 367: „Ischomaque est donc bien une image de Xénophon. Il est même plus: il est son portrait.“ – und Ischomachos’ Frau ist Xenophons Frau Philesia, ebd. 368; vgl. Jaeger 1959, 247; Natali 2001, 288: „Ischomaque, personnage fictif et alter ego de Xenophon lui-meme“; ebenso Danzig 2003, 73–76 und Dorion 2008, 277, ähnlich Anderson 1974, 11; kritischer hingegen Pomeroy 1994, 1, Anm. 1: „Ischomachus is rather what Xenophon might have aspired to be if he had lived earlier in the 5th c.“ 213 Goldthwaite 2009, 592 f.; ebenso Oexle 1992, 546 und Jones 1997, 200 f.
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[W]hat ever thoughts Florentines had about their economy, none of these men ever crossed the intellectual barrier to analysis. No one ventured to devise a scheme for the justification of business, let alone to develop a theoretical understanding of economic activity. Economic theory never went beyond the normative thought of the scholastics.
Diese Worte erinnern frappierend an Finleys Urteil über die antike Ökonomik:214 Sowohl in ihrer ethischen und psychologischen Unterweisung wie als landwirtschaftliche Anleitung und in der Ermahnung zu gottesfürchtigem Leben waren alle diese Bücher für die Praxis bestimmt. Gleichwohl steht bei Xenophon nicht ein einziger Satz, der ein wirtschaftliches Prinzip ausdrückt oder eine Art ökonomischer Analyse bietet […].
Finleys Urteil ließe sich ohne Einschränkung auf Leon Battista Albertis Della Famiglia übertragen, dessen erste drei Bücher 1434 entstanden. Alberti, der aus einer der (ehemals) reichsten Kaufmannsfamilien von Florenz stammte, widmet einer Rechtfertigung des Handels mehr Platz als jeder bekannte Text der Antike. Sehr viel enthusiastischer und ausführlicher beschreibt er allerdings, wie ein ideales Landgut beschaffen sein muss, mit dem sich der Haushalt selbst versorgen kann und lobt die Landwirtschaft, die „großgeartetsten, ehrbarsten und sichersten Nutzen“ bringe.215 Bemerkenswert ist auch, dass Alberti sich überhaupt genötigt sah, vor einem florentinischen Publikum kaufmännische Tätigkeiten umständlich zu rechtfertigen und dass seine Argumente die Argumente vergleichbarer antiker Rechtfertigungen für Handel nahezu wörtlich wiederholen.216 Die wenigen konkreten Vorschläge Albertis gehen auf Handels- oder Geldgeschäfte gar nicht ein. Stattdessen geben sie hausväterliche Empfehlungen, wie die, dass Brüder zusammenwohnen sollten, um an Behausung und
214 Finley [1973] 1993, 11 f. 215 Della Famiglia III, 234–246, Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972). 216 Della Famiglia II, 178; Alberti hebt hervor, dass seine „adlige und ehrenwerte Familie“ „Großhandelsgeschäfte“ (gran traffichi) von „nützlichster Art für die Heimatstadt“ betrieb, weil sie Güter aus der Ferne herbeibrachte; dabei wahrte sie „Ehre und Ruf “ (l’onore e fama della famiglia), wuchs an „Autorität und Anmut“ ebenso wie an „Geld und Vermögen“ und blieb immer „freiheitlich“ gesinnt, tat nichts Schändliches oder Unehrliches und sei deshalb mit „Bescheidenheit und Mäßigung geschmückt“; Albertis Lob seiner Familie korrespondiert mit der bekannten Stelle in Ciceros De officis, 1.151, wo es heißt, der kleine Handel (mercatura) sei „schmutzig“ (sordida), der „große und umfangreiche“ (magna et copiosa) hingegen gut, weil er vieles von weither bringe und ohne Betrug zur Verfügung stelle; die Grundidee findet sich bereits in Platons Gesetzen, 11, 918b–d; womöglich bezieht sich Alberti direkt auf Platon, denn kurz darauf zitiert er leg. 5, 728a wörtlich als Beleg für die Maxime, dass Ehre und Tugend ein bewahrenswerter Schatz seien; ein anderer Vergleich zeigt den Realitätsbezug dieser gelehrten Ausführungen: In seinen Verteidigungsreden rechtfertigt Andokides seine Fernhandelsgeschäfte mit dem Zwang der Notwendigkeit und dem Nutzen für die Stadt, And. 1.133–137; 2.11, 20 f.; genau die gleichen zwei Gründe führte Zuane di Andrea Zane in einer 1550 eingereichten Petition an seine Heimatstadt Venedig an, s. den Text in engl. Übers. bei Chambers 1992, 172.
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Beleuchtung zu sparen.217 Catos Maxime, dass der gute Hausvater ein Verkäufer, kein Käufer sein solle, nahm Finley als Beleg, dass der römische Senator von den Prinzipien einer kommerzialisierten Wirtschaft nie gehört hatte. Was würde er dazu sagen, dass Alberti, Sproß einer ‚Kaufmannsfamilie‘, dieselbe Maxime mit Nachdruck vertrat?218 Das Fehlen von theoretischer Analyse und praktischen Ratschlägen zum Handel ist umso auffälliger als Benedetto Cotrugli wenig später (1458) eine Pratica della Mercatura schrieb, die detailliert auf die Praxis des Fernhandels einging. ‚Publiziert‘ wurde dieses Fachbuch allerdings erst hundert Jahre später.219 Nach antiken Überlieferungsbedingungen wären uns beide Schriften verloren: bis zu ihrer Drucklegung wurden sie kaum vervielfältigt oder verbreitet.220 Es überrascht also nicht, wenn uns vergleichbare Schriften aus dem antiken Griechenland – falls sie existierten – nicht überliefert sind. Noch in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. konnte Aristoteles anregen, es sei nützlich, einmal die verstreuten Berichte über geschickte Anwendungen der chrēmatistikē zu sammeln:221 Offenbar war ihm bei seinen Reisen und Nachforschungen keine Schrift dieser Art begegnet, die er bei seinen Rezipienten als bekannt voraussetzen konnte. Die einzige sicher belegte Fachbuchgattung, die Haushaltsführung und Erwerb direkt behandelte, ist die Agronomik. Die uns erhaltenen lateinischen Abhandlungen von Cato, Varro und Columella sind von griechischen Vorgängern geprägt, können jedoch nicht methodisch zuverlässig als deren Stellvertreter analysiert werden. Auskunft über die griechische Agronomik des 4. Jhs. geben dafür mehrere indirekte Hinweise. Xenophon eröffnet seine Behandlung des Ackerbaus im Oikonomikos mit einer Spitze gegen jene Autoren, die „detaillierteste“ (ἀκριβέστατα) Abhandlungen über Landwirtschaft geschrieben haben, ohne sie je praktisch betrieben zu haben.222 Seine darauffolgenden Ausführungen dienen dem Nachweis, dass man, wenn man sich nur recht entsinne, aus persönlicher Erfahrung bereits alles Notwendige über die Landwirtschaft wisse.223 Die damit verbundenen Bemerkungen über die Prinzipien der Landwirtschaft sind dementsprechend eklogenhaft – aber sie entsprechen in Fragestellung und Aufbau den späteren Abhandlungen: Zuerst kommt der Ackerbau, dann die Baumkulturen, schließlich die Viehzucht.224 Zunächst wird die Bodenbeurteilung behandelt, dann die Bodenbereitung usw. Wie Fachschriften anderer Themengebiete wird Xenophons Behandlung von den zwei Leitfragen „wann“ (πότε) und „wie“ (πώς)
217 218 219 220 221 222 223 224
Della Famiglia III, 233 f., Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972). Finley [1973] 1993, 126 f., vgl. Cat. agr. 2.7 und Della Famiglia III, 234 f. Nämlich 1573 in Venedig, Einleitung in der Ed. U. Tucci (1990), S. 3. Einleitung in der Ed. U. Tucci (1990), S. 17; Marietti 2000, 894 f. Aristot. pol. 1, 1259 a 3–5. Xen. oik. 16.1. Dazu ausführlich Kap. 5.1. Dazu Breitenbach 1967, 1865–1868.
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durchzogen. Und der Zweck der Ausführungen ist praktisch: Steigerung von Ertrag und Effizienz.225 Aristoteles wiederum erwähnt in seiner kurzen Einlassung zur angewandten Erwerbskunst zwei agronomische Fachbücher. Charetides von Paros und Apollodoros von Lemnos hätten „über Ackerbau“ (περὶ γεωργίας) geschrieben und zwar „sowohl über Getreideanbau als auch Baumkulturen“.226 Charetides von Paros ist ansonsten unbekannt. Apollodoros von Lemnos taucht in den Verzeichnissen agronomischer Schriften bei Varro, Columella und Plinius auf, zusammen mit etlichen ansonsten unbekannten griechischen Agronomen.227 Über Datierung und Inhalt ihrer Werke ist nahezu nichts bekannt. Auffällig ist, dass sie mit wenigen späten Ausnahmen alle aus Städten der Ägäis stammen.228 Aus jener Region also, in der sich seit dem 5. Jh. eine intensive, marktorientierte Landwirtschaft entwickelte, die Sklaven einsetzte und sich auf Wein-, Garten- und Baumkultur spezialisierte, um die steigende städtische Nachfrage zu bedienen.229 Die Fragmente aus dem Werk des Androtion, dem einzigen Autor der Liste, von dem etwas überliefert ist, bestätigten den Eindruck, dass die Agronomik eine Reaktion auf die neuen Gewinnchancen einer expandierenden Verkehrswirtschaft war.230 Diese Annahme wird von Aristoteles’ Angaben zum Inhalt solcher praktischen Abhandlungen gestützt. Sie böten eine „detaillierte Behandlung Teil für Teil“ (τὸ κατὰ μέρος ἀκριβολογεῖσθαι) der (agrarischen) Erwerbskunst.231 Sie ordneten ihre Anwei225 226 227 228
Vgl. Kap. 5.2. Aristot. pol. 1, 1258 b 39–1259 a 3. Varro rust. 1.1; Colum. 1.33; Plin. nat. 1.8, 10, 15, 17, 18. Nur fünf der insgesamt 29 Agronomen stammen nicht aus Küstenstädten der Ägäis (wenn man Athen als solche gelten lässt): der Pythagoreer Archytas aus Tarent, Apollonios aus Pergamon, Bion aus Soloi in Kilikien, Diophanes aus Nikaia in Bithynien, der die Epitome des Agrarhandbuchs des Karthagers Mago anfertigte, und Hieron II., der Herrscher von Syrakus; dass Archytas ein echtes Lehrbuch schrieb, ist sehr zweifelhaft, Huffman 2005, 27 f.; die vier anderen Autoren schrieben sicher oder sehr wahrscheinlich erst in hellenistischer Zeit. 229 Vgl. Kap. 3 und Kap. 12.2 der kommerzielle Anbau von Wein ist literarisch und archäologisch am besten dokumentiert, vgl. Hanson 1992; 1995, 168–178; Horden/Purcell 2000, 213–220; Bresson 2016, 123–127; die archäologisch nachweisbare Investition in Turmanlagen, Dreschböden, Dungbecken und Ölpressen und -mühlen werden meist mit marktorientierter Intensivierung erklärt, vgl. Isager/Skydsgaard 1992, 60 f.; Lohmann 1992, 51 für Attika; Mendoni 1994, 156 f. für Keos; Cahill 2002, 113–118 für Olynth; Ault 1994, 197–201 für Halieis; Edelprodukte wie Zierpflanzen (etwa für Kränze), Kräuter, Gartengemüse, Obst, Nüsse und Honig waren im Vergleich zu Wein und Öl (und Feigen) zwar von geringerer Bedeutung, werden jedoch ebenfalls häufig als kommerzielle Produkte genannt, vgl. nur Aristomen. fr. 11 PCG (= Athen. 14.650d); Hermipp. fr. 63 PCG (= Athen. 1.27e–f); Ain. Takt. 29.6; Theophr. char. 2.6, 10.8, 11.4; zu diesen Produkten als Geldquelle auch kleiner Haushalte s. Bresson 2016, 129–131; dort, wo tönerne Bienenkörbe verwendet wurden, ist Honigherstellung archäologisch fassbar, etwa in Attika, Jones 1975a, 14 f.; Lohmann 1994, 98 f., oder auf Andros, Palaiokrassa-Kopitsa/Vivliodetis 2008, 141. 230 FGrH 324 F 75 und 77–81 weisen auf einen Fokus auf arbeitsintensiven Anbau von Edelfrüchten hin, aber dieser Eindruck könnte dem Überlieferungszufall geschuldet sein. 231 Aristot. pol. 1, 1258 b 34 f.
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sungen nach Ort (Bodenbeschaffenheit, Klima), Mitteln (Tiere, Pflanzen) und Verfahren systematisch, wobei das leitende Interesse die Ertragsmaximierung sei.232 Theophrasts botanische Werke sind schließlich ein indirekter Beleg für das theoretische Interesse am intensiven Anbau insbesondere von hochwertigen Edelfrüchten.233 Zusammengenommen erlauben diese Indizien den Schluss, dass es spätestens seit der ersten Hälfte des 4. Jhs. eine agronomische Fachbuchliteratur gab, die ihr Thema systematisch und umfassend behandelte, und dabei dem Leitgedanken des praktischen Erfolgs in Form von Ertragssteigerung und Wertschöpfung folgte. Diese Schriften hatten praktischen und belehrenden Charakter – gerade deshalb distanzieren sich Xenophon und Aristoteles von ihnen. Selbst diese agronomischen Abhandlungen dienten allerdings nicht bloß der Vermittlung nützlichen Wissens, sondern wohl auch der Selbstdarstellung der Autoren als Hüter standesgemäßen Wissens. Bei der Schrift des bereits erwähnten Atheners Androtion ist diese Deutung nahe liegend, weil Androtion kein Fachgelehrter war, sondern ein prominenter und reicher Politiker, der auch eine Geschichte Attikas abfasste.234 Auch bei der frühesten indirekt bekannten agronomischen Abhandlung könnte die Belehrung über den Landbau mit einer allgemeineren Vermittlung eines standesgemäßen Habitus verwoben gewesen sein. Es handelt sich um die Demokrit zugeschriebene Schrift Περὶ γεωργίης (oder Γεωργικόν), die entsprechend der Schaffenszeit Demokrits Ende des 5. Jhs. entstanden sein dürfte.235 Demokrit war genau wie später Xenophon und Androtion gerade kein Spezialist, sondern ein Universalgelehrter aus reichem Elternhaus.236 Die Schrift Peri geōrgiēs steht in Diogenes Laertios’ Schriftenkatalog bei den Technika kurz vor einer Abhandlung über Kriegskunst und Hoplitenkampf.237 Es ist vorstellbar, dass Demokrit in einer Zeit, in der traditionelle Beschäftigungen wohlhabender Bürger – Gutswirtschaft und Hoplitendienst – aufgrund neuer Entwicklungen nicht mehr zwangsläufig waren, aber ihren symbolischen Wert behielten, Lehrbücher dazu verfasste, die genau
232 Pol. 1, 1258 b 12–20; dazu S. 147 f. 233 Osborne 1987, 40 f.; Garnsey 1992, 152 f.; Foxhall 2007, 76. 234 Harding 1994, 14–25 zur Familie und politischer Karriere; die Zuschreibung des Georgikons lässt er unentschieden; Breitenbach 1967, 1865 hält sie für richtig und zählt Androtion zu den Autoren, gegen die Xenophon polemisierte, obwohl er von ihnen abhing. 235 Erwähnt bei Diog. Laert. 9.48; Varro rust. 1.1,8; Colum. 11.3,2; Plin. nat. 1.8, 10, 15, 17, 18 führt Demokrit in den Literaturverzeichnissen zu seinen Büchern zur Landwirtschaft und Viehzucht auf, er könnte sich jedoch auf dessen Naturforschungen bezogen haben; Wellmann 1921, 3–5 (mit älterer Literatur) hat die agronomische Schrift zur hellenistischen Fälschung erklärt; seine Argumente beruhen auf nicht prüfbaren doxographischen Überlegungen, die teilweise unwahrscheinlich sind, wie Kroll 1934, 229 f. vermerkt, der die Echtheit für möglich hält; in der neuen Tusculum-Ausgabe der Vorsokratiker werden die entsprechenden Fragmente 126–128 aufgeführt und die Herausgeberin plädiert für ihre Echtheit, ebd. 496 f. und 536. 236 Zur Herkunft vgl. Kap. 11.3.1. 237 Diog. Laert. 9.48: Τακτικὸν καὶ Ὁπλομαχικόν.
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wie Xenophons Lehrschriften im 4. Jh.238 Aufsteigern die Möglichkeit boten, traditionelle Techniken auf neuem Wege zu lernen. Wenn selbst die stärker praktisch orientierten agronomischen Abhandlungen keine wertfreie Fachbuchliteratur waren, sondern Medien der Selbstdarstellung, dann besteht kein Grund zur Annahme, es habe eine derartige Literatur für die restlichen Bereiche der Ökonomik oder gar der Gelderwerbskunst gegeben, auf welche die ‚philosophischen‘ Schriften abwehrend reagierten. Um die Ursprünge der Ökonomik und ihr Verhältnis zur Praxis der Hauswirtschaft besser zu verstehen, erscheint es sinnvoller, zwei andere Phänomene in den Blick zu nehmen. Zum einen die Formen der traditionellen hauswirtschaftlichen Belehrung vor und neben der literarisch verfeinerten, philosophisch reflektierenden Prosaliteratur; zum anderen den Zusammenhang von Ökonomik und Reichtumsdiskurs. 4.3.2 Die Sprache des Hausvaters Die Erziehung zur Haushaltsführung fand traditionell im Haus selbst statt. Gelernt wurde nicht theoretisch, sondern praktisch durch Nachahmung autoritativer Vorbildfiguren: an erster Stelle die Eltern, daneben ältere Geschwister, enge Verwandte und Freunde der Familie.239 Auch nachdem berufsmäßige Lehrer begonnen hatten, die Kinder reicher Leute zu unterrichten, wurden die meisten praktischen Kenntnisse im Haus selbst vermittelt. Das gilt für die Söhne ärmerer Haushalte (s. Kap. 11.3.4) und selbst für die aus reichem Hause; für Frauen und (die meisten) Sklaven gilt es ohnehin.240 Demokrit empfiehlt, die Söhne durch frühe Beteiligung an der Verwaltung des Hauses zu Sparsamkeit und Eifer zu erziehen.241 Demokrits Ratschlag spiegelt sich unter umgekehrten Vorzeichen in Platons Urteil, dass die Söhne „reicher“ oder „tyrannischer“ Väter, die in Reichtum und Zügellosigkeit aufwachsen, als Erwachsene nichts taugen242 und hat sein Echo in den zahlreichen Kommentaren über Söhne, die
238 Vgl. Meissner 1999, 148 zu Xenophons Oikonomikos. 239 Zur praktischen Erziehung im Haus s. Meissner 1999, 131–145 und Fischer 2012, 109–111; Plat. leg. 1, 643b–c hält Nachahmung für die beste Erziehung; vgl. Xen. oik. 7.12, mem. 2.2,6, Lak. pol. 6.1 und Kyr. 1.2,2 zur Verantwortung der Eltern für die Erziehung ihrer Kinder; dass das ‚ganze Haus‘ einschließlich der Verwandten an der Erziehung teilnahm, suggeriert Plat. Prot. 313a–b, 316c–d. 240 Vgl. das Lob eines Vormunds, der seine Mündel im eigenen Haushalt aufnahm und dort erzog, Is. 1.12, 28; eine Zwischenform zwischen der Unterweisung im Haus und dem bezahlten Unterricht war es, die Söhne bei befreundeten Vätern in den Unterricht zu geben, vgl. Philostr. soph. 1.15,2; vgl. Eur. Med. 239 f. und Xen. oik. 7.7 für die Erziehung der Ehefrau durch den Ehemann; zum Unterricht von Sklaven, s. Kap. 12.3.2; vgl. Xen. Kyr. 1.6,33 für die Erziehung von Kindern und Sklaven durch den Hausvater. 241 Demokr. fr. B 279 DK 68 (= Stob. 4,26,25). 242 Plat. leg. 3, 695e–696a.
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ihr Haus ruinierten, weil sie in den Reichtum hineingeboren wurden.243 Die geteilte Vorannahme dieser Kommentare ist, dass man Haushaltsführung und Geldverwaltung durch praktischen Unterricht im Haus lernte. Eine gewisse Vorstellung von Form und Inhalt dieser nicht-literarischen Wissensvermittlung geben Hesiods Werke und Tage aus dem frühen 7. Jh., wie Winfried Schmitz überzeugend begründet hat.244 Das in Hexametern abgefasste Gedicht folgt zwar bereits literarischen Gestaltungsprinzipien und thematischen Leitlinien,245 gleichwohl ist es noch durch Formen der mündlichen Belehrung geprägt. Ein erstes Merkmal dieser Belehrung ist ihr Mangel an Systematik und thematischer Engführung. Neben den vielen praktischen Anweisungen zu Haushaltsführung und Landwirtschaft machen allgemeinere Reflexionen über die conditio humana bei Hesiod zusammen mit Mahnungen zu Gerechtigkeit und Gottesfurcht insgesamt fast die Hälfte der Verse aus.246 Allgemeine Prinzipien und kleinteilige praktische Ratschläge stehen teilweise direkt nebeneinander.247 Auch die Maßstäbe ‚gut‘ und ‚nützlich‘ sind nicht klar getrennt. Man muss arbeiten, um dem Willen der Götter zu gehorchen, zugleich bringt es Reichtum und Ehre.248 Raub und Betrug sind moralisch verbotene Freveltaten, bringen langfristig jedoch auch materielles Unglück über das Haus.249 Geben ist ein Gebot der Gastfreundschaft und Nachbarschaftshilfe und zugleich eine kluge Investition in ‚soziales Kapital‘.250 Mahnungen zu Gerechtigkeit und Kooperation mit anderen Hausvorständen stehen in latenter Spannung zu Äußerungen über den „Neid“ unter ihnen251 und Misstrauen, selbst gegenüber dem Bruder, weil im „hier und jetzt“ (νῦν) „das Recht in der Faust“ liegt und der Schlechte den Besseren „mit krummen Worten“ schädigt.252 Mit der Angst, übervorteilt zu werden, geht der Wunsch einher, selbst Vorteil auf Kosten anderer zu ziehen: Die Götter soll man darum bitten, dass man selbst das Erbstück eines anderen kauft, anstatt sein eigenes verkaufen zu müssen.253 Ein zweites Merkmal der mündlichen Belehrung ist, dass ihre Sprache anschaulich und konkret ist und die häuslichen Autoritätsstrukturen reproduziert. Hesiod geriert sich als Autorität, die „Wahrheiten“ verkündet, die sich der Bruder „zu Herzen nehmen“ (ἐνικάτθεο θυμῷ) soll, der barsch „als großer Narr Perses“ (μέγα νήπιε Πέρση) 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253
S. Kap. 11.3.4 und 11.4. Schmitz 2004b, 42–52. Dazu Clay 2009; Canevaro 2015, bes. 13–29. Zur breiten Thematik vgl. West 1978, v. Vgl. die Anleitung zur Herstellung landwirtschaftlicher Geräte, Hes. erg. 423–436. Erg. 295–319. Erg. 320–341. Erg. 342–360. Erg. 11–26; 195 f. Erg. 192–194. Selbst beim Geschäft mit dem eigenen Bruder soll man Zeugen hinzuziehen, wenn auch „scherzend“ (γελάσας), ebd. 371. Erg. 341.
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angesprochen und damit an seine kindliche Unreife erinnert wird. Die häufig wiederholte direkte Anrede und die Aufforderung zuzuhören, ahmt die mündliche Unterweisung nach, die Imperativ- und Optativformen verstärken den adhortativen Charakter.254 Nicht die argumentative Begründung des Wissens oder gar neue Erkenntnisse werden angestrebt, sondern die Beherzigung altbewährter Normen und Praktiken. Der besseren Einprägung dienen Wiederholung (Parallelismen, Anapher), Kontrastierung (Antithesen, Chiasmen) und Veranschaulichung (Gleichnis, Fabel, bildhafte Erzählung).255 Typisch für die volkstümliche Wissensvermittlung ist auch der Gebrauch von Denksprüchen (γνώμαι), die ältere Sprichwörter wiedergeben oder nachahmen und die häusliche Rollenverteilung spiegeln („Wer einer Frau traut, der traut einem Dieb“).256 Der Sinn des Sprichworts ergibt sich nicht aus seinem argumentativen Inhalt allein, sondern auch aus seiner Funktion als Marker sozialer Ordnung: „Autorität und Gewicht erhält das Sprichwort nur dann, wenn es von Personen mit entsprechender gesellschaftlicher Achtung ausgesprochen wird, also in der Regel von erwachsenen Männern und alten Leuten.“257 Belehrung war also nicht bloß Informationsweitergabe über die Strukturen des Hauses, sondern zugleich Reproduktion dieser Strukturen. Diese stilistischen Merkmale sind typisch für eine in allen frühen Hochkulturen vorhandene ‚Weisheitsliteratur‘.258 Schmitz hat auf die Besonderheiten von Hesiods Gedicht hingewiesen, die er als einen mittelbaren Beleg für eine „bäuerliche Sondersprache“ sieht, die dem dörflichen Leben der archaischen Zeit entsprochen habe und in klassischer Zeit aufgrund des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturwandels verschwunden sei.259 Der Vergleich mit den florentinischen ‚Hausbüchern‘ des 14. bis 16. Jhs. zeigt allerdings, dass traditionelle Formen der hauswirtschaftlichen Belehrung unbeschadet von Kommerzialisierung und Urbanisierung fortbestehen konnten. Ein exkursorischer Blick auf einige prominente Exemplare dieser Gattung soll dies veranschaulichen und als Denkanstoß dafür dienen, wie die häusliche Wissensvermittlung jenseits des literarischen Diskurses ausah. Ein markantes Beispiel ist Paolo da Certaldos Libro di buon Customi, das um 1360 entstand. Certaldo war Kaufmann und lebte in Florenz, einer der größten und wirtschaftlich dynamischsten europäischen Städte seiner Zeit. Inhalt und Sprache seines
254 Erg. 10–26; Anrede als „Narr“: 286, 396, 633, dazu Tilg 2003; direkte Anrede, adhortatives Mahnen etwa in 213: Ὦ Πέρση, σὺ δ’ ἄκουε; σὺ δὲ ταῦτα μετὰ φρεσὶ; vgl. 274. 255 Zum allgemeinen Prinzip Meissner 1999, 147; zu den sprachlichen Mitteln Schmitz 2004b, 42–51; vgl. Bec 1967, 97 f. 256 Hes. erg. 375: ὅς δὲ γυναικὶ πέποιθε, πέποιθ’ ὅ γε φηλήτῃσιν. 257 Schmitz 2004b, 46; Aristot. rhet. 2, 1395 a 2–6 hält das Sprechen in Sentenzen (γνωμολογεῖν) nur bei älteren, erfahrenen Personen für angemessen, genau wie das Geschichten-Erzählen (μυθολογεῖν); bei jungen Leuten ist es unangemessen und Zeichen von Einfalt und mangelnder Bildung; vgl. Plat. Gorg. 485b–c für Normen altersgemäßen Sprechens. 258 West 1978, 3–25; vgl. Canevaro 2015, 36–41. 259 Schmitz 2004a; 2004b, 51 f.
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Libro sind Hesiods Werken erstaunlich ähnlich, der Verschiedenheit der äußeren Umstände zum Trotz – Landwirtschaft spielt bei Certaldo eine untergeordnete Rolle. Certaldo ergänzt zwar einzelne der von ihm aufgeführten Spruchweisheiten um Argumente, doch stehen die einzelnen Maximen unverbunden nebeneinander und werden von pragmatischen Detailanweisungen unterbrochen.260 Diese Regeln werden meist in der zweiten Person und im Imperativ formuliert, häufig als sich reimende Sprichwörter. Alliterationen, Parallelismen, Chiasmen und Gleichnisse unterstützen die Einprägung. Die Ratschläge zum Wirtschaften sind nicht spezifisch kaufmännisch, sie atmen denselben Geist der Hauswirtschaft wie Hesiods Werke. Die Ehefrau, die Söhne und die Freunde sind unverzichtbare Kooperationspartner, aber man fürchtet, dass sie nur so lange treu sind, wie man reich ist.261 Man sorgt dafür, dass das Gesinde (famiglia) eifrig zum „Nutzen des Hauses“ (l’utile di casa) beiträgt, und Certaldo gibt so hausväterliche Ratschläge wie den, nie mit leeren Händen vom Landgut heimzukehren.262 Für das populäre Bild des proto-kapitalistischen Florenz ist die Ablehnung des Zinskredits und die beständige Mahnung zu Mäßigung und Tugend auffällig. Man soll Land eher verkaufen, als einen Wucherzins zu akzeptieren263 und jedes Gewerbe ist besser als die Wucherei.264 Tugend und „guter Ruf “ (buon fama) sind wichtiger als Reichtum, weil der gute Ruf ewig hält, „irdische Reichtümer“ (richezze mondane) hingegen vom „Schicksal“ (fortuna) geraubt werden.265 Maßhalten und sich mit mäßigem Gewinn zufrieden zu geben ist das vorherrschende Gebot266 und unrechter Gewinn gilt als schädlich.267 „Mache deine Ausgaben entsprechend deiner Einnahmen und dem rechten Mann Geschenke, wie sie deinem Vermögen entsprechen“.268 Diesen Mahnungen hätte Hesiod ohne Einschränkung zugestimmt. Es fällt schwer, Christian Becs Urteil nachzuvollziehen, der Paolo da Certaldo „l’un des premiers théoriciens du capitalisme naissant“ nennt.269 Becs Kriterien – Vertrautheit mit Gelderwerb, Streben nach eigenem Vorteil, Realismus, Urbanität – lassen sich alle auch auf Xenophon anwenden, 260 Bec 1967, 99–101; so wird ein Ratschlag zur Behandlung des Gesindes (Nr. 89) und einer zur Wahl der Ehefrau (Nr. 91) von dem Hinweis unterbrochen, dass man für den Brandfall immer eine Leiter im Hause haben solle (90); Zählung der Sprüche hier und im Folgenden nach Ed. Branca (1986). 261 Zur Ehefrau: Nr. 91, 155, 298, 374; vgl. 318 mit einem typischen, sich reimenden Sprichwort: Quella casa non mi piace ove gallina canta e gallo tace; zum Sohn: 150, 375, 380; Unverzichtbarkeit der Kooperation und der Freunde: Nr. 45, 46, 111, 113, vgl. 180, 181. 262 Nr. 89. 263 Nr. 376. 264 Nr. 115. 265 Nr. 41, 83. 266 Nr. 228 als Sprichwort; Nr. 120 und 236 als Reime. 267 Nr. 173: Lo guadagno che s’acquista con mala fama sì è da essere appellato danno. 268 Nr. 234: Secondo ch’hai l’entrata fa le spese, e come puoi del tuo arnese a uomo degno; vgl. 383: man soll in allen Dingen gezügelt sein. 269 Bec 1967, 104.
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den deshalb niemand einen Theoretiker des Kapitalismus nennen würde. Certaldos Hausbuch zeigt im Gegenteil, dass das hauswirtschaftliche Wissen und die traditionelle Sprache des Hausvaters in Zeiten von Urbanisierung und Kommerzialisierung nicht verlorengingen, sondern bewahrt und adaptiert wurden. Certaldo war weder der einzige noch der letzte Florentiner, der trotz Urbanität und Geldgeschäften die Sprache des Hausvaters sprach. Giovanni Rucellai erklärt es zum Ziel seines 1458 begonnenen Zibaldone seinen Söhnen nützliche Unterweisung zu geben und vermerkt den unsystematischen Charakter dieser Unterweisungen selbst.270 Rucellai spricht seine Söhne (miei figluoli) direkt und mit Namen an, wie Hesiod seinen Bruder Perses,271 und wie bei Hesiod mahnt er sie wiederholt, die väterlichen Lehren zu verinnerlichen.272 Rucellai gibt mehr Hinweise zu Geldgeschäften als Certaldo, doch diese verlassen nie den Boden einer rein praktischen, von der casa aus denkenden Wirtschaft. So steht der Abschnitt zur Auswahl eines Geschäftsführers unter der Rubrik „Führung des Haushalts“ (Governo della Famiglia) und unter Rucellais Auswahlkriterien findet sich kein einziger speziell kaufmännischer: Stattdessen zählen Verwandtschaft, Treue, Arbeitseifer, Gehorsam und Enthaltsamkeit von Wein und Frauen.273 Rucellais restliche Ratschläge zum Geld sind von ähnlich allgemeiner, ethischer Art: Ansehen und Freunde sind wichtiger als Geld, der Umgang mit Geld kompliziert.274 Der praxisnächste Ratschlag lautet, sein Vermögen zu diversifizieren, um Risiko zu minimieren. Dieser Rat wird nicht theoretisch erläutert, sondern anschaulich beschrieben.275 Die praktische Einsicht und der geringe Grad ihrer Abstraktion entsprechen in etwa dem, was Pseudo-Aristoteles zur Diversifizierung rät.276 Noch in Francesco Guicciardinis Ricordi von 1530,277 ebenfalls an seine Söhne gerichtet, kehrt viel Bekanntes wieder, ebenfalls ohne Systematik. Ökonomische Einsichten finden sich gelegentlich. Die „Vernunft des Haushaltens“ (la prudenza della economica) bestünde nicht darin, zu wissen, wie man Ausgaben vermeidet, sondern darin, wie man „vorteilhaft ausgibt“.278 An anderer Stelle heißt es, Geschäftsfelder seien immer dann am ertragreichsten, wenn die allgemeine Meinung sie noch nicht für günstig halte; kämen sie in den Ruf gewinnträchtig zu sein, stiegen sie ab, weil nun ein 270 Vgl. S. 2, der hier und im Folgenden zitierten Ed. A. Perosa (1960). 271 S. 2–5: mi pare …; vi consiglio …; considero … usw. 272 S. 3: più tosto vi consiglio ch’ …; 4: Levatevi dall’animo questa falsa oppinione …; 7: Et pensate …; sopra ogni cosa amonite e’ vostri fattori che non …; 8: Fate masseritia del tempo, però ch’egli è la più cara cosa che noi abbiamo: rispiarmatelo, disponete, ordinate le facciende, datevi da fare, non perdete mai tempo invano, fate come ò fatto io. 273 S. 3–6. 274 S. 8–13. 275 S. 9. 276 S. Kap. 15.2. 277 Die Schrift besteht aus durchnummerierten Lehrsätzen und wurde mehrfach erweitert und umgearbeitet; hier wird die „Series B“ von 1530 zitiert. 278 Ed. E. L. Scarano (1970), Nr. 56.
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„Wettlauf “ (concorso) entstehe, der sie weniger günstig mache. Deshalb sei es in allen Dingen ein großer Vorteil, rechtzeitig aufzuhören.279 Beide Lehrsätze bezeugen praktische Erfahrung mit städtischer Geldwirtschaft – aber auch das Desinteresse daran, diese zu theoretisieren. Stattdessen wird aus der wirtschaftlichen Praxis eine allgemeine Lebensweisheit abgeleitet: Man muss etwas geben, um mehr zu kriegen; man muss bei allem den richtigen Zeitpunkt treffen. Antike Parallelen sind schnell bei der Hand: Platon hält es für ein Zeichen der Vernunft, auszugeben um mehr einzunehmen,280 und Xenophon beschreibt, wie die Menschen das Feld ihrer Betätigung wechseln, wenn die Gewinne sinken.281 Guicciardinis ökonomische Einsichten stehen außerdem isoliert zwischen seinen viel zahlreicheren ethischen und politischen Ratschlägen und den ständig wiederholten Mahnungen, die Ungewissheit der Zukunft anzuerkennen, Ehre für wichtiger als Gewinn zu halten und über die eigenen Angelegenheiten zu schweigen.282 Die florentinischen Hausbücher zeigen, dass eine traditionelle hausväterliche Belehrung – eine ‚nicht-literarische‘ Ökonomik – weiterexistieren konnte, lange nachdem Geldwirtschaft, Urbanisierung und Prosaliteratur Einzug gehalten hatten. Vor diesem Hintergrund kann die Existenz einer literarischen Ökonomik weder als Indikator für das Fehlen einer entwickelten städtischen Geldwirtschaft gelten noch umgekehrt bloß als reaktionärer Reflex gegen diese Entwicklung abgetan werden. Vielmehr scheinen die Texte des 4. Jhs. eine literarisch verfeinerte und philosophisch reflektierte Variante dieser nicht-literarischen häuslichen Belehrung darzustellen. Dabei löste die literarische Ökonomik die mündliche Belehrung nicht etwa ab, sondern entwickelte sich parallel zu ihr. Dafür spricht besonders die Sammlung von Weisheitssprüchen, die Demetrios von Phaleron gegen Ende des 4. Jhs. unter dem Namen der Sieben Weisen anlegte. Ihre formale und inhaltliche Nähe zu den archaischen Sprüchen von Hesiod und anderen Dichtern ist offenkundig: viele drehen sich um Belange von Haushalt und Erwerb: die Beziehung zu den Eltern, die Auswahl der Ehefrau, das Wahren des guten Rufs, das Vermeiden ungerechten Gewinns usw. Ob die Überlieferung tatsächlich bis in die Lebenszeit der Sieben Weisen zurückreicht, ist in diesem Zusammenhang nebensächlich. Entscheidend ist, dass sie so unangefochtene Geltung besaßen und so allgemein bekannt waren, dass es passend schien, sie den legendären Weisen zuzuordnen.283 Für die These einer überwiegend mündlichen, praxisnahen und tradi279 280 281 282
Nr. 178. Plat. Lach. 192e; vgl. Demokr. fr. B 229 DK 68 (= Stob. 3,16,19). Xen. vect. 4.4 f. Ungewissheit: Ed. E. L. Scarano (1970), Nr. 23, 30, 85, 114, 207; Ehre über Gewinn: 44, 118, 158, 218; Verschwiegenheit: 184, 186. 283 Demetr. fr. 87 Fortenbaugh-Schütrumpf (= Stob. 3.1,172); vgl. die Parallelüberlieferung bei Diog. Laert. 1.37–97; zur Form der Sprüche, Traditionsbildung und Überlieferung vgl. Rösler 1991 und Engels 2010, 9–26; zur Deutung als Zeugnis volkstümlicher Ethik vgl. Zeller 2006 und Engels 2010, 94–98; anders Asper 2006, 86–89.
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tionsgebundenen Form der Belehrung als vorauszusetzender Folie der literarischen Ökonomik sprechen neben der Analogie zu den florentinischen Hausbüchern und dem Fortleben von Spruchweisheiten schließlich bestimmte Reflexe in den literarischen Texten zur Ökonomik selbst. Es handelt sich dabei nicht um unbewusst mitgeschleifte Überreste, sondern um bewusste literarische Nachahmungen und Adaptionen (dazu ausführlich Kap. 5.1 und 6.2.1). An dieser Stelle soll lediglich an einem Beispiel – Sprichwörtern – gezeigt werden, wie die literarische Ökonomik Elemente der mündlich geprägten Belehrung für ihre Zwecke adaptierte. Wie Schmitz betont, komprimieren Sprichwörter häusliche Prinzipien zu einprägsamen Sinneinheiten. In dieser Funktion finden sich Sprichwörter, wenngleich nur vereinzelt, bei Xenophon und Pseudo-Aristoteles. Im Oikonomikos erzählt Xenophon die Anekdote eines Persers, der auf die Frage, „was das Pferd fett mache“, geantwortet habe, „das Auge des Herrn“.284 Xenophon präsentiert diese Mahnung zu ständiger persönlicher Kontrolle als Anekdote. Das erste Buch der pseudo-aristotelischen Ökonomik und Pseudo-Plutarch hingegen geben nur die Pointe als Sprichwort wieder. Ulrich Victor hat überzeugend argumentiert, dass dies darauf hinweist, dass es sich um ein verbreitetes älteres Sprichwort handelt.285 Dem entspricht, dass Pseudo-Aristoteles es ἀπόφθεγμα nennt und einen zweiten Spruch anhängt, der keine neue Aussage enthält, sondern lediglich die Aussage des ersten Spruchs wie zur Verinnerlichung wiederholt: Auf die Frage, was den Acker dünge, habe ein Libyer geantwortet: „Der Fuß des Herrn.“286 Victor vermutet, dass Xenophon derjenige war, der aus mehreren, in einer Vorlage aufeinanderfolgenden, Mahnsprüchen einen herausgriff und zur Kurzanekdote ausbaute. Der Ausbau zur Anekdote ist wohl weniger Xenophons „weitschweifige[r] […] Art“ anzulasten, wie Victor meint, als vielmehr als Versuch zu verstehen, ein Versatzstück traditioneller Ökonomik in die literarische Form des sokratischen Dialogs zu integrieren.287 Dafür bietet der Oikonomikos eine weitere Parallele. Ischomachos stellt seiner Frau eine rhetorische Frage, die in der für die traditionelle Belehrung typischen Art keinen neuen Gedanken anstößt, sondern bewährtes Wissen in Erinnerung ruft und zu seiner Beherzigung mahnt. Es sei lächerlich (γελοίος), wenn das Eingebrachte nicht auch bewahrt werde. Denn: „Siehst (ὁρᾷς) du nicht, fragte ich, wie diejenigen bedauert werden, die, wie man sagt (λεγόμενοι), Wasser in das durchlöcherte Fass (τὸν τετρημένον πίθον) schöpfen, weil sie sich offensichtlich vergeblich
284 Xen. oik. 12.20: τί τάχιστα παχύνει ἵππον·τὸν δ’ εἰπεῖν λέγεται ὅτι δεσπότου ὀφθαλμός. 285 [Aristot.] oec. 1, 1345 a 1–5; [Plut.] de lib. educ. 9d; so Victor 1983, 178–180; Breitenbach 1967, 1859 spricht von einer „sicher ältere[n] Anekdote“. 286 [Aristot.] oec. 1, 1345 a 1–5: Καὶ τὸ τοῦ Πέρσου καὶ τὸ τοῦ Λίβυος ἀπόφθεγμα εὖ ἂν ἔχοι. Ὁ μὲν γὰρ ἐρωτηθεὶς τί μάλιστα ἵππον πιαίνει, „ὁ τοῦ δεσπότου ὀφθαλμός“ ἔφη· ὁ δὲ Λίβυς ἐρωτηθεὶς ποία κόπρος ἀρίστη, „τὰ τοῦ δεσπότου ἴχνη“ ἔφη. 287 Victor 1983, 180.
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abmühen?“288 Das Attribut ‚lächerlich‘ verweist auf die soziale Normierung des Wissens, das Attribut ‚wie man sagt‘ auf seine allgemeine Verbreitung, das Verb ‚sehen‘ auf die Anschaulichkeit der Unterweisung und die Unbestreitbarkeit ihrer Richtigkeit. Das gleiche Sprichwort, das seine Wurzeln in der griechischen Mythologie hat, zitiert Pseudo-Aristoteles mit derselben Aussageabsicht.289 Victor hat hier ebenfalls glaubhaft gemacht, dass Pseudo-Aristoteles Xenophon nicht deshalb wiederholt, weil er von diesem abschrieb, sondern weil beide auf ältere Vorlagen zurückgriffen, die Xenophon freier wiedergab.290 Für die Relevanz derartiger Spruchweisheiten ist es wichtig, dass sie nicht bloß zufällige Archaismen waren. Denn an einer der wenigen Stellen, in denen Aristoteles in der Politik praktische wirtschaftliche Ratschläge gibt, bedient er sich ebenfalls genau dieses Sprichworts. Einmalige Auszahlungen an die Armen in Form von Tagegeldern oder Schaugeldern seien nicht nachhaltig, sondern ein „durchlöchertes Fass“ (ὁ τετρημένος […] πίθος).291 Stattdessen solle man ihnen ermöglichen, sich dauerhaft selbst zu versorgen, indem man ihnen ein Stück Ackerland oder Startkapital für Handwerk oder Handel zur Verfügung stellt.292 Charakteristisch für die praktische Unterweisung ist, dass Aristoteles keine allgemeine Theorie entwickelt, sondern einige historische Beispiele (Karthago, Tarent) nennt und zur Nachahmung empfiehlt.293 Wo es um praktische Fragen ging, da war die nicht-literarische Ökonomik noch Ende des 4. Jhs. ebenso aktuell wie die ihr eigentümliche Sprache. Der Vergleich stützt Zoepffels These, nach der die Entstehung der Ökonomik als Gattung zunächst ein Ereignis der Kulturgeschichte war, die literarische Aufbereitung traditionellen hauswirtschaftlichen Wissens.294 In Hinsicht auf Zoepffels Ablehnung der Annahme, dass dieses kulturgeschichtliche Ereignis auch durch soziale und wirtschaftliche Veränderungen ausgelöst war, sind allerdings Zweifel angebracht. Denn vieles spricht dafür, dass die Ökonomik Teil eines literarischen Diskurses über Reichtum und Erwerb war, der sich seit dem Ende des 5. Jhs. intensivierte.
288 Xen. oik. 7.40: οὐχ ὁρᾷς, ἔφην ἐγώ, οἱ εἰς τὸν τετρημένον πίθον ἀντλεῖν λεγόμενοι ὡς οἰκτίρονται, ὅτι μάτην πονεῖν δοκοῦσι. 289 [Aristot.] oec. 1, 1344 b 23–25; strenggenommen handelt es sich beim pithos um eine große Vorratsamphore; zum mythischen Ursprung s. Zoepffel 2006, 502–504. 290 Victor 1983, 180. 291 Aristot. pol. 6, 1320 a 31 f. 292 Pol. 6, 1320 a 32–b 11. 293 Zu dieser Passage vgl. Kap. 6.1.4. 294 In gleicher Weise ist Albertis Della Famiglia eine literarisch verfeinerte und mit Bildungsgepränge versehene Variante der weniger ausgearbeiteten Hausbücher.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
4.3.3 Reichtumsdiskurs und Ökonomik Ende des 5. Jhs. wurde Reichtum zu einem ‚Problem‘, zumindest im gelehrten Diskurs.295 In Athen war ein wesentlicher Auslöser dieses Diskurses die sozialen Verwerfungen, die der Aufstieg zur Großmacht, der Peloponnesische Krieg und die oligarchischen Umstürze von 411 und 404 mit sich brachten.296 An die Stelle der alten Gemeinplätze, dass Reichtum gerecht zu erwerben und ein flüchtiges Schicksalsgeschenk sei, tritt nun eine grundsätzlichere Problematisierung. Deren Stoßrichtung ist zuerst moralisch. Beklagt wird eine materialistische Grundeinstellung der Zeitgenossen, die nicht nur mit allen Mitteln nach Reichtum streben, sondern diesen sogar zum Selbstzweck machen. Daraus ergaben sich nach Auffassung von Platon, Aristoteles und anderer Gelehrter soziale und politische Folgeprobleme, vom Misstrauen unter den Bürgern bis zum offenen Bürgerkrieg. Deshalb erdachten sie Idealverfassungen, deren Gesetze die Bürger regelrecht zu antimaterialistischer Tugend zwangen, und formulierten das Ideal von tugendhafter Askese und Selbstgenügsamkeit, die jegliches Reichtumsstreben überflüssig machten (vgl. Kap. 3.3.1 und 6.4). Die literarisch-gelehrte Ökonomik war Teil dieses Reichtumsdiskurses. Xenophon und Aristoteles gehen in ihren Überlegungen zur Haushaltsführung auf dessen zwei Hauptfragen ein: Welche Zwecksetzung rechtfertigt materiellen Reichtum? Welche Art, ihn zu erwerben, ist gerecht? Die enge Verknüpfung von Reichtumserwerb und Hauswirtschaft wird in den Utopien Platons, Phaleas’ von Chalkedon und Zenons ebenso deutlich wie in der asketischen Haltung von Sokrates, Antisthenes und Diogenes. Die Hauswirtschaft wurde hier nicht als Gegensatz zur geldbasierten Verkehrswirtschaft gedacht, sondern als deren Gravitationszentrum. Die radikalste Lösung ist daher eine Auflösung der Hausgemeinschaft resp. eine weitgehende Einhegung ihrer Spielräume (Kap. 3.3.1). Das rückt die normativen Theorien der Ökonomik bei Xenophon, Aristoteles und Pseudo-Aristoteles in ein anderes Licht. Denn sie verlangen nicht das Ende des Wirtschaftens des einzelnen Hauses, sondern nur dessen Rückbindung an die moralischen Regeln und kollektiven Bedürfnisse der Stadtgemeinschaft. Insofern versuchen sie den Brückenschlag zwischen den radikalen Schlussfolgerungen der Philosophie und den praktischen Bedürfnissen einer Oberschicht, für welche die Haushaltsführung notwendiges Mittel zum Statuserhalt war. Die Ökonomik war insofern Teil eines moralischen Diskurses und keine Fachbuchgattung. Während Belege für ‚veröffentlichte‘ pragmatische Ökonomiken von ‚Sophisten‘ fehlen, finden sich entsprechende Titel gerade in den Schriftenverzeichnissen von
295 Vgl. Schaps 2003, der sich mit den Sokratikern auseinandersetzt; zu Platon ausführlich Schriefl 2013; vgl. Schlange-Schöningen 2002 zur Entstehung der Figur des ‚armen‘ Philosophen in dieser Zeit, Döring 1995 zu Antisthenes und Diogenes. 296 Ruffing 2016b; vgl. Kap. 3.2.2.
4.3 Der Ursprung der Ökonomik
143
‚Philosophen‘, oft gepaart mit Titeln zum Thema Reichtum.297 Die früheste Schrift mit dem Titel Περὶ νίκης οἰκονομικός erscheint ausgerechnet im Schriftenkatalog des asketischen Philosophen Antisthenes.298 Offenbar behandelte eine zweite Schrift (oder ein fälschlich als eigene Schrift aufgenommenes Unterkapitel der ersten)299 bereits die Pflichten des Verwalters, die Xenophons Oikonomikos ebenfalls zentral thematisiert. Die bereits von Victor geäußerte Vermutung, dass Xenophons Oikonomikos von dieser Schrift inspiriert war, hat Roscalla ausführlich begründet und Antisthenes sogar zum Begründer der Gattung erklärt.300 Wie dem auch sei: Es ist bezeichnend, dass die früheste erwähnte literarische Ökonomik ausgerechnet Antisthenes zugeschrieben wird, dessen Haupthemen Luxuskritik und Selbstgenügsamkeit waren, weshalb er später als Schüler des Sokrates und Gründer der kynischen Schule galt.301 Diogenes von Sinope, der als ideeller Schüler des Antisthenes galt und in demonstrativer Armut lebte, soll ebenfalls eine Schrift Περὶ πλούτου geschrieben haben. Ob der Kyniker tatsächlich selbst Texte verfasste, ist allerdings zweifelhaft.302 Speusippos, Platons Neffe und dessen Nachfolger als Leiter der Akademie, schrieb eine einbändige Schrift Peri ploutou.303 Das Gleiche gilt für seinen Nachfolger Xenokrates von Chalkedon, der außerdem einen Oikonomikos schrieb. Beide Schriften umfassten laut Diogenes Laertios jeweils nur eine Buchrolle. Ihr Inhalt ist unbekannt, doch wird es sich um normative Reflexionen über Reichtum gehandelt haben, wie die zahlreichen Anekdoten über Xenokrates’ generelle Ablehnung von materieller Bereicherung nahelegen und die Titel weiterer Schriften über Weisheit, Selbstbeherrschung, Freiheit, Edelmut, Glückseligkeit und Besonnenheit.304 Theophrast verfasste ebenfalls eine Schrift Peri ploutou.305 Dass es hier um ethische Probleme ging, legen seine Äußerungen zur schändlichen Gewinnsucht und zum Geiz in den Charakteren nahe.306 In hellenistischer Zeit blieben Reichtum und Haushaltsführung populäre Themen der Philosophen, weiterhin mit der Frage nach dem Zweck von Reichtum und gerechtem
297 Descat 1988, 111–115. 298 Diog. Laert. 6.16; Breitenbach 1967, 1870 f. hält den Titel für korrupt überliefert und nimmt bloß oikonomikos an, in Parallele zu Xenophons Schrift. 299 So vermutet Breitenbach 1967, 1870 f. 300 Victor 1983, 185–192; Roscalla 1990. 301 Diog. Laert. 6.2, 5–12; zum Inhalt der Lehre vgl. Döring 1995, 134–139; Döring 1985 sieht ihn als Sokratiker; Guthrie 1971, 304–311 legt sich bezüglich der Abhängigkeit von Sokrates nicht fest und verwirft die Zuschreibung als Gründer der kynischen Schule. 302 Zu den antiken Zweifeln an der Echtheit Diog. Laert. 6.80; zur Lehre Döring 1995, 140–149. 303 Diog. Laert. 4.4. 304 Diog. Laert. 4.11 f. 305 Diog. Laert. 5.47. 306 Besonders Theophr. char. 9, 10, 22.
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4 Der soziale Kontext der Ökonomik
Erwerb.307 Dass es sich bei allen diesen Schriften nicht um umfangreiche Handbücher handelte, legt ihr geringer Umfang von meist nur einer Buchrolle nahe. Mit anderen Worten: Das Wissen über Haushaltsführung wurde nur dort literarisch ausgestaltet und ‚publiziert‘, wo es in einen gelehrten Diskurs einfloß, der sich für literarische Gestaltung, ethische Grundfragen und Selbstinszenierung interessierte, nicht für notwendige, aber unfeine Details der Praxis. Welche literarische Form man dem gelehrten Diskurs über Ökonomik dabei gab, soll im Folgenden untersucht werden.
307 Engels 1993, 13 f.; für Epikur ist eine Schrift Peri ploutou belegt, Diog. Laert. 10.24; Schriften Peri oikonomias schrieben Epikureer, Stoiker und Neupythagoreer; vgl. unten Kap. 6.1.5 und 19.1, Anm. 32.
5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik 5.1 Xenophon: Dialog und Witz Xenophons Oikonomikos ist die erste erhaltene Schrift, die sich speziell der Haushaltsführung widmet. Innerhalb Xenophons bewegtem Leben (ca. 430–355) lässt sich das Abfassungsdatum seines Oikonomikos nur durch Wahrscheinlichkeitserwägungen eingrenzen.1 Die umfangreiche Diskussion zur Datierung soll hier nicht wiederholt werden. Betont sei nur, dass insgesamt wenig für die verbreitete These spricht, Xenophon habe den Text in den 380er-Jahren verfasst, als er auf seinem von den Spartanern geschenkten Landgut in Skillus bei Elis lebte. Diese These stützt sich auf die Vorannahme, dass die Überbetonung der Landwirtschaft nur durch einen Lebensmittelpunkt fern von Athen erklärbar sei.2 Der fiktive Rahmen des Oikonomikos ist allerdings dezidiert athenisch, bis hin zur interesseleitenden Frage, wie sich ein reicher Haushalt im demokratischen Athen wirtschaftlich bewähren kann.3 Für eine späte Datierung in die 360er- und 350er-Jahre, die Zeit als Xenophon mutmaßlich wieder in Athen lebte, sprechen die zahlreichen Parallelen zu den Memorabilien, dem Symposion und der Kyrupädie, die als Spätwerke angesehen werden und Hinweise auf die Zeit nach 371 enthalten.4 Diese Parallelen sind auch unabhängig von der Frage nach der Datie1 2
3 4
Die umsichtigste Diskussion von Xenophons unsicheren Lebensdaten bei Breitenbach 1967, 1751–1757; Delebecque 1957 ist detailreich und originell, jedoch zu bestimmt in der Feindatierung; Anderson 1974 folgt, wie die antiken Biographen, Xenophons literarischer Selbststilisierung. Breitenbach 1967, 1776: „der Oeconomicus atmet skilluntische Atmosphäre“; Jaeger 1959, 245: Xenophon habe sich in Skillus „vor die Aufgabe gestellt [ge]sehen, die schwere berufliche Arbeit, der er seinen Unterhalt verdankte, zu seiner literarischen Bildung innerlich in Beziehung zu setzen“; in diesem Sinn zuletzt Hobden 2017, 165; Delebecque 1951, 23–58 sah den Aufenthalt in Skillus als intellektuelle Voraussetzung des Oikonomikos, verortet die eigentliche Abfassung jedoch in Athen; vgl. Delebecque 1957, 235–238 und 363–376; Humphreys 1996, 13 erklärt mit dem vermeintlichen Abfassungsort die von ihr konstatierte Lebensfremde des Oikonomikos; Anderson 1974, 172–182 diskutiert den Oikonomikos im Kapitel über das Leben in Skillus, hält jedoch eine spätere Datierung für wahrscheinlicher; Pomeroy 1994, 5 hält den Aufenthalt in Skillus zwar für prägend, geht aber von einer Abfassung in Athen aus. Delebecque 1951, 27–32; die Rahmenbedingungen waren gleichwohl über Athen hinaus thematisch anschlussfähig, vgl. Pomeroy 1994, 9 f. Zu den inhaltlichen und gestalterischen Parallelen vgl. Delebecque 1951, 42–44; 1957, 376–380; Breitenbach 1967, 1850 f.; Günther 2012; zu den Hinweisen auf die späte Entstehung dieser
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
rung interessant, weil sie zeigen, dass der Oikonomikos Teil eines Œuvres belehrender Schriften war, deren gemeinsamer Fluchtpunkt die Verbindung des ‚Edlen‘ mit dem ‚Nützlichen‘ war. Die Interpretation des Oikonomikos setzte immer wieder bei dessen eigenartiger Gestaltung an.5 Einerseits ist die Schrift als sokratischer Dialog verfasst. Andererseits enthält sie Elemente einer eher technischen Fachliteratur zur Landwirtschaft. Die Landwirtschaft wird jedoch erklärtermaßen gerade nicht systematisch unterrichtet. Der Dialog beginnt ohne Einleitung mit dem Satz: „Einmal hörte ich ihn [Sokrates] auch etwa so über die Haushaltsführung ein Gespräch führen.“ Es klingt, als nehme Xenophon einen Gesprächsfaden wieder auf.6 Der Oikonomikos gibt außerdem nicht nur einen Dialog wieder, sondern mehrere, ineinander verschachtelte Gesprächserinnerungen. Zunächst wird ein Dialog zwischen Sokrates und dem jungen Kritobulos geschildert. Er umfasst die ersten fünf Kapitel (1–5). Der zweite und längere Abschnitt des Oikonomikos wird von einem Gespräch zwischen dem jüngeren Sokrates und dem erfolgreichen Hauswirt Ischomachos eingenommen (Kap. 6–21). Dieser Dialog ist allerdings ein in den ersten eingeschobener Bericht von Sokrates über ein früheres Gespräch. Ein Rollentausch markiert den Wechsel. Während zu Beginn Kritobulos Sokrates um Rat fragt und von diesem in maieutischer Manier durch Fragen zur Einsicht geleitet wird, ist es im zweiten Teil der „jüngere Sokrates“, der belehrt wird und Ischomachos derjenige, der in sokratischer Manier fragt. Édouard Delebecque hat aus dieser ungleichen Zweiteilung der Schrift weitreichende Schlüsse für ihre Datierung und Aussageabsicht gezogen. Der erste Teil, der Kritobulos-Dialog, sei um 381 in Skillus verfasst worden.7 Es handle sich um einen ‚echt‘ sokratischen Dialog, vergleichbar mit den Dialogen der Memorabilien. Das Thema, ‚Zweck und Wesen der Haushaltskunst‘, sei echt sokratisch und ethisch, nicht wirtschaftlich.8 Der zweite Teil hingegen sei vermutlich 361 in Athen geschrieben, nun zum Zweck der „propagande nationale“, um die Athener in einer Zeit militärischer Bedrohung und finanzieller Schwäche zur Rückkehr aufs Land und zur Landwirtschaft aufzurufen.9 Wegen dieser Aussageabsicht behaupte Xenophon wider besseres Wissen, die Landwirtschaft sei leicht zu erlernen und bringe die besten Soldaten hervor.10 Delebecques
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7 8 9 10
Werke Delebecque 1957, 384–410 (sehr spekulativ); Breitenbach 1967, 1742, 1776; Anderson 1974, 175, Anm. 1. Vgl. den komprimierten Forschungsüberblick zur Gestaltung bei Föllinger 2006, 9 f. Xen. oik. 1.1: Ἤκουσα δέ ποτε αὐτοῦ καὶ περὶ οἰκονομίας τοιάδε διαλεγομένου. Wegen dieses Anfangs wurde vermutet, der Oikonomikos sei ursprünglich Teil der Memorabilien gewesen; das wird inzwischen meist abgelehnt, vgl. Delebecque 1957, 235–242; Breitenbach 1967, 1837; Meyer 1975, 92 f. Delebecque 1957, 235–238, 363–376. Delebecque 1957, 237. Delebecque 1957, 237; vgl. 373, 375 f.; Pomeroy 1994, 5–8 schließt sich Delebecques Datierungsvorschlag an, zieht daraus aber weniger inhaltliche Schlüsse. Delebecque 1957, 373–375.
5.1 Xenophon: Dialog und Witz
147
Argumentation ist scharfsinnig, doch methodisch problematisch. Erstens stehen Datierung und Inhaltsanalyse in einem zirkulären Verhältnis zueinander: Weil Xenophon 361 in Athen schrieb, berücksichtigte er die militärisch-finanzielle Lage Athens besonders; dass er 361 schrieb, zeigt sich daran, dass er die militärisch-finanzielle Lage besonders berücksichtigte. Zweitens stellt sich die Frage, warum Xenophon nicht beide Texte gemeinsam veröffentlichte, wenn er den Kritobulos-Dialog zur gleichen Zeit und im selben Stil schrieb wie die Memorabilien. Drittens bleibt unklar, warum Xenophon, wenn er seiner Heimatstadt nützen und schmeicheln wollte, diesen Zweck so diskret versteckt haben sollte. In den Poroi lässt Xenophon schließlich keinen Zweifel an seinen Absichten. Hans Breitenbach hat in seinem RE-Artikel zu Xenophon ebenfalls vermutet, dass Xenophon den Kritobulos-Dialog „ursprünglich“ als „Kurzdialog“ Περὶ οἰκονομίας begann und erst später um den Ischomachos-Dialog erweiterte. Nur so seien „die Inkonzinnitäten der scheinbar so einheitlich aufgebauten Schrift erklärlich“. Breitenbach bemängelt, dass der zweite Teil den ersten „völlig aus den Augen verloren“ und „von der Möglichkeit das Kritobulosgespräch zu einem eigentlichen Rahmengespräch auszubauen, keinen Gebrauch gemacht“ habe.11 Zugleich würdigt Breitenbach Xenophons „Dispositionsprinzip“. Der Oikonomikos sei durchaus kein „missglückte[r] Versuch, Literaturgattungen zu kombinieren“, nämlich philosophischen Dialog und technische Schrift. Vielmehr hätten die technischen Passagen als „Eklogen“ gedient, als Erinnerungen daran, dass der Erfolg vor allem auf Fürsorge (epimeleia) und nicht allein auf Wissen (epistēmē) beruhe, und in diesem Sinne bediene sich Xenophon auch im zweiten Teil des maieutischen Prinzips.12 Breitenbach spricht also der ganzen Schrift ‚echt‘ sokratische Prinzipien und Gestaltung zu, geht jedoch davon aus, dass ihre beiden Hauptteile nur aus Verlegenheit als zwei getrennte Dialoge verfasst wurden.13 Könnte es auch positive Gründe für die Gestaltung der Schrift als mehrfach geschachtelten Dialog geben? Baut man die Interpretation nicht auf hypothetische äußere Umstände auf, sondern auf textimmanente Merkmale, spricht Einiges dafür, dass der geschachtelte Dialog ein bewusst gewähltes Gestaltungsprinzip war, für das sich in der Kyrupädie im Übrigen Parallelen finden.14 Bereits Sabine Föllinger hat die Ansicht vertreten, dass die Dialogform keine „Verlegenheitslösung für die Einkleidung von Fachwissen“ sei.15 Der Text sei in mehrere Dialoge untergliedert, um verschiedene Personen mit „Vorbildcharakter“ vorzuführen, an erster Stelle natürlich Ischomachos, die 11 12 13 14 15
Breitenbach 1967, 1837 f. Breitenbach 1967, 1869. Meyer 1975, 4, 118 f. weist die Idee einer ursprünglich separat geplanten Kurzschrift zurück und erklärt die Unstimmigkeiten mit Xenophons nachlässiger Arbeitsweise; Pomeroy 1994, 28 f. meint, der gesamte Text weise die Merkmale eines richtigen sokratischen Dialogs auf. So etwa Kyr. 1.6,7 f., bezeichnenderweise in einem Gespräch von Vater und Sohn über die Pflicht eines καλὸς κἀγαθός, für die Mitglieder seines Hauses zu sorgen; vgl. Kyr. 3.1,38. Föllinger 2005, 224 mit Verweis auf die Poroi, die ohne Dialogizität auskommen.
148
5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
Verkörperung eines kalos kagathos. Durch den Dialog werde, so Föllinger, eine „fiktive Zuschau- und Lernsituation“ und „eine Art von Nahverhältnis zwischen Kritobulos und dem Leser auf der einen Seite und Ischomachos auf der anderen Seite geschaffen“, die Dialogfiguren werden zu Vorbildern. Das schwächt die „Asymmetrie“ einer Lehrschrift ab und betont das spielerische, unterhaltsame Element.16 Weitere Anregungen für ein Verständnis der Gestaltung des Oikonomikos bieten Silke Diederichs Überlegungen zu den römischen Agrarhandbüchern. Diederichs Beobachtungen zur Funktion dieser Gestaltung lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1) Selbststilisierung, 2) Imitation einer mündlichen Belehrungssituation, 3) Distanzierung von ambivalenten Ratschlägen. Cato etwa imitierte in De agri cultura zwar den traditionellen, mündlichen Stil der Wissensweitergabe. Doch sei all das „Attitüde und wohlberechnet“; denn der Text ist trotz seines altertümlichen Tons eine „rhetorisch gefeilte suasio“, eine Empfehlung zur kommerzialisierten Landwirtschaft, geschrieben von einem homo novus.17 Varros Res rustica imitieren zwar den Plauderton einer aristokratischen Gesprächsrunde in ländlicher Umgebung, doch auch hier liegen „Welten zwischen dem moralischen Schein und der kommerziellen Realität“: Die von Varro beschriebene Villa produziert für urbane Luxusmärkte.18 Besonders interessant in Hinsicht auf Xenophons Oikonomikos sind Diederichs Beobachtungen zu Dialogizität, Ironie und Humor bei Varro. Der dialogische Aufbau imitiert die mündliche Wiedergabe agrarischen Wissens von Generation zu Generation. Die Dialogizität lockert den trockenen Stoff auf und gibt ihm zwanglos Struktur: Das Auftreten eines neuen Gesprächspartners etwa markiert einen neuen Sinnabschnitt. Ironie und Witz lockern das Fachgespräch ebenfalls auf. Zugleich kaschieren sie die Belehrungssituation: „Denn Varro schreibt für eine landaristokratische Oberschicht von ‚Peers‘, denen er nicht als Schulmeister gegenübertreten kann, ohne sie zu brüskieren.“ Die Ironie signalisiert außerdem, dass Autor und Rezipienten zur gleichen durch Habitus und Bildung abgegrenzten Schicht gehören.19 Dialogizität und Witz bewahren den Autor schließlich davor, sich im Dilemma von Moral und Gewinn eindeutig positionieren zu müssen: „Die Entscheidung bleibt für den Leser offen – einschließlich der Möglichkeit eine (nahe liegende) Kompromisslösung zwischen Ideal und Realität zu finden.“20 Der Humor schafft also zugleich schützende Distanz und besondere „Unmittelbarkeit“ der Darstellung.21 Die folgende Analyse der literarischen Gestaltung entwickelt in Anknüpfung an Diederich ein ähnliches Argument zur Erklärung von Dialogizität, Witz und Ironie in Xenophons Oikonomikos.
16 17 18 19 20 21
Föllinger 2005, 225 f.; 2013, 34. Diederich 2005, 271–276. Diederich 2005, 279–281. Diederich 2013, 275–285. Diederich 2013, 288 f. Diederich 2013, 290 f.
149
5.1 Xenophon: Dialog und Witz
5.1.1 Der dialogische Aufbau des Oikonomikos Die zwei Hauptdialoge zwischen Kritobulos und Sokrates und zwischen dem ‚jüngeren Sokrates‘ und Ischomachos (strenggenommen ein Gesprächsbeitrag des ersten Dialogs) enthalten wiederum eine Reihe kürzerer Dialoge, die von einem der Gesprächspartner als vergangene Begebenheiten geschildert werden (Tab. 1). Sokrates berichtet im Kritobulos-Dialog von einem Gespräch des spartanischen Feldherrn Lysander mit einem Gastfreund in Megara, bei dem Lysander wiederum von einem Gespräch mit dem persischen Thronprätendenten Kyros dem Jüngeren erzählt.22 Im IschomachosDialog berichtet Ischomachos davon, wie er seine junge Ehefrau nach der Heirat im Zwiegespräch in ihre Aufgaben einwies.23 Dieses Gespräch ist asymmetrisch: Ischomachos belehrt, seine namenlose Frau bestätigt oder stellt kurze Nachfragen. Auch in diesem Dialog wird wiederum auf frühere Gespräche verwiesen. Ischomachos erzählt seiner Frau, ebenso wie ihre Mutter sie gemahnt habe im Haushalt Vernunft walten zu lassen, habe sein Vater einst ihn gemahnt.24 Etwas später berichtet er davon, wie er den Bug-Maat eines phönizischen Handelsschiffs zur Ordnung auf dem Schiff befragte.25 Schließlich werden belehrende Gespräche mit Verwalter und Verwalterin erwähnt, allerdings ohne direkte Rede.26 Tabelle 1 Die Dialog-Ebenen in Xenophons Oikonomikos 0.
(Xenophon, Ohrenzeuge des Sokrates – Rezipient des Textes)
1.
Kritobulos – Sokrates (schweigender Zuhörer: Xenophon)
2.
Sokrates – Megarischer Gastfreund (nur erzählte Zwischenstufe)
Sokrates – Ischomachos
3.
Megarischer Gastfreund – Lysander
Ischomachos – Ehefrau des Ischomachos
Lysander– Kyros (der Jüngere)
Ischomachos – Vater des Ischomachos
4.
22 23 24 25 26
Xen. oik. 4.25. Oik. 7–8. Oik. 7.15. Oik. 8.15 f. Oik. 8.10, 9.10, 12.3 f.
Ischomachos’ Ehefrau – Mutter der Ehefrau
Ischomachos – Maat des phönizischen Schiffs; – Aufseher – Aufseherin
150
5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
Diese eingeschobenen Dialoge lockern das Hauptgespräch auf und führen immer wieder neue Zeugen für die gleichen Grundlehren vor. Kurzweiligkeit und Anschaulichkeit werden verstärkt, indem mit den Personen auch der Schauplatz wechselt: von Athen nach Megara, von dort in einen persischen Königsgarten, in dem Kyros von eigener Hand Bäumchen pflanzt. Von der Säulenhalle des Zeus Eleutherios an der Athener Agora, an der Ischomachos auf Gastfreunde wartet, durch die Räume seines prächtigen Hauses, bis in den Laderaum eines phönizischen Schiffes mit gut verzurrter Ladung. Die dialogische Form erlaubt eine zwanglose Gliederung des Stoffes. Der Dialog mit dem jungen Kritobulos fungiert als Einführung, in der Begriff und Zweck der Haushaltsführung bestimmt werden und die Notwendigkeit der Belehrung festgestellt wird. Das bereitet den Auftritt des Lehrers Ischomachos vor, der die restlichen gut zwei Drittel des Gesprächs darauf verwendet, die Prinzipien der Haus- und Landwirtschaft darzulegen. Die Schilderung des Gesprächs zwischen Ischomachos und seiner Ehefrau (7.10–10.13) erlaubt es, die Aufgaben der Ehefrau in einem Gespräch unterzubringen, das zwischen Männern über vorbildliches männliches Verhalten geführt wird. Der komplexe Aufbau dient nicht nur der Abwechslung und Gliederung des Stoffes. Er transportiert zugleich eine Mitteilung über das Wissen, das die Schrift vermitteln will. Die Haushaltskunst ist ein Fachwissen, das im Beisammensein von Freunden oder Verwandten mündlich weitergegeben wird.27 Dabei ist derjenige, der das Wissen weitergibt, selbst eine vorbildliche Verkörperung des Wissens, das er weitergibt.28 Ischomachos wird als Musterbeispiel eines „edlen und guten Mannes“ (καλός τε κἀγαθὸς ἀνήρ) eingeführt,29 der diesen Ruf während des Gesprächs mit Sokrates performativ bestätigt, indem er bei der Agora ausdauernd auf seine Gastfreunde wartet, weil er ihnen sein Wort gab.30 Weitere exemplarische Figuren sind Kyros der Jüngere und der spartanische Feldherr Lysander, die als König resp. Feldherr über Zweifel mangelnder Männlichkeit und Tatkraft erhaben sind.31 Die Weitergabe des Wissens entspricht der Abfolge der Generationen. Stets belehrt der ältere Mann den jüngeren, der Vater den Sohn, die Mutter die Tochter. Der junge Kritobulos wendet sich an Sokrates, Sokrates hat sich als junger Mann einst an Ischomachos gewendet, der wiederum von seinem Vater belehrt wurde und bemüht ist, dessen Vorbild zu folgen und später seine Kinder 27 28 29 30 31
Vgl. Reuthner 2006, 126 f.: „Die komplizierte Struktur des Dialogs lässt daher vermuten, dass die Hauptform der Unterweisung für Männer wie für Frauen das belehrende Gespräch war.“ Vgl. Föllinger 2006, 11–15. Xen. oik. 6.12–17, 11.1. Oik. 7.1. f. Die Exemplarität von Kyros den Jüngeren, dem glücklosen Thronprätendenten war allerdings nicht über jeden Zweifel erhaben; wohl nicht umsonst rückt Xenophon ihn in die Nähe seines Namensvetters und Vorfahren Kyros den Älteren, den legendären Gründer des persischen Großreichs; vgl. Pomeroy 1994, 237–252 zur Figur des Kyros im Dialog.
5.1 Xenophon: Dialog und Witz
151
im Geiste seines Vaters erziehen will.32 Xenophon erzählt seinem Leser, was er einst im Gespräch mit Sokrates selbst gehört haben will, wie es im ersten Satz heißt, der wie das Wachrufen einer Erinnerung im Gespräch klingt.33 Der dialogische Aufbau ahmt also die Autoritätsstrukturen der häuslichen Wissensvermittlung nach, die der häuslichen Autorität im Allgemeinen entsprechen: Sie ist patriarchal und personalistisch-performativ.34 Durch die Verschachtelung der Dialogebenen knüpft Xenophon eine generationenüberspannende Kette, die von Ischomachos’ Vater, der zu Beginn des 5. Jhs. geboren wurde, hinabreicht bis zu den Rezipienten Xenophons im zweiten Viertel des 4. Jhs., fünf Generationen später.35 Xenophons Formulierungen sind gekennzeichnet von Anschaulichkeit, Kontrastierung und Wiederholung, typischen Merkmalen mündlicher Belehrung, und interpunktiert durch Götteranrufungen, die den Gesprächscharakter unterstreichen.36 Gleich zu Anfang treten die Laster (Trinksucht, Spielsucht) als personifizierte „Herrinnen“ auf.37 Die Anschaulichkeit der Personifizierungen wird durch Antithese und Umkehrung verstärkt. Diejenigen, die ihnen verfallen sind, eigentlich selbst Hausherren, werden zu Knechten. Parallel aufgebaute, schroffe Gegensätze markieren immer wieder das zu Befolgende und das zu Meidende: Die „nützlichen Dinge“ sind „Besitztümer“, die „schädlichen Dinge“ sind „Verlust“.38 Im dritten Kapitel werden Beispiele in einer chiastischen Gegenüberstellung von zwei Arten von Hausherren (τοὺς μέν – τοὺς δέ) aneinandergereiht: Die Einen bauen mit viel Geld unbrauchbare Häuser, die Anderen mit wenig Geld brauchbare Häuser. Die Einen haben viel Hausrat, doch finden nicht, was sie brauchen, die Anderen besitzen weniger, aber finden gleich, was sie brauchen. Die Einen werfen alles in Unordnung hin, die Anderen halten Ordnung. Beim Einen laufen die Sklaven trotz Fesseln davon, beim Anderen arbeiten sie freiwillig. Die Einen gehen durch die Landwirtschaft zugrunde und leiden Mangel, die Anderen haben durch sie Überfluss und alles, was sie benötigen.39 Das Prinzip der Effizienz durch gute Leitung, die Quintessenz haushälterischen Wissens, wird nicht abstrakt formuliert, sondern als einprägsamer Gegensatz unfähiger und fähiger Hausväter repetitiv vorgeführt. Die Anschaulichkeit wird durch die wiederholte Wendung verstärkt, Sokrates werde Kritobulos entsprechende Personen „zeigen“ (ἀποδεικνύω, 32 33 34 35
36 37 38 39
Die Erziehung der zukünftigen Kinder: Xen. oik. 7.12; dem Vater nacheifern: 20.25–27. Oik. 1.1. Vgl. Hobden 2017, 165 f. zu den häufigen Verben des Sehens und Wahrnehmens im Oikonomikos. Eine gestalterische Parallele ist ein kurzer Dialog in der Kyrupädie, 1.6,7 f.; der junge Kyros wird von seinem Vater gefragt, ob er etwa eine frühere Unterredung vergessen habe, in welcher er dem Sohn eingeschärft habe, seine Hausgenossen gut zu versorgen; Kyros antwortet, er erinnere sich (– „bei Zeus!“ –) an die Worte des Vaters und stimme ihnen zu. Etwa Xen. oik. 2.2–9; Meyer 1975, 96 zählt 61 Anrufungen; vgl. Strauss [1970] 1998, 163–166 und Pomeroy 1994, 28 f. Xen. oik. 1.18–23. Oik. 1.8: τὰ ἑκάστῳ ὠφέλιμα κτήματα καλεῖν … τὰ δέ γε βλάπτοντα ζημίαν. Oik. 3.1–5.
152
5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
ἐπιδεικνύω). Die Wiederholung unterstreicht den adhortativen Charakter der Schrift: Sie vermittelt kein neuartiges Wissen, sondern mahnt zur Beherzigung bekannter Prinzipien.40 Xenophon bedient sich noch weiterer Mittel, um den Ton einer traditionellen Belehrung nachzuahmen: etwa der scherzhaften Anekdote (Nikias und sein Pferd)41 oder des bildhaften Sprichworts („das Auge des Herrn macht das Pferd fett“).42 Der Tiervergleich der guten Ehefrau mit der Bienenkönigin rückt den Oikonomikos in eine bis zu Hesiod zurückreichende Tradition.43 Diese Elemente sind mehr als nur Überreste einer älteren Tradition oder archaisierender Schmuck. Xenophon gibt ihnen neue Funktionen entsprechend ihrer neuen literarischen Verwendung. Die Wiederholung von Exempla für die Notwendigkeit der epimeleia ist zugleich eine Inhaltsangabe des folgenden Ischomachos-Dialogs: 1) Anlage des Wohnhauses; 2) Ordnung des Hausrats; 3) Behandlung der Sklaven; 4) Bestellung der Felder und Bäume. Die PferdAnekdote rechtfertigt scherzhaft, wieso ausgerechnet Sokrates trotz seiner Armut und seines Desinteresses an Erwerb und Haushaltsführung Sprecher eines Dialogs über diese Themen ist. Und aus den ausführlichen Katalogen von Frau-Tier-Vergleichen bei den archaischen Dichtern greift sich Xenophon nur die Biene und ihr Gegenstück, die untätige Drohne, heraus. Angesichts eines gebildeten Publikums reichte der knappe Verweis, während eine vollständige Wiederholung den Argumentationsgang unterbrochen hätte. Kommen wir zur Auswahl der Figuren. Sokrates, dessen Haushaltung berüchtigt war, verspricht Kritobulos, ihn mit Personen bekannt zu machen, die Fachleute der Haushaltung seien. Er löst dieses Versprechen indirekt ein, indem er sein früheres Gespräch mit Ischomachos nacherzählt.44 Wenn Kritobulos schweigt, als Sokrates anfängt vom Gespräch mit Ischomachos zu erzählen und in diesem Gespräch wiederum der junge Sokrates selbst kaum zu Wort kommt, so ist das keine Nachlässigkeit des Verfassers. Es entspricht einer traditionellen Norm, die Xenophon guthieß:45 Die Jüngeren haben zu schweigen, während die Älteren sprechen. Ischomachos ist als Figur des Lehrers sorgfältig ausgewählt.46 Der Athener, in den 460er-Jahren geboren und 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. die repetitive Aufzählung sorgloser Landwirte in oik. 20.4. Oik. 11.4 f. Oik. 12.20; [Aristot.] oec. 1, 1345 a 1–5 und bei [Plut.] de lib. educ. 9d; Breitenbach 1967, 1859: „sicher ältere Anekdote“. Hes. theog. 594 f.; Semon. fr. 7 West, 83; Phok. 2 Diehl (= Stob. 4.22,192): ἡ δὲ μελίσσης οἰκονόμος τ’ ἀγαθὴ καὶ ἐπίσταται ἐργάζεσθαι; dazu Breitenbach 1967, 1852; zum sozialen Kontext der FrauTier-Vergleiche in der archaischen Dichtung vgl. Seelentag 2014. Sokrates sagt selbst, er werde Kritobulos Leute „zeigen“ (δείξω), die in Fragen der Haushaltsführung „tüchtiger“ (δεινοτέρους) seien als er selbst, Xen. oik. 2.14–16; vgl. Pomeroy 1994, 29 f., Danzig 2003, 71; Föllinger 2005, 224 f.; 2006, 11–13. Vgl. Xen. mem. 2.3,15; symp. 3.12. Vgl. Davies 1971, 265–268, der PAA 542570, 542575 und 542585 gleichsetzt, aber von 542590 und 542595 unterscheidet; so bereits Breitenbach 1967, 1848 f.; dem folgt Nails 2002, 176–178.
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zwischen 413 und 404 verstorben, war noch im 4. Jh. legendär für seinen Reichtum.47 Vom Komödiendichter Kratinos wurde Ischomachos als geizig und gierig verspottet. Das ist nicht schmeichelhaft, klingt jedoch wie eine negative Spiegelung von Xenophons Bild des sparsamen und erwerbstüchtigen Hausvaters.48 Über Ischomachos’ Herkunftsfamilie gibt nur der Oikonomikos die Auskunft, bereits Ischomachos’ Vater habe gewinnorientierte Landwirtschaft betrieben.49 Mit der Verheiratung seiner Tochter an Kallias III. gelang es Ischomachos, ein Heiratsband zu einer der angesehensten Familien zu knüpfen. Ischomachos war demnach wohl ein Mann, dem der wirtschaftliche Erfolg seines Hauses zu sozialem Aufstieg verhalf.50 Schließlich galt Ischomachos Anfang des 4. Jhs. als Bekannter des Sokrates.51 Ischomachos war also eine ideale Dialogfigur im Sinne Xenophons. Ein zu Geld gekommener Erwerbsmann, der sich gleichwohl der wahren Philosophie zuwendet. Wie aber passt zu dieser Erfolgsgeschichte, dass Andokides im Jahr 400 oder 399 vor Gericht Ischomachos’ Witwe Chrysilla die Monstrosität vorwerfen konnte, der eigenen Tochter den Ehemann – Kallias – abspenstig gemacht zu haben, während Lysias wiederum wenige Jahre später als stadtbekannt voraussetzen konnte, dass Ischomachos’ Söhne nur einen Bruchteil des väterlichen Vermögens geerbt hatten, vielleicht weil besagter Kallias als Vormund das Vermögen veruntreut hatte?52 Mit Bezug auf die Witwe hat Fiona Hobden überzeugend argumentiert, dass es ein Fehler wäre, den Bericht des Andokides, der auf Chrysilla zielte, um seinem eigentlichen Gegner Kallias zu treffen, für bare Münze zu nehmen. Für das Zusammenleben mit der Schwiegermutter und sogar für eine Ehe (wenn sie nicht frei erfunden war) könnten sich angesichts der Belastung durch den Peloponnesischen Krieg und etablierter Strategien zum Vermögenserhalt weniger skandalöse Erklärungen finden als Andokides sie vorbringt.53 John Stevens und Gabriel Danzig haben plausibel angenommen, dass Xenophon die
47 48 49 50 51 52 53
Vgl. die Erwähnung in Lys. 19.47 f. im J. 388/7. Kratin. fr. 365 PCG (= Athen. 1.8a); dazu Davies 1971, 267 und Nails 2002, 177. Xen. oik. 20.24–26. Jeweils abweichende Deutungen dieser Heiratsallianz bei Pomeroy 1994, 83 (Aufstieg) und Nails 2002, 177 (Geldnot). Aischin. Sokr. fr. 91 Giannantoni (= Plut. Mor. 516c); zur Interpretation Davies 1971, 267. Die Vorwürfe gegen die Witwe bei And. 1.124–128; zum geringfügigen Erbe vgl. Lys. 19.46 und fr. 89 Carey (= P. Oxy., sp. 2, 8–11) mit Davies 1971, 268 zur Vormundschaft. Hobden 2017, 168–173, die sich damit gegen frühere Deutungen wendet, die alle Andokides’ Darstellung akzeptieren: Harvey 1984 vermutet, der Oikonomikos sei der Versuch einer Ehrenrettung angesichts des Skandals gewesen; Mackenzie 1985 und Nails 1985 sehen im Skandal einen Beleg dafür, dass Xenophons Oikonomikos ein ironischer Scherz auf Kosten des Ischomachos gewesen sei; ähnlich Stevens 1994, 217–223; Pomeroy 1994, 261–264 bietet zwei andere Erklärungen, die auf die Unterstellung von Ironie verzichten: 1) Xenophon wusste nichts von diesem Skandal, weil er Athen vor Andokides’ Prozess 400/399 verlassen hatte; 2) Xenophon entschied sich dafür, Ischomachos und seine Frau vor dem Skandal als Teil eines früheren, besseren Athen zu zeigen; Pelling 2000, 244 f. lehnt die Deutung als ironischen Scherz zwar ab, erwägt allerdings, dass Xenophon hier bewusst Ambivalenz schuf.
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Nachgeschichte des Vermögensverlusts bewusst war und sie als implizite Warnung an seine Leser verstand. Xenophon habe verdeutlichen wollen, dass Ischomachos’ Orientierung an materiellem Gewinn nicht nur weniger gut sei als eine wahrhaft sokratische Lebensführung, sondern auch weniger verlässliche Erfolge hervorbringe.54 Stevens oder Danzig erklären allerdings nicht, warum Xenophon eine so zentrale Aussage, die seine positive Darstellung des Ischomachos gründlich konterkariert hätte, so versteckt formuliert haben sollte. Weniger voraussetzungsvoll erscheint mir die Annahme, dass bei der Wahl der Figur des Ischomachos zwar eine Warnung mitgedacht war, diese aber die Hauptaussage des Textes nicht konterkarierte, sondern bekräftigte – eine ähnliche Lösung hat Simon Goldhill für das Problem der ‚lasterhaften Witwe‘ vorgeschlagen.55 Die Botschaft, die Ischomachos predigt, ist, dass der Erfolg des Haushalts auf der unablässigen Fürsorge des Hausherrn beruht. Diese Botschaft wird durch das Schicksal seines eigenen Hauses bestätigt: Kaum fehlt der Hausherr, geht das Vermögen (und die Tugend der Ehefrau?) wieder verloren. Akzeptiert man die Identifikation der literarischen Figur mit der historischen Person, dann war die Figur des Ischomachos zugleich Warnung und Ansporn. Die Figur des Kritobulos ist ebenfalls sorgfältig ausgewählt. Er ist der Sohn von Kriton, also jenes Mannes, der zwar einerseits kommerzielle Landwirtschaft betrieb, andererseits jedoch an echter philosophischer Bildung interessiert war (s. Kap. 4.1.1). Kriton vereint wie Ischomachos praktische (d. h. erwerbende) Tüchtigkeit mit Liebe zu höherer Weisheit. Sein Sohn Kritobulos hat demnach beste Anlagen und muss diese nun zu nutzen lernen. Im Symposion und im Oikonomikos stellt Xenophon ihn als Mann dar, der mit der Heirat die Schwelle vom jungen Mann (νέος) zum Hausvater übertreten hat und jetzt gemahnt wird, von den Lustbarkeiten der im Reichtum verlebten Jugend abzulassen.56 Xenophon selbst war, falls die Schrift tatsächlich Ende der 360er-Jahre fertiggestellt wurde, mit 60 Jahren in einem Alter, in dem hausväterliche Mahnungen erlaubt waren. Seine Söhne (von denen der ältere, Gryllos, allerdings 362 starb) waren dann ungefähr in Kritobulos’ Alter. Das bedeutet nicht, dass Xenophon die Schrift insgeheim an seine Söhne richtete. Es bedeutet, dass Alter und Kinder ihm erlaubten, die literarische Rolle des väterlichen Mahners einzunehmen, ohne sich lächerlich zu machen.57
54 55 56 57
Stevens 1994; Danzig 2003, 71–73. Vgl. Goldhill 1995, 141 mit Verweis auf die Feststellung von Murnaghan 1988, 12–14, dass Xenophon die Tugend der Ehefrau lediglich als Funktion der Tugend ihres Ehemanns und daher grundsätzlich fragil darstellt. Xen. symp. 4.12–28; oik. 3.7 f.; dazu Meyer 1975, 93 f.: „Es begegnet uns das konstante Bild des mondän-vornehmen jungen Herrn aus reichem Hause“. Eine ähnliche Rolle nimmt Xenophon in der Schrift über die Reitkunst ein, die er an seine „jüngeren Freunde“ (τοῖς νεωτέροις τῶν φίλων) richtet, Xen. equ. 1.1.
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5.1.2 Witz und Humor im Oikonomikos Die These, der Oikonomikos sei eine literarisch stilisierte väterliche Mahnung, passt auf den ersten Blick schlecht zu den vielen über den Text verstreuten humoristischen Einwürfen.58 Sokrates bedient sich immer wieder der Übertreibung, der Ironie und des Paradoxes. Er bringt Kritobulos und Ischomachos damit zum „Lachen“, und diese antworten immer wieder, Sokrates „scherze“ wohl. Gerade bei wichtigen Argumenten wird die Ernsthaftigkeit der Belehrung durch eine komische Bemerkung gebrochen. Die Überlegungen zum Zweck der Hauswirtschaft etwa beginnen mit der paradoxen Feststellung, Kritobulos erleide schlimmere Armut als Sokrates, weil er reich sei.59 Als Sokrates dem Kritobulos vorschlägt, er solle für das Erlernen der Hauswirtschaft ebenso viel Aufwand treiben wie für den Besuch von Komödienaufführungen, meint dieser, Sokrates halte ihn wohl für „lächerlich“ (γέλοιος).60 Als Expertin für die Aufgaben und die Erziehung der Ehefrau nennt Sokrates ausgerechnet Aspasia, die berühmte Konkubine des Perikles.61 Als paradoxer Scherz wird auch die Erziehung der Frau zur geschlechtsspezifischen Normerfüllung beschrieben. Die Frau werde wegen der Erziehung durch ihren Ehemann eine so erfolgreiche Hausmutter, dass sie im Alter eben jenen Ehemann selbst beherrsche.62 Die komödienhafte Inversion der Geschlechterverhältnisse wird fortgeführt, wenn Ischomachos erklärt, er übe sich in der Redekunst, sooft er sich zuhause vor seiner Frau wie vor Gericht verteidige.63 Neben Übertreibung und Umkehrung tritt die Ironie. Sokrates ironisiert etwa Ischomachos’ Behauptung, jeder kenne die Prinzipien der Landwirtschaft und müsse sich ihrer nur erinnern, indem er sich fragt, ob er dann auch wisse, wie man Gold gießt oder die Flöte spielt.64 Der stärkste Einsatz von Ironie erfolgt am Ende des Dialogs an heikler Stelle. Ischomachos lobt seinen Vater als Landwirt, der dank steter Fürsorge Gewinn aus der Landwirtschaft zog, indem er vernachlässigte Landstücke kaufte und durch Investitionen aufwertete. Dazu befähigt habe ihn die „Liebe zur Landwirtschaft und zur Anstrengung“ (τὴν φιλογεωργίαν καὶ φιλοπονίαν), denn er sei der „landwirtschaftsliebendste“ (φιλογεωργότατος) aller Athener gewesen.65 Die pathetisch überhöhende Sprache signalisiert das Ende der Abhandlung über die Landwirtschaft und spiegelt einmal mehr die häuslichen Autoritätsverhältnisse: Der Vater ist das Vorbild des Sohns und wird von diesem ehrerbietig gelobt. Ausgerechnet hier interveniert Sokrates mit beißendem Spott. Er fragt nach, ob Ischomachos’ Vater nicht nur Land 58 59 60 61 62 63 64 65
Strauss [1970] 1998, 191 mit Anm. 6 zählt 18 Ausdrücke des Lachens und Scherzens. Xen. oik. 2.3. Oik. 3.7 f. Oik. 3.14. Oik. 7.42. Oik. 11.25. Oik. 17.10; 19.16. Oik. 20.25 f.
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gekauft, sondern auch verkauft habe. Als Ischomachos das bejaht, antwortet Sokrates, sein Vater sei also nicht weniger „landliebend“ gewesen als die Händler „getreideliebend“ (φιλόσιτοί) seien. Denn sie würden ihr Getreide ja ebenfalls nicht irgendwo verkaufen, sondern nur dort, wo es ihnen den höchsten Ertrag bringe.66 Ischomachos’ Antwort hebt hervor, dass Sokrates’ Einwurf ein Scherz ist, aber insistiert: „Du scherzt zwar, Sokrates, ich aber halte diejenigen für nicht weniger hausbauliebend, die Häuser nach dem Abschluss der Bauarbeiten verkaufen und danach andere bauen.“67 Wie passt diese ironische Brechung zur Annahme, der Dialog simuliere eine väterliche Mahnrede? Die humoristischen Einwürfe erfolgen zwar regelmäßig, aber sie wachsen sich nie zur Satire aus. Als kurze Einwürfe bringen sie Abwechslung in die Abfolge belehrender Monologe. Aber keiner der Witze wird zum eigentlichen Inhalt des Vortrags, stattdessen dienen sie dem ernstgemeinten Argument. Eine paradoxe Behauptung wie diejenige, der reiche Kritobulos sei in Wahrheit arm, stößt etwa die Entfaltung eines wichtigen Arguments über die Relativität des Vermögens an. Eine komische Übertreibung wie jene, Ischomachos’ Frau werde Ischomachos wegen dessen eigener Erziehung am Ende beherrschen, nimmt dem vorangegangenen Vortrag das Gravitätische. Es handelt sich bei Sokrates’ Witzen nicht um Ironie im strengen Sinn, d. h. um einen Gegensatz von Gesagtem und Gemeintem. Wenn es heißt, Sokrates scherze, so ist mit παίζειν nicht ‚spotten‘ gemeint, sondern eine spielerisch-humorvolle Behandlung des Stoffes, die diesen nicht vollends ins Lächerliche zieht: Es ist das ‚ernsthafte Spiel‘, σπουδαίως παίζειν, mit dem laut Xenophon Sokrates jenen nützlich war, die mit ihm Umgang pflegen.68 „Lächerlich“ käme sich Kritobulos höchstens dann vor, wenn er sich weigern würde, die Haus- und Landwirtschaft zu erlernen, die, wie es an anderer Stelle heißt, alles andere als zum Lachen ist.69 Wie die von Diederich analysierte Komik in Varros Dialog über die Landwirtschaft simulieren Witz und Ironie im Oikonomikos die Kommunikation unter Anwesenden innerhalb der Oberschicht, bei der man allzu angestrengten Ernst ebenso vermeidet wie die väterliche Belehrung von Standesgenossen. Die traditionelle Form der asymmetrischen mündlichen Belehrung im Haus wird also zugleich simuliert und gebrochen. Xenophons Einsatz von Komik entsprach den Kommunikationsregeln seiner Zeit. Platon hat das Scherzen mit ernster Absicht als literarisches und pädagogisches Mittel hochgehalten.70 Wenn man die eigenen Überlegungen überhaupt schriftlich niederlege, heißt es im Phaidros, dann als „Spiel“ (παιδιά).71 Aristoteles meint, eine angemessene 66 67 68 69 70 71
Oik. 20.26–28. Oik. 20.29: Σὺ μὲν παίζεις, ἔφη, ὦ Σώκρατες· ἐγὼ δὲ καὶ φιλοικοδόμους νομίζω οὐδὲν ἧττον οἵτινες ἂν ἀποδιδῶνται ἐξοικοδομοῦντες τὰς οἰκίας, εἶτ’ ἄλλας οἰκοδομῶσι. Mem. 4.1,1. Oik. 3.8; 13.4 f. Dazu ausführlich Guthrie 1975, 56–65; vgl. Plat. leg. 1, 643b–c; 7, 803c–d; rep. 4, 424e–425a für Spiel und Scherz als Mittel der Erziehung hin zum Ernst des Erwachsenenlebens. Plat. Phaidr. 276d.
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Prise Witz und die Fähigkeit, auch über sich selbst zu lachen, unterscheide den gesellschaftlich ‚Gewandten‘ (εὐτράπελος), der vornehm und gebildet ist, vom „Bäurischen“ (ἀγροίκος).72 Platon liefert mit der Figur des Kallikles im Gorgias ein Negativbeispiel dieser gesellschaftlichen Fähigkeiten. Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf diese Passage zu werfen, weil sie den Unterschied zwischen spielerischem Dialog in städtischer Öffentlichkeit und väterliche Belehrung im Haus illustriert. Kallikles mischt sich, nachdem er eine Weile zugehört hat, in die Dikussion über die Redekunst mit der Frage ein, ob Sokrates seine Ansichten dazu „ernst meine oder scherze“ (σπουδάζοντα ἤ παίζοντα). Sokrates antwortet darauf mit einer persönlichen Provokation.73 Kallikles reagiert nicht lachend wie Ischomachos im Oikonomikos, sondern wütend. Er wirft Sokrates vor, ein Blender und Schwätzer zu sein, und rügt die anderen Gesprächsteilnehmer dafür, Sokrates überhaupt in irgendeinem Punkt zugestimmt zu haben. Dann legt er seinen eigenen Standpunkt dar, den er als „wahr“ (ἀληθές) bezeichnet.74 Der Höhepunkt seines Wutausbruchs ist ein Angriff auf Sokrates und dessen Philosophieren. Wer die Philosophie „über das rechte Alter hinaus“ betreibe, bleibe unerfahren in dem, was ein Mann wissen müsse, „der edel, gut und angesehen“ (καλὸν κἀγαθὸν καὶ εὐδόκιμον) sein wolle „in privaten wie in öffentlichen Geschäften“, und mache sich, falls er sie dennoch betreibe, „lächerlich“ (καταγέλαστοι). Wie ein Hausvater unterstreicht Kallikles die Dringlichkeit seiner Mahnung, indem er sie in leichter Variation wiederholt: Als Jüngling oder junger Mann Philosophie „um der Bildung willen“ (παιδείας χάριν) zu betreiben, sei edel und nicht schändlich. Bei einem älteren Mann hingegen sei sie lächerlich, unmännlich und verdiene Schläge. Kallikles mahnt Sokrates zum Umdenken, wobei er sich selbst mit einem besorgten Bruder vergleicht (Hesiod!): Sokrates „kümmere sich nicht um das, um das er sich kümmern solle“ (ἐπιμελεῖσθαι), sondern entstelle sein edles Gemüt auf „jünglingshafte Weise“ (μειρακιώδει); erscheint ihm seine Lage nicht selbst „schändlich“ (αἰσχρόν)?75 Nach einem anschaulichen Beispiel für Sokrates’ Unerfahrenheit76 folgt ein eindringlicher Appell:77 Darum, du Guter, gehorche mir, hör auf zu lehren, üb’ im Wohlklang lieber dich von schönen Taten, in dem, wodurch du weis’ erscheinst, lass’ andern jetzt dies ganze herrliche, soll ich es Possenspielen nennen oder Geschwätz, weshalb dein Haus armselig, leer und verödet steht, und eifere nicht denen nach, die solche Kleinigkeiten untersuchen, sondern die sich Reichtum erwerben und Ruhm und vieles andere Gute. 72 73 74 75 76 77
Aristot. eth. Eud. 3, 1234 a 4–23; eth. Nic. 4, 1127 b 33–1128 b 9. Plat. Gorg. 481c–482c. Gorg. 482c–484c. Gorg. 484c–486a. Gorg. 486a–c. Gorg. 486c–d: ἀλλ’ ὠγαθέ, ἐμοὶ πείθου, παῦσαι δὲ ἐλέγχων, πραγμάτων δ’ εὐμουσίαν ἄσκει, καὶ ἄσκει ὁπόθεν δόξεις φρονεῖν, ἄλλοις τὰ κομψὰ ταῦτα ἀφείς, εἴτε ληρήματα χρὴ φάναι εἶναι εἴτε φλυαρίας, ἐξ ὧν κενοῖσιν ἐγκατοικήσεις δόμοις· ζηλῶν οὐκ ἐλέγχοντας ἄνδρας τὰ μικρὰ ταῦτα, ἀλλ’ οἷς ἔστιν καὶ βίος καὶ δόξα καὶ ἄλλα πολλὰ ἀγαθά. Übers. F. Schleiermacher.
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Kallikles gibt Sokrates hier eine hausväterliche Unterweisung, wie ein Bruder, wie er selbst sagt. In der Sache erinnert sie an die Belehrung von Kritobulos und dem jüngeren Sokrates bei Xenophon. Mit dem Übergang vom Knaben (μειράκιον) / jungen Mann (νεός) zum Hausvater ändern sich die normativen Erwartungen. Nun müssen die Zeitvertreibe der reichen Jugend der Sorge um Haus und Stadt weichen. Wie Xenophons Ischomachos betont Kallikles das epimeleisthai, die Fürsorge für das eigene Haus mit dem Ziel, das eigene Vermögen zu bewahren und zu vergrößern. In der Form jedoch weicht Kallikles ab. Im Unterschied zu Xenophons Ischomachos nimmt er gegenüber seinem Gesprächspartner auch im Tonfall die Rolle des Hausvaters ein. Ohne Witz, dafür mit der Autorität unumstößlicher Wahrheit und eindringlicher Wiederholung78 unterrichtet Kallikles Sokrates in barschem Ton. Er fordert Sokrates im Imperativ auf: „Gehorche mir!“ (ἐμοὶ πείθου) und legt nahe, dass Sokrates eine Tracht Prügel brauche. Während Kallikles sich die Rolle des Hausvaters anmaßt, weist er Sokrates diejenige des unmündigen Kindes zu, das er züchtigen darf.79 Kallikles meint, Sokrates mache sich lächerlich. In Wahrheit macht er sich selbst lächerlich, indem er zeigt, dass er die Regeln der Kommunikation in feiner Gesellschaft nicht beherrscht.80 Die Kontrastierung von Sokrates und Kallikles diente Platon auch dazu, einmal mehr den großen Unterschied zwischen Sokrates’ Ansichten und Verhaltensweisen und denen eines durchschnittlichen Mitglieds der athenischen Oberschicht vor Augen zu führen. Doch gerade am souveränen Umgang mit Sokrates’ provokanten Eigenwilligkeiten zeigt sich die wirkliche Verinnerlichung des ‚aristokratischen‘ Habitus von Selbstbeherrschung und elegantem Redegeschick. Xenophon, dessen Lehren von denen, die Kallikles für nützlich hält, nicht allzu weit entfernt sind, bedient sich wohlweislich des Witzes und der Ironie, damit seine Figuren zwar lachen, aber nicht lächerlich sind. 5.1.3 Sokrates der Ökonom? Die Untersuchung von Witz, Ironie und Dialogizität hilft auch, die oft festgestellte Merkwürdigkeit zu erklären, dass ausgerechnet Sokrates die Kunst der „Vergrößerung des Hauses/Vermögens“ (auxēsis oikou) lehren soll.81 Denn dafür scheint Sokrates ein ebensowenig geeigneter Gesprächspartner zu sein wie für die Landwirtschaft. Immer wieder wurde versucht, diese Merkwürdigkeit durch die Annahme einer zweiten, tie78 79 80 81
Die Aussage, dass nur die Jugend philosophieren solle, wiederholt Kallikles in ähnlichen Worten drei Mal; das Beispiel des Kindes, das Sprechen lernt, bleibt anders als Sokrates’ Vergleiche zu nah am Vergleichsobjekt, um erklärend oder auflockernd zu wirken. Zum Züchtigungsrecht des Hausvaters s. HAS, Bd. 2, s. v. Gewalt (W. Schmitz), sp. 1183–1186. Vgl. den Thrasymachos-Dialog in Plat. rep. 1, 335a–354c für eine ähnliche Inszenierung mangelnder Beherrschung verfeinerter Kommunikationsregeln. Vgl. Föllinger 2006, 9 f. mit älterer Literatur zu dieser Frage.
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feren Aussageebene des Oikonomikos zu erklären. Leo Strauss hielt den Oikonomikos für ein radikales Gedankenexperiment, die Darstellung von „an economics which is about to become pure chrematistics“.82 Carlo Natali meint, Xenophon habe den Dialog benutzt, um sich mithilfe seines „alter ego“ Ischomachos zum Lehrer seines eigenen Lehrers Sokrates aufzuschwingen. Gabriel Danzig hält zwar an der Identifikation von Ischomachos mit Xenophon fest, nimmt allerdings an, der Dialog solle insgeheim vorführen, dass Ischomachos’ Bemühungen um Wohlstand und guten Ruf „something pitiful and futile“ haben und der sokratischen Lebensweise unterlegen seien.83 Eine Zuspitzung dieser Interpretation ist Leah Kronenbergs These, der Oikonomikos sei eine Satire von Ischomachos’ oberflächlicher Orientierung an materiellem Gewinn, die der wahrhaft sokratischen Tugend gegenübergestellt werde.84 Weniger radikal ist die Idee, der Oikonomikos biete zwei Verstehensebenen: eine oberflächliche zur Kunst der Haushaltsführung und eine tiefer liegende philosophische zur wahren Tugend.85 In dieser letzten abgeschwächten Form ist die These eines intendierten Doppelsinns zu subtil, um widerlegt zu werden. Alle Thesen eines versteckten Hintersinns müssten allerdings erklären, warum Xenophon, der seine didaktischen oder apologetischen Absichten sonst deutlich formuliert hat,86 im Oikonomikos ein derart komplexes Spiel versteckter Aussagen getrieben haben sollte. Zu fragen wäre weiter, welche insgeheime Kritik hinter den vier Kapiteln des zweiten Buchs der Memorabilien stecken könnte, in denen Sokrates in Dialogen ebenfalls praktischen hauswirtschaftlichen Rat erteilt, die aber, soweit ich sehe, bisher nie unter Ironie-Verdacht geraten sind.87 Die These einer versteckten Kritik oder ausgeprägten Doppelbödigkeit ist deshalb nicht überzeugend.88 Sarah Pomeroy hat das Problem mit der Annahme gelöst, dass Xenophons Sokrates dem historischen näher sei als Platon und dieser historische Sokrates praktischen Fragen gegenüber aufgeschlossen gewesen sei.89 Es ist plausibel anzunehmen, dass der platonische Sokrates vom historischen abweicht. Aber warum sollte sich Xenophon nicht genau wie Platon den Sokrates geschaffen haben, der seinen didaktischen und
82 83 84 85 86 87 88
89
Strauss [1970] 1998, 203 f. Natali 2001, 287 f.; Danzig 2003, 71. Kronenberg 2009, 37–72. So Föllinger 2005, 226 und 2006, 22 f.; ähnlich Dorion 2008, 267–279. Vgl. die Einleitung der Kyrupädie, die dem Oikonomikos inhaltlich, formal und vermutlich chronologisch nah ist, Xen. kyr. 1.1. S. Kap. 4.1.1; vgl. Natali 2001, 270–278 und Dorion 2008, 255–263. Zu diesem Schluss kommt auch Hobden 2017, 162–164 in ihrer Diskussion entsprechender Erklärungsversuche und verweist auf die argumentative Funktion der ironischen Passagen und ihre Kohärenz mit den restlichen Aussagen des Oikonomikos. Sie weist ebd. 168–174 gegen Deutungen von Mackenzie 1985 und Nails 1985 überzeugend nach, warum die historische Person von Ischomachos’ Ehefrau Chrysilla kein Hinweis darauf ist, dass der gesamte Oikonomikos nur ein ironischer Scherz auf Kosten Ischomachos’ war. Pomeroy 1994, 30.
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literarischen Absichten entsprach? Im Folgenden soll deshalb nicht nach der Historizität von Xenophons Sokrates gefragt werden, sondern nach der argumentativen Funktion der Sokrates-Figur im Oikonomikos. Offensichtlich erwartete Xenophon selbst, dass man die Verbindung von Sokrates mit Hauswirtschaft abwegig finden könnte. Denn mehrere witzig gemeinte Passagen erinnern ausdrücklich an Sokrates’ bescheidene Erfolge als Hauswirt.90 Sokrates erhebt auch gar keinen Anspruch darauf, ein Vorbild guter Hauswirtschaft zu sein; er verspricht lediglich, Kritobulos mit einem solchen Vorbild, nämlich Ischomachos, bekannt zu machen, indem er ein früheres Gespräch nacherzählt.91 Die dialogische Form erlaubt es, mit Ischomachos ein Vorbild für Nutzenmaximierung und Gelderwerb vorzuführen und sich gleichzeitig als scherzender Sokrates von diesen nützlichen, aber moralisch fragwürdigen Fähigkeiten zu distanzieren. Wie oben ausgeführt wurde, kommt die Ironie am stärksten am Ende zum Einsatz, dort, wo Ischomachos’ Vater mit gewinnmaximierenden Händlern verglichen wird. Die scherzhafte Gleichsetzung von Landwirt und Händler schafft Distanz und macht zugleich unmissverständlich deutlich, dass hier eine kommerzialisierte Landwirtschaft zur Nachahmung empfohlen wird. Breitenbach hat geurteilt, dass die Ironie für Xenophon „der Ausweg [sei], mit der Aporie fertig zu werden, wie das eigentliche Thema der Schrift, die χρημάτισις oder αὔξησις τοῦ οἴκου mit der Person des Sokrates zu vereinen sei“.92 In einer Umkehrung dieser Beobachtung vertrete ich die These, dass Xenophons Ironie nicht Sokrates schützte, sondern der ironische Sokrates Xenophon, den Autor, schützte. Die Fokussierung auf eine gewinnorientierte Hauswirtschaft bei gleichzeitiger Distanzierung durch Witz und Dialogform entspricht dem sozialen Kontext des Oikonomikos. Er richtet sich an die athenische Oberschicht, die einerseits an einer Optimierung und Rationalisierung ihrer Hauswirtschaft interessiert ist, andererseits jedoch die Kommunikation darüber als unfein und moralisch anrüchig ablehnte. Xenophons lachende Hausväter gleichen Bourdieus lachenden Bischöfen, die kichern, wenn sie über die materielle Entlohnung geistlicher Würdenträger sprechen, weil zwischen der geistlichen Aufgabe und ihrem irdischen Fundament eine ideell unabgedeckte Lücke klafft.93 Die Figur des Sokrates signalisiert dem Rezipienten außerdem, auf welcher Abstraktionsebene die Hauswirtschaft behandelt wird. Wo Sokrates auftritt, zielt man auf die Herauspräparierung von Grundbegriffen und -prinzipien, nicht auf die Ausbreitung praktischer Details. Bereits zitiert wurde Breitenbachs Ansicht, dass die Passagen zur Landwirtschaft (Kapitel 15–20) nicht als missglückter Versuch einer technologischen Schrift zu verstehen seien. Xenophon folge im Aufbau zwar der Systematik
90 91 92 93
Vgl. den Hinweis auf den geringen Wert seines Vermögens, Xen. oik. 2.3, und die Anekdote über Nikias’ Pferd, 11.4 f. Föllinger 2006, 11–13. Breitenbach 1967, 1870. Bourdieu 1994, 200–209.
5.1 Xenophon: Dialog und Witz
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der Agrarhandbücher seiner Zeit; seine Verweise auf landwirtschaftliche Techniken dienten als Eklogen jedoch lediglich dazu, das Kernprinzip steter Fürsorge, epimeleia, zu veranschaulichen.94 Zu Beginn des Gesprächs stellt Sokrates klar, dass alle praktischen Ausführungen nur Beispielcharakter haben. Sokrates wählt die Pferdezucht als Beispiel für eine Kunst, deren Produkte sowohl im Gebrauch als auch zum Verkauf „nützlich“ seien.95 Kritobulos fragt daraufhin, ob Sokrates ihm empfehle, Fohlen zu züchten. Sokrates verneint das und fügt hinzu, er wolle ebensowenig eine spezielle Anweisung geben, Sklavenkinder zu kaufen und zu Landarbeitern auszubilden. Vielmehr wollte er andeuten, dass es „bei Pferden wie bei Menschen gewisse Altersgruppen zu geben“ scheine, „die unverzüglich einsetzbar und auch einer zunehmenden Verbesserung fähig sind“.96 Alle Spezifika sind im Oikonomikos nur Exempla des Allgemeinen. Als literarische Adaption häuslicher Unterweisung soll der Text einerseits den praktischen Nutzen des Unterrichts betonen und muss andererseits die Pedanterie eines Schulmeisters vermeiden. In diesem Sinne ist auch Xenophons Polemik gegen Autoren landwirtschaftlicher Lehrbücher zu verstehen, mit der er die Behandlung des Ackerbaus einleitet.97 Die auf sie folgenden Ausführungen über Bodenqualität, Saatgut, Dünger und Pflügen dienen nicht dem Zweck, ausführlich über die Landwirtschaft zu belehren, sondern im Gegenteil der Demonstration, dass solche ausführliche Belehrung gar nicht notwendig sei.98 Diese Abgrenzung gegen das theoretische Lehrbuch hat mehrere Funktionen. Zunächst dient sie der Selbstdarstellung. Xenophon/ Ischomachos referiert kein Buchwissen, sondern spricht aus persönlicher, praktischer Erfahrung. Er beschreibt nicht nur, was ein Hausherr, der ein kalos kagathos ist, wissen muss, er weiß es selbst und ist darum selbst einer. Die Fiktion, dass das praktische Wissen nicht vermittelt, sondern bloß in Erinnerung gerufen werden muss, ahmt den adhortativen Stil einer hausväterlichen Belehrung nach und distanziert sich zugleich von ihr, indem sie es bei spielerischer und theoretischer Betrachtung des Gegenstands belässt. Eine Distanz von mühsam erlerntem Fachwissen ist eine Distanz von unfeinem praktischen Erwerbswissen, für das Detailliertheit, ἀκρίβεια, kennzeichnend ist. Die Kunst / das Gewerbe (technē) der Landwirtschaft ist am edelsten, weil es am leichtesten zu erlernen ist, im Unterschied zu den verachteten handwerklichen Wissensformen.99 Als Autor einer Schrift über die technē der Haushaltsführung will sich Xenophon von jenen Fachleuten abgrenzen, die seit dem ausgehenden 5. Jh. Schriften verfassten, um ihr Fachkönnen anzupreisen.
94 95 96 97 98 99
S. Kap. 4.3.1. Xen. oik. 3.9. Oik. 3.9 f. Oik. 16.1. Oik. 16.2–7; 17.1–3; 18.1–15; 19.5–17. Oik. 18.10: ταύτῃ εἴη γενναιοτάτη ἡ γεωργικὴ τέχνη, ὅτι καὶ ῥᾴστη ἐστὶ μαθεῖν; vgl. 15.10–13; 18.5; 19.6.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
Xenophons wiederholte Behauptung, die Landwirtschaft müsse man nicht eigens erlernen, ist nicht dahingehend falsch zu verstehen, dass Xenophon die landwirtschaftliche Praxis nicht kannte oder dass er sie wirklich für einfach hielt. Sokrates’ Scherze dienen hier einmal mehr als Wegweiser.100 Xenophon macht außerdem deutlich, dass er die bespöttelten Fachbücher durchaus gelesen hat. Direkt im Anschluss an ihre Herabsetzung referiert er lobend ihre Meinung zur Wichtigkeit der Bodenqualität.101 Ihre Kenntnis beweist er auch dadurch, dass die Anordnung des Stoffes im Oikonomikos der Systematik der Agrarhandbücher genau folgt.102 Xenophon deutet seine Kenntnis agrarischer Handbücher an und setzt deren Kenntnis beim Leser voraus. Natürlich muss die Landwirtschaft eines Atheners, der seinen Besitz so effizient bewirtschaften will wie Ischomachos, technisch auf der Höhe der Zeit sein. Nur spricht man lieber über die hehren Grundprinzipien als über die ermüdenden Details, wenn man sich mit Kritobulos oder Ischomachos zum Gespräch bei der Säulenhalle des Zeus im Herzen Athens trifft. Die im Oikonomikos zur Schau gestellte Geringschätzung von Detailkenntnissen korrespondiert schließlich mit Veränderungen in der Haus- und Landwirtschaft während des 4. Jhs. Xenophons Annahme, dass der Hausherr selbst kein technisches Wissen besitzen müsse, entsprach der zunehmenden Arbeitsteilung in großen Haushalten. Der Hausherr überließ die täglichen Aufgaben einem Verwalter, der über das notwendige Fachwissen verfügte. Er selbst beschränkte sich auf die Rolle des Prinzipals, der nur die Grundprinzipien kennen und über die Fähigkeit der Personenführung verfügen musste, um die richtigen Anweisungen zu geben und ihre Ausführung kontrollieren zu können. Dieser Arbeitsteilung entspricht Xenophons Fokus auf die Ausbildung eines vertrauten Sklaven als Aufseher (dazu ausführlich Kap. 6.3.1). In diesem Sinne ist die Landwirtschaft tatsächlich nur Exempel für ein allgemeines Prinzip der Arbeitsteilung in der Hauswirtschaft. Denn nach demselben Schema konnte statt eines Landguts auch eine Werkstatt geleitet werden, bei der ebenfalls der Hausherr das Kapital zur Verfügung stellte, während ein in der Sache verständiger Verwalter die arbeitenden Sklaven beaufsichtigte (s. Kap. 12.3.4). Die Betonung der Verzichtbarkeit auf Detailkenntnisse adressiert zudem Personen, die von Haus aus keine landwirtschaftliche Erfahrung mitbringen. Zu dieser Gruppe gehörten nicht zuletzt kommerziell erfolgreiche Erwerbsleute, die ihren neuen Reichtum in Land investieren wollten. In diesem Sinn preist Xenophon denn auch den Ackerboden als ein Investitionsobjekt, das zugleich Geld- und Prestigegewinn bringt. Die Erörterung beginnt mit der Beurteilung des Bodens, weil es ihm genau wie den römischen Agronomen um den Kauf und die Entwicklung neuen Landes, nicht um
100 Oik. 18.9; vgl. 19.16. 101 Oik. 16.1. 102 Breitenbach 1967, 1865–1868.
5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung
163
die Pflege von ererbtem, geht.103 Diese Richtung des Interesses wird mit der Figur des Vaters des Ischomachos unterstrichen, der Land kauft und verkauft. Xenophons Oikonomikos, so das Fazit, ist an eine Oberschicht gerichtet, die sowohl aus alten, landbesitzenden Familien besteht, als auch aus Familien mit neuem Geld. Er ist bemüht, beiden Gruppen die Nützlichkeit seiner Unterweisung zu demonstrieren. Den alten Familien zeigt er auf, nach welchen Prinzipien sie den Ertrag ihrer Vermögen optimieren können. Den neuen führt er die Regeln ständischer Lebensführung vor. Die Landwirtschaft ist einerseits nur Beispiel für die Prinzipien der richtigen Haushaltsführung. Andererseits ist sie für Xenophon gerade deshalb lobenswert, weil sie das ‚Adelsdilemma‘ von Ehre und Gewinn bestmöglich auflöst. Landwirtschaft ist eine zugleich ehrbare und ertragreiche Betätigung. Die formale Gestaltung des Textes spielt dabei eine wichtige Rolle. Denn die dialogische, humorvolle Behandlung der Ökonomik führt demonstrativ vor, dass das Wichtigste nicht ist, was man weiß, sondern wie man darüber spricht. 5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung 5.2.1 Theoretisieren als soziale Praxis Wie der Oikonomikos ist Aristoteles’ Politik I nur ungefähr datierbar, die letzte Bearbeitung fällt wohl in die Jahre 336 bis 322.104 Auch bei Aristoteles empfiehlt es sich, eine Analyse seiner Ökonomik in Politik I in den Kontext des Gesamtwerks zu stellen, insbesondere der restlichen Bücher der Politik, sowie der Rhetorik und der Nikomachischen Ethik, die alle ungefähr im selben Zeitraum von Aristoteles geschrieben oder überarbeitet wurden.105 Es handelt sich bei diesen Texten bekanntlich nicht um ‚veröffentlichte‘ Trakate, sondern um offenbar mehrfach überarbeitete Manuskripte für den Schulgebrauch.106 Gleichwohl ist gegenüber einer textanalytischen Zerlegung selbst einzelner Werke wie der Politik107 die relative Einheit von Aristoteles’ Begriffen und Ideen zu betonen. Viele Widersprüche lassen sich auflösen oder abmildern, wenn man mit „interpretativer Nachsicht“ (Schofield) ihren speziellen Argumentationskontext berücksichtigt und eine gewisse Lässigkeit des Sprachgebrauchs in Rechnung stellt,
103 Vgl. Bresson 2016, 124. 104 Anagnostopoulos 2009b, 20 f. 105 Zur Datierung der Nikomachischen Ethik s. O. Gigons Einführung in der Tusculum-Ausgabe, 467 und Dirlmeier 1991, 249; zur Rhetorik s. Rapp 2002, 178–191. 106 Flashar 2013, 107; zur Politik s. Schütrumpf 1980, passim und 1991, 39–67, 71–119 zum Verhältnis von Politik und Gesamtwerk; zum nicht-öffentlichen Charakter der Texte vgl. Guthrie 1981, 49–65. 107 Zuletzt dezidiert Schütrumpf 1980, 264–286 und 1991, 55–67.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
der bei Aristoteles je nach Interessenschwerpunkt zwischen speziell ausgearbeiteten eigenen und allgemein gängigen Definitionen changiert.108 Anders als Xenophons Oikonomikos ist Aristoteles’ Politik I keine eigenständige Ökonomik im Sinne der Hausväterliteratur. Es ist vermutet worden, dass sie das ursprünglich war, bevor sie an den Anfang der Politik gestellt wurde.109 Allerdings gibt der Text selbst zu verstehen, dass sein Interesse an Haushalt und Haushaltsführung nur abgeleitet ist vom eigentlichen Interesse an der polis, jener spezifischen Einheit von Stadt und Bevölkerung, regierender Bürgerschaft und Gesellschaft.110 Um die polis als das Ganze zu verstehen, so Aristoteles, müsse man den kleinsten Teil, aus dem es zusammengesetzt ist, betrachten: den oikos.111 Aristoteles’ Politik I steht also mehr in der Tradition von Platons Verfassungsentwürfen als von Xenophons Äußerungen zur vorbildlichen Haushaltsführung. So gesehen überrascht nicht, dass Aristoteles der Haushaltsführung und Erwerbskunst nur einen untergeordneten Platz zuweist; überraschend ist, wie ausführlich er insbesondere Letztere behandelt. Stärker noch als bei Xenophon geht es Aristoteles dabei um die Theorie der Haushaltsführung anstatt um deren Praxis. Begriffe sollen richtig abgegrenzt, die letztgültigen Ziele des Handelns festgelegt und die naturgemäße Ordnung menschlichen Zusammenlebens ergründet werden. Diesem abweichenden Erkenntnisinteresse entspricht das Ungleichgewicht zwischen theoretischen und praktischen Gesichtspunkten. Der größte Teil von Politik I, die Kapitel 1 bis 10 in moderner Zählung, widmet sich der theoretischen Definition der oikonomia und ihrer Teilbereiche. Die Erörterung über die praktische Anwendung der Erwerbskunst beschränkt sich auf eine knappe Aufzählung relevanter Kriterien (erst wirtschaftlich, dann sozial) und den Verweis auf einige hilfreiche Schriften und Anekdoten in einem einzigen Kapitel (11). Diese Erörterung wird alsbald abgebrochen, um in den letzten beiden Kapiteln (12–13) die normativen Ergebnisse zu resümieren. Die Unterscheidung von Theorie und Praxis ist nicht bloß ein Prinzip der Disponierung des Stoffes. Sie entspricht einer sozial konnotierten Bewertung von Wissensformen, die in Aristoteles’ Schriften mehrfach wiederkehrt. Aristoteles’ allgemeinen Ausführungen zu Beginn der Metaphysik machen die Prinzipien seiner Bewertung besonders deutlich. Hier ordnet er drei Stufen des Wissens hierarchisch an: „Erfahrung“ (ἐμπειρία), „Fachkunst/Verständnis“ (τέχνη) und „Wissen(-schaft)“ (ἐπιστήμη). Jede Stufe setzt die Vorstufe voraus und wird jeweils höher bewertet.112 In Bezug auf „das praktische Handeln“ (τὸ πράττειν) sei die empeiria, „die Kenntnis des Einzelnen“, fast 108 Schofield 1990, 14 spricht von „interpretative charity“ (mit Bezug auf Aristoteles’ Theorie der Sklaverei); zu Aristoteles’ Methode allgemein s. Düring 1966, 226; vgl. Pellegrin 1982, 638–643 und Natali 1990, 296–300 zur Konsistenz seiner Begrifflichkeit. 109 So etwa zuletzt Roscalla 1992, 471; die These stützt sich u. a. darauf, dass bei Diog. Laert. 5.22 eine einbändige Schrift Peri oikonomias genannt wird; über ihren Inhalt ist nichts bekannt. 110 Koslowski [1974] 1993, 50; Winterling 2003, 68–72. 111 Aristot. pol. 1, 1252 a 18–21. 112 Met. 1, 981 a 2–4.
5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung
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notwendiger als die technē, die „Kenntnis des Ganzen“.113 Dennoch werde der τεχνίτης für weiser gehalten als der bloß Ausführende, weil er „die Ursache (αἰτίαν) kennt“. Aristoteles überträgt das Bewertungsschema auf die Träger des Wissens: „Meisterhandwerker“ (τοὺς ἀρχιτέκτονας) seien geehrter und würden für weiser erachtet als einfache Handwerker.114 Aristoteles fährt fort. Wer eine Kunst erfinde, werde für seine herausragende Weisheit bewundert, nicht dafür, dass sie „nützlich“ ist.115 Deshalb würden die Erfinder nicht-lebensnotwendiger Wissenschaften für weiser gehalten als die Erfinder von Künsten „für lebensnotwendige Dinge“ (πρὸς τἀναγκαῖα). Erst als alle lebensnotwendigen Künste erfunden waren, wurden diejenigen Wissenschaften entdeckt, die weder dem Genuss noch der Notwendigkeit dienen. Wie zuvor betont Aristoteles die soziale Konnotation. Diese reinen Wissenschaften wurden von der Priesterkaste in Ägypten entdeckt, „dort wo man zuerst Muße hatte“.116 Er fasst zusammen: Der Erfahrene ist weiser als die bloß Wahrnehmenden, der Fachverständige mehr als die Erfahrenen, der Meister mehr als der einfache Handwerker, „die theoretischen Wissensformen mehr als die produzierenden“ (αἱ δὲ θεωρητικαὶ τῶν ποιητικῶν μᾶλλον). „Weisheit“ (σοφία) aber ist das Wissen über die Anfänge und Ursachen.117 Diese Weisheit ist es, die Aristoteles und seine Schüler suchen und diese Weisheit bedeutet soziale Überlegenheit: „Dem Weisen wird nicht befohlen, er befiehlt, er gehorcht nicht, ihm wird gehorcht.“118 Je grundsätzlicher und zweckfreier die Wissenschaft ist, desto „freiheitlicher“ (ἐλεύθερος) ist sie: wie ein freier Mann dient sie nur sich selbst.119 Eine Bemerkung in der Rhetorik, also einem Text, der näher beim Alltagsverständnis liegt, belegt, dass wir es mit der Theoretisierung eines Gemeinplatzs zu tun haben. Dort heißt es knapp, diejenigen ‚Wissenschaften‘ seien „edler“, deren Gegenstand edler ist.120 Bestimmte Formen des Wissens sind Ausdruck der sozialen Stellung ihrer Träger: Für freie, müßiggehende, herrschende Männer ist die Suche nach theoretischer Erkenntnis angemessen. Das praktische Wissen um die Einzelheiten von Erwerb und Haushaltung wird nicht deshalb nicht thematisiert, weil es nicht existiert, oder weil es nicht notwendig wäre. Im Gegenteil. Gerade weil es notwendig und nützlich ist, ist
113 114 115 116 117 118
Met. 1, 981 a 12–17: ἡ μὲν ἐμπειρία τῶν καθ’ ἕκαστόν ἐστι γνῶσις ἡ δὲ τέχνη τῶν καθόλου. Met. 1, 981 a 24–b 2. Met. 1, 981 b 13–17. Met. 1, 981 b 17–25. Met. 1, 981 b 30–982 a 3. Met. 1, 982 a 17–19: οὐ γὰρ δεῖν ἐπιτάττεσθαι τὸν σοφὸν ἀλλ’ ἐπιτάττειν, καὶ οὐ τοῦτον ἑτέρῳ πείθεσθαι, ἀλλὰ τούτῳ τὸν ἧττον σοφόν. 119 Met. 1, 982 a 20–b 28. 120 Rhet. 1, 1364 b 7 f.: αἱ ἐπιστῆμαι καλλίους ἢ σπουδαιότεραι, καὶ τὰ πράγματα καλλίω καὶ σπουδαιότερα.
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das praktische Wissen der Ökonomik kein passendes Thema der oberschichtsinternen Kommunikation.121 Die sozial konnotierte Unterscheidung von edler Theorie und nützlicher Erfahrung begegnet in Politik I wieder:122 Da wir die zur Erkenntnis (τὴν γνῶσιν) dienenden Unterscheidungen hinreichend getroffen haben, ist es nun nötig, diejenigen für den Gebrauch (τὴν χρῆσιν) durchzugehen. In all diesen Dingen ist die Betrachtung zwar eine freiheitliche Sache, die Erfahrung dagegen eine notwendige (τὴν μὲν θεωρίαν ἐλευθέραν ἔχει, τὴν δ’ ἐμπειρίαν ἀναγκαίαν).
Aristoteles benutzt hier drei Gegensatzpaare: Das erste ist gnōsis – chrēsis: Die Kenntnis einer Kunst (der Erwerbskunst) und ihre Anwendung. Das zweite Paar, theōria – empeiria, theoretische Betrachtung und praktische Erfahrung, korrespondiert mit dem ersten Gegensatzpaar. Die Erkenntnis ist das ‚Produkt‘ der intellektuellen Auseinandersetzung mit Erwerbskunst, die praktische Erfahrung Produkt der praktischen Anwendung. Das dritte Paar, eleutheros – anankaios, „frei, freiheitlich“ und „notwendig“, bewertet die beiden geistigen Tätigkeiten und ihre Produkte. Die Theorie ist Ausdruck von Freiheit, die Praxis von Notwendigkeit. Der Ausdruck ‚freiheitlich‘ enthält eine ethische Wertung, die über den Rechtsbegriff hinausgeht. Später im Text bezeichnet Aristoteles das Wissen, das ein Sklave braucht, um seine Arbeiten zu verrichten als „sklavisches Wissen“ (δουλικαὶ ἐπιστῆμαί). Selbst das „Herren-Wissen“ (δεσποτικὴ ἐπιστήμη) über die Anleitung der Sklaven hält Aristoteles für „nicht würdig“, weil es letztlich ein Wissen über die notwendigen Aufgaben des Sklaven ist. Deshalb sollte der Herr nach Möglichkeit die Hausverwaltung einem unfreien Aufseher überlassen und sich der Politik oder Philosophie widmen.123 Die Assoziation zwischen Erfahrungswissen und Haushaltung und Erwerb findet sich wiederholt. In der Schilderung der Entwicklung des Tauschverkehrs heißt es, die schlechte Form der Erwerbskunst sei nicht naturgemäß, sondern entstehe eher „durch Erfahrung und Fachverständnis“ (δι’ ἐμπειρίας τινὸς καὶ τέχνης).124 Kurz darauf wird der Übergang vom Tausch von lebensnotwendigen Gütern zum gewinnorientierten Handel als Steigerung von „Erfahrung und Fachkönnen“ (δι’ ἐμπειρίας ἤδη τεχνικώτερον) geschildert.125 Die Bewertungsrichtung zwischen Wissen und Tätigkeit ist hier umgekehrt: Praktische Erfahrung und Fachwissen sind nicht schlecht, weil sie es mit Geld-
121
Zu dieser Distinktionsfunktion als Motiv der Entstehung philosophischer Prosaliteratur vgl. Asper 2007, 87 f.; zur Theorie der Distinktion durch ‚zweckfreie‘ Bildung vgl. Veblen [1899] 2007, 382 und Bourdieu [1979] 1987, 102 f. 122 Aristot. pol. 1, 1258 b 9–11: Ἐπεὶ δὲ τὰ πρὸς τὴν γνῶσιν διωρίκαμεν ἱκανῶς, τὰ πρὸς τὴν χρῆσιν δεῖ διελθεῖν. πάντα δὲ τὰ τοιαῦτα τὴν μὲν θεωρίαν ἐλευθέραν ἔχει, τὴν δ’ ἐμπειρίαν ἀναγκαίαν. 123 Pol. 1, 1255 b 30–37. 124 Pol. 1, 1257 a 4–5. 125 Pol. 1, 1257 b 3–4.
5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung
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geschäften zu tun haben: Vielmehr sind Geldgeschäfte schlecht, weil sie lediglich eine Sache von praktischer Erfahrung und Fachwissen sind. Wie in der Metaphysik betrachtet Aristoteles in Politik I den Abstraktionsgrad als Indikator für die Würdigkeit einer Wissensform. Seine kurzen Äußerungen zur Praxis der Erwerbskunst leitet er mit den Worten ein, er habe über jeden ihrer Aspekte „im Allgemeinen“ (καθόλου) gesprochen, „die Detailbetrachtung Teil für Teil“ (τὸ δὲ κατὰ μέρος ἀκριβολογεῖσθαι) sei zwar „nützlich für Erwerbstätigkeiten“ (χρήσιμον μὲν πρὸς τὰς ἐργασίας), aber die Beschäftigung damit φορτικόν – die Übersetzung mit „vulgär“ (oder: grobschlächtig) entspricht der Vermengung ästhetischer, moralischer und sozialer Gesichtspunkte in diesem pejorativen Attribut.126 Aristoteles verwendet das Attribut häufig bei Fragen des guten Stils und angemessener Kommunikationsthemen;127 seine Verwendung in Politik I signalisiert, dass es auch beim Thema Hauswirtschaft und Ökonomik nicht nur darum geht, was man tut, sondern wie man es tut und wie man darüber spricht. Im Sinne der hier formulierten Unterscheidung von notwendigen, aber unedlen, und edlen, ‚freiheitlichen‘ Tätigkeiten und Wissensformen trennt Aristoteles in der Eudemischen Ethik zwei Hauptgruppen von „Lebensweisen“ (βίων): Nämlich jene, die ganz auf das Lebensnotwendige gerichtet sind und es „mit den vulgären/protzenden Künsten/Gewerben und dem Gelderwerb und dem Handwerk zu tun haben“ (τῶν περὶ τὰς τέχνας τὰς φορτικὰς καὶ τῶν περὶ χρηματισμὸν καὶ τὰς βαναύσους) von denen, die es mit Philosophie, Politik oder Genuss (ὁ ἀπολαυστικός) zu tun haben.128 Wieder zeigt die Rhetorik, dass Aristoteles hier populäre Vorstellungen theoretisiert. Dort heißt es in der Definition von „Reichtum“ (πλοῦτος), dass die „ertragbringenden Besitztümer“, die Einkünfte bringen, „nützlicher“ seien, aber die Besitztümer, die „für den Genuss“ (τὰ πρὸς ἀπόλαυσιν) da sind und keinen zusätzlichen Ertrag bringen, „freiheitlicher“ (ἐλευθέρια) seien.129 Die Verbindung von Zweckfreiheit und Freiheitlichkeit aus der Metaphysik begegnet hier wieder, angewandt auf zwei Formen des Gebrauchs von Gütern, produktiv und konsumtiv. In Politik I überträgt Aristoteles dieses evaluative Schema der Formen der Güterverwendung auf das für den Gütergebrauch nötige Wissen. Dabei wendet Aristoteles die ethischen Maßstäbe des edlen Verhaltens, die er in seinen Schriften entwickelt, auf seinen Text selbst an. Das Schreiben, Lesen oder Hören philosophischer Texte ist nicht bloße Informationsvermittlung über das richtige Verhalten eines ‚freiheitlich‘ handelnden Edelmanns, es ist selbst Teil dieses Verhaltens. Es ist Teil der oberschicht126 127
128 129
Pol. 1, 1258 b 33–35. Vgl. die Verwendung des Wortes bei der Diskussion guter Manieren und feinen Humors, Aristot. eth. Eud. 3, 1234 a 4–23 und eth. Nic. 4, 1127 b 33–1128 b 9; in der Rhetorik wendet Aristoteles das Attribut auf die notwendige, aber unedle praktische Stil-Lehre als Ergänzung zur eher theoretischen Lehre über die Überzeugungsmittel an, rhet. 3, 1403 b 36 f. Eth. Eud. 1, 1215 a 26–b 5. Rhet. 1, 1361 a 16–19.
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sinternen Kommunikation und Zeichen wirtschaftlicher Abkömmlichkeit. Der Text hat damit eine performative Komponente: Wer theoretische Texte liest, hört oder diskutiert, die auf die aktive Teilhabe am städtischen Regiment vorbereiten, die fordern, ‚notwendige‘ Erwerbsangelegenheiten Untergebenen zu überlassen und sich stattdessen der Philosophie oder Politik zu widmen, tut eben dies demonstrativ. Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis hat demnach eine soziale Funktion. Sie wiederholt eine normative Trennung zwischen zwei Gruppen, die sich hierarchisch in ihrem Wissen und Handeln unterscheiden. Und sie weisen den Autor und seine Adressaten performativ der höherstehenden Gruppe zu. 5.2.2 Zitate als soziale Marker Aristoteles markiert seine inhaltliche Trennung von Theorie und Praxis durch intertextuelle Referenzen. Das erste wörtliche Zitat steht weit vorne im Text und verweist unspezifisch auf „die Dichter“ (οἱ ποιηταί): „Es ist wohlbegründet, dass Hellenen über Barbaren herrschen.“130 Die Pluralform suggeriert, dass die Wendung verbreitet war. Sicher überliefert ist sie nur bei Euripides.131 Das Zitat schließt einen Absatz ab, in dem Aristoteles ausführt, der Sklave unterscheide sich von Natur aus von der Frau, während das bei den Barbaren nicht gelte, weil alle Barbaren von Natur aus Sklaven seien.132 Zur Verschiedenheit von Mann und Frau und der männlichen Vorherrschaft kommt auch am Ende von Politik I mit Sophokles noch einmal ein großer Tragiker des 5. Jhs. zu Wort.133 Insgesamt dominieren jedoch Homer-Verse. Sie stehen Pate, um die ‚königsgleiche‘ Beherrschung der Haushalte durch die Männer und die Älteren,134 den natürlichen Gemeinschaftsbezug des Menschen135 und die Notwendigkeit der Sklavenarbeit zu begründen.136 Vor diesen Zitaten kommt allerdings an prominenter Stelle Hesiod. Er und zwei weitere archaische Autoritäten verleihen Aristoteles’ Definition des Hauses Gewicht:137
130 131 132 133 134 135 136 137
Pol. 1, 1252 b 7 f. Eur. Iph. A. 1400. Aristot. Pol. 1, 1252 b 9. Pol. 1, 1260 a 28–31, vgl. Soph. Ai. 293. Aristot. pol. 1, 1252 b 19–23, vgl. Hom. Od. 9.114 f.; Aristot. pol. 1, 1259 b 12–14, vgl. Hom. Il. 1.544. Aristot. pol. 1, 1253 a 1–5; vgl. Hom. Il. 9.63. Aristot. pol. 1, 1253 b 27–1254 a 1; 36 f. Pol. 1, 1252 b 10–15: ἐκ μὲν οὖν τούτων τῶν δύο κοινωνιῶν οἰκία πρώτη, καὶ ὀρθῶς Ἡσίοδος εἶπε ποιήσας „οἶκον μὲν πρώτιστα γυναῖκά τε βοῦν τ’ ἀροτῆρα“ ὁ γὰρ βοῦς ἀντ’ οἰκέτου τοῖς πένησίν ἐστιν. ἡ μὲν οὖν εἰς πᾶσαν ἡμέραν συνεστηκυῖα κοινωνία κατὰ φύσιν οἶκός ἐστιν, οὓς Χαρώνδας μὲν καλεῖ ὁμοσιπύους, Ἐπιμενίδης δὲ ὁ Κρὴς ὁμοκάπους. Übers. E. Schütrumpf; vgl. Epimenid. FGrH 457 F 2 mit dem Kommentar von F. Jacoby.
5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung
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Aus diesen beiden Verbindungen entsteht erstmals (πρώτη) der Haushalt, und zutreffend bemerkt Hesiod in seinem Dichtwerk (εἶπε ποιήσας): ‚Zuallererst das Haus, Frau und Pflugstier‘, denn der Stier vertritt bei den Armen den Sklaven. Die Gemeinschaft, die in Übereinstimmung mit der Natur zur Befriedigung der Alltagsbedürfnisse gebildet ist, ist der Haushalt, Personen, die Charondas ‚um den gleichen Brotkorb vereint‘ (ὁμοσιπύους), der Kreter Epimenides aber ‚um dieselbe Krippe vereint‘ (ὁμοκάπους) nennt.
Aristoteles hebt nicht den Inhalt von Hesiods Werken und Tagen hervor, obwohl das beim Thema Haushaltsführung nahe gelegen hätte. Stattdessen betont er ihre äußere Form: Dichtung.138 Die zwei anderen genannten Autoren lassen sich nur vermutungsweise identifizieren. Charondas ist wohl der legendäre Gesetzgeber des 7. Jhs. In klassischer Zeit kursierten Sammlungen ihm zugeschriebener Gesetze, die Aristoteles kannte. Hier zitiert er eine besonders altertümliche Wendung.139 Der Kreter Epimenides ist ebenfalls ein legendärer Weiser der archaischen Zeit, dem man in klassischer Zeit Schriften und Aussprüche zuschrieb.140 Beide zitierten Werke könnten in Versform verfasst gewesen sein.141 Das Hesiod-Zitat ist Gegenstand einer langen Forschungsdiskussion zur Überlieferung, denn Aristoteles lässt den bei Hesiod folgenden Vers fort, der fordert, die Frau solle gekauft, nicht geheiratet sein.142 Das Auslassen des Verses verrät jedoch nichts über den Text, der Aristoteles vorlag. Denn in gleicher Weise zitiert Aristoteles auch einzelne Verse von Homer oder Solon so, dass ein neuer, vom ursprünglichen Kontext abweichender Aussagesinn entsteht.143 Wichtiger als eine inhaltliche Übereinstimmung oder Auseinandersetzung mit den Altvorderen erscheint ihr alter, guter Name. Was ist die Funktion dieser zahlreichen Zitate, die, wenn man Charondas und Epimenides mitzählt, alle von Dichtern stammen? Drei Funktionen der Zitate lassen sich unterscheiden. Erstens dienen sie als Autoritätsargumente, indem sie die altehrwürdigen Dichter als Gewährsleute anführen. Alle zitierten Autoren gehörten im 4. Jh. zum Bildungskanon oder galten als Weise und Gesetzgeber (wie Charondas, Solon und Epimenides). Der einzige Zeitgenosse ist der Tragiker Theodektes, der zur Sklaverei zitiert wird.144 Die Ehre einer Zitation geht
138 139 140 141 142 143
Zitiert wird Hes. erg. 405. RE 3,2 (1899) s. v. Charondas 1), sp. 2180 f. (B. Niese). RE 6,1 (1907), s. v. Epimenides 4), sp. 173–178 (O. Kern). Vgl. BNJ 457 fr. 20 mit dem Kommentar von D. Toye ad loc. (zuletzt geprüft: 05.05.2016). Hes. erg. 406: κτητήν, οὐ γαμετήν; zur Diskussion zuletzt Canevaro 2015, 69. Vgl. Canevaro 2015, 52 f., 69 zu Hesiod-Zitaten bei Platon und Aristoteles; beim Homer-Zitat zum Gemeinschaftsbezug vertauscht Aristoteles Voraussetzung und Folgerung, Schütrumpf 1991, 210; beim Zitat von Solon, Aristot. pol. 1, 1256 b 30–33 (vgl. Sol. fr. 13 West (= 1 Diehl)) suggeriert Aristoteles, Solon habe den Reichtum für grenzenlos gehalten; im zitierten Gedicht verurteilt Solon aber selbst die Grenzenlosigkeit des Reichtumsstrebens. 144 Aristot. pol. 1, 1255 a 1–4.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
vielleicht auf Aristoteles’ persönliche Freundschaft zu ihm und seinen Sohn zurück.145 So, wie Aristoteles’ Ausführungen zu den anthropologischen Grundlagen von Haushalt und Hauswirtschaft allgemeingültig formuliert sind und die Ursprünge menschlicher Zivilisation betreffen, so formulieren die Dichterzitate allgemeine Aussagen und stammen von Autoren der Frühzeit. So, wie die alten Gesetzgeber Begründer guter Ordnung sind, sind Homer und Hesiod Begründer der Dichtung, die von der göttlichen und menschlichen Ordnung kündet. Die Dichtung erfüllt hier eine Funktion, die ihr Aristoteles in der Poetik zuschreibt, das Formulieren allgemeingültiger, zeitloser Einsichten.146 Die argumentative Funktion solcher Zitate beschreibt Aristoteles in der Rhetorik. Dort heißt es, man könne seine Argumentation mit „alten oder neuen [d. h. lebenden] Zeugen“ (μάρτυρές […] οἱ μὲν παλαιοὶ οἱ δὲ πρόσφατοι) stützen. Die „alten Zeugen“ sind Dichter und historische Persönlichkeiten, deren Urteilsvermögen für alle sichtbar sei, so wie Homer, Periander von Korinth und Solon. Sie seien am „glaubwürdigsten“ (πιστότατοι), weil man sie nicht mehr korrumpieren könne.147 Als rhetorisch wirkungsvolle Autoritätsargumente („Zeugen“) führen die Zitate keinen neuen Gesichtspunkt ein, sondern setzen einen affirmativen Schlusspunkt hinter eine längere Argumentation. Im Sinne eines Leumundszeugen ist der gute Name und die unbestrittene Autorität des Zitierten wichtiger als die inhaltliche Stimmigkeit des Zitats. Eine zweite Funktion der Dichter-Zitate ist ästhetisch. Sie geben der Behandlung des Haushalts als ursprünglichster Einheit einen feierlichen Klang. So etwa die altertümliche Ansprache der Eheleute als πόσις καὶ ἄλοχος148 und die Bezeichnung der Hausgenossen als „Krippengenossen“ oder „Tischgenossen“. In ähnlicher Weise verwendet Aristoteles meistens oikia für ‚Haushalt‘, was in der Dichtung (und bei Platon) zwar noch Verwendung fand, in der Alltagssprache aber von oikos abgelöst worden war. Die Ästhetik hat wiederum argumentative Funktion. Sie verweist den Text in die Sphäre des ewig Gültigen und des Würdevollen, die Sphäre der den Alltagsnotwendigkeiten enthobenen Theorie. Eine dritte, soziale Funktion folgt diesen argumentativen und ästhetischen Funktionen. Die Zitate markieren den Text als ‚theoretisch‘ im oben erläuterten Sinn einer dem ‚freiheitlichen‘ Mann angemessenen edlen Wissensform und Beschäftigung. Die lässigen Anspielungen auf den Dichter-Kanon setzen dessen Kenntnis beim Rezipienten voraus und erzeugen damit eine imaginäre Gemeinschaft von Autor und Rezipienten als exklusive Gruppe derjenigen, die über Bildung und Muße verfügen. Zugleich 145
Vgl. DNP, Bd. 12 (2002) s. v. Theodektes, sp. 310–312 (M. Weißenberger); sein Sohn war womöglich Schüler des Aristoteles; Theodektes wird in der Rhetorik auffallend häufig zitiert; vgl. 2, 1397 b 3–6; 1398 b 6; 1399 a 8–10; b 1–4; 29 f.; 1400 a 27–30; 1401 a 36–38; in der Poetik immerhin zweimal, 1455 a 8 f., b 29 f. 146 Aristot. poet. 1451 b 5–11. 147 Rhet. 1, 1375 b 26–1376 a 16. 148 Pol. 1, 1253 b 6 f.; vgl. LSJ s. v. ἄλοχος; posis nochmal in pol. 7, 1335 b 41 verwendet, alochos stets bei Homerzitaten: pol. 1, 1252 b 22 f.; eth. Nic. 10, 1180 a 27–29; fr. 640 Rose3.
5.2 Aristoteles: Theorie und Dichtung
171
beweisen sie vornehme Distanz zu den Themen Haushaltsführung und Erwerb. Man vergleiche wie Kephalos und Polemarchos, zwei Vertreter eines Kaufmannshaushalts, der sich der Philosophie zugewandt hat, in Platons Politeia berühmte Dichter zitieren, um ihren letztlich kaufmännischen Gerechtigkeitsbegriff edel einzukleiden.149 Die besondere Dichte der Dichter-Zitate in Politik I im Vergleich zum Rest der Politik legt nahe, dass die Themen Haushaltsführung und Erwerb eine derartige distanzierende soziale Selbstverortung besonders notwendig machten. Das ‚empirische‘ Kapitel 11 erlaubt die Gegenprobe zum Zweck des Registers und der intertextuellen Referenzen in Aristoteles’ Text. Mit dem Wechsel zum Thema „der praktischen Kenntnis der Besitztümer“ (τὸ περὶ τὰ κτήματα ἔμπειρον) geht ein vollständiger Wechsel des Vokabulars und der Bewertungskriterien einher. Diese sind nun rein wirtschaftlich: Über die Viehzucht müsse man wissen, welcher Besitz an Tieren wo und wie am gewinnbringendsten sei (ποῖα λυσιτελέστατα καὶ ποῦ καὶ πῶς).150 Auch auf den Handel – den „ersten und eigensten Teil der Erwerbskunst“ – werden nun rein wirtschaftliche Kriterien angewandt. Seine Formen ließen sich laut Aristoteles nach ihrer ‚Sicherheit‘ und ‚Gewinnträchtigkeit‘ unterscheiden – den Zusammenhang von Risiko und Gewinn setzt Aristoteles als selbstverständlich voraus.151 Ebenso gründlich wechseln die intertextuellen Bezüge. Einer Aufzählung der verschiedenen Erwerbsformen, von der Landwirtschaft bis zur Lohnarbeit, hängt Aristoteles den Hinweis auf zwei Agrarschriftsteller, Charetides von Paros und Apollodoros von Lemnos, an.152 Es ist bereits ausgeführt worden, dass deren Werke vermutlich systematische und umfassende Handbücher zur intensiv betriebenen Landwirtschaft waren.153 Wie oben dargestellt, hielt Aristoteles eine solche Auseinandersetzung für nützlich (chrēsimon), aber „lästig/unfein“ (phortikon). Gleichwohl empfiehlt er sie Interessierten zur Lektüre.154 Wie bei Xenophon geht es nicht um den tatsächlichen Verzicht auf das praktische Wissen, sondern nur um dessen Ausschluss aus dem literarisch-philosophischen Diskurs. Aristoteles’ Kapitel zur Praxis der Erwerbskunst bietet noch zwei weitere Referenzen, allerdings nicht auf Texte, sondern auf Anekdoten. Aristoteles führt sie als Beispiele dafür auf, dass es gut wäre, „die verstreuten Äußerungen“ (τὰ λεγόμενα σποράδην) über die Mittel, durch die Leute bei ihrer Erwerbstätigkeit erfolgreich waren, zusammenfassen. Denn für alle, die „die Erwerbskunst schätzten“ (τιμῶσι τὴν χρηματιστικήν), seien diese „nützlich“ (ὠφέλιμα).155 Diese Formulierung enthält eine Spannung zwischen der Empfehlung, das empirische Wissen zur Erwerbskunst zu sammeln und der Distan-
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Plat. rep. 1, 331a wird Pindar zitiert, 331d–e Simonides; zum Kontext Kap. 16.3.2. Aristot. pol. 1, 1258 b 12–16. Pol. 1, 1258 b 23–25. Pol. 1, 1258 b 39–1259 a 3. S. Kap. 4.3.1. Aristot. pol. 1, 1258 b 34 f. Pol. 1, 1259 a 3–6.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
zierung, dass das für diejenigen nützlich sei, ‚welche die Erwerbskunst wertschätzen‘ – eine Gruppe zu der sich Aristoteles gerade nicht zählt. Die erste Anekdote dreht sich um den Weisen Thales aus Milet. Thales habe seine astronomischen Kenntnisse genutzt, um sich ein Monopol zu verschaffen.156 Er habe eine gute Olivenernte vorausgesehen und daraufhin alle Ölpressen in Milet und Chios bereits im Winter zu niedrigen Preisen angemietet, als noch niemand sonst auf sie bot. Zum Zeitpunkt der Ernte konnte er die Pressen dann zu beliebig hohen Preisen weitervermieten und großen Gewinn machen. So bewies Thales, dass es Philosophen leicht fiele, reich zu werden, wenn sie denn danach strebten – was sie jedoch nicht täten. Aristoteles schließt mit einer allgemeinen Lehre: „Ein solches Vorgehen, nämlich wenn es jemandem gelingt, sich ein Monopol zu sichern, ist aber, wie wir sagten, allgemein eine gewinnbringende Methode.“157 Aristoteles verwendet hier ein argumentatives Schema, das im ersten, dem ‚theoretischen‘ Teil fehlt, aber der traditionellen nicht-literarischen Belehrung ähnelt (Kap. 4.3.2). Anstatt seine Lehre deduktiv zu entwickeln, schildert Aristoteles einen anschaulichen Einzelfall, aus dem er induktiv eine Lehre zieht. Die geschilderte Anekdote enthält dabei genau genommen zwei Lehren, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die erste Lehre ist unternehmerisch. Durch das geschickte Ausnützen eines Informationsvorsprungs und das Abwarten des „rechten Moments“ (καιρός) setzt man sich in eine überlegene Verhandlungsposition. Hier zeigt sich Aristoteles gut vertraut mit kaufmännischer Begrifflichkeit, vom „Geben einer Anzahlung“ (ἀρραβῶνας διαδοῦναι) bis zum Errichten eines „Monopols“ (μονοπωλίαν). Die zweite Lehre ist dagegen ethisch. Thales zielte letztlich nicht auf Gewinn. Das geschickte Unternehmen diente dem Beweis, dass die Armut der Philosophen eine Folge bewusster Entscheidung und nicht ihrer Unfähigkeit ist. Die Anekdote bestätigt damit Aristoteles’ Urteil, dass die Philosophie die moralisch überlegene Tätigkeit ist.158 Die zweite Anekdote führt nach Syrakus während der Regierungszeit des Tyrannen Dionysios (welcher der beiden Tyrannen dieses Namens gemeint ist, bleibt ungesagt). Dort kaufte jemand mit bei ihm hinterlegtem Geld alles Eisen aus den Erzgewinnungsanlagen. Deshalb war er der einzige Verkäufer, als einige Zeit darauf Händler zu den Handelsplätzen kamen, und er machte aus seinen fünfzig investierten Talenten hundert. Der Tyrann verbot ihm daraufhin jeden zukünftigen Aufenthalt in Syrakus, weil er „Einnahmen“ gefunden habe, die seinen „eigenen Angelegenheiten
156 157 158
Pol. 1, 1259 a 5–23. Pol. 1, 1259 a 14–21: ἔστι δ’, ὥσπερ εἴπομεν, καθόλου τὸ τοιοῦτον χρηματιστικόν, ἐάν τις δύνηται μονοπωλίαν αὑτῷ κατασκευάζειν. Übers. E. Schütrumpf. Thales’ philosophisches Bekenntnis zur Armut ist eine Rückprojektion des 4. Jhs., vgl. Schütrumpf 1991, 362 und Schlange-Schöningen 2002, 27.
5.3 Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung
173
abträglich“ seien: „Dieser Einfall ist nun identisch mit dem des Thales. Denn beide haben es fertiggebracht, sich eine Monopolstellung zu sichern.“159 Diese zweite Anekdote wiederholt letztlich die Lehre der ersten in geringfügiger Variation. War in der ersten Anekdote ein Informationsvorsprung entscheidend, ist es hier die temporäre Verfügung über besondere Geldmittel: Es geht also wieder um die Ausnutzung des entscheidenden Moments (kairos). Diese Redundanz entspricht der praktischen Wissensvermittlung, die wiederholt und veranschaulicht, statt zu abstrahieren und zu generalisieren wie die theoretische Analyse. Aristoteles betrachtet beide Anekdoten als Exempel eines Prinzips, doch er überlässt es dem Rezipienten, es sich aus dem Erzählten zu erschließen. Auch die zweite Anekdote enthält ein ethisches Problem. Ein Monopol bringt zwar dem Einzelnen Gewinn, dem Gemeinwesen – oder zumindest den Herrschenden – hingegen Schaden. In der Thales-Anekdote spiegelt sich in gewisser Weise das gesamte erste Buch der Politik. So wie Thales beweist, dass er den Gelderwerb beherrscht, wenn er wollte, aber der Philosophie den Vorzug gibt, zeigt Aristoteles durch die kurze, in der Sprache des Erwerbswesens geschriebenen Kapitel 11, dass er mit der praktischen Kenntnis der Erwerbskunst vertraut ist, ihr aber die Philosophie vorzieht, der er den größten Teil seiner Abhandlung einräumt. So wie Thales mit Vorwürfen wegen der (materiellen) Nutzlosigkeit seiner Philosophie konfrontiert wird, geht Aristoteles in Politik I davon aus, dass die meisten Menschen am grenzenlosen Gelderwerb interessiert sind, obwohl dieser nicht erstrebenswert ist (vgl. Kap. 6.1.4). Aristoteles’ normative Abwertung der geldbasierten Verkehrswirtschaft verrät also nicht nur die Existenz einer solchen, sie setzt sie voraus. Nur weil die meisten Mitmenschen sich dem Gelderwerb so intensiv widmen, kann der Philosoph sich in edler ‚Armut‘ davon distanzieren. 5.3 Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung Xenophons Oikonomikos und Aristoteles’ Politik I sind Auseinandersetzungen mit Ökonomik, der Kunst von Haushaltung und Erwerb, deren literarische Gestaltung zugleich Distanz zu ihrem Thema schaffen, um ästhetischen und sozialen Normen zu entsprechen. Das Praxiswissen wird vorausgesetzt, aber gerade nicht systematisch dargelegt. Wie jedoch haben wir uns das praktische Wissen der Ökonomik vorzustellen, soweit es denn verschriftlicht wurde? Aufschluss darüber gibt das zweite Buch der pseudo-aristotelischen Oikonomika. Zumindest der zweite Teil, der historische Exempel umfasst, lässt sich anhand der Datierung dieser Exempel ungefähr auf das Ende des 4. Jhs. datieren. Als sein Autor gilt gemeinhin ein Mitglied der Schule des Aristoteles.160 159 Aristot. pol. 1, 1259 a 23–33. 160 Seit Wilcken 1901, 188–197 wird dieser Datierungsvorschlag allgemein akzeptiert; skeptisch allein Engels 1993, 6–10; Aperghis 2004, 131–135 akzeptiert die Datierung nur für den zweiten
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
Oikonomika II behandelt oikonomia im speziellen Sinn von ‚Finanzverwaltung‘ und berücksichtigt deshalb neben der privaten Haushaltsführung auch diejenige von Königreichen, Satrapien und Städten (dazu noch ausführlich Kap. 6.1.6). Auf die knappe Aufzählung der Eigenarten dieser vier Formen von oikonomia folgt ein Katalog praktischer Exempel. Zu ihm heißt es:161 Was aber Leute bisher unternommen haben, um Geld aufzubringen (εἰς πόρον χρημάτων), und was sie gekonnt dazu eingerichtet haben (τεχνικῶς τι διῴκησαν), das haben wir, wenn es uns der Rede wert (ἀξιόλογα) erschien, zusammengetragen. Denn wir glauben, dass diese Forschung (ἱστορίαν) nicht unnütz ist (ἀχρεῖον). Möglicherweise passt nämlich das eine oder andere von diesen Beispielen zu dem, was man selbst unternimmt.
Die darauffolgende Aufzählung nennt Strategeme von Stadtregierungen und Monarchen zur Steigerung ihrer Geldeinnnahmen, fast alle in außerordentlichen finanziellen Engpässen. Diese Ratschläge betreffen gerade nicht Einzelhaushalte. Dennoch erscheint es gerechtfertigt, sie im Hinblick auf die Strukturen des praktischen Wissens der privaten Hauswirtschaft und seiner Verschriftlichung zu untersuchen. Denn der Exempel-Katalog in Oikonomika II gleicht in Aufbau und Inhalt ziemlich genau den Anekdoten privaten Wirtschaftens in Xenophons Memorabilien und Aristoteles’ Politik I. Jeder der anekdotenhaften Berichte beginnt mit einem Akteur, der in einer Notlage steckt oder eine sich bietende Gelegenheit erkennt. Sie endet mit der geschickten und überraschenden Auflösung des Problems durch einen Einfall, der dem Akteur maximalen Nutzen verschafft. Die Geschichten erheben Anspruch auf empirischen Wahrheitsgehalt. Das wird, wie bei Xenophon und Aristoteles, durch die Nennung von Orten und Personen verdeutlicht. Nur weil sie wirklich Geschehenes wiedergeben, können sie – im Sinne der aristotelischen Rhetorik – als Beispiel für das tatsächlich Mögliche dienen.162 Die Beispiele sind das Resultat von Nachforschung (historia), aber gerade nicht historisch im modernen Sinne. Nur weil ihre Kenntnis zeitlos nützlich ist, können Beispiele aus verschiedenen Jahrhunderten beliebig nebeneinandergestellt werden.163 Der anonyme Autor nennt die geschilderten Maßnahmen technikōs, was Zoepffel mit „gekonnt“ übersetzt. Im Sinne der aristotelischen Dreiteilung (s. Kap. 5.2.1) von Erfahrung (empeiria), Sachverstand (technē) und Wissen (epistēmē) beschreibt das
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Teil; ausführlich zu Autor und Datierung van Groningen 1933, 40–48, Laurenti 1968, 31–59 und Zoepffel 2006, 214–233. [Aristot.] oec. 2, 1346 a 26–31: ὅσα δέ τινες τῶν πρότερον πεπράγασιν εἰς πόρον χρημάτων, εἴ τεχνικῶς τι διῴκησαν, ἃ ὑπελαμβάνομεν ἀξιόλογα αὐτῶν εἶναι, συναγηόχαμεν. Οὐδὲ γὰρ ταύτην τὴν ἱστορίαν ἀχρεῖον ὑπολαμβάνομεν εἶναι. Ἔστι γὰρ ὅτε τούτων ἐφαρμόσει τι οἷς ἂν αὐτὸς πραγματεύῃ. Übers. R. Zoepffel. Zoepffel 2006, 228–230 mit Aristot. rhet. 1, 1359 a 11–13. Die Beispiele reichen von der Mitte des 6. bis zum Ende des 4. Jhs.; zur Datierung der einzelnen Beispiele vgl. den Kommentar von Zoepffel 2006, 571–635 (mit der älteren Literatur).
5.3 Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung
175
Wort die Fähigkeit der Handelnden allerdings womöglich noch genauer als diese Übersetzung wiedergibt. Die Akteure dieser Erfolgsgeschichten verfügen nicht bloß über Detailwissen, sondern kennen auch die Zusammenhänge. Deshalb sind sie in der Lage, in einer gegebenen Situation eine nicht jedem ersichtliche Lösung zu entdecken. Weiter reicht die Erkenntnis jedoch nicht, sie wird nicht zur reinen epistēmē im aristotelischen Sinn, nicht zur ökonomischen Analyse im Sinne Schumpeters. Einige Beispiele genügen, um Sprache und Darstellungsform des Katalogs vorzuführen: Eine gedrängte Aufzählung nennt die Maßnahmen der Byzantier, um ihre Geldnot zu beheben, wozu auch die Vergabe eines Münzwechsel-Monopols gehörte:164 τῶν τε νομισμάτων τὴν καταλλαγὴν ἀπέδοντο μιᾷ τραπέζῃ, ἑτέρῳ δὲ οὐκ ἦν οὐθενὶ οὔτε ἀποδόσθαι ἑτέρῳ οὔτε πρίασθαι παρ’ ἑτέρου· εἰ δὲ μή, στέρησις ἦν.
Eine andere Maßnahme gewährte es Metöken, denen das Recht auf Grundbesitz fehlte, aber gleichwohl Geld auf Grundbesitz als Sicherheit verliehen hatten, diesen gegen eine Zahlung in Besitz zu nehmen:165 Μετοίκων δέ τινων ἐπιδεδανεικότων ἐπὶ κτήμασιν, οὐκ οὔσης αὐτοῖς ἐγκτήσεως, ἐψηφίσαντο τὸ τρίτον μέρος εἰσφέροντα τοῦ δανείου τὸν βουλόμενον κυρίως ἔχειν τὸ κτῆμα.
Die Bürger von Herakleia am Pontos wollten eine Flottenexpedition finanzieren. Dazu kauften sie Getreide, Öl und Wein zum Festpreis und zu einem festen Zeitpunkt en gros von den lokalen Händlern. Die nahmen das Geschäft an, weil es ihnen den Verkauf en detail ersparte:166 παρὰ τῶν ἐμπόρων συνηγόρασαν τόν τε σῖτον πάντα καὶ τὸ ἔλαιον καὶ τὸν οἶνον καὶ τὴν ἄλλην ἀγοράν, χρόνου διισταμένου ἐν ᾧ ἔμελλον ἀποδώσειν τὴν τιμήν. Τοῖς δὲ δὴ ἐμπόροις καλῶς εἶχε μὴ κοτυλίζειν, ἀλλ’ ἁθρόα τὰ φορτία πεπρᾶσθαι.
Die Bürger von Klazomenai schuldeten Söldnern den Sold. Weil sie nicht einmal die Hauptschuld abtragen konnten, zahlten sie dauerhaft Zinsen. Um diese endlosen Ausgaben zu stoppen, prägten sie Eisengeld und gaben es an die reichsten Bürger aus, die dafür ihr Silber aushändigten. Mit dem Silber bezahlten sie die Schulden bei den Söldnern, aus ihren regelmäßigen Einkünften die Zinsen bei den Bürgern:167 Ὀφείλοντές στρατιώταις μισθὸν εἴκοσι τάλαντα καὶ οὐ δυνάμενοι, τόκον ἔφερον τοῖς ἡγεμόσι τέτταρα τάλαντα τοῦ ἐνιαυτοῦ· ἐπεὶ δὲ τοῦ μὲν ἀρχαίου ἀπέκοπτον οὐθέν, ἀεὶ δὲ μάτην ἐδαπάνων, νόμισμα ἔκοψαν σιδηροῦν εἰς ἀργυρίου λόγον εἴκοσι ταλάντων, εἶτα διδόντες τοῖς εὐπορωτάτοις ἐν τῇ πόλει κατὰ λόγον ἑκάστῳ ἀργύριον παρ’ ἐκείνων ἔλαβον ἴσον. Οἵ τε
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[Aristot.] oec. 2, 1346 b 24–26. Oec. 2, 1347 a 1–3. Oec. 2, 1347 b 4–9. Oec. 2, 1348 b 22–32.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
οὖν ἰδιῶται εἶχον εἰς τὰς καθ’ ἡμέραν χρείας ἀναλίσκειν καὶ ἡ πόλις τοῦ χρέους ἀπηλλάγη. Δεύτερον δὲ ἐκ τῶν προσόδων ἐκείνοις τόν τε τόκον κατέφερον ἀεὶ διαιροῦντες ἑκάστῳ πρὸς μέρος διεδίδοσαν, τοὺς δὲ σιδηροῦς ἐκομίζοντο.
Die Beispiele belegen die Erfahrung der städtischen Magistrate mit den Bedingungen der städtischen Geldwirtschaft. Sie nutzen diese Erfahrung, um öffentliche Einnahmen zu generieren.168 Vielfältige Transaktionen – Geldwechsel, Zinsdarlehen, Termingeschäfte en gros usw. – sind vertreten. Der Autor ist mit der technischen Sprache des Geschäftemaches vertraut und setzt sie bei seinen Rezipienten als bekannt voraus.169 Seine komprimierten Formulierungen bieten eine Mischung von Marktplatz, Vertragstext und städtischem Dekret.170 Die Berichte sind repetitiv und gedrängt formuliert, dabei nicht selten elliptisch verknappt (man beachte die Partizipialkonstruktionen, mit denen zu Beginn jeweils die Ausgangssituation geschildert wird).171 Die Beispiele reihen sich additiv aneinander, ohne Überleitungen, Zusammenfassungen, Konklusionen oder Rückverweise auf die einleitenden ‚theoretischen‘ Ausführungen oder vorangegangene Beispiele. Eine grobe Ordnung nach handelnden Subjekten, Ort und Zeit ist erkennbar, wird jedoch nicht durchweg beachtet.172 Der Katalog endet ohne Schlussfolgerungen und Zusammenfassung. Modernen Interpreten bereitete neben diesen literarischen Mängeln Unbehagen, dass der Inhalt der Exempel banal und fern jeder theoretischen Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge sei.173 Es empörte, dass hier ohne Einschränkung „Schurkenstreiche“ nacherzählt wurden, bei denen List, Täuschung und Erpressung als Mittel der Bereicherung dienten. Diese Mängel galten als Beweis, dass man es mit einer dem 168
Ein inschriftlicher Beleg für diese praktischen Kenntnisse ist das Getreidesteuergesetz von 374/3 mit seinen detaillierten Anweisungen zur Organisation der Getreidesteuerpacht, Osborne-Rhodes, GHI 26; der Gesetzesantrag stammte von Agyrrhios, der selbst Erfahrung als Steuerpächter hatte; dazu Engels 2000, 106; ein weiteres Beispiel sind die Ratschläge, die der Getreide-Aufseher Anytos, wiederum ein Mann mit kaufmännischem Hintergrund, den Getreidekäufern machte, um eine Preiseskalation zu vermeiden, Lys. 22.8 f. 169 Schneider 1907, 11, gegen Riezler 1907, 39 f.; vgl. die vielen technischen Wendungen in den zitierten Beispielen. 170 Schneider 1907, 10 f.; van Groningen 1933, 68 zu [Aristot.] oec. 2, 1347 a 1–3. 171 Zur Form der Partizipialkonstruktionen vgl. 1346 b 13; 30; 1347 a 18; 25; b 4; 16; 1348 a 11; 35 f. b 17 f.; 33; 1349 a 9; 25; 32 f.; b 1; 14; 1350 a 9; 12; 23 f.; b 34; 1351 b 1 f.; 6; 20 f.; 36 f.; darin sah Riezler 1907, 20, 22, 35 einen Beleg für die These, dass der Katalog Werk eines Epitomators sei; Schneider 1907, 10 hat dem richtig entgegengehalten, dass sie dem Notizstil einer Materialsammlung entsprechen; ein weiteres entsprechendes Merkmal sind ihre häufigen Wiederholungen nur minimal variierter Wendungen (17mal δεηθέντες χρημάτων, 7mal ἀποροῦντες χρημάτων, gleichförmige Verneinungen mitgezählt). 172 Das gilt besonders für die sechs nachgeschobenen Beispiele ohne Angabe von Ort oder Funktion und überwiegend zu bereits zuvor genannten Personen; Engels 1993, 8 nimmt an, dass „die Grobheit der Anfügung“ für die Ergänzung durch einen späteren Autor spreche. 173 So Finley [1973] 1993, 13; ihm folgend Austin/Vidal-Naquet [1972] 1984, 147. Vgl. Hopper [1979] 1982, 14 f.: „kindische und wirkungslose Tricks“.
5.3 Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung
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Aristoteles oder seinen direkten Schülern moralisch und intellektuell unwürdigen Arbeit zu tun habe. Man schlussfolgerte sogar, dass die mit mehr theoretischem und ethischen Anspruch versehene Einleitung und der Beispielkatalog ursprünglich nicht Teil eines einheitlich konzipierten Texts gewesen sein könnten und entwickelte zahlreiche Thesen, welcher der beiden Teile (Einleitung und Katalog) Epitome sei und welcher nicht, oder ob beide, und wann die beiden Teile entstanden seien.174 Alle drei neueren Kommentare lehnen diese Kompilationsthesen als spekulativ und subjektiv ab; sie gehen stattdessen von der Einheit von Einleitung und Katalog aus und vermuten einen Autor aus der ersten Schülergeneration des Aristoteles.175 Diese Position ist nicht vollständig zur communis opinio geworden. Johannes Engels hat auf verschiedene Schwierigkeiten auch mit dieser Sichtweise hingewiesen; und Gerassimos Aperghis hat zwar die Datierung der Exempla-Sammlung in das späte 4. Jh. akzeptiert, hält jedoch die 270er-Jahre für den plausibelsten Kontext für die Entstehung der ‚theoretischen‘ Einleitung, weil sie die Finanzverwaltung des Seleukidenreichs mit seinen Satrapien widerspiegle.176 Das einzig sichere Resultat der Debatte über die Entstehung von Oikonomika II scheint zu sein, dass keine Interpretation ihr Hauptgewicht auf den speziellen Ort und Zeitpunkt der Entstehung legen sollte; Fragen zu Stil, Disposition und Konzeption des Textes lassen sich allerdings mit Gewinn analysieren und hier haben die neueren Kommentatoren dank ihres Abrückens von der Frage der Urheberschaft wichtige Beobachtungen gemacht. Laut Zoepffel hatte die Irritation früherer Interpreten ihren Grund vor allem in deren anachronistischen Erwartungen an eine Schrift über ‚Finanzverwaltung‘. Sie selbst betrachtet Oikonomika II – zusammen mit I – als „Entwurf zu einem ‚Lehrbuch der Finanzwissenschaft‘, antik gesagt zu einer Chrematistik, nicht zu einer theoretischen Abhandlung“, die jedoch in der vorliegenden Fassung nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sei. Es habe sich an jene Schüler des Peripatos gerichtet, die sich auf eine ‚praktische Laufbahn‘ als Politiker vorbereiteten. Die fehlende literarische Gestaltung erkläre sich aus diesem praktischen Zweck. Sie erforderte keine chronologische Ordnung und konnte in der Diktion knapp sein, weil die Adressaten mit der Materie grundsätzlich vertraut waren (oder später vertraut sein würden).177 Sieht man von der problematischen Annahme ab, hier habe ein regelrechtes „Lehrbuch“ der Chrematistik
174
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Vgl. Wilcken 1901, 188–190: nur Katalog Epitome, Einleitung später angefügt; Riezler 1907, 38 und passim: Einleitung und Katalog Epitome einer Schrift; Schneider 1907, 6–14: nur Einleitung Epitome, Katalog später angefügt; Stern 1916, 426: beides Epitome, später zusammengefügt; Andreades 1931, 88–92: zwei Autoren, beides Epitome; s. Engels 1993, 11 f. für eine Übersicht aller denkbaren und vertretenen Varianten; eine ausführliche Diskussion aller Varianten bei Zoepffel 2006, 214–227. van Groningen 1933, 47 f.; Laurenti 1968, 41–51; Zoepffel 2006, 217. Engels 1993, 13 f.; Aperghis 2004, 131–135. Zoepffel 2006, 217, 227–231; einen praktischen Zweck vermuten auch Isager 1988 und Engels 1993, 21 f.; vgl. jedoch Schneider 1907, 12 für bedenkenswerte Einwände.
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vorgelegen (dazu Kap. 6.1.6), bietet Zoepffels Ansatz die Chance, Oikonomika II nicht mehr als verunglückte Aristoteles-Nachahmung zu analysieren, sondern stattdessen als seltenes Beispiel eines Texts, dessen Stil und Struktur stärker als andere Texte des 4. Jhs. der pragmatischen Form der Wissensvermittlung entsprachen. Aus dieser Perspektive betrachtet werden seine vermeintlichen Schwächen zu gattungstypischen Merkmalen: repetitive, elliptische Sprache; additive Aneinanderreihung, technischer Sprachgebrauch, Verzicht auf literarische Durchgestaltung und theoretische Verallgemeinerung. Und, nicht zuletzt: die ambivalente Mischung von hochtönender Moral (hier nur in der Einleitung) und praktischem Nutzenstreben. Oikonomika II gleicht also in der Form jener Wissensvermittlung, die in Kap. 4.3.2 unter Verweis auf Hesiods Werke, die florentinischen Hausbücher und traditionale Elemente in der literarischen Ökonomik als typische nicht-literarische Belehrung über Hauswirtschaft vermutet wurden. Die Hauswirtschaft erforderte nicht das Erlernen abstrakter Theoriesysteme, sondern praktische Erfahrung darin, in immer wieder neuen Situationen Gefahren und Verluste abzuwenden und Chancen des Zugewinns zu erkennen und zu ergreifen. Vorbereitung dafür war die Akkumulation eines Erfahrungsschatzes konkreter Exempel als Modelle zukünftigen Handelns. Dieser Erfahrungsschatz wurde von Generation zu Generation weitergegeben und angereichert. Aufschlussreich ist die zeitliche Verteilung der Exempel in Oikonomika II. Frühe Beispiele, aus dem 6. und 5. Jh., sind selten, es überwiegen Beispiele aus der zweiten Hälfte des 4. Jhs., also aus der Lebenszeit des Verfassers und den zwei vorangegangenen Generationen.178 Die meisten Exempel liegen also innerhalb des typischen Erfahrungsraums mündlicher Überlieferung von drei Generationen.179 Das deckt sich mit der Annahme, dass der Autor nicht nur auf schriftliche Quellen, sondern auch auf eigene Erfahrungen und mündliche Berichte zurückgriff.180 Diese Hypothese passt wiederum zu der Annahme, dass für die praktische Wissensvermittlung persönliche Erfahrung und kollektives Gedächtnis wichtiger waren als reines Buchwissen. Die Masse der Exempel ist zwar aus jüngerer Zeit, aber die frühen Geschichten stehen unterschiedslos dazwischen und ohne hinreichende chronologische Angaben. Die genaue Datierung ist zweitrangig, weil Erfahrungsraum und Erwartungshorizont verschränkt sind. Die Vergangenheit wird nicht historisiert, sie enthält zeitlose Lehren für die Zukunft.181 In gleicher Weise konnte Xenophon in den Memorabilien 50 bis 70 Jahre alte Geschichten als Exempel heranziehen und Aristoteles eine Anekdote über den fast dreihundert Jahre älteren Thales erzählen. In seiner Rhetorik heißt es, dass es einfacher sei „Argumente“ (λόγοι) aus Fabeln zu gewinnen, für die Beratung jedoch Argu178 179 180 181
Engels 1993, 15. Vansina 1985, 17–24; vgl. Koselleck [1977] 1979, 65–73. Wilcken 1901, 199 f.; Stern 1916, 429; Engels 1993, 15 f.; Zoepffel 2006, 566. Vgl. dazu grundsätzlich Koselleck [1967] 1979, 38–46 und [1977] 1979, 354–362.
5.3 Pseudo-Aristoteles: Die Akkumulation praktischer Erfahrung
179
mente basierend auf tatsächlichen Geschehnissen „nützlicher“ (χρησιμώτερα) seien: „Denn in den meisten Fällen sind sich Zukunft und Vergangenheit gleich.“182 Die nahe Zukunft galt zwar als ungewiss, weshalb allgemeine theoretische Regeln von geringem Wert waren. Langfristig jedoch rechnete man nicht mit grundsätzlichem technologischen oder gesellschaftlichen Wandel, weshalb praktische Exempel aller Zeit nützlich waren. Die Ökonomik dient insofern nicht der Entwicklung neuer Methoden der Hauswirtschaft, sondern der Einschärfung und Verfeinerung von grundsätzlich Bekanntem in Situationen besonderer finanzieller Belastung. Der Mangel an literarischer Ausgestaltung und die moralische Fragwürdigkeit der einzigen erhaltenen Schrift zur Praxis der (städtischen) Ökonomik bestätigen die These von der Unvereinbarkeit von praktischer Ökonomik und öffentlich-literarischem Diskurs. In der pragmatischen Schriftlichkeit des Hauses war die Schrift Speichermedium des Wissens früherer Generationen, nicht Mittel der Selbstdarstellung gegenüber Standesgenossen. Ihr Zweck war der Nutzen des Hauses, ein partikularer Nutzen also, durchaus auch auf Kosten anderer Häuser. Wie die Regierungen in Oikonomika II nutzen Privathaushalte alle verfügbaren Mittel, um sich aus einer finanziellen Zwangslage zu befreien oder eine günstige Gelegenheit auszunutzen: in Xenophons Memorabilien (Kap. 4.1.1 und 6.2.1) und auch in der Praxis (Kap. 14.2). Aus der partikularen Sicht des häuslichen Nutzens waren diese Mittel legitim; Zoepffel weist dazu auf „die griechische Grundanschauung“ hin, „daß man Feinden bedenkenlos schaden darf “183 – eine Haltung, die Xenophon im Oikonomikos vertritt und bei der, nebenbei bemerkt, offenbleibt, ob nicht auch ein Freund schnell zum Feind erklärt werden kann, wenn die Gelegenheit günstig ist. Riezler weist darauf hin, dass die praktischen Ratschläge in einer „Tradition der στρατηγήματα“ stehen, von der sich Spuren bei anderen klassischen Autoren (Thukydides, Xenophons Memorabilien) fänden, die aber auch an die „Tradition der Verschwörungskniffe der Renaissance“ erinnerten. Der Vergleich zur Renaissance ist interessant, weil wir hier – überlieferungsbedingt – nachvollziehen können, wo die Unterschiede zwischen ‚literarisch-öffentlichem‘ Diskurs und privat-pragmatischem Ratschlag lagen (Kap. 4.3.1). Eine solche Quellenlage fehlt für die klassische Zeit. Einen kleinen Beleg für Riezlers „renaissancehaften Genuss an der gelungenen Schlechtigkeit […], der auch antik war“,184 bietet der Dialog in Aristophanes’ Wespen, in dem Bdelykleon vergeblich versucht, seinem Vater Philokleon die verfeinerten Kommunikationsformen der besseren Gesellschaft näherzubringen (dazu noch ausführlich Kap. 8.2). Anstatt über die öffentlichen Verdienste des eigenen Geschlechts und jugendliche Sportleistungen zu berichten, wie es ein Mitglied der Oberschicht täte, erzählt der Vater Fabeln zur Hauswirtschaft und Anekdoten darüber, wie er ein-
182 Aristot. rhet. 2, 1394 a 5–8: ὅμοια γὰρ ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ τὰ μέλλοντα τοῖς γεγονόσιν. 183 Zoepffel 2006, 229. 184 Riezler 1907, 41; ganz ähnlich Engels 1993, 1 f.
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5 Die literarische Gestaltung der Ökonomik
mal einem Nachbarn ein Stück Vieh stahl oder einem Mann eine Klage anhängte.185 Ein solches Verhalten war nicht vollkommen amoralisch, es entsprach der partikularen Moral des Haushalts und seiner Nahbeziehungen, die Edward Banfield „amoral familism“ genannt hat.186 Man konnte sich solcher Streiche im Kreis des erweiterten Haushalts rühmen, jedoch nicht in der Öffentlichkeit der Stadtgesellschaft, wie Bdelykleon mit seinen Ermahnungen deutlich zu machen versucht.187 In der Finanzverwaltung der Stadt waren gerissene Maßnahmen, wenn nicht gänzlich gerecht, so doch immerhin gerechtfertigt, weil sie der gesamten Bürgerschaft nutzten und auf Beschluss eben dieser Bürgerschaft oder ihrer Magistrate durchgeführt wurden.188 Für die private Hauswirtschaft hingegen waren andere Bürgerhaushalte Konkurrenten oder sogar Feinde. Deshalb war praktisches Wissen der Hauswirtschaft, das nicht nur alltäglich und damit unfein war, sondern sogar die öffentlichen Normen des Bürgerverbands infrage stellen konnte, nicht für die Veröffentlichung geeignet – Oikonomika II, das die öffentliche oikonomia behandelt, ist ein Grenzfall. Sofern die Ökonomik doch literarisch behandelt wurde, geschah dies nur in Hinsicht auf ihre theoretisch interessanten Grundprinzipien und nur unter dem Vorbehalt, dass die Hauswirtschaft der Stadtgemeinschaft nützen müsse. Gerade das sind die zwei Themen von Xenophons Oikonomikos und Aristoteles’ Politik I.
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Aristoph. Vesp. 1174–1207. Banfield 1958. Vgl. Walcot 1970, 97 f. zur Bewertung von Diebstahl im ländlichen Griechenland. Medick 1977, 137 zitiert einen Schweizer Beobachter des frühen 19. Jhs. in England, der meint, dass sich die Arbeitenden in der hausindustriellen Produktion die Zeit mit Gesprächen vertrieben, „‚die sich insgemein um das Wohlleben, um Geilheit, um Betrug, und Diebstahl drehen‘, und wer die ‚schmutzigsten Einfälle auskramt, bedünke sich den andern ein Held‘“. Isager 1988, 79–82; Zoepffel 2006, 229 mit anderem Schwerpunkt.
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft Die zwei vorangegangenen Kapitel waren dem sozialen Kontext und der literarischen Gestaltung der überlieferten Texte zur Ökonomik gewidmet. Das hatte vor allem einen methodischen Zweck. Ich habe versucht zu zeigen, dass die erhaltenen Texte zur Ökonomik nicht ohne Weiteres als Beleg für ideologische Standpunkte, das praktische Wissen ihrer Zeit oder gar den Entwicklungsgrad der Verkehrswirtschaft ihrer Zeit dienen können. Das Beispiel der Oikonomika II, dem jüngsten der hier analysierten Texte zur Ökonomik, zeigt, dass praxis-orientierte Schriften zur Ökonomik nicht von einer ‚reaktionären‘ Philosophie verdrängt wurden. Vielmehr existierten mündliche Belehrung und pragmatische Schriftlichkeit neben der literarischen Ökonomik fort. Dieses pragmatische Wissen der Hauswirtschaft ist der Hintergrund, vor dem die philosophischen Abhandlungen des 4. Jhs. entstanden. Der Grund dafür, diesen Hintergrund weitgehend auszublenden, sind die sozialen Regeln der Kommunikation. Alle literarische Kommunikation war diesen Regeln unterworfen, wie in Kap. 8.2 noch genauer ausgeführt wird. Aber der literarische Diskurs, zu dem die Ökonomik gehört, unterlag diesen Regeln in gesteigerten Maß, weil es hier vornehmlich um die Verständigung über Wertvorstellungen und Standeszugehörigkeit ging. Obwohl die literarischen Ökonomiken die Details der wirtschaftlichen Praxis ausblenden, sind sie eine wichtigte Quelle für die Hauswirtschaft. Ihr Quellenwert besteht darin, dass sie in ‚theoretischer‘ Absicht Prinzipien und Begriffe und Beziehungen der Kunst der Haushaltsführung herausarbeiteten, die in der alltäglichen Kommunikation implizit oder unsystematisiert blieben. Um die Differenz zwischen griechisch-römischer Antike und unserer Gegenwart zu betonen, hat Finley darauf hingewiesen, dass es nicht möglich sei, die „Grundbegriffe“ der Ökonomie, „wie Arbeit, Produktion, Kapital, Investition, Einkommen, Kreislauf, Nachfrage, Unternehmer, Nutzen“ ins Griechische oder Lateinische zu übersetzen, „zumindest nicht in der abstrakten Form, die die ökonomische Analyse erfordere“.1 Bemerkenswert ist, dass weder Finley noch seine Kritiker zunächst sonderlich interessiert waren, festzustellen, welche unübersetzbaren Ausdrücke es umgekehrt im Altgriechischen gab, die zwar nicht rein wirtschaftlich im Sinne einer ökonomischen Analyse waren, aber gleichwohl Grundbegriffe wa-
1
Finley [1973] 1993, 13.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
ren, wenn es um das systematische Nachdenken über den wirtschaftlichen Aspekt des menschlichen Lebens ging. Wie fruchtbar eine Analyse des ‚ökonomischen Denkens‘ in klassischer Zeit ist, wenn man sie von anachronistischen Erwartungen befreit, haben mittlerweile zahlreiche Studien gezeigt.2 Im Anschluss an diese Arbeiten sollen im Folgenden eine Reihe von Begriffen untersucht werden, die in den ‚theoretischen‘ Äußerungen zur Haushaltsführung und Erwerb grundlegend sind und als Schlagwörter für bestimmte Prinzipien gelten können. Dazu zählen οἰκονομία und χρηματισμός, sowie die dazugehörigen substantivierten Attribute οἰκονομική und χρηματιστική als Bezeichnungen von Haushaltung und Erwerb und den darauf gerichteten Künsten. Dazu zählen ὠφέλεια und χρεία sowie verwandte Nomen und Adjektive als Ausdrücke des „Nutzens“, „Gebrauchs“ und „Bedarfs“. Dazu zählen ἐπιμέλεια, ἄρχειν, ἔργον und ἐργάξεσθαι zur Beschreibung der Führungstätigkeit im Haus und der Zuweisung und Ausführung von Arbeiten. Dazu zählt eingeschränkt schließlich auch αὐτάρκεια, ein schillernder Ausdruck, der das Ideal der Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit markiert. Über die wort- und ideengeschichtliche Analyse dieser Begriffe und ihrer logischen Beziehungen zueinander verrät die Theorie der Ökonomik Einiges über die Praxis der Hauswirtschaft. 6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia? Ein nahe liegender Startpunkt für eine Untersuchung der Grundbegriffe der Hauswirtschaft ist das Wort oikonomia. Bis ins 5. Jh. taucht nur οἰκονόμος als Femininum zur Bezeichnung der das Haus verwaltenden Ehefrau auf.3 Die vier Belegstellen zu dieser Verwendung setzen ein etabliertes Ideal der guten Ehefrau voraus.4 Die wirtschaftlichen Tugenden der Ehefrau – Fleiß und Sparsamkeit – sind prominent: Bei Phokylides, dem frühesten Beleg, zweite Hälfte 6. Jh., soll die Frau sich „auf das Arbeiten verstehen“ (ἐπίσταται ἐργάζεσθαι), bei Lysias ist „die gute Hausfrau“ (οἰκονόμος δεινή) „sparsam“ (φειδωλός). Arbeit und Sparsamkeit sind allerdings nur Aspekte einer umfassenden ‚Erhaltung des Hauses‘, zu der auch eheliche Treue und das Gebären und Aufziehen von Kindern gehört. Auch im 4. Jh. war oikonomia in diesem Sinn häufig noch weiblich konnotiert. Nach diesem Begriff schließt gute oikonomia Ehe und Erziehung mit ein, den Erwerb materieller Güter außerhalb des Hauses jedoch gerade nicht: Diese ist Sache des Mannes (s. Kap. 10).
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Vgl. Meikle 1979; 1995; Spahn 1984; 2003; Lowry 1987; Descat 1988; Natali 1990; Roscalla 1992; Faraguna 1994; 2008; Figueira 2012; Föllinger 2016; Föllinger/Stoll 2018. Vgl. Singer 1958, 32 f.; Spahn 1984, 305; Descat 1988, 104–106. Phok. 2 Diehl (= Stob. 4.22,192); Aischyl. Ag. 155; Lys. 1.7; die Hausmutter ist auch gemeint, wenn es bei Kritias FGrH 338a F 1a (= Athen. 1.28b) heißt, die athenischen Töpferwaren nützten der οἰκονόμος.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
183
Descat hat die These vertreten, dass es im Verlauf des 4. Jhs. zu einer regelrechten Bedeutungsveränderung von einer weiblichen zu einer männlichen Konnotation von oikonomia kam, weil die private Haushaltsführung zunehmend der öffentlichen Kontrolle unterlag und damit in den Aufgabenbereich des Mannes fiel.5 Dagegen spricht Theophrasts Wortgebrauch zu Beginn des 3. Jhs., der die Kontinuität der umfassenden, auf die Hausmutter fokussierten Wortbedeutung belegt. Die Frau soll lernen, was „nützlich für die Haushaltung“ (χρησίμου πρὸς οἰκονομία) ist, und in den „haushälterischen“ statt in politischen Angelegenheiten „tüchtig“ sein (δεινὴν […] ἐν τοῖς οἰκονομικοῖς).6 Wir finden hier die klassische Abgrenzung der weiblichen Sphäre des Hauses von der männlichen Sphäre der Stadt. Das Adjektiv der guten Frau als deinē, ‚tüchtig/findig‘, gleicht der Beschreibung der guten Hausverwalterin bei Lysias. Das Lob der Ehefrau stellt diese wieder in den Kontext der Sorge für das ganze Haus: Bei Krankheit als auch „in den Angelegenheiten der täglichen Haushaltung“ (ταῖς καθ’ ἡμέραν οἰκονομίαις) erweise sie Wohltaten.7 Die Beurteilung der Frauen solle „nach Besonnenheit und Haushaltsführung erfolgen“ (περὶ σωφροσύνης […] καὶ οἰκονομίας), nicht nach Schönheit wie in manchen Städten angeblich üblich.8 War der Ausdruck oikonomia auch Ende des 4. Jhs. noch eng mit weiblicher Haushaltung im umfassenden Sinn verknüpft, so begann umgekehrt die Ausweitung und Abstraktion des Wortgebrauchs hin zu einem allgemeinen Begriff von ‚Haushaltung‘ oder sogar ‚Finanzverwaltung‘ womöglich früher als bislang angenommen. Vier der neu veröffentlichten Orakel-Anfragen aus Dodona verwenden laut den Herausgebern das Verb oikonomein, eine zusätzlich das Nomen oikonomia.9 Die früheste dieser Anfragen wird an den Anfang des 5. Jhs. datiert und sie bezieht sich, genau wie die einzige andere, bei der sich etwas mehr Text rekonstruieren lässt, auf die Verwaltung eines Priesteramts und nicht auf private Haushaltung. Ein Problem ist allerdings, dass die entscheidenden Wörter weitgehend von den Herausgebern ergänzt sind oder ihre Lesung angefochten wurde.10 Wenn man daher aus diesen fragmentierten Orakel-Anfragen keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte, erinnern die Rekonstruktionsvorschläge doch daran, wie sehr unser Bild der frühen Wortgeschichte von Überlieferungszufällen bestimmt ist.
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Descat 1988, 106 f.; vgl. Spahn 1984, 305. Theophr. fr. 35 Fortenbaugh (= Stob. 2.31,31) und 36 Fortenbaugh (= Stob. 4.28,7). L 84 Fortenbaugh (= Stob. 3.3,42). L 124 Fortenbaugh (= Athen. 13.610a–b); Theophrast nennt Tenedos und Lesbos. DVC 336A (2. Hälfte 4. Jh.); 572B (Beginn 5. Jhs.); 1138B (2. Hälfte 4. Jh.): [ο]ἰκονομί[αν]; 3067B (5. Jh.). In der frühesten Anfrage, die das Wort belegt, DVC 572B, ist [ἱαρατ]είαν̣ für Priesterschaft in der vierten Zeile weitgehend ergänzt, [– – – οἰκο]νομεῖ[– – –] DVC 336A wird von den Herausgebern gelesen als: εἶ οἰκομίξōμεν τὸ λειτορεῖον; Méndez Dosuna 2016, 124 plädiert überzeugend dafür, stattdessen εἶ ὀγκομίξōμε/ν τὸ λειτορεῖον zu lesen.
184
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Selbst wenn denkbar ist, dass sich bereits im 5. Jh. eine Verwendung von oikonomia mit kleinem Bedeutungsumfang aber großen Anwendungsbereich auszubilden begann, ändert das nichts am Befund, dass das Substantiv oikonomia erst in der Gelehrten-Prosa des 4. Jhs. zum Schlagwort männlicher Haushaltsführung und zum Schlüsselbegriff einer systematischen Theoriebildung wurde. Die nachfolgende Rekonstruktion des Bedeutungsfeldes von oikonomia bei Platon, Xenophon, Aristoteles und Pseudo-Aristoteles berücksichtigt insbesondere das Verhältnis des Begriffs der oikonomia zum Begriff des Erwerbs und der Erwerbskunst, die sich bei den Gelehrten um die Schlagwörter chrēmatismos und chrēmatistikē (technē) herum kristallisieren. Denn der enge Bezug beider Begriffe im Sprachgebrauch der Gelehrten verweist auf den ebenfalls engen strukturellen Zusammenhang von Hauswirtschaft und Gelderwerb. 6.1.1 Die Gleichsetzung von Erwerb und Haushaltung bei Platon Ein umfassender Begriff von oikonomia als ‚Führung des ganzes Hauses‘ mit einem Fokus auf Besitz und Erwerb lässt sich zuerst bei Platon deutlich greifen. Im Dialog Lysis heißt es, ein Vater werde seinem Sohn dann das Haus übergeben, wenn er glaube, dass der Sohn besser als er selbst in der Lage sei, „sein Haus zu verwalten“ (τὴν αὑτοῦ οἰκίαν οἰκονομεῖν).11 In den Gesetzen heißt es, es sei ein Fehler des Perserkönigs Kyros gewesen, dass er über seine Regierungsaufgaben die oikonomia vernachlässigte und die Kindererziehung den Frauen überließ.12 Ähnlich nennt Platon oikonomia neben Kriegsführung und Politik mehrfach in Aufzählungen von Bereichen, in denen ein (hochstehender) Mann Führungsfähigkeit erlernen muss.13 Hier ist oikonomia offenbar ein umfassender Begriff von Haushaltsführung, zu dem auch die Kindererziehung gehört. Platon begreift die epistēmē oikonomikē als Untertyp eines qualitativ gleichförmigen Herrschaftswissens, wie er im Politikos erläutert: Die Führung eines großen Hauses unterscheide sich qualitativ nicht von der einer kleinen Stadt; königliches, bürgerliches und haushälterisches (εἴτε βασιλικὴν εἴτε πολιτικὴν εἴτε οἰκονομικὴν) Wissen unterschieden sich nur dem Namen nach.14 Diese Idee eines homogenen Herrschaftswissens wird uns im Laufe dieser Untersuchung noch zwei Mal begegnen. Xenophon teilt sie, Aristoteles opponiert gegen sie.
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Plat. Lys. 209c. Leg. 3, 694c–d. Polit. 259c; vgl. Plat. rep. 3, 407b; leg. 5, 747b und 7, 809c–d, 819c. Polit. 259a–c: ἔχειν αὐτὸν τὴν ἐπιστήμην ἣν ἔδει τὸν ἄρχοντα αὐτὸν κεκτῆσθαι.
185
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
Inhaltlich thematisiert Platon dasselbe praktische Herrschaftswissen, dessen Vermittlung (laut Platon) Lehrer wie Protagoras seit dem 5. Jh. zu lehren versprachen: das Haus gut zu verwalten und in der Stadt mächtig durch Wort und Tat zu sein (Kap. 4.3). Platon führt mit seiner Idee eines allgemeinen Herrschaftswissens also kein neues Thema ein, sondern ordnet ein angestammtes Themenfeld entlang der definitorischen Grenzen einheitlicher Oberbegriffe. Wenn in den Gesetzen davon die Rede ist, dass die Bürger der Stadt bereits zur Nachtzeit aufwachen müssen, „um einen großen Teil der städtischen und häuslichen Tätigkeiten zu verrichten“ (πράττειν τῶν τε πολιτικῶν μέρη πολλὰ καὶ τῶν οἰκονομικῶν), als Amtsträger in der Stadt und als „Hausherrinnen und Herren in ihren privaten Häusern“ (δεσποίνας δὲ καὶ δεσπότας ἐν ἰδίαις οἰκίαις),15 dann ist das die alte Doppelformel von der ‚Führung in Haus und Stadt‘. Aber Platon hat sie begrifflich systematisiert. Zu jeder sozialen Einheit, die Objekt von Leitungsresp. Herrschaftshandeln ist (archein), wird eine entsprechende Bezeichnung der Ordnung dieser Einheit substantiviert, deren Herstellung/Aufrechterhaltung der Zweck des Handeln ist. Hinzu kommen die Bezeichnung des Handelns sowie des Handelnden selbst und schließlich die für das Handelnde notwendige Kunstfertigkeit/Wissensform als substantiviertes Adjektiv (vgl. Tab. 2). Platon verwendet diese Terminologie nicht ganz strikt. Gerade in Bezug auf das semantische Feld von oikonomia ist sein Sprachgebrauch jedoch sehr einheitlich. Seine Neuschöpfung des Ausdrucks chrēmatistikē, den er mit oikonomia eng verknüpft verwendet (s. u.), lässt sich ebenfalls mit seinem Bemühen um terminologische Vereinheitlichung erklären. Tabelle 2 Die Systematik der Begriffe bei Platon Objekt des Handelns
Zweck des Handelns
Handlung
Handelnder
Notwendige/s Kunst/ Wissen des Handelns
οἶκος
οἰκονομία
οἰκονομεῖν
οἰκονόμος
οἰκονομική πολιτική
πόλις
πολιτεία
πολιτεύεσθαι
πολιτικός/ πολίτης
στρατ(ε)ία/ στρατόπεδον
στρατηγία
στρατηγεῖν
στρατηγός
στρατηγική
χρήματα
χρηματισμός
χρηματίζεσθαι
χρηματιστής
χρηματιστιτκή
Die sprachliche Vereinheitlichung ist kein Selbstzweck. Sie dient der theoretischen Systematisierung der Tätigkeiten, die ein freier Mann ausüben sollte und den Wissensformen, die er dafür beherrschen muss. Die Zuschreibung der Leitungstätigkeiten und -fähigkeiten an den ‚freien‘ Mann, ist allerdings wiederum bereits bei den ‚Sophisten‘ des 5. Jhs. zu finden.
15
Leg. 7, 808a–b.
186
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Dieser Befund einer semantischen Vereinheitlichung entspricht Zoepffels These, laut der die literarische Ökonomik die literarische Aufbereitung bestehender Wissensbestände im Zug der Ausdifferenzierung der Prosaliteratur war. Der zweite Teil von Zoepffels These, derzufolge die literarische Auseinandersetzung mit Ökonomik keine Reaktion auf bestimmte wirtschaftliche und soziale Entwicklungen gewesen sei, wird durch Platons Gebrauch von oikonomia allerdings eher widerlegt. Denn Platon verwendet oikonomia meistens, um den wirtschaftlichen Aspekt der Haushaltsführung zu betonen und soziale Entwicklungen seiner Zeit zu kritisieren. In der Apologie heißt es, Sokrates habe gerade nicht nach dem gestrebt, wonach die meisten strebten: „Gelderwerb und Haushaltung (χρηματισμοῦ τε καὶ οἰκονομίας), Feldherrnämter und Volksführerschaft, sowie andere Ämter und Pläne und Parteiungen in der Stadt“.16 Die Aufzählung wiederholt die typischen Betätigungen der BürgerOberschicht. Sie werden in die Bereiche ‚Haus‘ und ‚Stadt‘ aufgegliedert: Ämterbekleidung, Beratung in Versammlungen, informelle Parteiungen fallen in den Bereich städtischer Politik und Verwaltung. Der häusliche Bereich wird aufgeteilt in Erwerb (chrēmatismos) und Haushaltung (oikonomia). Wir erfahren an dieser Stelle nichts Genaueres über das Verhältnis dieser beiden Tätigkeiten, außer dass sie einander bei- und dem ‚privaten‘ Bereich des Hauses zugeordnet sind. Die gleiche Beiordnung von Erwerb und Haushaltung findet sich in einer Aufzählung von Tätigkeiten im Phaidros. Dort entwickelt Platon mithilfe eines Mythos von der Seelenwanderung eine Rangordnung der Menschen entsprechend der Weisheit ihrer Seelen. An erster Stelle steht der Mann, dessen Seele „die Weisheit liebend oder das Edle liebend“ (φιλοσόφου ἢ φιλοκάλου) ist resp. das Musische und Erotische. An zweiter Stelle steht die Seele „eines gesetzestreuen Königs oder eines kriegerisch und herrschaftlich gesinnten Mannes“. Drittplatziert ist die Seele eines Mannes, der „der städtischen Politik, der Haushaltsführung oder dem Gelderwerb“ (εἰς πολιτικοῦ ἤ τινος οἰκονομικοῦ ἢ χρηματιστικοῦ) zuneigt, die viertplatzierte Seele gehört dem, der die (körperlichen) Mühen liebt, oder sich der Sportkunst oder Heilkunst widmet. Die fünfte Seele wird ein wahrsagerisches oder geheimniskrämerisches Leben führen, die sechste „ein der Dichtkunst oder anderen nachahmenden Künsten gewidmetes Leben“. Das „handwerkerische und ackerbäuerliche“ (δημιουργικὸς ἢ γεωργικός) Leben steht an siebter Stelle, das „sophistische und volksschmeichelnde“ (σοφιστικὸς ἢ δημοκοπικός) Leben an achter. An neunter und letzter Stelle steht das Leben als Tyrann.17 Die ethische Bewertung, die in dieser Rangfolge impliziert ist, insofern die Weisheit Voraussetzung für gerechtes Handeln ist, ist bemerkenswert. Anfang und Ende der Rangordnung, Philosoph und Tyrann, überraschen nicht. Überraschender ist die
16 17
Apol. 36b. Phaidr. 248d–e.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
187
Gruppierung der politischen Tätigkeit auf einer Ebene mit der haushaltenden und erwerbstätigen. Diese drei Tätigkeiten sind offenbar in gewisser Hinsicht qualitativ gleichwertig, genau wie die anderen Tätigkeiten, die auf gleicher Stufe gruppiert sind: Der erste Rang dient nur den höchsten geistigen Erkenntnissen, der unterste nur den niedersten leiblichen Genüssen. Dazwischen stehen jene, die um die intermediären Güter Ehre, Macht, Geld und Gesundheit bemüht sind. Genaueres über den suggerierten Zusammenhang zwischen städtischem Regiment, Hausverwaltung und Gelderwerb erfährt man allerdings nicht. Bemerkenswert ist, dass der chrēmatistikos nicht mit dem demourgikos oder geōrgikos auf einer Stufe steht, sondern deutlich darüber. Der Erwerb von Vermögen erfordert offenbar mehr ‚Wissen/Weisheit‘ als die bloße Herstellung handwerklicher oder landwirtschaftlicher Güter. Dieselbe Beiordnung von Haushaltung und Erwerb findet sich in der Politeia. Der platonische Sokrates kritisiert, dass gegenwärtig nur die Knaben mit der Philosophie in Berührung kämen, „nach der Kindheit und bevor sie sich Hausverwaltung und Erwerbsleben (οἰκονομίας καὶ χρηματισμοῦ) nähern“.18 Wie im Phaidros wird die Philosophie übergeordnet und Haushaltung und Erwerb werden einander beigeordnet, fast wie ein Hendiadyoin.19 Diese Beiordnung wird in der Beschreibung des Wächterstands im dritten Buch noch deutlicher. Dessen Behausungen sollen „soldatisch“ und nicht „erwerbstechnisch“ (χρηματιστικάς) angelegt sein.20 Damit niemand „privates Vermögen“ (οὐσίαν […] ἰδίαν) besitzt oder „Haus und Vorratskammer“ (οἴκησιν καὶ ταμιεῖον), sollen die Wächter wie ein Kriegsheer zusammenleben und nicht mehr Bezüge erhalten als sie für den aktuellen Bedarf brauchen. Es ist ihnen verboten, Gold und Silber zu beschaffen, zu besitzen oder auch nur zu berühren, sie dürfen es nicht im Haus oder an der Kleidung haben oder als Tafelgeschirr benutzen. Sie dürfen kein eigenes Land, Häuser oder Münzgeld besitzen, damit sie nicht zu „Haushältern und Landwirten“ (οἰκονόμοι καὶ γεωργοί) werden, weil sie dies von ihrer Wächteraufgabe abbrächte und unter ihnen Misstrauen und Hass schüren würde.21 Platons besitzloser und gemeinschaftlich lebender Kriegerstand ähnelt dem seit dem 5. Jh. verbreiteten Idealbild eines vergangenen Sparta.22 Für Platons Begriffe von oikonomia und chrēmatistikē ist relevant, dass sein kontrafaktisches Bild eine Punktfür-Punkt-Umkehrung der von ihm kritisierten gegenwärtigen Zustände ist. Das Haus steht im Zentrum. Es ist der physische Ort, an dem Reichtümer zusammengetragen werden, und zugleich selbst Vermögenswert. Hier werden die Reichtümer verwahrt und ausgestellt: edelmetallenes Tafelgeschirr, golddurchwirkte Gewänder. Das private Haus und der auf seine Bereicherung gerichtete Erwerb ist der Grund dafür, dass die
18 19 20 21 22
Rep. 6, 497e–498a. So die Formulierung von Natali 1990, 298 f. Plat. rep. 3, 415e. Rep. 3, 416d–417b. Vgl. rep. 8, 544c–550c und Kap. 3.3.1.
188
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Bürger ihre gemeinnützigen Pflichten missachten. Die Sorge um das eigene Haus ist nicht bloß unedel, sie bedroht die bürgerschaftliche Gemeinschaft, weil sie Konkurrenz und Konflikt zwischen den Haushalten verschärft.23 Einmal mehr verknüpft Platon Hauswirtschaft und Statuskonkurrenz kausal (vgl Kap. 3.2.3 und 3.3.1). Erwerbskunst und Haushaltung werden dabei eng verknüpft. In einem Wohnhaus, das chrēmatistikē ist, werden geldwerte Besitztümer vom Hausherrn, dem oikonomos, zusammengebracht und bewacht. Der oikonomos ist zugleich chrēmatistēs, Erwerbsmann. Allerdings, um mit einer Wendung von Carlo Natali zu sprechen, ist er kein moderner Geschäftsmann, sondern ein Hausvater, der, wie Kephalos zu Beginn der Politeia, bemüht ist, das Vermögen, das er seinen Söhnen vererben wird, zu vergrößern oder wenigstens zu erhalten, um damit den Status des Hauses zu bewahren.24 Platons Bild des chrēmatistēs – auch dies übrigens ein Gelehrtenbegriff, der nicht vor Platons Zeit belegt ist25 – ist ambivalent. Einerseits ist die Erwerbskunst notwendig, denn sie stellt den Reichtum bereit, der als externes Gut zwar nicht an sich gut, aber doch notwendig für das gute Leben ist.26 Kriton, der uns bereits als ein der Philosophie zugewandter Erwerbsmann begegnet ist,27 hält die Erwerbskunst für prinzipiell „edel“, ebenso wie andere intermediäre Fähigkeiten wie Turnkunst, Redekunst und Kriegskunst. Er schränkt allerdings gleich darauf ein, dass die meisten Menschen, die diese Sachen betrieben, sich dabei lächerlich machten.28 Diese Einschränkung erklärt, wieso Platon annehmen kann, dass die Erwerbskunst für edel gehalten werde, der Erwerbsmann jedoch „von allen verachtet“ sei. Es handelt sich hier um die Figur des Erwerbmannes schlechthin, der „Reichtum“ (πλοῦτον) nicht bloß für notwendig hält, sondern sogar meint, er sei „das größte Gut (ἀγαθόν) für die Menschen“.29 Diese Figur, mit der sich der Rezipient des Textes eben nicht identifiziert, hat Mittel und Zweck vertauscht und verfehlt das rechte Leben. Denn der Gelderwerb ist, in der Definition des Gorgias, „die Kunst sich aus der Armut zu be-
23 24 25
26 27 28 29
Vgl. Kap. 3.3.1. Natali 1990, 299 mit Verweis auf Plat. rep. 1, 330b. In der Komödie ist der Ausdruck gar nicht, in Gerichtsreden nur zweimal belegt, bei Lys. fr. 512 Carey (= Suda s. v. χρηματιστής) und bei Demosth. 39.25, dort übrigens in neutraler bis positiver Verwendung (ein schlechter chrēmatistēs hinterlässt seinen Erben ein zu schmales Vermögen); in den Geschichtswerken taucht der Ausdruck nur bei Ephor. FGrH 70 F 42 (= Strab. 7.3,9) auf und zwar in einer womöglich philosophisch angehauchten utopischen Beschreibung der zivilisationsfernen Skythen. Plat. Gorg. 451e–452d zusammen mit Schönheit und Gesundheit; die Sicht ist konventionell, Platon zitiert ein bekanntes Trinklied; vgl. Gorg. 478a–b. Euthyd. 304c; zur Person des Kriton s. Kap. 4.1.1. Euthyd. 307a. Gorg. 452b–c.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
189
freien“ – mehr nicht.30 Wir werden dieser Grenzfigur des ‚absoluten Chrematisten‘ bei Aristoteles wieder begegnen (Kap. 6.1.4). Platon knüpft an die Schlagworte chrēmatismos, chrēmatizesthai und chrēmatistikē also eine Diskussion des Problems an, das ich als ‚Adelsdilemma‘ bezeichnet habe (Kap. 3.3). Reichtum um seiner selbst willen ist nicht gut, sein Erwerb unfein oder sogar schändlich.31 Aber weil die realen Zeitgenossen nicht in Platons utopischer Stadt leben, müssen sie sich der Notwendigkeit beugen und sich als Erwerbsleute betätigen, obwohl sie das allzu fleißige und offenkundige Streben nach Reichtum verachten. Sie sind ‚widerwillige Ökonomen‘, die dem Wirtschaften keinen Selbstwert beimessen. So erklärt Sokrates im Gorgias:32 So auch bei den Schifffahrttreibenden und die ein anderes Gewerbe um des Erwerbs willen betreiben (τὸν ἄλλον χρηματισμὸν χρηματιζόμενοι), ist, was sie wollen, nicht dasjenige, was sie jedesmal tun. Denn wer will wohl zur See fahren und Gefahren eingehen und Händel haben? Sondern das, denke ich, um deswillen sie zu Schiffe gehen, ist das Reichwerden (πλουτεῖν); denn um des Reichtums willen gehen (πλούτου ἕνεκα) sie zu Schiffe.
Für die Bedeutung des Worts oikonomia ist festzuhalten: Für Platon bedeuteten oikonomia und oikonomikē, Haushaltung und Haushaltungskunst, gerade nicht das Gegenteil zu chrēmatismos und chrēmatistikē, Erwerb und Erwerbskunst, im Sinne einer Kontrastierung von ‚Hauswirtschaft‘ und ‚Marktwirtschaft‘. Im Gegenteil: Der Erwerb ergibt sich aus der Haushaltung und wird in der Regel als Gelderwerb gedacht. Das genaue Verhältnis dieser Tätigkeiten und der dazugehörigen Wissensformen lässt Platon allerdings implizit. 6.1.2 „Das Haus vergrößern“: Die gewinnorientierte Haushaltung bei Xenophon In Xenophons Oikonomikos dominiert der wirtschaftliche Aspekt von oikonomia noch deutlicher als bei Platon. Die Schrift beginnt mit der allgemeinen Definition der Haushaltung als Fachwissen (epistēmē) resp. Kunstfertigkeit (technē), deren Zweck die „gute Leitung des Hauses“, wörtlich „das eigene Haus gut hausen“ (εὖ οἰκεῖν τὸν ἑαυτοῦ οἶκον) sei.33 Bereits der darauffolgende Satz steuert auf den speziell wirtschaftlichen 30 31 32
33
Gorg. 477e: τίς οὖν τέχνη πενίας ἀπαλλάττει; οὐ χρηματιστική; vgl. 477a–b die Definition der „Armut“ (πενία) als Mangel an Vermögen (chrēmata); wiederholt in 478a–b. Zu Platons Formulierung des Problems zuletzt Schriefl 2013, 69, 262–273. Plat. Gorg. 467d. Οὐκοῦν καὶ οἱ πλέοντές τε καὶ τὸν ἄλλον χρηματισμὸν χρηματιζόμενοι οὐ τοῦτό ἐστιν ὃ βούλονται, ὃ ποιοῦσιν ἑκάστοτε (τίς γὰρ βούλεται πλεῖν τε καὶ κινδυνεύειν καὶ πράγματ’ ἔχειν;) ἀλλ’ ἐκεῖνο οἶμαι οὗ ἕνεκα πλέουσιν, πλουτεῖν· πλούτου γὰρ ἕνεκα πλέουσιν. Adapt. Übers. F. Schleiermacher. Xen. oik. 1.1–4.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Aspekt dieser Kunst zu. Die Haushaltsführung sei nämlich ein Fachwissen, dass der oikonomos, wie der Baumeister, auch als „Lohntätigkeit“ (μισθοφορεῖν) für einen anderen anwenden könne. Besonders hoch werde die Bezahlung (misthos) dann sein, wenn es dem Verwalter gelinge, nicht nur „die Ausstände des Hauses/Vermögens zu begleichen (οἶκον παραλαβὼν τελεῖν), sondern zusätzlich „einen Überschuss zu erzielen und damit das Haus/Vermögen zu vergrößern“ (περιουσίαν ποιῶν αὔξειν τὸν οἶκον).34 Carlo Natali hat hervorgehoben, dass diese Definition direkt an das Alltagsverständnis anknüpft. In den Gerichtsreden ist es ebenfalls die Aufgabe des Hausvorstands, den oikos im Sinne von Vermögen zu vergrößern, auxein.35 Oikonomia hat bei Xenophon im doppelten Sinn wirtschaftliche Bedeutung. Sie ist eine potentiell einträgliche Beschäftigung und sie dient dem Erzielen eines Überschusses. Klaus Meyer hebt hervor, dass diese Einleitung nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt der Haushaltsführung betont, sondern zusätzlich ökonomisch relevante Unterscheidungen einführt. Indem Xenophon die Möglichkeit thematisiert, dass man gegen Lohn ein fremdes Haus/Vermögen verwaltet, unterscheidet Xenophon die Rolle des Eigentümers, der das Kapital bereitstellt, von der des Verwalters (oder neudeutsch Managers), der seine Arbeit bereitstellt und dafür Lohn oder eine Gewinnbeteiligung empfängt. Ebenfalls angedeutet ist die Unterscheidung zwischen Kosten und Gewinn.36 Die Betonung des wirtschaftlichen Aspekts wird in der darauffolgenden Definition von oikos fortgeführt. Kritobulos schlägt vor, zum Haus gehöre nicht nur das Wohnhaus (oikia), sondern alles was ein Mann besitze, auch außerhalb der eigenen Stadt (πάντα τοῦ οἴκου εἶναι ὅσα τις κέκτηται).37 Es geht also um eine rechtliche Definition, die den oikos mit dem Gesamtbesitz, ktēsis, identifiziert, entsprechend der Definition von oikos im attischen Recht.38 Gleich darauf wird eingeschränkt, nicht der bloße Besitz sei entscheidend, sondern sein richtiger Gebrauch, denn erst er mache aus Besitztümen (κτήματα) Vermögenswerte (χρήματα) (zu dieser Unterscheidung ausführlich Kap. 6.2.1).39 Xenophons Sokrates lehnt also sowohl eine räumliche als auch eine rechtliche Definition des Hauses ab und schlägt stattdessen eine ökonomische Definition vor. Der oikos eines Mannes ist die Summe seiner chrēmata, d. h. derjenigen Besitztümer, die er sich zunutze machen kann, um einen Überschuss, periousia, zu erzielen und damit wiederum seine Summe an chrēmata zu vergrößern. Man fühlt sich an die LehrbuchDefinition des Zwecks eines Unternehmens erinnert: „All business firms are created for essentially one purpose: to increase the wealth of their members.“40 Die Gewinn34 35 36 37 38 39 40
Oik. 1.4. Natali 2005, 218 f. mit entsprechenden Belegen. Meyer 1975, 100 f. Xen. oik. 1.5. Oik. 1.7: οἶκος ἀνδρὸς εἶναι ὅπερ κτῆσις. Vgl. MacDowell 1989b. Oik. 1.7–15. Alchian/Allen 1983, 183.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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orientierung der oikonomia hebt Xenophon im Folgenden noch mehrfach hervor. Kritobulos sucht Sokrates’ Rat, weil er meint, dieser „wisse wie man reicher wird, indem man einen Überschuss erzielt“.41 Der Weg dahin ist der effiziente Einsatz der verfügbaren Mittel. Denn unterschiedliche Leute würden mit den gleichen ‚Werken‘ arm, andere hingegen reich:42 Denn diejenigen, die ihre Arbeit planlos (εἰκῇ) verrichteten, sah ich Verlust erleiden (ζημιουμένους), diejenigen aber, die sich mit ernsthafter Absicht darum kümmerten, sah ich schneller, leichter und mit größerem Gewinn arbeiten (τοὺς δὲ γνώμῃ συντεταμένῃ ἐπιμελουμένους καὶ θᾶττον καὶ ῥᾷον καὶ κερδαλεώτερον κατέγνων πράττοντας). Ich glaube, dass auch du, wenn du von diesen lernen willst und der Gott sich dir nicht entgegenstellt, ein sehr tüchtiger Erwerbsmann wirst (πάνυ ἂν δεινὸν χρηματιστὴν γενέσθαι).43
Sokrates werden hier Wörter aus der Welt des Handels und des Geldgeschäfts in den Mund gelegt: ‚Verlust‘ (zēmia), ‚Gewinn‘ (kerdos), ‚Erwerbsmann‘ (chrēmatistēs). Das ist nicht bloße Ironie. Das Versprechen, Kritobulos zum „Erwerbsmann“ zu machen, motiviert Kritobulos erst recht, von Sokrates mehr über die Kunst der Haushaltsführung zu erfahren. Sokrates fährt fort, auf Gebiete zu verweisen, auf denen Effizienzsteigerung möglich ist: Ordnung im Haus, Behandlung der Sklaven, Ackerbau, Pferdezucht. Die Pferdezucht, ein traditionell ‚adliges‘ Betätigungsfeld, wird als Geschäft beschrieben, das Männer „vermögend“ (εὔπορος) mache, indem es ihnen Gewinn (kerdos) einbringe. Denn Pferde seien „gut zum Gebrauch und gewinnbringend beim Verkauf “.44 Wichtig ist bei all dem, nicht „aufs Geratewohl“, eikē, zu tun und „gewieft“, deinos, zu sein. Das sind exakt die Wörter, mit denen der Sprecher von Lysias’ Rede Über den Ölbaum sein rationales Gewinnstreben beschreibt, um zu erläutern, warum er niemals ein großes Risiko für einen geringen Gewinn eingegangen wäre.45 Der Primat von Effizienz und Gewinn findet sich nicht nur im einleitenden Gespräch mit Kritobulos, sondern auch im gesamten Ischomachos-Gespräch. Das soziale Bedeutungsfeld der oikonomia, die Herrschaft über Frau, Kinder und Unfreie, wird zwar betreten, doch der leitende Gesichtspunkt bleibt dabei, wie deren produktive Arbeit durch gute Führung und Erziehung sichergestellt werden könne (dazu noch Kap. 6.3.1 und 6.3.3). Wenn der Oikonomikos „ein Buch zur Ethik“ ist, wie Finley meint,46 dann
41 42 43
44 45 46
Xen. oik. 2.10: πλουτηρὸν ἔργον ἐπιστάμενον περιουσίαν ποιεῖν. Oik. 2.17. Oik. 2.18: τοὺς μὲν γὰρ εἰκῇ ταῦτα πράττοντας ζημιουμένους ἑώρων, τοὺς δὲ γνώμῃ συντεταμένῃ ἐπιμελουμένους καὶ θᾶττον καὶ ῥᾷον καὶ κερδαλεώτερον κατέγνων πράττοντας. παρ’ ὧν ἂν καὶ σὲ οἶμαι, εἰ βούλοιο, μαθόντα, εἴ σοι ὁ θεὸς μὴ ἐναντιοῖτο, πάνυ ἂν δεινὸν χρηματιστὴν γενέσθαι. Adapt. Übers. G. Audring. Oik. 3.5–9: κερδαλέων εἰς πώλησιν ὄντων. Zur Lysias-Stelle vgl. Kap. 8.2 und 13.1. Finley [1973] 1993, 9.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
eine Ethik, für die Vermögensbewahrung eine Kardinaltugend und Erwerb die wichtigste Sekundärtugend ist. Xenophons Sprache unterstreicht den gewinnorientierten Charakter der von ihm beschriebenen Hauswirtschaft. Das Gespräch über die Haushaltsführung selbst wird mit einer „Geschäftspartnerschaft“ (χρημάτων κοινωνήσαντας) verglichen, bei der es schön sei, wenn man in der Abrechnung übereinstimme.47 Die Frau wird als „Vermögenspartner“ (χρημάτων κοινωνόν) bezeichnet, der man alle Vermögenswerte offen anzeige, nicht behaupte mehr zu haben, als man tatsächlich besitze, und keine gefälschten Waren vorzeige – also Geschäftstugenden unter Beweis stellt.48 Schon zuvor hat Ischomachos die Ordnung im Laderaum eines Handelsschiffs als Vorbild für den gut geordneten Haushalt beschrieben. Xenophon hebt hervor, es sei „mit Fracht vollbeladen, die ein Schiffseigentümer des Gewinns wegen (κέρδους ἕνεκα) befördert“.49 Diese Parallelisierung von Hauswirtschaft und Handelsschifffahrt wird am Ende des Oikonomikos noch einmal aufgegriffen. Wie wir sahen, konterte Sokrates Ischomachos Behauptung, sein Vater sei der „ackerbauliebendste“ Athener gewesen, weil er Land kaufte und gewinnbringend weiterverkaufte, mit der Bemerkung, dann seien wohl auch die Händler „getreideliebend“, weil sie es nur dort verkauften, wo es den meisten Gewinn einbringe. Ischomachos entgegnet, dass in der Tat jeder liebe „was ihm Nutzen bringt“ (ὠφελεῖσθαι), auch wenn dieser im Verkauf bestehe, wie bei einem gewerblichen Hausbauer.50 Nachdem der gesamte Dialog darauf zielte, die Landwirtschaft als edelste und menschenfreundlichste Betätigung vorzuführen, wird sie nun auf eine Ebene mit anderen kommerziellen Tätigkeiten, wie Getreidehandel oder Hausbau, gestellt, die man für ihren geldwerten „Nutzen“ betreibt. Strauss und andere Kommentatoren haben es als Widerspruch empfunden, dass die traditionelle Kunst der Haushaltsführung hier zur Erwerbskunst wird, zur chrēmatistikē in Platons Worten (Xenophon selbst benutzt das Wort nicht), insbesondere da Sokrates Wortführer ist. Ihre Erklärungen beruhen auf der Annahme einer Differenz von Gesagtem und Gemeinten: Der Dialog sei ein Gedankenspiel mit Extremen, eine versteckte Kritik an oder Satire von Ischomachos materialistischer Orientierung (vgl. Kap. 5.1). Aber Xenophon ist im Oikonomikos nicht um Doppelbödigkeiten bemüht, sondern um eine Ehrenrettung des Sokrates, und zu diesem Zweck stellt er ihn wie in den Memorabilien als lebensklugen Ratgeber dar. Und wie in den Memorabilien beziehen sich Sokrates’ Ratschläge im Bereich der Hauswirtschaft darauf, wie sich Geldeinkünfte finden lassen. Ein Hinweg-Erklären der offen artikulierten Gewinnorientierung ist auch deshalb nicht nötig, weil Xenophons oikonomia bei aller Geldgewinnorientierung Hauswirt47 48 49 50
Xen. oik. 6.3. Oik. 10.3; vgl. Harris 2014, 196–198 zur kommerziellen Sprache dieser Passage. Oik. 8.12. Oik. 20.27–29.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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schaft bleibt. Der Geldgewinn ist kein Selbstzweck, er dient der Bedarfsdeckung der Hausgemeinschaft. Xenophon hat dabei eine ähnliche soziale Umwelt des Hauses vor Augen wie Platon. Die Bürger sind als Hausväter in Sorge um den Erhalt ihres Hauses. Weil der Bedarf aufgrund öffentlicher Verpflichtungen mit zunehmendem Reichtum nicht sinkt, sondern steigt, ist eine Steigerung der hauswirtschaftlichen Effizienz nötig und der Bedarf nie abschließend gedeckt (vgl. Kap. 3.2.1). Wie bei Platon wird diese Sorge um das Haus als oikonomia beschrieben. Gelderwerb ist ein integraler und prominenter Bestandteil dieser Haushaltsführung. Platon und Xenophon teilen also dasselbe Verständnis von oikonomia, kommen aber zu gegensätzlichen Bewertungen. Platon sieht in der Nutzenmaximierung der individuellen Haushalte den Grund für Konkurrenz und Konflikte unter den Bürgern und eine Vernachlässigung des Gemeinwesens. Xenophon hingegen erklärt den hauswirtschaftlichen Erfolg zur Voraussetzung für das Gedeihen des Gemeinwesens. In jedem Fall findet sich weder bei Xenophon noch bei Platon eine klare Trennung oder Gegenüberstellung von oikonomia/ oikonomikē und chrēmatistikē. Erst Aristoteles hat sich darum bemüht, beide Begriffe eindeutig voneinander abzugrenzen. 6.1.3 Die Unterscheidung von Haushaltung und Erwerb bei Aristoteles Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Haushaltsführung und Erwerb erfordert eine ausführlichere Behandlung, weil seine Überlegungen nicht nur das Forschungsbild der antiken griechischen Hauswirtschaft beeinflusst haben, sondern auch die Begrifflichkeit der Forschung selbst. Aristoteles’ Überlegungen in Politik I erfordern aber auch deshalb eine gründliche Analyse, weil er Haushaltsführung und Erwerb weder zusammengeworfen als unfein marginalisiert, wie es Platon tut, noch sich mit dem Alltagsverständnis zu diesen Themen begnügt, wie Xenophon. Aristoteles eröffnet das erste Buch der Politik mit einer Kritik an der Gleichsetzung aller Herrschaftsformen, wie sie bei Platon und Xenophon zu finden ist:51 „All jene nun, die glauben, dass ‚städtisch‘, ‚königlich‘, ‚haushälterisch‘ (οἰκονομικόν) und ‚herrisch‘ dasselbe seien, „legen die Sache nicht gut dar“ (οὐ καλῶς λέγουσιν)“.52 Diese Aussage bezieht sich nicht auf die Ebene des Bezeichneten, sondern auf das Bezeichnende; Aristoteles kritisiert nicht die Beschreibung von Haus und Stadt als System von Herrschaftsbeziehungen. Diese führt er selbst fort. Er kritisiert eine Ungenauigkeit im Sprachgebrauch (legousin), die zu falschen theoretischen Ansichten führe. Aristoteles ordnet seine Äußerungen zur oikonomia gleich zu Beginn einem gelehrten Diskurs zu, in dem es vor allem auch um die Frage des richtigen Sprachgebrauchs geht. Dabei setzt 51 52
Besonders prominent in Plat. polit. 259b; zu Xenophon vgl. Kap. 6.1.2. Aristot. pol. 1, 1252 a 7–9: ὅσοι μὲν οὖν οἴονται πολιτικὸν καὶ βασιλικὸν καὶ οἰκονομικὸν καὶ δεσποτικὸν εἶναι τὸν αὐτὸν οὐ καλῶς λέγουσιν.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
sich die bei Platon sichtbar gewordene Tendenz zur semantischen Systematisierung fort. In Aristoteles’ teleologischem Modell menschlicher Gemeinschaften, an dessen Spitze die Stadtgemeinde als „höchste und allumfassende Gemeinschaft“ steht, steht der Haushalt, oikos (resp. oikia) auf mittlerer Stufe.53 Er besteht aus den Untereinheiten Mann und Frau sowie Herr und Sklave. Das dieser Vergemeinschaftung spezifische Kunstkönnen (τι τεχνικόν), die oikonomia, ist also zunächst Bezeichnung der umfassenden Haushaltsführung. Zu Beginn betont Aristoteles den sozialen Aspekt des Hauses, Herrschaft und Vergemeinschaftung: Der oikos ist das ‚ganze Haus‘, ein hierarchisch gegliederter, vom Hausvater beherrschter Personenverband.54 In der dann folgenden Behandlung der oikonomia konzentriert sich Aristoteles allerdings genau wie Platon und Xenophon auf den wirtschaftlichen Aspekt der Kunst der Haushaltsführung. Schon zu Beginn heißt es, der Haushalt bilde sich um der Deckung des täglichen Bedarfs willen.55 Seine Behandlung der Sozialbeziehungen im Haus beginnt Aristoteles nicht bei der Beziehung des Hausherrn zur Ehefrau, sondern dessen Beziehung zu den Sklaven, und zwar mit der Begründung, er wolle „die Dinge, die den notwendigen Bedarf betreffen“ (τά τε πρὸς τὴν ἀναγκαίαν χρείαν) untersuchen.56 Kurz darauf heißt es:57 Der Besitz ist nun deshalb Teil des Hauses und die Besitz-Erwerbskunst Teil der Haushaltsführung (ἡ κτῆσις μέρος τῆς οἰκίας ἐστὶ καὶ ἡ κτητικὴ μέρος τῆς οἰκονομίας) (ohne die notwendigen Mittel ist nämlich weder ein bloßes noch ein gutes Leben möglich), weil, so wie den fest umrissenen Fachkünsten die speziellen Werkzeuge (τὰ οἰκεῖα ὄργανα) zu Gebote stehen müssen, damit dass Werk (ἔργον) vollendet werden kann, so auch dem, der die Haushaltskunst ausübt. Diese Werkzeuge aber sind unbeseelt und beseelt […]; auf diese Art ist auch ein Besitzstück ein Werkzeug zum Leben und Besitz eine Menge an Werkzeugen, und auch der Sklave ist ein beseeltes Besitzstück (κτῆμά τι ἔμψυχον), und jeder Untergebene wie ein Werkzeug an Stelle vieler Werkzeuge.
Aristoteles beginnt also mit einer allgemeinen Definition der sozialen Elemente des Hauses, um gleich darauf deutlich zu machen, dass der Gang seiner Untersuchung von
53 54 55 56 57
Pol. 1, 1252 a 1–7, b 27–30. Vgl. für eine ausführliche Darstellung von Aristoteles’ Theorie des Haushalts als Kerneinheit der Stadtgemeinschaft Nagle 2006. Pol. 1, 1252 a 18–34; vgl. Koslowski [1974] 1993, 50; Winterling 2003, 69–71; Nagle 2006, 202. Pol. 1, 1252 b 9–16. Pol. 1, 1253 b 15 f. Pol. 1, 1253 b 23–33: Ἐπεὶ οὖν ἡ κτῆσις μέρος τῆς οἰκίας ἐστὶ καὶ ἡ κτητικὴ μέρος τῆς οἰκονομίας (ἄνευ γὰρ τῶν ἀναγκαίων ἀδύνατον καὶ ζῆν καὶ εὖ ζῆν), ὥσπερ δὴ ταῖς ὡρισμέναις τέχναις ἀναγκαῖον ἂν εἴη ὑπάρχειν τὰ οἰκεῖα ὄργανα, εἰ μέλλει ἀποτελεσθήσεσθαι τὸ ἔργον, οὕτω καὶ τω οἰκονομικῷ. τῶν δ᾿ ὀργάνων τὰ μὲν ἄψυχα τὰ δ᾿ ἔμψυχα […], οὕτω καὶ τὸ κτῆμα ὄργανον πρὸς ζωήν ἐστι, καὶ ἡ κτῆσις πλῆθος ὀργάνων ἐστί, καὶ ὁ δοῦλος κτῆμά τι ἔμψυχον, καὶ ὥσπερ ὄργανον πρὸ ὀργάνων πᾶς ὑπηρέτης.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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einem speziellen Interesse an deren wirtschaftlichen Funktion gelenkt wird.58 Dieses spezielle Interesse zeigt sich auch daran, dass Aristoteles der Diskussion des Sklaven als Besitz und Werkzeug des Erwerbs viel Platz einräumt, während er die Beziehung des Hausherrn zu Frau und Kindern nur kurz und fast wie einen Exkurs zur Sklaverei bespricht.59 Diese Beziehungen sind Aristoteles nicht etwa unwichtig. Aber er behandelt sie an anderer Stelle in der Politik, nämlich dort wo es um Erziehung geht, statt um Wirtschaft.60 Nachdem Aristoteles bereits die Sklaverei unter dem Doppelaspekt Besitz und Erwerb diskutiert hat, will er anschließend „ingesamt alles in Hinsicht auf Besitz und Erwerbskunst“ (ὅλως δὲ περὶ πάσης κτήσεως καὶ χρηματιστικῆς) betrachten.61 Zunächst soll das Verhältnis der Erwerbskunst zur Haushaltungskunst genauer bestimmt werden: Aristoteles stellt mehrere Fragen: Ist die chrēmatistikē der oikonomikē gleichzusetzen, ist sie ein Teil von ihr (μέρος τι) oder dieser untergeordnet?62 Falls die Erwerbskunst der Haushaltung untergeordnet ist, in welcher Weise? Als Bereitstellung der Werkzeuge, wie die Herstellung der Weberschiffchen der Weberei untergeordnet ist? Oder als Bereitstellung des Materials, so wie die Metallgewinnung der Bildhauerkunst untergeordnet ist?63 Die Wahl der Beispiele, die auf Arbeitsteilung in der Produktion verweisen, unterstreichen einmal mehr das Interesse am wirtschaftlichen Aspekt der häuslichen Organisation. Aristoteles beantwortet die erste Frage gleich selbst: Erwerbskunst und Haushaltungskunst sind nicht identisch. Denn während jener „die Bereitstellung der Mittel“ (τὸ πορίσασθαι) obliege, d. h. „darauf zu schauen, woher Vermögen und Besitz (χρήματα καὶ κτῆσις) kommen“, obliege „dieser der Gebrauch“ (τῆς δὲ τὸ χρήσασθαι). „Der Gebrauch der Güter im Haus“ (ἡ χρησομένη τοῖς κατὰ τὴν οἰκίαν) ist die Aufgabe der Haushaltungskunst, fasst Aristoteles zusammen.64 Die zweite Frage, ob die Erwerbskunst Teil der Haushaltsführung oder aber ganz verschiedener „Gestalt“ (εἶδος) sei, sei schon offener. Der Ausdruck eidos, ‚Begriff ‘, signalisiert, dass Aristoteles auch hier wieder dihäretische Nuancierung im Sinn hat.65 Hier könne man unterschiedlicher Meinung sein, meint Aristoteles, und „viele meinen“ sogar, die widernatürliche Erwerbskunst sei mit der naturgemäßen identisch.66 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Dazu Schütrumpf 1991, 235 f. Aristot. pol. 1, 1259 b 27–1260 b 19. Pol. 1, 1260 b 12–17 deutet diese Aufteilung an; in der überlieferten Fassung der Politik wird die indirekte Ankündigung in Buch 7 und 8 eingelöst, vgl. Schütrumpf 1991, 283 f. Aristot. pol. 1, 1256 a 1–2. Für Untersuchungen speziell zum Begriff der Chrematistik bei Aristoteles vgl. Shellens 1952; Pellegrin 1982; Venturi 1983; Natali 1990. Vgl. Nielsen 2013, 70–75 für eine jüngere, jedoch weitgehend deskriptive Darstellung. Aristot. pol. 1, 1255 b 40–1256 a 10. Pol. 1, 1256 a 10–16. Vgl. Schütrumpf 1991, 304 f. Aristot. pol. 1, 1256 a 13 f., 1256 b 39–1257 a 2.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Häufig verstehe man „unter Reichtum (πλοῦτον) die Menge Münzgeldes (νομίσματος πλῆθος), weil die Erwerbskunst und Handelstätigkeit sich darum drehen“.67 Einige meinten sogar, Gelderwerb sei „das Werk der haushaltenden Kunst“ (τῆς οἰκονομικῆς ἔργον), nämlich „ein Vermögen aus Münzgeld bis ins Grenzenlose zu vergrößern (αὔξειν)“.68 Aristoteles referiert hier offenbar verbreitete Alltagsauffassungen, welche die Folie für seine eigenen begrifflichen Differenzierungen bilden.69 Die Signalwörter dafür sind das mehrfach wiederholte auxein und auxēsis, Ausdrücke, die auch bei Platon auftauchen, wo es um grenzenlos expandierende Hauswirtschaft geht, und, ins Positive gewendet, bei Xenophon.70 Aristoteles entwickelt seine eigenen Begriffe von Haushaltungskunst und der ‚natürlichen‘ und der ‚widernatürlichen Erwerbskunst‘ also ausdrücklich gegen den üblichen Sprachgebrauch. Und dort, wo Aristoteles’ Hauptinteresse nicht der exakten Begriffsbestimmung gilt, fällt er selbst auf den üblichen Sprachgebrauch zurück.71 In Politik V heißt es vom ‚königsgleichen‘ Tyrannen, dass er die Finanzen der Stadt wie ein oikonomos (im Sinne eines vom Eigentümer eingesetzten Verwalters) verwalten solle und nicht wie ein Tyrann.72 Das schließt die Einnahmenseite ein: Der Tyrann solle nicht nur sparsam bei den Ausgaben sein, sondern auch über die Notwendigkeit von Vermögenssteuern und Liturgien Rechenschaft ablegen, indem er zeige, dass sie „wegen der oikonomia“ eingezogen würden.73 Diese Formulierung widerspricht der in Politik I getroffenen Unterscheidung zwischen Erwerbskunst und Haushaltskunst zwar nicht inhaltlich (die Gewinnung von Einkünften dient ja der Haushaltsführung, indem sie die notwendigen Mittel bereitstellt), zeigt aber, dass Aristoteles die Gewinnung von Einkünften zu den Aufgaben des oikonomos zählt, anstatt sie einer begrifflich abgetrennten Rolle eines chrēmatistēs zuzuweisen. Gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik bezeichnet Aristoteles die oikonomikē sogar direkt als „Fachkönnen und Wissen“ (technē kai epistēme) mit dem Ziel (telos), Reichtum (ploutos) zu erzeugen.74 67 68 69 70 71 72 73 74
Pol. 1, 1257 b 8–10. Pol. 1, 1257 b 34–40: ἄυξειν τὴν τοῦ νομίσματος οὐσίαν εἰς ἄπειρον. Vgl. Singer 1958, 50. Natali 2005, 218 f. mit Belegen aus den Gerichtsreden, die allerdings nicht auxein verwenden. Vgl. Schütrumpf 1991, 179 mit Bezug auf die Definitionen in Politik I und Düring 1966, 226 als allgemeiner Zug von Aristoteles’ Methode. Aristot. pol. 5, 1314 a 40–b 18. Pol. 5, 1314 b 14 f. Eth. Nic. 1, 1094 a 6–9; Natali 1990, 298 zitiert die Stelle als Beleg dafür, dass man auch bei Aristoteles „contre sa doctrine officiell“ die im 4. Jh. populäre Auffassung der gewinnträchtigen Ökonomik anträfe; das ist überzeugend, allerdings gibt Natali die Stelle ungenau wieder: „on trouve parfois l’idee que la fin de l’οἰκονομία est l’argent“. Aristoteles selbst spricht allerdings nicht von Geld, sondern von ploutos, „Reichtum“; das lässt offen, inwiefern die Stelle der allgemeinen Auffassung folgt, die Reichtum v. a. in Geldbesitz misst, so wie rhet. 1, 1361 a 12–14, oder der speziellen Auffassung von Politik I, die Reichtum als hinreichende Menge notwendiger Güter definiert; die zitierte Passage belegt nicht Aristoteles’ theoretische Inkonsistenz, sondern eher seinen lässigen Sprachgebrauch.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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Die wichtigsten Belege für den Stellenwert der Begriffsunterscheidungen in Politik I finden sich in Politik III, weil sich Aristoteles dort direkt zu seinen Begriffsbestimmungen äußert. Aristoteles illustriert die Verschiedenheit männlicher und weiblicher Tugenden durch Rückgriff auf das konventionelle Bild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Hauswirtschaft: Mann und Frau sei eine jeweils verschiedene Art der oikonomia zu eigen: Seine Aufgabe (ἔργον) sei es, zu erwerben (κτᾶσθαι), ihre, (das Erworbene) zu bewahren.75 Erwerb und Verwendung gehören hier, wie bei Xenophon, beide in den Bereich der oikonomia. Diese Stelle ist kein ‚Versehen‘. Denn kurz darauf verweist Aristoteles ausdrücklich zurück auf seine Definitionen von oikonomia und despoteia und des Menschen als zōon politikon im ersten Buch. Im Anschluss wiederholt Aristoteles das aus Politik I bekannte Unterscheidungsprinzip menschlicher Gemeinschaften nach ihren Zwecken und Bedürfnissen und ergänzt, es sei leicht, die Arten der Herrschaften zu unterscheiden, so wie er es ja auch in seinen „exoterischen Schriften“ häufiger tue, und nennt die despotische Herrschaft über den Sklaven eine Herrschaft mit größerem Nutzen für den Herrscher und die „Herrschaft über Kinder, die Frau und das ganze Haus, die oikonomikē genannt wird“, als Herrschaft mit gegenseitigem Vorteil.76 Der gleichzeitige Verweis auf die anspruchsvollen dihäretischen Überlegungen in Politik I und die ‚leichten‘ Unterscheidungen in den für ein breiteres Publikum gedachten exoterischen Schriften zeigt, dass Aristoteles zwischen seinem speziellen Begriff von oikonomia in Politik I, der nur die Benutzung der bereitgestellten Mittel meinte, und den allgemein üblichen weiteren Begriff von oikonomia, der den Erwerb dieser Mittel miteinschloss, inhaltlich keinen schwerwiegenden Widerspruch empfand. Aristoteles benutzte oikonomia schließlich noch in einer zwar eingeschränkten, aber allgemein üblichen Weise, wenn er damit speziell die weibliche Besorgung der häuslichen Angelegenheiten im Wohnhaus bezeichnet.77 Insgesamt verwendet Aristoteles oikonomia in fünf Bedeutungsvarianten: 1) In einem umfassenden und allgemeinbräuchlichen Sinn als Bezeichnung der Führung des ‚ganzen Hauses‘; 2) In einem etwas eingeengten und allgemeingebräuchlichen Sinn zur Bezeichnung allen Wirtschaftens zugunsten des Hauses, einschließlich außerhäusigen Erwerbs. 3) Im engeren, aber ebenfalls verbreiteten Sinn zur Bezeichnung der weiblichen Haushaltung. 4) In einem ebenfalls engen, aber in seiner Anwendung weiten Sinn zur Bezeichnung jeglicher planvoller Güterverwaltung, einschließlich öffentlicher Finanzverwaltung. Auch diese Bedeutung war in Aristoteles’ Zeit bereits allgemein etabliert.78 5) Im eingeschränkten Sinn für die Verwendung von Gütern zur Deckung des notwendigen Bedarfs der Hausgemeinschaft in Hinsicht auf deren übergeordneten Zweck, dem guten Leben als 75 76 77 78
Aristot. pol. 3, 1277 b 20–25. Pol. 3, 1278 b 17–19, 30–40. Pol. 2, 1264 b 1–6; vgl. 1265 b 24–26. S. Kap. 6.1.6.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Teil der städtischen Gemeinschaft der polis. Dieser letzte Begriff von oikonomia unterscheidet sich von allen anderen dadurch, dass er vom üblichen Sprachgebrauch ausdrücklich abweicht, dass er ausdrücklich normativ ist und dass seine Darlegung mit einer Kritik am grenzenlosen Geldgewinnstreben einhergeht. Diese Kritik formuliert Aristoteles im Zuge seiner Unterscheidung von naturgemäßer und widernatürlicher Erwerbskunst. 6.1.4 Die Unterordnung der Erwerbskunst bei Aristoteles Aristoteles widmet sich der Unterscheidung von naturgemäßer und widernatürlicher Erwerbskunst als Antwort auf die Frage, ob die Beschaffungskunst Teil der Haushaltskunst ist:79 (Diese) eine Form der Beschaffungskunst ist von Natur ein Teil der Kunst der Haushaltsführung (εἶδος κτητικῆς κατὰ φύσιν τῆς οἰκονομικῆς μέρος ἐστίν); denn ein reichlicher Vorrat an Gütern, die für das Leben unerlässlich und für die städtische und häusliche Gemeinschaft nützlich sind (θησαυρισμὸς χρημάτων πρὸς ζωὴν ἀναγκαίων, καὶ χρησίμων εἰς κοινωνίαν πόλεως ἢ οἰκίας), muss vorhanden sein – oder die Erwerbskunst muss diesen Vorrat bereitstellen, damit er vorhanden ist. In solchen Gütern scheint der wahre Reichtum (ἀληθινὸς πλοῦτος) zu bestehen. Denn der für ein vollkommenes Leben ausreichende Umfang eines solchen Besitzes (αὐτάρκεια πρὸς ἀγαθὴν ζωήν) geht nicht ins Grenzenlose (ἄπειρός) […] – (vielmehr) ist dem Besitz, wie auch sonst fachmännischen Tätigkeiten, eine Grenze gesetzt. Denn in keiner Tätigkeit ist ein Werkzeug an Menge oder Größe unbegrenzt; Reichtum ist aber eine Vielzahl von Werkzeugen zur Führung eines Haushaltes oder einer Stadtgemeinde (ὁ δὲ πλοῦτος ὀργάνων πλῆθός ἐστιν οἰκονομικῶν καὶ πολιτικῶν). Dass demnach für die Leiter eines Hauses und einer Stadtgemeinde eine bestimmte Form von Erwerbstätigkeit naturgemäß ist und aus welchem Grunde das gilt, ist somit geklärt.
Die naturgemäße Erwerbskunst wird von ihrem Zweck her bestimmt: Dieser Zweck ist die Bereitstellung ausreichender Güter zur Aufrechterhaltung des guten Lebens in der Stadtgemeinde, sowohl direkt als auch indirekt durch die Versorgung der Haushalte, die wiederum Einheiten der Stadtgemeinde bilden. Aristoteles hat zwar zu Beginn nach dem Zweck der chrēmatistikē gefragt, der „Gelderwerbskunst“, nun spricht er al-
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Aristot. pol. 1, 1256 b 25–37: ἓν μὲν οὖν εἶδος κτητικῆς κατὰ φύσιν τῆς οἰκονομικῆς μέρος ἐστίν, ὅτι δεῖ ἤτοι ὑπάρχειν ἢ πορίζειν αὐτὴν ὅπως ὑπάρχῃ ὧν ἔστι θησαυρισμὸς χρημάτων πρὸς ζωὴν ἀναγκαίων, καὶ χρησίμων εἰς κοινωνίαν πόλεως ἢ οἰκίας. καὶ ἔοικεν ὅ γ’ ἀληθινὸς πλοῦτος ἐκ τούτων εἶναι. ἡ γὰρ τῆς τοιαύτης κτήσεως αὐτάρκεια πρὸς ἀγαθὴν ζωὴν οὐκ ἄπειρός ἐστιν […]. κεῖται γὰρ ὥσπερ καὶ ταῖς ἄλλαις τέχναις·οὐδὲν γὰρ ὄργανον ἄπειρον οὐδεμιᾶς ἐστι τέχνης οὔτε πλήθει οὔτε μεγέθει, ὁ δὲ πλοῦτος ὀργάνων πλῆθός ἐστιν οἰκονομικῶν καὶ πολιτικῶν. ὅτι μὲν τοίνυν ἔστι τις κτητικὴ κατὰ φύσιν τοῖς οἰκονόμοις καὶ τοῖς πολιτικοῖς, καὶ δι’ ἣν αἰτίαν, δῆλον. Übers. E. Schütrumpf.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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lerdings von ktētikē, „Besitzerwerbskunst“. Der Grund für diesen Wechsel ist einmal mehr sein Streben nach dihäretischer Verfeinerung. Denn chrēmatistikē ist nicht bloß der allgemeine Ausdruck für Erwerbskunst, sondern zugleich der spezielle Ausdruck für ihre widernatürliche Variante, die den Geldgewinn zum Selbstzweck macht.80 Zu dieser Unterscheidung der zwei Formen der Erwerbskunst nach ihrem finalen Zweck tritt eine zweite Unterscheidung hinzu, die nach dem Ursprung der gewonnenen Güter. Die naturgemäße Erwerbskunst umfasst Viehhaltung (Nomaden), Fischfang, Jagd und Ackerbau, Erwerbsformen, die ihre Lebensgüter von Naturprodukten (ἀυτόφυτον […] τὴν ἐργασίαν) gewinnen und nicht durch „Austausch und Kramhandel“ (δι’ ἀλλαγῆς καὶ καπηλείας), wobei Aristoteles die Kriegskunst als Jagd auf Menschen der Jagd zurechnet.81 Die widernatürliche Erwerbskunst hingegen entstand laut ihm zwar aus dem naturgemäßen Austausch von Naturalgütern, welcher der Befriedigung aller Lebensnotwendigkeiten dient, doch endet sie nach einer Übergangsstufe des geldvermittelten Handels im Streben nach Geldgewinn als Selbstzweck.82 Bemerkenswert an dieser Doppelbestimmung der Erwerbskunst durch ihre Mittel und durch ihre Zwecke ist, dass sich daraus vier denkbare Kombinationen ergeben, von denen Aristoteles allerdings nur zwei anspricht und mit speziellen Begriffen versieht (vgl. Tab. 3). Die naturgemäße Erwerbskunst benützt natürliche Ressourcen, d. h. Pflanzen und Tiere, um Güter heranzuschaffen, die notwendig für die Versorgung von Haus und Stadt sind (Kombination 1). Die widernatürliche Erwerbskunst bedient sich des Geldes, um immer nur mehr Geld heranzuschaffen (Kombination 4). Denkbar ist jedoch auch, dass Ackerbau und Viehzucht um des Geldgewinns willen betrieben werden (Kombination 2) oder umgekehrt Geld verwendet wird, um die notwendigen Bedürfnisse von Haus und Stadt zu befriedigen (Kombination 3). Tabelle 3 Naturgemäße und widernatürliche Erwerbskunst bei Aristoteles Zweck (peras/telos)83 Mittel (organon + hylē)
Geld (argyrion/nomisma)
Leben, Lebenserhalt (zōē, bios)
Geld (chrēmata)
1. Widernatürliche Erwerbskunst (chrēmatistikē)
3. ?
Lebensnotwendiges (anankaia)
2. ?
4. Naturgemäße Erwerbskunst (ktētikē)
Die Frage nach den zwei nicht-thematisierten Varianten der Zweck-Mittel-Kombination ist keine Spitzfindigkeit. Denn sowohl eine gewinnorientierte Landwirtschaft 80 81 82 83
Pellegrin 1982, 638–642. Aristot. pol. 1, 1256 a 15–b 25. Pol. 1, 1257 a 13–b 29. Vgl. Pol. 1, 1257 b 28: πέρας γὰρ τὸ τέλος πάσαις.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
als auch der Konsum neuer Geldvermögen aus Handel und Handwerk für Wohltaten gegenüber der Stadt waren zeitgenössische Phänomene, die Aristoteles bekannt waren.84 Aristoteles’ Bestimmung der ‚Natürlichkeit‘ einer Erwerbsform über zwei Kriterien – Mittel und Zwecke – lässt also Grauzonen zu, die in Politik I jedoch gerade nicht thematisiert werden. Das führt zu der Frage, wie sich die von ihm theoretisch unterschiedenen Formen der Erwerbskunst in der Praxis empirisch unterscheiden lassen würden. Aristoteles selbst sieht das Problem der empirischen Unterscheidbarkeit prinzipiell. „Viele“, schreibt er, hielten die naturgemäße und die widernatürliche Erwerbskunst für ‚ein und dasselbe‘ „wegen der Nachbarschaft“ (διὰ τὴν γειτνίασιν) dieser beiden Formen. Das sei zwar falsch, aber die Ähnlicheit wirklich gegeben.85 Als Kriterium zur Unterscheidung der zwei Formen der Erwerbskunst führt Aristoteles eine weitere Unterscheidung ein, die wiederum nach den Zwecken fragt. Für jeden Gegenstand gebe es einen zweifachen Gebrauch: einen der Sache „eigentümlichen“ (oikeia) und einen ihr uneigentümlichen. Ein Kleidungsstück könne man tragen – dies sei die ihm eigentümliche Verwendung – oder als Handelsware verkaufen. Dies gelte für alle Besitztümer, denn auf alles ließe sich die „Tauschkunst“ (μεταβλητική) anwenden.86 Damit leitet Aristoteles zur Darstellung der Entwicklung des Tauschs über. Die erste Form des Austauschs ist der Naturalientausch von Gebrauchsgütern (W – W). Diese Tauschkunst sei zu Beginn naturgemäß gewesen (ἀρξαμένη τὸ μὲν πρῶτον ἐκ τοῦ κατὰ φύσιν), weil sie die ungleiche Verteilung der Güter ausglich und nach „Vervollständigung des Lebensnotwendigen“ im Sinne „der naturgemäßen Unabhängigkeit“ (τῆς κατὰ φύσιν αὐταρκείας) strebte.87 Es gibt also eine Form des Tauschs, bei der die Güter zwar ‚uneigentümlich‘ verwendet werden, die aber aufgrund ihres Zwecks naturgemäß ist. Aus dieser naturgemäßen Tauschkunst (metablētikē) entstehe allerdings „logischerweise“ (κατὰ λόγον) die widernatürliche Erwerbskunst (chrēmatistikē). Um den Handel zu erleichtern, kommt es „zwangsläufig“ (ἐξ ἀνάγκης) zur Einführung des Münzgeldes als Medium des Tauschs (W – G – W). Nach der Einführung des Geldes entstand eine weitere Form (eidos) der Erwerbskunst, „die Kramhandelkunst“ (τὸ καπηλικόν). Sie war „zu Beginn“ (τὸ πρῶτον) einfach, wurde durch Erfahrung jedoch immer „fachkunsthafter“ (τεχνικώτερον) bezüglich der Frage, „woher und wie“ (πόθεν καὶ πῶς) der meiste Gewinn (κέρδος) zu machen sei. Nun werden Waren um des Geldes willen gehandelt (G – W – G). Diese neue Kunst bezeichnet Aristoteles als ein „Herstellungs-Wissen“,
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Vgl. seine bereits zitierten Äußerungen zur gewinnorientierten Landwirtschaft in Kap. 11 von Politik I und zur großgearteten Freigiebigkeit in der Nikomachischen Ethik V. Pol. 1, 1256 b 40–1257 a 2. Pol. 1, 1257 a 6–16. Dazu ausführlich Kap. 6.2.2. Pol. 1, 1257 a 28–31.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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ihre Produkte sind „Reichtum und Geld“ (ποιητικὴ γάρ ἐστι πλούτου καὶ χρημάτων). Hatte Aristoteles die kapēlikē zunächst als besondere Form (eidos) der chrēmatistikē bezeichnet, setzt er nun beide gleich: Beide zielten gänzlich auf den Gewinn einer „großen Menge Münzgeldes“ (νομίσματος πλῆθος).88 Der Ausdruck ‚Kramhandelkunst‘, kapēlikē, ist eine gelehrte Neuschöpfung, die allerdings auf einem Ausdruck der Alltagssprache aufsitzt und dessen pejorativen sozialen Konnotationen übernimmt. Der κάπηλος ist der lokale Krämer oder Schankwirt. Anders als der αὐτοπώλης, der seine eigenen Erzeugnisse verkauft, oder der ἔμπορος, der die Waren aus der Ferne herbeischafft, ist der kapēlos ein Detailhändler, der zwischen Kaufmann und Konsumenten steht.89 Als Krämer, der feilscht und betrügt, ist der kapēlos eine typische Sündenbock-Figur der Komödie und Gerichtsrede.90 Aristoteles spricht in der Politik ansonsten von emporia, kapeleia usw., um zwischen verschiedenen Formen des Erwerbs durch Handel zu unterscheiden.91 Die Gleichsetzung von chrēmatistikē mit kapēlikē in Politik I ist daher eine bewusste reductio ad absurdum, die jedes geldbasierte Handelsgeschäft zum unredlichen Feilschen um kleine Münzen reduziert. Diese Reduktion wird dadurch verstärkt, dass Aristoteles meint, die (widernatürliche) Handelskunst ziele nicht auf „brauchbare Güter“ (τὰ χρήσιμα) wie die Tauschkunst, sondern nur auf „Münzgeld“ (τὰ νόμισμα). Aristoteles verzichtet hier auf den sonst üblichen Ausdruck für Geld, chrēmata, den er kurz zuvor noch selbst benutzt hat.92 Denn während chrēmata etymologisch auf die Nützlichkeit verweist, betont Aristoteles mit der Verwendung von nomisma, dass der Wert der Güter, nach denen die Krämerkunst strebt, rein nominell ist, nämlich von den Gesetzen der Prägeautorität abhängt.93 An zwei Punkten wird deutlich, dass auch die Annahme, die chrēmatistikē diene nur dem Münzreichtum, eine reductio ist. Um zu veranschaulichen, dass dieser Zweck verfehlt sei, verweist Aristoteles nämlich auf König Midas, der verhungern musste, weil alles, was er berührte, zu Gold wurde.94 Der vollkommene chrēmatistēs ist demnach eine absurde Gestalt und nicht überlebensfähig – Geld kann man nicht essen; wie der mythische König ist er eine Figur jenseits der Realität. Aristoteles rückt
88 89 90
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Pol. 1,1257 a 41–b 10. Auch der Schankwirt, der ebenfalls als kapēlos bezeichnet wird, ist Detailhändler, insofern er Speise und Trank im Großen einkauft, um sie in kleinen Portionen an seine Gäste weiterzuverkaufen. Ehrenberg 1968, 122–128; die systematischste zeitgenössische Auseinandersetzung mit diesen Bezeichnungen ist Plat. soph. 223b–e; zur Wortverwendung s. Knorringa 1926, bes. 46–55, 74 zur Komödie und 113–118 zu Platons Systematik; vgl. Hasebroek 1928, 1–5; die Skeptik von Finkelstein 1935 ist übertrieben; zum kapēlos in Lysias’ Rede Gegen die Getreidehändler vgl. Moreno 2007, 225–242: Der Redner macht sich das pejorative Potential von kapēlos zunutze, um seine Gegner zu diffamieren. Aristot. pol. 4, 1291 a 4–6, 16. Pol. 1, 1257 b 7 f. Pol. 1, 1257 b 10–13. Pol. 1, 1257 b 14–17.
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im Übrigen selbst von dieser reductio ab, wenn er etwas später schreibt, man betreibe die widernatürliche Erwerbskunst für ein Leben körperlicher Genüsse, womit indirekt eingestanden ist, dass Geldreichtum selbst für die chrēmatistikē kein völliger Selbstzweck ist.95 Genuss ist zwar ein verfehlter Lebenszweck, aber kein physisch unmöglicher, und die Sittenkritik, die hier anklingt, entspricht Xenophons Mahnung im Oikonomikos, den Gelderwerb nicht im Dienste der Lüste zu betreiben. Als reductio lässt sich auch die letzte von Aristoteles genannte – und laut ihm „zu Recht verhassteste“ – Form der Erwerbskunst verstehen, die ‚Wucherkunst‘, ὀβολοστατική. Sie sei die widernatürlichste Erwerbsform, weil hier „Geld Geld gebiere“ – alle natürlichen Waren sind zugunsten des Geldes aus dem Austausch eliminiert worden (G – G).96 Das Wort obolostatikē, wörtlich ‚Pfennigwiege-Kunst‘ ist eine Neuschöpfung, die aber wie kapēlikē von einem geläufigeren und negativ konnotierten Wort abgeleitet ist. Der ὀβολοστάτης (von ὀβολοστατεῖν, ‚Obolen wiegen‘) ist der berufsmäßige kleine Wucherer, der geringe Beträge mit hohen Zinsen und kurzen Laufzeiten an Personen in prekären Umständen verleiht. Seine Nennung geht stets mit einer negativen Bewertung einher97 und genau wie ähnlich benannte Gestalten (der τοκιστής, ‚Zins-Mann‘, und der ἡμεροδανειστής, ‚Tagesgeldleiher‘) ist der obolostatēs eine typische Figur der Komödie.98 Aristoteles bedient sich einer reductio ad absurdum mit spöttischem Unterton, die auf allgemein geteilte Wertungen verweist. Anstatt den Geldverleih auf Zins mit dem neutralen δανεισμός zu bezeichnen, wie in der Nikomachischen Ethik,99 oder mit dem weniger konnotierten τοκισμός, wie später in Politik I,100 wird hier jeglicher Geldverleih mit kleinem Wucher gleichgesetzt. Die zwei beschriebenen Reduktionen – die Gelderwerbskunst strebt nur und grenzenlos nach Geldgewinn; alle Gelderwerbskunst ist Krämer- oder Wucherkunst – haben den Effekt, dass Aristoteles’ Beurteilungen auf den ersten Blick theoretisch eindeutig sind, auf den zweiten Blick jedoch schwer empirisch einzuordnen sind. Der dadurch eröffnete Spielraum zeigt sich an den Interpretationen der modernen Forschung. Jan Korver etwa interpretiert die reductio des Geldverleihs auf die obolostatikē so, dass Aristoteles offenbar nur den Kleinwucher verurteilte; Millett sieht darin umgekehrt einen Beleg, dass Aristoteles jede Form des Kreditgeschäfts für Wucher hielt und deshalb ablehnte.101 Zu ähnlich divergierenden Interpretationen hat die Tatsache geführt, dass Aristoteles den hausübergreifenden Tausch zwar einerseits für naturge95 96
Pol. 1, 1258 a 2 f. Pol. 1, 1258 b 7 f.; Aristoteles’ Rede vom ‚Geld gebären‘ spielt darauf an, dass tokos sowohl den tierischen Nachwuchs als auch den Zins bezeichnet. 97 Millett 1991, 182–186; vgl. Korver 1934, 113–118. 98 Harp. s. v. ὀβολοστατοῖ spricht von der häufigen Erwähnung in der Komödie; vgl. die Belege bei Millett 1991, 182–186; s. Shellens 1952, 429–431 zum Beiklang des Wortes. 99 Aristot. eth. Nic. 5, 1131 a 3 nennt daneismos als einen Typ „freiwilliger Tauschgeschäfte“. 100 Pol. 1, 1258 b 25. 101 Korver 1934, 117; vgl. Shellens 1952, 428; Millett 1991, 303, Anm. 8.
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mäß und notwendig zur Erreichung der autarkeia hält, gleichzeitig jedoch meint, dass er logischerweise (kata logon) und zwangsläufig (ex anankēs) zur Einführung des Geldes und damit zu den widernatürlichen Erwerbsformen führe. Scott Meikle schlägt zur Lösung dieses scheinbaren Paradoxes vor, Aristoteles habe Tausch und sogar Geldgebrauch für legitim gehalten, solange das Geld ein Mittel zum Zweck bleibe (W – G – W). Aristoteles kritisiere nicht den Handel, sondern das unbegrenzte Gewinnstreben.102 Dem hat Eckhart Schütrumpf widersprochen.103 Laut Schütrumpf war der naturgemäße Tausch „nur in der Vergangenheit ein Zwischenstadium der Entwicklung, die zur naturwidrigen Erwerbsweise“ führte und nur für die „Vorgeschichte der naturwidrigen Erwerbsform […] von Bedeutung“.104 Für Schütrumpfs Position spricht, dass Aristoteles Zeitwörter verwendet (to proton, arxamenē, eita, egeneto), wie um eine historische Entwicklung anzudeuten, und im Präsens davon spricht, dass der Naturaltausch bei den Barbaren „noch üblich ist“, entsprechend der Vorstellung, dass barbarische Völker Sitten pflegen, die bei den Griechen früher üblich waren.105 Aristoteles schließt die Erörterung mit den Worten, er habe nun erläutert, aus welchem Grund die auf nicht-lebensnotwendige Güter gerichtete Erwerbskunst bei „uns“ – den Griechen – in Gebrauch sei.106 Schütrumpf schließt daraus, dass Aristoteles in Politik I die monetarisierte Verkehrswirtschaft uneingeschränkt verurteile. Damit habe er eine radikalere Position vertreten als sein Lehrer Platon und sogar als er selbst an anderer Stelle.107 Mit Bezug auf Aristoteles’ Äußerungen zur obolostatikē spricht Schütrumpf von einer „fundamentalistischen Einstellung“, deretwegen Aristoteles anders als Platon nicht die Maßnahmen berücksichtigt habe, mit denen man die „Mißstände des Geldverleihs […] abstellen könnte“.108 Diese These, nach der Aristoteles in Politik I eine im Vergleich zu anderen Denkern und zu seinem restlichen Werk singuläre Extremposition vertreten habe, befriedigt nicht recht. Aristoteles beschreibt die Entwicklung der chrēmatistikē zwar in der Tat als quasi-historischen Prozess, wie Schütrumpf meint, aber der Tausch ist zugleich die überzeitlich notwendige Voraussetzung dafür, dass die Stadt, als „vollendete Gemeinschaft“, die um des guten Lebens willen besteht, entstehen kann.109 So wie der Naturalientausch als Vorstufe des geldbasierten Tauschs der Vergemeinschaftung im
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103 104 105 106 107 108 109
Meikle 1979, 61–66; Meikle verweist auf die Diskussion des reziproken Tauschs in der Nikomachischen Ethik, wo das Geld ebenfalls als Hilfsmittel genannt wird; vgl. die ausführliche Diskussion von Aristoteles’ Theorie des Tauschs in Meikle 1995, 44–86 und 1996, 150; ähnlich Koslowski [1974] 1993, 59 f. Schütrumpf 1991, 323–325. Schütrumpf 1991, 323. Vgl. Aristot. pol. 2, 1268 b 38–1269 a 2 und Thuk. 1.5,8–6,6. Aristot. pol. 1, 1258 a 14–16. Schütrumpf 1991, 328–337; vgl. Pellegrin 1982, 638–642. Schütrumpf 1991, 353. Aristot. pol. 1, 1252 b 27–29.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Dorf (κώμη) als Vorstufe der Vergemeinschaftung in der polis entspricht,110 entspricht der geldbasierte Tausch der städtischen Vergemeinschaftung. Und es sind die Städte, die das Münzgeld (nomisma) prägen, das die widernatürlichsten Formen der Erwerbskunst überhaupt erst ermöglicht. Dieses Entwicklungsschema ähnelt Platons Schilderung der Entstehung der Stadtgesellschaft in der Politeia (dazu Kap. 6.2.2). Wie dort mündet die Schilderung der Zivilisationsentwicklung in ein Dilemma: Die Entwicklung von Spezialisierung und Austausch schafft die Grundlage städtischen Lebens, weil sie jene autarkeia ermöglicht, die einzelnen Menschen oder Haushalten nicht möglich ist (s. Kap. 6.4.3). Aber derselbe Fortschritt der wirtschaftlichen Kooperation führt zu grenzenlosem Gewinnstreben und Luxussucht. Meikle hat insofern recht, dass Aristoteles Handel und Geldgeschäft nicht als Faktoren der Warendistribution kritisiert und insofern auch keine Strukturkritik an einer neu entstehenden ‚Marktwirtschaft‘ übt, wie viele einflussreiche Interpretatoren meinten.111 Aristoteles übt vielmehr Sittenkritik an der verfehlten materialistischen Orientierung seiner Mitmenschen. Geld und Handel, die Mittel des Erwerbs, sind für diese Sittenkritik zweitrangig. Das eigentliche moralische Problem, das betont auch Schütrumpf, sind die verfehlten Zwecke. Dieses Problem tritt wiederum nicht nur bei der Erwerbskunst auf. So heißt es in Politik I: „Überhaupt lassen sich alle fachmännischen Tätigkeiten bei der Festlegung ihres Zweckes keine Grenze setzen, denn sie wollen ihn ja so gut wie möglich verwirklichen.“112 Das grenzenlose Erwerbsstreben im Handel ist demnach nur ein spezieller – allerdings besonders akuter – Fall des allgemeinen Problems eines verfehlten Handelns, das ein externes Gut, das intermediär sein sollte, als Selbstzweck verfolgt.113 Wichtiger als die Frage, woher der Reichtum stammt, ist für Aristoteles die Frage, welchem Zweck er dient, wofür er verwendet wird. Akzeptiert man diese Deutung von Politik I, verschwinden die vermeintlichen Widersprüche zu Aristoteles’ anderen Werken und es bleiben Unterschiede der Akzentuierung. In der Nikomachischen Ethik V können die Menschen ihren Bedarf (chreia) nur im arbeitsteiligen Tausch decken und erst das führt zur Selbstgenügsamkeit (autarkeia) der Gemeinschaft.114 Das Geld ist zwar für sich genommen „nutzlos“ (ἄχρηστον), erfüllt jedoch eine praktische Funktion115 und der Reichtum ist legitim als Hilfsmittel zum Erwerb höherer Güter, obwohl
110 111 112 113 114 115
Pol. 1, 1252 b 15–27; sowie der Naturalientausch in der Gegenwart nur noch bei den Barbaren zu finden ist, findet sich die dörfliche Lebensweise nur noch bei von Königen beherrschten Stammesverbänden (ἔθνη). Vgl. Brunner [1956] 1980 und Polanyi [1957] 1979 sowie die in Kap. 1.1, Anm. 32 zitierten althistorischen Beiträge; anders dagegen bereits Tsouyopoulos 1994, 47. Aristot. pol. 1, 1257 b 26–28: ἑκάστη τῶν τεχνῶν τοῦ τέλους εἰς ἄπειρον (ὅτι μάλιστα γὰρ ἐκεῖνο βούλονται ποιεῖν). Außerdem bestehe die Gefahr, dass eine Kunst, etwa die Feldherrn- oder die Heilkunst, nur um des Geldgewinns willen betrieben wird, pol. 1, 1258 a 10–14. Pol. 1, 1258 a 31–34. Eth. Nic. 1, 1097 a 28–b 21. Eth. Nic. 5, 1133 a 30 f., b 21–23; vgl. 1134 a 26 f.
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sein Erwerb problematisch ist.116 Die deskriptivere Rhetorik nennt zwar in einer Aufzählung der „Teile des Reichtums“ „eine Menge Münzgeld“ (νομίσματος πλῆθος) an erster Stelle, was wie ein diametraler Widerspruch zur Definition des „wahren Reichtums“ in Politik I klingt. Am Ende heißt es allerdings auch in der Rhetorik, es sei freiheitlicher, den Reichtum zu genießen, statt mit ihm Einkünfte zu erzielen, und überhaupt bestünde Reichtum mehr im Gebrauchen als im Besitzen des Vermögens.117 Umgekehrt ist die Politik offen für die pragmatische Notwendigkeit des Gelderwerbs. In Politik I heißt es, es sei nützlich für Politiker, die praktische Seite der Erwerbskunst zu kennen, „denn viele Städte sind auf Gelderwerb und derartige Einkünfte angewiesen, wie ein Haus, nur noch mehr“ (πολλαῖς γὰρ πόλεσι δεῖ χρηματισμοῦ καὶ τοιούτων πόρων, ὥσπερ οἰκίᾳ, μᾶλλον δέ); deshalb hätten sich einige Politiker ganz auf diese Fragen verlegt.118 In diesem Sinn stellt Aristoteles in Politik VI praktische Überlegungen dazu an, wie der soziale Frieden in der Bürgerschaft durch Maßnahmen gefördert werden könnte, die den Wohlstand ärmerer Haushalte nachhaltig fördern, anstatt nur Reichtum umzuverteilen. Zu diesen Maßnahmen gehören neben der Zuweisung von Landstücken auch Darlehen zur Förderung von Handel und Gewerbe.119 Diese Überlegungen, für die sich Parallelen bei anderen Denkern finden,120 zeigen, dass Aristoteles keine absoluten Einwände gegen Handel und Kredit hatte, solange sie der städtischen Gemeinschaft nützten. Aristoteles erkennt nicht nur die faktische Notwendigkeit des Gelderwerbs an, sondern hält ihn sogar für prinzipiell vereinbar mit den ethischen Geboten der Gerechtigkeit und Ehrbarkeit. Das zeigt der Blick auf Aristoteles’ Äußerungen zum Begriff der αἰσχροκέρδεια, der „schändlichen Gewinnsucht“, einem etablierten Begriff der Alltagsmoral, der in den zeitgenössischen Gerichtsreden häufig verwendet wird,121 und bei dem bereits der Wortlaut die Möglichkeit nicht-schändlichen Geldgewinnstrebens impliziert. Aristoteles’ Schüler Theophrast widmet der Figur des aischrokerdēs ein eigenes Kapitel in seinen Charakteren. Die Formen des „schändlichen Gewerbes“ (αἰσχρὰν ἐργασίαν), die er ausübt, sind die allgemein verachteten Gewerbe, die aus Reden und Komödien bekannt sind: Schankwirt, Zuhälter, Steuerpächter, Herold, Koch.122 Aristoteles definiert den Begriff mehrfach. In der Nikomachischen Ethik heißt es, dass der Unfreigiebige „übermäßig“ und von „überallher und alles“ nehme, wie jene, „die niedrige Gewerbe treiben“ (οἱ τὰς ἀνελευθέρους ἐργασίας ἐργαζόμενοι) wie z. B. 116 117 118
Eth. Nic. 1, 1096 a 6 f. Rhet. 1, 1361 a 13–25; vgl. die Tugend der Freigiebigkeit, eth. Nic. 4, 1120 a 23–1121 a 7. Pol. 1, 1259 a 34–36; Shellens 1952, 429 meint, diese Äußerung sei mit „leisem Spotte“ getan; eine Begründung bleibt er schuldig. 119 Aristot. pol. 6, 1320 a 17–b 11. 120 Schütrumpf/Gehrke 1996, 647 führen die Parallelstellen beim Anonymus Iamblichi, Isokrates und Platon an; dazu Hinsch (im Druck). 121 Vgl. die Belege Kap. 16.4, Anm. 136. 122 Theophr. char. 6.5.
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Zuhälter oder Wucherer. Wegen ihrer aischrokerdeia nehmen sie „wo man nicht soll, und mehr, als man soll“ und nehmen für einen kleinen Gewinn Schande auf sich.123 In der Rhetorik findet sich diese Beschränkung der Verurteilung des Gelderwerbs auf seine schändlichen Formen ebenfalls wieder. Als Beispiel nennt Aristoteles hier u. a. die Unterschlagung eines anvertrauten Deposits – dessen gewissenhafte Verwahrung und Herausgabe galt als Inbegriff von Geschäftstreue.124 Hier wird Gerechtigkeit nicht zum Gegensatz von Geldgeschäften, sondern geradezu zu deren Grundlage, ganz wie in der zeitgenössischen Populärethik (vgl. Kap. 16.3). Auch bei Aristoteles’ weiteren Beispielen von aischokerdeia und aneleutheria in der Rhetorik – Ausnutzung von Notlagen, unziemliches Bitten um Darlehen oder Ablehnen solcher Gesuche (Aristoteles unterscheidet insgesamt acht Varianten!) – geht es nicht um den generellen Verzicht auf Geldgeschäfte, sondern darum, bei solchen Geschäften den ‚Anstand zu wahren‘. Bei Theophrast wie bei Aristoteles hat der Begriff der aischrokerdeia nicht nur eine moralische, sondern auch eine kommunikative Dimension. Der schändlich Gewinnsüchtige handelt nicht nur ungerecht, er handelt zugleich beschämend, indem er sich in der Interaktion unter Anwesenden wegen seiner Kleinlichkeit sichtbar würdelos verhält, insbesondere in Nahbeziehungen und bei Anlässen, die Großzügigkeit verlangen.125 Die enge Verknüpfung von Gerechtigkeit und geschäftsmäßigem Anstand, von innerer Moral und äußerer Scham, erscheint einer städtischen Gesellschaft angemessen, in der zwar die meisten Bürger an der monetarisierten Verkehrswirtschaft teilhatten, dabei jedoch zugleich auf ihre Ehre bedacht waren und Geschäftsvertrauen und Sozialstatus eine Frage performativer Aushandlung war. Es lässt sich hinzufügen: Eine Ethik, die eine ganze Kasuistik zum richtigen Fragen nach einem (verzinsten) Darlehen bot, erscheint als Reflexion einer Gesellschaft, in der ‚schändliches Gewinnstreben‘ gerade deshalb als moralisches Problem omnipräsent war, weil Geldgeschäfte ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens waren. In der Ethik und der Rhetorik finden demnach all die feinen Unterschiede von Stand, Gewerbe und Geschäftsgebaren Berücksichtigung, welche die reductio der Erwerbskunst auf die ‚Krämer- und Wucherkunst‘ in Politik I ignoriert. Diese Divergenz lässt sich nicht mit einer vermeintlichen Sonderstellung von Politik I abtun; denn inhaltlich teilen die Ethik und die Rhetorik den kritischen und pessimistischen Blick auf das grenzenlose und ungerechte Gewinnstreben von Politik I.126 Aristoteles geht im Übrigen 123 Aristot. eth. Nic. 4, 1121 b 31–1122 a 3. 124 Rhet. 2, 1383 b 19 f.; vgl. Kap. 16.3.2. 125 Maximieren gegenüber Freunden: Theophr. char. 30.12; Betrug im Kleinen: 13, 20; Knausrigkeit bei geselligen Anlässen: 2 f., 16; Bewirtung von Gästen oder Phratriengenossen; 7: Gesandtschaftsreise; 8: im öffentlichen Bad; 19: als Hochzeitsgast. Vgl. Dover 1974, 226–246 zur Betonung der äußerlichen Wahrnehmung in den griechischen Begriffen von Ehre und Scham. 126 Aristot. rhet. 2, 1382 b 4 f. versteht es als Gemeinplatz, dass die Menschen schlecht, feige und dem Gewinnstreben untertänig sind; eth. Nic. 4, 1121 b 15–17: die meisten Leute sind „geldliebend“ (φιλοχρήματοι) und nehmen lieber als dass sie geben.
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auch bei seiner Behandlung der chrēmatistikē in Politik I davon aus, dass seine Bewertungen allgemein geteilt werden. Er meint zwar, dass die meisten seiner Zeitgenossen verfehlten Vorstellungen anhängen, wenn sie Haushaltung mit Gelderwerb begrifflich gleichsetzen und Reichtum mit Münzgeldbesitz verwechseln, nimmt aber zugleich an, dass die von ihm besonders verdammte ‚Wucherkunst‘ die allgemein „verhassteste“ Form der Erwerbskunst sei. Aristoteles vertritt also nicht ‚philosophische‘ oder ‚elitäre‘ Werte im Gegensatz zu den alltäglichen Werten der Durchschnittsmenschen; sondern er mahnt die Berücksichtigung prinzipiell anerkannter Normen an, die in der Praxis vernachlässigt werden. Mit seiner Kritik am grenzenlosen Gewinnstreben setzte Aristoteles eine alte Tradition der Sittenkritik fort. Die Klage über die materialistische Orientierung des Handelns erscheint fast als eines der Hauptthemen griechischer Literatur seit ihren Anfängen.127 Dabei ist eine Steigerung der Problematisierung zu erkennen. Die homerischen Helden streben unverhohlen nach materiellem Reichtum und bemessen ihre Ehre nach ihm. Sie fürchten die daraus resultierenden Konflikte und sie verachten den berufsmäßigen Händler – mehr nicht. Bei Hesiod und Solon wird der Erwerb selbst, ob durch Ackerbau oder Handel, nicht verurteilt, aber der ungerechte Erwerb zu einer Bedrohung des sozialen Friedens, die auf den Urheber selbst zurückfällt.128 Dieser Ansicht tritt die Meinung zur Seite, dass die falschen Leute den – an sich richtigen – Reichtum in Händen halten und dieser Reichtum anstelle echter Qualitäten geehrt werde.129 Mit den Sokratikern und Kynikern verschärft sich das ethische Urteil noch einmal: Reichtum wird an und für sich fragwürdig, weil er fast zwangsläufig Ursache für ungerechtes und Unfrieden stiftendes Handeln sei und den freien Mann unfrei mache.130 Natürlich hatten sich die wirtschaftlichen Strukturen seit Hesiods Tagen verändert, wie Aristoteles’ Interesse für Münzgeld und berufliche Spezialisierung deutlich macht. Doch diese Entwicklung war eine graduelle, die dementsprechend wahlweise als Aufstieg (Perfektion) oder Abstieg (Dekadenz) bewertet werden konnte. Dementsprechend ist das Ziel seiner dihäretischen und theoretischen Bemühungen Perfektion des Wissens, nicht dessen Revolution – ganz im Sinne seines teleologischen Weltbildes, in dem alle Dinge ihrer naturgemäßen Vollendung entgegenstreben und die bereits seit langer Zeit entdeckten Wissensbestände nur noch zusammengetragen und be-
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Sammlungen der entsprechenden Belegstellen bei Figueira 1995 und Stein-Hölkeskamp 2019; vgl. van Wees 2009, 449 f.; Reden 1995, 182–187 kommt zu dem Ergebnis, dass Aristoteles’ Gedankengang in Politik I „strictly parallel“ zu den Äußerungen von Solon und Theognis sei, ebd. 187; Balot 2001, 79–93 stellt ebenfalls Kontinuitäten heraus, sieht jedoch eine Entwicklung, die mit Aristoteles’ Analyse abschloss, darin, dass der Gemeinschaftsbezug eine zunehmende Rolle bei der Bewertung ungerechten Gewinnstrebens spielte. Hes. erg. 313–326; vgl. Sol. fr. 13 West (= 1 Gentili-Prato). Alk. fr. 360 Lobel-Page und besonders Thgn. 53–60; 149 f.; 173–182; 183–192 (West); vgl. Hippon. fr. 36 West (= 29 Diehl), der bereits das Bild des blinden Gottes Plutos bemüht. Vgl. Schaps 2003 und Schriefl 2013, 262–273 mit Fokus auf Platon.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
wahrt werden müssen.131 Der Diskurs über Reichtum und Erwerb unterlag dabei einer bemerkenswerten Entwicklung: je komplexer die Formen des Gelderwerbs wurden, desto systematischer und verfeinerter wurde auch die Theorie und Begrifflichkeit ihrer Bewertung und Kritik. Aristoteles’ Definition der widernatürlichen Erwerbskunst stellt hier einen intellektuellen Höhepunkt eines Reichtumsdiskurses dar, dessen gelehrte Sprache nicht allgemein geteilt wurde. Inhaltlich war Aristoteles’ Kritik am Gewinnstreben allerdings anschlussfähig zur populären Moral seiner Zeit. Die ‚Sprüche der Sieben Weisen‘, die kurz nach Aristoteles’ Tod von Demetrios niedergeschrieben wurden, warnen häufig vor ungerechtem oder schändlichen Gewinnstreben und davor, bloßen Reichtum zum Maßstab des Ansehens zu machen.132 Am besten aber zeigt der Vergleich mit Aristophanes’ Komödie Reichtum (Plutos), dass Aristoteles’ normative Überlegungen zu Reichtum und Erwerb im 4. Jh. ‚kontrafaktisches Gemeingut‘ waren.133 Die Grundannahme des Stücks Reichtum, das rund fünfzig Jahre vor Aristoteles’ Politik entstand, ist, dass alle Menschen unermüdlich nach Reichtum streben, wobei sie Reichtum mit Geldbesitz gleichsetzen. Anders als bei Hesiod macht der Reichtum nicht mehr gut, er macht schlecht, weil die Gier nach ihm zu ungerechtem Handeln verführt und gerade die Ungerechten reich werden.134 Als Chremylos über die sich bereichernden Verbrecher klagt, deutet der ihn begleitende Sklave Karion an, dass die anwesenden Athener gemeint sind.135 Eine solche Publikumsbeschimpfung war gerade deshalb effektvoll, weil jeder einzelne Zuschauer die gleiche Haltung einnahm wie Chremylos: Ich bin gerecht, aber alle anderen sind Gauner.136 Wie bei Aristoteles wird den Zeitgenossen indirekt eine latent paradoxe Haltung unterstellt: Sie verachten das grenzenlose Gewinnstreben, aber sind ihm selbst erlegen. Wie bei Aristoteles fehlt dem Geldreichtum die natürliche Grenze: Von allem sei man irgendwann gesättigt, nur vom Reichtum (= Geld) nicht, heißt es bei Aristophanes.137 Beide Autoren gehen von der Grundannahme aus, dass Geld in einer Gesell131 132 133 134 135
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Vgl. Aristot. pol. 2, 1264 a 1–5; vgl. 1268 b 34–1269 a 8. DK 10,3: γ, 10 (= Diog. Laert. 1.70) (Chilon); δ, 4 (= Diog. Laert. 1.37); 15 (Thales); ε, 6; 11 (Pittakos); ς, 12, 13 (= Diog. Laert. 1.88), 17 (Bias); ζ, 4 mit 5 (Chilon); vgl. Diog. Laert 1.59 (Solon), 1.86 (Bias), 1.97 (Periandros); zur Überlieferung und Einordnung vgl. Kap. 4.3.2. David 1984, 38–43. Aristoph. Plut. 28–31, 103–109. Chremylos hat das Orakel in Delphi befragt, ob sein Sohn ein Gauner werden soll, damit er nicht arm bleibt wie er selbst, Plut. 32–38; sein Sklave Karion deutet die Antwort als Bejahung, 47: „Dein Sohn soll’s treiben, wie’s der Brauch hier zu Land!“ (Übers. L. Seeger); Zur Vermutung, dass der Ausruf bei der Aufführung mit einer entsprechenden Geste hin zum Publikum verbunden war s. Sommerstein 2001, 138. Diese Haltung wird später durch die Figur des Blepsidemos bestätigt: Er kann sich den plötzlichen Reichtum seines Freundes Chremylos nur durch Gaunereien erklären und meint, es sei doch keiner „sauber“ (ὑγιές) und „alle dem Gewinn ergeben“; zugleich fordert Blepsidemos anschließend seinen Anteil an diesem Gewinn, Aristoph. Plut. 350–385. Aristoph. Plut. 188–190.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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schaft mit Arbeitsteilung als generalisiertes Medium von Tausch und Akkumulation eine regelrecht beherrschende Stellung einnehme, so dass die Menschen das Geld mit den Gütern, die man davon erwerben könne, verwechseln. Die letzte Konsequenz dieser Verwechslung führt Aristophanes wie Aristoteles mithilfe einer reductio ad absurdum vor. Bei Aristophanes tritt die leibhaftige Armut (Penia) auf, um vor der Verwechslung von echtem Reichtum und Geldreichtum zu warnen: Wenn erst alle reich (an Geld) seien, werde niemand mehr sein vormaliges Gewerbe weiter betreiben. Dann könne sich auch Chremylos nichts mehr für sein Geld kaufen und müsste sich notgedrungen wieder selbst versorgen. Wie beim aristotelischen Midas führt die Erfüllung des Wunsches nach grenzenlosem Reichtum in existenzielle Armut – Hunger.138 Bemerkenswerterweise wird König Midas, jene personifizierte Paradoxie, bei welcher der ultimative Reichtum zur ärgsten Folge der Armut, Verhungern, führt, auch bei Aristophanes genannt.139 Als Ausweg aus der Aporie, die Penia schildert, schlägt Chremylos im Reichtum vor, dass Sklaven alle Arbeit erledigen, um die Bürger von ihr freizustellen, ähnlich wie Platon und Aristoteles in ihren Idealverfassungen. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Lösung schätzt Aristophanes allerdings ähnlich gering ein wie die beiden Philosophen.140 In Aristophanes’ Reichtum haftet der geldbasierten Verkehrswirtschaft demnach eine ähnlich betrübliche Unvermeidlichkeit an wie bei Aristoteles. Die Unmöglichkeit / das Elend der vollständigen Selbstversorgung zwingt zum Tausch, der Tausch braucht das Geld, das Geld wird zum Fetisch. Gelderwerb ist grundsätzlich problematisch, aber in der Realität leider unvermeidlich. Diese bei Aristoteles greifbare Auffassung findet sich auch bei Aristophanes. Alle Gewerbe und Künste existieren allein wegen der Notwendigkeit, Geld zu verdienen: Schmiede, Lederer, Tischler usw.141 Niemand würde sie ausüben, argumentiert Penia, wenn er schon reich wäre. Sie sind aber auch nicht schändlich per se und somit verdienen die erwerbstätigen Leute es, am Reichtum teilzuhaben, sobald der Gott Plutos von seiner Blindheit geheilt ist. Per se schändlich sind bei Aristophanes hingegen wie bei Aristoteles die bekannten ehrlosen Gewerbe der Krämerin, Schankwirtin, Prostituierten, des Pfandleihers und Diebs. Hinzukommen die Personen, die eine an sich gute Sache zum bloßen Gelderwerb missbrauchen: der sykophantische Redner142 und der diebische Priester143 bei Aristophanes, der geldgierige Arzt und der Feldherr bei Aristoteles.144 Aristophanes baut seinem Publikum demnach wie Aristoteles eine
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Plut. 509–534. Plut. 287 verspricht der Sklave Karion den armen Bauern sie würden alle zu „Midassen“, wenn Plutos erst von seiner Krankheit geheilt sei. 140 Plut. 517–524. 141 Plut. 160–167; vgl. 510–516. 142 Plut. 850–958. 143 Plut. 676–681, vgl. 1171–1184. 144 Der Arzt taucht indirekt auch bei Aristophanes auf, s. Plut. 406–408; für den Priester vgl. 676–681.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
goldene Brücke, um trotz der allgemeinen Ablehnung des Gewinnstrebens doch die eigene Geschäftigkeit als Notwendigkeit zu entschuldigen – und die marginalisierten Berufsgruppen dienen als Sündenbock dieser kollektiven Fiktion. Die aristophanische Komödie adressierte ein großes und sozial gemischtes Publikum bei einer öffentlichen Theateraufführung. Die aristotelische Philosophie adressierte einen kleinen Kreis von Rezipienten aus der Oberschicht. Wenn sich die in beiden Texten vorausgesetzte Weltsicht dennoch gleicht, dann deshalb, weil die adressierten Rezipienten in beiden Fällen Hausväter waren, die sich in der Rolle des ‚widerwilligen Maximierers‘ wiederfanden. Prinzipiell sollte ihre Hauswirtschaft nur der Bedarfsdeckung und der Freigiebigkeit dienen. Doch die andauernde Konkurrenz und widrige Umstände sorgen dafür, dass der Bedarf niemals gedeckt ist, man also immer ‚arm‘ ist, wie der aristophanische Chremylos, und der Gelderwerb folglich niemals aufhört, ‚notwendig‘ zu sein. Aristoteles’ Kritik des grenzenlosen Erwerbsstrebens stimmt inhaltlich mit hergebrachten und populären Auffassungen überein. Aber warum entwickelt er als Form dieser Kritik ein aufwendiges Begriffssystem, das Haushaltsführung, naturgemäße Besitzerwerbskunst und widernatürliche Gelderwerbskunst semantisch trennt? Die Funktion dieser Begriffsdifferenzierungen lässt sich erklären, wenn man Aristoteles’ Abhandlung als Teil der literarischen, oberschichtsinternen Kommunikation betrachtet. Aristoteles’ Differenzierungen erlaubten es ihm erstens, das Gewinnstreben scharf zu verurteilen, ohne dabei die eigenen Rezipienten zu brüskieren, die selbst nach Gewinn strebten. Zweitens gab Aristoteles seinen Rezipienten ein rhetorisches Modell an die Hand, um ihre eigene gewinnorientierte Haushaltsführung zu rechtfertigen und die Hauswirtschaft anderer Personen zu bewerten. Für die erste Funktion ist die Gleichsetzung der Erwerbskunst mit ihrer schändlichsten und zugleich mickrigsten Form wichtig. Es handelt sich zwar um eine herbe Herabsetzung, die, ähnlich wie Aristophanes’ Angriffe auf die ‚neuen Politiker‘, deren Vermögen aus dem kommerziellen Gewerbe stammten, jegliches Gewerbe zur Krämerei abwertet.145 Dennoch stellte der Text solche Söhne wohlhabender Erwerbsleute, die ja zum Teil selbst Schüler des Aristoteles waren (wie Theophrast), nicht bloß. Denn kritisiert werden nicht so sehr strukturelle Zusammenhänge – die Herkunft des Geldes –, sondern Mangel an persönlicher Tugend – das Streben nach Geld. Dabei sind die Figuren so stark überzeichnet (Midas), dass die Rezipienten, die reich genug waren, um nicht persönlich als Krämer, Zuhälter und Wucherer aufzutreten, sich von ihnen leicht distanzieren konnten und in Aristoteles’ Schema einen Platz für sich finden konnten, der näher bei der ‚naturgemäßen Form‘ des Erwerbs lag. Diese Distanzierung war umso einfacher, als die wohlhabenden Haushaltsvorstände, auch wenn sie einen beträchtlichen Teil ihres Vermögens aus Geld- und Handelsgeschäften zogen,
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Knorringa 1926, 50 f.; Connor 1971, 151–163.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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auf keine dieser Tätigkeiten spezialisiert waren. Sie besaßen diversifizierte Vermögen und suchten auf allen Gebieten nach günstigen Erwerbsgelegenheiten (Kap. 14.2). Das erleichterte es, sich von den kleinen Leuten, die nur ein Gewerbe trieben, zu distanzieren. Aristoteles’ Modell von oikonomia und chrēmatistikē führt also einerseits die alte Sittenkritik am Gewinnstreben fort und immunisiert sie zugleich gegen allzu konkreten Zuweisungen, die zum Abbruch der Kommunikation innerhalb einer Oberschicht führen würden, in der die meisten Haushalte irgendwie an Geldgeschäften beteiligt waren (Kap. 4.1). Die Unterscheidung zwischen dem der Theorie nach guten und dem in der Praxis notwendigen Handeln lieferte darüber hinaus ein philosophisch rationalisiertes Rechtfertigungsmodell für Geldgeschäfte: Man betreibt sie nicht als Selbstzweck, sondern des äußeren Zwangs wegen, die für das Leben notwendigen Güter bereitzustellen. Man vergleiche die Darstellung ehrenwerter Erwerbsleute in den Dialogen von Platon und Xenophon, die ihren Reichtum verwenden, um sich der Philosophie zu widmen und ihre Pflichten gegenüber Verwandten, Freunden, den Göttern und der Stadt zu erfüllen. Während die Dialoge exemplarische Vorbildfiguren vorführen, theoretisiert Aristoteles die zugrunde liegende Rechtfertigungslogik. So heißt es in der Topik, also einer Schrift die es mit der Logik von Argumenten zu tun hat, dass das „Bessere“ (τὰ βελτίω) nicht immer auch das „Wählenswertere“ (αἱρετώτερα) sei. So sei „zwar das Philosophieren besser als das Geldmachen“ (ὸ γοῦν φιλοσοφεῖν βέλτιον τοῦ χρηματίζεσθαι), allerdings nicht wählenswerter für jemandem, dem es am Notwendigen mangle. In diesem Sinne gehört Philosophie zu den Dingen, die „aus Überfluss“ (ἐκ περιουσίας) möglich sind und schöner seien als die notwendigen Dinge.146 Das faktische Handeln richtet sich nicht immer nach dem, was man für absolut „besser“ hält, sondern nach dem, was man angesichts der relativen Umstände für notwendig hält.147 Die Stelle bestätigt, dass Aristoteles’ Beschränkung der Bedarfsdeckung auf das ‚Notwendige‘ nichts mit Subsistenzwirtschaft zu tun hat. Das „gute Leben“ erfordert, wie bei Xenophon, einen Überschuss (periousia), der die schönen Dinge erst ermöglicht. Die Großgeartetheit (megaloprepeia), die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik von großen Haushalten erwartet, erfordert Geldreichtum.148 Aristoteles’ Politik I liefert also in einem Zug ein scharf formuliertes Ideal und ein argumentatives Mittel, um die eigenen Verstöße gegen dieses Ideal mit Sachzwängen zu entschuldigen. Das Ideal dient außerdem als normativer Maßstab der unvollkommenen Realität. Denn Aristoteles fokussiert zwar mehr auf die Zwecke als auf die Mittel der Erwerbskunst, aber er bewertet durchaus die verschiedenen Einkommensquellen, von Ackerbau und Tierzucht, die an erster Stelle stehen, über Bergbau und Handel
146 Aristot. top. 3, 118 a 6–13. 147 Kraus 1905, 578. 148 Vgl. Kap. 3.2.1 und 16.1.2.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
bis zur Lohnarbeit, nicht nur nach ökonomischen Kriterien (Risiko und Gewinn), sondern auch normativ. Die Kriterien, nach denen die Bewertung erfolgen sollte, gibt Aristoteles knapp an: „am fachmännischsten sind die Gewerbe, die am wenigsten dem Zufall überlassen, am banausischsten, jene, in denen der Körper am meisten leidet, am sklavischsten jene in denen der Körper am meisten benutzt wird, am unedelsten jene, die am wenigsten Vortrefflichkeit vorausetzen.“149 In Abweichung von der zunächst entwickelten antithetischen Gegenüberstellung von naturgemäßer und widernatürlicher Erwerbskunst bietet Aristoteles hier eine graduelle Bewertungsskala, die eine komplexe Kasuistik erlaubt. Obwohl Aristoteles dies nicht ausdrücklich sagt, lassen sich beide Formen der Bewertung – die dichotome nach den Zwecken und die graduelle nach den Mitteln – kombinieren, um feine Unterschiede der Rangzuweisung zu rationalisieren. In Anspielung auf Aristoteles’ Entwurf einer Idealstadt in Politik VII lässt sich fragen: Die beste Stadt macht einen Handwerker nicht zum Bürger150 – aber was ist mit der zweitbesten, die in Geldnot steckt, wenn der Handwerker sein Geldvermögen für gemeinnützige Zwecke ausgibt? Aristoteles’ normative Unterscheidung von Haushaltung und Erwerbskunst bot das theoretische Rüstzeug, um Antworten auf diese Frage zu geben. 6.1.5 Oikonomika I: Die Rückkehr zum konventionellen oikonomia-Begriff Aristoteles’ begriffliche Differenzierungen zum Thema Hauswirtschaft waren eine beachtliche intellektuelle Leistung. Ein Blick auf die pseudo-aristotelischen Oikonomika, den jüngsten vollständig erhaltenen Beitrag zur Ökonomik, zeigt allerdings auch, dass sie ohne Nachfolge blieb. Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass die Oikonomika nicht von Aristoteles selbst verfasst wurden, sondern von einem oder mehreren Peripatetikern der nachfolgenden Schülergeneration.151 Ihr Verständnis von oikonomia und oikonomikē wirkt wie eine kuriose Mischung von Aristoteles’ Politik und Xenophons Oikonomikos.152 Die 149 Aristot. pol. 1, 1258 b 35–39: εἰσὶ δὲ τεχνικώταται μὲν τῶν ἐργασιῶν ὅπου ἐλάχιστον τύχης, βαναυσόταται δ’ ἐν αἷς τὰ σώματα λωβῶνται μάλιστα, δουλικώταται δὲ ὅπου τοῦ σώματος πλεῖσται χρήσεις, ἀγεννέσταται δὲ ὅπου ἐλάχιστον προσδεῖ ἀρετῆς. 150 Pol. 7, 1328 b 37–1329 a 2; vgl. 1329 a 19–21, 34–38. 151 Laurenti 1968, 8–29; Victor 1983, 167–175; Zoepffel 2006, 211–213. Zur Datierung der Oikonomika II s. Kap. 5.3 mit Anm. 160; gänzlich unsicher ist die Datierung von Oikonomika III, eine nur in lateinischer Übersetzung überlieferte Abhandlung über die Ehe; während manche sie als spätklassisch/frühhellenistisch ansehen, hat z. B. Swain 2013, 29 f. sie für späthellenistisch oder eher kaiserzeitlich erklärt; die Abhandlung bleibt in dieser Arbeit unberücksichtigt. 152 Zoepffel 2006, 401–423 arbeitet die Bezüge zu Aristoteles sorgfältig heraus, neigt jedoch dazu, Diskrepanzen wegzuargumentieren; Roscalla 1992, 488 nimmt eine direkte Abhängigkeit von Xenophon an.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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nahe liegende Annahme, dass Xenophons Schrift eine direkte Vorlage gewesen sei, hat Ulrich Victor zurückgewiesen, weil Xenophon weitschweifig und unscharf behandle, was das erste Buch knapper und genauer fasse. Xenophon habe die „herkömmliche[n] Bestandteile der Ökonomikliteratur“ umdisponiert, die im ersten Buch der Oikonomika in ihrer traditionellen Reihenfolge wiedergegeben seien.153 Victor geht von einer gemeinsamen Vorlage beider Schriften aus und schlägt versuchsweise Antisthenes’ verlorene Schrift zur Haushaltsführung vor.154 Victors Argumente sind nicht zwingend und müssen, wie er selbst eingesteht, Vermutungen bleiben.155 Im Folgenden wird diese Art der Quellenforschung nicht weiter verfolgt. Die inhaltlichen Parallelen zu Xenopons Oikonomikos sollen vielmehr herausgearbeitet werden, um zu zeigen, dass selbst ein Schüler des Aristoteles oder jedenfalls ein mit dessen Lehre vertrauter Autor dessen spezielle Definition von oikonomia und die Abgrenzung von der chrēmatistikē nicht wiederholte. Gleich mit dem ersten Satz schließt die pseudo-aristotelische Ökonomik an die ersten Sätze der Politik an. Die „Kunst der Haushaltsführung“ (οἰκονομική) und der städtischen Regierung seien verschieden, nicht nur, weil das eine das „Haus“ (οἰκία) betreffe und das andere die „Stadt“ (πόλις), sondern auch, weil die politische Kunst von vielen Magistraten ausgeübt werde, die haushälterische hingegen eine Alleinherrschaft sei.156 Die aristotelische Lehre wird hier ziemlich verkürzt. Für Aristoteles war bekanntlich nicht allein die Zahl der Herrschenden Kennzeichen der städtischen Regierung, sondern auch der Wechsel von Herrschen und Beherrschtwerden.157 Auch in der folgenden Zweckbestimmung der Haushaltskunst stimmt der Text nur oberflächlich mit Aristoteles’ Argumentationsgang überein. Aristoteles hatte den Gebrauch der notwendigen Güter als Zweck der Haushaltskunst definiert, deren Bereitstellung hingegen als Zweck der Erwerbskunst: Das begründet die Unterordnung der Erwerbskunst unter die Haushaltskunst. Der pseudo-aristotelische Text meint zwar ebenfalls, dass die „Künste“ (τέχναι) in „herstellende“ (ποιῆσαι) und „gebrauchende“ (χρήσασθαι) zu unterscheiden seien; er fügt jedoch hinzu, es sei „offenkundig“, dass
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Victor 1983, 177–184. Victor 1983, 187–192. Es fehlen jegliche Fragmente von Antisthenes’ Schrift, die Rückschlüsse auf ihren Aufbau und ihre Thematik erlauben würden; der unbekannte Autor der Oikonomika könnte es sich gerade als Verdienst angerechnet haben, Xenophons Abhandlung in Klarheit und Anordnung ‚verbessert‘ und dem aristotelischen Sprachgebrauch angepasst zu haben. Philodemos jedenfalls bezieht sich zweihundert Jahre später in seiner Behandlung der Ökonomik nur auf Xenophon und die pseudoaristotelische Schrift (die er Theophrast zuschreibt) und nennt keine weiteren Texte speziell zur Ökonomik. [Aristot.] oec. 1, 1343 a 1–4: Ἡ οἰκονομικὴ καὶ πολιτικὴ διαφέρει οὐ μόνον τοσοῦτον ὅσον οἰκία καὶ πόλις (ταῦτα μὲν γὰρ αὐταῖς ἐστι τὰ ὑποκείμενα), ἀλλὰ καὶ ὅτι ἡ μὲν πολιτικὴ ἐκ πολλῶν ἀρχόντων ἐστίν, ἡ οἰκονομικὴ δὲ μοναρχία. Aristot. pol. 1, 1252 a 14–16 und dann ausführlich 2, 1261 a 22–b 6.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
es Aufgabe der oikonomikē sei „ein Vermögen sowohl zu erwerben als auch zu gebrauchen“ (κτήσασθαι οἶκον καὶ χρήσασθαι αὐτῷ).158 Diese Bestimmung deckt sich mit der Definition von Ökonomik in Xenophons Oikonomikos und der Nikomachischen Ethik, aber eben nicht mit derjenigen in Politik I.159 Der Erwerb wird dem Gebrauch wie schon bei Platon bei- statt untergeordnet. Die Doppelaufgabe der Ökonomik – Erwerb und Verwendung von Besitz – wird noch einmal bekräftigt, wenn an späterer Stelle die Aufgaben des oikonomos in Bezug auf das Vermögen (περὶ τὰ χρήματα) in vier „Formen“ (εἴδη) unterteilt werden: 1) erwerben (κτᾶσθαι), 2) bewahren (φυλάττειν), 3) ordnen (κοσμητικόν) und 4) nutzen (χρηστικόν).160 Wie Xenophon spricht der Autor von oikos im wirtschaftlich-rechtlichen Sinne als ‚Vermögen‘, während er zuvor von oikia im sozialen Sinne als ‚Hausgemeinschaft‘ gesprochen hatte. Dass dem Autor daran gelegen ist, beide Aspekte des Haushaltsbegriffs zu vereinen, macht er kurz darauf deutlich: „Die Teile des Hauses aber sind Menschen als auch Besitz“.161 Der anonyme Autor greift Aristoteles’ Entwicklungsstufenmodell der menschlichen Gemeinschaften auf, lässt aber die teleologische Pointe fort. Bei Aristoteles ist die Stadt als Endzweck jeglicher menschlichen Gemeinschaft zugleich früher und später als das Haus. Diese anspruchsvolle Aufhebung der Geschichtlichkeit fehlt bei Pseudo-Aristoteles: Die oikonomia sei „zuerst entstanden“ (πρότερον γενέσει), denn auch ihr Werk/ihre Aufgabe (ἔργον) sei früher entstanden – „schließlich sei das Haus ein Teil der Stadt“.162 Der abstrakte Begriff telos ist durch ergon ersetzt. Der konkretere Ausdruck (‚Werk‘ als Einheit von Arbeit und Produkt) entspricht wiederum dem Sprachgebrauch von Xenophons Oikonomikos, der zu Beginn ebenfalls nach dem ergon der oikonomia fragt.163 Wie Aristoteles beginnt Pseudo-Aristoteles bei seiner Besprechung der sozialen Beziehung im Haus mit der Gemeinschaft von Mann und Frau und zitiert dazu den gleichen Hesiod-Vers. Nun folgt, unterbrochen von einem kurzen Einschub zum Besitz, eine Ausführung zum Verhältnis der Eheleute. Wie bei Aristoteles und anders als bei Xenophon wird das ‚naturgemäße‘ Ziel der Zeugung herausgehoben. Zugleich
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[Aristot.] oec. 1, 1343 a 5 f. Der Versuch von Zoepffel 2006, 419 f., den Widerspruch zu heilen, überzeugt m. E. nicht; Zoepffel argumentiert, die Beschaffung des Besitzes als Voraussetzung seines Gebrauchs entspreche in der Politik der Festlegung der Gesetze als Voraussetzung der Regierung; die Parallele ist gut formuliert, stammt jedoch nicht von Aristoteles, sondern von Zoepffel; Aristoteles bezeichnet den (wahren) Reichtum als ‚Werkzeug‘ für Haushaltsführung und Stadtregierung; dementsprechend müssten nach Zoepffels Interpretation die Gesetze ebenfalls ‚Werkzeuge‘ sein – davon spricht Aristoteles allerdings nicht und es würde zu der ungeklärten Frage führen, wie sich das Werkzeug des Reichtums zum Werkzeug des Gesetzes verhält. 160 [Aristot.] oec. 1, 1344 b 22–27. 161 Oec. 1, 1343 a 18: Μέρη δὲ οἰκίας ἄνθρωπός τε καὶ κτῆσίς ἐστιν. 162 Oec. 1, 1343 a 15 f.: μόριον γὰρ οἰκία πόλεώς ἐστι. 163 Xen. oik. 1.2; vgl. Zoepffel 2006, 426.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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wird jedoch wie bei Xenophon die wirtschaftliche Nützlichkeit (ōpheleia) hervorgehoben: Kinder dienen der Altersversorgung der Eltern.164 Die Rolle der Frau und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die bei Aristoteles keine Rolle spielen, behandelt Pseudo-Aristoteles zwar nur knapp, aber im Sinne Xenophons.165 Der Einschub zum Erwerb wird mit dem Satz eröffnet, dass an erster Stelle „die Fürsorge für den naturgemäßen Besitz“ (κτήσεως δὲ πρώτη ἐπιμέλεια ἡ κατὰ φύσιν) stehe.166 Es folgt eine Aufzählung, deren Bewertungsfolge aus Politik I bekannt ist: Zuerst die Landwirtschaft, dann Bergbau, am unteren Ende Handel, Lohnarbeit, Kriegswesen.167 Pseudo-Aristoteles verzichtet allerdings auf künstliche Oberbegriffe wie ktētikē/ chrēmatistikē und spricht stattdessen wie Xenophon von epimeleia, einen allgemein gebräuchlichen Ausdruck. Die Herleitung der Bewertung unterscheidet sich ebenfalls von Aristoteles. Die Landwirtschaft stehe an erster Stelle, weil sie „gerecht“ sei und ihren Gewinn nicht „vom Menschen“ ziehe wie Handel, Lohnarbeit und Kriegsdienst.168 Als zweiter Grund wird ergänzt, natürlich sei die Nahrung, die man von der Mutter erhalte, die Erde sei aber die Mutter der Menschen.169 Beide Kriterien spielen bei Aristoteles keine Rolle, der anders als Platon170 das Gerechtigkeitsproblem des Handels in Politik I nicht (explizit) erörtert. Ebenso wenig hatte er die naturgemäße Erwerbskunst auf den Ackerbau beschränkt ( Jagd, Fischfang), noch den Krieg für prinzipiell widernatürlich gehalten (vgl. dessen Definition als ‚Jagd‘ auf Sklaven). Auf die Darlegung zur Ehe folgt die zu den Sklaven. Diese Anordnung entspricht derjenigen bei Aristoteles und ähnelt der von Xenophon zumindest. Die Ausführung selbst enthält jedoch keinen Hinweis auf irgendeine der von Aristoteles behandelten theoretischen Fragen zur naturgemäßen Sklaverei. Stattdessen unterscheidet PseudoAristoteles wie Xenophon zwischen einfachem Arbeiter und Aufseher und erörtert die Anreize und Sanktionen, mit denen man Sklaven zu effizienten Mitarbeitern erzieht.171 Bis in die Einzelheiten hinein ähnelt diese Passage den entsprechenden Abschnitten bei Xenophon, einschließlich ihrer ‚behavioristischen‘ Prämisse und ihrer praktischen Zielsetzung der Ertragsmaximierung.172
164 [Aristot.] oec. 1, 1343a 20–23; vgl. Xen. oik. 7.12. 165 Aristoteles diskutiert lediglich die Frage, welche Art von Vernunft die Frau besitzt – diese Frage ist wichtig, um im Rahmen seines Systems zu klären, ob sie (gerechterweise) herrschen oder beherrscht werden sollte, vgl. Aristot. pol. 1, 1259 b 29–1260 a 29. Eine besonders enge Parallele zu Xenophon ist die Ablehnung des künstlichen Schmucks als ‚Betrug‘, [Aristot.] oec. 1, 1343 b 18–22; vgl. Xen. oik. 10.2–8. 166 [Aristot.] oec. 1, 1343 a 25. 167 Oec. 1, 1343 a 26–30: ὥσπερ καπηλεία καὶ αἱ μισθαρνικαί […] ὥσπερ αἱ πολεμικαί. 168 Oec. 1, 1343 a 28. 169 Oec. 1, 1343 a 30–b 1. 170 Vgl. Schriefl 2013 passim und bes. 185 f. und 262–273. 171 [Aristot.] oec. 1, 1344 a 23–b 21. 172 Vgl. Xen. oik. 13.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Wie in Politik I folgt auf die Behandlung der Herrschaftsbeziehungen die des unbelebten Besitzes. Inhaltlich findet sich jedoch abgesehen vom Lob der Landwirtschaft keine Spur von der bei Aristoteles akuten Frage, welche Erwerbsform naturgemäß sei. Stattdessen werden verschiedene Formen der Vermögensverwaltung mit regionalen Bezeichnungen (persisch, lakonisch, attisch) unterschieden. Wie Xenophon plädiert Pseudo-Aristoteles dafür, den Haushalt persönlich und mit Sorgfalt zu führen. Der Schlüsselbegriff ist „Fürsorge“ (epimeleia), die wichtigste Pflicht des Hausherrn.173 Um dieses Prinzip zu veranschaulichen, zitiert Pseudo-Aristoteles dasselbe Sprichwort wie Xenophon: Das Auge des Besitzers macht das Pferd fett.174 Wie im Oikonomikos werden die Formen der Besitzverwaltung und -verwendung am Kriterium der wirtschaftlichen „Nützlichkeit“ gemessen, das in Politik I nur im ‚praktischen‘ Kapitel 11 kurz auftaucht. Pseudo-Aristoteles thematisiert anders als Aristoteles auch das Wohnhaus. Inhaltlich entspricht er dabei wieder Xenophon: Das Haus soll Freude bereiten, klimatisch günstig angelegt sein und eine gute Ordnung zur Aufbewahrung der Besitztümer haben.175 Die pseudo-aristotelische Ökonomik teilt das allgemeine, bei Platon, Xenophon und Aristoteles anzutreffende Urteil, dass die Landwirtschaft die beste Erwerbsart sei. Diese ethisch-sozial begründete Bewertung ist in den Oikonomika I allerdings stark komprimiert und ihre praktischen Ratschläge sind nicht speziell auf die Landwirtschaft zugeschnitten.176 Wie bei Xenophon und Aristoteles thematisiert PseudoAristoteles vor allem die Herrschafts- und Kooperationsbeziehungen des oikonomos zu seinen Hausgenossen. Oikonomia bezeichnet insofern wie bei allen Vorgängern die Führung des ganzen Hauses und nicht speziell das ‚Wirtschaften‘. Gleichwohl gilt das Hauptinteresse wie bei den Vorgängern dem wirtschaftlichen Aspekt der Haushaltsführung. Die Verwaltung des Besitzes wird unter wirtschaftlichen Kriterien bewertet, die mit entsprechenden Wörtern markiert sind: Ertrag (τὰ κάρπιμα), Risiko (κινδυνεύειν), Nutzen (ὄφελος, χρήσιμος, συμφέρειν) (zum Begriff des Nutzens noch ausführlich Kap. 6.2). Ehe und Sklaverei werden als geschlechts- und statusspezifische Formen der Arbeitsteilung begriffen, deren richtige Gestaltung den materiellen Erhalt des Hauses sichert. Pseudo-Aristoteles unterscheidet zwar zwischen dem „Gebrauch“ und dem „Erwerb“ von Gütern, rechnet beide Aufgaben begrifflich undifferenziert der oikonomia zu.177 Der Überblick über das pseudo-aristotelische Verständnis von Ökonomik zeigt damit, das Aristoteles’ Abgrenzung von oikonomikē und chrēmatistikē eine
173 174 175 176 177
[Aristot.] oec. 1, 1344 b 35–1345 a 1; vgl. 1345 a 8–11. Oec. 1, 1345 a 3 f.; vgl. Xen. oik. 12.20. [Aristot.] oec. 1, 1345 a 24–32. Vgl. Klees 1975, 97 f., 100 f. zum allgemeinen Charakter. Vgl. [Aristot.] oec. 1, 1344 b 31–33, wo die attische Haushaltsführung, die kauft und verkauft, als Vorbild guter oikonomia empfohlen wird.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
217
Sonderleistung war, die nicht einmal in der unmittelbar folgenden Schülergeneration Schule machte. Es ließe sich einwenden, dass Pseudo-Aristoteles eben nur ein kleines Licht der griechischen Geistesgeschichte war, dessen semantische Grobschlächtigkeit kein maßgeblicher Beleg für die Begriffsgeschichte sein könne. Gegen dieses Argument spricht, dass die Belege aus hellenistischer Zeit in dieselbe Richtung weisen. Ein Stoiker-Fragment bei Stobaios, dessen Quellenwert Carlo Natali herausgestellt hat,178 zeigt, dass selbst ein Text, der auf Definitionen Wert legte und sogar wie Aristoteles’ Politik I zwischen oikonomikē und chrēmatistikē unterschied, die aristotelische Abgrenzung nicht wiederholte. Der Autor des Fragments definiert oikonomia als „Anordnung“ (διάταξιν) von Ausgaben und Arbeiten und „Fürsorge“ (ἐπιμέλειαν) für Besitz und Arbeiter, chrēmatistikē hingegen als die Fähigkeit, Geld „zusammenzubringen“ und „richtig zu bewahren und auszugeben“, aber er hält beide Tätigkeiten für Aufgaben des „ernsten und guten Hauswirts (οἰκονόμον)“, die den Zweck haben, dem „Haus zu nutzen“.179 Hier kreuzen sich Aufgaben, die nach Aristoteles’ Abgrenzung zu trennen wären: die oikonomia ist auch für die Anweisung produktiver Arbeiten zuständig, die chrēmatistikē auch für das Ausgeben des Geldes. Der Verzicht auf den Anschluss an die aristotelischen Begriffsbestimmungen zeigt sich schließlich auch in der Abhandlung über Haushaltsführung des späthellenistischen Philosophen Philodemos. Namentlich bezieht sich Philodemos nur auf die Ökonomiken von Xenophon und Pseudo-Aristoteles (die er Theophrast zuschreibt); inhaltlich gibt es allerdings einige Parallelen zu Aristoteles’ Diskussion der chrēmatistikē. Philodemos ordnet seine Abhandlung zur Ökonomik nämlich ausdrücklich in die Tradition des gelehrten Reichtumsdiskurses ein, indem er auf eine eigene Schrift Peri ploutou und gleichnamige Abhandlungen von Aristoteles und Metrodoros verweist und fragt danach, welche Form des Erwerbs sich für den Philosophen gebührt und was als „Maß des Reichtums“ (πλούτου μέ̣[τρ]ον) gelten soll.180 Philodemos’ Antworten auf diese zwei erkenntnisleitenden Fragen erinnern an Aristoteles. Erwerb zur Deckung des ‚notwendigen‘ Bedarfs (chreia) sei legitim, aber es wäre falsch, sich darüber hinaus um Reichtumserwerb abzumühen und ein „Fachmann“ (τεχνίτης) des Erwerbs zu werden, der überall nur nach Gewinn schaut – das sei Sache des „Geldgierigen“ (φιλοχρημάτου). Der kluge Hauswirt hingegen mache nicht das Geld zum
178 179
S. Natali 1995, 114–117 und 2003, 76–78. Fr. 623 SVF III (= Stob. 2.95,9): Οἰκονομικὸν δ’ εἶναι μόνον λέγουσι τὸν σπουδαῖον καὶ ἀγαθὸν οἰκονόμον, ἔτι δὲ χρηματιστικόν. Τὴν μὲν γὰρ οἰκονομικὴν εἶναι θεωρητικὴν ἕξιν καὶ πρακτικὴν τῶν οἴκῳ συμφερόντων· τὴν δ’ οἰκονομίαν διάταξιν περὶ ἀναλωμάτων καὶ ἔργων καὶ κτήσεως ἐπιμέλειαν καὶ τῶν κατ’ ἀγρὸν ἐργαζομένων· τὴν δὲ χρηματιστικὴν ἐμπειρίαν περιποιήσεως χρημάτων ἀφ’ ὧν δέον καὶ ἕξιν ὁμολογουμένως ἀναστρέφεσθαι ποιοῦσαν ἐν συναγωγῇ χρημάτων καὶ τηρήσει καὶ ἀναλώσει πρὸς εὐπορίαν· 180 Philod. col. XII, XXI.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Selbstzweck, sondern behalte das wahre, „natürliche“ Ziel guter (philosophischer) Lebensführung im Blick.181 Angesichts dieser inhaltlichen Parallelen ist es für die Begriffsgeschichte umso bezeichnender, dass Philodemos „Erwerb und Bewahrung der Vermögensgüter/des Reichtums“ als Ziel von oikonomia und oikonomikē definiert.182 Maßgeblich blieb also bis ins späte 1. Jh. v. Chr. ein umfassendes Verständnis von Ökonomik als Führung des ganzen Hauses, ein Herrschaftswissen, dessen wirtschaftlicher Aspekt auch Philodemos noch besonders irritierte und interessierte. Tatsächlich reicht die Kontinutität deutlich weiter. Brysons Oikonomikos, eine Schrift, die im 1. Jh. n. Chr. entstand und nur in arabischer Übersetzung überliefert ist, behandelt als Bereiche der Haushaltsführung gleichberechtigt die Bewirtschaftung des Vermögens, die Führung der Sklaven, die Zusammenarbeit mit der Ehefrau und die Erziehung des Sohnes. Die Bewirtschaftung des Vermögens erfolgt mit Blick auf Geldgewinne aus Markterlösen – aber im Rahmen einer umfassenden oikonomia.183 6.1.6 Oikonomika II: oikonomia als Finanzverwaltung? Das zweite Buch der pseudo-aristotelischen Oikonomika ist der jüngste der hier analysierten Texte. Er wurde in Kap. 5.3 bereits als Zeugnis für die Form pragmatischer Schriftlichkeit zu wirtschaftlichem Wissen untersucht. Inhaltlich bezeugt dieser Text den im 4. Jh. zunehmenden Bedarf an praktischer fiskalischer Kompetenz. Die zwei existentiellen Herausforderungen griechischer Städte – Kriege und Getreideversorgung – verlangten von Politikern ein hinreichendes Verständnis des Finanzwesens, eine Aufgabe, die nicht nur die Verwaltung gegebener Mittel einschloss, sondern auch die Aufbringung neuer Mittel. Aristoteles hebt die praktische Bedeutung dieser Kenntnisse sowohl in der Rhetorik (es ist das von ihm in einer Auflistung zuerst genannte Thema politischer Beratung) und in der Politik hervor.184 In unserem Zusammenhang ist die Frage wichtig, welcher Begriff von oikonomia in den Oikonomika II zu fassen ist und inwiefern die verbreitete These zutrifft, dass diese Schrift die Entstehung eines neuen und speziellen Begriffs von oikonomia als Finanzverwaltung belegt. Der Text beginnt mit einer Begründung, warum es der Instruktion über oikonomia bedürfe: „Wer etwas angemessen oikonomein will, der darf nicht unerfahren sein im Hinblick auf das Umfeld, in dem er tätig sein will, er muss sowohl von Natur aus dazu veranlagt sein als auch die feste Willensentscheidung treffen, arbeitsam und gerecht zu
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Philod. col. XII–XIX. Col. XII: περὶ χρημάτων κτήσεως τε καὶ φυλακῆς; τῆς τε τούτου [sc. πλούτου] κ[τή]σεως κ]αὶ τῆς τούτου φυλ[ακ]ῆς. 183 Zur Überlieferung von Brysons Abhandlung, ihren Themen und ihrem Kontext s. Swain 2013. 184 Aristot. rhet. 1, 1359 b 19–32; pol. 1, 1259 a 33–36; vgl. Xen. mem. 3.6,13.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
219
sein.“185 Anschließend werden vier oikonomiai unterschieden, die sich in ihrer „Prägung unterscheiden“ (ἐν τύπῳ διελέσθαι): die „königliche“ (βασιλική), die „statthalterische“ (σατραπική), die „städtische“ (πολιτική) und die „private“ (ἰδιωτική).186 Während Gert Audring und Kai Brodersen in ihrer Übersetzung oikonomein mit „einen Haushalt führen“ und oikonomiai mit „Arten der Haushaltsführung“ wiedergeben, übersetzt Zoepffel bewusst mit „verwalten“ und „Finanzverwaltung“. Sie nimmt an, Oikonomika II sei der „Entwurf zu einem ‚Lehrbuch der Finanzwissenschaft‘, antik gesagt zu einer Chrematistik, nicht zu einer theoretischen Abhandlung“ gewesen. Dass die Abhandlung dennoch nur von oikonomia sprach (chrēmatistikē kommt im gesamten Text nicht vor), sei eine „sprachliche Ungenauigkeit“, die dem alltäglichen Sprachgebrauch geschuldet gewesen sei.187 Diese moderne ‚Korrektur‘ des antiken Sprachgebrauchs entspricht einer verbreiteten Ansicht. Barthold Georg Niebuhr erklärte bereits 1812: „Nach Aristoteles ausführlicher Erklärung seines Begriffs von Oekonomik ist die Abhandlung nichts weniger als dies, wofür sie sich im Text so bestimmt wie in der Überschrift ankündigt, sondern Chrematistik.“188 Signe Isager schreibt, das erste Buch der Oikonomika sei wie Xenophons Oikonomikos „about oikonomia in the literal sense of householding“, das zweite Buch hingegen „about oikonomia in a sense nearer to our economy and it can be treated separately, as if it was written independently of the other two“.189 Johannes Engels merkt an, der Begriff der oikonomia werde im zweiten Buch „wesentlich anders verwendet als in zweifelfrei aristotelischen Schriften, insbesondere den πολιτικά“. Er berühre sich „in mehreren Punkten mit der aristotelischen χρηματιστικὴ τέχνη“.190 Wie unschwer zu erkennen ist, liegen Aristoteles’ eigene Begriffsbestimmungen in Politik I diesem Urteil zugrunde. Diese Beurteilung der Terminologie der Oikonomika II mithilfe der Begriffe aus Politik I setzt zwei Annahmen voraus. Die erste ist, dass es in der Zeit der Abfassung von Oikonomika II einen etablierten Begriff der „Chrematistik“ gegeben habe, der demjenigen von Politik I entsprach, den der Autor von Oikonomika II ‚ungenauerweise‘ jedoch nicht benutzte. Die zweite Annahme ist, dass zwischen oikonomia als Bezeichnung der Verwaltung öffentlicher Gelder und oikonomia als Bezeichnung privater Haushaltsführung ein substantieller Unterschied bestand. Beide Annahmen sollen im Folgenden widerlegt werden. Es ist bereits dargelegt worden, dass das Wort chrēmatistikē als substantiviertes Attribut eine Neuschöpfung Platons war, die erst Aristoteles systematisch zum Begriff weiterentwickelte. Auch später blieb der Ausdruck auf wenige gelehrte Abhandlungen
185
[Aristot.] oec. 2, 1345 b 7–10: Τὸν οἰκονομεῖν μέλλοντά τι κατὰ τρόπον τῶν τε τόπων, περὶ οὓς ἂν πραγματεύηται, μὴ ἀπείρως ἔχειν, καὶ τῇ φύσει εὐφυῆ εἶναι καὶ τῇ προαιρέσει φιλόπονόν τε καὶ δίκαιον. 186 Oec. 2, 1346 a 7–13. 187 Zoepffel 2006, 227, 231; dem folgt Föllinger 2014, 584 f. 188 Niebuhr [1812] 1828, 413. 189 Isager 1988, 77. 190 Engels 1993, 1.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
beschränkt, die sich häufig direkt auf Platon oder Aristoteles bezogen.191 Das gelehrte Kunstwort drang nie in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, der bloß chrēmatismos oder chrēmatizesthai gelegentlich verwendete. Wenn Deinarchos, ein Zeitgenosse des Aristoteles, Demosthenes vorwirft, er sei in Sachen der städtischen Finanzen nutzlos, so spricht er von oikonomiai (im Plural!), nicht von chrēmatistikē.192 Xenophon wendet den Ausdruck oikonomia bereits in der Kyrupädie auf die Beschaffung und Verwendung ‚öffentlicher‘ Gelder an (s. u.). Die Verwendung von oikonomia/oikonomein in den Orakel-Anfragen aus Dodona könnte bedeuten, dass der Ausdruck bereits im 5. Jh. für die Verwaltung öffentlicher Gelder verwendet wurde.193 Und auch die Inschriften des 3. Jhs. bezeichnen die Verwaltung öffentlicher Gelder weiterhin als oikonomia, nicht als chrēmatistikē.194 Philodemos’ Sprachgebrauch, der noch im späten 1. Jh. Erwerb und Bewahrung eines Geldvermögen unter oikonomia/oikonomikē fasste, wurde im vorherigen Kapitel diskutiert. Die antiken Zeitgenossen störten sich offenbar über fast dreihundert Jahre nicht an einem nach moderner Auffassung ‚ungenauen‘ Sprachgebrauch. Der Grund dafür ist, dass es gar keinen etablierten antiken Begriff der Chrematistik gab, weder für die private noch für die öffentliche Finanzverwaltung. Selbst Aristoteles, der den Begriff in Politik I definiert hatte, hielt sich sonst an den landläufigen Sprachgebrauch. In späteren Büchern der Politik wird die Verwaltung der öffentlichen Finanzen, einschließlich der Einnahmen, mehrfach als oikonomia resp. Aufgabe des oikonomos bezeichnet.195 Selbst in Politik I spricht Aristoteles, wenn er auf öffentliche Finanzen zu sprechen kommt, von „Gelderwerb und derartigen Einkünften“ (χρηματισμοῦ καὶ τοιούτων πόρων) statt von chrēmatistikē, was dem Sprachgebrauch der zeitgenössischen Abhandlungen über öffentliche Einnahmen entspricht.196 In der pseudo-aristotelischen Schrift Oikonomika I fehlt das Wort ebenfalls, die Rede ist undifferenziert von oikonomia.197 Die Feststellung, dass Ökonomik nach allgemeinem Verständnis die Beschaffung von Einkünften mit einschloss, führt zu der zweiten zu widerlegenden Annahme, laut der oikonomia bei Xenophon, Aristoteles und in der pseudo-aristotelischen Oikonomika I Haushaltsführung im umfassenden, ‚traditionellen‘ Sinn gemeint habe, während es in Oikonomika II im engeren Sinne nur Finanzverwaltung bezeichne. Isager hält diese zweite Wortbedeutung für moderner und will deshalb sogar das erste und 191 192 193 194 195 196 197
So das Ergebnis einer Suche im TLG (letzter Zugriff 29.03.2017). Deinarch. 1.97. Zu den Belegen Kap. 6.1. Ampolo 1979, 123–130; Natali 1995, 98 f. Aristot. pol. 5, 1308 b 31–33; 1314 a 40–b 18. Xenophons Schrift ist mit Poroi tituliert und beschreibt seine Absicht als Untersuchung der Frage, ὅτι ἡ χώρα πέφυκεν οἵα πλείστας προσόδους παρέχεσθαι; Aineas Taktikos nennt sein nicht erhaltenes Buch über Einkünfte ὁ ποριστικὴ βίβλος, Ain. Takt. 14.2. Vgl. Kap, 6.1.5.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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zweite Buch entgegen der Manuskript-Überlieferung trennen.198 Zweifellos meinte Pseudo-Aristoteles, wenn er von einer oikonomia basilikē oder politikē sprach, ‚Finanzverwaltung‘ (im weitesten und untechnischen Sinn des Wortes), bei der häusliche Beziehungen wie die Ehe keine Rolle spielten. Es wurde jedoch bereits dargelegt, dass alle Behandlungen der privaten oikonomia ebenfalls auf den wirtschaftlichen Aspekt der Vermögensbewahrung und -vergrößerung fokussierten und den Ausdruck teilweise in dieser engeren Bedeutung verwendeten. Es war gerade diese Konzentration auf den Erwerbsaspekt der privaten Hauswirtschaft, der es nahelegte, auch die städtische Finanzverwaltung unter demselben Begriff zu fassen. Dafür sprach weiterhin, dass es in Bezug auf die Verwaltung von Finanzen keinen grundlegenden strukturellen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Haushaltung gab. Diese strukturelle Gleichheit privater und öffentlicher Haushaltung thematisierten antike Autoren explizit. In Aristophanes’ Lysistrate verkündet die Titelheldin einem athenischen Magistraten, von nun an würden die Frauen die öffentlichen Gelder hüten, da sie ja bereits jetzt die privaten Vermögen verwalteten.199 Dasselbe Argument trägt Praxagoras in den Ekklesiazusen vor.200 Beide Male gewinnen die Forderungen ihren Witz daher, dass sie auf der Theaterbühne möglich, in der Realität hingegen undenkbar sind. Doch was genau an diesen Forderungen ist undenkbar? Es ist nicht die Gleichsetzung von privater und öffentlicher Finanzverwaltung, sondern die Inversion der Geschlechterrollen. Der athenische Magistrat kontert Lysistrates Ansinnen nicht damit, dass die öffentliche Geldverwaltung qualitativ anders funktioniere als die private, sondern damit, dass die Gelder für den Krieg bestimmt seien – also spezifischen männlichen Zwecken dienten.201 Die gleiche prinzipielle Gleichsetzung von privater und öffentlicher oikonomia findet sich bei Xenophon. In der Kyrupädie, deren Held Kyros auch im Oikonomikos als Vorbild des privaten Hausvaters auftritt, wird die oikonomia zu den Kernkompetenzen des Feldherrn gezählt, „denn Soldaten bedürfen der Bedarfsgüter nicht weniger als Hausgenossen im Haus“.202 Die Haushaltsführung des Feldherrn ist qualitativ dieselbe wie des Privatmanns, nur umfangreicher. Xenophon stellte zwei Gebote auf. Erstens solle der Feldherr bei der Bedarfsdeckung nicht bloß auf andere vertrauen, sondern selbst Bescheid wissen und Maßnahmen ergreifen, die Einkünfte sichern. Diese ‚Kniffe‘ werden wie im Oikonomikos als mēchanai bezeichnet. Zweitens soll man mit der Sicherung der Bedarfsmittel nicht warten, bis der Mangel einen dazu zwingt, sondern vorsorgen, wenn man Überfluss hat: Eine Armee zu haben, mit der man den Freunden
198 199 200 201 202
Isager 1988, 77. Aristoph. Lys. 492–497: οὐ καὶ τἄνδον χρήματα πάντως ἡμεῖς ταμιεύομεν ὑμῖν. Eccl. 210–240, 597–600. Lys. 496. Xen. Kyr. 1.6,12: οἱ ἐν οἴκῳ οἰκέται.
222
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
nützen und den Feinden schaden könne, und dann die Versorgung zu vernachlässigen, welche die Moral und Treue der Soldaten sichert, sei nicht weniger schändlich, als Felder zu besitzen und Arbeiter um sie zu bestellen, und sie dann unprofitabel liegen zu lassen.203 Dieser abschließende Vergleich wiederholt eine Hauptlehre des Oikonomikos: Man soll das verfügbare Kapital, Arbeiter und Äcker, nicht „nutzlos“ liegen lassen. Der zugleich paternalistische und gewinnorientierte Hausvater wird zum Vorbild des Feldherrn, dieser wiederum zum Vorbild für den oikonomos, der über seine Arbeiter wie ein diszipliniertes Heer gebieten soll (dazu Kap. 6.3.1). Am ausdrücklichsten setzt Xenophon private und öffentliche Finanzverwaltung im dritten Buch der Memorabilien gleich.204 Dort erklärt Sokrates, warum ein Mann wie ein gewisser Antisthenes, der sich nur auf „Geld zusammenbringen“ verstehe, durchaus als Feldherr geeignet sein könne. Der Feldherr müsse schließlich wissen, wie er die Versorgung der Soldaten garantiere. Antisthenes verstehe es außerdem, die richtigen Leute auszuwählen, um als Chorege zu siegen. Die Fähigkeit, die richtigen Männer auszuwählen und einzusetzen, sei auch im Krieg notwendig.205 Sokrates führt den Gedankengang weiter: Ein guter Hauswirt (ἀγαθὸς οἰκονόμος) ist ein guter Feldherr, weil die Fürsorge für private und öffentliche Angelegenheiten nur dem Umfang nach verschieden seien, ansonsten aber gleich. Wer die Kunst der Personenführung beherrsche und es verstehe, die Menschen richtig zu „gebrauchen“ (χρῆσθαι), werde erfolgreich sein.206 Eben diese Gleichsetzung privater und öffentlicher Leitung liegt auch der Einleitung von Oikonomika II zugrunde. Die vier Arten der oikonomia werden nur graduell unterschieden, nämlich jeweils nach dem Aspekt, der bei jeder von ihnen besonders ausgeprägt ist. Die königliche sei am „größten und umfassendsten“, die städtische am „vielgestaltigsten und einfachsten“, die private hingegen am „geringsten und vielgestaltigsten“ (die Eigenart der satrapischen oikonomia ist einem Textverderbnis zum Opfer gefallen).207 Der Autor fügt hinzu, die vier Arten hätten „notwendigerweise vieles miteinander gemein“.208 Anschließend werden die vier Varianten auch nach ihren „Teilen“ unterschieden. Die königliche habe es mit „Münzwesen, Ein- und Ausfuhr und Ausgaben“ zu tun; die satrapische mit „Ackererträgen, speziellen Erzeugnissen des Landes, Handel, Steuern und Zöllen, Viehzucht und ‚Wiederkehrendem‘“; die städtische mit Spezialprodukten des Landes, Handelseinkünften, Durchgangszöllen und Sonderabgaben; von der „privaten“ heißt es schließlich, sie sei „ungleichförmig“ (ἀνώμαλος),
203 204 205 206 207
Xen. Kyr. 1.6,9–11. Mem. 3.4,1. Mem. 3.4,2–6. Mem. 3.4,7–12. [Aristot.] oec. 2, 1345 b 14–16: Τούτων δὲ μεγίστη μὲν καὶ ἁπλουστάτη ἡ βασιλική, , ποικιλωτάτη δὲ καὶ ῥᾴστη ἡ πολιτική, ἐλαχίστη δὲ καὶ ποικιλωτάτη ἡ ἰδιωτική. 208 Oec. 2, 1345 b 16 f.: Ἐπικοινωνεῖν μὲν τὰ πολλὰ ἀλλήλαις ἀναγκαῖόν ἐστιν.
6.1 Haushalt und Erwerb: Was ist oikonomia?
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weil sie „nicht auf ein einziges Ziel hin haushalte“ (μὴ πρὸς ἕνα σκοπὸν οἰκονομεῖν), außerdem sei sie die unbedeutendste, weil sowohl die Einnahmen als auch Ausgaben gering seien. Ihre Bestandteile sind an erster Stelle Einkünfte aus Land, an zweiter aus sonstigen Quellen, an dritter aus Geld. Noch einmal wird das gemeinsame Grundprinzip aller Haushaltungsarten beschworen: Man habe darauf zu achten, „dass die Ausgaben nicht größer werden als die Einnahmen.“209 Die vier Formen der ‚Finanzverwaltung‘ werden demnach nicht nach ihrer qualitativen Struktur unterschieden, sondern lediglich nach ihrem Umfang und nach ihren Einnahmequellen. Keine Andeutung findet sich über verschiedenartige Rechtsgrundlagen, Prinzipien der Arbeitsteilung oder Buchführung210, Zielsetzung oder Betriebsform. Stattdessen wird ein allgemeines und banales Prinzip als verbindende Gemeinsamkeit benannt.211 Selbst Aristoteles ging im Bereich der Finanzverwaltung von der strukturellen Gleichheit von Häusern und Städten aus. In Politik I heißt es zum praktischen Nutzen der Erwerbskunst, „viele Städte bedürfen des Gelderwerbs und der Einkünfte wie ein Haushalt, nur mehr.212 Resümierend lässt sich sagen, dass Oikonomia trotz aller praktischen Unterschiede zum Oberbegriff von Finanzverwaltung werden konnte, weil sich bereits der Diskurs über die private Haushaltsführung auf den wirtschaftlichen Aspekt derselben konzentrierte. Bei der Übertragung der Bezeichnung oikonomia auf die öffentliche Verwaltung kam es zu einer Schmälerung des Bedeutungsgehalts, aber nicht zu einem grundsätzlichen Bedeutungswandel. Der strukturgeschichtliche Hintergrund dieser wortgeschichtlichen Entwicklung war, dass sich einerseits die Hauswirtschaft rationalisierte und monetarisierte und andererseits die Technik der Verwaltung öffentlicher Gelder bei aller Verfeinerung nie zu einer Kameralistik im neuzeitlichen Sinne entwickelte. Städtische Magistrate und Redner mussten sich zunehmend gut mit Finanzfragen auskennen, aber sie wurden nie formal geschulte Bürokraten in einer spezialisierten Finanzverwaltung. Ein Hausvater verstand Ende des 4. Jhs. seine Pflicht zuallererst darin, in Geld kalkulierte Einnahmen und Ausgaben zu verwalten (vgl. Kap. 13.3). Darüber wurde er allerdings nicht zum Betriebswirt. Denn auch die gewinnorientierte Partizipation an der Verkehrswirtschaft diente nach wie vor einem alten Zweck: Dem Erhalt des ganzen Hauses, d. h. oikonomia im umfassenden Sinn.213
209 210 211 212 213
Oec. 2, 1345 b 20–1346 a 16. Zur Ähnlichkeit öffentlicher und privater Buchhaltung vgl. Kap. 13.3. Vgl. Natali 1995, 99. Aristot. pol. 1, 1259 a 34 f.: ὥσπερ οἰκίᾳ, μᾶλλον δέ. Wohl in diesem Sinne meint Pseudo-Aristoteles im zitierten Satz, die private Haushaltsführung sei „vielgestaltig“, weil sie keinen einzigen Zweck habe.
224
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
6.2 Nutzen und Bedarf Von ‚Nutzen‘ und ‚Bedarf ‘ war in den vorausgegangenen Kapiteln bereits mehrfach die Rede, denn Nutzenmaximierung zum Zweck der Bedarfsdeckung war das Kerngeschäft der Hauswirtschaft. Die folgende Untersuchung soll zeigen, dass auch die literarische Ökonomik beide Begriffe in den Mittelpunkt ihrer normativen Theorien rückte und damit Einiges über die praktische Logik der Hauswirtschaft verrät. 6.2.1 Der konventionelle Begriff des Nutzens bei Xenophon Zu Beginn des Oikonomikos wird eine besitzrechtliche Definition des Hauses vorgeschlagen: „Zum Haus gehöre alles, was jemand besitze“ (πάντα τοῦ οἴκου εἶναι ὅσα τις κέκτηται) – der oikos eines Mannes sei sein „Besitz“, κτῆσις.214 Sokrates gibt sich mit dieser Definition nicht zufrieden. Zählen also auch die Feinde, die ein Mann „besitzt“ (κτήσασθαι), zu seinem oikos?215 Der Vorschlag scheint absurd; denn dann würde die Mehrung der Feinde ebenfalls zu den Aufgaben des oikonomos gehören. Die abwegige Frage hat einen wegweisenden Zweck. Sie zwingt Kritobulos die gegebene Definition einzugrenzen: „Besitztum“ (κτῆμα) meine nicht die schlechten Dinge, die jemand habe, sondern nur die Guten; Sokrates souffliert: „Besitztümer nenne man also was nützlich sei“ (ὠφέλιμα κτήματα καλεῖν). Kritobulos stimmt zu: „Was mehr schade, als nütze, sei Verlust und nicht Vermögen“ (βλάπτοντα ζημίαν […] μᾶλλον ἢ χρήματα).216 Pferde, Ackerboden und Schafe seien nur dann „Vermögenswerte“ (χρήματα) statt bloßer „Besitztümer“ (κτήματα), wenn man sie zu „nutzen“ (χρῆσθαι) verstehe. Kritobulos verallgemeinert am Beispiel der Flöte:217 Ein und derselbe Gegenstand ist also für den, der ihn zu nutzen (χρῆσθαι) versteht, ein Vermögenswert (χρήματα), für den dagegen, der es nicht versteht, keiner. Zum Beispiel sind Flöten für denjenigen, der wertvoll (ἀξίως) zu spielen versteht, ein Vermögenwert (χρήματα), für denjenigen, der das nicht kann, nicht mehr wert als nutzlose Steine (ἄχρηστοι λίθοι). Es sei denn, er verkauft sie. Das wiederum scheint uns klar zu sein: Wer sie verkauft, für den sind die Flöten ein Vermögen (χρήματα), wer sie aber nicht verkauft, sondern besitzt, ohne sie nutzen (χρῆσθαι) zu können, für den sind sie es nicht.
214 215 216 217
Xen. oik. 1.5, 7. Oik. 1.6. Oik. 1.7; vgl. 9: τὰ μὲν ὠφελοῦντα χρήματα ἡγῇ, τὰ δὲ βλάπτοντα οὐ χρήματα. Oik. 1.10 f.: Ταὐτὰ ἄρα ὄντα τῷ μὲν ἐπισταμένῳ χρῆσθαι αὐτῶν ἑκάστοις χρήματά ἐστι, τῷ δὲ μὴ ἐπισταμένῳ οὐ χρήματα· ὥσπερ γε αὐλοὶ τῷ μὲν ἐπισταμένῳ λόγου αὐλεῖν εἰσι, τῷ δὲ μὴ ἐπισταμένῳ οὐδὲν μᾶλλον ἢ, εἰ μὴ γε αὐτούς. τοῦτ’ ἄρα φαίνεται ἡμῖν, ἀποδιδομένοις μὲν οἱ αὐλοὶ, μὴ ἀποδιδομένοις δὲ ἀλλά. Adapt. Übers. G. Audring. Audring übersetzt chrēmata mit „Besitztum“ und verwischt damit gerade die von Xenophon betonte Differenz.
6.2 Nutzen und Bedarf
225
Der Verkauf von Gütern ist also eine Form ihres Gebrauchs und in manchen Fällen sogar der mit dem größten Nutzen. Selbst „Silbergeld“ (τὸ ἀργύριον) gehöre nur dann zu den chrēmata, wenn man es zu gebrauchen verstehe.218 Die Wortspielerei, von ktēmata auf das fast gleich lautende chrēmata zu wechseln, führt zu einem Schluss, der in zeitgenössischen Ohren wie ein Oxymoron klingen musste: Geld ist kein Geld. Denn argyrion, wörtlich ‚Silber‘, bedeutete im Alltag genau wie chrēmata ‚Geld‘. Das Spiel mit dem Wortklang konterkarierte den alltäglichen Sprachgebrauch, aber entstammte wohl selbst dem populären Denken. Ein Spruch in der Spruchsammlung des Sotiades, die Johannes Engels ins späte 4. Jh. datiert, lautet: χρῶ χρήμασιν – nutze dein Vermögen.219 Xenophons Bestimmung des Werts durch den Nutzen ist häufig als ethische Wertlehre gedeutet worden. Trever schreibt 1916:220 This idea of value is true enough from the ethical standpoint, and should not be left out of account, as is being recognized by modern economists. But to attempt to build a theory of economic value on such a basis […] would result in hopeless confusion. Value is not merely an individual and moral, but also a social and economic, fact.
Was Trever mit Wert als ‚sozialer und wirtschaftlicher Tatsache‘ meint, wird in seinen folgenden Ausführungen klar: den Marktpreis. Diese Beurteilung ist problematisch. Erstens wäre es einem Zeitgenossen Xenophons angesichts der geringen Integration der Verkehrswirtschaft merkwürdig vorgekommen, die Preise der feilschenden Händler auf dem lokalen Markt als ‚objektive Tatsachen‘ anzusehen. Zweitens hat sich die moderne Ökonomie inzwischen von dem Gedanken verabschiedet, dass Marktpreise den objektiven ‚Wert‘ einer Sache wiedergeben: „In a sense, all profits – or values – are values of people rather than of inanimate goods. Goods and resources are valuable only because of how people use them“, heißt es bereits in einem Lehrbuch der 1980erJahre.221 Ob Haushalte Güter durch Kauf erwerben oder nicht, ist nicht allein von deren Marktpreis abhängig, sondern auch von ihrem Wert als Input der häuslichen Nutzenproduktion. Dieser Wert lässt sich – jedenfalls theoretisch – ebenso objektiv angeben wie sein Marktwert.222 Ist Xenophons Definition also modern? Sie ist jedenfalls relativ und subjektiv. Der Nutzen einer Sache ist relativ zu ihrem Besitzer, abhängig von dessen individuellen Fähigkeiten.223 Wie im modernen Ausdruck ‚Kapital‘ drückt sich in Xenophons chrēmata das ökonomische Potential aus, das der Verwirklichung durch den nutzenmaximierenden Gebrauch harrt. Die Idee eines Gebrauchswerts im Unterschied zum Tauschwert
218 219 220 221 222 223
Oik. 1.12. Überliefert bei Stob. 3.1,173, Nr. 85; zur Datierung Engels 2010, 19 f. Trever 1916, 64. Alchian/Allen 1983, 189. Becker 1976a. Lowry 1987, 74, 78 f.
226
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
hat Xenophon dagegen nicht im Sinn: Bei Flöten und Pferden kann der Gebrauch gleichermaßen in Benutzung und Verkauf bestehen. Ein wichtiger Unterschied von Xenophons Nutzenlehre zu jener moderner Ökonomen ist ihr Kollektivbezug. Xenophon definiert den Nutzen nicht von den Bedürfnissen des Individuums her, sondern von dem sozial und kulturell normierten „Bedarf “ des Haushalts. „Nützlich“ ist, was dem ganzen Haus und in letzter Konsequenz der ganzen Stadt nützt. Der individuelle Genuss von Wein, Naschereien, Glücksspiel und Hetären ist hingegen schädlich.224 So wie der „Nutzen“ des Hauses ist auch sein „Bedarf “ relativ. Kritobulos fragt, ob Sokrates ihn für so „reich“ (πλουτεῖν) halte, dass er keines weiteren Vermögens bedürfe. Sokrates, für seine bescheidenen Verhältnisse bekannt, dreht die Sache um: Er sei „ausreichend reich“ (ἱκανῶς πλουτεῖν), Kritobulos aber erscheine ihm „bedürftig“ (πένεσθαι). Kritobulos lacht und bittet Sokrates, den Verkaufswert ihres Besitzes zu vergleichen. Sokrates gibt zu, dass Kritobulos absolut gemessen mehr als das Hundertfache als er selbst besitze.225 Aber, fährt er fort, gemessen an der Pracht von Kritobulos’ Lebensführung und seinem guten Ruf müsste er noch dreimal so viel besitzen, um „genug“ (ἱκανά) zu haben.226 Anschließend zählt Sokrates die kostspieligen Verpflichtungen gegenüber den Göttern, der Stadtgemeinde und den Freunden auf, die sich aus Kritbulos’ hoher sozialer Stellung ergeben.227 Wieder akzentuiert eine zunächst paradox anmutende Formulierung einen wichtigen Gedanken: Ähnlich wie Xenophon zuvor den Nutzen einer Sache relativ zu den Fähigkeiten des Besitzers aus ihnen Wert zu schöpfen definiert hat, definiert er nun den Umfang des Besitzes relativ zum geldwerten Bedarf des Haushalts. Wichtig ist nicht die absolute Summe des Vermögens, sondern die richtige Bilanz zwischen Einnahmen und Ausgaben. Xenophons Ausführungen zur Relativität von Nutzen und Bedarf stehen in einer gelehrten Tradition, die sich bis ins späte 5. Jh. zurückverfolgen lässt. Von Demokrit ist die Aussage überliefert: „Armut, Reichtum: Worte für Mangel und Sättigung. Weder ist also reich, wer etwas entbehrt, noch arm, wer nichts entbehrt.“228 Der Satz ist zweischneidig. Er ließ sich – das war offenbar Demokrits Intention – angesichts zunehmenden Luxuskonsums als Aufruf zur Mäßigung verstehen.229 Er ließ sich jedoch ebenso gut umdrehen, als Rechtfertigung der Nutzenmaximierung eines Haushalts mit dessen Bedarf. Diesen Weg geht Xenophon.
224 225 226 227 228
Xen. oik. 1.13, 19–22. Oik. 2.1–3. Oik. 2.4. Oik. 2.5–8; vgl. Kap. 3.2.1. Demokr. fr. B 283 DK 68 (= Stob. 3.16,19): πενίη πλοῦτος ὀνόματα ἐνδείης καὶ κόρου· οὔτε οὖν πλούσιος ἐνδέων οὔτε πένης ὁ μὴ ἐνδέων. Übers. M. G. Marciano. 229 Fr. B 219 DK 68 (= Stob. 3.10,43): „das Streben nach Geld“ (χρημάτων ὄρεξις) muss von „Sättigung begrenzt sein“ (ὁρίζηται καὶ κόρου), weil sonst „größere Begierden größeren Mangel (ἐνδείας) schaffen“; vgl. Demokrits’ Äußerungen zu autarkeia, Kap. 6.4.1.
6.2 Nutzen und Bedarf
227
Der „Nutzen“, der durch richtigen Gebrauch entsteht, bleibt im gesamten Oikonomikos Maßstab der guten Hauswirtschaft, markiert durch wiederkehrende Schlagwörter. Der Hausvater kann sogar aus Feinden „Nutzen ziehen“ (ὠφελεῖσθαι), wenn er sie „zu nutzen“ (χρῆσθαι) versteht.230 Die Gutswirtschaft „nutzt“ Hunden und Pferden und sie wiederum „nutzen“ ihm (ἀντωφελοῦσι).231 Der Besitz von und die Fürsorge für Ackerland ist am „nützlichsten“ für das Leben; die Ehe ist das „nutzbringendste Zuggespann“.232 Beim Umgang mit Sklaven soll man darauf achten, diejenigen zu belohnen, die sich als „nützlich für dein Haus/Vermögen“ (ὠφελίμους τῷ σῷ οἴκῳ) erwiesen haben.233 Die Sklaven „benutzen“ (χρῶνται) die Gerätschaften im Haus, die Frau achtet darauf, dass dies in „nützlicher Weise“ (ὄφελος) geschieht.234 Bei der Auswahl des Aufsehers ist darauf zu achten, dass er die Voraussetzungen erfüllt, „nützlich“ (ὄφελος) zu sein.235 Wenn er unehrlich ist, bleibt kein Überschuss der Ernte und er bringt keinen Nutzen.236 Ist er jedoch gut ausgebildet, „wird jede Arbeit nutzbringender sein“ (ἕκαστα τῶν ἔργων ὠφελιμώτερα γίγνοιτο).237 Schlimm sind die „nutzlosen“ (ἄχρηστοι) Drohnen, die anders als die fleißigen Bienen nichts zur Mehrung beitragen.238 Nicht bloß Ischomachos’ Vater „erfreute sich, wenn er aus seinen Ländereien Nutzen zog“ (ὠφελούμενος), in die er zuvor investiert hatte.239 Jeder, versichert Ischomachos, liebe das, „wovon er meint, Nutzen zu ziehen (ὠφελεῖσθαι)“.240 Dieser ‚Nutzen‘, nach dem die Hauswirtschaft strebt, hat meist materiellen und häufig auch kommerziellen Charakter. Die Pferdezucht ist „nützlich“, weil man die Tiere verkaufen kann.241 Der nützliche Sklavenaufseher sorgt für eine einträgliche Ernte. Die Ehe ist eine profitable Gemeinschaft, wenn man Mitgift und Einkünfte des Hauses zum gemeinsamen Vorteil verwaltet wie ehrliche „Vermögenspartner“.242 Das phönizische Handelsschiff, das „wegen des Gewinns“ unterwegs ist, zeigt, wie „nützlich“ Ordnung ist, und die Getreidehändler lieben ihr Getreide, weil sie „Nutzen daraus ziehen“, sprich, es zum Höchstpreis verkaufen.243
230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241
Xen. oik. 1.15. Oik. 5.6. Zur Landwirtschaft oik. 5.11; vgl. 15.4; zur Ehe 7.18, 28. Oik. 7.41. Oik. 9.9–16. Oik. 12.5, 13.2; 14. 7, 15.2 Oik. 14.2. Oik. 15.1. Oik. 18.14; ein altes Bild, vgl. Breitenbach 1967, 1852 und Pomeroy 1994, 277. Oik. 20.25. Oik. 20.29. Vgl. mem. 4.3,10: Viehzucht ist besser als Getreideanbau, weil das Vieh der Ernährung und dem Gelderwerb dient (τρέφονται γοῦν καὶ χρηματίζονται). 242 Vgl. Kap. 10.2.3. 243 Xen. oik. 7.11–16; 20.27 f.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Als Leitwert erscheint die ‚Nützlichkeit‘ auch in den vier Kapiteln von Memorabilia II zur Hauswirtschaft. Immer wieder zeigt sich hier, dass der Übergang vom „Nutzen“ im Sinne des ‚Gebrauchs‘ materieller Güter und „Nutzen“ im Sinne des ‚Geldgewinns‘ graduell ist. In der Aristarchos-Episode überzeugt Sokrates den zunächst zweifelnden Athener davon, seine weiblichen Verwandten im Haus zu einer Webstube zu organisieren. Er verweist auf das Beispiel wohlhabender Werkstattbesitzer, deren Sklaven „nützliche Dinge“ (πάντα ταῦτα χρήσιμα) herstellten, etwa Mehl und Brot und Bekleidung. Das sind zunächst ‚Gebrauchs‘-Artikel des täglichen Bedarfs. Sie sind jedoch zugleich Waren, deren Verkauf dem Hausherren ein Leben im angenehmen Überfluss und die Bezahlung ehrenvoller Liturgien ermöglicht – es ihm also erlaubt, seinen ‚sozialen Bedarf ‘ zu decken.244 Noch ist Aristarchos nicht überzeugt und wendet ein, seine Hausgenossinnen seien keine Sklavinnen. Sokrates zerstreut diese Bedenken, indem er die „Nützlichkeit“ zur Generaltugend der Haushaltung erklärt. Dazu reiht er rhetorische Fragen aneinander: Müssten Aristarchos’ Verwandte etwa nichts tun außer Essen und Schlafen, nur weil sie frei sind? Leben denn nicht diejenigen besser, die „wissen, was das für das Leben/den Lebensunterhalt Nützliche ist und darum Sorge tragen?“ Nützen denn etwa „Untätigkeit“ (ἀργία) und „Achtlosigkeit“ (ἀμέλεια), um Erlerntes im Gedächtnis zu bewahren, dem Körper Kraft und Gesundheit zu erhalten, und „die brauchbaren Dinge, die für das Leben nützlich sind (τὰ χρήσιμα πρὸς τὸν βίον ὠφέλιμα ὄντα), zu erwerben und zu bewahren, während Arbeitsamkeit (ἐργασία) und Sorgfalt (ἐπιμέλεια) nicht nützlich (χρήσιμα) seien?“ Jetzt ärgere sich Aristarchos über die zu ernährenden Verwandten als einer Last. Doch seien sie erst wieder „in Arbeit“ (ἐνεργοὶ ὦσι), wird er sie wieder „liebgewinnen“ (φιλήσεις), dann nämlich, wenn er sieht, dass sie ihm „nützlich (ὠφελίμους) sind“.245 Sokrates’ Vorhersage trifft ein. Nachdem Aristarchos „Startkapital“ (ἀφορμή) besorgt hat, wird die Arbeit erfolgreich begonnen – man arbeitet sogar während des Frühstücks! Die Harmonie im Haus ist wiederhergestellt. Die arbeitenden Frauen sind heiter und „lieben Aristarchos wie einen Fürsorger“ (ὡς κηδεμόνα ἐφιλουν); er wiederum „hat sie lieb, weil sie nützlich sind“ (ὡς ὠφελίμους ἠγάπα).246 Durch den Anstrich patronaler Fürsorge scheint die rauhe Pragmatik der Hauswirtschaft hindurch. Wer isst, der soll arbeiten, nur wer „nützlich“ ist – d. h. produktiv – wird geliebt.247 In einer langen Forschungsdiskussion wurde diese Anekdote entweder als Beleg für die rationale Gewinnorientierung der Athener gewertet oder gerade umgekehrt als Beleg dafür, wie fremd den Athenern solche Unternehmungen eigentlich gewe-
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Mem. 2.7,5 f. Mem. 2.7,7–9. Mem. 2.7,12. Vgl. mem. 2.1,15, dort als rhetorische Frage: Wer will einen Menschen im Haus haben, der nicht zu arbeiten bereit ist, aber einen aufwendigen Lebensstil pflegt?
6.2 Nutzen und Bedarf
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sen seien.248 Die Nichtentscheidbarkeit dieser Streitfrage ist in Xenophons Darlegung selbst angelegt. Einerseits stellt er die Gründung einer Werkstatt freier Verwandter als rechtfertigungsbedürftig und durch außerordentliche Umstände veranlasst dar. Andererseits kamen solche ‚außerordentlichen Umstände‘ häufig genug vor, und Xenophon erwartete offenbar, dass seine Rezipienten Sokrates’ Empfehlung für nützlich und sogar nachahmenswert hielten. Vielversprechender als die Frage danach, wie ‚typisch‘ Aristarchos’ Vorgehen war, scheint mir deshalb der Blick darauf zu sein, mit welcher Sprache und mit welchen Argumenten Xenophon seinen Vorschlag präsentiert.249 Die repetitive Reihung rhetorischer Fragen ahmt die mündliche hausväterliche Belehrung nach. Anders als die sokratischen Fragen bei Platon führen diese Fragen nicht in die Aporie und sie provozieren keinen Widerspruch und kein Erstaunen. Sie erinnern vielmehr in appellativen Ton daran, dass die Normen von Arbeitsamkeit und Sorgfalt allgemeingültig sind, was der Gesprächspartner, der schweigt und belehrt wird, natürlich anerkennt. Im Stil der traditionellen Belehrung werden Tugenden und Übel in einem Katalog plakativ kontrastiert, wobei wie bei Hesiod das Gute und das Nützliche, das Böse und das Schädliche identisch sind. Subsistenzsicherung und Geldgewinn, patriarchale Fürsorge und geschlechtsspezifische Ausbeutung sind untrennbar verschmolzen. Die drei in den Memorabilia folgenden Anekdoten wenden das gleiche Argumentationsschema an. Dem verarmten Eutheros rät Sokrates eine Anstellung als Verwalter eines reichen Gutsbesitzers. Wenn er diesem die Ernte einbringe, dann könne er diesem Mann „nutzen und auch selbst Nutzen daraus ziehen“ (ὢφελοῦντα ἀντωφελεῖσθαι).250 Xenophon benutzt hier wie im Oikonomikos das unübersetzbare Wort, antōpheleisthai, „kehrnutzenziehen“, um den Austausch nützlicher Dienste in Nahbeziehungen zu beschreiben. Um eine Nahbeziehung mit wechselseitigem Nutzen geht es auch in den zwei folgenden Episoden. Dem wohlhabenden Landbesitzer Kriton gibt Sokrates den Rat, wie er sich der „Sykophanten“ erwehren könne, die ihn mit Prozessdrohungen erpressen. Sokrates antwortet in der Tradition hausväterlicher Instruktion mit einem Tiervergleich. Kriton „halte sich einen Hund“ (κύνας τρέφεις), um die Schafe vor dem Wolf zu schützen, weil er daraus „Gewinn ziehe“ (λυσιτελεῖ). Ebenso solle er sich einen „Mann halten“ (θρέψαις καὶ ἄνδρα), um die Denunzianten fernzuhalten. Denn sicherlich wollten viele sich „selbst nutzen“ (ὠφελεῖσθαι), indem sie einem Mann wie Kriton gefällig wären und es als Ehre anstreben, ihn als Freund „zu gebrauchen“ (χρῆσθαι). Der geeignete Kandidat ist Archedemos, geschickt im Reden und Handeln, aber arm. Kriton versorgt ihn fortan mit Getreide, Wein „oder anderen für den Lebensunterhalt nützli248 Aus den zahllosen Belegen nur wenige jüngere Beispiele – typisch: Figueira 2012, 669 f.; Acton 2014, 155; außergewöhnlich: Millett 1991, 73 f.; Spahn 2008, 100. 249 Die Analyse bei Figueira 2012, 669 f. geht in eine ähnliche Richtung. 250 Xen. mem. 2.8,3.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
chen (χρησίμων) Ackererzeugnissen“. Er kümmert sich auch sonst um ihn, lässt ihn am Opfer teilhaben und macht sein Haus zu dessen Zufluchtsstätte – Archedemos wird zum festen Hausgenossen.251 Dafür erweist sich Archedemos als „guter Hund“ gegen Kritons Feinde. Auf den Vorwurf, er schmeichle Kriton nur, weil er von diesem „Nutzen ziehe“ (ὠφελούμενος), entgegnet Archedemos, es sei nicht schändlich, von „guten Menschen Wohltaten zu empfangen und Wohltaten zu erwidern“ und sie zu Freunden zu haben.252 Xenophons Bild vom „nützlichen“ Hund, der für seine Wachdienste einen Lebensunterhalt erhält, lässt keine Zweifel am Nutzenkalkül der Kooperation. Aber zugleich betont Xenophon, wie wichtig es ist, die nützliche Austauschbeziehung glaubhaft als freundschaftliche und häusliche Nahbeziehung zu gestalten.253 Hauswirtschaft war eben nicht nur Nutzenkalkül, sondern auch das Kalkül der Darstellung des Nutzenkalküls. Auch die letzte der vier Episoden behandelt den Nutzen von Nahbeziehungen im Rahmen des ‚erweiterten Haushalts‘ und auch sie bedient sich zur Belehrung anschaulicher Vergleiche und rhetorischer Fragen. Sokrates fragt: Bemühe sich Diodoros nicht darum, sich einen Sklaven zu erhalten, indem er ihn jage, wenn er geflüchtet sei, und pflege, wenn er krank sei? Sei dann nicht ein freier Bekannter, der doch „viel nützlicher“ (πολὺ […] χρησιμώτερος) als ein Sklave sei, nicht erst recht der Fürsorge „wert“ (ἄξιον)? Werde der Freund sich etwa nicht wegen des erwiesenen Nutzens selbst nützlich erweisen (ὠφελούμενος ὑπὸ σοῦ μὴ ἀντωφελοίη)? Ein solcher „Helfer“, der willig, wohlgesonnen und brauchbar (χρήσιμον) ist, habe sicherlich den „Gegenwert“ (ἀντάξιον) vieler Sklaven. Abschließend zitiert Sokrates eine Grundweisheit der Hauswirtschaft: „Die guten Hauswirte (ἀγαθοὶ οἰκονόμοι) sagen ja auch, wenn man Wertvolles um ein Geringes kaufen könne, dann müsse man kaufen. Jetzt aber ist es wegen der Zeitumstände möglich, gute Freunde zu kaufen.“254 Xenophon hat sich diese deutlichste Formulierung des hauswirtschaftlichen Nutzenkalküls für den Schluss seiner vier exemplarischen Anekdoten aufgehoben. Der gute Hausvater kauft, wenn der Preis niedrig ist, ‚Freunde‘ ebenso wie alles andere. Der Bewertungsmaßstab ist dabei die „Nützlichkeit“ in Bezug auf den „Bedarf “ des Hauses. Verwandte, Freunde, Sklaven, Vieh und Vorräte werden an ihm gleichermaßen gemessen. Xenophons Begriffe entsprechen dem alltäglichen Sprachgebrauch seiner Zeit. Ōpheleia ist ein häufiges Attribut von Handelshäfen255 und gelegentlich sogar Syno251 Mem. 2.9,1–5. 252 Mem. 2.9,7 f. 253 Herman 1987, 87; Millett 1991, 113–123; Konstan 1997, 78–82; Zelnick-Abramovitz 2000, 67–71. 254 Mem. 2.10,1–4: οἱ μέντοι ἀγαθοὶ οἰκονόμοι, ὅταν τὸ πολλοῦ ἄξιον μικροῦ ἐξῇ πρίασθαι, τότε φασὶ δεῖν ὠνεῖσθαι νῦν δὲ διὰ τὰ πράγματα εὐωνοτάτους ἔστι φίλους ἀγαθοὺς κτήσασθαι. Adapt. Übers. P. Jaerisch. 255 Hdt. 7.158,2: Handelsplätze, die „größten Nutzen (ὠφελίαι) und Gewinne einbringen“; vgl. Xen. vect. 3.4; [Demosth.] 34.52.
6.2 Nutzen und Bedarf
231
nym für kerdos, „Gewinn“.256 Chrēsthai taucht bei Schilderungen von Geschäftsbeziehungen und kommerziellen Transaktionen auf, etwa, wenn man eine Bank oder einen Geldwechsler „benutzt“.257 In den Orakel-Anfragen, die den Sprachgebrauch breiterer Schichten wiedergeben, wird der wirtschaftliche Bedeutungsaspekt besonders deutlich. Ein gewisser Theokleidas will Ende des 5. Jhs. wissen, ob eine Fahrt nach Pharos in der Adria „Nutzen für das Vermögen“ (χρημάτων ὄνασις) bringen werde.258 Kleoutas aus Thessalien fragt um 375, ob es für ihn „nützlich und nutzbringend“ (ὄναιον καὶ ὠφέλιμον) sei, Schafe zu züchten.259 Ein anonymer Fragesteller des 4. Jhs. möchte wissen, ob es für ihn „nützlich“ (ὄναιον) sei, das Gewerbe der Erzbearbeitung aufzunehmen.260 Ein weiterer fragt (4. Jh.), ob der Erwerb eines Stadthauses und eines Landstücks für ihn „äußerst nutzbringend“ (πολυωφελέ(σ)τε(ρ)ον) sein werde.261 Ein Mann mit rhodischem Dialekt (4. Jh.) fragt, ob es „vorteilhaft“ (σύμφορον) für ihn sei, wenn er nach Gutdünken Handel treibe und dabei „sein Gewerbe/Geschick für sich gebrauche“ (τᾶι τέχναι χρεύμενος).262 In allen Fällen sind „nützlich“ und ‚gewinnbringend‘ bedeutungsgleich.263 Die Subjektivität des Nutzenbegriffs ergibt sich daraus, dass die Fragen stets nach dem Nutzen für sich selbst in der gegenwärtigen Situation fragen. Die alltäglichen Begriffe von Nutzen und Gebrauch waren relativ und subjektiv genau wie bei Xenophon. Dennoch haben Nutzen und Gebrauch keine ausschließlich wirtschaftliche Bedeutung im engeren Sinn, sowie ōpheleia auch den Nutzen einer politischen, militärischen oder diplomatischen Entscheidung bezeichnen kann. In Dodona fragt ein Ehepaar in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. nach dem Wohlergehen ihres offenbar frisch gegründeten Haushalts, d. h. nach Gesundheit, Nachkommen, „Sicherheit des Vermögens“ und, wie als Zusammenfassung zum Abschluss, nach „Nutzen in (allen) zukünftigen Dingen“ (τῶν ἰόντων ὄνασις).264 Auch bei Xenophon ist der „Nutzen“ nicht auf materiellen Gewinn beschränkt. Der konsumtive Gebrauch (chrēsis) eines Vermögens ist seiner Hortung vorzuziehen und nützlich insofern, als er ein standesgemäßes Leben ermöglicht.265 In diesem Sinn hat selbst die Jagd, der Inbegriff adli-
256 Etwa Thuk. 2.65,7; Lys. 7.13. 257 Cohen 1992, 65 f. und 154 f.; das Wort bezeichnet zugleich den vertrauten Umgang. 258 DVC 3030A; um Handel geht es auch in 2171B und vielleicht in 272A (2. Hälfte 4. Jh.); vgl. 2510 (1. Hälfte 3. Jh.), wo neben Glück, Gesundheit, Sicherheit und „gutem Geschäft“ (ἐργασίας ἀγαθ[ῆ]ς) auch nach χρημάτων τῶν ὄντων ὄνησιν gefragt wird. 259 Lhôte 80 mit dem Kommentar ad loc.; vgl. DVC 3128 (Mitte 4. Jh.) zum Ackerbau. 260 Lhôte 84. 261 Lhôte 117; meine Lesart folgt Lhôtes Interpretation ad loc. 262 Lhôte 89. 263 Vgl. die beiden Anfragen DVC 527A und 2008, bei denen es darum geht, ob ein Kauf „nützlich“ (ὀνάς[ιμον]) resp. ein Verkauf „nutzbringend“ (ὀνησιφόρος) wäre. 264 DVC 313A; vgl. 2768B, wo nach dem Nutzen (onasimos) eines Kindes gefragt wird, 479B, wo es um die Fortsetzung einer Ehe geht (ōphelimos) und 2609A, wo eine Frau fragt, ob der Geschlechtsverkehr mit einem Mann ihr „Nutzen“ (ōpheleia) – für die Kinderzeugung? – brächte. 265 Vgl. die entsprechende Episode in Xen. Kyr. 3.3,2–3 und Lak. pol. 7.6.
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ger Zeitverschwendung, ihren Nutzen (ōpheleia).266 Xenophon lobt die Landwirtschaft gerade wegen ihres umfänglichen Nutzens, der über Einnahmen hinausgeht. Richtig betrieben verschaffe sie „Wohlleben, Vergrößerung des Hauses und Übung des Körpers“ und all das in einer Weise, „wie es einem freien Mann zukommt“.267 Landbesitz erlaubt es, Reitpferde und Jagdhunde zu halten. Land und Landwirtschaft haben ästhetischen und gesundheitlichen Wert und steigern Wehrhaftigkeit und Patriotismus. Sklaven, Frauen, Kinder und Gäste lieben das Landgut, weil es Feste und Empfänge erlaubt.268 Kurzum, die Landwirtschaft ist „eine menschenfreundliche Fachkenntnis“ (τὴν φιλανθρωπίαν ταύτης τῆς τέχνης), am „nützlichsten, am angenehmsten auszuführen, und am edelsten und geliebtesten bei Göttern und Menschen“.269 Xenophon empfiehlt die Landwirtschaft also gerade deshalb mit Emphase, weil sie als Einheit von Ehre und Gewinn (und Wohlleben) eine Lösung des Adelsdilemmas verspricht. Was für die Landwirtschaft gilt, gilt für die Hauswirtschaft allgemein. So sehr die Vergrößerung des Vermögens bei Xenophon Zweck der Ökonomik ist, so wenig ist sie deren Selbstzweck. Ihr Ziel ist allgemeiner Nutzen, die Sicherung des sozialen Status durch Großzügigkeit gegenüber den Göttern, den Freunden und der Stadt. Der relative und umfassende Nutzenbegriff, der Xenophons Oikonomikos beherrscht, ist zuerst bei den sog. ‚Sophisten‘ des 5. Jhs. belegt.270 Der Fokus liegt bereits bei ihnen auf der Mahnung, keine Güter ungenützt zu lassen. Das klassische Anschauungsbeispiel war der ‚unnütz‘ vergrabene Schatz.271 Antiphon berichtet von einem Mann, der viel Geld anhäufte, aber einem Bittsteller ausschlug, ihm das Geld auf Zins zu leihen, weil er „misstrauisch“ war und „niemandem nutzen/helfen wollte“ (μὴ ὠφελεῖν μηδένα). Als ihm das gehortete Geld kurz darauf gestohlen wird, bereut er seine Entscheidung. Denn als Darlehen wäre ihm es erhalten geblieben und hätte noch zusätzlichen Gewinn gebracht. Als er dem abgewiesenen Bittsteller wieder begegnet, klagt er darüber, dass er die Gelegenheit verstreichen ließ, sich ihn durch ein Darlehen zu Dank zu verpflichten. Der andere aber redet ihm zu, er solle sich nicht grämen, sondern einfach einen Stein an die Stelle des Schatzes legen und sich vorstellen, das Geld sei noch da: „Wer nämlich von einer Sache weder Gebrauch macht noch machen wird, dem schadet es weder mehr noch weniger, ob er sie nun besitzt oder nicht“ (ὅτωι γάρ τις μὴ ἐχρήσατο μηδὲ χρήσεται, ὄντος ἢ μὴ ὄντος αὐτῶι οὐδὲν οὔτε πλέον οὔτε ἔλασσον
266 Xen. kyn. 2.1. 267 Oik. 5.1: ὅτι τῆς γεωργίας οὐδ’ οἱ πάνυ μακάριοι δύνανται ἀπέχεσθαι. ἔοικε γὰρ ἡ ἐπιμέλεια αὐτῆς εἶναι ἅμα τε ἡδυπάθειά τις καὶ οἴκου αὔξησις καὶ σωμάτων ἄσκησις εἰς τὸ δύνασθαι ὅσα ἀνδρὶ ἐλευθέρῳ προσήκει. 268 Oik. 5.2–11; diese Aufzählung von Landfreuden ist der früheste Beleg des später topischen Lobs des Landlebens, vgl. Breitenbach 1967, 1846 und Pomeroy 1994, 254. 269 Xen. oik. 15.4: ὸ γὰρ ὠφελιμωτάτην οὖσαν καὶ ἡδίστην ἐργάζεσθαι καὶ καλλίστην καὶ προσφιλεστάτην θεοῖς τε καὶ ἀνθρώποις … 270 Roscalla 1992, 482–484; Soverini 1998, 81–89; Spahn 2003, 44 f. 271 Vgl. Plut. Regum 176c für eine vergleichbare Anekdote unbekannter Herkunft; ähnlich Kyr. 3.3,2 f.
6.2 Nutzen und Bedarf
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βλάπτεται). Antiphon ergänzt: Wer „Geldreichtum“ (χρημάτων πλοῦτον) besitzt, aber „arm an Verstand ist“ (τοῦ καλῶς φρονεῖν πένητα), der werde schlussendlich auch seinen Geldreichtum verlieren.272 Wir kennen die Moral der Geschicht’ bereits von Xenophon, der ebenfalls ungenutzte Güter mit Steinen vergleicht. Besitz für sich genommen ist wertlos, erst durch richtigen Gebrauch gewinnen die Dinge Wert. Wo Xenophon von epimeleisthai spricht, bezeichnet bei Antiphon phronein die Fähigkeit, den größten Nutzen aus den gegebenen Mitteln zu ziehen.273 Auch bei Antiphon ist dieser Nutzen Geldgewinn. Doch auch hier ist der Nutzen weiter gefasst. Nicht nur sich selbst soll man nutzen, sondern auch anderen (ὠφελεῖν im Aktiv), denen man Wohltaten erweise. Das Nutzstreben ist also eingebettet in normative Erwartungen.274 Wenn Xenophon den letzten Nutzen materiellen Reichtums in seinem gemeinnützigen Konsum sieht, so liegt er auf einer Linie mit verbreiteten Ansichten seiner Zeit. In den Gerichtsreden ist der „nützliche“ Bürger derjenige, der sein Privatvermögen durch freiwillige Liturgien in den Dienst der Stadt stellt.275 Die „Nützlichkeit“ des tugendhaften Bürgers ist wirtschaftlich und moralisch. Diese ethische Komponente tritt beim Ausdruck chrēsimos stärker hervor als bei ophelos. Wenn die Unterstützer des Bankiers Phormion ihn dafür loben, dass er sich der Stadt und ihnen gegenüber „nützlich erwies“ (χρήσιμος γεγονώς), so sind damit gleichermaßen seine finanzielle Hilfe und seine ehrenwerte Gesinnung gemeint.276 Insbesondere Isokrates betont die ethische Dimenison der Unterscheidung von Besitzen und Gebrauchen. Im Brief An Demonikos heißt es, man solle nicht „übertriebenen Erwerb“ anstreben, sondern „maßvollen Genuss“ und zu verachten sei, wer nach Reichtum strebe ohne zu wissen, wie er zu „gebrauchen“ (χρῆσθαι) sei. Isokrates bedient sich desselben Klangspiels wie Xenophon: Man müsse versuchen, „Reichtum als Gebrauchswert und als Besitzwert zu behandeln“ (πειρῶ τὸν πλοῦτον χρήματα καὶ κτήματα κατασκευάζειν). Denn nur für den, der sich darauf verstehe, seinen Besitz zu genießen, sei es Vermögen (χρήματα); „für den, der sich nur auf den Erwerb verstehe, sei es lediglich Besitz (κτήματα)“.277 Man solle das Vermögen nur aus zwei Gründen wertschätzen: um „großen Schaden“ (ζημία μεγάλη) abzuwenden und um einem tüchtigen Freund in Not zu helfen. Isokrates’ Auffassung, die bereits sein Lehrer Gorgias vertrat,278 erscheint zunächst als rein
272 Antiph. fr. B 54 DK 87 (= Stob. 3.16,30). 273 Vgl. für eine weitere Lehr-Anekdote Xen. Kyr. 3.1,16. 274 Vgl. Demokr. fr. B 78 DK 68 (= Stob. 4.31,121): „Geld zu erwerben ist nicht ohne Nutzen; auf ungerechte Weise aber ist es schlimmer als alles andere.“ (χρήματα πορίζειν μὲν οὐκ ἀχρεῖον, ἐξ ἀδικίης δὲ πάντων κάκιον). 275 Lys. 20.23: Die Familie des Sprechers war der Stadt am „nutzbringendsten“ (ὠφελιμώτατοι), weil sie ihr Vermögen nicht versteckte, sondern Vermögenssteuern und Liturgien zahlte. 276 Demosth. 36.57–59; die Belege für Trierarchien und Liturgien bei Davies 1971, 436. 277 Isokr. 1.27 f. 278 Vgl. Gorgias fr. B 20 DK 82 (= Plut. Kimon 10.5).
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konsumtive Wertschätzung des Geldvermögens. Der letzte Satz lässt jedoch erahnen, dass die Beschränkung des Erwerbs auf die Bedarfsdeckung im Prinzip nicht zu einem Ende des Erwerbs in der Praxis führt. Denn der Schutz vor ‚großen Gefahren‘ und die Hilfe für Freunde erfordert einen Vorrat an Geld, der ständig erneuert werden muss. Somit steht auch bei Isokrates’ Äußerungen über Nutzen und Bedarf indirekt der ‚widerwillige Ökonom‘ im Hintergrund, den sein statusspezifischer Bedarf zur Nutzenmaximierung zwingt. 6.2.2 Der teleologisch verankerte Begriff des Nutzens bei Aristoteles Die umgangssprachlichen, traditionellen Begriffe von „Nutzen“ und „Bedarf “ waren also schillernd und konnten je nach Aussagezusammenhang zur Nutzenmaximierung ermuntern oder umgekehrt zur Mäßigung und zum Genuss des Vorhanden ermahnen. Die Gelehrten des 4. Jhs. schlossen an diese etablierten Gemeinplätze an und bemühten sich dabei um eine Schärfung der Begriffe und Theoretisierung der ihnen zugrunde liegenden Annahmen. Aristoteles’ Überlegungen dazu, wie Nutzen und Bedarf sich zueinander verhielten, knüpfen dabei an die Überlegungen seines Lehrers Platon an. Platon wollte aufzeigen, dass richtig verstanden nur der Nutzen für die Gemeinschaft auch dem Individum nützlich sei, eigennütziges Streben nach einem ‚Zuviel für einen selbst‘ (pleonexia), wie er es seinen Zeitgenossen bescheinigte, hingegen in Wahrheit auch für das Individuum unnütz und schädlich sei.279 Platons Urteil über den Nutzen materiellen Reichtums variiert dabei. Während Reichtum und Tugend in der Politeia geradezu inkompatibel sind, äußert sich Platon in seinen restlichen Dialogen und besonders in den Gesetzen gemäßigter. Der Besitz materieller Reichtümer dürfe kein Selbstzweck sein, doch als intermediäres Gut zum Erreichen höherstehender Seelengüter sei er durchaus ‚nützlich‘.280 Zugleich bedient sich Platon des landläufigen Nutzenbegriffs, um seine eigene normative Theorie zu entwickeln. Im Euthydemos heißt es, man solle nur solches Wissen (epistēmē) ‚besitzen‘, das einem irgendwie „nützt“ (ὀνήσειεν). Selbst das Wissen, wie man Steine zu Gold verwandelt, wäre nichts „wert“ (ἀξία), wenn man nicht wüsste, wozu das so erzeugte Gold „zu gebrauchen“ (χρῆσθαι) sei. Ebenso wenig sind die übrigen Wissensformen für sich genommen „nützlich“ (ὄφελος), etwa die Erwerbskunst (chrēmatistikē) oder die Heilkunst, die sich darauf verstehen, „etwas hervorzubringen (ποιεῖν τι), aber nicht darauf, es zu „gebrauchen“ (χρῆσθαι). Nicht oder falsch gebraucht sei selbst Gold nicht mehr wert als ein Stein.281 Platon benutzt wie Antiphon und Xenophon das offenbar konventionelle Bild vom nutzlosen Stein. Es geht ihm zwar um grundsätzliche Überlegungen zu Er279 Föllinger 2016, 49–54; Schriefl 2013, 50–61. 280 Schriefl 2013, 212–273. 281 Plat. Euthyd. 288d–289a.
6.2 Nutzen und Bedarf
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kenntnis und Handeln, formuliert sind diese Überlegungen allerdings in der Sprache des wirtschaftlichen Nutzendenkens: Der Nutzen beim Gebrauch ist der Maßstab für den Wert von Besitztümern und dieser ist relativ zu den subjektiven Kenntnissen und Zwecken des Besitzers. Platons Urteil, dass die Erwerbskunst für sich genommen zwecklos sei, hat Aristoteles systematisch weiterentwickelt im Begriff der chrēmatistikē als Kunst der Bereitstellung der Güter, welche die Haushaltung nutzt, um erst das bloße und dann das gute Leben zu sichern. Im ersten Buch von Platons Politeia findet sich dieser Gedanke ex negativo bereits angedeutet. Dort wird Thrasymachos’ Verständnis dafür kritisiert, dass in ihm der Regierende sich letztlich nur um die Regierten kümmere, „um selbst Nutzen daraus zu ziehen“ (αὐτοὶ ὠφελἠσονται),282 er schaue also „auf die Rückzahlung wie ein Erwerbsmann“ (πρὸς τὸ ἀποδόσθαι, ὥσπερ χρηματιστήν). Platon bleibt im Bild des kommerziellen Verkehrs, wenn er anschließend erläutert, warum auch die technē des Regierenden nicht für sich selbst Nutzen (ōpheleia) schaffe, sondern für andere, nämlich die Regierten, von denen der Regierende dafür im Gegenzug einen „Lohn“ (μισθός) in Form von Ehre oder Geld erhalte.283 Platon greift also das landläufige Nutzenkalkül auf, aber dreht seine Konsequenz um. Anstatt sogar die Leitung des Gemeinwesens der partikularen Nutzenmaximierung zu unterwerfen, müssten die Einzelkünste dem Gemeinwesen dienen. Dabei baut er sein Argument auf die Feststellung auf, dass eine instrumentelle Fähigkeit/Tätigkeit logischerweise nicht Selbstzweck sein kann, eben weil sie instrumentell ist. Aristoteles hat diesen Gedanken seines Lehrers in der widernatürlichen Gelderwerbskunst auf den Begriff gebracht (Kap. 6.1.4). Kommen wir damit zu Aristoteles. In der Rhetorik verwendet er den konventionellen Begriff der Nützlichkeit, um Reichtum (πλοῦτος) zu definieren. Ein wichtiges Kriterium, um die Formen des Reichtums zu bewerten, ist, wie „nützlich“ (χρήσιμα) sie sind: „Nützlich“ sind in höherem Maße „die ertragbringenden Besitztümer“ (τὰ κάρπιμα), „freiheitsgemäß“ diejenigen, die Genuss bringen. „Ertragbringend“ sei dabei, woraus man „Einkünfte“ (πρόσοδοι), zieht, „genussbringend, woraus außer dem ‚Gebrauch‘ (χρῆσιν) davon nichts entsteht, was der Erwähnung wert wäre“. Kurz darauf heißt es: „Überhaupt besteht reich sein (πλουτεῖν) mehr darin, Dinge zu „gebrauchen“ (χρῆσθαι) als sie zu besitzen; denn der „tätige Einsatz (ἐνέργειά) und der Gebrauch (χρῆσις) von solchen Dingen bedeutet Reichtum“.284 Wir finden hier alle Elemente der konventionellen Nutzenlehre wieder. Die dispositive Natur des Reichtums wird hervorgehoben: Reich zu sein zeigt sich mehr im Benutzen als im Besitzen. Chrēsimos meint dabei speziell den Nutzen im Sinne von Zugewinn, aber chrēsthai und chrēsis jeglichen Gebrauch, ob nun konsumtiv oder produktiv.285 282 283 284 285
Rep. 1, 343b–c. Rep. 1, 345c–347a. Aristot. rhet. 1, 1361 a 13–25. Ebd.: κτῆσις πλήθει καὶ μεγέθει καὶ κάλλει διαφερόντων.
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Die Betonung des produktiven Nutzens findet sich in dem kurzen Abschnitt wieder, den Aristoteles der Praxis des Ewerbs in Politik I widmet. Dort unterscheidet er, wie bereits beschrieben, die theoretische Kenntnis (gnōsis) der Erwerbskunst von ihrem Gebrauch (chrēsis).286 Die daran anschließende Liste von Erwerbsarten steht unter dem Titel der „nützlichen Bereiche der Erwerbskunst“ (χρηματιστικῆς μέρη χρήσιμα). In ihr ist die ‚Gewinnträchtigkeit‘ die entscheidende Bewertungsgröße: Man muss wissen, welches die „gewinnträchtigste“ (λυσιτελέστατα) Tierart am jeweils passenden Ort ist.287 Über den Abbau von Bodenschätzen heißt es, er bringe zwar keine Früchte hervor, sei jedoch gleichwohl nützlich (ἀκάρπων μὲν – χρησίμων δέ).288 Aristoteles benutzt hier wie Xenophon im Oikonomikos den Begriff des ‚nutzbringenden Gebrauchs‘, der relational, gewinnorientiert und haushaltszentriert ist. Teilt Aristoteles also das zeitgenössische Allgemeinverständnis vom subjektiven, materiellen „Nutzen“ als Wertmaßstab für Güter? Dem widerspricht die geläufige Annahme, Aristoteles habe ‚Tauschwert‘ und ‚Gebrauchswert‘ eines Guts unterschieden und deshalb eine kommerzielle Veräußerung (anders als Xenophon) nicht mehr als Form des Gebrauchs verstanden. Diese These hat Scott Meikle mit viel Scharfsinn vertreten (s. u.). Ein anderer möglicher Einwand ist, dass Aristoteles wie Platon letztlich das Partikularinteresse des Haushalts als Maßstab des Nutzens ausschalten möchte zugunsten der Stadtgemeinde als der höchsten Gemeinschaft. Ich werde mich zuerst mit der ersten Annahme auseinandersetzen. Am Schluss dieses Kapitels wird die Frage aufgegriffen, wie Aristoteles Partikularnutzen und Gemeinnutzen zueinander in Beziehung setzt. Die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert in der Güterwertlehre ist stark von Karl Marx geprägt worden. Marx entwickelte seine Version der Unterscheidung im ersten Band des Kapitals und griff dabei auf Aristoteles zurück.289 Für Marx’ Erklärung des kapitalistischen Verwertungsprozesses ist die Unterscheidung zentral. Der „Mehrwert“, den der Kapitalist abschöpft, entsteht – stark verkürzt dargestellt – dadurch, dass der Gebrauchswert der Arbeit, der dem Kapitalisten gehört und den Tauschwert der Ware ausmacht, höher ist als der Tauschwert der Arbeit.290 Meikle hat diese Unterscheidung wiederum seiner Interpretation des ökonomischen Denkens des Aristoteles zugrunde gelegt.291 Meikle betont, dass gerade in dieser Un-
286 287 288 289
Pol. 1, 1258 b 9 f. Pol. 1, 1258 b 12–16. Pol. 1, 1258 b 30. Aristoteles’ Lehre ist nicht Marx’ einziger Ausgangspunkt; die Anleihen bei der aristotelischen Werttheorie sind jedoch offensichtlich und als solche gekennzeichnet, so etwa in der langen Anm. 6 bei Marx [1867] 1962, 167, vgl. 179. 290 Marx [1867] 1962, 53–57; der Prozess der Warenzirkulation und Kapitalakkumulation, der dazu führt, dass der Tauschwert der Arbeit unter ihrem Gebrauchswert liegt, wird in den Kap. 2–4 (Warenzirkulation) und Kap. 5 („Produktion des absoluten Mehrwerts“) beschrieben. 291 Meikle 1979, 66 f.
6.2 Nutzen und Bedarf
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terscheidung bei Aristoteles die Differenz zu den Nutzwertlehren der ökonomischen Theorie seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. liege.292 Meikle erläutert diese Differenz so:293 In utilitarian or neo-classical economics, use value and exchange value are conceptually connected in the notion of utility. In Aristotle’s analysis, however, exchange value cannot be an aspect of use value, or be conceptually connected with it, in the way that it is understood to be in neo-classical economics, and for quite logical and metaphysical reasons. It is not obvious that the metaphysical support for the neo-classical view is equally solid.
Im Sinne dieser Unterscheidung ordnet Meikle die ökonomische Funktion der Produktion der Ökonomik zu, die Funktion der Distribution hingegen der Chrematistik.294 Meikles Interpretation widerspricht der von mir im vorangegangenen Abschnitt formulierten These, dass das griechische Verständnis insoweit modernen ökonomischen Konzepten ähnele, als es zur Grundlage der Wertbemessung den relativen und subjektiven (allerdings nicht individuellen) Nutzen mache. Zur Entscheidung der Frage, welche der beiden Thesen überzeugender ist, müssen die drei Passagen in der Politik und der Nikomachischen Ethik herangezogen werden, auf die Meikle seine These stützt. Die wichtigste von diesen drei, aus der Politik, lautet in möglichst wörtlicher Übersetzung:295 Für jedes Besitztum gibt es einen zweifachen Gebrauch (ἑκάστου γὰρ κτήματος διττὴ ἡ χρῆσίς ἐστιν), in beiden Fällen zwar von der Sache als solcher, aber nicht in gleichartiger Weise als solcher; vielmehr ist der eine (Gebrauch) der Sache ihr eigentümlich (οἰκεία), der andere hingegen nicht, so wie beim Schuh die Fußbekleidung und der Tausch. Beide sind nämlich Gebrauchsweisen des Schuhs (ὑποδήματος χρήσεις): Denn wer den Schuh gegen Münzgeld oder Nahrung mit einem tauscht, der ihn benötigt, der gebraucht (χρῆται) den Schuh als Schuh, aber das ist kein eigentümlicher Gebrauch (τὴν οἰκείαν χρῆσιν): Denn (der Schuh) entstand nicht um des Tauschs willen. Das Gleiche gilt auch für alle anderen Besitztümer.
Aristoteles spricht hier von „zwei Weisen des Gebrauchs (chrēsis)“, nicht des Werts, wie Meikle meint. In einer ‚Teleologie der Dinge‘ unterscheidet er wesenseigenen und wesensfremden Gebrauch (oikeia – ouk oikeia), danach, ob die Güter für den bei ihrer Herstellung zugedachten Zweck verwendet werden. So lange dieser Zweck letztendlich gewahrt bleibt, hat Aristoteles jedoch keine normativen Einwände, gegen einen 292 293 294 295
Meikle 1995, 48. Meikle 1995, 86. Meikle 1995, 44 f. Aristot. pol. 1, 1257 a 6–13: ἑκάστου γὰρ κτήματος διττὴ ἡ χρῆσίς ἐστιν, ἀμφότεραι δὲ καθ’ αὑτὸ μὲν ἀλλ’ οὐχ ὁμοίως καθ’ αὑτό, ἀλλ’ ἡ μὲν οἰκεία ἡ δ’ οὐκ οἰκεία τοῦ πράγματος, οἷον ὑποδήματος ἥ τε ὑπόδεσις καὶ ἡ μεταβλητική. ἀμφότεραι γὰρ ὑποδήματος χρήσεις· καὶ γὰρ ὁ ἀλλαττόμενος τῷ δεομένῳ ὑποδήματος ἀντὶ νομίσματος ἢ τροφῆς χρῆται τῷ ὑποδήματι ᾗ ὑπόδημα, ἀλλ’ οὐ τὴν οἰκείαν χρῆσιν· οὐ γὰρ ἀλλαγῆς ἕνεκεν γέγονε. τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον ἔχει καὶ περὶ τῶν ἄλλων κτημάτων.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
intermediären ‚uneigentlichen‘ Gebrauch. Meikle selbst hebt hervor, dass für die naturgemäße Erwerbskunst (W–W und W–G–W) der Tausch nur eine Zwischenstufe ist, um „die nützlichen Güter“ (τὰ χρήσιμα) zu erwerben, die dann wesensgemäß verwendet werden.296 Irgendwelche Annahmen über intrinsische Werte oder Angaben über Formen der Wertmessung fehlen bei Aristoteles. Die zweite wichtige Passage stammt ebenfalls aus Politik I. Aristoteles leitet die Unterscheidung von Frau und Sklaven mit einem Beispiel ex negativo ein:297 Der Natur (φύσει) nach sind Frau und Sklave jedenfalls unterschieden; denn die Natur schafft nichts in der Art wie die Kupferschmiede das delphische Messer, nämlich in armseliger Art (πενιχρῶς), sondern eines für eines; in dieser Weise wird jedes Werkzeug am vollendesten geschaffen sein (ἀποτελοῖτο κάλλιστα τῶν ὀργάνων ἕκαστον), wenn es nicht vielen Werken, sondern einem dient (μὴ πολλοῖς ἔργοις ἀλλ’ ἑνὶ δουλεῦον).
Meikle interpretiert die Passage im Sinne der Marx’schen Theorie als Kommentar dazu, wie das Aufkommen von Geld die Produktion verändert. Der Schmied stellt ein multifunktionales Messer her, weil er nicht mehr den höchsten Gebrauchswert, sondern den höchsten Tauschwert erzielen will.298 Diese Interpretation ist problematisch. Zunächst deshalb, weil die speziellen Eigenschaften eines ‚delphischen Messers‘ unbekannt sind. Meikle vermutet eine Art Taschenmesser und bereits frühere Kommentatoren haben an ein Werkzeug gedacht, das irgendwie zwei oder mehr Funktionen kombinierte.299 Auch wenn man diese Deutungen akzeptiert, bleibt das Problem, dass Aristoteles hier überhaupt nicht über unterschiedliche Formen des Werts spricht. Stattdessen lobt er Gebrauchsgegenstände, die möglichst vollendet auf einen Zweck hin spezialisiert sind. Bereits Platon hatte Schneidewerkzeuge als Beispiel dafür herangezogen, dass das zweckbestimmteste Werkzeug am besten geeignet sei.300 Aristoteles’ Kommentar zum delphischen Messer und zu Frau und Sklave wiederholt also die allgemeine Auffassung seiner Zeit, laut der spezialisierte Arbeitsteilung bei Menschen genauso wie bei Werkzeugen die besten Ergebnisse hervorbringe.301 Wenn Aristoteles meint, das delphische Meser sei armselig (penichrōs), ist damit nicht gemeint, dass die Schmiede den Geldgewinn auf Kosten des praktischen Nutzens ihrer Ware maximieren,302 sondern 296 Pol. 1, 1257 a 14–26. 297 Pol. 1, 1252 a 35–b 5: φύσει μὲν οὖν διώρισται τὸ θῆλυ καὶ τὸ δοῦλον (οὐθὲν γὰρ ἡ φύσις ποιεῖ τοιοῦτον οἷον οἱ χαλκοτύποι τὴν Δελφικὴν μάχαιραν, πενιχρῶς, ἀλλ’ ἓν πρὸς ἕν) οὕτω γὰρ ἂν ἀποτελοῖτο κάλλιστα τῶν ὀργάνων ἕκαστον, μὴ πολλοῖς ἔργοις ἀλλ’ ἑνὶ δουλεῦον. 298 Meikle 1995, 87–95. 299 Es ist sogar denkbar, dass der Ausdruck ‚delphisches Messer‘ eine Anspielung auf die sprichwörtliche Gier der delphischen Priester war, vgl. Schütrumpf 1991, 194 f. (mit der älteren Literatur). 300 Plat. rep. 1, 353a: τοῦτο ἑκάστου εἴη ἔργον ὃ ἂν ἢ μόνον τι ἢ κάλλιστα τῶν ἄλλων ἀπεργάζηται. 301 Vgl. Demokrits Spruch über den spezialisierten ‚Gebrauch‘ von Sklaven, fr. B 270 DK 68 (= Stob. 4.19,45). 302 Meikle lässt offen, wie dies überhaupt denkbar ist: Wer will ein Messer kaufen, dessen Gebrauch ihm nicht nützt?
6.2 Nutzen und Bedarf
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lediglich, dass sie ein Messer herstellen, bei dem der Arme, der ebenfalls als penichros bezeichnet werden kann,303 zwei Werkzeuge ‚zum Preis von einen‘ erhält. Denn Perfektion durch Spezialisierung setzt hinreichende Ressourcen voraus. In diesem Sinn merkt Xenophon an, dass nur in sehr großen Haushalten und Städten die Herstellenden „alles schön“ (πάντα καλῶς ποιεῖν) und „am besten herstellen“ (ἄριστα […] τοῦτο ποιεῖν), weil nur hier genügend Arbeitende vorhanden sind, damit sich jeder auf eine Sache spezialisieren kann.304 Im selben Sinn meint Aristoteles, dass ein vollkommener Haushalt aus Freien und Sklaven bestehe, damit jeder seiner naturgemäßen Aufgabe nachgehen könne.305 Das delphische Messer dient Aristoteles also als Beispiel dafür, dass beste Ergebnisse im Sinne der teleologischen Zweckbestimmung nur durch strikte arbeitsteilige Spezialisierung möglich sind, die wiederum nur möglich ist, wenn die hinreichenden Bedingungen gegeben sind.306 Die Differenz von Tausch- und Gebrauchswert ist eine von Meikle hineininterpretierte Bedeutungsebene. Die dritte wichtige Passage ist Aristoteles’ Behandlung der vergeltenden Gerechtigkeit beim freiwilligen Tausch im fünften Buch der Nikomachischen Ethik.307 Tatsächlich ist diese Passage die einzige der drei diskutieren Passagen, in der sich Aristoteles mit dem Problem der Wertmessung beschäftigt. Während die berichtigende Gerechtigkeit arithmetische Gleichheit umsetze,308 gelte in „Gemeinschaften des Austauschs“ (ταῖς κοινωνίαις ταῖς ἀλλακτικαῖς) „proportionale Gerechtigkeit“ (τὸ ἀντιπεπονθὸς κατ’ ἀναλογίαν).309 Zur Veranschaulichung wählt Aristoteles das berühmte Beispiel vom Baumeister und Schuster, die ihre Produkte – Wohnhäuser und Schuhe – gegeneinander in gerechter Weise tauschen, d. h. Gleiches mit Gleichem vergelten. Dass das eine Werk (ergon) dem Werk des Anderen „überlegen“ (κρεῖττον) ist, behindert die Vergeltung nicht. Im Gegenteil: Die Gemeinschaft (des Austausches) besteht notwendig aus Verschiedenen und Ungleichen, weil sie sich nur bildet, weil man verschiedene Dinge in unterschiedlicher Menge herstellt.310 Wenn die Güter von verschiedener Art und Menge sind, dann, fährt Aristoteles fort, muss man sie ‚gleichmachen‘ (ἰσασθῆναι), denn für den Tausch muss alles „vergleichbar“ (συμβλητά) sein. Dazu dient das Geld, das zu einer Art „Mitte“ (μέσον) wird, weil es alles „misst“ (μετρεῖ), sowohl das Zuviel als auch das Zuwenig, etwa der Schuhe im Verhältnis zum Haus im gewählten Beispiel.311
303 304 305 306
Vgl. Aristoph. Plut. 976; bei Plat. rep. 9, 578a als Gegenteil von πλούσιος. Xen. Kyr. 8.2,5. Aristot. pol. 1, 1253 b 4. Das gilt nicht nur für die Werkzeuge, sondern auch für die Materialien, laut Aristoteles die zweite notwendige Voraussetzung der Produktion; vgl. pol. 7, 1325 b 40–1326 a 3. 307 Eth. Nic. 5, 1132 b 21–1133 b 28. 308 Weil es bei Raub und Ehebruch keinen Unterschied mache, ob der Geschädigte ein guter oder ein schlechter Mann sei, eth. Nic. 5, 1131 b 32–1132 a 6. 309 Eth. Nic. 5, 1132 b 31–33. 310 Eth. Nic. 5, 1133 a 12–19. 311 Eth. Nic. 5, 1133 a 19–24.
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Das Geld ist allerdings nur ein Stellvertreter. Der eigentliche Maßstab ist „in Wahrheit der Bedarf (χρεία), der alles zusammenhält (πάντα συνέχει)“. Das Münzgeld ist ein Hilfsmittel, das zwar als Wertspeicher „nützlich“ sein kann312 und im täglichen „Gebrauch“ zu den „nützlichen Gütern“ zählt,313 aber ohne gesetzliche Bestimmung „nutzlos“ (ἄχρηστον) wäre. Denn ohne „Bedarf aneinander“ (ἐν χρείᾳ ὦσιν ἀλλήλων) tauschen die Leute nichts miteinander. Ganz zufrieden ist Aristoteles nicht mit dieser Lösung, aber er gibt sich mit chreia als Wertmaßstab zufrieden: „In Wahrheit“ könnten Dinge, die so sehr verschieden seien (wie Haus und Schuhe), zwar nicht kommensurabel sein, „aber in Hinsicht auf den Bedarf (χρείαν) ist es hinreichend möglich“.314 Meikles Beiträge haben Einiges zum Verständnis dieser viel diskutierten Passage beigetragen, nicht zuletzt durch die Widerlegung älterer Interpretationen.315 Meikle würdigt Aristoteles als denjenigen, der das Problem der Kommensurabilität zwar nicht gelöst, aber doch als erster mit Klarheit exponiert habe.316 Zugleich habe Aristoteles „the notion of utility“ abgelehnt und das Problem des Tauschwertes immerhin diskutiert, auch wenn er dafür (anders als Marx) keine theoretische Lösung gehabt habe: „Aristotle’s metaphysics was a metaphysics of the solid world of use value, and because of that he was able to frame the problem of exchange value.“317 Diese Interpretation erscheint mir fragwürdig. Denn wie oben gezeigt wurde, definiert Aristoteles durchaus eine hinreichende Einheit zur Bestimmung des Tauschwerts: die chreia der am Tausch Beteiligten. Aber was genau bedeutet chreia, das oben vorläufig mit ‚Bedarf ‘ übersetzt wurde, bei Aristoteles? In der Politik, den Ethiken und der Rhetorik taucht das Wort häufig auf, insgesamt 36mal. Drei Bedeutungen lassen sich unterscheiden: ‚Bedarf/Bedürfnis‘, ‚Gebrauch‘ und ‚Nutzen‘. Die Bedeutung ‚Bedarf ‘ ist die häufigste, doch wo Bedarf herrscht, ist der Nutzen nicht weit entfernt. In der Ethik heißt es, dass gerade der Mann, der reich ist und Ämter und Macht „besitzt“, besonderen „Bedarf “ (χρεία) an Freunden hat. Denn Reichtum, Ämter und Macht seien ohne Freunde, denen gegenüber man wohltätig sein könne, nicht „nützlich“ (ὄφελος).318 In der darauf folgenden Darstellung der Freundschaft (philia) „des Nutzens wegen“ (διὰ τὸ χρήσιμον) heißt 312 313 314 315
316 317 318
Eth. Nic. 5, 1133 a 25–b 16. Vgl. pol. 1, 1257 a 36 f.: ὃ τῶν χρησίμων αὐτὸ ὂν εἶχε τὴν χρείαν εὐμεταχείριστον πρὸς τὸ ζῆν. Eth. Nic. 5, 1133 a 18–20. Meikle 1979; 1991; 1995, 6–42 und 135–146; Meikle widerlegt die von Schumpeter [1954] 1994, 57–59 vertretene Auffassung, Aristoteles habe versucht, den Marktpreismechanismus zu analysieren und chreia sei ‚Nachfrage‘ (demand); Kritik an dieser verbreiteten Interpretation bereits bei Soudek 1952, 60 und Spengler 1955, 38 f., Anm. 8; vgl. Lowry 1987, 183 f.; Meikle wendet sich außerdem gegen die Idee von Finley 1970, 15–18, es handle sich um Gabentausch zwischen Bürgern, sowie der von Polanyi [1957] 1979, 177–182 vertretenen Idee, bei Aristoteles entscheide der soziale Status der Tauschenden über die Tauschwerte. Meikle 1995, 27. Meikle 1995, 145, 180–190, hier 190. Aristot. eth. Nic. 8, 1155 a 5–9.
6.2 Nutzen und Bedarf
241
es, die Mächtigen „brauchen“ (χρῆσθαι) zwei Arten von Freunden: „nützliche und angenehme“ (χρήσιμοι καὶ ἕτεροι ἡδεῖς).319 Bedarf und Nutzen sind bei Aristoteles also genauso aufeinander bezogen wie bei Xenophon. Man hat Bedarf an dem, was nützlich ist, und was nützlich ist, ist relativ zur eigenen sozialen Position. ‚Bedarf ‘ ist dabei ein Ausdruck mit weiter Anwendung. Aristoteles schränkt ihn gelegentlich durch ein beigefügtes Attribut ein und spricht etwa von ‚notwendigem‘, ‚körperlichem‘ oder ‚militärischem‘ Bedarf.320‚Bedarf ‘ hat man nicht bloß an „lebensnotwendigen“ Gütern (ἀναγκαῖα τὰ σωματικά) wie Nahrungsmittel oder Geschlechtsverkehr, sondern auch nach „wünschenswerten“ (αἱρετά) wie „Sieg, Ehre und Reichtum und dergleichen Güter und Genüsse“.321 Mehrfach bezeichnet chreia auch enger gefasst die Notlage im Sinne eines argen Mangels.322 Auch hier überlappen sich die semantischen Felder von Bedarf und Nutzen, wie eine Passage zur nützlichen Freundschaft in Ethik VIII zeigt:323 Die Frage besteht, ob man die Gegenleistung nach dem Nutzen, den die Leistung für den Empfänger hatte, bemessen soll (τοῦ παθόντος ὠφελείᾳ μετρεῖν), oder nach der Wohltat (εὐεργεσίᾳ), die es für den Gebenden war. Denn die Empfänger werden sagen, sie hätten etwas erhalten, was für den Gebenden eine Kleinigkeit war und was man auch von anderen hätte bekommen können, und verkleinern damit die Gabe. Jene umgekehrt erklären, sie hätten das Größte dahingegeben und was man nirgendwo sonst bekommen hätte und was sie unter Gefahren und Not gegeben hätten (ἐν κινδύνοις ἢ τοιαύταις χρείαις). Da nun die Freundschaft auf dem Nutzen (τὸ χρήσιμον) beruht, ist da nicht der Nutzen für den Empfänger der richtige Maßstab (ἡ τοῦ παθόντος ὠφέλεια μέτρον)? Denn er hat darum gebeten, und der andere hilft ihm in der Erwartung, Gleiches dafür zu erhalten. Die Hilfe ist so groß, als der Nutzen für den Empfänger war, und so muß zurückgegeben werden, soviel es genützt hat (ὅσον οὗτος ὠφέληται), oder noch mehr. Denn es ist schöner.
Diese Passage ist eine Fortführung der Diskussion über die ausgleichende Gerechtigkeit. A und B treten in ein Austauschverhältnis, weil ihr Bedürfnisse x und y sich
319 Eth. Nic. 8, 1158 a 27–30. 320 „Notwendiger Bedarf “: pol. 1, 1253 b 16; vgl. 6, 1321 b 16, wo es um den Kauf und Verkauf zur Deckung des Bedarfs geht; „Kriegsbedarf “: 7, 1329 b 27; 6, 1322 a 34, vgl. 7, 1328 b 11 und 1331 a 13; „körperlicher Bedarf “: Aristot. eth. Nic. 7, 1147 b 26 f.; rhet. 1, 1355 b 2. 321 Eth. Nic. 7, 1147 b 23–31. 322 Aristot. eth. Nic. 8, 1158 a 8; 1163 a 16; 9, 1171 b 22–25; 10, 1178 a 12; rhet. 1, 1365 a 33: Dinge, die in „großer Not nützlich sind“ (τἀ ἐν χρεία μείζονι χρήσιμα); vgl. 2, 1384 b 30 f.; 1385 a 29–33. 323 Eth. Nic. 8, 1163 a 9–21: ἀμφισβήτησιν δ’ ἔχει πότερα δεῖ τῇ τοῦ παθόντος ὠφελείᾳ μετρεῖν καὶ πρὸς ταύτην ποιεῖσθαι τὴν ἀνταπόδοσιν, ἢ τῇ τοῦ δράσαντος εὐεργεσίᾳ. οἱ μὲν γὰρ παθόντες τοιαῦτά φασι λαβεῖν παρὰ τῶν εὐεργετῶν ἃ μικρὰ ἦν ἐκείνοις καὶ ἐξῆν παρ’ ἑτέρων λαβεῖν, κατασμικρίζοντες· οἳ δ’ ἀνάπαλιν τὰ μέγιστα τῶν παρ’ αὑτοῖς, καὶ ἃ παρ’ ἄλλων οὐκ ἦν, καὶ ἐν κινδύνοις ἢ τοιαύταις χρείαις. ἆρ’ οὖν διὰ μὲν τὸ χρήσιμον τῆς φιλίας οὔσης ἡ τοῦ παθόντος ὠφέλεια μέτρον ἐστίν; οὗτος γὰρ ὁ δεόμενος, καὶ ἐπαρκεῖ αὐτῷ ὡς κομιούμενος τὴν ἴσην· τοσαύτη οὖν γεγένηται ἡ ἐπικουρία ὅσον οὗτος ὠφέληται, καὶ ἀποδοτέον δὴ αὐτῷ ὅσον ἐπηύρετο, ἢ καὶ πλέον κάλλιον γάρ. Adapt. Übers. O. Gigon.
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komplementär zueinander verhalten. Der Tauschwert einer Sache definiert sich nach seinem Nutzen (ōpheleia) bei Gebrauch zur Befriedigung des Bedarfs (chreia) des Empfängers, in diesem Fall ein regelrechter Mangel an etwas. Der ‚Tauschwert‘ eines Guts entspricht damit dem subjektiven ‚Gebrauchswert‘ und dieser Wert ist sogar messbar, wie die Wörter metrein und metron anzeigen. Das Verhältnis von Bedarf und Nutzen lässt sich im Tausch unter Freunden sogar noch optimieren, wie Aristoteles in Ethik IX ausführt:324 Am meisten soll man sie [die Freunde] herbeirufen, wenn sie mit geringer Mühe uns größtmöglich nutzen können (ὀλίγα ὀχληθέντες μεγάλ’ αὐτὸν ὠφελήσειν). Dagegen ist es wohl umgekehrt passend, ungerufen und gerne zu den Unglücklichen zu gehen; denn es ist Sache des Freundes, Gutes zu tun, vor allem denen, die in Not (ἐν χρείᾳ) sind und nicht darum gebeten haben, was für beide Teile edler und angenehmer ist. Zu den Glücklichen soll man gehen, gern, wenn es sich um das Mitarbeiten handelt (denn auch das gehört zur Pflicht des Freundes (εἰς ταῦτα χρεία φίλων), aber langsam, wenn es zum Genusse ist. Denn es ist nicht schön, sich gerne Nutzen erweisen zu lassen (τὸ προθυμεῖσθαι ὠφελεῖσθαι). Den Schein der Unfreundlichkeit muss man aber beim Ablehnen wohl vermeiden. Zuweilen aber erweckt man ihn doch.
Gigons hier zitierte Übersetzung spricht einmal von „Not“ und einmal von „Pflicht“ (gegenüber dem Freund). Diese Übersetzungen sind dem jeweiligen Satzkontext angemessen. Sie machen allerdings nicht deutlich, dass im Griechischen jeweils chreia steht, der reziproke Ausdruck zu ōpheleia als Bezeichnung der Hilfe, die der Not / dem Mangel abhilft. Der einleitende Satz deutet eine Einsicht darüber an, wie Tausch den gemeinsamen Nutzen der Tauschenden insgesamt steigern kann. Weil der Empfänger das Gut höher bewertet als derjenige, der dieses Gut hingibt, haben beide einen Nutzengewinn, sofern der Empfänger später ein Gut im Wert seiner subjektiven Bewertung des zuvor Empfangenen zurückgibt (so wie es Aristoteles in Ethik VIII fordert, s. o.). Dieser gegenseitige Nutzengewinn ist eingespannt in eine normativ definierte Freundschaftsbeziehung. Man muss dem Freund auch ungerufen helfen, das ist sogar „edler“ und „angenehmer“. Und man muss achtgeben, die Freundschaftsbeziehung nicht als reines Nützlichkeitsverhältnis erscheinen zu lassen. Wie im Deutschen spiegelt sich in Aristoteles’ Sprachgebrauch der enge Bezug von Bedarf, Gebrauch und Nutzen darin, dass man eine Sache ‚braucht‘ (‚Bedarf ‘), sie ‚gebraucht‘ (‚Gebrauch‘, ‚Benutzung‘) und sie deshalb ‚brauchbar‘ ist (‚Brauchbar-
324 Eth. Nic. 9, 1171 b 18–26: μάλιστα δὲ παρακλητέον ὅταν μέλλωσιν ὀλίγα ὀχληθέντες μεγάλ’ αὐτὸν ὠφελήσειν. ἰέναι δ’ ἀνάπαλιν ἴσως ἁρμόζει πρὸς μὲν τοὺς ἀτυχοῦντας ἄκλητον καὶ προθύμως (φίλου γὰρ εὖ ποιεῖν, καὶ μάλιστα τοὺς ἐν χρείᾳ καὶ [τὸ] μὴ ἀξιώσαντας· ἀμφοῖν γὰρ κάλλιον καὶ ἥδιον), εἰς δὲ τὰς εὐτυχίας συνεργοῦντα μὲν προθύμως (καὶ γὰρ εἰς ταῦτα χρεία φίλων), πρὸς εὐπάθειαν δὲ σχολαίως· οὐ γὰρ καλὸν τὸ προθυμεῖσθαι ὠφελεῖσθαι. δόξαν δ’ ἀηδίας ἐν τῷ διωθεῖσθαι ἴσως εὐλαβητέον· ἐνίοτε γὰρ συμβαίνει. Adapt. Übers. O. Gigon.
6.2 Nutzen und Bedarf
243
keit‘, ‚Nutzen‘). Chreia bezeichnet dementsprechend nicht nur den Bedarf, sondern häufig auch den Gebrauch: sei es des eigenen Körpers, eines Sklaven, von Münzgeld, Nahrungsmitteln oder handwerklichen Fähigkeiten;325 in den praktischen Künsten, darunter die Erwerbskunst (chrēmatistikē), sucht man nach den notwendigen Werkzeugen und „ihren Gebrauch“ (ἡ χρεία αὐτῶν), um seine Ziele zu erreichen.326 Und manchmal bezeichnet chreia sogar direkt den ‚Nutzen‘ einer ‚Benutzung‘, etwa beim Nutzen der Musik für den Menschen,327 oder indirekt, wenn das Attribut achreia als Gegenteil von ōphelima verwendet wird.328 In der Rhetorik heißt es, die „freiwilligen Übereinkünfte“ (d. h. Geschäfte) würden durch Verträge geschlossen, weshalb „der gegenseitige Nutzen/Gebrauch der Menschen“ (ἡ πρὸς ἀλλήλους χρεία τῶν ἀνθρώπων) aufgehoben würde, wo diese ungültig würden.329 Diese Passage entspricht genau den zuvor zitierten aus der Ethik: Die Menschen gehen Übereinkünfte ein, um einander zu gebrauchen, d. h. sich gegenseitig nützlich zu sein, d. h. die jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen. So wie kommerzielle Geschäftsbeziehungen und persönliche Freundschaften im Dunstkreis des ‚erweiterten Haushalts‘ nicht scharf zu trennen waren, wendet Aristoteles dieselbe Semantik und Ethik auf beide Arten von Beziehungen an: Beide sollen dem fairen gegenseitigen Nutzen dienen. Gleich ob in Politik, Ethik oder Rhetorik, gleich in welcher Lebenssphäre und gleich ob bei Produktion, Distribution oder Konsumtion: Nirgends findet sich bei Aristoteles die Idee eines intrinsischen Werts oder die Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert; stattdessen wird der Tauschwert konsequent vom Gebrauchswert abgeleitet.330 Der Maßstab zur Bewertung von Kenntnissen, Handlungen und Gütern ist immer der Nutzen. Der Güterwert ist relational zu den angestrebten Zwecken und er ist subjektiv, weil er von den Bedürfnissen der Person abhängt, die das Gut einsetzen oder eintauschen. In seiner Relationalität und Subjektivität scheint Aristoteles’ Wertbestimmung anhand des Nutzens der modernen Grenznutzenlehre erstaunlich nahe. Laut dieser Lehre bestimmt sich der Wert eines Guts nicht absolut, sondern relativ zu den subjektiven Präferenzen des Akteurs im Zusammenspiel mit der bereits von ihm kontrollierten resp. konsumierten Menge dieses Guts. Insbesondere eine Passage der Politik
325
326 327 328 329 330
Aristot. eth. Nic. 4, 1120 a 4 f.: Von allen Dingen gibt es einen guten und schlechten Gebrauch (chreia); pol. 1, 1254 b 27–32: der Körper des Sklaven ist nützlich für „den notwendigen Gebrauch“ (τὴν ἀναγκαίαν χρῆσιν), der Körper des Freien hingegen „für solche Arbeiten unbrauchbar (ἄχρηστα), aber dafür für ein politisches Leben brauchbar“ (χρήσιμα), d. h. für den Gebrauch (χρείαν) in Krieg und Frieden; pol. 1, 1257 a 36 f.: Münzgeld ist im täglichen Gebrauch nützlich; vgl. pol. 7, 1330 b 14–17: Trinkwassernutzung. Eth. Nic. 3, 1112 b 28 f. Pol. 8, 1340 a 2. Eth. Nic. 10, 1181 b 5 f.; vgl. pol. 8, 1343 b 3 f. Rhet. 1, 1376 b 11–14. So schon Brentano 1908.
244
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
ist herangezogen worden, um Aristoteles als Begründer dieser Theorie zu erweisen. In dieser Passage heißt es, niemand bestreite, dass es drei Arten von Gütern gebe, welche „die von Glück Gesegneten“ zugleich besitzen müssen: externe, körperliche und seelische Güter. Uneins sei man sich jedoch darüber, „in welchem Ausmaß und mit welchen Prioritäten“ man diese Güter besitzen müsse. Denn, so kritisiert Aristoteles den Zeitgeist, man glaube von der Tugend reiche ein noch so geringer Anteil aus, während man bei Reichtum, Vermögen, Macht, Ruhm und derlei Gütern „grenzenlos nach dem größtmöglichen Umfang strebt“ (εἰς ἄπειρον ζητοῦσι τὴν ὑπερβολήν).331 Aber, so Aristoteles, die tatsächlichen Taten (erga) widerlegten diese Ansicht. Denn diejenigen erreichten am meisten, „die bis zum Äußersten gehen, um sich im Glanz von Charakter und Vernunft auszuzeichnen, aber im Besitz äußerer Güter Maß halten (μετριάζουσιν) und nicht, wer davon mehr besitzt, als ihm nützt (πλείω τῶν χρησίμων), aber in jenen [Qualitäten des Charakters und der Vernunft] zurückbleibt“. Die „logische“ (κατὰ τὸν λόγον) Erklärung dafür sei, dass „die äußeren Güter eine bestimmte äußere Grenze haben, so wie ein Werkzeug“ (τὰ μὲν γὰρ ἐκτὸς ἔχει πέρας, ὥσπερ ὄργανόν τι), denn alles, was „nützlich“ (χρήσιμον) sei, sei es in Hinsicht auf irgendetwas (Anderes). Ein „Übermaß“ an solchen instrumentellen Gütern sei ihren Besitzern deshalb „zwangsläufig schädlich oder ohne jeden Nutzen“ (τὴν ὑπερβολὴν ἢ βλάπτειν ἀναγκαῖον ἢ μηθὲν ὄφελος). Bei den Seelengütern sei das anders: Je weiter man hier bis zum Äußersten gehe, „umso nützlicher“ (μᾶλλον χρήσιμον) seien sie.332 Laut Christos Baloglou ist in dieser Passage „richtig interpretiert“ die Idee des Grenznutzens zu finden.333 Baloglou reiht sich damit unter diejenigen ein, die Aristoteles seit dem 19. Jh. zum Ahnherren der Grenznutzentheorie erklärt haben.334 Aristoteles’ Überlegungen stimmen durchaus in mehreren Punkten mit dieser Theorie überein: Zum einen in der Ansicht, dass zum guten Leben eine Kombination qualitativ verschiedener Güter in jeweils hinreichender Menge notwendig sei und zum anderen in der Ansicht, dass externe Güter ab einem gewissen Punkt ihren Wert verlieren oder sogar schaden. Beide Ansichten entsprachen im Übrigen der Praxis der Hauswirtschaft. Sie versuchte Güter verschiedener Qualität zu akkumulieren und konvertierte diese Güter gegeneinander, um ihren Grenznutzen zu optimieren (s. Kap. 16). Von der modernen Grenznutzentheorie ist diese pragmatische Nutzenlehre allerdings in mehrerer Hinsicht getrennt.
331 332 333 334
Aristot. pol. 7, 1323 a 24–38. Pol. 7, 1323 a 38–b 12; vgl. top. 3, 118 b 10–19. Baloglou 1991, 43 f. Kraus 1905, 580–592; Kauder 1965, 15 f. meint zwar unter Verweis auf Kraus, Aristoteles habe „at least some knowledge of the law of diminishing utility“ gehabt, zählt ihn allerdings nur zu den „forerunner[s]“ der modernen Grenznutzentheorie; Gelesnoff 1923, 2 postuliert zwar, dass erst die „Grenznutzenschule“ den Schlüssel zu Aristoteles böte, zeigt allerdings lediglich, dass Aristoteles einen subjektiven und nutzenorientierten Wertbegriff hat, ebd. 20 f.
6.2 Nutzen und Bedarf
245
Aristoteles’ ‚Grenze‘ (pera) bezeichnet eine Schwelle, über die hinaus die externen Güter nicht bloß an Wert verlieren, sondern „gänzlich nutzlos sind“. Das für die moderne Ökonomie wichtige Modell einer mathematisch quantifizierbaren, graduellen Abnahme des Grenznutzens fehlt.335 Aristoteles’ Theorie des Nutzwerts ist außerdem allgemein und nicht speziell für eine ökonomische Analyse entwickelt – die ökonomischen Implikationen seiner Wertlehre verfolgt Aristoteles gerade nicht systematisch weiter.336 Es gilt Schumpeters methodische Warnung, dass nicht jede Stelle, an der ein ökonomischer Zusammenhang schon einmal ‚gesehen‘ wurde, der Geburtsort der Wirtschaftswissenschaften sei. Viel wirtschaftlicher common sense scheint im Diskurs über Haushaltung und Erwerb durch, aber er bildet keine ‚versteckte‘ systematische Theorie.337 Ein wichtiger Unterschied des antiken griechischen Nutzenbegriffs im Vergleich zum rein ökonomischen Nutzenbegriff ist zudem seine Normativität und sein Gemeinschaftsbezug. Was ‚nützt‘, entscheidet sich zwar subjektiv, jedoch nicht individuell. Die Regeln der Gemeinschaften, ob Haushalt, Freundschaft oder Stadtgemeinde, legen fest, was als Bedarf, Gebrauch und Nutzen gelten kann. In diesem Sinn tadelt Aristoteles genau wie Xenophon individuellen Genuss als lasterhaft.338 Von den Prämissen der Wertfreiheit und der Individualität der Präferenzen der modernen ökonomischen Analyse ist das weit entfernt. *** Gerade ethische Probleme befeuerten die Theoretisierung der alltäglichen Begriffe von Nutzen und Bedarf. Denn so, wie das individuelle Genussstreben die Nutzenmaximierung des Haushalts gefährderte, gefährdete wiederum das Streben nach dem partikularen Nutzen des Hauses das Wohlergehen der Stadt. Anschaulich beschreibt Platon in der Politeia, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen der Gerechte einen „Schaden“ von seiner Beteiligung am städtischen Regiment hat, weil seine „häuslichen Angelegenheiten durch Vernachlässigung (δι’ ἀμέλειαν) schlechter stehen“, ohne dass er ungerecht aus dem Gemeinwesen „Nutzen zieht“ (ὠφελεῖσθαι), während umgekehrt der Ungerechte in jeder Hinsicht Nutzen aus seiner öffentlichen Position zieht.339 Dabei wahrt der Ungerechte sorgfältig den Schein der Gerechtigkeit, was ihm
335
Spengler 1955, 374–381; Soudek 1952, 64–73 spricht von Aristoteles’ „pre-‚marginal‘ utilitytheory“; vgl. Gordon 1964, 119 f. und bereits ähnlich Brentano 1908; die pauschale Äußerung von Schefold 1989, 51, eine „utilitaristische und subjektivistische Philosophie“ habe Aristoteles fern gelegen, wird von ihm nicht belegt und unterscheidet nicht zwischen Nutzwertlehre und Grenznutzenlehre. 336 Spengler 1955, 380 f., 388; Koslowski [1974] 1993, 63. 337 Schumpeter [1954] 1994, 9; vgl. Weber [1909] 1988, 390 f. zur Nähe ökonomischer Theorie zur Alltagserfahrung. 338 Aristot. pol. 1, 1257 b 40–1258 a 10; Xen. oik. 1.13, 18–22. 339 Plat. rep. 1, 343d–e.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
dazu verhilft, Ämter zu bekleiden und Heiratsallianzen und Geschäftspartnerschaften zu schmieden und „dabei aus allen gewinnscheffelnd Nutzen zu ziehen“ (παρὰ ταῦτα πάντα ὠφελεῖσθαι κερδαίνοντα). In privaten und öffentlichen Gerichtsprozessen wird er auf Kosten seiner Feinde „hinzugewinnen“ (πλεονεκτεῖν), dabei reich werden und „seinen Freunden helfen und seinen Feinden schaden“. Den Göttern weiht er großgeartete Opfer und Gaben, ja, er dient Göttern und Menschen besser als der Gerechte, weil er im Gegensatz zu ihm die Mittel dazu hat.340 Platons Porträt des ‚Scheingerechten‘ wirkt fast wie eine invertierte Spiegelung von Xenophons Porträt des Ischomachos als Hausvater, der seinem Haus und seinen Freunden nutzt und hoch angesehen ist. Die Selbststilisierung des guten Hausvaters, die Xenophons Oikonomikos literarisiert, stellt Platon gewissermaßen unter Ideologieverdacht: Aus Sicht der ganzen Stadtgemeinde ist der Nutzen des Hauses ein Schaden für die Stadt und für andere Häuser – eine Form der pleonexia, der Habsucht. Der Schein der Gerechtigkeit ist lediglich symbolisches Kapital, mit dem man zum eigenen Vorteil wuchert. Das Problem beschäftigte natürlich schon Xenophon. Anstatt die private Hauswirtschaft aufzulösen oder in ein Gesetzeskorsett zu schnüren (Platons Lösungen in der Politeia und den Gesetzen) formuliert er eine exemplarische Hauswirtschaft, in welcher das Streben nach häuslichem Nutzen automatisch eine Vermehrung des städtischen Gemeinnutzens bedeutet. Aristoteles formuliert in seiner Abhandlung zur Ökonomik in Politik I eine ähnliche Position, die jedoch kein konkretes Exempel vorführt wie der Oikonomikos, sondern eine abstrakte theoretische Begründung. Das gute Leben in der Stadtgemeinde bildet den teleologischen Fluchtpunkt, nach dem sich der notwendige Bedarf bestimmt. Die Haushaltung ist nützlich und gerechtfertigt, soweit sie diesen Bedarf durch den Gebrauch des Reichtums deckt. Die Erwerbskunst wiederum ist nützlich und gerechtfertigt, soweit sie diesen Reichtum bereitstellt, wofür sie selbst wieder die entsprechenden nützlichen Güter gebraucht. Aristoteles eliminiert das partikulare Nutzstreben der Hauswirtschaft also nicht, sondern führt sein instrumentelles Nutzenkalkül konsequent weiter, um die partikulare Nutzenmaximierung in einen gemeinwohlorientierten Rahmen einzuhängen. 6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung Renate Zoepffel schreibt, dass „der Begriff [der oikonomia] […] in erster Linie ein Herrschaftswissen, kein Wirtschaftswissen im modernen Sinn“ beinhaltet habe. Folgerichtig entwickelt sie ihre anschließende Untersuchung unter Leitbegriffen wie „Haus-
340 Plat. rep. 2, 362a–c.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
247
herrschaft“, „Herrschaftsorganisation“ und „Herrschaftswissen“.341 Zoepffels Fazit lautet, das Interesse der Ökonomik habe „an der guten Lebensführung des Hausherrn, wozu auch der richtige Umgang mit dem Reichtum zählte, und an der richtigen Herrschaftsorganisation im Oikos“ gelegen und demgegenüber seien „rein wirtschaftliche Erwägungen teilweise fast in den Hintergrund [ge]drängt“ worden.342 Dass die Ökonomik Herrschaftswissen war, ist anerkannt.343 Die Frage ist allerdings: Herrschaft zu welchem Zweck? Denn die literarische Ökonomik interessierte sich auch bei der Herrschaft im Haus besonders für deren wirtschaftlichen Aspekt. 6.3.1 Die Haushaltsführung als Königsdisziplin Xenophon kommt gleich zu Beginn des Oikonomikos auf Herrschaft zu sprechen. Die jungen Leute aus gutem Hause vernachlässigen trotz guter Befähigung dazu die Haushaltsführung, weil sie meinen, „keinen Herrn (δεσπότας) zu haben“ – sie pflegen ostentativen Müßiggang.344 Doch das Resultat ist ihren Absichten entgegengesetzt. Gerade weil sie nur müßiggehen, sind sie „Knechte“ (δοῦλοι), denn ihre Lüste werden ihnen zu „Herrinnen“ (δέσποιναι).345 Dieses Verhältnis gilt es umzukehren. Mit dem Übergang vom jungen Mann zum Hausvater muss man Herr im eigenen Haus werden. Um seine Rezipienten von der Haushaltsführung zu überzeugen, bemüht Xenophon sich im Oikonomikos, nicht nur die Gewinnträchtigkeit der Haushaltsführung zu beweisen, sondern auch ihren edlen, weil herrschaftlichen Charakter. Die Kunst der Haushaltsführung ist einem Edelmann (kalos kagathos) würdig. Sie gehört zu jenen Kenntnissen, „die am edelsten gelten und am schicklichsten zu beachten sind“.346 Zum Beweis wird der Perserkönig Kyros der Große angeführt, der im Verlauf des Dialogs mit Kyros dem Jüngeren überblendet wird. Sein Vorbild gelte es „nachzuahmen“ (μιμήσασθαι). Er widme sich den militärischen Angelegenheiten seines Reiches und der Landwirtschaft gleichermaßen „ehrgeizig“ (φιλοτιμούμενος). Kyros (nun der Jüngere) bepflanzte seine Gärten mit eigener Hand und speiste nie ohne vorher geschwitzt zu haben.347 Sarah Pomeroy schreibt, Xenophons Darstellung des Perserkönigs „foreshadows the view of the divine Hellenistic prince“.348 Es geht im Oikonomikos allerdings nicht um eine Reflexion der Institution des Königtums; das Bei341 Zoepffel 2006, 49–115, Zitat 54. 342 Zoepffel 2006, 115. 343 Vgl. Singer 1958, 40; Roscalla 1992, 473 f.; Koslowski [1974] 1993, 50; Winterling 2003, 69–71. 344 Xen. oik. 1.20. 345 Oik. 1.21 f. 346 Oik. 4.1: αἳ δοκοῦσι κάλλισται τῶν ἐπιστημῶν καὶ ἐμοὶ πρέποι ἂν μάλιστα ἐπιμελομένῳ. 347 Oik. 4.4–25; zum Beispiel des Perserkönigs s. Pomeroy 1994, 237–252. 348 Pomeroy 1994, 242.
248
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
spiel des Perserkönigs dient umgekehrt dem Plädoyer dafür, die hauswirtschaftliche Führungsrolle ernst zu nehmen.349 Was der größte dēspotēs der bekannten Welt tut, gereicht einem privaten Bürger kaum zur Schande. Sowie Kyros der Herr im persischen Reich ist, ist der Hausvater Herr in seinem Haus. In diesem Sinn erklärt Xenophon zu Beginn der Kyrupädie, dass eine Auseinandersetzung mit dem vorbildlichen Herrscher Kryos dem Großen nicht nur den Herrschern von Gemeinwesen nutzen würde, sondern auch der Herrschaft „in den privaten Haushalten“ (ἐν ἰδίοις οἴκοις), weil es viele „Herren“ (δεσπότας) gebe, die unfähig seien, ihre Untergebenen so zu behandeln, dass sie gehorchten, gleich ob viele oder wenige.350 Das Hauptproblem ist dasselbe wie im Oikonomikos: Wie führt man erfolgreich? Wiederkehrende Vergleiche von Land- und Hausarbeit mit militärischer Organisation unterstreichen, dass der Hausvater eine leitende und befehlende Stellung einnimmt. Diese Vergleiche erfüllen eine doppelte Funktion. Sie veranschaulichen die abstrakten Prinzipien menschlicher Organisation und sie werten die Tätigkeit des oikonomos auf: Der erfolgreiche Hausherr habe etwas „vom Charakter eines Königs“ (ἤθους βασιλικοῦ).351 Als Beispiele für die Organisation von Menschen werden ein Hoplitenheer, eine Triere und, aus dem zivilen Bereich, ein Chor genannt.352 Alle drei Einheiten seien „aus Menschen zusammengesetzt“ (ἐξ ἀνθρώπων συγκείμενος) und ihr Erfolg beruhe auf Ordnung (τάξις) und Disziplin.353 Diese Ordnung stellt der jeweilige Leiter der Einheit, der Feldherr, Trierarch oder Chorege, durch seinen Einsatz her. Ischomachos resümiert, der Landwirtschaft, der Politik, der Haushaltung und dem Kriegswesen sei es gemein, „Leitungstätigkeit zu sein“ (τὸ ἀρχικὸν εἶναι). Sokrates leitet diese Feststellung am Ende des Dialogs mit der Bemerkung ein, Ischomachos habe „das ganze Gespräch“ (ὅλον τὸν λόγον) auf diese Grundeinsicht hingelenkt.354 Xenophon markiert die Einsicht also als Hauptaussage des Oikonomikos: Erfolgreiche Hauswirtschaft ist eine Frage guter Organisation und gute Organisation eine Frage guter Leitung. Das Bild des Offiziers a. D., der ohne echtes Fachverständnis die Prinzipien soldatischer Disziplin auf die Landwirtschaft überträgt, ist suggestiv aber irreführend.355 Denn im Nikomachides-Dialog in den Memorabilien geht Xenophon umgekehrt ebenso davon aus, dass ein erfolgreicher oikonomos auch zur Führung eines Chores oder Heeres befähigt sei.356
349 Den rein exemplarischen Charakter betont Sokrates am Anfang und Ende der Erzählung, Xen. oik. 4.4, 5.1; dazu Günther 2012, 91–95. 350 Xen. Kyr. 1.1,1; 6. 351 Xen. oik. 21.10; vgl. 14.6 f. die βασιλικοὶ νόμοι des Hausherrn; zur Wahl der Beispiele Pomeroy 1994, 286 f. 352 Vgl. Xen. oik. 5.13–16; 8.3–8; 20.5–9, 18; 21.3–8. 353 Oik. 8.3: ἔστι δ’ οὐδὲν οὕτως, ὦ γύναι, οὔτ’ εὔχρηστον οὔτε καλὸν ἀνθρώποις ὡς τάξις. 354 Oik. 21.1 f. 355 So hingegen Anderson 1974, 181 f. und Dihle 1991, 247. 356 Xen. mem. 3.4.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
249
Diese Führungsposition des Hauswirts verlangt hauptsächlich geistige und kommunikative Arbeit. Der Hausherr pflanzt wohl einmal selbst einen Baum wie Kyros, um sich körperlich zu ertüchtigen und Urteilsvermögen über die Aufgaben seiner Untergebenen zu erlangen. Seine eigentliche Aufgabe ist jedoch die Beaufsichtigung der Arbeit und die Motiviation der Arbeitenden.357 Der Begriff epimeleia, ‚Aufsicht‘ oder ‚Fürsorge‘, kommt, Verbformen usw. eingerechnet, 111mal im Oikonomikos vor; er kann geradezu als das Hauptthema der Abhandlung gelten.358 Xenophon greift mit epimeleia einen konventionellen und etablierten Begriff auf, mit dem mindestens seit dem 5. Jh. die Führungsaufgabe des Hausherrn formelhaft beschrieben wurde.359 Gleich morgens begibt sich der ideale Hausvater Ischomachos auf sein Landgut, um die verschiedenen Arbeiten „zu begutachten“ (ἐπισκεψάμενος) und, falls nötig noch etwas am Arbeitsgang zu „verbessern“.360 Die ökonomische Bedeutung der persönlichen Aufsicht wird durch das Sprichwort auf den Punkt gebracht, dass das „Auge des Herrn“ das Pferd am schnellsten großziehe – es geht um Vermögenswachstum.361 Die Betätigung des Aufsehers ist ein Sehen und Gesehen-werden: Das „Erscheinen des Herrn“ (τοῦ δὲ δεσπότου ἐπιφανέντος) löst bei den Arbeitern Arbeitseifer aus.362 Stete Fürsorge beschränkt sich nicht auf die Beaufsichtigung. In den Memorabilien führt Xenophon die Aufgaben (erga) des Hausherrn auf, um zu belegen, dass gute Hauswirte auch gute Feldherrn sein können. Beide müssen sich erstens ihre „Untergebenen gehorsam und willig (τοὺς ἀρχομένους κατηκόους τε καὶ εὐπειθεῖς) machen“. Zweitens müssen sie achtgeben, dass jedem die passende Arbeit zugeteilt wird. Drittens müssen sie die Schlechten strafen und die Guten ehren. Viertens müssen sich Hausherr und Feldherr der Zuneigung der Untergebenen versichern. Fünftens müssen beide sich Verbündete und Helfer schaffen. Sechstens müssen beide „wachsam in Hinsicht auf das Ihrige sein“ (φυλακτικοὺς τῶν ὄντων […] εἶναι). Siebtens müssen beide „sorgetragend und arbeitsliebend“ (ἐπιμελεῖς καὶ φιλοπόνους) bei ihren Aufgaben (ἔργα) sein. Schließlich müssen Hauswirt und Feldherr achtens Vorkehrungen gegen zu besiegende Feinde treffen.363 Diese in den Memorabilien knapp aufgelisteten Aufgaben werden im Oikonomikos länger ausgeführt. Die Kunst der Menschenführung beginnt bei der Einweisung der Ehefrau in ihre Pflichten. So wie der Aufseher/Verwalter (ἐπἰτροπος) Stellvertreter des Hausherrn draußen auf den Feldern ist, ist die Frau Stellvertreterin des Ehemanns im Inneren des Hauses.364 Die Ehefrau ist jedoch nicht nur Werkzeug des Hausherrn, 357 358 359 360 361 362 363 364
So auch Pomeroy 1994, 309. Meyer 1975, 104; Breitenbach 1967, 1870. Vgl. Hdt. 5.29,2; Thuk. 2.40,2; Isokr. 12.145; 15.124; Xen. mem. 2.4,1. Xen. oik. 11.16: μεταρρυθμίζω, ἐὰν ἔχω τι βέλτιον τοῦ παρόντος. Oik. 12.20. Oik. 21.10. Mem. 3.4,7–10. Oik. 7.18–34.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
sondern zugleich Herrin (despoina) an seiner Seite. Xenophon bezeichnet den Haushalt als „ihre gemeinsame Sache“ (οἶκος ἡμῖν ὅδε κοινός ἐστιν) und die Eheleute als „Partner“ und „Zuggespann“.365 Die Frau soll sich die Bienenkönigin zum Vorbild nehmen. Sie weist Aufgaben zu, kontrolliert die Ausgabe von Material und die Ergebnisse ihrer Bearbeitung. Zugleich kümmert sie sich um die Bekleidung, Verköstigung und Krankenpflege der Sklaven.366 Sie muss durch ihre Tüchtigkeit mit gutem Vorbild vorangehen.367 Mit der Schatzmeisterin (ταμία) verfügt sie ebenfalls über eine Stellvertreterin.368 Zu den besonderen Aufgaben des Mannes zählt Xenophon die Vertretung des Hauses nach außen: die ostentative Erfüllung der militärischen, religiösen und politischen Pflichten, aber auch die ‚Verteidigung‘ des Haushalts gegen Feinde.369 Seine wichtigste Pflicht innerhalb des Haushalts ist die Erziehung und Kontrolle der Sklaven. Ischomachos führt seine innerhäuslichen Aufgaben allerdings nicht direkt aus, sondern hat sie an seinen Aufseher/Verwalter delegiert, den er lediglich kontrolliert. Ischomachos vergleicht sich deshalb mit Drakon und Solon, die Gesetze festlegten, die von anderen durchgesetzt werden – wiederum ein Vergleich, der die Würdigkeit der häuslichen Führung unterstreicht.370 Die Einsetzung eines Verwalters erklärt, wie es Ischomachos gelingt, trotz intensiver Hauswirtschaft ostentativ müßig zu gehen und soziale Beziehungen zu pflegen.371 Schon zu Beginn seiner Schrift hatte Xenophon erklärt, ein Mann der das Fachwissen (technē) der Haushaltung beherrsche, könne auch, wenn er selbst kein Vermögen habe, „das Haus/Vermögen eines anderen verwalten“ (τὸν ἄλλου οἶκον οἰκονομοῦντα).372 Dieser Gesamtverwalter ist wohl vom einzelnen Aufseher zu unterscheiden,373 doch die allgemeine Aussage ist deutlich. Der Hausherr delegiert nicht nur die Arbeit, er delegiert sogar die Kontrolle und Anleitung der Arbeit.374 Die erste und wichtigste Eigenschaft eines guten Aufsehers ist „Wohlwollen“ (εὔνοια) gegen den Herrn. Ischomachos versichert sich dieses Wohlwollens durch das Versprechen einer Gewinnbeteiligung.375 Eine zweite wichtige Eigenschaft ist Pflicht-
365 Oik. 7.11 und 30: συζευγνὺς ἄνδρα καὶ γυναῖκα […] ὁ νόμος κοινωνοὺς καθίστησι; die Betonung der ehelichen Gleichwertigkeit ist häufig als außergewöhnlich kommentiert worden; vgl. stellvertretend Pomeroy 1994, 267. 366 Xen. oik. 7.32–37. 367 Oik. 10.10–13. 368 Oik. 9.10–13. 369 Oik. 11.14–24; zu den Feinden, s. Kap. 3.2.1. 370 Oik. 14.4–8. 371 Oik. 12.1–3. 372 Oik. 1.4. 373 S. Kap. 10.1. 374 Xen. oik. 12.4: Er erziehe den Aufseher selbst, führt Ischomachos aus, denn diesem oblägen schließlich jene Aufgaben, die sonst Ischomachos ausführen würde. 375 Oik. 12.5 f.; vgl. 9.12.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
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eifer und Selbstdisziplin: Der Aufseher darf dem Verlangen nach Wein, Sex und Schlaf nicht nachgeben.376 Die Aufgabe des Hausherrn besteht mehr in der Auswahl als in der Erziehung: Ein Sklave, dem die Veranlagung fehlt, ist ungeeignet. Zugleich muss der Herr stets mit gutem Beispiel vorangehen (wie die Ehefrau bei den Sklavinnen): Bei schlechten Herren gibt es keine brauchbaren Sklaven.377 Die dritte geforderte Eigenschaft ist technisches Fachwissen. Der Aufseher müsse wissen, „was zu tun sei und wann und wie“ (τι τε ποιητέον καὶ ὁπότε καὶ ὅπως).378 Diese drei typischen Fragepartikel der Fachliteratur betonen den Fachcharakter der Kenntnisse,379 genau wie der darauffolgende Arztvergleich. Ein Aufseher der nicht weiß, „wie die Werke auszuführen sind“, sei ebenso „nützlich“ (ὄφελος) wie ein Arzt, der Zeitpunkt und Methode seiner Behandlung nicht kenne.380 Der wiederholte Hinweis auf den richtigen Zeitpunkt verrät, dass auch die Planung der zeitlichen Abläufe an den Stellvertreter zu übertragen ist. Viertens muss der Aufseher/Verwalter „leitungsfähig in Bezug auf Menschen“ (ἀρχικοὺς εἶναι ἀνθρώπων) sein.381 Dabei soll er die gleichen Methoden der ‚Erziehung‘ auf die Arbeiter anwenden, die der Hausherr auf ihn selbst angewendet hat. Wie junge Tiere könnten Menschen mit Anreizen und Sanktionen erzogen werden.382 Die Sklaven ließen sich durch Nahrungszuteilung sanktionieren, aber auch durch Lob – danach hungerten die Ehrgeizigeren ebensosehr wie nach Speise und Trank.383 Kleidung und Schuhe werden ebenfalls nach Verdienst in unterschiedlicher Qualität zugeteilt, um zum Fleiß zu motivieren.384 Die Redlichen müssten sichtbar für ihre Redlichkeit belohnt werden, denn die „Guten“ (ἀγαθοῖς) würden unwillig, wenn sie sähen, dass auch die Untätigten von ihren „Werken“ (ἔργα) profitierten, obwohl sie „weder Mühen noch Gefahren eingegangen sind“ (μήτε πονεῖν μήτε κινδυνεύειν).385 Die schlimmsten Fehler eines Sklaven, heißt es daraufhin, sind „schändliche Gewinnsucht“ (αἰσχροκέρδεια) und Gier. Xenophons Maßnahmenkatalog zielt also besonders auf wirtschaftlichen Fleiß und geschäftsmäßige Ehrlichkeit, nicht auf bloße Untertänigkeit. Deshalb wird der Verwalter gelobt, wenn er „den Würdigsten/Wertvollsten“ (τοῖς πλείστου ἀξίοι) das Meiste zuteilt, jedoch getadelt, wenn er jemandem aufgrund einer „unnützen Gefällig-
376 377 378 379 380 381 382
Oik. 12.8–14. Oik. 12.19; vgl. 3.4. Oik. 13.2. Breitenbach 1967, 1868; Spahn 2003, 315. Xen. oik. 13.2 f. Oik. 13.4. Oik. 13.6–12; Breitenbach 1967, 1850 hält diese ‚behaviouristische‘ Auffassung für Xenophons „höchstpersönliche Idee“. 383 Xen. oik. 13.9: αἱ δὲ φιλότιμοι τῶν φύσεων καὶ τῷ ἐπαίνῳ παροξύνονται; die Verfressenheit von Sklaven war ein Topos, Pomeroy 1994, 319. 384 Xen. oik. 10. 385 Oik. 14.6 f., 11.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
keit“ (τινὶ ἀνωφελεῖ χάριτι) vorzieht.386 Das Prinzip der Zuteilung ‚nach Wert/Würdigkeit‘ (kath’ axion), das Xenophon hier anführt, ist am besten als Grundprinzip von Aristoteles’ Theorie der Verteiligungsgerechtigkeit bekannt.387 Dessen Testament zeigt, dass Aristoteles selbst diesen Maßstab bei der Belohnung seiner Sklaven anlegte.388 In Bezug auf Sklaven erhält das allgemeine Prinzip eine starke wirtschaftliche Färbung, denn axion meint hier auch den produktiven Wert des Sklaven, etwa dann, wenn Xenophon meint, der „Wert“ einer Sklavin ließe sich „verdoppeln“, indem man ihr die Wollverarbeitung beibringe.389 Wirtschaftlicher Erfolg ist auch bei der fünften Eigenschaft des guten Verwalters, „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη), die Richtschnur. Der Aufseher soll nichts vom Vermögen seines Herrn stehlen: „Denn wenn derjenige, der die Ernte verwaltet, es wagte, soviel verschwinden zu lassen, dass nichts übrigbleibt, was für die Arbeiten entschädigt – welchen Nutzen hätte da wohl die Landwirtschaft aus der Aufsichtstätigkeit eines solchen Verwalters?“390 Zu dieser ‚Gerechtigkeit‘ spornt Xenophons Ischomachos an, indem er materielle Leistungen und Anerkennung kombiniert. Diejenigen, die nicht nur dazuverdienen wollten, sondern auch gerecht seien, behandle Ischomachos „wie Freie“ (ὥσπερ ἐλευθέροις) und mache sie nicht nur reich, sondern „ehre sie auch wie Gute und Edle“ (τιμῶν ὡς καλούς τε κἀγαθούς). Denn ein ehrgeiziger Mann unterscheide sich von einem vorteilheischenden darin, dass er um des Lobes und der Ehre willen Mühe und Gefahr auf sich nehme und „sich schändlicher Gewinne“ enthalte.391 Der Hinweis auf die Behandlung „wie ein Freier“ verweist auf die Handlungsspielräume des Aufsehers, die jedoch nicht notwendig bis zur Freiheit reichen.392 Die Tatsache, dass Xenophon unter Haushaltsführung v. a. das erfolgreiche Delegieren der Verwaltungsaufgaben behandelt, ist als Beleg für die allgemeine Rentier-Mentalität seiner Zeit gedeutet worden. Es entspricht jedoch dem, was Frank Knight in einem Klassiker der Wirtschaftswissenschaften über die Funktion des Managements in einem modernen Unternehmen schreibt:393 386 Oik. 14.12, vgl. 7.41: „vernünftige und nützliche“ Slaven (σώφρονάς τε καὶ ὠφελίμους) werden belohnt, die „schlechten“ (πονηρός) bestraft; die hier gemeinte „Vernunft“ ist wirtschaftlich: das Vorhandene bewahren und nach Möglichkeit mehren. 387 Aristot. eth. Nic. 5, 1130 b 25–1131 b 14. 388 Diog. Laert. 5.15. 389 Xen. oik. 7.41: ἐπιστήμονα ποιήσῃς καὶ διπλασίου σοι ἀξία γένηται; vgl. ebd. ἐπιστήμονα καὶ πιστὴν καὶ διακονικὴν ποιησαμένη παντὸς ἀξίαν ἔχῃς; vgl. 14.6; zur engen wirtschaftlichen Zwecksetzung des Tugendkatalogs s. Klees 1975, 81–85. 390 Xen. oik. 14.3: τοῦ γε ἀπέχεσθαι τῶν δεσποσύνων καὶ μὴ κλέπτειν. εἰ γὰρ ὁ τοὺς καρποὺς μεταχειριζόμενος τολμῴη ἀφανίζειν ὥστε μὴ λείπειν λυσιτελοῦντας τοῖς ἔργοις, τί ἂν ὄφελος εἴη τὸ διὰ τῆς τούτου ἐπιμελείας γεωργεῖν. 391 Oik. 14.9 f.: διαφέρειν ἀνὴρ φιλότιμος ἀνδρὸς φιλοκερδοῦς, τῷ ἐθέλειν ἐπαίνου καὶ τιμῆς ἕνεκα καὶ πονεῖν ὅπου δεῖ καὶ κινδυνεύειν καὶ αἰσχρῶν κερδῶν ἀπέχεσθαι. 392 So Klees 1998, 315; vgl. Xen. oik. 3.4 für den Hinweis auf die gut geführten Haushalte, in denen die Sklaven keine Ketten tragen und bereitwillig arbeiten. 393 Knight 1921, 291.
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What we call ‚control‘ consists mainly of selecting someone else to do the ‚controlling.‘ Business judgment is chiefly judgment of men. We know things by knowledge of men who know them and control things in the same indirect way.
Zum Vergleich Xenophon: Wer willige, arbeitsame und ausdauernde Leute aufbieten kann, der gehört zu denen, die es zu Vermögen bringen und einen reichlichen Überschuss erzielen.394
Und wieder Knight: To find men capable of managing business efficiently and secure to them the positions of responsible control is perhaps the most important single problem on the efficiency side.395
Angesichts dieser bemerkenswerten Parallelen scheint Thomas Figueiras augenzwinkerndes Fazit zu Xenophons ökonomischem Denken treffend:396 Therefore, while I am uncomfortable hypothesizing Xenophon as the discoverer of the ‚economy‘ in a Polanyian spirit, we may be warranted in viewing him as the earliest extant management consultant or managerial guru, as the cliché would have them. To appreciate this suggestion, it is worth remembering how largely moral exhortation and elicitation of leadership qualities looms in such literature. Actual management even today is seldom viewed as the implementation of insights of a technological and economic nature, but as the embodiment of a value system. The ancient Adam Smith seems out of Xenophon’s reach, but the ancient Peter Drucker might just work.
Xenophons Oikonomikos ist zwar (auch) eine Abhandlung praktischer Ethik: Aber ein Imperativ dieser Ethik ist die planvolle Vergrößerung des häuslichen Vermögens. Dazu passt Descats Hinweis, dass die von Xenophon beschriebene Arbeitsteilung von Eigentümer, Aufseher und Arbeitern der Organisationsform der kaufmännisch betriebenen Sklavenwerkstätten in Athen entsprach.397 Xenophon zeigt seine Vertrautheit mit diesen Werkstätten selbst. Er schreibt abwertend, dass „die sogenannten banausischen Tätigkeiten“ (αἵ γε βαναυσικαὶ καλούμεναι) sowohl „die Arbeitenden als auch die Beaufsichtigenden“ (τῶν τε ἐργαζομένων καὶ τῶν ἐπιμελομένων) an Leib und Seele schädigten, weil man ohne Luft und Licht im Inneren nahe beim Feuer sitze. Diese Tätigkeiten erlaubten außerdem kaum Muße, um sich den Freunden und der Hei-
394 Xen. oik. 21.10: ἄν τε ἐπίτροπος ᾖ ὁ ἐφεστηκὼς ἄν τε καὶ ἐπιστάτης, ὃς ἂν δύνηται προθύμους καὶ ἐντεταμένους παρέχεσθαι εἰς τὸ ἔργον καὶ συνεχεῖς, οὗτοι δὴ οἱ ἁνύτοντές εἰσιν ἐπὶ τἀγαθὰ καὶ πολλὴν τὴν περιουσίαν ποιοῦντες. 395 Knight 1921, 283. 396 Figueira 2012, 683 f. 397 Descat 1988, 110 f.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
matstadt zu widmen, und deshalb seien sie (zu Recht) schlecht angesehen.398 Beide Behauptungen werten den Arbeiter und den Aufseher ab, die selbst in der Werkstatt stehen – aber nicht den reichen Werkstattbesitzer, der die tägliche Aufsicht einem Sklaven oder Freigelassenen überlässt. Solche Werkstattbesitzer lobt Xenophon in den Memorabilien als Vorbilder erfolgreicher Hauswirtschaft.399 Xenophon selbst thematisiert zwar nur die angesehenste Form des Erwerbs, die Landwirtschaft. Diese ist ihm jedoch lediglich vornehmes Beispiel, um die allgemeinen Prinzipien der Leitung eines reichen Haushalts zu illustrieren.400 Die Kunst der Menschenführung dient in Xenophons Oikonomikos genau wie in den pseudo-aristotelischen Oikonomika I der Nutzenmaximierung des Haushalts (s. Kap. 6.3.1). Insofern überzeugt Zoepffels These nicht, nach der die Ökonomik als Herrschaftslehre den ökonomischen Aspekt marginalisiert hätte. Eine Übertreibung in die entgegengesetzte Richtung ist hingegen die Charakterisierung des Hausvaters als „Entrepreneur“.401 Ischomachos leitet kein Unternehmen, sondern einen Haushalt. Seine Fähigkeit, auf einem Reitpferd eine gute Figur zu machen, seine Freude daran, glänzende Opfer darzubringen und seine Bereitschaft, stundenlang auf Gastfreunde zu warten, sind genauso wichtig wie seine ‚Management‘-Qualitäten. Im Sinne der umfassenden Hauswirtschaft versucht er, Geldgewinn und Ehre zu optimieren und miteinander in Einklang zu bringen. Im Sinne der Totalität der Statuskonkurrenz sieht er konkurrierende Haushalte nicht als Marktkonkurrenten, sondern als „Feinde“, die man nicht im Preis unterbietet, sondern gegen die man regelrecht ‚Krieg‘ führt. Interpretative Zurückhaltung ist auch in anderer Hinsicht geboten. Xenophon erklärt den hauswirtschaftlichen Erfolg mit dem Fleiß und der nie nachlassenden Sorge des Hausherrn. Diese Fähigkeiten waren zweifellos wichtig, doch viele andere Faktoren des hauswirtschaftlichen Erfolgs lagen jenseits individueller Tüchtigkeit. Der Vermögensgrundstock großer Haushalte war meist geerbt, nicht verdient. Nicht kontrollierbare Ereignisse konnten Gewinne bescheren oder Ruin bringen. Und größere Haushalte konnten effizienter wirtschaften, weil sie Größenvorteile genossen (s. Kap. 17). Xenophons Insistieren darauf, dass Ischomachos seinen Reichtum einzig seiner Tüchtigkeit verdanke, hat demnach nicht nur didaktischen Zweck, sondern auch apologetischen. Genauer gesagt: Xenophons Oikonomikos gab seinen Rezipienten ein rhetorisches Muster an die Hand, um sich zu verteidigen, wenn man vor den Ohren weniger glücklicher Mitbürger dafür angegriffen wurde, dass man sich nur um seinen eigenen Haushalte sorge, den Gewinn hochschätze und Reichtum anhäufe, ohne dem Gemeinwesen zu
398 Xen. oik. 4.2 f. 399 S. Kap. 4.1.1. 400 Deshalb reicht es, auf eine umfängliche Darstellung der Landwirtschaft zu verzichten und nur einige adhortative Eklogen aus diesem Gebiet zu wählen; s. Kap. 4.3.1. 401 So Unholtz 2012, 52–56.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
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nutzen. Denn die „Menge, so meint Platon abfällig, lobe die „sparsam hauswirtschaftende Besonnenheit“ (σωφροσύνῃ […] φειδωλὰ οἰκονομοῦσα) als „Tugend“ (ἀρετή).402 Die Leitung des eigenen Hauses zum eigenen Vorteil schafft die materiellen und geistigen Voraussetzungen, um dem Gemeinwesen zum Wohle aller dienen zu können. 6.3.2 Der ökonomische Aspekt der Sklaverei bei Aristoteles Wie Xenophon versteht Aristoteles die Beziehungen im Haus als Herrschaftsbeziehungen. Der Arbeitsteilung der Hausgenossen räumt er ebenfalls viel Platz ein, nach moderner Zählung fünf Kapitel von Politik I (Kap. 3–7), denn wie Xenophon ist er der Meinung, dass „der Eifer der Haushaltsführung mehr auf die Menschen als auf den unbelebten Besitz“ gerichtet sein müsse.403 Aristoteles interessiert sich auch auf diesem Gebiet mehr für theoretische und normative Fragen als Xenophon. Er beginnt dementsprechend mit einer Zerlegung des Hauses in seine „kleinsten Teile“: Herr und Sklave, Ehemann und Ehefrau und Vater und Kinder. Diesen Personenpaaren entsprechen drei Beziehungstypen: eine „herrschende“ (δεσποτική), ein „eheliche“ (γαμική) und eine „kinderhervorbringende“ (τεκνοποιητική).404 Aristoteles räumt ein, dass die letzten beiden Ausdrücke Neuschöpfungen für „namenlose“ (ἀνώνυμον) Beziehungen seien. Das zeigt einmal mehr, dass sein Interesse vor allem auch begriffssystematisch ist – wo Oberbegriffe fehlen, schafft Aristoteles sie (vgl. Tabelle 4).405 Alle drei Beziehungen sind auf den Hausvater ausgerichtete Herrschaftsbeziehungen.406 Gerechtfertigt werden sie mit der „naturgemäßen“ Überlegenheit des Mannes.407
402 Plat. Phaidr. 256e. 403 Aristot. pol. 1, 1259 b 18 f.: ὅτι πλείων ἡ σπουδὴ τῆς οἰκονομίας περὶ τοὺς ἂνθρώπους ἢ περὶ τὴν τῶν ἀψύχων κτῆσιν. 404 Pol. 1, 1253 b 5–9. 405 Vgl. Schütrumpf 1991, 231; die Ausdrücke existieren, allerdings nicht als spezifische Begriffe sozialer Beziehungen; das Attribut gamikos bezeichnet normalerweile die Requisiten der Hochzeit, von Liedern bis zum Hochzeitsbett, Pherekr. fr. 205 PCG (= Phot. s. v. Ἀφροδίσιον ὑμέναιον (α 3397); Aristoph. Av. 1693; Hyp. fr. 144 Jensen (= Poll. 3.43); Aristot. eth. Nic. 4, 1123 a 22) oder allg. „Hochzeitsangelegenheiten“, Thuk. 2.15,5; 6.6,2; Plat. leg. 4, 721a; Aristot. pol. 5, 1304 a 14; 1306 a 34; 7, 1334 b 32; in Politik I hingegen wird der Ausdruck zur allgemeineren Bedeutung ‚ehelich‘ abgewandelt; ähnlich verhält es sich mit teknopoiētikē, ein nur hier verwendetes Kunstwort, das Aristoteles von gebräuchlicheren Wörtern wie τεκνοποιεῖν oder τεκνοποιία ableitet, die das Zeugen, Gebären oder nur den Geschlechtsverkehr bezeichnen, die ‚Aufzucht‘ der Kinder aber nicht einschließen, vgl. LSJ s. v. mit Xen. mem. 1.4,7; 2.2,5; 4.4,22 f.; oik. 7.19, 9.5. 406 Dementsprechend wird die Beziehung zu den Kindern später abweichend als „väterliche“ (πατρική) bezeichnet, Aristot. pol. 1, 1259 a 38; dazu Schütrumpf 1991, 231. 407 Aristot. pol. 1, 1254 a 24–b 13 und 1258 a 37–1260 b 20.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Tabelle 4 Die Systematik der Begrifflichkeit bei Aristoteles Wissen (epistēmē)
Tätigkeit (praxis)
Einheit (meros)
oikonomikē
oikonomia
oikia/oikos
despotikē (= χρηστική δουλῶν) – doulikē
despoteia – douleia
despotēs – doulos
gamikē
(gamos)*
posis – alochos
teknopoiētikē/patrikē
(teknopoiia)*
patēr – teknon
ktētikē/chrēmatistikē
(chrēmatismos)*
ktēsis/ktēma
(*Diese Ausdrücke verwendet Aristoteles zwar nicht in Politik I, aber an anderer Stelle.)
Im Sinne Zoepffels wird das Haus hier als umfassende, durch Herrschaftsbeziehungen geordnete soziale Einheit beschrieben. Wiederum liegt jedoch der spezielle Interessensschwerpunkt auf den wirtschaftlich relevanten Aspekten; oder wie Aristoteles es ausdrückt, um seine vorgezogene Behandlung der Sklaven zu rechtfertigen, auf den Dingen, die dem „notwendigen Bedarf “ dienen.408 Deshalb behandelt er, wie Xenophon, von den drei Beziehungstypen im Haus nur die statusspezifische Arbeitsteilung zwischen Herrn und Sklave ausführlich. Aristoteles beginnt mit der Ankündigung, er wolle zwei bestehende Meinungen zu Sklaven überprüfen.409 Die erste Meinung sei, dass die Herrschaft über Sklaven „eine bestimmte Form des Wissens sei“ (ἐπιστήμη τέ τις εἶναι ἡ δεσποτεία) und dass sie mit Haushaltsführung und politischer Führung und Königtum identisch sei: Das ist die bei Xenophon dominierende Sichtweise, die Aristoteles schon zu Beginn kritisiert hat.410 Eine zweite, entgegensetzte Meinung sei, dass Herrschaft über Sklaven widernatürlich und gewalttätig sei, weil der Sklave sich nur „laut Gesetz“ (νόμῳ) vom Freien unterscheide.411 Aristoteles stellt seine Ausführungen also als Intervention in eine bestehende Diskussion dar. Doch wer vertrat die These der Widernatürlichkeit? Und wie befriedigend ist Aristoteles’ Entgegnung? Um diese Forschungsfragen hat sich eine unüberschaubare Diskussion gesponnen.412 Ich werde mich beim Versuch, sie zu beantworten, auf die Frage beschränken, was Aristoteles’ Theorie der Sklaverei über seine Sicht auf die statusspezifische Arbeitsteilung als Aspekt der Hauswirtschaft verrät. Aristoteles beginnt mit einer Begriffsbestimmung. Der Besitz (ktēsis) sei Teil des Hauses und darum die Erwerbskunst (ktētikē) Teil der Haushaltsführung; denn ohne
408 409 410 411 412
Pol. 1, 1253 b 23–25. Pol. 1, 1253 b 14–17. Pol. 1, 1253 b 18–20: καθάπερ εἴπομεν ἀρχόμενοι. Pol. 1, 1253 b 20–22. Vgl. als Auswahl: Gigon 1965; Laurenti 1966; Goldschmidt 1973; Schofield 1990; Brunt 1993a; Schütrumpf 1993; Garnsey 1996, 107–127; Millett 2007; Heath 2008; Pellegrin 2013; Lüpke 2019; vgl. Schütrumpf 1991, 234 f. zur älteren Forschung seit dem 19. Jh.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
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die „notwendigen Güter“ seien weder das bloße noch das gute Leben möglich.413 Aristoteles wechselt also gleich zu Beginn seiner Erörterung vom sozialen Aspekt der statusspezifischen Arbeitsteilung – Herrschen und Beherrschtwerden – zum wirtschaftlichen Aspekt – Besitz, Produktion, Erwerb.414 Die nun folgende Definition von ‚Sklave‘ behält diese funktional-wirtschaftliche Perspektive bei. In der gleichen Art, wie die fest umrissenen Künste ihrer „speziellen Werkzeuge“ (τὰ οἰκεῖα ὄργανα) bedürften, um ihr Gewerk (ergon) auszuführen, so auch die Haushaltskunst.415 Werkzeuge seien wiederum „beseelt oder unbeseelt“, wie das Ruder des Steuermanns im Vergleich zu seinem Bugmaat: Denn der „Untergebene“ (ὑπηρέτης) sei „bei den Fachkünsten“ (ταῖς τέχναις) ebenfalls ein Werkzeug.416 Da nun jedes „Besitztum“ (κτῆμα) Werkzeug „zum Leben“ (πρὸς ζωήν) sei und „Besitz“ (κτῆσις) wiederum eine Menge an Werkzeugen, so sei der Sklave ein „beseeltes Besitztum“ (κτῆμά τι ἔμψυχον) und als solches jedem anderen Werkzeug überlegen.417 Weder die Handwerksmeister bräuchten Gehilfen noch Herren ihre Sklaven, wenn die Werkzeuge „sich selbst die Arbeit anwiesen und diese planten“ (κελευσθὲν ἢ προαισθανόμενον ἀποτελεῖν τὸ αὑτοῦ ἔργον).418 Diese vielzitierte Fiktion zeigt, dass Aristoteles die Herr-Sklave-Beziehung als arbeitsteilige Organisation konzeptualisiert. Die dient der Verrichtung eines bestimmten Werks (ergon), der Sklave führt aus, der Herr weist an (keleuein) und plant (proaisthesthai). Den verschiedenen Rollen entsprechen verschiedene Stufen des Wissens, wie der Vergleich zu Meister und Gehilfe zeigt. In der Metaphysik ordnet Aristoteles nämlich Fachkönnen (technē) und Erfahrung (empeiria) jeweils Meister (architekton) und einfachem Arbeiter zu.419 Den Wissensstufen entsprechen dabei Statusstufen: Der Meister mit seinem Fachkönnen steht zwar über den Gehilfen (seinen „Werkzeugen“) mit ihrer Erfahrung, aber er steht unter dem Müßiggänger, der Zeit für echte Weisheit hat.420 Aristoteles’ Behandlung der Sklaverei entspricht diesem Bewertungsschema. Es gebe ein „gebieterisches und ein sklavisches Wissen“ (ἐπιστήμη […] καὶ δεσποτικὴ καὶ δουλική); letzteres bestehe im Dienen, ersteres im „Gebrauch der Sklaven / Umgang
413 Aristot. pol. 1, 1253 b 23–25. 414 Schütrumpf 1991, 229 f.; Lüpke 2019, 79; Kyrtatas 2002, 142–147 meint hingegen unter Verweis auf Politik I, die Griechen hätten Haushalt und Besitz ausschließlich in politischen, sozialen und moralischen, aber nicht ökonomischen Kategorien erfasst. 415 Aristot. pol. 1, 1253 b 25–27. 416 Pol. 1, 1253 b 27–30. 417 Pol. 1, 1253 b 30–33. 418 Pol. 1, 1253 b 33–1254 a 1. 419 Vgl. Kap. 5.2.1; weitere Belege für die Verwendung des Meister-Gehilfen-Vergleichs bei Platon und Aristoteles bei Schütrumpf 1991, 245. 420 Wie im Deutschen hat ‚Wissen‘ bei Aristoteles eine engere, erkenntnistheoretische Bedeutung (wahre Erkenntnis) und eine weitere, umgangssprachliche Bedeutung (Kenntnis von einer Sache); in diesem Sinn hat der Sklave zwar ihm eigentümliche Kenntnisse, die doulikē epistēmē, doch ist er zu wahrer Erkenntnis unfähig.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
mit Sklaven“ (ἡ χρηστικὴ δούλων).421 Die Tätigkeit des Sklavengebrauchs erfordert nicht mehr als die Fähigkeit, den Sklaven ihre Aufgaben „anzuordnen“ (ἐπιτάττειν), deshalb sei sie „weder großartig noch würdevoll (σεμνόν)“. Daher würden Herren, die es sich leisten können, dafür einen Aufseher einsetzen und sich der Politik oder Philosophie widmen.422 Dieses Modell der Arbeitsteilung entspricht demjenigen in Xenophons Oikonomikos. Sie ist dreiteilig (Herr – Aufseher/Verwalter – Arbeiter), statusspezifisch und mit den nicht-wirtschaftlichen Aufgaben des Hausherrn begründet. Verwirklichbar ist sie nur in reichen Haushalten. Aristoteles’ Bestimmung des Sklaven als beseeltem Werkzeug birgt eine interpretatorische Schwierigkeit. Nachdem er den Sklaven als beseeltes Werkzeug von den unbeseelten unterschieden hat, führt er eine weitere Unterscheidung ein:423 Was man gewöhnlich Werkzeuge nennt, sind Werkzeuge zum Herstellen von Dingen (ποιητικὰ ὄργανα), Besitz ist dagegen ein Werkzeug für das Handeln (τὸ δὲ κτῆμα πρακτικόν). So ermöglicht ein Weberschiffchen neben seiner Benutzung (χρῆσιν) die Herstellung eines Gegenstandes, ein Gewand und ein Bett erlauben aber nur die Benutzung. Weiterhin: Da Herstellen und Handeln sich ihrem Wesen nach unterscheiden und beide Werkzeuge benötigen, müssen diese den gleichen Unterschied (wie die Tätigkeiten, für die sie benutzt werden,) aufweisen. Das Leben ist aber ein Tätigsein als Handeln, nicht als Produzieren, deswegen ist auch der Sklave Diener in den Dingen zum Handeln (ὑπηρέτης τῶν πρὸς τὴν πρᾶξιν).
Behandelt Aristoteles Sklaven also nur als Hausdiener und ignoriert den Großteil der Sklaven, die auf Landgütern, in Werkstätten und Bergwerken produktiv arbeiteten?424 Paul Millett wählt einen Mittelweg. Ihm zufolge trennte Aristoteles’ Unterscheidung von „Handeln“ und „Herstellen“ die Sklaven, die in der Landwirtschaft die Lebensgrundlage des Hauses erwirtschafteten oder im Haus bedienten, von den Sklaven, die in Werkstätten oder Bergwerken relativ selbstständig arbeiteten und das Geldvermögen vermehrten. Erstere gehörten dem „inner-oikos“ an, letztere nicht. Aristoteles habe in Politk I aus normativen Gründen nur den „inner-oikos“ und seine Sklaven behandelt.425 Für Milletts Interpretation sprechen zwei Elemente von Aristoteles’ Argumentation. Erstens erklärt Aristoteles die Landwirtschaft zum eigensten Teil der Erwerbs-
421 Aristot. pol. 1, 1255 b 20–33. 422 Pol. 1, 1255 b 33–37. Noch einmal wiederholt in 7, 1325 a 25–27. 423 Pol. 1, 1255 b; 1254 a 1–8: τὰ μὲν οὖν λεγόμενα ὄργανα ποιητικὰ ὄργανά ἐστι, τὸ δὲ κτῆμα πρακτικόν· ἀπὸ μὲν γὰρ τῆς κερκίδος ἕτερόν τι γίνεται παρὰ τὴν χρῆσιν αὐτῆς, ἀπὸ δὲ τῆς ἐσθῆτος καὶ τῆς κλίνης ἡ χρῆσις μόνον. ἔτι δ’ ἐπεὶ διαφέρει ἡ ποίησις εἴδει καὶ ἡ πρᾶξις, καὶ δέονται ἀμφότεραι ὀργάνων, ἀνάγκη καὶ ταῦτα τὴν αὐτὴν ἔχειν διαφοράν. ὁ δὲ βίος πρᾶξις, οὐ ποίησις, ἐστιν· διὸ καὶ ὁ δοῦλος ὑπηρέτης τῶν πρὸς τὴν πρᾶξιν. Übers. E. Schütrumpf. 424 So Brunt 1993a, 371. 425 Millett 2007, 202–204.
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kunst, weil sie die lebensnotwendigsten Dinge herstelle.426 Zweitens denkt Aristoteles an den zwei Stellen, wo er kurz von der Ausbildung der Sklaven spricht, scheinbar nur an bedienende, nicht an herstellende Tätigkeiten.427 Den kommerziell-gewerblichen Einsatz von Sklaven thematisiert Aristoteles in Politik I nirgendwo explizit.428 Dennoch befriedigt Milletts Erklärung für das Fehlen dieser Sklaven nicht ganz. Ein Gegenargument ist, dass es bereits in Aristoteles’ Zeit üblich war, Sklaven selbstständig auf entlegenen Landgütern arbeiten zu lassen; deshalb fällt es schwer, diese zum „inner-oikos“ zu rechnen, aber nicht die Sklaven, die wie bei Demosthenes im Wohnhaus der Familie arbeiteten.429 Die textimmanenten Argumente fallen noch stärker ins Gewicht. Aristoteles ordnet die Sklaven der Erwerbskunst zu, was gleich zu Beginn ihre uneingeschränkt wirtschaftliche und erwerbsorientierte Funktion betont. Die Erwerbskunst ist primär durch ihren Zweck und nicht durch ihre Mittel bestimmt, weshalb sie sogar den (geldvermittelten) Tausch einschließen kann, solange dieser der Befriedigung des Bedarfs dient.430 Die Definition des Sklaven als Werkzeug unter Verweis auf den Handwerksmeister und seine Gehilfen suggeriert sogar eher einen handwerklichen statt eines agrarischen oder unproduktiven Kontexts für die Entstehung dieser Theorie von Arbeitsteilung. Diese Suggestion wird verstärkt von der (partiellen) Gleichsetzung von Sklave und Handwerker am Abschluss der Behandlung der Ökonomik in Politik I. Genau wie der „banausische Fachmann“ (βάναυσος τεχνίτης) müsse der Sklave über hinreichend aretē verfügen, um sein Werk nicht zu vernachlässigen.431 Der Unterschied zum Handwerker bestehe nur darin, dass der (freie) Handwerker sich nicht in dauerhafter „Knechtschaft“ (δουλεία) befinde und man nicht zu einem bestimmten Handwerk geboren werde.432 Es ist also gerade nicht die Tätigkeit, die Sklave und Handwerker unterscheidet, sondern seelische Veranlagung und Rechtsstellung. Dass der Handwerker in die Nähe des Sklaven gerückt wird, weil er für seinen Auftraggeber Arbeiten ‚wie ein Sklave‘ ausführt, zeigt umgekehrt, dass Aristoteles die Parallelisierung von Handwerker und Sklave in Bezug auf statusspezifische Arbeitsteilung voraussetzt. Diese Sichtweise wiederholt sich in einer Passage in Politik III, in der Aristoteles den Gegenstand der „gebietenden Herrschaftsweise“ (ἀρχὴ δεσποτική) noch einmal knapp zusammenfasst. Die gebietende Herrschaftsweise betreffe die le426 Vgl. Aristot. pol. 1, 1258 a 35–38; vgl. 1256 a 40–b 39. 427 Pol. 1, 1255 b 22–30; die Tätigkeiten werden als τὰ διακονήματα bezeichnet, also als ‚Diensttätigkeiten‘ und die Unterrichteten als τοὺς παῖδας, womit insbesondere Haussklaven bezeichnet werden, vgl. Schütrumpf 1991, 295; als Beispiel für eine solche Diensttätigkeit, die über das Notwendige hinausgeht, wird die Zubereitung feiner Speisen (ὀψοποιική) genannt, was in dieselbe Richtung weist; Plat. Tht. 175e versteht unter δουλικὰ … διακονήματα typische Aufgaben von Hausbediensteten. 428 S. Kap. 12.3. 429 Vgl. Kap. 9. 430 Vgl. Kap. 6.1.3 und 6.1.4. 431 Aristot. pol. 1, 1255 b 35–39. 432 Pol. 1, 1255 b; 1260 a 39–b 2.
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bensnotwendigen Dinge, wobei der Herrschende nicht so sehr deren „Herstellung“ (ποιεῖν) kennen muss als ihren „Gebrauch“ (χρῆσθαι). Das Herstellen einer Sache sei nämlich „sklavisch“ (ἀνδραποδῶδες) und gehöre zu den „dienenden Tätigkeiten“ (τὰς διακονικὰς πράξεις). Diese dienenden Tätigkeiten seien vielfältig und würden auch von denjenigen ausgeübt, die von ihrer Handarbeit lebten, wie der ‚banausische Fachmann‘. Solche Personen, die wie Beherrschte arbeiteten (d. h. für ihre Auftraggeber), sollten keinen Anteil am städtischen Regiment haben, außer sie arbeiteten nur für den eigenen Bedarf/Nutzen (chreia). In diesem Fall gäbe es nämlich nicht Sklave und Gebieter als zwei Personen.433 Handwerkliche Produktion ist für Aristoteles also nicht nur eine Tätigkeit, die Sklaven auch gelegentlich ausführen, sondern sogar so typisch für das Sklavendasein, dass sie selbst einen dem Gesetz nach freien Mann moralisch zum Sklaven machen. Aristoteles schloss die gewerbliche und produzierende Sklaverei also aus seiner Theorie nicht aus, sondern verzichtete auf ihre Behandlung, weil er nur an einem allgemeinen und theoretischen Begriff der Sklaverei interessiert war. Er behandelt die Produktion (poiēsis) mit Sklaven nicht in Politik I, weil die Herrschaftskunst (despotikē) als Teil der Haushaltungskunst nur die Verwendung von Sklaven als „Werkzeuge“ betrifft.434 In welchen technischen Anwendungsfeldern die Herrschaftskunst zur Anwendung kommt, ist für die logische Begriffsbestimmung zweitrangig. Die lebensweltliche Plausibilität dieser inhaltlichen Unterbestimmtheit ergab sich daraus, dass die (zukünftigen) Haushaltsvorstände aus der Oberschicht, die Aristoteles’ Adressaten waren, diversifizierte Vermögen besaßen und in ganz verschiedenen Gebieten Sklaven einsetzten (s. Kap. 12.3 und 15.2). In diesem Sinn zählt Aristoteles die Ökonomik zu den Künsten ohne „fest umrissenen Gegenstand“.435 Eine Auflistung der einzelnen Aufgabengebiete von Sklaven wäre außerdem genau jene Form praktischer Belehrung gewesen, die, in Aristoteles’ Worten zwar ‚nützlich‘, aber einem freien Mann nicht angemessen ist.436 Die Unterscheidung von Herstellen und Handeln dient nämlich auch der sozialen Abgrenzung der Ökonomik als Kenntnis/Tätigkeit, die für den edlen Mann zwar nicht rühmlich, aber auch nicht ehrenrührig ist, von weniger edlen ‚Fach‘-Künsten. Bereits bei Xenophon wurde das Bemühen deutlich, Ökonomik und Landwirtschaft von banausischen Tätigkeiten abzugrenzen. Fast macht es den Eindruck, als sei es Aristoteles wichtig, den Hausherrn vom bloßen Handwerksmeister abzugrenzen, gerade weil er seinen Begriff vom Sklaven als Werkzeug anhand handwerklicher Arbeitsteilung entwickelt. Dessen Stellung entspricht vielmehr der epitropos, wiederum in Analogie zu Xenophon, wo der Aufseher, nicht der Herr, über technische Sachkenntnis verfügt. 433 434 435 436
Pol. 3, 1277 a 33–37: οὐ γὰρ ἔτι συμβαίνει γίνεσθαι τὸν μὲν δεσπότην τὸν δὲ δοῦλον. Vgl. Schütrumpf 1991, 236 f. und 240 f. und Pellegrin 2013, 98. So lässt sich ex negativo aus Aristot. pol. 1, 1253 b 25 schließen. Vgl. die Aufzählung der Gebiete der Praxis der Erwerbskunst in Kapitel 11 von Politik I.
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Aristoteles wiederholt am Ende seiner Diskussion, der Herr soll seinen Sklaven „ein gewisses Maß an Tüchtigkeit“ (τῆς τοιαύτης ἀρετῆς) lehren, damit der diszipliniert und tatkräftig sei, aber er solle ihn nicht dessen eigentliche Arbeiten lehren.437 Der Abstraktionsgrad der aristotelischen Behandlung der Ökonomik entspricht der sozialen Stellung seiner Adressaten, die bloß über allgemeines Herrschaftswissen, nicht über spezielles Fachwissen verfügen mussten; das galt selbst dann, wenn ihr Vermögen aus der Verwertung des Humankapitals ihrer Sklaven stammte – auf theoretischer Ebene gibt Aristoteles’ Darstellung der statusspezifischen Arbeitsteilung die Organisation der Sklaven-Werkstätten, wie sie aus Athen bekannt ist, korrekt wieder (vgl. Kap. 12.3.4). Der Hausherr war Eigentümer der Sklaven, stellte das Kapital zur Verfügung und hatte die kaufmännische Leitung inne. Die technische Anleitung und Kontrolle der Arbeit überließ er hingegen einem unfreien (oder freigelassenen) Aufseher, die Arbeit selbst Handwerkssklaven, die, um Aristoteles’ eigene Worte zu gebrauchen, einem Aufseher untergeordnet waren wie die Gehilfen dem Handwerksmeister.438 In diesem Sinne ist Aristoteles’ Feststellung zu verstehen, dass die Sklaven für den Hausherrn nicht Werkzeuge zur Herstellung sind, sondern Werkzeuge der Erwerbskunst zum Zweck der Haushaltsführung. Aristoteles behandelt allerdings nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt der Sklaverei, sondern auch ihre moralisch-rechtliche Dimension. Mit dem Hinweis auf eine entsprechende Kontroverse hatte Aristoteles die Behandlung der Herr-Sklave-Beziehung begonnen und diesen Faden nimmt er wieder auf, nachdem er den Sklaven und die Kunst seiner Führung (despotikē) definiert hat. Dabei zeigt sich, dass sogar seine Positionierung in dieser ethischen Debatte einen wirtschaftlichen Bezug hat. Die Diskussion des Sklaven als Werkzeug schließt mit der Bemerkung, der Sklave sei als Besitztum ein vom Körper losgelöster Teil seines Herrn. Folglich sei derjenige Sklave, der „von Natur“ (φύσει) dazu bestimmt sei, Besitz eines anderen zu sein. Aristoteles fragt nun: Existiert überhaupt irgendjemand, der in diesem Sinn von Natur aus Sklave ist, und ist es für irgendwen angemessen und gerecht, Sklave zu sein oder ist die Sklaverei gänzlich widernatürlich? Die selbstgestellten Fragen beantwortet Aristoteles umgehend selbst: Herrschen und Beherrschtwerden gehören nicht nur zu den notwendigen Dingen, sondern auch zu „den vorteilhaften“ (τῶν συμφερόντων) und manche Menschen gehörten von Geburt zu einer der beiden Gruppen. Die Herrschaft über den naturgemäßen Sklaven gleiche derjenigen über ein domestiziertes Tier: Wie das domestizierte Tier könne der Sklave die Vernunft eines anderen wahrnehmen, ohne sie selbst zu besitzen und wie bei diesem bestehe der Nutzen im Gebrauch seiner Körperkraft.439 Wo Herr und Sklave ihre naturgemäßen Rollen einnehmen, bestehe
437 Aristot. pol. 1, 1260 a 32–b 6. 438 Aristot. pol. 1, 1253 b 33–1254 a 1; vgl. Met. 1, 981 a 24–b 2. 439 Pol. 1, 1254 a 11–26.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
nicht nur gegenseitiger Nutzen, sondern sogar gegenseitige Freundschaft (philia).440 Soweit so eindeutig und einfach, scheint es: „Es ist somit offenkundig, dass einige von Natur aus Freie sind, andere hingegen Sklaven, und für diese ist die Sklaverei vorteilhaft und gerecht.“441 Doch sogleich wird die Sache viel verworrener. Bereits vor diesem Fazit gesteht Aristoteles die Schwierigkeit ein, die Unterscheidung anhand äußerer Merkmale zu treffen. Zwar „wolle“ die Natur die Körper von Freien und Sklaven unterschiedlich gestalten – den einen für die Verrichtung notwendiger Arbeiten, den anderen für ein Leben als Stadtbürger –, doch gelinge ihr dies nicht immer. Häufig trete das Gegenteil ein, weshalb es freie Körper mit sklavischer Seele gebe und umgekehrt. Die „Anmut der Seele“ (τό τῆς ψυχῆς κάλλος) lasse sich weniger leicht erkennen als die des Körpers.442 Andere externe Kriterien versagen ebenfalls. Aristoteles nutzt die Wiedergabe verschiedener, anonymer Standpunkte, um jedes potentiell empirisch prüfbare Kriterium als für sich genommen nicht ausreichend zurückzuweisen. Jene, welche die Sklaverei als Gewaltherrschaft beklagten, weil manche bloß durch Versklavung im Krieg „dem Gesetz nach“ (κατὰ νόμον) zu Sklaven wurden, hätten nur teilweise recht. Denn diese Gewalt hätte ohne Tüchtigkeit (aretē) kaum ausgeübt werden können. Dennoch sei die Versklavung im Krieg nicht in jedem Fall gerecht, denn es gebe auch ungerechte Kriege – und niemand wolle „Personen edelster Abstammung“ (τοὺς εὐγενεστάτους) Sklaven nennen.443 Sogar die Lösung, nur Barbaren für naturgemäße Sklaven zu halten, lässt Aristoteles nur annäherungsweise gelten, weil sich seelische Qualität eben nicht zuverlässig vererbe, weder bei Griechen noch bei Barbaren.444 Körpergestalt, Kriegsglück und Abstammung scheiden als verlässliche empirische Kriterien also aus. Die Interpretation von Aristoteles’ Theorie der Sklaverei wird jedoch noch komplizierter, denn scheinbar widerspricht sich Aristoteles selbst.445 Nachdem Aristoteles den naturgemäßen Sklaven zunächst mit dem Nutztier, dem die vernünftige Einsicht (logos) fehle, gleichsetzt, erklärt er gegen Ende von Politik I, man müsse den Sklaven eine gewisse ihm zukommende Tugend (arētē) lehren, und es sei falsch, ihn von vernünftiger Unterredung (logos) auszuschließen und ihm nur Anweisungen geben – beim Sklaven sei sogar mehr an die Einsicht zu appellieren als bei
440 Pol. 1, 1255 b 12–14. 441 Pol. 1, 1255 a 1 f.: τοίνυν εἰσὶ φύσει τινὲς οἱ μὲν ἐλεύθεροι οἱ δὲ δοῦλοι, φανερόν, οἷς καὶ συμφέρει τὸ δουλεύειν καὶ δίκαιόν ἐστιν. 442 Pol. 1, 1254 b 27–39. 443 Pol. 1, 1255 a 5–28. 444 Pol. 1, 1255 a 28–b 4; diese Nuancierung ist bemerkenswert, weil Aristoteles zu Beginn seiner Abhandlung Sklaven und Barbaren schlichtweg gleichgesetzt hatte (vgl. 1252 b 7–9) und in Politik VII dem klimatischen Determinismus seiner Zeit folgt; dazu Pellegrin 2013, 106 f. und Lüpke 2019, 131 f. 445 Vgl. Millett 2007, 183–188 für eine Sammlung und Diskussion der Widersprüche.
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Kindern.446 Ebenso wenig verträgt sich die Gleichsetzung des Sklaven mit dem auf die Wahrnehmung beschränkten Nutztier damit, dass Aristoteles ihn außerdem mit dem handwerklichen Fachmann gleichsetzt, der nach Aristoteles’ Rangordnung des Wissens über Erfahrung oder sogar über Fachverständnis verfügt. Zu den logischen Widersprüchen kommen die praktischen hinzu: Wenn es für den naturgemäßen Sklaven gerecht und vorteilhaft ist, Besitz eines Anderen zu sein, wieso heißt es dann in Politik VII, es sei richtig, allen Sklaven die Freiheit als Preis auszuloben?447 Und wie kann Freundschaft zwischen Sklaven und Herrn bestehen, wenn diese, wie es in der Nikomachischen Ethik heißt, in einer despotischen Herrschaftsbeziehung ausgeschlossen ist?448 Hinzu kommen die Widersprüche zwischen Aristoteles’ Lehre und seinem Leben: Hermias, Aristoteles’ Patron und Schwiegervater in Assos, war ein Freigelassener; Aristoteles selbst schenkte mehreren seiner Haushaltssklaven testamentarisch die Freiheit.449 Diese (scheinbaren?) Widersprüche haben häufig zu dem Urteil geführt, Aristoteles’ sonst so klarer analytischer Geist sei hier durch seinen ideologischen Standpunkt getrübt worden.450 Hier lässt sich eine an sich nahe liegende, aber zu selten gestellte Frage stellen: Hatte Aristoteles, der als Sklavenbesitzer für Sklavenbesitzer schrieb, überhaupt die Absicht, eine ideologische Apologie einer Institution zu schreiben, die von niemandem intellektuell oder praktisch infrage gestellt wurde? Aristoteles’ Andeutungen über die Teilnehmer an der Debatte über die Natürlichkeit der Sklaverei machen deutlich, dass es sich um eine Diskussion unter Gelehrten handelte, deren Hauptproblem nicht die Sklaverei im Allgemeinen, sondern speziell die Versklavung
446 Aristot. pol. 1, 1260 a 33–b 7; dazu Schütrumpf 1991, 261 f. und 370. 447 Pol. 7, 1330 a 32 f.; die Äußerung gehört zu einer nicht eingelösten Ankündigung, sich zum Gebrauch von Sklaven zu äußern; Laurenti 1966, 634–636 erklärt den Widerspruch so, dass sich diese Äußerung bloß auf Sklaven ‚per Gesetz‘ beziehen könnte; dagegen wendet Schütrumpf 1991, 289 ein, dass die Forderung sich auf die Sklaven in der idealen Stadt bezieht, die naturgemäß angelegt sein soll; noch kurz zuvor greift Aristoteles auf seine Theorie des Herrn-Sklaven-Verhältnisses aus Buch I zurück, vgl. 7, 1325 a 23–30. 448 Aristot. eth. Nic. 8, 1161 a 32–b 8 heißt es, zwischen Herrscher und Beherrschtem könne es keine Freundschaft geben, soweit der Beherrschte „Werkzeug“ (organon) sei; insofern der Sklave zugleich „Mensch“ (anthrōpos) ist, sei Freundschaft mit ihm allerdings möglich. 449 Diog. Laert. 5.14–16; dazu Westermann 1955, 27: „In practice the manumission of his own slaves as preserved in his will completely contradicted his theoretical exposition of the sociological setting of slavery.“ Dagegen merkt Schütrumpf 1991, 289 an, dass Aristoteles seine eigene Sklaven nicht als Sklaven von Natur betrachtet haben müsste. 450 Ste. Croix 1988, 28: „[Aristotle’s] treatment of natural slavery is the most inadequate section of his great work, the Politics, and perhaps the feeblest part of his whole magnificent philosophical output.“ Schofield 1990, 14 meint, man müsse Aristoteles’ Theorie mit „interpretative charity“ behandeln und bezeichnet die Identifizierung von Barbaren mit Sklaven als „a nasty case of false consciousness“ (ebd. 22); Garnsey 1996, 107: „Natural slavery as presented by Aristotle is a battered shipwreck of a theory.“ Vgl. ebd. 125–127.
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von Griechen war.451 Millett hat vorgeschlagen, die Widersprüche und Spannungen von Aristoteles’ Theorie der Sklaverei nicht als Zeichen für intellektuelles Versagen, sondern als Zeugnis für den der Institution der Sklaverei inhärenten Widerspruch zu sehen, für die es keine intellektuelle Lösung geben kann.452 Die Behandlung von Menschen als Eigentum verlange zum einen, den Sklaven prinzipiell die Humanität abzusprechen und die Überlegenheit des Herrn beständig symbolisch zu manifestieren. Sie erfordere es jedoch zum anderen, den menschlichen Eigensinn des Sklaven anzuerkennen, um sein Eigentumsrecht vor dessen Widerstand (Flucht, Sabotage) zu schützen und sich seiner Mitarbeit zu versichern.453 Ich stimme Milletts Vorschlag zu, allerdings mit einer Einschränkung. Millett geht davon aus, dass Aristoteles die Widersprüche gar nicht auflösen konnte. Genau das ist ihm aber relativ gut gelungen, zumindest rhetorisch. Seine Diskussion der unterschiedlichen Positionen zur Sklaverei entwickelt eine logisch konsistente Theorie der naturgemäßen Sklaverei und eliminiert dabei zugleich jedes empirische Kriterium mit dem sich prüfen ließe, ob jemand ‚naturgemäßer Sklave‘ im Sinne dieser Theorie sei. Aristoteles schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe: Seine eindeutige, rigorose Theorie der Sklaverei entsprach dem kollektiven Bedürfnis der Bürger, sich symbolisch von den Sklaven abzugrenzen, die in ihren Häusern und Städten so präsent waren. Zugleich bot sie – und das ist bisher übersehen worden – rhetorische Schlupflöcher für Hausherrn, die zur Steigerung wirtschaftlicher Effizienz soziale Normen missachteten. Aristoteles’ Theorie der naturgemäßen Sklaverei diente nicht so sehr der Rechtfertigung der Institution der Sklaverei selbst; sie bedurfte in einer Gesellschaft der Sklaverei keiner speziellen Rechtfertigung; sie diente der Rechtfertigung unterschiedlicher Formen der Behandlung von Sklaven, ein gerade in Gesellschaften der Sklaverei akutes Problem. Die ‚get-out-clauses‘, wie Millett die Schlupflöcher in Aristoteles’ Theorie nennt, dienten nicht dem kognitiven Selbstbetrug, sondern der rhetorischen Rechtfertigung angesichts gesellschaftlicher Erwartungen an einen Sklavenhalter. Eine solche Erwartung war etwa die, dem paternalistischen Herrschaftsideal gerecht zu werden, das auch die literarische Ökonomik vertritt, und seine Sklaven als Hausgenossen zu behandeln. Das bedeutete, sie nicht aus Geiz hungern zu lassen oder aus Gier über die Maßen zu
451
Plat. rep. 5, 469b–c, 470a–c bezeichnet Kriege zwischen Griechen als Bürgerkrieg (stasis) und fordert ein Ende der Versklavung von Griechen; stattdessen solle man gemeinsam gegen die Barbaren Krieg führen; Alkidamas’ Rede über die Freiheit der Messenier (Messeniakos), enthielt dem einzigen Fragment zufolge eine allgemeine Feststellung zur natürlichen Freiheit aller Menschen, fr. 2 Sauppe (= Aristot. rhet. 1, 1373 b 17 f.); bei der Bewertung dieses Fragments sind allerdings Anlass (Befreiung der Messenier) und Format (Festrede) zu berücksichtigen, zumal die Messenier als Griechen galten; vgl. Laurenti 1966, 622, der darauf hinweist, dass die Idee des nomos-physisGegensatzes menschliche Institutionen generell als Konvention beurteilte. 452 Millett 2007, 188–192, hier 189. 453 Millett 2007, 196–199.
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schinden.454 Aristoteles’ Theorie bestätigte diese Norm und bot zugleich eine rationalisierte Rechtfertigung dafür, warum man nicht alle Sklaven die gleiche Fürsorge zukommen ließ, sondern einige wie Arbeitstiere behandelte.455 Aristoteles’ Theorie bot jedoch auch eine Rechtfertigung für das umgekehrte Verhalten. Xenophons Oikonomikos und die pseudo-aristotelische Oikonomika I empfehlen zwischen den Sklaven nicht nur durch Strafen und die zugewiesenen Arbeiten zu differenzieren, sondern auch durch entsprechende Privilegien bei der Versorgung, ehrenvollen Behandlung und Freizügigkeit (vgl. Kap. 6.3.3). Tatsächlich waren die privilegierten Sklaven in Athen und anderswo eine relativ gut sichtbare Minderheit der Sklaven, weil sie vor allem im städtischen Zentrum lebte und arbeitete.456 Die Privilegierung von Sklaven war für den einzelnen Haushalt ein nützliches Mittel, um die Produktivität zu steigern; aber für die Bürgerschaft als Kollektiv gefährdete es die Standesunterschiede. Am bekanntesten ist die indigniert-hyperbolische Klage PseudoXenophons über den Reichtum und die Freizügigkeit der athenischen Sklaven, die ausdrücklich mit dem wirtschaftlichen Nutzen ihrer Besitzer erklärt wird.457 Die Äußerung ist eine polemische Übertreibung. Sie deckt sich allerdings mit dem, was Eugene Genovese, nicht unbedingt ein Apologet der Sklaverei, über die Folgen der ökonomisch motivierten Privilegierung von Sklaven in den nordamerikanischen Südstaaten schreibt: „In short, all the measures encouraging their economic performance had the disadvantage of making them considerably less servile than slaves were supposed to be.“458 Derartige Äußerungen lassen sich sammeln, auch von einem ehemaligen Sklaven wie Frederick Douglass.459 Angesichts einer analogen Problematik im klassischen Griechenland bot Aristoteles’ Annahme, dass auch ein Sklave laut Gesetz seiner Natur nach ein Freier sein könne, eine raffinierte Rationalisierung dafür, ihn zu privilegieren und „wie einen Freien“ zu behandeln, wie es Xenophon ausdrückt. Mit seiner Theorie der naturgemäßen Sklaverei gab Aristoteles seinen Rezipienten also ein doppelt nützliches Werkzeug in die Hand. Wie die grenzenlose Gelderwerbskunst existiert auch die uneingeschränkte Sklavennatur nicht in der Wirklichkeit, bietet aber Orientierung in der Wirklichkeit. Als Idealtyp gibt sie dem Herrn einen Grenzwert an die Hand, um das Verhalten seiner realen Sklaven zu bewerten und ihre unterschiedliche Behandlung gegenüber seinen Mitbürgern zu rechtfertigen. Das
454 Vgl. Kap. 12.3.6 mit den ebd. zitierten Belegen. 455 Vgl. Lüpke 2019, 133–140: Indem Aristoteles neben natürlicher Veranlagung auch Gewöhnung und Vernunft als Faktoren berücksichtigte, schaffte er das Modell eines „flexiblen Kontinuum[s] der Verwirklichung der Menschennatur“; Lüpke stellt die philosophische Schlüssigkeit dieses Modells heraus, aber behandelt nicht sein rhetorisches Potential. 456 Vgl. Kap. 12.3.2 und 12.3.4. 457 [Xen.] Ath. pol. 1.11 f. 458 Genovese 1976, 393. 459 S. Kap. 12.3.6.
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Spektrum möglicher Rangunterschiede zwischen den Sklaven im Haus, das Aristoteles’ Theorie zulässt, korrespondiert dabei mit der real beobachtbaren sozialen Differenzierung der Sklaven großer Haushalte.460 6.3.3 Effizienzsteigerung als Zweck der Arbeitsteilung Aristoteles vermeidet genauere Anweisungen über den ‚Gebrauch von Sklaven‘, die in den Bereich der Praxis der Hauswirtschaft fallen würden. Die pseudo-aristotelische Ökonomik hingegen gibt praktische Ratschläge, die Xenophons Äußerungen zur Personenführung sehr ähnlich sind. Die Diskussion von Xenophons Ausführungen zur Leitung des Hauses haben bereits das Thema Arbeitsteilung angerissen, denn Xenophon denkt sich die Haushaltung als arbeitsteiligen Prozess. Jeder im Haus hat eine ihm eigene Aufgabe (ergon). Ergon des Herrn und der Herrin ist es, jedem das ihm zukommende ergon zuzuweisen und dessen Ausführung zu kontrollieren.461 Xenophons Interesse an der wirtschaftlichen Dimension der Arbeitsteilung kommt darin zum Ausdruck, dass er durchgehend von ergazesthai spricht und die Sklaven nicht entsprechend ihrer sozialen Status als douloi usw. bezeichnet, sondern entsprechend ihrer wirtschaftlichen Funktion als ergatai, „Arbeiter“.462 Der Zweck von Ordnung und Organisation ist im Oikonomikos unzweifelhaft: Effizienz.463 Xenophon thematisiert zuerst die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und begründet sie anthropologisch, wobei er bei der Ehe beginnt.464 Der Mann sei wegen seiner körperlichen Konstitution für die Tätigkeiten außerhalb des Hauses zuständig. Die ängstlich veranlagte Frau hingegen bewahre im Inneren des Hauses, was der Mann einbringt. Der Mann verteidige das Haus nach außen. Diese Aufgabenverteilung sei naturgemäß und althergebracht, mithin göttlich gewollt. Dieser kosmisch-normativen Begründung wird umgehend eine Nützlichkeitserwägung hinzugefügt. Mann und Frau seien wie „Vermögenspartner“, die ihr Kapital zusammenlegen, sich gegenseitig vertrauen und durch Kooperation Erfolg haben.465 Die geschlechtsspezifische Arbeits-
460 S. Kap. 12.3. 461 Xen. oik. 7.35–37; 21.2–10. 462 Wood 1988, 48–51 hat aufgrund dieser Bezeichnung geschlossen, dass unsicher sei, ob Xenophon Kaufsklaven meine; allgemein läge in der griechischen Sprache eine „linguistic confusion“ in der Bezeichnung von Sklaven vor; beides ist falsch: Im Oikonomikos geht es klarerweise um gekaufte Sklaven, vgl. 3.10, 4.1, 7.41; die vielfältigen Bezeichnungen von Sklaven sind kein Zeichen von Verwirrung, sondern von Differenzierung; vgl. zur griechischen Sklaventerminologie Gschnitzer 1964, bes. 25–28, und Lewis 2018b, 295–305. 463 So zuletzt mit Nachdruck Föllinger/Stoll 2018. 464 Xen. oik. 7.18–34. 465 Oik. 7.4–13.
6.3 Herrschaft und Arbeitsteilung
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teilung wird auf die unfreien Hausgenossen ausgedehnt, die ebenfalls räumlich getrennte Aufgaben und Wohnbereiche haben.466 Die Trennung der Geschlechter endet dort, wo sie unpraktisch wäre: Die Hausherrin gibt auch den männlichen Arbeitern Anweisungen und begibt sich in deren Quartiere, um sie bei Krankheit zu pflegen.467 Die zweite Form der Arbeitsteilung ist statusspezifisch – Xenophon widmet sich nicht der technischen Spezialisierung, sondern der hierarchischen. An der Spitze steht der Hausherr als Herr über Hausgenossen und Hausvermögen (despotēs und kyrios), unter ihm sein Stellvertreter (ein oikonomos resp. epitropos), ganz unten die einfachen Arbeiter (ergatai). Xenophon konzentriert sich dabei auf die Behandlung des Verwalters/Aufsehers, weil der Hausherr nur mit ihm regelmäßig engeren Kontakt hat (s. Kap. 6.3.1).468 Die pseudo-aristotelische Oikonomika I gleicht Xenophon hier bis in die Details. Sie unterscheidet zwei Arten von Sklaven, „Aufseher und Arbeiter“ (ἐπίτροπος καὶ ἐργάτης). Gleich nach dem Kauf junger Sklaven sollte man mit der Erziehung derjenigen beginnen, denen die „freiheitlicheren Arbeiten zugewiesen“ (τὰ ἐλευθέρια τῶν ἔργων προστακτέον) werden – die abgestufte Privilegierung von Sklaven wird also immer mitgedacht.469 Man soll mit den Sklaven so umgehen, dass sie weder frech noch nachlässig werden. Denen, „die eher Freien ähneln“, soll man Anerkennung zukommen lassen, den Arbeitern hingegen „reichliche Ernährung“. Wein soll es gar nicht oder nur selten geben.470 Wir finden hier gewissermaßen Aristoteles’ Theorie der naturgemäßen Sklaverei in Anwendung. Es folgt eine Dreiteilung der Güter, mit deren Zuteilung oder Entzug man Sklaven disziplinieren kann. Arbeit, Strafe und Nahrung. Alles drei muss im rechten Maß vorhanden sein. Wer bloß isst, der wird übermütig, wer kein Essen hat, kann nicht arbeiten: „Denn Unbezahlte lassen sich in keiner Weise führen, dem Sklaven aber ist Nahrung sein Lohn.“471 Die differenzierte Sanktionierung dient wie bei Xenophon zur Etablierung einer Hierarchie unter den Sklaven, um diese zur Arbeit zu motivieren. Nahrung, Kleidung, Arbeitspausen und Strafen sollen wie die Medizin des Arztes verabreicht werden. Schließlich soll man allen als Ziel die Freilassung setzen, mit der Erklärung, das steigere den Arbeitseifer der Sklaven. Weitere Mittel, sich die Sklaven treu zu halten, ist
466 Oik. 9.5. 467 Oik. 7.37; Pomeroy 1994, 281 meint, das Betreten der Männerbereiche sei unproblematisch gewesen, weil die Sklaven mehr als Eigentum denn als Männer betrachtet wurden; gegen diese Annahme spricht allerdings 9.5; nicht Ideologie, sondern Pragmatik ist hier ausschlaggebend. 468 Zur Behandlung der Sklaven bei Xenophon vgl. Klees 1975, 64–101 und Pomeroy 1989. 469 [Aristot.] oec. 1, 1344 a 28 f. 470 Oec. 1, 1344 a 29–34. 471 Oec. 1, 1344 b 3 f.: ἀμίσθων γὰρ οὐχ οἷόν τε ἄρχειν, δούλῳ δὲ μισθὸς τροφή.
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die Erlaubnis zur Kinderzeugung und religiöse Festtage und Erholungen. Denn die Sklaven bedürften solcher Ablenkungen mehr als die Freien.472 Der paternalistische Ton dieser Ratschläge kann nicht davon ablenken, dass ihr Zweck wirtschaftlich ist. Die Sklaven sollen zu ihren produktiven Aufgaben erzogen werden, man versichert sich der Treue des Aufsehers durch Respekt, der Arbeitskraft des Arbeiters durch ausreichende Nahrung. Alle Mittel dienen dazu den Sklaven zu motivieren, sich abzumühen (ponein). Am deutlichsten wird der wirtschaftliche Zweck in der Gleichsetzung von Nahrungsrationen mit Lohnzahlungen. Die statusspezifische Arbeitsteilung zwischen Herrn und Sklaven wird also nicht ausschließlich als Zwangsverhältnis verstanden, sondern auch als ökonomische Kooperation, bei der Lohn gegen Arbeit getauscht wird.473 Dass diese Kooperation letztlich auf gewaltsamen Zwang beruht, steht auf einem anderen Blatt. Es ist angezweifelt worden, dass das hier dokumentierte Interesse an statusspezifischer Arbeitsteilung im Interesse an wirtschaftlicher Nutzenmaximierung begründet sei. Schließlich begründen Xenophon und Aristoteles den Einsatz von Sklaven als Aufseher damit, dass das den Bürger für die Politik oder die Philosophie abkömmlich mache. Dieselbe Erklärung gibt Plutarch dafür, dass Perikles seinem Aufseher Euangelos die Haushaltsführung überließ.474 Setzten reiche griechische Bürger also aus Statusgründen Sklaven ein, obwohl es ökonomisch irrational war? Diese Position überzeugt nur auf den ersten Blick.475 Zweifellos schätzten griechische Hausväter Müßiggang und Teilhabe am Regiment mehr als Hauswirtschaft. Nur wäre der Besitz von Sklaven sicher das ungeeignetste Mittel gewesen, wenn es lediglich um Abkömmlichkeit gegangen wäre. Sklaven waren ein „troublesome property“, wie Kenneth Stampp sein Kapitel über den Widerstand der Sklaven gegen ihre unentgeltliche Ausbeutung in den Südstaaten betitelt.476 Stampp zitiert mit dieser Wendung den Brief eines Pflanzers aus North Carolina an seine Ehefrau, aber er hätte auch Platons Gesetze zitieren können, wo die Sklaven wegen ihres stets latenten Widerstandswillens als „mühseliges Besitztum“ (χαλεπὸν τὸ κτῆμα) bezeichnet werden.477 Der Ankauf von Sklaven war eine riskante Investition, die sich nur auszahlte, wenn man mit persönlichem Aufwand und viel Sorgfalt für Erziehung, Anleitung, Kontrolle, Bestrafung und Belohnung sorgte. Die vielfältigen Ratschläge von Xenophon und Pseudo-Aristoteles
472 Oec. 1, 1344 b 4–21; der Vergleich mit der neuen Welt zeigt die Relevanz des letzten Ratschlags; dort war die Geselligkeit an Festtagen sehr wichtig für die Sklaven, weil sie den Freiraum bot, um soziale Beziehungen untereinander zu pflegen, Genovese 1976, 569–579. 473 Vgl. Descat 2004b, 152; die Gleichsetzung von Arbeitslohn und Sklavenration ist auch ein Element moderner ökonomischer Theorien der Sklaverei; Barzel 1977, bes. 89–96. 474 Plut. Perikles 16.3–5. 475 Zur Frage der Rentabilität vgl. Kap. 12.1. 476 Stampp 1956, 86–140. 477 Plat. leg. 6, 777b–c; vgl. Lüpke 2019, 79.
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rührten eben daher, dass die richtige Sklavenführung eine Kunst war.478 Hinzu kamen die Risiken durch Krankheit, Flucht, Kriegsraub und Geschäftsschulden, die der Herr als Eigentümer trug. Wieviel bequemer wäre es gewesen, die Arbeit Lohnarbeitern zu überlassen oder Pächtern, um so die Risiken und Verwaltungskosten abzuwälzen. Sklavenbesitz hingegen war nicht bequem, er war ertragreich (dazu ausführlich Kap. 12.3). Aus genau diesem Grund war er für die Adressaten der Ökonomik interessant, deren hohe Ausgaben für die Statuskonkurrenz eine effiziente und rationalisierte Hauswirtschaft erforderten. Xenophon sieht den Effekt besserer Haushaltsführung dementsprechend in der effizienteren Arbeit von Sklaven. Sein Verständnis der wirtschaftlichen Vorteile von Arbeitsteilung zeigt seine berühmte Bemerkung zur Arbeitsteilung in Städten. In großen Städten sei die Spezialisierung der Handwerker höher, weil die Arbeitsauslastung aufgrund der Nachfrage höher sei. Xenophon überträgt dieses Erklärungprinzip auf den Haushalt, nämlich auf den Hof des Königs Kyros, der wiederum Vorbild für den griechischen Hausherrn ist.479 Diese Passage ist als Beleg dafür gedeutet worden, dass man in der Antike lediglich erkannte, dass Arbeitsteilung die Qualität steigere, aber nicht, dass sie auch die Produktivität steigere.480 Das lässt sich leicht widerlegen. Platons Beschreibung der Entstehung der Stadt in der Politeia ist ein zu Recht zitierter Gegenbeleg. Die Stadt entsteht, weil die Menschen, die für sich genommen nicht autark sind, ihre Bedürfnisse in arbeitsteiliger Kooperation befriedigen. Der Vorteil ist neben der Ausnutzung individueller Fähigkeiten und Erfahrungen auch eine Zeitersparnis. Weil der Händler den Verkauf übernimmt, muss der Bauer nicht „untätig“ auf dem Markt sitzen und kann sich wieder der Produktion widmen.481 Xenophon selbst hat den Effekt der Produktivitätssteigerung ebenfalls gesehen.482 In der Kyrupädie stiftet König Kyros zwischen Chaldäern und Armeniern einen Frieden zu gegenseitigem Vorteil. Die Chaldäer, denen es an Land mangelt, dürfen die brachliegenden Äcker der Armenier gegen eine Pachtgebühr bestellen. Die Armenier wiederum dürfen ihr Vieh in den Bergen der Chaldäer weiden und entrichten dafür ebenfalls Pachtbeträge. Xenophon benutzt die gleiche Sprache wie Demosthenes, wenn dieser den Betrieb einer Werkstatt beschreibt:483 Das „untätige Land wird wieder produktiv tätig“ (τὴν νῦν ἀργὸν οὖσαν γῆν ἐνεργὸν γενέσθαι), das „steigert die Ein-
478 Am Schluss des Oikonomikos erklärt es Xenophon gar zu einem Gottesgeschenk (τὸ ἀγαθὸν […] θεῖον) über bereitwillige Menschen zu herrschen, weil persönliche Tüchtigkeit allein dies nicht garantieren könne, Xen. oik. 21.11 f. 479 Kyr. 8.2,5 f. 480 Finley [1973] 1993, 158 f.; allgemein Baloglou 1991, 40 f. 481 Plat. rep. 2, 369b–372a; in diesem Sinn interpretiert etwa von Schofield 1993, 187–193, Harris 2002b, 71–73 und Bresson 2016, 187 f.; unklar ist mir, wieso Helmer 2010, 42–44 mit ausdrücklichem Bezug auf diese Stelle das Gegenteil behauptet, ähnlich Greco 2009, 59–64. 482 Lowry 1987, 68–73. 483 S. Kap. 13.3.4.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
künfte“ (αὐξάνεσθαι τὴν πρόσοδον) und „sie ziehen großen Nutzen ohne jegliche Mühen“ (πολλὰ γὰρ ἂν ὠφελεῖσθαι οὐδὲν πονοῦντες), resp. „großen Nutzen im Gegenzug für das Einräumen eines kleinen Nutzens“ (εἰ μέλλοις μικρὰ ὠφελῶν […] πολὺ πλείω φελήσεσθαι). Steigerung des Nutzens ohne Steigerung der Mühen: Xenophons regionale Spezialisierung bezweckt Effizienzsteigerung. Der Perserkönig nimmt in dieser Kooperation ebenfalls eine wichtige Rolle ein. Denn er garantiert als Schutzmacht, dass beide Seiten ihre Arbeit „in Sicherheit“ (ἀσφαλῶς) ausführen können, was die arbeitsteilige Organisation überhaupt erst ermöglicht.484 Die Idee, dass der Schutzherr produktiver Arbeiter, Garant und Nutznießer der produktiven Arbeitsteilung ist, findet sich auch in den Memorabilien. Nachdem Aristarchos seine weiblichen Hausangehörigen erfolgreich in Arbeit gesetzt hat, beschweren sie sich, dass nur er selbst müßiggehe. Sokrates empfiehlt, auf diesen Vorwurf mit einer bekannten Fabel zu antworten. Als ein Schaf seinen Herrn fragte, warum er die Erträge der Schafe (Wolle, Lämmer und Käse) mit dem Hund teile, obwohl der gar nichts einbringe, warf der Hund ein, er schütze die Schafe vor Dieben und Wölfen und nur deshalb könnten sie ohne Furcht weiden.485 Das pseudo-historische Exempel und die traditionelle Fabel bieten keine moderne Theorie der Arbeitsteilung. Sie zeigen allerdings ein pragmatisches Verständnis der produktiven Vorteile von Arbeitsteilung, selbst wenn deren Produkte überproportional den Mächtigen zugute kommen. Das heißt nicht, dass die Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz der einzige Grund für die Fokussierung auf statusspezifische Arbeitsteilung war. Der Einsatz von Sklaven war auch deshalb attraktiv, weil er es dem Eigentümer erlaubte, sich als paternalistisch gebietender Hausvater zu inszenieren und die eigene Person von anrüchigen Geschäften und körperlicher Arbeit zu distanzieren. Wie die gewinnorientierte Landwirtschaft war auch die statusspezifische Arbeitsteilung also deshalb besonders empfehlenswert, weil sie das Adelsdilemma von Ehre und Erwerb, wenn nicht aufheben, so doch abschwächen und kaschieren konnte. 6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit? Kein Schlagwort ist in der modernen Forschung enger mit dem Konzept der Hauswirtschaft verbunden als ‚Autarkie‘. Bereits Rodbertus sprach mehrfach vom ‚autarken Oikos‘ und Bücher erweiterte diesen Begriff zum Modell der ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ (s. Kap. 1.1). Dieser Sprachgebrauch entspricht dem modernen Verständnis von Autarkie als wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit eines abgeschotteten Systems. Deshalb wurde um die Bedeutung des Autarkie-Ideals für die antike Wirtschaft eben-
484 Xen. Kyr. 3.2,17–22. 485 Mem. 2.7,13 f.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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so gestritten wie um den Begriff der Hauswirtschaft selbst. Laut Finley teilten selbst die Großgrundbesitzer, die am Geldverkehr partizipierten, den „‚bäuerlichen‘ Ehrgeiz zur Selbstversorgung“ und handelten dementsprechend.486 Michel Austin und Pierre Vidal-Naquet bezeichnen „Autarkie“ als Ideal des Oikos bei Homer und Hesiod und lassen dabei offen, ob dieses Ideal in späterer Zeit weiter existierte.487 Eich, Cohen und andere sahen in der Entwicklung der Verkehrswirtschaft in klassischer Zeit gerade das Ende der Autarkie.488 Die abweichende Beurteilung der Autarkie lässt sich anhand der Indices messen. Bei Finley gibt es sieben Verweise zu „Autarkie“, bei Austin und VidalNaquet sogar elf, bei Eich immerhin noch vier, in der Cambridge Economic History keinen. Die Debatte über das Autarkie-Streben griechischer Haushalte ging, wie die Debatte über die Hauswirtschaft insgesamt, von insgeheim geteilten Vorannahmen aus. Beide Seiten der Debatte bezogen sich auf den modernen Begriff von Autarkie. Eine theoretische Problematisierung des Begriffs selbst oder eine systematische wort- und ideengeschichtliche Untersuchung fand nicht oder nur in überblickartiger Form statt. Allein für Aristoteles’ Ethiken wurde die Verwendung von autarkeia eingehend untersucht, allerdings mit philosophiegeschichtlichem Schwerpunkt.489 Wie die entsprechenden Lexikon-Artikel zeigen, war ein Merkmal der bisherigen Diskussion die ungenaue Gleichsetzung des modernen Begriffs „Autarkie“ mit dem antiken Wort autarkeia.490 Die folgende Untersuchung geht die Frage nach einem antiken griechischen ‚Autarkie-Ideal‘ daher wortgeschichtlich an, um die suggestive aber irreführende Vermischung antiker und moderner Begrifflichkeit zu vermeiden. Im Fokus stehen das
486 487 488 489
Finley [1973] 1993, 124 f. Austin/Vidal-Naquet [1972] 1984, 33 f. und 38. S. Kap. 1.1 mit den Belegen ebd. Zur autarkeia bei Aristoteles vgl. Widmann 1967 mit einem Überblick über die Prosa-Verwendung des Wortes von Herodot bis zur Stoa, ebd. 27–33, und Kampert 2003; Wilpert 1950 konzentriert sich ebenfalls auf die ethische Dimension des Begriffs; eine knappe allgemeine Wortgeschichte bietet Krischer 2000; Wheeler 1955 behandelt das Ideal wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit bei Platon und Aristoteles oberflächlich; er resümiert, mit ihrem „backwardlooking ideal of an aristocratic city-state“ hätten die Philosophen die „lesson of history“ nicht verstanden, ebd. 419 f. 490 Die RE führt keinen Artikel zu „Autarkie/αὐτάρκεια“; der Artikel im Kleinen Pauly (Bd. 1 (1979) s. v. Αὐταρκία [sic] (A. Mannzmann), sp. 777 f.) suggeriert Nähe zur Quellensprache, wenn er für das „Zeitalter Homers weitgehende wirtschaftliche Αὐ[ταρκία]“ des oikos postuliert; das kaschiert, dass der Ausdruck in den Epen fehlt; Der Neue Pauly (Bd. 2 (1997), s. v. Autarkeia, sp. 345–349 (R. Osborne / S. Meyer-Schwelling)) teilt die Darstellung in „ökonomisch“ und „philosophisch“; das Lemma suggeriert wieder Quellennähe, doch im Abschnitt „ökonomisch“ wird als erster (und neben Aristoteles einziger) Autor Hesiod besprochen, bei dem das Wort fehlt; „Selbstgenügsamkeit und Selbstversorgung“ seien „Ideale“ gewesen, die aufgrund der klimatisch-geographischen Fragmentierung Griechenlands „keine Einzelperson, keine Familie und keine Gemeinschaft in der Ant. erreichen konnte.“ Ebd. sp. 345; dass das Ideal tatsächlich verbreitet war und/oder an das Wort autarkeia geknüpft war, belegt der Artikel nicht; ganz ähnlich die Encyclopedia of Ancient History ((2012) s. v. Autarky, self-sufficiency (N. Morley)); die knappe Darstellung der Wortgeschichte bis zur Gegenwart bei Rabe 1972 unterscheidet sorgfältiger zwischen Wort und Begriff.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Nomen αὐτάρκεια, das Adjektiv αὐτάρκης und das Adverb αὐταρκῶς. Ein denkbarer Einwand gegen dieses Vorgehen ist, dass handlungsleitende Ideen sich nicht notwendigerweise in bestimmten Wörtern kristallisieren. Das Konzept der Autarkie (im modernen Sinne) könnte durch verschiedene Wörter oder Umschreibungen ausgedrückt worden sein.491 Dem lässt sich entgegenhalten, dass es a priori unwahrscheinlich ist, dass in einer Epoche, deren Gelehrte gerne neue Wortschöpfungen prägten, für ein vermeintliches Kernkonzept der Hauswirtschaft kein entsprechendes Schlagwort entwickelt wurde. Die Untersuchung wird außerdem zeigen, dass sich ausgehend von der Wortgeschichte von autarkeia ein antikes Ideal rekonstruieren lässt, das dann wiederum auch in Texten greifbar wird, wo das Schlagwort fehlt. Dieses Ideal ist allerdings keines der Abschottung, sondern der Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit. Die Wortwurzel autark- setzt sich aus dem Personalpronomen αὐτός, ‚selbst‘, sich ‚selbst‘ und dem Verb ἄρκειν zusammen. Das deutet den Bedeutungsspielraum von autarkeia und autarkēs bereits an, denn arkein heißt je nach Zusammenhang ‚verteidigen‘, ‚beschützen‘, ‚unterstützen‘, ‚aushalten‘, ‚ausreichen‘, oder ‚zufrieden sein (mit etw.)‘.492 In Verbindung mit autos erhalten diese Wendungen doppelte Reflexivität: man tut etwas für sich selbst und durch sich selbst. Autarkeia ist kein alter Ausdruck. Der erste Beleg ist das Adjektiv autarkēs in Aischylos’ Grabspendenträgerinnen (458). Die statistische Auswertung der Belege bis ca. 300 (Menander, Epikur und Theophrast werden noch einbezogen) legt nahe, dass das Wort im gelehrten Diskurs entstand und sein Gebrauch auf diesen beschränkt blieb. Von insgesamt 116 Belegen493 stammen nur drei aus der Tragödie, einer aus der Komödie und fünf aus der Geschichtsschreibung (einmal bei Herodot und viermal bei Thukydides). Nur fünf stammen aus Reden (resp. dem Brief eines Redners), allesamt politischen Inhalts. In Xenophons Oikonomikos fehlt der Ausdruck; in der Kyrupädie erscheint er nur einmal, viermal in den Memorabilien. In der pseudo-aristotelischen Oikonomika taucht er im ersten, der Hauswirtschaft gewidmeten Buch einmal auf, 491 Vgl. Koselleck 1972, XXI–XXIII zum Verhältnis von Wort und Begriff. 492 In Xen. symp. 4.34–44 benutzt Antisthenes das Verb arkein, wenn er davon spricht, dass er dank seiner bescheidenen Ansprüche leicht seinen Bedarf decken kann; die Aussageabsicht ist also eine ähnliche wie in Passagen, wo ausdrücklich von autarkeia etc. die Rede ist; bei Hdt. 1.30–32 tauchen sowohl arkein als auch das Adjektiv autarkes auf, ebenfalls als Teil einer Mahnung zur Selbstbescheidung. 493 So das Ergebnis einer Recherche im TLG (02.08.2016, 08.–09.09.2016); ausgesondert wurden indirekte Belege zu Philosophen bei späten Sekundärquellen (Plutarch, Diogenes Laertius, Suda usw.); hier ist wahrscheinlich oder kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass autarkeia nur Sprachgebrauch der Sekundärquelle ist; ausgeschlossen wurden auch unechte Schriften klassischer Autoren, sofern sie auf nach 300 datiert werden; die statistischen Mengenverhältnisse bleiben von diesen Ausschlüssen unberührt; elf ausgeschlossene Stellen stammen aus pseudoaristotelischen Texten (Magna Moralia, De mundo, Problemata), ihre Berücksichtigung würde das feststellbare Übergewicht aristotelischer Belegstellen nur erhöhen; die 22 der 27 Belege bei ganz ausgeschlossenen Autoren stammen aus philosophischen Schriften, was wiederum deren Übergewicht erhöhen würde.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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aber nur bezogen auf die Stadt.494 Damit entfallen 90 Belege, d. h. 78 % aller Belege, auf philosophische und naturwissenschaftliche Texte. Davon stammen wiederum 59 Belege, d. h. rund 50 % aller Belege, aus Schriften von Aristoteles. Dem stehen lediglich fünf Belege bei Xenophon (4 %) und sieben bei Platon (6 %) gegenüber,495 obwohl deren Schriften vollständig überliefert sind. Dass autarkeia ein Schlagwort des Peripatos war, legt außerdem nahe, dass neun weitere Belege aus den Arbeiten der Aristoteles-Schüler Aristoxenos und Theophrast stammen, obwohl deren Überlieferungsumfang gering ist, und elf weitere Belege aus pseudo-aristotelischen Schulwerken des 3. Jhs. (die hier bis auf die Oikonomika nicht berücksichtigt werden).496 Aristoteles hat den Begriff als Erster systematisch als allgemeine Kategorie verwendet: Autarkeia und seine Ableitungen finden sich in den Schriften zum praktischen Handeln (Politik, die Ethiken, Rhetorik) ebenso wie in naturwissenschaftlichen Werken (Metaphysik, De caelo, De generatione animalium, De incessu animalium). Immerhin zwölf Belege (knapp 10 % aller Belege) stammen aus dem Corpus Hippocraticum, fast so viele wie alle restlichen nicht-philosophischen Belege zusammen (14 Belege = 12 %).497 Da diese Belege zu den frühesten zählen, stellt sich die Frage, ob der Begriff ursprünglich aus der Medizin stammt. In den sonst so reich sprudelnden Quellen der Hauswirtschaft, den Komödien und privaten Gerichtsreden, findet er sich mit einer Ausnahme bei Menander gar nicht.498 Angesichts der Überlieferungslage ist jede Quantifizierung nur eine grobe Einschätzung. Deren Ergebnis ist jedoch eindeutig: Wenig mehr als ein Zehntel (12 %) der Belege stammen nicht aus philosophischen oder naturwissenschaftlichen Schriften. Autarkeia und seine Ableitungen waren Ausdrücke des gelehrten literarischen Diskurses, der im 5. Jh. einsetzte. Zum allgemeinen Schlagwort in allen Bereichen der Theoriebildung wurde es durch Aristoteles erhoben. Kommen wir damit zur qualitativen Analyse. Die Besprechung der Belegstellen werde ich inhaltlich nach ‚anthropologischen‘ und ‚soziologischen‘ Verwendungen unterscheiden. ‚Anthropologische‘ Verwendung meint Stellen, in denen autarkeia eine menschliche Eigenschaft bezeichnet oder eng auf den einzelnen Menschen bezogen ist. Diese anthropologischen Verwendungen lassen sich wiederum danach unterscheiden, ob sie mehr auf den Körper bezogen sind (physiologische Verwendung) oder auf den Geist (psychologische Verwendung). Sofern sie normativ-präskriptiv formuliert sind, lassen sie sich zudem im Fall der physiologischen Kontexte als medizinisch-diätetisch und im Fall der psychologischen Kontexte als ethisch bezeichnen. Die soziologische Verwendung meint die Kontexte, in denen autarkeia eine Eigenschaft mensch494 495 496 497
[Aristot.] oec. 1, 1343 a 11. Nicht berücksichtigt ist Plat. ep. 1, 310a, weil der Brief höchstwahrscheinlich unecht ist. Zu den nicht berücksichtigten pseudo-aristotelischen Schriften des 3. Jhs. s. o. Anm. 529. Berücksichtigt wurden die Schriften, die allgemein in das 5. oder 4. Jh. datiert werden, ausgeschlossen wurden De decente habitu (nur ein Beleg) und die Briefe; zu Datierung und Echtheit s. Oser-Grote 1998, 457–479 und Althoff 2011, 297–311. 498 Men. Dys. 714.
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licher Gemeinschaften bezeichnet. Insofern diese Eigenschaft normativ geboten wird, lässt sie sich, wo es um die kollektiven Sitten der Stadtgesellschaft geht, als ethisch bezeichnen, als politisch hingegen, wo es um das kollektive Handeln dieser Gemeinschaft als Bürgerverband geht. Nicht in dieses Ordnungsschema passen die naturwissenschaftlichen Verwendungen der Aristoteles-Schüler, die sich auf Tiere, Pflanzen, den Kosmos oder akustische Laute beziehen (15 Belege = 13 % aller Belege). Diese Verwendungsweisen werden hier nur insofern berücksichtigt, als sie die Wortbedeutung mit Bezug auf den Menschen und menschliche Gemeinschaften erhellen. Weil die Belege bei Aristoteles eine absolute Mehrheit bilden, werden sie gesondert behandelt. 6.4.1 Die anthropologische Verwendung von autarkeia Der früheste Beleg stammt aus Aischylos’ Tragödie Die Grabspendenträgerinnen, die 458 in Athen uraufgeführt wurde. Auf die falsche Nachricht von Orestes’ Tod bricht dessen alte Amme in bitteres Wehklagen aus. Sie beklagt, wie vergeblich nun ihre Mühen um ihren Schützling als Säugling waren.499 Es wird näher beschrieben, warum die Amme stets achtgeben muss: Ein Kind kann noch nicht sprachlich mitteilen, ob es Hunger oder Durst hat oder ob es Wasserlassen muss – stattdessen sei „der junge Bauch autark“ (νέα δὲ νηδὺς αὐτάρκης τέκνων).500 Es ist nicht ganz klar, welches Organ nēdys hier bezeichnet: Es könnte der Magen, der Darm oder die Blase sein. Klar ist: autarkēs meint weder Selbstgenügsamkeit noch Abschottung. Die Stelle hebt gerade die Angewiesenheit auf die Amme hervor, die das Kind Tag und Nacht betreut. Der kindliche Körper ist vielmehr in dem Sinn „unabhängig“, dass er sich weder vom Kind selbst kontrollieren lässt noch von dessen Amme, die dementsprechend häufig Windeln wechselt.501 Auffällig ist der physiologische, beinahe medizinische Ton der Passage mit dem Fokus auf technisch beschriebene Körperfunktionen.502 In den Tragödien finden sich nur noch zwei weitere Belege. Einer davon ist ein Fragment von Euripides’ Aiolos (nicht lange vor 423), wo der Begriff als Adverb erscheint. Ein unbekannter Sprecher sagt, er wolle weder Freund noch Gastfreund eines Manns sein, der sich im Denken für autark halte, seine Freunde hingegen für Sklaven (ὅστις αὐτάρκη φρονεῖν | πέποιθε δούλους τοὺς φίλους ἡγούμενος).503 Die Gegenüberstellung von autarkeia und Sklavendasein legt nahe, dass wie bei Aischylos „Unabhängigkeit“ gemeint ist, nicht Abschottung – die betreffende Person hat schließlich Freunde, auf die sie herabschaut. Bezogen wird diese Unabhängigkeit allerdings auf den Verstand,
499 500 501 502 503
Aischyl. Choeph. 743–762. Choeph. 755–757. Choeph. 758–760. Besonders technisch klingt λιψουρία für „Wasserlassen“, ein Hapax, vgl. LSJ s. v. Eur. fr. 29 Nauck (= Stob. 3.22,14); zur Datierung s. Collard/Cropp in der Loeb-Ausgabe, S. 13.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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nicht auf den Körper. Der Aussagegehalt ist ethisch. Die Themen des verlorenen Stücks waren Reichtum, Adel, Moral, Heirat und die Macht des Begehrens, „favourite ‚social‘ topics for Euripides“, wie Christopher Collard und Martin Cropp in der Loeb-Ausgabe schreiben.504 Dem Fragment selbst schreiben sie den Charakter eines Denkspruchs (Gnome) zu, was zur Thematik passt: Der Sprecher warnt vor Selbstüberschätzung. Einmal belegt ist der Begriff schließlich bei Sophokles. Im Ödipus auf Kolonos (401) kündigt ein Chorlied Theseus als „kampfaufrührend“ (ἐγρεμάχαν) an und erklärt, Theseus werde sich den Schwestern Antigone und Ismene mit „ausreichender Hilfe beigesellen“ (αὐτάρκει τάχ᾿ ἐμμείξειν βοᾷ).505 Hier bezieht sich autarkēs nicht direkt auf einen Menschen, sondern auf dessen Hilfeleistung – die Möglichkeit, diese zu leisten, setzt allerdings die entsprechende individuelle Fähigkeit voraus. Vier Demokrit-Fragmente stehen den Tragödien-Belegen zeitlich am nächsten. Sie lassen sich nur entsprechend von Demokrits Lebenszeit auf das letzte Drittel des 5. Jhs. und den Beginn des 4. Jhs. datieren. Unklar ist auch, in welchem textlichen Zusammenhang die bei Stobaios überlieferten Denksprüche ursprünglich standen. Trotz dieser Unwägbarkeiten lässt sich erkennen, dass die Demokrit-Fragmente dem so weit gewonnenen Bild entsprechen. Demokrits Verwendung von autarkeia, autarkēs ist durchgehend ethisch:506 Der Zufall gibt große Geschenke, doch ist unbeständig, die Natur hingegen ist selbstgenügsam (τύχη μεγαλόδωρος, ἀλλ’ ἀβέβαιος, φύσις δὲ αὐτάρκης); deshalb siegt sie mit dem Geringeren aber Sicheren über das Größere der Hoffnung.
Tyche als unbeständige, unberechenbare Kraft ist ein geläufiges Motiv. Hier wird sie bemüht, um Genügsamkeit zu empfehlen. Nicht eindeutig ist, was physis bezeichnet. Da der Ausdruck hier das Gegenteil von tyche ist, ist vielleicht die menschliche Naturanlage gemeint. An den Menschen jedenfalls richtet sich die Mahnung gemäß seiner ‚natürlichen‘ Veranlagung zu leben. Man soll den eigenen Kräften vertrauen, anstatt auf äußere Hilfe und glückliche Umstände zu hoffen, lautet die Botschaft. Ein ähnlicher Denkspruch lautet: Tyche setzt „einen reich gedeckten Tisch“ (τράπεζαν πολυτελέα) vor, die „Besonnenheit“ (σωφροσύνη) dagegen einen „ausreichenden“ (αὐταρκέα).507 Die Aussage gleicht der des ersten Denkspruchs. Wer sich nur auf seine eigenen –
504 Collard/Cropp in der Loeb-Ausgabe, S. 14 mit ausführlicher Begründung. 505 Soph. Oid. K. 1054–1059; die modernen Übersetzungen variieren z. T. stark; das liegt daran, dass eine wörtliche Übersetzung boa mit ‚Ruf, Schrei‘ dazu zwingt, autarkei sehr frei wiederzugeben (W. Willige in der Tusculum-Ausgabe: „bei siegesfrohem Ruf “; R. Jebb in der Loeb-Ausgabe: „the war-cry of resisting men“); boa kann allerdings auch Synonym für boētheia sein, LSJ s. v.; vgl. das engl. „hue and cry“; (entsprechend H. Lloyd-Jones in der neuen Loeb-Ausgabe: „shall grant to the virgin sisters also all-sufficient aid“). 506 Demokr. fr. B 176 DK 68 (= Stob. 2.9,5). 507 Fr. B 210 DK 68 (= Stob. 3.5,26): τύχη μεγαλόδωρος, ἀλλ’ ἀβέβαιος, φύσις δὲ αὐτάρκης· διόπερ νικᾶι τῶι ἥσσονι καὶ βεβαίωι τὸ μεῖζον τῆς ἐλπίδος.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
diesmal eindeutig geistig-ethischen – Kräfte verlässt, der lebt zwar bescheidener, aber auch sicherer. Selbstgenügsamkeit bietet Unabhängigkeit von kontingenten Faktoren. Es zeigt sich eine Parallele zum Euripides-Fragment: Dort hielt sich jemand für unabhängig im Denken (autarkē phronein), hier wird selbstgenügsame Besonnenheit (autarkea sōphrosynē) empfohlen. Die Bewertung ist allerdings verschieden: Während Demokrit geistige Selbstgenügsamkeit empfiehlt, meint Euripides (oder eine Figur seines Stückes), sich in ihrem Besitz zu wähnen, sei Hochmut. Demokrits Spruch fordert außerdem implizit zu bescheidener Lebensführung auf: Den reich gedeckten Tisch des Zufalls braucht es nicht. Ein Lob der Bescheidenheit drückt sich auch im dritten erhaltenen Spruch aus: „Ein Leben in der Fremde lehrt Selbstgenügsamkeit (αὐτάρκειαν): Denn Gerstenkuchen und Strohlager sind die süßesten Heilmittel gegen Hunger und Ermüdung.“508 Setzt man Demokrit vor Thukydides (s. u.), ist das der früheste Beleg für das Nomen autarkeia. Ob Selbstversorgung gemeint ist, bleibt offen, weil nicht erwähnt wird, woher man in der Fremde Gerste und Stroh nimmt. Deutlich ist hingegen der Verweis auf die Bescheidenheit, im Sinne eines Verzichts auf körperlichen Luxus. Die gleiche Aussageabsicht steckt hinter dem vierten und letzten Spruch, demzufolge gut schlafen kann, wer ausreichend gegessen hat (αὐταρκείηι τροφῆς).509 Zu ergänzen ist der Umkehrschluss: Wer mehr als ausreichend gegessen hat, wird von seinem vollen Bauch wachgehalten. Hier deutet sich eine Luxuskritik mit dem Fokus auf Ernährungsweise an, wie sie seit dem ausgehenden 5. Jh. lauter wurde. Auch bei Thukydides, Zeitgenosse Demokrits und der Tragiker, taucht autarkeia als Idealzustand des vollendeten Mannes auf. Perikles’ Grabrede endet mit dem berühmten Lobpreis von Athen als „Schule Griechenlands“. Athen sei der Ort wo „derselbe Mensch (τὸν αὐτὸν ἄνδρα) am vielseitigsten mit Anmut und gewandt sich am ehesten in jeder Lage selbst genügen kann (τὸ σῶμα αὔταρκες παρέχεσθαι)“.510 Obgleich es hier um die Vollendung des ganzen Menschen geht (wie Landmanns hier zitierte Übersetzung betont), ist die Aussage physiologisch ausgerichtet: autarkes bezieht sich nicht auf anēr, sondern auf sōma, den Körper. Die Wortverwendung bei den Philosophen des 4. Jhs. folgt den bei Demokrit gezeichneten Bahnen. In Platons Theaitetos wird Protagoras dafür kritisiert, dass er „in Bezug auf den Verstand“ (εἰς φρόνησιν) jeden für autark erklärt habe.511 Diese Kritik erinnert an Euripides’ Warnung vor dem Mann, der sein Denken für unabhängig hält. In Platons Güterlehre taucht autarkeia als Nomen auf. Im Philebos heißt es, weder die Vernunft noch der Genuss selbst seien das Gute schlechthin, weil ihnen autarkeia so508 Fr. B 246 DK 68 (= Stob. 3.40,6): ξενιτείη βίου αὐτάρκειαν διδάσκει· μᾶζα γὰρ καὶ στιβὰς λιμοῦ καὶ κόπου γλυκύτατα ἰάματα. Adapt. Übers. M. Gemelli Marciano. 509 Fr. B 209 DK 68 (= Stob. 3.5,25). 510 Thuk. 2.41,1: τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς Ἑλλάδος παίδευσιν εἶναι καὶ καθ᾽ ἕκαστον δοκεῖν ἄν μοι τὸν αὐτὸν ἄνδρα παρ᾽ ἡμῶν ἐπὶ πλεῖστ᾽ ἂν εἴδη καὶ μετὰ χαρίτων μάλιστ᾽ ἂν εὐτραπέλως τὸ σῶμα αὔταρκες παρέχεσθαι. Übers. G. Landmann. 511 Plat. Tht. 169d.
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wie die ausreichende und endgültige Kraft fehle (αὐταρκείας καὶ τῆς τοῦ ἱκανοῦ καὶ τελέου δυνάμεως).512 Hier werden die von Euripides und Demokrit bekannten Lehrsätze abstrakter reformuliert. Weder sollte man die Selbstgenügsamkeit des Verstandes überschätzen, noch die Bedeutung des Genusses. Dennoch ist autarkeia bei Platon eine erstrebenswerte Eigenschaft. Der Mann, der hinsichtlich des guten Lebens „sich selbst genügend“ (αὐτὸς αὑτῷ αὐτάρκης) ist, „bedarf anderer am wenigsten“. Selbstgenügsamkeit, die Fähigkeit aus eigener Kraft gut zu leben, wird, wie bei Euripides, als Unabhängigkeit von anderen Menschen verstanden. Allerdings nicht als Abgeschottetheit: Auch der unabhängige Mensch hat Verwandte und Besitz – aber er beweint ihren Verlust nicht.513 Als positive persönliche Eigenschaft im Sinne von ‚Unabhängigkeit‘ erscheint autarkeia auch in Xenophons Memorabilien. Sokrates konnte trotz bescheidener Mittel „völlig unabhängig leben“ (αὐταρκέστατα ζῶντα), „weil er bei allen Genüssen völlig selbstbeherrscht war“.514 Unabhängigkeit meint hier wie bei Demokrit Selbstbeherrschung bei der Genussbefriedigung. Dass damit nicht die Abschottung gegen den Austausch mit anderen Menschen gemeint ist, zeigt die enge Parallele zum Anfang des Oikonomikos. Dort heißt es ebenfalls, dass Sokrates trotz seiner relativen Armut gut leben könne, weil er genügsam sei. Denn, so ergänzt Xenophon, er könne sich bei Bedarf auf die Gaben seiner Freunde verlassen.515 Neben die Unabhängigkeit von äußeren Gütern tritt die Unabhängigkeit dank eigener Fähigkeiten. Sokrates habe sich stets darum gekümmert, dass diejenigen, die mit ihm Umgang pflegten, „selbstständig (αὐτάρκεις) in den ihnen zukommenden Tätigkeiten seien“.516 Die gemeinten Tätigkeiten beinhalten das Leben als Edelmann ebenso wie als Handwerker. In diesem Sinn ist autarkeia Voraussetzung, um den eigenen Lebensunterhalt zu erwerben, wie eine Stelle in der Kyrupädie zeigt. Kyros mahnt an, dass die Perser das Reiten lernen müssten, weil „sie sonst nicht fähig seien, selbst solche Reichtümer zu erwerben“ (μὴ αὐτάρκεις ὄντες κτήσασθαι αὐτά) wie jetzt die Meder.517 Schließlich kann autark auch die Fähigkeit zum unabhängigen moralischen Urteilen bedeuten. Sokrates war so selbstbeherrscht, dass er nie das Angenehme dem Besseren vorzog, und so einsichtig, dass er Falsches und Richtiges stets richtig unterschied. „Sein Verstand war so selbstständig“ (αὐτάρκης εἶναι πρὸς τὴν τούτων γνῶσιν), dass er sich ganz auf sein Urteil verlassen und außerdem
512 513 514 515 516 517
Phil. 67a. Rep. 3, 387d–e. Xen. mem. 1.2,14. Mem. 2.1–8. Mem. 4.7,1. Kyr. 4.3,4; es geht um die Tribute und Beute unterworfener Völker; diese Bedeutung von autarkeia als „Selbstwirksamkeit“ findet sich ex negativo auch im Corpus Demosthenicum; Worte allein könnten nichts bewirken, es braucht auch geneigte Zuhörer resp. Umsetzung in die Tat, vgl. Demosth. 3.14–15 und ep. 1.6; 19.340, vgl. Ex. 33.3 und 60.14; die Autorenschaft der Exordien ist umstritten, der Epitaphios gilt als unecht; beide Stellen belegen jedoch den Gemeinplatz.
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andere beurteilen und zur Tugend und Edelhaftigkeit lenken konnte.518 Einmal mehr geht es um die Unabhängigkeit des Verstandes. Sie besteht nicht in der Abschottung gegen den gesellschaftlichen Verkehr, sondern ist eine wichtige Voraussetzung für ihn. Autarkeia wird dabei wie zuvor durch Selbstbeschränkung bei den Bedürfnissen erreicht. Der letzte Autor des 4. Jhs., der autarkeia ethisch verwendet, ist Epikur. Inhaltlich knüpft Epikur an Demokrit an. Autarkeia ist eine Form der Genügsamkeit, die man durch die Gewöhnung an eine einfache Lebensweise erwirbt, insbesondere hinsichlich der Ernährung. Im Brief an Menoikeus heißt es:519 Auch die Unabhängigkeit (αὐτάρκειαν) von äußeren Dingen halten wir für ein großes Gut, nicht um uns in jeder Lage mit Wenigem zufrieden zu geben, sondern um, wenn wir das Meiste nicht haben, mit dem Wenigen auszukommen, weil wir voll davon überzeugt sind, dass jene, die den Überfluss am meisten genießen (ἥδιστα πολυτελείας ἀπολαύουσιν), ihn am wenigsten brauchen, und dass alles Natürliche leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist und dass eine einfache Brühe die gleiche Lust bereitet wie ein üppiges Mahl (πολυτελεῖ διαίτῃ), wenn jede Schmerzempfindung, die durch Mangel (κατ’ ἔνδειαν) hervorgerufen wird, beseitigt ist, und dass Wasser und Brot die höchste Lust bereiten, wenn man sie zu sich nimmt, weil man Hunger hat.
Rainer Nickels Übersetzung von autarkeia mit „Unabhängigkeit“ trifft die Aussageabsicht Epikurs: Die Genügsamkeit schafft Unabhängigkeit von materiellen – externen – Gütern. Das „üppige Mahl“ (πολυτελεῖ διαίτῃ), an das man sich nicht ausschließlich gewöhnen soll, steht sogar im Wortlaut Demokrits „reich gedeckter Tafel (τράπεζαν πολυτελέα) nahe: Es geht um eine Mahnung zur Bescheidenheit, die diätetisch ist und sich auf Tafelluxus bezieht. Wie bei Demokrit bedeutet die Fähigkeit, auf äußere Güter zu verzichten, Unabhängigkeit. Der „Weise“ (σοφός), heißt es in den vatikanischen Sentenzen, könne sogar in einer Notlage geben, anstatt zu empfangen, weil er „einen solchen Schatz an Unabhängigkeit“ gefunden hat“ (τηλικοῦτον αὐταρκείας εὗρε θησαυρόν) und die φυσιολογία erziehe „stolze und unabhängige Menschen“ (σοβαροὺς καὶ αὐτάρκεις), die keiner externen Güter mehr bedürften.520 Die Vorstellung, der Weise müsse nichts mehr empfangen, entspricht am ehesten der modernen Bedeutung von Autarkie, ist bei Epikur allerdings eher ethisch als wirtschaftlich gemeint. 518 519
Xen. mem. 4.7,1. Epik. Ep. Men. 130–131: Καὶ τὴν αὐτάρκειαν δὲ ἀγαθὸν μέγα νομίζομεν, οὐχ ἵνα πάντως τοῖς ὀλίγοις χρώμεθα, ἀλλ’ ὅπως, ἐὰν μὴ ἔχωμεν τὰ πολλά, τοῖς ὀλίγοις ἀρκώμεθα, πεπεισμένοι γνησίως ὅτι ἥδιστα πολυτελείας ἀπολαύουσιν οἱ ἥκιστα ταύτης δεόμενοι, καὶ ὅτι τὸ μὲν φυσικὸν πᾶν εὐπόριστόν ἐστι, τὸ δὲ κενὸν δυσπόριστον, οἵ τε λιτοὶ χυλοὶ ἴσην πολυτελεῖ διαίτῃ τὴν ἡδονὴν ἐπιφέρουσιν, ὅταν ἅπαν τὸ ἀλγοῦν κατ’ ἔνδειαν ἐξαιρεθῇ, καὶ μᾶζα καὶ ὕδωρ τὴν ἀκροτάτην ἀποδίδωσιν ἡδονήν, ἐπειδὰν ἐνδέων τις αὐτὰ προσενέγκηται. Übers. R. Nickel; Ep. fr. 58 (= Stob. 3.17,13) wiederholt das einleitende Diktum nahezu wörtlich. 520 Epik. Sent. Vat. 44 und 45; ähnlich Ep. fr. 122 (= P. Herc. 176.5,12 Vogliano).
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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Während von Demokrit bis Epikur autarkeia schrittweise als ethisches Ideal ausformuliert wird, ist ein Merkmal gerade der frühen Belege ihr physiologischer und geradezu medizinischer Kontext. In seiner Beschreibung der Pest in Athen hebt Thukydides hervor, dass sich kein einziges sicher wirksames Heilmittel finden ließ: „Es erwies sich keine Art von Körper (σῶμα) nach seiner Kraft oder Schwäche als gefeit (αὔταρκες) dagegen, sondern alle raffte es weg, auch die noch so gesund gelebt hatten.“521 Wieder meint autarkēs die Fähigkeit, etwas aus eigener Kraft zu leisten, nun abwehrend (wie Theseus bei Euripides) gegen eine Krankheit. Thukydides’ Erschütterung über die Indifferenz der Krankheit legt nahe, dass er, genau wie sein Zeitgenosse Demokrit einen positiven Zusammenhang von gesunder Lebensweise und autarkeia für gegeben hielt. Das führt uns zum Corpus Hippocraticum. In der Schrift Über die Leiden, die vermutlich ins 4. Jh. gehört,522 heißt es in einem Abschnitt über Nahrungsmittel, die gesündesten seien diejenigen, die in kleinen Mengen „ausreichend“ (αὐτάρκη) seien, um Hunger und Durst zu stillen; der Körper nehme sie meistens an und scheide sie ordnungsgemäß aus.523 Autarkēs meint hier, genau wie in einer darauffolgenden Stelle,524 die Selbstwirksamkeit eines Mittels in Bezug auf den Körper. Hingewiesen sei auf die Parallele zur Aischylos-Passage, in der es ebenfalls um das Stillen von Hunger und Durst und die Nahrungsaufnahme und -ausscheidung ging. Auch in anderen Schriften bezeichnet das Attribut autarkēs die Wirksamkeit eines Heilmittels.525 Zwei der insgesamt vier Belege stammen aus der diätetischen Schrift Über die Ernährung bei akuten Erkrankungen.526 In der Schrift Über die Lebenweise (Περὶ διαίτης) aus dem 4. Jh., die an ein breiteres Publikum gerichtet war,527 taucht das Attribut autark gleich in der programmatischen Einleitung auf. Wer richtig über die Diätetik des Menschens schreiben wolle, müsse zunächst alles „über die menschliche Natur“ (φύσιν ἀνθρώπου) wissen.528 Außerdem müsse er alles über Speise und Trank wissen, über ihre Kräfte entsprechend ihrer Natur, der Notwendigkeit und der „menschlichen Kunstfertigkeit“ (τέχνην ἀνθρωπηΐην). Selbst dann sei „die Behandlung noch nicht ausreichend“ (οὔκω αὐτάρκης ἡ θεραπείη): Neben richtiger Ernährung sei Körperertüchtigung notwendig und die Kenntnis der Umweltbedingungen: Alter, Konstitution, Jahreszeit, Örtlichkeit und die kosmische Konstellation. Selbst wenn man all dies berücksichtige, sei „die Erforschung noch nicht vollständig“ (οὔκω αὔταρκες τὸ εὕρημά
521 522 523 524
Thuk. 2.51,3. Übers. G. Landmann. Althoff 2011, 310. Hippokr. Aff. 47. Aff. 50 warnt, dass die Speisen und Getränke, die am nahrhaftesten und am „meisten ausreichend“ (μάλιστα αὐτάρκη) für Ernährung und Gesundheit seien, auch am gefährlichsten seien, wenn in falscher Menge oder zur falschen Zeit genossen. 525 Hipp. Acut. 1 u. 5; Liqu. 5; Art. 40. 526 Acut. 1 und 5. 527 Oser-Grote 1998, 473; vgl. Althoff 2011, 311 mit Anm. 97. 528 Hippokr. Vict. 1.2.
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ἐστιν); die letzte Entdeckung wäre es, für jeden individuellen Menschen das richtige Verhältnis von Nahrung und Ertüchtigung zu kennen, das jedoch sei unmöglich. Diese medizinischen Verwendungen des Attributs autark haben mehrere Gemeinsamkeiten. Sie stehen in einen physiologischen Kontext und konzentrieren sich auf Ernährung. Physis wird wie bei Demokrit als Naturanlage verstanden, hier allerdings der menschlichen Kunstfertigkeit (technē) statt dem Schicksalswirken (tyche) gegenübergestellt. Das Ziel vollständiger Kontrolle durch exaktes Wissen entspricht wiederum Demokrits Gegenüberstellung von Zufall und Vernunft. Die zuletzt zitierte Passage schließt allerdings auch mit der Einsicht, dass vollständige autarkeia ein unerreichbares Ideal bleiben müsse. Aufschlussreich ist die in Über die Lebenweise sich anschließende Elementelehre, nach der jeder tierische Organismus (der menschliche eingeschlossen), aus den Elementen Feuer und Wasser zusammengesetzt sei, die alle für sich nicht „ausreichend“ (αὐτάρκεά) seien, vermischt jedoch schon. Mehrere Absätze später heißt es analog dazu, dass die Auffassungsgabe dann am höchsten sei, wenn das „feuchteste Feuer“ und das „trockenste Wasser“ im Körper gemischt seien. Denn wenn jedes der beiden Elemente die Eigenschaft des anderen am meisten habe, sei es jeweils selbst am „wirksamsten“ (αὐταρκέστατον), genauso, wie wenn sie miteinander vermischt seien.529 Hier tönt ein Gedanke an, der in der Anwendung des Begriffs der autarkeia auf menschliche Gemeinschaften prominent ist: Die Vorstellung, dass autarkeia erst durch den Austausch komplementärer Güter zustande kommt. 6.4.2 Die soziologische Verwendung von autarkeia Die erste Anwendung des Attributs autarkēs auf Verhältnisse jenseits des Individuums findet sich im ersten Buch von Herodots Historien, das in Athen vermutlich 425 bereits bekannt war.530 Die Verwendung ist aufschlussreich, weil sie eine Brücke zwischen der ethischen und der politischen Verwendung des Begriffs schlägt. In einem fiktiven Gespräch fragt der lydische König Kroisos den athenischen Gesetzgeber Solon, wen dieser für den glücklichsten Menschen halte.531 Kroisos ist empört, als Solon als Antwort Personen aufzählt, die viel weniger bedeutend sind als Kroisos. Solon rechtfertigt sich dafür mit einer Ausführung über die Unbeständigkeit des Schicksals und einer Definition wahren Glücks. Kein Tag im siebzigjährigen Leben eines Menschen gleiche ganz dem anderen, deshalb sei das ganze Leben des Menschen ein „Zufall“. Kroisos „erscheine zwar als sehr reich“ (πλουτέειν μέγα φαίνεαι) und als König vieler Menschen. Doch ob er glücklich sei, ließe sich erst mit seinem 529 Vict. 1.3. 530 Rengakos 2011, 341 f. 531 Hdt. 1.32 f.
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Tod entscheiden. Denn es gebe viele Reiche, die unglücklich seien, aber auch viele „mit bescheidenen Mitteln“ (μετρίως ἔχοντες), die ein gutes Leben führen. Der „unglückselige Reiche“ (μέγα πλούσιος ἀνόλβιος) habe dem Glücklichen, der nicht reich ist, zwar zwei Dinge voraus: Er könne seine „Begierde“ (ἐπιθυμίην) leichter befriedigen und Schicksalsschläge einfacher ertragen. Das könne der Glückliche nicht. Das sei aber auch nicht nötig, weil das „Glück“ (εὐτυχίη) diese Dinge von ihm fernhalte und er „unversehrt, gesund, ohne Leid, glücklich mit seinen Kindern und wohlgestaltet“ sei. Wenn er dann noch einen schönen Tod habe, sei er wahrhaftig „Glückseliger“ (ὄλβιος) zu nennen, vorher höchstens „vom Glück beschenkt“ (εὐτυχέα).532 So weit zeigen sich Parallelen zu Demokrit: Der Reichtum ist ein flüchtiges Schicksalsgeschenk, auf das man sich nicht verlassen darf. Herodots Urteil ist jedoch zurückhaltender als das des Abderiten. Wo jener meint, Veranlagung und Vernunft reichten aus, rät Herodot zur Demut. Er fährt fort:533 Dass aber alles das, was zur Glückseligkeit gehört, bei einem Menschen zusammentrifft, ist unmöglich. Auch ein Land besitzt nicht alles (καταρκέει), was es braucht; vielmehr hat es das Eine und entbehrt (ἐπιδέεται) das Andere. Das beste Land ist das, das am meisten besitzt. So ist auch der Körper des Menschen einzeln nicht selbstgenügsam (ἀνθρώπου σῶμα ἓν οὐδὲν αὔταρκές ἐστι). Das Eine hat er, etwas Anderes entbehrt er. Der Mensch aber, der das Meiste seines Bedarfes besitzt und in diesem Besitze lebt und glücklich sein Leben beendet, der, König, verdient nach meiner Meinung den Namen eines Glücklichen.
Herodot zieht zwar den Vergleich der Landschaft heran und spricht von kat-arkeei, um das „bereitstellen“ der Mittel zu beschreiben. Das Attribut autarkes ist allerdings nicht auf die Landschaft, sondern auf den menschlichen Körper bezogen. Das legt einmal mehr einen physiologischen Ursprung des Wortes nahe. In Ansätzen findet sich hier bereits die dann bei Platon und Aristoteles entwickelte Idee einer Vergesellschaftung zum Zweck der Beseitigung des Mangels. Wie Euripides und der Corpus Hippocratium versteht Herodot autarkeia also als Grenzbegriff, der ein Ideal beschreibt, das man anstreben, aber nicht erreichen kann. Wie Euripides verknüpft Herodot diese Einsicht mit einer Warnung vor Hochmut und Selbstüberschätzung. Herodot führt nicht genauer aus, worin der Reichtum eines Landes besteht und was daraus folgt, wenn es nicht selbstgenügsam ist. Mehr dazu sagt Thukydides, der das Attribut autarkēs zweimal auf Städte bezieht. Im ersten Buch beschweren sich korinthische Gesandte darüber, dass die „unabhängige Lage“ (αὐτάρκη θέσιν κειμένη)
532 533
Hdt. 1.32,5–7. Hdt. 1.32,8 f.: Τὰ πάντα μέν νυν ταῦτα συλλαβεῖν ἄνθρωπον ἐόντα ἀδύνατόν ἐστι, ὥσπερ χώρη οὐδεμία καταρκέει πάντα ἑωυτῇ παρέχουσα, ἀλλὰ ἄλλο μὲν ἔχει, ἑτέρου δὲ ἐπιδέεται· ἣ δὲ ἂν τὰ πλεῖστα ἔχῃ, αὕτη ἀρίστη. Ὣς δὲ καὶ ἀνθρώπου σῶμα ἓν οὐδὲν αὔταρκές ἐστι· τὸ μὲν γὰρ ἔχει, ἄλλου δὲ ἐνδεές ἐστι· ὃς δ’ ἂν αὐτῶν πλεῖστα ἔχων διατελέῃ καὶ ἔπειτα τελευτήσῃ εὐχαρίστως τὸν βίον, οὗτος παρ’ ἐμοὶ τὸ οὔνομα τοῦτο, ὦ βασιλεῦ, δίκαιός ἐστι φέρεσθαι. Adapt. Übers. J. Feix.
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es ihrer Tochterstadt Korkyra erlaube, „selber die Richter ihrer Opfer zu sein statt an Verträge gebunden, weil sie kaum auswärts fahren, aber fast alle notwendig bei ihnen anlegen und Aufnahme suchen“.534 Die Unabhängigkeit Korkyras ergibt sich nicht aus den natürlichen Ressourcen der Inseln, sondern aus der günstigen Lage an der viel befahrenen Handelsroute zwischen dem griechischen Festland und Großgriechenland.535 Dementsprechend bedeutet autark zu sein, gerade nicht, sich vom Handel abzuschotten, sondern in Handelsbeziehungen eine überlegene, ja beherrschende Rolle zu spielen: Die Korkyräer unterwerfen sich keinen Regeln, sondern diktieren sie anderen. Unabhängig zu sein besteht also, wie in den Beziehungen zwischen Individuen, nicht darin, auf Austauschbeziehungen zu verzichten. Sie besteht darin, in diesen Beziehungen die Kontrolle zu wahren oder sogar die Überhand zu gewinnen.536 In diesem Sinn autark war laut Thukydides auch Athen. Die Leichenrede des Perikles beginnt mit einer Würdigung der Generationen, die das Seereich erwarben. Die Altvorderen „erwarben“ (κτησάμενοι) die Seeherrschaft mühevoll. Das Meiste allerdings erwarben die gegenwärtig noch Lebenden hinzu und „statteten die Stadt in allem so aus (παρεσκευάσαμεν), daß sie in Krieg und Frieden αὐταρκεστάτην ist“.537 Arnold Gomme kommentiert, dass hier nicht „self-sufficiency“ im Sinne von Subsistenz gemeint sei, denn die Athener waren stolz darauf, von überall her Waren einführen zu können: „it was in a position to get all that is needed, both by its industry and commerce and its military power; especially the latter.“538 Wie Korkyra ist Athen unabhängig im Sinne einer souveränen Stellung in Austauschbeziehungen. Bei Korkyra resultiert diese Stellung aus der günstigen Lage, bei Athen aus ihrer Vormacht in der Ägäis. Athens Sonderstellung als Zentrum der ägäischen Welt wurde fester Bestandteil des athenischen Selbstlobs. Im Panegyrikos (um 380) thematisiert Isokrates Athen als Zentrum von Austauschbeziehungen. Weil das Territorium der einzelnen Städte nicht αὐτάρκη gewesen sei und es ihnen an Manchem mangelte, während sie an Anderem zuviel hatten, seien sie häufig ratlos gewesen, wohin sie ihren Überschuss ausführen und woher sie einführen sollten, um ihren Bedarf zu decken. In dieser Schwierigkeit half Athen. Es legte den Piräus „als Handelshafen (ἐμπόριον) in der Mitte Griechenlands an“, wo man all die Dinge aus dem Rest der Welt leicht bekomme, die anderswo schwer erhältlich sind.539 Das rhetorische stereotypisierte Thema von Athens distributiver Sonderstellung lässt sich bis in die Zeit des Peloponnesischen Kriegs zurückverfolgen. Pseudo-Xenophons Verfassung der Athener, die vermutlich vor Thukydides’
534 Thuk. 1.37,3; Übers. G. Landmann. 535 Zur Bedeutung der Lage Gomme 1945, 173; Bresson 1987, 230 f.; Intrieri 2010. 536 Genau in dieser Dominanz sehen die Korinther den Affront, weil sie von ihrer Koloniestadt keine Beleidigungen, sondern Unterordnung und Anerkennung erwarten, Thuk. 1.38,2. 537 Thuk. 2.36,2 f. 538 Gomme 1956, 105 f. 539 Isokr. 4.42.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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und vielleicht zeitgleich zu Herodots Geschichtswerk entstanden ist,540 spricht zwar nicht von autarkeia, behandelt in der Sache jedoch dasselbe wie Thukydides und Isokrates. Die kleinen Städte gehorchten Athen „wegen ihres Bedarfs“ (διὰ χρείαν), denn jede Stadt sei auf Ein- und Ausfuhr angewiesen. Dieser Handel sei jedoch nur möglich, wenn man den Herrschern der See untertänig sei.541 Denn weil nie jedes Land gleichzeitig von Dürre betroffen sei, könne derjenige, der über das Meer herrscht, Getreide aus Gebieten mit reicher Ernte holen.542 Aufgrund der Seeherrschaft hätten die Athener zudem „die Wohlgenüsse aller Länder kennengelernt und sich mit fremden Menschen aller Art vermischt“: Genannt werden Sizilien, Italien, Zypern, Ägypten, Lydien, das Schwarzmeergebiet und die Peloponnes – kurzum der größere Teil der bekannten und mit Schiffen erreichbaren Welt.543 Das Bild der Stadt, die aufgrund ihrer Stärke in ein vorteilhaftes Handelsverhältnis zu anderen Städten und sogar der gesamten Mittelmeerwelt treten kann, entspricht dem Bild des Mannes, der aufgrund seiner Selbstbeherrschung oder seines Reichtums in eine vorteilhafte Austauschbeziehung mit anderen Menschen treten kann. Anders als in den panegyrischen Passagen bei Thukydides und Isokrates ist bei Pseudo-Xenophon eine Kritik impliziert, die den ethischen Äußerungen zur autarkeia von Einzelpersonen gleicht: Zum einen am Hochmut des Überlegenen, zum anderen am Luxuskonsum, der zur Selbstgenügsamkeit im Widerspruch steht. Die Kritik an Hochmut und Luxusgenuss, die Pseudo-Xenophon formuliert, war Teil einer breiteren Sittenkritik. Die oligarchisch gesinnten Anfeindungen gegen das Volk, das von Athens Vormachtstellung wirtschaftlich profitiert, entspricht dem in Kap. 3.2 postulierten Zusammenhang von Erwerbschancen, ostentativem Konsum und Statuskonkurrenz. Gut dazu passt auch, dass sich in den Fragmenten des ‚Erzoligarchen‘ Kritias viele Übereinstimmungen mit der Verfassung Pseudo-Xenophons finden. In seinen Elegien zählt Kritias die Ursprungsorte von Erfindungen auf, die dem luxuriösen Leben dienen, genauer gesagt dem festlichen Gastmahl.544 Handelt es sich um ein Lobpreis auf das Symposion und auf Kritias’ Heimatstadt Athen, wie William Morison meint? Diese Deutung würde zu den schmückenden, teils zu Superlativen gesteigerten Attributen passen, die Kritias den Erfindungen beiordnet. Es passt jedoch nicht zu Kritias’ bezeugter Vorliebe für spartanische Austerität. So vergleicht Kritias an einer anderen Stelle die Schlichtheit spartanischer Tischsitten mit den Ausschweifun540 541 542 543 544
Zur Datierung Forrest 1970 und zuletzt G. Weber in der Einleitung seiner Ausgabe, S. 25. [Xen.] Ath. pol. 2.3. Ath. pol. 2.6. Ath. pol. 2.7: τρόπους εὐωχιῶν ἐξηῦρον ἐπιμισγόμενοι ἄλλῃ ἄλλοις. Nämlich Trink- und Essgeschirr und entsprechendes Mobiliar, Kritias FGrH 338a F 1a (= Athen. 1.28b); vgl. W. Morison, BNJ ad loc. (zuletzt geprüft am 11.07.2017); das gilt wohl auch für drei Erfindungen, die auf den ersten Blick nicht zum Gastmahl gehören: die Schrift, der zweirädrige Wagen und das Handelsschiff; die Schrift dient dem Vortrag beim Gastmahl; auf dem Wagen kommt der Ehrengast angefahren; das Handelsschiff bringt die Luxusartikel.
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gen an anderen Orten.545 Die Unbeherrschtheit des Trinkers schade nicht nur seinem Ansehen und seinem Körper, sondern auch seinem Haushalt: Die Sklaven sind ungezügelt, „die Kosten ruinieren das Haus“ (ἐπεισπίπτει δ’ οἰκοτριβὴς δαπάνη). Die lakedaimonische Jugend hingegen trinke maßvoll. Ein solches Trinken sei „nützlich für Körper, Geist und Besitz“ (σώματί τ’ ὠφέλιμος γνώμηι τε κτήσει τε) und ist Gesundheit, Frömmigkeit und „Besonnenheit“ (Σωφροσύνην) zuträglich. Das übermäßige Zutrinken sei zwar angenehm, aber schädlich. Die lakedaimonische „Lebensweise“ (δίαιτα) sei hingegen ausgewogen, so dass man fähig bleibe, „zu denken“ (φρονεῖν) und sich zu ertüchtigen (πονεῖν). Die superlativen Attribute, z. B. τρυφερωτάτη, „üppigst“, sind also gar kein Lob, sondern Ausdruck von Exzess. Von autarkeia spricht Kritias hier zwar nicht. Ansonsten gleicht seine Mahnung zum Maßhalten allerdings bis zum Wortlaut den Stellen bei Demokrit und anderen Autoren, wo das Wort auftaucht. Vernunft (phronein) und Besonnenheit (sōphrosynē) sollen durch richtige Lebensweise (diaita), d. h. gesunde Ernährung kombiniert mit Ertüchtigungen (ponein), bewahrt werden. Kritias erweitert die Kritik am ausschweifenden Konsum um eine hauswirtschaftliche Perspektive, die Xenophons Oikonomikos wiederholt. Wenn der Herr sich seinen Genüssen hingibt, hat er sein Gesinde nicht mehr im Griff und zehrt sein Vermögen auf. Mehrere Fragmente von Kritias’ Verfassung der Spartaner wiederholen den Kontrast zwischen der bescheidenen Lebensführung der Spartaner und den überbordenden Trinkrunden bei Chiiern, Thasiern, Thessalern und Athenern.546 Wie in den Elegien dienen ägäische Hafenstädte als Kontrast: Dort Milet, Chios und Rheneia als Lieferanten kostbarer Symposion-Möbel, hier Chios und Thasos als Exporteure begehrten Weins.547 Vielleicht nicht zufällig waren alle genannten Städte entweder Mitglieder des attischen Seebunds oder Verbündete Athens wie Thessalien. Die vom kaiserzeitlichen Lexikographen Pollux gesammelten besonderen Ausdrücke aus Kritias’ Texten runden das Bild ab. Sie finden sich im siebten Buch des Onomastikons im Abschnitt über Gewerbe (technai) und betreffen die Herstellung, v. a. aber den Verkauf von Waren. Gleich mehrere Ausdrücke finden sich für den Kauf von Zukost (ὀψωνία, ὀψωνεῖν, ὀψονομεῖν).548 Die meisten Ausdrücke sind spezielle Verkäuferbezeichnungen, die auf
545 Kritias FGrH 338a F 4 (= Athen. 10.432d). 546 FGrH 338a F 10 (= Athen. 11.463e = DK 88 fr. B 33) zu den Trinksitten; Chios und Thasos waren Herkunftsorte teurer Edelweine; die Thessaler waren für ihren Luxus berüchtigt, den Kritias selbst nennt, F 8 (= Athen. 14.662f = DK 88, fr. B 31); zur spartanischen Frugalität F 11a–c (= Athen. 11.483b, Plut. Lyk. 9.7, Poll. 6.97 = fr. B 34 DK 88). 547 FGrH 338a F 12a–b (= Athen. 11.486e = Harp. s. v. Λυκιουργεῖς = fr. B 35 DK 88); Morison, BNJ ad loc.: „Reference to these places must have been a part of a larger contrast and comparison between the products of these rich trading cities and the sparer, but presumably more efficient in Kritias’ opinion, products of the Lakedaimonians. Such an interest strongly parallels with his comparisons of Spartan drinking custom with that of other peoples.“ Vgl. Richter 1966, 52 für die Bekanntheit chiischer und milesischer Liegen. 548 FGrH 338a F 16 (= Poll. 6.38 = fr. B 60 DK 88).
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-πώλης enden.549 Trotz des fehlenden Kontexts lässt sich ein Bezug zur zeitgenössischen Komödie herstellen. Viele Ausdrücke sind Hapax legomena, viele andere sonst nur bei Aristophanes belegt. Pollux kommentiert die längste Liste von Verkäufernamen mit der Bemerkung, Kritias habe die meisten dieser Ausdrücke aufeinanderfolgend verwendet und wegen ihres „Wohlklangs“ (εὐφωνίαν) gewählt. Bei Kritias fanden sich also Listen asyndetisch aneinandergereihter Verkäuferbezeichnungen, die als fantasievolle Neuschöpfungen bunt und vielleicht belustigend wirken sollten. Eine ganz ähnliche Auflistung bunter Verkäuferbezeichnungen findet sich in Aristophanes etwa zeitgleichen Rittern, gedacht als Verspottung der Ambitionen der ‚neuen Politiker‘.550 Eine weitere Parallele der Ritter zu Kritias (und Pseudo-Xenophons Verfassung) ist eine Rundumschau über die Gebiete, aus denen das Handelszentrum Athen seine Waren und Tribute empfängt – wieder dient sie der Bloßstellung der überzogenen politischen Ambitionen eines Gemeinwesens, Ambitionen, die dem Hochmut der Person entsprechen, die sich bei Euripides für autark hält.551 Die gelehrte Luxuskritik und die philosophischen Mahnungen zur autarkeia entstanden demnach offenbar im Kontext einer gesteigerten Wahrnehmung für die Folgen von Reichtum und Erwerb – man feierte sie, aber sie weckten auch Unbehagen. Indizien sprechen dafür, dass die Verbindung von Seeherrschaft, Handel und Wohlleben ein häufigeres Thema der Komödie in diesen Jahren war.552 Ein bekanntes Fragment aus Hermippos’ Korbträgern (um 428–425) ist dafür der beste Beleg:553 549 ἱματιοπῶλαι – Kleiderverkäufer, χορδοπώλης – Saitenverkäufer, μυρεψός – Parfümhersteller/-händler, χαλκοπῶλαι – Bronzeverkäufer, λιβανωτοπῶλαι – Weihrauchverkäufer, σιλφιοπῶλαι – Silphionverkäufer usw. 550 Aristoph. Equ. 129–144 behauptet, erst habe ein „Werrighändler“ (στυππειοπώλης) Athen beherrscht, dann ein „Schafhändler“ (προβατοπώλης), dann ein „Lederhändler“ (βυρσοπώλης) – Kleon –, und schließlich komme ein „Wursthändler“ (ἀλλαντοπώλης). 551 Equ. 164–174; als die Sklaven den Wursthändler aufsuchen, damit er den Paphlagonier ersetzt, versprechen sie ihm die Herrschaft über Athen und das Seereich; er solle sich auf seinen Verkaufstisch stellen und „die Inseln ringsumher“ betrachten, samt der „Handelshäfen und Frachtschiffe“, über die er ebenfalls herrschen werde; Aristophanes karikiert die athenischen Aspirationen, wenn der Wursthändler aufgefordert wird, bis nach Karthago und Karien, Gebiete außerhalb des Seereichs, zu blicken; zur Deutung der Szene vgl. Schmitz 1988, 123. 552 Vgl. Wilkins 1998, 254 f., unter besonderer Berücksichtigung des Hermippos-Fragments. 553 Hermipp. fr. 63 PCG (= Athen. 1.27e–28a): ἕσπετε νῦν μοι, Μοῦσαι Ὀλύμπια δώματ᾽ ἔχουσαι, | ἐξ οὗ ναυκληρεῖ Διόνυσος ἐπ᾽: οἴνοπα πόντον, | ὅσσ᾽ ἀγάθ᾽ ἀνθρώποις δεῦρ᾽ ἤγαγε νηὶ μελαίνῃ. | ἐκ μὲν Κυρήνης καυλὸν καὶ δέρμα βόειον | ἐκ δ᾽ Ἑλλησπόντου σκόμβρους καὶ πάντα ταρίχη: | ἐκ δ᾽ αὖ Θετταλίας χόνδρον καὶ πλευρὰ βόεια: | καὶ παρὰ Σιτάλκου ψώραν Λακεδαιμονίοισι: | καὶ παρὰ Περδίκκου ψεύδη ναυσὶν πάνυ πολλαῖς. | αἱ δὲ Συράκουσαι σῦς καὶ τυρὸν παρέχουσι. | καὶ Κερκυραίους ὁ Ποσειδῶν ἐξολέσειε | ναυσὶν ἐπὶ γλαφυραῖς, ὁτιὴ δίχα θυμὸν ἔχουσι. | ταῦτα μὲν ἐντεῦθεν: ἐκ δ᾽ Αἰγύπτου τὰ κρεμαστὰ | ἱστία καὶ βίβλους: ἀπὸ δ᾽ αὖ Συρίας λιβανωτόν: | ἡ δὲ καλὴ Κρήτη κυπάριττον τοῖσι θεοῖσιν, | ἡ Λιβύη δ᾽ ἐλέφαντα πολὺν παρέχει κατὰ πρᾶσιν: | ἡ ῾ Ῥόδος ἀσταφίδας τε καὶ ἰσχάδας ἡδυονείρους. | αὐτάρ ἀπ᾽ Εὐβοίας ἀπίους καὶ ἴφια μῆλα: | ἀνδράποδ᾽ ἐκ Φρυγίας, ἀπὸ δ᾽ Ἀρκαδίας ἐπικούρους. | αἱ Παγασαὶ δούλους καὶ στιγματίας παρέχουσι. | τὰς δὲ Διὸς βαλάνους καὶ ἀμύγδαλα σιγαλόεντα | Παφλαγόνες παρέχουσι: τὰ γάρ τ᾽ ἀναθήματα δαιτός: | Φοινίκη δ᾽ αὖ καρπὸν φοίνικος καὶ σεμίδαλιν | Καρχηδὼν δάπιδας καὶ ποικίλα προσκεφάλαια. Übers. C. Friedrich.
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Musen, Bewohner olympischer Höhen, jetzt sagt mir, Wie viele Güter Dionysos, seit er das purpurne Meer überquerte, auf seinem schwärzlichen Schiffe den Menschen schon brachte: Silphion-Kraut aus Kyrene und Rindshaut, und vom Hellespontos fette Makrelen und alles Gepökelte, Grütze sodann aus Thessalien und Rippen vom Rinde. Und von Sitalkes die Krätze für alle Spartaner und von Perdikkas Betrug dann auf zahllosen Schiffen. Schweine und Käse, das liefern die Syrakusaner. Hoffentlich lässt Poseidon die Kerkyrer ertrinken auf ihren bauchigen Schiffen, weil doppelt ihr Sinn ist! Soweit von dort. Aus Ägypten die fertigen Segel wie auch Papyros, von Syrien wiederum Weihrauch. Aber das herrliche Kreta verschafft die Zypresse den Göttern, Libyen bringt zum Verkauf uns an Elfenbein jegliche Menge, Rhodos Rosinen, getrocknete Feigen für glückliche Träume. Aber von Euboia kommen die Birnen und glänzende Äpfel, Sklaven aus Phrygien und aus Arkadien Söldner. Und Pagasai bietet Knechte und schuldig Gezeichnete, aber die Eicheln des Zeus und die schimmernden Mandeln, diese gewährt Paphlagonien; sie geben das Beiwerk zum Mahle. Aus dem phönizischen Land stammen Dattel und Weizen und aus Karthago die Teppiche, ebenso Kissen in mehreren Farben.
Die Aufzählung von Herkunftsorten ausgesuchter Waren ist verwoben mit Kommentaren zu den Verbündeten und Gegnern Athens zu Beginn des Peloponnesischen Krieges. Die meisten Referenzen haben jedoch kulinarischen Charakter und stecken die Handelsplätze der Athener im Westen, Norden, Osten und Süden ab. Die Grundnahrungsmittel werden nur kurz erwähnt (Grütze aus Thessalien, Weizen aus Phönizien), ausführlich hingegen die feine Zukost.554 Eine kritische Aussageabsicht ist nicht direkt fassbar. Das implizite Thema könnte allerdings durchaus autarkeia im Sinne von Unabhängigkeit sein. Die Aufzählung begehrter, aber nicht notwendiger Leckereien alterniert mit der Aufzählung schwieriger oder unzuverlässiger Verbündeter und kriegsnotwendigen Bedarfs wie Schiffsmaterial und Söldner. Diese Überkreuzung notwendiger Kriegsmittel und nichtnotwendiger ‚Luxus-Waren‘ entspricht der Aufzählung von Gütern bei Pseudo-Xenophon. Beim Komödien-Dichter Hermippos könnte sie der Kritik daran gedient haben, dass Athen trotz seines Reichtums von externen Mächten abhängig war. Oder sie intendierte lediglich einen komischen Effekt, durch die Jux-
554 Selbst der importierte Weizen kann als (bescheidene) Feinkost gelten.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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taposition von politischer Notwendigkeit und den ‚Notwendigkeiten‘ des Luxus. In jedem Fall ist das Fragment ein Beleg dafür, dass die Verbindung von Seereich, Handel und Luxusleben ein allgemeines Thema war und nicht auf einen elitären Kreis von Gelehrten beschränkt war. Im 4. Jh. verbreiterten die Gelehrten die spezielle historische Erfahrung der Austauschbeziehungen im athenischen Seereich zu allgemeinen Theorien menschlicher Vergesellschaftung. Was bei den athenischen Schriftstellern des 5. Jhs. Kritik an den politischen Ambitionen Athens war (oder sein konnte), wurde nun zu Zivilisationskritik ausgeweitet. Im Politikos schildert Platon die Lebensweise vor der Geburt des Menschen, in der Vorzeit des Titanen Kronos.555 Damals lebten die Lebewesen nach Arten getrennt vollkommen „selbstgenügsam“ (αὐτάρκης). Alles was die Zivilisation der Gegenwart kennzeichnet, fehlte hier: Krieg, politische Ordnung, Haushalte (wörtlich spricht Platon von „Besitz (κτῆσις) an Frauen und Kindern“). All das war nicht nötig, weil die Natur Nahrung im „Überfluss“ und „von selbst“ (αὐτομάτης) bot und die milde Witterung Kleider und Betten überflüssig machte. Diese mythische Vorzeit ist ein Gegenbild zur zeitgenössischen Gesellschaft. Hier bedeutet autarkēs zu sein wirklich vollständige Selbstversorgung. Der Kontext ist allerdings ein Gegenentwurf zur menschlichen Gesellschaft. Die Entstehung der menschlichen Gesellschaft beschreibt Platon in einer Passage der Politeia. Diese berühmte Passage soll ausführlicher dargestellt werden, weil sie für das Verständnis des ersten Buchs der aristotelischen Politik wichtig ist. Die polis entsteht, „weil kein Mensch für sich allein selbstgenügsam ist, sondern viel benötigt“ (ἡμῶν ἕκαστος οὐκ αὐτάρκης, ἀλλὰ πολλῶν ὢν ἐνδεής). Die wirtschaftliche Grundlage der Vergesellschaftung unterstreicht Platon: „Aus keinem anderen Grund (ἀρχήν)“ wird die Stadt besiedelt – „Unser Bedürfnis (χρεία) gründet die Stadt.“556 Diese Bedürfnisse sind jene, für die in der im Politikos geschilderten Vorzeit noch die Natur selbst sorgte: Ernährung, Behausung, Bekleidung. Damit eine Stadt all diese Mittel bereithalten kann (ἀρκέσει ἐπὶ τοσαύτην παρασκευήν), braucht sie einen Landwirt, einen Baumeister, einen Weber, einen Schuster usw. Aus diesen vier oder fünf Personen bestünde die „notwendigste Stadt“ (ἀναγκαιοτάτη πόλις).557 Nun erläutert Platon die Arbeitsteilung, dank der alle Bedürfnisse am zeitsparendsten und besten befriedigt werden könnten. Es kommen weitere Spezialisten hinzu. Handwerker, die für die zuerst genannten Berufsgruppen die Werkzeuge herstellen. Fernhändler, die aus anderen Städten das Benötigte holen. Der Handel erfordert es zwingend, die Stadt an einem Ort anzulegen, der für Importe geeignet ist. Außerdem müssen Überschüsse von den Gütern produziert werden, an denen die anderen Städte 555 Plat. polit. 271d–272a. 556 Rep. 2, 369c. 557 Rep. 2, 369d.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
„Bedarf “ (χρεία) haben, damit der Handel beginnen kann. Wird der Handel zur See geführt, braucht es Seeleute. Der Austausch innerhalb der Stadt wird mit „Kauf und Verkauf “ (πωλοῦντες καὶ ὠνούμενοι) abgewickelt; daraus entsteht der „Markt“ (ἀγορά) und das „Münzgeld als Symbol des Tauschs“ (νόμισμα σύμβολον τῆς ἀλλαγῆς). Damit Landwirte und Handwerker ihre Arbeitszeit nicht auf dem Markt verschwenden, übernehmen Krämer den Verkauf „gegen Geld“ (ἀντ’ ἀργυρίου), und zwar spezialisieren sich diejenigen darauf, „die körperlich am schwächsten sind und zu sonst keinem Werk taugen“. Die letzte Gruppe sind die mit schwachem Geist, die bloß „den Gebrauch (χρείαν) ihrer Kraft verkaufen“: Tagelöhner.558 Nachdem Platon Produktion und Distribution behandelt hat, widmet er sich abschließend dem Konsum. Die einfache Stadt zeichnet sich durch Genügsamkeit aus. Ihre Bewohner haben gerade soviel Kleidung, um sich vor Witterung zu schützen, sie ernähren sich von Gerstenfladen und Weizenbroten. Ihre Gastmähler sind schlicht: Bei gemeinsamer Speise liegen sie auf Wildsträuchern, trinken Wein, preisen die Götter und sind vergnügt miteinander. Zum Schutz vor „Armut und Krieg“ werden sie nur soviele Kinder zeugen wie ihr Vermögen ermöglicht. Ihre „feine Zukost“ (ὄψος) ist einfach, die Nachtische sind bescheiden, das Trinken maßvoll.559 Der Ausgangpunkt dieser Zivilisations-Entstehungstheorie ist der Mangel an wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit.560 Das Schlüsselwort ist chreia, was im bekannten Doppelsinn (s. Kap. 6.2) Bedarf und Gebrauch bedeutet. Von einem autarken Haushalt fehlt jegliche Spur. Die städtische Arbeitsteilung ist komplex und kommerzialisiert. Selbst die Krämer, die Platon (anders als die Fernhändler!) ebenso geringschätzt wie die Lohnarbeiter, gehören integral zur Gesellschaft.561 Kritikwürdig sind Arbeitsteilung, Handel und Geldverkehr nicht per se; die erste Stadt wird sogar als „wahrhaftige Stadt“ (ἀληθινὴ πόλις) bezeichnet. Kritikwürdig werden sie, wenn sie nicht mehr der Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse dienen, sondern einem üppigen Wohlleben. Die Beschreibung einer solchen „üppigen Stadt“ (τρυφῶσαν πόλιν) schließt Platon nun an. Das Zeitwort νῦν signalisiert, dass Platon dabei die Verkommenheit seiner eigenen Zeit kritisiert.562 In der üppigen Stadt gibt es bequemes Mobiliar und Feinkost, Salben, Freudenmädchen, Backwerk; die Grundversorgung reicht nicht mehr, man hat außerdem Malerei, Buntweberei, Gold, Elfen-
558 Rep. 2, 369e–371e. 559 Rep. 2, 372a–c. 560 Schofield 1993, 187–193 hebt hervor, dass die Radikalität, mit der die Entstehung der Gesellschaft hier speziell unter dem ökonomischen Aspekt dargestellt wird, ein bewusstes Spiel mit den Erwartungen der Rezipienten war; sie dient allerdings nicht der Begründung einer Ökonomie als eigenständiger Wissenschaft, so Schofield weiter, sondern dazu, die anthropologischen Grundlagen der ‚gerechten Stadt‘ zu legen. 561 Berufsmäßige Arbeitsteilung und kommerziellen Austausch hält Platon auch in der Idealstadt der Gesetze für alternativlos, vgl. leg. 11, 915c–921d; dazu Danzig/Schaps 2001, 143–147. 562 Plat. rep. 2, 372e.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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bein und dergleichen mehr. Die Stadt wird größer, weil man jetzt eine große Bevölkerung braucht, die nicht mehr bloß „wegen der notwendigen Dinge“ (τοῦ ἀναγκαίου ἕνεκά) in der Stadt lebt. Jäger, Mimen, bildene Künstler, Musiker, Dichter, Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Bauunternehmer, Handwerker aller Art, speziell auch „für weiblichen Putz“; außerdem Bedienstete: Pädagogen, Stillammen, Kindermädchen, Kammermädchen, Mägde, „Feinkostmacher“ (ὀψοποιῶν), Köche und Schweinehirten. Die üppige Lebensweise erfordert zusätzliche Ärzte. Das Territorium der Stadt, das früher ausreichte, wird zu klein, also kommt es zum Krieg mit Nachbarstädten, die selbst „unmäßig werden“ und „nach unbegrenztem Geldbesitz streben, über die Grenze des Notwendigen hinaus“ (ἐπὶ χρημάτων κτῆσιν ἄπειρον, ὑπερβάντες τὸν τῶν ἀναγκαίων ὅρον).563 Diese Luxuskritik schlägt Saiten wohlvertrauten Klangs an. Der Fokus liegt wie bei Demokrit, dem Corpus Hippocraticum und Kritias und Hermippos auf dem Gastmahl, für das die vielen aufgezählten Waren und Dienstleistungen bestimmt sind. Wie Kritias und die Komiker bietet Platon eine bunte Aufzählung von Waren und Berufen in langer asyndetischer Aufreihung von Wörtern mit gleichem An- und Ablaut, um Überfluss und Verfeinerung lebendig darzustellen und zugleich einen komischen Effekt zu erzeugen.564 Wie bei den früheren Autoren sieht Platon eine Verbindung zwischen politischer Expansion, Reichtum und Luxus. Allerdings dreht er die Kausalität um: Nun ist es der innere Sittenverfall, der die Expansion antreibt. Platon bedient sich ebenfalls einer physiologisch-medizinischen Sprache. Die erste Stadt ist „gesund“ (hygies), die zweite „aufgeschwemmt“ (phlegmainousa) und hat einen gesteigerten Bedarf an Ärzten.565 Platon entwirft die üppige Stadt als anthropomorphes Wesen, das an seinem Lebenswandel erkrankt ist. Platons Erzählung von der Entstehung der Stadt und ihrer anschließenden Dekadenz bündelt die verschiedenen, nur lose verbundenen Diskursstränge zu einem einzigen Sittenbild der zeitgenössischen Gesellschaft. Dieses Sittenbild wird uns bei Aristoteles wiederbegegnen. 6.4.3 Autarkeia als Schlüsselkonzept bei Aristoteles Aristoteles’ Verwendung von autarkeia, autarkēs fügt kaum neue Bedeutungsaspekte hinzu. Neu ist bei Aristoteles die systematische und auf alle Bereiche ausgedehnte Verwendung von autarkeia als Schlüsselkonzept, das mit dem zuvor selten verwendeten Nomen nun auch schlagwortartig markiert ist.
563 Rep. 2, 373a–374a. 564 Schofield 1993, 193 spricht passend von einer „comic explosion“. 565 Vgl. Plat. rep. 1, 372c, 372e, 373b, 373d.
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Während Platon autarkeia bei der Frage nach dem höchsten Gut nur ein einziges Mal ins Gespräch bringt, verwendet Aristoteles den Ausdruck systematisch. Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik etwa leitet Aristoteles aus dem Begriff einen Beweis dafür ab, dass die „Glückseligkeit“ (εὐδαιμονία) das höchste Gut sei. Zuerst hat er die Glückseligkeit teleologisch als das „meist vollendete“ (τελειότατον) Gut bezeichnet, weil es Selbstzweck sei, während man andere Dinge (wie Reichtum) nur als intermediärere Zwecke oder nur zum Teil um ihrer selbst willen (wie Ehre, Lust, Verstand usw.) anstrebe.566 Aristoteles fügt hinzu:567 Dasselbe scheint sich aus dem Prinzip der Selbstgenügsamkeit (αὐταρκείας) zu ergeben. Denn das vollkommen Gute scheint selbstgenügsam zu sein (τὸ γὰρ τέλειον ἀγαθὸν αὔταρκες εἶναι δοκεῖ). Wir verstehen diese Selbstgenügsamkeit (τὸ αὔταρκες) nicht nur für den Einzelnen, der für sich allein lebt, sondern auch für seine Eltern, Kinder, Frau und überhaupt seine Freunde und Mitbürger, da ja der Mensch seiner Natur nach in der Gemeinschaft lebt. Doch muß hier eine Grenze gezogen werden. Denn wenn man weitergehen wollte bis zu den Vorfahren und Nachkommen und zu den Freunden der Freunde, so geriete man ins Unbegrenzte. So scheint also die Glückseligkeit das vollkommene und selbstgenügsame Gut zu sein und das Endziel des Handelns (τέλειον δή τι φαίνεται καὶ αὔταρκες ἡ εὐδαιμονία, τῶν πρακτῶν οὖσα τέλος).
Autarkeia wird, in Anschluss an Platons Güterlehre, zum Maßstab der Qualität eines Guts. Glückseligkeit ist an diesem Maßstab gemessen am autarksten und ebenso ist es derjenige, der Glückseligkeit „besitzt“.568 Diesen Zustand erreicht man freilich nur in Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist nicht nur der Haushalt, sondern auch die darüber hinausgehenden Beziehungen innerhalb der Stadtgesellschaft. Es geht also um das
566 Aristot. eth. Nic. 1, 1097 a 28–b 6. 567 Eth. Nic. 1, 1097 b 6–21: φαίνεται δὲ καὶ ἐκ τῆς αὐταρκείας τὸ αὐτὸ συμβαίνειν· τὸ γὰρ τέλειον ἀγαθὸν αὔταρκες εἶναι δοκεῖ. τὸ δ’ αὔταρκες λέγομεν οὐκ αὐτῷ μόνῳ, τῷ ζῶντι βίον μονώτην, ἀλλὰ καὶ γονεῦσι καὶ τέκνοις καὶ γυναικὶ καὶ ὅλως τοῖς φίλοις καὶ πολίταις, ἐπειδὴ φύσει πολιτικὸν ὁ ἄνθρωπος. τούτων δὲ ληπτέος ὅρος τις· ἐπεκτείνοντι γὰρ ἐπὶ τοὺς γονεῖς καὶ τοὺς ἀπογόνους καὶ τῶν φίλων τοὺς φίλους εἰς ἄπειρον πρόεισιν. ἀλλὰ τοῦτο μὲν εἰσαῦθις ἐπισκεπτέον· τὸ δ’ αὔταρκες τίθεμεν ὃ μονούμενον αἱρετὸν ποιεῖ τὸν βίον καὶ μηδενὸς ἐνδεᾶ· τοιοῦτον δὲ τὴν εὐδαιμονίαν οἰόμεθα εἶναι· ἔτι δὲ πάντων αἱρετωτάτην μὴ συναριθμουμένην–συναριθμουμένην δὲ δῆλον ὡς αἱρετωτέραν μετὰ τοῦ ἐλαχίστου τῶν ἀγαθῶν· ὑπεροχὴ γὰρ ἀγαθῶν γίνεται τὸ προστιθέμενον, ἀγαθῶν δὲ τὸ μεῖζον αἱρετώτερον ἀεί. τέλειον δή τι φαίνεται καὶ αὔταρκες ἡ εὐδαιμονία, τῶν πρακτῶν οὖσα τέλος. Übers. O. Gigon; resümierend 10, 1176 a 36–b 16, dort in Abgrenzung zum Genuss (hēdonē), der zwar ebenfalls Selbstzweck sei, jedoch mehr schade als nutze. 568 Vgl. die Definitionen in der Rhetorik, 1, 1362 a 21–29; b 10–12; 1364 a 5–9; der gleiche Gedanke liegt der Argumentation zugrunde, nach der die betrachtende Tugend die beste sei (eth. Nic. 10, 1177 a 12–b 26), weil sie nicht wie die Tugenden des praktischen gesellschaftlich-politischen Lebens trotz ihrer Größe auf extrinsische, mittelbare Güter (Macht, Ehre, Glückseligkeit/Reichtum) ziele, sondern auf „den ihm eigentümlichen Genuss“ (τὴν ἡδονὴν οἰκείαν), weshalb sie die „vollendete Glückseligkeit“ (ἡ τελεία εὐδαιμονία) sei, vorausgesetzt sie halte ein Leben lang an.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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„Leben in Gemeinschaften“ (κοινωνῶν βίου) zum Zweck der autarkeia (πρὸς τὸ εἶναι αὐτάρκειαν), wie es in Ethik V heißt.569 Aristoteles hält es für praktisch unmöglich, dass ein einzelner Mensch über ausreichend Mittel verfügt, um autark zu sein. Dieser Zustand ist für den idealen König theoretisch denkbar, der in der Wirklichkeit kaum anzutreffen ist.570 Er gleicht der „autarken“ Gottheit bei Platon und Aristoteles – neben dem wilden Tier das genaue Gegenteil des gemeinschaftsbedürftigen Menschen.571 Im Übrigen wäre selbst der König nur so weit unabhängig, dass seine Einkünfte Dank seiner Macht gesichert sind. Er wäre autark wie Athen als Hegemon des Seebunds, aber nicht wirtschaftlich abgeschottet. Die Frage nach Unabhängigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen behandelt Aristoteles auch in seiner Untersuchung der Freundschaft in der Eudemischen Ethik. Braucht derjenige, der „in allem selbstgenügsam“ (κατὰ πάντα αὐτάρκης) ist, überhaupt einen Freund? Bestünde die Freundschaft nur wegen des Nutzens, d. h. „wegen des Mangels“ (κατ’ ἔνδειαν), dann bräuchte der „Gute“ (ἀγαθός), der αὐταρκέστατος sei, keine „nützlichen“ Freunde, sondern „ist sich selbst genug“ und hat keinen „Herrn“ (δεσπότης).572 Das zeige allerdings gerade, dass die wahre Freundschaft nicht wegen des Nutzens bestehe, sondern wegen der Tugend.573 Die abstrakte Argumentation führt zu einem lebenspraktischen Fazit: Wenn wir nichts benötigen, suchen wir die Freunde nicht danach aus, ob wir ihrer Hilfe bedürfen: Wir urteilen besser, wenn wir „ausreichend versorgt sind (αὐτάρκεις ὄντες) und keinen Mangel leiden.“574 Die wiederholte Betonung des Mangels zeigt, dass autarkeia auch die ausreichende materielle Versorgtheit bezeichnet. Entscheidend ist allerdings nicht die Quelle der Bedarfsbefriedigung (Tausch oder Subsistenz), sondern die Unabhängigkeit innerhalb sozialer Beziehungen. Autarkeia bezeichnet wie bei Euripides die Selbstbestimmtheit im Gegensatz zur Sklaverei.575 Autarkeia meint in all diesen Passagen nicht Selbstversorgung oder Abschottung, sondern Unabhängigkeit bis hin zur Überlegenheit. Der autarke Mensch handelt aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln gemäß seines eigenen Willens. Dieses Ideal, 569 570 571 572 573 574
575
Eth. Nic. 5, 1134 a 24–32; vgl. Nielsen 2013, 68. Eth. Nic. 8, 1160 a 36–b 12; vgl. die Diskussion des Königtums, pol. 3, 1284 b 35–1288 a 32. Plat. Tim. 68e; vgl. ebd. die vollkommene Welt, 32c–33d; Aristot. pol.1, 1253 a 26–28. Aristot. eth. Eud. 7, 1244 b 3–11. Eth. Eud. 7, 1244 b 16 f. Eth. Eud. 7, 1244 b 19 f.; eth. Nic. 9, 1169 b 3–10 beantwortet dieselbe Frage leicht variiert: Die Annahme, der „die Glückseligen und Selbstgenügsamen (τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν) bräuchten keine Freunde“, weil wer autark sei, niemanden brauche, der ihm Dinge „beschaffe“ (πορίζειν), sei falsch, weil die Freundschaft selbst das höchste externe Gut sei – ohne Freundschaft könne man also gar nicht autark sein. Vgl. Adkins 1963, 44 f. zu Selbstgenügsamkeit und Freundschaft bei Aristoteles. In die gleiche Richtung weist die Diskussion der Freundschaft von Ungleichen, die Aristoteles kurz zuvor behandelt, vgl. Aristot. eth. Eud. 7, 1238 b 15–39.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
in der Rhetorik als αὐτάρκεια ζωῆς definiert, erfordert allerdings instrumentell nützliche, externe Güter.576 Die in der Nikomachischen Ethik gepriesene kontemplative „betrachtende Lebensweise“ (τὸ θεωρεῖν) braucht selbstverständlich „die äußeren guten Verhältnisse“ und ausreichende Versorgung, weil die menschliche Natur leider nicht „selbstgenügsam“ (αὐτάρκης) ist.577 Allerdings solle man maßhalten, „denn das Ausreichende liege nicht im Überschuss“ (οὐ γὰρ ἐν τῇ ὑπερβολῇ τὸ αὔταρκες) und auch „mit mäßigem Besitz“ lasse sich tugendhaft handeln und glücklich leben. Diese Auffassung verdiene Glauben, betont Aristoteles, weil sie mit den Ansichten der Weisen übereinstimme: Solon habe es mit seinem Leben bewiesen und Anaxagoras in seiner Philosophie gegen den Irrglauben der meisten vertreten.578 Das Ideal des ‚Mittleren‘, der mit maßvollem Besitz ein tugendhaftes Leben führt, findet sich in der Politik wieder.579 Weil im Begriff des maßvollen Mittleren ein deskriptiver (mittlerer Besitz an Vermögen und Macht) und ein evaluativer (maßvolles Handeln) Bedeutungsaspekt verschmolzen sind, ist eine objektive Identifikation mit einer bestimmten sozialen Schicht kaum möglich. Deutlich ist allerdings, dass der „mäßige“ Besitz der ‚Mittleren‘, den Aristoteles sich vorstellt, über Subsistenz weit hinausgeht und seine Eigentümer zum Teil der begüterten Minderheit der zeitgenössischen Städte gemacht hätte.580 Die Ethik setzt autarkeia wie Politik I mit dem „wahren Reichtum“, d. h. dem Besitz eines „hinreichenden“ Vermögens, gleich. Aristoteles gibt allerdings keine empirischen Kriterien für das Merkmal „hinreichend“ an. Wie schon bei der Definition der widernatürlichen Erwerbskunst und der naturgemäßen Sklaverei bietet Aristoteles seinen Rezipienten mit seiner Definition des ‚ausreichenden Besitzes‘ einen Lehrsatz an, dessen hervorstechendes Merkmal rhetorische Unanfechtbarkeit ist. Die Aussage, dass „das Ausreichende nicht im Darüberhinausliegenden liegt“, ist eine Tautologie ohne praktische Konsequenz. Sie lässt sich jederzeit anbringen, ohne sich intersubjektiv prüfbar festzulegen. Aristoteles antizipiert die rhetorische Dimension dieser Maxime in gewisser Weise selbst. Er schließt seine Ausführung zum maßvollen Leben mit einer skeptischen Note: Man müsse die Wahrheit in praktischen Angelegenheiten „nach Taten und Lebensführung beurteilen“ und überprüfen, ob diese Leute ihre Lehren tatsächlich beherzigten; andernfalls handle es sich nur um „leere Worte“.581 Da Aristoteles für diese Prüfung allerdings keinen verbindlichen Maßstab zur Hand gibt, lässt sich leicht ausmalen, dass die Prüfung in der Praxis in einen Widerstreit von Apologie und Diffamierung münden würde, so wie es uns die Gerichtsreden und auch die wechselseitigen Invektiven der Philosophen in der Tat zeigen.582 576 577 578 579 580 581 582
Rhet. 1, 1360 b 14–31, dort als Definition der „Glückseligkeit“. Eth. Nic. 10, 1178 b 33–35; dazu Nielsen 2013, 68. Eth. Nic. 10, 1179 a 1–22. Pol. 4, 1295 b 2–1296 a 21. Vgl. Nippel 1980, 59; Ober 1991, 120; Winterling 1993, 194 f. Aristot. eth. Nic. 10, 1179 a 16–22: λόγους ὑποληπτέον. S. Kap. 4.3.1.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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Aristoteles stand in einer Tradition, die mindestens bis zu Demokrit zurückreicht, wenn er mit dem Ideal von autarkeia eine Mahnung zur Mäßigung verband. Die Einstellung zum Reichtum ist dabei, wie bei allen Autoren, wichtiger als die Frage, woher der Reichtum genau stammt. Die Krönung der autarkeia ist die Gleichgültigkeit gegenüber materiellem Reichtum, sei es aus Freigiebigkeit, freiheitlichem Sinn oder Bescheidenheit.583 Einen gewissen Wohlstand setzen die Mahnungen zu dieser Einstellung immer voraus. Es bleibt die ‚soziologische‘ Verwendung des Ausdrucks autarkeia bei Aristoteles. Ich beginne mit derjenigen Passage, die dem modernen Verständnis von Autarkie am nächsten kommt. In Politik I nennt Aristoteles Nomadentum, Räubertum, Fischfang, Jagd und Ackerbau naturgemäße Erwerbsformen, die ihren Lebensunterhalt von Naturprodukten gewinnen und nicht durch Tausch und Handel. Einige, führt er fort, würden „angenehm leben“ (ἡδέως ζῶσι), indem sie durch die Kombination mehrerer dieser Erwerbsformen ein „kärgliches Leben auffüllten“, indem sie ergänzten, was ihnen „dazu fehle, αὐτάρκης zu sein“, so etwa die Kombination von Nomadentum und Räuberei und Ackerbau und Jagd, wobei Letztere auch den Krieg, als ‚Jagd nach Menschen‘, einschließt.584 Alles wird hier aus von der Natur gegebenen Stoffen gewonnen, bis hin zu Kleidung und Werkzeugen.585 Hier haben wir es offensichtlich mit Selbstversorgern zu tun, die von der Natur leben und alles selbst herstellen, unterstützt höchstens durch selbst gefangene Sklaven. Im darauffolgenden Absatz spricht Aristoteles dann davon, dass die „naturgemäße Form der Erwerbskunst Teil der Ökonomik“ sei, denn diese müsse über einen „Schatz von Vermögensgütern, die für das Leben notwendig und für die Gemeinschaft der Stadt oder des Hauses nützlich sind“, verfügen, oder aber die Erwerbkunst müsse ihr diese bereitstellen.586 Propagiert Aristoteles also die Hauswirtschaft als autarke Naturalwirtschaft? Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass Aristoteles Ackerbau und Jagd usw. für besonders gute, weil „naturgemäße“ Erwerbsformen hält,587 sprechen mehrere Gründe gegen diese Deutung. Aristoteles wechselt in der Bestimmung des naturgemäßen Erwerbs von einer Definition über die Herkunft der Güter (sie sind autophyta) zu ihrer Zweckmäßigkeit (sie sind anankaia und chrēsima). Nur bei der zweckorientierten Definition kommen Haushalt und Stadt als menschliche Gemeinschaften ins Spiel. In Bezug auf die mittelorientierten Erwerbsformen lässt Aristoteles hingegen offen, in welcher sozialen Organisation die zuvor genannten Menschen zusammenleben. Anstatt nach Organisationsformen („Gemeinschaften“)
583 584 585 586
Aristot. eth. Nic. 4, 1125 a 11 f., vgl. eth. Eud. 7, 1238 b 30 f.; rhet. 1, 1360 b 14–31. Pol. 1, 1256 a 40–b 26. Pol. 1, 1256 b 15–20. Pol. 1, 1256 b 26–30: ἓν μὲν οὖν εἶδος κτητικῆς κατὰ φύσιν τῆς οἰκονομικῆς μέρος ἐστίν, ὅτι δεῖ ἤτοι ὑπάρχειν ἢ πορίζειν αὐτὴν ὅπως ὑπάρχῃ ὧν ἔστι θησαυρισμὸς χρημάτων πρὸς ζωὴν ἀναγκαίων, καὶ χρησίμων εἰς κοινωνίαν πόλεως ἢ οἰκίας. 587 Vgl. pol. 1, 1258 a 35–38.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
unterscheidet Aristoteles hier (und nur hier) nach „Ernährungsweisen“ (τῆς τροφῆς), ein Ordnungskriterium, das explizit aus der Zoologie übernommen ist.588 Aristoteles’ Beschreibung dieser Selbstversorger haftet deshalb aufgrund dieses Vergleichs mit den Tieren etwas urtümliches und vor-zivilisatorisches an, ähnlich Platons Entwürfen zur Vorzeit der Stadtgemeinschaft. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass es bei Aristoteles zuvor hieß, jeder einzelne Mensch sei für sich genommen nicht autark, sondern nur in der Gemeinschaft, anders als ein wildes Tier oder ein Gott.589 Denn in den zwei entscheidenden Passagen zur ‚soziologischen‘ Verwendung von autarkeia in Politik I und VII ist jeweils entscheidend, dass die Menschen erst durch Vergemeinschaftung und Austausch autarkeia erreichen.590 Diese beiden Passagen sind in der Diskussion um das antike Autarkie-Ideal mit am häufigsten herangezogen worden und sollen hier zum Abschluss besprochen werden. Im ersten Buch schildert Aristoteles die Abfolge menschlicher Gemeinschaften, vom Haus über das Dorf bis zur Stadt. Der Prozess ist ein historischer und zugleich teleologisch notwendig.591 Wie bei Platon sind die Bedürfnisse der Menschen die Triebfeder der Vergemeinschaftung, weil die Menschen diese alleine nicht befriedigen können. Die Stadt ist die „vollendete Gemeinschaft“ (κοινωνία τέλειος), weil sie die „Grenze gänzlicher autarkeia erreicht“ und dem „endgültigen und besten“ (τέλος καὶ βέλτιστον) Zweck dient, autarkeia.592 Aristoteles übt in einem späteren Buch jedoch auch Kritik an der Politeia, die er Sokrates zuschreibt.593 Sie habe nur die wirtschaftliche Dimension der Vergesellschaftung berücksichtigt, „so als bestünde die Stadt nur um des Notwendigen willen, und nicht mehr noch um des Guten willen und als seien Schuhmacherei und Landwirtschaft gleichermaßen nötig“.594 Wie gerechtfertigt diese Kritik ist,595 ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Sie zeigt jedenfalls, dass Aristoteles den oben bereits referierten „sokratischen“ (platonischen) Entwurf im Sinn hatte, als er selbst über die Grundlagen der Stadt nachdachte. Im Sinne seiner Kritik an Platon unterscheidet Aristoteles notwendige Grundlage und Perfektion: Die Stadt sei zwar wegen des bloßen „Lebens“ (ζῆν) entstanden, bestünde jedoch wegen des „guten Lebens“ (εὖ ζῆν).596 Der Haushalt ist zwar autarker als das Individuum, aber vollkommene autarkeia hält
588 589 590 591 592 593 594
Pol. 1, 1256 a 19–30. Pol. 1, 1253 a 25–29. Die zwei Verwendungen in Buch III und IV sind in Bezug auf Buch I und VII zu verstehen. S. die wiederholte Verwendung des Zeitworts prōtē, vgl. pol. 1, 1252 b 10, 16. Pol. 1, 1252 b 9–1253 a 1. Pol. 4, 1290 b 38–1291 b 13. Pol. 4, 1290 b 14–19: ὡς τῶν ἀναγκαίων τε χάριν πᾶσαν πόλιν συνεστηκυῖαν, ἀλλ’ οὐ τοῦ καλοῦ μᾶλλον, ἴσον τε δεομένην σκυτέων τε καὶ γεωργῶν. 595 Schließlich dient die Politeia ja gerade dazu, eine Verfassung zu entwerfen, die vollkommene Gerechtigkeit garantiert. 596 Aristot. pol. 1, 1252 b 27–30; vgl. 3, 1278 b 16–30 zum Bestehen der Stadt um der Freundschaft willen, mit Rückverweis auf Buch I.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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Aristoteles wie Platon erst für die Stadtgemeinde für realisierbar.597 Bei Platon tragen Händler und Kaufleute zur Autarkie der Stadt bei, indem sie Mangel und Überschuss ausgleichen. Aristoteles weist dem Handel in seiner Theorie der Entstehung der Erwerbskunst die gleiche Funktion zu (vgl. Kap. 6.1.4): Der „naturgemäße“ Tausch sorgt dafür, dass „naturgemäße autarkeia besteht“ (κατὰ φύσιν αὐταρκείας ἦν).598 Mit diesen theoretischen Ausführungen korrespondiert eine eher praktisch orientierte Passage in Politik VI. Die „Fürsorge für die lebensnotwendigen Güter“ (ἐπιμέλεια τῶν ἀναγκαίων) muss sich „zuerst“ (πρώτη) dem Markt (agora) widmen und eine Behörde „für Verträge und gute Ordnung“ einrichten. Denn:599 so ziemlich in allen Städten besteht die Notwendigkeit, einige Güter zu kaufen oder zu verkaufen, um den unter ihren Bewohnern bestehenden Bedarf an notwendigen Gütern zu befriedigen; und (Handel) ist das Mittel, das am unmittelbarsten zur autarkeia beiträgt, um derentwillen, wie man weithin annimmt, Menschen sich zu einer Bürgerschaft zusammengeschlossen haben.
Die Sorge um die materiellen Bedürfnisse der Stadtbewohner stehen wie in Politik I an erster Stelle, weil sie notwendige Voraussetzung für die edleren Tätigkeiten ist. An oberster Stelle stehen sie (deshalb?) nicht: Das Amt des Marktaufsehers (agoranomos) gehört weder in Aristoteles’ Entwurf noch in den realen Städten seiner Zeit zu den höheren Ämtern.600 Die Aussage, der Fernhandel trage am unmittelbarsten zur autarkeia bei, verträgt sich nicht mit der modernen Definition von Autarkie als wirtschaftliche Abschottung oder Selbstversorgung. Setzt man stattdessen „Unabhängigkeit“ ein, ergibt die Passage Sinn und fügt sich in das bisher gewonnene Bild: Diejenige Stadt, die aus eigener Kraft ihren Bedarf durch Einfuhr decken kann, ist unabhängig. Nicht deshalb, weil sie keine Austauschbeziehungen unterhält, sondern weil sie das nach Maßgabe ihrer eigenen Interessen und Möglichkeiten tut – so wie Athen und Korkyra. Autarkeia als wirtschaftliche Unabhängigkeit ist auch die Funktion des Handels im Entwurf der idealen Stadtgemeinde in Politik VII. Aristoteles kritisiert die verbreitete Auffassung, nach der für das Territorium und die Bevölkerung einer Stadt gelte ‚je größer, desto besser‘.601 Die optimale Bevölkerungsgröße sei jene, die „Unabhängigkeit des Lebens mitsamt Überschaubarkeit“ (αὐτάρκειαν ζωῆς εὐσύνοπτος) ermögli-
597 Pol. 2, 1261 b 11 f. heißt es, das Haus (oikia) sei „autarker“ (αὐταρκέστερον) als der Einzelne, die Stadt wiederum autarker als das Haus; pol. 3, 1275 b 20 f. heißt es, von Stadt könne man erst vollumfänglich sprechen, „wenn eine hinreichende Menge (πλῆθος ἱκανόν) von Bürgern für ein unabhängiges Leben (πρὸς αὐτάρκειαν ζωῆς) vorhanden ist“. 598 Pol. 1, 1257 b 28–30. 599 Pol. 6, 1321 b 13–18: σχεδὸν γὰρ ἀναγκαῖον πάσαις ταῖς πόλεσι τὰ μὲν ὠνεῖσθαι τὰ δὲ πωλεῖν πρὸς τὴν ἀλλήλων ἀναγκαίαν χρείαν, καὶ τοῦτ’ ἐστὶν ὑπογυιότατον πρὸς αὐτάρκειαν, δι’ ἣν δοκοῦσιν εἰς μίαν πολιτείαν συνελθεῖν. Übers. E. Schütrumpf. 600 RE 1,1 (1893), sp. 883–885 ( J. Oehler); Busolt/Swoboda 1926, 1118 f. 601 Aristot. pol. 7, 1326 a 25–b 11.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
che.602 Autark meint hier ‚für einen gegebenen Zweck hinreichend ausgestattet‘, eine Bedeutung die mit der ethischen Verwendung des Attributs korreliert. Wie dort ist der Begriff theoretisch klar definiert, ohne empirisch festgelegt zu sein: Eine absolute Zahl von Bürgerhaushalten gibt Aristoteles (anders als Platon) nicht an. Etwas eindeutiger wird Aristoteles in Bezug auf das Territorium.603 Das „selbstgenügsamste“ (τὴν αὐταρκεστάτην) bringe alle (Feldfrüchte) selbst hervor: „Denn alles zu haben und nichts zu benötigen“, heiße autark sein. Seine Größe müsse den Bürgern ein „müßiges, freies und maßvolles Leben ermöglichen“.604 Hier meint autarkeia tatsächlich Autarkie im Sinne von Selbstversorgung. Aristoteles ergänzt allerdings umgehend, dass dies ein unerreichbares Ideal sei und „viel gestritten werde“, ob die „Gemeinschaft des Meeres“ (τὴν θάλατταν κοινωνίας) nützlich oder schädlich für die gute Ordnung der Stadt sei.605 Aristoteles wiegt die Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Die Anwesenheit von Fremden und das Anwachsen der Bevölkerung bringe Unordnung. Diese Unordnung entstehe durch die „Benutzung des Meeres“ und daraus, dass viele Kaufleute kämen und gingen, was der guten Regierung schade. Dennoch sei es „für Sicherheit (ἀσφάλειαν) als auch für den Wohlstand (εὐπορίαν) am Lebensnotwendigen“ insgesamt besser, wenn die Stadt an den Seehandel angebunden sei. Ein- und Ausfuhr sollten allerdings nur den eigenen Bedürfnissen der Stadt dienen. Die Stadt solle „für sich selbst händlerisch“ (αὑτῇ γὰρ ἐμπορικήν) sein, nicht für andere, wie jene Städte, die sich „um der Einnahmen willen zum Markt für alle“ (πᾶσιν ἀγορὰν προσόδου χάριν) machten. Insofern die gute Stadt nicht habgierig sei, benötige sie keinen solchen Handelshafen.606 Wie auch sonst in der Politik hält Aristoteles Handel für ein legitimes, weil realiter immer notwendiges Mittel, um autarkeia zu erzielen.607 Wie in Politik I wird der Handel jedoch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nach den Maßstäben des Reichtumsdiskurses bewertet: Er darf nicht der Habsucht (pleonexia) dienen. Die naturgemäße Erwerbskunst stellt „wahrhaften Reichtum“ bereit: „denn die autarkeia solchen Besitzes, der dem vollkommen Leben dient, ist nicht grenzenlos“.608 Aristoteles’ Begriff von autarkeia steht also in der Tradition des im 5. Jh. begonnen Diskurses. Er schließt sowohl den pragmatischen Wunsch wirtschaftlich unabhängig zu sein, als auch das ethische Gebot zum Verzicht auf ‚unnötigen‘ Luxus mit ein. Anth602 Pol. 7, 1326 b 11–25. 603 Pol. 7, 1326 b 26–1327 a 10. 604 Pol. 7, 1327 a 28–30: τὸ γὰρ πάντα ὑπάρχειν καὶ δεῖσθαι μηθενὸς αὔταρκες; 31 f.: ζῆν σχολάζοντας ἐλευθερίως ἅμα καὶ σωφρόνως. 605 Pol. 7, 1327 a 11–13; dieser Hinweis auf eine laufende Debatte klingt fast wie eine Anspielung auf die oben dargestellte Diskussion über die Auswirkungen der Seeherrschaft und des auswärtigen Handels; sie könnte sich allerdings auch nur auf Platons entsprechende Äußerungen in Politeia und Gesetzen beziehen. 606 Aristot. pol. 7, 1327 a 13–31. 607 Vgl. Bresson 1987, 219–227. 608 Aristot. pol. 1, 1256 b 26–39: ἡ γὰρ τῆς τοιαύτης κτήσεως αὐτάρκεια πρὸς ἀγαθὴν ζωὴν οὐκ ἄπειρός ἐστιν.
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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ropologischer und soziologischer Wortgebrauch bleiben eng verknüpft bei Aristoteles, der autarkeia zum Schlüsselkonzept adelte, das freilich schillernd blieb. 6.4.4 Das Ideal der autarkeia: Sittenkritik und Unabhängigkeitsstreben Die vorangegangene Diskussion hat gezeigt, wie vielfältig die Bedeutungsnuancen und Verwendungsweisen von Wörtern mit dem Stamm autark- waren. Je nach Kontext lässt sich, „ausreichend“, „selbstwirksam“ oder „Vollständigkeit“, „Selbstgenügsamkeit“ oder „Unabhängigkeit“ übersetzen und auf den menschlichen Geist, seinen Körper, Landschaften oder Städte beziehen, auf materielle oder immaterielle Güter. Bei all diesen Variationen lässt sich jedoch ein Oberbegriff ausmachen: Autark zu sein bedeutet unabhängig von anderen Akteuren zu sein, d. h. zum eigenständigen Handeln fähig. Diese Selbstwirksamkeit erscheint als Ideal in allen Lebensbereichen. Es lässt sich anstreben, aber nie vollständig erreichen – vollständige autarkeia ist dem Kosmos und den Göttern vorbehalten.609 Menschen und Städte können zwar nie vollkommen autark sein, jedoch unterschiedlich unabhängig im Verhältnis zueinander. Deshalb ist autarkeia, genau wie andere aristotelische ‚Idealtypen‘ ein Grenzwert, der als Messlatte realen Handels ethisch und rhetorisch anwendbar ist. Die physiologisch geprägte Sprache und Thematik vieler Passagen legt nahe, dass der Ausdruck autarkēs ursprünglich aus der Medizin oder Diätetik stammte. Die meisten nicht-philosophischen Belege stammen bezeichnenderweise aus dem Corpus Hippocraticum. Die frühen Belege weisen alle einen direkten Bezug zu Physiologie und Diätetik auf. Die Vertrautheit der Autoren der klassischen Zeit mit medizinischen Lehren ist bekannt.610 Bei Platon und Aristoteles – Sohn eines Arztes – finden wird nicht nur Würdigungen des Hippokrates, sondern auch Begriffe, Methoden und Prämissen, die zwar nicht unbedingt direkt vom Corpus Hippocraticum abhängen, aber intellektuelle Nähe bezeugen. Beide Autoren rezipierten die Ditätetik ihrer Zeit.611
609 Für den Kosmos: Plat. Tim. 32c–33d; Aristot. cael. 1, 279 a 6–22, für den Gott: Plat. Tim. 68e; Aristot. pol.1, 1253 a 26–28. 610 Die jüngere Forschung geht weniger von einer direkten Beeinflussung als von einem breiteren medizinisch interessierten zeitgenössischen Diskurs aus; vgl. Althoff 1992 zu Herodot und Rechenauer 1991 zu Thukydides, der ebd. 16–37 die Annahme weitgehender hippokratischer Einflüsse und Parallelen, wie sie Weidauer 1954, 69–75 und Lichtenthaeler 1965, 238 f. vertraten, korrigiert; für Demokrit, der später den Beinamen medicus erhielt, sind bei Diog. Laert. 9.48 (= DK 68 A 33) mehrere medizinische Schriften belegt, darunter eine „Über die Lebensführung“. 611 Platon erwähnt Hippokrates als Erster namentlich, vgl. Prot. 311b–c und Phaidr. 270c–d; Charm. 156e zitiert eine Meinung griechischer Ärzte, die der Lehre des Corpus Hippocraticum entspricht; Aristoteles zollt Hippokrates in pol. 7, 1326 a 14 f. Respekt; zu begrifflichen und methodischen Parallelen, s. López-Salvá 1996, 207–215; zur Rezeption der Diätetik bei Platon und Aristoteles s. Wöhrle 1990 117–157.
298
6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
Falls autarkeia kein medizinischer Fachausdruck war, so doch zweifellos ein Gelehrten-Ausdruck, der in einem physiologisch und diätetisch geprägten Diskurs entstand. Die häufig normative Verwendung des Ausdrucks in Bezug auf maßvolle Lebensführung (Diätetik),612 verbunden mit Verweisen auf den Import von Luxusgütern, unterstreicht einmal mehr, dass die Auseinandersetzung mit Haushaltung und Erwerb im 4. Jh. Teil eines luxuskritischen Reichtumsdiskurses war. Autarkeia meint nicht die Beschwörung eines überkommenen bäuerlichen Ideals der Subsistenzwirtschaft, sondern ist ein Plädoyer für das ethisch richtige Verhältnis zum Reichtum und seines Erwerbs angesichts neuer Erwerbsquellen und neuer Formen verfeinerten Konsums. Xenophons Oikonomikos spricht zwar nicht von autarkeia, ist jedoch gleichwohl Teil dieses Diskurses. Er beginnt mit dem Lotterleben der jungen ‚Aristokraten‘, mit dem diese ihre Lust befriedigen, aber ihrem Körper und Geist schaden. Demgegenüber bietet die mit Fürsorge betriebene Landwirtschaft nicht nur „Vergrößerung des Vermögens“, sondern auch „Wohlleben“ (ἡδυπάθεια) und „körperliche Ertüchtigung“ (σωμάτων ἄσκησις), wie sie einem „freien Mann“ gebühren.613 Mit traditioneller Landwirtschaft hat das wenig zu tun, dafür viel mit Idealen edler Lebensführung. Ebenso geht es auch bei Aristoteles’ Lob für die Landwirtschaft als naturgemäße Erwerbsform nicht um das Festhalten an traditioneller Landwirtschaft als vielmehr um ethische Ideale der erwerbswirtschaftlichen Mäßigung. Anders als ōpheleia und epimeleia war autarkeia kein allgemein gebräuchlicher Ausdruck, sondern eine Neuschöpfung. Auf den Haushalt wurde der Ausdruck nicht angewandt – Platon und Aristoteles hielten den Haushalt für grundsätzlich nicht autark, weshalb er immer an den Austauschbeziehungen der Stadtgesellschaft partizipieren muss. Gerade in dieser Hinsicht reflektiert der Begriff einen wesentlichen Aspekt der hauswirtschaftlichen Praxis seiner Zeit. Denn dem Wunsch nach Unabhängigkeit, der durch ihn ausgedrückt wird, entspricht, dass diese hausübergreifenden Austauschbeziehungen als Belastung empfunden wurden.614 Die Stadt war der soziale Raum der hausübergreifenden Konkurrenz, welche die Hauswirtschaft antrieb und zugleich von ihr angetrieben wurde. Vor dem Hintergrund dieser hausübergreifenden Verflechtungen erhält autarkeia im Sinne von „Unabhängigkeit“ seine eigentliche Bedeutung als
Unter den wenigen Krankengeschichten im dritten Buch der hippokratischen Epidemien, die eine kausale Erklärung für den Ausbruch der Krankheit bieten, sind diese Erklärungen bei Männern durchweg diätetisch; im Fall von zwei jungen Männern in Thasos und Abdera wird die Erkrankung bemerkenswerterweise auf „ein Übermaß and Alkoholgenuss und Geschlechtsverkehr“ zurückgeführt, Hippokr. Epid. 3.3,17 (Fall 3 und 16). 613 Xen. oik. 5.1. 614 Wie etwa Aristoteles’ Verwendung von autarkeia mit Bezug auf die Austauschbeziehungen der „nützlichen“ und der „ungleichen“ Freundschaft gut zeigt. 612
6.4 Autarkeia: Abschottung oder Unabhängigkeit?
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unverwirklichbares Ideal. Die Unwirklichkeit einer Flucht aus der Stadtgesellschaft verdeutlicht die Klage eines namenlosen Charakters in einem Menander-Fragment:615 Wie angenehm ist dem doch, der die falschen Sitten hasst, Die Einsamkeit, und dem, der Schlechtigkeit nicht mag, Genug Besitz ein Acker, der ihn redlich nährt. Aus Menschenvolk wächst Neid, und dieser Luxus (τρυφή) in Der Stadt hat Glanz zwar, aber nur für kurze Zeit.
Der hier geäußerte Wunsch nach Subsistenzackerbau in Einsamkeit kommt der modernen Bedeutung von Autarkie nahe. Der Preis dafür ist allerdings der Rückzug aus der städtischen Gesellschaft überhaupt; ein Los, das Menander wie Aristoteles für schlimm erachtet.616 Einer, der diesen Weg recht weit gegangen ist, ist der Griesgram Knemon in Menanders Dyskolos. Er lebt zurückgezogen im ländlichen Bezirk Phyle. Sein hervorstechendes Merkmal ist allerdings nicht seine wirtschaftliche Subsistenz, sondern seine Knausrigkeit (er ist nicht arm) und Menschenfeindlichkeit. Am Ende des Stücks sieht Knemon ein, dass es ein Irrtum war zu glauben, er könne „sich selbst genug (αὐτὸς αὐτάρκης) sein und niemanden brauchen“.617 Seine Haltung hat jedoch durchaus etwas ethisch Vorbildliches. Knemon hält sich aus den Gerichtsfehden und Verbrechen der städtischen Rivalitäten heraus und gibt sich mit einem „mäßigen Besitz“ (immerhin Landbesitz im Wert von zwei Talenten!) zufrieden.618 An seinem zukünftigen Schwiegersohn Sostratos gefällt ihm, dass dieser, obwohl „luxusverwöhnt“ (τρυφερός) doch bereit war, die Hacke in die Hand zu nehmen und sich „anzustrengen“ (πονεῖν). Damit hat er sich als ein Mann erwiesen, der trotz seines Reichtums nicht auf einen „Armen“ (πένητι) herabsieht. Diese Haltung festigt ihn für einen etwaigen „Schicksalswechsel“ (μεταβολὴν τύχ[ης]).619 Der Dichter formuliert hier dasselbe autarkeia-Ideal wie die Philosophen: Bescheidenheit und Ertüchtigung statt Wohlleben; Distanz zur städtischen Konkurrenz und gefestigter Charakter angesichts der Ungewissheit materiellen Wohlstands. Tugenden also, die nötig waren, um das eigene Haus in einer komplexen städtischen Umwelt erfolgreich zu führen. Wenn vollständige Unabhängigkeit nicht zu verwirklichen war, so war sie doch ein handlungsleitendes Prinzip. Das Streben nach hauswirtschaftlicher Souveränität in der Interaktion mit externen Akteuren; die Fähigkeit, den eigenen Haushalt nach eigenem Willen und zum eigenen Vorteil zu führen, anstatt ganz oder teilweise von an-
615
Men. fr. 356 PCG (= Stob. 4.16,5): Ὡς ἡδὺ τῷ μισοῦντι τοὺς φαύλους τρόπους | ἐρημία· καὶ τῷ μελετῶντι μηδὲ ἓν | πονηρὸν ἱκανὸν κτῆμ’ ἀγρὸς τρέφων καλῶς. | ἐκ τῶν ὄχλων δὲ ζῆλος, ἥ τε κατὰ πόλιν | αὕτη τρυφὴ λάμπει μέν, ἐς δ’ ὀλίγον χρόνον. Übers. P. Rau. 616 Georg. 75–82; fr. 299 PCG (= Stob. 4.32,42). 617 Dys. 713 f. 618 Dys. 743–745; zum Landbesitz 327 f. 619 Dys. 767–769.
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6 Die Grundbegriffe der Hauswirtschaft
deren Haushalten abhängig zu sein620 – diese Leitmotive teilte der Kleinbauer mit dem Großgrundbesitzer, dem Kaufmann, dem Handwerker und sogar mit dem Tagelöhner. Das Streben nach einer unabhängigen, sogar dominanten Position in Austauschbeziehungen war in den Strategien sichtbar, die kleine wie große Haushalte verfolgten, um Risiken zu minimieren und die Chance zukünftiger günstiger Gelegenheiten zu optimieren (s. Kap. 14.3). So gesehen ist der Kunstbegriff der autarkeia die philosophische Abstraktion eines Prinzips des alltäglichen Hauswirtschaftens.
620 Millett 1991, 32; Horden/Purcell 2000, 151; Krischer 2000, 257; Foxhall 2007, 56.
7 Zwischenergebnis: Die literarische Ökonomik Die Entstehung der Ökonomik als eigener Gattung war ein Entwicklungsprozess hin zu einer Literarisierung der hausväterlichen Belehrung und hin zur Systematisierung des Reichtumsdiskurses. Anlass für diese Entwicklung waren die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Dynamik seit dem 5. Jh. – die Steigerung von sozialer Mobilität und Statuskonkurrenz. Insofern die griechische Gesellschaft von jeher von Mobilität und Konkurrenz geprägt war, handelte es sich um eine graduelle Verschärfung, die außerdem von Stadt zu Stadt variierte. Insofern überrascht es nicht, dass sich in den literarischen Werken viele Kontinuitäten finden: So etwa die Nachahmung von Elementen der mündlichen hausväterlichen Mahnung, und die Wiederholung der alten und topischen Klagen über Materialismus, ungerechtes Gewinnstreben und lasterhaftes Wohlleben. Neu war allerdings das Ausmaß von Literarisierung und philosophischer Systematisierung. Die literarische Form war eine Antwort auf die Frage, wie sich über moralisch fragwürdige, aber nützliche Praktiken kommunizieren ließ, ohne Autor und Rezipienten angreifbar zu machen. Dialogisierung, Ironie, Abstraktion und Theoretisierung waren Mittel, mit denen Xenophon und Aristoteles die notwendige Distanz schufen. Inhaltlich waren die Texte des 4. Jhs. gekennzeichnet von der Einführung einer einheitlichen Begrifflichkeit zur Beschreibung menschlichen Handelns und Wissens und der daraus entstehenden sozialen Einheiten. Ein solcher Einheitsbegriff ist das Nomen oikonomia, das zum Schlagwort des Diskurses über Haushaltsführung und Erwerb avancierte. Bemerkenswert ist, dass die antiken Autoren, anders als moderne Interpreten, oikonomia immer mit gewinnorientiertem Erwerbshandeln verknüpften. Platon hält eine Auflösung privater Haushalte gerade deshalb für die beste Lösung, weil er oikonomia und chrēmatismos für unauflösbar verknüpft hält. Xenophon erklärt die ‚Vergrößerung des Hauses/Vermögens‘ (auxēsis oikou) zur Hauptaufgabe der oikonomia. Mit Aristoteles wird die Sache komplizierter, weil er die vorgefundenen Begriffsbestimmungen verbessern wollte. Seine Unterscheidung von oikonomia/oikonomikē und chrēmatistikē ist allerdings anders als häufig angenommen nicht identisch mit einer Unterscheidung zwischen geschlossener Hauswirtschaft und geldbasierter Marktwirtschaft. Vielmehr bezeichnen die Ausdrücke zwei Formen menschlichen Handelns entsprechend ihrer Zwecke: Die chrēmatistikē ist die Kunst des Reichtumserwerbs, die oikonomikē der Reichtumsverwendung. Aristoteles’ terminologische Bemühungen ha-
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7 Zwischenergebnis: Die literarische Ökonomik
ben eine normative Komponente. Aristoteles ordnet die Haushaltsführung und die Kunst der Ökonomik der politischen und philosophischen Tätigkeit unter, für die sie lediglich notwendige Voraussetzungen sind, so wie der Haushalt ein untergeordneter Teil der Stadt ist. Die Erwerbskunst wird wiederum der Kunst der Haushaltsführung untergeordnet, weil sie dieser durch die Beschaffung notwendiger Güter dient. Dementsprechend gibt es eine naturgemäße und eine widernatürliche Erwerbskunst, je nachdem, ob sie ihrem teleologisch bestimmten Zweck dient oder stattdessen zum Selbstzweck wird oder dem Luxus dient. Aristoteles’ Verfeinerung der vorgefundenen Definitionen war eine intellektuelle Sonderleistung, die sich selbst im gelehrten Sprachgebrauch und unter seinen Schülern nicht durchsetzte. Das zeigten die pseudoaristotelische Oikonomika und auch die hellenistischen Belege für philosophische Reflexionen zur Ökonomik. Das zweite Buch der Oikonomika zeigt außerdem, dass oikonomia spätestens Ende des 4. Jhs. auch allgemein „Finanzverwaltung“ bedeuten konnte. Die Tatsache, dass die Zeitgenossen es nicht für notwendig hielten, einen neuen Ausdruck einzuführen, weil sie von einer strukturellen Ähnlichkeit öffentlicher Finanzverwaltung und privater Haushaltsführung ausgingen, belegt einmal mehr, wie eng die Verknüpfung zwischen Hauswirtschaft und der Generierung von Geldeinkünften war. Ein wichtiges Merkmal von Aristoteles’ Überlegungen zur Ökonomik ist, dass ihrer theoretischen Präzision eine empirische Unterbestimmtheit gegenübersteht, die der praktischen Anwendung der normativen Prinzipien einigen Spielraum lässt. Die Landwirtschaft ist zwar, genau wie bei Platon, Xenophon und Pseudo-Aristoteles, die edelste Erwerbsform, doch die faktischen Quellen des Reichtums sind weniger entscheidend als die Frage, ob dieser Reichtum guten Zwecken dient. Diese zweckorientierte Bewertung von Reichtum und Erwerb führt zum Begriff des Nutzens. Die ausgeprägt ökonomische Konnotation von ōpheleia und ähnlichen Ausdrücken ist eine bemerkenswerte Parallele zur Wichtigkeit des Begriffs des Nutzens (utility) in der modernen ökonomischen Analyse. Für Xenophon ist Nutzen und Nützlichkeit der wichtigste Bewertungsmaßstab hauswirtschaftlichen Erfolgs – Xenophons Oikonomikos wiederholt den konventionellen Nutzen-Begriff seiner Zeit. Der Komplementärbegriff war chreia, womit zugleich Gebrauch und Bedarf gemeint sein konnten. Die Nützlichkeit einer Sache bemisst sich daran, ob sich durch ihren Gebrauch ein bestimmter Bedarf decken lässt. Das gilt jedoch auch für den Verkauf als nützlicher Gebrauch einer Sache zur Deckung des Geldbedarfs. Wie in der modernen Theorie war der Nutzwert von Gütern insofern subjektiv und relativ. Im Unterschied zum modernen Begriff behielt ‚Nutzen‘ im antiken Griechenland allerdings einen normativen, kollektivbezogenen Aspekt. Was nützt, entschieden nicht die individuellen Präferenzen des Einzelnen, sondern die Bedürfnisse des Haushalts oder der Stadtgemeinde. Aristoteles’ Ausführungen zur „Grenze“, die dem Erwerb und der Haushaltung im guten Leben in der Stadtgemeinde gesetzt seien, greift diesen konventionellen Nutzenbegriff auf und integriert ihn in ein normatives, teleologisch gefluchtetes
7 Zwischenergebnis: Die literarische Ökonomik
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System. Der Nutzen einer Sache muss in letzter Konsequenz mit dem Nutzen für das gute Leben in der Stadtgemeinschaft übereinstimmen. Der ‚Bedarf ‘, den Aristoteles selbst für seine ‚Mittleren‘ annimmt, geht allerdings über Subsistenz weit hinaus und erfordert Geldeinnahmen. Aristoteles’ Theorie ist insofern eine Rationalisierung der weitverbreiteten Vorstellung, nach der Erwerb und Vermögensverwaltung zwar keine edlen, aber notwendige Tätigkeiten seien. Alle Autoren teilen die Annahme, dass der Haushalt ein Zusammenschluss zur gemeinschaftlichen Deckung des individuellen Bedarfs ist. Die hausinternen Beziehungen, in denen dieser Bedarf gedeckt wird, werden dabei als auf den Hausvater ausgerichtete Herrschaftsbeziehungen konzipiert. Die erhaltenen Schriften zur Ökonomik interessieren sich speziell für den wirtschaftlichen Aspekt dieser Herrschaftbeziehungen, nämlich die Arbeitsteilung des Haushalts. Die Erziehung als Teil der Eltern-Kind-Beziehung diskutiert Aristoteles nur anderer Stelle, Xenophon und Pseudo-Aristoteles erwähnen sie nur kurz in Hinsicht auf Kinder als Altervorsorge, gewissermaßen als eine Art altersspezifischer Arbeitsteilung. Die Ehebeziehung behandeln die beiden nur als geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zur Vermögensbewahrung. In Übereinstimmung mit der wirtschaftlichen Bedeutung von Sklavenarbeit schenken alle drei Autoren der statusspezifischen Arbeitsteilung von Herr und Sklave besondere Aufmerksamkeit. Xenophon und Pseudo-Aristoteles empfehlen die gute Personenführung zum Zweck der wirtschaftlichen Leistungssteigerung. Besondere Aufmerksamkeit schenken sie dabei der Person des Aufsehers/Verwalters, weil er in reichen Haushalten das entscheidende Bindeglied zwischen dem Hausherrn und seinen Arbeitssklaven ist. Aristoteles ist hingegen mehr mit der sozialen Bewertung der statusspezifischen Arbeitsteilung beschäftigt als mit ihrer Praxis. Seine Theorie der naturgemäßen Sklaverei ist insofern indirekt praxisrelevant, als seine theoretische Unterscheidung zwischen naturgemäßen Freien und Sklaven ein logisches Muster bietet, um die ökonomisch attraktive Ausbeutung oder Privilegierung von Sklaven zu rechtfertigen. Das Ideal der Autarkie im Sinne des Strebens nach einer ‚geschlossenen Hauswirtschaft‘ ist eine moderne Erfindung. Mit dem antiken Begriff der autarkeia hat sie wenig gemein. Die antiken griechischen Autoren gingen davon aus, dass Haushalte immer des hausübergreifenden Austauschs bedürften und selbst Städte erst durch Handel autarkeia erreichten. Obwohl autarkeia ein gelehrter Kunstbegriff war, reflektiert er zwei Aspekte der antiken Ökonomik. Zum einen enthält er eine Mahnung zur Begrenzung des eigenen Bedarfs und Erhaltung der eigenen Gesundheit durch eine Abkehr von ‚unnützem‘ Luxuskonsum. Hier zeigt sich der Ursprung des Nachdenkens über Haushaltung und Erwerb in einem luxuskritischen Reichtumsdiskurs. Zum anderen brachte autarkeia das Ideal der Unabhängigkeit auf den Begriff, das Streben der Haushalte danach, in ihren hausübergreifenden Austauschbeziehungen lieber zu dominieren als dominiert zu werden.
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7 Zwischenergebnis: Die literarische Ökonomik
Die Ökonomik der klassischen Zeit war keine Fachbuchliteratur. Sieht man von den eklogenhaften Bemerkungen Xenophons zur Landwirtschaft und einigen praktischen Ratschlägen der pseudo-aristotelischen Ökonomik ab, ist sie arm an praktischen Lehren. Das ist angesichts der Ambivalenz hauswirtschaftlicher Praxis nicht überraschend. Man erlernte die Hauswirtschaft durch praktische Anschauung im erweiterten Haushalt und man behielt nützliches Wissen für sich, weil die anderen Haushalte Konkurrenten waren. Diese Regeln der Kommunikation galten auch jenseits der Oberschichthaushalte und hatten großen Einfluss auf unseren Quellenbestand (dazu unten Kap. 8.1 und 8.2). Gleichwohl hielt die antike Theorie Lehren für die Praxis der Hauswirtschaft bereit. Sie subsumierte unter dem Begriff der oikonomia die vielfältigen Tätigkeiten der Hausgenossen und zeigte damit, inwiefern diese eine Organisation zum Zweck der Nutzenmaximierung war. Die häusliche Nutzenproduktion wurde zwar an den übergeordneten Nutzen der Stadtgemeinde zurückgebunden. Xenophon und Aristoteles machten dabei allerdings zumindest indirekt deutlich, dass die gemeinnützige Verwendung des privaten Reichtums dem Haushalt wiederum nutzte, insofern es durch Kapitalkonvertierung seine Stellung innerhalb der Statuskonkurrenz verbesserte. Die zukünftigen Vorstände reicher Haushalte, die primären Rezipienten der literarischen Ökonomik, erhielten damit ein reflektiertes Verständnis ihrer Tätigkeit als Hausherren. Die Grundprinzipien waren dabei so allgemein formuliert, dass sie sich nahezu auf jeden Haushalt anwenden ließen. Die literarische Ökonomik war nicht nur eine Lehre in der Kunst der Hauswirtschaft, sondern vor allem auch eine Lehre in der Kunst der Darstellung der Hauswirtschaft. Ihr bewusst ‚theoretischer‘ Charakter (im antiken Sinn des Worts) erinnerte den Leser daran, dass in der Kommunikation unter Standesgenossen eine gewisse Distanz zur alltäglichen Praxis von Erwerb und Verwaltung von Vermögen zu wahren war. Zugleich bot sie rhetorische Modelle, wie sich hauswirtschaftliche Nutzenmaximierung und Konkurrenzverhalten in der öffentlichen Kommunikation unter Bürgern rechtfertigen ließen. Hauswirtschaft war gerechtfertigt, wenn sie dem Gemeinwesen diente, indem sie dem Hausherrn gemeinnützige Aufwendungen ermöglichte und ihn ökonomisch abkömmlich machte. Xenophon und Aristoteles drehten das Argument, das die Pessimisten seit dem Ende des 5. Jhs. formulierten, also um. Hatten diese geklagt, dass die öffentlichen Ausgaben und Verpflichtungen der Sorge für die eigene Hauswirtschaft zuwiderliefen (Kap. 3.2.1), rechtfertigten Xenophon und Aristoteles umgekehrt die Sorge für die Hauswirtschaft mit deren Nutzen für das Gemeinwesen. Die folgende Untersuchung der Strukturen und Strategien der Hauswirtschaft soll nun den Hintergrund beleuchten, vor dem diese literarische Ökonomik entstand. Zugleich verfolgt sie die in der Ökonomik theoretisch formulierten Prinzipien in der Praxis der Hauswirtschaft weiter.
Teil III Die Praxis der Hauswirtschaft I: Strukturen
8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft 8.1 Der öffentliche Charakter der literarischen Quellen Für eine Beurteilung des Aussagewerts unserer Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft ist es wichtig, deren grundsätzlich mehr oder weniger ‚öffentlichen‘ Charakter zu berücksichtigen. Philosophische Abhandlungen, Pamphlete und Geschichtswerke zirkulierten zwar nur in kleinen Kreisen und wurden nicht förmlich ‚publiziert‘; aber ihre Rezeption durch Lesen war der direkten Kontrolle des Autors entzogen (vgl. Kap. 4.3.1). Sie waren daher ‚semi-öffentlich‘ und deshalb strengeren Regeln der Moral und des Geschmacks unterworfen als rein persönliche Gespräche. Der literarische Diskurs ist daher von Normativität und Repräsentativität geprägt. Die Texte konstruierten immer auch die soziale Identität des Verfassers als einer Person, der die Regeln nicht nur kennt, sondern auch beherrscht. Der Text war nicht bloß Medium, er war selbst Aussage (vgl. Kap. 5). Dieser Sachverhalt hat für die Erforschung der Hauswirtschaft methodische Konsequenzen. Wir kennen lediglich Kommunikation über Haushalte. Die schriftliche Kommunikation in oder zwischen Haushalten ist fast unbekannt. Pragmatisch-private Schriftlichkeit in Form von Briefen, Abrechnungen, Erinnerungsbüchern und Notizen sind abgesehen von wenigen Ausnahmen verloren (zu den Ausnahmen unten und Kap. 13.2). Es ist generell angezweifelt worden, dass es in klassischer Zeit private Schriftlichkeit zu wirtschaftlichen Zwecken in größerem Umfang gab.1 Einiges spricht gegen dieses Argument e silentio. Zum einen die vielen indirekten Belege für eine entwickelte hauswirtschaftliche Schriftlichkeit in klassischer Zeit, die zunehmend durch direkte Belege in Form von Briefen auf Bleitafeln und Ostraka ergänzt werden.2 Zum anderen die Tatsache, dass überall dort, wo der Überlieferungszufall günstig war, erstaunlich umfangreiche Geschäftsarchive privater Haushalte zutage traten, angefangen bei den 23.000 Keilschrifttafeln aus den Archiven der assyrischen Händler im anatolischen Kanesh zu Beginn des 2. Jahrtausend v. Chr. bis zu den Bankurkunden der Sulpicii aus
1 2
Hasebroek 1928, 10; Ste. Croix 1956, 29; Spahn 2016, 253. Vgl. Harris 1989, 66–71 und Kap. 13.
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
der Villa von Murécine bei Pompeji.3 Gemeinsam ist diesen Archiven, dass sie einst zu Haushalten gehörten, die Ort und Organisationseinheit komplexer Erwerbstätigkeit waren, die von der Landwirtschaft bis zu Handel und Kreditgeschäft reichten. Natürlich kann der Hinweis auf mutmaßlich verlorene Quellen diese nicht ersetzen. Aber er lenkt den Blick auf die Frage, in welcher Hinsicht unsere Quellen unvollständig sind, um die erhaltenen Texte dahingehend sensibilisiert zu analysieren. Hier bietet sich der Vergleich mit der Wirtschaftsgeschichte des mittelalterlichen Florenz an, weil dort ‚öffentlich-literarische‘ und ‚privat-pragmatische‘ Texte parallel überliefert sind. Die Wirtschaftsgeschichte von Florenz wird mithilfe von hunderttausenden Dokumenten aus privaten und städtischen Archiven geschrieben, in denen manche Personen hunderte bis tausende Mal auftauchen.4 Wie sähe eine florentinische Wirtschaftsgeschichte aus, der nur publizierte literarische Werke zur Verfügung stünden, wie der Althistoriker sie benutzt, also etwa Dante und Machiavelli? Die Antwort ist: Es gäbe sie nicht in nur annähernd vergleichbarer Form. Zu diesem Urteil kommt Richard Goldthwaite in seinem Handbuch zur Wirtschaftsgeschichte von Florenz. Zum Abschluss seiner umfangreichen Darstellung, die nach Finleys Maßstäben ‚modernistisch‘ wäre, kommt Goldthwaite zu einem methodisch bemerkenswerten Urteil:5 Dante, whose readers included the entrepreneurs of his native city, used a vocabulary generated by a market economy – profit, loss, indebtedness, trade – but not in a way that reflected anything of the vitality of the economy of his time. […] anyone who looks for Dante’s understanding of that economy will be struck by his deafness to what made Florence what it was.
Eine ähnliche indirekte Spiegelung der kommerziellen Lebenswelt im Vokabular von Texten, die gerade kein Interesse an wirtschaftlicher Theorie haben, ist für die klassische Zeit bereits konstatiert worden (Kap. 4.2). Die Florentiner Kaufleute hatten wenig Interesse daran, ihr praktisches Wissen zu theoretisieren oder überhaupt allgemein zu veröffentlichen.6 Sie waren sogar aktiv an seiner Geheimhaltung interessiert. Ihre
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Zu den Archiven aus Kanesh, die zu etwa 80 bis 100 Haushalten gehörten, vgl. Veenhof/Eidem 2008, 45–55; zu den Urkunden der Sulpicii s. Wolf 2010, 17–32. Am nächsten zum Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ist das Zenon-Archiv aus dem ägyptischen Fayum mit rund 2.000 PapyrusDokumenten der Zeit von 270–240 v. Chr., vgl. Clarysse/Vandorpe 1995, 11–32, und der Fund von rund 16.000 tönernen Siegelstücken mit 26–27.000 Siegelabdrücken im ‚Maison des Sceaux‘ in Delos, die ein Privat-Archiv von Kaufleuten bezeugen, das zwischen 167/6 und 69 mindestens sechzig Jahre gepflegt wurde und nach der Zahl der Siegel zu schließen etwa 5.000 Dokumente enthielt – die ungesiegelten Aufzeichnungen natürlich nicht mitgerechnet; vgl. Trümper 2005 und Boussac 1993, 684–686, 689. Herlihy 1995, 195–198; allein die Geschäftsdokumente des Kaufmanns Francesco Datini (der allerdings ein Vielschreiber war) umfassen 500 Geschäftsbücher, 300 Gesellschafterverträge und 140.000 Briefe, Origo [1957] 1993, 8. Goldthwaite 2009, 591 f. Vgl. Kap. 4.3.1.
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Hausbücher und Erinnerungsbücher waren nicht umsonst als libri segreti tituliert und für einen kleinen Kreis von Familienangehörigen und Freunden geschrieben.7 Selbst in Florenz, wo die Großkaufleute vermutlich besser angesehen waren als in Athen, standen die Erfordernisse des Gelderwerbs in Konflikt mit den weiterhin anerkannten ritterlichen und christlichen Werten, rangkonstituierend waren Ansehen und politische Stellung in der Bürgerschaft.8 Es gab auch praktische Gründe für die Geheimhaltung. Man wollte den Gegnern und Konkurrenten keine wertvolle Information über die eigenen Geschäfte und Vermögensverhältnisse preisgeben und selbst gegenüber Freunden wurde auf Zurückhaltung Wert gelegt.9 Griechische Hausväter teilten diese Einstellung zur Geheimhaltung häuslicher Angelegenheiten. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die privaten Dokumente des antiken Griechenland verloren sind. 8.2 Die kommunikative Grenze zwischen Haus und Stadt 8.2.1 Die Regeln des Sagbaren Die neuere Soziologie hat der kommunikativen Dimension menschlichen Verhaltens einige Aufmerksamkeit geschenkt. Niklas Luhmann stellte seine soziologische Systemtheorie schließlich ganz von einem Begriff des Handelns zu einem der Kommunikation um; aber auch handlungstheoretische Ansätze schenken der kommunikativen, und das heißt kulturellen, Dimension des Sozialen mittlerweile einige Beachtung, weil
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Zu Beginn seines Libro Segreto (geführt 1387 bis 1428) erklärt Gregorio Dati, es enthalte Notizen „zur Erinnerung“ (da farne memoria) und die „Geheimnisse seiner Partnerschaft und seines Handels“ (segreti della compagnia e della mercatanzia), Ed. C. Gargiolli (1869), S. 11; Paolo Da Certaldos Libro di Buoni Customi soll Sohn, Bruder, Freund, Nachbar oder Geschäftspartner belehrten, Ed. V. Branca (1986), S. 3; Giovanni Rucellai will mit seinem Zibaldone (ab 1458) seinen namentlich adressierten Söhnen nützliche Dinge mitteilen, Ed. A. Persosa (1960), S. 2; Vgl. den mit emphatischen „wir“/„uns“ hergestellten Familienbezug in den Erinnerungsbüchern von Giovanni Morelli (nostra nazione, Ed. Branca, S. 103), Buonaccorso Pitti (nostra antica progenia e de’ parentadi nostri antichi o moderni, Ed. Branca, S. 349) und Donato und Paolo Velluti (nostra casa), Ed. I. del Lungo (1914), S. 3). Brucker 1971, 101–109; Trexler 1980, 17–27; Morelli rät in seinen Ricordi zwar, die zukünftige Braut solle aus einer Familie von „Kaufleuten“ (mercatanti) stammen, betont aber mehr noch, die Familie der Braut solle über Vermögen, alte Abstammung, öffentliches Ansehen (onorati dal Comune) und politische Stellung verfügen und v. a. sollten sie keine „Geldhunde“ (cani del danaio) sein, sondern „höfliche, gebildete, gute Bürger“ (usino cortesia temperatamente, come s’usa pe’ savi uomini e buoni cittadini), Ed. V. Branca (1986), S. 168 f. Die Grundhaltung bringt eine Weisheit aus Paolo Da Certaldos Libro auf den Punkt: Wenn ein Freund einem seine Geheimnisse anvertraut, liebt er einen wirklich oder ist verrückt geworden, Nr. 223, Ed. V. Branca (1986); Francesco Guicciardini rät in seinen Ricordi zu generellem Schweigen über private Angelegenheiten, selbst gegenüber Freunden, Series B, Nr. 184, 186, Ed. E. L. Scarano (1970). Vgl. Roover 1956b, 153 zum Misstrauen gegenüber Steuerbeamten, weil diese häufig zugleich Geschäftskonkurrenten waren.
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
sich soziales Handeln nur erklären lässt, wenn wir das ‚Framing‘ der Handlungssituation verstehen. Regelmäßiges und regelgemäßes Verhalten beruht wesentlich auf erlernten mentalen Modellen, und die Vermittlung dieser Modelle erfolgt wiederum durch kulturell fixierte Kommunikationsmedien.10 Für die Geschichtswissenschaft insbesondere hat diese Einsicht eine methodische Konsequenz: Von den Regeln des ‚Sagbaren‘ hängt wesentlich ab, was in die schriftliche und bildliche Überlieferung Eingang gefunden hat, und was nicht.11 Der Ausschluss der ‚privaten‘, d. h. häuslichen Angelegenheiten und insbesondere des Gelderwerbs aus der ‚öffentlichen‘, d. h. städtischen Kommunikation hatte normative und instrumentelle Gründe. Die normativen Gründe sind in der obigen Analyse zum literarischen Diskurs über Haushaltung und Erwerb bereits teilweise erörtert worden (vgl. zusammenfassend Kap. 7). Die Unterscheidung zwischen Erwerb als ‚Privat‘-Sache des Haushalts und Politik und Religion als öffentliche Angelegenheiten entspricht der von Platon und Aristoteles herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen lediglich ‚notwendigen‘ Tätigkeiten, die dem ‚bloßen‘ Leben dienen, und den eigentlich edlen Tätigkeiten, für die erstere bloße Voraussetzung sind.12 Anstatt sich zugunsten des eigenen Hauses am Gemeinwesen zu bereichern, sollte man umgekehrt bereit sein, Leben und Vermögen in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen.13 Die radikale Konsequenz dieser Überlegungen wäre es gewesen, ganz auf Haushaltsführung und Gelderwerb zu verzichten und sich auf ein politisches oder kontemplatives Leben zurückzuziehen. So weit konnten die meisten Hausväter nicht gehen. Aber sie machten sich diese Haltung hinsichtlich der Frage zu eigen, welche Tätigkeiten des eigenen Hauses man nach außen präsentierte und welche nicht. Paul Veyne führt aus, dass ein Grabmal nicht verrate, ob der Verstorbene Gentlemanfarmer oder Großkaufmann gewesen sei. Stattdessen verraten sie uns, was als edel angesehen wurde, nämlich dessen politische Verdienste um seine Stadt. Veyne zieht den Vergleich zum mittelalterlichen Florenz und meint, die Medici seien eher als Adlige, die vom Bankgeschäft lebten, gesehen worden, denn als Bankiers.14 Das Gleiche gilt für Athen.
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Vgl. für Luhmanns kommunikationstheoretischen Ansatz besonders seine Studien zum Verhältnis von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ im gesellschaftlichen Umbruch der ‚Sattelzeit‘, 1750–1815, Luhmann 1980, und sein monumentales Spätwerk zur „Gesellschaft der Gesellschaft“, Luhmann 1997; vgl. Esser 2000a und 2001 für eine handlungstheoretische Auseinandersetzung mit Kommunikation und ‚Kultur‘, die Luhmanns Systemtheorie kritisch mit einbezieht. Vgl. Landwehr 2018 für einen aktuellen Überblick über die Theorien und Themen der „Historischen Diskursanalyse“. Vgl. Plat. Gorg. 512b–d, 517c–518a: Tätigkeiten, die nur dem Selbsterhalt dienten, seien kein Ausweis der Tugend und deshalb nicht für sich genommen achtenswert; sie sind „sklavenhaft, dienend und unfrei“ und bloße Voraussetzung für edlere Künste; zu Aristoteles’ Weiterentwicklung dieses Gedankens vgl. Kap. 6.1.4 und 6.2.2. Vgl. etwa Plat. Hipp. mai. 281a–c; Xen. mem. 2.1,1–14, Isokr. 4.76; Lyk. 50 f., 139 f. Veyne 1976, 131–137, hier 137; man vergleiche die Grabkapelle von Francesco Sassetti in Santa Trinita (1480–1485); in ihr erscheint Sassetti, der als Filialleiter der Medicibank sein ganzes Leben
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Das in Kap. 3.2.3 bereits erwähnte Kallithea-Monument war vermutlich das Grabmal eines Händlers aus Istros. Der Statuenschmuck zeigt ihn allerdings wie einen Bürger (der er nicht war) und seinen Sohn wie einen attischen Epheben. Die Architektur ist an Fürstengräbern orientiert, das Bildprogramm evoziert die kriegerischen Taten mythischer Helden.15 Die 280 errichtete postume Ehrenstatue für Demosthenes zeigt ihn als patriotischen Politiker. Nichts verrät, dass das Vermögen, das die Grundlage seiner politischen Aktivität bildete, aus Werkstätten und Seedarlehen stammte.16 In Athen reichte diese Betonung der politischen Identität bis hinab zu den Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden, die sich in Bildern und Inschriften lieber anhand ihres Bürgerstatus anstatt ihres Berufes identifizierten.17 Die Beachtung sozialer Regeln der Kommunikation über Haushaltung und Erwerb, welche die literarische Form der Abhandlungen zur Ökonomik prägten (vgl. Kap. 5), war nicht auf den literarischen Diskurs der Oberschicht beschränkt. In den volkstümlichen Spruchweisheiten, die Ende des 4. Jhs. von Demetrios von Phaleron als Aussprüche der ‚Sieben Weisen‘ gesammelt wurden, sind Mahnungen zur Verschwiegenheit prominent vertreten. „Verstecke die schlechten Dinge im Haus!“, lautet ein dem Thales zugeschriebener Spruch.18 Wo eine Begründung geliefert wird, geht es um die Vermeidung von Spott und Beschämung.19 Der schnöde, pragmatische Charakter der häuslichen Kommunikation machte sie nicht nur moralisch anrüchig. Alltagsprobleme, in knapper Alltagssprache formuliert, waren nicht anschlussfähig für die Kommunikation der feinen Gesellschaft. Eine bekannte Szene aus Aristophanes’ Wespen führt diese Regeln des Sagbaren vor. Das Stück inszeniert einen Generationenkonflikt als Inversion klassischer Familienrollen. In der betreffenden Szene müht sich der Sohn Bdelykleon, seinen Vater Philokleon auf ein Gastmahl in gehobener Gesellschaft vorzubereiten.20 Zunächst hat Bdelykleon seinen Vater elegant eingekleidet. Nur mühsam konnte er dabei die Sparsamkeit und den rein
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mit Geldgeschäften zubrachte (vgl. Roover 1963b, passim), in frommer Anbetung des Heiligen Franziskus von Assisi. Die Fresken zeigen Episoden aus dem Leben des Gründers des Bettelordens, in denen er dem weltlichen Leben und insbesondere dem materiellen Reichtum entsagt; zum Bildprogramm der Sassetti-Kappelle s. Micheletti 1990, 24–35. Israel 2013, 57–64. Zur Ehrenstatue Zanker 1995, 85–89; Will 2013, 195–197. Spahn 2008, 92–98; Personen, die in Grabinschriften ihren Beruf nennen, sind immer Metöken oder Sklaven, vgl. Salta 1991, 240–262 und Harris 2014, 203 f.; das Gleiche gilt für bildliche Darstellungen, vgl. Himmelmann 1994, 17–22; Bergemann 1997, 147–149. Thales DK 10, 3 δ, 16: κακὰ ἐν οἴκωι κρύπτε. Verschwiegenheit taucht bei jedem der Sieben Weisen auf; DK 10,3, α 4, 6 (Kleobulos); β 5, 17, 18 (Solon); γ, 2; 4; 14 (Chilon); δ, 5, 16 (Thales); ε, 2: Absichten nicht verraten, um bei Scheitern nicht verspottet zu werden; ς, 4, 10, 11, 17 (Bias); ζ, 14 (Periandros). Zum sozialen Kontext der Mahnung zu Verschwiegenheit vgl. Schmitz 2004a, 326–329. Dass die Szene den komischen Versuch zeigt, einem bäurischen Mann die verfeinerte Oberschichtkultur näher zu bringen, ist in der Forschung Konsens; vgl. zuletzt Hobden 2013, 140 f. und Canevaro 2017, 60 f.; zum Generationenkonflikt, der sich darin spiegelt s. Strauss 1993, passim, bes. 136–148; Slater 1997; Fisher 2000, 356 f.
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praktischen Sinn des Vaters überwinden.21 Es folgt eine Unterweisung in Konversation. Bdelykleon fragt den Vater, ob er es verstehe, „würdevolle Worte zu sprechen in Gesellschaft vielgelehrter und rechtschaffener Herrschaften“.22 Philokleon bejaht und beginnt zwei Mythen zu erzählen, beides Geschichtchen mit derber Pointe. Sein Sohn korrigiert ihn. Er solle keine Mythen erzählen, sondern „Menschengeschichten“ (τῶν ἀνθρωπίνων), die, „von denen man am meisten redet, nämlich solche „über das Haus (τοὺς κατ’ οἰκίαν)“. Philokleon entgegnet, dann werde er etwas „gänzlich Häusliches“ (πάνυ κατ’ οἰκίαν) erzählen und beginnt mit einer Fabel: „Es waren einmal eine Maus und ein Wiesel …“ Der Sohn verliert die Geduld. Maus und Wiesel seien unpassend, das Thema müsse etwas „Hochgesinntes“ (μεγαλοπρεπεῖς) sein, etwa eine Festgesandtschaft mit Androkles und Kleisthenes, berühmten Männern also.23 Diese Erläuterung des Sohns verdeutlicht, dass Aristophanes’ Witz auf der Mehrdeutigkeit von kat’ oikian beruht. Der Sohn versteht oikia im Sinne von „Haus, Geschlecht“,24 der Vater hingegen als „Wohnhaus, Haushalt“.25 Im verschiedenen Begriff von oikia drückt sich ihre verschiedene Denkart aus. Während der Sohn versucht, Sprache und Habitus eines Oberschichthaushalts zu imitieren, bleibt der Vater in den Alltäglichkeiten einer kleinen Hauswirtschaft befangen. Das bringt auch sein Rückgriff auf die Fabel zum Ausdruck, eine traditionelle Form der hausväterlichen Belehrung, deren Protagonisten, Maus und Wiesel, ebenfalls auf häusliche Vorratshaltung verweisen.26 Zwei Dinge, Generationenwechsel und niedrige soziale Herkunft des Vaters, werden damit akzentuiert. Es stellt sich anschließend heraus, dass Philokleon nur als Ruderer (statt als Gesandter) an der Festgesandtschaft teilnahm.27 Bdelykleon entgegnet, dann solle der Vater eben über sportliche Wettkämpfe sprechen. Doch auch hier zeigt sich der Vater unvertraut mit der kunstvollen Sprache gebildeter Männer.28 Auch beim letzten Themenfeld, jugendliche Husarenstücke, zeigt sich Philokleons Mangel an Herkunft. Als seine „mannhafteste“ (ἀνδρειότατoν) Jugendtat bezeichnet er es, einem gewissen Ergasion die Weinbergpfähle geklaut zu haben. Sowohl die Tat
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Aristoph. Vesp. 1122–1175. Vesp. 1174 f.: ἐπιστήσει λόγους σεμνοὺς λέγειν ἀνδρῶν παρόντων πολυμαθῶν καὶ δεξιῶν. Vesp. 1174–1187; dazu Sommerstein 1983, 224. Oikia als „Geschlecht, Haus“ mit erhabenem Beiklang bei Aristot. poet. 1453 a 17–22 (oikiai mythischer Helden) und ähnlich Plat. Gorg. 472b (ἡ Περικλέους ὅλη οἰκία); vgl. Prot. 316b; And. 1.146 f. zählt die Verdienste seiner oikia so auf, wie Bdelykleon es sich vom Vater wünscht. Vgl. Aristoph. Ach. 942 für die Verwendung eines Keramikgefäßes κατ’ οἰκίαν und bei Thesm. 402 die Wendung κατὰ τὴν οἰκίαν πλανωμένη für das Walten der Frau im Haushalt; vgl. Eupol. fr. 161 PCG (= Poll. 10.10): σκεύη τὰ κατὰ τὴν οἰκίαν. Vgl. Rothwell 1995; zur Tierfabel als Element volkstümlicher Wissensvermittlung s. Schmitz 2004b, 43 und Forsdyke 2012, 59–73. Das Frettchen ist Pars pro Toto der Hauswirtschaft: Es stellt dem Schädling Maus nach und wird zugleich selbst der Nascherei verdächtigt; vgl. Aristoph. Vesp. 363 f.; Pax 795, 1151; Thesm. 558 f.; Aristot. hist. an. 609 b 28 f. Sommerstein 1983, 226. Aristoph. Vesp. 1190–1196: Der Vater versteht eine poetische Metapher wörtlich.
8.2 Die kommunikative Grenze zwischen Haus und Stadt
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selbst, die eher gerissen als tapfer ist, verweist in die Sphäre des Erwerbs, als auch der Name des Opfers, Ergasion, der „Arbeitsame“. Bdelykleon verzweifelt und unternimmt dann einen letzten Versuch. Er habe an etwas Anderes gedacht, einen Schwank über eine „jünglingshafte Tat“ (νεανικώτατον), über einen Erfolg bei der Jagd oder beim Fackellauf. Sogar diesen Hinweis auf ‚adlige‘ Beschäftigungen versteht Philokleon falsch. Er habe den Läufer Phayllos verfolgt und „knapp erwischt“ – allerdings nicht bei einem Wettlauf, sondern mit einer Klage wegen „Verächtlichmachung“ (λοιδορίας).29 Philokleon verrät sich mit dieser Antwort doppelt als Mann aus einfachen Verhältnissen. Er weiß nicht, was sich in feiner Gesellschaft gehört und er hat keine standesgemäßen Jugendabenteuer erlebt, weil er nicht in die Oberschicht hineingeboren wurde.30 Selbst beim feierlichen Gastmahl ist er unfähig, vom alltäglichen Vorteilheischen zu abstrahieren, dem häuslichen Mikromanagement von Sparen und Erwerben. Die Wespen thematisieren die Kommunikation innerhalb der Oberschicht. Inwiefern kann man von hier auf ein allgemeines Wertesystem schließen? Dafür spricht zum einen, dass gemeinsame Gastmähler eine Grunderfahrung breiterer Schichten der Bürgerschaft waren, selbst wenn die Anlässe seltener und der Aufwand geringer waren. Die Szene mit der vergeblichen Belehrung des Vaters in den Wespen war deshalb für ein breiteres Publikum anschlussfähig, das sich gerade wegen seiner bescheideneren Mittel keine Blöße geben wollte.31 Zum anderen zeigen Aristophanes’ Frösche, dass die normative Trennung zwischen häuslicher und städtisch-öffentlicher Kommunikation bekannt und akzeptiert war. Euripides und Aischylos liefern sich in der Unterwelt einen Dichterwettstreit. Schiedsrichter ist der Gott Dionysos persönlich. Euripides hält sich zugute, er habe „vertraute (wörtl. ‚häusliche‘) Dinge“ (οἰκεῖα πράγματα) eingeführt. Jeder könne sein künstlerisches Schaffen überprüfen, weil jeder über diese Dinge Bescheid wisse.32 Er habe die Bürger geschult, Haus und Hof mit Berechnung und Sorgfalt zu bestellen.33 Aischylos kritisiert ihn genau dafür: Solche unfeinen, alltäglichen Dinge auf die Bühne gebracht zu haben und Dramen wie die Phaidra zu inszenieren. Aischylos’ Kritik stützt sich auf eine normative Vorstellung davon, was der öffentlichen Kommunikation angemessen ist – und was nicht:34 […] Doch Schändliches soll sorgfältig verhüllen (ἀποκρύπτειν χρὴ τὸ πονηρόν) der Dichter, Nicht ans Tageslicht zieh’n und öffentlich gar aufführen; denn was für die Knaben
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Vesp. 1197–1207. Zu den schichtspezifischen Tätigkeiten der Jugend, s. Kap 11.3.4. Fisher 2000, 356–369. Aristoph. Ran. 959–964: ξυνειδότες γὰρ οὗτοι ἤλεγχον ἄν μου τὴν τέχνην […]. Ran. 971–979; dazu ausführlich in Kap. 13.1. Ran. 1053–1056: ἀλλ’ ἀποκρύπτειν χρὴ τὸ πονηρὸν τόν γε ποιητήν, | καὶ μὴ παράγειν μηδὲ διδάσκειν. τοῖς μὲν γὰρ παιδαρίοισίν | ἐστι διδάσκαλος ὅστις φράζει, τοῖσιν δ’ ἡβῶσι ποιηταί. | πάνυ δὴ δεῖ χρηστὰ λέγειν ἡμᾶς. Übers. L. Seeger.
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Der Lehrer ist, der sie bildet und lenkt, das ist für Erwachs’ne der Dichter. Nur das Treffliche dürfen wir singen (δεῖ χρηστὰ λέγειν).
Euripides behandelte nicht wirklich häusliche Angelegenheiten auf der Bühne.35 Aristophanes benutzt vielmehr die Mehrdeutigkeit von oikeia für eine Parodie von Euripides᾽ Naturalismus.36 Doch die Parodie setzt die Differenz zwischen häuslichen Dingen, die versteckt werden sollen (apokryptein), und edlen Themen (chrēsta), die dem öffentlichen Vortrag angemessen sind, als selbstverständlich voraus. Die Schlüsselfigur ist der Preisrichter Dionysos. Dessen Denkweise ist wenig göttlich und gleicht derjenigen des aristophanischen ‚Durchschnittsbürgers‘. Bereits zu Beginn des Stücks feilscht er um jede Obole mit einem Toten, der ihm das Gepäck auf den Weg in den Hades tragen soll.37 Als sich Euripides später brüstet, er habe die Athener „Berechnung“ (λογισμός) und „kritische Prüfung“ (σκέψις) gelehrt, so dass sie nun wie Gelehrte fragten: „wie – wo – wer“? (πω, που, τις), da denkt Dionysos an einen begriffsstutzigen Hausvater, der sein Gesinde tyrannisiert, wenn er nach dem Verbleib einzelner Töpfe, Lauchstangen und angenagter Oliven forscht.38 Seine Kommentierung des Wettstreits zeigt die Vertrautheit mit oikeia pragmata.39 Die poetologischen Argumente der Dichter macht er sich mithilfe alltäglicher Beispiele aus dem Bereich Haushalt und Marktplatz verständlich.40 Dionysos, die Personifizierung des athenischen Theaterbesuchers, denkt wie ein Hausvater, dessen Lebenswelt das Haus, die Nachbarschaft und der Marktplatz sind. Aber am Ende kürt er Aischylos zum besten Dichter, weil der derartige ‚häuslichen Dinge‘ von der Bühne verbannt. In einer bemerkenswerten Passage von Lysias’ Rede Über den Ölbaum, die einige Jahre nach den Fröschen gehalten wurde, gesteht ein Angeklagter diesen Doppelstandard zwischen Norm und Praxis offen ein. Denn er hofft, durch das Eingeständnis einer ehrenrührigen, aber nicht ungesetzlichen Haltung eine schwere Strafe abzuwenden. Bisher habe er sich geärgert, wenn jemand meinte, er sei „gerissen und genau“ (δεινὸν εἶναι καὶ ἀκριβῆ) und täte nichts „aufs Geratewohl und ohne Berechnung“ (εἰκῇ καὶ ἀλογίστως). Jetzt aber hoffe er, dass die Richter diese Meinung von ihm haben. Denn dann würden sie einsehen, dass er das ihm zur Last gelegte Verbrechen nicht begangen habe, weil der daraus zu ziehende „Nutzen/Gewinn“ (κέρδος; ὠφέλεια), wenn es „ver-
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Spahn 1984, 315; s. KNOX 1970 zu Euripides’ Naturalismus. Vgl. etwa Aristoph. Thesm. 154–170, 389–428. Ran. 168–179. Ran. 980–991. Ran. 1153–1157. Vgl. Ran. 1158 f. zu Euripides’ Vorwurf, Aischylos sage ein und dasselbe mit zwei Worten: „Das sei so, als sage man zu seinem Nachbarn: „leih’ mir die Knetschüssel (μάκτραν), sei so lieb, die Mörserschale (κάρδοπον)“; 1384–1388: Beim ‚Wiegen‘ der Verse der beiden Dichter vermutet Dionysos, dass Aischylos „nach Wollhändlerart“ (ἐριοπωλικῶς) seine Verse mit Wasser schwerer gemacht habe (so wie jene ihre Ware).
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borgen bleibe“ (λαθών), nicht dem zu erwartenden „Verlust“ (ζημία) entspräche, wenn es „bekannt“ (φανερός) würde.41 Der Redner geht noch weiter. Alle Menschen handelten schließlich des „Gewinns wegen“ (κέρδους ἕνεκα).42 Diese Argumentation ist tatsächlich ein Gemeinplatz, den die aristotelische Rhetorik als defensives Argument vor Gericht empfiehlt.43 Die Lysias-Rede setzt dieselbe kollektive Haltung voraus wie Aristophanes’ Frösche: Jeder strebt nach Gewinn und materiellem Vorteil, aber er wird darüber, wenn möglich, Schweigen bewahren. Zweimal hebt Platon in den Gesetzen hervor, dass der Gesetzgeber „schmählich erscheine“ (ἀσχήμων φαίνοιτο), wenn er allzu viel und detailliert „über die Verwaltung des Hauses“ (τῶν κατ᾽ οἰκίαν διοικήσεων) spreche.44 Den Verzicht auf eine Detailregelung begründet Platon zusätzlich praktisch: Es sei schwierig, das private, „häusliche Leben“ (κατ᾽ οἰκίας) gesetzlich zu regeln, weil die Dinge nicht „für alle sichtbar“ (οὐκ ἐμφανῆ πᾶσι) vor sich gehen.45 Die Hauswirtschaft ist unsichtbar – und sollte es bleiben. 8.2.2 Das Sichtbare und das Unsichtbare Für die häusliche Geheimniskrämerei sprachen neben dem Druck zur Normkonformität auch pragmatische Gründe. Die Mitbürger waren nicht nur Standesgenossen, sondern als Vorstände anderer Häuser zugleich Konkurrenten, vor denen man strategisch wertvolle Information zurückbehielt.46 Ein Ratsuchender fragte das Orakel von Dodona im 4. Jh., ob es gut wäre, mit einem gewissen Iphikrates, offenbar ein potentieller Geschäftspartner, die eigenen Pläne zu besprechen und ihn zum Freund zu machen.47 Jemanden in seine Pläne einzuweihen und ihn als Freund an sich zu binden, geht hier Hand in Hand. Aber, genau wie in Florenz, wurde auch dem Freund gegenüber Vorsicht empfohlen, um sich keine Blöße zu geben.48 Eine Gemeinsamkeit der bisher diskutierten Quellenpassagen ist die Betonung der kognitiven Dimension der Abgrenzung: Häusliche Vorgänge werden versteckt (apokryptein) oder finden ‚im Ver-
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Lys. 7.12. Lys. 7.13. Aristot. rhet. 1, 1372 a 36–b 1. Plat. leg. 7, 807e; vgl. 788b. Leg. 7, 788a. Hdt. 7.237,2 f.: Ein Gastfreund freut sich über das Wohlergehen seines Freundes und rät ihm das Beste, ein Bürger schweigt hingegen oder berät schlecht, weil er dem Mitbürger den Erfolg „neidet“ (φθονέει); wie üblich wird die Konkurrenz unter Bürgern moralisch als Neid beschrieben; der Gastfreund kann unvoreingenommen das Beste raten, weil er nicht selbst an der städtischen Konkurrenz teilnimmt. DVC 123. Isokr. 1.34 gibt den Ratschlag, wenn es etwas gebe, über das man mit einem Freund beraten wolle, man sich allerdings schäme, darüber öffentlich zu sprechen, solle man darüber reden, als beträfe es einen anderen; so erfahre man die Meinung der Freunde, ohne sich zu verraten.
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borgenen‘ (lathōn) statt, man hat darauf zu achten, welchen Anschein die Dinge haben (phainein). In diesem Sinn unterschieden die Athener (und wohl alle Griechen) ihre Besitzümer nicht in ‚beweglichen‘ und ‚unbeweglichen‘ Besitz, wie dies heute üblich ist, sondern sprachen von ‚sichtbaren‘ und ‚unsichtbaren‘ Gütern (τὰ φανερά – ἀφανής οὐσία). Phanera waren alle Vermögenswerte, deren Besitz öffentlich bekannt war, weshalb neben dem unbeweglichen und daher gut sichtbaren Grundbesitz auch Möbel, Schmuck oder Darlehen dazu gehörten, deren Existenz durch Schriftstücke oder Zeugen verbürgt war.49 Welche Teile eines Vermögens „sichtbar“ und welche „unsichtbar“ waren, war daher nicht fixiert und immer wieder Auslegungssache. Deshalb konnte man seinem Gegner vor Gericht leicht vorwerfen, er habe sein Vermögen „unsichtbar gemacht“, um es vor offenen Forderungen zu schützen.50 Ein rechtschaffender Treuhänder (ein Bankier) wird umgekehrt dafür gelobt, er habe den rechtmäßigen Eigentümern „das Geld sichtbar gemacht“ (ἐνεφάνισε τὰ χρήματα)51 und ein Verwandter dafür, dass er „sein Vermögen nicht versteckte“ (οὐκ ἀποκέκρυπται τὴν οὐσίαν), sondern Liturgien leistete.52 Cohen hat wegen der allgemeinen Neigung zur Geheimhaltung von einer „invisible economy“ in Athen gesprochen.53 Die Hauptfunktion der Geheimhaltung sieht Cohen in der Vermeidung von Vermögenssteuern und Liturgien. In der Tat werfen die athenischen Gerichtsredner ihren Gegnern genau dies vor. Das Problem damit, diese Anschuldigungen für bare Münze zu nehmen, ist, dass die Fälle, in denen Bürger in Athen und anderswo tatsächlich ihr gesamtes Vermögen „unsichtbar“ machten, sich auf Ausnahmesituationen beschränkten, wenn die Eigentümer Beschlagnahmung oder Plünderung fürchteten.54 John Davies hat glaubwürdig gemacht, dass sich in Athen ein
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Zum Begriffspaar Gernet 1956; Harrison 1968, 230; Gabrielsen 1986; Ferrucci 2005; Is. 11.41–43 nennt als „sichtbare Güter“ neben Ackerland und Wohnhäusern auch Viehbesitz, Wohnmobiliar und Gelddarlehen; [Demosth.] 48.12 erwähnt „sichtbares (Geld) auf der Bank“; vgl. Demosth. 41.8–11 für Sichtbarkeit durch Dokumente und Zeugen. Vgl. für einige Beispiele Lys. 32.23; Is. 11.47; Demosth. 28.11–13, 44; 38.7; Deinarch. 1.70. Is. fr. 18 Thalheim (= Dion. Hal. Is. 5). Demosth. 28.3; Lys. 20.23. Cohen 1992, 191–207; zustimmend Cahill 2002, 273. Hipponikos soll durch Geld reich geworden sein, das ein Eretrier wegen der persischen Invasion 490 bei ihm deponierte und nie zurückfordern konnte, Herakl. Pont. fr. 42 Schütrumpf (= Ath. 12.536f–537b); Themistokles soll nach seiner Verbannung die gewaltige Summe von 80 oder 100 Tal. mithilfe von Freunden aus der Stadt gebracht haben, Theop. FGrH 115 F 86, Theophr. fr. 613 Fortenbaugh (beide bei Plut. Themistokles 25.3); vgl. Thuk. 1.137,3; ähnlich ging der Unternehmer Leokrates bei seiner Flucht aus Athen vor, Lyk. 22–24; ein gewisser Nikias, der unter den Dreißig 404/3 von Atimie und Proskription bedroht war, verflüssigte seinen Grundbesitz und zog sich aufs Land zurück, Isokr. 21.2; die Bewohner von Rhegion versteckten 387/6 ihr Geld in Erwartung der Eroberung durch Dionysios I. von Syrakus, [Aristot.] oec. 2, 1349 b 18–27, vgl. Plut. Regum 176c; Sopaios’ Sohn versteckte sein Vermögen in Athen, als der Vater die Gunst des bosporanischen Königs verlor, Isokr. 17.5–7; ähnlich ging ein thebanischer Verbannter vor, Lys. fr. 286–287 Carey (= Dion. Hal. Is. 6 f.).
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großes Vermögen nur schwer längerfristig verstecken ließ.55 Schließlich passt das Bild einer kollektiv ‚steuerflüchtigen‘ Oberschicht nicht gut zu den ebenfalls zahlreichen Belegen für freiwillig oder freiwillig aufwendig geleistete Liturgien. Es passt auch nicht zu dem ebenfalls etablierten Spott über Erwerbsleute, die ihr Vermögen übertrieben oder die Anerkennung für Gewerbetreibende, die ostentativ Liturgien leisteten.56 In Kapitel 16.2 wird die alternative These genauer erläutert, dass es weniger um die generelle Vermeidung von Liturgien ging, als darum, die Kontrolle über den Zeitpunkt und den Umfang solcher Ausgaben zu gewinnen. Hier ist festzuhalten, dass die Geheimhaltung nicht einem einzigen Zweck diente, sondern ein allgemeines Merkmal der Hauswirtschaft war. Es ging darum, die Deutungshoheit über die eigene Haushaltsführung und Erwerbspraxis zu bewahren.57 Denn im engen städtische Zusammenleben wurde jeder Haushalt von Nachbarn und Mitbürgern genau beobachtet und von ihrer Meinung hing der häusliche Erfolg wesentlich ab.58 Über das Bemühen, Deutungshoheit zu bewahren, berichtet Plutarchs Nikias-Biographie besonders ausführlich. Nikias, der erfolgreiche Feldherr und Politiker, dessen Vermögen aus den attischen Silberbergwerken stammte,59 fürchtete sich laut Plutarch besonders vor Sykophanten, die ihm mit Prozessen drohten. Deshalb soll er den geselligen Verkehr mit Mitbürgern vermieden haben. Wenn Nikias gerade kein Amt innehatte, dann „schloss er sich in seinem Hause ein und war für Besucher nicht leicht zu sprechen.“ Dabei trug er Sorge, eine bestimmte Deutung dieses Rückzugs zu verbreiten. Leuten, die an seine Tür kamen, wurde von Nikias’ Freunden erklärt, er könne sie nicht persönlich empfangen, weil er zu sehr mit öffentlichen Geschäften beschäftigt sei.60 Die Hauptrolle kam dabei laut Plutarch einem gewissen Hieron zu, „der im Hause des Nikias aufgezogen worden war“ und gebildet war. Dieser Mann „trug die Erzählung ins Volk hinaus“ (λόγους ἐξέφερεν εἰς τὸν δῆμον), Nikias mühe sich ständig mit irgendeiner öffentlichen Angelegenheit (δημόσιον) ab, selbst beim Baden und Speisen. Für den Dienst am Gemeinwesen vernachlässige er seinen Körper und seine Freundschaften und den Erhalt seines Vermögens.61 Verhielt sich Nikias wirklich so vorbildlich? Das blieb seiner eigenen Deutung überlassen, weil er sich im Verborgenen ‚öffentlichen‘ Angelegenheiten widmete, die damit dēmosia waren, aber keine phanera. Plutarch jedenfalls hatte seine Zweifel und berief
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Davies 1981, 28. Vgl. Kap. 16.1.2 mit den Anm. ebd.; zur Anerkennung vgl. Kap. 4.1.1. Man durfte dabei nur nicht so weit gehen wie Theophrasts ‚Unaufrichtiger‘, der hinsichtlich seiner Geldgeschäfte nicht nur heimlich tut, sondern regelrecht lügt, char. 1.5. Nachbarn gelten als am besten informiert, sogar über Dinge, die man „verstecken“ möchte, wie es bei Lys. 7.18 heißt; vgl. Lyk. 19: Verlassen der Stadt; Is. 3.13: Eheverhältnisse; [Demosth.] 43.70: Landgut; Men. Georg. 75–82: Vermögensverhältnisse. Vgl. Kap. 4.1.1, Anm. 30. Plut. Nikias 5.2. Nikias 3–6.
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
sich auf Fremddeutungen, die für Nikias weniger schmeichelhaft waren als dessen Selbstdarstellung. Laut dem hellenistischen Autor Pasiphon habe Nikias nur vorgegeben, die Seher wegen des Gemeinwesens zu befragen. Tatsächlich sei es um seine privaten Angelegenheiten und seine Silberbergwerke gegangen.62 Welche Version der Wahrheit entspricht, konnte und wollte Plutarch nicht mehr entscheiden.63 Aber die idealisierende Selbstdarstellung und die denunziatorische Gegendarstellung zeigen zusammengenommen, wie an der Grenze zwischen Haus und Stadt um Deutungshoheit über das Treiben im eigenen Haus gerungen wurde. Das Stillschweigen über Erwerbsfragen führte zu Legendenbildungen über die Herkunft großer Vermögen.64 Wie im Falle des Nikias konkurrierten dabei positive Selbstdarstellung und verleumderische Gerüchte miteinander.65 Die Haltung eines durchschnittlichen Atheners zu neuem Reichtum parodiert Aristophanes im Plutos. Blepsidemos erfährt durch Gerede in den Barbierstuben, dass sein Freund Chremylos zu Reichtum gekommen sein soll. Er nimmt sofort an, Chremylos müsse dafür Unrecht getan haben. Gegenteilige Beteuerungen können ihn nicht überzeugen; einen Anteil am neuem Reichtum erhofft er sich als ‚Freund‘ gleichwohl.66 Wie in den Fröschen (s. o.) gewinnt die Situation ihre Komik daraus, dass Aristophanes einen inneren Widerspruch der athenischen Selbstbeschreibung aufdeckt: Wer reich geworden ist, 62 63 64
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Nikias 4.2; zu Pasiphon vgl. RE 18,4 (1949), s. v. Pasiphon 2), sp. 2084 (K. v. Fritz). Die von ihm zitieren Komiker-Stellen zeigen immerhin, dass Nikias’ Furcht vor Denunziation Stadtgespräch waren, Plut. Nikias 4.4–8. Simmel 1920, 249: „Damit [sc. der Neuheit des Geldkapitals und der daraus entstehenden Macht] hängt es zusammen, daß das niedere Volk – vom Mittelalter an bis in das 19. Jahrhundert hinein – sich die Entstehung großer Vermögen als mit nicht ganz rechten Dingen zugegangen und ihre Besitzer als etwas unheimliche Persönlichkeiten zu denken pflegt: über den Ursprung des Vermögens der Grimaldi, der Medici, der Rothschild waren die ärgsten Schauermärchen verbreitet, und zwar nicht nur im Sinne moralischer Zweideutigkeit, sondern in abergläubischer Weise, als wäre eine dämonische Macht im Spiel.“ Von Martin [1932] 1974, 36 zustimmend zitiert für die italienischen Städte im Mittelalter. Vgl. etwa die Geschichte über Alkmeon, Ahnherr der Alkmeoniden, in der Schatzkammer des Kroisos, die dessen Geldgier komisch darstellt, Hdt. 6.125; über die Herkunft des sagenhaften Reichtums des Hipponikos, der wie Nikias durch Silbergruben reich geworden war, kursierten mehrere Geschichten; gemeinsam ist ihnen, dass sie ein trübes Licht auf seine Familie werfen, vgl. Plut. Aristeides 5.7 f., Schol. Aristoph. Nub. 64 und Suda s. v. Λακκόπλουτον (Adler λ 4658): persisches Gold; Herakl. Pont. fr. 42 Schütrumpf (= Ath. 12.536f–537c): unterschlagenes Deposit; Davies 1971, 260: „These various stories […] deserve no credit in themselves, but all have as their common basis an in itself credible tradition that Kallias (II) in the 480s was suddenly disposing of large quantities of money from ‚underground‘ sources.“ Offenbar kursierten auch Gegenerzählungen, vgl. Hdt. 6.121,2; Andreev 1984, 126 f. hingegen glaubt die Geschichte vom persischen Gold. Laut Plut. Solon 15.6 f. bereicherten sich Männer namens Konon, Kleinias und Hipponikos (also die Vorfahren vornehmer Familien des 5. Jhs.) an Solons Schuldenschnitt im 6. Jh., indem sie kurz vorher Schulden machten; vielleicht handelt es sich um dieselbe denunziatorische Geschichte, die [Aristot.] Ath. pol. 6.2 über jene erzählt, die später „Altreiche“ (παλαιοπλούτους) genannt wurden. Aristoph. Plut. 335–385; der plötzliche Reichtum rieche nach „Halunken-Ware“ (τουτὶ πονηρὸν φαίνεται τὸ φορτίον), meint Chremylos; „Überreichsein“ (ὑπερπλουτεῖν) bedeute, etwas ‚Schmutziges‘ (wörtl. „nicht gesundes“ οὐδὲν ὑγιές) getan zu haben, 352–355.
8.2 Die kommunikative Grenze zwischen Haus und Stadt
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den verdächtigt man des schändlichen und verbrecherischen Tuns, wünscht zugleich jedoch selbst reich zu werden und fordert seinen Anteil am neuen Reichtum, gleich woher er stammt. Genau wie in der Hauswirtschaft allgemein wurde in Fragen der Geheimhaltung und Außendarstellung erwartet, dass die Mitglieder des Hauses zusammenarbeiteten, als Team im Sinne Goffmans.67 Bei Euripides mahnt eine alte Amme ihre Herrin im vertrauten Zwiegespräch mit einer Spruchweisheit zur Verschwiegenheit: „Verborgen sei das Unedle“.68 In Menanders’ Samierin erteilt ein Vater seinem Sohn dieselbe Lektion. Der Vater habe den Sohn zwar zu Unrecht eines Fehlers beschuldigt, diesen aber immerhin nicht „den Feinden zur Freude“ „sichtbar hingestellt“ (ἔθηκα φανερόν). Der Sohn hingegen „trage den Fehler des Vater nach draußen (ἐκφέρεις)“ und nehme sich „für die Unvernunft des Vaters Zeugen (μάρτυρας)“, was falsch sei.69 Weil die Beschämung eines Familienmitglieds sich auf das ganze Haus überträgt, müssen alle seine Mitglieder zur Wahrung des guten Rufes zusammenarbeiten, auch wenn sie zu verschiedenen Haushalten gehören.70 Um Diskretion zu wahren, wurden Konflikte, wenn irgend möglich außergerichtlich beigelegt, teils informell, teils durch Schiedsrichter. Das galt besonders bei Konflikten mit Verwandten, bei denen ein Prozess nicht nur gegen die Norm verwandtschaftlicher Solidarität verstieß, sondern auch die häuslichen Verhältnisse besonders schonungslos offenlegte.71 Nur dann, wenn der Streitwert zu hoch, die Gemüter zu erhitzt und die Faktenlage zu verworren für Tatsachenprüfung und Interessensausgleich waren, ging man vor Gericht.72 Reiche Männer galten wegen dieser Abneigung gegenüber Gerichtsprozessen als regelrecht erpressbar.73 Den Gerichtshof mied man, weil er eine offene Bühne war, auf der man vor 201 bis 401 Mitbürgern sprach.74 Potentiell waren unter diesen Richtern immer Nachbarn, Verwandte und Freunde, bei denen man den Ruf eines vertrauenswürdigen Kooperationspartners wahren wollte.75 Andere Richter waren wiederum Konkurrenten oder Feinde, vor denen man sich keine Blöße geben wollte. 67 68 69
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S. Kap. 3.3.2. Eur. Hipp. 462–466, hier 466: λανθάνειν τὰ μὴ καλά. Men. Sam. 697–708; vom „Heraustragen“ spricht auch ein Weisheitsspruch, Periandros DK 10, 3, ζ 14: λόγων ἀπορρήτων ἐκφορὰν μὴ ποιοῦ. Das Negativbeispiel ist Perikles’ Sohn Xanthippos, der wegen Streitigkeiten mit seinem Vater selbst anfing, das Gerede über sein Elternhaus zu verbreiten, Plut. Perikles 36.2–4; das mag erfunden sein, geht jedoch auf den Zeitgenossen Stesimbrotos zurück und spiegelt damit zeitgenössische Auffassungen wider. Men. Dys. 235–245. Man vergleiche die beredten Selbstrechtfertigungen zu Beginn der Reden, vgl. Dover 1974, 275; Hunter 1994, 54 f.; der Redner von Lys. 32.1 f. etwa ergänzt die Beteuerung seiner Normkonformität um das Argument, er hätte eine Schlichtung vorgezogen, damit niemand sonst über die Angelegenheiten der Familie erführe. Roy 1999, 7 f.; MacDowell 1978, 203–206; Hunter 1994, 55–67 f. Xen. mem. 2.9; Plut. Themistokles 5; Nikias 4.3. MacDowell 1978, 40; Hansen 1995, 193–195. Redner behaupten deshalb topisch, sie stünden das erste Mal vor Gericht, Dover 1974, 25 f.
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
Wenn man seinen Haushalt außenstehenden Blicken öffnete, dann als Teil einer kalkulierten Inszenierung. Etwa, indem man Freunde beim Gastmahl Wohlstand und Verfeinerung des eigenen Hauses vor Augen führte (Kap. 16.1.1), indem man vor Gericht die Buchführung über gemeinnützige Ausgaben offenlegte (Kap. 13.3.2), oder indem man die häuslichen Kulthandlungen zu einer „sichtbaren Sache“ machte.76 Ebenso inszenierte man die eigene Redlichkeit bei Geldgeschäften in der städtischen Öffentlichkeit.77 Denn der gute Ruf war nicht bloß Selbstzweck, sondern förderte auch den wirtschaftlichen Erfolg des Hauses (Kap. 16.3.2). Die umgekehrte Strategie existierte ebenfalls: Die Denunziation, das Hervorzerren der häuslichen Angelegenheiten eines Gegners an das Licht der Öffentlichkeit. Solche Denunziationen sind uns vor allem in den Gerichtsreden erhalten. Beweisstücke waren dabei häufig private Dokumente, wie Rechnungsbücher, Verträge oder Testamente. Gerade aus Gerichtsreden erfahren wir daher, schemenhaft und verzerrt, etwas über den pragmatischen Schriftgebrauch im Haus, dessen Zeugnisse ansonsten verloren sind. Ähnlich wie die Gerichtsreden trug auch die Komödie das Gerede der Nachbarschaft über das Treiben anderer Haushalte in die Stadt hinaus.78 Dadurch trug die Komödie nicht nur zur Verteilung von Reputation bei, sondern definierte auch die Regeln, nach denen diese abseits der Bühne verteilt wurde. Der folgende Überblick über die Quellengattungen mit denen sich, trotz der geschilderten quellenkritischen Probleme, ein Teil der Praxis der Hauswirtschaft rekonstruieren lässt, beginnt deshalb bei diesen beiden Gattungen. 8.3 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft 8.3.1 Gerichtsreden und Komödien Reden und Komödien können auf zwei Arten als Quellen für die antike Hauswirtschaft ausgeschöpft werden. Zum einen lässt sich fragen, welche Normen und mentalen Modelle sie für gültig erachten; in dieser Hinsicht erweitern und korrigieren sie das Bild der theoretischen Abhandlungen zur Ökonomik. Zum anderen lassen sich die geschilderten und vor allem die nebenbei erwähnten Erwerbs-, Vermögens- und Familienverhältnisse zur Rekonstruktion der alltäglichen Praxis der Hauswirtschaft heranziehen. 76 77 78
Vgl. Xen. mem. 1.1,2 und Plut. Timoleon 36.3 zur Sichtbarkeit ‚privater‘ Kulte. [Demosth.] 34.30: Alle Menschen wünschten wenige Zeugen, wenn sie Geld borgten; wenn sie es aber zurückgeben, holten sie viele Zeugen dabei, damit sie als anständig bei Geschäftsvereinbarungen gelten; vgl. die öffentliche Auszahlung der Erträge einer Vermögenspacht, Demosth. 27.58. Vgl. Aristot. rhet. 2, 1384 b 9–11; namentlich verspottete die Komödie zwar v. a. politisch exponierte Personen, aber auch solche, deren Geschäftspraktiken oder Konsumverhalten Aufsehen erregte, vgl. Sommerstein 1996, 327–331 zur alten Komödie und Nesselrath 1998 und Henderson 2014, 186–189 zur mittleren.
8.3 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft
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Die Gerichtsreden bieten eine Fülle von Details aus dem Alltag griechischer Haushalte. Besonders ergiebig sind die Reden über Erbschaften und Vormundschaften von Lysias, Isaios und Demosthenes. Die Reden decken den Zeitraum von 403 bis 322 ab und gehen indirekt noch in das letzte Viertel des 5. Jhs. zurück, weil einige der in ihnen geschilderten Familiengeschichten so weit zurückreichen. Der Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen ist fast nie prüfbar: Der Redner wollte seinen Prozess um jeden Preis gewinnen, den Preis der Wahrheit eingeschlossen.79 Entscheidend ist, dass der Redner (resp. sein Redenschreiber) nur Dinge behaupten konnte, welche die Laienrichter für glaubwürdig hielten, weil sie ihrer Alltagserfahrung entsprach.80 Diese allgemein anerkannte methodische Prämisse wird auch in dieser Arbeit vorausgesetzt; sie muss allerdings in drei Punkten eingeschränkt werden. 1) Die prinzipielle Glaubwürdigkeit einer Schilderung ist noch kein Indiz dafür, wie häufig oder typisch die geschilderte Handlung war; auch ungewöhnliche Handlungen können ‚narrative Glaubwürdigkeit‘ besitzen.81 2) Die Plausibilität eines Allgemeinplatzes schließt nicht unbedingt die Plausibilität des Gegenteils ein oder aus, weil in der topischen Verkürzung die vorausgesetzten Randbedingungen ausgeblendet werden (‚gleich und gleich gesellt sich gern‘ und ‚Unterschiede ziehen sich an‘).82 3) Die Richter waren nicht rechenschaftspflichtig: Ein Redner konnte trotz Glaubwürdigkeitsproblemen erfolgreich sein, wenn er beliebter als sein Gegner war oder seine Rede das Publikum besser unterhielt oder umschmeichelte.83 Die Informationsfülle der Gerichtsreden darf des Weiteren nicht zu dem Trugschluss verleiten, sie zeigten ein vollständiges Bild der wirtschaftlichen Verhältnisse. Wie groß die Lücken sind, zeigt sich daran, wie viele Klageformen wir zwar dem Namen nach kennen, aber keine Reden zu entsprechenden Prozessen erhalten haben. Wir wissen etwa, dass es zahlreiche geschriebene Reden zur Klage gegen pflichtvergessene Freigelassene (die Dikē apostasiou) gab, kennen jedoch nur einige Titel und zwei Fragmente, weshalb Form und Gegenstand dieser Klage schemenhaft bleiben.84 Die pseudo-aristotelische Verfassung der Athener nennt viele Klagen kommerziellen Inhalts, für die wir nicht einmal Titel von entsprechenden Reden haben.85 Obwohl Geschäftspartnerschaften üblich waren, ist nur eine einzige Rede überliefert, die den Streit zwischen zwei Partnern dokumentiert und dabei handelt es sich nicht einmal um eine
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Vgl. Todd 1990b; Golden 2000, 162 f. Vgl. Millett 1991, 1–4; Cohen 1992, 36 f.; ausführlich diskutiert bei Todd 1990b, 173–175. Todd 1990b 169 f.; Golden 2000, 165. Golden 2000, 166–169. Humphreys 1986, 67; Todd 1990b, 172 f.; Golden 2000, 165; vgl. Aristot. rhet. 1, 1354 b 31–1355 a 1, 1377 b 28–1378 a 5. Harp. s. v. ἀποστασίου; Harrison 1968, 185, Anm. 2; Zelnick-Abramovitz 2005, 274–292. [Aristot.] Ath. pol. 52.2.
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
typische Partnerschaft.86 Der Grund ist vermutlich, dass dauerhafte Geschäftspartner teure und rufschädigende gerichtliche Auseinandersetzungen dringend vermieden und ihre Konflikte anders beilegten.87 Wer, was häufig der Fall war, mit seinem eigenen Vermögen wirtschaftete und Söhne oder Sklaven als ‚Agenten‘ einsetzte, kam ohnehin nicht vor Gericht, weil Konflikte innerhalb des Hauses ausgetragen wurden.88 Methodische Schwierigkeiten anderer Art birgt die Bühnendichtung. Die Tragödie versetzt die Handlung ins Mythische und Heroische, die Komödie ins Absurde und Utopische. Auch die Tragödien lassen sich als Quellen fruchtbar machen, insbesondere die ‚naturalistischeren‘ Stücke von Euripides (gest. 406), der sich mit den intellektuellen Fragen seiner Zeit auseinandersetzte.89 Die Komödie ist allerdings besonders wertvoll, weil sie dem Alltag weniger enthoben ist als die Tragödie. Denn ihre Wirkung beruht auf dem Spiel mit den alltäglichen Erwartungen ihres Publikums.90 Die ganz oder in umfangreichen Fragmenten erhaltenen Stücke von Aristophanes (zwischen 425 und 388) und Menander (zwischen 325/4–291/0) werden um zahlreiche Fragmente weiterer Komödien-Dichter ergänzt. Der Kontext dieser Fragmente ist weitgehend unbekannt und ihr Hauptlieferant, der kaiserzeitliche Gelehrte Athenaios, wählte sie entsprechend seiner Interessen an Gelagen und korrektem Attisch aus. Gleichwohl bieten sie eine Fülle sonst unbekannten Materials, insbesondere für die ‚mittleren Komödie‘, deren Stücke die Zeit zwischen Aristophanes und Menander abdecken.91 Traditionell gilt die Komödie des Aristophanes als fantastisch in der Gestaltung und politisch in den Themen; deshalb wird sie der Komödie Menanders gegenübergestellt, weil sie den häuslich-privaten Bereich naturalistisch darstelle.92 Die Ansicht bedarf der Nuancierung. Menanders Quellenwert für die Hauswirtschaft ist zweifels-
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Im betreffenden Fall hatten zwei Verwandte eine Partnerschaft zum Zweck der Aneignung eines umstrittenen Erbes gegründet, [Demosth.] 48.9–11, 28. Thompson 1982, 56 f. Hansen 1984, 88 f.; vgl. Moreno 2007, 288 zur mangelnden Repräsentativität der Gerichtsreden zu Seedarlehen im Corpus Demosthenicum für die Handelspraktiken im 4. Jh. Der Verzicht auf die Verwendung der Tragödien bei Lacey 1968, 10, erscheint insofern zu puristisch; vgl. Spahn 1980, 553–564 zum Verhältnis von oikos und polis bei Aischylos; vgl. Strauss 1993, 100–148 und passim zu Vater-Sohn-Konflikten und Cecchet 2015, 67–95 zu Reichtum und Verarmung bei Euripides. Zum Naturalismus der Stücke s. KNOX 1970. Vgl. Ehrenberg 1968, 12–20, Spielvogel 2001 zur alten Komödie; Casson 1976 und Patterson 1998, 199–224 zur neuen Komödie; ein allgemeines Plädoyer für den sozialgeschichtlichen Quellenwert der Komödie bei Lape/Moreno 2014. Athenaios behauptet, mehr als 800 Stücke der mittleren Komödie gelesen und exzerpiert zu haben, Athen. 8.336d–f; zum Wert seines Gelehrtenmahls als Sekundärquelle s. Lesky 1971, 954, und insbesondere Dalby 1998, 239–243; zur sozialen Welt der mittleren Komödie s. Nesselrath 1998 und Henderson 2014. Lefèvre [1979] 2014, 23 f.; Zimmermann 1998, 57–66; vgl. Ehrenberg 1968, 21–48; Patterson 1998, 199–224; der Versuch von Lape 2004, 3–39, einen politischen Subtext herauszupräparieren, wirkt forciert.
8.3 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft
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ohne hoch.93 Der Haushalt ist allerdings auch bei Aristophanes prominent. Die Bedürfnisse des Haushalts treiben die Protagonisten zum Handeln, es sind häusliche Verhältnisse, mit deren Hilfe die größeren politischen Zusammenhänge veranschaulicht werden.94 Das heißt nicht, dass die aristophanischen Haushalte quasi-reale Entitäten wären und etwa eine „Vermögensschätzung des Strepsiades-Haushalts“ in den Wolken möglich wäre.95 Utopie und Inversion verweisen zwar unter verkehrten Vorzeichen auf Tatsächliches. Dieses Tatsächliche sind jedoch weniger nüchterne Tatsachen über private Vermögensverhältnisse, sondern eher die geltenden Normen und Meinungen als gebrochene Spiegelung der ‚nüchternen Tatsachen‘.96 Ein historisches Bild der privaten Kosten des Peloponnesischen Kriegs gewinnen wir aus dem Bild des Haushalts des Strepsiades nicht, wohl aber Informationen über das populäre Bild des Aufsteigers und das Verhältnis von Geld, Status und Rhetorik.97 Schließlich kommen die vielen Nebenbemerkungen über selbstverständlich Alltägliches hinzu, die seit jeher als Belege herangezogen werden.98 Ebensowenig wie Aristophanes rein politisch und phantastisch ist, darf der höhere Naturalismus Menanders darüber hinwegtäuschen, dass sein speculum societatis ein Spiegel im alteuropäischen Sinn der Metapher ist, also mindestens so sehr Seinsollendes wie Seiendes zeigt. Menanders Stücke führen in belehrender Absicht menschliche Schwächen vor, die das Haus gefährden, aber ebenso die Kooperation zur Bewahrung des Hauses, zu der sogar die Konkubine und der Sklave treu und selbstlos beitragen. In der menandrischen Komödie ist in dramatischer Absicht alles übersteigert, von der Höhe der Mitgift bis hin zu den geschilderten Glücks- und Unglücksfällen. Ihre Handlung ist nicht unmöglich, aber höchst unwahrscheinlich. Der prahlerische Soldat und die schöne Hetäre treten des Effekts wegen zu oft auf,99 Handelsfahrten und Söldnerzüge spiegeln nicht nur wirtschaftliche Wirklichkeit, sondern sind dramaturgisch nützlich, weil sie hinterszenische Handlung, Verwechslung und Wiedererkennung 93
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Casson 1976, 53–59, verbunden mit dem Hinweis, dass Menanders Komödien nur die Welt der Reichen zeigt, vgl. Hoffmann 1998; Rostovtzeff [1941] 1955, 127 spricht hingegen von den Mitgliedern eines „Mittelstandes, gut situiert, doch nicht ungewöhnlich reich“; Lane Fox 1996, 130–133 hat gegen Casson die Unwahrscheinlichkeit der hohen Mitgiften und gegen Rostovtzeff die Unangemessenheit des Konzepts einer mittelständischen Bourgeoisie betont. Kriegsbedingter Mangel: Acharner, Frieden, Lysistrate; Herren-Sklaven-Verhältnis: Ritter; VaterSohn-Beziehung und Generationenkonflikt: Wolken, Wespen; Eheverhältnis in den Thesmophoriazusen, Lysistrate, Ecclesiazusen; Reichtum und Armut, sozialer Auf- und Abstieg: Wolken, Wespen, Plutos. So Spielvogel 2001, 60; zur Methodik ebd. 13–26. Spielvogel 2001, 62. Das Gleiche gilt für David 1984, bes. 5–11, und 32–38, der das Bild materiellen Elends in den Ekklesiazusen und im Plutos für eine Wiedergabe zeitgenössischer Zustände hält, vgl. die kritischen Bemerkungen bei Golden 1986. Das hier gewählte Vorgehen entspricht dagegen dem bei Lape/ Moreno 2014, 344–352 umrissenen Ansatz. Spielvogel 2001, 25. Rostovtzeff [1941] 1955, 127 f.
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ermöglichen.100 Das Personal ist der Realität entlehnt, entwickelt jedoch ein bühnenspezifisches Eigenleben als Stereotypen. Menanders Figuren führen wie Theophrasts Charaktere nachahmenswerte und zu meidende Verhaltensweisen vor. Kein Zuschauer identifizierte sich rundheraus mit einer der überzeichneten Figuren. Aber jeder konnte sie als Folie verwenden, um sich und seine Mitbürger zu betrachten.101 In diesem Sinn sind sie eine wertvolle Quelle insbesondere für die Normen der alltäglichen Kooperation im Haus. 8.3.2 Inschriften In Stein gehauene Inschriften waren, wie Gerichtsreden und Bühnenstücke, Teil der öffentlichen Kommunikation im städtischen Raum. Gerade deshalb bieten sie kaum direkte Zeugnisse für die Hauswirtschaft. Zu Quellen der Hauswirtschaft werden sie dort, wo sie von Haushalten zu ihrer Außendarstellung genutzt wurden, etwa als Grabund Weihinschriften. Zu Quellen werden sie außerdem dort, wo sie die Interaktion zwischen Haushalten und Haus und Stadt dokumentieren, so wie Verkaufs- und Pachturkunden und Schuldsteine; in Athen kommen die Berichte der Poletai hinzu, jenen Amtsträgern, die für die Versteigerung beschlagnahmter Privatvermögen verantwortlich waren. Selbst das aufschlussreichste ihrer Dokumente, die sogenannten Attischen Stelen, welche die Vermögenswerte samt Verkaufspreis der im Jahre 415 verurteilten Mysterien- und Hermenfrevler wiedergeben,102 dokumentieren trotz ihrer Ausführlichkeit kein Gesamtvermögen; sie sind stark fragmentiert und es ist zu erwarten, dass die meisten beweglichen Vermögensverwerte ‚verschwanden‘, bevor sie konfisziert werden konnten.103 Probleme der Kontextualisierung von Inschriften zeigen sich besonders dort, wo Gerichts- oder Gesetzesbeschlüsse festgehalten werden, ohne dass wir anderweitig über die Ursachen des Beschlusses oder die Beteiligten informiert wären. Die berühmten sog. Phialai-Inschriften (auch attic manumissions oder phialai-exeleutherikai-Inschriften genannt) aus den 330er- und 320er-Jahren registrieren nach allgemeiner Auffassung Personen, die mithilfe einer Dikē apostasiou freigelassen wurden.104 Das Rechtsverfahren, das dabei mutmaßlich angewandt wurde, ist jedoch
100 Dazu FURLEY 2014, der zugleich darauf verweist, dass diese Figuren und Plots den Zeitverhältnissen der Entstehungsperiod entsprachen. 101 Vgl. Lefèvre [1979] 2014, 24–33 zu Weltbild und Realitätsgehalt der neuen Komödie; vgl. Lape/ Moreno 2014, 349–367 zur Normativität von Menanders Stücken; Patterson 1998, 198–205 speziell zu den Frauenfiguren, Konstan 2013 zu den Sklaven; zur Normativität von Theophrasts Charakteren zuletzt Schmitz 2014a. 102 IG I3 420–430; vgl. Pritchett 1953, Pritchett/Pippin 1956. 103 Osborne 1985, 51 f. 104 IG II2 1553–1578, SEG 25.180 + 46.180, 44.68; neu ediert von Meyer 2010, 81–195, deren Lesungen hier gefolgt wird; Meyers revisionistische These, ebd. 32–56, laut der die Genannten Metöken
8.3 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft
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sehr unsicher, bis hin zu der Frage, ob es sich um ‚fiktive‘ oder echte Prozesse handelte.105 Ehreninschriften wiederum belegen, wie ökonomisches Kapital in Ehre und Privilegien konvertiert wurde, die dem Haushalt des Geehrten wiederum wirtschaftliche Vorteile bieten konnten (Kap. 16.3). Die Inschriften verraten für sich genommen allerdings nicht, inwiefern dieser Zusammenhang von den Beteiligten intendiert war und inwiefern die Geehrten ihre Privilegien tatsächlich wirtschaftlich nutzten. Hierzu müssen sie in Verbindung mit literarischen Belegen gedeutet werden. Wertvoll sind all diese Inschriften nichtsdestotrotz, weil sie die Verbreitung bestimmter Praktiken, deren Zwecke wir aus den athenozentrischen literarischen Quellen kennen, jenseits von Athen dokumentieren. Während die meisten publizierten Inschriften öffentlichen Charakters im genannten Sinne sind, ist in den letzten Jahren die Zahl der edierten Dokumente gewachsen, die ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und schmale Schlaglichter auf die Motive der Handelnden werfen, die sonst häufig verschwiegen sind. Dazu gehören Briefe, die auf Bleitafeln oder Tonscherben (Ostraka) geritzt die Zeiten überdauert haben und überwiegend in Attika, dem Schwarzmeergebiet und im westlichen Mittelmeer vor der Küste Frankreichs und Spaniens gefunden wurden.106 Ihr häufig schlechter Erhaltungszustand, die Vielfalt der verwendeten Dialekte und das Fehlen von Datierungshinweisen erschwert ihre Interpretation. Gleichwohl belegen diese Dokumente eindrucksvoll, wie bereits im 6. Jh. Schriftlichkeit eingesetzt wurde, um die Geschäfte des Haushalts über die Grenzen der Heimatstadt auszudehnen (Kap. 13.2). Die Anfragen von Privatpersonen an das Zeus-Orakel in Dodona in Epirus stellen den Interpreten vor ähnliche Herausforderungen, weil sie ebenfalls von Personen ganz verschiedener Herkunft auf dünne Bleitafeln geschrieben wurden. Die Anfragen werden in die Zeit zwischen ca. 550 bis 167 datiert, wobei die weitaus meisten zwischen ca. 450 und 300 entstanden. Nahezu einmalig ist, dass sich diese Anfragen aufgrund ihrer Menge (die jüngste Publikation enthält 4216 Anfragen) seriell auswerten lassen und einmalige Zeugnisse für die privaten Anliegen von Personen außerhalb Athens
seien, die mit einer dikē apostasiou angeklagt wurden, überzeugt hingegen nicht; vgl. die Rezension von Kostas Vlassopoulos (http://bmcr.brynmawr.edu/2011/2011-02-48.html, letzter Zugriff: 02.02.2015) zu epigraphischen Problemen; Schmitz 2014b, 153 f. zur abwegigen Risikobereitschaft der Ankläger, die Meyers These voraussetzt; anders als Meyer meint, waren Klagen wegen Nichterfüllung (dikē apostasiou), bereits im 4. Jh. häufig und sie übertreibt die Rechtsunsicherheit für Metöken; die Stellung Freigelassener war hingegen tatsächlich prekär, Zelnick-Abramovitz 2005, 292–300. 105 Vgl. oben Anm. 103; ausführliche Diskussion bei Zelnick-Abramovitz 2005, 274–292; ZelnickAbramovitz geht anders als Lewis 1959, 236–238 von echten Prozessen aus. 106 Eine tabellarische Übersicht bei Eidinow/Taylor 2010, 50–61 (App.); Briefe des Schwarzmeergebiets zusammengestellt bei Vinogradov 1998 und Dana 2007; der vollständigste Katalog samt Apparat und Übers. bei Ceccarelli 2013, 335–356 (App. 1).
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8 Die Quellen zur Praxis der Hauswirtschaft
und unterhalb der Oberschicht sind.107 Ihr Quellenwert für die Hauswirtschaft ergibt sich daraus, dass die allermeisten ihrer Fragen alltägliche Sorgen betreffen: Reichtum, Nachkommen, Gesundheit und gute Ehen. 8.3.3 Materielle Hinterlassenschaften Archäologische Zeugnisse unterliegen nicht der systematischen Verzerrung der literarischen Überlieferung, weil die Feldforschung aktiv neue Befunde nach Maßgabe ihrer Fragestellung schaffen kann. Für die antike Hauswirtschaft wichtig sind besonders Ausgrabungen von Stadt- und Landhäusern, die Auskunft über die räumliche Organisation des Haushalts als Wohnort und Arbeitsplatz geben. Sie bringen Details über das alltägliche Wirtschaften ans Licht, die zu profan oder selbstverständlich für eine literarische Erörterung waren. Eine genaue Rekonstruktion der Raumnutzung setzt allerdings ausreichend dokumentierte Kleinfunde voraus, weil die architektonische Gestaltung nur selten funktionsspezifisch ist.108 Die Interpretation wird weiter dadurch erschwert, dass Wohnhäuser meist über Generationen hinweg benutzt und umgebaut wurden und man alle Dinge von Wert mitnahm, wenn man sie aufgab. Das katastrophale Unglück der chalkidischen Stadt Olynth, die 348 vom Makedonenkönig Philipp II. zerstört wurde, ist daher ein Glücksfall der Archäologie. Insbesondere Lisa Nevett und Nick Cahill haben hier exemplarisch vorgeführt, wie sich die räumliche Verteilung von Kleinfunden analysieren lässt, um soziale Struktur und wirtschaftliche Praxis griechischer Haushalte zu rekonstruieren.109 Archäologische Befunde sind allerdings selten eindeutige Indikatoren sozialer Strukturen. Das äußerlich gleiche Wohnhaus konnte gekauft oder gemietet sein, es konnte unterschiedlich viele Einwohner beherbergen und unterschiedlichen Gewerben als Arbeitsort dienen.110 Ob man ein Landhaus als bäuerliches Einzelgehöft oder als sklavenbetriebenen Gutshof interpretiert, hängt stark davon ab, welche Vorannah-
107 Die Gesamtedition liegt jetzt mit DVC (erschienen 2013) in Neugriechisch vor, allerdings mit schmaler Kommentierung und ohne Übersetzungsvorschläge; thematisch gegliederte Sammlungen der bis 2013 bekannten Anfragen bieten Eidinow 2007, 72–124 mit knappem Kommentar und engl. Übers. sowie Lhôte 2006, 27–325 mit ausführlichem Kommentar und frz. Übers.; zu Quellenwert, Forschungsstand und Datierung s. jetzt die Beiträge in Soueref 2017 und zur Technik der Befragung, Themen der Anfragen und dem Quellenwert Parker 2016. 108 Nevett 1999, 21–52 zur Analyse von Hausbefunden; vgl. Trümper 2011, 34 f. 109 Zur Geschichte und den Ausgrabungsergebnissen von Olynth s. Hoepfner/Schwandner 1994, 31–79, Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 261–279 und Cahill 2002, 23–73. 110 Nevett 1999, 77 f.; vgl. die bekannte Äußerung bei Aischin. 1.123 f.: dasselbe Haus könne als Mietshaus an eine oder mehrere Parteien vermietet sein und es könnten dort nacheinander Arzt, Schmied, Zuhälter usw. arbeiten; dazu Tsakirgis 2005, 78.
8.3 Ein Überblick über die Quellen der Praxis der Hauswirtschaft
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men über die griechische Wirtschaft man bereits mitbringt.111 Das Gleiche gilt für das Problem der Unsichtbarkeit von Sklaven in Grabungsbefunden und in Bildern.112 Denn Bilder privilegierten genau wie Texte bestimmte Themen, die mit dem Selbstbild ihrer Auftraggeber und ihrer Rezipienten korrespondierten und zur Konstruktion ihrer sozialen Wirklichkeit beitrugen. So hat Sian Lewis in ihrer Arbeit zu Abbildungen von Frauenleben in der attischen Vasenmalerei überzeugend gegen die Vorstellung argumentiert, es handle sich gewissermaßen um ‚Schnappschüsse‘ des Alltagslebens.113 Dennoch besteht auch hier genau wie bei den Inschriften der Quellenwert darin, dass der serielle Charakter der Bildwerke repräsentativere Aussagen über populäre Themen und Idealvorstellungen erlaubt als punktuelle Äußerungen literarischer Texte. *** Ein Merkmal aller Quellengattungen ist das Übergewicht Athens und Attikas. Archäologische und epigraphische Zeugnisse gleichen dieses Übergewicht teilweise aus. Aber selbst hier ist das attische Material besonders umfangreich und gründlich untersucht. Es ist eine plausible Annahme, dass Wirtschaftsweisen weniger stark an politische Grenzen gebunden waren als religiöse Traditionen und Gesetze. Athen wird darüberhinaus als wirtschaftliches und intellektuelles Zentrum zu einer Angleichung sozialer und kultureller Praktiken beigetragen haben, weil es fremde Handwerker, Händler und Gelehrte aufnahm, während in Athen sozialisierte oder ausgebildete Personen in die Fremde gingen. Gleichwohl ist bei der Interpretation immer mitzubedenken, dass die demographischen, institutionellen und naturräumlichen Bedingungen, von denen abhing, unter welchem Druck die Hauswirtschaft stand und welche Spielräume sie hatte, von Stadt zu Stadt und von Region zu Region wechselten.
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Osborne 1992, 22 f.; vgl. Jameson 1994; Alcock 2002, 186–188; ein gutes Beispiel ist das sog. Vari-Haus in Attika; die Ausgräber sehen darin ein bäuerliches Einzelgehöft, Jones (u. a.) 1973, 418; Pesando 1987, 118–121 hingegen hält es für das sklavenbetriebene Landgut eines wohlhabenden Städters. Zur archäologischen Erkennbarkeit von Sklaven Himmelmann 1971 und Morris 2011; zur (Nicht-)Unterscheidbarkeit von Bürgern und Nichtbürgern in der Ikonographie vgl. Kap. 3.2.3. Lewis 2002.
9 Der Ort des Geschehens: Das Wohnhaus Ein kurzer Blick auf das Wohnhaus als Ort des Geschehens ist ein guter Einstieg in die Behandlung der Praxis der Hauswirtschaft. Denn oikos meinte immer auch eine spezifische räumliche Ordnung, das Leben und Arbeiten unter einem gemeinsamen Dach. In diesem Sinn fragte ein Unbekannter das Zeus-Orakel von Dodona um die Mitte des 4. Jhs., ob es seinem „Gewerbe und Vermögen“ (τέκνη[ι] | κα[ὶ χ]ρήμα[σι]) besser erginge, wenn er in seinem jetztigen Haus wohnen bliebe.1 Die Wohnhäuser kleiner Landwirte und Handwerker waren zugleich ihre Arbeitsplätze, wie der archäologische Befund zeigt. Die Einheit von Wohnort und Arbeitsplatz sparte Transportkosten und vereinfachte die Überwachung abhängiger Arbeit.2 Aber auch Händler und Bankiers empfingen ihre Geschäftspartner in ihrem Haus und lagerten dort Bargeld, Dokumente und Waren3 und selbst die großen sklavenbetriebenen Werkstätten waren häufig direkt im Haus ihres Eigentümers angesiedelt.4 Cahills Detailauswertung konnte zeigen, dass selbst eine relativ peripher gelegene Stadt wie Olynth im 4. Jh. eine diversifizier-
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DVC 2169A. Zur Einheit von Wohnort und Arbeitsplatz s. Bettalli 1985, 38 f.; Rieck 1994, 134–146; Cox 1998, 135–155; Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 561–575; Cahill 2002, 150, 264 f.; ein gutes Beispiel ist das sog. Haus von Simon dem Schuster an der athenischen Agora; dazu Thompson 1960; die Werkstätten in Großgriechenland waren ebenfalls häufig Teil von Wohnhäusern, vgl. Fischer-Hansen 2000, 94–109. In einem um 400 geschriebenen Bleibrief aus Kerkinitis weist der Schreibende den Adressaten u. a. an, „den Pökelfisch ins Haus (ἐς οἶκον) zu bringen“ und dort zu versiegeln, SEG 61.6155, 2 f.; vgl. Cahill 2002, 266–273 zu den Häusern an der Agora von Olynth, in denen man besonders viel Münzgeld fand; Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 306 nehmen an, die Entscheidung für ein neues städtebauliches System bei der Errichtung der Stadt Rhodos (nach dem Synoikismos 408/7), das größere Häuser ermöglichte, sei darauf zurückzuführen, dass die rhodischen Kaufleute „große Warenlager“ unterhielten; beim einzigen ausgegrabenen Wohnhaus (Ende 4. Jh.), sind die Lagerräume im Süden des Grundstücks allerdings spekulativ, weil zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht ergraben; vgl. op. cit. 301–306; sicher dokumentiert sind gelagerte Waren (Amphoren) und ein umfangreiches Privatarchiv für das hellenistische „Haus der Siegel“ in Delos; dazu Trümper 2005, 378–383. Demosth. 27.10 f., 13 (Messerschmiede) mit Schwahn 1929, 9; [Demosth.] 48.12 f. (Webstube); Diod. 14.41,6 (Waffenproduktion in Syrakus, um 399–397); vgl. die archäologisch belegten großen Werkstätten in Olynth und Eretria, dazu unten Anm. 13.
9 Der Ort des Geschehens: Das Wohnhaus
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te und monetarisierte Wirtschaft hatte, deren organisatorische Einheit weiterhin das Haus blieb.5 Weibliche Arbeit war nicht nur faktisch, sondern auch normativ im Haus verortet.6 Die ältere Annahme eines strikt geschlechtsspezifisch differenzierten Raums innerhalb des Hauses ist allerdings korrigiert worden. Wie Lisa Nevett anhand der Verteilung der Kleinfunde in den Häusern Olynths gezeigt hat, führten Frauen ihre Arbeiten in den meisten Teilen des Hauses aus, je nachdem, wo Belichtung und Belüftung gerade günstig waren. Wichtig war nur, dass die Architektur es bei Bedarf erlaubte, hausfremde männliche Gäste und weibliche Hausangehörige räumlich zu trennen, etwa bei einem Gastmahl.7 Die Architektur des typischen Hofhauses trug der Kontrollfunktion von Hausherrn und -herrin Rechnung. Nach außen war das Haus abgeschlossen und verfügte in der Regel nur über einen einzigen Eingang. Nach innen öffneten sich die Zimmer mit ihrem meist einzigen Zugang zum Hof hin, der Licht und Luft spendete und die Überwachung der Vorgänge in den umliegenden Räumen ermöglichte.8 Architektonische Spezialisierung fehlte weitgehend: Bauern, Handwerker und Kaufleute wohnten in Häusern gleichen Typs.9 Wohnhäuser wurden nicht nur von ihren Eigentümern bewohnt, sondern auch ganz oder in Teilen vermietet. Das war gerade in Handelshäfen wie Korkyra, Byzantion oder dem Piräus der Fall, wo der Durchreiseverkehr eine entsprechende Nachfrage schuf.10 Als sichtbare Vermögensindikatoren dienten Häuser schließlich auch als Unterpfand für Kredite.11 Seit dem 5. Jh. setzte in reichen Haushalten teilweise eine räumliche Differenzierung ein. Entlegene Gehöfte und Werkstätten, in denen Sklaven unter der Aufsicht von Aufsehern wohnten und arbeiteten, lagen räumlich getrennt und unterschieden sich 5 6 7 8
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Cahill 2002, 225–288; vgl. 2005, 54–60. Dazu Kap. 10.2. Nevett 1999, 53–79; diese Korrektur geht mit einem generellen Zweifel an einer strikten funktionalen Binnendifferenzierung griechischer Wohnhäuser einher; vgl. Jameson 1990 und Trümper 2011. Umfassende Überblicke über die Architektur griechischer Stadtwohnhäuser in klassischer Zeit bei Hoepfner/Schwandner 1994 und Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 201–440; beide Publikationen versuchen zu sehr, ‚Typen‘ oder ‚Normalhäuser‘ und strikte funktionale Differenzierungen des Innenraums zu entdecken; dieser Ansatz ist seither kritisiert und modifiziert worden; vgl. z. B. Cahill 2002, 74, 174, 194–198; Shipley 2005, 368–383; Trümper 2011; zur sozialen Bedeutung der Wohnhausarchitektur s. Pesando 1987; Westgate 2007, 240 f.; Lang 2010 sowie die oben in Anm. 7 angegebene Literatur. Der locus classicus ist die Bemerkung bei Aischin. 1.123 f., dass nicht die Häuser ihren Bewohnern die Namen gäben, sondern die Bewohner ihren Häusern; für Athen vgl. Tsakirgis 2005 und Rotroff 2009, für Olynth Cahill 2002, 223–225; vgl. die oben in Anm. 2 angegebene Literatur. Athen, insbesondere in der Stadt und im Piräus: [Xen.] Ath. pol. 1.17 f.; Aristoph. (Geōrgoi) fr. 119 PCG (= Zenob. 2.27); Is. 11.42; Demosth. 38.7; Byzantion: Phylarch. FGrH 81 F 7; Korkyra: Thuk. 3.74,2, vgl. 1.37. Zu Wohnhäusern als Pfand s. Finley 1951, 60–65; Isokr. 21.2 f., ist ein Beispiel dafür, wie man Hausbesitz per Verpfändung im Notfall schnell in Geld umwandeln konnte.
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in der Ausstattung von den Stadthäusern, in denen die Herrenfamilie residierte.12 Aus Eretria, Olynth und Athen sind Fälle bekannt, in denen ein Hausbesitzer ein Nachbarhaus kaufte und fortan einem repräsentativen Wohnbereich vom Arbeitsbereich abtrennte.13 Die räumliche Differenzierung erlaubte es dem Hausherrn, seinen Gästen eine standesgemäße Lebensführung vorzuführen, ohne die Kontrolle über den architektonisch getrennten Wirtschaftstrakt zu verlieren, in dem das nebenan zur Schau gestellte Vermögen erwirtschaftet wurde. Die zwei Bereiche des Hauses bildeten gewissermaßen Bühne und Hinterbühne für die performative Distanzierung vom Geldgeschäft.14 Die Selbstinszenierung der eigenen Person hat eine räumliche Dimension: Wer sich in Werkstätten oder auf dem Markt aufhielt, um sein Geld zu verdienen, der war von niederem Status; wer das vermeiden konnte, war akzeptabel, selbst wenn die Quellen seines Reichtums kommerziell waren.15 Die sich im 4. Jh. in Athen mehrenden Klagen über die „großen Häuser“ (μεγάλαι οἰκίαι) reicher Leute16 findet archäologisch nur bedingt Bestätigung. Im Vergleich zu den späteren Bauten des Hellenismus und der Kaiserzeit wirken die Ausstattungen der archäologisch besser erforschten Häuser in Athen, Olynth, Priene und Eretria eher bescheiden.17 Zu berücksichtigen ist allerdings erstens, dass die Pracht eines Hauses im 12
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Kiderlen 1995, 103–115; durch Surveys am besten erschlossen sind die Gutshöfe und Silberwerkstätten von Attika, s. Young 1956; Jones 1963; 1975a; 1975b; 2007; Langdon/Vance Watrous 1977; Lauter 1980; Lohmann 1992; 1995; vgl. Pečírka 1973 für ganz Griechenland; zur ‚Nobilitierung des Wohnens‘ s. unten Anm. 17. Vgl. Thompson/Wycherley 1972, 174–177 zu den Häusern ‚C‘ und ‚D‘ an der athenischen Agora; vgl. Cahill 2002, 244–246 zu den Häusern ‚A vi 8‘ und ‚A vi 10‘ in Olynth und Kiderlen 1995, 43–51 und Reber 1998, 25–66 zu ‚Haus I‘ in Eretria, das zu einem großen Zweihofhaus ausgebaut wurde; Reber, ebd. 166 f. nimmt an, dass das Zweihofhaus zu einem „der Standardtypen von Wohnhäusern für eine […] zu stärkerer Repräsentation verpflichtete Oberschicht“ wurde. Zur räumlichen Gliederung der sozialen Selbstdarstellung s. Goffman 1959, 106–140 und oben Kap. 3.3.2; vgl. Nikias’ Rechtfertigung seines Rückzugs ins Haus, Plut. Nikias 4.2. Die unedlen Handwerker sitzen in ihren Werkstätten, Xen. oik. 4.2 f., 6.5–8; vgl. Aristoph. Eccl. 383–388; Xen. mem. 3.7,6: das unedle Volk der Gewerbetreibenden sind die Leute, die auf dem Marktplatz sitzen; vgl. Kyr. 1.2,3 und Aristot. pol. 7, 1331 a 32–35; insofern ist es wohl wörtlich zu verstehen, wenn in Theben derjenige Zugang zu den Ämtern erhalten haben soll, der sich für zehn Jahre von der Agora fernhielt, s. Aristot. pol. 3, 1278 a 26 f., vgl. 6, 1321 a 26–31; Isokr. 15.37 f. verteidigt sich gegen den Vorwurf, ein bezahlter Redenschreiber für private Prozesse zu sein, mit dem Argument, dass man ihn nie bei Gericht, Anhörungen oder Schlichtungen gesehen habe; in Is. 6.18–21 gilt nicht als problematisch, dass man sein Geld mit Bordellen verdient; problematisch ist, wenn man dort nicht nur die Gewinne abholt, sondern auch verweilt und sich mit den dortigen Personen abgibt. Lys. 27.10; Demosth. 3.24–31, 21.158 f., 23.207 f.; vgl. die Beschreibung von Kallias’ Haus bei Plat. Prot. 314c–316a und die Äußerungen von Theophr. char. 2.12, über den Schmeichler, der das schön gebaute Haus lobt; Aristot. eth. Nic. 4, 1123 a 6–9 hält es geradezu für ein Gebot der Großgeartetheit (megaloprepeia), „sein Haus entsprechend seinem Reichtum anzulegen“, weil dies zum „Schmuck“ (κόσμος) der Stadt beitrage. Zur „Nobilitierung des Wohnens“ s. Walter-Karydi 1994, die allerdings dem literarischen Narrativ vom privaten Luxus zu unkritisch folgt; ähnlich Hoepfner/Mitarbeiter 1999, 321–324; Thompson/Wycherley 1972, 179–183 halten die literarischen Zeugnisse angesichts des archäo-
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4. Jh. an den noch bescheideneren Bauten früherer Zeiten gemessen wurde, und zweitens, dass ein wesentlicher Teil des häuslichen Luxus performativer und ephemerer Natur war. Schließlich ging es bei der Statusrepräsentation über das Wohnhaus nicht bloß um die Zurschaustellung von Reichtum, sondern um sozialen Rang und öffentliche Bekanntheit im Allgemeinen.18 Eine Reihe von Andeutungen legen nahe, dass durch Geldgeschäfte reich gewordene Familien den sozialen Aufstieg ihres ‚Hauses‘ damit bekrönten, dass sie in ein Haus zogen, das den Namen einer alten, angesehenen Familie trug.19
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logischen Befunds in Athen für Übertreibungen, vgl. Acton 2014, 225 f.; abgewogen urteilt Pesando 1987, 29–43, 99–111, 125–149 anhand des archäologischen und literarischen Befunds in Athen und Olynth; vgl. Ducrey (u. a.) 1993, 31–62 und Reber 1998, 147–149 für aufwendige Stadthäuser in Eretria; vgl. Kiderlen 1995, 149–174. Zum ostentativen Konsum im Haus s. Kap. 16. And. 1.146: Werde Andokides hingerichtet, bliebe niemand aus seinem Geschlecht zurück, obwohl „das Haus von Andokides und Leogoras“ (ἡ Ἀνδοκίδου καὶ Λεωγόρου οἰκία) den Athenern keine Schande bereite, oder jedenfalls weniger als während Andokides’ Exil, als Kleophon, „der LeierHersteller es bewohnte“; der ‚neureiche‘ Politiker Kleophon hatte das Haus offenbar erworben, nachdem es 414 versteigert worden war, vgl. Davies 1971, 31; vgl. Lys. 32.14 für den Umzug eines Kaufmanns in das „Haus des Phaidros“; Hyp. fr. 137 Jensen (= Poll. 9.36) erwähnt „das große Haus, das Haus des Chabrias genannt wird“ (τὴν οἰκίαν τὴν μεγάλην τὴν Χαβρίου καλουμένη). Vgl zum gleichen Phänomen in Rom Saller 1984, 351.
10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute Haushalt und Ehe gehörten nach griechischem Verständnis zusammen.1 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wurde wie in anderen vormodernen Gesellschaften als räumliche Trennung komplementärer Aufgabenbereiche beschrieben. Der Mann war für den Gütererwerb außerhalb des Hauses zuständig, die Frau für deren Bewahrung und Verwendung innerhalb des Hauses (zu den praktischen Implikationen dieses normativen Konzepts Kap. 10.2.2).2 Gegenseitiges Vertrauen der Ehepartner war eine gesellschaftlich verankerte Rollenerwartung und insofern ‚systemisch‘, es musste allerdings ständig durch persönlichen Kontakt aktualisiert werden.3 Das Vertrauen in die Ehefrau beruhte jedoch nicht allein auf sozialem Zwang oder persönlicher Zuneigung. Denn die Ehefrau hatte ein Eigeninteresse am hauswirtschaftlichen Erfolg, von dem die zukünftige Stellung ihrer Kinder abhing.4 Deshalb gingen die männlichen Autoren der klassischen Zeit davon aus, dass die Hausmutter eine treibende Kraft des familiären Ehrgeizes war (s. Kap. 10.2.4). Xenophon legt die wirtschaftliche Rationalität der ehelichen Zusammenarbeit unverblümt offen, wenn er die Ehe als „nutzbringendste Partnerschaft“ bezeichnet und der Ehefrau als Vorbild für ihre Haushaltsführung ein Handelsschiff empfiehlt, das Waren „um des Gewinn willen“ transportiere.5
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Harrison 1968, 1; Schmitz 2004b, 214; vgl. Pomeroy 1997, 36; Hartmann 2002, 116. Plat. Men. 71e; leg. 7, 805d–e; Xen. oik. 7.18–34; [Demosth.] 59.122; vgl. Vernant 1963 und Bodei Giglioni 1996, 735–754. Vgl. Lys. 1.6 f. für die Entwicklung einer jungen Ehe: Kurz nach der Heirat überwachte der Ehemann die Ehefrau noch genau; als sie ihm ein Kind schenkte, schenkte er ihr Vertrauen in allen Angelegenheiten; tatsächlich sei sie eine tüchtige Haushälterin gewesen, die alles mit Sparsamkeit und Sorgfalt bestellte. Cox 1998, 73–77. Xen. oik. 7.13–18; vgl. Kap. 6.1.2.
10.1 Die Rolle des Mannes als Hausherr
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10.1 Die Rolle des Mannes als Hausherr 10.1.1 Der Mann als Eigentümer des Hauses Der Mann war Eigentümer und Herr des Haushalts. Zum Haushalt gehörte der gesamte Besitz des Herrn, belebt und unbelebt, wo immer auch dieser Besitz sich räumlich befand.6 Der Hausherr war als kyrios Gebieter über Frau, Kinder und Sklaven, über das ‚ganze Haus‘ also, und deshalb im Rechtssinne alleine geschäftsfähig.7 Einen Sklaven selbstständig arbeiten zu lassen, motivierte diesen zwar dazu, klug zu wirtschaften; es entband den Hausherrn aber nicht von der Haftung für dessen Geschäftsgebaren.8 Wo mit seinem Einverständnis gehandelt wurde, haftete er prinzipiell (womöglich nicht immer de facto) uneingeschränkt: Privat- und Geschäftsvermögen waren nicht getrennt, Gewinn und Schaden fielen direkt auf den Haushalt zurück.9 Der typische griechische Hausvater war daher gerade kein Rentier im ökonomischen Sinne.10 Mitglieder der Oberschicht distanzierten sich zwar ostentativ von gewerblichen Tätigkeiten, ihre Einkünfte waren ökonomisch definiert jedoch meist Gewinne und kein festes Ein-
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Die klassische Definition bei Xen. oik. 1.5; vgl. [Aristot.] oec. 1, 1343 a 18. Lacey 1968, 21 f.; Schaps 1979, 48–60; Schmitz 2007, 21–31; vgl. Plat. Lach. 185a; Xen. Lak. pol. 6.1 und Aristot. pol. 3, 1278 b 37 f.; Hartmann 2007 hat dieser Sicht mit Blick auf Athen widersprochen. Garlan [1982] 1995, 49; vgl. Demosth. 37.50 f., [Demosth.] 53.20 f. und besonders Hypereides’ Rede Gegen Athenogenes, die sich um die Streitfrage dreht, ob der neue Eigentümer eines Sklaven für dessen alte Schulden haftet; die von Cohen 1992, 94–101, 1998, 105–107 vertretene These, dass in Athen der Sklave in Geschäftsfragen rechtsfähig war, hat Harris 2013, 105–112 mit guten Gründen verworfen; sie beruht auf einer ungerechtfertigten Lesart einiger notorisch schwieriger Quellenstellen; auch in der Frage, ob Sklaven vor Gericht als Zeugen auftreten konnten, suggeriert Cohen falsche Gewissheit; vgl. Lipsius 1905–1915, 795–797; Harrison 1968, 166–177; MacDowell 1978, 204; das Grundproblem ist, dass die entscheidenden Gerichtsreden, bes. [Demosth.] 34, es offenbar gezielt unklar lassen, ob die betreffende Person Sklave oder Freigelassener war; vgl. Fisher 2008, 130 f. Es ist eine plausible Annahme, dass die Beschränkung oder Aufhebung der Haftung im Geschäftsalltag ähnlich vorkam, wie wir es im römischen Recht formalisiert finden (etwa: Haftung nur bis zur Höhe des Peculiums usw.). Als Perikles’ Sohn Xanthippos von einem Freund des Hauses Geld lieh, nahm dieser selbstverständlich an, dies geschehe mit Perikles’ Einverständnis; als er sein Geld dann allerdings zurückverlangte, klagte Perikles, Plut. Perikles 36.2 f.; die Geschichte mag eine Verleumdung sein, aber da sie vom Zeitgenossen Stesimbrotos festgehalten wurde, spiegelt sie wohl zeitgenössisches Recht; dazu Stadter 1989, 326–328 und Millett 1991, 67. Zur Vormundschaft über Frauen und Töchter s. Kap. 10.2.1; Vormundschaft für minderjährige Söhne: Aischin. 1.18; der Zeitpunkt der Mündigkeit variierte von Stadt zu Stadt, war jedoch meist ähnlich; Dion. Hal. ant. 2.26 kritisiert die allgemein frühe Mündigkeit in Griechenland im Vergleich zu Rom; zu Athen vgl. [Aristot.] Ath. Pol. 56.7; Lex. Seg. 5, Lexeis rhetorikai s. v. Τίνες ποίων δικαστηρίων εἴχον τὴν ἡγεμονίαν (= Anecd. Bekk. 310, 1–6); Is. 4.7–10. Als förmliche Rechtskonstruktionen, die Renteneinkommen ermöglichen, entstanden die Teilhaberschaft mit beschränkter Haftung und das Sparbuch erst gegen Ende des 16. Jhs., vgl. Goldthwaite 2009, 468–483.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
kommen.11 Deshalb blieben die meisten Hausherren notgedrungen relativ direkt in die Verwaltung ihrer Vermögen involviert und waren jedenfalls immer direkt ökonomisch betroffen: „Denn niemand kümmert sich um fremde Angelegenheiten so wie um die eigenen (τῶν οἰκείων), weshalb man, soweit es möglich ist, selbst Fürsorge (ἐπιμέλειαν) tragen sollte“, heißt es in der pseudo-aristotelischen Ökonomik.12 Prinzipiell war deshalb jeder hauswirtschaftliche Vorgang der Kontrolle des Hausherrn unterworfen, bis hin zur Zuweisung von exakt kalkulierten Essensrationen an Sklaven und Familienangehörige (Kap. 13.3.2). Das galt selbst, wenn in einem großen Haushalt die alltägliche Aufsicht delegiert wurde, typischerweise an die Ehefrau oder einen Verwalter.13 Selbst Xenophons Ischomachos, Idealtyp eines müßiggehenden Honoratioren, kontrolliert regelmäßig persönlich die Feldarbeit und greift bei Bedarf dirigierend ein – „das Auge des Herrn macht das Pferd fett“.14 Die rechtlich weitgehende Uneingeschränktheit der hausväterlichen Autorität bedeutete auch, dass dieser flexibel über den Einsatz von Kapital und Arbeit entscheiden konnte, weshalb beide Inputs der Nutzenproduktion elastisch gegenüber wechselnden Umweltbedingungen waren.15 Formalrechtlich war die Herrschaft des Hausvaters (despotēs) über die Hausgenossen also uneingeschränkt. Faktisch entschied über den Erfolg der Hauswirtschaft, ob seine Hausgenossen ihr Wissen und ihre Arbeitskraft tatsächlich energisch einsetzten. Der Hausvater hatte zwar institutionell die stärkste Verhandlungsposition im häuslichen Alltag. Er war jedoch gut beraten, seine Hausgenossen statt mit nacktem Zwang mit Anreizen und Belehrung zur Kooperation zu motivieren, wie es die Ökonomik empfahl. Die Abhandlungen von Xenophon und Pseudo-Aristoteles hoben hervor, dass die Ehefrau eine Art Partnerin und die Sklaven ‚Mitarbeiter‘ seien, die Hauswirtschaft also eine Form der arbeitsteiligen Kooperation war (vgl. Kap. 6.3). Welche Aufgaben der Mann übernahm, hing von der Größe des Haushalts ab. In kleinen Haushalten war der Hausvater als Bauer, Handwerker oder Händler die wichtigste Arbeitskraft.16 Insbesondere der Landwirt, der für seinen Lebensunterhalt mit eigener Körperkraft arbeitete, wurde als αὐτουργός bezeichnet; der Ausdruck ist allerdings schillernd. Wenn Thukydides die Peloponnesier schlechthin als autourgoi bezeichnet, die „aus Armut“ (ὑπὸ πενίας) nur kurze Kriege führten, so ist damit weniger gemeint, dass alle Peloponnesier Kleinbauern waren (was mindestens für die Spartaner nicht zutrifft), sondern dass sie, anders als die Seemächte, nicht über die not11 12 13 14 15 16
‚Einkommen‘ meint eine gesetzlich oder vertraglich fixierte Einnahme, ‚Gewinn‘ eine vom Investitionserfolg abhängige, also unternehmerisch riskante Einnahme, Knight 1921, 143. [Aristot.] oec. 1, 1344 b 35–1345 a 1; vgl. Demokr. fr. B 253 DK 68 und Isokr. 8.26, 28; Theophrast karikiert den übergenauen Hausvater als mikrologos und apistos, char. 10, 18. Audring 1973, 113–116; vgl. Bresson 2016, 155; s. Kap. 10.1.2 und 12.3.4. Xen. oik. 12.20; [Aristot.] oec. 1, 1345 a 1–5. Morris 2002, 34. Descat 1987, 246 f.; Burford 1993, 167 f., 181; Schmitz 2007, 21 f.
10.1 Die Rolle des Mannes als Hausherr
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wendigen „Überschüsse an privaten und öffentlichen Geldern“ verfügten, um einen ausgedehnten Seekrieg zu führen.17 Der Akzent liegt also nicht auf der Armut, sondern auf ihrer traditionelleren Form der Gutswirtschaft, die weniger kommerzialisiert war und die häufigere Anwesenheit des Hausherrn erforderte.18 Platon und Aristoteles verstanden unter autourgos zwar durchaus den armen ‚Eigenarbeiter‘, schlossen dafür allerdings – passend für Athen – nicht aus, dass dieser an der Verkehrswirtschaft teilnahm, wenn er seine Erzeugnisse als autopōlēs vermarktete.19 In Menanders Dyskolos bearbeitet der Griesgram Knemon sein Landgut zwar allein und ohne Hilfe von Sklaven und schätzt nur „den Mann, der als Armer autourgos ist“ (αὐτουργὸν εἶναι τῶι βίωι πένητα). Knemon besitzt allerdings Land im Wert von zwei Talenten, d. h. seine Eigenwirtschaft ist mehr seinem Geiz als seiner Armut zu zuschreiben.20 Ähnlich steht es mit der ‚Armut‘ jener Athener, die laut Demosthenes Landwirtschaft trieben und sparsam seien, aber wegen Kinderaufzucht, Haushaltsausgaben und Liturgien mit ihren Vermögenssteuer-Zahlungen ins Hintertreffen gerieten – diese ‚Armen‘ waren immerhin Mitglieder der liturgischen Klasse!21 Wenn hier und anderswo von Landwirtschaft und Sparsamkeit die Rede ist, geht es nicht um Subsistenz-, sondern um Eigenwirtschaft, teilweise selbst begüterter Gutsbesitzer.22 Xenophon kürt die Landwirtschaft zur idealen Lehrmeisterin, weil sie die autourgoi durch Übung kräftigt und diejenigen, die Aufsicht führen, „männlicher“ macht.23 Der Kleinbauer mag hier mitgemeint sein, doch kaum als Hauptperson. Zuvor hat Xenophon nämlich König Kyros als Vorbild präsentiert, der in seinem Garten selbst Bäumchen pflanzte, um keine Mahlzeit einzunehmen, ohne vorher geschwitzt zu haben.24 Der Gutsherr ist in all diesen Fällen nicht die Hauptarbeitskraft, sondern packt nur bei Gelegenheit an, zur Ertüchtigung und als Vorbild für die eigentlichen Arbeiter. Die Unschärfe von autourgos war plausibel, weil innerhalb des organisatorischen Rahmens der Hauswirtschaft die Übergänge vom selbstarbeitenden Subsistenzbauern über den mitarbeitenden Gutsbesitzer zum die Aufgaben delegierenden Hausherrn 17 18
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Thuk. 1.141,3–5; vgl. 142,7 wo quasi synonym zu autourgoi von geōrgoi die Rede ist. Gomme 1945, 455 und Diesner 1956, 23 betonen hingegen die Armut und meinen, Sparta mit seinen Heloten könne nicht gemeint sein; die Behauptung einer generellen Armut der restlichen Peloponnesier wäre allerdings ebenfalls eine haarsträubende Verallgemeinerung gewesen und Thukydides verweist selbst auf die fetten Äcker der ganzen Peloponnes mit Ausnahme Arkadiens; vgl. Thuk. 1.1,2 mit Kallet-Marx 1993, 94–96. Plat. rep. 9, 565a: αὐτουργοί τε καὶ ἀπράγμονες, οὐ πάνυ πολλὰ κεκτημήνοες, mit soph. 223d; vgl. Aristot. rhet. 1, 1373 a 7–9; ähnlich Xen. Kyr. 7.5,67, wobei der genaue Grad der Armut unklar bleibt. Men. Dys. 327 f., 369 f. Demosth. 22.65. Wenn der Sprecher in Lysias’ Rede Über den Ölbaum sagt, er habe ab einem gewissen Zeitpunkt das „Land selbst bestellt“ (αὐτὸς γεωργῶ), Lys. 7.11, bedeutet das, dass die Verpachtung endete, nicht das er persönlich die Arbeiten verrichtete; § 19 macht deutlich, dass die eigentliche Arbeit von Sklaven erledigt wurde, die der Sprecher beaufsichtigte. Xen. oik. 5.4. Oik. 4.25.
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der liturgischen Schicht fließend waren. Das eröffnete Spielräume der Selbstdarstellung. Selbst kleine Bauern konnten sich als Herren geben, solange sie wenigstens einen Sklaven zum Herumkommandieren besaßen. Und selbst reiche Grundbesitzer konnten sich als sparsame autourgoi darstellen, um ihren Geiz gegenüber dem Gemeinwesen zu rechtfertigen. Dementsprechend changierte der evaluative Gehalt der Bezeichnung je nach Kontext. Wer wirklich nur seiner Hände Arbeit hatte, galt als arm, schutzlos, neiderfüllt; wer nicht absolut arm war, aber sich ganz seinem Landgut widmete, konnte sich zugute halten, dass er sich kriegstüchtig hielt, nicht auf Kosten anderer lebte, und sich nicht unnötig in öffentliche Angelegenheiten einmischte.25 Die Entstehung des Wortes selbst markiert die Transformation der Hauswirtschaft. In seiner sozioökonomischen Bedeutung taucht das Wort zuerst bei Thukydides auf, um die traditionellere Gutswirtschaft der Peloponnesier von der maritimen Geldwirtschaft der Ägäis-Städte zu unterscheiden.26 Erst die stärkere wirtschaftliche Differenzierung und die verstärkte Partizipation an der monetarisierten Verkehrswirtschaft machten eine spezielle Bezeichnung für Hausväter notwendig, die ihren Bedarf mit eigener Arbeit deckten. 10.1.2 Der Hausvater als Prinzipal Je größer ein Haushalt wurde, desto stärker verschoben sich die Aufgaben des Hausherrn weg davon, Hauptarbeitskraft zu sein und hin dazu, Prinzipal zu sein, also das Wirtschaften im Haus zu koordinieren und zu kontrollieren und nach außen hin zu vertreten. Diese großen Haushalte schweben der literarischen Ökonomik vor. Xenophon veranschaulicht die Rolle des Prinzipals mit dem Bild des Wachhunds, der zwar nicht körperlich arbeitet wie die Schafe, aber wegen seiner Achtsamkeit und Wehrhaftigkeit unentbehrlich ist.27 Aischylos verwendet das gleiche Bild für die Ehefrau als Stellvertreterin des abwesenden Mannes.28 Die wichtigste Fähigkeit eines solchen Hausherrn war nicht sein Fachkönnen, wie bei einem autourgos, sondern die Fähigkeit der Menschenführung (s. Kap. 6.3). Dementsprechend betont Xenophon im gesamten 25
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Aufschlussreich ist die Gegenüberstellung zweier Euripides-Stellen; Suppl. 238–245 bezeichnet die autourgoi als „Habenichtse“, „schlimme Leute, denen es am Lebensunterhalt mangelt“ (οἱ δ’ οὐκ ἔχοντες καὶ σπανίζοντες βίου δεινοί), weshalb sie neidisch sind und sich von Demagogen zu Angriffen auf die Besitzenden verführen lassen; Or. 917–922 hingegen lobt den autourgos als Mann, der zwar nicht schön, aber tapfer sei, sich nur selten und dann mit gutem Grund in „Stadt und Versammlung“ aufhalte, der ehrlich ist und von tadellosem Lebenswandel; die militärische Tüchtigkeit ist bei Thuk. 1.141,3–5 präsent, ebenso bei Xen. oik. 6.6–11; Aristot. rhet. 2, 1381 a 19–24 erklärt, unter denen, die arbeiten müssten, sei die Landwirte und die „anderen autourgoi“ beliebt, weil sie nicht auf Kosten anderer lebten. Der früheste Beleg, Soph. Ant. 52 (442), betrifft die Selbstblendung. Xen. mem. 2.7,13 f. Aischyl. Ag. 606 f.
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Oikonomikos die Leittugend der epimeleia, ein Begriff, der Planung und Aufsicht, paternalistische Fürsorge und optimierende Kontrolle in sich vereint. Dass die Theorie hier ein Leitmotiv der Praxis aufgriff, zeigt sich daran, dass Platon bei umgekehrter Bewertung vom selben Sachverhalt ausging (s. Kap. 13.1). Eine wesentliche Kompetenz für diese Führungs- und Repräsentationsaufgabe war die Rhetorik. Während die moderne Forschung die politische Bedeutung der Redekunst hervorhebt, sahen die antiken Zeitgenossen die Beredsamkeit zunächst einmal als Mittel zum Vorteil privater Haushalte. In Aristophanes’ Wolken, der frühesten Behandlung der Redekunst als lernbarer Kunst, beschließt Strepsiades seinen Sohn zum Sophisten Sokrates in die Redeausbildung zu geben, damit er lernt, die Gläubiger der Familie durch Gerichtsprozesse zu prellen und damit „den väterlichen Brotkorb“ (τῶν πατρῴων ἀλφίτων) zu retten.29 Ähnlich wird einem Kaufmann rund sechzig Jahre später vorgeworfen, er verlasse sich auf die bei Isokrates erlernte Redekunst, um sich der Rückzahlung seiner Geschäftsschulden zu entziehen.30 Wohl wegen dieser gedanklichen Verbindung von Redekunst und Bereicherung (resp. Verlustvermeidung) durch private Gerichtsprozesse war Isokrates daran gelegen, seine bezahlten Auftragsreden zu Prozessen über private Verträge zu leugnen.31 Sein Lehrer Gorgias war, laut Platon, weniger verdruckst. Im Gorgias erklärt er die Redekunst zur höchsten Kunst (technē), die von den „Allerbesten“ (τῶν δὲ ἀρίστων οἱ ἄριστοι) anstelle eines speziellen Handwerks erlernt werde, weil sie dazu befähige, alle anderen Fertigkeiten zu beherrschen und von der Arbeit von Spezialisten, darunter der Erwerbsmann, zu leben.32 Das entspricht der Rolle des reichen Hausvaters, der als Eigentümer eines diversifizierten Vermögens kein Fachmann war, aber als Vertragspartner oder Hausherr über die Arbeit von Fachmännern gebot. Außerdem, so der platonische Gorgias, sei die Rhetorik die Fähigkeit, um „Eltern, Gefährten, Kinder oder die Vaterstadt“ vor Ungerechtigkeit zu schützen.33 Die Rhetorik nützt also in allen gesellschaftlichen Bereichen, der Primat liegt jedoch auf dem eigenen erweiterten Haushalt. Xenophons Oikonomikos weist der Redekunst die gleiche Doppelfunktion von Führungs- und Abwehrwissen zu. Ischomachos erklärt, er übe sich ständig im „Reden“ (λέγειν), um sich selbst „zu verteidigen“ (ἀπολογεῖσθαι) oder Übeltäter anzuklagen. Wenn einer seiner Sklaven einen anderen Sklaven anklage oder sich verteidige, höre Ischomachos zu und versuche, ihn zu verteidigen; die Freunde tadle oder lobe er, Verwandte versöhne er miteinander und belehre sie, dass Freundschaft besser als Feindschaft sei. Schließlich treten Ischomachos und seine Vertrauten selbst als – selbstverständlich gerechte – Kläger und Beklagte auf. Schlussendlich erklärt Ischomachos, am häufigsten stünde er
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Aristoph. Nub. 92–118. [Demosth.] 35.15 f.; 40–42; vgl. dazu Moreno 2007, 295–297. Zu Isokrates’ Selbstdarstellung vgl. Kap. 4.3.1. Plat. Gorg. 448c und 452d–e; vgl. die Definition bei Aristot. rhet. 1, 1355 b 26–36. Plat. Gorg. 480b–c, ebenso 486a–d und 508c–d.
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bei seiner Frau vor Gericht, die ihm keine Unwahrheit durchgehen ließe.34 Die letzte Wendung lockert die Passage ironisch auf und unterstreicht zugleich die Omnipräsenz der Rhetorik in der Haushaltsführung. Denn trotz des vermehrten Schriftgebrauchs aufgrund der Ausdehnung der Hauswirtschaft (dazu Kap. 13.2–13.3) blieb die Haushaltsführung eine Aufgabe, die man zuerst in eigener Person in der Kommunikation unter Anwesenden wahrnahm. Die geschulte Beredsamkeit diente dabei nicht nur der Verteidigung des Haushalts, sondern auch seiner positiven Außendarstellung. In diesem Sinn betont Xenophons Oikonomikos nicht bloß die Bedeutung der Rhetorik für die Haushaltsführung, sondern ist selbst ein Musterstück für die rhetorische Apologie der Hauswirtschaft. In großen Haushalten delegierte der Hausherr nicht nur die körperliche Arbeit, sondern sogar die Aufsicht und Anleitung über sie. Die literarische Ökonomik, aber nicht nur sie, unterschied die Sklaven in Arbeiter und Aufseher/Verwalter.35 Letzterem widmete sie besondere Aufmerksamkeit (s. Kap. 6.3), weil diese Aufseher fast immer Sklaven waren.36 Die Bevorzugung von Sklaven als Aufseher ergab hauswirtschaftlich Sinn. Weil der Aufseher als Eigentum ganz unter der Kontrolle seines Hausherrn stand, konnte dieser sich darauf verlassen, dass dessen lokale Kenntnisse seinem Haushalt dauerhaft erhalten blieben. Das Vertrauen zum Sklaven als Agenten seines Herrn beruhte ebenso auf dieser institutionellen Abhängigkeit. War der Herr mit der Leistung des Sklaven unzufrieden, konnte er ihn jederzeit abstrafen und auswechseln.37 Schöpfte er Verdacht, konnte er zur Folter greifen, um ‚unterschlagene‘ Gelder herauszupressen.38 Die indifferente Anwendung von Gewalt und Zwang wären aus wirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv gewesen. Diese Einsicht war im literarischen Diskurs sehr präsent, auch wenn man annehmen muss, dass sie von Hausherren unterschiedlich tief verinnerlicht wurde.39 Die Verwendung von Sklaven als Aufseher und Verwalter zog die Ablehnung dieser Tätigkeiten als ‚sklavisch‘ nach sich,40 aber diese Ablehnung war nicht deren Ursache.
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Xen. oik. 11.23–25. Bei Antiph. fr. 223 PCG (= Athen. 11.500e–f) wird der Aufseher (epitropos) neben Vieh und Sklaven als Besitz eines „Satrapenreichen“ (σατραποπλούτωι) genannt. Audring 1973, 113–116; Chandezon 2011, 98–108. In Aristoph. Pax 683–687 verteidigt sich Dēmos, das als alter Hausvater personifizierte Volk von Athen, gegen den Vorwurf, er habe mit Hyperbolos einen schlechten „Vorsteher“ (προστάτην) gewählt: Man „bediene“ sich dieses „Aufsehers“ (ἐπιτρόπου) nur solange, bis man sich seiner entledigen könne; Apollodoros hält es für angemessen, einen Sklaven, der als Verwalter einer Bank Schulden zum Schaden seines Herrn angehäuft hat, zur Strafe zur Arbeit in die Mühle zu schicken, [Demosth.] 45.32 f., eine besonders harte Sklavenstrafe, Klees 1998, 189–191. [Demosth.] 48.14–18; dazu unten in Kap. 12.3.4. S. Kap. 12.3.2. Xen. mem. 2.8 zieht zwar in Betracht, dass ein Freier die Aufgabe eines Verwalters übernehmen könnte, geht jedoch davon aus, dass es dagegen große Vorbehalte gibt, weil eine solche Lohnarbeit „Knechtschaft“ (δουλείαν) gleichkomme; vgl. oik. 1.3; [Demosth.] 53.4 kaschiert die Tätigkeit
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Das zeigt der Vergleich mit den Plantagen in den amerikanischen Südstaaten. Hier bevorzugten viele Pflanzer trotz aller rassistisch motivierten Hürden Sklaven als Aufseher und sogar als Gutsverwalter so regelmäßig, dass Gesetze erlassen wurden, um wenigstens auf den Plantagen abwesender Eigentümer weiße Verwalter zu erzwingen.41 Grund dafür war das größere Vertrauen zum Sklaven, weil dieser als ständiges Mitglied des Haushalts engeren persönlichen Umgang mit dem Hausherrn pflegte und aus demselben Grund mehr Respekt bei den Arbeitssklaven genoss. Bezeichnenderweise empfahl die Ratgeberliteratur der Südstaaten das Gleiche wie Xenophon: Man solle den Aufseher nicht nur damit privilegieren, dass man ihn besser mit Nahrung und Kleidung versorge, sondern auch sein Bedürfnis nach Anerkennung befriedigen, indem man ihn ‚wie einen Freien‘ behandelt.42 Anders als in den amerikanischen Südstaaten mit ihrer rassistischen Gesetzgebung waren im klassischen Griechenland Sklaven als Stellvertreter ihrer Herren omnipräsent: als Aufseher auf Landgütern und in Bergwerken und städtischen Werkstätten, als Geschäftsführer von Handels- und Bankgeschäften.43 Sie ermöglichten der Hauswirtschaft die Akkumulation und Diversifizierung weit über den Gesichtskreis des Hausherrn hinaus. Dank fachlich kundigen unfreien Stellvertretern ließ sich das Vermögen um abgelegene Besitzungen ergänzen sowie um Betriebe, die ein technisches Wissen erforderten, das dem Hausherrn selbst fehlte.44 Der Hausherr konnte sich sogar entscheiden, die Gesamtaufsicht über sein Vermögen zu delegieren. Xenophon zieht diese Möglichkeit gleich zu Beginn in Betracht, wenn er die oikonomia als Fachkunst bezeichnet, die man in Diensten anderer ausüben könne.45 Laut Plutarch soll Perikles seinen Sklaven Euangelos als einen solchen Gesamtverwalter eingesetzt haben, der alle Einnahmen und Ausgaben kontrollierte, um sich selbst auf seine politischen Aufgaben konzentrieren zu können.46 Glaubwürdig wird diese von Plutarch ohne Quellenangabe referierte Nachricht durch die Parallele zur Aristophanes’ Rittern, die 424, also nur wenige Jahre nach Perikles’ Tod, aufgeführt wurden. Das Stück verwendet für Kleons politische Führung der Stadt die Allegorie des neu „ins Haus“ (εὶς τὴν οἰκίαν) gekommenen Sklaven, der „Paphlagonier“, der zum Aufseher wird, weil er das alleinige Vertrauen seines alten Herrn Dēmos genießt, und
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eines Nachbarn als Verwalter (τὸ ἐπιμεληθῆναι καὶ διοικῆσαι) als Gelegenheitsarbeit und Freundschaftsdienst. Engerman/Fogel 1974, 200 f., 210–215. Genovese 1976, 365–381. Demosth. 27.19–21; 37.25 f.; [Demosth.] 45.32 f.; 48.14 f.; [Plut.] De. Lib. ed. 10d; vgl. Langdon/ Vance Watrous 1977, 168–173 für den inschriftlich belegten Aufseher eines abgelegenen Landguts in Südattika. Dazu unten Kap. 12.3.4. S. o. Anm. 40. Plut. Perikles 16.3–5; s. dazu auch Kap. 13.3.3.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
nun seine Mitsklaven unter strengem Regiment leiden lässt.47 Als Dēmos beschließt, diesen Aufseher auszutauschen, fordert er seinen Siegelring vom Paphlagonier zurück und ergänzt: „Du wirst nicht länger mein Schatzmeister sein“ (ὡς οὐκέτι ἐμοι ταμιεύσεις). Der rückt den Ring nur widerwillig heraus, und sagt, ein anderer werde noch schlechter „die Aufsicht führen“ (ἐπιτροπεύειν).48 Die synonyme Verwendung von tamieuein und epitropeuein bündelt, worauf im gesamten Stück angespielt wird: Der Paphlagonier hat zugleich die Kontrolle über das Vermögen und die Aufsicht über die Hausangehörigen, ist also Gesamtverwalter. Das Bild eines Bürgers, der die gesamte Verwaltung seines Haushalts einem privilegierten Sklaven überantwortete (der Siegelring erlaubte ihm wohl sogar das Abschließen rechtsgültiger Geschäfte), war in den 420er-Jahren also bereits verständlich genug, um als Allegorie für das politische Geschehen zu dienen.49 Aristoteles’ Bemerkung, dass Herren, „welche die Mittel dazu haben“, einem Verwalter die Haushaltsführung überlassen, damit sie sich ganz der Politik oder der Philosophie widmen können, stimmt mit Plutarchs Deutung der Perikles-Episode überein.50 Im Übrigen bestätigt es die nahe liegende Vermutung, dass die dauerhafte Arbeitsteilung zwischen dem Hausherrn als Eigentümer und dem Sklaven als Verwalter des Vermögens nur in sehr reichen und politisch prominenten Haushalten vorkam. Xenophons Oikonomikos und die Gerichtsreden zeigen, dass selbst die Mitglieder der politisch aktiven liturgischen Klasse Athens als ‚Aufseher ihrer Aufseher‘ direkt in die Verwaltung ihrer Haushalte involviert blieben. Allgemein üblich wurde die Trennung von allgemeinem Verwalter und Aufseher offenbar erst auf den großen Anwesen hellenistischer Zeit.51 Häufiger scheint es vorgekommen zu sein, dass ein bewährter Verwalter eines Teilbereichs mit der Zeit zum allgemeinem Vertrauensmann seines Herrn wurde.52 Im Sonderfall der Bankhaushalte konnte diese Vertrauensrolle so weit gehen, dass der Sklave vom Stellvertreter zum Nachfolger seines Herrn wurde (s. Kap. 10.2.1). Es handelte sich um einen aufsehenerregenden Sonderfall, der allerdings insofern exempla-
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Aristoph. Equ. 2–5, 43–68. Equ. 946–950; epitropeuein auch in 212 und 426. Die Bezeichnung des führenden Demagogen als epitropos auch in Pax 686. Aristot. pol. 1, 1255 b 35–37. Chandezon 2011, 98–108. Eine solche Stellung nahm vielleicht der freigelassene Werkstattvorsteher Milyas im Haus des Demosthenes d. Ä. ein, Thür 1972, 169 f.; vgl. den in Demosth. 37.25 f. erwähnten Sklaven Antigenes, der als Aufseher einer Silbererzwerkstatt eingesetzt wurde, nicht als Fachmann, sondern als Stellvertreter seines Eigentümers; Kittos, der für den Bankier Pasion das Wechselgeschäft im Piräus als Kassenwart betreute, wurde von diesem ins bosporanische Reich entsandt, um dort als Stellvertreter einen Rechtsstreit beizulegen, Isokr. 17.12, 51 f.; im Haus des Komon war Moschion Vorsteher einer Salbenwerkstatt, genoss jedoch darüber hinaus „in fast allen Angelegenheiten Komons“ dessen „größtes Vertrauen“ (μάλιστα […] πιστὸν ἑαυτῷ εἶναι), weshalb er von versteckten Bargeldbeträgen wusste, [Demosth.] 48.14–18.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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risch ist, als er die strukturelle Bedeutung privilegierter Sklaven als Stellvertreter ihrer Eigentümer zeigt. Der wichtigste Stellvertreter eines Hausherrn blieb trotz der zunehmenden Wichtigkeit von privilegierten Sklaven allerdings ein anderes Mitglied des Haushaltes: seine Ehefrau, die zugleich Partnerin der Haushaltsführung war. 10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin Haushaltsführung war zuallererst die Aufgabe der Ehefrau, das Haus ihr Bereich. Diese normative Rollenzuschreibung drückt sich in der Wortgeschichte aus. Oikonomos bezeichnete zunächst die Ehefrau als Hausmutter und noch zu Beginn des 3. Jhs. galt oikonomia als erste und edelste Aufgabe der Ehefrau (Kap. 6.1). Die normativen und praktischen Aspekte der Rolle der Ehefrau als Hüterin und Bewahrerin des Hauses sind gut erforscht und sollen hier nicht wiederholt werden.53 Lediglich ein Aspekt soll eingehender behandelt werden, weil er ein Schlaglicht auf die hauswirtschaftliche Logik der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wirft und die Adaptionsfähigkeit der Hauswirtschaft demonstriert. Gemeint ist das misogyne Stereotyp der Ehefrau als faul, gefräßig, trinkselig und treulos, das dem Ideal der rührigen Hausmutter wie ein verzerrtes Spiegelbild gegenübersteht. Die Analyse dieses Zerrbilds zeigt, dass die Normen der Hauswirtschaft deren Praxis nicht statisch fixierten, sondern den Rahmen zu einem dynamischen Prozess antagonistischer Kooperation bildeten. In Aristophanes’ Thesmophoriazusen sitzen die Athenerinnen beim ThesmophorenFest über den Tragiker Euripides zu Gericht. Sie beschuldigen ihn, seine Stücke verlästerten die Frauen als „ehebrecherisch, schwatzhaft, versoffen, falsch, wortbrüchig, treulos, verdorben durch und durch, die Pein der Männer!“ Deshalb kehrten die Männer misstrauisch aus dem Theater heim und durchsuchten das Haus als erstes nach Nebenbuhlern.54 Natürlich hat Euripides recht – gerade deshalb hassen die Frauen ihn, die ihr Lotterleben nun nicht mehr nach Belieben treiben können. Von Vater und Bruder beäugt können die Frauen des Hauses ihre illegitimen Liebschaften nicht mehr pflegen, die Ehefrauen ihren Männern keine Kuckuckskinder mehr unterschieden. Die versiegeln und verriegeln „die Frauengemächer“ (ταῖς γυναικωνίτισιν) und halten sich einen Wachhund.55 Das Schlimmste ist, dass die Frauen nicht mehr eigenständig schalten und walten können, was ihnen bisher ermöglichte, heimlich Mehl, Öl und Wein für sich abzuzweigen. Die Männer tragen jetzt besonders aufwendige „spartanische Schlüssel“; während die Frauen früher sich selbst Zutritt verschaffen konnten, 53 54 55
Reinsberg 1989, 34–36; Hartmann 2002, 118–123; Reuthner 2006, 128–155; Harris 2014. Aristoph. Thesm. 389–397; Übers. L. Seeger. Thesm. 398–417.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
„mit Ringen, die nur drei Obolen kosten“, habe Euripides die Männer gelehrt, nun selbst „wurmzerfreßne Siegelringe am Gürtel zu tragen“.56 Aristophanes’ Weiberschelte hat zwei Ebenen. Auf der einen ist sein Spott (wie in den Fröschen) gegen Euripides’ Naturalismus und seine düsteren Frauenrollen wie Phaidra und Medea gerichtet. Auf der anderen Ebene zielt Aristophanes auf gängige Vorurteile und Ängste athenischer Männer; die hat Euripides nicht hervorgebracht, aber angeblich befeuert er sie. Später im Stück heißt es, Euripides zeige die wahre Natur der Frauen und davon noch nicht einmal den „tausendsten Teil“, und dann werden weitere Vorwürfe angehängt. Die Frauen schlürfen den Wein weg und verschenken beim Apaturienfest heimlich das Opferfleisch an die Kupplerinnen, die ihre ehebrecherischen Beziehungen angebahnt haben.57 Es folgen Geschichten von Frauen, die ihre Männer ermordeten oder verhexten, ihnen Kinder unterschoben, den eigenen Vater ehrlos verscharrten.58 Hervorgehoben wird die Trunksucht der Frauen, die größer als ihre Kinderliebe sei.59 Der Chor der Frauen weist all das von sich und beklagt das Misstrauen der Männer, wegen dem sie ins Haus eingesperrt und dort bewacht würden. Die Frauen seien sogar besser als die Männer: Anders als die Männer bei der städtischen Regierung würden sie nichts unterschlagen und das „Erbvermögen“ (τὰ πατρῷα) besser verwalten als die feigen Männer ihr ‚Erbe‘, das Seereich.60 Ähnliche Beschuldigungen und Verteidigungen der Frauen begegnen in der Lysistrate und in den Ekklesiazusen.61 In allen drei Stücken wird eine karnevaleske Inversion der Geschlechterrollen inszeniert, in der die Frauen die Politik und das Gerichtswesen übernehmen. Anders als diese Inversion korrespondieren die misogynen Vorwürfe mit gattungsübergreifenden Stereotypen männlichen Misstrauens. In Euripides’ Hippolytos findet sich neben der außergewöhnlichen Figur der Phaidra auch eine als Allgemeinplatz gesprochene Wendung über die Gefährlichkeit schlauer Frauen und ihrer Mägde.62 In der Lysias-Rede Über den Mord an Eratosthenes wirbt der Redner Euphiletos um die Sympathie seiner Richter, indem er allgemein geteilte männliche Angstphantasien bedient. Selbst die scheinbar tüchtige Hausverwalterin entpuppt sich im Nachhinein als treulose Ehebrecherin, im Bunde mit der Magd.63 Misstrauen gegenüber den wahren Intentionen einer jungen Ehefrau thematisiert auch Xenophons Oikonomikos. Als Ischomachos seine Ehefrau mit geschminktem Gesicht und hohen Schuhen antrifft, tadelt er sie und vergleicht die geschminkte Ehefrau mit ei56 57 58 59 60 61 62 63
Thesm. 418–428; zu den spartanischen Schlüsseln Sommerstein 1994, 184. Vgl. Sommerstein 1994, 191. Aristoph. Thesm. 555–565; vgl. 339 f. zum Unterschieben eines unehelichen Kindes. Thesm. 733–759. Thesm. 790–829. Lys. 9–11, 368 f.: allgemeine Verworfenheit; 35 f.: Genusssucht; 403–419: sexuelle Untreue; 195–197: Trunksucht; Eccl. 210–240, 441–454: Tugenden der Ehefrauen, von Frauen für sich reklamiert. Eur. Hipp. 636–667. Lys. 1.6–15.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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nem Händler, der gefälschte Waren vorzeige.64 Hier wird Luxuskritik geübt und zugleich die Bedeutung des ehelichen Vertrauens für den hauswirtschaftlichen Erfolg hervorgehoben. In diesem Sinn ist auch Aristophanes’ Karikatur männlichen Misstrauens zu verstehen. Sie sind mehr als misogyne Frivolitäten. Aristophanes bedient nämlich nicht nur die Klischees weiblicher Laster, sondern spottet zugleich über das Verhalten der Durchschnittsathener, die ihre eigene bescheidene Haushaltung mit den Palästen mythischer Heroen gleichsetzen, die Eigensinnigkeiten ihrer Ehefrauen mit den Intrigen einer Phaidra oder Medea. Aristophanes’ Spott legt offen, dass das Misstrauen der Männer Eingeständnis der Tatsache ist, dass der Erfolg ihrer Hauswirtschaft wesentlich von ihren Ehefrauen abhing. Die schlechte Ehefrau gefährdet den Haushalt: Sie nascht die Vorräte weg, anstatt sie zu behüten, sie betrinkt sich, anstatt klaren Sinnes den Haushalt zu führen, sie tratscht auf der Straße, anstatt häusliche Geheimnisse zu wahren und sie setzt Bastarde in die Welt, anstatt dem Haus legitime Nachkommen zu schenken. Schmitz, der die Misogynie bei Aristophanes und Euripides ausführlich behandelt, kommt zu dem Ergebnis: „Diese Frauenfeindlichkeit besteht trotz (oder besser: gerade wegen) der unbestritten zentralen Rolle der Frau für die bäuerliche Wirtschaft.“65 Ich möchte Schmitz’ These dahingehend qualifizieren, dass die Bedeutung der Ehefrau für die Hauswirtschaft und das daraus resultierende Vertrauensproblem auch jenseits einer bäuerlichen Wirtschaftsweise bestand. Das Gefühl der faktischen Abhängigkeit von der Frau – bei gleichzeitiger symbolischer und rechtlicher Dominanz des Mannes – war desto stärker, je größer der Haushalt war. Denn wenn die Frau als Stellvertreterin ihres Mannes das Haus leitete und kontrollierte, während dieser außerhäusig aktiv war, dann war der Hausherr nicht nur auf die Arbeitskraft und Sparsamkeit seiner Ehefrau angewiesen, sondern musste ihr auch in seiner Abwesenheit vertrauen.66 Die stereotype Frauenschelte ist vor diesem Hintergrund nicht Beleg für die dauernde Kontrolle der Frau, sondern gerade für ihre Handlungsfreiheit im Rahmen ihrer Rolle als Hausmutter. Das Vertrauensproblem, das Teil jeglicher PrinzipalAgenten-Beziehung ist, wurde dabei durchschaut, aber überwiegend ethisch (oder komisch) anstatt ökonomisch diskutiert.
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Xen. oik. 10.3–9. Schmitz 2004b, 444–456, hier 451. Aristophanes hebt die Abwesenheit der Männer mehrfach hervor: Die Frauen begehen Ehebruch oder lassen das Haus verlottern, während die Männer im Theater oder auf Reisen oder in der Stadt unterwegs sind, Av. 793–796, Thesm. 395–398, Lys. 411–419, Ran. 980–988.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
10.2.1 Die Frau und das Geld Vertrauenspersonen waren Frauen auch in Bezug auf das Geld des Hauses. Die formalen Eigentumsrechte der Frau waren überall in Griechenland eingeschränkt, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Athens Gesetze waren nicht untypisch, aber gingen weiter als diejenigen anderer Städte. Die Frau hat keinen Anteil am Erbe ihres Vaters, war nicht Eigentümerin ihrer Mitgift und ihre Geschäftsfähigkeit war auf den Wert eines Scheffels Gerste (ein medimnos, etwa 36 kg) eingeschränkt. Lebenslang unterstand sie der Vormundschaft (kyrieia) eines Mannes: erst der ihres Vaters, nach dessen Tod der ihrer Brüder, nach der Heirat der ihres Ehemanns, nach dessen Tod der ihrer Söhne.67 Während Frauen in Sparta, Tegea und Gortyn erbberechtigt und Eigentümerinnen ihrer Mitgift waren, sicherten die Gesetze anderer Städte dem kyrios offenbar ähnlich wie in Athen besondere Kontrolle zu, ohne Transaktionen von Frauen regelrecht zu verbieten. Das sogenannte Gesetz von Kadys, das Anfang des 4. Jhs. in Delphi erlassen wurde, legte fest, dass Darlehensgeschäfte mit Frauen künftig nur noch in Anwesenheit eines Mannes, offenbar ihres kyrios, getätigt werden durften.68 Es wurde mithin erwartet, dass manche Frauen Gelddarlehen vergaben. Aus ägäischen Städten ist inschriftlich bekannt, dass Transaktionen mit Frauen μετὰ κυρίου stattfanden, der Vormund also nicht direkt an der Transaktion beteiligt war (solche Geschäfte werden in diesen Inschriften mit καὶ ὁ κύριος beschrieben), aber durch Anwesenheit sein Einverständnis signalisierte.69 Diese Regelung lässt sich allerdings weder für alle Orte verallgemeinern, noch für die gesamte Zeit des Untersuchungszeitraums annehmen. Die frühesten Belege werden an das Ende des 4. Jhs. datiert und in Delos (und vielleicht Amorgos) scheint im Verlauf des 3. Jhs. ein Übergang von einer strikten Vormundschaft nach athenischem Modell zu einer ‚bloßen‘ Konsenspflicht des Vormunds stattgefunden zu haben.70 67
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Ste. Croix 1970; Schaps 1979 passim, bes. 52–58, 92–96; Foxhall 1989; Humphreys 2018, 95; das Gesetz über beschränkte Geschäftsfähigkeit zitiert Is. 10.10, die Inversion bei Aristoph. Eccl. 1024–1025 mit Schol. ad loc.; die Anspielung auf das Gesetz bei Dion Chrys. 74.9 suggeriert, dass das Ausmaß der Einschränkung eine athenische Besonderheit war; zum Übergang der Geschlechtsvormundschaft vom Vater auf die Ehefrau, vgl. Aristot. rhet. 2, 1401 b 34–1402 a 1; diese Stelle scheint mir die These von Hartmann 2007, 47–49 zu widerlegen, nach welcher der Ehemann nicht kyrios seiner Ehefrau gewesen sei. F. Delphes III 1, 294, sp. 3, 5–9; kommentiert bei Homolle 1926; vgl. Asheri 1969, 23–25. Schaps 1979, 50; Beispiele, die in meinen Untersuchungszeitraum fallen, sind aus Tenos, IG XII 5, 872 passim, Ende 4. Jh.; Amorgos, IG XII 7, 412, 3. Jh.; Lindos auf Rhodos, IG XII 1, 764+ (= I. Lindos 51), Seite A, sp. 2, 34 f., 54 f.; C, sp. 1, 5 f., 47 f.; II, 44 f., um 325; hier weicht das Formular allerdings ab; die relativische Formulierung lautet: hē deina has kyrios ho deina; dass dies der Zustimmungsformel meta kyriou anstatt der Stellvertretungsformel kai kyrios entspricht, zeigt sich daran, dass männliche Minderjährige wie in Athen mit kai kyrios oder kai epitropos angeführt werden; für eine Bewertung des kykladischen Materials s. Stavrianopoulou 2006, 319–329. Schaps 1979, 51 f. zur in einigen Städten erkennbaren Tendenz zunehmender Verkehrsfreiheit für Frauen; in Delos findet sich Anfang des 3. Jhs. nur die Wendung kai ho kyrios (IG XI 2, 156, 158,
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345
Bemerkenswert ist, dass derartige Transaktionen faktisch bereits aus Athen im 4. Jh. bekannt sind. Die Witwe des reichen Polyeuktos lieh ihrem Schwiegersohn Spudias 1.800 Drachmen auf Zins. Sie hinterließ sogar Schriftstücke (γράμματα), die diese und andere Verbindlichkeiten beurkundeten, was ihre Vertrautheit mit solchen Geschäften bezeugt. Der Sprecher betont, dass ihre Brüder immer als Zeugen zugegen waren und sich über jedes Detail erkundigten.71 Wie David Schaps überzeugend argumentiert hat, schließt die ausdrückliche Bezeichnung der Brüder als „Zeugen“ (μάρτυρες) aus, dass sie kyrioi ihrer Schwester gewesen seien, etwa wie im Fall der ägäischen Städte. Schaps schlägt eine alternative Deutung vor, um die Diskrepanz zu erklären, die in Athen zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und der gut bezeugten Praxis von durch Frauen abgeschlossene Geschäfte herrschte. Obwohl das Gesetz von Athen und die (anzunehmenden) Gesetze der ägäischen Städte im Wortlaut divergierten, waren sie in ihrer praktischen Wirkung ähnlich: Während in Rhodos, Arkesine oder Tenos eine Frau zwar Geschäfte abschließen durfte, aber die Zustimmung ihres Vormunds notwendig war, durfte sie in Athen zwar strenggenommen keine Geschäfte abschließen, aber diese Regelung blieb wirkungslos, wenn die Transaktion mit der wissenden Duldung des Vormunds geschah.72 Diese Interpretation lässt sich mit dem Hinweis auf die parallele Regelung der Geschäfte von Sklaven unterstützen. Der Hausherr haftete für die Verpflichtungen seines Sklaven (Schadensersatz, Schulden), wenn glaubhaft war, dass diese Verpflichtungen mit dem Wissen des Herrn eingegangen worden waren.73 Eine solche de facto Lösung war möglich, gerade weil der Hausherr de iure alleinentscheidender kyrios war. Deshalb konnte man unterstellen, dass eine Transaktion die mit seinem Wissen geschehen war, auch mit seinem Willen erfolgt war. Eine solche Auslegung war für die Hauswirtschaft günstig. Sie ließ die uneingeschränkte Oberhoheit des Hausherrn formal und symbolisch unangetastet, aber erweiterte den Spielraum, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung an praktische Erfordernisse anzupassen.74 Frauen aus kleinen Haushalten nutzten ihre faktische Geschäftsfähigkeit, wenn sie auf dem Markt Waren als Händlerinnen oder aus eigener Produktion verkauften.75 Wie der Fall der Witwe des Polyeuktos zeigt, waren auch die Hausmütter reicher Haushalte, die nicht außerhäusig arbeiten mussten, an Geldtransaktionen beteiligt. Schwierig
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161–162, 287; I. Délos 290–291), und erst seit Ende des Jhs. meta kyriou, dann aber ausschließlich und so häufig (I. Délos 354, 362, 370–372, 399, 406–407, 442–443, 455, 458, 460, 1415; SEG 34 .778), dass dahinter ein Rechtswandel zu vermuten ist; in Arkesine verzeichnet ein Schuldstein des späten 4. Jhs., IG XII 7, 55 (= Syll.3 1200), eine Schuldnerin kai ho kyrios, ein Schuldstein des 3. Jhs., IG XII 7, 412, eine Gläubigerin meta kyriou. Demosth. 41.9; vgl. das Vermögen eines 1240 verstorbenen Genuesen, das zahlreiche Seedarlehen enthielt, die seine Frau ausgezahlt hatte; vgl. Lopez/Raymond 1955, 92–94. Schaps 1979, 55 f. mit Parallelstellen. Die wichtigste Quelle für die Haftung für Geschäfte mit Sklaven ist Hypereides’ Rede Gegen Athenogenes; für weitere Belege und den Forschungsstand s. Kap. 10.1.1. Harris 2014, 199 f. Schaps 1979, 52 f.; vgl. Kap. 10.2.2 für die Arbeitstätigkeiten von Frauen.
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zu beantworten ist die Frage, ob diese Tätigkeit kommerziell ins Gewicht fiel. In einer häufig zitierten Passage der Thesmophoriazusen kritisiert Aristophanes, dass die Mutter des ‚Demagogen‘ Hyperbolos beim Thesmophorienfest geschmückt neben der Mutter des Lamachos, einem verdienten Feldherrn, sitze, obwohl sie Geld auf Zinsen verleihe. Niemand solle ihr den Zins zahlen, sondern ihr das Geld mit Gewalt entreißen und dabei sagen: „Du bist mir eine, τόκος zu verlangen, wo du solchen τόκος (nämlich Hyperbolos) geboren hast“.76 Der unübersetzbare Wortwitz besteht darin, dass tokos sowohl tierischen „Nachwuchs“ als auch „Zins“ bezeichnet. Gegen die Tendenz, diese Passage als Beleg für die Teilnahme athenischer Frauen an Kreditgeschäften zu verstehen, hat Geoffrey de Ste. Croix darauf hingewiesen, wie isoliert dieser Beleg in unserer Überlieferung ist.77 Schaps spricht der Stelle sogar jeglichen Quellenwert ab, weil es sich lediglich um einen umständlich vorbereiteten Wortwitz handle.78 Damit wird die rätselhafte Stelle allerdings zu leichtfertig entsorgt. Gerade weil es sich um einen ausführlicheren Witz handelt, erscheint es unglaubwürdig, dass es keinerlei lebensweltlichen Hintergrund gab. Welche Komik hätte das Wortspiel mit tokos gehabt, wenn es völlig unerhört war, dass Frauen kommerzielle Darlehen vergeben – unabhängig von der Frage, ob Hyperbolos’ historische Mutter das tat? Ein weiterer Grund, die Aristophanes-Stelle zu Hyperbolos’ Mutter nicht einfach zu verwerfen, ist das bereits zitierte Gesetz aus Delphi. Die erste und wichtigste Bestimmung dieses Gesetzes ist die Festlegung eines Zinshöchstsatzes für künftige Darlehen. Alle folgenden Bestimmungen, darunter auch die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit von Frauen, dienen dem Zweck, Schlupflöcher zu verstopfen.79 Die Bürger von Delphi hielten es also nicht nur für denkbar, dass Frauen verzinste Darlehen vergaben, sondern erwarteten, dass man Darlehensgeschäfte über sie abwickeln würde, um die Zinsbeschränkung zu umgehen. Die Vorschrift der Anwesenheit eines Mannes, der mutmaßlich als Vormund agierte, stellte sicher, dass es auf jeder Seite einer Transaktion einen Mann gab, der im Fall eines Gesetzesverstoßes vor Gericht haftbar gemacht werden konnte. So interpretiert eröffnet das Gesetz von Kadys eine neue Perspektive auf den Zweck gesetzlicher Einschränkungen weiblicher Geschäftsfähigkeit im Allgemeinen. Sie dienten offenbar nicht nur, oder nicht einmal immer primär dazu, die Vormachtstellung des Mannes zu sichern. Diese Vormachtstellung war durch die öffentliche Moral und die materielle und physische Ungleichheit ohnehin gesichert. Stattdessen gingen sie dagegen vor, dass die hausinterne Kooperation von Mann und Frau auf Kosten hausexterner Dritter ging, etwa indem ein Mann sich dem Gesetz oder seiner Haftung entzog, indem er Geschäfte über seine Frau abwickelte. Ein solcher Opportunismus konnte für den einzelnen Haushalt gewinnbringend sein, 76 77 78 79
Aristoph. Thesm. 836–845. Ste. Croix 1970, 246. Schaps 1979, 65. Asheri 1969, 23.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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für die Summe der Haushalte als städtische Gemeinschaft war es hingegen schädlich, weil der individuelle Opportunismus im Aggregat zu einem allgemeinen Vertrauensverlust geführt hätte. Es lag daher im Interesse der Hausherren als Gruppe, dass eine allgemeine Regelung Sicherheit und Klarheit schaffte, die einzelne Hausvorstände nicht gewährleisten konnten. Die Rechtspraxis, wie sie in Athen und Delphi, auf Rhodos und Tenos im 4. Jh. etabliert war oder sich zu etablieren begann, erfüllte – auf institutionell verschiedenen Wegen – diesen Zweck. Sie bekräftigte die Rolle des Haushaltsvorstands, ohne die Anpassung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung an die monetarisierte Verkehrswirtschaft zu verhindern. Im Gegenteil lässt sich vermuten, dass eine derartige Rechtspraxis überhaupt erst im Zuge der Anpassung der Hauswirtschaft an eine monetarisierte Verkehrswirtschaft relevant wurde. Solange der wirtschaftlich relevante Teil des Vermögens aus Landbesitz bestand, ergänzt um Gebrauchsgüter wie das Wohnhaus, Hausrat, Nutztieren usw., war die heimliche Veräußerung durch die Frau weder praktisch möglich noch die weibliche Stellvertretung in hausübergreifenden Transaktionen notwendig. Erst als die Ehefrau als Verwalterin des Hauses und de facto Stellvertreterin ihres Mannes häufiger mit Geldzahlungen und Kreditgeschäften zu tun hatte, musste die Haftungsfrage verbindlich geklärt werden. Die chronologische und geographische Verteilung der Belege für Rechtskonstruktionen, die Frauen Geschäfte meta kyriou ermöglichten, ist angesichts der Überlieferungslücken kein Beweis, entspricht dieser Interpretation jedoch gut. Ihre Zahl nimmt im Verlauf des 4. und 3. Jhs. zu und die meisten von ihnen finden sich im Ägäisraum, also dort, wo die Wirkung der Verkehrswirtschaft am höchsten war, höher jedenfalls als in Sparta oder Gortyn.80 Mehrere Gerichtsreden zeigen die Bedeutung der Ehefrau gerade in Haushalten, die besonders an der Geldwirtschaft partizipierten. Im Jahr 400 verklagte der ältere Sohn des Diodotos seinen Onkel und ehemaligen Vormund Diogeiton auf Schadensersatz wegen Unterschlagung des anvertrauten Vermögens.81 Das Besondere war, dass der Angeklagte auch noch Großvater seiner Mündel war, weil er seine Tochter an seinen Bruder verheiratet hatte. Den Hauptteil der Rede sprach nicht der eben erst volljährige Ankläger, sondern sein Schwager.82 Ein wichtiger Teil seiner Rede ist die Schilderung, wie die Mutter auf die (angeblichen) Verfehlungen des Vormunds reagierte. Eine wichtige Voraussetzung für die Anklage waren die guten Kenntnisse der Mutter über das Vermögen ihres verstorbenen ersten Mannes Diodotos und die Handelsgeschäfte, die sein Bruder Diogeiton als Vormund auf dessen Grundlage getrieben hatte. Die Mutter berief sich bei ihren Angaben sowohl auf ihr Gedächtnis als auch auf schriftliche Aufzeichnungen, die sie vorzeigte. Das konnte sie, so führt der Redner
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Vgl. Stavrianopoulou 2006 für eine ausführliche Analyse des inschriftlichen Materials. Zu Datierung und Sprecher s. Adams 1905, 285, Carey 1989, 204–206. Lys. 32.1.
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aus, weil sie im Haus zufällig ein verlegtes Rechnungsbuch gefunden habe.83 Aus den Bemerkungen des Sprechers (ihr Schwiegersohn) ergibt sich, dass diese resolute Mutter, Tochter und Ehefrau eines Kaufmanns, nicht nur lesen konnte, sondern auch die Details der Geschäfte kannte, offenbar, weil sie von ihrem Ehemann und später ihrem Vater (bis zum Zerwürfnis) ins Vertrauen gezogen worden war. Ob sich Diogeiton tatsächlich so plump bereicherte, wie seine Tochter ihm vorwarf, konnten schon die Richter nicht mehr überprüfen. Aber während die Fakten des Falls umstritten waren, nahm der Sprecher an, dass es keiner Erklärung bedürfte, dass der Vormund die Mutter seiner Mündel über Kapital, Risiko und Gewinn einer Handelsreise informiert hatte und sie die entsprechenden Schlüsse daraus zog. Demosthenes’ Rede Gegen Nausimachos erwähnt eine weitere gutinformierte Witwe. Ihr Mann Xenopeithes hatte wie Diodotos zusammen mit seinem Bruder Kreditund Handelsgeschäfte getrieben. Wiederum ging es um ausstehende Forderungen gegen den ehemaligen Vormund ihrer Kinder, der zurückgezahlte Darlehen einbehalten habe.84 Eine ähnlich gut informierte Mutter führt auch Demosthenes in der ersten Rede gegen Aphobos an. Demosthenes erklärt seine genaue Kenntnis des väterlichen Testaments damit, dass seine Mutter ihn über alle Einzelheiten der darin festgelegten Vermögensverwaltung informiert habe.85 Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich nicht überprüfen.86 Das gilt für alle Äußerungen vor Gericht über das vermeintliche Wissen von Müttern; es ließ sich gerade darum leicht zitieren, weil die betreffenden Frauen gar nicht als Zeugen auftreten und einen Eid schwören konnten. Das spricht allerdings gerade für den Quellenwert dieser Passagen in Hinsicht auf übliche Praktiken. Gerade weil die Erzählungen über das Wissen von Hausherrinnen nicht extern bewiesen werden konnten, beruhte ihre Überzeugungskraft ganz auf lebensweltlicher Plausibilität. Die athenischen Zuhörer hielten es offenbar für glaubwürdig, dass die Ehefrau neben dem Hausherrn am besten über die Geldgeschäfte des Hauses informiert war. Die Rolle der Ehefrau als Vertrauensperson im Bank- und Geldwechselgeschäft ist uns Dank der Gerichtsreden für und gegen Apollodoros besonders hell erleuchtet. In der Verteidigungsrede für Phormion, den von Apollodoros angeklagten Geschäftsführer seines Vaters Pasion, zählt der Freund, der die Rede hält, eine Liste von Bankleuten auf, die genau wie Pasion ihre Frauen testamentarisch an ihre Sklaven verheirateten. Dem Redner zufolge sei diese Praxis nicht auf Athen beschränkt – er nennt das Beispiel eines Mannes in Ägina, der seinen (freizulassenden) Sklaven seiner Frau und – im
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Lys. 32.13–15; 25. Demosth. 38.6 f. Demosth. 27.40. Schwahn 1929, 5 f. schließt aus Demosthenes’ genauen Angaben, die Mutter habe sich bald nach dem Tod ihres Mannes Aufzeichnungen gemacht; das setzt allerdings voraus, dass wir Demosthenes’ ‚Genauigkeit‘ für glaubwürdig halten.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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Fall ihres Todes – seiner Tochter zum Mann gab.87 Der Redner erwartet, dass diese Praxis für anstößig gehalten wird, weil sie die Gesellschaftsordnung symbolisch infrage stellt. Er rechtfertigt sie daher mit einiger Ausführlichkeit unter Verweis auf ihre hauswirtschaftliche Pragmatik. Weil Pasion seinen Bürgerstatus nicht seiner Geburt, sondern seiner Fähigkeit zum Gelderwerb und seinem großen Reichtum verdanke, müsse er beides sichern. Deshalb war es notwendig, Phormion durch die Verheiratung mit seiner Witwe Archippe zu seinem „Verwandten“ (οἰκεῖον) zu machen, zum „Erhalt seiner Angelegenheiten“, d. h. seines Geschäfts.88 Die Maßnahme stellte sicher, dass das Vermögen der ‚Bank‘, das rechtlich mit dem Pasions Privatvermögen identisch war, in die Hände eines Mannes geriet, der fähig und willens war, das Geschäft weiterzuführen. Phormion erhielt als Mitgift einen Großteil des Geldkapitals der Bank und als Vormund von Apollodoros’ jüngerem Bruder Pasikles konnte er auch auf das übrige Vermögen, das Erbe von Pasions Söhnen, ein wachsames Auge behalten.89 Die Ehefrau scheint auch in diesem Fall mehr als nur ein Vehikel männlicher Transaktionen gewesen zu sein. Cohen betont, dass die Witwe auch deshalb wichtig war, weil sie angesichts der informellen und personalistischen Art des Geschäfts über wichtige vertrauliche Informationen verfügte.90 Tatsächlich betont der Redner, dass Archippe mit Bezug auf das Familienvermögen „alles bis ins Detail (ἀκριβῶς) wusste“.91 In allen vier Fällen gut informierter Hausmütter in Gerichtsreden geht es um angebliche Verfehlungen eines Vormunds und in drei von vier Fällen fehlt das entscheidende Dokument – das Testament des verstorbenen Vaters. Das ist wohl kein Zufall. Die Rolle der Hausmutter wurde für die Fortführung des Haushalts und das Zusammenhalten des Vermögens besonders wichtig, wenn der Hausvater verstorben war. Außerdem lieferten nur solche schwerwiegenden Konflikte einen Grund, aus taktischen Gründen die sonst latente Verantwortung der Hausmutter offenzulegen. Denn normalerweise war ein Vorteil der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ja gerade der, dass sie potentiell ruf- oder geschäftsschädigende Informationen geheimhielt. Die Frau eignete sich als Vertrauensperson, weil sie ein direktes Interesse am hauswirtschaftlichen Erfolg hatte, aber nicht vor Gericht gezogen werden konnte. Umgekehrt musste die Frau davor bewahrt werden, in aller Öffentlichkeit als Wucherer verhöhnt zu werden, wie es Hyperbolos’ Mutter widerfuhr. Die Diskretion über die Rolle der Frau schützte umgekehrt auch den Mann – so sehr er von der Kooperation mit seiner Ehefrau und von 87
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Demosth. 36.29; die Bezeichnung des prospektiven Bräutigams als „Sklaven“ (τῷ ἑαυτοῦ οἰκέτῃ) und die Bestimmung, dass im Fall des Tods der Ehefrau die Tochter den „Sklaven“ heiraten solle, zeigen, dass es hier um die Bestimmungen eines Testaments geht, in dem der Status des Betroffenen zum Zeitpunkt der Testamentsabfassung entscheidend war, und man Eventualitäten vorbeugte, vgl. Pearson 1972, 226. Demosth. 36.28–31. Dazu noch ausführlich Kap. 11.2.4. Cohen 1992, 73–90; 2002. Demosth. 36.14; zur Rolle der Archippe vgl. Ferrucci 2013.
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ihrer Mitgift profitierte: In der Öffentlichkeit musste er das Bild des entschlossenen, allein verantwortlichen Hausvaters hochhalten. Edward Cohen hat in dieser Anpassung der Haushalte an das Bankgeschäft durch den Rückgriff auf Frauen und Sklaven eine Neuerung gesehen, welche die alte Hauswirtschaft obsolet machte, und spricht von „quasi-oikoi“.92 Das ist irreführend. Es ist zwar richtig, dass eine solche Ehe als anstößig galt, und als solche hatte Apollodoros sie angegriffen: ein (ehemaliger) Sklave, der seine athenische Herrin heiratet!93 Aber obwohl die Ehe von Archippe und Phormion eine hauswirtschaftliche Vernunftentscheidung war, entsprangen ihr Kinder, auf welche die beiden ihren familiären Ehrgeiz richteten,94 und konvertierte Phormion sein ökonomisches Kapital in soziales und symbolisches Kapital genau wie andere Neubürger. Und schließlich entsprach die Einbeziehung der Ehefrau in die häuslichen Geldgeschäfte einer Praxis, die in Athen älter und allgemein verbreitet war. Apollodoros hatte die Ehe zwar als ungehörig gebrandmarkt und führte als Sohn eines Aufsteigers seinen eigenen Haushalt in demonstrativer Übereinstimmung mit den angestammten Werten der athenischen Bürgerschaft.95 Die finanzielle Rolle der Frau, wie seine Mutter Archippe sie verkörperte, stellte er allerdings nicht infrage – sie scheint mit diesen athenischen Werten nicht kollidiert zu sein. In seiner Rede Gegen Polykles (um 358) erklärt Apollodoros, warum ihn die Frauen seiner Familie nicht unterstützen konnten, als er wegen einer aufwendigen Trierarchie in Geldnöte geriet. Seine Mutter Archippe war krank und altersschwach. Kurz nach seiner Rückkehr von der Trierarchie verstarb sie, so dass sie, da sie ja nicht mehr „Herrin (κυρία) ihres Vermögens war“ – inzwischen hatte sie Phormion geheiratet – ihm nicht in dem Umfang mit Geldzahlungen aushelfen konnte, in dem sie es (angeblich) gewollt habe. Seine Ehefrau wiederum war während seiner Abwesenheit krank, seine Kinder noch klein, sein Vermögen verschuldet und sein Landbesitz wegen Dürre ertraglos. Deshalb sei Apollodoros genötigt gewesen, sich Geld auf Zins zu leihen.96 Apollodoros schildert die Not seines Haushalts drastisch, um seine eigene Opferbereitschaft für das Gemeinwesen mit dem Geiz seines Gegners zu kontrastieren. Deshalb müssen die Frauen als schwach und handlungsunfähig dargestellt werden. Aufschlussreich ist allerdings, was Apollodoros’ erklärungsbedürftig erscheint und was nicht: Mit der Betonung von Krankheit, Alter und Kinderfürsorge versuchte Apollodoros zu erklären, warum die Frauen seiner Familie ihn nicht in Geldfragen unterstützen, wie man es sonst offenbar von ihnen erwartete. Dabei ging es nicht nur um die kleinen Beträge des täglichen Konsums – sondern um die Finanzierung einer Trierarchie.
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Cohen 1992, 87. [Demosth.] 45.39, 74. [Demosth.] 45.75 und 50.60 mit dem Kommentar von Davies 1971, 435. Zu Apollodoros vgl. Kap. 4.1.1, Anm. 88. [Demosth.] 50.60 f.; dazu Ferrucci 2013, 23 f.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
351
Dieselben Komödien des Aristophanes, die das Misstrauen gegenüber der Ehefrau ventilieren, setzten die Frau als selbstständige Verwalterin häuslicher Finanzen voraus. In der Lysistrate kündigt die Titelheldin einem verdutzten Magistrat an, dass die Frauen von nun an die gesamten Schatzgelder der Stadt verwalten würden. Schließlich würden sie ja bereits jetzt „das gesamte Vermögen von euch [den Athenern] für euch verwalten“ (τἄνδον χρήματα πάντως ἡμεῖς ταμιεύομεν ὑμῖν). Das ist natürlich eine Übertreibung. Die Reaktion des männlichen Magistraten ist allerdings aufschlussreich. Er wendet nicht ein, dass zwischen der weiblichen Verwaltung der häuslichen Kasse und der Verwaltung der städtischen Kassen ein qualitativer Unterschied bestünde, sondern nur, dass das Geld für die Kriegsführung bestimmt wäre – die doch Männersache sei.97 In den Ekklesiazusen fordert Praxagora, man solle den Frauen das städtische Regiment überlassen, weil die Männer sie schließlich auch „als Aufseher ihrer Häuser und Verwalterinnen verwendeten“.98 Die anschließende Aufzählung nennt vor allem traditionelle Hausarbeit, doch heißt es außerdem, darin „Geld heranzuschaffen sei die Frau am erfindungsreichsten“ (χρήματα πορίζειν εὐπορώτατον γυνή), weil sie, selbst betrügerisch, sich von niemandem betrügen lasse.99 Die Frau war, mit anderen Worten, nicht nur ein guter oikonomos, sondern, was dazu gehörte, auch ein guter chrēmatistes. 10.2.2 Die Arbeit der Frau Ehefrauen verwalteten die häuslichen Vorräte und sogar das häusliche Vermögen. In ärmeren Haushalten zählte jedoch, genau wie beim Mann, vor allem ihre Arbeitskraft. Häusliche Arbeiten wie das Hüten und Aufziehen der Kleinkinder, die Zubereitung von Speisen, die Sorge für Wäsche und Hausrat werden in den literarischen Quellen am häufigsten thematisiert und sind in der Vasenmalerei und den böotischen Terrakotten populäre Themen.100 Diese Tätigkeiten überließ man zwar in reichen Haushalten unfreien Bediensteten, doch waren sie für die Ehefrau nicht ehrenrührig und entsprachen dem Ideal, demzufolge der Tätigkeitsbereich der Frau das Innere des Hauses sei. Eine Vielzahl beiläufiger Bemerkungen zeigt allerdings, dass Frauen auch außerhalb des Hauses arbeiteten und Geld verdienten. Frauen arbeiteten auf dem Feld, stellten in häuslicher Produktion Waren für den Markt her, waren Kleinhändlerinnen oder Stillammen.101 Diese Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit hat dazu geführt, dass 97 98 99 100 101
Aristoph. Lys. 492–497. Vgl. Eccl. 599 f.: ἐν ταῖς οἰκίαις ταύταις ἐπιτρόποις καὶ ταμίαισι χρώμεθα. Eccl. 210–240. Wagner-Hasel 2000, 316–322; Lewis 2002, 59–90; Schmitz 2004b, 444–450. Scheidel 1990, 407–409, Wagner-Hasel 2000, 314–318, Schmitz 2004b, 444–450 zur Feldarbeit; vgl. Aristot. pol. 6, 1323 a 5; Feldarbeit der Frau galt als barbarisch, Plat. leg. 7, 805d–e und Aristot. fr. 53 Rose3 (= Herakl. Lembos 53 Dilts); zur armutsbedingten Arbeit von Frauen s. Schaps 1979, 18–20, 61–63; Brock 1994; Harris 2014, 201.
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die Vorstellung der in das Hausinnere verbannten müßigen Ehefrau in der Forschung teils als Ideologie bewertet worden ist, die außerhalb der Oberschicht ohne Relevanz gewesen sei.102 Diese Gegenüberstellung von ‚Ideologie‘ und ‚Wirklichkeit‘ kann allerdings kaum erklären, warum die gleichen Komödientexte, die vom Wunsch der Männer sprechen, ihre Frauen in das Haus zu verbannen, auch viele der Hinweise auf weibliche Arbeit außerhalb des Hauses enthalten – Aristophanes ging offensichtlich davon aus, dass auch die weniger vermögenden Athener, das Gros seines Publikums, das Ideal der müßigen/nicht-erwerbstätigen Hausmutter teilten, obwohl sie wussten, dass die Praxis häufig davon abwich.103 Besser erklärbar wird der Sachverhalt durch die Annahme, dass die Arbeit der Ehefrau einer jener Bereiche war, in der ein geteilter Wertekanon unter Voraussetzung ungleicher Chancen, diesen Werten zu entsprechen, die Stratifizierung der Haushalte reproduzierte. Alle athenischen Männer wünschten sich eine Frau, die müßigging oder nur im Haus tätig war, aber nicht alle konnten sich dieses Ideal leisten. Erst die Existenz dieses Ideals verwandelte materielle Ungleichheit in symbolische Ungleichwertigkeit. Das komplexe Verhältnis von praktischem Nutzen und symbolischer Repräsentation weiblicher Arbeit zeigt sich exemplarisch bei der Textilproduktion. Literarische und bildliche Verweise auf die weibliche Verarbeitung von Wolle, vom Spinnen der Fäden bis hin zum Weben der Stoffe sind zahlreich, Spindel und Wollkorb können geradezu als partes pro toto weiblicher Tugend und häuslichen Fleißes gelten.104 Einige Forscher haben daraus geschlossen, dass Textilverarbeitung nicht nur eine spezifisch weiblich konnotierte Tätigkeit war, sondern griechische Haushalte tatsächlich einen Großteil ihres Textilbedarfs durch eigene Produktion deckten.105 Dem stehen allerdings etliche Hinweise auf die kommerzielle Produktion und Distribution von Wolle, Stoffen und Kleidern entgegen. Es handelt sich dabei nicht bloß um weiblichen Hausfleiß zur Ergänzung der Subsistenzwirtschaft, sondern auch um regelrechte Werkstätten mit Vertrieb der Produkte durch Fernhändler.106 102 103
Ehrenberg 1968, 198; Scheidel 1990, 407–409; Wagner-Hasel 2000, 311–314. Eben dieses Bild evozierte Euxitheos, als er sich vor Gericht dafür rechtfertigte, dass seine Mutter als Stillamme gearbeitet hatte, Demosth. 57.35, 45; dazu Schaps 1979, 61–63 und Schmitz 2004b, 444–450. 104 Lewis 2002, 62–65. 105 Bettalli 1982, 267 f.; Wagner-Hasel 2000, 318–322; Reuthner 2006, 234–267. 106 Büchsenschütz 1869, 58–79; Acton 2014, 147–164; Tsakirgis 2015; Bresson 2016, 190– 194, 353–358; die export-orientierte Verarbeitung von Wolle zu Gewändern ist für Teos durch SEG 2.579, 13–18 belegt (um 300); vgl. Bettalli 1982, 271 f. zur gewerblichen Produktion in Megara; Cahill 2002, 250–252 zu einer ‚großen‘ Werkstatt (sechs bis zwölf Webstühle) in Olynth; Knigge 2005, 78 f., 96 f. zu einem entsprechenden Bau im athenischen Kerameikos („Bau Z“); von 158 Sklaven/Freigelassenen, deren Berufe in den sog. Phialai-Inschriften angegeben sind, bilden die 51 weiblichen „Wollarbeiterinnen“ (ταλασιουργοί) mit 32,3 % die mit Abstand größte Berufsgruppe (81 % der weiblichen Freigelassenen mit Berufsangabe), Rosivach 1989, 366 sieht in diesen Frauen allerdings keine Wollarbeiterinnen, sondern Hausbedienstete, die sich talasiourgoi nannten, weil dies die typische Arbeit einer athenischen Hausfrau gewesen sei; dagegen wendet
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Wie lassen sich diese scheinbar widersprüchlichen Quellenbefunde miteinander vereinbaren? Zum einen haben Eva Keuls und Sian Lewis darauf aufmerksam gemacht, dass die meisten Abbildungen mit Verweisen auf Wollverarbeitung kein vollständiges Bild der Textilproduktion geben, sondern sich auf die symbolischen Marker Spindel und Wollkorb konzentrieren. Mühselige oder schmutzige Arbeiten wie das Waschen und Kämmen der Wolle und selbst das Weben kommen nie oder nur selten vor. Keuls und Lewis schließen daraus, dass die Bilder Ideale weiblicher Tugend darstellen, nicht die reale Hauswirtschaft.107 Zum anderen wird der Kauf von Kleidung vor allem für große Haushalte erwähnt. Sie kauften kostbare Gewänder für feierliche Anlässe oder billige Arbeitskittel für ihre Sklaven.108 In der Wollverarbeitung findet sich also dieselbe Kluft zwischen kleinen und großen Haushalten wie in der weiblichen Arbeit generell. Aber während in Bezug auf die meisten Tätigkeiten auch ärmere Haushalte die Ideale reicher Haushalte (Häuslichkeit, Müßiggang) übernahmen, obwohl sie sich diese nicht wirklich leisten konnten, behielten reiche Haushalte mit der Wollbearbeitung eine Praxis bei, die sie sich nicht mehr leisten mussten. Der Grund dafür war das oben diskutierte kulturell stilisierte Misstrauen gegen die Ehefrau. Alle Ehefrauen wurden pauschal verdächtigt, dass sie ihre Finger nicht von den Vorräten, den Weinkrügen oder den Sklaven lassen konnten, sobald männliche Aufsicht fehlte. Diesem Generalverdacht – und vor allen die Verleumdungen des ganzen Hauses, die sich daran anknüpfen ließen – war erst recht Nahrung gegeben, wenn die Frau aufgrund des Reichtums müßig war, also Gelegenheit hatte, ihren Lastern zu frönen. Die Bearbeitung von Wolle gab den Frauen damit eine Arbeit ‚in die Hand‘, die sie beschäftigte und zugleich weibliche Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Enthaltsamkeit zur Schau stellte. Und wieder wurden die klassenübergreifenden Ideale zur Grundlage sozialer Distinktion: Was bei den armen Frauen bloße Notwendigkeit und deshalb nicht besonders edel war, wurde bei Frauen, die darauf materiell nicht angewiesen waren, zum Ausweis ihrer Tugend.109
Wrenhaven 2009, 370 erstens ein, dass in diesem Fall nicht erklärbar sei, woher das Geld für eine Freilassung stammte und zweitens, dass fast alle Wollarbeiterinnen (mit einer Ausnahme) in städtischen Demen registriert sind, was für eine gewerbliche Tätigkeit spricht; ergänzen ließe sich, dass eine Berufsangabe nicht zwingend war: Freigelassene mit und ohne Berufsbezeichnungen erscheinen mehrfach direkt aufeinanderfolgend aufgelistet, IG II2 1553, sp. 1, 1567, 1570, sp. 2 und 3, 1576a, Seite B, sp. 1, 1576b, sp. 1 und 2; Wrenhaven vertritt die Annahme, op. cit. 373–384, dass viele der ‚Wollarbeiterinnen‘ in Wahrheit Prostituierte waren, die nebenbei Wolle verarbeiteten; das ist denkbar, vgl. Davidson 1998, 86–91 (mit älterer Literatur), aber für die Phialai-Inschriften nicht überprüfbar. 107 Keuls 1983, 214–221; Lewis 2002, 62–65. 108 Büchsenschütz 1869, 58 f.; Blümner 1875, 100; anders Bettalli 1982, 267 f. 109 Die ideale Hausfrau in Xenophons Oikonomikos führt die Hausarbeiten nicht aus, weil sie muss, sondern um sich körperlich zu ertüchtigen und den Sklavinnen, denen sie befiehlt, ein Vorbild zu sein, oik. 10.10 f.
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Allerdings konnte man aus der Not eine Tugend machen. In der zweiten Hälfte des 4. Jhs. machte eine gewisse Melinna in Athen der Athena Ergane, der Schutzgottheit der Werktätigen, ein Weihgeschenk, dessen Inschrift stolz verkündete, dass Melinna mit ihrer Hände Arbeit und Kunstfertigkeit ihre Kinder in mutiger und gerechter Weise großgezogen habe. Wie Theodora Jim vermutet, war Melinna vielleicht durch den Tod ihres Mannes gezwungen, ihre Kinder als Witwe mit eigener Arbeit aufzuziehen. Melinnas Weihgeschenk unterstrich, wie ehrenvoll sie in der schwierigen Lage ihre Mutterrolle erfüllt hatte, um die Nachfahren ihres Mannes großzuziehen.110 10.2.3 Die Mitgift als Kapital Aufgaben und Stellung der Ehefrau hingen wie beim Ehemann von der Größe des Haushalts ab. Das Bild der Ehefrau als geehrte und vertrauensvolle Hausherrin (despoina), das die literarische Ökonomik beschwört, und Grabsteine öffentlich darstellen, galt für große Haushalte.111 Wichtig war allerdings nicht nur der Rang des ehelichen Haushalts, sondern auch der des Vaterhauses der Frau. Das Ansehen ihrer väterlichen Familie und die Höhe ihrer Mitgift setzten der nominellen Vollmacht ihres Ehemanns faktische Grenzen.112 Denn der Wert einer Ehefrau bestand nicht zuletzt in dem ökonomischen und symbolischen Kapital, das sie mit in die Ehe brachte. Ließ sich die Ehefrau scheiden, so verlor der Ehemann neben der Mitgift auch die Unterstützung und das Prestige der verschwägerten Familie. Mitgiften waren wirtschaftlich wichtig, weil sie, zumindest in Athen und den ÄgäisStädten, in Bargeld gezahlt wurden. Sofern der Brautschatz (Kleidung und Schmuck) als Teil der Mitgift galt, wurde sein Wert ebenfalls in Geld gemessen.113 Die Annahme ist plausibel, dass die Mitgift für den Mann wirtschaftlich wichtig war, weil sie angesichts der Schwierigkeit an Bargeld zu kommen, wichtiges Kapital für die eigenen Geschäfte bedeutete.114 Das Problem ist, dass unsere Quellentexte mit Ausnahme der Arrangements der Bankleute (s. Kap. 10.2.1) nie erwähnen, wozu ein Ehemann die Mitgift verwendete. Allein im Stadtrecht von Gortyn wird die Mitgift explizit als Kapital des 110 111 112
113 114
IG II2 4334 mit Jim 2014, 139, die auf Aristoph. Thesm. 446–458 verweist, wo eine Witwe Geld zur Ernährung ihrer Kinder verdient. Die Bezeichnung der Kinder als τέκνων γεν[εά]ν in z. 3 betont den Aspekt der Abstammung. Zur bildlichen Darstellung der Hausherrin: Breuer 1995, 23–26; Bergemann 1997, 128; Hartmann 2002, 126–130; Scholl 2002, 179–190, besonders Abb. 1 sowie Kat.-Nr. 77, 79, 85; Reuthner 2006, 98–100. Zur Bedeutung der Mitgift für die Stellung der Frau s. Foxhall 1989, 32–39, Cox 1998, 69 f. und Kamen 2013, 89; wie in vielen Kulturen mahnen Spruchweisheiten, dass eine reiche Mitgift den Mann zum Knecht seiner Frau mache, vgl. Aristot. eth. Nic. 8, 1160 b 33–1161a 3 und Men. Epitr. 134 f.: eine Sammlung derartiger Bemerkungen bei Breitenbach 1967, 1850. Schaps 1979, 101–105; Krause 2003, 52. Harrison 1968, 52; Krause 2003, 50, 52; Leese 2017, 33–35.
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Ehemanns behandelt.115 Plausibilität verleiht der Annahme der historische Vergleich mit anderen Stadtgesellschaften und der Sprachgebrauch der griechischen Quellen. Aus dem republikanischen Rom und den mittelalterlichen Stadtrepubliken Italiens ist bekannt, dass Mitgiften eine wichtige Form des Geldkapitals waren.116 In Florenz wurde – wie in Athen – Startkapital nur selten professionell verliehen, sondern man erhielt es von Verwandten, Verschwägerten und Freunden.117 Eine Novelle des 14. Jhs., die in Genua spielt, zeigt, dass wir von dieser Funktion von Mitgiften auch für das Mittelalter schlecht unterrichtet wären, wenn nicht private Aufzeichnungen darüber überliefert wären. Die Novelle erzählt die Geschichte eines jungen Manns aus angesehener Familie, der noch vor Vollzug der Ehe in die genuesische Kolonie Kaffa auf der Krim abreiste und erst nach zwei Jahren als reicher Mann zurückkehrte.118 Nur der historische Kontext erlaubt die Annahme, dass der Reichtum aus Handel stammte. Die Novelle selbst schweigt darüber und erzählt lieber von Hochzeitsbräuchen, frechen Sprüchen und ehelicher Eintracht. Man wird so gesehen nicht davon ausgehen können, dass athenische Männer die Mitgift nicht als Kapital benutzten, nur weil sie darüber nicht schrieben. Ein Indiz für die Mitgift als Kapital gibt die Art, wie Xenophons Oikonomikos das häusliche Vermögen als Kapital einer Geschäftspartnerschaft beschreibt:119 Bereits jetzt (sc. zu Beginn der Ehe) ist uns dieser Haushalt (οἶκος; oder: Vermögen) gemein (κοινός). Denn sofern etwas mir gehört, werde ich es dem Gemeinbesitz zurechnen (ἅπαντα εἰς τὸ κοινὸν ἀποφαίνω), du wiederum hast alles, was du eingebracht hast, als Gemeinbesitz festgelegt (πάντα εἰς τὸ κοινὸν κατέθηκας). Und so gehört es sich wohl nicht nachzurechnen (λογίζεσθαι), wer von uns beiden der Zahl nach (ἀριθμῷ) mehr beigesteuert hat, sondern stattdessen genau zu wissen, dass wer auch immer von uns beiden der bessere Partner (κοινωνός) sein möge, auch das Wertvollere beisteuern wird (τὰ πλείονος ἄξια συμβάλλεται).
Anders als die Partner einer zeitlich begrenzten Handelspartnerschaft ziehen die Ehepartner nicht irgendwann Bilanz, um ihre jeweiligen Anteile am Gewinn entsprechend 115 116 117
118 119
I. Cret. IV 72, sp. 2, 47–50. Vgl. Saller 2007, 95 f. und Kaser 1971, 333 zu Rom. Padgett/McLean 2011, 37–43; das Geheimbuch (libro segreto) des Tuchhändlers Gregorio Dati aus der zweiten Hälfte des 14. Jhs. zeigt, dass dieser die meisten seiner Unternehmungen aus den Mitgiften seiner Ehefrauen finanzierte; zu Athen s. Leese 2017, 35. Zu Mitgiften als Handelskapital und anderen Formen des informellen Kredits im vormodernen Europa vgl. Carruthers 2005, 365 f. Auch für die frühneuzeitliche sephardische Diaspora waren Mitgiften eine der wichtigsten Wege, um Handels-Kapital zu gewinnen; vgl. Trivellato 2009, 132–152. Franco Sacchetti, Il Trecentonovelle, Nr. 154, Ed. D. Puccini (2004). Xen. oik. 7.13: νῦν δὲ δὴ οἶκος ἡμῖν ὅδε κοινός ἐστιν. ἐγώ τε γὰρ ὅσα μοι ἔστιν ἅπαντα εἰς τὸ κοινὸν ἀποφαίνω, σύ τε ὅσα ἠνέγκω πάντα εἰς τὸ κοινὸν κατέθηκας. καὶ οὐ τοῦτο δεῖ λογίζεσθαι, πότερος ἄρα ἀριθμῷ πλείω συμβέβληται ἡμῶν, ἀλλ’ ἐκεῖνο εὖ εἰδέναι, ὅτι ὁπότερος ἂν ἡμῶν βελτίων κοινωνὸς ᾖ, οὗτος τὰ πλείονος ἄξια συμβάλλεται.
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ihrer Einzahlungen zu kalkulieren, denn die Ehe ist gedacht als eine lebenslange Partnerschaft. Die Semantik ist kommerziell: Die Ehefrau wird an späterer Stelle nochmal „Vermögenspartnerin“ (χρημάτων κοινωνός) genannt, apophainein bezeichnet das Deklarieren eines Eingangspostens, logizesthai das Bilanz ziehen, symballein das Beisteuern zu einer Geschäftspartnerschaft.120 Auch die Zeitformen deuten auf ein Verständnis der Mitgift als Kapital hin: Die Frau hat ihr Vermögen einmalig zu Beginn „zugrundegelegt“ (Aorist: kathēkas), der Mann „deklariert“ nun kontinuierlich Einnahmen davon (Präsens: apophainō).121 Der geschäftsmäßige Ton dieser Xenophon-Stelle ist kein direkter Beleg dafür, dass alle Geldmitgiften als Kapital behandelt wurden – er deutet allerdings darauf hin, dass diese Praxis nicht auf die Bankleute beschränkt war. Einen geschäftsmäßigen Charakter hatte die Mitgift unabhängig davon, wofür sie verwendet wurde. In Athen fertigte man über ihre Zahlung schriftliche Verträge an und forderte Zinsen wie auf jedes gewöhnliche Darlehen, falls die Mitgift bereits ausgezahlt worden war, aber die Ehe doch nicht zustande kam.122 Das Bild der Ehe als Kaufgeschäft findet sich gattungsübergreifend.123 In seiner Schilderung, wie der angesehene Mann materiellen Gewinn aus seiner Stellung zieht, führt Platon auch Heiratsallianzen an.124 Platons Bemerkung läuft tatsächlich auf eine Kritik heraus – sprachlich behandelt er die Ehe jedoch genau wie Xenophon als „nützliche Geschäftspartnerschaft“. In Aristophanes’ Vögeln verkünden die Vögel dem Publikum, die Athener würden sich bei wichtigen Fragen stets zuerst an sie – d. h. die Vogelschau – wenden: „für den Seehandel, für den Erwerb des Lebensunterhalts, für die Hochzeit“.125 Im Falle der Ehe als Geschäft waren nicht nur die Eheleute, sondern auch Schwiegervater und Schwiegersohn Geschäftspartner. In einem um 350 ausgetragenen Erbschaftsstreit berichtet ein Gerichtsredner vom Scheitern eines Familienbündnisses. Ein gewisser Polyeuktos aus Thria adoptierte seinen Schwager Leokrates und machte ihn zusätzlich zu seinem Schwiegersohn. Kurz darauf kam es jedoch aus ungenannten Gründen zum Zerwürfnis, woraufhin Polyeuktos dem Leokrates seine Tochter wie-
120 Die Frau als χρημάτων κοινωνός in oik. 10.3; der Vergleich mit 6.3 (ὥσπερ καὶ χρημάτων κοινωνήσαντας) macht klar, dass die Ehe hier einer Geschäftspartnerschaft gleichgesetzt und von dieser wegen ihrer Dauer unterschieden wird; vgl. Aristot. eth. Nic. 8, 1163 a 31 f. für die Bemerkung, dass in einer Nutzfreundschaft die Auszahlungen proportional berechnet würden, „wie in einer Vermögenspartnerschaft“ (καθάπερ ἐν χρημάτων κοινωνίᾳ); zum Ausdruck apophainein vgl. Lys. 32.25 und Demosth. 27.24, jeweils im Rahmen der Endabrechnung einer Vormundschaft. 121 Vgl. Pomeroy 1994, 274. 122 Is. 3.35; Demosth. 27.17; 41.5; [Aristot.] Ath. pol. 52.2. 123 Euripides’ Medea klagt, mit der Mitgift „kaufe [man] einen Mann für ein Übermaß an Geld“, Eur. Med. 232 f.; Demosthenes dreht die Sache um, bleibt jedoch im Bild, wenn er dem Politiker Timokrates vorwirft, dieser habe seine Schwester nur vorgeblich verheiratet, tatsächlich habe er sie als „Exportgeschäft“ (ἐπ᾽ ἐξαγωγῇ) nach Korkyra verkauft, Demosth. 24.202 f.; vgl. Plut. Solon 20.6, wo davon die Rede ist, die Ehe solle kein μισθοφόρον ὤνιον sein. 124 Plat. rep. 2, 362b. 125 Aristoph. Av. 717 f.: πρός τ᾽ ἐμπορίαν, καὶ πρὸς βιότου κτῆσιν, καὶ πρὸς γάμον ἀνδρός.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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der „wegnahm“ und sie einem Spudias zur Frau gab. Leokrates klagte deshalb gegen Polyeuktos und Spudias, woraufhin diese „über alles Rechenschaft ablegen mussten“ (περὶ πάντων […] εἰς λόγον καθίστασθαι) und man sich darauf einigte, dass Leokrates alles zurückerhalten sollte, „was er in das Vermögen eingebracht hatte“ (εἰς τὴν οὐσίαν εἰσενηνεγμένος).126 Nachdem der Familien-‚Deal‘ gescheitert ist, wird hier in eben jener kaufmännischen Weise Bilanz gezogen, wie Xenophon hoffte, dass es in einer Ehe nie nötig sein würde. Cheryl Cox und Winfried Schmitz haben die Mitgift als „Vorerbe“ der Tochter bezeichnet.127 Das ist insofern gerechtfertigt, als der Vater mit der Zahlung einer Mitgift seiner hausväterlichen Pflicht nachkam, die Versorgung seiner Tochter zu sichern und dementsprechend vom Ehemann erwartet wurde, dass er diese Versorgung proportional zur Höhe der Mitgift gewährleistete.128 Zwischen Mitgift und Erbteil gibt es allerdings zwei für die Hauswirtschaft wichtige Unterschiede. Erstens hatte die Frau zumindest in Athen und Städten mit ähnlichem Recht keine förmlichen Eigentumsrechte an ihrer Mitgift, was dem Mann große Freiheit in der Verwendung gab. Zweitens war der Umfang der Mitgift nicht durch das Erbrecht festgelegt, sondern Verhandlungssache. Dabei wurden die jeweiligen Kapitalien des Hauses der Braut und des Hauses ihres zukünftigen Ehemanns – Abstammung, Ansehen, Reichtum – gegenübergestellt und gegeneinander verrechnet. Die Informationslage ist hier besser. Während man über den ökonomischen Aspekt der Mitgift Diskretion wahrte, um nicht der schändlichen Gewinnsucht bezichtigt zu werden,129 hielt man das Interesse an der Verheiratung mit einer angesehenen Familie durchaus für ehrenwert. Der Redner der Lysias-Rede Über das Vermögen des Aristophanes behauptet, dass bei den Ehen in seiner Familie Abstammung und Ansehen höher gewichtet wurden als Reichtum. Sein Vater verschmähte reiche Männer von schlechter Abstammung, die bereit waren ihre Töchter ohne Mitgift zu heiraten, als Schwiegersöhne und wählte stattdessen Männer, die edel aber arm waren.130 An der Aufrichtigkeit des Redners darf gezweifelt werden.131 Entscheidend ist die Logik, die er voraussetzt: Ansehen und Abstammung wurden mit der geldwerten Mitgift verrechnet – die Hauswirtschaft kalkulierte stets alle Formen des Kapitals. Der Verweis auf die reichen Männer von schlechter Abstammung ist dabei ein Beleg dafür,
126 127 128 129 130 131
Demosth. 41.3 f. Cox 1998, 106 und Schmitz 2004b, 220; zurückhaltender Schaps 1979, 24: „in some respects a compensation for this [sc. einen Erbteil]: although it did not […] belong to the woman in a legal sense“; in Gortyn hingegen war die Mitgift Erbteil der Tochter, ebd., 85–87. Eur. Hipp. 628–633; Is. 1.39, 2.9; Demosth. 28.11; bei hohen Mitgiften gehörten neben Unterhalt und Ausstattung auch Bedienstete dazu: Theophr. char. 22.10 und [Demosth.] 59.35. Vgl. Demosth. 29.48. Lys. 19.14. f. Die genannten Schwiegersöhne, Philomelos aus Paiana und Phaidros, waren entweder nicht arm oder es jedenfalls nicht „schuldlos“ geworden, Davies 1971, 201 und 548.
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wie sich wirtschaftlich erfolgreiche Aufsteiger durch den Verzicht auf eine Mitgift die Einheirat in die etablierten Familien erkauften.132 Besonders wichtig für die Hauswirtschaft war die Möglichkeit, durch Heiraten den ‚erweiterten Haushalt‘ zu vergrößern. Die Wahlverwandtschaft der Schwäger war attraktiv, weil sie im Gegensatz zur patrilinearen Verwandtschaft keine Konkurrenten bei Erbverteilungen waren und man sie frei nach strategischen Gesichtspunkten wählen konnte. Eine Weiber-Schelte in Euripides’ Hippolytos legt nahe, dass man um den Preis guter Schwäger sogar eine schlechte Ehefrau in Kauf nahm.133 Demosthenes nennt als eine der besonders wichtigen Fähigkeiten in privaten Angelegenheiten zu wissen, wer es „wert“ (ἄξιος) ist, Schwager zu werden.134 In seiner Rede Gegen Onetor formuliert er den Allgemeinplatz, jeder würde eher Geld borgen als seinem Schwager die Mitgift schuldig zu bleiben, denn wer die Mitgift zahle, der gewinne einen Schwager und zugleich einen „häuslich Vertrauten“ (οἰκεῖος).135 Sally Humphreys und Cheryl Cox haben gezeigt, wie häufig Verschwägerte in den Gerichtsreden als Verbündete erwähnt werden oder als Beiredner und Zeugen auftreten.136 Ausgerechnet Demosthenes, der die Bedeutung der Verschwägerung hervorhob, wurde Opfer eines solchen Bündnisses. Sein ehemaliger Vormund Aphobos paktierte mit seinem Schwager Onetor, um Aphobos’ Vermögen vor Demosthenes’ Schadensersatzforderungen in Sicherheit zu bringen.137 Mehrere Bespiele legen nahe, dass man gerade bei solch heiklen Unternehmungen auf Schwager als familiär gebundene Vertraute zurückgriff. In der Rede Gegen Olympiodoros erfahren wir von zwei Schwagern, die eine förmliche Geschäftspartnerschaft eingingen, um sich das Vermögen eines Verwandten anzueignen.138 Um 330 wurde ein gewisser Leokrates vom Politiker Lykurg mit einer Eisangelie-Klage angeklagt, weil er nach der Niederlage von Chaironeia 338 v. Chr. die Stadt verlassen habe.139 Leokrates war ein Geschäftsmann mit diversifiziertem Vermögen. Er besaß eine sklavenbetriebene Schmiede, war Steuerpächter und betrieb Handelsgeschäfte.140 Leokrates flüchtete zunächst nach Rhodos und ging dann nach Megara, wo er mehr als fünf Jahre als Metöke lebte. Während der Aufenthalt in Rhodos ursprünglich wohl nur als zeitlich begrenzte Handelsfahrt gedacht gewesen war, richtete sich Leokrates in Megara von Anfang an auf einen längeren Aufenthalt ein. Deshalb kümmerte er sich darum, sein in Athen verbliebenes Vermögen zu verflüssigen. Sein Schwager Amyntas, der Mann seiner älteren Schwester, 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Vgl. Leese 2017, 36–41. Eur. Hipp. 634–637. Demosth. 20.57. Demosth. 30.12. Humphreys 1986, 76; Cox 1998, 120–125. Vgl. Demosth. 29.3, 30, 31 und passim. [Demosth.] 48.9–11, 28. Lyk. 16 f.; rechtlich stand die Anklage auf schwachen Füßen, vgl. Engels 2008, 125–130. Lyk. 22 f., 57 f.; Lykurgs Argumente dafür, dass Leokrates nie Handel getrieben habe, sind schwach.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
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kam nach Megara, wo Leokrates ihm in Anwesenheit eines Freundes sein Wohnhaus und seine Sklaven verkaufte. Aus dem Erlös beglich Amyntas Leokrates’ Außenstände in Athen und sandte den Rest zu Leokrates in Megara. Dann verkaufte Amyntas die Sklaven an Timochares aus Acharnai, den Mann von Leokrates’ jüngerer Schwester, weiter. Weil der kein Bargeld zur Hand hatte, räumte Amyntas ihm einen verzinsten Kaufkredit ein. Der entsprechende Vertrag wurde bei einem Bankier hinterlegt.141 Die Mithilfe seiner Schwäger, die auch untereinander kooperierten, ermöglichte es Leokrates, trotz Abwesenheit und Sorge vor gerichtlicher Verfolgung seine Vermögensangelegenheiten zu regeln. Allein auf die Familienbande wollte sich allerdings niemand verlassen. Leokrates zog beim Verkauf an Amyntas einen Nicht-Verwandten als Zeugen hinzu; Amyntas wiederum hinterlegte seinen Vertrag mit Timochares bei einem Außenstehenden. Als Ankläger schildert Lykurgos diese familiäre Solidarität als kriminelle Heimlichtuerei zum Schaden der Vaterstadt.142 Die Solidarität mit einem angeheirateten Verwandten war allerdings nicht nur nicht gesetzeswidrig,143 sondern sogar moralisch gefordert. Der Redner Polyeuktos von Sphettos (übrigens ein Mann aus dem Freundeskreis des Lykurg) war 324/3 vor dem Areopag wegen Verschwörung mit dem Feind angeklagt worden, weil er Verbannte nach Megara begleitet hatte. Er wurde jedoch freigesprochen, weil er erklärte, dass zu den Verbannten auch der Ehemann seiner Mutter gehört habe. Der Areopag befand, dass nichts Schlechtes daran sei, seinen [Stief-]Vater nach Kräften zu unterstützen, selbst wenn dieser verbannt war.144 In all diesen Schilderungen erscheint die Ehefrau nur am Rande, als passives Bindeglied und Objekt männlicher Strategien, das sprichwörtlich „verkauft“ wird. Dieser Eindruck ist zum Teil der Realität geschuldet: Die Eheschließung war eine Vereinbarung zwischen dem Vormund der Braut und dem Bräutigam, keine einmütige Vereinbarung der zukünftigen Eheleute.145 Die Marginalisierung der Ehefrau bei der Kooperation der durch sie gestifteten Verschwägerung ist allerdings auch dem Charakter unserer Quellen geschuldet. Gerade weil Ehefrauen wegen der Arbeit und wegen des Kapitals, das sie ins Haus brachten, so wichtig waren, fühlten sich die Männer von ihnen ‚abhängig‘. Wegen dieser gefühlten Abhängigkeit war es wichtig, in öffentlich gehaltenen Reden keine Zweifel an der Dominanz der Hausväter zu wecken. In Florenz, wo die Existenz privater Briefe und Aufzeichnungen einen ausgewogeneren Blick erlaubt, wird die aktive Rolle der Frauen bei Erwerb und Erhalt verwandtschaftlicher Beziehungen sichtbarer, etwa bei der Anbahnung potentieller Ehen oder der Vermittlung bei Konflikten.146 Die Überlieferungslage macht es schwierig, zu prüfen, ob ähnliche 141 142 143 144 145 146
Lyk. 21–24; dazu Humphreys 2018, 182. Lyk. 76–108. Vgl. Engels 2008, 128–131. Deinarch. 1.58; vgl. DNP Bd. 10 (2001), s. v. 3), sp. 57 ( J. Engels) zur Person. Schaps 1979, 74; Pomeroy 1997, 36; Hartmann 2002, 79–84. Für Heiratsarrangements illustrativ sind die Briefe der Alessandra Strozzi, die nüchtern die Schönheit der Braut und die Höhe ihrer Mitgift gegen die Abstammung des Sohnes und seine politische
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informelle Handlungsspielräume in Athen existierten. Alexander Oikonomides hat ein stark fragmentiertes Ostrakon von der athenischen Agora als den privaten Brief einer Ehefrau interpretiert, die sich gegenüber ihren Verwandten (συγγε[νεῖς ἐμοί]) über das ehrenrührige Verhalten ihres Mannes erregt, das ihrer Abstammung / ihres Herkunftshauses (die Lesung ist unsicher) unwürdig sei.147 Oikonomides’ Interpretation ist verlockend, doch, wie er selbst zugesteht, spekulativ. Aussagekräftiger ist die Szene einer familiären Aussprache in der Rede Gegen Diogeiton. Als die Witwe des Diodotos davon hörte, dass ihr Vater Diogeiton, der ehemalige Vormund ihrer drei Kinder, diese finanziell nicht mehr unterstützen wollte, überzeugte sie ihren Schwiegersohn (den Hauptsprecher der Rede) davon, ein Treffen von Verwandten und Freunden anzuberaumen, bei dem sie ihren Vater zur Rede stellte. Sie sei es zwar nicht gewohnt, begann sie ihre Ansprache, unter Männer zu sprechen, doch die „Größe des Unglücks“ zwinge sie dazu, „ihre traurige Lage den Freunden genau darzulegen“. Der Sprecher beriet sich daraufhin zunächst mit Hegemon, dem zweiten Mann der Mutter, dann auch mit anderen Verwandten und forderte schließlich Diogeiton zu einem Treffen auf, dem dieser schließlich auf den Druck von „Freunden“ (φιλοί) hin zustimmte.148 Die Mutter aktivierte also in einem Konfliktfall einen Teil der häuslichen Verwandtschaftsbeziehungen (Schwager) gegen einen anderen (Onkel/Großvater). Lysias schildert das Verhalten der Mutter als außeralltäglich, aber nicht als transgressiv. Außeralltäglich ist dabei nicht, dass Mutter und Töchter aktive Vermittler zwischen potentiellen Verbündeten (und Feinden) sind, sondern dass sie ‚unter Männern‘ sprechen und dass der Gerichtsredner dies in einer öffentlichen Gerichtsrede wiedergibt. Die Rede Gegen Diogeiton zeigt außerdem, dass die Stellung der Frau im Haushalt eine Entwicklung durchlief. Zu Beginn ihrer Ehe, mit 15 bis 18 Jahren, war die Frau noch nicht einmal physisch erwachsen, besaß kaum praktische Erfahrung und genoss noch nicht das Vertrauen ihres Ehemanns. Zu diesem Zeitpunkt war sie am ehesten passive Mittlerfigur zwischen aktiven Hausvätern. Die Tochter des Diogeiton wurde in diesem Alter an ihren eigenen Onkel Diodotos verheiratet. Hatte sie ihrem Mann allerdings Nachkommen (am besten männliche) geboren, in der Haushaltsführung Erfahrung gesammelt und zu Nachbarn und Verwandten Vertrauensbeziehungen geknüpft, war sie – im Rahmen einer vordefinierten Rolle – eine Person, die geachtet wurde und Einfluss hatte. In diesem Alter begegnen wir der Witwe des Diodotos als Frau, die sich sogar gegen ihren Vater für die Interessen ihrer Kinder einsetzt und dabei ihre Erfahrung mit den Handelsgeschäften ihres Mannes und ihren Einfluss auf ihren zweiten Ehemann und Schwiegersohn einsetzte.
Stellung verrechnet; dazu Kent 1977, 93 f. und Najemy 2006, 231; eine Auswahl der Briefe in Gregory 1997; zu arrangierten Heiraten ebd. besonders Nr. 1, 7, 10, 23–27. 147 Agora B 10 in Oikonomides 1986, 57 f. 148 Lys. 32.11 f.
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10.2.4 Der Ehrgeiz der Mütter Ehefrauen bewahrten das Haus nicht nur durch die Arbeit und das Kapital, das sie in die Hauswirtschaft einbrachten. Als Mütter sicherten sie auch die natürliche Reproduktion des Haushalts. Obwohl die gelehrte Literatur sich auf das Verhältnis von Vätern und Söhnen konzentrierte, bleibt kein Zweifel, das Mütter ehrgeizige Hausherrinnen waren, die große Erwartungen in Bezug auf ihren Nachwuchs hegten. Euripides’ Medea spricht für sich selbst als Mutter, wenn sie angesichts des drohenden Unheils über die Ungewissheit klagt, ob die elterliche Sorge, um Erziehung und Vermögen für die Kinder erfolgreich sei. Selbst wenn die elterliche Sorge Früchte trage, könne der Tod die Kinder fortreißen.149 Die Mutter erscheint ebenso um den Fortbestand ihres Hauses und die standesgemäße Erziehung der Kinder besorgt wie der Vater Kriton bei Platon.150 Neben Reichtum und Bildung sorgte sich die Mutter auch um das Ansehen, das sich vom Haus auf die Kinder übertrug und umgekehrt. Euripides’ Phaidra hofft, dass sie ihre Kinder niemals entehre und wünscht ihnen, dass sie frei und unabhängig in Athen leben werden, „um der Mutter willen ruhmvoll“.151 Im achten Buch der Politeia erklärt Platon die Mutter zur Hauptschuldigen dafür, dass der ‚timokratische Mensch‘ zu einem „hochmütigen und ehrsüchtigen Mann“152 wird:153 „Wenn er,“ sprach ich [Sokrates], „zuerst von seiner Mutter hört, wie sie darüber klagt, dass ihr Mann nicht zu den Regierenden gehört und wie sie deshalb bei den anderen Weibern den Kürzeren zöge, und weiter, wie sie wohl sähe, dass er sich um das Vermögen keine sonderliche Mühe gäbe, noch darum stritte, und wenn er auch deshalb verhöhnt würde sowohl im Gespräch als auch vor Gericht, sondern aus dergleichen allen mache er sich wenig; und wie sie wohl merke, dass er auf sich selbst immer Bedacht nehme, sie aber halte er weder sehr in Ehren, noch vernachlässige er sie auch; über dies alles nun erbittert, sagt sie ihm, sein Vater sei doch gar zu unmännlich und schlaff und was sonst alles die Weiber bei solchen Gelegenheiten herzuleiern pflegen.“
149 Eur. Med. 1090–1115 und zuvor bereits 1029–1037; Euripides greift hier die Frage auf, ob die Kinderlosigkeit vorzuziehen sei, ein Thema des zeitgenössischen gelehrten Diskurses; vgl. Demokrits Äußerungen zum Thema, fr. B 275–278 DK 68 (= Stob. 4.24,29,31–33). 150 Vgl. Kap. 4.1.1. Kurz aber treffend zum Ehrgeiz der Mutter Krause 2003, 77 f. Ein weiteres Porträt einer stolzen und um den Status ihrer Kinder besorgten Mutter hat Euripides mit der Figur der Alkestis im gleichnamigen Stück geschaffen. 151 Eur. Hipp. 420–423: μητρὸς οὔνεκ’εὐκλεεῖς. 152 Plat. rep. 8, 550b: ὑψηλόφρων τε καὶ φιλότιμος ἀνήρ. 153 Rep. 8, 549c–d: Ὅταν, ἦν δ’ ἐγώ, πρῶτον μὲν τῆς μητρὸς ἀκούῃ ἀχθομένης ὅτι οὐ τῶν ἀρχόντων αὐτῇ ὁ ἀνήρ ἐστιν, καὶ ἐλαττουμένης διὰ ταῦτα ἐν ταῖς ἄλλαις γυναιξίν, ἔπειτα ὁρώσης μὴ σφόδρα περὶ χρήματα σπουδάζοντα μηδὲ μαχόμενον καὶ λοιδορούμενον ἰδίᾳ τε ἐν δικαστηρίοις καὶ δημοσίᾳ, ἀλλὰ ῥᾳθύμως πάντα τὰ τοιαῦτα φέροντα, καὶ ἑαυτῷ μὲν τὸν νοῦν προσέχοντα ἀεὶ αἰσθάνηται, ἑαυτὴν δὲ μήτε πάνυ τιμῶντα μήτε ἀτιμάζοντα, ἐξ ἁπάντων τούτων ἀχθομένης τε καὶ λεγούσης ὡς ἄνανδρόςτε αὐτῷ ὁ πατὴρ καὶ λίαν ἀνειμένος, καὶ ἄλλα δὴ ὅσα καὶ οἷα φιλοῦσιν αἱ γυναῖκες περὶ τῶν τοιούτων ὑμνεῖν. Übers. F. Schleiermacher.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
Mit dem letzten Satz gibt Platon seiner Schilderung die Wendung dahin, dass solche Reden eben ‚Weibergeschwätz‘ seien. Sieht man von dieser Bewertung ab, entwirft er das Bild einer standesbewussten Hausmutter, die sich mehr noch als der Hausvater um Vermögen und Ansehen sorgt und dementsprechend auf ihren Sohn einwirkt. Ansehen und Reichtum bildeten nämlich das Kapital des ganzen Hauses. In diesem Sinn ergänzt Platon, dass selbst die Haussklaven den Sohn ermutigen, das Haus entschlossener zu führen als der Vater.154 Der Ehrgeiz der Mütter setzte die Hausväter unter Druck. Das galt besonders für soziale Aufsteiger, die ihren neuen Reichtum nutzten, um eine Frau aus angesehener Familie zu heiraten. Zum Vergleich: Francesco Datini, der reich gewordene Kaufmann aus Prato, dessen Leben in Kap. 11.3 noch genauer geschildert wird, heiratete eine Tochter aus der Florentiner Familie der Gheradini, die zwar adlig, aber verarmt und politisch marginalisiert war. Den Aufstieg bezahlte er mit dem Verzicht auf eine Mitgift und mit finanzieller Unterstützung seiner armen Angeheirateten. Vor allem aber musste Datini die Gheradiname seiner Ehefrau, ihren Adelsstolz ertragen, den sie ihren sparsamen und geschäftstüchtigen Kaufmannsgatten häufig spüren ließ.155 Eine ähnliche Konstellation führt uns Aristophanes in der Eröffnungsszene der Wolken vor. Das Stück beginnt mit einem Klage-Monolog der Hauptfigur Strepsiades. Sein Sohn Pheidippides hat sich ganz den ‚aristokratischen‘ Beschäftigungen Pferdehaltung und Wagenrennen verschrieben. Deshalb verschuldet sich sein Vater, um die Pferde und ihre Ausrüstung und Verpflegung zu bezahlen und fürchtet sich nun vor den Gerichtsklagen der Gläubiger.156 Warum fühlt sich Strepsiades genötigt, sich zu verschulden, um seinem Sohn einen solchen Lebensstil zu finanzieren? Der Grund sind die Ansprüche seiner Ehefrau, der Mutter des Sohns:157 Verdammte Kupplerin, die mich beschwatzt, Dass ich zum Weibe deine Mutter nahm! Das schönste Leben hatt’ ich auf dem Lande: Auf fauler Haut und recht im Speck und Dreck, 154 155 156
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Rep. 8, 550e. Origo [1957] 1993, 38–40, 163 f. Aristoph. Nub. 9–37; Pferdezucht galt als Kennzeichen für die Zugehörigkeit zur adligen Oberschicht, vgl. Aristot. pol. 4, 1289 b 34–40; Isokr. 7.45; Plat. apol. 36e; Xen. equ. 2.1, Kyr. 4.3,12; Wettkampfsiege mit Pferden begründeten den Ruhm manch einer Familie, vgl. Lys. 19.63, Plat. Lys. 205c–d; die Alkmaioniden, das Geschlecht, in das Strepsiades eingeheiratet hat, waren berühmt für Pferdehaltung und hippische Siege und betonte sie in der öffentlichen Selbstdarstellung, vgl. Hdt. 6.125, 5; Pind. P. 7, insbesondere vv.2–4 und Thuk. 6.12–16. Nub. 41–52: εἴθ᾽ ὤφελ᾽ ἡ προμνήστρι᾽ ἀπολέσθαι κακῶς, | ἥτις με γῆμ᾽ ἐπῆρε τὴν σὴν μητέρα: ἐμοὶ γὰρ ἦν ἄγροικος ἥδιστος βίος | εὐρωτιῶν, ἀκόρητος, εἰκῇ κείμενος, | βρύων μελίτταις καὶ προβάτοις καὶ στεμφύλοις. | ἔπειτ᾽ ἔγημα Μεγακλέους τοῦ Μεγακλέους | ἀδελφιδῆν ἄγροικος ὢν ἐξ ἄστεως, | σεμνὴν τρυφῶσαν ἐγκεκοισυρωμένην. | ταύτην ὅτ᾽ ἐγάμουν, συγκατεκλινόμην ἐγὼ | ὄζων τρυγὸς τρασιᾶς ἐρίων περιουσίας, | ἡ δ᾽ αὖ μύρου κρόκου καταγλωττισμάτων, | δαπάνης λαφυγμοῦ Κωλιάδος Γενετυλλίδος. Übers. L. Seeger.
10.2 Die Rolle der Ehefrau als Hausherrin
363
Behaglich unter Honig, Woll’ und Trestern! Da nahm ich, Bauer (ἄγροικος), aus dem Haus Megakles Megakles’ Nichte, städtisch (ἐξ ἄστεως) üppig, stolz Und flott, echt koisyrisch (σεμνὴν τρυφῶσαν ἐγκεκοισυρωμένην). Als ich mit der das Hochzeitsbett bestieg, Roch ich nach Hefe, Käs und schmutz’ger Wolle, Sie nach Pomade, Schmink und Zungenküßchen, Verschwendung, Schlemmerei und Aphrodite.
Der Aufsteiger ist hier kein Kaufmann, sondern ein wohlhabender Bauer aus Attika. Der Bauer Strepsiades – so die komödiantische Übertreibung – hat in das berühmte Geschlecht der Alkmaioniden eingeheiratet.158 Den sozialen Aufstieg muss Strepsiades – dessen kleinliche Sparsamkeit Aristophanes nebenbei vorführt159 – nun teuer bezahlen. Wie Datini, der seiner Frau Gheradiname vorhält, benutzt Aristophanes den Familiennamen, um den Standesanspruch auf den Punkt zu bringen. Strepsiades’ Ehefrau ist koisyrisch, d. h. sie kommt nach ihrer Großmutter väterlicherseits, die für ihren Reichtum und Hochmut sprichwörtlich wurde.160 Der Name ihres Kindes ist Sinnbild der Mesalliance. Pheidippides, der „Pferdegeizhals“, ist ein Oxymoron: Man kann nicht zugleich sparen und Pferde halten.161 Das Oxymoron ist Ausdruck der unvereinbaren Erwartungen über die Prioritäten des Sohns: Der Vater hatte gehofft, der Sohn werde wie er selbst Vieh an den Berghängen Attikas hüten, die adlige Mutter erwartet hingegen, dass er wie ihr Vorfahre Megakles als Sieger im Wagenrennen geehrt werde.162 Statt dass der Mann das Haus regiert und die Ehefrau ihm helfend zur Seite steht, gibt die Ehefrau den Ton an und er gehorcht. Anstatt dass die Ehefrau das häusliche Vermögen vermehrt und bewahrt, fördert sie seine Verschwendung. Der Sohn führt das väterliche Haus nicht fort, er vernichtet es. Aristophanes’ Urteil entsprach einer alten und weitverbreiteten Ablehnung der Hypergamie in Griechenland. Die Frau, die aus reicherer oder edlerer Familie stammte, war gefährlich wegen ihrer Ansprüche.163
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Sommerstein 1984, 161. Aristoph. Nub. 56–59: Er füllt die Lampe mit zu wenig Öl und behauptet zugleich, der Docht sei zu dick, d. h. verbrauche zu viel Öl. 160 Sommerstein 1984, 161. 161 Aristoph. Nub. 61–64; Sommerstein 1984, 162 sieht keine besondere aristokratische Tönung des Namens, weist allerdings darauf hin, dass der Name Xanthippos, den Vater und Sohn des Perikles trugen, „a strong aristocratic flavour“ hatte; das gilt auch für Charippos und Kallippides; sie lassen sich zwar nicht mit historischen Personen verknüpfen, doch enthalten typisch ‚adlige‘ Attribute: charis, ‚Anmut‘, und kallos, ‚Schönheit‘; dass Namen mit der Endung -ippos „common among all classes“ waren, spricht nicht gegen ihren aristokratischen Beiklang. 162 Aristoph. Nub. 65–70; 135 wird der Großvater als Pheidon bezeichnet; dazu Sommerstein 1984, 163; gemeint ist womöglich Megakles’ Sieg im Wagenrennen in Olympia 436, der vielleicht noch frisch im Gedächtnis war. 163 Wilgaux 2010, 350–353; Roubineau 2015, 228–231; vgl. Kap. 10.2.2.
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10 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der Eheleute
Mütter nahmen nicht nur hinter verschlossenen Türen Einfluss auf die Laufbahn ihrer Söhne. Im Ernstfall vertraten sie ihre Ansprüche sogar jenseits des eigenen Haus. Die Witwe des Diodotos mobilisierte ihre Verwandtschaftsbeziehungen, ihre hauswirtschaftliche Erfahrung und offenbar auch ihr dramaturgisches Geschick, als sie erfuhr, dass ihr Vater Diogeiton die Unterstützung ihrer drei Kinder beenden wollte. Ihre in Kap. 10.2.1 beschriebene Aussprache im Kreis von Verwandten und Freunden schloss sie mit einer Moralpredigt über familiäre Pflichten ab. Sie warf ihrem Vater vor, seine eigenen „Töchtersöhne“ „in ihren abgetragenen Kleidern, ohne Schuhe, ohne einen Dienstboten, ohne Bettzeug, ohne Wäsche und Mäntel, ohne den Hausrat, den ihr Vater ihnen hinterlassen hatte, ohne das Vermögen, das er bei ihm hinterlegte“, aus dem Haus geworfen zu haben. Für ihre Halbgeschwister, seine Kinder aus zweiter Ehe, sorge er, während er die Kinder seiner Tochter „aus dem Haus geworfen und entehrt, und von Reichen zu Bettlern verwandelt habe“.164 Der „Herauswurf aus dem Haus“ hat doppelte Bedeutung: der Raub der Heimstätte und das Aufkündigen familiärer Solidarität im ‚ganzen Haus‘. Diese Worte hätten eine dermaßen erschütternde Wirkung auf die Anwesenden gehabt, berichtet der Redner weiter, „dass keiner von uns Anwesenden einen Ton hervorbrachte, sondern wir alle unter bitteren Tränen – nicht weniger weinend als die Betroffenen – und still weggingen.“165 Lysias verstand sein Handwerk. Die Wiedergabe der direkten Rede einer Frau – die vor Gericht sonst nicht zu hören war – und die Schilderung von Tränen und Entsetzen verleihen der Szene Dramatik. Die Tochter übertrifft den eigenen Vater an Vorbildlichkeit: Während er gleichzeitig seine Pflichten als Bruder, Vater, Großvater und Onkel verletzt,166 tritt sie für das Wohl ihrer Kinder und das Andenken ihres verstorbenen Ehemanns ein. Sie beaufsichtigt die Geldangelegenheiten ihres Mannes, kämpft um das Vermögen seiner Söhne und verlangt für diese eine standesgemäße Lebenshaltung. Sie ist die vorbildliche Ehefrau und ehrgeizige Mutter, die unbedingte Bewahrerin des Haushalts selbst gegen den eigenen Vater.
164 Lys. 32.16 f.: οὓς ἀτίμους ἐκ τῆς οἰκίας ἐκβαλὼν ἀντὶ πλουσίων πτωχούς […]. 165 Lys. 32.18: μηδένα τῶν παρόντων δύνασθαι φθέγξασθαι, ἀλλὰ καὶ δακρύοντας μὴ ἧττον τῶν πεπονθότων ἀπιόντας οἴχεσθαι σιωπῇ. Carey 1989, 218 f. weist darauf hin, dass es unwahrscheinlich ist, dass Diogeiton auf diese Anschuldigungen nicht antwortete; dass die Antwort fehlt, erklärt er damit, dass ihre Einfügung den emotionalen Effekt der Darstellung geschwächt hätte; nicht auszuschließen ist, dass die Verwandten auch deshalb schwiegen, weil sie in der Situation (noch?) nicht Partei ergreifen wollten; in diesem Fall wäre die Schilderung ein geschicktes Mittel, um das Schweigen der Zuhörer, das sich auch als Zweifel/Ablehnung der Vorwürfe der Mutter deuten ließe, als Zustimmung zu deuten. 166 Die Rede betont diese Vervielfachung seiner Rolle, Lys. 32.12: ἀδελφὸς μὲν ὢν τοῦ πατρὸς αὐτῶν, πατὴρ δ’ ἐμός, θεῖος δὲ αὐτοῖς καὶ πάππος.
11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten Die wirtschaftliche Kooperation von Eltern und Kindern und von Geschwistern weit über die Zeit der Minderjährigkeit hinaus ist eines der wichtigsten Strukturelemente der griechischen Hauswirtschaft. Belege dafür sind die attischen Gerichtsreden und die neue Komödie, Ehrendekrete und Bleibriefe. In der literarischen Ökonomik taucht das Thema allerdings nur peripher auf. Der Grund für die Auslassung ist nicht die Unterschätzung der verwandtschaftlichen Beziehungen und der altersspezifischen Arbeitsteilung. Im Gegenteil. Die Gelehrten gliederten die Erziehung der Söhne gerade deshalb aus der Ökonomik aus, weil sie ihnen eigene Behandlungen widmeten. Ein weiterer Grund ist, dass die Gelehrten den Haushalt als Herrschaftsverband im engeren Sinn entwarfen. In diesem Modell ließ sich die Kooperation im Rahmen des erweiterten Haushalts nicht abbilden, weil die volljährigen Brüder und Söhne nicht mehr der väterlichen Herrschaft unterworfen waren. Diese Art der Kooperation wurde deshalb im Rahmen der allgemeinen Ethik behandelt.1 Der gedankliche Bezug zum ‚ganzen Haus‘ und seiner Wirtschaft blieb jedoch erhalten. 11.1 Die Kooperation von Vätern und Söhnen Die literarisch am meisten behandelte Verwandtschaftsbeziehung ist diejenige von Vater und Sohn. Sie waren im Idealfall enge Verbündete und sollten es sein, denn der Sohn führte den väterlichen Haushalt materiell und symbolisch fort.2 Das drückte sich im Namen und im Grabkult für den verstorbenen Vater aus.3 Dem Vater – und der 1 2 3
Bei Xenophon v. a. in Kyrupädie und Memorabilien, außerdem im Symposion; bei Aristoteles in Politik VII und VIII (Erziehung der Söhne) und in den Ethiken. Cox 1998, 77–92; Krause 2003, 75–77; vgl. Schmitz 2007, 35 f.; Timmer 2008, 154–167; vgl. Strauss 1993 zum athenischen Diskurs über das Vater-Sohn-Verhältnis und Generationenkonflikte; vgl. Wagner-Hasel 2012, 122–128. Vgl. [Demosth.] 40.47 und Xen. mem. 2.2,13 zum Gedenken an die verstorbenen Eltern; der Grabkult insbesondere wird als Grund für Adoption angegeben, etwa Is. 2.10, 9.7; 7.30 heißt es, alle Menschen trügen Sorge, „dass das das eigene Haus nicht veröde“ (μὴ ἐξερημώσουσι τοὺς σφετέρους
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Mutter – Respekt und Gehorsam zu erweisen, galt als unbedingte Pflicht.4 Spiegelbildlich hatte der Vater die Pflicht, seinen Söhnen ein hinreichendes Erbe zu hinterlassen. Dazu gehörten materielle Güter, aber auch eine standesgemäße Ausbildung und ein guter Ruf.5 Handwerker brachten ihren Söhnen ihr Handwerk bei, Reiche bezahlten die Ausbildung beim Sophisten.6 Im Dialog Euthydemos stellt Platon Kriton als Vater vor, der für seine Kinder größten Aufwand treibt. Er habe bereits für eine Mutter von bester Abstammung und ein großes Vermögen gesorgt; nun fehle noch die richtige Bildung (paideia), die der Unterricht beim Philosophen bringen soll.7 Der Bedeutung der Erziehung für den Fortbestand des Haushalts widmet sich Platon wiederholt. Im Laches hebt er die „Voraussicht“ (προμήθια) hervor, mit der die Erziehung der Söhne geplant sein müsse: „Denn je nachdem ob die Söhne tüchtig geraten oder ob das Gegenteil, wird auch das ganze Haus des Vaters so verwaltet werden, wie die Söhne geraten sind.“8 Im bäuerlichen Haushalt bedeutete altersspezifische Zusammenarbeit, dass die Kinder auf dem Hof mithalfen und dabei mit Arbeiten einstiegen, die wenig Kraft und Erfahrung erforderten, aber Zeit kosteten. Die Mitarbeit der Kinder war auch in kleinen städtischen Haushalten wichtig, die von Lohnarbeit und Kleingewerbe lebten.9 Ein Gerichtsredner suchte Anfang des 4. Jhs. Mitleid zu heischen, indem er darauf ver-
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αὐτῶν οἴκους); Wyse 1904, 575 erinnert daran, dass es durchaus Ausnahmen von diesem vom Redner zur universalen Regel stilisierten Verhalten gab. Z. B. Isokr. 7.49; 14.48; Is. 8.32; Demosth. 39.33; Men. Sam. 697–709; mit besonderer Betonung der moralischen Pflicht der Ehrerbietung, Plat. leg. 4, 716d–718a; 11, 930e–932a; Aristot. eth. Nic. 8, 1163 b 12–28; weitere Belege bei Dover 1974, 273–275; vgl. Millett 1991, 132–134 für Kinder als ‚Schuldner‘ ihrer Eltern. Vgl. das solonische Gesetz, das den Sohn von der Pflicht, den Vater im Alter zu ernähren, enthob, wenn dieser ihn kein Gewerbe gelehrt oder ihn als Kind prostituiert hatte, Sol. fr. 55 und 56 West mit den Kommentaren von Ruschenbusch [1966] 2010, 122–124 und Leão/Rhodes 2015, 95–97, die das Gesetz für authentisch halten; selbst wenn es nicht solonisch ist, entsprach es einer in klassischer Zeit geltenden Norm reziproker Solidarität; vgl. die Verballhornung des Gesetzes bei Aristoph. Av. 1353–1357 und Fialho 2010 für die Tragödie. Xen. mem. 2.2,6; die Kinder reicher Leute als Schüler von Philosophen und Sophisten: Plat. apol. 23c–d, Diog. Laert. 6.67, 78 f., Philostr. soph. 1.12; vgl. den Ausspruch des Kynikers Diogenes: τὴν παιδείαν […] τοῖς δὲ πένησι πλοῦτον, τοῖς δὲ πλουσίοις κόσμον εἶναι, Diog. Laert. 6.68; Demosth. 18.257–265 kontrastiert praktische und edle Bildung in polemischer Absicht; zum Handwerk s. u. Anm. 11. Plat. Euthyd. 306d–e. Lach. 185a: ὑέων γάρ που ἢ χρηστῶν ἢ τἀναντία γενομένων καὶ πᾶς ὁ οἶκος ὁ τοῦ πατρὸς οὕτως οἰκήσεται, ὁποῖοι ἄν τινες οἱ παῖδες γένωνται; zum Thema Erziehung im Laches vgl. Brasi 2013; vgl. Prot. 313a–b: bevor sich der junge Mann dem Unterricht eines ‚Sophisten‘ anvertraut, soll er den Rat von Freunden und Verwandten einholen. Vgl. Fischer 2012; Golden [1990] 2015, 28–31; Plat. rep. 7, 540e–541a: Mitarbeit der Kinder auf dem Feld; Lys. 20.11 f.; Demosth. 18.127–131, 257–265 und 19.199–201, 249: Kinderarbeit als Invektive gegen ‚arme, ungebildete‘ Personen; weitere Belege in Kap. 11.3.4, Anm. 251.
11.1 Die Kooperation von Vätern und Söhnen
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wies, dass er keine Kinder habe, die ihm bei seinem Gewerbe helfen könnten.10 Bei der Mithilfe im häuslichen Betrieb lernten die Söhne das Handwerk ihres Vaters von klein auf durch praktische Anschauung.11 Fachkönnen (technē) war das wertvollste Kapital eines Handwerkerhaushalts, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.12 In der ersten Hälfte des 4. Jhs. stellten der Schuster Dionysios und seine „Kinder“ (παῖδες) ein Weihgeschenk für den Heros Kallistephanos und dessen Söhne auf (die agnatische Familie wird also doppelt betont) und wünschten sich vom Heros als Gegengabe „Reichtum und glückliche Gesundheit“.13 Das dazugehörige Relief zeigt vier Männer unterschiedlichen Alters, offenbar drei Generationen (ein Alter, zwei erwachsene Männer, ein kleines Kind), bei der Arbeit in einer Schusterwerkstatt (Abb. 1). Das Weihgeschenk wurde vom Vater und seinen Söhnen geweiht; das zeigt, dass das ‚ganze Haus‘ des Dionysios auch nach der Volljährigkeit seiner Söhne eine Einheit geblieben war, dessen familiäre Kontinuität und Fachkunst man stolz präsentierte.14 In Städten wie Argos, Sikyon, Athen, Paros oder Theben, wo natürliche Ressourcen und Verkehrsanbindung günstige Bedingungen für Handwerker schufen, entstanden regelrechte Kunsthandwerker-‚Dynastien‘.15 Auch in anderen Berufen mit Spezialwissen folgten Söhne oder Neffen nicht selten ihren Vätern und Onkeln, etwa in der Bühnendichtung oder der Medizin.16 Seit dem Ende des 5. Jhs. begannen Fachleute zunehmend, ihr Fachwissen zu Geld zu machen, indem sie Nichtverwandte als Schüler und Lehrlinge aufnahmen.17 Der hippokratische Eid gibt diese Situation wieder. Gleich sein erster Artikel verpflichtet den Schwörenden dazu, denjenigen, der ihn die Heilkunst gelehrt hat, „gleich seinen Eltern“ zu achten und, falls nötig, zu versorgen und dessen Nachkommen die Heilkunst „gleich seinen Brüdern“ zu lehren. An den Vorlesungen des Schwörenden dürfen die eigenen Söhne, die Söhne seines Lehrers und „die vertraglich verpflichteten und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler“
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Lys. 24.6; sein Gewerbe verrät der Sprecher verdächtigerweise nicht; seine Situation war also vielleicht weniger aussichtslos, als er sie schildert; zur Rede vgl. Canevaro 2017, 43–48. Meissner 1999, 131–134; Fischer 2012, 116; vgl. Plat. Prot. 328a; leg. 1, 643b–c; rep. 4, 431e und 5, 467a; ähnlich Diog. Laert. 6.70; vgl. Xen. apol. 28. Lacey 1968, 72; Burford [1972] 1985, 98–104. SEG 55.307 (= Agora I. 7396), 8–10: σὺ δὲ τούτων | ἀντιδίδου πλοῦτόν τε | καὶ εὐαίων᾽ ὑγίειαν. Zu Relief und Inschrift vgl. Löhr 2000, Nr. 81, ad loc.; Camp 2004; Taylor 2017, 1–3; dass die Söhne volljährig und geschäftsfähig waren, ergibt sich daraus, dass sie als gleichberechtigte (wenn auch ungenannte) Mitstifter mit kai + Nominativ genannt werden anstatt mit einer Formulierung wie hyper + Genitiv. Vgl. Burford [1972] 1985, 98–104 für Beispiele aus Argos, Athen, Paros, Ephesos und Sikyon; ergänzen lassen sich Aristeides aus Theben und seine Nachkommen, Plin. nat. 35.108–110; zu Athen vgl. Humphreys 2018, 174 f. Pomeroy 1997, 141–160; die athenischen Belege bei Humphreys 2018, 171–174. Plat. Prot. 311b–c; die antike Überlieferung hat vor allem die exorbitanten Ausbildungspreise der herausragenden Künstler bewahrt, vgl. Plin. nat. 35.76 f. für den Maler Pamphilos und Plut. Demosthenes 5.4 für das Honorar des Redelehrers Isokrates.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Abb. 1 Bildrelief der Weihung des Dionysios, ca. 375–350 v. Chr. (© American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations)
teilnehmen.18 Die Ausdehnung des Lehrer-Schülerverhältnisses auf Nichtverwandte wird hier als regulierungsbedürftige Entwicklung gesehen, die dabei neugeknüpften Bindungen werden den familiären Beziehungen nachgebildet.19 Das Schwanken zwischen familiärer Tradition und lockenden außerfamiliären Alternativen spiegelt sich in mehreren Orakelanfragen aus Dodona. Immer wieder wird dort gefragt, ob man das väterliche Gewerbe fortführen soll oder nicht.20 Ein gewisser Phaikylos, der vielleicht aus Korkyra stammte, fragt z. B. im 4. Jh., ob es ihm besser ergehen werde, wenn er sich im „väterlichen Gewerbe betätige“ (τἂμ πατρῶιαν τέχναν ἐργάζεσθαι), nämlich der Fischerei.21 Die Fortführung des väterlichen Gewerbes war also keine Selbstverständlichkeit mehr. Doch wog die Familientradition schwer genug, um eine Orakel-Befragung zu fordern.
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Hipp. Jusj. Vgl. Humphreys 2018, 171 f. zum prosopographischen Befund für Athen; vgl. Meissner 1999, 125–130 zur Ausbildung von Ärzten, ebd. 125 f.: „Prinzipiell blieb der Rahmen ärztlicher Ausbildung das Haus, die Familie des Arztes.“ Vgl. DVC 576B, 1215B, 1239A, 1394; 2077B, 2102, 2114A, 3147B, 3453B, 4048A. DVC 1394 (= Lhôte 83); meine Deutung folgt Roubineau 2015, 298.
11.1 Die Kooperation von Vätern und Söhnen
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Die Kooperation zwischen Vater und Sohn war auch im Geldgeschäft typisch. Der Vater stattete den Sohn mit Startkapital aus, das aus seinem Vermögen bestand, aber auch seinem guten Namen.22 Ein gewisser Mantitheos und sein Vater Mantias liehen sich Mitte des 4. Jhs. 2.000 Dr. zum Kauf einer Silbermine. Mantitheos betrieb die Mine nach dem Tod seines Vaters weiter, nun zusammen mit seinen beiden Halbbrüdern Boiotos und Pamphilos.23 Ein ähnliches Geschäft dokumentiert ein als Inschrift erhaltener Vertrag über die Verpachtung von öffentlichem Grundbesitz aus dem Jahr 345/4. Autokles und sein Sohn Auteas pachteten das Stück Land in ihrer Heimatdeme Aixone für die beachtliche Laufzeit von vierzig Jahren.24 Die Länge der Laufzeit lässt vermuten, dass Vater und Sohn gemeinsam als Pächter zeichneten, damit das offenbar wertvolle Grundstück auch nach dem Tod des Vaters ihrem Haus für lange Zeit erhalten blieb. Wenn lokaler Einfluss und Ansehen die Chancen eines Zuschlags bei der Verpachtung erheblich erhöhten, wie Robin Osborne festgestellt hat,25 dann ist anzunehmen, dass dem Vater die Aufgabe zukam, sein bereits erworbenes soziales und symbolisches Kapital einzubringen, um seinem noch jungen Sohn ein attraktives Stück Pachtland zu sichern. Eine weitere Inschrift der Deme Aixone stützt diese Interpretation. Sie verzeichnet eine Ehrung des Sohns Auteas für eine glanzvolle Choregie im Jahr 313/2.26 Angesichts der damaligen Lebenserwartung wird der Vater zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben sein. Sein Sohn aber, nun selbst im vorgerückten Alter, war wohl noch immer im Besitz des Landes, das sie mehr als dreißig Jahre früher zusammen gepachtet hatten. Dass Auteas für die Ausrichtung einer lokalen Choregie geehrt wird, bekräftigt die Vermutung, dass seine Familie von lokaler Prominenz war; sie zeigt zugleich, wie über zwei Generationen hinweg ökonomisches in symbolisches Kapital konvertiert wurde – und wieder zurück. Eine Gerichtsrede hebt die wirtschaftlichen Vorteile einer gemeinsamen Bewirtschaftung des Vermögens durch Vater und Sohn hervor: Das ungeteilte Vermögen des Atheners Euktemon und seines Sohns Philktemon sei so groß gewesen, „dass sie beide die teuersten Liturgien aus den Einkünften begleichen konnten, ohne das Stammkapital ausgeben zu müssen, so dass sie immer reicher wurden“.27 Die Vermögenspartnerschaft zwischen Polyeuktos und seinem Adoptivsohn Leokrates scheiterte hingegen.
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Das athenische Material der Gerichtsreden und Inschriften gesammelt und kommentiert bei Humphreys 2018, 150–155. [Demosth.] 40.52; dazu Humphreys 2018, 153. IG II2 2492, 1–4; dazu Humphreys 2018, 153; vgl. PAA 238325, 239025 (= 239030). Osborne 1988, 289–292; anders Shipton 2000, 39–49 und 2001, 139–142. SEG 36.186. Zu dieser Ehrung und zum wahrscheinlichen Familienhintergrund von Auteas vgl. Whitehead 1986, 235–241. Is. 6.38: οὕτω πολλὴν οὐσίαν ἐκέκτητο Εὐκτήμων μετὰ τοῦ ὑέος Φιλοκτήμονος, ὥστε ἅμα τά τε μέγιστα ὑμῖν λῃτουργεῖν ἀμφοτέρους τῶν τε ἀρχαίων μηδὲν πραθῆναι τῶν τε προσόδων περιποιεῖν, ὥστε ἀεί τι προσκτᾶσθαι.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Daraufhin wurde das Vermögen samt eingebrachter Gewinne nach dem gleichen Verfahren aufgelöst wie jede andere Geschäftspartnerschaft.28 Die Rolle als Juniorpartner verschaffte dem Sohn nicht nur Kapital, sondern auch Zugang zum Kreis der Vertrauten des Vaters. Der Florentiner Paolo da Certaldo empfiehlt ein auswärtiges Handelsgeschäft unter Aufsicht eines befreundeten Geschäftspartners, um einem erfolglosen Sohn auf die Sprünge zu helfen.29 In der neuen Komödie wird die Rückkehr des Sohns von einer Handelsfahrt zu einem regelrechten Standardplot (dazu noch Kap. 11.3.1). Das zeigen die Plots einiger plautinischer Bearbeitungen (Bacchides, Casina, Mercator) und eine Reihe von Fragmenten der Originalstücke. In einem Fragment von Menanders Schiffseigner (Nauklēros) wird einem Vater die Nachricht überbracht, dass sein Sohn „aus der Ägäis“ zurückgekehrt sei, auf einem Schiff des Vaters mit dem Namen „Goldener Kantharos“.30 Mehrere Indizien sprechen dafür, dass es sich um einen Sohn handelt, der auf Handelsfahrt ausgeschickt wurde und nun erfolgreich zurückkehrt.31 In Menanders Doppelte Täuschung (Dis exapatōn) hat ein Athener seinen Sohn nach Ephesos geschickt, um ein fälliges Darlehen von einem Gastfreund einzuholen. Er ist höchst erfreut, als der Sohn erfolgreich zurückkehrt und ihm von der Verlässlichkeit ihres „nützlichen Gastfreunds“ (χρηστῶι ξένωι) berichtet.32 Dass ein solcher Auftrag der Einstieg des Sohns ins Geschäftsleben war, suggeriert auch das Fragment einer Antiphon-Rede des Jahres 418/7. Darin wirft Antiphon Alkibiades vor, dieser sei mit Beginn seiner Volljährigkeit nach Abydos gereist; allerdings nicht, um dort einen Kredit einzutreiben oder als Proxenos zu wirken – offenbar gewöhnliche Gründe für eine solche Reise –, sondern um sich von den Frauen der Stadt in Ausschweifungen unterrichten zu lassen.33 Normale Athener, suggeriert Antiphon, brachen mit Beginn ihrer Geschäftsfähigkeit eben nicht zum unsittlichen Vergnügen, sondern für Geschäfte in die Ferne auf.
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Demosth. 41.4. Nr. 150, Ed. V. Branca (1986). Men. fr. 246 PCG (= Athen. 11.474b–c). Menanders Bauern (Geōrgoi) baut seinen Plot ebenfalls um den erfolgreich zurückkehrenden Sohn herum auf, vgl. Men. Georg. 1–20; der Titel des Stücks („Schiffseigner“) ist ebenso aufschlussreich wie ein weiteres Fragment daraus, indem es heißt, es sei gerecht, wenn ein Sohn, der sein väterliches Vermögen verschwendet und sein Land „aufisst“, nun Seehandel treiben müsse, Men. fr. 247 PCG (= Athen. 4.166b–c); vielleicht ist also der Sohn der nauklēros des Titels; der Name des Schiffs, „Kantharos“ („Käfer“), ist zugleich die Bezeichnung für einen bestimmten Schiffstyp, vielleicht ein kleines, gerudertes Handelsschiff mit rundem Bug, vgl. Casson 1971, 343. Men. Dis ex. 47–57; der Kontext der Fragmente lässt sich aus Plautus’ Bearbeitung, den Bacchides, erschließen; bei Plautus erklärt der Vater, er habe gehofft, als alter Mann „dem See-Leben“ (uita marituma) entkommen zu sein, weil sein Sohn dies nun erledige, Bacch. 342 f.; das entspricht ganz dem hier beschriebenen Konzept der altersspezifischen Arbeitsteilung in Griechenland; es ist allerdings unsicher, ob diese Verse auch schon bei Menander standen. Antiph. Fr. C 1 (= Athen. 12.525b); vgl. Lys. fr. 8 Carey (= Athen. 12.534f).
11.1 Die Kooperation von Vätern und Söhnen
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Genau dies tat ein junger Mann aus dem bosporanischen Reich laut seiner eigenen Schilderung vor einem athenischen Gericht im Jahr 393. Er, Sohn des Sopaios, einem einflussreichen Vertrauten von König Satyros (I.), wollte „in die Fremde gehen“ (ἀποδημῆσαι), weil er Berichte über Athen und die anderen Griechen gehört habe. Sein Vater gab ihm deshalb zwei Schiffe mit Getreide und Geld und sandte ihn aus, „um Handel zu treiben und die Welt zu sehen“ (κατ᾽ ἐμπορίαν καὶ κατὰ θεωρίαν).34 Es ging also nicht nur darum, die väterlichen Geschäfte zu fördern, es sollten auch eigene Erfahrungen gesammelt werden. Die Rolle des Vaters beschränkte sich nicht auf die Ausstattung des Sohns mit Schiffen, Geld und Handelswaren. Der Verweis auf dessen herausgehobene Stellung gleich zu Beginn und am Schluss der Rede35 verrät die Hoffnung seines Sohnes, auch vom Ansehen des Vaters zu profitieren. Mehrere Proxenie-Dekrete des 4. Jhs. aus Olbia zeigen, dass man es zumindest in den Handelsstädten des Schwarzmeergebiets für allgemein üblich hielt, dass Söhne von der Stellung ihres Vaters profitierten, während umgekehrt die Väter ihre Söhne als Mitarbeiter einsetzten. Bei vier der besser erhaltenen Dekrete an Männer aus Athen, Istros und Mesembria wird die Steuerfreiheit (ateleia) für ein- und ausgeführte Waren ausdrücklich auf die Söhne ausgedehnt, in fünf weiteren Fällen ist aufgrund des sehr ähnlichen Formulars denkbar, dass diese Formulierung im verlorenen Teil der Inschrift stand.36 In dem vollständig erhaltenen Dekret für den Mesembrier (um 375– 350) lautet der entscheidende Passus:37 ἀτέλειαν πάντων χρημάτων ὧν ἂν αὐτὸς εἰσάγηι ἢ ἐξάγηι, ἢ παῖδες, ἢ ἀδελφοὶ οἷς κοινὰ τὰ πατρῶια, ἢ θεράπων. Steuerfreiheit für alle Waren, wenn er sie selbst ein- oder ausführt oder seine Kinder oder seine Brüder, die das väterliche Vermögen gemeinsam besitzen, oder ein Diener.
Die Wichtigkeit dieses Handelsprivilegs lässt sich daraus schließen, dass die Steuerfreiheit bei „Einfuhr und Ausfuhr“ (eisagēi kai exagēi) zusätzlich zur bereits zuvor aufgeführten freien „Ein- und Ausfahrt“ (εἴσπλουν καὶ ἔκπλουν)38 genannt und um die zitierte Spezifizierung ergänzt wird. Während das Dekret die verliehenen Privilegien allgemein auf die „Nachfahren“ (ἐκγόνοις) ausdehnt,39 ist in der Spezifizierung der
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Isokr. 17.3 f. § 57 f. I. Olbia 5 (= I. dial. Olbia Pont 21); I. Olbia 6 (= I. dial. Olbia Pont 20); I. Olbia 15; I. dial. Olbia Pont 15; denkbar ist eine entsprechende Ergänzung bei I. Olbia 3 (= I. dial. Olbia Pont 16), 4 (= I. dial. Olbia Pont 17), 8 (Novikov 1985, 19 f. (= SEG 35.863) ergänzt paides) und 9 (= I. dial. Olbia Pont 18) und I. Olbia 14. I. dial. Olbia Pont 15, 7–12; ebenfalls vollständig in I. Olbia 5 (= I. dial. Olbia Pont 21), 9–14 und mit einiger Sicherheit rekonstruierbar in I. Olbia 7 (= I. dial. Olbia. Pont 19), 7–12. I. dial. Olbia Pont 15, 13. I. dial. Olbia Pont 15, 5 f.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Atelie speziell von paides die Rede. Es geht also nicht um die Sicherung der errungenen Privilegien für nachfolgende Generationen, sondern darum, dass die Söhne zu Lebzeiten des Vaters als dessen Stellvertreter die Privilegien ihres Hauses in Anspruch nehmen konnten. Neben dem Vater kam der männlichen patrilinearen Verwandtschaft besondere Bedeutung zu. Brüder kooperierten miteinander und der Onkel war für seine Neffen eine Respektsperson.40 Diese Vertrauensbeziehung machte den Onkel nicht nur zum typischen Vormund,41 sondern gelegentlich auch zum geeigneten Seniorpartner. Demosthenes der Ältere (I) setzte Demophon, den einen Sohn seines Bruders Demon (I), als Vormund seiner Kinder ein, dem anderen, Demomeles, gab er ein Darlehen.42 Die Geschäfte innerhalb des Familienkreises setzten sich in den nächsten Generationen fort. Als Demon (II), der Sohn des Demomeles, bei einem Seehandelsgeschäft in Rechtsstreitigkeiten geriet, verließ er sich auf die Hilfe von Demosthenes dem Jüngeren (II), seinem angesehenen Onkel zweiten Grades. Dass seine Gegner diesen Schachzug antizipierten, spricht dafür, dass eine derartige Kooperation nicht untypisch war.43 Wenn der berühmte Feldherr Konon seinen Neffen als Gesamtverwalter seines Besitzes auf Zypern einsetzte und ihn dafür mit einer testamentarischen Schenkung von 10.000 Dr. bedachte, so sind daran nur Größenordnung und politische Dimension außergewöhnlich.44 Ansonsten zeigt der Fall genau wie die Kooperationen im Fernhandel, wie die familiären Vertrauensbeziehungen es ermöglichten, den Haushalt über die Grenzen der Heimatstadt hinaus auszudehnen.
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42 43 44
Vgl. Aristot. eth. Nic. 8, 1161 b 33–1162 a 16 zur Freundschaft unter patrilinearen Verwandten und Is. 11.2, 11 zu ihrer erbrechtlichen Privilegierung in Athen. Vgl. Humphreys 2018, 96–100 für Norm und Praxis in Athen; Demosthenes d. Ä. setzte nicht seinen Bruder Demon, sondern dessen Sohn Demophon ein, Demon war jedoch eng in die Vormundschaft involviert, wie sich aus seiner Anwesenheit bei der Testament-Erklärung ergibt, Demosth. 28.15, und Demosthenes’ späteren Angriffen auf Demon als „Partner“ der Vormünder; § 56 wird Demon sogar als συνεπίτροπος bezeichnet, was formal falsch ist, aber seiner faktischen Rolle entspricht; dazu Calhoun 1934, 88–90; MacDowell 1989a, 255–257; Humphreys, op. cit., 101 f.; die Rolle des väterlichen Onkels als Vormund ist typisch für patrilineare Gesellschaften, wie Goody 1976, 55 f. zeigt; Goody betont den Grundkonflikt dieser Rolle: Als Bruder war der Onkel zur bestmöglichen Förderung seiner Neffen verpflichtet, als nächster in der Erbfolge zugleich verlockt, zum eigenen Vorteil zu handeln. Die Konfliktträchtigkeit wird vom attischen Material bestätigt, vgl. Humphreys, loc. cit. Demosth. 27.4, 11; Demon war auch Zeuge der Ernennung seines Sohns zum Vormund, 28.15. Demosth. 32.31 f.; ob Demosthenes auch die Gerichtsrede verfasste, ist umstritten; Blass 1893, 492–498 bezweifelt es, Isager/Hansen 1975, 138 nehmen es an; zu den Verwandtschaftsverhältnissen der genannten Personen Davies 1971, 116–118. Lys. 19.40; Konon pflegte ein enges Vertrauensverhältnis zu Euagoras, dem König von Salamis, vgl. DNP Bd. 6 (1999), s. v. Konon, sp. 707 (W. Schmitz).
11.2 Die Kooperation von Brüdern
373
11.2 Die Kooperation von Brüdern 11.2.1 Brüder als Vermögenspartner Die Kooperation von Älteren und Jüngeren innerhalb der patrilinearen Verwandtschaft war häufig mit der Kooperation von Brüdern verwoben, so wie im letzten Beispiel des vorangegangenen Abschnitts. Von Brüdern wurde erwartet, dass sie zusammenhielten und der jüngere dem älteren Respekt erwies.45 Die Häufigkeit, mit der diese Solidarität beschworen wurde, erinnert zugleich an die strukturell angelegten latenten Spannungen zwischen Geschwistern. Dort, wo der Zusammenhalt besonders wichtig war, lag auch das größte Konfliktpotential.46 Eine Quelle für Konflikte zwischen Brüdern war insbesondere die Erbteilung.47 Nach dem allgemeinen Prinzip der Realteilung erbten legitime Söhne zu gleichen Teilen. Dieses Prinzip hatte zwei wirtschaftlich relevante Folgen. Erstens wurde der Besitz mit jedem Generationswechsel zerstückelt. Das erhöhte die Beweglichkeit von Vermögen und leistete ihrer Diversifizierung Vorschub. Zweitens drängte es junge Männer dazu, nichtagrarische Erwerbsquellen aufzutun, um den Status ihres Vaters zu bewahren. Das trieb die Diversifizierung der Vermögen ebenfalls voran und veranlasste junge Männer dazu, für eine Zeit als Söldner oder Kaufleute in die Ferne zu gehen (s. Kap. 11.3). Die Zersplitterung des Vermögens war allerdings keine Zwangsläufigkeit. Innerfamiliäre Heiraten waren eine Möglichkeit, das Vermögen zusammenzuhalten. Eine andere war es, auf die Teilung des väterlichen Vermögens ganz oder teilweise zu verzichten und es gemeinschaftlich zu bewirtschaften. So entschieden sich Arizelos (der Vater des Redners Timarchos) und seine zwei Brüder Eupolemos und Arignotos in der ersten Hälfte des 4. Jhs. Weil Eupolemos starb, bevor das Vermögen geteilt wurde und Arignotos Augenprobleme hatte, verwaltete Arizelos das gesamte Vermögen und zahlte seinem Bruder Arignotos Unterhalt.48 Eine ähnliche Geschichte schildert
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Aristot. eth. Nic. 8, 1161 b 33–1162 a 16 zur philia unter Brüdern, vgl. eth. Eud. 7, 1242 a 1–4 und Xen. mem. 2.3; Is. 2.29; Demosth. 24.127: Unrecht gegen Brüder ist ein besonders schlimmes Verbrechen; Plat. Prot. 313a–b: Ein junger Mann sollte eine Entscheidung mit seinem Vater und seinem Bruder besprechen, insbesondere in Geldfragen; rep. 3, 387c–e nennt den Verlust von „Söhnen, Brüdern, Vermögen“ (in dieser Reihenfolge) als besonders heftig beklagte Ereignisse; vgl. leg. 12, 959a–c; in Demosth. 36.34 heißt es, Apollodoros, Sohn des Bankiers Pasion, habe einen bestimmten Erbteil (ein Mietshaus) erhalten, weil er der ältere Bruder war; das war allerdings kein Rechtsprinzip, sondern höchstens gute Sitte, vgl. Humphreys 2018, 166 f. Millett 1991, 15 f.; Hanson 1995, 145 f. Demosth. 39.34: Brüder seien Brüder, wenn sie sich tatsächlich brüderlich verhalten, d. h. keine Gerichtsprozesse gegeneinander führen – der Satz stammt aus einer Gerichtsrede gegen einen (Halb-)Bruder. Gallant 1991, 133–142; Cox 1998, 77–88; vgl. Schmitz 2004b, 204; zum griechischen Erbrecht allgemein Lane Fox 1985; speziell zu agrarischen Haushalten Burford 1993, 33–48 und Hanson 1995, 145–148; vgl. Is. 2.28 f. und 9.17 f. für Konflikte um geerbtes Land. Aischin. 1.102.
374
11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
uns eine Rede des Corpus Demosthenicum, die etwa hundert Jahre Familiengeschichte resümiert. Euthymachos aus Otryne hatte drei Söhne, Meidylides, Archippos und Archiades, sowie eine Tochter, Archedike. Nach dem Tod des Vaters verheirateten die Brüder zunächst ihre Schwester. Dann starb Archippos im Krieg und Meidylides heiratete bald darauf selbst. Als er eine Tochter bekam, wollte er sie mit seinem noch ledigen Bruder Archiades verheiraten. Der erklärte jedoch, er wolle nicht heiraten; deshalb ließ er „das Vermögen ungeteilt“ (τὴν οὐσίαν ἀνέμητον) und wohnte alleine in Salamis.49 Der Fall führt uns zwei alternative Möglichkeiten vor, den Besitz zusammenzuhalten: die Heirat zwischen Nichte und Onkel oder den Verzicht eines Bruders auf eigene Kinder. Der Redner schildert diese Lösung des Problems der Erbteilung als einträchtige Entscheidung. Doch hinter Archiades’ Verzicht auf die Hand seiner Nichte könnte sich ein Konflikt verbergen – denn später adoptierte Archiades den Enkel seiner Schwester und machte ihn damit zum Erben.50 Er zog das Bündnis mit seinem Schwager also aus unbekannten Gründen demjenigen mit seinem Bruder vor.51 Das hinter der Fassade brüderlicher Eintracht häufig um die Bedingungen der Kooperation gerungen wurde, deutet sich auch darin an, dass es dem athenischen Archon oblag, Schiedsrichter zu ernennen, wenn ein Bruder den gemeinsamen Besitz nicht teilen wollte.52 In einer Rede gegen Apollodoros, Sohn des Pasion, hieß es, die Vormünder hätten die Vermögensteilung zwischen ihm und seinem Bruder durchgeführt, damit er nicht das Vermögen seines minderjährigen Bruders verschwende.53 Die zumindest zeitweilige gemeinschaftliche Bewirtschaftung des Vermögens scheint trotz solcher Konflikte üblich gewesen zu sein: nicht aus individueller Zuneigung, sondern aus hauswirtschaftlicher Vernunft.54 Wer ein ungeteiltes Vermögen bewirtschaftete oder unter einem Dach zusammen wohnen blieb, sparte die Kosten doppelter Haushaltsführung und erhielt offenbar Vergünstigungen in Bezug auf Liturgien und Vermögenssteuern.55 Mit dem Hinweis auf häusliche Sparsamkeit emp49 50 51
52 53 54 55
[Demosth.] 44.9 f.; unsicher ist, wann genau Archippos bei Methymna fiel; Davies 1971, 194 geht davon aus, dass der Abfall von Mytilene 428, bei dem Methymna auf Seiten Athens kämpfte, das letztmögliche Datum ist. [Demosth.] 44.19; der Sprecher deutet selbst einen Konflikt an, wenn er erklärt, dass die meisten Menschen adoptierten, weil entweder ihr Verstand durch Schmeichelei verwirrt sei oder weil sie im Streit mit ihren Verwandten lägen. Wiederholte Adoptionen waren das offenbar notwendige Mittel um diesem angeheirateten Familienzweig aus Eleusis das Vermögen des Archiades zu erhalten, vgl. [Demosth.] 44.22 f.; eben dagegen richtet sich die Klage des Sprechers Aristodemos, der als Nachfahre des Meidylides die Gesetzlichkeit dieser Adoptionen bestreitet; dazu Davies 1971, 195 f. [Aristot.] Ath. pol. 56.6. Demosth. 36.8; vgl. Is. 2.28 f. wo es zum Streit zwischen Brüdern kommt, weil der eine seine Schulden durch Verkauf von Land aus gemeinsamen Besitz tilgen will. Vgl. das von Humphreys 2018, 161–167 gesammelte attische Material. Demosth. 14.16 erwähnt, dass neben Erbtöchtern, Waisen, Kleruchen und Invaliden auch gemeinschaftliche Haushalte (τῶν κοινωνικῶν) von diesen Abgaben befreit seien; Harpokration schreibt s. v. κοινωνικῶν dazu: „Gemeinschaftliche hat man wohl Brüder genannt, die ein nicht geteiltes
11.2 Die Kooperation von Brüdern
375
fahl auch der florentinische Renaissance-Humanist Alberti in seinem Della Famiglia brüderliche Wohn- und Besitzgemeinschaft und ergänzt, dass es angesehener sei, sich als umfangreiche Familie zu zeigen. Sei das Zusammenleben unter einem Dach nicht möglich, solle die Familie immerhin im Willen geeint bleiben.56 Inschriften belegen, dass gemeinsame Vermögen von Brüdern keine athenische Besonderheit waren. Im kretischen Gortyn gab es gesetzliche Vorschriften nicht nur darüber, wie ein Erbe zu teilen war, sondern wie in Athen auch darüber, wie zu verfahren war, wenn es Streit gab, ob man das Erbe teilen solle.57 Die bereits zitierten Proxenie-Dekrete aus Olbia die Brüder einschließen, soweit „das väterliche Vermögen Gemeinbesitz ist“ (οἷς κοινὰ τὰ πατρῶια), zeigen, dass man gemeinschaftliche Vermögen von Brüdern zumindest im Schwarzmeeraum für allgemein üblich hielt.58 Besonders umfangreich sind die Belege für das rhodische Lindos. Eine auf etwa 325 datierte Subskriptions-Inschrift listet Personen auf, die sich an einer Spendensammlung für das Athena-Heiligtum beteiligt hatten.59 Die Inschrift nennt Brüder (identifiziert durch ihre Patronyme) sowohl als Gruppen wie auch als Einzelspender. Weil die Inschrift rechtskräftige Transaktionen verzeichnet, die jeweils den Eigentümer des Vermögens nennen, aus dem gespendet wurde, gibt die Art der Namensnennung Auskunft über die Besitzverhältnisse.60 In diesem Sinn schließt David Schaps, dass manche Brüder das väterliche Vermögen aufgeteilt hatten, während es andere gemeinsam verwalteten (Schaps spricht von „partnership“),61 während wieder andere nur einen Teil des Erbes unter sich aufgeteilt hatten, und den Rest gemeinsam verwalteten.62 Die Bedeutung
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Vermögen besaßen; ihr Vater war zwar fähig, Liturgien zu leisten, seine Erben aber konnten sich alleine die Trierarchie nicht leisten; vielleicht [geht es] aber auch um diejenigen, die sich in freiwilliger Vergemeinschaftung zusammengetan haben für eine Handelsfahrt oder etwas Anderes, von denen jeder nicht den gesamten Schätzwert des gemeinsamen Vermögens besaß.“ (κοινωνικοὺς ἂν λέγοι τάχα μὲν τοὺς ἀνέμητον οὐσίαν ἔχοντας ἀδελφοὺς, ὧν ὁ μὲν πατὴρ ἐδύνατο λειτουργεῖν, οἱ δὲ κληρονόμοι τῶν ἐκείνου καθ’ ἕνα τριηραρχεῖν οὐκ ἐξήρκουν· τάχα δὲ καὶ περὶ τῶν ἑκούσιον κοινωνίαν συνθεμένων ἐμπορίας ἤ τινος ἄλλου, ὧν ἕκαστος οὐκ εἶχε τὸ ὅλον τίμημα τῆς κοινῆς οὐσίας.) Das Problem hieran ist, dass sich Harpokration nur auf besagte Demosthenes-Stelle beruft und bei ihrer Deutung offenkundig unsicher ist (vgl. die Wendung tacha men … tacha de). Della Famiglia III, 234 f., Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972). Die Senkung der Lebenskosten ist bei den Sarakatsani im heutigen (anno 1970) Griechenland ebenfalls ein Motiv für gemeinsame Haushaltsführung von Brüdern, Walcot 1970, 50 f. In Rom galt die gemeinsame Haushaltsführung als Ideal, wurde aber nur selten verwirklicht, zumindest in der Oberschicht, Dixon 1992, 142. Laut Hübner 2017, 5 f. waren gemeinsame Haushalte von Brüdern im heutigen Griechenland, Italien und in Südfrankreich im 19. Jh. sehr üblich. I. Cret. IV 72, sp. 5, 28–32. S. Kap. 11.1. I. Lindos 51 (= IG XII, 1 764+). Wie die Erwähnung von Minderjährigen und Frauen zusammen mit ihrem jeweiligen Vormund zeigt: I. Lindos 51, A, sp. 1, 11 f.; sp. 2, 30 f.; 34 f.; 54 f.; C, sp. 1, 3 f.; 6 f.; 34 f.; 47 f.; sp. 2, 20 f.; 44 f. Schaps 1979, 48 mit Anm. 2. In diesen Fällen treten die Personen in der Gruppe und einzeln auf: I. Lindos 51, A, sp. 2, 44–46; C, sp. 2, 8 f.; 18 f. mit 36.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
der Familienpartnerschaften ergibt sich aus den Zahlenverhältnissen: Auf 18 Brüdergruppen, die gemeinsam oder sowohl gemeinsam und getrennt auftreten, kommen nur zwölf Brüderpaare, die getrennt auftreten.63 Diese Zahlen unterrepräsentieren die Häufigkeit von Familienpartnerschaften im Zweifelsfall eher noch, weil Brüder, die einen Teil ihres Vermögens gemeinsam besaßen, aber nur als Einzelpersonen spendeten, in der Liste nicht als Vermögenspartner in Erscheinung traten. Der Fall Lindos zeigt, dass Familienpartnerschaften nicht nur in vielen Städten existierten, sondern in manchen Städten eher die Regel als die Ausnahme waren. 11.2.2 Brüder als Handelspartner Die besondere Berücksichtigung von Brüdern bei der Verleihung von Handelsprivilegien wie in Olbia zeigt, dass die Kooperation unter Brüdern nicht bloß dem Vermögenserhalt und der Sparsamkeit diente, sondern auch der Sicherung von Geschäftsvorteilen. In den italienischen Städten des Spätmittelalters entwickelte sich die Handelsgesellschaft aus älteren Formen der Solidarhaftung von Brüdern und Hausgenossen.64 Im mittelalterlichen Venedig gingen Brüder häufig Geschäftspartnerschaften ein, um einen Teil ihres Vermögens (den Grundbesitz) gemeinsam zu bewirtschaften.65 Im Handel arbeitete man dabei arbeitsteilig und bezog die Söhne mit ein: Ein Bruder blieb in Venedig zurück, während sein jüngerer Bruder, Sohn oder Neffe mit der Ware zur See fuhr.66 Vergleichbare Fälle finden sich auch in den griechischen Städten, sind bislang jedoch nicht systematisch untersucht worden. Der Grund für die Kooperation dürfte in Griechenland derselbe gewesen sein wie in Venedig: Der Fernhandel war riskant und von Misstrauen geprägt. Das Vertrauen unter Familienmitgliedern war deshalb besonders wertvoll. Es existierte, weil die Treue zum Bruder moralische Pflicht und Folge gemeinsamer Sozialisierung war, und nicht bloß Ausdruck eines opportunistischen Gewinninteresses. So schreibt Aristoteles über die philia zwischen Brüdern:67 63 64 65 66
67
Gemeinsame Vermögen: I. Lindos 51, A, sp. 1, 39 f.; sp. 2, 16 f.; 20 f.; 23; 24 f.; 27–31; 39–41; 44–46; 59–61; B, sp. 1, 9–11; C, sp. 1, 8 f.; 37 f.; sp. 2, 8 f.; 10 f.; 14 f.; 18–21; 30 f. 48 f.; getrennte: A, sp. 1, 13 und 45; 21 und 24; 59 und 62; 34 f.; 42 f.; sp. 2, 4 f.; 9 f.; 13 und 15; 62 f.; C, sp. 1, 14 f.; sp. 2, 46–48; 57 f. Vgl. Weber [1886] 1988, 344–386 und unten Kap. 19.2. Lane [1944] 1953; 1973, 138; ein Vertrag über eine solche Partnerschaft aus dem Jahr 1200 in Übersetzung bei Lopez/Raymond 1955, 187 f. Ein Beispiel sind die Aktivitäten Zuanes di Andrea Zane und seiner Brüder 1524–1550, die aus ihrer Petition an den venezianischen Senat bekannt sind (engl. Übers. bei Chambers 1992, 171–173); ihre Arbeitsteilung erlaubte es den Zane-Brüdern, verschiedene Handelsregionen abzudecken; zugleich war sie notwendige Sicherheitsmaßnahme: Mehrfach wurden sie bei Handelsreisen überfallen, erpresst, verwundet oder gefangengenommen. Aristot. eth. Nic. 8, 1161 b 30–36: ἀδελφοὶ δ’ ἀλλήλους [φιλοῦσιν] τῷ ἐκ τῶν αὐτῶν πεφυκέναι· ἡ γὰρ πρὸς ἐκεῖνα ταυτότης ἀλλήλοις ταὐτὸ ποιεῖ· […] μέγα δὲ πρὸς φιλίαν καὶ τὸ σύντροφον καὶ τὸ καθ’
11.2 Die Kooperation von Brüdern
377
Brüder [lieben sich] untereinander, weil sie von denselben Eltern stammen. Denn die Gleichheit jenen gegenüber macht sie auch untereinander gleich. […] Viel bedeutet für die Freundschaft auch, dass sie zusammen aufgewachsen und gleich alt sind. Denn Altersgenossen streben zueinander, und gleiche Sitten machen zu Kameraden. Und so gleicht die Freundschaft unter Brüdern auch derjenigen unter Kameraden (διὸ καὶ ἡ ἀδελφικὴ τῇ ἑταιρικῇ ὁμοιοῦται).
Aufschlussreich ist die Gleichstellung brüderlicher Verbundenheit mit der Zuneigung unter Kameraden (hetairoi). Denn diese Vergemeinschaftung von Nichtverwandten hat Aristoteles zuvor als „Gemeinschaft um des partiellen Nutzens willen“ (κοινωνίαι κατά μέρη τοῦ συμφέροντος) definiert. Seine Aufzählung von Beispielen solcher Gemeinschaften nennt an erster Stelle Gemeinschaften „zwecks Seefahrt um des Geldgeschäfts willen“ (τοῦ κατὰ τὸν πλοῦν πρὸς ἐργασίαν χρημάτων); dann folgen die Beutegemeinschaft der Krieger, dann die Phylen- und Demen.68 Der Vergleich der brüderlichen Gemeinschaft mit einer gewillkürten Vergesellschaftung gibt zu verstehen, dass die Kooperation unter Brüdern kein Automatismus war, sondern auf gegenseitiger Einwilligung und Nutzenkalkulation beruhte. Zugleich fällt die Betonung des Seehandels auf. Aristoteles bewertet die im Anschluss genannten Kult- und Speisegemeinschaften wegen ihrer frommen und gemeinschaftsbezogenen Zwecke zwar am höchsten,69 doch den Seehandel nennt er an erster Stelle – eine Assoziation, die dem kaiserzeitlichen Lexikographen Harpokration, einem Kenner der attischen Gerichtsreden, ebenfalls als Erstes zum Stichwort brüderlicher Gemeinschaftsvermögen einfiel.70 Die Intensität der Kooperation variierte. Die bereits mehrfach zitierte Lysias-Rede Gegen Diogeiton schildert die Kooperation der beiden Brüder wie folgt:71 Sie waren Brüder, ihr Richter, Diodotos und Diogeiton, von gleicher Mutter und gleichem Vater; die unsichtbaren Besitztümer hatten sie geteilt, die sichtbaren aber bewirtschafteten sie gemeinsam (τὴν μὲν ἀφανῆ οὐσίαν ἐνείμαντο, τῆς δὲ φανερᾶς ἐκοινώνουν). Da nun Diodotos ein beträchtliches Vermögen im Handel erworben hatte, überredete ihn Diogeiton, seine Tochter zur Frau zu nehmen, sein einziges Kind. Es wurden ihm zwei Söhne und eine Tochter geboren.
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ἡλικίαν· ἧλιξ γὰρ ἥλικα, καὶ οἱ συνήθεις ἑταῖροι· διὸ καὶ ἡ ἀδελφικὴ τῇ ἑταιρικῇ ὁμοιοῦται. Übers. O. Gigon. Eth. Nic. 8, 1160 a 14–18. Eth. Nic. 8, 1160 a 19–30. Vgl. sein Lemma s. v. κοινωνικῶν, zitiert oben in Anm. 55. Lys. 32.4: ἀδελφοὶ ἦσαν, ὦ ἄνδρες δικασταί, Διόδοτος καὶ Διογείτων ὁμοπάτριοι καὶ ὁμομήτριοι, καὶ τὴν μὲν ἀφανῆ οὐσίαν ἐνείμαντο, τῆς δὲ φανερᾶς ἐκοινώνουν. ἐργασαμένου δὲ Διοδότου κατ’ ἐμπορίαν πολλὰ χρήματα πείθει αὐτὸν Διογείτων λαβεῖν τὴν ἑαυτοῦ θυγατέρα, ἥπερ ἦν αὐτῷ μόνῃ καὶ γίγνονται αὐτῷ ὑεῖ δύο καὶ θυγάτηρ. Adapt. Übers. U. Treu.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Die gemeinschaftliche Verwendung der „sichtbaren Güter“72 hatte mutmaßlich drei Gründe. Erstens sollte das Prestige eines großen sichtbaren Vermögens bewahrt werden.73 Zweitens waren gemeinschaftlich geführte Vermögen vermutlich bei Liturgien begünstigt.74 Drittens bedeutete der gemeinschaftliche Besitz, dass jeder Bruder bei seinen individuellen Geldgeschäften mit seinen ‚unsichtbaren Gütern‘ die gesamten ‚sichtbaren‘ Güter als Sicherheit vorweisen konnte – was ihm mutmaßlich bessere Kreditbedingungen ermöglichte.75 Der Gemeinbesitz diente auf diese Weise als gemeinsame Versicherung gegen die individuellen Risiken des Fernhandels. Die beiden Brüder hielten das väterliche Vermögen mit zwei Mitteln zusammen: dem teilweisen Verzicht auf die Realteilung des Erbes und einer Heirat zwischen Onkel und Nichte, damit das geteilte Vermögen in der Enkel-Generation wieder zusammengeführt würde. Als Diodotos 409 zum Kriegsdienst als Hoplit eingezogen wurde, vertraute er sein Vermögen und seine Familie seinem Bruder Diogeiton an. Er übergab ihm ein Testament und die Belege über die ihm geschuldeten Seedarlehen mit Anweisungen für den Todesfall. Außerdem überließ er ihm ein Deposit von fünf Talenten zur freien Verwendung. Diodotos überlebte den Feldzug nicht.76 Damit kam es zu jener Vormundschaft, die später zum Gerichtsverfahren führte. Glaubt man dem Redner,77 dann kooperierten die beiden Kaufleute, um ihr Vermögen zusammenzuhalten und die Risiken des Handels abzupuffern, aber machten keine gemeinsamen Geschäfte. Das ähnlich ‚kaufmännische‘ Vermögen der Brüder Xenopeithes und Nausikrates bestand hingegen zum größten Teil aus gemeinsam verliehenen Krediten.78 Wichtig war die Kooperation von Brüdern nicht nur als Versicherung gegen die ökonomischen Risiken für das Vermögen, sondern auch für die physischen Risiken im Seehandel. Die Demosthenes-Rede Gegen Kallippos erwähnt ein Seedarlehen an zwei Brüder aus Eleusis, von denen der eine die Handelsreise antreten sollte, während der andere in Athen verblieb.79 Ein ähnliches Arrangement war der Auslöser für den 72 73 74 75 76 77 78
79
Zur Unterscheidung von ‚sichtbaren‘ und ‚unsichtbaren‘ Gütern s. Kap. 8.2.2. Schmitz 2004b, 96. Vgl. Walcot 1970, 50 f. für dieses Motiv im heutigen (anno 1970) Griechenland. Vgl. oben Anm. 55. Vgl. Is. 2.28 für gemeinsamen Landbesitz als Sicherheit für eine Vermögenspacht; vgl. auch [Demosth.] 53.10. Lys. 32.5–8, 14 f.; vgl. Kap. 13.3.3. Humphreys 2018, 163 vermutet, die Aufteilung der unsichtbaren Güter sei von den Erben des Diogeiton nur vorgeschoben worden, um von Diodotos Summen einfordern zu können, die tatsächlich aus gemeinsamen Mitteln verliehen worden waren. Demosth. 38.7; das große Vermögen bestand nur aus Bargeld, Schuldforderungen, Möbeln und Sklaven, aber keinem Grundbesitz; zur Familie Davies 1971, 416–418; durch [Demosth.] 34 erfahren wir von einem weiteren kreditvergebenden Brüderpaar, Chrysippos und sein Bruder vom kimmerischen Bosporos; dazu Isager/Hansen 1975, 157 f. [Demosth.] 52.20 f.; dass diese Arbeitsteilung stattfand, ergibt sich aus der Bemerkung, dass sich Megakleides allein (αὐτῷ) entschied, die Reise nicht anzutreten; weil das Darlehen jedoch an beide gegeben wordenwar, wurde autō gelegentlich zu αὐτοῖς emendiert; dass dieser Eingriff nicht
11.2 Die Kooperation von Brüdern
379
Rechtsstreit, der in der Rede Gegen Lakritos geschildert wird. Der Athener Androkles vergab um das Jahr 340 ein Seedarlehen an zwei Brüder, Artemon und Apollodoros aus Phaselis. In die Vermittlung des Geschäfts waren ebenfalls Brüder involviert gewesen, Thrasymedes und Melanopos, Freunde des Androkles. Sie brachten ihn mit Lakritos zusammen, dem älteren Bruder der beiden Kaufleute.80 Lakritos sei der eigentlich leitende Kopf gewesen, wie Androkles später vor Gericht meinte, „ein Mann von Gewicht“ (μέγα πρᾶγμα). Er habe den Vertrag aufgesetzt und mit versiegelt, weil seine beiden Brüder noch sehr jung gewesen seien, „fast noch Knaben“ (μειράκια κομιδῇ). Deshalb versprach Lakritos dem Gläubiger Androkles, dass er selbst in Athen bleiben und nach dem Rechten schauen werde, solange der jüngere Bruder Artemon auf Handelsfahrt ausfahre.81 Später kam es zu Streitigkeiten über die Rückzahlung des Darlehens. Androkles beschuldigte Lakritos ein rhetorisch geschulter Schuft zu sein, der seine Brüder nur vorschob, um sich durch Betrug zu bereichern. Lakritos habe seinen Brüdern „diese ‚Erziehung‘ beigebracht“ (ἐπαίδευσεν τὴν παιδείαν ταύτην), nämlich ein Seedarlehen aufzunehmen, um es zu unterschlagen.82 Was hier als Betrug verunglimpft wird, war die übliche Kooperation zwischen älteren und jüngeren Verwandten. Androkles selbst hatte sie akzeptiert, solange sie ihm zu nutzen schien. Die Jungen nahmen die Gefahren der Seefahrt auf sich, während ihre Väter, Onkel oder älteren Brüder zu Hause den Überblick behielten. Die Älteren statteten die Jüngeren nicht nur mit ökonomischem Kapital aus. Sie stellten ihr kulturelles und soziales Kapital zur Verfügung, indem sie die jungen Männer in die Kniffe ihres Metiers einführten und die Kontakte zu Geschäftspartnern herstellten. Dass Brüder zeitlich versetzt in die Ferne gingen, minimierte in zweifacher Weise Risiken. Der face-to-face-Charakter des städtischen Lebens erforderte es erstens, dass ein Vertreter der Familie vor Ort blieb, um Kontakte zu pflegen und die Interessen der Familie zu wahren.83 Seehandel und Söldnerdienst waren zweitens lebensgefährlich (s. Kap. 11.3). Deshalb galt es zu verhindern, dass durch den gleichzeitigen Tod aller Söhne das väterliche Haus plötzlich ohne Erben, die Familie ohne Vorstand zurückblieb. Die temporäre Migration eines Bruders ermöglichte es, die Geschäfte des Hauses auszudehnen, ohne deren Basis des verwandtschaftlichen Vertrauens aufgeben zu müssen. Wie Brüder ihre Exportgeschäfte koordinierten, beleuchtet ein außerge-
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notwendig ist, und tatsächlich nur Megakleides fahren sollte, während Thrasyllos in Athen blieb, zeigt Harris 1988. [Demosth.] 35.6–9. § 15–17. § 40–42. Vgl. das Gerangel um das Erbe eines Söldners, Is. 4.7–10, das der Sprecher ebd. § 21 f. zum Normalfall erklärt, wenn ein Mann ohne enge Angehörige im Ausland verstarb; [Demosth.] 48.9–11 schildert den Fall von zwei Männern, die die Abwesenheit des Halbbruders nutzten, um sich das Vermögen seines verstorbenen Bruders anzueignen.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
wöhnlicher epigraphischer Fund von der Nordostküste Spaniens.84 Es handelt sich um einen Brief, der in eine Tontafel geritzt wurde. Der Absender grüßt als „Energos, Bruder in Empylion“.85 Anschließend berichtet er von der Herstellung von Feinkeramik, für die anscheinend er zuständig ist.86 Der Verfasser gibt seinem Bruder außerdem Anweisungen in Bezug auf „etruskische Brennöfen“, teilt ihm mit, dass ein „Freund des Steuermanns“ den Brief überbringen wird und äußert sich zu einer τὴν ἀρχὴν ἐν τῆι{ν} ἀποικίᾳ, womit die Hafenbehörde im Zielort gemeint sein könnte, bei der ankommende Händler sich registrieren und den Hafenzoll entrichten mussten.87 Der seit seinem Fund verschollene Brief ist so bemerkenswert wie rätselhaft. Er ist in einer ungewöhnlichen Form des attischen Dialekts verfasst und lässt sich nicht näher datieren; angegeben wird meist 500 v. Chr., aber ein späteres Datum wäre ebenso möglich.88 Während Günter Dunst und Helena Somolinos „Energos in Empylion“ als Absender verstehen, hält Paola Ceccarelli ihn für den Adressaten. Dunst hat aus dem Fundort der Tafel (der Bucht zwischen den massaliotischen Kolonien Rhodos und Emporion), der Tatsache, dass der Brief per Schiff überbracht wurde, fehlerhaft war und in attischem Dialekt geschrieben wurde, darauf geschlossen, dass die Brüder „schlichte Töpfer attischer Herkunft“ waren und in zwei Hafenorten wohnten, von denen der eine wohl Emporion war.89 Somolinos hat die Deutung um die Vermutung ergänzt, dass mit Ἐμπυλίῳ auch die „Heimat“ (im Sinne von ἐμφύλιος (γῆ)) gemeint sein könne.90 In jedem Fall ist der Brief ein frühes Zeugnis dafür, wie die Arbeitsteilung unter Brüdern den Vertrieb der eigenen Produkte über größere Entfernungen ermöglichte. Ein Grabrelief, das im athenischen Kerameikos gefunden wurde, hat die Kooperation von Brüdern als Geschäftspartner offenbar sogar bildlich verewigt (Abb. 2).91 Die anhand des Stils in die 320er-Jahre datierte Reliefplatte zeigt fünf Personen. Zwei Paare von je einem Mann und einer Frau sind in einer für Ehepaare typischen Ikonographie dargestellt. Ungewöhnlich ist das Bild in anderer Hinsicht. Die Anordnung der beiden Paare setzt die zwei Männer in der Bildmitte nebeneinander, ihre Figuren sind annähernd achsensymmetrisch gearbeitet. Diese Beiordnung und Gleichsetzung durch den Bildaufbau wird durch semantische Marker verstärkt: Die Blicke der Män84 85 86 87 88 89 90 91
Dunst 1969 ed. pr. mit deutscher Übers.; = Hoz 1997, Nr. 2.56; = Somolinos 1998 (IGAI), Nr. 4 = Ceccarelli 2013, App. I, Nr. 25. Z. 1 f.: Ἔνεργος ἀδελφός ἐν Ἐμπυλίῳ; der Name Energos (wörtlich: „Tätiger“) ist ansonsten weder in Griechenland noch Iberien belegt, Somolinos 1998, 345. Z. 4–9. Z. 14 f. Vgl. Demosth. 32.18: τὴν ἀρχὴν τὴν τῶν Συρακοσίων. Vgl. Dunst 1969, 148, der aufgrund sprachlicher und schriftlicher Merkmale eine Datierung in nachklassische Zeit nicht ausschließt; vgl. A. Johnston in Jeffery [1951] 1990, Suppl., 464 f., B zu Aeolizismen im Text. Dunst 1969, 153 f.; vgl. Dietler 2007, 265 f. zu importierter attischer Keramik in Emporion. Somolinos 1998, 345. Die ausführlichste Behandlung bei Scholl 1993; ich danke Andreas Scholl für weitere hilfreiche Auskünfte zur Erforschung und zum Erhaltungszustand des Reliefs.
11.2 Die Kooperation von Brüdern
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Abb. 2 Sog. Charon-Relief, ca. 330–320 v. Chr. (Kerameikos Museum, P 692) (© Deutsches Archäologisches Institut)
ner sind aufeinander gerichtet und ihre Hände zum Händedruck zusammengeführt, zur Dexiosis als Geste enger Verbundenheit und Vertrauens.92 Die Darstellung ihrer Körperlichkeit fällt ebenfalls auf. Ihr Kopf- und Barthaar ist länger als übliche attische Bürgerporträts. Ihre Oberkörper sind entkleidet, so dass ihre Fettleibigkeit sichtbar wird. Beide Körpermerkmale, Haartracht und Fettleibigkeit, verweisen auf den graecoskythischen Kulturraum im Gebiet der heutigen Krim.93 Die dritte männliche Figur, in der unteren Bildhälfte, sitzt in einem Schiff mit Rudern; ihr Blick richtet sich auf die beiden Männer in der Bildmitte. Wie diese hat sie langes Kopf- und Barthaar, trägt im Unterschied zu ihnen allerdings Chiton und einen Mantel, den Scholl wegen „der augenfälligen Dicke des Materials und der Schrägschraffur an den Rändern“ als pelzverbrämten oder mit dem Fell nach innen gewendeten Reisemantel interpretiert. Auch dieses Attribut, verweist in die nördliche Schwarzmeerregion. Scholl lehnt die Identifizierung mit dem Totenschiffer Charon mit guten Gründen ab. Seine Darstellung mit „banausische[r]“ Physiognomie und Sitzhaltung weise ihn vielmehr als Schiffskapitän aus. Dafür spreche zusätzlich die Darstellung des Schiffs, die es als zeitgenössisches
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Zur Bedeutung der Dexiosis s. Breuer 1995, 16–32; Himmelmann 1999, 114. S. Scholl 1993 für ikongraphische Parallelen zur Haartracht und Lytle 2016, 9–14 mit den antiken literarischen Kommentaren über graeco-skythischer Fettleibigkeit.
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Handelsschiff erkennbar macht.94 Scholl deutet das Relief daher als Familienmonument von zwei Metöken-Brüdern aus dem Schwarzmeergebiet, die ihren aus dem Seehandel stammenden Wohlstand demonstrierten.95 Den dritten Mann deutet er als statusniederen Nichtverwandten – der Einsatz von Sklaven als Handelsagenten ist gut belegt.96 Das Reliefbild drängt alle normativen Elemente der Hauswirtschaft zusammen. Die jungen, kostbar gekleideten Frauen als Schmuck ihrer Ehemänner, denen sie treu zur Seite sitzen; das materielle Wohlleben im Haus, versinnbildlicht durch bequemes Mobiliar und gute Kost (Fettleibigkeit); das Vertrauen unter Brüdern, das die Dexiosis ausdrückt. Das Grabrelief aus dem Kerameikos zeigt, dass die Kooperation unter Brüdern nicht nur eine Frage wirtschaftlicher Vernunft war, sondern auch des Familienstolzes auf ein geeintes ‚ganzes Haus‘. Denselben Eindruck vermitteln auch eine Reihe von Weihinschriften, bei denen Brüder, Väter und Söhne (als paides bezeichnet), in einem Fall auch noch die Enkel,97 den Zehnten eines gemeinsam erwirtschafteten Gewinns (dekatē) stifteten. Die meisten der seit dem frühen 6. Jh. überlieferten Inschriften stammen von den Akropoleis von Lindos auf Rhodos98 und Athen99, aber auch ‚Familienpartnerschaften‘ aus Delos, Didyma, Metapontion und Sybaris sind auf diesem Weg überliefert.100 Die Inschriften, zu denen man sich aufwendige Weihgeschenke hin94
Im Oktober 2018 gab das Black Sea Maritime Archaeological Project der Universität von Southampton den Fund eines Schiffswracks 80 km vor der Küste Bulgariens bekannt, der Scholls Identifikation glänzend bestätigt: Das um 400 gesunkene Schiff entspricht dem auf dem Relief abgebildeten Schiff ziemlich exakt und bestätigt, dass der Schwarzmeerhandel im 4. Jh. diesen Schiffstyp verwendete; der Befund ist bisher nicht wissenschaftlich publiziert; aufschlussreiche erste Abbildungen gibt etwa der BBC-Bericht vom 23. Oktober 2018. 95 Scholl 1993, 354–373. 96 Scholl 1993, 365, 373; vgl. Kap. 12.3.4. 97 I. Lindos 41 (= Löhr, Familienweihungen 123); die Inschrift ist zugleich die einzige, die von δεκάτας καὶ ἀπαρχάς spricht, weshalb Löhr 2000 ad loc. vermutet, dass es sich um die ersten Gewinne der gerade ins Geschäftsleben eingestiegenen Enkel handeln könnte. 98 I. Lindos 27 (= Löhr, Familienweihungen 72); 41 (= Löhr, Familienweihungen 123); 47 (= Löhr, Familienweihungen 158); 48 (= Löhr, Familienweihungen 154); 52 (= Löhr, Familienweihungen 166); 53; 71; dazu Löhr 2000, 214 f.; weil häufiger von dekatas im Plural die Rede ist, hat Löhr angenommen, dass es sich um separat erwirtschaftete Gewinne handelte; das lässt sich nicht sicher prüfen; dagegen spricht, dass die Pluralform auch bei Weihgeschenken von Einzelpersonen häufig ist; vgl. I. Lindos 18, 22, 29, 30, 31, 33, 43, 54, 66, 67 und SEG 38.783c. 99 IG I3 696 (= Raubitschek, Dedications 291 = Löhr, Familienweihungen 25); IG I3 718 (= Raubitschek, Dedications 53 = Löhr, Familienweihungen 32); IG I3 731 (= Raubitschek, Dedications 29 = Löhr, Familienweihungen 24); IG I3 783 (= Raubitschek, Dedications 227 = Löhr, Familienweihungen 30); SEG 16.14 (= Agora I. 5517 = Löhr, Familienweihungen 18). 100 Die zwei frühesten Inschriften aus Lindos (frühes 6. Jh.), sind nur durch die Lindische Tempelchronik überliefert, I. Lindos 2, B 101–108 (= Löhr, Familienweihungen 2) und C, 15–18 (= Löhr, Familienweihungen 8); im zweiten Fall geben die Weihenden Sybaris als Heimatstadt an; die Erwähnung von Schiffen in beiden Inschriften legt nahe, dass die Gewinne aus dem Seehandel stammten; vgl. die Kommentare von Löhr 2000 und Higbie 2003 ad loc., sowie Jim 2014, 154, die allerdings mit Recht die zweifelhafte Historizität dieser Angaben betont; zwei ebenfalls frühe Zehntgaben von Brüdern stammten aus Didyma, I. Didyma 1 (= Löhr, Familienweihungen 4)
11.2 Die Kooperation von Brüdern
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zudenken muss, zeigen, dass die Söhne und Brüder trotz Mündigkeit als erweiterter Haushalt gemeinsam und ihren familiären Erfolg mit Stolz am prominentesten Ort der Stadt präsentierten. 11.2.3 Die Aufteilung des väterlichen Vermögens Die Inschriften aus Olbia zeigen, dass Brüder nicht automatisch als Vermögenspartner galten, sondern nur, wenn sie ein ungeteiltes Vermögen behielten.101 Das Gleiche gilt für Söhne. Schmitz hat die These vertreten, dass die Hausübergabe inter vivos in archaischer Zeit feste Regel war, weil die bäuerliche Hauswirtschaft einen Hausvorstand in Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte erforderte.102 Die These ist nicht ohne Probleme. Besser dokumentierte bäuerliche Erbregelungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zeigen, dass eine Vielzahl von Erbschaftspraktiken parallel zueinander bestehen konnten.103 Außerdem fehlen die Belege für eine ‚offizielle‘ Übergabe der Hausgewalt – sicher belegt ist die rechtsgültige Vermögensaufteilung in Athen nur in drei Fällen.104 Schmitz’ Hypothese ist insofern wegweisend, als sie den Fokus weg von einer formaljuristischen Betrachtung hin zur sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung des Erbgangs verschiebt. Selbst wenn in klassischer Zeit ein Erbgang inter vivos nicht verbindlich vorgeschrieben war, galt, dass ein Vater im Alter zunehmend auf die Unterstützung seines Sohns angewiesen war, während ein Sohn wiederum erst dann wirtschaftlich handlungsfähig war, wenn der Vater ihm zumindest faktisch einen Teil des Vermögens zur eigenen Verwendung überließ.105 Die Autoren der klassischen Zeit suggerieren in eben diesem Sinn, dass der Zeitpunkt der Übergabe des Hauses eine Frage hauswirtschaftlichen Kalküls war. Ein Vater, heißt es bei Platon, wird seinem Sohn „alles (d. h. sein Haus) anvertrauen“ (ἐπιτρέπειν und 7; Löhr, Familienweihungen 5 (ebenfalls aus Didyma) ist interessant, weil hier Brüder offenbar mit einer weiteren (nicht-verwandten?) Person zusammen stiften – Löhr 2000 ad loc. vermutet einen Geschäftspartner; eine Inschrift aus Delos, I. Délos 17 (= Löhr, Familienweihungen 19), wird in das frühe 5. Jh. datiert; eine Statuenweihung in Delphi aus der Mitte 5. Jhs., F. Delphes III 4, 453 (= Löhr, Familienweihungen 52), stammte von zwei Brüdern aus Metapontion. Vgl. zu privaten Aparchai und Dekatai Jim 2014, 133–175. 101 S. Kap. 11.1. 102 Schmitz 2004b, 205–207, 230–233, gefolgt von Timmer 2008, 154–167. Hübner 2017, 14 schreibt irreführend über das klassische Athen, dass Väter dort mit etwa sechzig ihre „headship and patrimony“ übergeben hätten. 103 Mitterauer 2004, 76 f. 104 Zum Fehlen einer rituellen Hausübergabe Hartmann 2007, 44; zu den Erwähnungen von inter vivos Erbgängen in Athen bei Lys. 19.36 f. und [Demosth.] 43.19; vgl. Humphreys 2018, 150. 105 Wenn das Stadtrecht von Gortyn festlegt, dass die Vermögensteilung zu Lebzeiten der Eltern nicht zwingend ist, I. Cret. IV 72, sp. 4, 27 f., bestätigt dies einerseits, dass es keinen gesetzlichen Zwang zur Vermögensweitergabe inter vivos gab, und andererseits zugleich, dass ein entsprechender faktischer Druck eine Klärung der Gesetzeslage erforderte.
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πάντα), wenn er meint, dass dieser in ein Alter gekommen sei, in dem er besser für sich selbst und seinen Besitz sorgen könne als der Vater, so wie man auch einem Nachbarn „die Verwaltung des Hauses anvertraue“ (τὴν αὑτοῦ οἰκίαν οἰκονομεῖν), wenn man ihn in „der Haushaltung“ (περὶ οἰκονομίας) für geeigneter halte.106 Demokrit forderte die frühzeitige Ausstattung der Söhne mit eigenem Besitz, um sie zu effizientem Wirtschaften zu erziehen:107 Das Vermögen soll man möglichst bald unter den Kindern verteilen und zugleich darauf achten (ἐπιμέλεσθαι), dass sie, wenn sie es in Händen haben, nichts Schädliches damit tun. Denn zugleich gehen sie viel sparsamer mit dem Geld um und sind eifriger im Erwerben und treten dabei in einen Wettbewerb miteinander (φειδότεροι γίγνονται ἐς τὰ χρήματα καὶ προθυμότεροι κτᾶσθαι, καὶ ἀγωνίζονται ἀλλήλοισιν). Denn bei gemeinsamer Verwaltung sind die Ausgaben nicht so unangenehm wie bei einem Einzelhaushalt und die Einnahmen machen nicht so viel Freude, sondern viel weniger.
Unklar ist, ob Demokrit eine rechtskräftige Aufteilung des Erbes meint, weil er kein attisches Rechtsvokabular verwendet.108 Klar ist, dass Demokrit empfahl, die Söhne früh an der Hauswirtschaft zu beteiligen, um sie „sparsamer und erwerbstüchtiger“ zu machen.109 Unter dem Gesichtspunkt der hauswirtschaftlichen Rationalität ist Schmitz’ Hinweis auf den Zusammenhang von Erbgang und Heirat wichtig. Mit der Heirat des Sohns entstanden ein neuer Hausstand und neue Nachkommen – und damit im Fall eines ungeteilten Vermögens ein gefährlicher Interessenkonflikt zwischen dem oikos als ‚ganzem Haus‘ der patrilinearen Verwandtschaftsgruppe und dem oikos als jeweiligem Haushalt des einzelnen Hausherrn. Deshalb war die Heirat eines oder mehrerer Söhne ein natürlicher Zeitpunkt, um das Vermögen des Vaters zu dessen Lebzeiten aufzuteilen.110 Für die Anpassungsfähigkeit der Hauswirtschaft an die kommerzialisierte Verkehrswirtschaft war wichtig, dass ungeteilte Familienvermögen es erlaubten, Geschäftspartnerschaften mit unbegrenzter Haftung zu bilden, ohne dafür ein zusätzliches Rechtsinstrument entwickeln zu müssen.111 Ebenso gut ließen sich Partnerschaften mit 106 Plat. Lys. 209c–d; vgl. die Bestimmungen zur Vermögensaufteilung, leg. 11, 923c–e. 107 Demokr. fr. B 279 DK 68 (= Stob. 4.26,25): τοῖς παισὶ μάλιστα χρὴ τῶν ἀνυστῶν δατεῖσθαι τὰ χρήματα, καὶ ἅμα ἐπιμέλεσθαι αὐτῶν, μή τι ἀτηρὸν ποιέωσι διὰ χειρὸς ἔχοντες· ἅμα μὲν γὰρ πολλὸν φειδότεροι γίγνονται ἐς τὰ χρήματα καὶ προθυμότεροι κτᾶσθαι, καὶ ἀγωνίζονται ἀλλήλοισιν. ἐν γὰρ τῶι ξυνῶι τὰ τελεύμενα οὐκ ἀνιᾶι ὥσπερ ἰδίηι οὐδ’ εὐθυμεῖ τὰ ἐπικτώμενα, ἀλλὰ πολλῶι ἧσσον. Übers. M. Gemelli Marciano. 108 Etwa δατεῖσθαι τὰ χρήματα statt τὴν οὐσίαν νέμεσθαι und ἐν τῶι ξυνῶι statt κοινωνικός. 109 Vgl. Herlihy 1995, 207 (mit Blick auf Florenz): „Considerations of property and its management also prompted the merchants to emancipate and endow even very young sons.“ 110 So im bekannten Fall der Nachfahren des reichen Buselos, [Demosth.] 43.20. 111 Von anderer Form aber gleicher Funktion war die Beschränkung der Haftung auf das peculium des Sohns in Rom; sie erlaubte die Geschäftstätigkeit eines Sohns, der noch der patria potestas unter-
11.2 Die Kooperation von Brüdern
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begrenzter Haftung bilden, indem man nur einen Teil des Vermögens (typischerweise: den Grundbesitz) ungeteilt ließ, so wie Diodotos und Diogeiton in Athen oder die Familien in Lindos. War keine Kooperation erwünscht oder möglich, ließ sich die Kollektivhaftung jederzeit durch eine Vermögensaufteilung beenden. David Herlihy hebt für das mittelalterliche Italien die Bedeutung dieser Form der Haftungsbegrenzung für den Fernhandel hervor. Hätten Väter und Brüder unbedingt für die Schulden ihrer Verwandten gehaftet, wären Geld- und Handelsgeschäfte über weite Distanzen hinweg mit unkontrollierbaren Risiken verbunden gewesen. Es konnte daher sinnvoll sein, die Kollektivhaftung als Haushalt im rechtlichen Sinn des ungeteilten Vermögens aufzuheben, selbst wenn die Kooperation weiterhin auf der Zugehörigkeit zu einem Haus im sozialen Sinn beruhte.112 So auch in Athen. Androkles wollte Lakritos für die Schulden seines jüngeren Bruders haftbar machen. Lakritos erwiderte, der eigentliche Vertrag sei nur mit dem Bruder, nicht mit ihm geschlossen worden, und dessen Erbe habe er nach dessen Tod nicht angetreten.113 Und auch im Fall des oben erwähnten Seedarlehens an die zwei Brüder aus Eleusis traten die beiden zwar als Partner auf, hafteten jedoch separat.114 Als ein Trierarch den Bruder seines Vorgängers für dessen Schulden haftbar machen wollte, behauptete dieser, das Vermögen sei bereits aufgeteilt worden.115 Auch nicht-kommerzielle Risiken der Hauswirtschaft konnten durch Vermögensaufteilungen begrenzt werden. Das Vermögen von Apollodoros und Pasikles teilten die Vormünder von Pasikles (angeblich) deshalb auf, um zu verhindern, dass Apollodoros’ hohe Ausgaben für sozialen Konsum das produktive Vermögen seines Bruders schmälerten.116 Der Zeitpunkt der Vermögensaufteilung richtete sich also im Sinne von Schmitz nach den Erfordernissen der Hauswirtschaft und konnte strategisch gegen die Ansprüche Dritter eingesetzt werden.117 Die Flexibilität einer faktischen inter-vivos-Übergabe war deshalb nicht nur in der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern gerade auch bei Geldgeschäften wichtig.
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stand; vgl. Cantarella 2003, 288. Herlihy 1995, 207. [Demosth.] 35.44; zum möglichen rechtlichen Hintergrund dieses Streitpunkts Isager/Hansen 1975, 172–175. Dazu oben Anm. 227. [Demosth.] 47.34 f. Womöglich war das unwahr; der Vater der beiden lebte nämlich noch und der unverheiratete Bruder lebte mit ihm zusammen, dazu Humphreys 2018, 167. Demosth. 36.7 f.; dazu ausführlich im folgenden Kapitel. Humphreys 2018, 166 f. verweist darauf, dass der nach außen unklare Status der Besitzverhältnisse für die Familie durchaus vorteilhaft war.
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11.2.4 Altersspezifische Arbeitsteilung und Statuserwerb Wie alle Strukturen der Hauswirtschaft diente die Arbeitsteilung unter Brüdern nicht nur kommerziellen Zwecken im engeren Sinn, sondern zugleich einer umfassenderen ‚Ökonomie der Ehre‘. Entsprechende Fälle finden sich ebenfalls in den attischen Gerichtsreden. Es ist vielleicht kein Zufall, dass alle drei im Folgenden erörterten Fälle Aufsteiger-Familien betreffen. Angesichts der Risiken und Kosten des sozialen Aufstiegs mussten diese Familien besonders mit ihrem akkumulierten Kapital haushalten.118 Die Rolle desjenigen Vertreters der Familie, der öffentlich repräsentierte, kam dabei offenbar dem älteren Sohn zu. Demosthenes der Ältere, der Vater des berühmten Redners, war ein reicher Unternehmer, trat jedoch nie durch Liturgien oder Ämterbekleidung in Erscheinung. Sein älterer Bruder Demon hingegen bekleidete ein Priesteramt und leistete Liturgien.119 Das Problem, wie man gleichzeitig ehrenvoll leben und das dazu nötige Geld erwerben soll, wurde also durch die personelle Arbeitsteilung der zwei Familienzweige gelöst. In der dritten Generation sollte eine Cousinenheirat das symbolische Kapital des einen Familienzweigs mit dem materiellen Kapital des anderen wiedervereinen. Das Testament des Demosthenes sah vor, dass seine Tochter ihren Cousin Demophon, den Sohn seines Bruders Demon, heiraten solle.120 Der Plan scheiterte bekanntermaßen. Demosthenes’ Tochter heiratete stattdessen Laches, Sohn des Demochares, d. h. ihren Cousin mütterlicherseits. Man wich also – als Notbehelf? – von den Agnaten auf die Kognaten aus.121 Womöglich hatte Demophon das Interesse an der Cousinenheirat verloren, weil er als Vormund der Kinder von Demosthenes dem Älteren in die Lage gekommen war, sich das materielle Kapital auch ohne Heirat anzueignen. Wir kennen nur die Perspektive von Demosthenes dem Jüngeren, der seinem Cousin diesen Vertrauensbruch als Schandtat ankreidet. Die Perspektive ließe sich jedoch auch umdrehen. Demosthenes war seit seiner Jugend auf eine öffentliche Karriere vorbereitet worden, worauf er selbst mit Stolz verweist.122 Aus Sicht seiner Verwandten könnte also bereits sein Vater, Demosthenes der Ältere, die Arbeitsteilung zwischen den zwei Familienzweigen aufgekündigt haben, als er beschloss, sein großes Vermögen vorrangig für die politische Laufbahn seines direkten Nachfahren Demosthenes zu verwenden.123
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Cantarella 2003, 289 nimmt an, dass sich in Rom manche Väter dafür entschieden, angesichts der hohen Kosten nur einem Sohn eine politische Karriere zu finanzieren. 119 Zur Familie s. Davies 1971, 113–138; Pomeroy 1997, 162–182; Cox 1998, 18–20. 120 Demosth. 27.4, 16, 45; 28.15, 19. 121 Cox 1998, 20. 122 Demosth. 18.257. 123 Burke 1998 vermutet ebenfalls, dass die Verwandten stärkere Gründe für ihr Vorgehen hatten als bloße Gier; innerhalb der Familie sei eine ideologische Konfliktlinie verlaufen: zwischen Demosthenes dem Älteren, der als Vertreter einer neuen unternehmerischen Elite gewinnträchtig agierte, ohne sich um öffentliche Leistungen und Landbesitz zu kümmern, und seinen traditionell
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Bei zwei weiteren prominenten Brüderpaaren lässt sich eine ähnliche Arbeitsteilung vermuten. Die athenischen Metöken Polemarchos und Lysias (über den dritten Bruder Euthydemos ist fast nichts bekannt) erbten das große Vermögen ihres Vaters Kephalos.124 Dazu gehörte eine große sklavenbetriebene Schildwerkstatt, die im Gemeinbesitz der Brüder verblieb, obwohl die Brüder ansonsten über individuelle Geldmittel verfügten, getrennt wohnten und Polemarchos bereits verheiratet war.125 Wie Diodotos und Diogeiton hatten die Brüder also die ‚unsichtbaren Güter‘ aufgeteilt, aber die ‚sichtbaren‘ in Gemeinbesitz belassen.126 Lysias’ Verantwortung für die unternehmerische Leitung der Werkstatt wird nirgendwo ausdrücklich festgestellt, lässt sich jedoch daraus erschließen, dass die Werkstatt neben seinem Haus lag oder sogar Teil desselben war, während Polemarchos anderswo wohnte.127 Bekannt ist außerdem, dass Lysias als Redenschreiber Geld verdiente, während sein älterer Bruder sich der Philosophie widmete und mit der ‚feinen Gesellschaft‘ Athens seiner Zeit Umgang pflegte.128 Platon hebt die Differenz ihres Lebenswandels ausdrücklich hervor. Im Phaidros betet Sokrates, Lysias möge vom Redenschreiben ablassen und sich stattdessen der (würdigeren) Tätigkeit der Philosophie widmen, wie es bereits sein Bruder tut.129 Diese Differenz der Lebensführung – vorausgesetzt sie ist keine Konstruktion Platons130 – bedeutete keine familiäre Entfremdung. Lysias heiratete seine Nichte, die Tochter seiner Schwester.131 In seiner Rede Gegen Eratosthenes spricht er von „uns“ und „wir“ und rechnet die gemeinnützigen Ausgaben den Brüdern gemeinsam an, genau wie die Einnahmen aus der Schildwerkstatt.132 Das ökonomische und symbolische Kapital, das man in getrennten Hausständen erwarb, wurde ideell dem ‚ganzen Haus‘ angerechnet. Unterschiede in der Lebensführung deuten sich schließlich auch bei Apollodoros und Pasikles an, den Söhnen des Pasion, der als Bankmann vom unfreien Geschäfts-
gesinnten Verwandten, die ihn dafür verachteten und deshalb sein Vermögen ausplünderten; für die vielen Zeichen langfristiger Kooperation, die dieser Erklärung widersprechen, bietet Burke allerdings keine Erklärung. 124 Zur Familie des Lysias s. Kap. 4.1.1 mit Anm. 41. 125 Lys. 12.18 f.; die Erträge der Werkstatt werden als τῶν ἡμετέρων bezeichnet; Davies 1971, 589 vermutet „joint ownership“; sein Bargeld verwahrte Lysias im eigenen Haus und verfügte darüber individuell, Lys. 12.10 f. 126 Ein solches Arrangement deutet wohl auch Is. 2.28 an. 127 Lys. 12.8, 12, dazu Davies 1971, 590, Nails 2002, 192 und Humphreys 2018, 164. 128 Polemarchos tritt als Sprecher in der Politeia auf; besonders die Eingangsszene, rep. 1, 327a–328b, zeigt ihn als Mitglied der feinen Gesellschaft. 129 Plat. Phaidr. 257b. 130 Seit wann Lysias Auftragsreden schrieb, ist nämlich unsicher; vgl. die Belege bei RE 13.2 (1927), s. v. Lysias, sp. 2533 f. (W. Plöbst) und Überlegungen von Dover 1968, 32 f. und Guthrie 1975, 397; trifft zu, dass er damit erst nach 403 begann, also nach dem Tod des Polemarchos, wäre Platons Darstellung ein bewusster Anachronismus. 131 [Demosth.] 59.22; von Polemarchos sind keine Kinder bekannt, Davies 1971, 589. 132 Lys. 12.20.
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führer zum Freigelassenen und Neubürger aufstieg.133 Um den Makel dieser Herkunft zu übertünchen, verhielt sich Apollodoros ‚athenischer als die Athener‘ und lebte ostentativ ehrenvoll.134 Er führte das Bankgeschäft nicht fort, sondern wählte das Einkommen aus einer verpachteten Werkstatt, weil es „sicherer“ sei.135 Er zog auf sein Landgut136 und verbrauchte sein Vermögen für Liturgien, Politik und Prozessieren.137 Apollodoros’ Sichtbarkeit steht im Kontrast zur Unsichtbarkeit seines jüngeren Bruders Pasikles, der das riskantere Bankgeschäft erbte. Er leistete nicht nur keine nachweisbaren Liturgien, sondern versuchte später sogar, sich seiner finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Stadt zu entziehen.138 Zum Bruch zwischen den Brüdern kam es 350/349, als Apollodoros Phormion verklagte, der freigelassene ehemaliger Verwalter seines Vaters, der zugleich ehemaliger Vormund des Bruders Pasikles und Ehemann der Mutter Archippe war.139 Pasikles sagte vor Gericht für Phormion aus, wofür Apollodoros ihn wüst schmähte und verleumdete.140 Beide Prozessparteien versuchten zu zeigen, dass der jüngste Gerichtsstreit Folge eines bereits länger schwelenden Konflikts war, für den man jeweils die Gegenseite verantwortlich machte. Phormions Beiredner, der die Rede für diesen hielt, behauptete, die Vormünder hätten das Vermögen gleich zu Beginn der Vormundschaft (370/369) unter den Brüdern aufgeteilt, weil sie sahen, dass Pasikles’ Erbteil sonst bis zum Ende der Vormundschaft (362) von Apollodoros’ maßlosen Ausgaben aufgebraucht sein würde.141 Wie in den bereits diskutierten Fällen beschränkte sich die Aufteilung allerdings auf den ‚unsichtbaren Besitz‘, Bank und Werkstatt wurden als Gemeinbesitz vermietet.142 Selbst nach dem Ende der Vormundschaft 362, als auch Bank und Werkstatt endgültig aufgeteilt wurden, bedeutete das eine formale, aber keine praktische Trennung. Denn die fortdauernde Verpachtung von Bank und Werkstatt und die von Apollodoros eingetriebenen Ausstände generierten weiterhin gemeinsame Einnahmen, über die Apollodoros als älterer Bruder verfügte.143 Die förmliche Aufteilung des Vermögens bedeutete also vorerst keinen Bruch mit der gemeinschaftlichen Bewirtschaftung des Vermögens, sondern diente dazu, einen Teil des Vermögens vor den Risiken von Apollodoros’ öffentlicher Karriere zu schützen. Apollodoros behauptete zwar, er habe sofort eine Klage wegen der Heirat seiner Mutter mit Phormion und dessen angebliche Verfehlungen als Vormund anstrengen wol133 134 135 136 137 138 139
Zur Familie Davies 1971, 427–442 und Trevett 1992, 1–17. Trevett 1992, 167–179; Deene 2011, 169–174. Demosth. 36.11; 34 f. [Demosth.] 53.4. Demosth. 36.39, 41; 53; [Demosth.] 50 passim; zu den Liturgien Davies 1971, 440–442. Davies 1971, 442 mit Hyp. fr. 134–137 Jensen. Demosth. 36.8, 11–14, 28; [Demosth.] 45.13, 28–33, 39; vgl. Cohen 1992, 103 und Davies 1971, 435– 437. 140 [Demosth.] 45.37; 83 f. 141 Demosth. 36.7 f. 142 Demosth. 36.4–6, 9; zu Bankeinlagen als ‚sichtbarer Besitz‘ s. [Demosth.] 45.30; 48.12. 143 Demosth. 36.11–14, 20, 36 f., 41 mit Davies 1971, 433 f.
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len und sei nur durch äußere Umstände daran gehindert worden.144 Diese Behauptung steht allerdings in Missverhältnis dazu, dass seit Phormions Heirat achtzehn Jahre, und seit dem Tod von Archippes Mutter acht Jahre vergangen waren, in denen Apollodoros ausreichend Zeit für etliche andere Privatprozesse gefunden hatte. So gesteht Apollodoros umgehend selbst ein, dass er seine angeblich eingereichte Graphē hybreōs verfallen ließ und sich mit Phormion vertrug.145 Allen persönlichen Spannungen zum Trotz hatten die beiden Brüder, ihre Mutter und ihr ‚Stiefvater‘ Phormion in den zwanzig Jahren nach dem Tod des Pasion erfolgreich kooperiert, um die Einheit von dessen ‚ganzem Haus‘ ideell und finanziell zu wahren. Als Quellen sind die Gerichtsreden systematisch in Richtung von Konflikten und Fehlschlägen verzerrt. Gerade diese Konfliktfälle sind jedoch aufschlussreich, weil sie die Funktionszusammenhänge und Bruchkanten offenlegen. Sie zeigen, dass die verwandtschaftliche Kooperation, auch solange sie funktionierte, spannungsgeladen war. Denn die Verteilung der Rollen und Aufgaben erfolgte nicht nach individuellen Präferenzen, sondern war vom Kalkül der Hauswirtschaft diktiert, das von Vätern, Verwandten oder dem bloßen ‚Sachzwang‘ der Kosten standesgemäßer Lebensführung erzwungen war. Öffentliche Karriere und männliche Nachkommen gehörten zu den höchstgeschätzten Werten der athenischen Gesellschaft. Wer auf sie verzichtete und sich stattdessen den mühseligen und schlechter angesehenen Tätigkeiten der Vermögensverwaltung und des Gelderwerbs widmete, brachte ein persönliches Opfer. 11.3 Altersspezifische Mobilität Die Rolle, die man in der verwandtschaftlichen Arbeitsteilung einnahm, hing vom Lebensalter ab. Sopaios stattete seinen Sohn mit Schiffen, Geld und Getreide aus, damit dieser „Handel treibe und die Welt sehe“, während er in hoher politischer Stellung in der Heimat blieb (Kap. 11.1). Der Kaufmann Diodotos erwarb erst ein Vermögen. Danach heiratete er und absolvierte seinen Hoplitendienst (Kap. 11.2.1). Die jungen Brüder des Lakritos gingen auf Handelsreise, während er selbst als angesehener Mann in Athen residierte und „nach dem Rechten schaute“ (Kap. 11.2.2). Diese Fälle zeigen bereits, dass altersspezifische Mobilität typisch war und in engem Bezug zu familiären Strategien stand. Sie ist bisher allerdings nie eigens untersucht worden.146
144 [Demosth.] 45.3–5 mit Sandys/Paley 1896, 63 f.; vgl. [Demosth.] 46.21; 53.9. 145 [Demosth.] 45.4. 146 Humphreys 1978b, 162–168 bietet einige Bemerkungen zur sozialen Mobilität von Söldnern und Kaufleuten in archaischer Zeit, ähnlich Luraghi 2006; vgl. McKechnie 1989 zu ‚Außenseitern‘ im 4. Jh.: Ihre Mobilität deutet er als Krisenphänomen, das den Haushalt unter Druck gesetzt habe, etwa ebd. 190 f. zur Rückkehr von Händlern; Timmer 2008, 184–199 zur Bedeutung von Altersgrenzen im Wirtschaftsleben (ohne Berücksichtigung von Mobilität).
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Die griechische Anthropologie beschrieb altersspezifisches Verhalten als Gegensatz von jungen und alten Männern. Die Alten (πρεσβύτεροι) sind erfahren, doch geizig. Sie bewachen ihr Vermögen und partizipieren am städtischen Regiment. Die Jungen (νέοι) sind wagemutig und streben nach Ruhm, Reichtum und Genuss.147 In den gelehrten Abhandlungen sind die Väter aktive Bürger, während ihre Söhne sich dem Sport, der Jagd oder ihren Liebschaften widmen, anstatt zu arbeiten. Diese Sicht gibt die Realität reicher und angesehener Haushalte wieder, den Adressatenkreis dieser Schriften. Der Gemeinplatz der entgegengesetzten Altersgruppen stützte sich jedoch auf eine sozial breitere lebensweltliche Basis. Er war plausibel, weil er den zwei entscheidenden Lebensaltern eines erwachsenen Mannes entsprach. Mit 18 Jahren wurde er volljährig und damit geschäftsfähig. Mit etwa 30 Jahren sollte er heiraten und einen eigenen Hausstand gründen.148 Dazwischen lagen etwa zehn Jahre, um ein Vermögen als Grundlage des eigenen Haushalts zu erwerben.149 Dieser Lebensabschnitt war insbesondere für diejenigen jungen Männer eine kritische Phase, die aufgrund von Realteilung oder der Lebensführung des Vaters vom sozialen Abstieg bedroht waren. Wiederum ist der Vergleich mit den italienischen Städten des Mittelalters nützlich, um Hypothesen zu entwickeln, weil die bessere Überlieferungslage für individuelle Lebensläufe erkennen lässt, in welchem strukturellen Verhältnis Alter und Mobilität standen. In den italienischen Städten des Mittelalters entsprachen das Alter von Männern bei Mündigkeit und Heirat ziemlich genau den griechischen Verhältnissen. Dort ist gut dokumentiert, dass junge Männer auszogen, um in der Fremde als Kaufleute ihr Glück zu suchen und erst heirateten, wenn sie mit erworbenen Vermögen heimkehrten.150 Ein Beispiel ist die Karriere des berühmten ‚Kaufmanns von Prato‘, Francesco Datini. Die Karriere des verwaisten Sohns eines Tavernenwirts begann 1347, als er sein geringes Erbe (ein Stück Land) verkaufte und als Kaufmann nach Avignon ging. In 147 Zu den Lebensaltern s. Schmitz 2007, 35–37 mit Aristot. eth. Nic. 8, 1156 a 24–b 6 und rhet. 2, 1389 a 3–1390 a 27; vgl. Wagner-Hasel 2012, 68–72; vgl. das Sprichwort: Ἔργα νέων, βουλαὶ δὲ μέσων, εὐχαὶ δὲ γερόντων, zitiert bei Hyp. fr. 57 Jensen; Xen. equ. 2.1: Die (reichen) Jungen sollen sich körperlich in Form halten und den Reitsport pflegen, während die Alten sich besser dem Haus (oikos), den Freunden, der Bürgerschaft und dem Krieg widmen; die Gegenüberstellung des jugendlich, heroischen und des alten, weisen Mannes findet sich in attischen Grabreliefs wieder, etwa im bekannten Ilissos-Relief aus den 320er-Jahren; dazu Himmelmann 1956 mit vergleichbaren Grabdarstellungen (ebd. Abb. 45, 46 und 53). 148 Zum Heiratsalter s. Gallant 1991, 17–22, Hartmann 2002, 100 f., Schmitz 2007, 29; zum Alter der Mündigkeit in Athen siehe Golden 1979, 30–38 gegen Sealey 1957. 149 van Wees 2004, 41 zu Söldnern. 150 Najemy 2006, 226; weil in Florenz römisches Recht galt, demzufolge alle nicht-emanzipierten Söhne der patria potestas unterstanden, gibt es hier kein einheitliches Mündigkeitsalter; die Emanzipation war allerdings üblich und erfolgte durchschnittlich mit zwanzig Jahren, s. Herlihy 1995, 198–205; vgl. ebd. 206 f. zur Mobilität junger Florentiner als Händler; zum Heiratsalter Herlihy/ Klapisch-Zuber 1985, 203–211; Alberti gibt im zweiten Buch von Della Famiglia an, dass eine Heirat unter 25 allgemein als schädlich angesehen wird, Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972), S. 131.
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der Stadt, die damals Papstresidenz war, handelte er persönlich und in kleinen Mengen mit Tuch und Waffen. Auf diese Weise gelangte er zu Reichtum und heiratete die Tochter einer verarmten kleinadeligen Familie aus Florenz. 1382 kehrte er in seine Heimatstadt Prato zurück und ließ sich dort dauerhaft nieder – was seine Freunde und Verwandten seit Längerem von ihm gefordert hatten.151 Als junger Mann war er Risiken eingegangen und hatte in der Fremde ein lockeres Leben mit Frauen und Wein geführt. Zurück in Prato verwendete er seinen Reichtum, um ein repräsentatives Haus zu bauen und Landgüter zu erwerben, von denen er seinen Haushalt ernährte. Seine Geschäfte lenkte er weiter, allerdings nur noch vom Schreibtisch aus als Investor und Koordinator. Mit seiner neuen Rolle als ordentlicher Hausvater ging eine standesgemäße Lebensführung einher: Er wurde Bürger von Florenz, saß im Rat von Prato und bewirtete angesehene Gäste.152 Datinis Biographie gibt Anstoß zu einer Hypothese: Profite aus Handel und Geldverleih und ein ehrbares Leben als Stadtbürger ließen sich vereinen, wenn man den Erwerb eines Vermögens und dessen Verwendung zeitlich und räumlich trennte. In Avignon war Datini ein gieriger Händler aus der Fremde. In seiner Heimatstadt war er ein großzügiger und ehrenvoller Bürger. Datinis Leben lässt sich aus hunderttausenden privaten Dokumenten rekonstruieren. Etwas Vergleichbares fehlt dem Althistoriker. Umso bemerkenswerter ist es, dass eine Rede, die um 393–390 in Ägina vor Gericht in einem Erbschaftsstreit gehalten wurde, uns einen ganz ähnlichen Lebenslauf schildert.153 Thrasyllos aus Siphnos erbte kein Vermögen von seinen Eltern. Er war jedoch mit dem Wahrsager Polemainetos als Gastfreund so „häuslich vertraut“ (οἰκείως) geworden, dass dieser ihm seine mantischen Bücher zusammen mit etwas Geld vererbte. Mit diesem „Startkapital“ (ἀφορμή) begann Thrasyllos, die Kunst des Wahrsagens auszuüben. Er lebte in vielen Städten und mit vielen Frauen zusammen, deren Kinder er allerdings nie anerkannte (Datini zeugte in Avignon ebenfalls einen unehelichen Sohn154). Als er schließlich „ein großes Vermögen erworben hatte“, sehnte er sich in die Heimat zurück. Er verließ seine damalige Lebensgefährtin und suchte sich in Siphnos eine Braut aus guter Familie. Denn, so führt der Redner aus, Thrasyllos sei zwar „an Reichtum der erste unter den Bürgern gewesen“, er habe aber gewusst, „dass unser Haus (τὴν ἡμετέραν οἰκίαν, d. h. die Familie seiner Ehefrau) ihm an Abstammung und Ansehen überlegen war“.155 Seine beiden Söhne (aus einer zweiten Ehe nach dem Tod dieser Ehefrau) wurden zu einflussrei151
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Brucker [1962] 1969, 134–137; Origo [1957] 1993, 21–44; 1375 schreibt Francescos Freund Nicholozzo ihm in einem Brief: „Und nun komm nach Hause, nimm Dir eine Frau und zeuge Erben, denen Du einmal all den Reichtum, den Du mit so viel Mühen angehäuft hast, in Liebe und mit Freude hinterlassen kannst.“ Zitiert nach Origo, op. cit., 37. Origo [1957] 1993, 91–120, 201–230. Isokr. 19.5–10. Origo [1957] 1993, 37. Isokr. 19.7: πλούτῳ μὲν αὐτὸς πρῶτος ὢν τῶν πολιτῶν, γένει δὲ καὶ τοῖς ἄλλοις ἀξιώμασιν εἰδὼς τὴν ἡμετέραν οἰκίαν προέχουσαν.
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chen Politikern, bevor sie im Zuge eines Bürgerzwists ins Exil gingen.156 Wie bei Datini sind bei Thrasyllos physische und soziale Mobilität verknüpft. In der Fremde erwarb er das Vermögen, das ihm die Heirat in eine alte angesehene Familie seiner Heimat ermöglichte. Seine Söhne stiegen in die politisch aktive Oberschicht auf.157 11.3.1 Händler Das Beispiel des Thrasyllos illustriert, welche Möglichkeiten sich mobilen Fachleuten in der polyzentrischen ägäischen Städtewelt boten. Strukturell notwendig war Mobilität im Fernhandel und hier finden sich die meisten Belege dafür, dass diese temporäre Migration (im Idealfall) in den Lebensabschnitt zwischen Volljährigkeit und Heirat fiel. Der schon mehrfach erwähnte Athener Diodotos erwarb erst ein Vermögen, dann heiratete er, dann diente er als Hoplit – und fiel. Seine Witwe heiratete erneut. Seine drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, wurden der Vormundschaft ihres Onkels Diogeiton unterstellt. Als der ältere der beiden Söhne im Jahr 400 volljährig wurde, erklärte Diogeiton ihm:158 Ich habe bis jetzt viel von meinem [Vermögen] für euren Unterhalt ausgegeben. Solange ich es hatte, hat es mich nicht gestört: Nun aber bin ich selbst auch ohne Mittel. Jetzt, wo du zum Bürger gemacht und zum Mann geworden bist (δεδοκίμασαι καὶ ἀνὴρ γεγένησαι), musst du selbst schauen, von woher du deine Mittel erhältst.
Die Erzählung dieses Gesprächs dient dem Sprecher dazu, seinen Gerichtsgegner Diogeiton als Mann darzustellen, der aus Habsucht die eigene Familie verrät. Die Erwartung, die Diogeiton in dem Gespräch angeblich formulierte, laut der ein volljähriger
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§ 10–12, 18–27. Thrasyllos’ ‚märchenhafte‘ Erfolgsgeschichte ähnelt der von Herodot erzählten Legende von Demokedes von Kroton, „dem geschicktesten Arzt seiner Zeit“, Hdt. 3.125,1, 3.129–137; Demokedes verließ seine Heimatstadt wegen eines Streits mit seinem Vater und ging nach Ägina; dort erlernte er die Heilkunst und praktizierte sie so erfolgreich, dass Ägina und Athen ihn als öffentlichen Arzt beriefen, bevor er an den Hof des Tyrannen Polykrates von Samos und dann des persischen Großkönigs Dareios in Susa gelangte; trotz hoher Entlohnung und Ehrung wollte Demokedes in die Heimat zurückkehren; durch einen Trick gelang es ihm samt einem Frachtschiff mit Reichtümern für seine Brüder nach Kroton zurückzukehren; dort heiratete er die Tochter des berühmten Ringkämpfers Milon; Herodot schließt mit der eigenen Interpretation, Demokedes habe die Heirat wohl deshalb so beschleunigt und „viel Geld dafür ausgegeben“, um Dareios zu zeigen, dass Demokedes „bei seinen Landsleuten angesehen (δόκιμος) sei“, Hdt. 3.137,5; Davies 2010b hat überzeugend argumentiert, dass die Geschichte eine Märchenerzählung ohne Quellenwert für Demokedes’ Leben im 6. Jh. ist; für Herodots Zeit ist jedoch aufschlussreich, welches Motiv er Rückkehr und Heirat unterstellt. Lys. 32.9: ἐγὼ οὖν πολλὰ τῶν ἐμαυτοῦ δεδαπάνηκα εἰς τὴν ὑμετέραν τροφήν. καὶ ἕως μὲν εἶχον, οὐδέν μοι διέφερεν. νυνὶ δὲ καὶ αὐτὸς ἀπόρως διάκειμαι. σὺ οὖν, ἐπειδὴ δεδοκίμασαι καὶ ἀνὴρ γεγένησαι, σκόπει αὐτὸς ἤδη πόθεν ἕξεις τὰ ἐπιτήδεια.
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und damit geschäftsfähiger Sohn damit beginnen sollte, sich nach eigenen Einkünften umzusehen, ist allerdings nicht außergewöhnlich oder anstößig – und wurde von Diogeiton bezeichnenderweise nur an den volljährigen seiner beiden Enkel/Neffen gerichtet.159 In der Komödie träumen Väter davon, einen Sohn (oder Schwiegersohn) zu haben, der sich „aus seinem eigenen Haus nährt“ (οἰκόσιτος).160 Soweit die kurzen Fragmente überhaupt eine Deutung zulassen, besteht der Witz offenbar darin, dass es der absurde Wunschtraum eines geizigen Hausvaters war, dass der Sohn mit der Mündigkeit keinerlei Unterstützung mehr benötigte und der Schwiegersohn keine Mitgift verlange. Dahinter steht jedoch offenbar die Erwartung, dass die Söhne nunmehr durch eigene Einnahmen das väterliche Vermögen entlasten. Demokrit forderte, wie bereits zitiert, die frühzeitige Ausstattung der Söhne mit eigenen Mitteln, um sie zu Fleiß und Sparsamkeit zu erziehen.161 Ironischerweise überliefert die antike Tradition, dass Demokrit selbst gegen dieses Gebot verstoßen habe. Laut Athenaios erhoben die Abderiten gegen ihn öffentliche Anklage, weil er „sein väterliches Erbe verschleudert hat“ (κατεφθαρκότα τὰ πατρῶια). Sie sprachen ihn allerdings frei, als er ihnen aus seiner „großen Kosmologie“ vorlas und einen Vortrag über die Unterwelt hielt und erklärte, dafür – für Bildung – habe er sein Geld ausgegeben.162 Die Historizität dieser Anekdote ist mehr als zweifelhaft, denn sie entspricht dem topischen Erzählmuster vom Weisen, der dem Geld die Erkenntnis vorzieht – was die Menge nicht versteht, aber bewundert.163 Die Historizität ist in diesem Zusammenhang zweitrangig. Wichtig sind die typischen Erwartungen, die ihre Pointe voraussetzt. Das Verhalten von Demokrit (und anderen ‚Weisen‘) ist bemerkenswert, weil es das Gegenteil des üblichen Verhaltens junger Männer ist. Demokrit nimmt zwar seinen Erbteil und geht damit in die Ferne.164 Anstatt allerdings das Erbe zu verwenden, um das Vermögen zu vergrößern, ‚investiert’ er es in Bildung und theoretische Erkenntnis. Die DemokritAnekdote stimmt mit Platons Hinweisen zur Bewertung einer strikt ‚philosophischen‘ Lebensführung dahingehend überein, dass dieses Verhalten nicht nur als untypisch, sondern sogar als normwidrig galt. Der Sohn, der sein Erbe nicht vergrößert, sondern schmälert, verhält sich unverantwortlich gegenüber seinem Haus und damit indirekt 159 Anders als die Rede suggeriert, Adams 1905, 302. 160 Anaxandr. fr. 25 PCG; Men. fr. 98 PCG; vielleicht ist Antiph. fr. 198 PCG genauso zu deuten (alle bei Athen. 6.247f). 161 Demokr. fr. B 279 DK 68 (= Stob. 4.26,25). 162 Demokr. fr. B 0 c DK 68 (= Athen. 4.168b). 163 Vgl. die Thales-Anekdote in Aristot. pol. 1, 1259 a 4–18; vgl. Schlange-Schöningen 2002 zum Topos des armen Philosophen; eine enge Parallele zur Demokrit-Anekdote bietet Cic. Cat. 22: Weil Sophokles im hohen Alter über der Abfassung seiner Tragödien die Haushaltsführung zu vernachlässigen schien, habe sein Sohn ihm die Mündigkeit per Gericht entziehen wollen; Sophokles wurde freigesprochen, als er den Richtern aus dem Stück, an dem er gearbeitet hatte, der Ödipus auf Kolonus, vorlas. 164 Diog. Laert. 9.35 f. berichtet unter Berufung auf Demetrios von Tyros (1. Jh.) und „die Meisten“ (οἱ πλείους) von der Aufteilung eines großen Vermögens unter Demokrit und seinen Brüdern.
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auch gegenüber dem Gemeinwesen als Verband der Hausväter.165 Diese Verdammung der Untätigkeit war in Athen sogar Gesetz in Form des ominösen nomos argias und wurzelte, Winfried Schmitz zufolge, in bäuerlichen Werten.166 Die Regel verschwand allerdings trotz des Anwachsens der geldbasierten Verkehrswirtschaft nicht und war den Athenern im 4. Jh. einigermaßen präsent.167 Anfang des 3. Jhs. wird seine Existenz ausgerechnet für den Handelsknotenpunkt Korinth behauptet, noch dazu in einer Komödie mit dem Titel „Händler“ (Emporos).168 Die Anekdote über Demokrit und die Anspielung auf Korinth zeigen, dass die Norm, das väterliche Haus durch den Auszug in die Fremde zu erhalten, auch jenseits von Athen galt. Das zeigt auch ein weiterer Beleg, der eine dritte Hafenstadt nennt, Thasos. Im einzigen von ihm erhaltenen Fragment dichtet der Parodist Hegemon aus Thasos, er sei trotz seines Alters wegen der Aussicht auf ein Preisgeld zu einem Dichterwettbewerb nach Athen gegangen. Denn der „Mangel“ (σπάνις) habe ihn geplagt, „der viele Thasier in Frachtschiffe (ὁλκάδα) treibt“. Ein weiteres Mal wolle er nicht „für Gewinn“ (ἐπὶ κέρδος) losziehen müssen, sondern den Thasiern „ruhmreiches Silber“ überreichen, damit sich die Sklavinnen in seinem Haus nicht beschweren, dass seine Frau mickrige Opferkuchen backe, obwohl er in Athen 50 Silberdrachmen gewann.169 Die ganze Passage ist eine Parodie, das Register ihrer homerischen Wendungen kontrastiert mit der Niedrigkeit des Geschehens (bei seiner Rückkehr wird Hegemon mit Kot beworfen).170 Aufschlussreich ist die Parodie, weil sie wie die Demokrit-Anekdote lebensweltliche Erwartungen auf den Kopf stellt. Die Erwähnung von Frachtschiffen signalisiert, dass ‚normale‘ Thasier für Handel in die Ferne gingen, statt für Dichtung. Die ‚normalen‘ Thasier halten es für unsinnig, sich noch im hohen Alter in die Ferne zu begeben, umso mehr, wenn es um mickrige Gewinne geht, mit denen man sich gerade nicht zur Ruhe setzen kann. Eine weitere Erwartung wird deutlich: Vom erfolgreichen Rückkehrer wird verlangt, dass er seinen Haushalt und das Gemeinwesen ostentativ an seinem Wohlstand teilhaben lässt – die Opferkuchen für die Feste dürfen die Hausgenossen nicht beschämen.171 Für Philosophie sein Vermögen aufreiben, im Alter wegen Dichtung in die Ferne gehen – das wurde von der antiken Literatur tradiert, weil
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Vgl. seine abfällige Bemerkung, die Menge halte die hauswirtschaftliche Sparsamkeit (σωφροσύνῃ […] φειδωλὰ οἰκονομοῦσα) für Tugend (aretē), Plat. Phaidr. 256e. Schmitz 2004b, 191–204. Cecchet 2015, 185–194. Diphil. fr. 31 PCG (= Athen. 6.227e–228b); wegen der fragmentarischen Überlieferung ist ungewiss, inwieweit die Aussagen zum Gesetz durch ihren Textkontext konterkariert wurden. Hegem. fr. Brandt (= Athen. 15.698d–699a). Der Wettstreit der Dichter wird mit den Worten einer homerischen Schlachtbeschreibung geschildert, vgl. Hom Il. 4.451. Eine Homerparodie, vgl. Hom. Od. 2.101; 19.146; 24.136; Hegemon gleicht seinen Ausflug nach Athen der Irrfahrt des Odysseus an.
11.3 Altersspezifische Mobilität
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es ungewöhnlich war; es erlaubt deshalb den Umkehrschluss auf das Übliche: Männer, die in der Jugend in die Ferne gingen, um das Vermögen ihres Vaters zu vergrößern. Das vollständigste Bild der altersspezifischen Mobilität geben gleichwohl athenische Quellen. Insbesondere die neue Komödie hat manchen Plot um die Rückkehr eines Sohns gebaut, den der Vater auf Handelsreisen geschickt hatte (vgl. Kap. 11.1). Die Häufigkeit dieses Plots hat auch gattungsspezifische Gründe. Die Abwesenheit und Rückkehr eines heiratsfähigen Mannes bot viel Gelegenheit für die Verwechslungen und Intrigen, aus denen heraus die neue Komödie ihre Komik entwickelt.172 Die Gerichtsreden zeigen allerdings, dass die altersspezifische Mobilität auch jenseits der Bühne wichtiges Thema war. Am besten erhalten ist der Plot von Ausfahrt und Heimkehr eines Händlers ausgerechnet in einer lateinischen Bearbeitung einer griechischen Komödie, Plautus’ Mercator. Anerkanntermaßen verfuhr Plautus frei mit seinen Vorlagen und richtete sich dabei nach den Bedürfnissen seines römischen Publikums. Wo seine Stücke eine sozialhistorisch relevante Färbung haben, ist diese römisch, nicht athenisch.173 Mit Vorsicht lässt sich das Stück, das auf dem Emporos des Philemon, eines Zeitgenossen Menanders, beruht,174 dennoch als Quelle für griechische Verhältnisse verwenden. Der Mercator wird allgemein für das ‚griechischste‘ Stück Plautus’ gehalten, ein Frühwerk, das noch eng seiner Vorlage folgte.175 Eckhard Lefèvre hat dieser Mehrheitsmeinung widersprochen und versucht, das griechische Original herauszuarbeiten, das sich nach ihm deutlich von der römischen Vorlage unterschied.176 Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass selbst Lefèvre nicht bezweifelt, dass Plot und erzählerisches Grundgerüst von der griechischen Vorlage übernommen wurden – seine Argumente betreffen vor allem Abweichungen der Ausgestaltung einzelner Szenen.177 Drei zusätzliche Überlegungen machen wahrscheinlich, dass der Grundstoff des Stücks – Ausfahrt und Rückkehr eines handeltreibenden Sohns – attisch ist. Es taucht kein Element der Haupthandlung auf, das nicht aus Fragmenten griechischer Originale der neuen Komödie bekannt wäre.178 Die Popularität des Themenkomplexes Seefahrt–Schicksal– Fernhandel in der Komödie zeigen die Titel verlorener Stücke wie Emporos, Nauklēros oder Kybernētēs.179 Schließlich bestehen viele Parallelen zwischen der Erzählung des 172 173 174 175 176 177 178 179
Vgl. FURLEY 2014. Zur Frage der Originalität des Plautus und seinem Wert als historische Quelle vgl. Lefèvre [1974] 2014; Lowe 1992, 152–157, 174 f.; Moore 1998, passim; Leigh 2004, 6–23. Plaut. merc. 9 f. Beare 1928; Averna 1988, 39 mit älterer Literatur; Lowe 2001, 143; Dunsch 2008, 41. Lefèvre 1995, 21–51; Gegenargumente bei Lowe 2001; Dunsch 2001, xix–xxi; 2008; Leigh 2004, 138, Anm. 170. Ähnliches gilt für die römischen Rechtsbegriffe, die sich in der letzten Szene häufen; vgl. Lefèvre 1995, 56. S. Kap. 11.1; Averna 1988, 40–50 weist auf die thematische Verwandtschaft des Mercator mit Originalfragmenten anderer Stücke Philemons hin. Dunsch 2008, 13–15.
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Mercator und attischen Gerichtsreden.180 Die lateinische Komödie stimmt also mit einem Bild überein, das sich aus Fragmenten und Verweisen zusammensetzen lässt; sie hat aber den Vorteil, einen größeren zusammenhängenden Ausschnitt dieses Bildes zu zeigen. Die meisten Informationen zu altersspezifischer Mobilität finden sich gleich im einführenden Monolog des Mercator, der der Exposition der Vorgeschichte dient. An dieser Stelle ist nach den Regeln plautinischer Dichtung die größte Nähe zur griechischen Vorlage zu erwarten.181 Charinus berichtet, er sei von seinem Vater „zum Handel“ (ad mercatum) nach Rhodos geschickt worden und nun nach zwei Jahren nach Athen zurückgekehrt. In Rhodos habe er sich in eine bezaubernde junge Frau verliebt. Später erfahren wir, dass es sich um eine unfreie Hetäre handelt, die Charinos gekauft und nach Athen mitgebracht hat.182 Zunächst allerdings erklärt Charinus, wie es zu seiner Handelsfahrt kam. Im „Ephebenalter“ (ephebis aetate), also mit Beginn der Mündigkeit, habe er kindische Gedanken verabschiedet, sich in eine Prostituierte verliebt und sogleich begonnen, sein väterliches Vermögen auf sie zu verschwenden.183 Darüber kam es zum Streit mit dem Vater Demipho, der sich beklagte, „sein Vermögen werde zerrissen“ und drohte, seinen Sohn zu enterben oder sogar zu verstoßen.184 Der Vater klagte in der ganzen Stadt, dass man seinem Sohn kein Geld leihen dürfe, dass dieser das Vermögen vernichte, das ihn all die Jahre genährt habe. Demipho hielt seinem Sohn vor, wie er selbst sich einst mit Beginn der Mündigkeit (ex ephebis) verhalten habe. Unter der strengen Kontrolle seines Vaters führte er „viel schmutzige Feldarbeit“ (multo opere immundo rustico) aus. In die Stadt kam er nur alle vier Jahre zu den Panathenäen und dann nur kurz.185 Im Haushalt seines Vaters arbeitete er härter als jeder „Sklave“, während der ihm sagte, „du pflügst für dich selbst, eggst für dich selbst, säst für dich selbst, erntest für dich selbst. Schließlich wirst du es sein, dem diese Arbeit Freude bereitet.“186 Der Vater des Demipho, Großvater von Charinus, ist einigen Figuren der attischen Komödie sehr ähnlich. In Aristophanes’ Wolken und Wespen werden die Väter als Männer gezeigt, die nicht arm sind, ihr Landgut jedoch persönlich führen, mitanpackend, 180 McKechnie 1989, 179 f., 195 mit Anm. 36 verwendet den Mercator ebenfalls als Quelle für griechische Verhältnisse, mit Verweis auf die Parallelen zu Lys. 32 und [Demosth.] 34. 181 Selbst in der Casina, deren ursprünglicher Handlungszusammenhang zugunsten von Situationskomik aufgelöst ist, wird der ursprüngliche Plot referiert, Cas. 31–66, 1013 f. 182 Plaut. merc. 11 f. 183 Plaut. merc. 40–45. 184 Merc. 46–50: In der Drohung der Verstoßung könnte sich die größere Macht des römischen pater familias widerspiegeln; jedoch nicht notwendigerweise; die Verrufung des Sohns (Apokeryxis) gab es in Athen prinzipiell auch, Harrison 1968, 75 f.; Hypereides wurde denunziert, seinen Sohn zugunsten einer Hetäre verstoßen zu haben, Idomeneus FGrH 338 F 14 (= Athen. 13.590c–d); vgl. [Plut.] Vit. Dec. 849d). 185 Plaut. merc. 51–68. 186 Merc. 71 f.: tibi aras, tibi occas, tibi seris, tibi item metis, tibi denique iste pariet laetitiam labos.
11.3 Altersspezifische Mobilität
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sparsam, streng, misstrauisch gegenüber dem städtischen Wohlleben. Die Kehrseite ist ihre bäurische und geizige Art, sie sind agroikoi, wie der gleichnamige Charakter von Theophrast und die Hauptperson von Menanders Dyskolos. Demipho selbst ging jedoch andere Wege. Sobald der Vater gestorben war, verkaufte er dessen Acker. Vom Erlös kaufte er sich ein Schiff mit Frachtraum für 300 metretae, mit dem er fortan Waren „von überall her“ brachte, bis er sein Vermögen erworben hatte.187 Boris Dunsch hat darauf aufmerksam gemacht, dass der ausdrückliche Hinweis auf den Frachtraum des Schiffes, der nach zeitgenössischen Maßstäben sehr klein ist (300 metretae entsprechen etwa zwölf Tonnen) unterstreicht, dass der Vater ein ‚self-made-man‘ ist.188 Vom Vorbild des eigenen Vaters belehrt, fügt sich Charinus dessen Wunsch. Sein eigener Einstieg in den Fernhandel ist leichter als der seines Vaters. Der Vater baut ihm ein Schiff, kauft Waren und händigt ihm zusätzlich ein Talent Bargeld aus. Außerdem gibt er ihm seinen ehemaligen Erzieher (paedagogus) mit, der in der Fremde als sein Aufpasser/Hüter (custos) agieren soll – das Letztere vielleicht eine römische Zutat.189 In Rhodos gelingt es Charinus, zügig alle Waren mit unerwartet großem Gewinn zu verkaufen; dadurch hat er nun eigenes Geld zur Verfügung, mit dem er die Hetäre Pasicompsa kauft, die er heimlich nach Athen bringt.190 Die im Rest des Stücks geschilderte amoröse Konkurrenz von Sohn und Vater ist typisch plautinisch karnevalesk.191 Doch die zu Beginn geschilderte Mischung aus intergenerationellem Konflikt und intergenerationeller Kooperation hat viele Parallelen jenseits der Bühnenfiktion. Wie Francesco Datini verkauft Vater Demipho den ererbten Landbesitz, um Startkapital zu gewinnen, mit dem er aus kleinen Anfängen zum Großhändler aufsteigt. Wie Sopaios aus Bosporos stattet Demipho seinen Sohn Charinus mit Schiff, Waren und Geld aus, um ihn zwecks Handels in die Fremde zu schicken. Der Mercator zeigt die Kooperation von Vater und Sohn in zwei aufeinanderfolgenden Generationen als antagonistische Kooperation. Beide Seiten stehen unter dem praktischen und normativen Druck, zum Nutzen ihres Hauses zusammenzuarbeiten. Sie haben allerdings unterschiedliche Vorstellungen davon, wer wieviel zum Erhalt des Haushaltes beitragen sollte. In der dritten Generation kommt ein zusätzlicher Konflikt ins Spiel. Der Sohn Charinus, der anders als sein Vater im Wohlstand aufgewachsen ist, fühlt sich mehr zum Wohlleben als zum Gelderwerb hingezogen (zu den strukturellen Ursachen der ‚Verschwendungssucht‘ reicher Söhne s. Kap. 11.4). Wenn Demipho den 187 188 189
Merc. 73–76. Dunsch 2008, 30 f. Plaut. Merc. 87–92; der junge Söldner in Men. Aspis 20–82 wird ebenfalls von einem Sklaven begleitet. 190 Merc. 93–107; die Abhängigkeit des Sohns trotz Volljährigkeit ist wohl an römische Verhältnisse angepasst; das zusätzliche Geld, das er erwirbt, wird als peculium bezeichnet; vgl. die Bezeichnung des Sklaven als custos. 191 Lefèvre 1995, 57–59.
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Konsum seines Sohns beklagt und ihn zu einer produktiven Tätigkeit zwingt, wird er nicht nur als geiziger Hausvater dargestellt, sondern auch als Kaufmann, der materiellen Gewinn für den wichtigsten Maßstab hält.192 Der märchenhafte Handelserfolg des Sohns, dank dessen er sich wieder einer kostspieligen Liebschaft widmen kann, ist insofern eine Lösung des Adelsdilemmas, wie es nur auf der Theaterbühne möglich war. In Aristophanes’ Wolken und Philemons/Plautus’ Emporos/Mercator und vielleicht auch in Menanders Naukleros treten Väter auf, die fürchten, dass ihre in den Reichtum geborenen Söhne zu nutzlosen Verschwendern werden. Dahinter steht ein Gemeinplatz des griechischen Denkens, den es ähnlich im mittelalterlichen Florenz gab: Die Söhne reicher Väter verderben, weil sie anders als ihre Väter nicht mehr wissen, wie mühsam es ist, ein Vermögen zu erwerben.193 Während Aristophanes’ Strepsiades dem Treiben seines Sohnes erst hilflos gegenübersteht und dann eine unehrliche Lösung anstrebt, halten sich die Väter Demipho (bei Philemon/Plautus), Sopaios (bei Isokrates) und Straton (bei Menander) an den Rat des Demokrit: Sie beteiligen ihre Söhne am häuslichen Gewerbe, um sie „sparsamer und erwerbseifriger“ zu machen. Die Komödie gewinnt dabei ihren Stoff aus den realen Normen und Praktiken ihrer Zeit, ohne diese exakt wiederzugeben. Den gattungsspezifischen Erfordernissen ist es im Mercator anzurechnen, wenn alles in größtem Maßstab und kürzester Zeit geschieht: Wie im Märchen kehrt Charinus nach nur zwei Jahren in der Fremde mit großartigem Gewinn und einer Braut zurück. Die Gerichtsreden und die mittelalterlichen Vergleichsfälle zeigen hingegen, dass Söhne mitunter jahrelang fortblieben, lange ledig blieben und immer wieder auch scheiterten.194 Unglückliche Geschäftsentscheidungen konnten den Bankrott bedeuten, Schiffbruch oder Piratenangriffe den Tod. Die Komödie führte also nicht die Realität altersspezifischer Mobilität vor, wohl aber die Wunschbilder, die diese Mobilität lenkten. Welche Ziele die jungen Männer dabei anstrebten, formuliert der anonyme Redner einer pseudo-demosthenischen Rede:195 Ich selbst nämlich, ihr Richter, bin seit langer Zeit im Geschäft des Seehandels, und habe mich dabei bis zu einem gewissen Zeitpunkt selbst in Gefahr begeben (αὐτὸς ἐκινδύνευον); nun aber sind es noch nicht ganz sieben Jahre, dass ich es aufgegeben habe zur See zu fahren. Das mittlere Vermögen, das ich habe, versuche ich in Seehandelsunternehmungen (ναυτικοῖς) zu investieren.
192 193
Dunsch 2008, 28–35; vgl. Leigh 2004, 138–148. Besonders explizit Aristot. eth. Nic. 4, 1120 b 11–14, dessen Formulierung der von Guicciardini, Ricordi, Nr. 33, Ed. E. L. Scarano (1970), fast exakt entspricht. 194 Vgl. Kap. 11.3. 195 [Demosth.] 33.4: ἐγὼ γάρ, ὦ ἄνδρες δικασταί, πολὺν ἤδη χρόνον ἐπὶ τῆς ἐργασίας ὢν τῆς κατὰ θάλατταν, μέχρι μέν τινος αὐτὸς ἐκινδύνευον, οὔπω δὲ ἔτη ἐστὶν ἑπτὰ ἀφ’ οὗ τὸ μὲν πλεῖν καταλέλυκα, μέτρια δ’ ἔχων τούτοις πειρῶμαι ναυτικοῖς ἐργάζεσθαι.
11.3 Altersspezifische Mobilität
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Die kommerzielle Tätigkeit endet mit der Sesshaftwerdung also nicht, aber sie nimmt ruhigere und respektablere Züge an. Diese idealtypische Abfolge zweier Formen altersspezifischer Geschäftstätigkeit – vom mobilen Händler zum stationären Investor – war kein speziell attisches Phänomen. Zenon aus Kition, der Gründer der stoischen Schule, soll Sohn eines reichen Kaufmanns gewesen sein und selbst Seehandel getrieben haben. Bereits der Vater habe ihn mit philosophischen Schriften versorgt, die er von Handelsreisen nach Athen mitbrachte. Als Zenons purpurbeladenes Schiff vor dem Piräus Schiffbruch erlitt, habe der erzwungene Aufenthalt in Athen ihm Gelegenheit gegeben, sich der Philosophie zuzuwenden. Daraufhin ließ er sich dauerhaft in Athen nieder und widmete sich fortan ganz der Philosophie.196 Die Details dieser Erzählung erinnern an die oben rekonstruierten Muster altersspezifischer Mobilität: Zenon sei dreißig Jahre alt gewesen, als er dem Seehandel den Rücken kehrte,197 und habe zu diesem Zeitpunkt über ein gewaltiges Geldvermögen verfügt, das er fortan in Seedarlehen investierte.198 Wie Datini und der anonyme Sprecher der attischen Rede zog er sich also aus dem persönlich riskanten Geschäftsleben zurück, aber ließ sein Geld weiter für sich arbeiten. Zugleich widmete er sich mit der Philosophie einer vornehmeren Tätigkeit und wurde – wofür auch immer – von Athen öffentlich geehrt.199 Gegen die Historizität der Legende spricht, dass sie das Grundmuster der ‚Bekehrungs-Narrative‘ antiker Philosophen-Biographien hat und in mehreren Varianten überliefert wurde.200 Selbst wenn die Geschichte Legende war, dann zumindest eine, die bereits in hellenistischer Zeit entstand und von den Stoikern selbst ‚abgesegnet‘ worden war.201 Wie in Platons Geschichten von Erwerbsleuten, die zur Philosophie bekehrt wurden (s. Kap. 4.1.1), ist die Hinwendung zur Philosophie das Außergewöhnliche an der Erzählung über Zenon. Sie sticht deshalb grell gegen ihren kommerziellen Hintergrund ab, weil dieser das Gewöhnliche ist. Dass Zenon als junger Mann mit Unterstützung des Vaters von der hellenisierten Peripherie ins Zentrum der ägäischen Welt reiste, um dort Handel zu treiben und mit höherer Bildung vertraut zu werden, entspricht schlussendlich der Geschichte von Sopaios’ Sohn, den sein Vater kath’ emporian kai kata theōrian nach Athen schickte.202
196 197 198 199
Diog. Laert. 7.1–3 zum Vater Mnaseas ebd. 31 f. Diog. Laert. 7.2; sein Schüler Persaios meinte allerdings, Zenon sei erst 22 gewesen; ebd. 28. Diog. Laert. 7.13: mehr als 1.000 Talente – eine märchenhafte Summe. Diog. Laert. 7.6; 10–12; laut dem von Diogenes zitierten Text des Ehrendekrets wurde Zenon für seine vorbildliche philosophische Lebenweise und Erziehung der Jugend geehrt; vgl. Haake 2004 dazu, warum das Dekret durchaus echt, der Wortlaut jedoch gefälscht ist. 200 Die Anekdote und ihre Varianten bei Diog. Laert. 7.4 f. 201 Diogenes zitiert als Quellen zu Zenons Familie den Stoiker Hekaton (um 100) und das erste Buch von Über Zenon des Stoikers Apollonios von Tyros (1. Jh.); später zitiert er mit Demetrios von Magnesia einen weiteren Autor des 1. Jhs. 202 Kap. 11.1.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
Ein anderer außerathenischer Beleg für altersspezifische Geschäftstätigkeit ist bemerkenswert, weil hier der Kaufmann selbst über seine Pläne spricht. Es handelt sich um eine Orakel-Anfrage aus Dodona, die ein gewisser Timodamos zu Beginn des 4. Jhs. stellte. Seinem dorischen Dialekt nach stammte er aus Korkyra, Ambrakia oder Apollonia, also einer Hafenstadt am ionischen Meer. Timodamos will wissen, ob es das Beste sei, „mit seinem Geld sowohl zu Land als auch zur See Fernhandel zu treiben, solange wie er es selbst für richtig erachte“ (ἐμπ[ο]ρεύεσθαι καὶ κατὰ γ[ᾶ]ν καὶ θάλασσαν ἀπὸ τô [ἀ]ργυρίō, ὅσσον κ’ αὐτὸς [h]έληται χρόνον).203 Der ausdrückliche Hinweis darauf, dass das Handelsgeschäft apo to argyriō stattfinden soll – eine Wendung die in anderen Orakel-Anfragen zu Handelsgeschäften fehlt – zeigt, dass der Fragende im Unterschied zu anderen Handeltreibenden bereits eigenes Geldkapital akkumuliert resp. geerbt hat. Der Hinweis auf die begrenzte Zeitdauer der geplanten Handelstätigkeit wiederum zeigt, dass er sein Handelsgeschäft als zeitlich begrenzte Unternehmung dachte. Außergewöhnlicherweise kennen wir sogar die Antwort des Orakels, die auf der Rückseite eingeritzt ist. Timodamos soll „in der Stadt wohnen und Lokalund Fernhandel treiben, seine Anteile am (Handels-)Schiff jedoch aufgeben“ (Ἐν τôι ἄστει οἰ[κ]ῆν καὶ καπηλεύην καὶ ἐμπορεύεσθαι, τὰ δ’ ἐν τôι γαύ[λο̄ι] ἐγδιδόμεν).204 Eine zweifelsfreie Deutung ist angesichts der Knappheit des Textes und des fehlenden Kontexts nicht möglich. Der ausdrückliche Verweis darauf, „in der Stadt“ zu wohnen und die Aufforderung, die direkte Beteiligung an einem Handelsschiff aufzugeben, deuten jedoch darauf hin, dass Timodamos bisher als Schiffseigner auch selbst auf Handelsfahrt gegangen ist, aber nun erwägt, sich mit seinem akkumulierten Kapital als sesshafter Kaufmann niederzulassen. Für diese Interpretation spricht, dass es umgekehrt einige Anfragen gibt, bei denen Personen darüber nachdenken, durch Kauf (oder Bau) Schiffseigner und Seehändler zu werden.205 Eine recht genaue Entsprechung liefert die aufschlussreiche Orakel-Szene in Aristophanes’ Vögeln. Dort beschließt ein Athener, sich ein „Boot zu kaufen und Schiffseigner zu werden“ (γαῦλον κτῶμαι καὶ ναυκληρῶ), weil das Vogelorakel von sicherem Gewinn für Handelsfahrten spricht.206 Der Wortlaut der Frage erinnert fast an eine Anfrage aus Dodona.207 Außerdem verwendet Aristophanes wie die Orakel-Antwort an Timodamos den Ausdruck gaulos, um das 203 Lhôte 95, Seite A. 204 Seite B mit den Erläuterungen von Lhôte ad loc.; das Orakel fügt redundant hinzu, Timodamos solle „Fernhandel treiben, Waren ein- und ausführend zu Land und zu See, „kaufend und verkaufend“ (ἐμ[π]ορεύεστθαι δὲ χρήματα ἄγοντα καὶ κατὰ γ[ᾶ]ν καὶ θάλασσαν, πώλοντα καὶ ὠνόμ[ε] νο(ν)). 205 Schiffskauf und Seefahrt: DVC 1005A; Schiffskauf und Seehandel: 2810A (stark ergänzt); Gewerbe zu Land und Wasser: 1782B (stark ergänzt). Anfragen dazu, Schiffseigner zu werden, gibt es einige; vgl. DVC 167A, 302B; 1687A, 3214A, Lhôte 94; hier ist allerdings unsicher (wenn auch wahrscheinlich), ob der Schiffseigner selbst zur See fuhr und Handel trieb. 302B erwähnt den Schiffskauf ausdrücklich, Lhôte 94 den bereits erfolgten Neubau eines Schiffs. 206 Aristoph. Av. 598. 207 DVC 302B: ναυκλαρεῖν ἄμεινον ναῦν | [ὠνεο]μένους;
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Handelsschiff zu bezeichnen. François Salviat schließt aus dieser Parallele, dass Timodamos ebenfalls ein nauklēros war, allerdings einer, der wie der oben zitierte Sprecher der Demosthenes-Rede darüber nachdachte, sein Boot zu verkaufen und zum sesshaften Investor zu werden.208 Zenon habe übrigens ebenfalls das Orakel befragt, bevor er sich entschloss, in Athen sesshaft zu werden.209 Das Ziel der altersspezifischen Mobilität war also die Sesshaftigkeit als Investor. Sie war nicht nur ökonomisch sicherer,210 sondern auch sozial besser angesehen und sie bot mehr Gelegenheit zu ehrenvoller Lebensführung vor den Augen der Mitbürger. Als erfolgreicher Abschluss der ersten Lebensphase des erwachsenen Manns galt es, nach der Rückkehr eine standesgemäße Braut zu ehelichen, Land zu kaufen und ein Leben als ehrbarer Bürger zu beginnen.211 Wie jener junge Athener in Menanders Bauern (Geōrgoi), der von seinen Geschäften aus Korinth heimkehrte, um seine Liebste zu heiraten, aber feststellen muss, dass der Vater bereits die Vernunftehe mit der Halbschwester arrangiert hat, um sein ‚Haus‘ zusammenzuhalten.212 11.3.2 Söldner Handel war nicht die einzige Möglichkeit, fern der Heimat reich zu werden. Paul McKechnie hat darauf hingewiesen, dass der Söldnerdienst beliebt war, weil er den Möglichkeiten und dem Selbstbild grundbesitzender Bürger entsprach. Sie hatten von ihren Vätern Land, Waffen und eine Verachtung für krämerische Tätigkeiten geerbt.213 Land ließ sich zu Geld machen, um Reise und Ausrüstung zu bezahlen, Waffen und kriegerische Gesinnung bildeten ihr ‚Arbeitskapital‘. Dem entspricht, dass die meisten Söldner von der Peloponnes und insbesondere aus Arkadien kamen, Regionen mit weniger Alternativen des Gelderwerbs und mit langer Kriegertradition.214 Doch auch von Athen aus zogen junge Männer auf der Suche nach Ruhm und Beute als Söldner in die
208 Salviat 1993. 209 Diog. Laert. 7.1; die Hinwendung zur Philosophie auf Anweisung eines Orakels ist ein Topos, wie K. v. Fritz, RE 10 A (1972), s. v. Zenon, sp. 85 f., anmerkt; doch beruht der Topos auf der Praxis, zu wichtigen Lebensentscheidungen ein Orakel zu befragen – außergewöhnlich ist nur, dass das Orakel Philosophie statt sesshafter Investorentätigkeit empfiehlt. 210 Eich 2006, 358–387 hebt die stärkere Rechtsposition der Investoren hervor. 211 Die Lebenswege des Demosthenes-Redners und Zenons weichen von diesem Schema insofern ab, als sie sich in einer fremden Stadt niederließen; zumindest Zenon soll den Bezug zu seiner Heimatstadt jedoch bewusst gewahrt haben und behielt ihr Bürgerrecht, vgl. Diog. Laert. 7.12. 212 Men. Georg. 1–20 mit Gomme/Sandbach 1973, 106. 213 McKechnie 1989, 79–85. 214 Vgl. Trundle 2004, 43–79 und van Wees 2004, 40 f. zu arkadischen Söldnern; vgl. Thommen 2014, 46–53 zum kollektiven Söldnerdienst der Spartaner.
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Ferne. Bei Menander ist der junge Söldner eine Standardfigur.215 Die Eröffnungsszene von Menanders Schild (Aspis) spricht den Zusammenhang des Söldnerdienstes mit dem Erhalt des väterlichen Haushalts ausdrücklich an. In einem Eingangsmonolog mit expositorischer Funktion beklagt der Sklave Daos das Schicksal seines vermeintlich verstorbenen jungen Herrn Kleostratos. Bei Kleostratos’ Auszug habe der Sklave gehofft, dass dieser „wohlbehalten und in hohem Ansehen“ (εὐδο[ξο]ῦντα καὶ σωθέντα) zurückkehre, um sein restliches Leben „in feiner Art“ (εὐσχήμονι) zu verbringen; man hoffte auf die Ernennung zum Feldherrn oder zum politischen Ratgeber und die Verheiratung der Schwester – für sie sei Kleostratos ausgezogen – mit einem geeigneten Ehemann.216 Die erhoffte Beute sollte der Schwester also eine standesgemäße Mitgift finanzieren. Der anschließende Bericht fokussiert folgerichtig darauf, wieviel Beute Kleostratos in Lykien zusammenraffte und zu Geld machte, das sein Begleiter Daos nach Athen zurückbringen sollte.217 Der riskante Söldnerdienst des Sohns sollte die Geldprobleme einer Familie lösen, die in ihrem Status als Teil der angesehenen, politisch tätigen Oberschicht gefährdet war. Ähnliche Karrieren sind bereits zu Beginn des 4. Jhs. überliefert.218 Der bekannteste junge Söldner aus Athen ist Xenophon. Er schildert die Motive solcher Abenteurer in seiner Anabasis, dem Bericht über den Zug des Söldnerheeres des Thronprätendenten Kyros:219 Die meisten Soldaten waren nicht aus Mangel an Lebensunterhalt zu diesem Soldzug ausgefahren, sondern weil sie vom Heldenruhm des Kyros gehört hatten. Die einen hatten Mannschaft mitgebracht, andere dafür sogar Geld aufgewendet, wieder andere waren Vater und Mutter davongelaufen, andere hatten Kinder zurückgelassen in der Erwartung, mit vollen Händen zu ihnen zurückzukehren, da sie davon hörten, dass auch die anderen unter Kyros viel Vermögen erworben hätten. Solche Männer ersehnten nur eines: heil nach Griechenland zurückzukehren.
215
216 217 218 219
Z. B. in Men. Aspis, Pk., Sik., Mis.; Rostovtzeff [1941] 1955, 100 f. weist auf die neuen Möglichkeiten der Diadochenzeit hin, warnt jedoch ebd. 127 f. davor, die Zahl solcher „Neureichen, unternehmungslustige[n] Söldner oder andere[n] Abenteurer“ zu überschätzen; van Wees 2004, 41 weist auf das Lebensalter der Söldner hin. Men. Aspis 1–10. Aspis 20–82; vgl. Gomme/Sandbach 1973, 65 zu möglichen historischen Bezügen. Die Beliebtheit des Söldnerdienstes belegt auch ein athenisches Dekret, das jedem Bürger mit dem Verlust von Bürgerrecht und Vermögen droht, der sich an Feldzügen gegen Eretria oder eine andere Bündnerstadt beteiligt, IG II3 399, 9–17. Xen. an. 6.4,8: τῶν γὰρ στρατιωτῶν οἱ πλεῖστοι ἦσαν οὐ σπάνει βίου ἐκπεπλευκότες ἐπὶ ταύτην τὴν μισθοφοράν, ἀλλὰ τὴν Κύρου ἀρετὴν ἀκούοντες, οἱ μὲν καὶ ἄνδρας ἄγοντες, οἱ δὲ καὶ προσανηλωκότες χρήματα, καὶ τούτων ἕτεροι ἀποδεδρακότες πατέρας καὶ μητέρας, οἱ δὲ καὶ τέκνα καταλιπόντες ὡς χρήματ’ αὐτοῖς κτησάμενοι ἥξοντες πάλιν, ἀκούοντες καὶ τοὺς ἄλλους τοὺς παρὰ Κύρῳ πολλὰ καὶ ἀγαθὰ πράττειν. τοιοῦτοι ὄντες ἐπόθουν εἰς τὴν Ἑλλάδα σῴζεσθαι. Übers. H. Vretska; vgl. an. 6.1,17, 6,16: je näher die Söldner Griechenland kamen, desto mehr hofften sie auf Beute, die sie den Daheimgebliebenen mitbringen konnten.
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Xenophon rechnet sich selbst ebenfalls zu dieser Gruppe. Zwar äußert er einmal, er habe es bei seiner Beteiligung nicht auf Gewinn abgesehen, weil die Vogelschau ihm auf den Weg zu Kyros offenbart habe, dass die Unternehmung für ihn nicht „erwerbsmäßig“ (χρηματιστικόν) sein würde. Diese Antwort setzt allerdings voraus, dass Xenophon genau hiernach gefragt hatte.220 Als sich Xenophon später erneut vor den von ihm geführten Soldaten rechtfertigen musste, diesmal weil der Dienst für den Thrakerfürsten Seuthes keine Beute einbrachte, erklärte Xenophon: „Ich habe gehofft für meine guten Dienste, die ich ihm mit eurer Hilfe geleistet habe, mir und meinen Kindern, falls mir welche geschenkt werden, einen schönen Zufluchtsort zu sichern.“221 Xenophons Zeugnis ist wichtig, kann jedoch nicht einfach als Wiedergabe von Fakten übernommen werden. Seine Darstellung ist eine retrospektive Apologie und keine akkurate Beschreibung des griechischen Söldnerwesens. Rechtfertigen musste Xenophon sich nicht nur deshalb, weil er sich als Athener einem Feldzug gegen den Großkönig unter spartanischer Ägide anschloss, der dann auch noch scheiterte.222 Rechtfertigen musste sich Xenophon außerdem, weil seine Soldaten – zu Recht – annahmen, er wollte mit ihnen eine neue Stadt in Kleinasien gründen, anstatt sie nach Hause zu führen. Deshalb bekräftigte Xenophon mehrfach seine Absicht, dafür zu sorgen, dass „jeder genug erwerbe, um auch seinen Angehörigen daheim nützen zu können“.223 Man warf Xenophon außerdem wiederholt vor, sich als Anführer zu bereichern, während die einfachen Soldaten leer ausgingen. Deshalb betont die Anabasis immer wieder, dass Xenophon nicht mehr gewann als andere und das Gewonnene ehrenwert verwendete.224 Die zitierte Passage zu den Motiven der Söldner in Diensten des Kyros ist Teil von Xenophons Apologie. Sie verdeckt die Risse zwischen den Anführern und ihren weniger glücklichen Soldaten. Xenophons Darstellung traf tatsächlich nur auf eine Minderheit der Teilnehmer am Zug zu; auf die Offiziere nämlich, die wie Xenophon vor allem Athener waren, während die meisten einfachen Söldner aus dem kargen Achaia oder Arkadien kamen. Xenophon adelt seine Kampfgefährten also, indem er sie über die Reisläufer hinaushebt, die für geringen Lohn kämpften, um sich und ihre Familien von der Hand in den Mund zu ernähren, und eben nicht als gemachte
220 An. 6.1,23. 221 An. 7.6,34: ὃν ἤλπιζον εὖ ποιήσας μεθ᾽ ὑμῶν ἀποστροφὴν καὶ ἐμοὶ καλὴν καὶ παισίν, εἰ γένοιντο, καταθήσεσθαι. Übers. H. Vretska. 222 Roy 1967, 316 f. 223 Xen. an. 5.6,15–7,12; 6.4; 5.6,30: κτήσαιτο ἱκανὰ ὥστε καὶ τοὺς ἑαυτοῦ οἰκείους ὠφελῆσαί τι. 224 Vgl. bes an. 7.5–7 zum Bündnis mit Seuthes; 6.6, 7.8 zu Raubzügen in Mysien und Bityhnien; 3.5,4–13 zum Landgut in Skillus, direkt im Anschluss an die Schilderung einer Beuteverteilung; zum apologetischen Ton s. Breitenbach 1967, 1646–1648.
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Männer heimkehrten.225 Seine Schilderung ist insofern eine wertvolle Quelle nicht für das, was die meisten Söldner erreichten, sondern wovon sie träumten. Einen Mann, den der Kriegsdienst – wenn gleich nicht als Söldner einer fremden Macht – reich machte, war ein gewisser Aristophanes aus Athen. Er verfügte zunächst nur über wenig Landbesitz, gelangte jedoch als Trierarch unter dem erfolgreichen Feldherrn Konon zu Reichtum, von dem er, nach Athen zurückgekehrt, Land kaufte und Liturgien leistete.226 Andere hatten weniger Glück. So etwa der Athener Astyphilos, der als Hauptmann an zahlreichen Söldnerzügen teilnahm und in Mytilene starb.227 Oder der junge Makartatos, der sein ererbtes Land verkaufte, um vom Erlös eine Galeere zu erwerben, mit der er Richtung Kreta segelte, wo er ebenfalls fern der Heimat starb.228 Die Risiken des Söldnerdienstes für den Fortbestand des Hauses konnten wie die Risiken des Fernhandels durch verwandtschaftliche Arbeitsteilung reduziert werden. Eine vorbildliche Kooperation zwischen zwei Brüdern und zwei Schwestern schildert der unbekannte Redner der Isaios-Rede Über das Vermögen des Menekles. Weil der Vater bereits verstorben war, handelten die Brüder als Hausvorstände und verheirateten zuerst ihre zwei Schwestern, bevor sie, vielleicht im Jahr 383, aus Athen „in die Fremde gingen“ (ἀπεδημήσαμεν), um sich an einer ‚privaten‘ Militärexpedition des Iphikrates in Thrakien zu beteiligen.229 Dort zu Geld gekommen kehrten sie nach Athen zurück. Bald nach ihrer Rückkehr trat Menekles, ein Freund des verstorbenen Vaters und Ehemann der jüngeren Schwester, an die Brüder heran. Menekles bat um die Auflösung dieser Ehe, weil sie kinderlos geblieben war. Nach einigem Zögern stimmte die Ehefrau dem Anliegen zu und wurde von ihren Brüdern neu verheiratet.230 Kurz darauf trat Menekles mit einem weiteren Anliegen an die beiden Brüder heran, weil es nun niemand „häuslicheren“ (οἰκειότερον) gebe als sie. Er wolle nicht kinderlos sterben, denn jemand müsse ihn im Alter versorgen und der Sitte gemäß beerdigen. Deshalb 225 226 227
228
229 230
Roy 1967, 317; vgl. Luraghi 2006, 23 f.; zur Herkunft der Söldner aus Arkadien s. Trundle 2004, 53; van Wees 2004, 40 f. Xenophons eigener Bericht über den Unmut wegen fehlender Soldzahlungen, an. 7.5–7, verrät die prekären Verhältnisse seiner Gefährten. Lys. 19.28 f.; 42 f.; zur Person PAA 175472, Davies 1971, 201–204. Is. 9.14; zur Rekonstruktion seiner Karriere und seines wahrscheinlichen Sterbejahrs s. Rosivach 2005; obwohl Astyphilos sein Leben in der Fremde verbrachte und sich seiner Familie offenbar entfremdet hatte, trug er Sorge, dass seine Gebeine in die Heimatstadt überführt wurden und dass ein testamentarisch adoptierter Sohn für ihn die Grabriten ausführte, Is. 9.7 mit Rosivach, op. cit., 203. Is. 11.48 f.; die genauen Umstände sind nicht bekannt, Wyse 1904, 712; Makartatos’ Bruder Chaireleos starb ebenfalls in der Fremde, vermutlich auch als Söldner, Is. 11.49; vgl. den Tod des Nikostratos 374 in Akē, Is. 4.7, der vermutlich zum griechischen Söldnerheer gehörte, das Iphikrates für den Satrapen Pharnabazos dort im selben Jahr sammelte, Wyse 1904, 375 f. Is. 2.3–6; um welchen Thrakien-Feldzug des Iphikrates es sich handelt, muss ungewiss bleiben; Blass 1892, 533 nahm an, dass der Feldzug 383 gemeint sein müsse; Wyse 1904, 236 f. ist skeptischer, weil Iphikrates zwischen 389 und 374/3 mehrfach in Thrakien war. Is. 2.6–9.
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bitte er darum, einen der beiden Brüder als Sohn zu adoptieren zu dürfen. Der Bruder des Redners stimmte dem Ansinnen zu. Für eine Adoption kam er jedoch nicht in Frage, weil er selbst dabei war „in die Ferne zu gehen“ (συμβαίνει ἀποδημία) – vermutlich wieder als Söldner.231 Daraufhin erklärte sich der Redner zur Adoption bereit.232 Die Geschichte verbindet alle Elemente häuslicher Kooperation zu einem Bild normgerechter familiärer Solidarität:233 Der Wunsch des Vaters (in spe) nach Versorgung im Alter und Grabpflege nach dem Tod korrespondiert mit der Bereitschaft der Kinder, ihre individuellen Bedürfnisse in den Dienst des ‚ganzen Hauses‘ zu stellen. Die jüngere Schwester verlässt den Ehemann, um die natürliche Reproduktion zu garantieren.234 Während ein Bruder in der Ferne sein Glück versucht, bleibt der andere vor Ort und erhält dort das Bündnis mit einem anderen Haushalt durch Adoption. Diese Entscheidung verringerte nicht nur das Risiko, dass beide in der Fremde starben und ihr Haus ohne männlichen Vorstand hinterließen und wendete zugleich die Gefahr eines Erbstreits ab. Diese Darstellung vorbildlicher verwandtschaftlicher Kooperation diente natürlich der Sache des Redners: Sie begründete seinen zweifelhaften Erbanspruch235 und heischte nach der Sympathie der Richter, indem sie an geteilte Werte appellierte. Die dadurch kaschierten tatsächlichen Beweggründe dürften nüchterner gewesen sein. Die Bereitschaft zum Verzicht auf einen Erbteil, den eine Adoption bedingte, und die geringe (oder sogar fehlende) Mitgift für die Schwester legen nahe, dass die Kasse der Familie leer war und durch geschickte Familienallianzen und – wie in Menanders Aspis – durch Söldnerdienste gefüllt werden sollte.236 Gerade weil die Erzählung dazu diente, ohne externe Beweise zu überzeugen, darf man annehmen, dass sie bei den evozierten Werten und Handlungsmustern so dicht wie möglich an den lebensweltlichen Erwartungen und Erfahrungen des Publikums blieb. Das führt allerdings auch zu der Frage, welche internen Konflikte und Kompromisse ein Haushalt in seiner Außendarstellung verschwieg.
231
Dass der zweite Bruder bei der zweiten Abwesenheit ebenfalls als Söldner diente, wird nicht explizit gesagt, ist jedoch wahrscheinlich, s. McKechnie 1989, 90; vgl. Humphreys 2018, 183 mit Anm. 30 zur wahrscheinlichen Situation der Brüder. 232 Is. 2.7–12. 233 Das Bild wird davon vervollständigt, dass der gesamte Bericht in der ersten Person Plural erfolgt, der Sprecher also für seinen Bruder mitspricht. 234 Bei Kinderlosigkeit ließen sich Ehen leicht wieder auflösen, Hartmann 2002, 90; vgl. Krause 2003, 66. 235 Zu den Problemen der Darstellung und den rhetorischen Mitteln ihrer Vertuschung s. die Bemerkungen von Wyse 1904, 235 f., 241–251. 236 Die Gegenseite behauptete, die Schwester habe gar keine Mitgift erhalten, der Sprecher selbst gab sie mit 20 Minen (= 2.000 Dr.) an, eine eher geringe Summe; vgl. Wyse 1904, 243.
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11.3.3 Familiäre Strategien und Generationenkonflikte Die Mobilität volljähriger lediger Söhne war nicht bloß Resultat hauswirtschaftlichen Kalküls. Sie war zugleich Ventil für Generationenkonflikte im Haus. In die Ferne zu gehen war zwar riskant und mühselig. Doch es befreite von der sozialen Kontrolle und dem Erwartungsdruck, der im väterlichen Haushalt, in der Nachbarschaft und in der städtischen Öffentlichkeit auf einen jungen Mann lastete.237 Je größer die Erwartungen, desto höher die Kontrolle. Im Dialog Lysis stellt Platon die Situation eines Jungen aus vornehmer Familie dar. Der junge Lysis wird von seinem paidagōgos „beherrscht“ (ἄρχει) und ebenso von seinen Lehrern „gänzlich regiert“. Sokrates resümiert: „Gar viele Herren und Gebieter (δεσπότας καὶ ἄρχοντας) setzt dir also dein Vater mit Bedacht.“ Selbst im Haus darf der Knabe nicht tun und lassen, was er will: Brächte er Wolle und Webstuhl der Mutter in Unordnung, bekäme er Schläge. Sokrates kommt zum Ergebnis, dass der junge Lysis „in beständiger Knechtschaft aufgezogen werde“ (τρέφουσί σε ἀεί τῳ δουλεύοντα), trotz seines außerordentlichen Vermögens und seines edlen Körpers. Lysis antwortet brav, er sei eben noch nicht im richtigen Alter, um selbstständig zu handeln. Das sokratische Frage-und-Antwort-Spiel läuft darauf hinaus, dass all dies zum besten des Sohnes geschieht – der Vater wird ihm das Haus übergeben, wenn er meint, dass der Sohn bereit dafür sei.238 Gleichwohl gibt die Szene eine lebhafte Vorstellung von der Einhegung junger Männer gerade in der Oberschicht. Menanders Samierin zeigt mit Moschion einen jungen Mann, der wie Platons Lysis seit seiner Kindheit auf die Zugehörigkeit zur Oberschicht vorbereitet wurde.239 Wegen eines Missverständnisses ist es jedoch zum Konflikt mit dem Adoptivvater Demeas gekommen. Bevor sich alles in Wohlgefallen auflöst und geheiratet wird, führt Menander vor Augen, wie ein alternatives schlechtes Ende aussähe. Der gekränkte Moschion spielt mit dem Gedanken, als Söldner in die Ferne zu gehen, um sich am Vater zu rächen, oder es zumindest anzukündigen, um den Vater zu schrecken.240 In Plautus’/ Philemons Mercator/Emporos geht der Handelsfahrt des Sohns ebenfalls ein Konflikt mit dem Vater voraus, bei dem die öffentliche Beschämung des Sohns das auslösende Moment ist, um sich dem Willen des Vaters zu beugen.241 Der väterlichen Aufsicht entkommen genießt der Sohn die Verfügung über eigenes Geld, die Gastmähler bei Freunden und die Verfügung über eine eigene Bettgefährtin. Die Komödie bedient also in einem Zug die Sehnsucht der Söhne und das Misstrauen der Väter – denn na-
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Zum Generationenkonflikt als integralem Bestandteil der Vater-Sohn-Beziehung vgl. die oben in Kap. 11.1, Anm. 2, zitierte Literatur. Plat. Lys. 208c–209c; zu Person (PAA 617405) und Familie des Lysis s. Davies 1971, 359–361; Nails 2002, 195–197. Men. Sam. 7–18. Sam. 616–640. Vgl. Kap. 11.3.1.
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türlich missbraucht der Sohn die gewährte Freiheit, indem er sich vom ersten Gewinn heimlich eine Hetäre kauft. Gelage und Hetären sind Vorzugsthemen der Komödie. Aber hier wie sonst nimmt die komische Übertreibung ihren Ausgang in der Lebenswelt des Publikums. Von dem Wahrsager Thrasyllos berichtet die Isokrates-Rede, er habe vor seiner Rückkehr mit vielen Frauen zusammengelebt, deren Kinder allerdings nicht als legitime Nachkommen anerkannt.242 Korinth war als Schnittstelle von Handel und Verkehr für seine Prostituierten berühmt, für die Schiffskapitäne angeblich ‚ihr ganzes Geld ausgaben‘.243 Der Fall der Hetäre Neaira zeigt, dass es sich nicht nur um Gelegenheits-Prostitution handelte, sondern manche der Fremden mit Hetären als Konkubinen regelrechte Proto-Haushalte führten, bevor sie standesgemäß heirateten, ähnlich wie der mittelalterliche Kaufmann Datini in Avignon.244 Die beiden letzten Besitzer von Neaira, die sich die Hetäre als Konkubine vertraglich geteilt hatten, erklärten ihr, als sie zu heiraten beabsichtigten, dass sie nicht wünschten, dass Neaira gesehen (ὁρᾶν) werde, wie sie ihr Gewerbe ausübe oder sich einem Zuhälter unterstelle. Deshalb unterstützten sie Neaira dabei, sich selbst freizukaufen.245 Das Konkubinat mit einer Hetäre gehörte also zu einem Lebensabschnitt, der mit der Hochzeit endete.246 Nun galt es Sorge zu tragen, dass das Verhalten als junger Mann in der Fremde nicht das Ansehen im folgenden Lebensabschnitt als Hausvater in der Heimat schädigte.247 Die Fremde bot noch anderen Freizügigkeiten Raum. So wie das Emporion Korinth fest mit seinen Hetären verbunden war, war das Emporion Byzantion fest mit dem hohen Weinkonsum der dortigen Kaufleute assoziert.248 Gelage waren vermutlich dienlich beim Anbahnen von Geschäften und Schmieden nützlicher Freundschaften.249 Sie reflektierten jedoch auch die Freiheit eines neos, der zum ersten Mal nicht mehr unter der Aufsicht des Hausvaters stand, aber noch nicht die Verantwortung trug, selbst Hausvater zu sein. Ein paar kleine Hinweise auf die Alters-Dimension der Gelage in Byzantion gibt es. In einem Fragment eines Menander-Stücks mit dem
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Isokr. 19.7. Salmon 1984, 398–400; Strab. 8.6,20. [Demosth.] 59.22–33; vgl. zu Datini Origo [1957] 1993, 33–38. [Demosth.] 59.30. Der junge Mann, der in Menanders Bauern bei seiner Rückkehr nach Athen von der für ihn arrangierten Ehe erfährt, war ebenfalls in Korinth, Men. Georg. 1–20; Alkibiades und Archinos hatten offenbar ein ähnliches Arrangement wie die zwei Besitzer Neairas, als sie sich als junge unverheiratete Männer in Abydos aufhielten; vgl. Lys. fr. 8 Carey (= Athen. 12.534f) und Antiph. Fr. C 1 (= Athen. 12.525b). 247 Vgl. Hamel 2003, 31–37 für eine detaillierte Analyse der Schilderung, die allerdings zu einem anderen Ergebnis kommt. 248 Die Berichte über den Weingenuss der Byzantier sind meist polemisch; vgl. Damon FGrH 389 F 1; Phylarchos FGrH 81 F 7 (beide bei Athen. 10.442c–d); Theop. FGrH 115 F 62 (= Athen. 12.526d–f). 249 Vgl. Diph. fr. 17 PCG (=Athen. 4.132c) für die besondere Aufmerksamkeit der Vorlieben zum Gastmahl geladener Kaufleute aus anderen Städten.
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aufschlussreichen Titel Flötenmädchen (Aulētris oder Aulētrides)250 heißt es, dass „die Händler (ἐμπόρους) in Byzantion die ganze Nacht trinken“; in einem weiteren Fragment desselben Stücks wird ein Mann, der das erste Mal heiraten will, vor der Ehe gewarnt.251 Es ist also denkbar, dass Menander in diesem Stück – wie sein Zeitgenosse Philemon im Emporos – den Übergang vom ungebundenen Händler zum etablierten Hausvater thematisierte. Die Väter und (vor allem) die Söhne im Publikum sprach es an, weil es die vertrauten Konflikte und Probleme aus der sicheren Distanz der komischen Übertreibung thematisierte. Der raffgierige und leichtlebige Kaufmann oder Söldner und der freigiebige und ehrenwerte Bürger sind demnach zwei Seiten einer Medaille. Es handelt sich um zwei Abschnitte im Leben desselben Hausherrn, die dieser auf verschiedenen ‚Bühnen‘ absolvierte: Die Liturgien und Gastmähler, mit denen ein Bürger seinen Reichtum zu Hause zeigte, ließen vergessen, wie er diesen Reichtum zuvor in der Fremde erworben hatte. 11.3.4 Bauern, Handwerker und Reiche Welche Wagnisse ein junger Mann einging, hing nicht nur vom Alter ab. Wichtig war auch die soziale und wirtschaftliche Stellung des väterlichen Haushalts. Der kleine Haushalt eines Bauern oder Handwerkers konnte die Arbeitskraft seiner Söhne kaum entbehren.252 Die Mobilität der Hausgenossen blieb lokal und saisonal geprägt.253 Am besten belegt ist die saisonale Arbeit in der Landwirtschaft zur Zeit der Ernte, für Attika ebenso wie für Inseln mit intensiver Landwirtschaft wie Chios, Korkyra oder Naxos.254
250 Metag. fr. 4 PCG (= Athen. 13.571b) hält inbesondere „Frachtschiffer“ (ἀνδρῶν φορτηγῶν) für Kunden von „Flötenmädchen“ (αὐλητρίδας). 251 Men. fr. 66 PCG (= Athen. 10.442c–d): und fr. 64 PCG (= Athen. 13.559d–e). 252 Schmitz 2007, 26, vgl. die Belege oben in Kap. 11.1, Anm. 9 und Plaut. Merc. 61–68; Timaios FGrH 566 F 11a (= Athen. 6.264c–d) berichtet, weder die Lokrer noch die Phoker hätten früher Sklaven besessen: „Entsprechend sei Mnason, dem Freund des Aristoteles, der tausend Sklaven besaß, von den Phokern der Vorwurf gemacht worden, er habe damals viele Mitbürger um den notwendigen Unterhalt gebracht; denn es sei üblich gewesen, dass „in häuslichen Dingen die Jüngeren den Älteren dienen (ἐν ταῖς οἰκειακαῖς διακονεῖν τοὺς νεωτέρους τοῖς πρεσβυτέροις).“ Es gibt keinen Grund, an dem von Athenaios überlieferten Text zu zweifeln, wie Ste. Croix 1981, 202 es tut; die Frage ist allerdings, ob es hier nur um Hausbedienstete geht, oder auch um andere Formen der auswärtigen Arbeit; solche Arbeit schildert Men. Georg. 35–82, wo der Sohn eines Kleinbauern sich beim Nachbarn verdingt, vgl. Aristot. pol. 6, 1323 a 5; Xen. Kyr. 8.3,37 f. schildert die Geschichte eines Mannes, der seinen armen Vater durch Feldarbeit unterstützen muss; die Geschichte ist in Persien angesiedelt, Xenophon hat aber wie sonst in der Kyrupädie griechische Verhältnisse vor Augen. 253 Zur lokalen Mobilität s. Taylor 2011 mit Demosth. 57.10; vgl. Schmitz 2014b, 118. 254 Xen. Hier. 6.10; Attika: Demosth. 18.51; 57.45; Aristoph. Vesp. 712; Naxos: Plat. Euthyd. 4c–d; Chios: Xen. hell. 2.1,1; Korkyra: hell. 6.2,37.
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Robin Osborne hat auf Grundlage der Bauabrechnungen des Demeter-Heiligtums in Eleusis gezeigt, dass sich die öffentlichen Bauprojekte nach dem saisonalen Rhythmus der Landwirtschaft richteten. Die meisten Ausgaben für Arbeit und Material fallen in die Monate Februar und August bis Mitte September, also vor oder nach den Jahreszeiten, in denen die meiste landwirtschaftliche Arbeit benötigt wurde.255 Es ist also denkbar, dass viele Männer nur dann auf den Baustellen dazuverdienten, wenn sie nicht auf den eigenen Feldern beschäftigt waren.256 Dass (junge) Männer sich zeitweise als Ruderer verdingten, um ihre Haushalte zu entlasten oder zu unterstützen, ist eine plausible Idee, für die Belege jedoch rar sind.257 Anders gestaltete sich die Mobilität von Handwerkern und Bauunternehmern. Die Bauinschriften aus Attika, Epidauros, Delos und Delphi zeigen, dass der überwiegende Teil der Bauunternehmer und Handwerker (Schmiede, Steinmetze) aus den wirtschaftlichen Zentren der Region wie Argos, Korinth und Athen (Steinmetze auch aus Paros) angereist kamen, wo Baumaterialien und Nachfrage ihnen eine Existenz ermöglichten. Sie blieben nur für die Dauer einer Saison oder ihres Auftrags, dann reisten sie wieder heim oder zum nächsten Arbeitsort.258 Während Händler und Söldner also zunächst für längere Zeit in größere Ferne gingen, zirkulierten Bauunternehmer und Fachhandwerker in einer Region. Auch der Effekt des Erfolgs war ein anderer als bei Kaufleuten und Söldnern. Während der Erfolg für den Kaufmann und Söldner (wenn er denn eintrat) Sesshaftigkeit und ein Ende der Mobilität bedeutete, erhöhte der Erfolg die Mobilität für Kunsthandwerker und Bauunternehmer. Die wenigen Bildhauer, Maler und Bronzegießer, die durch ihre Werke zu Ruhm und Reichtum
255 Osborne 1987, 14–16. 256 Acton 2014, 203 geht ebenfalls davon aus, dass sich die Beschäftigung auf den öffentlichen Baustellen in die Abfolge wechselnder Gelegenheitsarbeiten einfügte. 257 Jameson 1994, 61 f. zu saisonaler Arbeit als Ergänzung der Landwirtschaft mit ebd. Anm. 45 zu den Ruderern; in Aristophanes’ Wespen erzählt der bäurische Philokleon, er habe einmal als Ruderer zwei Obolen verdient, Aristoph. Vesp. 1188 f.; ein ungewöhnlicher Beleg mag darin zu sehen sein, dass unter den Bildern, welche die attischen Hirten neben ihre Graffiti ritzten, viele Schiffe waren: von den rund 700 Bildern zeigen 163 Schiffe, von denen sich 71 als Kriegsschiffe und 22 als Handelsschiffe identifizieren lassen; vgl. Langdon 2015, 55; bei der Wiedererichtung der langen Mauern, 394–391, waren Ruderer als Bauarbeiter im Einsatz, allerdings ging dies laut den Geschichtsschreibern auf Weisung des Admiral Konon zurück, Xen. hell. 4.8,10, Diod. 14.85,3. Ein weiterer Hinweis darauf, dass der Ruderdienst eine Ergänzung der Landwirtschaft war, ist die Bemerkung bei Aristot. pol. 7, 1327 b 11–16, dass dort, wo es eine bäuerliche Landbevölkerung gibt, auch Leute vorhanden seien, die man zum Ruderdienst heranziehen könne; gemeint ist hier eine abhängige Landbevölkerung (das Beispiel ist Herakleia Pontike); aber gerade die Städte, in denen die meisten Ruderer Freie waren, verfügten auch über ein ausgedehntes Hinterland mit freier Bevölkerung, so Athen, Syrakus oder Thurioi, vgl. Thuk. 8.84,2; Plut. Dion 48; die Chiier hingegen, die Sklaven in der Landwirtschaft einsetzten, bemannten auch ihre Galeeren mit Sklaven, Thuk. 8.15,2. 258 Zu Epidauros vgl. Burford 1969, 147–158 und Prignitz 2014, 172 f.; zu Delos Reger 1994, 58 f.; die ausführlichste Auswertung der Bauinschriften ist nun Feyel 2006, ebd. 322–368 zur Herkunft und Mobilität der Auftragnehmer.
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gelangten, mussten bereit sein, immer dorthin zu gehen, wo die großen Aufträge warteten, d. h. zu den großen überregionalen Heiligtümern und, vermehrt seit dem Ende des 4. Jhs., zu den Residenzen der Könige und Statthalter.259 Wieder anders lagen die Dinge für Familien, die so reich waren, dass die Söhne gerade in dem Alter, in dem ihre Altersgenossen ins Erwerbsleben eintraten, unproduktiven Tätigkeiten nachgehen konnten: Sport, Jagd, Philosophie. Isokrates erklärt es für das konstitutive Kriterium der Schichtzugehörigkeit im früheren Athen, dass die Jugend der weniger begüterten Haushalte sich „Landwirtschaft und Handel“ zuwandte, weil man wusste, dass „Untätigkeit (τὰς ἀργίας) Mittellosigkeit hervorbringt“, während sich jene, die „genügend zum Leben besaßen“, sich mit Reitkunst, Sport, Hundejagd und Philosophie beschäftigten.260 Isokrates projiziert hier eine Auffassung seiner eigenen Zeit in eine bessere Frühzeit, um die reale Ungleichheit innerhalb der athenischen Bürgerschaft zu rechtfertigen.261 Dieser ostentative Müßiggang junger Männer kann ebenfalls als altersspezifische Arbeitsteilung innerhalb des Hauses gelten, nämlich als ‚stellvertretender Konsum‘ im Sinne Thorstein Veblens. Veblen bezeichnete so das Konsumverhalten von Dienern, Ehefrauen und anderen Familienangehörigen, das auf die soziale Stellung und ökonomische Potenz des Hausherrn verweist.262 Während der Vater maßvoll im schlichten Bürgermantel auftrat, als Verkörperung des besonnenen Bürgers, führte der Körperkult und die aufwendigen Beschäftigungen des Sohnes die soziale Überlegenheit des väterlichen Hauses vor.263 Diese Aufgabenverteilung schützte den Vater vor persönlicher Konfrontation mit provozierten Standesgenossen. Zu-
259 Vgl. die bei Plinius d. Ä. überlieferten Kurzbiographien der berühmten Maler und Bildhauer, wie Pheidias und sein Bruder Panainos, Plin. nat. 35.55–58, Polygnotos, 35.58 f., Zeuxis, 35.61–64, Parrhasios, 35.67–72, und Apelles, 35.79–92; selbst ein weniger berühmter Bildhauer wie Timotheos ist mit seinen Arbeiten in Athen, Epidauros, Halikarnassos, Rhamnus und Troizen nachgewiesen, vgl. DNO s. v. „Timotheos (Τιμόθεος) aus Athen“. 260 Isokr. 7.43–45. 261 Vgl. Xen. kyn. 1.18–2.1 für eine ähnliche Beschreibung; vgl. Aristot. pol. 5, 1308 b 31–1309 a 9: Wenn die Ämter unbesoldet sind, widmen sich nur die Angesehenen der Regierung, während sich die Menge darum kümmert, der Armut zu entkommen; ähnlich pol. 4, 1297 b 1–12. 262 Veblen [1899] 2007, 79–93. 263 Diese komplementäre Selbstdarstellung zeigt sich gut in der Ikonographie der Grabstelen früh verstorbener Jünglinge, etwa das sog. Ilissos-Relief; zu den Belegen s. Kap. 11.3, Anm. 147; der literarisch am besten dokumentierte Fall ist die ostentative Bescheidenheit des athenischen Politikers Phokion (und seiner Ehefrau) im Vergleich zum Lebenswandel seines Sohns Phokos; das quellenkritische Problem ist, dass Phokions Lebensführung als hochtopische Anekdoten in Plutarchs Vita überliefert ist; Gehrke 1976, 121–155 verwirft deshalb alle Anekdoten ohne ereignisgeschichtlichen Bezugspunkt, Tritle 1988, 8–55 hingegen akzeptiert fast alle; entscheidend ist wohl, dass die Anekdoten selbst wenn sie faktisch falsch sind, als Quelle für im 4. Jh. verbreitete Wertungen und Haltungen dienen können, weil sie auf zeitgenössische Stilisierungen Phokions zurückgehen; zu Plutarchs Quelle gehörte nämlich ein enkomischer Nekrolog des Duris von Samos und eine vermutlich denunziatorische Biographie von Idomeneus von Lampsakos; vgl. Gehrke 1976, 180–198 und Tritle 1988, 18–35, 45.
11.4 Soziale Mobilität und der Generationenzyklus
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gleich erinnerte sie daran, dass die Mäßigung des Vaters nicht Ausdruck von Armut, sondern von moralischer Überlegenheit war. 11.4 Soziale Mobilität und der Generationenzyklus Die Ausgestaltung der altersspezifischen Arbeitsteilung hing schließlich von den Aufstiegsplänen des Hauses ab. Sozialer Aufstieg erfolgte nämlich nicht innerhalb einer Lebensspanne, sondern über mehrere Generationen hinweg. Väter und Mütter planten ihre Strategien deshalb langfristig. Der Sohn des reichen Kaufmanns, der auf den Aufstieg vorbereitet wird, ist eine weitere Standardfigur in Menanders Komödien. Während der Vater noch selbst auf Handelsreisen geht, bleibt der Sohn zu Hause und übt sich in standesgemäßer Lebensführung.264 Ein Pädagoge sorgte für Bildung – kulturelles Kapital. Trinkgelage mit Altersgenossen sorgten für Freundschaften – soziales Kapital. Den Abschluss bildet die Heirat mit der Tochter aus ‚alter‘ Familie. In Menanders Samierin geht der Vater Demeas selbst auf Handelsreisen, die er für eine leider notwendige Zumutung hält, um den ‚nötigen‘ Reichtum zu verdienen.265 Die privilegierte Lebenslage seines Adoptivsohns Moschion, die dieser mit einem ‚Liebesabenteuer‘ (die Vergewaltigung der Nachbarstochter!) aufs Spiel gesetzt hat, ist davon sehr verschieden:266 Wie verwöhnt in Freuden lebte damals gleich Als kleines Kind, weiß ich noch gut, doch lass ich’s jetzt; Denn das tat er mir, als ich es noch nicht verstand. Ich wuchs heran nicht anders als sonst jemand auch, ‚Von vielen einer‘, wie man redensartlich sagt, Doch nun bin ich, bei Zeus, viel unglücklicher dran – Wir sind ja unter uns. Durch Choraufführungen tat
264 Vgl. Men. Colax 1–11; Heros 45–47; Sam. 7–18. 265 Sam. 101–104; dass Demeas Handel treibt, wird nicht ausdrücklich gesagt, steht jedoch zwischen den Zeilen; das Ziel seiner Reisen, die Schwarzmeerregion, war das bevorzugte Handelsgebiet der Athener im 4. Jh. und Byzantion war wegen seiner günstigen Lage Hauptumschlagplatz in diese Richtung, vgl. IG I3 61; Xen. hell. 4.8,27; [Demosth.] 50.17; [Aristot.] oec. 2, 1346 b 29–33; der Hinweis auf den Genuss von Fisch und „Wermut“ (ἀψίνθιον) deckt sich mit einer Bemerkung des Zeitgenossen Diphilos, fr. 17 PCG (=Athen. 4.132c), über deren Genuss durch byzantische Kaufleute; Demeas betont, dass er nur aus Notwendigkeit reist, nämlich weil man in Athen nicht reich wird – es geht also ums Geldverdienen. 266 Men. Sam. 7–18: οἷς μὲ]ν ἐτρύφησα τῶι τότ’ εὐθέως χρόνωι | ὢν παι]δ̣ίον, μεμνημένος σαφῶς ἐῶ·| εὐεργέ]τ̣ει γὰρ ταῦτά μ’ οὐ φρονοῦντά πω. | [......] εγράφην οὐδὲν διαφέρων οὐδενός, | τὸ λεγόμενον δὴ τοῦτο „τῶν πολλῶν τις ὤν“, | [......]α μέντοι, νὴ Δί’, ἀθλιώτερος·| [......] γάρ ἐσμεν. τῶι χορηγεῖν διέφερον | καὶ τῆι] φιλοτιμίαι· κύνας παρέτρεφέ μοι, | ἵππο]υς· ἐφυλάρχησα λαμπρῶς· τῶν φίλων | τοῖς δεομένοις τὰ μέτρι’ ἐπαρκεῖν ἐδυνάμην. | δι’ ἐκεῖνον ἦν ἄνθρωπος. ἀστείαν δ’ ὅμως | τούτων χάριν τιν’ ἀπεδίδουν· ἦν κόσμιος. Adapt. Übers. P. Rau.
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Ich mich hervor und durch Ehrgeiz (φιλοτιμίαι); Hunde hielt ich mir Und Pferde; glänzend führt ich ’ne Schwadron (ἐφυλάρχησα λαμπρῶς); ich konnt Den Freunden passend helfen, wo es nötig war. Durch ihn war ich ein Mensch. Jedoch aus feinem Dank Dafür bezeigte ich: ich war honett und brav (κόσμιος).
Moschion folgt seinem Vater gerade nicht als Kaufmann. Als volljähriger unverheirateter Mann geht er nicht in die Fremde, sondern widmet sich daheim den oberschichtspezifischen Beschäftigungen, die Ausdruck von Ehrstreben (philotimia) sind.267 Laut Moschion geschah dieser ostentative Konsum auch auf Wunsch des Vaters. Der Kaufmann hatte offenbar ehrgeizige Aufstiegspläne für seinen Sohn. Nun wird Moschions Sorge verständlich. Sein Fehltritt droht die langfristigen und kostspieligen Investitionen in symbolisches Kapital mit einem Schlag zu vernichten, indem er den Ruf schädigt und den krönenden Abschluss des Aufstiegs – eine standesgemäße Hochzeit – verhindert. Die fast hundert Jahre früher gehaltene Rede Gegen Diogeiton zeigt ähnliche Aufstiegspläne reicher Kaufleute. Diogeiton erwartete von seinen Neffen, dass sie sich mit Beginn der Volljährigkeit selbst versorgten. Das provozierte den Konflikt mit seiner Tochter, die den sozialen Aufstieg ihrer Kinder plante (vgl. Kap. 10.2.4 und 11.3.1). Der Gerichtsstreit über die Unterhaltskosten führt vor Augen, wie teuer diese Aufstiegspläne waren: Zur Ernährung kamen Kleidung, Schmuck und Kopfputz hinzu, Letzteres Investitionen in den Heiratswert der Tochter. Außerdem Dienstpersonal: Ein Pädagoge für die beiden Jungen, eine Zofe für das Mädchen. Schließlich die Investitionen in öffentliches Ansehen: ein prächtiges Grabmal für den Vater, üppige Ausgaben bei Festen und Opferriten und ein Wohnhaus, dessen früherer Eigentümer das prominente Mitglied einer alten Familie war.268 Für fast vierzig Jahre hatten Diodotos und Diogeiton und später ihre Söhne und ihre Töchter für den Aufstieg ihrer Familie zusammengearbeitet. Wieso kam es schließlich zum Zerwürfnis? Der Konflikt entzündete sich offenbar daran, dass Diogeiton seine Strategie änderte. Seine zweite Ehefrau hatte ihm Kinder geschenkt, unter denen sich mutmaßlich ein Junge befand.269 Nun erschien es ihm sinnvoller, seine direkten Erben zu fördern statt seiner Enkel, die den Namen seines Bruders fortführen würden. Hinzu kam vielleicht tatsächlich der finanzielle Engpass, den er selbst als Grund nannte. Für seine Tochter hingegen, die Witwe seines Bruders, bedeutete der Strategiewechsel einen doppelten Nachteil. Sie war nun keine prospektive Erbtochter (epiklēros) mehr (ein Status, der ihre innerhäusliche Stellung aufwertete), da ihr Vater nun direkte 267 Sommerstein 2013, 106; zur sozialen Bedeutung der Phylarchie s. Gomme/Sandbach 1973, 546. 268 Lys. 32.19–22, 28 f. 269 § 17.
11.4 Soziale Mobilität und der Generationenzyklus
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männliche Nachkommen hatte.270 Ihre Kinder wiederum mussten sich nach Einnahmequellen umsehen und sich, zumindest vorerst, von ihrem Aufstiegsträumen verabschieden. Das Phänomen verschwenderischer Söhne reicher Haushalte ist von Zeitgenossen und gelegentlich von modernen Forschern als Verschwendungssucht gedeutet worden.271 Insbesondere die Komödie gewann reichlich Stoff aus jungen Leuten, die ihr Vermögen sprichwörtlich „verfressen“ und sich mit Hetären und Schmeichlern umgeben.272 Vermutlich fanden die meisten jungen Männer durchaus Gefallen am Wohlleben mit Wein und Hetären. Ihren individuellen Präferenzen folgten sie dabei dennoch nur bedingt. Zum einen mussten Haushalte in Übereinstimmung mit ihrem Vermögen konsumieren, wenn sie nicht als geizig gelten wollten (dazu noch Kap. 16.1.2). Zum anderen war der ostentative Konsum eine riskante Strategie, um in der zweiten oder dritten Generation das akkumulierte Vermögen in Ansehen und Freundschaften zu konvertieren. In den in den vorangegangenen Kapiteln diskutierten literarischen Darstellungen verwandtschaftlicher Kooperation beklagten die Väter die Verschwendung zwar, aber finanzierten sie gleichwohl. In allen Fällen handelt es sich um die Söhne wirtschaftlich erfolgreicher Aufsteiger. Das deckt sich mit der geläufigen und nicht auf eine Textgattung beschränkten Meinung, dass es insbesondere Neureiche waren, die durch ihren Luxus Aufsehen erregten.273 Das Bild des protzenden Neureichen lässt sich mit Blick auf altersspezifische Arbeitsteilung rationalisieren. Je weniger symbolisches Kapital ein Mann erbte, desto mehr Geld musste er in dessen Erwerb investieren. Nicht nur, um diesen Reichtum sichtbar zu machen, sondern auch, um vor Augen
270 Aristot. eth. Nic. 8, 1160 b 33–1161 a 3 beschreibt die häusliche Stellung einer reichen Erbtochter als oligarchische Herrschaft über ihren Mann; vgl. Schaps 1979, 35–37. 271 Plat. leg. 3, 695e–696a; vgl. Andreev 1990, 118–120: „sagenhafte Verschwendungssucht“. 272 Alex. (fr. 110, 248 PCG) verwendet mehrfach die offenbar feststehende Wendung, ein Sohn habe sein väterliches Vermögen zum „Ball geschrumpft“, dazu Arnott 1996, 702–704; Anaxandrides (fr. 46 PCG (= Athen. 4.166d)) behauptet, Polyeuktos „der Schöne“ habe „sein väterliches Vermögen aufgefressen“ (καταφαγὼν τὴν πατρῴαν οὐσίαν); gemeint ist womöglich der Politiker aus Sphettos (PAA 778285); Vorwürfe der Verschwendungssucht finden sich auch in der zeitgleichen Geschichtsschreibung; vgl. Theop. FGrH 115 F 97 und Philoch. FGrH 328 F 196 (= Phanodem. FGrH 325 F 10) – alle Fragmente stammen aus einer Aufzählung von Verschwendern bei Athenaios, 4.165d–168b; die Verschwendung des Vermögens war in Gerichtsreden Vorwurf, etwa bei Aischin. 1.103; Lys. fr. 277 Carey (= Dion. Hal. Dem. 11) suggeriert, dass die Figur des jungen reichen Erben eine regelrechte ‚Rolle‘ war, die man ostentativ ‚spielte‘. 273 Vgl. Xen. oik. 1.16–22 im allgemeinen Tonfall; spezifischer sind die Anfeindungen gegen den Sohn des Unternehmers Anytos, Xen. apol. 28, und gegen Apollodoros, Sohn des Pasion, Demosth. 36.45; in den 330er- und 320er-Jahren rissen Komödien-Dichter viele Witze auf Kosten von Chairephilos (PAA 975710) und seinen Söhnen; die reichen Fischhändler hatten das Bürgerrecht erhalten, weil sie Athen in Krisenzeiten mit Fisch versorgt hatten, Deinarch. 1.43; Hyp. fr. 183 Jensen; Anlass zu Invektiven gab offenbar ihr hervorgehobener Lebensstil mit Pferdebesitz, Alex. fr. 77 PCG (= Athen. 3.119f–120a), und teuren Hetären, Antiph. fr. 27 PCG, Timokles fr. 15, 16 PCG (alle Ath. 8.338e–339e); der Sohn Pamphilos diente als Trierarch, IG II3 550, 15; zu Chairephilos und seinen Söhnen s. Davies 1971, 566–568, Adak 2003, 157–160; Engen 2010, 211, 294–296; Lytle 2016.
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11 Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten
zu führen, dass er mit dem erwerbsmännischen Denken seines Vaters oder Großvaters, der das Vermögen erworben hatte, nichts mehr gemein hatte, sondern in adliger Manier Geld geringschätzte. Ostentativer Konsum war allerdings nicht nur kostspielig, sondern angesichts der scharfen Statuskonkurrenz auch riskant. Die Aufmerksamkeit der städtischen Öffentlichkeit zu suchen, bedeutete auch, im Zweifelsfall öffentlich sichtbar zu versagen und als strauchelnder Aufsteiger verspottet zu werden. Demokrit verwendet dafür das Bild eines Schwerttänzers:274 Mit den Kindern der geizigen Leute, die unwissend heranwachsen (οἱ τῶν φειδωλῶν παῖδες ἀμαθέες γινόμενοι), verhält es sich wie mit den Tänzern, die zwischen den Schwertern tanzen: Wenn sie beim Herabkommen auch nur eine einzige Stelle verfehlen, wo man die Füße aufsetzen muss, sind sie verloren (es ist aber schwierig, diesen einzigen Punkt zu treffen, denn es bleibt nur diese Spur für die Füße übrig). So pflegen auch diese, wenn sie den väterlichen Charakter der Fürsorge und Sparsamkeit (τοῦ πατρικοῦ τύπου τοῦ ἐπιμελέος καὶ φειδωλοῦ) verfehlen, zugrunde zu gehen.
Demokrits malerischer Kommentar verweist auf die ‚Schattenkosten‘ des Aufstiegs. Ein Sohn, der seit der Kindheit dazu erzogen wurde, Teil der vornehmen Oberschicht zu sein, konnte nicht ohne Weiteres ins Erwerbsleben zurückkehren. Zu unüberwindbar sollte man die Grenzen allerdings nicht ziehen. Denn die scharfe Statuskonkurrenz und das Fehlen institutionalisierter Standesgrenzen führte dazu, dass auch Männern aus angesehenen Familien immer wieder persönlich Handel treiben mussten, um temporäre Miseren auszugleichen.275 Das Auf und Ab der Generationen schildert Kephalos, Vater des Redners Lysias, in Platons Politeia:276
274 Demokr. fr. B 228 DK 68: οἱ τῶν φειδωλῶν παῖδες ἀμαθέες γινόμενοι, ὥσπερ οἱ ὀρχησταὶ οἱ ἐς τὰς μαχαίρας ὀρούοντες, ἢν ἑνὸς μούνου τύχωσι καταφεόμενοι, ἔνθα δεῖ τοὺς πόδας ἐρεῖσαι, ἀπόλλυνται (χαλεπὸν δὲ τυχεῖν ἑνός· τὸ γὰρ ἴχνιον μοῦνον λέλειπται τῶν ποδῶν) οὕτω δὲ καὶ οὗτοι, ἢν ἁμάρτωσι τοῦ πατρικοῦ τύπου τοῦ ἐπιμελέος καὶ φειδωλοῦ, φιλέουσι διαφθείρεσθαι. Adapt. Übers. M. Gemelli Marciano. 275 Der früheste bekannte Fall ist Solon; Plut. Solon 2 berichtet, er habe als junger Mann Handel getrieben, weil sein Vater sein Vermögen durch Großzügigkeit aufgebraucht habe; Andokides trieb nach seiner Verbannung 415/4 mehrere Jahre Handel und das erfolgreich, vgl. Andok. 1.137, 144 f.; 2.11, 20 f.; und Lys. 6.19; 48 f.; der reiche Unternehmer Leokrates lebte nach seinem fluchtartigen Aufbruch aus Athen fünf Jahre als Händler in Megara, Lyk. 55–58; zu diesen Personen Andreev 1984, 133; vgl. Men. fr. 247 PCG (= Athen. 4.166b–c): wer sein väterliches Vermögen „auffrisst“, muss fortan zur See fahren; vgl. Davies 1981, 73–87 zur geringen Kontinuität in der liturgischen Schicht. 276 Plat. rep. 1, 330b: μέσος τις γέγονα χρηματιστὴς τοῦ τε πάππου καὶ τοῦ πατρός. ὁ μὲν γὰρ πάππος τε καὶ ὁμώνυμος ἐμοὶ σχεδόν τι ὅσην ἐγὼ νῦν οὐσίαν κέκτημαι παραλαβὼν πολλάκις τοσαύτην ἐποίησεν, Λυσανίας δὲ ὁ πατὴρ ἔτι ἐλάττω αὐτὴν ἐποίησε τῆς νῦν οὔσης· ἐγὼ δὲ ἀγαπῶ ἐὰν μὴ ἐλάττω καταλίπω τούτοισιν, ἀλλὰ βραχεῖ γέ τινι πλείω ἢ παρέλαβον. Übers. F. Schleiermacher.
11.4 Soziale Mobilität und der Generationenzyklus
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Ich stehe als Gewerbsmann (χρηματιστής) in der Mitte zwischen meinem Großvater und meinem Vater. Nämlich mein Großvater, der auch einerlei Namen mit mir führte, hatte etwa ein ebenso großes Vermögen, wie das meinige jetzt ist, ererbt und es um viele Male vergrößert; mein Vater Lysanias aber machte es noch kleiner als es jetzt ist; ich aber bin zufrieden, wenn ich es diesen [seinen Söhnen] nur nicht kleiner hinterlasse, sondern noch um etwas Weniges größer, als ich es empfangen.
Dabei sollte man nicht den relativen Charakter der Mobilität übersehen. Die meisten Fälle von sozialer Mobilität, die wir aus Athen kennen, waren Statusverschiebungen innerhalb der Bürgerschaft, nicht standesübergreifender Aufstieg in die Bürgerschaft hinein. Selbst in finanziellen Schwierigkeiten verlor das Haus nicht auf einen Schlag sein gesamtes Kapital. Nicht zuletzt das erbliche Bürgerrecht war ein Sicherheitsnetz, das den sozialen Fall bremste. Ein Aufstieg über Standesgrenzen war hingegen schon deshalb schwierig, weil die griechischen Städte mit ihrem Bürgerrecht geizten. Der Aufstieg des ehemaligen Sklaven Pasion und seiner Söhne war eben deshalb spektakulär, weil er innerhalb einer einzigen Generation erfolgte und gleich zwei Standesgrenzen überwand: Die zwischen Bürgern und Nichtbürgern und die zwischen Freien und Sklaven.
12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei Der Fall des Pasion, dem als Vertrauten seiner Eigentümer der Aufstieg vom Sklaven zum reichen Bürger Athens gelang, leitet über zur zentralen Bedeutung der Sklaverei für die Hauswirtschaft in klassischer Zeit. Diese Bedeutung zeigt sich schon in der Aufmerksamkeit, welche die drei erhaltenen ‚Ökonomiken‘ den unfreien Hausgenossen widmen. Für Aristoteles war ein Haushalt nur mit Sklaven vollständig.1 PseudoAristoteles meint, dass dem ‚menschlichen Besitz‘ am meisten Aufmerksamkeit zu schenken sei (Kap. 6.3.3). Gekaufte Sklaven sind in allen literarischen Gattungen omnipräsent.2 Sklaven galten nicht weniger als Hausgenossen als die Ehefrau und die Kinder, sie waren oiketai, „Hauseigene“.3 Umstrittener als die Allgegenwart von Sklaven in Kultur und Gesellschaft ist ihre wirtschaftliche Bedeutung. Der Ausgangspunkt der Diskussion darüber war, dass die marxistische Geschichtsforschung genau wie Büchers Stufenmodell die Sklaverei als Unterscheidungsmerkmal der antiken Wirtschaft und Gesellschaft im Vergleich zu späteren Epochen betrachtete und sie für eine Ursache der Primitivität der antiken Wirtschaft hielt. Gegner dieser Modelle waren deshalb bemüht, die Bedeutung unfreier Arbeit zu relativieren und auf alternative Bewirtschaftungsformen wie Lohnarbeit und Pacht zu verweisen.4 Die Diskussion wurde losgelöst von ihren theoretischen Ursprüngen fortgeführt, teils für die griechische Wirtschaft im allgemeinen, teils speziell für die attische Landwirtschaft.5 Strittig ist 1 2 3 4
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Aristot. pol. 1, 1253 b 4. Garlan [1982] 1995, 21–25. Cox 1998, 190–194; Klees 1998, 273–296; Golden 2011, 135–143. Zur älteren Forschung vgl. Finley [1980] 1985, 11–78 und Garlan [1982] 1995, 9–19; ein explizit marxistischer Ansatz bei Ste. Croix 1981, 140–162 und passim; selbst in der Diskussion zu Einzelproblemen bildete bis 1989 die marxistische Theorie immer die Gegenfolie; vgl. Pippidi 1973 zu abhängiger Arbeit in den Schwarzmeerkolonien und Kloft 1984 zu Arbeitsverträgen; Bücher [1893] 1906, 100–110 hob die unfreie Arbeit im Haus als Merkmal der „geschlossenen Hauswirtschaft“ hervor, das die Entwicklung freier Arbeit behindert habe; darauf reagierte Meyer [1895] 1910, bes. 121–130, und 1910, 189–194, mit der Betonung freier Arbeit; Meyers Streben nach einem modernen Bild der antiken Wirtschaft führt ihn zu dem Selbstwiderspruch, einerseits die Zahl der Sklaven kleinzureden, andererseits von den „Sklavenmassen“ der griechischen Werkstätten und italischen Gutshöfe zu sprechen, vgl. Meyer [1895] 1910, 84, 88, 113, 114, 150; genauso Beloch 1902, 21–24 und 1902, 96. Eine ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen Positionen bei Fisher 1993, 37–47. Vgl. Starr 1958 gegen die Überschätzung der Sklaverei im Allgemeinen, Wood 1988, 78 f. und Ame-
12.1 Die wirtschaftliche Bedeutung von Sklavenarbeit
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weiterhin sowohl der quantitative Umfang der von Sklaven geleisteten Arbeit als auch ihre relative Rentabilität. Für die Untersuchung der griechischen Hauswirtschaft haben diese Fragen besondere Bedeutung, weil Bücher den umfangreichen Arbeitseinsatz von Sklaven als Beleg für die Primitivität und Geschlossenheit der Hauswirtschaft betrachtete. Im Folgenden soll umgekehrt argumentiert werden, dass die Institution der Kaufsklaverei deshalb für die Hauswirtschaft von entscheidender Bedeutung war, weil sie ihr unter verstärktem Konkurrenzdruck Rationalisierung und Anpassung an die monetarisierte Verkehrswirtschaft ermöglichte. 12.1 Die wirtschaftliche Bedeutung von Sklavenarbeit Die Debatte konzentrierte sich anfangs vor allem auf die quantitative Bedeutung der Sklavenarbeit, d. h. auf den Anteil unfreier Arbeiter an der Gesamtbevölkerung.6 Das methodische Problem jeglicher Überlegungen dazu ist das Fehlen ausreichender und verlässlicher demographischer Daten für die klassische Zeit.7 Im Folgenden soll deshalb weniger die quantitative Bedeutung der Sklavenarbeit als vielmehr ihre qualitative Bedeutung für die Strukturen der Wirtschaft diskutiert werden. Die quantitativ meiste Arbeit wurde insgesamt gesehen von Kleinbauern und freien Handwerkern geleistet. Die zusätzliche Arbeit, die nötig war, um die soziale und wirtschaftliche Differenzierung der Gesellschaft zu erhalten, wurde allerdings von Sklaven geleistet und zwar überwiegend in den Haushalten der Oberschicht.8 Der quantitative und qualitative Anteil der Sklavenarbeit an der Wirtschaft und ihre institutionelle Ausgestaltung war dabei allerdings regional verschieden.9 Ein weiterer Streitpunkt betraf die Rentabilität der Sklavenarbeit. Die Annahme, Sklavenarbeit sei nicht rentabel, ist nicht antik, sondern entstand während der europäischen Aufklärung. Wirtschaftlicher Liberalismus im Sinne Adam Smiths und die britisch-amerikanische Abolitionsbewegung übten den Schulterschluss mit der Behauptung, dass ein Sklave kein guter Arbeiter sein könne. Ihm fehle die Eigenmotiva-
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ling 1998 gegen ihre Bedeutung in der attischen Landwirtschaft; den verbreiteten Einsatz in der Landwirtschaft und selbst in kleinen Haushalten nimmt Jameson 1977/8, 139–141 an; eine Zusammenfassung der Diskussion bei Eich 2006, 297–321, der ebenfalls die Bedeutung der Sklaverei betont; so auch die unten in Anm. 25 zitierten Forschungsbeiträge. Vgl. Meyer [1895] 1910, 121–130; Beloch 1902; Westermann 1955, 7–9; Starr 1958. Finley [1980] 1985, 94 f.; zur Diskussion der Sklavenzahlen Athens bei Athenaios zuletzt Descat 2004a, 472–476; van Wees 2011a; Lewis 2018b, 301–305. Finley [1980] 1985, 94–100; 1993, 76–79; Ste. Croix 1988, 20 f.; Eich 2006, 288–297; Lewis 2018b, 93–96; Meissner (u. a.) 2008, 79 f. entwickeln dasselbe Argument für die Sklaverei der Neuzeit: Sie war qualitativ wichtig, weil die Sklavenarbeit nicht bloß der agrarischen Subsistenz diente, sondern der Produktion von Handelswaren und damit der Akkumulation von Geldreichtum. Vgl. Lewis 2018b, passim.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
tion zu produktiver Arbeit und er müsse auch in unproduktiven Zeiten ernährt werden. Darüber hinaus drohe ständig Verlust durch Krieg, Seuche oder Flucht, weshalb die Rentabilität der Investition in einen Sklaven unkalkulierbar sei. Laut den Aufklärern des 18. Jhs. war es also nicht nur moralisch falsch, Sklaven zu besitzen, sondern auch ökonomisch unvernünftig.10 Das Bild der ökonomisch irrationalen neuzeitlichen Plantagensklaverei hatte großen Einfluss auf das Bild der antiken Sklaverei, etwa bei Max Weber und Gunnar Mickwitz.11 Weber entwickelte in seinen Agrarverhältnissen das Bild einer aristokratisch gesinnten Besitzerschicht, die Sklaven aus Standesempfinden statt aus ökonomischen Kalkül einsetzte. Diese Idee einer ‚Rentier-Mentalität‘ als Erklärung für den Einsatz von Sklaven ist breit rezipiert worden.12 Das Problem dieser These liegt nicht darin, dass antike Bürger nicht gerne Rentiers gewesen wären. Es liegt darin, dass der Einsatz von Kaufsklaven sicher nicht der beste Weg zu einem sorgenfreien Leben war – das zeigen gerade die von Weber und Mickwitz angeführten Schwierigkeiten und Risiken beim Einsatz von Sklaven.13 Die literarische Ökonomik hielt den effizienten Einsatz von Sklaven für eine regelrechte Kunst und meinte, er erfordere ständige Wachsamkeit (vgl. Kap. 6.3.3). Es kommt hinzu, dass sich die Annahme einer generellen Unrentabilität der Sklaverei auf ein Bild der neuzeitlichen Sklaverei stützte, das mittlerweile widerlegt ist. Sklavenhandel und sklavenbasierte Produktion waren rational organisiert und rentabel; ihre Rentabilität stieg bis zu ihrer politisch erzwungenen Abschaffung an.14 Speziell in der Plantagenwirtschaft lag die Produktivität der Sklaven höher als die freier Arbeiter, aber Sklaven arbeiteten in ganz verschiedenen Weltregionen (Südstaaten, Brasilien, arabisch-islamische Welt) und in allen Wirtschaftssektoren nicht weniger geschickt als freie Arbeiter.15 Der Vergleich zur Neuzeit beweist nichts für das klassische Griechenland. Er widerlegt allerdings die Idee einer zwangsläufigen
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Zu dieser Forschungstradition knapp Finley [1980] 1985, 108 f., ausführlich Nippel 2013. Weber [1909] 2006, 341–358; Mickwitz 1939, 21 f.; zu Webers Urteil vgl. Nippel 2013, 314–316. Westermann 1955, 7, 15; Finley [1980] 1985, 105–108; 1993, 49–64, 124–128; Humphreys 1978a, 148–157; Cohen 2002; Kyrtatas 2002, 142–154; 2005. Vgl. die bereits zitierte Bezeichnung der Sklaven als „mühseliges Besitzum“ in Antike und Neuzeit, s. o. Kap. 6.3.3. Einflussreiche Studien sind Engerman/Fogel 1974 zur Plantagenwirtschaft in den amerikanischen Südstaaten und Drescher 1977 zum britischen Sklavenhandel und zur Plantagenwirtschaft auf den britischen Karibikinseln; vgl. Eltis 1987 zum atlantischen Sklavenhandel; schon bevor die ‚Kliometriker‘ die These der Unrentabilität quantitativ widerlegten, hatten Historiker der Südstaaten-Sklaverei diese zum Mythos erklärt, vgl. Stampp 1956, 399–404 und Conrad/Meyer 1958; die Rentabilität ist mittlerweile unstrittig, aber ihr Ausmaß wird unterschiedlich beurteilt; vgl. zusammenfassend Davis 2006, 181 zur Produktion und Meissner (u. a.) 2008, 69–77 zum atlantischen Handel; Blackburn 1997, 370–508 hat die wirtschaftliche Bedeutung von Sklaverei (unter den Bedingungen der Kolonisierung) gerade im Vergleich zu anderen Formen abhängiger Arbeit betont. Engerman/Fogel 1974, 191–223; Genovese 1976, 388–390; Patterson 1982, 172–208; Gordon 1989, 48–78; Meissner (u. a.) 2008, 99–119; Zeuske 2013, 200–220.
12.2 Gekaufte Sklavenarbeit und ihre Alternativen
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Unproduktivität der Kaufsklaverei. Ausgehend von dieser methodischen Einsicht soll die Frage nach der Rentabilität der Sklavenarbeit deshalb im Folgenden erneut gestellt werden. Auf absolute Berechnungen wird dabei verzichtet. Stattdessen wird die These der relativ höheren Rentabilität der Sklavenarbeit im Vergleich zu ihren zeitgenössischen Alternativen vertreten. Diese Alternativen waren die Arbeit kollektiv abhängiger Bevölkerungsgruppen (‚Heloten-Sklaverei‘) und die Arbeit von Schuldknechten und freien Lohnarbeitern.16 Die Rentabilität einer bestimmten Arbeitsform ist wiederum keine fixierte Größe, sondern von historischen Rahmenbedingungen abhängig. Zu diesen gehören die Spielräume zur Intensivierung, die Art des Arbeitsbedarfs, die Bedeutung von Fachwissen und schließlich die demographische Verfügbarkeit von Arbeitskräften.17 Die verschiedenen Formen von Arbeit schlossen sich außerdem nicht gegenseitig aus. Freie und unfreie Arbeiter konnten nicht nur abwechselnd, sondern sogar nebeneinander eingesetzt werden. Die intensive Bewirtschaftung mit Sklaven lohnte sich nur, wenn die Erträge hoch, die Kontrolle leicht und die Transportwege kurz waren. In der Erntezeit war der Arbeitsbedarf wiederum so hoch, dass Sklavenbesitzer zusätzlich freie Lohnarbeiter einstellten.18 Der Einsatz von Sklaven war also immer nur eine Option, über die man nach den Bedürfnissen des Haushalts entschied. Im Folgenden soll ausgeführt werden, warum diese Option mancherorts besonders attraktiv war. Dabei ist im Sinn zu behalten, dass hier lediglich die Vorteile des einzelnen sklavenhaltenden Haushalts gemeint sind. Ob der Einsatz von Sklavenarbeit volkswirtschaftlich gesehen die effizienteste Form der Arbeit war, soll hier nicht erörtert werden. 12.2 Gekaufte Sklavenarbeit und ihre Alternativen Die Entstehungstheorien und Zahlenangaben zu den Sklavenbevölkerungen griechischer Städte, die Athenaios als Zitate klassischer und hellenistischer Autoren überliefert, sind zweifelhaft bis unmöglich. Ihre geographischen Verweise ergeben jedoch ein konsistentes Bild,19 das sich mit den zeitgenössischen schriftlichen und archäolo16
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Finleys Position in dieser Angelegenheit ist bemerkenswert: Einerseits verwarf er angesichts der neuen Erkenntnisse zur neuzeitlichen Sklaverei die Annahme einer generellen Unrentabilität von Sklavenarbeit, andererseits hielt er daran fest, dass man keine Aussagen zur relativen Rentabilität der Sklavenarbeit im Vergleich zu anderen Formen der Bewirtschaftung treffen könne und dass sich auch die antiken Menschen darüber keine Gedanken gemacht hätten; Finley [1980] 1985, 108–110; vgl. 1993, 93–96; vgl. Garlan [1982] 1995, 78 f. Scheidel 2005, 16 f.; 2008; Nippel 2013, 314–316. Xen. hell. 2.1,1: Chios; 6.2,37: Korkyra; für Ägypten s. Rostovtzeff [1941] 1955, 960. Wenn Timaios FGrH 566 F 11a (= Athen. 6.264c–d) berichtet, in der Phokis und Lokris sei die Kaufsklaverei bis ins 4. Jh. unüblich gewesen; das ist vermutlich eine gegen Aristoteles gerichtete Übertreibung; plausibel ist allerdings, dass Sklaven hier eine geringere Rolle spielten als in den Ägäis-Städten; die Chiier, die für Handel und sklavenbetriebene intensive Landwirtschaft bekannt
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
gischen Zeugnissen deckt. Das Verteilungsmuster von Sklavenarbeit entspricht dabei der allgemeinen wirtschaftlichen Geographie der klassischen Zeit (vgl. Kap. 3). Auf der Peloponnes und auf Kreta, sowie in Nordwestgriechenland und Thessalien und (vielleicht) in den Territorien der griechischen Kolonien in Großgriechenland, Kleinasien und am Schwarzen Meer gibt es Belege für abhängige einheimische Landbevölkerungen, die von der Forschung teils als „Hörige“ oder „Leibeigene“ bezeichnet werden.20 Es handelt sich hier um binnenländische oder periphere Gebiete mit einer lokalen, in manchen Fällen ethnisch fremden Bevölkerung, die eher End- denn Zwischenstation der großen Handelsrouten waren. Dafür gab es hier ausgedehnte Weiden und fruchtbares Ackerland. In extensiver und saisonal geprägter Landwirtschaft wurde hier Fleisch, Getreide und Olivenöl produziert.21 Für viele Städte in der Ägäis und anschließender Küstenregionen sind dagegen große Zahlen von Kaufsklaven belegt. Diese Regionen waren stärker urbanisiert und besser an die Seehandelsrouten angeschlossen – die Regionen, aus denen die meisten Sklaven kamen, Thrakien, Phrygien, Lydien – lagen viel näher als etwa die afrikanische Westküste zu den europäischen Kolonien in den Amerikas.22 Dafür waren die Niederschläge geringer und ebenso die lokale Landbevölkerung.23 Die Produkte, die als Handelswaren erwähnt werden, sind in intensiver Landwirtschaft gezüchtete cash crops, insbesondere Wein (Chios, Korkyra, Thasos, Kos, Mende),24 Edelmetalle und Marmor (Athen, Lampsakos, Siphnos) sowie Handwerkswaren (Athen, Korinth, Megara).25
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waren, hält Theopompos, FGrH 115 F 122 (= Athen. 6.265b–266f), für die Ersten, die Sklaven für Geld kauften – er unterscheidet sie ausdrücklich von Lakedaimoniern und Thessaliern, die ihre lokale Bevölkerung in die Knechtschaft gezwungen hätten; zur Sklavenarbeit in Chios, Thuk. 8.24,3–5; 40,2; 45,5; vgl. die großen Sklavenzahlen bei Athen. 6.272b–d für Korinth (= Timaios FGrH 566 F 5), Ägina (= Aristot. fr. 472 Rose3) und Athen (Ktesikles/Stesikleides FGrH 245 F 1), drei Emporien im Zentrum der Ägäis. Lotze 1959; Cartledge 1988; Jameson 1992, 135–146; Burford 1993, 193–207; Garlan [1982] 1995, 90–122; Davies 2005, 315 f.; vgl. Welwei 2008, der die schlechte Quellenlage für die griechischen Kolonien betont und das übliche Entstehungsnarrativ anzweifelt; ebd. 32–42 gegen die Annahme von Pippidi 1973, dass die Abhängigen in den Schwarzmeerkolonien vor allem Hörige und nicht Kaufsklaven gewesen seien; Phylarchos’ Bemerkung, FGrH 81 F 8 (= Athen. 6.271b–c), die bithynischen Thraker stünden im selben Verhältnis zu den Byzantiern wie die Heloten zu den Lakedaimoniern, ist zwar in das 3. Jh. zu datieren, könnte aber frühere Zeiten reflektieren (vgl. die Mariandynoi in Herakleia). Bresson 2016, 119–122, 127–129; Oliven sind weniger intensiv und unregelmäßiger im Arbeitsbedarf als Wein, weil nur jedes zweite Jahr eine gute Ernte zu erwarten ist; vgl. Sallares 2007, 28 f. Die Bedeutung der guten Handelsverbindungen für den Einsatz von Sklaven im ägäischen Griechenland ausführlich untersucht bei Lewis 2011; 2015; 2018b, 170 f.; vgl. Kyrtatas 2011, 95 zum Zusammenhang von Sklaveneinsatz und Fernhandel. Osborne 1987, 57–62; Bresson 2016, 31–41. Zum marktorientierten Weinanbau Bresson 2016, 122–127; vgl. Burford 1993, 133 f.; zur Sklavenarbeit auf den Pachthöfen von Delos und Rheneia Kent 1948; Pečírka 1973, 137–140; Jameson 1992, 139–141. Zum Einsatz von Sklavenarbeit s. Ste. Croix 1981, 141–147, 505–509; Garlan [1982] 1995, 61–79; Jameson 2002, 167–174; Eich 2006, 260–340; Morris/Papadopoulos 2005, 167–175 haben
12.2 Gekaufte Sklavenarbeit und ihre Alternativen
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Kaufsklaverei war also nicht überall die vorherrschende Form abhängiger Arbeit. Sie lohnte sich in jenen urbanisierten Regionen, in denen eine kapitalintensive und handelsorientierte Produktion mit kontinuierlichem Arbeitsbedarf stattfand, verbunden mit einer guten Anbindung an Regionen, die Sklaven lieferten.26 Wie Yoram Barzel in seiner ökonomischen Analyse der Sklaverei schreibt: „[T]he observed ‚greater productivity of slaves‘ occurs not because slavery is more productive per se but because slavery endured only where it proved to be more productive.“27 Warum war Sklavenarbeit gerade dort rentabel, wo man unter dem Einsatz von Geld und Fachwissen für den Markt produzierte? Die Antwort gibt der strukturelle Vergleich mit freier Lohnarbeit und höriger Arbeit.28 Letztere Arbeit wurde von Bevölkerungsgruppen verrichtet, die in der Forschung häufig als „kollektiv“ abhängig bezeichnet werden, weil die Arbeitsverpflichtung anders als bei Kaufsklaven, Lohnarbeitern oder Schuldknechten nicht die Folge einer individuellen Transaktion war, sondern durch die erbliche Zugehörigkeit zu einer ethnisch-kulturell definierten Bevölkerungsgruppe vermittelt war.29 Diese Definition birgt allerdings Schwierigkeiten. Die erhaltenen Quellen für diese Formen der Unfreiheit entstanden zum Großteil mit erheblichem zeitlichen und geographischen Abstand. Neue Forschungsarbeiten neigen daher dazu, die Berichte von der Unterwerfung durch ethnisch fremde Eroberer für legitimierende Ursprungsmythen zu halten, welche die allmähliche Ausbreitung der Unfreiheit durch Schuldknechtschaft und andere graduell wirksame Faktoren verdeckte.30 David Lewis hat jüngst dafür plädiert, die abhängigen Bevölkerungen in Lakonien, Thessalien und Kreta nicht als ‚Leibeigene‘ oder ‚Hörige‘ zu beschreiben, sondern als ‚He-
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die zahlreichen Turmgehöfte der Ägäis als Indikator für Sklavenarbeit plausibel gemacht, weil sie nicht bloß dem Schutz, sondern vor allem auch der Überwachung unfreier Arbeiter gedient hätten, vgl. Pečírka 1973, 140–147 mit ähnlicher Deutung für die taurische Chersonesos; Osborne 1987, 63–67 weist hingegen auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten solcher Turmanlagen hin. Meyer [1898] 1910, 197 f.; Westermann 1955, 4; Scheidel 2008, 118 f.; Kyrtatas 2011, 94–96. Barzel 1977, 99. Der Vergleich verschiedener Formen der Unfreiheit beginnt bereits im 4. Jh., Garlan [1982] 1995, 92 f.; vgl. etwa Theop. FGrH 115 F 122, 176 (= Athen. 6.265b–266f), Plat. leg. 6, 776c–d und Aristot. fr. 586 Rose3 (= Phot. s. v. καλλικύριοι); Poll. 3.83 und Athen. 6.263b–271f ziehen im 2. Jh. n. Chr. gewissermaßen das Resümee dieser gelehrten Tradition; gemeinsam ist den antiken Vergleichen, dass sie Heloten und andere Hörige dadurch von Kaufsklaven unterscheiden, dass sie der Herrschaft ihrer Herren weniger vollständig unterworfen sind. Finley [1980] 1985, 84 f.; Garlan [1982] 1995, 94; Eich 2006, 261 f. spricht von „helotisierten Bevölkerungsgruppen“ als „[u]nterworfene Bevölkerungsgruppen, die ihre Freiheit eingebüßt hatten, aber ihre traditionellen Siedlungsplätze, ethnische und kulturelle Identitäten bewahren konnten und […] bestimmte Rechtsgewährungen erhalten hatten“; vgl. ebd. 273: „das Hineingeborenwerden in ein ethnisch und statusrechtlich definiertes Kollektiv [begründete] die Unfreiheit“. Welwei 2008, 1–28, vor allem gegen van Wees 2003; eine ähnliche Position vertrat bereits Meyer [1898] 1910, 181 f.; s. Luraghi 2003 für die spartanischen Heloten. Zum Fortleben der Schuldknechtschaft in klassischer Zeit vgl. Ste. Croix 1981, 136 f. und Finley [1965] 1981; vgl. Harris 2002a speziell zu Athen und Davies 2005, 324 f. zu Gortyn.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
lotensklaven‘, weil sie in der Praxis als Eigentum betrachtet wurden.31 Der rechtliche Unterschied zwischen binnenländischen Leibeigenen und ägäischen Kaufsklaven war also möglicherweise geringer, als bislang gedacht. Entscheidend für die hier verfolgte Frage ist, dass sich das wirtschaftliche Potential der binnenländischen helotisierten Bevölkerung von denen der Sklaven in Athen und den Ägäisstädten unterschied, weil sie ethnisch homogen und autochton waren und das Verfügungsrecht ihrer Herren per Gesetz oder Gewohnheit eingeschränkt war. Ihre Leistungen waren drückend, aber begrenzt; sie hatten eigenen Besitz, konnten Heiraten und Familien gründen; sie konnten nicht ohne Weiteres freigelassen oder außer Landes verkauft werden.32 Diese Unfreien waren daher weniger vollständig in die Haushalte ihrer Herren integriert als die athenischen Kaufsklaven. Das gilt erst recht für formal freie Lohnarbeiter. Selbst ein armer Lohnarbeiter blieb Vorstand oder Mitglied eines separaten Haushalts und handelte dementsprechend (s. u. Kap. 12.3.5). Freie Lohnarbeit, Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft/Helotensklaverei verbindet ökonomisch gesehen, dass sie sich nur bedingt eigneten, um Arbeitskraft im Haus zu akkumulieren, und entsprechend der Bedürfnisse der Hauswirtschaft kontrolliert und flexibel einzusetzen. Die Kaufsklaverei bot hingegen genau hier Vorteile.33 12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit 12.3.1 Die quantitative Kontrolle der Arbeit Bei Hörigen wie bei Freien hing der Umfang der verfügbaren Arbeitskraft von der natürlichen Reproduktion der lokalen Bevölkerung ab. In einem Jahr gab es zu viel Arbeit für zu wenige Hände, im nächsten zu wenig Nahrung für zu viele Münder.34 Der einzelne Hausherr, der zusätzliche Arbeit einsetzte, konnte diese Schwankungen nur bedingt vorhersehen und nicht kontrollieren. Für die Heloten in Lakonien, die Penestai in Thessalien und die Mariandynoi im Gebiet von Herakleia am Pontos ist ein Verbot des Verkaufs außer Landes überliefert.35 Für Lohnarbeit wiederum fehlte 31 32 33 34 35
Lewis 2018b, 125–165. Ste. Croix 1988, 23 bringt diese Eigenschaften pointiert auf den Punkt, ähnlich Cartledge 1988, 38; für ausführlichere Darstellungen vgl. die oben in Anm. 20 zitierte Literatur. Eine differenzierte ökonomische Analyse des Helotentums bietet Hodkinson 2008. Vgl. Meyer [1898] 1910, 196–199; Finley [1980] 1985, 88–92; Eich 2006, 272 f., 329–333; Scheidel 2008; speziell für die Landwirtschaft Jameson 1977/8, 139–141. Vgl. das Zyklus-Modell der Hauswirtschaft bei Gallant 1991, 17–30; Ducat 1990, 64 betrachtet die natürliche Reproduktion aufgrund eines eigenständigen Familienlebens als Hauptunterschied des Helotentums zur Kaufsklaverei; vgl. Hodkinson 2008, 316. S. Strab. 12.3,4 zu den Mariandynoi, die er mit den Mnoern auf Kreta und den Penestai in Thessalien vergleicht; die Heloten nennt er „öffentliche Sklaven“ (δημοσίους δούλους) und zitiert einen Bericht des Ephoros (= FGrH 70 F 117), laut dem sie weder verkauft noch freigelassen werden
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
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ein konstanter Arbeitsmarkt. Freie Arbeiter waren nämlich selbst Hausherren, die ihre Einkünfte durch Gelegenheitsarbeiten aufbessern oder eine Geldreserve anlegen, aber kein dauerhaftes Dienstverhältnis eingehen wollten.36 Deshalb war Lohnarbeit gerade dann knapp, wenn sie besonders benötigt wurde: Etwa zur Erntezeit, wenn es nicht schnell genug gehen konnte, aber jeder auf seinen eigenen Feldern beschäftigt war.37 Mit Kaufsklaven ließ sich der Umfang der Arbeitskraft genau kontrollieren. Sowohl die Zahl der Sklaven als auch die Höhe ihrer Rationen ließ sich dem Bedarf des Haushalts anpassen. Kauf und Verkauf waren natürlich aufwendig und riskant. Aber man konnte Sklaven auch pachten oder verpachten. Beiläufige Erwähnungen lassen erkennen, dass die Sklavenpacht allgemein üblich war.38 Im Bergbau, für den Xenophon die Sklavenpacht besonders erwähnt, erlaubte die Verpachtung regelmäßige Einnahmen für die Besitzer und verringertes Risiko für die Grubenbetreiber in der kritischen Phase der Eröffnung einer neuen Grube.39 Theophrast erwähnt die Sklavenpacht als ein Mittel, um bei günstiger Gelegenheit Geldkosten einzusparen resp. zu optimieren.40 Neuzeitliche Berichte legen nahe und antike Inschriften bestätigen, dass gelernte Sklaven dieselben Löhne erzielten wie freie Handwerker: Die Sklavenpacht wurde daher zu einem funktionellen Äquivalent zu einem Arbeitsmarkt.41 Noch in anderer Hinsicht versprach Sklavenbesitz Konstanz: Im Unterschied zu den freien Männern (und, teilweise, kollektiv unfreier Landbevölkerungen) wurden Sklaven nur im äußerten Notfall zum Kriegsdienst eingezogen.42
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durften, 8.5,4; dieses Verbot beschränkte sich aber wie bei den Mariandynoi auf den Verkauf außer Landes; weiterhin ist Strabons Annahme irrtümlich, die Heloten seien kollektiver Besitz der Spartiaten gewesen; vgl. zu diesen Fragen Ducat 1990, 19–29, der von sehr weitgehender Besitzrechten der einzelnen spartanischen Herren ausgeht, und Hodkinson 2008, 296 f.; vgl. Archemach. FGrH 424 F 1 (= Athen. 6.264a–b) zu den Penestai und Poseidon. FGrH 87 F 8 (= Athen. 6.263c–d) zu den Mariandynoi. Garlan 1980, 9; Eich 2006, 340; vgl. Kap. 14.2.2. Osborne 1987, 13–16; Cartledge 2002, 162 f.; Eich 2006, 329–333; Davies 2007, 352–355. [Xen.] Ath. pol. 1.17 f.; Demosth. 28.11–13; [Demosth.] 53.20 f.; Hyp. 1.1 f. Xen. vect. 4.14–16; zur Verpachtung von Bergwerkssklaven, Lauffer 1979, 67–87. Theophr. char. 22.10: Der Geizige mietet seiner Frau eine Dienstmagd, anstatt sie zu kaufen; 30.17: Der schändlich Gewinnsüchtige vermietet bei Reisen seinen eigenen Sklaven und benutzt die mitreisenden Sklaven seiner Bekannten; Demosthenes’ Vormünder ergänzten die Belegschaft seiner Messerschmiede um drei gepachtete Sklaven, Demosth. 27.20. In den amerikanischen Südstaaten passte sich der Pachtpreis für Sklaven dem Lohn freier Arbeiter an, vgl. Engerman/Fogel 1974, 52–58; zur Verbreitung der Sklavenpacht vgl. Genovese 1976, 390–393; der ehemalige Sklave Frederick Douglass berichtet in seinen Lebenserinnerungen, wie er an einen Schiffsbauer verpachtet wurde, der ihn sein Handwerk lehrte, Douglass [1845] 2000, 94–98; seine Einkünfte hingen von seinem Geschick ab, nicht von seinem Status, ebd. 97: „In the course of one year from the time I left Mr. Gardner’s [der Schiffsbauer], I was able to command the highest wages given to the most experienced calkers.“ So auch in Athen: vgl. Lauffer 1979, 67–70; Randall, Jr. 1953, 209. Welwei 1977, 158–163 kommt allerdings zu dem Schluss, dass die Heloten und andere kollektiv unfreie Schichten keineswegs so regelmäßig herangezogen wurden, wie manchmal gemeint; vgl.
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Mit der quantitativen Kontrolle ging die Möglichkeit einher, den Wert und die Kosten von Sklaven genau zu berechnen. Zeitgenössische Bemerkungen spielen insbesondere auf die genau kalkulierten Rationen an, die auch zur prospektiven Berechnung von Unterhaltskosten dienten.43 Der Kaufpreis des Sklaven ließ sich ebenfalls kalkulieren, abhängig von Alter, Geschlecht und individuellen Fähigkeiten. Je nach Befähigung schwankten die Preise von Sklaven zwischen 100 Drachmen und dem Zehnfachen davon, schreibt Xenophon.44 Diese Äußerung wird durch die in den Attischen Stelen aufgelisteten versteigerten Vermögenswerte der Mysterien- und Hermokopidenfrevler (415/4) bestätigt. Den höchsten Preis erzielte ein Goldschmied, der mit 360 Drachmen fünfmal so teuer war wie der Sklave mit der niedrigsten Preisangabe.45 12.3.2 Die Akkumulation von Humankapital Auf kaum etwas trifft das Wort ‚Humankapital‘ besser zu als auf Sklavenarbeit. Moderne Unternehmen setzen vielfältige Anreize, damit ihre Beschäftigten nicht den Arbeitgeber wechseln und ihre im Unternehmen erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse mitnehmen. Der Wert eines Verbleibs besteht einerseits in den abnehmenden Fixkosten der Investition in die Ausbildung des Arbeitsnehmers, andererseits im Effizienzgewinn durch dessen Vertrautheit mit den lokalen Besonderheiten seiner Arbeitsumgebung.46 Ein Sklavenbesitzer brauchte sich vor einem solchen Verlust nicht zu fürchten. Wenn seine Sklaven Kenntnisse und Fähigkeiten erwarben, dann zu seinem Nutzen. Das Fachwissen der Sklaven kam seiner Produktion zugute und steigerte ihren Wert im Falle des Verkaufs.47 Das galt besonders im Handwerk. Das wertvollste Kapital eines Handwerkers war seine Fachkenntnis, die er eifersüchtig vor der Konkurrenz geheim hielt.48 Einen Sklaven konnte man als ‚Gesellen‘ ausbilden, ohne ihn als zukünftigen Konkurrenten fürchten zu müssen.49 Mit der Ausbildung von Sklaven
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Klees 1998, 409–416 zum seltenen Einsatz von Kaufsklaven und van Wees 2004, 84 f. zum Einsatz von Heloten. Dazu ausführlich Kap. 13.3.3. Xen. mem. 2.5,2. Der durchschnittliche Kaufpreis liegt bei 174 Dr.; vgl. Pritchett/Pippin 1956, 276–281. Williamson 1975, 57–81. Xen. oik. 7.41 spricht davon, den Wert eines Sklaven durch Ausbildung zu verdoppeln; vgl. oik. 3.10, 4.1 und 12.3 und Aristot. pol. 1, 1255 b 23–25; Vgl. den Bleibrief (IL 1702) eines schreibkundigen Sklaven (Anfang des 4. Jhs.), der offenbar zur Ausbildung in eine Schmiede gegeben worden war; zur Deutung s. Jordan 2000, Harris 2004 und Harvey 2007; zur Bedeutung ausgebildeter Sklaven im Bergbau Lauffer 1979, 14–46 und Rihll 2010. Isokr. 19.6 bezeichnet die Bücher eines Mantikers gar als aphormē, als ‚Startkapital‘; Geheimhaltung von Fachwissen: Xen. oik. 15.11; vgl. Plat. apol. 22c–d; Diog. Laert. 6.68; typischerweise wurde Zugewinn nicht durch Investition in Technologie erzielt, sondern durch überlegenes Fachkönnen, eine Ricardo-Rente also, vgl. Xen. mem. 3.10,9–15. Plat. leg. 4, 720b; Lys. 24.6; [Demosth.] 45.71 f.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
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zu Handwerkern wurde kulturelles Kapital zum Investitionsobjekt und zur verhandelbaren Ware. Wer einen ausgebildeten Sklaven kaufte, musste selbst nichts von dessen Fach verstehen. Es reichte, dass er das Kapital hatte und genügend Geschick in der Personenführung, um die Sklaven produktiv einzusetzen. Das erlaubte es Grundbesitzern, ihr Vermögen zu diversifizieren, indem sie ausgebildete Sklaven erwarben, die ihrem Gewerbe in einem kleinen Ladenlokal selbstständig nachgingen. Kaufleute wiederum erlaubte es, Arbeit in unternehmerisch geführten Werkstätten zu akkumulieren.50 Wenn Sklaven aus Sicht ihrer Eigentümer wertvolles Humankapital waren, dann ist anzunehmen, dass die Eigentümer ein Eigeninteresse hatten, ihr Kapital nicht zu schädigen.51 Untersuchungen zur amerikanischen Sklaverei haben ergeben, dass dort genau dies der Fall war. Die Pflanzer stellten eine ausreichende Ernährung sicher, sie kümmerten sich um medizinische Versorgung und sie versuchten, Körperstrafen auf das ‚notwendige‘ Maß zu beschränken.52 Zugleich setzten sie nicht nur auf Zwang, sondern auch auf positive Anreize, genau wie es die griechische Ökonomik empfahl. Ähnliches lässt sich, wenngleich nicht quantitativ, auch für die Sklaverei als Teil der griechischen Hauswirtschaft ausmachen. Sklaven erhielten feste Rationen: Gab man ihnen weniger als diese Ration, erregte das ihren Unmut und zog einem den Vorwurf des Geizes zu.53 Die pseudo-aristotelische Ökonomik fordert dazu auf, den Sklaven „hinreichend Nahrung“ zu geben, weil sie des Sklaven Lohn (misthos) sei und man nicht befehligen (archein) könne, wer keinen Lohn empfange.54 Xenophon zählt es zu den Aufgaben der Hausmutter, den Sklaven Kleidung auszugeben und für die gute Zubereitung ihrer Mahlzeiten zu sorgen. Hinzu kommt die medizinische Pflege kranker Sklaven in der Erwartung, dass die Gesundgepflegten noch „ergebener“ (εὐνούστεροι) sein werden.55 Hier vereinigen sich Paternalismus und Nutzenkalkül in der für die Hauswirtschaft charakteristischen Weise. Xenophon hält es für einen Gemeinplatz, dass Hausherren für einen kranken Sklaven den (teuren) Arzt zahlen, für einen Freund nicht.56 Dieselbe Sorge um das menschliche Eigentum nennt Xenophon in Bezug auf körperliche Bestrafung. In der Hellenika schildert er, wie der spartanische Befehlshaber Teleutias bei
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Zu selbstständigen, ausgebildeten Sklaven: Cohen 1998; Fisher 2008; Kamen 2016; zu Sklavenwerkstätten: Davies 1981, 43–45; Burford [1972] 1985, 188 f.; Eich 2006, 288–297. So etwa Ste. Croix 1988, 27 f. unter Verweis auf die amerikanischen Südstaaten; Aristoteles drückt das Argument pointiert aus. Die Herrschaft über Sklaven ziele zwar mehr auf den Nutzen des Herrn, damit jedoch akzidentiell zugleich auf den Nutzen des Sklaven: denn die Herrengewalt (despoteia) gehe mit dem Sklaven zugrunde; Aristot. pol. 3, 1278 b 34–37; zustimmend Brunt 1993a, 371. Engerman/Fogel 1974, 145–147. Explizit bei Herod. 6.1–8. [Aristot.] oec. 1, 1344 b 2–4; der Entzug der Nahrung als Sanktion wird abgelehnt, 1344 b 10 f.; das könnte allerdings gerade dafür sprechen, dass dies wie in der Neuzeit übliche Praxis war. Xen. oik. 7.36 f. Mem. 2.10,2; vgl. Engerman/Fogel 1974, 117–125 zum medizinischen Aufwand für Sklaven in den amerikanischen Südstaaten.
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einem übereilten Gegenangriff sein Leben ließ. Xenophon gewinnt dem militärischen Vorfall eine allgemeinmenschliche Erkenntnis ab:57 Aus dergleichen Unglücksfällen jedoch – das ist jedenfalls meine Meinung – sollten die Menschen hauptsächlich die eine Lehre ziehen: dass man niemanden, selbst einen Sklaven nicht, im Zorn bestrafen darf; denn schon oft ist es vorgekommen, dass ein Herr an den Folgen seines Zorns selbst mehr zu leiden hatte, als der Knecht, den er züchtigen wollte; und vollends einen Gegner im Zorn anzugreifen, statt nach reiflicher Überlegung, das ist ein Grundfehler. Denn im Zorn handelt man ohne jegliche Vorsicht, dagegen bei reiflicher Überlegung sieht man ebenso auf die möglichen eigenen Nachteile wie auf den möglichen Schaden für die Feinde.
Wie üblich spricht Xenophon zwar über Kriegsführung, bezieht sich dabei jedoch auf den von allen geteilten Erfahrungsraum der Haushaltsführung. Die hier formulierte Maxime des ‚kaltblütigen Strafens‘ findet sich in der literarischen Überlieferung häufig beschworen, nicht selten als Anekdote über Philosophen als besonnene Hausherren.58 Aristoteles empfahl ebenfalls die mündliche Mahnung statt sofortiger Gewaltanwendung.59 Hinter solchen Ratschlägen steht erkennbar die Sorge um das wertvolle menschliche Eigentum. Theophrasts „Ungelegener“ (ἄκαιρος) tritt an einen Mann heran, der seinen Sklaven auspeitscht, und erzählt, wie sich einmal ein Sklave nach einer solchen Bestrafung erhängt habe.60 Pseudo-Xenophons Verfassung der Athener behauptet eine wirtschaftliche Motivation hinter dem athenischen Verbot, Sklaven fremder Besitzer zu schlagen: „Wo es nämlich eine Seemacht gibt, ist es aufgrund des Geldes notwendig, den Sklaven zu dienen, damit wir von den Einnahmen erhalten, die er (sc. der Sklave) erwirtschaftet, und sie freizulassen.“61 Dieses Bild eines wirtschaftlich rationalen Paternalismus ist nicht falsch, aber es ist unvollständig. Hans Klees, der die Belege für Ernährung, Bekleidung, medizinische Pflege und Bestrafung von Sklaven zusammengetragen hat, zweifelt an einer ‚Humanität‘ der Sklavenbehandlung und erinnert daran, dass viele Äußerungen zum Thema moralische Mahnungen waren.62 Klees sieht die Äußerungen zur Bestrafung deshalb gerade als Beleg dafür, „daß Willkür und Unbeherrschtheit Übel waren, die mit der
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Xen. hell. 5.3,7: ἐκ μέντοι γε τῶν τοιούτων παθῶν ὡς ἐγώ φημι ἀνθρώπους παιδεύεσθαι μάλιστα μὲν οὖν ὡς οὐδ᾽ οἰκέτας χρὴ ὀργῇ κολάζειν: πολλάκις γὰρ καὶ δεσπόται ὀργιζόμενοι μείζω κακὰ ἔπαθον ἢ ἐποίησαν: ἀτὰρ ἀντιπάλοις τὸ μετ᾽ ὀργῆς ἀλλὰ μὴ γνώμῃ προσφέρεσθαι ὅλον ἁμάρτημα. ἡ μὲν γὰρ ὀργὴ ἀπρονόητον, ἡ δὲ γνώμη σκοπεῖ οὐδὲν ἧττον μή τι πάθῃ ἢ ὅπως βλάψῃ τι τοὺς πολεμίους. Übers. G. Strasburger. Klees 1998, 205–214. Aristot. pol. 1, 1260 b 4–6; vgl. Xen. oik. 13.9. Theophr. 12.12. [Xen.] Ath. pol. 1.11: ὅπου γὰρ ναυτικὴ δύναμίς ἐστιν, ἀπὸ χρημάτων ἀνάγκη τοῖς ἀνδραπόδοις δουλεύειν, ἵνα λαμβάνωμεν πράττῃ τὰς ἀποφοράς, καὶ ἐλευθέρους ἀφιέναι. Übers. G. Weber. Klees 1998, 81–100, 176–217.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
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unkontrollierten Strafgewalt des Herrn auch bei den Griechen im fünften und vierten Jahrhundert verbunden waren“.63 In der Tat treten in der Komödie die Antipoden der besonnenen Philosophen auf: jähzornige Herren aller Alters- und Vermögensklassen, die ihren Sklaven unablässig mit Schlägen drohen oder zusetzen.64 Welches der beiden Bilder stimmt? Weder der jähzornige Herr der Komödie noch der besonnene Philosoph des literarischen Diskurses sind Abbilder ‚typischer‘ griechischer Hausväter. Sie sind vielmehr ‚idealtypische‘ Figuren, die mit ihrer Gegensätzlichkeit die äußeren Grenzen des Spektrums möglicher Behandlungsweisen von Sklaven definieren. Im eigenen Interesse werden die meisten Hausherren bemüht gewesen sein, nicht völlig willkürlich und unnötig grausam zu strafen. Das ändert nichts daran, dass das Leben jedes Sklaven von der ständigen Möglichkeit körperlicher Gewalt geprägt war. Selbst ein privilegierter Sklave musste fürchten, aus nichtigem Anlass körperlich bestraft und gedemütigt zu werden.65 Die durchschnittliche Seltenheit körperlicher Bestrafung, die das neuzeitliche Material nahelegt, sagt außerdem nichts über die individuelle Gefahr einer Bestrafung aus, die von ausgesuchter Grausamkeit sein konnte.66 Zwischen seltener durchschnittlicher Bestrafung und grausamer individueller Bestrafung kann sogar ein Zusammenhang vermutet werden: Die seltene, aber dann abschreckend grausame Bestrafung eines Sklaven, der als ‚widerspenstig‘ oder ‚faul‘ galt, ersparte dem Herrn die regelmäßigere Bestrafung aller Sklaven. Wegen dieser individuellen Unsicherheit ist die ‚durchschnittlich‘ ausreichende Fürsorge für die Sklaven nicht mit glücklichen Lebensumständen zu verwechseln. Das gilt auch für die Ernährung. Sie war nahrhaft, aber nicht schmackhaft oder abwechslungsreich: Gerstenbrei statt Weizenbrot, getrocknete Feigen, Pökelfisch statt frischem Fisch, saurer lokaler Wein statt importiertem Edelwein.67 Das Essen war nicht nur eintönig, es sollte auch schlechter schmecken, um die Standesunterschiede sichtbar aufrecht zu erhalten.68 Die Kehrseite der wirtschaftlich kalkulierten Fürsorge war schließlich, dass sie abnahm, wo ihr wirtschaftlicher Nutzen abnahm. Altersschwache Sklaven und einfache
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Klees 1998, 206. Vgl. die brutale Bestrafung, die dem Sklaven Karion dafür angedroht wird, dass er vorlaut ist, Aristoph. Plut. 253–283; vgl. Riess 2012, 268 f., der darauf hinweist, dass Gewaltanwendung gegen Sklaven bei Aristophanes immer dazu dient, den Charakter des Herrn negativ darzustellen; Men. Sam. 295–324, 670–682 lässt ein junger Mann seinen Sklaven nicht einmal ausreden, um sich zu erklären, sondern droht ihm gleich mit Schlägen, dazu Konstan 2013, 148–151, 157 f.; vgl. HAS, Bd. 2, s. v. Gewalt (W. Schmitz), sp. 1183 für die Beiläufigkeit und Beliebigkeit der Gewalt gegen Sklaven in der attischen Komödie. S. Kap. 12.3.4. Vgl. Klees 1998, 178–198 für die Formen körperlicher Bestrafung; zur Häufigkeit der Bestrafung in den Südstaaten s. Engerman/Fogel 1974, 144–147. Klees 1998, 83–89; man beachte Xenophons Aussage, oik. 7.36, dass es eine Kunst sei, aus der „trockenen Kost“ (ξηρὸς σῖτος) etwas „Essbares“ (ἐδώδιμος) herzustellen. Vgl. Kap. 16.1.1.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
Arbeitssklaven, die ersetzbar waren und sich durch Zwang statt Anreize motivieren ließen, konnten nur auf wenig Fürsorge hoffen.69 Hinter dieser Kalkulation stand keine proto-kapitalistische Gesinnung, sondern die Logik der Hauswirtschaft: Wie gut man versorgt wurde, hing davon ab, wie sehr man dem Haus ‚nutzte‘ und ob man die Gunst seines Besitzers genoss.70 12.3.3 Die qualitative Kontrolle der Arbeit Wo der Hausherr feste Abgaben oder Arbeitsleistungen empfing, war er nicht direkt an der Planung und Beaufsichtigung der Arbeit beteiligt. Die messenischen Heloten siedelten sogar in eigenen Dörfern, was für die Mariandynoi in Herakleia am Pontos ebenfalls gelten dürfte.71 Setzte der Hausherr Lohnarbeiter ein, so kommandierte er diese zwar direkt. Aber der Gelegenheitscharakter der Arbeit entzog sie ebenfalls seiner längerfristigen Kontrolle. In beiden Fällen ließ sich die Hauswirtschaft nur begrenzt durch Personenführung optimieren. Die Möglichkeiten, loyale Arbeiter zu belohnen und ihnen besondere Aufgaben anzuvertrauen, waren ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeiten, unzuverlässige oder faule Arbeiter zu bestrafen. Sklavenbesitz erlaubte dagegen eine feinere Differenzierung. Bei Demokrit heißt es: „Verwende deine Sklaven wie Teile eines Körpers: einen jeden zu einer anderen Tätigkeit.“72 Aristoteles’ Bild des Sklaven als belebtes Werkzeug analog zu den Werkzeugen des Handwerkers ist ebenfalls suggestiv. Denn in der Topik schreibt er, dass Werkzeuge in der richtigen Kombi-
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Lauffer 1979, 56–62 nimmt eine insgesamt gute Lage der attischen Bergwerkssklaven an, weil sie Fachkräfte waren; Klees 1998, 116–227 hat dem mit Blick auf die Härte der Arbeit und die ungünstigen Bedingungen widersprochen; so schon Rostovtzeff [1941] 1955, 978; zur schlechten Behandlung wird beigetragen haben, dass die Sklaven wegen der kurzen Lieferwege aus ihrer kleinasiatischen Heimat leicht ersetzbar waren; vgl. Lewis 2015, 321–323, 327 f. Verschiedene Belege suggerieren, dass man sich um Haussklaven mehr sorgte, weil sie ihren Herren nahe standen, die sie manchmal seit der Geburt kannten oder selbst aufgezogen hatten; vgl. Golden 2011, 141 f.; der knappe Befehl an einen Koch in Men. Sam. 302 f., die „Alte“ (γραῦν) – gemeint ist die freigelassene Amme, die den Sohn der Familie großzog – nicht an die „Töpfe“ zu lassen, warnt allerdings davor, die Lebensumstände solcher alten Hausdiener zu verklären (die von Sommerstein 2013, 194 f. aufgeführten Gründe, hier eine andere Alte anzunehmen, halte ich nicht für zwingend). Zu den Messeniern Hodkinson 1997, 48–53 und 2008, 309–318; Alcock 2002, 190–198; für die lakonischen Heloten hebt Hodkinson 2008 hervor, dass der historische Vergleich wahrscheinlich macht, dass Formen direkterer Beaufsichtigung durch kleinere Gutsbesitzer und der Absenteeism der großen nebeneinander existierten; die Mariandynoi werden von Aristoteles, pol. 7, 1327 b 11 f., als πλήθους ὑπάρχοντος περιοίκων καὶ τῶν τὴν χώραν γεωργούντων beschrieben; vgl. die oben in Kap. 12.3.1, Anm. 35 zitierten Belege; Xen. Kyr. 4.4,10 f. suggeriert, dass dies die als üblich gedachte Form landgebundener Abhängigkeit war. Demokr. fr. DK 68 B 270 (= Stob. 4.19,45): οἰκέταισιν ὡς μέρεσι τοῦ σκήνεος χρῶ ἄλλωι πρὸς ἄλλο. Übers. M. Gemelli Marciano.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
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nation höheren Wert hätten als ihre addierten Einzelwerte.73 Die Überlegungen zur statusspezifischen Arbeitsteilung in der Ökonomik (vgl. Kap. 6.3) zeigen allerdings, dass die Sklavenrollen im Haus primär statusspezifisch differenziert waren, nicht sachlich-technisch. Feld- und Minenarbeiter wurden bei schwerer Arbeit und bei Androhung körperlicher Strafen ausgebeutet.74 Aufseher und Verwalter erhielten bessere Kleidung und Nahrung, vor allem aber mehr Bewegungsfreiheit, Anerkennung und Vertrauen (dazu Kap. 6.3.3 und 10.1.2). Diese Differenzierung spornte die Sklaven dazu an, trotz ihrer Unfreiheit effektiv zu arbeiten. Sie erleichterte zudem die Kontrolle der Sklaven, indem sie deren Solidarität unterminierte.75 Nur die wenigsten Sklaven gehörten allerdings zur Gruppe der privilegierten Sklaven.76 Voraussetzung waren spezielle Fachkenntnisse und Nähe zum Herrn. Das zeigen die Phialai-Inschriften deutlich: Von den 162 Freigelassenen mit identifizierbarer Berufsbezeichnung übten nur sechzehn landwirtschaftliche Tätigkeiten aus, etwa 10 %. Über 75 % der Freigelassenen waren in nur fünf städtischen Demen und im Piräus registriert, fast alle als Händler oder Handwerker.77 Was zunächst wie ein Zeugnis für die geringe Bedeutung ländlicher Sklaven wirkt, ist tatsächlich ein beredtes Zeugnis für die ungleichen Chancen von Sklaven, sich durch Treue und Fleiß ihre Freiheit zu erarbeiten.78 12.3.4 Vertrauen und Delegation Die freien Hausgenossen, die durch Geburt oder Heirat Teil des Hauses wurden, genossen einen Vertrauensvorschuss. Für die gekauften Hausgenossen galt das Gegenteil. Sklaven wurden pauschal verdächtigt, unmotiviert zu sein oder ihrem Herrn sogar Schaden zu wollen.79 Das war jedoch kein unumkehrbarer Zustand. Die bereits genannten Sanktionen dienten auch dazu, sich bestimmte Sklaven zu Vertrauenspersonen heranzuziehen. Sklaven wurden als Aufseher einzelner Arbeitsstätten oder sogar 73 74 75 76 77
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Aristot. top. 3, 118 b 10–19. Finley [1980] 1985, 91 f.; Ste. Croix 1988, 27; Kyrtatas 2005, 74; zu den Bedingungen in den Bergwerken, s. o. Anm. 69. Genau wie die ethnisch-sprachliche Heterogenität der Sklaven, Plat. leg. 6, 777c–d; vgl. die ethnische Vielfalt in den attischen Stelen, Pritchett/Pippin 1956, 276–281. Hansen 1995, 124 f.; Kamen 2016, 26–30; Schmitz 2014b, 167–169. Die entsprechenden Hinweise bei Wilamowitz-Möllendorff 1887, 111 f., 116–120 sind durch die Verbesserung des epigraphischen Befunds bestätigt worden: nach meiner Berechnung (auf Grundlage der Edition von Meyer 2010) wohnten von 219 Freigelassenen mit rekonstruierbarer Ortsangabe 76,7 % (163 Personen) in den städtischen Demen Alopeke (15), Kollytos (22), Kydathenaion (19); Melite (46) und Skambonidai (15) sowie im Piräus (51); die Zahlen veranschaulichen die Ballung von Handwerk und Handel im Piräus und rund um die athenische Agora (Melite); vgl. Feyel 2006, 342–346 mit der Begründung, warum die angegebene Deme dem tatsächlichen Wohnort entsprach. So überzeugend Jameson 1977/8, 133–135, gegen Starr 1958, 20 f. Klees 1998, 101–116; als Topos vor Gericht z. B. bei Lys. 7.35 und Is. 8.9–13.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
als Verwalter ganzer Vermögen eingesetzt. Der Erziehung des Aufsehers widmen denn auch die Ökonomiken besondere Aufmerksamkeit. Im 4. Jh. begegnen uns Sklaven in jedem Berufsfeld, nicht selten mit erheblichem Handlungsspielraum: als selbstständige Handwerker80 oder Kleinhändler,81 als Aufseher von Werkstätten und Landgütern,82 als Handelsagenten83 und sogar als Buchführer und Kassenwarte von Bankiers und Geldwechslern.84 Die verbreitete Praxis, Sklaven die tägliche Geschäftsführung zu überlassen, ist als Ausdruck einer ‚Rentier-Mentalität‘ gedeutet worden.85 In dieser Frage ist zunächst zwischen den eigenständigen Sklaven und den sklavenbetriebenen Werkstätten zu unterscheiden. Die meisten Sklaven, die eigenständig arbeiteten und regelmäßig Abgaben (ἀποφορά) an ihren Herren entrichteten, waren Teil von Vermögen, die vor allem aus Grundbesitz bestanden.86 Der Besitz solcher Sklaven diente lediglich der Diversifizierung der Einnahmequellen. Ihr Eigentümer war zwar kein vollständiger Rentier, weil er in letzter Konsequenz für seinen Sklaven haftete und im Todesfall keine Ersatzansprüche hatte. Er war jedoch insofern Rentier, als er die Geschäfte nicht führte und einen festen Abschlag erhielt, er also einen Großteil der unternehmerischen Kosten und Risiken auf den Sklaven abgewälzt hatte. Anders sieht es im Fall der Werkstätten aus. Alle Werkstattbesitzer, deren Vermögen wir besser kennen, hatten auffallend ‚unternehmerische‘ Vermögen, die Geld, Schuldansprüche und bewegliche Güter umfassten, aber kein Ackerland.87 Ausgerechnet Weber und Mickwitz, die an der Rentabilität von Sklaven generell zweifelten, haben benannt, warum diese Sklaven-Werkstätten trotz ihrer geringen technischen Arbeitsteilung in der Produktion rentabler waren als der einzelne Handwerker. Der Grund
80 81 82 83
84 85 86 87
Vgl. zum Beispiel Att. Stelen, Stele 6, 18–27, 33–46; Is. 8.35; Aischin. 1.97 f. Die Kleinhändler sind zusammen mit den Handwerkern die größte Gruppe der Freigelassenen in den Phialai-Inschriften; vgl. oben Anm. 77; vgl. HAS, Bd. 2, s. v. Handel, I. (W. Schmitz), sp. 1285 f. mit weiteren, vornehmlich epigraphischen Belegen. In Silberminen: z. B. Andok. 1.38, Xen. vect. 4.14; mem. 2.5,2; Demosth. 37.25 f. Im Handwerk: z. B. Demosth. 27.19; [Demosth.] 48.14 f.; Aischin. 1.98 für die Phialai-Inschriften s. oben Anm. 77 und HAS, Bd. 2 s. v. Handwerk, I. (W. Schmitz), sp. 1297 mit weiteren Belegen. [Demosth.] 34.8; 33.15 f.; Fisher 2008, 130–132 hat darauf hingewiesen, dass die Reden den exakten Stand der Handelsagenten ambivalent lassen, vielleicht aus taktischen Gründen; sicher ist die Berücksichtigung der Sklaven als Vertreter ihrer Herren hingegen in einer Serie von Proxenie-Dekreten aus Olbia, vgl. Kap. 11.1; dazu Klees 1998, 150 f., Anm. 138; in den Phialai-Inschriften werden fünf Personen als emporos bezeichnet, IG II2 1559A, 148 f.; 1157A, 501; Agora I. 3183A, 244; IG II2 1566; Agora I. 5656, 60 f. In Athen und Ägina: Demosth. 36.28–31; vgl. [Demosth.] 45.32 f. Isokr. 17.11, 55; in Korinth: Diog. Laert. 6.82; vgl. Cohen 1992, 82–90. Weber [1921] 1999, 193–195; Humphreys 1978a, 144; vgl. die Belege oben in Anm. 12. Att. Stelen, 6, 18–27, 33–46; Is. 6.33; 8.35; Aischin. 1.97 f. Lys. 12.8: Lysias und Polemarchos; Demosth. 27.9–11, 33: Demosthenes der Ältere; Demosth. 36.11; [Demosth.] 45.85: Pasion und seine Söhne; [Demosth.] 48.12 f.: Komon (im Piräus). Lyk. 22: Leokrates; verschiedene Werkstattbesitzer, die durch ihren erfolgreichen Werkstattbetrieb zu Vermögen gelangten, werden bei Xen. mem. 2.7,6 aufgezählt.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
431
war ihre kaufmännische Leitung.88 Der Eigentümer stellte das Kapital zur Verfügung und organisierte den Ankauf des Rohmaterials und den Vertrieb der gefertigten Waren.89 Für die Beaufsichtigung der Fertigung war ein Aufseher verantwortlich, der anders als der Eigentümer die handwerkliche Fachkenntnis besaß, um den Arbeitsprozess anzuleiten und die Ergebnisse zu kontrollieren.90 Diese Werkstattorganisation entspricht der typischen vormodernen Werkstattorganisation, in der Maschinen und Technologie noch unerheblich waren.91 Ihr Kernstück war die Arbeitsteilung zwischen einem vermögenden Bürger als Eigentümer und Prinzipal und einer statusschwächeren Person als dessen Agent. Diese Konfiguration findet sich in den mittelalterlichen Städten Italiens wieder.92 Sklaven waren hier allerdings als Mitarbeiter nicht denkbar, was einen entsprechenden Mehraufwand zur juristischen Absicherung der Kooperation mit freien Vertragspartnern nach sich zog (dazu noch Kap. 19.2). Hier zeigt sich, wie kostengünstig der Einsatz von Sklaven war:93 Ein griechischer Sklavenbesitzer musste keine aufwendigen Verträge verfassen und durchsetzen, er hatte seinen Untergebenen als Eigentum ganz in der Hand.94 Während ‚Freunde‘ schnell Feinde wurden, wenn man um Gewinn und Ehre konkurrierte, konnte man dem Sklaven vertrauen, weil er seinem Herrn ausgeliefert blieb, der im Zweifelsfall sogar zur Folter greifen konnte.95 Selbst Freigelassene blieben von ihren vormaligen Eigentümern abhängig, gebunden
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Weber [1909] 2006, 528–530; Thompson 1982, 18–20 mit Verweis auf das Mittelalter; zu den athenischen Werkstätten mit allen Belegen Eich 2006, 288–297. Das erklärt, warum Männer wie Kleon, Kleophon und Hyperbolos abwechselnd als Hersteller und als Verkäufer bezeichnet werden; Kleon: Aristoph. Ach. 300 f.; Equ. 44 (mit Schol. Equ. 44c), 129–144, 316–321, 740; Pax 268–270; Kleophon: And. 1.146; Aristoph. Equ. 739; Schol. Aristoph. Thesmoph. 805; Schol. Ran. 681; Hyperbolos: Kratin. fr. 209 PCG (= Schol. Aristoph. Pax 692); Aristoph. Equ. 739, 1315; Nub. 1065; Pax 690; And. fr. 3.2 (= Schol. Arist. Vesp. 1007). Schwahn 1929, 12, 26–28, 32 zur Messerschmiede von Demosthenes d. Ä., die vom Sklaven und dann Freigelassenen Milyas beaufsichtigt wurde; dazu Thür 1972, 169 f., der ebd. 170–172 auf vergleichbare Fälle hinweist. Der geringfügige Einsatz technischen Kapitals, das Fehlen technologischer Innovation und der niedrige Grad vertikaler Integration sind als Indikatoren geringer Produktionsrationalität in der griechischen Antike aufgefasst worden; vgl. Finley 1965; Burford [1972] 1985, 136–148; Millett 2001, 31–35; Harris 2002b, 70 f.; Morris 2004, 729 f.; Schneider 2007; Bresson 2016, 208–219. Das übersieht, dass dies allgemeine Merkmale vormoderner Produktion außerhalb des Bergbaus waren; vgl. Roover 1963b, 176 im Allgemeinen und Goldthwaite 2009, 300 f., 316 f., 588 speziell zu Florenz. Roover 1963b, 167–170; Brucker 1969, 60; Goldthwaite 2009, 299 f. Ein typisches Gegenargument lautet, dass dafür wegen der Anschaffung der Sklaven die Startkosten und -risiken umso höher seien; das ist allerdings nur bedingt richtig, weil man fehlende Sklaven auch per Pacht ergänzen konnte, wie dies etwa Demosthenes’ Vormünder bei dessen Messerschmiede taten, Demosth. 27.20; Xenophons Vorschlag, den Silberbergbau durch die Bereitstellung von Pachtsklaven zu fördern, beruht genau auf dem Gedanken, dass die dadurch gesenkten Startkosten und -risiken den Markteintritt erleichtern. Wood 1988, 114 f.; Cohen 1998, 105–129; Cohen 2002. Plat. leg. 6, 776d–e; Theophr. char. 4.6; vgl. die Drohungen in Men. Sam. 305–308, 320–324, sowie das Schicksal des Aufsehers Moschion, [Demosth.] 48.14–18.
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zunächst durch Sitte und Gewohnheit, zunehmend jedoch auch durch förmliche Verträge und sogar Gesetze.96 Die Pflichten umfassten neben allgemeiner Ehrerbietung auch konkrete Leistungen. Die Quellenlage ist wie üblich für Athen am besten; aber Orakel-Anfragen von Herren und Sklaven in Dodona zeigen offenbar, dass ParamoneVereinbarungen bereits im 5. Jh. und auch außerhalb Athens existierten.97 Gerade bei Geldgeschäften, bei denen es um wertvolle Geheimnisse und anspruchsvolle Rechnungen ankam, waren Sklaven und Freigelassene deshalb ideale Mitarbeiter. Das Vertrauen innerhalb der statusspezifischen Arbeitsteilung beruhte demnach meist auf einer wechselseitigen Anerkennung ihres Nutzenkalküls. Der Sklave oder Freigelassene befand sich dabei in der deutlich schwächeren Verhandlungsposition. Das informelle Sondervermögen, das ein Sklave ansparte, konnte ein Hausherr ohne Rechenschaft abzulegen kassieren, ebenso ein Freilassungsversprechen. Selbst ein Bankgehilfe musste mit Strafarbeit in der Mühle rechnen, wenn sein Herr mit seinem Geschäftserfolg unzufrieden war.98 Konkubinen als Ersatz der freien Hausmutter mussten fürchten, einfach aus dem Haus geworfen zu werden, wenn der Herr sein Vertrauen oder Interesse verlor.99 Weil das Vertrauensverhältnis ein persönliches war, konnte auch der Tod des Eigentümers dazu führen, dass ein Sklave seine mühsam erworbenen Privilegien mit einem Schlag verlor. Dem Sklaven Moschion, der vom Werkstatt-Vorsteher zum allgemeinen Vertrauten seines Herrn Komon aufgestiegen war, drohten Komos’ Erben Folter an, um den Verbleib versteckter Geldsummen zu erfahren, und einer der beiden ließ ihn später tatsächlich foltern, weil er den Sklaven verdächtigte, nicht alle Gelder preisgegeben zu haben. Olympiodoros, einer der beiden (illegitimen) Erben, behauptete vor Gericht, Moschion habe das Vertrauen seines Herrn missbraucht, um 8.000 Drachmen zur Seite zu schaffen.100 Es ist aller-
96
Im Athen der klassischen Zeit konnten Sklaven, die ihre Pflichten gegenüber ihrem ehemaligen Herrn nicht erfüllten, mit einer Dikē apostasiou angeklagt werden; vgl. Zelnick-Abramovitz 2005, 274–292 zur Dikē apostasiou und zur bedingten Freilassung in Athen; die Phialai-Inschriften gelten als der beste Beleg für die Verbreitung der Institution Ende des 4. Jhs.; die wichtigste Quelle für den Inhalt von Paramone-Verträgen sind die hellenistischen Freilassungsurkunden aus Delphi, dazu Hopkins/Roscoe 1978; Garlan [1982] 1995, 84–86; Zelnick-Abramovitz 2005, passim; Eich 2006, 343–347. 97 In DVC finden sich insgesamt 15 Anfragen, die das Wort παρμονά oder παραμονά/ή (einmal πάρμονος) erwähnen und von den Herausgebern als Fragen von Sklaven oder Herren gedeutet werden; DVC 1196B; 1214B; 1450B; 1675; 1864A; 1933A; 3014B; 3116A; 3235A; 3276B; 3473A; 3690B; 3700B; 3999B; 4010A; die früheste (1933A) datieren die Herausgeber in die Mitte des 5. Jhs.; die Identifikationen sind allerdings teils zweifelhaft und Meyer 2017 bestreitet insgesamt, dass es sich um Paramone-Verhältnisse handelt; zu Sklaven und Sklavenhaltern in den Anfragen vgl. Eidinow 2012. 98 Vgl. Kap. 10.1.2, Anm. 37. 99 Antiph. 1.14; vgl. die Behandlung der Konkubine Chrysis in Menanders Samierin, 368–398, 508– 510; ihr Status wird nie exakt angegeben, ihre Position ähnelt allerdings derjenigen der ebenfalls harsch behandelten Freigelassenen Neaira, [Demosth.] 59.24–48. 100 [Demosth.] 48.14–18.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
433
dings unglaubwürdig, dass Moschion eine so hohe Summe unbemerkt hätte beiseite schaffen können. Andere Erklärungen dafür, warum Moschion die Geldsummen zunächst verschwieg, sind wahrscheinlicher. Entweder beschloss Moschion einen Teil von Komons Vermögen für die rechtmäßigen Erben in Sicherheit zu bringen, was Ausdruck seiner Treue zum Haus seines verstorbenen Herrn gewesen wäre.101 Oder das Geld waren seine Ersparnisse, auf die er einen moralischen Besitzanspruch erhob. Wie dem auch sei: Moschions langjährige Dienste für Komon wurden am Ende nur mit Folter entlohnt. Mehr Glück hatte ein gewisser Eumathes, der als Geschäftsführer einer Bank von seinem Eigentümer Dionysios freigelassen worden war. Als Dionysios’ Erbe die Freilassung anfocht, rettete Eumathes das gerichtliche Eingreifen eines Patrons, dessen Zuneigung er sich durch geschäftliche Zuverlässigkeit erworben hatte.102 Die wenigsten Freigelassenen waren mit dem ökonomischen und sozialen Kapital ausgestattet, über das Eumathes als Bankier verfügte. Für sie setzte sich der prekäre Status eines privilegierten Unfreien auch in der Freiheit fort.103 Die heikle Mischung aus Begünstigung, Vertrauen und Willkür führt ein ‚scherzhafter‘ Dialog in Menanders Die Geschorene (Perikeiromenē) vor. Der Sklave Daos hat eine Angelegenheit für seinen Herrn Moschion eingefädelt und hofft auf Begünstigung. Moschion ist allerdings misstrauisch. Zur Bekräftigung seiner Aufrichtigkeit sagt Daos, falls er lüge, solle er zum Auspeitschen aufgehängt werden oder aufs Rad gespannt werden. Auf Daos’ Frage, welche Belohnung ihn erwarte, schlägt Moschion ihm die Arbeit in der Mühle vor, eine der ärgsten Sklavenstrafen.104 Daos erschrickt, Moschion scherzt weiter. Ob er Daos ein hohes militärisches und politisches Amt verleihen solle? Daos erwidert, daraus mache er sich nichts, er wolle nicht gleich ermordet werden (vermutlich eine Anspielung auf ein aktuelles politisches Ereignis), nur weil er ein bisschen stehle; Moschion erwidert, sonst klaue er doch auch „sieben von acht Talenten“. Schließlich meint Daos, er wolle bloß als Kleinhändler auf dem Markt sitzen. Reich müsse er nicht werden, nur satt wolle er sein.105 Der kurze Dialog vereint fast alle Sklaven-Klischees: Sie sind geschwätzig, unehrlich, diebisch, verfressen. Das ist die Sicht des Herrn, der den privilegierten Sklaven so pauschal verdächtigt wie die Ehefrau, weil er auf ihn als Vertrauensperson genauso angewiesen ist (vgl. Kap. 10.2): Aristophanes’ Witz, dass der „treueste“ Sklave auch der „diebischste“ sei, bringt auf den Punkt, dass Misstrauen und Vertrauen zwei Seiten einer Medaille sind.106 Im Witz 101 102
§ 25–27. Is. fr. 18 Thalheim (= Dion. Hal. Is. 5) und 19 (= Harp. s. v. ἄγει); hellenistische Inschriften zeigen, dass man bei Freilassungen mehrere Familienmitglieder beteiligte, um Fälle wie den des Eumathes zu verhindern, Zelnick-Abramovitz 2005, 138–141. 103 Zelnick-Abramovitz 2005 hat betont, dass Freigelassene nicht völlig frei waren; das gilt allerdings, wie Lewis 2018b, 70–72 eingewandt hat, nur im sozialen Sinn, nicht im rechtlichen. 104 Klees 1998, 189–191. 105 Men. Pk. 267–290. 106 Aristoph. Plut. 26 f.: τῶν ἐμῶν γὰρ οἰκετῶν πιστότατον ἡγοῦμαί σε καὶ κλεπτίστατον.
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spiegelt sich außerdem die harsche Realität, in der der Eigentümer alles, was der Sklave an Verdiensten zur Seite legte, weiterhin als sein Eigentum ansah – er konnte es jederzeit zu Diebesgut erklären und einziehen. Daos’ Wunsch, satt statt reich zu sein und als Kleinhändler ein ruhiges Leben zu führen, ist nicht unbedingt Ausdruck von fauler Verfressenheit, wie sein Herr Moschion meint. Denn es lässt sich auch als Ausdruck eines Sicherheitsbedürfnisses deuten: Die Nähe zum Herrn und dessen Geld kann zwar reich machen, sie ist aber auch gefährlich.107 Die Ungewissheit als ständiger Begleiter privilegierter Sklaven belegt eines der seltenen Selbstzeugnisse eines Sklaven. Um 350 fragte ein gewisser Kittos das Orakel in Dodona: „Wird Kittos die Freiheit zuteil werden, die ihm Dionysios jetzt in Aussicht gestellt hat?“108 12.3.5 Die Intensivierung der Arbeit Der in der Forschung am häufigsten genannte Vorteil von Kaufsklaverei ist ihr Potential zur Intensivierung der Arbeit.109 Wenn Hörigen fixe Leistungen auferlegt waren, fielen ihnen selbst die Gewinne aus Intensivierung und günstigen Umständen (windfalls) zu. Für Heloten und Penestai wird berichtet, dass es ihren Herren ausdrücklich verboten gewesen sei, die festgelegten Abgaben zu erhöhen; Alison Burford nimmt das Gleiche für die Mariandynoi in Herakleia und die Klarotai in Kreta an.110 Freie Männer wiederum waren auch durch hohe Löhnen nicht dazu zu bewegen, kontinuierlich intensive Arbeit zu leisten. Finley und viele andere konnten sich diesen aus heutiger Sicht merkwürdigen Befund nicht anders als ‚psychologisch‘ erklären und verwiesen auf das Ideal des politisch aktiven und sich agrarisch selbstversorgenden Bürgers.111 Der Vergleich zu anderen Sklavereigesellschaften legt allerdings nahe, dass die Ablehnung abhängiger Arbeit eine Folge der Ausbreitung der Sklaverei ist und nicht deren Ursache.112 Die Frage, ob man Lohnarbeit ablehnen kann, ist außerdem nicht bloß eine 107 Patterson 1982, 175: „Proximity to the master also carried enormous risks and disadvantages. The slave was under the constant supervision of the master and therefore subjected to greater and more capricious punishment and humiliation than those housed elsewhere.“ Vgl. Genovese 1976, 333, 361 für die amerikanischen Südstaaten. 108 DVC 1411: Κίττωι εἰ ἔστι ἡ ἐλευ[θ]ερία ἡ παρὰ Διονυσίου ἣν οὖν ἔθετ’ αὐτῶι Διονύσιος; die Herausgeber vermuten, dass es sich um einen bedingt freigelassenen Sklaven handelt. 109 Meyer [1898] 1910, 196–203 für die Antike, Jameson 1977/8, 139–141 für die antike Landwirtschaft; Engerman/Fogel 1974, 208 f. für die Südstaaten; allgemein: Barzel 1977, 88–93; vgl. Scheidel 2008, 111 f. zu den geringeren „turnover costs“ einer abhängigen Arbeiterschaft. 110 Die Belege für die Abgaben der Heloten mit Diskussion bei Ducat 1990, 56–64 und Hodkinson 2008, 293 f.; zu den Penestai siehe Archemach. FGrH 424 F 1 (= Athen. 6.264a–b) mit Ducat 1994, 90 f.; vgl. Burford 1993, 197–202 und s. Hodkinson, op. cit., 315–318, zu den auch archäologisch sichtbaren Wohlstands- und Statusunterschieden der helotischen Landbevölkerung. 111 Finley [1980] 1985, 105–108; für ähnliche Sichtweisen vgl. die Literatur oben in Anm. 12. 112 Scheidel 2002, 175–182 mit dem Vergleich zur amerikanischen Sklaverei; Zeuske 2013, 184 für Sklavereigesellschaften in Karibik, Südamerika (bes. Brasilien) und Westafrika.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
435
Frage der Mentalität, sondern vor allem der wirtschaftlichen Möglichkeiten: Große Not und große Lohnanreize hätten die Wirkung sozialer Normen in derselben Weise abschwächen können, wie sie es in anderen Lebensbereichen taten.113 Schließlich ist die Ablehnung kontinuierlicher Lohnarbeit keine Besonderheit des klassischen Griechenland. Im hellenistischen und kaiserzeitlichen Ägypten, im mittelalterlichen England, im Florenz der Renaissance, in der französischen Karibik des 17. Jhs., im England des 18. Jhs. und in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jhs. blieben freie Arbeiter der Arbeit fern, wenn sie vorerst genug verdient hatten oder ihnen die Arbeitsbedingungen zu schlecht oder unsicher waren – dementsprechend notorisch waren die Klagen der Arbeitgeber, die versuchten, ihre Arbeiter durch Arbeitsverträge und Gesetze zu binden.114 Diese Parallelen in politisch und kulturell ganz unterschiedlichen Weltregionen widerlegen Finleys kulturpsychologische Erklärung für die Präferenz für Sklavenarbeit in der Antike. Dass Finley auf eine solche Erklärung auswich, obwohl er das Vergleichsmaterial kannte,115 lässt sich vielleicht damit erklären, dass ausgerechnet der Gegner modernistischer Modelle selbst ein modernistisches Verständnis von Arbeit hatte. Verzichtet man auf die Annahme, dass ‚Lohnarbeit‘ zu allen Zeiten dasselbe bedeutet, eröffnet sie die Möglichkeit zu genuin historischer Modellbildung, d. h. die Berücksichtigung der variablen Rahmenbedingungen bei der Erklärung wirtschaftlichen Verhaltens. Denn stetige Arbeitsmärkte setzen historisch entstandene Umstände voraus, von der Existenz von Medien der Informationsverbreitung bis zu absichernden Institutionen wie Versicherungen und Interessensvertretungen. Für eine Epoche vor der Entstehung von Sozialversicherungen und Arbeitsagenturen lässt sich der Verzicht auf 113 114
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Morris 2002, 34: „If the employer is ready to pay enough, he will be able to hire all the free labour he wants, regardless of ideologies of self-sufficiency.“ Kloft 1984, 214 f. zu Ägypten; Feyel 2006, 340 konstatiert denselben Befund für die Bauprojekte der griechischen Heiligtümer, den er unter Verweis auf Statuten gegen Arbeiterfreizügigkeit aus dem mittelalterlichen England als „typique de l’ére pré-industrielle“ bezeichnet; vgl. Goldthwaite 2009, 322, 366 f. für Bauarbeiter in Florenz; Blackburn 1997, 286 zitiert einen Bericht von 1667, laut dem die Pflanzer in Martinique und Guadeloupe afrikanischen Sklaven die Verarbeitung von Tabak beibrächten, weil sie mit ihnen zeitlich flexibel wären, während die französischen Arbeiter sich oft „idle revelry“ hingäben und die Freiheit hätten, sich gerade dann davonzumachen, wenn der Arbeitsbedarf am höchsten sei; Thompson [1974] 1980, 170 zitiert eine englische Abhandlung von 1724, die klagt, das arbeitende Volk sei unzuverlässig in der Erfüllung ihrer Verträge und arbeite, wenn das Gewerbe floriere und es genug zu verdienen gäbe, „höchstens zwei oder drei Tage in der Woche“; vgl. Engerman/Fogel 1974, 204 f., 208 zu den amerikanischen Südstaaten. Finley [1973] 1993 zitiert Clark/Haswell 1966, die eine ökonomische Erklärung für das Arbeitsverhalten von Subsistenzbauern anbieten, allerdings nur in Bezug auf nicht-ökonomische Gründe Landwirtschaft zu treiben; Finley [1980] 1985, 109 f. zitiert zur Sklaverei u. a. Engerman/Fogel 1974, die mit der Unzuverlässigkeit freier Arbeit die Rentabilität von Sklavenarbeit erklären, aber meint, diese „Analytiker“ seien nicht in der Lage gewesen, „zu irgendeiner Übereinstimmung in Fragen wie der relativen Effektivität oder der Rentabilität der amerikanischen Sklavenarbeit zu kommen“; es ist richtig, dass die absoluten Zahlen umstritten sind; an der relativen Rentabilität besteht kein Zweifel.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
Lohnmaximierung durchaus ökonomisch erklären – was nicht ausschließt, dass diese Haltung auch gesellschaftlich und persönlich bevorzugt war. Die freien Mitglieder eines Hauses zogen Gelegenheitsarbeit kontinuierlicher Lohnarbeit vor, um angesichts einer von struktureller Ungewissheit geprägten Umwelt Risiken zu minimieren und sich zugleich Möglichkeiten für Gelegenheitsgewinne offenzuhalten. Colin Clark und Margaret Haswell haben in ihrer umfassenden Untersuchung zur traditionellen Subsistenzwirtschaft festgestellt, dass Kleinbauern intuitiv das optimale Verhältnis von Arbeit und Ertrag finden. An dem Punkt, an dem die marginale Produktivität sinkt, also der Arbeitseinsatz relativ zu jeder weiteren Ertragseinheit steigt, beenden sie ihre Feldarbeit und widmen sich anderen Tätigkeiten, wie der Herstellung von Gerätschaften oder, wichtiger noch, der Pflege von sozialen Kontakten.116 Ihre Arbeitserträge haben also nur einen relativen Wert in der Gesamtrechnung des Haushalts. Gerade kleine Haushalte, so lässt sich verallgemeinern, optimieren eher den Input von Arbeit als den Output materiellen Gewinns. Dabei verfolgten sie drei Strategien: Erstens Risikominimierung: In kleinen Haushalten hing die Subsistenz wesentlich von der Arbeitskraft des Vaters ab. Körperliche Arbeit war gefährlich: Krankheit, Erschöpfung und Unfälle gefährdeten nicht nur den Arbeiter, sondern seinen gesamten Haushalt. Menanders Bauer erzählt die Geschichte eines Bauern im attischen Hinterland, den ein Unfall beim Hacken eines Feldes in Lebensgefahr bringt und für längere Zeit arbeitsunfähig macht; dem Arbeiter, der ihm in dieser Zeit half, ist er wie einem Lebensretter dankbar.117 Wer physische Arbeit verrichtete, maximierte daher nicht den kurzfristigen Gewinn, ob auf dem eigenen Feld oder im Dienst eines Lohnherrn, sondern minimierte lieber die langfristigen Risiken für seine Arbeitskraft. Ein Risiko anderer Art stellte die Gefahr dar, vom Lohnherrn ohne oder nur mit unvollständigem Lohn davongeschickt zu werden. Die Tatsache, dass das Attische für den geprellten oder hingehaltenen Lohnempfänger eine spezielle Bezeichnung kannte – ἀπόμισθος – legt nahe, dass dergleichen vergleichsweise regelmäßig geschah.118 Zweitens Akkumulation von sozialem Kapital. Jeder Haushalt pflegte ein Netz von Nahbeziehungen, sein soziales Kapital.119 Denn dieses Netzwerk diente als Versicherung gegen schlechte Zeiten und war zugleich das Informationssystem, das den Haus116
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119
Clark/Haswell 1966, 32–47, 111–117; Sahlins 1972, 41–99 für Subsistenzbauern in Afrika und Asien; nach der Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien (1834) mussten die Pflanzer feststellen, dass die Freigelassenen lieber Subsistenzbauern als festangestellte Lohnarbeiter wurden, Davis 2006, 232. Men. Georg. 35–82; einige beiläufige Bemerkungen in Xenophons Oikonomikos bestätigen, dass Landarbeit gefährlich war und dies beim Einsatz der Arbeitskräfte als demotivierender Faktor berücksichtigt werden musste, oik. 13.11; 14.8. Vgl. Lys. fr. 191 Carey (= Suda s. v. ἀπόμισθος); Lex Seguer. 5, s. v. ἀπόμισθος; Belege für die Verwendung des Wortes beziehen sich häufig auf Söldner, vgl. Xen. hell. 6.2,16; Demosth. 4.46; 23.154; Hom. Il. 21.441–457 und Hdt. 8.137 zeigen allerdings, dass das Phänomen der Sache nach auch in der Landwirtschaft existierte. Vgl. das Festessen unter bäuerlichen Nachbarn in Aristophanes’ Frieden, 1127–1196.
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
437
vater über Chancen und Risiken informierte.120 Ein solches Netzwerk erhielt sich nur durch persönliche Interaktion. Es kostete also Zeit. Zeit, die zu kostbar war, um sie mit Lohnarbeit zu verschwenden. Wie wichtig die Pflege eines solches Netzwerkes als ‚Versicherung‘ in einer Zeit ohne institutionalisierte Versicherungen im heutigen Sinne war,121 zeigt die bereits erwähnte Geschichte aus Menanders Bauer. Der Mann, der den Bauern pflegt, ist der Sohn eines Nachbarn, der für ihn arbeitete. Drittens Gelegenheitsoptimierung: Wer sich unbefristet einem einzigen Lohngeber verpflichtete, verzichtete auf alternative Verdienstmöglichkeiten: Er trug sogenannte Opportunitätskosten. Diese Kosten waren wegen der Ungewissheit der Zukunft besonders hoch. Man gab die Flexibilität auf, sich kurzfristig bietende Gelegenheiten ergreifen zu können. Dabei blieb ungewiss, ob die Sicherheit eines Lohnverhältnisses diesen Verzicht aufwiegen würde. Denn der Lohngeber selbst wollte als Hausherr ja ebenfalls möglichst flexibel bleiben und keine Verpflichtungen eingehen (vgl. Kap. 14.2.2). In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung von Clark und Haswell zum Zusammenhang von Urbanisierung und Lohnrate wichtig. Das Einkommen von Landarbeitern und Kleinpächtern ist dort am niedrigsten, wo es wenige alternative Beschäftigungen gibt und die Konkurrenz um Arbeitskraft dementsprechend niedrig ist. Dies ist in ländlichen Gebieten fernab urbaner Zentren der Fall, in denen sich die Großgrundbesitzer auf cash crops spezialisiert haben. Hier sind die Bodenrenten am höchsten, der Graben zwischen Arbeiter/Pächter und Grundbesitzer am tiefsten. In stärker urbanisierten und kommerzialisierten Regionen hingegen (Clark und Haswell zitieren das antike Griechenland, das mittelalterliche Italien und das frühneuzeitliche Frankreich) sinken die Renten und steigen die Löhne. Denn Urbanisierung und Arbeitsteilung heben die Nachfrage nach Arbeit und eröffnen Nebenerwerbschancen.122 Der Befund deckt sich mit den inschriftlich belegten hohen Löhnen in klassi-
120 Vgl. Dover 1974, 276–278 zu ‚nützlichen‘ Freundschaften; vgl. Gallant 1991, 143–169 und Millett 1991, 120 f. zum Versicherungsaspekt sozialer Beziehungen; vgl. Medick 1982, 169 zu ähnlichen Strategien frühneuzeitlicher Unterschichten; Cohen 1992, 147 f. zur Informationsgewinnung; vgl. auch Kap. 14.2.3. 121 Versicherungen sind eine wichtige Voraussetzung für kontinuierliche Lohnarbeit; in einer Feldstudie stellten die Ökonomen Christopher Blattman (Princeton) und Stefan Dercon (Oxford) fest, dass bei neu eingerichteten „sweat shops“ in Äthiopien zwei Drittel der 947 neu eingestellten Arbeiter bereits nach wenigen Monaten kündigten und auf die Familienfarm zurückkehrten, Aushilfsarbeiten verrichteten oder als selbstständige Kleinhändler auf dem Markt handelten. Blattman und Dercon führen das v. a. auf die Risiken zurück, die mit jedem weiteren Monat stiegen. Die Autoren schlagen zwei Lösungen vor: erstens besseres Management unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen (Xenophon!); zweitens: „social welfare system and safety nets“ – also Ersatz für jene Art von ‚Versicherung‘, die traditionell über Nahbeziehungen geboten wird; The New York Times, 27.4.2017. 122 Clark/Haswell 1966, 88–105; vgl. Mitterauer 1984, 12 f. zur städtischen Unterschicht im Mittelalter; Thompson [1974] 1980, 173 f. zu England im 18. Jh.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
scher Zeit123 und mit dem in Kap. 3 entworfenen Bild einer vernetzten urbanen Ägäiswelt. Die nächste Stadt, wo Kraft und Geschick gefragt waren und man außerhalb der Reichweite eines früheren Lohnherren war, war oft nicht mehr als einige Wegstunden zu Fuß oder eine Tagesreise mit dem Schiff entfernt – wenn überhaupt.124 12.3.6 Repräsentation und performative Distanzierung Weil der Sklave als ganze Person in den Haushalt integriert war, hatte er für diesen nicht nur produktiven Wert, sondern potentiell auch repräsentativen. Wer seine Sklaven gut einkleidete und ernährte, führte den Wohlstand des eigenen Hauses vor und zeigte sich als fürsorglicher Hausvater.125 Hier bestand ein großer Unterschied zwischen den Arbeitssklaven an der Peripherie und den privilegierten Sklaven im städtischen Zentrum. Bekannt ist Pseudo-Xenophons Bemerkung über die Wohlbehandlung der Sklaven in Athen.126 Es handelt sich um Polemik, aber sie stimmt erstaunlich gut mit einer Äußerung von Frederick Douglass überein, den man als ehemaligen Sklaven und Abolitionisten keiner Schönfärberei bezichtigen kann:127 A city slave is almost a freeman, compared with a slave on the plantation. There is a vestige of decency, a sense of shame, that does much to curb and check those outbreaks of atrocious cruelty so commonly enacted upon the plantation. […] Few are willing to incur the odium attaching to the reputation of being a cruel master; and above all things, they would not be known as not giving a slave enough to eat.
Eben diese ‚Schändlichkeit‘ übertriebener Sparsamkeit gegenüber den eigenen Sklaven, besonders beim Essen, wird in Quellen klassischer Zeit zum Ausdruck gebracht.128 Aristoteles’ Theorie der naturgemäßen Sklaverei war weniger eine Rechtfertigung der Sklaverei, als vielmehr eine Rechtfertigung einer differenzierenden Behandlung von
123
Vgl. das gesammelte Material bei Loomis 1998; um 400 betrug der Tageslohn 1 Dr., um 320 1 ½ bis 2 Dr.; die Erklärungen für den Anstieg variieren, sind hier jedoch zweitrangig. 124 Zur Mobilität der ‚kleinen Leute‘ vgl. Kap. 11.3.4 und 14.2; vgl. die Anfragen an das Orakel in Dodona, ob es einem andernorts mit seinem Gewerbe besser ergehen würde, z. B. DVC 24A+25A mit 26B, 2114A, 2169A, 3111, 3472A, Lhôte 88; dazu Eidinow 2007, 72 f.; vgl. den Fall des Freigelassenen Dion, der sich von Athen nach Sikyon flüchtete, weil er einen Verlust erwirtschaftet hatte und den Zorn seines ehemaligen Herrn fürchtete, Is. 6.20. 125 Plat. rep. 2, 373c; Demosth. 21.159; 36.45; Theophr. char. 22.10; 30.16; Theop. FGrH 115 F 36 (= Athen. 6.275b); Men. Colax 1–11; Plut. Phokion 19.2. 126 [Xen.] Ath. pol. 1.11 f.; zu dieser Stelle Cohen 1998, 106 und Fisher 2008, 124. 127 Douglass [1845] 2000, 46; vgl. Blackburn 1997, 396 zu Brasilien und Lateinamerika. 128 Theophr. char. 10.5, 30.9, 11, 15; Antiph. fr. 166 PCG (= Athen. 3.108e–f); in Aristoph. Plut. 802–822 erwartet der Sklave Karion, dass die Sklaven am neuen Reichtum ihres Herrn Anteil haben werden; vgl. Aischyl. Ag. 1042–1045 zur besseren Behandlung der Sklaven von „altreichen Herren“ (ἀρχαιοπλούτων δεσποτῶν).
12.3 Die Rentabilität von Sklavenarbeit
439
Sklaven, die von der Ausnutzung eines Arbeitssklaven ‚wie ein Tier‘ bis zur Pflege eines privilegierten Sklaven ‚wie ein Freier‘ reichen konnte (vgl. Kap. 6.3.2). Der Sklave war nicht nur Ausdruck des Reichtums seines Haushalts. Er erlaubte es dem Hausherrn außerdem, sich von den Quellen dieses Reichtums performativ zu distanzieren, wenn diese anrüchig waren. Der Bankier Pasion etwa überließ das Tagesgeschäft am Wechseltisch im Piräus einem Sklaven, während er selbst in Athen residierte und dort seine wichtigeren Kunden als Freunde empfing.129 Die Rede im Streit um das Vermögen des Atheners Euktemon veranschaulicht die Regeln der performativen Distanzierung besonders gut. Zuhälterei galt allgemein als besonders schändliches Gewerbe.130 Dennoch tat es Euktemons Ansehen keinen Abbruch, dass zu seinem liturgischen Vermögen auch zwei Bordelle im Kerameikos-Viertel gehörten. Die eigentliche Führung dieser Etablissements überließ Euktemon nämlich seinen Freigelassenen. Er selbst kontrollierte diese Verwalter nur und kassierte die Einnahmen.131 Im hohen Alter begann Euktemon allerdings mehr Zeit in den Bordellen zu verbringen und sogar gemeinsam mit den dortigen Leuten zu speisen. Das habe zum Ruin seines Hauses geführt. Der Fall war eindeutig, meinte der Gerichtsredner: Entweder der alte Mann war senil geworden oder er stand unter Drogen!132 Nicht die Herkunft der Einnahmen war hier das Problem, sondern der sichtbare Umgang mit Leuten eines schändlichen Gewerbes, also die Aufhebung der performativen Distanz zwischen dem Hausherrn aus der liturgischen Klasse und seinen Einnahmen aus dem niederen Gewerbe im Viertel am Stadttor. *** Die relativ günstige Versorgung mit Sklaven aus der außergriechischen Peripherie und die Diskontinuität freier Arbeit in den am stärksten vernetzten und urbanisierten Regionen der griechischen Welt machten die Kaufsklaverei zur geeigneten Form, um Humankapital zu akkumulieren und die Rentabilität abhängiger Arbeit zu steigern.133 Für die Hauswirtschaft war das Vorherrschen von Sklavenarbeit relevant, weil sie die Anpassung des Haushalt an die monetäre Verkehrswirtschaft ermöglichte, ohne institutionelle Innovationen zu erfordern.134 Stattdessen erweiterte man seinen Haushalt durch den Kauf zusätzlicher Hausgenossen, deren Einsatz jene Mischung von Flexibili-
129 130 131 132 133 134
Vgl. Isokr. 17.11; [Demosth.] 52.8. S. Kap. 6.1.4. Is. 6.19 f. § 20 f.; zum Prozess und seinen Hintergründen ausführlich Schmitz 2000. Zur Sklavenversorgung durch Handel (und Raub) an der Peripherie Braund 2011 und Lewis 2015; „günstig“ im Vergleich zum Preis von Nutztieren, vgl. Pritchett/Pippin 1956, 255–258 und 276–279, sowie Jameson 1977/8, 140, und zum neuzeitlichen Transatlantikhandel. Vgl. Descat 2004b, 152–154.
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12 Statusspezifische Arbeitsteilung: Sklaverei
tät, Nutzenmaximierung und performativer Distanzierung bot, wie sie die Hauswirtschaft generell anstrebte. Aber ist es überhaupt sinnvoll, die Sklaven, die auf Landgütern, in Steinbrüchen, Bergwerken und Werkstätten ausgebeutet wurden, noch als Teil des Haushalts zu betrachten?135 Die Bergwerkssklaven im Süden Attikas etwa wohnten weit entfernt von ihren Eigentümern, die sie als reine Investition betrachteten und umstandslos samt Werkstattgebäude verkauften oder verpachteten.136 Diese Silberwerkstätten hatten praktisch in der Tat nur noch wenig mit der traditionellen Hauswirtschaft gemein. Aber selbst sie blieben formell gesehen uneingeschränkt Teil des Haushalts, ein physisch abgelegener Vermögensteil. Aber auch ihre Organisation trug noch Züge der Hauswirtschaft. Die Auswahl eines ‚Betriebsleiters‘ etwa erfolgte nicht allein nach technischer Kompetenz, sondern auch nach dem Vertrauen des Hausherrn, das man sich anderweitig erworben hatte.137 Bei Landgütern und städtischen Werkstätten ist der fortgesetzte Bezug zur Hauswirtschaft noch eindeutiger. Letztere waren häufig im Wohnhaus ihres Eigentümers untergebracht, was diesem die Aufsicht erleichterte.138 Ihre Aufseher konnten zu allgemeinen Vertrauenspersonen ihres Haushalts aufsteigen.139 Die Landgüter lagen im Fall reicher Haushalte zwar vom städtischen Wohnhaus entfernt, doch ihre (sporadische) Beaufsichtigung hebt Xenophon als Pflicht des Hauswirts hervor. In gleicher Weise erklärt der Stoiker Chrysippos noch im 3. Jh. die Fürsorge/Aufsicht „der auf dem Feld Arbeitenden“ neben der Vermögensverwaltung zur definierenden Aufgabe der oikonomia.140 Die Kaufsklaverei erlaubte die Ausdehnung der Hauswirtschaft bis an die äußersten Grenzen des Haushalts: Doch es blieb der Haushalt, der diese Grenzen institutionell und ideell definierte.
So hat Millett 2007, 202–204 die These vertreten, dass Aristoteles in Politik I diese Sklaven nicht mehr zum Haus rechnete; hierzu vgl. Kap. 6.3.2. 136 Lauffer 1979, 77–81, 87–94; Jones 2007, 278–280. 137 Lauffer 1979, 49–51. 138 S. Kap. 9. 139 S. Kap. 10.1.2. 140 Fr. 623 SVF III (= Stobaeus 2.95,9): ἐπιμέλειαν καὶ τῶν κατ’ ἀγρὸν ἐργαζομένων. 135
Teil IV Die Praxis der Hauswirtschaft II: Strategien
13 Rationalisierung und Rationierung Der vorangegangene Teil untersuchte als ‚Strukturen‘ die Arbeitsteilung der Hauswirtschaft und deren Beziehung zu Umweltfaktoren wie Erbrecht und stadtübergreifender Vernetzung. In diesem Teil wird es nun um Techniken und kulturell festgeschriebene ‚Programme‘ des hauswirtschaftlichen Handelns gehen, die sich als ‚Strategien‘ beschreiben lassen, insofern sie der planvollen Deckung des häuslichen Bedarfs dienten. Wie bereits in Kapitel 2.1 ausgeführt wurde, ist die praktische ‚Rationalität‘ einer bestimmten Form des Wirtschaftens in mehrfacher Hinsicht historisch relativ. Was rational ist, hängt von den jeweils gesetzten Zielen und von den gesellschaftlichen und naturräumlichen Umweltbedingungen ab. Weil das Wissen der einzelnen Akteure begrenzt und vorläufig ist, benötigen sie durch Sozialisation erlernte mentale Modelle, um praktisch anwendbare Ziele, Bedingungen und Maßstäbe ihrer ‚Rationalität‘ zu gewinnen. Genauso, wie die Arbeitsteilung im Haushalt zwar dem materiellen Zugewinn diente, aber nicht in Hinsicht auf diesen Zweck spezialisiert war, behandelten die Strategien der Hauswirtschaft die Produktivitätssteigerung nur als intermediäres Ziel im Rahmen einer umfassenden Statuskonkurrenz (vgl. Kap. 3.2). Die Beobachtung, dass Haushalte einen großen Teil ihres Vermögens und ihrer Arbeitskraft für konsumtive Aktivitäten aufwandten, die nach den Begriffen der klassischen Wirtschaftswissenschaften unproduktiv sind, zeigt nicht, dass die griechische Hauswirtschaft irrational war, sondern nur, dass sie von einer Rationalität gelenkt wurde, die sich von der eines heutigen Unternehmens grundlegend unterscheidet.1 13.1 Rationalität und Effizienzsteigerung Das Altgriechische hat meines Wissens kein Synonym für den modernen Begriff ‚Rationalität‘, der in seiner Abstraktion und Allgemeinheit auf psychische, kulturelle und soziale Systeme gleichermaßen anwendbar ist. Dem klassischen Begriff von Rationalität im Sinne praktischer Vernunft kommt der Ausdruck φρόνησις nahe. Aristoteles 1
Vgl. Bresson/Bresson 2004, 113 und Descat 2004b, 153 f., der von einer „économie patrimoniale de marché“ spricht, die darauf angelegt war, mithilfe des Marktes Überschüsse zu erwirtschaften, die zum Erhalt der sozialen Stellung dienten.
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13 Rationalisierung und Rationierung
definiert phronēsis als „die Fähigkeit auf richtige Weise Ratschluss zu fassen über die einen selbst betreffenden Güter und Vorteile, nicht in Bezug auf den einzelnen Teil, wie etwa bei der Frage, was in Bezug auf Gesundheit, was auf Stärke (gut ist), sondern in Bezug darauf, was für das gute Leben insgesamt gut ist“.2 In diesem Sinn nenne man auch denjenigen „vernünftig“ (φρόνιμος), der sich darauf verstehe, etwas „in Hinsicht auf ein bestimmtes Ziel ernsthaft richtig auszurechnen“ (πρὸς τέλος τι σπουδαῖον εὖ λογίσωνται), auch wenn es sich nicht um eine „Fachkunst“ (τέχνη) handle.3 Aristoteles umschreibt hier die Tätigkeit des Vernünftigen (phronimos) als „gutes Berechnen“ (eu logisōntai). In der Tat umfasst der Ausdruck λογισμός, „Berechnung“, ebenfalls Bedeutungsaspekte von „Rationalität“, denn er bezeichnet zugleich die vernünftig abwägende Überlegung. Gemeint ist allerdings stets die konkrete Tätigkeit, kein abstraktes Prinzip. Rationalität wird wie der deutsche Ausdruck „Vernunft“ als persönliche Fähigkeit verstanden, die, zumindest im gelehrten Diskurs, ethisch rückgebunden ist.4 Es geht nicht nur um die richtige Wahl der Mittel, sondern auch um die moralische Richtigkeit der übergeordneten Ziele. Das Verfahren praktischen Räsonierens in Bezug auf die richtige Wahl der Mittel, die man heute als ‚instrumentelle Rationalität‘ bezeichnen würde, war zweifellos bekannt. Aristoteles unterscheidet zwischen den „genauen und selbstgenügsamen Wissenschaften“ (τὰς ἀκριβεῖς καὶ αὐτάρκεις τῶν ἐπιστημῶν), wie etwa der Grammatik, bei denen keine „Abwägung“ (βουλή) notwendig ist und den praktischen Künsten, die Abwägung erfordern. In einer Auflistung dieser praktischen Künste nennt Aristoteles neben Politik, Nautik und Rhetorik auch die Erwerbskunst (chrēmatistikē).5 Bei diesen „Fachkünsten und Wissensformen“ (τὰς τέχνας ἤ τὰς ἐπιστήμας) sei man unsicher, wie richtig zu verfahren ist. Denn hier richte sich „die Überlegung“ (τὸ βουλεύεσθαι) auf das, was „häufig geschieht, wo die Art des Ausgangs nicht eindeutig ist, und die Art des Handelns unbestimmt“; deshalb verlasse man sich bei „großen Angelegenheiten“ nicht auf sein eigenes Urteil, sondern ziehe Berater hinzu.6 Die Überlegung diene dabei nicht der Bestimmung der Zwecke, sondern der Mittel zur Erreichung des bereits festgesetzten Zwecks. Man diskutiert nur noch das „Wie und Wodurch“ (τὸ πῶς καὶ
2 3 4 5 6
Aristot. eth. Nic. 6, 1140 a 25–27: δοκεῖ δὴ φρονίμου εἶναι τὸ δύνασθαι καλῶς βουλεύσασθαι περὶ τὰ αὑτῷ ἀγαθὰ καὶ συμφέροντα, οὐ κατὰ μέρος, οἷον ποῖα πρὸς ὑγίειαν, πρὸς ἰσχύν, ἀλλὰ ποῖα πρὸς τὸ εὖ ζῆν ὅλως. Eth. Nic. 6, 1140 a 28–30. Vgl. Plat. leg. 2, 665d; Xen. 1.2,10; Isokr. 12.204. Aristot. eth. Nic. 3, 1112 b 1–4. Eth. Nic. 3, 1112 b 8–11: τὸ βουλεύεσθαι δὲ ἐν τοῖς ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, ἀδήλοις δὲ πῶς ἀποβήσεται, καὶ ἐν οἷς ἀδιόριστον. συμβούλους δὲ παραλαμβάνομεν εἰς τὰ μεγάλα, ἀπιστοῦν τες ἡμῖν αὐτοῖς ὡς οὐχ ἱκανοῖς διαγνῶναι.
13.1 Rationalität und Effizienzsteigerung
445
διὰ τίνων), und prüfe bei mehreren möglichen Wegen, „welcher der schnellste und schönste“ (ῥᾷστα καὶ κάλλιστα) ist.7 Aristoteles fährt fort:8 Und wenn man auf etwas Unmögliches stößt, so verzichtet man, etwa, wenn man Geld braucht und sich dies nicht zu beschaffen vermag; wenn es sich aber als möglich erweist, dann beginnt man zu handeln. […] Man fragt aber bald nach den Werkzeugen (ὄργανα), bald nach der Art ihrer Verwendung (χρεία); und ebenso im Übrigen bald, durch welches Mittel, bald, wie, bald, mit wessen Hilfe etwas geschehen soll.
Aristoteles’ Ausführungen entsprechen inhaltlich dem heutigen Begriff der instrumentellen Rationalität. Aristoteles spricht von Werkzeugen (organa), von denen man in Hinsicht auf einen bestimmten Zweck (telos) Gebrauch (chreia) mache. Das dabei notwendige Wissen (epistēmē) resp. die nötige Kunstfertigkeit (technē) bestehe in der Fähigkeit, die optimalen (wörtlich „leichtesten“) Mittel zu wählen. Dass derartigem Abwägen praktische Grenzen der Ungewissheit gesetzt sind, erwähnt Aristoteles ebenfalls. Als Beispiel für diese instrumentelle Rationalität wählt Aristoteles bezeichnenderweise den Gelderwerb und verwendet dieselbe Sprache („Werkzeuge“ usw.) wie in der Behandlung der Hauswirtschaft in Politik I. Das bei Aristoteles erkennbare Prinzip praktischer wirtschaftlicher Vernunft taucht auch abseits des gelehrten Diskurses auf, zwar wie üblich weniger theoretisiert, allerdings durch gleiche oder ähnliche Signalwörter markiert. Die Lysias-Rede Über den Ölbaum, die in Kap. 8.2 als Beleg für die Verheimlichung des hauswirtschaftlichen Nutzenkalküls zitiert wurde, ist wichtiger Beleg für den alltäglichen Begriff instrumenteller Vernunft:9 Nun, ihr Herren, wenn man bisher mir gesagt hat, ich sei sehr gewandt und genau, handelte nie aufs Geratewohl und unüberlegt (δεινὸν εἶναι καὶ ἀκριβῆ καὶ οὐδὲν ἂν εἰκῇ καὶ ἀλογίστως ποιῆσαι), dann habe ich mich geärgert, weil ich das nach meiner Meinung nicht war. Nun hätte ich es wohl gern, dass ihr derselben Meinung wärtet. Dann würdet ihr von mir erwarten, dass ich – falls ich so etwas überhaupt versuchen wollte – gut prüfe (σκοπεῖν), welchen Gewinn (τι κέρδος) mir das brächte, den Stumpf zu beseitigen, und welchen Schaden
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Eth. Nic. 3, 1122 b 11–17. Eth. Nic. 3, 1112 b 24–29: κἂν μὲν ἀδυνάτῳ ἐντύχωσιν, ἀφίστανται, οἷον εἰ χρημάτων δεῖ, ταῦτα δὲ μὴ οἷόν τε πορισθῆναι· ἐὰν δὲ δυνατὸν φαίνηται, ἐγχειροῦσι πράττειν. […] ζητεῖται δ’ ὁτὲ μὲν τὰ ὄργανα ὁτὲ δ’ ἡ χρεία αὐτῶν· Übers. O. Gigon. Lys. 7.12 f.: ἐγὼ τοίνυν, ὦ βουλή, ἐν μὲν τῷ τέως χρόνῳ, ὅσοι με φάσκοιεν δεινὸν εἶναι καὶ ἀκριβῆ καὶ οὐδὲν ἂν εἰκῇ καὶ ἀλογίστως ποιῆσαι, ἠγανάκτουν ἄν, ἡγούμενος μᾶλλον λέγεσθαι ὥς μοι προσῆκε· νῦν δὲ πάντας ἂν ὑμᾶς βουλοίμην περὶ ἐμοῦ ταύτην τὴν γνώμην ἔχειν, ἵνα ἡγῆσθέ με σκοπεῖν, εἴπερ τοιούτοις ἔργοις ἐπεχείρουν, καὶ ὅ τι κέρδος ἐγίγνετο τῷ ἀφανίσαντι καὶ ἥτις ζημία τῷ ποιήσαντι, καὶ τί ἂν λαθὼν διεπραξάμην καὶ τί ἂν φανερὸς γενόμενος ὑφ’ ὑμῶν ἔπασχον. πάντες γὰρ ἄνθρωποι τὰ τοιαῦτα οὐχ ὕβρεως ἀλλὰ κέρδους ἕνεκα ποιοῦσι, καὶ ὑμᾶς εἰκὸς οὕτω σκοπεῖν, καὶ τοὺς ἀντιδίκους ἐκ τούτων τὰς κατηγορίας ποιεῖσθαι, ἀποφαίνοντας ἥτις ὠφέλεια τοῖς ἀδικήσασιν ἐγίγνετο. Adapt. Übers. U. Treu.
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13 Rationalisierung und Rationierung
(ζημία), ihn stehenzulassen; was ich davon hätte, wenn die Tat verborgen bleibt, und was mich von euch erwartet, wenn sie offenbar wird. Denn man tut so etwas doch nicht, um zu freveln, sondern um des Gewinns willen (κέρδους ἕνεκα), und darauf müsst ihr achten, und die Ankläger müssen ihre Anklage darauf aufbauen und beweisen, welchen Nutzen (ὠφέλεια) solche Übeltäter haben.
Die Tätigkeit des rationalen Kalkulierens wird mit drei adverbialen Ausdrücken beschrieben: Man tut etwas „genau“ (akribē), „nicht zufällig“ (ouden eikē) und nicht „unüberlegt/unberechnet“ (alogistōs). Das Ziel des Handelns ist „Gewinn“ (kerdos)/ „Nutzen“ (ōpheleia) zu erzielen und „Schaden/Verlust“ (zēmia) zu vermeiden. Das Programm der Hauswirtschaft, über das man in der Öffentlichkeit allerdings ungern zu viele Worte verliert, ist die planvoll rechnende Nutzenmaximierung. Der Grund für die Verschwiegenheit in Bezug auf diese instrumentelle Vernunft ist ihre moralische Ambivalenz. Sie zeigt sich besonders beim Attribut deinos, mit dem der Sprecher charakterisiert wird. Das Wort bedeutet zunächst „fürchterlich, respekteinflößend“, aber in klassischer Zeit auch „gewitzt, gewandt“.10 Aristoteles definiert „Gewandtheit“ (δεινότητα) als „Fähigkeit“ (τις δύναμις), „zu tun und erreichen zu können, was zum gesetzten Ziel führt“. Diese Fähigkeit sei zwar nur lobenswert bei guten Zielen, allerdings nenne man sowohl die „Klugen“ (φρόνιμοι) als auch die „Gerissenen“ (πανοῦργοι) deinoi.11 Die instrumentelle Vernunft ist nützlich, doch wer sie zur Schau stellt, riskiert den Vorwurf, ein gerissener Schuft zu sein. Die pseudoaristotelischen Problemata fragen: Warum werden speziell Redner, Feldherr und Erwerbsmann (chrēmatistēs) gewandt (deinos) genannt, Flötenspieler und Schauspieler hingegen nicht? Die Antwort: Weil Letztere das Ziel haben, „Freude zu bereiten“, die „Gewandtheit“ (δεινότης) hingegen zuallererst „im Mehr-für-sich-haben“ (ἐν τῷ πλεονεκτεῖν) besteht.12 Tatsächlich sprechen Gerichtsreden von deinos, wenn sie dem Gegner gierige Gerissenheit vorwerfen.13 Der Ausdruck deinos konnte allerdings auch positiver verwendet werden, zur Bezeichnung von Findigkeit und Tüchtigkeit des Hausvaters als Organisator. In diesem Sinn berichtet Xenophon zustimmend, dass Kyros der Jüngere „gewandte Verwalter“ (δεινὸν ὄντα οἰκονόμον) belohnte, wenn sie seine Ländereien nicht nur „instand hielten“ (κατασκευάζοντά), sondern sogar „Einkünfte generierten“ (προσόδους ποιοῦντα).14 Im Oikonomikos, wo der gute oikonomos genau das leisten soll,15 verspricht Sokrates dem Kritobulos, ihn durch Vermittlung an Experten zu einem „gewandten Erwerbsmann“
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LSJ s. v. δείνος. Aristot. eth. Nic. 6, 1144 a 23–28. [Aristot.] probl. 916 b 36–917 a 2. Vgl. Lys. 7.12; und [Demosth.] 35.40–42, Letzteres gegen einen Geschäftsmann. Xen. an. 1.9,19. Oik. 1.4.
13.1 Rationalität und Effizienzsteigerung
447
(δεινός χρηματιστής) zu machen. Das bedeutet: Gewinn durch Effizienzsteigerung. Der oikonomos versteht sich auf ein „bereicherndes Werk, um einen Überschuss zu erzielen“, darauf mit denselben Arbeiten, mit denen andere mittellos bleiben, reich zu werden. Anders als diejenigen, die „zufällig“ (εἰκῇ) handeln und deshalb „Verlust erleiden“ (ζημιουμένους), „führt er mit ernsthaftem Denken Aufsicht“, so dass er seine Aufgabe (die Haushaltführung) „schneller, leichter und mit größerem Gewinn“ (θάττον καὶ ῥᾷον και κερδαλεώτερον) erledigt.16 Xenophon benutzt dieselben Dichotomien und Signalwörter wie Lysias und Aristoteles: Gewinn (kerdos) statt Verlust (zēmia), planvolles statt zufälliges Handeln (eikē), Geschwindigkeit/Leichtigkeit (thassōn/rhadios) als Ausdruck der Effizienz. Xenophon versteht die Kunst der Haushaltsführung als Kunst der Effizienzsteigerung, die Optimierung der Zweck-Mittelrelation:17 „Was meinst du, Kritobulos“, fragte Sokrates, „wenn ich dir zuerst zeigte, dass die einen mit viel Geld unbrauchbare Häuser bauen, die anderen aber mit viel geringeren Mitteln solche, die alles haben, was notwendig ist, werde ich dir damit deiner Meinung nach eine der Aufgaben der Haushaltführung erklären?“ „Ganz gewiss“, antwortete Kritobulos.
Sokrates nennt fünf Bereiche, in denen die Effizienz gesteigert werden kann: (1) Der Besitzstand: Sein Einsatz erfordert eine genaue Kenntnis und Ordnung des eigenen Hausrats, damit kein Eigentum ungenutzt (weil unbekannt) herumliegt.18 (2) Die räumliche Ordnung im Haus: Alles muss an einem fest bestimmten Platz liegen, damit es schnell verfügbar ist.19 (3) Die Sklaven: Durch Motivation sollen die Kosten ihrer Überwachung gesenkt und der Gewinn aus ihrer Arbeit gesteigert werden (vgl. Kap. 6.3.3). (4) Die Landwirtschaft: Sie soll den Eigenbedarf decken und darüber hinaus Geldgewinne durch Verkauf einbringen.20 (5) Die Ehe: Der Mann soll seine Ehefrau so erziehen, „dass er an ihr eine gute Mitarbeiterin für die gemeinsame Vergrößerung des Haushalts hat“.21 In jeder Dimension des Haushalts – seiner sachlichen, sozialen, zeitlichen und räumlichen – hat Effizienzsteigerung Priorität. Primärer Adressat ist der Hausvater, primäres Mittel die Intensivierung seiner Hausherrschaft, genauere Planung, genauere Kontrolle von Menschen und Dingen. Der Schlüsselbegriff ist epimeleia (vgl. Kap. 6.2.1). Das Wort bedeutet zugleich ‚Aufsicht‘, ‚Fürsorge‘, und ‚Obacht‘. Während die frühneuzeitlichen Ökonomien mit „Sorge“ oder „Hussor-
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Oik. 2.10: τι πλουτηρὸν ἔργον ἐπιστάμενον περιουσῖαν ποιεῖν; vgl. § 17 f. Oik. 3.1: τί οὖν, ἔφη ὁ Σωκράτης, ὦ Κριτόβουλε, ἄν σοι ἀποδεικνύω πρῶτον μὲν οἰκίας τοὺς μὲν ἀπὸ πολλοῦ ἀργυρίου ἀχρήστους οἰκοδομοῦντας, τοὺς δὲ ἀπὸ πολὺ ἐλάττονος πάντα ἐχούσας ὅσα δεῖ, ἦ δόξω ἕν τί σοι τοῦτο τῶν οἰκονομικῶν ἔργων ἐπιδεικνύναι; καὶ πάνυ γ᾽, ἔφη ὁ Κριτόβουλος. Übers. G. Audring. Vgl. Föllinger/Stoll 2018 zur Effizienzsteigerung durch Führungskunst als Hauptthema des Oikonomikos. Xen. oik. 3.1, veranschaulicht am Hausbau und § 5–8 an der Pferdezucht. Oik. 3.2 f.: καὶ οὐδ᾽ ἐν χώρᾳ γ᾽ ἐν ᾗ ἔτυχεν, ἀλλ᾽ ἔνθα προσήκει, ἕκαστα διατέτακται. Das Beispiel der Pferdezucht macht die Gewinnabsicht besonders deutlich, oik. 3.5–9. Oik. 3.10: συνεργοὺς ἔχειν αὐτὰς εἰς τὸ συναύξειν τοὺς οἴκους.
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13 Rationalisierung und Rationierung
ge“ (sic) exakte Synonyme kannten, kennt das moderne Deutsch kein Synonym mehr, das die Bedeutungsaspekte von Herrschaft, Fürsorge und Verwaltung in gleicher Weise vereint.22 Näher kommt das englische management, das als Lehnwort aus dem Französischen tatsächlich eine Ableitung von „Haus“ (manoir) und „Haushaltung“ (mesnage, vgl. masserizia im Italienischen) ist, in seiner modernen spezialisierten Bedeutung jedoch wiederum keinem antiken Wort entspricht.23 Eine Gemeinsamkeit des altgriechischen epimeleia mit diesen Schlüsselwörtern der alteuropäischen Ökonomik ist die Zusammenziehung einer neutralen Tätigkeitsbeschreibung mit einer ideell normativen Bewertung dieser Tätigkeit.24 Als synonyme Wendung für oikonomia taucht ta ktēmata epimelesthai bei Platon, Isokrates und Xenophon auf.25 Der Hausvater soll mit mehr Sorgfalt entscheiden, erziehen, befehlen, belohnen, bestrafen, beaufsichtigen. Diese Herrschaft wird vom Hausherrn persönlich ausgeübt. Wie Xenophon empfiehlt die pseudo-aristotelische Ökonomik, dass der Hausherr und seine Gattin die Oberaufsicht führen, besonders in großen Haushalten, in denen die alltäglichen Aufgaben einem Aufseher anvertraut sind: „Denn es ist unmöglich, dass unter einem sorglosen Herrn (μὴ ἐπιμελῶν δεσποτῶν) die Vertreter sorgsam sind.“26 Deshalb sollen die Herren das Haus nie unbewacht lassen, vor den Sklaven aufstehen, nach ihnen ins Bett gehen und sogar nachts mehrfach aufstehen.27 In ähnlichem Tonfall mahnt Xenophon an, dass der Mann, der als Aufseher eingesetzt wird, nicht nur maßvoll im Essen, Trinken und Sex sein soll, sondern auch im Schlafen.28 Selbst Platon bestätigt diese Norm, die er für allgemein verbreitet hält:29 Denn dass irgendein Bürger irgendeine Nacht ganz mit Schlafen zubringt und nicht dem ganzen Hausgesinde (πᾶσι τοῖς οἰκέταις) zeigt, dass er stets als erster aufwacht und aufsteht, das muss von allen für schimpflich und eines Freien unwürdig erachtet werden, gleichgültig ob man nun so etwas als Gesetz oder als bloße Gewohnheit zu bezeichnen
22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. Schlegel-Matthies 1994, 116 zu deutschen Ökonomiken der Frühen Neuzeit. Vgl. Becker 1994 zur romanischen Tradition. Becker 1994, 77. S. Kap. 4.3.2. [Aristot.] oec. 1, 1345 a 5–11. Oec. 1, 1345 a 12–16. Xen. oik. 12.12. Plat. leg. 7, 807e–808b: τὸ γὰρ ὅλην διατελεῖν ἡντινοῦν νύκτα εὕδοντα καὶ ὁντινοῦν τῶν πολιτῶν, καὶ μὴ φανερὸν εἶναι πᾶσι τοῖς οἰκέταις ἐγειρό μενόν τε καὶ ἐξανιστάμενον ἀεὶ πρῶτον, τοῦτο αἰσχρὸν δεῖ δεδόχθαι πᾶσι καὶ οὐκ ἐλευθέρου, εἴτ’ οὖν νόμον εἴτ’ ἐπιτήδευμα τὸ τοιοῦτον καλεῖν ἐστιν χρεών· καὶ δὴ καὶ δέσποιναν ἐν οἰκίᾳ ὑπὸ θεραπαινίδων ἐγείρεσθαί τινων καὶ μὴ πρώτην αὐτὴν ἐγείρειν τὰς ἄλλας, αἰσχρὸν λέγειν χρὴ πρὸς αὑτοὺς δοῦλόν τε καὶ δούλην καὶ παῖδα, καὶ εἴ πως ἦν οἷόν τε, ὅλην καὶ πᾶσαν τὴν οἰκίαν. ἐγειρομένους δὲ νύκτωρ δεῖ πάντας πράττειν τῶν τε πολιτικῶν μέρη πολλὰ καὶ τῶν οἰκονομικῶν, ἄρχοντας μὲν κατὰ πόλιν, δεσποίνας δὲ καὶ δεσπότας ἐν ἰδίαις οἰκίαις. ὕπνος γὰρ δὴ πολὺς οὔτε τοῖς σώμασιν οὔτε ταῖς ψυχαῖς ἡμῶν οὐδ’ αὖ ταῖς πράξεσιν ταῖς περὶ ταῦτα πάντα ἁρμόττων ἐστὶν κατὰ φύσιν. καθεύδων γὰρ οὐδεὶς οὐδενὸς ἄξιος, οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μὴ ζῶντος. Übers. K. Schöpsdau / H. Müller.
13.1 Rationalität und Effizienzsteigerung
449
hat. Und auch, dass die Herrin im Haus von bestimmten Dienerinnen geweckt wird und nicht selbst als erste die andern weckt, das müssen untereinander Sklave und Sklavin und der junge Diener, ja, wenn es möglich wäre, das gesamte Haus (ὅλην καὶ πᾶσαν τὴν οἰκίαν) für eine Schande erklären. Zur Nachtzeit vielmehr müssen alle bereits aufwachen, um einen großen Teil der öffentlichen und häuslichen Tätigkeiten (τῶν οἰκονομικῶν) zu verrichten, als Beamte in der Stadt und als Hausherrinnen und Herren in ihren Häusern. Viel Schlaf ist nämlich der Natur nach weder unserer Seele und auch nicht den Tätigkeiten auf all den genannten Gebieten förderlich; denn wer schläft, ist nichts wert (οὐδεὶς οὐδενὸς ἄξιος), sowenig wie einer, der nicht lebt.
Hausherr und Hausherrin üben also eine doppelte Funktion aus: Sie sind zugleich Kontrolleur und Vorbild der Untergebenen. Das entspricht genau Xenophons vorbildlichem Hausvorstand – bis hin zu der Idee, dass Schlaf schlecht ist, weil er die Menschen unproduktiv macht. Der immerrührige Hauswirt der Ökonomik hat seinen Vorläufer in einer Szene von Aristophanes’ Fröschen, deren Bedeutung Peter Spahn hervorgehoben hat.30 In ihr rühmt sich Euripides dafür, „häusliche Dinge“ (oikeia pragmata) auf der Bühne eingeführt zu haben, anstatt dem Publikum den Kopf zu vernebeln wie Aischylos (vgl. Kap. 8.2.1).31 Euripides führt aus, worin seine Belehrung bestand:32 Derart hab ich den Leuten hier Ein klares Denken (φρονεῖν) beigebracht, Indem ich Ratio der Kunst (λογισμὸν ἐνθεὶς τῇ τέχνῃ | καὶ σκέψιν) Verlieh und Skepsis, alles jetzt Mit dem Verstande zu durchschaun Und alles sonst und auch ihr Haus Zu führen besser als zuvor (τὰς οἰκίας | οἰκεῖν ἄμεινον) Und stets zu prüfen (κἀνασκοπεῖν): „wie sieht’s aus, Wo hab ich dies, wer kriegte das?“ (πῶς τοῦτ᾽ ἔχει; | ποῦ μοι τοδί; τίς τοῦτ᾽ ἔλαβε)
Der Gott Dionysos, der als Zuschauer des Dichterwettstreits den Durchschnitts-Athener vertritt, veranschaulicht sich Euripides’ Ausführung anhand einer alltäglichen Szene:33
30 31 32 33
Spahn 1984, 315. Aristoph. Ran. 959–970. Ran. 971–979: τοιαῦτα μέντοὐγὼ φρονεῖν | τούτοισιν εἰσηγησάμην, | λογισμὸν ἐνθεὶς τῇ τέχνῃ | καὶ σκέψιν, ὥστ᾽ ἤδη νοεὶν | ἅπαντα καὶ διειδέναι | τά τ᾽ ἄλλα καὶ τὰς οἰκίας | οἰκεῖν ἄμεινον ἢ πρὸ τοῦ |κἀνασκοπεῖν, ‚πῶς τοῦτ᾽ ἔχει; | ποῦ μοι τοδί; τίς τοῦτ᾽ ἔλαβε;‘ Übers. P. Rau. Ran. 980–988: νὴ τοὺς θεούς, νῦν γοῦν Ἀθη- | ναίων ἅπας τις εἰσιὼν | κέκραγε πρὸς τοὺς οἰκέτας | ζητεῖ τε· „ποῦ ’στιν ἡ χύτρα; | τίς τὴν κεφαλὴν ἀπεδήδοκεν | τῆς μαινίδος; τὸ τρύβλιον | τὸ περυσινὸν τέθνηκέ μοι· | ποῦ τὸ σκόροδον τὸ χθιζινόν; | τίς τῆς ἐλάας παρέτραγεν; Übers. L. Seegers.
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13 Rationalisierung und Rationierung
Kein Wunder, wenn nun jeglicher Athener, wie er tritt ins Haus, Scharf sein Gesind’ examiniert Und brüllt: ‚Wo ist der irdne Topf? Wer hat den Heringskopf verzehrt? Das Trinkgefäß vom vor’gen Jahr Ist auch nicht mehr am Leben, scheint’s? Wo ist der Lauch von gestern hin? Wer hat mir die Oliv’ benagt?‘
Euripides brachte selbstredend nicht wirklich den Kleinkram der Hauswirtschaft auf die Bühne oder erteilte gar darin Unterricht. Aristophanes’ Spott zielt auf den Naturalismus der Darstellung und die effektheischende Aufführungspraxis des Euripides und dessen Interesse an zeitgenössischer ‚neuer‘ Bildung.34 Weitere Komik ergibt sich daraus, dass in Dionysos’ Kommentar die auf große Haushalte zugeschnittene Theorie der Ökonomik als Herrschaftswissen auf den Boden des Alltags einer kleinen attischen Hauswirtschaft geholt wird, in einen bescheidenen Bürgerhaushalt, den als „Haus“ (oikia) zu bezeichnen nicht falsch, aber doch komisch ist. Der Scherz setzt gleichwohl die Rationalisierung der Hauswirtschaft als populäres Thema mit Neuheitswert voraus.35 Aristophanes’ Sprache deckt sich mit Aristoteles’ Definition zweckrationalen Handelns und Xenophons effizientem Hauswirtschaften. Berechnung (logismos), Kunst (technē) und Prüfung (skepsis) der verfügbaren Mittel sind gefragt. Wie Aristoteles verwendet Aristophanes das Frageschema angewandter Fachkünste: wie – wo – was/ wer (pōs – pou – tis). Das Ziel ist es, „das Haus besser zu verwalten“ (tas oikias oikein ameinon)36, die Aufgabe des Hausherrn Berechnung (logismos) und Aufsicht (skepsis, anaskopein): Befehlen und Kontrollieren. Die Art, wie Aristophanes den rührigen Hausvater persifliert, erinnert wieder an die Ambivalenz hauswirtschaftlicher Effizienzsteigerung. Aristophanes’ komischer Hausvater hat Seelenverwandte in Theophrasts „Kleinlichem“ (μικρολόγος) und „Misstrauischem“ (ἄπιστος). Die „Kleinlichkeit“ (μικρολογία) definiert Theophrast als übertriebene „Sparsamkeit“ (φειδωλία).37 Der Kleinliche will so billig einkaufen wie möglich, verkauft jedoch so teuer wie möglich – genau wie Xenophons gute oikonomoi.38 Er stellt das Haus auf den Kopf, um ein Stück Kleingeld wiederzufinden, verbietet Fremden das Aufsammeln und Essen von Streuobst aus seinem Garten, prüft täglich seine Grenzsteine und verbietet seiner Frau das Verleihen selbst alltäglicher
34 35 36 37 38
Vgl. KNOX 1970. Spahn 1984, 315. Vgl. Xen. oik. 1.2: εὖ οἰκεῖν τὸν ἑαυτοῦ οἶκον. Theophr. char. 10.1. Char. 20.4; 7; vgl. Xen. mem. 3.1,4.
13.2 Die räumliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Briefe
451
Kleinigkeiten wie Salz und Kümmel, denn „diese Kleinigkeiten machen im Jahr viel aus“.39 Der Misstrauische lässt einen Sklaven den anderen überwachen, zählt ständig sein Bargeld nach. Wenn er abends bereits im Bett liegt, fragt er seine Frau noch, „ob sie die Geldtruhe verschlossen habe, ob der Becherschrank versiegelt und der Riegel vor das Hoftor gelegt sei“. Obwohl die Frau das bejaht, überprüft er es selbst ein weiteres Mal, nackt, barfuß und mit Laterne in der Hand, und kommt kaum zum Schlafen – wie Platons tüchtige Hauswirte (s. o.).40 Aristophanes’ und Theophrasts Figuren sind regelrechte Karikaturen des idealen Hauswirts der Ökonomik, der ebenfalls Kontrolle über Vertrauen stellt, alles persönlich prüft, und deshalb kaum zum Schlafen kommt. Dass man den idealen Hauswirt der Ökonomik unter verkehrten Vorzeichen als Witzfigur darstellen konnte, zeigt, dass Haushaltung und Erwerb im öffentlichen Diskurs ambivalente Themen blieben, weil sie als unfein, alltäglich und eigennützig galten. Dabei erteilt der Spott selbst eine hauswirtschaftliche Lektion. Wer es mit dem Optimieren und Kontrollieren übertreibt, der hat mehr Schaden als Gewinn davon. Kleiner Gewinne wegen riskiert er das Ansehen bei Nachbarn und Mitbürgern und treibt einen Aufwand, der in keinem Verhältnis zum potentiellen Ertrag steht. Die Komik liefert deshalb eine wichtige Ergänzung zum Rationalisierungsgebot der Ökonomik: Man darf über den einzelnen hauswirtschaftlichen Vorgang nicht aus dem Blick verlieren, dass das Mikromanagement kein Selbstzweck ist, sondern dem Haus als Ganzem dienen soll. 13.2 Die räumliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Briefe Persönliches Mikromanagement, wie es die Ökonomik empfiehlt und die Komödie persifliert, stößt an praktische Grenzen. Je mehr Mitglieder ein Haushalt hatte, je gestreuter sein Besitz war, je vielfältiger seine sozialen Verpflichtungen und je länger seine Ahnenreihe waren, desto komplexer wurde die Haushaltsführung. Delegierte man Management-Aufgaben an Aufseher und Verwalter, kam als zusätzliche Herausforderung das Prinzipal-Agenten-Problem hinzu. Wie konnte Information gespeichert, übermittelt und überprüft werden? Euripides gab in seinem Palamedes 415 v. Chr. darauf eine Antwort: Die Schrift erlaubt es, dass man auch jenseits des Meeres genau weiß, wie es um das Haus (oikos) bestellt ist, sie erlaubt es, vor dem Tod den Erben den genauen Umfang des Vermögens anzugeben und sie schützt vor Konflikten und Betrug.41 Die von Euripides implizierten Schriftstücke sind Briefe, Inventare und Testamente, Verträge und vielleicht auch Rechnungsbücher. Ich folge Euripides und wen39 40 41
Char. 7.6; 8; 9; 13: τὰ μικρὰ ταῦτα πολλά ἐστι τοῦ ἐνιαυτοῦ. Übers. D. Klose. Char. 18.2–4: εἰ κέκλεικε τὴν κιβωτόν, καὶ εἰ σεσήμανται τὸ κυλιούχιον, καὶ εἰ ὁ μοχλὸς εἰς τὴν θύραν τὴν αὐλείαν ἐμβέβληται […]. Übers. D. Klose. Eur. fr. 578 Nauck (= Stob. 2.4,8); dazu Harris 1989, 66.
452
13 Rationalisierung und Rationierung
de mich zuerst den Briefen zu. Von indirekten Verweisen abgesehen ist die Überlieferungslage schlecht. Aber die antiken griechischen Privatbriefe auf Bleitäfelchen oder Keramikscherben (Ostraka) erlauben trotz ihrer geringen Zahl und den Unsicherheiten bei der Textrekonstruktion und Datierung einige Rückschlüsse.42 Die Briefe belegen die Verbreitung pragmatischer Schriftlichkeit bereits in der zweiten Hälfte des 6. Jhs. In vielen Briefen taucht das Wort oikos auf, wobei sowohl die topographische Einheit des Wohnhauses, als auch die soziale Einheit des Haushalts gemeint sein kann. Bemerkenswert ist dabei der Detailgrad der schriftlichen Kommunikation. Einer der frühesten Briefe, ein Ostrakon von der Athener Agora aus der Zeit um 550, weist den Empfänger an, eine Säge unter der Schwelle eines Gartentors zu deponieren.43 Ein Ostrakon aus der Zeit um 500 fordert einen „Jungen“ (παῖ im Vokativ), also vielleicht einen Sklaven, auf, einer dritten Person etwas zu bringen.44 In einigen Fällen lässt sich erkennen, dass die kurzen Briefe dazu dienten, die Kommunikation zwischen dem städtischen Haushalt und einem im Hinterland gelegenen Landgut aufrechtzuerhalten. In einem Bleibrief (Anfang 4. Jh.), der auf dem Gebiet der attischen Deme Hermus sieben Kilometer von Athen entfernt gefunden wurde, schreibt ein gewisser Mnesiergus an „die im Haus/die zu Hause“ (τοῖς οἴκοι) – offenbar seinen Haushalt in der Stadt – mit der Bitte, man möge ihm einen einfachen Überzug aus Schafsoder Ziegenfell zusenden, den er bei Gelegenheit zurückzugeben (oder zu bezahlen, die Lesung ist ungewiss) verspricht.45 In einem Ostrakon aus der zweiten Hälfte des 4. Jhs. schreibt ein Nikophanas an einen unbekannten Empfänger, man möge ihm das Pferd, das er einem gewissen Zōpyriōn geliehen hat, „in die Stadt“ (εἰς πόλιν) schicken, und Zōpyriōn im Gegenzug das Schriftstück (welches das Schuldverhältnis dokumentiert) aushändigen.46 Madalina Dana hat aus dem Fundort des Ostrakons, der Ort Kozyrka im Gebiet der Schwarzmeerstadt Olbia, 13,5 km vom städtischen Zentrum entfernt, überzeugend geschlossen, dass der Empfänger ein Untergebener oder Verwandter von Nikophanas war, der dessen entferntes Landgut verwaltete und dort das zurückzugebende Pferd entgegennehmen sollte.47 Einen ähnlichen Hintergrund hat ein Ostrakon, das in Gorgippia an der nördlichen Schwarzmeerküste gefunden wurde, das auf etwa 350 bis 325 datiert wird.48 Der Brief fordert einen gewissen Apollonides auf, einem „Jungen“ (παδί[ωι]) eine Axt (πέλεκος) auszuhändigen. Erwähnt wird
42 43 44 45 46 47 48
Zum Quellenkorpus s. Kap. 8.3.2 mit Anm. 105. Agora XXI B 1. Agora XXI B 2; ähnlich vielleicht SEG 49.325 (= Hesperia Suppl. 7 (1943), Nr. 17); die Bleitafel wurde auf der Pnyx gefunden, und wird auf etwa 425 bis 375 datiert. Syll.3 1259; vgl. Agora XXI B 9 (425–400) mit der Anweisung, ein Bündel von etwas an einen gewissen Glaukos „in die Stadt“ (ἐς ἄστυ) zu schicken; laut Oikonomides 1986, 49 ist hier allerdings nicht von einem Bündel, sondern von Gefängnis die Rede. I. dial. Olbia Pont 49 (= SEG 42.711 = Dana 2007, Nr. 5). Dana 2007, 80 f. SEG 47.1175, publiziert in Vinogradov 1997.
13.2 Die räumliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Briefe
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außerdem ein Gärtner, der „ins Haus / in den Haushalt“ (οἴκωι) gekommen ist, sowie Weintrauben und Gartengemüse (λάχανα). Nach Jurii Vinogradovs hypothetischer, aber glaubwürdiger Interpretation schreibt hier ein für die Ernte Verantwortlicher an den Eigentümer des Landguts, der sich in der Stadt aufhält und dort dem Jungen besagtes Werkzeug aushändigen soll.49 In jedem Fall belegt der Brief den Detailgrad der Anweisungen eines Hausherrn, der offenbar nicht vor Ort war, um die landwirtschaftlichen Arbeiten direkt anzuleiten. Im Fernhandel waren die Entfernungen größer, doch der Haushalt blieb die Basiseinheit des Mikromanagements. In einem Ostrakon aus Nikonion im nordwestlichen Schwarzmeergebiet (Ende 4. Jh.) grüßt der Verfasser namens Dionysios „die im Haushalt“ (τοῖς ἐν οἴκω[ι]) und gibt an, er selbst und „der Sohn“ (ὁ ὑός) seien bei guter Gesundheit. Der Brief trifft Anordnungen wegen eines Handelsschiffs, das offenbar in Richtung der Empfänger unterwegs ist. Außerdem unterrichtet der Brief, es befänden sich noch neun Medimnoi Gerste bei Possikrates, der sich guter Gesundheit erfreue. Schließlich sollten die Empfänger des Briefes „von den Thoapsoi“ (eine unbekannte Ethnie) einen halben Stater nach Rückgabe eines Stücks Kleidung/Tuchs entgegennehmen.50 In einem Ostrakon-Brief aus Kerkinitis (auf der Krim, um 400) fordert ein gewisser Apaturios einen Neomēnios (sein Untergebener?) auf, Stockfisch „in das Haus zu bringen und zu versiegeln“ (ἐς οἶκον συνκόμισον καὶ σφηγίσα) und niemanden Zutritt zu gewähren außer dem Schreibenden selbst. Außerdem solle sich Neomēnios um Rinder kümmern, die zu den Skythen zu schaffen seien.51 Bemerkenswert ist auch hier die Detailliertheit der Handlungsanweisungen bis hin zu Anweisungen bezüglich einzelner verliehener Kleidungsstücke. Nicht immer waren die Anlässe alltäglich. In einem Bleibrief aus Olbia (um 350), erteilt jemand „denen im Haus“ (τοῖς ἐν οἴκωι) Anweisungen, für den Fall, dass sie von einem gewissen Mylliōn „aus ihrem Wohnhaus geworfen werden“ (ἢν ἐγβάλει ἐκ τῆς οἰκίης).52 Einen Notfall anderer Art behandelt ein bemerkenswerter Brief von der athenischen Agora vom Anfang des 4. Jhs. Ein gewisser Lesis, nach Meinung der meisten Kommentatoren ein Sklave, schreibt an einen gewissen Xenokles und seine eigene Mutter mit der Bitte, sie möchten sich an „seine Herren“ (τὸς δεσπότας) wenden, damit diese etwas Besseres für ihn fänden, weil er in der Schmiede „umkomme“. Sein gegenwärtiger Vorgesetzter – offenbar der Werkstattbesitzer – behandle ihn wie Dreck, peit49
50 51 52
Vinogradov 1997, 242 f.; dafür, dass es sich um einen bezahlten Arbeiter und keinen Sklaven handelt, wie Vinogradov meint, gibt es allerdings keine Hinweise; eine fast identische Anweisung erhält ein Sklave in Plautus’ Mercator (zum griechischen Original des Stücks s. Kap. 11.3.1) mündlich: Er soll zum Landgut gehen und dem Aufseher Pistus eine Hacke persönlich aushändigen (tradas in manum), Merc. 276 f. SEG 59.834. SEG 61.615; vgl. Dana 2007, 81–83 (Nr. 8); meine Interpretation folgt der Neuedition in Bravo 2011, 86–91. I. dial. Olbia Pont 25 (= Syll.3 1260).
454
13 Rationalisierung und Rationierung
sche ihn zu Tode und lege ihn in Fesseln. Wie bei allen Briefen bleibt auch hier vieles hypothetisch.53 Deutlich wird allerdings, dass die schriftliche Kommunikation im Haus wechselseitig war und nicht nur Anweisungen seitens des Hausherrn umfasste. Gerade die längeren Briefe behandeln Notfälle, wie die beiden zuletzt geschilderten Fälle.54 Indirekte Belege und die kürzeren Briefe zeigen jedoch, dass die hauswirtschaftliche Kommunikation nicht nur im Notfall auf Briefe zurückgriff.55 Eindeutig ist das Bild allerdings nicht: Während die Detailliertheit der Anweisungen in den attischen Ostraka Alltäglichkeit suggeriert, stellt ihre geringe Zahl die Regelmäßigkeit des Schreibens eher in Zweifel.56 Was die Briefe allerdings zeigen, ist, dass der Haushalt das Zentrum auch weit gespannter kommerzieller Geschäfte blieb. Das zeigt sich an der typischen Grußformel „an die Mitglieder des Hauses“ (tois en oikōi), daran, wie oft das Haus Ort des Geschehen ist (es oikon, ek tēs oikiēs), und daran, wie oft Ehefrauen, Söhne und Sklaven als Kooperationspartner auftauchen.57 13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung Neben Briefen war Buchführung die zweite wichtige Form pragmatischer Schriftlichkeit im Haushalt. Im weiten Sinn fasse ich darunter die in Zahlenwerten vorgenommene Aufzeichnung von Transaktionen und Gütern mithilfe von Inventaren, Quittun53
54 55 56 57
SEG 50.276 (= Agora I. IL 1702); Jordan 2000 nimmt an, dass Lesis ein Freigelassener war und dass der Brief von einem professionellen Schreiber notiert wurde; Harris 2004, 158–163 hält Lesis für einen Sklaven; Harvey 2007, 50 schließt sich dieser Position an, meint allerdings wie Jordan, dass der Brief von einem professionellen Schreiber verfasst wurde. Thomas 2009, 25 f. („crisis letters“); vgl. den berühmten Brief des Achillodoros aus Berezan (um 500), I. dial. Olbia Pont 23 (= SEG 26.845), und den ‚Apaturios-Brief ‘ aus Olbia (um 500), SEG 48.1012; zu diesen Briefen ausführlich Bravo 2011, 39–85; vgl. Wilson 1998, 35–40; Dana 2004. Kommunikation mit Briefen als Routine, insbesondere bei Händlern: Eur. (Palamedes) fr. 578 Nauck (= Stob. 2.4,8); [Demosth.] 34.8, 28; 56.8–10. Harris 1989, 106; Ceccarelli 2013, 47. Vgl. neben den bereits zitierten Briefen: SEG 48.1024 (publiziert in Vinogradov 1998, Nr. 3) behandelt die Bezahlung des Kaufpreises für einen Sklaven (Phanagoreia, 530–510); SEG 48.988, 5 (= Vinogradov 1998, Nr. 1) erwähnt ein Sklavenmädchen (Berezan, um 540–535); I. dial. Olbia Pont 24 (= SEG 42.710), 9: Erwähnung von Sklaven (οἱ δοῦλοι) in Verbindung mit einem Schiffbruch (Olbia, um 550–525); SEG 48.1011 (publiziert von Vinogradov 1998, Nr. 2) nennt verschiedene Waren in Zusammenhang mit einem Sohn (Olbia, 525–500); SEG 60.853 erwähnt ebenfalls Waren, Sklaven (z. 7: δούλ[ους]) und einen Sohn (z. 2) (Pantikapaion, 425–375); im berühmten Berezan-Brief (I. dial. Olbia Pont 23 = SEG 26.845, dazu oben Anm. 53) schreibt Achillodoros an seinen Sohn Protagoras, weil man ihn unter der Behauptung, er sei Sklave (z. 5: δõλον έναι), festgesetzt habe (um 500); derselbe Brief bezieht auch die Ehefrau des Geschäftspartners (z. 11) ein, an die sich der Sohn wenden soll; vgl. den Apaturios-Brief, SEG 48.1012, z. 6; dazu Vinogradov 1998, 169; SEG 53.256, 5 (publiziert von Jordan 2003) erwähnt einen Bruder (Athen, um 370). Es ist in den obigen Fällen nicht immer sicher zu entscheiden, ob die genannten Sklaven Handelsware oder Haushaltsmitglieder sind; in den drei ersten Fällen aus Phanagoreia, Olbia und Pantikapaion ist wohl Ersteres der Fall.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
455
gen, Kontoübersichten und Bilanzen. Die direkten und indirekten Belege für derartige Schriftlichkeit sollen im Folgenden als Quelle für das Rechnungswesen ihrer Zeit dienen. Die bis heute einflussreichste Behandlung antiker Buchführung ist Geoffrey Ste. Croixs 1956 erschienener Aufsatz über „Greek and Roman Accounting“. Einflussreich war Ste. Croixs Aufsatz, weil er die Entwicklung technischer Details wie Zahlzeichen und Tabellierung zu Indikatoren der Entwicklung der antiken Wirtschaft erklärte und dazu ein eindeutiges Urteil fällte: Die Buchführung blieb in der gesamten Antike primitiv und weit entfernt von der doppelten Buchführung der Neuzeit. Zur klassischen Zeit heißt es bei Ste. Croix: „Greek accounts of the Classical period are normally set out in narrative form, in what seems to us a clumsy and confusing manner: receipts and payments are often intermingled and flow in a continuous stream.“58 Der Hauptgrund für diese Primitivität sei der „relatively primitive character“ der griechisch-römischen Wirtschaft gewesen, in der das Kreditgeschäft eine marginale Beschäftigung blieb.59 Während im Spätmittelalter in Italien die doppelte Buchführung entstand, weil man an kaufmännischer Rentabilitätskontrolle interessiert war, blieb die antike Buchführung bloß Gedächtnisstütze und Instrument zur Kontrolle von Untergebenen.60 Croix spitzte damit ein Urteil zu, das Gunnar Mickwitz knapp zwanzig Jahre früher für die Rechenhaftigkeit der antiken Landwirtschaft gefällt hatte.61 Mit der Annahme, dass die doppelte Buchführung Kennzeichen kommerziellen Fortschritts sei, griff Ste. Croix eine in seiner Zeit fest etablierte These auf. Führende Theoretiker, darunter Max Weber und Joseph Schumpeter, hielten die Doppik für den Inbegriff der kaufmännischen Rationalität des entstehenden Kapitalismus. Am weitesten ging Werner Sombart, demzufolge die Doppik gar eine wesentliche Voraussetzung für einen abstrakten Begriff von ‚Kapital‘ und die Herauslösung der Handelsgesellschaft aus dem Hausverband war.62 Dieser These hat die empirische Forschung seither allerdings den Boden entzogen. In der toskanischen Buchführung des 14. und 15. Jhs. – die am weitesten entwickelte Buchführung ihrer Zeit – kam die Doppik ausgerechnet in der Werkstätten-Produktion nicht zum Einsatz und für die Rentabilitätskontrolle wichtige Techniken wie Abschreibung, Gesamtbilanz und Stückkostenrechnung wurden nicht eingesetzt.63 Im neuzeitlichen England kam die Doppik bis zum 19. Jh.
58 59 60 61
62 63
Ste. Croix 1956, 25 f. Ste. Croix 1956, 60 f. Ste. Croix 1956, 38. Mickwitz 1937; Ste. Croix hat das selbst betont: Er referiert Mickwitz’ Ergebnisse ausführlich, Ste. Croix 1956, 37 f., und nennt Mickwitz’ Aufsatz in seiner Literaturübersicht „[t]he one study in modern times which has some really penetrating things to say about the ancient system of accounting and its economic consequences“; ebd. 68. Sombart 1917, 118–125; vgl. Weber [1919/20] 2011, 276–279 und Schumpeter [1943] 1994, 123 f.; dazu Carruthers/Espeland 1991, 31–36. Roover 1963a, 93 f.; vgl. 1963b, 182.
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13 Rationalisierung und Rationierung
selbst bei großen Aktienfirmen nur vereinzelt zum Einsatz, private Haushaltung und Geschäft waren häufig nicht getrennt und Gesamtbilanz wurde selbst bei großen Kaufleuten nur gelegentlich gezogen.64 Das Urteil ist eindeutig: Die doppelte Buchführung wurde zwar zum Symbol kaufmännischen Unternehmertums und war die technisch fortgeschrittenste Lösung zur Bewältigung zunehmend komplexer Geschäfte;65 aber sie war kein entscheidender Faktor für die Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftens oder gar dessen Inbegriff.66 Gerade Kenner der Geschichte der Buchführung relativieren ihre wirtschaftliche Bedeutung. Basil Yamey hat betont, dass die Technik der Buchführung für unternehmerische Entscheidungen nur von begrenzter Bedeutung war, weil der nominelle Wert der Bucheinträge nur bedingt Folgerungen zum gegenwärtigen Wert der eigenen Vermögenswerte und zur Rentabilität zukünftiger Geschäfte erlaubt: Wichtiger als abstrakte Zahlen sind die genaue Kenntnis der eigenen Vermögenswerte, die Kontrolle über den Betrieb und die Fähigkeit zum Denken in strategischen Alternativen.67 Zwei wichtige Faktoren wirtschaftlichen Erfolgs – Risiko und Opportunitätskosten (die Kosten einer suboptimalen Güterallokation gegenüber gewinnträchtigeren Alternativen) – lassen sich buchhalterisch nicht oder nur bedingt abbilden.68 Selbst moderne Unternehmen, die über Unmengen statistisch auswertbarer Daten verfügen, können die Wertentwicklung ihrer assets nur bedingt prognostizieren; auch bei ihnen verbergen sich hinter scheinbar objektiven Zahlen subjektive Einschätzungen und Wünsche.69 Das galt umso mehr für antike Haushalte, die mit weit weniger verlässlichen Informationen operierten.70 Hoffnungslos jeder Versuch, mit vergangenen Zahlen zukünftige Gewinne zu kalkulieren.71 Dabei waren griechische Haushalte der klassischen Zeit durchaus daran interessiert, eine hinreichende Vorstellung davon zu gewinnen, welche Mittel ihnen in der Zukunft zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen würden. Zu diesem Zweck machten sich große Haushalte ein genaues Bild ihrer Einnahmen 64
65 66 67 68 69
70 71
Ramsey 1956, 194–201; Yamey 1947, 105–109; 1964, 122–127; vgl. Roover 1963a, 103 f., 107 f., 115, 117 für Nordwesteuropa im Allgemeinen. Aber auch in Italien setzte sich die Technik nur allmählich durch: Der fleißige Schreiber Datini klagte um 1400 über die Kaufleute seiner Heimatstadt Prato, die ihre Geschäfte nach dem Gedächtnis tätigten, Origo [1957] 1993, 100. Vgl. Carruthers/Espeland 1991 und Macve 1996. Yamey 1947; 1964; 1975; Macve 1996, 19–22; Gleeson-White 2012, 161–175 lässt die Frage unentschieden. Yamey 1949, 105–109; 1964, 127–132; vgl. Cohen 1992, 124, Anm. 56. Deshalb unterscheidet die moderne Wirtschaftslehre zwischen ‚buchhalterischen‘ und ‚wirtschaftlichen‘ Gewinnen, vgl. Mankiw 2016, 56–58. Macve 1985, 239–257; Macve hebt hervor, dass die Beispielrechnung Columellas zur Rentabilität eines Weinbergs (3.3), von der modernen Forschung als unzulänglich geschmäht (etwa Mickwitz 1937, 585 f.; Ste. Croix 1956, 38; Finley [1973] 1993, 136), immerhin die Opportunitätskosten berücksichtigt, die ökonomisch gesehen wichtiger sind als die fehlende Abnutzungsrate der Gerätschaften. Vgl. Kap. 3.1. Macve 1985, 246–257; Bresson/Bresson 2004, 111; Eich 2006, 355 f.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
457
und Ausgaben mithilfe schriftlicher Aufzeichnungen und geldbasierter Kalkulation (dazu unten Kap. 13.3.2 und 13.3.3). Für derartige Kalkulationen ist ein aufwendiges System wie die Doppik allerdings nicht notwendig: Die Rentabilität der eigenen Unternehmungen lässt sich leicht durch die ‚Substraktionsmethode‘ ermitteln, bei der das Gesamtinventar am Ende des Bilanzzeitraums vom Gesamtinventar des vorangegangenen Zeitraums abgezogen wird.72 Die Relativierung des wirtschaftsgeschichtlichen Stellenwerts der Buchführung befreit die Untersuchung pragmatischer Schriftlichkeit von der Dichotomie ‚primitive‘ – ‚richtige‘, d. h. doppelte Buchführung. Diese Dichotomie hemmte neue Erkenntnisse, weil sie keinen Raum für die vielfältigen Formen von Buchführung ließ, die zwar nicht doppelt buchte, aber durchaus zweckdienlich und komplex war.73 Umgekehrt sollte man die Relativierung der wirtschaftlichen Bedeutung nicht übertreiben. Auch wenn wirtschaftliche Entscheidungen eher Unternehmergeist als ausgefeilte Buchführung erfordern, so zeigt gerade der Vergleich zum italienischen Mittelalter, dass durchaus ein Zusammenhang zwischen dem institutionellen Gerüst des Wirtschaftens und den Techniken seiner Schriftlichkeit besteht. In dem Maße, wie die haus- und verwandtschaftsbasierte Organisation des Geschäfts von längerfristigen Partnerschaften mit Nicht-Verwandten abgelöst wurde, bedurfte es verfeinerter Techniken, um die zwei alten Zwecke der Buchführung – Gedächtnisstütze und Kontrollwerkzeug – unter den Bedingungen wachsender rechtlicher Komplexität zu erfüllen (dazu Kap. 19.2). Die Untersuchung der antiken griechischen Buchführung im Haus verspricht daher auch Auskunft darüber, wie sich die wirtschaftliche Organisation des Haushalts rationalisierte, ohne dadurch zu einem modernen Wirtschaftsunternehmen zu werden. 13.3.1 Rechenhaftigkeit der Haushaltsführung Ich beginne die Untersuchung mit einem Blick auf die Voraussetzungen und Umweltbedingungen privater Buchführung in klassischer Zeit.74 Eine wichtige Voraussetzung für Buchführung war die allgemeine Verbreitung des Geldes.75 Als einheitlicher Maß-
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74 75
Yamey 1949, 105; 1964, 119–122; Macve 1985, 257–261. Genauso lassen sich Teilbilanzen für einzelne Unternehmungen oder Geschäftsbereiche erstellen. Vgl. etwa Roover 1956b für die Vielfalt der Vorformen und Frühformen der doppelten Buchführung der Kaufleute in Italien und nördlich der Alpen; vgl. Jack 1966 für die Entwicklung komplexer Systeme mit einfacher Buchung im mittelalterlichen England. Vgl. Migeotte 2008 und 2014, 79–82, 592–596 mit Beispielen hoch entwickelter Rechnungslegung bei öffentlichen Finanzen im Hoch- und Frühhellenismus, Minaud 2005 zu Rom und Rathbone 1991, 331–387 zum entwickelten Rechnungswesen eines spätkaiserzeitlichen Anwesens in Ägypten. Vgl. Faraguna 2008 für einen instruktiven Überblick über die Bedeutung von Kreditwesen, geldwerter Kalkulation und Gewinnorientierung in klassischer Zeit. Ste. Croix 1956, 21; Lowry 1987, 23 f.; Faraguna 2008, 42–51.
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13 Rationalisierung und Rationierung
stab machte es unterschiedliche Güter quantifizierbar und vergleichbar. Auf die Frage, wofür die Griechen das Geld benützten, habe der legendäre skythische Weise Anacharsis geantwortet: „zum Rechnen“.76 Dieser Ausspruch ist kein historisches Zeugnis für die Ansichten des Skythen, aber durchaus für die Selbstkritik der Griechen, die wie so häufig einem ‚edlen Wilden‘ in den Mund gelegt wird. Tatsächlich erscheint Rechnen mit Geld als ständige Tätigkeit griechischer Hausväter. Selbst der bäurische Dikaiopolis in Aristophanes’ Acharnern (424) vertreibt sich die Wartezeit bis zum Beginn der Volksversammlung (neben Furzen und Gähnen) damit, „sich was auszurechnen“ (λογίζομαι).77 Theophrasts Charaktere verraten ihre Fehler im Umgang mit Geld immer wieder in der Art, wie sie Berechnungen durchführen. Der Kleinliche meint, wenn ihm jemand „vorrechnet“ (λογίξεται), wie günstig er eine Sache eingekauft habe, das sei noch zu teuer.78 Der Gedankenlose zieht die Summe beim Rechnen mit Steinen, muss dann aber seinen Nachbarn fragen: „Was kommt heraus“?79 Der Prahler steht am Hafen und rechnet einem Fremden Gewinn und Verlust seiner Seehandelsgeschäfte vor. Ihm unbekannte Anwesende bezieht er in eine genaue Abrechnung seiner Trierarchien und Liturgien ein. Wenn der Überhebliche mit jemandem abrechnet, überlässt er es seinem Sklaven, die Steine zu setzen, die Summe zu ziehen und seinem Konto zu überschreiben. Der schändlich Gewinnsüchtige verlangt von seinen Verwalter nicht nur die geschuldete Geldsumme, sondern auch die Wechselgebühr.80 Jeder Charakter hat einen anderen Fehler. Aber alle haben sie überall einen Abakus zur Hand und rechnen in Geld.81 Als Mitglied einer selbstverwalteten Stadtgemeinde hatte ein griechischer Bürger des 4. Jhs. regelmäßig mit Finanzverwaltung und Rechnungslegung zu tun. In der Volksversammlung lauschte er Diskussionen über Finanzfragen, als Ratsmitglied oder Rechnungsprüfer (in Athen insgesamt sechzig Personen)82 prüfte er die Rechenschaftsberichte der Magistrate und als Magistrat musste er selbst solche Rechenschaftsbe76 77 78 79 80 81
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Athen. 4.159c: περὶ ἧς Ἀνάχαρσις πυνθανομένου τινός, ‚πρὸς τί οἱ Ἕλληνες χρῶνται τῷ ἀργυρίῳ;‘, εἶπεν· ‚πρὸς τὸ ἀριθμεῖν.‘ Athenaios leitet das Zitat als Beleg für die große „Geldliebe“ (φιλοχρηματία) der damaligen Menschen ein. Aristoph. Ach. 31. Theophr. char. 10.4. Char. 14.2: οἷος λογισάμενος ταῖς ψήφοις καὶ κεφάλαιον ποιήσας […]. Char. 23.2, 6; 23.12; 30.15. Die Selbstverständlichkeit des Rechnens mit dem Abakus zeigt ein Vergleich, den Aischines laut Demosthenes in einer Rede zog; Demosth. 18.227: Wenn man bei Gericht sitze, dürfe man den mitgebrachten Meinungen keine Beachtung schenken: So wie wenn man beim Abrechnen glaube, einen Gewinn zu machen (περιεῖναι χρήματά τῳ λογίζησθε), aber sich, wenn die Steine gesetzt sind und kein Überschuss bleibt, darein fügt, „so müsse man nun die sichtbaren Ergebnisse des logos“ anerkennen. Der Vergleich spielt mit der doppelten Bedeutung von logos – ‚Abrechnung‘ und logos – ‚Rede, Vortrag, Argument‘. Laut [Aristot.] Ath. pol. 48.3 f. lost der Rat zehn λογισταί für die monatliche Rechnungsprüfung aus seinen Reihen aus, dazu zehn εὐθύνοι mit jeweils zwei Beisitzern (πάρεδροι), welche die Rechenschaftsberichte prüfen; hinzu kommen die zehn ausgelosten logistai mit insgesamt zehn Bei-
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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richte geben, die wiederum hinreichend sorgfältige Aufzeichnungen erforderten. In Athen gaben Demokratie und Seereich dieser allgemeinen Tendenz besonderen Antrieb, weil beide Phänomene die Finanzverwaltung vergrößerten und einen größeren Teil der Bürgerschaft zu ihrer Bewältigung heranzogen.83 Das exakte Gegeneinanderaufrechnen öffentlicher Einnahmen und Ausgaben in absoluten und relativen Zahlen galt als so selbstverständlich, dass man es in den 422 aufgeführten Wespen selbst einem halsstarrigen Alten vom Land nicht eigens erklären musste.84 Diese Szenen aus Aristophanes’ Stücken verraten sicher mehr über ihr städtisches Publikum als über die echten Landleute Attikas.85 Aber in Bezug auf Ersteres verraten sie viel. Abseits der städtischen Verwaltung gab es ebenfalls gute Gründe, mit Geldrechnung und Buchführung vertraut zu sein. Kreditvergabe und Geschäftspartnerschaften, zwei wichtige Faktoren bei der Entwicklung der Buchführung im Mittelalter, waren allgegenwärtig in den antiken griechischen Städten.86 Unabhängig von der in der Forschung umstrittenen Frage, in welchem Verhältnis produktive und konsumtive Kredite zueinander standen, erforderten Kredite und Partnerschaften Aufzeichnungen, um manchmal erst Jahre später korrekt abrechnen und Außenstände eintreiben zu können.87 Selbst wenn man keine Kredite vergab oder Partnerschaften einging, verwahrte man als Freund oder Verwandter Dokumente für Vertraute oder war Schiedsrichter in Erbstreitigkeiten, und begutachtete im Detail die Abrechnungen, welche die Streitparteien mitgebracht hatten.88 Der Nutzen von Rechnen und Schreiben für Wirtschaft und Haushalt wurde von den Zeitgenossen hervorgehoben. Aristoteles nennt Schreiben und Lesen als Beispiel für Unterrichtsstoff, den man den Kindern beibringe, weil er „nützlich“ ist, und zwar „für die Geldgeschäfte, für die Haushaltung (πρὸς χρηματισμὸν καὶ πρὸς οἰκονομίαν),
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rednern (συνήγοροι), für die jährliche Rechnungsprüfung, ebd. 54.2; vgl. Andreades 1931, 396; Migeotte 2014, 450 f. Vgl. Andreades 1931, 393–397 zu den gesteigerten Partizipationsverpflichtungen; einen Überblick über die athenische Finanzverwaltung gibt Rhodes 2013; vgl. Spahn 1984, 313 f. für die Auswirkungen auf die privaten Buchführungskenntnisse. Aristoph. Vesp. 656–664; die Szene setzt das Rechnen mit dem Abakus („mit Steinen“) als normal voraus; das Rechnen „mit den Händen“ wird als „unsauberes Rechnen“ (λόγισαι φαύλως) bezeichnet. Vgl. die methodische Bemerkung von Harris 1989, 68; vgl. Ameling 1998, 284–286 für Aristophanes’ städtischen Blick auf das ländliche Leben. Faraguna 2008, 42–51. Vgl. die Arbeiten von Millett 1991, Cohen 1992 und Shipton 2000, die aus ganz verschiedenen Perspektiven alle die Verbreitung von Krediten in Athen bezeugen. Die Bedeutung von Krediten für das restliche Griechenland ergibt sich aus den häufigen Bemerkungen über Schuldenerlasse, selbst falls diese nur topisch sind, wie manchmal gemeint. Antike griechische Geschäftspartnerschaften sind erstaunlich untererforscht, obwohl viele Belege zeigen, dass sie ein alltäglicher Aspekt des Wirtschaftens waren; für die Behandlung einzelner Aspekte von Partnerschaften vgl. Harris 1988; 2013. Demosth. 36.36; 41.8–10; [Demosth.] 49. Vgl. die Belege in den folgenden Kapiteln 13.3.3 und 13.3.4.
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13 Rationalisierung und Rationierung
für das Lernen und für viele politische Angelegenheiten“89 – man beachte die Reihenfolge, in der die Anwendungsgebiete genannt werden. Seine Bemerkung deckt sich mit der rasanten Ausweitung von Schriftlichkeit zu wirtschaftlichen Zwecken seit dem 5. Jh.90 Platon erklärt, „für die Haushaltsführung und politische Betätigung, sowie überhaupt für alle Künste“ habe „kein Unterrichtsgegenstand so große Bedeutung wie die Beschäftigung mit den Zahlen“. Deshalb, fordert er, solle jeder so viele „Rechenkünste“ (λογισμοί) erlernen, wie notwendig sei für den Krieg, die Haushaltsführung (οἰκονομία) und die Verwaltung der Stadt“.91 Das Rechnen galt regelrecht als Hauptaufgabe des Hausvaters. In einer Polemik gegen den Makedonenkönig Philipp II. behauptet der Geschichtsschreiber Theopomp, Philipp sei „unter allen Menschen der schlechteste Haushälter (οἰκονόμος) gewesen“. Er habe sein großes Vermögen achtlos verschleudert, weil er „unersättlich und verschwenderisch“ gewesen sei und mit allem leichtfertig umging, sowohl beim Erwerben wie beim Fortgeben. Theopompos schiebt dieser moralischen Begründung allerdings eine pragmatischere Erklärung hinterher: Als Soldat habe Philipp die Zeit gefehlt, „Einnahmen und Ausgaben nachzurechnen“ (λογίζεσθαι τὰ προσιόντα καὶ τἀναλισκόμενα).92 Der Vorwurf ist offenkundig unberechtigt: Philipp war sehr darauf bedacht, das Finanzwesen seines Reichs zu verbessern.93 Doch die Art der Polemik verrät, welche Bedeutung der Buchführung beigemessen wurde: Das Ausrechnen von Einnahmen und Ausgaben galt als Kennzeichen des verantwortungsvollen Haushaltsvorstands.94 13.3.2 Die Technik der Buchführung: Das Zeugnis der Tempelbau-Inschriften Ste. Croixs Ansicht, die Wirtschaft der klassischen Zeit sei selbst im vormodernen Vergleich unterentwickelt gewesen, ist vielfach abgelehnt worden; sein negatives Urteil über die Technik der Buchführung in dieser Zeit wurde hingegen eher marginalisiert als widerlegt.95 Während Ste. Croixs Aufsatz von den einen seither wie eine Tatsachen89 90 91 92 93 94 95
Aristot. pol. 8, 1338 a 15–17; das Schriftlob in Eur. (Palamedes) fr. 578 Nauck (Stob. 2.4,8) lobt die Schrift ausschließlich für ihren Nutzen für Haushalt und Wirtschaft. Vgl. Harris 1989, 66–71. Plat. leg. 5, 747b: πρός τε γὰρ οἰκονομίαν καὶ πρὸς πολιτείαν καὶ πρὸς τὰς τέχνας πάσας ἓν οὐδὲν οὕτω δύναμιν ἔχει παίδειον μάθημα μεγάλην, ὡς ἡ περὶ τοὺς ἀριθμοὺς διατριβή; vgl. 7, 809c–d und 818c. Theop. FGrH 115 F 224 (= Athen. 4.166a–167c). Millett 2010, 495 f.; Ober 2015, 283 f. In der Komödie finden wir die Figur des Alles-Berechnenden ins Komische gewendet und dem verschwenderischen Genießer gegenübergestellt: vgl. Antiph. fr. 202 PCG (= Athen. 3.103e–f); Amphis fr. 33 PCG (= Athen. 10.447f–448a) und die Belege zu Kap. 13.1. Anders verhält sich der Forschungsstand zu späteren Zeiträumen der Antike; vgl. die oben in Anm. 72 zitierte Literatur. Einige Bemerkungen zur Technik privater Aufzeichnungen in klassischer Zeit bei Harris 1989, 67 f. und Faraguna 2008, 35–42.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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feststellung zitiert wurde, argumentierten andere, die Griechen der klassischen Zeit hätten deshalb nicht aufwendig buchgeführt, weil sie dergleichen gar nicht benötigten, um rational zu wirtschaften.96 Der einzige jüngere Versuch, die Buchführung über private Vermögen genauer zu rekonstruieren, George Costouros’ Untersuchung von Lysias’ Rede Gegen Diogeiton und Demosthenes’ drei Reden Gegen Aphobos, wurden entweder ignoriert oder mit wenigen Worten verworfen.97 Ein so schnelles Urteilen ist nicht gerechtfertigt. Denn die inschriftlich erhaltenen Abrechnungen der klassischen Zeit, laut Ste. Croix neben den nachklassischen Papyri verlässlichstes Zeugnis für die Technik der Buchführung,98 belegen eine Buchführung, die durchaus nicht so primitiv war, wie er selbst meinte. Der Analyse der Techniken der privaten Buchführung, die vor allem in den Gerichtsreden fassbar wird (vgl. Kap. 13.3.3 und 13.3.4), stelle ich deshalb einen kurzen Blick auf diese öffentlichen Texte voraus. Denn mit ihrer Hilfe lässt sich eine bessere Vorstellung davon gewinnen, was hinter den rhetorisch auf die Taktik ihrer Sprecher gefeilten Anspielungen in den Gerichtsreden gestanden haben könnte. Diesem Verfahren liegt die Annahme zugrunde, dass private und öffentliche Buchführung in klassischer Zeit grundsätzlich gleiche Formen hatten – der Vergleich wird diese Vorannahme bestätigen.99 Die Abrechnungsinschriften der Tempelbauprojekte von Athen, Delphi und Epidauros bieten sich für eine exemplarische Analyse besonders an. Sie sind gut ediert und kommentiert und als Zeugnisse von Buchführung und Rechnungswesen deutlich besser erforscht als die Reden.100 Außerdem sind diese Texte räumlich und zeitlich so gleichmäßig verteilt, dass sie vorsichtige Verallgemeinerungen über den Entwicklungsstand der Buchführungstechnik in klassischer Zeit erlauben. Zu beachten ist, dass auch die Inschriften keinen direkten ‚Blick in die Bücher‘ erlauben. Es handelt sich um speziell für die Publikation auf Stein angefertigte Berichte, die eine Auswahl aus der Dokumentation auf Schreibtafeln und Papyrusrollen präsentierten.101
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Vgl. etwa Bresson/Bresson 2004, 101–110 und die Beiträge unten, Anm. 96. Costouros 1976; vgl. Macve 1985, 262–264; Millett 1991, 96 mit Anm. 5; Cohen 1992, 124 mit Anm. 56; da Millett und Cohen entgegengesetzte Thesen zur antiken Wirtschaft vertreten, sticht ihre gleichartige Geringschätzung antiker Buchführung heraus. 98 Ste. Croix 1956, 18 f.; vgl. ebd., 27–31 zu den literarischen Zeugnissen der klassischen Zeit. 99 So auch Ste. Croix 1956, 38, allerdings mit anderem Akzent. 100 Die attischen Abrechnungen liegen im ersten Band von IG I3 (David Lewis, 1981) vor; vgl. Wittenburg 1978, 5–73 und Marginesu 2010 zur Finanzverwaltung der Baukommissionen und ihren Abrechnungen und Epstein 2013 und Carusi 2020 zu Format und Zweck dieser Urkunden; vgl. Davies 1994 zu Athen im Allgemeinen. Die delphischen Abrechnungen hat Jean Bousquet in CID II (erschienen 1989) ediert und detailliert kommentiert; vgl. zu Chronologie, Inhalt und Aufbau dieser Urkunden Roux 1979, 137–224; Bousquet 1988; Davies 1998. Die wichtigsten Bauinschriften aus Epidauros hat Prignitz 2014 neu ediert und ausgiebig kommentiert. Zur öffentlichen Buchführung im Allgemeinen vgl. Migeotte 2014, 74–82. 101 Davies 1994, 205–207; Migeotte 2008, 63; Epstein 2013; Carusi 2020, 81 f. Die Gründe für die Publikation von Abrechnungen sind so rätselhaft wie umstritten; die Forschung neigt mittlerweile
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Ein erstes Merkmal dieser Abrechnungen ist ihre chronologische Ordnung. Sie verschränkt die natürliche Gliederung in Tag, Monat und Jahr mit der kulturellen Gliederung in Amtsperioden eponymer Amtsträger und verantwortlicher Gremien und Amtsträger. Die Haupteinheit der Rechnungslegung war das amtliche Kalenderjahr,102 und zwar selbst dann, wenn man erst nach mehreren Jahren (oder Jahrzehnten) die Abrechnung publizierte und nur zu bestimmten Anlässen Bilanz zog.103 Der Monat (resp. die Prytanie in Athen) begegnet wie das Jahr nicht nur zur Datierung eines Geschäftsvorfalls, sondern auch als Ordnungselement. Die Abrechnungsurkunden des Erechtheion-Baus seit der Wiederaufnahme der Bauarbeiten 409/8 wenden zwar dasselbe sachliche Ordnungsprinzip an wie die früheren Bauinschriften von der Akropolis (dazu noch unten); aber wo die früheren Inschriften summarische Jahresbilanzen präsentierten, führen die Erechtheion-Abrechnungen für jede Prytanie alle Einzelposten mit Summen der Einnahmen und Ausgaben auf.104 Der hohe Detailgrad, den Ste. Croix als Ausdruck von Konfusion bemängelte,105 war zumindest in Athen also eine bewusste Entscheidung und nicht Ausdruck des Unvermögens, summarische Berichte zu publizieren. Die Abrechnung der Bauarbeiten an der Tholos im Asklepieion von Epidauros (begonnen etwa 380) zeigt, dass aufeinander folgende Baukommissionen ihre Abrechnung zwar in unterschiedlichem Format publizierten, aber das zugrundeliegende Ordnungsprinzip gleich blieb: Einnahmen und Ausgaben wurden getrennt und nach Monaten und Jahren gruppiert.106 Die Datierung nach Monaten war in ganz Griechenland üblich, vielleicht auch die Gruppierung der Buchungen nach Monaten, aber die summarischen Berichte geben darüber nur unsicher Auskunft.107
zur Annahme einer stärker symbolischen Bedeutung; vgl. Burford 1971, Linders 1992a und Davies, Epstein und Carusi, op. cit. 102 In Delphi unterteilte man das Amtsjahr des delphischen Archonten zusätzlich in die Halbjahre (πύλαια) zwischen den zwei jährlichen Sitzungen des Amphiktyonienrats zu Frühjahrs- und Herbstbeginn. 103 Die Abrechnungen der ersten fünf Jahre des Parthenonbaus, IG I3 436–440, wurden von einer Hand geschrieben; die Abrechnung über die Errichtung des Standbilds der Athena Promachos, IG I3 435, wurde offenbar erst nach dem Abschluss der neunjährigen Arbeiten veröffentlicht; vgl. Epstein 2013, 131. Die Abrechnung über den Beitrag der Stadt Delphi zum Wiederaufbau des Apollon-Tempels, CID II 31–32, wurde zwar mindestens seit 366 geführt, aber erst zwei Generationen später veröffentlicht, vermutlich kurz nach 311/10; Bilanz wurde in dieser Abrechnung nur zu besonderen Anlässen gezogen; vgl. zu dieser Abrechnung Roux 1979, 172–187 und Bousquet 1989, 9 f., 52–58. 104 Vgl. IG I3 475–477. 105 Ste. Croix 1956, 25 f. 106 IG IV2 1, 103 (= Prignitz 2) mit Prignitz 2014, 100 f. 107 Die delphischen Abrechnungen sind nicht nach Monaten gruppiert und es fehlen Monatsangaben; die Auszahlung von Geldern an die „monatlich anwesenden Baukommissare“ (z. B. CID II 31, 91 f., dazu Roux 1979, 113) und Monatsangaben dort, wo sie zur eindeutigen Datierung nötig sind (vgl. CID II 31, 4, 9, 92, 105), lassen allerdings vermuten, dass der Monat in den ursprünglichen Aufzeichnungen notiert wurde. In den delischen Abrechnungsurkunden der klassischen Zeit fehlen Monatsangaben ebenfalls; aber eine Abrechnung des J. 278 listet die Kosten für die öffentliche
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Das Gleiche gilt für die Datierung der Buchungen nach dem Tag, die in den Büchern offenbar üblich war, aber bei der Veröffentlichung auf Stein meist weggekürzt wurde.108 Ein zweites Merkmal der Bauurkunden ist ihre formularische Sprache und Textgliederung. Ste. Croix konzentriert einen Gutteil seiner Kritik auf die graphische Form der Abrechnungen. Zwei ihrer Merkmale hebt er besonders hervor: die Verwendung akrophoner Zahlzeichen und das Fehlen einer tabellarischen Gliederung der Einträge. Laut Ste. Croix habe die Verwendung arabischer Zahlen im Mittelalter eine Rationalisierung der Buchführung angestoßen, weil sie aufgrund des Stellenwerts ein exaktes und schnelles schriftliches Rechnen ermöglichten.109 Diese These gilt als widerlegt,110 nicht zuletzt deshalb, weil geübte Benutzer des Abakus mit akrophonen Zahlzeichen ebenso schnell und korrekt rechnen konnten wie mit arabischen Zahlen – die weite Verbreitungen von Abakussen in klassischer Zeit wurde bereits im vorherigen Kapitel vermerkt.111 Das Fehlen von Tabellarisierung und einer ‚bilateralen‘ Gegenüberstellung von Ausgaben und Einnahmen, die Ste. Croix bemängelt,112 sollte ebenfalls nicht überschätzt werden. Das entscheidende Kriterium doppelter Buchführung ist nicht die graphische Gliederung, sondern die doppelte Erfassung eines Vorgangs in zwei getrennten Konten, einmal als Soll und einmal als Haben, was bei vollständiger Erfassung aller Vorgänge in den getrennten Konten eines Hauptbuchs zu einem ‚integrierten‘ System führt.113 Des Weiteren ist noch einmal daran zu erinnern, dass die Inschriften keine exakten Kopien der ephemeren Aufzeichnungen sind. Während die athenischen Abrechnungsinschriften der zweiten Hälfte des 5. Jhs. meist tabellarisch angelegt sind und
Aushängung der „monatlichen Abrechnungen“ (τοῖς κατὰ μῆνα λόγοις) auf, IG XI 2, 161, A, 89. Die Abrechnungen des Demeter-und-Kore-Heiligtums in Eleusis zeigen, mit welchen Variationen man rechnen muss: Die Abrechnung des J. 336/5, I. Eleusis 159 (= IG II2 1673), verzichtet auf eine Gruppierung nach Prytanien, die Abrechnung des J. 329/8, I. Eleusis 177 (= IG II2 1672), befolgt sie. 108 In fr. XXVI der Erechtheion-Abrechnungen, von D. Lewis IG I3 475 (409/8) zugeordnet, werden tägliche Lohnzahlungen nach den Tagen der Prytanie datiert. In einem Bericht über die Ausgaben der Schatzmeister der Athena des Vorjahres 410/9, IG I3 375, werden ab der 7. Prytanie ebenfalls alle Buchungen auf den Tag genau datiert und das war offenbar schon davor üblich (vgl. IG I3 370). In der Tholos-Abrechung (Prignitz 2 = IG IV2 1, 103) und der Abrechnung für das Kultbild (Prignitz 3 = IG IV2 1, 104+) erscheinen unregelmäßge Tagesangaben: Monatserster: Prignitz 2, 164, 167, 219, 252, 253, 254, 256, 258, 266, 267, 268, 269, 271; Dreißigster: 145, 179; Prignitz 3, 162. Andere Monatstage: am zweiten: Prignitz 3, 160, 169: am dritten: 160, 161; am fünften: 161; 162: am zehnten: 162. 109 Ste. Croix 1956, 50–60; so schon Weber [1919/20] 2011, 277 f., den Ste. Croix nicht erwähnt. 110 Macve 1996, 13. 111 Roover 1956b, 119 f.; so übrigens auch Ste. Croix 1956, 59 f. selbst; zur Verwendung des Abakus in klassischer Zeit Faraguna 2008, 38–42; vgl. Jakab 2003, 501, 503. 112 Ste. Croix 1956, 19–21 und passim. 113 Melis 1950, 429; Roover 1956b, 115.
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Betrag und Beschreibung nebeneinander setzen114 und auch aus dem 4. Jh. tabellarische Abrechnungen erhalten sind,115 tun dies ausgerechnet die Erechtheion-Abrechnungen nicht, obwohl sie der gleichen Systematik folgen wie die früheren Inschriften und demonstrativen Wert auf buchhalterische Sorgfalt legen.116 Bei der Entscheidung, wie der begrenzte Platz auf dem Stein zu nutzen sei, erschien den Verantwortlichen die detaillierte Abrechnung Posten für Posten offenbar wichtiger als die Wiedergabe einer graphischen Anordnung, die man in den ephemeren Aufzeichnungen womöglich beibehielt.117 Die pauschale Beschreibung aller Abrechnungen als ‚narrativ‘ überdeckt des Weiteren, dass die Abrechnungen kaum erzählende Sprache verwenden und durch Überschriften, formelhaft wiederholte Signalwörter und graphische Elemente gegliedert sind. Die Erechtheion-Abrechnungen sind durch Ein-Wort-Überschriften unterteilt. Auf die Datierung folgen die Einnahmen (λέμματα παρὰ ταμιο͂ν τε͂ς θεο͂), dann unter der Überschrift „Aufwendungen“ (hαναλόματα) die Ausgaben.118 Diese Ausgaben sind durch weitere Überschriften gegliedert: Erst kommen die „Einkäufe“ (hονέματα), dann die verschiedenen Gewerke (z. B. „Für Steinarbeiten“: λιθοργικô), schließlich „Löhne“ (μισθοί). Am Ende jeder Rubrik steht eine Zwischensumme (z. B.: κεφάλαιον κεροπλάσταις)119 und am Ende jeder Prytanie wird die Summe der Einnahmen wiederholt (λε̃μμα), gefolgt von der Gesamtsumme der Ausgaben (ἀνάλομα).120 Die Überschriften erübrigen die Wiederholung des Zahlungszwecks bei den Einzelposten, die meist nur den Namen des Empfängers und den gezahlten Betrag angeben.121 Ähnlich knapp sind die Eintragungen in der Tholos-Abrechnung aus Epidauros. Auf die Datierung und die Angabe des amtierenden Ratsherrn folgt die Angabe der Einnahmen seitens des Priesters (par deinou lammata), dann die Ausgaben in knapper, aber dif114
Vgl. Carusi 2020 zur tabellarischen Form der perikleischen Bauabrechnungen; ergänzen lassen sich die Inventare des Eleusinions (IG I3 386–390); und des versteigerten Eigentums der Hermenund Mysterienfrevler (IG I3 421–430 = Att. Stelen). 115 Tabellarisch angelegt sind IG II2 1421, 1423, 1579; in vielen Abrechnungen stehen außerdem die Beträge immer am Zeilenende, häufig zusätzlich durch Interpunktion oder Leerzeichen als solche gekennzeichnet; vgl. IG II2 1425, 1428–1432, 1436, 1437, 1496, 1582, 1611–1631. 116 Zur Ausführlichkeit der Erechtheion-Abrechnungen und ihren möglichen Gründen vgl. Wittenburg 1978, 71–73; Epstein 2013, 134–137; Carusi 2020, 87–95. 117 Das einzige primäre Abrechnungsdokument aus klassischer Zeit, ein Ostrakon aus dem Kerameikos-Gebiet, das auf kurz nach 350 v. Chr. datiert wird, ist annähernd tabellarisch angelegt: Unter einer Datierung mit Jahr und Monat folgen Namen (von Zahlenden?) auf der linken Seite und Beträgen auf der rechten Seite, getrennt durch Interpunktion; vgl. SEG 35.134, publiziert von Johnston 1985; das Dokument bezeugt eine routinierte, technische Abrechnungspraxis, gibt aber auch Rätsel auf; vgl. Thomas 2009, 28–30; Lewis 2020. 118 IG I3 476, 183–188. 119 Zz. 188–280. 120 Zz. 280 f. 121 Bei den Löhnen etwa heißt es, zz. 266–269: ἀρχιτέκτ- | ονι Ἀρχιλόχοι Ἀγρυλε̃θεν, ΔΔ | Δ𐅃𐅂, hυπογραμματεῖ Πυργίον- | ι hοτρυνεῖ ∶ΔΔΔ. Bei den Steinarbeiten folgt auf eine Angabe des Gewerks („Für die Kannellierung der Säule“ usw.) die Liste der dafür entlohnten Handwerker.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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ferenzierter Form: Zweck (eis + Akk.) – Empfänger (Dat.) – Betrag (Zahlzeichen).122 Dieses Schema entspricht genau dem Wortlaut, den Apollodoros für die Buchungen in den Büchern von Banken angibt.123 Verben – als Träger der Narration – tauchen, wiederum wie bei den Banken, nur noch dort auf, wo Transaktionen als Teil eines Schuldverhältnisses beschrieben werden: Vorauszahlungen an Auftraggeber, Strafzahlungen seitens der Auftragnehmer in Epidauros, Auszahlungen vom Guthaben der Baukommission bei der Stadt Delphi.124 Zugleich wird allerorts das Bemühen sichtbar, trotz des begrenzten Platzes Sinnabschitte graphisch durch Tabellarisierung, Spalten, Interpunktion, Absätze und Leerzeilen zu markieren.125 Ein drittes Merkmal der Abrechnungsurkunden ist ihr Bemühen um Systematik. Mindestens seit dem Perikleischen Bauprogramm ab 447 trennen alle Abrechnungen Einnahmen und Ausgaben. Zuerst werden die Einnahmen aufgeführt, dann folgen die Ausgaben.126 In der Regel werden außerdem separate Summen der Ausgaben und Einnahmen gezogen, bevor eine Endsumme genannt wird.127 Diese Trennung war nicht nur ein Ordnungsprinzip der Rechnungsberichte, sondern der dahinterstehenden Finanzverwaltung selbst, wie die vielfältigen delphischen Inschriften am besten zeigen. Die delphischen Baukommissare, Naopoioi genannt, nahmen zwar Einkünfte entgegen, zahlten diese jedoch nicht direkt in eine eigene Kasse ein, sondern übergaben sie den Verwaltern des Tempelschatzes, von denen sie wiederum Auszahlungen zur Begleichung ihrer Ausgaben erhielten (dazu noch unten).128 Die Abrechnungen der Akropolis-Bauten in Athen führten die Ordnung noch weiter, indem sie die Ausgaben nicht chronologisch auflisteten, sondern geordnet nach Ausgabenart (Einkäufe, Stein-Arbeiten, Maler-Arbeiten, Löhne usw.). Erst in den detaillierten Erechtheion-Abrechnungen wird dieses Prinzip voll ersichtlich, weil hier 122
Vgl. als Beispiel die Eintragung für Jahr 10, Monat 7 (Prignitz 2, B, 167–169): Ποσιδαίου πρατομηνίαι· κατάλογος Εὐσθένης· Ἀλ[α]- | [μαΐς] · πὰρ Πύθωνος λάμμα[τα] Η̣ΗΗΗ𐅞𐅛𐅛𐅛 ἐς Ἀθάνας δεκάτα τῶν λίθων τῶν Πενταληικ[ῶν] | [Αἰγ]ιναῖον ΗΗΗΗ𐅞 v ἐς Ἄργος ἐφόδια Ἀγέαι 𐅛·, Πυρρῆνι. 123 Vgl. [Demosth.] 49.5; 52.3 f. 124 Die Beschreibungen der Strafzahlungen in der Tholos-Abrechnung (Prignitz 2) haben ein festes Formular und enden auf ἀπήνικε („es ging ein“) + Betrag; Zahlungen, die ein Schuldverhältnis eröffnen oder beschließen werden mit (ἀπο-)δίδωμι ausgedrückt (IG I3 476, 55–57: προσαπέδομεν τὸ [hοφ]-|ειλόμενον τες προτέρας [πρυ]-|τανείας; vgl. [Demosth.] 52.3; die delphische Baukommission quittiert den Empfang von Zahlungen seitens der Stadt, die als Schuldentilgung gelten, mit „wir empfingen“ (ἐκομισάμεθα), CID II 34, 8; vgl. die Wendung κομίσασθαι τὸ ἀργύριον für die Auszahlung eines Bankguthabens in [Demosth.] 52.4. 125 Zur graphischen Gliederung der athenischen Abrechnungen s. Carusi 2020; für Delphi vgl. als Beispiele die Trennung von Einnahmen und Ausgaben in CID II 34 und die Trennung von chronologischen Abschnitten und Bilanzen in CID II 31–32, 2.97 und 102. 126 Zu den Attischen Urkunden vgl. Marginesu 2010, 33 und Carusi 2020; Prignitz 2014, 100 nimmt an, dass im ersten Abschnitt der Tholos-Abrechnung in Epidauros (Prignitz 2, 13–20) zuerst die Ausgaben und dann die Einnahme genannt wurden; der einzige hinreichend rekonstruierbare Eintrag, zz. 18–20, spricht allerdings m. E. für die umgekehrte Reihenfolge. 127 In der Tholos-Abrechnung gibt erst der letzte Abschnitt Summen an, Prignitz 2, 274–311. 128 Bourguet 1905, 83; vgl. Bousquet 1989, 6.
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nicht nur jährliche Gesamtbeträge nach Ausgabenart angegeben werden, sondern prytanienweise alle Einzelposten einer Ausgabenart mit separater Summe verzeichnet werden.129 Die Bilanz der athenischen Amphiktyonen des Apollon-Heiligtums auf Delos für die Jahre 377 bis 373 belegt, dass athenische Finanzverwalter eine ähnliche sachliche Ordnung auch auf Einnahmen anwandten. Der Bericht hat den Charakter einer Gewinn-Verlust-Rechnung. Die Einnahmen werden in Zinseinnahmen aus Darlehen an Städte, aus Darlehen an Privatpersonen, aus Pachteinnahmen und aus Bußgeldern unterschieden und die nicht gezahlten Zinsen werden separat auf der Rückseite der Stele aufgelistet; bei den Zinseinnahmen werden die Einzelposten angegeben und eine Zwischensumme gezogen (κεφάλαιον τόκο παρὰ τῶν πόλεων/ἰδιωτῶν).130 Auf die Gewinne folgen die davon beglichenen Kosten (ἀπο τότο τάδε ἀνηλώθη), deren Summe wird errechnet und von der Summe der Einnahmen abgezogen zusammen mit den reinvestierten Einnahmen in Form neu vergebener Darlehen. Am Schluss steht der „Überschuss“ (περίεστι).131 Die athenischen Tempelverwalter berechneten also die Gewinne während ihrer Amtszeit nach demselbem Verfahren wie zeitgenössische private Haushalte oder die florentinischen Handelsgesellschaften in der ersten Hälfte des 14. Jhs.132 Der vielleicht interessanteste Aspekt der Abrechnungen aus Athen, Epidauros und Delphi ist, dass sie Ansätze von Kontoführung zeigen. Während Inventare den gesamten Vermögensbestand zu einem festgelegten Zeitpunkt erfassen und Kassenberichte alle Transaktionen innerhalb eines festgelegten Zeitraums, führt ein Konto nur die auf eine bestimmte Person, Sache oder Aktivität bezogenen Transaktionen auf. Im Fall der Bauabrechnungen waren das die Einzahlungen einer öffentlichen Kasse in die Kasse der Baukommission oder die Begleichung von Außenständen auf Anweisung der Baukommissare zur Deckung der Baukosten. Bereits die Erechtheion-Abrechnungen enthalten Indizien, dass sie Kontoauszüge sind und keine vollständigen Kassenberichte der Baukommissare.133 Mehr Informationen haben wir bei der besser erhaltenen Abrechnung des Tholos-Baus. Hier kommen die Einzahlungen durch die Priester (als Verantwort-
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Zur Anordnung vgl. Caskey 1927, 404–408; Wittenburg 1978, 68–70; Carusi 2020, 87 und 92 f. Die Systematik führt dazu, dass selbst eine Kategorie mit einer einzigen Buchung acht Zeilen einnimmt, vgl. IG I3 476, 46–53. I. Délos 98, A, 1–31; 64–67; 101–111; B, 1–23, 31–41. I. Délos 98, A, 1–56 dokumentiert die ersten drei Amtsjahre 377–375, 57–111 das letzte Amtsjahr, 375/4. Roover 1956b, 125, 127 f. Vgl. die Verwendung von περιεῖναι und abgeleiteten Formen (τὰ περιόντα, περίουσια) bei Lys. 32.29; Demosth. 27.36; Is. 5.41; Plat. rep. 3, 416e; Xen. oik. 1.4. In den Abrechnungen der Baukommissare des Parthenon und der Propyläen erscheinen unter den lemmata Einzahlungen verschiedener Kassen und auch Zusatzeinnahmen durch die Rückverkäufe von Material, vgl. Wittenburg 1978, 9–19 und 30–35; in den Erechtheion-Inschriften erscheint hingegen unter dem Titel „Eingang“/„Eingänge“ (lemma/lemmata) stets nur eine einzelne Einzahlung der Schatzmeister der Athena; in den zwei eindeutigen Fällen deckt sich dieser Betrag mit der Summe der Ausgaben: vgl. IG I3 476, 181–183 und 280–281; vgl. Wittenburg 1978, 67.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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liche des Tempelschatzes) immer zur Deckung mit den Ausgaben für den Bau. Das ist kein Zufall: Die von den Baukommissaren entgegengenommenen Bußzahlungen säumiger Bauunternehmer, die sie an die Priester weiterleiteten, werden zwar ebenfalls monatlich aufgelistet, um über ihren Empfang Rechenschaft abzulegen, aber sie folgen immer erst auf die Ausgaben und fließen nicht in die Bilanz ein.134 Die Tholos-Inschrift zeigt uns demnach keine Gesamtrechnung, sondern nur einen ‚Kontoauszug‘ über die Transaktionen zwischen Tempelkasse und Baukommission zur Begleichung der Baukosten – die Zahlungen der städtischen Kasse, die ebenfalls einen Teil der Baukosten trug, wurden offenbar auf einer separaten Stele veröffentlicht.135 Einer Ausgabe für den Tempelbau entsprachen also mindestens zwei Buchungen: Einmal als Auszahlung der Schatzmeister und einmal als ‚Einnahme‘ der Baukommission. Einen positiven Beleg hierfür liefern die delphischen Abrechnungen zur Wiederrichtung des 373 durch einen Erdrutsch zerstörten Apollon-Tempels. Genau wie in Epidauros wurde der Tempelbau vom Heiligtum (d. h. den Mitgliedern der pythischen Amphiktyonie) und der Stadt gemeinsam finanziert. Die Stadt richtete der Baukommission 366 (oder bereits früher) ein Guthaben bei ihrer Kasse ein, von dem diese zusätzlich zu ihren sonstigen Einnahmen Beträge abbuchte.136 In der großen Abrechnungsurkunde über die Verwendung dieses Guthabens kommen die Auszahlungen an die Baukommission, die seit dem Frühjahr 353 durchnummeriert wurden (πράταν δόσιν, δευτέραν δόσιν usw.) stets zur Deckung mit den darunter aufgelisteten Ausgaben unter dem Titel „davon gegeben (an)“ (τούτου ἐδόθε).137 Viele dieser Beträge waren nie in den Händen der Baukommissare: Diese wiesen die Auszahlungen zum Teil schriftlich an, und die Schatzmeister zahlten die Beträge an die Empfänger aus.138 Dementsprechend tauchen im Kassenbericht der Baukommission für die Jahre 345/4–343/2 mehrere Buchungen wieder auf: Die „erste Auszahlung“ nach dem Krieg im Frühjahr 344 der städtischen Abrechnung kehrt im Kassenbericht unter den „Eingängen“ (εἰσιτάματα) desselben Zeitraums mit der Beschreibung wieder: „von der Stadt der Delphier, von dem, was sie den Naopoioi schulden“. Einige der Ausgaben erscheinen ebenfalls in beiden Abrechnungen.139 Der
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Prignitz 2014, 102–104. Diese bereits von Keil 1895, 92–110 vertretene These findet Rückhalt in Prignitz’ Neulesungen von IG IV2 1, 112 (= Prignitz 4); diese Abrechnung verzeichnete offenbar genau jene Bauvorgänge, die in der Tholos-Abrechnung der Tempelkasse (Prignitz 2) fehlen; vgl. Prignitz 2014, 103 f., 159 f. Roux 1979, 172–187; Bousquet 1989, ad loc. zu CID II 31–32. Das Guthaben wird dort irreführend als „créance“ bezeichnet; so auch Davies 1998, 5 f. („credit“), der allerdings erkennt, dass die Inschriften die Summe als Guthaben behandeln, vgl. CID II 34, 11 f. Die Auszahlungen wurden zweimal durchgezählt: Die erste Serie von Auszahlungen erfolgte während des Heiligen Krieges 353–352, CID II 31, 37–70; nach dem Krieg begann man neu zu zählen, II 31, 80–107, II 32, 1–14, weil man nach Kriegsende eine Gesamtsumme gezogen hatte, vgl. II 31, 68–70. Roux 1979, 118 f.; vgl. CID II 31, 2, 10, 20, 90. Vgl. CID II 31, 82 mit 34, 16–18 zur Einzahlung und Roux 1979, 197 f. zu den Ausgaben. Zu CID II 34 auch Rhodes-Osborne, GHI 66.
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Kassenbericht der Baukommission gibt die Summe des Guthabens mit 74.670 Dr. und 2 ½ Ob. an – rechnet man die Summe, welche die Schatzmeister in ihrer Abrechnung für Herbst 358 angeben, zwanzig Talente, 14 Minen und 10 Statere, in Drachmen um (85.000) und zieht die Summe der Auszahlungen bis zum Frühjahr 344 ab, erhält man exakt die gleiche Summe.140 Diese Überschneidungen illustrieren, wie doppelte Buchungen es ermöglichten, die Transaktionen innerhalb der Finanzverwaltung nachzuvollziehen und deren rechnerische Richtigkeit zu überprüfen – und genau das war der Zweck der Kontoführung der städtischen Schatzmeister. Bei einer feierlichen Sitzung im Frühjahr 325 zog man die Bilanz des Kontos über die Auszahlungen an Naopoioi im Zeitraum bis zum Herbst 340 (ταῦτα διελογίσθη ποτὶ τοὺς ναοποιούς) und „wies den Hieromnamones (den Verwaltern des Heiligtums) nach, dass sie übereinstimmten“ (ἐνεφανίσθη τοῖς ἱερομνάμοσιν ὁμόλογα) – nämlich mit den Aufzeichnungen der Baukommission.141 Diese Abrechnung über das delphische Guthaben erinnert bis in sprachliche Details hinein an die Bemerkungen, die der Athener Apollodoros über die Kontoführung der Bank seines Vaters Pasion macht.142 Das ist kein Zufall, sondern die Folge davon, dass in beiden Fällen eine arbeitsteilige Verwaltung von Finanzen dokumentiert wurde, die zu einem Drei-Personen-Verhältnis zwischen Zahlendem, Empfänger und Kontoinhaber führte: Wenn die delphischen Magistrate für die Baukommission einen Lieferanten auszahlten und den entsprechenden Betrag als ‚Haben‘ buchten gegenüber ‚dem, was sie den Naopoioi schulden‘, dann handelten sie genau wie Pasion, der im Konto des Feldherrn Timotheos den Preis für eine Lieferung Holz als bezahlt eintrug und zugleich denselben Betrag als ‚Soll‘ gegenüber der Bank notierte.143 Der Abrechnungsbericht über das Guthaben bei der delphischen Stadtkasse zeigt nicht nur eine komplexe Form der Buchführung, sondern auch deren Langfristigkeit und Genauigkeit. Die große Abrechnung erfolgte im Frühjahr 325, also mehr als 15 Jahre nach dem Ende des abgerechneten Zeitraums und mehr als 40 Jahre seit der Gewährung des abgerechneten Darlehens; in Stein gemeißelt wurde der Bericht sogar erst kurz nach 311/10, zwei Generationen nach dem Beginn der Bauarbeiten am Tempel.144 Dabei enthält er nur einen einzigen geringfügigen Schreibfehler, der sich auf die rechnerische Richtigkeit der Gesamtsummen nicht auswirkte.145 Es wäre allerdings übereilt, aus der Qualität dieser Abrechnung vorschnelle Schlüsse zu ziehen: Doppelte Buchungen allein machen noch keine doppelte Buchführung und einzelne Konten ergeben noch kein integriertes System. Es ist zu bezweifeln, dass es in Delphi 140 Vgl. CID II 31, 68–70 mit II 34, 13–16. 141 CID II 32, 39–41; das ergibt sich aus der ausdrücklichen Nennung derjenigen Baukommissare, die für die Archiv-Truhen zuständig waren. 142 Vgl. [Demosth.] 49.5, 59–64; Demosth. 52.3 f., 7. Vgl. die Auswertung griechischer Bankurkunden vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. bei Jakab 2003, 506–524. 143 [Demosth.] 49.62. 144 S. o. Anm. 102. 145 CID II 31, 30 steht ὀβολοὶ τέτορες, die Bilanz erfordert jedoch 1 ½ Obolen.
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ein ‚Hauptbuch‘ gab oder dass irgendeine Instanz in der Verwaltung dauerhaft einen Gesamtüberblick hatte – und das gilt wohl auch für andere Städte.146 Gleichwohl zeigen die Bauinschriften, dass im 4. Jh. eine regelmäßige und komplexe Buchführung selbst bis zu kommerziell eher unbedeutenden Orten wie Epidauros und Delphi vorgedrungen war. Weiterhin belegen sie, dass die Techniken des Rechnungswesen und der Buchführung sich graduell weiterentwickelten – übrigens über das 4. Jh. hinaus.147 Welche Annahmen lassen sich von diesen öffentlichen Bauabbrechnungen für die private Buchführung ableiten? Die Finanzverwaltung eines Heiligtums war umfangreicher und komplexer als die eines Privathaushalts und die beteiligten Amtsträger unterlagen einer höheren Rechenschaftspflicht als ein Privatmann im eigenen Haus. Umgekehrt konnte ein einzelner Hausherr leichter einheitlich Buch führen als mehrere mehrköpfige Kollegien mit regelmäßig wechselnden Mitgliedern. Die Grundlagen der Technik – chronologische Ordnung, formalisierte Sprache und sachliche Ordnung – waren allerdings die gleichen, wie sich im Folgenden zeigen wird. 13.3.3 Die Berechnung des Verbrauchs des Haushalts Xenophon empfiehlt die Buchführung in seinem Oikonomikos besonders in Hinsicht auf die Bewahrung des Besitzes und die Berechnung des Verbrauchs. Zu Beginn der Ehe legen Ehemann und Ehefrau gemeinsam ein Gesamtinventar des Hausrats und der Vorräte an – ein solches Gesamtinventar als Ausgangspunkt der Buchführung empfiehlt Luca Pacioli 1494 in seiner berühmten Anleitung zur Buchführung dem Kaufmann.148 Bei Xenophon ist das Inventar sachlich, sozial und zeitlich gegliedert. Zunächst werden die Geräte nach ihrer Funktion unterschieden, dann nach Geschlecht und Stand und schließlich nach dem Zeitpunkt ihrer Verwendung: Festschmuck der Frau, Festkleidung und Kriegsbekleidung des Mannes, die Decken im Raum der Sklavinnen, die Decken im Raum der Sklaven, die Schuhe der Sklavinnen, die Schuhe der
146 Bourguet 1905, 51, 55 und Migeotte 2014, 78 f. Vgl. die Anweisung des sog. Kallias-Dekrets IG I3 52 (= Osborne-Rhodes, GHI 144), 11–13, man solle alle existierenden Aufzeichnungen zu den Darlehen der Heiligtümer an die Stadt Athen zusammensuchen und die Priester und alle anderen etwaig existierenden Schriftstücke bekanntgeben. 147 337 wurde für das delphische Apollon-Heiligtum ein Kollegium von Schatzmeistern eingesetzt, um die Masse der Abrechnungen zu bewältigen; seine Abrechnungen sind von hoher Qualität und in einheitlicher Buchwährung geführt; zu den Gründen ihrer Einsetzung und ihren Aufgaben vgl. Bourguet 1905, 112, 122–124; Roux 1979, 121–137; Bousquet 1989, 146–148. In Delos entwickelte sich die Buchführung des Apollon-Heiligtums ebenfalls weiter, bis ab Mitte des 3. Jhs. sogar der Gesamtbericht mit ausgeglichender Bilanz vorgelegt wurde, Migeotte 2008, 64–74; vgl. Linders 1992b, die allerdings eine geringe Meinung von der Rationalität der delischen Abrechnungen hat. Zur Weiterentwicklung des Rechnungswesens und der Buchführung in den griechischen Städten von der klassischen zur hellenistischen Zeit vgl. Migeotte 2014, 58–82. 148 Xen. oik. 9.6–10; bei Pacioli vgl. Kap. 2 und 3 (deutsche Übersetzung von C. E. Poeschel, 1933).
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Sklaven. Darauf folgen Waffen, Geräte zum Wollspinnen, zum Brotbacken, zum Kochen, zum Baden usw. Diese Geräte werden ebenfalls in eine Alltags- und eine Festtagsabteilung getrennt. Wird hiervon etwas an das Gesinde herausgegeben, so soll es gezählt oder gewogen und aufgeschrieben werden. Xenophon rät außerdem dazu, die Ausgaben monatsweise zu berechnen (τὰ κατὰ μῆνα δαπανώμενα) und außerdem eine prospektive Jahresrechnung aufzustellen (τὰ εἰς ἐνιαυτὸν ἀπολελογισμένα): „Denn so bleibt weniger verborgen, wie es zum Ende ausgehen wird.“149 Die Vorschläge zeigen das Janusgesicht der hauswirtschaftlichen Buchführung. Dokumentarisch erfasst sie vergangene Ausgaben und gegenwärtigen Bestand. Prognostisch schätzt sie zukünftige Ausgaben.150 Xenophon verwendet ähnliche Ausdrücke wie die Abrechnungsinschriften. Das verwendete Zeitmuster, Tag–Monat–Jahr, ist ebenfalls das gleiche. Xenophons Ratschläge sind nicht etwa Tagträume eines Pedanten. Bereits Eupolis’ 421 aufgeführte Komödie Schmeichler (Kolakes), in der die Lebensführung im Haus des reichen Kallias verspottet wird, thematisiert schriftliche Inventare.151 Das genaue Berechnen, Bemessen und Abwiegen von Rationen oder Taschengeldern wird häufig erwähnt. In der Komödie klagen freie und unfreie Hausgenossen über zu knapp bemessene Rationen und Taschengelder.152 Die zeitlichen Grundeinheiten zur Berechnung des konsumtiven Bedarfs sind dabei wiederum die natürlichen Einheiten Tag, Monat und Jahr. In Menanders Schiedsgericht meint jemand, von zwölf Drachmen könne man einen Mann für einen Monat und sechs Tage ernähren, wenn man ihm „nur das Nötigste gibt“, womit Gerstenbrei zu zwei Obolen täglich gemeint ist. Das entspricht dem Mindestsatz für das Verpflegungsgeld (σιτηρέσιον) der athenischen Soldaten und wird vom Gesprächspartner als „gut gerechnet“ bezeichnet.153 Die Grundernährung eines (unfreien) Arbeiters wird hier in Geld kalkuliert. In Aristophanes’ Frieden (421) muss Trygaios Getreide als Grundnahrungsmittel kaufen, wohl nicht nur wegen der kriegsbedingten Not (wegen der sein Geld knapp ist), sondern auch deshalb, weil er Winzer ist (er bezeichnet sich selbst als ἀμπελουργός) und des-
149 Xen. oik. 9.8: οὕτω γὰρ ἧττον λανθάνει ὅπως πρὸς τὸ τέλος ἐκβήσεται. 150 Auch das eine Parallele zur öffentlichen Buchführung, zumindest in Athen: Im 4. Jh. stellte der Rat ein jährliches Budget auf, vgl. Andreades 1931, 393–395; Rhodes 2013, 217 f. 151 Eupol. fr. 161 PCG (= Poll. 10.10); vgl. fr. 162 (= Poll. 9.89). 152 Als komische Pointe in Aristoph. Pax, 1240–1250, wo aus einer Trompete eine Waage konstruiert werden soll, mit der man den Sklaven die Feigen abwiegt; vgl. Plut. Perikles 16 und Men. Colax 1–11 für Klagen über feste Taschengelder für freie Hausgenossen und Herodas 6.1–8 für die Anspruchshaltung einer Sklavin; der Gewinnsüchtige misst seinen Hausgenossen das Getreide mit dem (kleinen) pheidonischen Maß zu, das eingebeult ist, und streicht viel ab, Theophr. char. 30.11; der Geizige verbietet das Borgen von Kleinigkeiten, weil es „übers Jahr“ viel ausmacht, char. 10.5. 153 Men. Epitr. 136–141; der Satz liegt nur etwas unter den drei Obolen, die einige Jahre zuvor (allerdings während einer Teuerungsphase) die Sklaven des Demeter-und-Kore-Heiligtums in Eleusis erhielten; vgl. IG II2 1673 (= I. Eleusis 159), 60–62; IG II2 1672 (= I. Eleusis 177), 42 f., 179 f., 203– 205; zum siterēsion s. RE 3 A 1 (1927) s. v. σιτηρέσιον, sp. 382–388 (O. Schulthess) und Pritchett 1971, 3–24.
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halb kein oder nicht ausreichend Getreide selbst anbaut.154 Für das 4. Jh. erfahren wir nebenbei über einen Landwirt im Schwarzmeergebiet, dass er die Zukost für seine Landarbeiter importierte und von Handwerkern nimmt Platon generell an, dass sie die Verpflegung für sich und ihre Sklaven auf dem Markt einkaufen.155 Der früheste bekannte Fall eines exakten hauswirtschaftlichen Regiments ist Perikles’ Haushaltsführung, von der Plutarch in seiner Biographie des Atheners berichtet. Dieser Bericht bereitet allerdings quellenkritische Schwierigkeiten. Plutarch nennt keine Quellen und schweigt darüber, wann Perikles mit der Rationalisierung seiner Haushaltsführung begann und wie typisch dieses Vorgehen seinerzeit war. Der Bericht dient nicht der historischen Verortung einer bestimmten hauswirtschaftlichen Praxis, sondern der Würdigung von Perikles’ tadelloser Lebensführung. Plutarch beginnt mit dem Urteil, Perikles sei nie geldgierig gewesen und trotz seiner Macht unbestechlich geblieben. Er habe sich allerdings nicht völlig des „Gelderwerbs“ (χρηματισμός) enthalten, sondern danach getrachtet, dass ihm sein „väterlicher und gerechter Reichtum“ weder durch „Unachtsamkeit“ (ἀμελούμενος) verloren gehe, noch dessen Verwaltung ihm durch „vielfältige Geschäfte und Beschäftigungen, die Muße raube“. Deshalb habe er eine „Haushaltsführung“ (οἰκονομία) eingeführt, die zugleich „leicht und äußerst exakt“ (ῥᾴστην καὶ ἀκριβεστάτην) gewesen sei.156 Perikles gelang laut diesem Enkomium also nicht weniger, als den Normenkonflikt zwischen der Rolle des Bürgers und der Rolle des Hausvaters glücklich zu lösen. Plutarchs Bericht enthält die Schlagwörter, mit denen im 4. Jh. die Effizienz guter Hauswirtschaft beschrieben wurde: Das Verb amelein als Verweis ex negativo auf das ‚Sorgetragen‘, eumeleia, eumelein, und die Attribute ‚leicht‘ und ‚genau‘, rhastos und akribēs (vgl. Kap. 13.1). Eine Passage aus Isokrates’ Rede Über den Frieden (355) erlaubt die Vermutung, dass Plutarchs Bericht auf einen Text des 4. Jhs. zurückgeht, der Teil eines Diskurses über die Tugend des Perikles war. Denn dort heißt es, Perikles sei – anders als den ‚heutigen‘ Rednern und Demagogen, die sich am Gemeinwesen bereichern – nichts an „privatem Erwerb“ (τὸν ἴδιον χρηματισμόν) gelegen, weshalb er sein Vermögen geringer hinterließ, als er es geerbt hatte.157 Interessant ist die Abweichung zwischen Isokrates und Plutarch. Entweder Isokrates ignorierte Perikles’ praktische Vernunft in der Haushaltsführung, um Perikles’ Selbstlosigkeit in noch schärferen Kontrast zum Sittenverfall der eigenen Zeit zu stellen. Oder Plutarch folgte einer Tradition, die Perikles zum Vorbild stilisierte, indem sie ihn auf allen Feldern glänzen ließ. In jedem Fall scheint es, dass bereits im 4. Jh. die Tatsachen über Perikles’ Haushaltsführung nicht mehr bekannt oder jeden-
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Aristoph. Pax 119–123; vgl. 190 zur Selbstbezeichnung. Den Hinweis auf den Zusammenhang verdanke ich Hans van Wees. [Demosth.] 35.32, 34; Plat. leg. 8, 849d. Plut. Perikles 16.3. Isokr. 8.124–126.
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falls nebensächlich waren gegenüber den rhetorisch-didaktischen Absichten der berichtenden Autoren. Einige Indizien sprechen gleichwohl dafür, dass Plutarchs Bericht einen historischen Kern hat. Das beste Indiz ist, dass Plutarch nicht mehr genau verstand, worum es bei Perikles’ Haushaltsführung eigentlich ging. Sein Bericht liest sich so:158 Er [Perikles] verkaufte den Jahresertrag seiner Güter als Ganzes und ließ dann alles, was er für den Haushalt brauchte, einzeln auf dem Markt einkaufen. Seine erwachsenen Söhne hatten wenig Freude an diesem Regiment; auch den Frauen gegenüber war er keineswegs freigebig, und sie beklagten sich bitter, dass sie das Haushaltsgeld nur für einen Tag und aufs Genaueste berechnet erhielten und nie, wie es einem großen und reichen Haus anstehe, aus dem Vollen schöpfen könnten, weil jede Ausgabe und jede Einnahme peinlich abgezählt und abgemessen werde (παντὸς μὲν ἀναλώματος, παντὸς δὲ λήμματος δι’ ἀριθμοῦ καὶ μέτρου βαδίζοντος). Obwohl die Rechnung in dieser sorgfältigen Weise (ἀκρίβεια) geführt wurde, lag sie in den Händen eines einzigen Sklaven, des Euangelos, der zur Haushaltsführung (πρὸς οἰκονομίαν) wie kein Zweiter befähigt war oder aber durch Perikles eine besondere Schulung erhalten hatte.
Der Gesamtverkauf der Erträge und die anschließende Bedarfsdeckung auf dem Markt diente eher nicht der Ordnung der Haushaltsführung, wie Plutarch annimmt. Perikles ahmte vielmehr eine Praxis nach, die bei kleinen attischen Haushalten aus der Not geboren war, weil diesen der Platz zur Vorratshaltung fehlte und sie Einnahmen zur Deckung ihres Geldbedarfs brauchten. Indem Perikles gleich nach der Ernte auf einen Schlag verkaufte, verzichtete er ostentativ auf die Möglichkeit, seinen Gewinn durch
158
Plut. Perikles 16.4–6: τοὺς γὰρ ἐπετείους καρποὺς ἅπαντας ἀθρόους ἐπίπρασκεν, εἶτα τῶν ἀναγκαίων ἕκαστον ἐξ ἀγορᾶς ὠνούμενος διῴκει τὸν βίον καὶ τὰ περὶ τὴν δίαιταν. ὅθεν οὐχ ἡδὺς ἦν ἐνηλίκοις παισὶν οὐδὲ γυναιξὶ δαψιλὴς χορηγός, ἀλλ’ ἐμέμφοντο τὴν ἐφήμερον ταύτην καὶ συνηγμένην εἰς τὸ ἀκριβέστατον δαπάνην, οὐδενὸς οἷον ἐν οἰκίᾳ μεγάλῃ καὶ πράγμασιν ἀφθόνοις περιρρέοντος, ἀλλὰ παντὸς μὲν ἀναλώματος, παντὸς δὲ λήμματος δι’ ἀριθμοῦ καὶ μέτρου βαδίζοντος. ὁ δὲ πᾶσαν αὐτοῦ τὴν τοιαύτην συνέχων ἀκρίβειαν εἷς ἦν οἰκέτης Εὐάγγελος, ὡς ἕτερος οὐδεὶς εὖ πεφυκὼς ἢ κατεσκευασμένος ὑπὸ τοῦ Περικλέους πρὸς οἰκονομίαν. Adapt. Übers. K. Ziegler. Quellenkritische Vorsicht ist gerade in Bezug auf diese Passage zu selten geübt worden, die gerne als Beweis einer Epochenwende der Wirtschaftsgeschichte zitiert wird; vgl. etwa Singer 1958, 47: „the birth of the idea of a rational and systematic ordering of the whole of household-affairs, following broad principles and ruthlessly applying logic to the details formerly left to tradition, routine and chance.“ Nicht ganz so weit geht Spahn 1984, 313: „Aus dieser Quelle geht deutlich hervor, daß Perikles bewußt mit der traditionellen Haushaltsführung brach, wie sie in adligen οἰκίαι üblich war […].“ Campbell 1983 folgt dem ‚Rationalisierungssnarrativ‘, aber dreht die Deutung um: Plutarch habe Perikles mit seiner Schilderung für dessen wertfreie instrumentelle Rationalität kritisieren wollen, welche die modernen Wirtschaftswissenschaften vorwegnehme; diese Deutung ist originell, aber nicht überzeugend.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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stückweisen Verkauf seiner Vorräte in Zeiten der Verknappung (und damit auf Kosten der kleinen Haushalte) zu maximieren.159 Die anschließende Wendung, die Söhne und Frauen im Haus hätten die genaue Festsetzung ihrer Zuwendungen beklagt, trägt topische Züge. Ehefrauen und Söhne galten als potentielle Verschwender, die vom Hausvater kontrolliert werden mussten.160 Die Rationierung der Ausgaben auf Tagesbasis entspricht allerdings zeitgenössischen Quellen der klassischen Zeit und wird auch bei Perikles’ Zeitgenossen Aristophanes angedeutet, genau wie die Einsetzung eines Gesamtverwalters des Vermögens (vgl. Kap. 10.1.2) und Plutarch weiß immerhin einen Namen, Euangelos, anzugeben – die Historizität von Plutarchs Schilderung ist demnach möglich, wenngleich nicht beweisbar.161 Das zeitlich nächste literarische Quellenzeugnis für häusliche Buchführung findet sich ebenfalls bei Aristophanes, in der Anfangsszene der Wolken (423). Umgetrieben von der Angst, von der großspurigen Lebensweise seines Sohnes ruiniert zu werden, lässt sich Strepsiades von seinem Sklaven das „Buch“ (γραμματεῖον) bringen, um seine Schulden zu prüfen und „den Zins zu berechnen“ (λογίσωμαι τοὺς τόκους).162 Er liest den ersten Eintrag vor: „zwölf Minen an Pasias“.163 Weil er keinen Zweck angegeben hat (wie es die Abrechnungsinschriften taten), muss er kurz grübeln, bevor er sich daran erinnert, dass der Betrag für den Kauf eines Rennpferds ausgegeben wurde. Der nächste Eintrag gibt den Zweck hingegen an: „drei Minen für ein Wagenbrettlein und ein Paar Räder an Amynias“.164 Ste. Croix zitiert diese Passage als Zeugnis für die primitive narrative Buchführung, die typisch für „the ordinary Greek“ gewesen sei.165 Dieses Urteil ignoriert die Funktion dieser Eröffnungsszene im Rahmen des Gesamtstücks. Sie führt Strepsiades als bäurischen, geizigen Aufsteiger vor. Sein wirtschaftlicher Erfolg hat ihn zwar vom Land in die Stadt gebracht, aber die Besonderheiten des dortigen Lebens – adlige Lebensführung, neue, höhere Bildung, Gerichtsprozesse und Geldkredite – überfordern ihn. Wie in anderen Stücken benutzt Aristophanes das Thema Geldgebrauch, um den Unterschied von Stadt und Land vorzuführen.166 Komisch, und der Charakterisierung der bäurischen Hauptfigur dienlich, ist Strepsiades’ Vortrag aus seinem Schuldenbuch gerade deshalb, weil seine Buchführung nicht dem State-of-the159
Singer 1958, 48 f.; Reuthner 2006, 112–116; vgl. Kap. 14.3. Irreführend ist die Interpretation bei Stadter 1989, 198. 160 S. Kap. 10.2 und 11.4. 161 Aristoph. Pax 1240–1250 zur Rationierung; Equ. 946–950 zum Einsetzen eines Gesamtverwalters. Die von Stadter 1989, 197 f. aufgeführten komischen oder polemischen Quellen, die vielleicht Perikles’ Sparsamkeit verspotteten, scheinen plausibel, es fehlen jedoch jegliche Anhaltspunkte, um Genaueres zu sagen. 162 Aristoph. Nub. 18–20. 163 Nub. 21: δώδεκα μνᾶς Πασίᾳ. 164 Nub. 31. 165 Ste. Croix 1956, 29. 166 Vgl. die berühmte Marktszene in den Acharnern; dazu Kap. 14.3 und Spielvogel 2001, 65.
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Art städtischer Geldwirtschaft entspricht, sondern unsystematisch und kläglich ist.167 Ein Detail stützt diese Interpretation. Strepsiades lässt sich sein Buch bringen, weil er „sieht“, dass der Mond „in den Zwanzigern steht“. Der lunare Monat hat also den 20. Tag überschritten und neigt sich dem Ende zu. Ein solcher Blick zu den Sternen natürlich keine genaue Datumsbestimmung.168 Für die traditionelle Landwirtschaft (man denke an Hesiods Werke) mag diese Zeitbestimmung ausreichen, für die städtische Geldwirtschaft ist sie zu ungenau und führt in den Ruin.169 Aristophanes’ Wolken führen die ungenügende Buchführung eines ‚Bauern‘-Haushalts vor. Welche Buchführung etwa zur selben Zeit in einem Kaufmanns-Haushalt denkbar war, zeigt die Lysias-Rede Gegen Diogeiton. Die Rede erwähnt eine ganze Reihe von Dokumenten. Das erste Dokument ist das Testament, das Diodotos 409 vor Antritt seines verhängnisvollen Militärdienstes anfertigte und zusammen mit einem Deposit seinem Bruder Diogeiton aushändigte, den er als Vormund seiner Kinder einsetzte. Laut dem Sprecher der Rede enthielt es ein Vermögensinventar samt Schuldtiteln (v. a. Seedarlehen) und Einzelbestimmungen zur Mitgift und Aussteuer seiner Frau und seiner Tochter. Eine Kopie/Kopien (ἀντίγραφα) hinterlegte er „im Haus“ (οἴκοι), als er aufbrach. Nach dem Tod des Diodotos habe Diogeiton dessen „zurückgelassene versiegelte Schriftstücke“ (τἀ γράμματα […] ἃ κατέλιπε σεσημασμένα) unter dem Vorwand an sich genommen, die ausstehenden Seedarlehen eintreiben zu wollen.170 Diese Behauptung verrät, dass die hinterlassenen Schriftstücke zahlreicher waren als es zunächst schien, obwohl unsicher bleiben muss, ob das Testament eines dieser Schriftstücke war.171 Diogeitons Begründung für die Inbesitznahme der Doku-
167 Aristophanes verwendet statt des sonst üblichen δίφρος (das Brett, auf dem der Wagenlenker steht) den unüblichen Diminutiv διφρίσκος. Harris 1989, 67 f. mahnt an, den Komödien-Kontext zu berücksichtigen, zieht daraus aber andere Schlüsse. Die Komödie steht vielleicht im Kontext eines Kulturwandels: Das berühmte Kallias-Dekret (434/3) fordert die Logistai ausdrücklich dazu auf, exakt zu berechnen, was die Stadt Athen den Göttern schulde (IG I3 52, 7–9: λογισάσθον […] τὰ ὀφελόμενα τοῖς θεοῖς ἀκρ- | [ιβο]ς); vgl. dazu Davies 1994, 208. 168 Sommerstein 1984, 159. 169 Bei Theophr. char. 4.15 erkundigt sich der agroikos, wenn er in die Stadt kommt, beim Archon, ob Neumond ist; er ist also mit dem präzisen, amtlich festgesetzten Kalender der Stadt nicht vertraut; Aristophanes spielt auch später in den Wolken mit dem Kontrast von ländlicher und städtischer Wirtschaft und der Unwissenheit des Bäurischen über den Zeitrhythmus städtischen Kredits: In der Konfrontation mit dem Gläubiger Amynias fragt Strepsiades „was der Zins für ein Tier (θηρίον) sei“, Nub. 1286 (zugleich ein Wortspiel mit der doppelten Bedeutung von tokos; Amynias antwortet, es sei ein „silbernes Ding“, das „jeden Monat und von Tag zu Tag“ (κατὰ μῆνα καὶ καθ᾽ ἡμέραν) wachse, ebd. 1287–1289. 170 Lys. 32.5–7. 171 Adams 1905 und Carey 1989 weisen ad loc. darauf hin, dass der Redner sich später nie mehr auf das Testament bezieht; Thalheims Vorschlag, die Lacuna in § 7 mit τὰ δ’ ἀντίγραφα zu füllen ist deshalb attraktiv; es würde bedeuten, dass Diogeiton das Testament verschwinden ließ; der Redner schlägt allerdings nie Kapital daraus, dass Diogeiton sich geweigert habe, das Testament herauszurücken; stand womöglich weniger darin als er in § 6 suggeriert?
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mente ist plausibel. Platons Testament172 verweist auf eine gesondert aufbewahrte Einzelauflistung von Vermögenswerten, und ein ähnlicher Verweis auf die Urkunden zu den Seedarlehen könnte in Diodotos’ Testament gestanden haben.173 Denn diese Dokumente ermöglichten es den Erben, Darlehen zurückzufordern, wenn die Schuldner nach dem Tod des alten Hausvaters ‚vergesslich‘ wurden.174 Die Äußerungen des Redners zum Vermögen des Diodotos bestechen durch Unklarheit. Es bleibt unsicher, welches Dokument welchen Vermögenswert oder Schuldtitel bezeugte; die Aussteuer der Witwe wird nicht nach ihrem Geldwert angegeben, obwohl das allgemein üblich war;175 einige Vermögenswerte werden erst im Verlauf der Rede beiläufig erwähnt (über das Hausmobiliar heißt es nur schwammig, es sei „sehr wertvoll“ gewesen); der Gesamtwert des Vermögens wird nie angegeben.176 Diese Unklarheiten sind nicht als Belege für mangelhafte Buchführung zu verstehen. Erklären lassen sie sich mit dem ursprünglichen Kontext unserer Quelle, dem mündlichen Vortrag vor Laienrichtern, die vor der Urteilsfindung nicht miteinander berieten. Die Regeln der Rhetorik verboten es, die Zuhörer mit Details zu langweilen. Und taktisch war es klug, die Summe des angeblich unterschlagenen Vermögens groß erscheinen zu lassen und ein Nachrechnen zu erschweren. Das interessanteste Schriftstück, das der Sprecher der Lysias-Rede erwähnt, ist ein „weggeworfenes/verlegtes Buch“ (ἐκβεβηκλημένῳ βιβλίῳ) des Diogeiton, auf das man „zufällig“ gestoßen sei, als Diogeiton aus dem gemeinsamen Wohnhaus auszog.177 Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass dem angeblich gerissenen Geschäftsmann ein solches Ungeschick passierte, gerade in dem Moment als sich erste Anzeichen für einen Konflikt mit der Familie seiner Tochter zeigten.178 Wie auch immer die Witwe und ihre Söhne an das Buch gelangten: Sie benutzten es, um Diogeiton die Unterschlagung von Vermögenswerten vorzuwerfen, die fehlten, als er den Knaben am Ende seiner Vormundschaft ihre Vermögen aushändigte.179 Für die Echtheit des Buchs spricht, dass Diogeiton auf die Vorwürfe reagierte und zur Rechtfertigung eine „Abrechnung“
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179
Diog. Laert. 3.41–43; s. Bruns 1880, 3–6 zur Echtheit; vgl. Schulin 1882, 29. Diog. Laert. 3.43: τὰ γεγραμμένα, ὧν ἔχει ἀντίγραφα Δημήτριος. Apollodoros soll mit Hilfe der grammata, die sein Vater, der Bankier Pasion, hinterließ, Außenstände im Wert von 20 Tal. eingeholt haben, Demosth. 36.36; [Demosth.] 49 und 52 zeigen, dass es dabei auch zu Gerichtsprozessen kam. Schaps 1979, 101–105. Die zusätzlichen Posten bei Lys. 32.15; möglich ist, dass die Posten bereits am Anfang angegeben wurden, aber einer Lacuna im überlieferten Text zum Opfer fielen. So vermutet Sauppe, dem Carey in seiner Oxford-Ausgabe folgt. Lys. 32.14. Der Gemeinplatz bei Carey 1989, 217, „malefactors are frequently less careful with documentary evidence than self-interest dictates“, erscheint als Erklärung unbefriedigend; wahrscheinlicher ist, dass Diodotos’ Familie bereits länger fürchtete, dass es zum Konflikt kommen könnte und deshalb rechtzeitig wichtige Dokumente sicherte. Lys. 32.12–15; zu dieser Szene Kap. 10.2.4.
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(λογισμός) der Unterhaltsausgaben während seiner Vormundschaft vorlegte.180 Der Rest der Rede ist eine Demontage dieser Abrechnung. Der Redner meint zwar, es sei zu viel Arbeit, den Richtern „jeden Posten einzeln vorzurechnen“ (καθ’ ἕκαστον […] λογίζεστθαι);181 gleichwohl stützt er seine Widerlegung auf das Argument, dass Diogeitons Buchführung allen Prinzipien vernünftiger Finanzkalkulation widerspreche. Dementsprechend wertvoll ist die Rede als Quelle für das hauswirtschaftliche Rechnungswesen. Der erste Stein des Anstoßes ist die Gesamtsumme der „Eingänge und Ausgänge“ (λῆμμα καὶ ἀνάλωμα – im Singular), die Diogeiton für den Lebensunterhalt der drei Kinder für acht Jahre mit genau sieben Talenten und 4.000 Drachmen „vorwies“ (ἀποδεῖξαι). Der Redner ärgert sich über diese maßlos übertriebene Summe und über den buchhalterischen Trick, der dahinter steckt: Es handle sich genau um die Summe der von Diodotos vor seinem Tod vergebenen Seedarlehen, die Diogeiton eingetrieben und dann unterschlagen habe.182 Um diese glatte Bilanz von Einnahmen und Ausgaben zu erreichen, lieferte Diogeiton anstelle einer detaillierten Kostenrechnung eine fiktive Gesamtkalkulation ab:183 Und er trieb’s soweit mit seiner Schändlichkeit, da er ja nicht wusste, wie er das Geld verbuchen sollte (ὅποι τρέψειε τὰ χρήματα), dass er fürs Essen (εἰς ὄψον) von zwei Söhnen und der Schwester fünf Obolen den Tag berechnete (ἐλογίζετο); für Schuhwerk (εἰς ὑποδήματα) und für den Walker [der Kleidung] (εἰς γναφεῖον) und den Frisör (εἰς κουρέως) machte er weder für den Monat noch für das Jahr Aufzeichnungen (κατὰ μῆνα οὐκ ἦν αὐτῷ οὐδὲ κατ᾿ ἐνιαυτὸν γεγραμμένα), sondern [berechnete] summarisch für die gesamte Zeit mehr als ein Talent Silber.
Die Passage hat einen technischen Klang. Die Bezeichnung der Ein- und Ausgänge im Singular lēmma kai analōma erinnert an die Überschriften einer Kontoübersicht ähnlich der Erechtheion-Abrechnung des Jahres 408/7. Wie in den Abrechnungsinschriften wird der Verwendungszweck jedes Postens mit der Präposition eis markiert. Und auch die Wendung trepseie ta chrēmata, „das Geld in eine Richtung wenden,“ bezieht sich allein auf die Buchführung, nämlich auf die Frage, wo man einen einzelnen Betrag 180 § 19 mit Carey 1989, 217. 181 Lys. 32.26: καθ’ ἕκαστον μὲν οὖν […] πολὺ ἂν ἔργον εἴη πρὸς ὑμᾶς λογίζεστθαι. 182 § 20; die Handschriften nennen allerdings ἑπτὰ τάλαντα ἀργυρίου καὶ ἑπτακισχιλίας δραχμάς und dem folgt etwa Lamb in seiner Loeb-Ausgabe; weil ein solcher Wert allerdings mit den zuvor gegebenen Einzelposten nicht glatt zu erreichen ist und in § 28 die Summe, deren Besitz Diogeiton zugab, mit ἑπτὰ τάλαντα καὶ τετταράκοντα μνᾶς angegeben wird, hat Herwerden eine Korrektur in § 20 vorgeschlagen, der Carey in seiner Oxford-Ausgabe folgt; zum Problem Carey 1989, 220; vgl. Adams 1905, 305. 183 Lys. 32.20: καὶ εἰς τοῦτο ἦλθεν ἀναισχυντίας, ὥστε οὐκ ἔχων ὅποι τρέψειε τὰ χρήματα, εἰς ὄψον μὲν δυοῖν παιδίοιν καὶ ἀδελφῇ πέντε ὀβολοὺς τῆς ἡμέρας ἐλογίζετο, εἰς ὑποδήματα δὲ καὶ εἰς γναφεῖον {ἱμάτια} καὶ εἰς κουρέως κατὰ μῆνα οὐκ ἦν αὐτῷ οὐδὲ κατ᾿ ἐνιαυτὸν γεγραμμένα, συλλήβδην δὲ παντὸς τοῦ χρόνου πλεῖν ἢ τάλαντον ἀργυρίου. Übers. U. Treu.
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verbuchen soll, damit die Gesamtrechnung stimmt. Die Kritik an Diogeitons betrügerischer Buchführung erlaubt den Rückschluss darauf, wie sich der Redner – und sein Publikum – eine ordentliche Buchführung vorstellten. Die Berechnungsgrundlage für Lebenshaltungskosten sollte der Tag sein. Ausgaben sollten monatsweise gruppiert sein und für jedes Jahr Bilanz gezogen werden. Eine summarische Bilanz für acht Jahre ist grotesk ungenügend. Das Pochen auf die Standards guter Buchführung stimmt erstaunlich genau damit überein, dass 409/8, demselben Jahr, in dem Diogeiton seine Vormundschaft antrat, mit der ersten Erechtheion-Abrechnung erstmals eine Bauabrechnung publiziert wurde, die alle Einzelposten angab und sie monatsweise gruppierte (s. o.). Wie in den Erechtheion-Abrechnungen waren in der vom Redner zitierten Abrechnung die Ausgaben sachlich nach Kostenart gegliedert: Das ergibt sich aus der Kritik des Sprechers, die Angaben für Schuhe, Schneider und Friseur seien noch unzulänglicher als die für die Lebenshaltung, und aus der folgenden sachlich gegliederten Aufzählung weiterer Ausgaben, die Diogeiton alle „zu der Gesamtsumme hinzurechnete“.184 Die dritte Parallele von Bauabrechnungen ist, dass Diogeitons Kosten-Abrechnung nach Art eines Kontoauszugs gestaltet war. Der Sprecher der Lysias-Rede betitelt sie mit lēmma kai analōma, obwohl es sich um eine reine Ausgabenabrechnung handelt185 – über Einnahmen aus Gewinnen hatte Diogeiton separat buchgeführt.186 Wie wir sahen, führten die ‚Kontoauszüge‘ aus Epidauros und Delphi nicht alle Gelder auf, welche die Kommissionen dort verwaltet hatten, sondern nur diejenigen, die für die Kosten des Tempelbaus aufgewendet worden waren. Ihre ‚Einnahmen‘ waren Zahlungen der Schatzmeister auf Rechnung / zugunsten der Baukommission. Diogeitons Abrechnung war vermutlich ähnlich angelegt. Er trug als „Ausgänge“ (analōma) die Ausgaben ein und unter „Eingänge (lēmma) die jeweiligen Belastungen des Vermögens der Enkel. Denn als Vormund, der das Vermögen für seine Mündel verwaltete und die geschuldeten Beträge an den Walker, den Schuhmacher usw. auszahlte, befand sich Diogeiton strukturell in der gleichen Mittlersituation wie die Baukommissare, die im Auftrag der Eigentümer aus den Kassen der Städte und Heiligtümer die Lieferanten und Bauunternehmer auszahlten. Faktisch gesehen war das Vermögen seiner Mündel ebenso in seiner Hand wie sein eigenes, aber buchhalterisch musste Diogeiton zwischen sich als Eigentümer seines eigenen Vermögens und als Treuhänder des Mündelvermögens unterscheiden.187 184 § 21 f.: ἃ πρὸς τὸ κεφάλαιον συνελογίζετο. 185 § 20: εἰς δύο παῖδας καὶ ἀδελφὴν λῆμμα καὶ ἀνάλωμα ἐν ὀκτὼ ἔτεσιν ἑπτὰ τάλαντα ἀργυρίου καὶ ἑπτακισχιλίας δραχμὰς ἀποδεῖξαι. 186 Im wiedergefundenen Rechnungsbuch waren u. a. die zurückgezahlten Darlehen als einmalige Eingänge verzeichnet, daneben „für jedes Jahr“ (καθ’ ἕκαστον ἐνιαυτόν) Getreidelieferungen aus der Chersones, Lys. 32.13–15. 187 Vgl. § 25: angeblich investierte Diogeiton in eine Handelsfahrt, deren Risiko das Mündelvermögen trug, aber schrieb sich selbst den Gewinn zu, als das Unternehmen erfolgreich war.
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Rhetorische Nebelschleier verhindern die zweifelsfreie Prüfung der These, dass Diogeiton seine Verwaltung des Mündelvermögens mit doppelten Buchungen dokumentierte (vgl. Kap. 13.3.2). Aber ein Indiz stärkt ihre Plausibilität. Der Redner der Lysias-Rede schildert einen weiteren Trick, mit dem Diogeiton angeblich die Kosten aufblähte, um seine Unterschlagungen zu kaschieren. Einige Ausgaben bestritten Diogeiton und seine Mündel gemeinsam und teilten sich die Kosten (das Grabmal für den Vater, ein Opfertier, eine Syntrierarchie), wobei er die eine Hälfte trug und die andere den Mündeln „anrechnete“ (λελόγισται).188 Diogeiton habe dabei in die Abrechnung immer den doppelten Betrag der realen Kosten eingetragen, so dass die Kosten nur scheinbar auf beide Vermögen aufgeteilt waren, tatsächlich aber nur dasjenige der Mündel belastet wurde. Hier zeigt sich ein weiterer Grund, warum eine Kontoführung mit doppelten Buchungen bei einer Vormundschaft sinnvoll waren. Wie bei einer Geschäftspartnerschaft betrafen manche Ausgaben Vormund und Mündel gemeinsam (die ordentliche Bestattung des Diodotos, der zugleich Vater und Bruder war, betraf ihr ‚ganzes Haus‘) andere hingegen nur eine der beiden Parteien (die Lebenshaltungskosten der Kinder nur ihren Haushalt). Um trotz der faktischen Verwaltung der Gelder durch eine Hand (Diogeitons) die Übersicht zu bewahren und am Ende der Partnerschaft korrekt abrechnen zu können, führte man ein Ausgabenkonto separat zum Vermögensinventar, das in Form des väterlichen Testaments und sonstigen Aufzeichnungen bereits vorlag.189 Diogeitons angeblicher Trick beruhte nun darauf, dass seine Abrechnung intern rechnerisch stimmig war, weil jedem Ausgang im Vermögensinventar der Mündel ein gleich hoher Eingang auf dem Ausgabenkonto der Vormundschaft entsprach. Deshalb überprüfte der Sprecher die externe Stimmigkeit der Rechnung, indem er den Bruder des (offenbar verstorbenen) Syntrierarchen aufsuchte, und ihn um dessen Abrechnung (logos) der Trierarchie bat. Der Bruder hatte diese Unterlagen tatsächlich archiviert und so flog Diogeitons buchhalterischer Trick auf.190 Die Rede Gegen Diogeiton zeigt nicht nur, wie man die Ausgaben schriftlich dokumentierte, sondern auch wie man die Kosten der Bedarfsdeckung prognostisch kalkulierte. Nachdem der Sprecher die Glaubwürdigkeit von Diogeitons Kostenabrechnung untergraben hat, kontert er sie mit einer Modellrechnung. Auf die Haben-Seite seiner Bilanz setzt er die Summe von sieben Talenten und 40 Minen, deren Erhalt Diogeiton zugab. Um seine Rechnung als großzügige Minimalrechnung darzustellen, betont der Redner, dass diese Haben-Summe nicht die „Einkünfte“ (πρόσοδοι) enthielt, die ein so großes Vermögen unter normalen Bedingungen während der achtjährigen Vormundschaft hätten erbringen müssen, und fügt hinzu, seine Schätzung der Unterhaltskosten
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§ 21, 24. Vgl. Demosth. 41.4 für einen Fall, wo man mithilfe von Abrechnungen eine gemeinsame Haushaltsführung wieder auflöste. 190 Lys. 32.26 f. Die Stelle ist zugleich ein weiterer Beleg für die ‚Familien-Archive‘ griechischer Haushalte.
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jährlich für die drei Kinder, einen Paidagogos und eine Dienerin auf 1.000 Dr. sei „höher als sie jemand in dieser Stadt je (angesetzt) habe“, nämlich fast drei Drachmen täglich: Insgesamt beliefen sich die geschätzen Kosten für acht Jahre also auf 8.000 Dr. Zöge man diesen Betrag vom Erbe ab, ergebe sich ein „Überschuss“ (περιόντα) von sechs Talenten und 20 Minen. Diese Rechnung sei korrekt, denn Diogeiton könne keine Abzüge mit Verweis auf Piraten(-überfälle), Geschäftsverluste oder Schuldentilgung geltend machen.191 Dem Redner schwebt in den letzten Sätzen offenbar eine Gesamtbilanz von Einnahmen und Ausgaben vor, wie die oben besprochene Abrechnung aus Delos für die Jahre 377–373. Wiederum ist dem Redner nicht allzu wörtlich zu glauben. Einige Kostenpunkte unterschlägt er, die geschätzte Gesamtsumme ist zum eigenen Vorteil abgerundet.192 Die konkreten Zahlen der Modellrechnung sind also aus taktischen Gründen unzuverlässig; aber als argumentatives Mittel setzt sie voraus, dass die Idee, den Verbrauch eines Haushalts für mehrere Jahre in Geldausgaben zu schätzen, die Zuhörer nicht überraschte – man vergleiche die Behauptung des Sprechers, dass niemand sonst in Athen mit drei Drachmen täglich rechne. Daraus lassen sich drei Schlüsse ziehen. Erstens war es für Athener bereits um 400 selbstverständlich – oder zumindest nachvollziehbar – Einkünfte und Lebenshaltungskosten in Geldwerten zu berechnen und anhand von Durchschnittswerten Prognosen zu erstellen. Zweitens erfüllten solche Schätzungen einen doppelten Zweck: die vorausschauende Berechnung zukünftiger Einnahmen und Ausgaben und die rückblickende Kontrolle eines Vermögensverwalters. Wenn die in den Büchern dokumentierten Posten zu sehr von den Schätzwerten abwichen, nötigte das den Verwalter zumindest zu einer Erklärung. Drittens konnte die Buchführung zwar bei Bedarf komplex sein, blieb aber im System der Hauswirtschaft verankert. Der Sprecher behandelt zwar vornehmlich Lebenshaltungskosten, erwähnt jedoch zwischendurch Geschäftsinvestitionen, ohne ‚Privatvermögen‘ und ‚Geschäftsvermögen‘ zu trennen. Selbst die Trennung zwischen den zwei rechtlich getrennten Vermögen (oikoi) des Vormunds und seiner Mündel war praktisch schwierig, wenn sie, wie in diesem Fall, über Jahre hinweg faktisch Teil des Haushalts (oikos) waren.
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§ 28 f.; der Redner sagt genaugenommen nicht, dass solche Verluste nicht eingetreten waren, sondern nur, dass Diogeiton sie nicht vorweisen könne; womöglich hätte der Nachweis solcher Verluste die Offenlegung von Diogeitons eigener Buchführung erzwungen, die wiederum dem Sprecher und seiner Partei wertvolle Informationen geliefert hätte. § 8 mit Carey 1989, 224; nicht erwähnt werden die zwei Mitgiften von jeweils zwei Talenten, die zum Zeitpunkt der Rede bereits gezahlt waren; unterschlagen wird weiter, dass der Zeitraum der Berechnung, die Jahre 409–401, zum größeren Teil schwere Kriegszeit war und die Lebensmittelpreise dementsprechend hoch, die Möglichkeiten für Investitionen hingegen gering waren; vgl. Adams 1905, 311; Carey, op. cit., 223. Zur Berechnung: Vereinfacht man die ‚fast drei Drachmen‘ des Redners zu drei Drachmen und legt der Rechnung ein attisches Jahr mit 354 Tagen zugrunde, ergibt sich für acht Jahre eine Summe von 8.496 Drachmen. Das Abrunden des Redners lässt also annähernd 500 Drachmen unter den Tisch fallen.
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13.3.4 Die Berechnung der Einkünfte des Haushalts Die Lysias-Rede Gegen Diogeiton behandelt vor allem die Berechnung und Dokumentation von Ausgaben. Ihre beiläufigen Erwähnungen von Investitionen deuten jedoch an, das eine vollständige hauswirtschaftliche Buchführung Ausgaben und Einnahmen differenziert erfasste. Die pseudo-aristotelische Ökonomik rät dazu, den (Gesamt-) Besitz in seine Einzelteile aufzugliedern und meint, „der ertragbringende Besitz müsse größer sein als der ertraglose“ (διῃρῆσθαι δὲ δεῖ τούτων ἕκαστον, καὶ πλείω τὰ κάρπιμα εἶναι τῶν ἀκάρπων).193 Der knappe Ratschlag wird nicht weiter erläutert und erscheint banal. Es steckt allerdings etwas mehr dahinter. Die kurze Regel verweist nämlich mit der Wendung diērēsthai toutōn hekaston auf die buchhalterische Detailaufstellung des Vermögens, die der Sprecher der Lysias-Rede als kath’ hekaston logizesthai bezeichnet.194 Sie verweist außerdem auf die Trennung von ‚ertragbringendem‘ und ‚ertraglosen‘ Kapital. Sowohl die sachliche Aufgliederung des Vermögens als auch die Unterscheidung von ertragbringenden und ertraglosen Vermögensteilen begegnet in Aristoteles’ Rhetorik wieder, wo erstere als diejenigen Reichtümer definiert werden, die „Früchte“ resp. „Einkünfte“ (τὰ κάρπιμα, πρόσοδοι) bringen. Das Bewertungsschema der Vermögenswerte ist in der Rhetorik allerdings komplexer. Es umfasst neben ökonomischen Kriterien – Menge, Umfang, Nutzen – und ökonomisch relevanten Kriterien – sind die Güter oikeia, „hauseigen“, hat man also uneingeschränkte Verfügung über sie? – sind sie asphalēs, sicher? – auch außerökonomische Kriterien: Schönheit und Freiheitlichkeit.195 Es ist typisch für die Hauswirtschaft, dass die Maßstäbe zwar analytisch getrennt werden, aber alle als relevant erachtet werden. Die Relevanz der Bewertungskategorien der Rhetorik in der Praxis der hauswirtschaftlichen Buchführung zeigen Demosthenes’ Reden im Prozess gegen seinen ehemaligen Vormund Aphobos (364/3) wegen Vermögensunterschlagung.196 Die Ausgangssituation ähnelt derjenigen der Lysias-Rede gegen Diogeiton. Die Vormünder hatten Demosthenes’ Erbe, das aus Bargeld, Schuldtiteln und zwei Werkstätten bestand, nicht verpachtet oder in Land umgewandelt, was am einfachsten und sichersten gewesen wäre, sondern direkt bewirtschaftet. Das geschah, weil eine direkte Bewirtschaftung ertragreicher war, und wohl auch, um das Vermögen vor Liturgien und Vermögenssteuern zu verbergen.197
193 [Aristot.] oec. 1, 1344 b 28 f.; der zweite Teil der Aussage stimmt mit oec. 2, 1346 a 15 f. überein. 194 Demosth. 27.50. 195 Aristot. rhet. 1, 1361 a 12–19: πλήθει καὶ κάλλει διαφερόντων, ταῦτα δὲ πάντα καὶ ἀσφαλῆ καὶ ἐλευθέρια καὶ χρήσιμα. 196 Zu den Reden als Zeugnisse für Demosthenes’ väterliches Vermögen s. Schwahn 1929; Korver 1941; Davies 1971, 123–133; Will 2013, 23–27. 197 Schwahn 1929, 36–38; Davies 1971, 128 f. Demosthenes antizipiert, dass seine Gegner die Einträglichkeit der Nichtverpachtung als Argument anführen werden, Demosth. 27.59.
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Wie bei der Analyse der Lysias-Rede ist zu beachten, dass Demosthenes’ Rede nicht einfach eine Abrechnung vorträgt, sondern eine rhetorisch ausgefeilte Darstellung von angeblich erlittenem Unrecht. Demosthenes übertreibt und unterschlägt, nennt verwirrend viele Zahlen und zieht doch keine Summe, lässt an entscheidenden Stellen Lücken.198 Die Gründe für Demosthenes scheinbar dilettantischem Umgang mit der Buchführung über sein Vermögen sind leicht gefunden. Demosthenes, zum Zeitpunkt der Rede erst seit zwei Jahren vollmündig, fehlten persönliche Erinnerungen oder schriftliche Dokumente, auf die er sich bei seiner Anklage stützen konnte. Er durfte sein Publikum außerdem nicht mit Einzelheiten langweilen und er musste sie von der Schwere der moralischen Schuld seiner Vormünder und der Höhe des ihm zustehenden Schadensersatzes überzeugen. Die schnelle Aufzählung vieler Einzelposten ließ Demosthenes als Finanzexperten erscheinen und hinderte zugleich seine Zuhörer daran, diese Angaben nachzurechnen.199 Teil dieser Taktik ist es, die hypothetischen Gewinne der Werkstätten als festen Teil seines Erbes zu behandeln, sie zum „Anfangskapital“ (ἀρχαῖον) zu addieren und deshalb zu behaupten, das Erbe hätte sich in den zehn Jahren eigentlich verdreifachen müssen.200 Finley hat aus diesem Vorgehen geschlossen, dass weder Demosthenes noch sein Publikum die Grundlagen des Rechnungswesen beherrschten.201 Diese Deutung ignoriert den Kommunikations-Kontext. Die Zuhörer wussten vermutlich genau, dass Demosthenes in eigener Sache übertrieb, und akzeptierten das als Teil des Schauspiels eines spektakulären Erbschaftsstreits.202 Hätte eine nüchterne Sichtung der Bücher den Konflikt beilegen können, wäre er niemals vor einem Gerichtshof mit hunderten Richtern ausgetragen worden, sondern höchstens vor einen Schiedsrichter. Der hatte die Zeit und die notwendigen Dokumente, um die Sachlage zu beurteilen und Details durch Befragung der Parteien zu klären.203 In der Tat berichtet Demosthenes, dass man beim Schiedsgericht, das dem Gerichtsprozess vorausging, Aphobos’ „Aufzeichnungen“ (τοῖς γράμμασιν) „Posten für Posten“ (καθ’ ἕκαστον) durchgegangen sei.204 Hier wurde also genau jene sorgfältige Rechnungsprüfung kath’ hekaston angewandt, die als vorbildlich galt, für eine Gerichtsrede jedoch zu umständlich war. Um Demosthenes’ übertriebene Berechnungen zu erklären, ist neben dem Kommunikations-Kontext auch der Argumentations-Kontext wichtig. Demosthenes
198 Will 2013, 26 f. spricht passend von „Zahlenmagie“ und „Finanzoperette“. 199 Schwahn 1929, 2; Korver 1941, 9; Davies 1971, 126 f.; vgl. Demosthenes’ Selbstdarstellung als Finanzexperte in seinen ersten politischen Reden; dazu Moreno 2007, 251–260 und Rohde 2019, 255–266. 200 Demosth. 27.59. 201 Finley [1973] 1993, 135 f.; vgl. Millett 1991, 95 f. 202 So Will 2013, 27. 203 Vgl. Hunter 1994, 55–67 zum Schiedsverfahren in Athen. Vgl. für eine Detailprüfung der Bücher vor dem Schiedsrichter [Demosth.] 49.43 f. 204 Demosth. 27.49 f.; ähnlich § 53.
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13 Rationalisierung und Rationierung
nennt die hypothetisch aufgeblähte Vermögenssumme am Übergang von der Beweisführung zum Schlussplädoyer, in welchem er die Dreistigkeit und Gier seiner Vormünder anprangern wird, die seinen Haushalt angeblich in große Not brachten.205 Für die meisten Richter, die dieser Klage lauschten, werden selbst die 7.000 Drachmen, die Demosthenes von seinen Vormündern erhalten hatte, ein sehr großer Betrag gewesen sein.206 Nahmen sie Demosthenes beim Wort, wenn er behauptet, er wäre verhungert, hätte die Vormundschaft länger gedauert?207 Demosthenes selbst ging nicht unbedingt davon aus, beim Wort genommen zu werden, denn gleich im Anschluss erklärt er, dass er nicht mehr verlange, als die „Ursprungssumme“ (τὰ ἀρχαῖα) beim Tod des Vaters.208 Demosthenes’ waghalsige Schätzung dient also nur dazu, seine daran anschließend realistischere Schadensersatzforderung als Akt der Großzügigkeit erscheinen zu lassen. Die besonderen Umstände einer athenischen Gerichtsrede erklären auch, warum unklar bleibt, auf welche Dokumente Demosthenes seine Behauptungen stützte. Weil Annahmen über etwaige vorhandene aber verschwiegene Aufzeichnungen nicht überprüfbar sind,209 beschränke ich mich im Folgenden auf Schriftstücke, die in den drei Reden Gegen Aphobos ausdrücklich erwähnt werden.210 Wie Diodotos hängte Demosthenes der Ältere seinem Testament ein Gesamtinventar seines Vermögens an – das behauptet zumindest Demosthenes und setzt diese Praxis als üblich voraus.211 Ein solches Dokument verschaffte den Vormündern Überblick über Demosthenes’ stark diversifiziertes Vermögen, das bis dahin verborgen gehalten worden war.212 Gegen die Veruntreuung schützte ein Inventar hingegen nicht, wie die Rede selbst bestätigt. Neben dem Testament mit dem Inventar existierten separate „Aufzeichnungen“ (γράμματα), welche die Vormünder versiegeln ließen. Weil Demosthenes seine Argumentation auf den Inhalt des verschwundenen Testaments aufbaut, wertet er diese Schriftstücke zu bloßen „Memoranda“ (ὑπομνήματα) ab.213 Beim Schiedsgericht hatte er sich allerdings selbst noch auf diese Aufzeichnungen berufen, weil sie angeblich bewiesen, dass Demosthenes der Ältere keine Schulden hatte.214 Als Beleg dafür konnten diese Dokumente nur dienen, wenn sie hinreichend vollständig waren, damit das 205 206 207 208 209
§ 60–69. Will 2013, 25. Demosth. 27.63. § 59. Schwahn 1929, 5 f. vermutet, Demosthenes’ Mutter habe bald nach dem Tod ihres Mannes mit Aufzeichnungen begonnen, weil sie den Vormündern früh misstraute. 210 Die Echtheit von Demosth. 29 darf als gesichert gelten; vgl. Blass 1893, 332–334; Calhoun 1934; MacDowell 1989a; Leese 2018, 109 f. 211 Demosth. 27.40; 28.5, 10, 14; die Vormünder leugneten ein solches Inventar allerdings, vgl. 27.42– 44, und Demosthenes konnte dagegen nur Wahrscheinlichkeitsargumente anführen. 212 Ste. Croix 1953, 55, Anm. 105; Davies 1971, 128 f. 213 Demosth. 28.5 f. 214 Demosth. 27.49.
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Argument e silentio halbwegs plausibel war. Der Unterschied zum testamentarischen Inventar lag also nur darin, dass diesen Dokumenten die Autorität eines vor Zeugen ausgefertigten letzten Willens fehlte.215 In der dritten Rede erwähnt Demosthenes offenbar ein Dokument aus dieser Sammlung. Aphobos habe sich mit Xythos, dem Empfänger eines Seedarlehens, die dem Demosthenes geschuldete Summe geteilt und die entsprechenden „Vertragsdokumente“ (τὰς συγγραφάς) vernichtet.216 Die Einzeldokumente umfassten also wie bei Diodotos unter anderem Verträge, mit deren Hilfe die Erben/Vormünder Außenstände eintreiben konnten. In der ersten Rede Gegen Aphobos erwähnt Demosthenes schließlich noch eine Quittung, die Aphobos seinen Mitvormündern Demophon und Therippides über den Empfang der für ihn bestimmten Mitgift ausstellte. Demosthenes’ Angaben dazu suggerieren, dass das entsprechende Dokument nicht nur den Erhalt der Mitgift quittierte, sondern auch angab, aus welchen Einzelposten sich deren Gesamtsumme zusammensetzte.217 Wie detailliert die Quittung tatsächlich war, bleibt allerdings ungewiss. Dass sie gefordert wurde, zeigt, dass alle Parteien bei einer Vormundschaft schriftlich Vorkehrungen trafen, um sich abzusichern. Die wichtigste Quelle für die Berechnung der Einkünfte eines Haushalts ist die viel diskutierte Passage, in der Demosthenes die Bestandteile seines Erbes aufzählt und ihren hypothetischen Ertrag im Zeitraum der Vormundschaft hochrechnet. Das Ordnungsprinzip dieser Auflistung ist mit modernen Kategorien schwierig zu erfassen. Demosthenes kündigt an, er werde den Richtern „im Einzelnen“ (καθ’ ἕκαστον) aufzählen, „welche Teile (des Vermögens) tätig und welche untätig (τά τ’ ἐνεργὰ αὐτῶν καὶ ὅσ’ ἦν ἀργά) waren und wie viel jedes Wert war“.218 Es folgen: zwei Werkstätten „mit lebhaftem Betrieb“ (τέχνης οὐ μικρᾶς). Von den Sklaven der Messerschmiede seien „zwei oder drei“ 500 oder 600 Drachmen wert, die anderen „nicht weniger“ als 300 Minen. Für die Tischler werden keine Einzelpreise angegeben, sondern nur der Darlehensbetrag, für die sie der Vater als Pfand erhielt.219 Die Erträge der Werkstätten werden als „jährliche Einkünfte nach Abzug der Steuer“ (ἀτελεῖς […] τοῦ ἐνιαυτοῦ τὴν πρόσοδον) angegeben.220 Hinzu kommen 6.000 Dr. Silber an Zinsdarlehen, die einen jährlichen „Zins“ (τόκος) von „mehr als 700 Drachmen“ einbrachten.221 Demosthenes 215
Während Demosthenes kurzerhand behauptet, bestimmte Vermögenswerte seien in diesen Schriftstücken nicht dokumentiert, um zu suggerieren, die Vormünder hätten noch mehr unterschlagen, behauptete Aphobos umgekehrt, Demosthenes der Ältere habe einen Silberschatz von vier Talenten angelegt, der nicht dokumentiert sei, vgl. 27.53. 216 Demosth. 29.36; die Vernichtung muss nicht notwendigerweise illegitim gewesen sein; es war üblich, Darlehensverträge nach der Tilgung zu vernichten; vgl. Cohen 1992, 207. 217 Demosth. 27.13–16. 218 § 7. 219 Der ‚Zinsertrag‘ des Darlehens bestand in der Produktion der Sklaven, solange sie im Besitz des Demosthenes waren, vgl. Schwahn 1929, 17. 220 Demosth. 27.9. 221 Das Geld war also zu knapp 12 % verliehen, ein üblicher Zinssatz im klassischen Athen.
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fasst diese Posten als energa zusammen und zieht Bilanz: Die „Summe des Stammkapitals“ (τοῦ ἀρχαίου κεφάλαιον) habe vier Talente und 5.000 Dr. betragen, der jährliche „Ertrag“ (τὸ ἔργον) fünfzig Minen.222 Demosthenes zählt nun „zusätzliche“ (χωρίς τούτων) Vermögenswerte auf: die Rohmaterialien der Werkstätten; ein Wohnhaus; Hausrat; Trinkgeschirr; Schmuck und Kleider der Mutter, zusammen 10.000 Drachmen; schließlich Bargeld in Höhe von 8.000 Drachmen. Das seien die Dinge gewesen, die „im Haus hinterlassen wurden“ (οἴκοι κατέλιπεν). Dazu kommen noch das bereits erwähnte Seedarlehen an Xythos, zwei Bankeinlagen und Eranos-Darlehen unbekannter Zahl, insgesamt „nahezu ein Talent“.223 Demosthenes zieht die Summe dieser Vermögenswerte (acht Talente, 50 Minen) und anschließend die Summe des Gesamtvermögens, die er – zum Vorteil des eigenen Arguments – auf „etwa 14 Talente“ aufrundet.224 Die Ungenauigkeit all dieser Angaben bedarf keiner erneuten Erläuterung. Aber ihre Systematik ist erklärungsbedürftig. Alle modernen Kommentatoren sind sich einig, dass diese ‚zusätzlichen‘ Vermögensteile die zuvor erwähnten arga sind. Aber warum wurden neben dem Hausrat auch das Material der Werkstätten und die verzinsten Darlehen zu den „untätigen“ Werten gerechnet? Walter Schwahn nahm an, es bestehe „kein Gegensatz zwischen erwerbendem? und totem Kapital, sondern zwischen Industrie- oder Arbeitskapital einerseits, totem und Handelskapital andererseits“.225 Die Rohmaterialien seien Letzteren zugewiesen worden, weil man mit ihnen zugleich Handel trieb.226 Jan Korver verwarf diese These, weil sie dazu zwinge, das Zinsdarlehen, das unter den „tätigen“ Werten steht, unglaubwürdig weg zu erklären.227 Korver vermutete stattdessen, dass die energa die Vermögenswerte waren, die fortlaufend Erträge (erga) produzierten. Die arga taten das nicht und deshalb gebe Demosthenes bei ihnen auch keinen Ertrag an.228 Die Bankeinlagen und Eranos-Darlehen seien unverzinst gewesen, sie brachten nur Sicherheit oder Dankbarkeit ein.229 So weit überzeugt Korvers Erklärung. Aber wieso stand das ganz sicher verzinste Seedarlehen an Xythos unter den arga? Korver bietet zwei Erklärungen. Erstens seien Seedarlehen so riskant gewesen, dass ein „vorsichtiger Mann“, ein solches Darlehen erst dann als energon „in die Bücher“ eintrug, „wenn er sein Geld mit den Zinsen zurückbekommen hatte“. Zweitens sei es gesetzlich verboten gewesen, ein Waisenvermögen in Seedarlehen anzulegen, weshalb die Vormünder das Geld spätestens nach einem halben Jahr zurückgefordert hätten. 222 223 224 225 226 227
§ 10. § 10 f. Ausführlich zur Zusammensetzung des Vermögens noch Kap. 15.2. Schwahn 1929, 6. Demosth. 27.32 f.; dazu Schwahn 1929, 18, 26 f. Schwahn 1929, 7 erklärt es zum reinvestierten Verkaufserlös der Werkstattwaren; die Kritik bei Korver 1941, 11 f. 228 Korver 1941, 10. 229 Korver 1941, 13–15; zu zinslosen ‚Freundschaftsdarlehen‘ Millett 1991, 36–52.
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Für die restliche Zeit sei das Geld argon gewesen und deshalb von Demosthenes als solches aufgezählt worden.230 Diese Erklärungen sind unbefriedigend. Korvers erste Erklärung berücksichtigt nicht, dass die Gewinne aus dem Verkauf der Werkstattproduktion ebenfalls dem Risiko von Marktschwankungen unterlagen, sei es beim Materialangebot oder bei der Kundennachfrage. Demosthenes rechnet damit, dass Aphobos eben dies als plausible Entschuldigung für die schlechte Bilanz der Vormundschaft anführen würde, indem er behaupte, die Messerwerkstatt sei „untätig“ (ἀργῆσαι, ἀργόν) gewesen oder ihre Erzeugnisse seien „unverkäuflich“ (ἀπρασίαν) gewesen.231 Korvers zweite Erklärung scheitert daran, dass es keinen Beleg für ein gesetzliches Verbot gibt, als Vormund Seedarlehen zu vergeben – die Lysias-Rede Gegen Diogeiton liefert sogar einen direkten Gegenbeleg.232 Zielführender erscheint mir Korvers Bemerkung, dass die energa Vermögenswerte mit laufenden Erträgen waren. Bei einem Seedarlehen wurde der Zinsertrag bereits vor Antritt der damit finanzierten Fahrt vertraglich festgesetzt. Es war also möglich und buchhalterisch korrekt, die gesamte geschuldete Summe (Kapital plus Zinsen) als Aktivposten des Vermögens zu verbuchen, selbst wenn die Rückzahlung ausstand und riskant war. Beim verliehenen Silbergeld, das Demosthenes unter die energa zählte, handelte es sich hingegen um unbegrenzt laufende Kredite mit monatlich fälligen Zinsen – Demosthenes gibt dementsprechend einen jährlichen Zinsertrag an, was für ein Seedarlehen als einmalige Unternehmung unsinnig wäre.233 Die Unterscheidung von energa und arga ist also durchaus systematisch und stimmig, auch wenn sie sich von moderner Kapitalrechnung unterscheidet.234 Die Unterscheidung von energa und arga hat einen rhetorischen und einen hauswirtschaftlichen Aspekt. Rhetorisch bereitet sie bei Demosthenes die Hochrechnung aller hypothetischen laufenden Einnahmen vor, welche die Vormünder angeblich unterschlugen. Die Seedarlehen hier hinzuzunehmen, hätte das Gegenargument provoziert, jeder Mensch wisse, dass Seedarlehen einmalige Geschäfte mit riskantem Gewinn seien. Das war zugleich ein guter hauswirtschaftlicher Grund, derartige Geschäfte in der Gesamtkalkulation anders zu behandeln und unter „ferner“ zu stellen (s. o.). Ein Hausherr, der seine zukünftigen Finanzmittel abschätzen oder seine Verwalter kontrollieren wollte, tat gut daran, die zu erwartenden laufenden Einnahmen seiner eigenen 230 Korver 1941, 12 f. 231 Demosth. 27.19–21. 232 Der Sprecher hätte aus einem entsprechendem Verbot zweifellos Kapital geschlagen; bei den mehrfachen Erwähnungen von Seehandelsgeschäften (Lys. 32.14, 25, 29), moniert er jedoch nur die Unterschlagung von Kapital und Gewinn resp. antizipiert die Deklaration fiktiver Verluste. Jüngst hat Leese 2018 die These vertreten, dass ein Gesetz die Vormünder verpflichtete, das Vermögen in Land zu konvertieren; die von ihm angeführten Belege (darunter Lys. 32) sind jedoch nicht aussagekräftig genug; v. a. setzt sich Leese nicht mit der Frage auseinander, warum die Rede das Gesetz nie an prominenter Stelle als Rechtsgrund der Anklage nennt. 233 Zur Unterscheidung einmaliger Seedarlehen und fortlaufender Zinsdarlehen, vgl. Cohen 1992, 44–60; vgl. die Beschreibung der Darlehen in Aristophanes’ Wolken, zitiert oben in Anm. 168. 234 So auch Cohen 1992, 52 f. mit Anm. 62.
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13 Rationalisierung und Rationierung
Betriebe von einmaligen Zahlungsverpflichtungen zu unterscheiden, selbst wenn er natürlich wusste, dass es auch hier ein unerwartetes Ausbleiben der Nachfrage geben konnte. Die letzten Finanzdokumente, denen sich Demosthenes ausführlich widmet, sind die Rechenschaftsberichte seiner Vormünder. Ihre Demontage geht Demosthenes ähnlich an wie der Sprecher in Lysias’ Rede Gegen Diogeiton. Er konzentriert sich auf den Teil der Abrechnung, den er für den angreifbarsten hält, und kontert ihn mit einer Modellrechnung auf der Grundlage angeblich abgerundeter Durchschnittswerte. Wie zuvor dienen Demosthenes’ Vereinfachungen dem Zweck, die Argumentation zu glätten und die Schadensersatzforderung aufzublähen.235 Aphobos habe als Ausflucht einmal behauptet, die Werkstatt sei „außer Betrieb gewesen“, ein anderes Mal, nicht er selbst habe sie verwaltet, sondern der Freigelassene Milyas – von dem solle sich Demosthenes „die Abrechnung holen“ (λόγον λαβεῖν).236 Für die Buchführung einer komplexen Hauswirtschaft sind die Wahrscheinlichkeitsargumente aufschlussreich, mit denen Demosthenes diese Ausflüchte zu entkräften versucht, denn ihre Wirksamkeit beruhte allein auf lebensweltlicher Plausibilität. Wenn die Werkstatt tatsächlich stillstand, fragt Demosthenes rhetorisch, warum führte die Abrechnung dann unter „Ausgaben“ (ἀναλωμάτων) nicht nur die Kosten für den Unterhalt (εἰς σιτία) der Arbeiter, sondern auch für das verwendete Material (εἰς ἔργα) auf? Genauso beweise die an Therippides gezahlte Miete für drei in der Werkstatt arbeitende Sklaven, dass diese nicht stillstand.237 Eine spätere Bemerkung zu den hier erwähnten laufenden Materialkosten zeigt, dass sie genau wie andere laufende Kosten monatsweise berechnet wurden.238 Während der Sprecher der Rede Gegen Diogeiton seine Argumentation darauf aufbaute, dass Diogeiton zwar eine formal korrekte Abrechnung vorlegte, dabei jedoch übertriebene Zahlen angab und die Posten nicht nach Monaten aufschlüsselte, baute Demosthenes seine Argumentation umgekehrt darauf auf, dass Aphobos zwar eine genaue Abrechnung der Ausgaben (ta analōmata) vorlegte, aber die Einzelabrechnung der Einnahmen (ta lēmmata) – in Verkaufserlös oder Warenbestand – schuldig blieb.239 Wie in der Rede gegen Diogeiton beruht die gesamte Argumentation auf als allgemein bekannt vorausgesetzten Prinzipien ordentlicher Buchführung.
235
Die Behauptung von Demosth. 27.18, der Ertrag einer Werkstatt halbiere sich, wenn sich die Zahl der Arbeiter halbiere, ignoriert die Größeneffekte einer Werkstatt; sie vor Gericht zu berechnen, wäre jedoch umständlich gewesen und hätte die Gesamtsumme der Forderungen gedrückt. 236 § 19. 237 § 19–21. 238 § 31. 239 Demosth. 27.20–22; vgl. 28.12: ἀνάλωμα μὲν εἰς αὐτὰ τοσοῦτο λελόγισθαι, λῆμμα δ’ ἀπ’ αὐτῶν οὐδ’ ὁτιοῦν. Es ist, nebenbei bemerkt, ein Ausdruck der kaufmännischen Natur von Demosthenes’ Berechnung, dass er die unverkauften Waren mit ihrem geschätzten Verkaufswert auf der Habenseite in die Abrechnung einbezieht, wie ein Vergleich mit den Abrechnungen der italienischen Kaufleute im Mittelalter zeigt; vgl. Roover 1956a, 90.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
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Wie diese Prinzipien aussahen, verrät ein Selbstlob des Demosthenes. Bei seiner Klage gegen Aphobos habe er nicht alles zu „einer einzigen Schätzung zusammengezogen“ (ἓν τίμημα συνθείς), wie ein Verleumder es täte, sondern „jeden Posten einzeln angegeben, woher er (Aphobos) es nahm, und wie hoch der Betrag war und von wem (er es erhielt)“ (ἕκαστον ἐγράψας καὶ πόθεν λαβὼν καὶ πόσον τὸ πλῆθος καὶ παρὰ τοῦ)240 – das ist die aus den Bauabrechnungen bekannte Struktur von Bucheinträgen (Kap. 13.3.2). Das Pochen auf buchhalterische Standards war offenbar ein Standardargument in Vormundschaftsprozessen, dessen sich beide Seiten bedienten. In dem Fragment einer Isaios-Rede, die für die Verteidigung eines Vormunds geschrieben wurde, heißt es, man dürfe keine leeren Anschuldigungen vorbringen, sondern müsse eine exakte „Berechnung“ (λογισμός) mit Zeugen vorlegen und „jeden Posten der Abrechnung einzeln prüfen“ (ἐξετάζειν ἕκαστα τῶν ἐν τῷ λόγῳ). Der ehemalige Vormund sei folgendermaßen „zu prüfen“: „Wie viele Vermögenssteuern (eisphorai) berechnest du? So und so viele. In welchen Beträgen wurde das Geld gezahlt? In diesen und jenen. Entsprechend welcher Dekrete? Diesen hier. Wer hat diese (Beiträge) empfangen? Diese und jene.“241 Demosthenes’ Forderung, die Abrechnung kath’ hekaston anzulegen und zu prüfen,242 entsprach also der best practice seiner Zeit und konnte als solche auch von einem angeklagten Vormund eingefordert werden. Demosthenes’ Äußerungen zur Buchführung bei den Werkstätten können so verstanden werden, dass Einnahmen und Ausgaben getrennt registriert wurden und man außerdem Konto über die anteiligen Investitionen in den Betrieb führte. Eine Bemerkung zur Abrechnung der Klinenwerkstatt legt das nahe. Demosthenes erzürnt sich darüber, dass die Vormünder „keine einzige Einnahme (λῆμμα)“ durch diese Sklaven in den gesamten zehn Jahren „vorwiesen“ (ἀποφαίνουσιν); ihm dafür jedoch die „Summe der Ausgaben für sie“ (ἀναλώματος δὲ κεφάλαιον εἰς αὐτούς) berechneten.243 Wie in den Abrechnungsurkunden der Heiligtümer wurden Einnahmen und Ausgaben also offenbar zuerst getrennt summiert (analōmatos kephalaion) und bilanziert. Ergab sich ein Überschuss, wurde dieser dem Eigentümer der Werkstatt als Haben verbucht, ansonsten wurden ihm die Kosten als Soll eingetragen. Eine spätere Stelle stützt diese Deutung; nach dem die Ausgaben der Werkstatt das „Startkapital“ (Demosthenes’ Erbe nachdem Tod seines Vaters) verbraucht hatten, trug man alle weiteren Ausgaben als Schuld des Demosthenes gegenüber seinen Vormündern ein:244 Das Verfahren der Vormünder gleicht also dem in Delphi, wo die Stadt mit der Bereitstellung eines Guthabens einsprang, um die Fortsetzung der Bauarbeiten am Tempel zu gewährleisten
240 241 242 243 244
Demosth. 29.30. Is. fr. 2 Thalheim (= Dion. Hal. Is. 12). Bei der Abrechnung der Klinenwerkstatt ein weiteres Mal betont, Demosth. 27.23. § 24. § 38: πρὸς ὀφείλοντας ἡμᾶς ἐνέγραψε; § 59: πρὸς ὀφείλοντά μ’ αὑτῷ ἀπέγραψεν.
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und die Schatzmeister darüber Konto führten, welche Ausgabe man wofür auf Rechnung der Baukommission geleistet hatte. Demosthenes geht in seiner Modellrechnung genauso vor wie der Lysias-Redner und wie die attischen Amphiktyonen auf Delos in ihrer Abrechnung der Jahre 377–373. Er errechnete zunächst die Einkünfte seines Vermögens aus den Werkstätten und Darlehen und zog anschließend die Lebenshaltungskosten der Familie (einschließlich Liturgien usw.) ab, um den ‚Überschuss‘ zu ermitteln.245 Nach dem gleichen Verfahren zogen die großen florentinischen Kaufleute und Geldverleiher des 14. Jhs. Bilanz.246 Genau wie zuvor bei der Auflistung der Vermögenswerte behandelt Demosthenes hier ‚private‘ Lebenshaltungskosten und ‚geschäftliche‘ Betriebskosten und -gewinne zusammen. Finley legte die Maßstäbe moderner Betriebswirtschaft an und bescheinigte Demosthenes einen Mangel an wirtschaftlichem Sachverstand.247 Dieses Urteil übersieht, dass das Zusammenziehen von privater Haushaltsführung und Geschäft auch in der doppelten Buchführung der Kaufleute des 15. und 16. Jhs. noch völlig üblich war – und zwar immer dann, wenn die Kaufleute keinen Partnern usw. Rechenschaft schuldeten, weil sie alleinige Eigentümer waren.248 Anstatt zwischen ‚Privatem‘ und ‚Geschäftlichem‘ zu trennen, behandelte die Hauswirtschaft alle Vermögenswerte, bis hin zum Schmuck der Mutter,249 als potentielles nutzbringendes Kapital und bewertete umgekehrt alle Geschäfte danach, ob sie den Bedarf der Hausgenossen deckten. Genau deshalb war es sinnvoll, den Besitz in ertragbringende energa und ertraglose arga zu trennen, anstatt zwischen ‚Privat-‘ und ‚Geschäftsvermögen‘ zu unterscheiden. So konnte der Hausvorstand bereits zu Beginn eines Jahres abschätzen, ob sein Haushalt bei den gegenwärtig zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben von seinen Einkünften würde leben können oder ob er von der Vermögenssubstanz wird zehren müssen: Dafür zu sorgen, dass Letzteres nicht eintrat, galt als Inbegriff erfolgreicher Hausführung.250 Laut Demosthenes hatte der Schiedsrichter Aphobos ungläubig gefragt, ob er denn „bei seinem eigenen Vermögen die Kosten aus dem Stammkapital oder aus den
245 § 34–37; der Abzug der Liturgien als Kosten war offenbar allgemein üblich; vgl. Lys. 21.16 f. und Is. 5.41. 246 Roover 1956b, 125, 130. 247 Finley [1973] 1993, 135 f. 248 Vgl. Ramsey 1956, 194–196; Heers 1959, 11; Yamey 1964, 127. 249 Vgl. Demosth. 27.17. 250 Vgl. Is. 6.38 für Vater und Sohn, die dank ihres großen ungeteilten Vermögens ihre Ausgaben einschließlich Liturgien aus den Einnahmen bestreiten konnten; den umgekehrten Fall zeigt Demosth. 36.39–41: Apollodoros hatte behauptet, sein Vermögen sei durch seinen Euergetismus und Phormions Unterschlagungen aufgezehrt; Phormions Verteidiger rechnete Apollodoros daraufhin auf Grundlage eines „Rechnungsbuchs“ (βιβλίον) „Punkt für Punkt“ (καθ’ ἓν ἕκαστον) dessen Einnahmen und liturgische Ausgaben vor und kam zum Ergebnis, dass Apollodoros „nur den kleinsten Teil seiner Einkünfte, und nichts vom Stammkapital für Liturgien“ (οὐδὲ πολλοστὸν μέρος τῶν προσόδων μὴ ὅτι τῶν ἀρχαίων, εἰς τὰς λῃτουργίας) ausgegeben habe; die technische Sprache dieser Passage gleicht genau den Vormundschaftsreden von Lysias, Isaios und Demosthenes.
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Mehrerträgen bestreite“ (τὴν οὐσίαν τὴν αὑτοῦ πότερον ἐκ τῶν ἐπικαρπιῶν ἢ τἀρχαῖ’ ἀναλίσκων διῴκηκεν) und ob er selbst eine Abrechnung akzeptiert hätte, wie er sie Demosthenes vorgelegt hatte.251 Das mag Demosthenes’ Erfindung sein. Sie setzte jedoch voraus, dass die Zuhörer die Fehlkalkulationen des Vormunds als offenkundigen Verstoß gegen die Prinzipien guter Hauswirtschaft empfanden.252 Die Ausführungen der Vormundschaftsreden über gutes Rechnungswesen und richtige Buchführung konterkarieren die begriffliche Gegenüberstellung von Hauswirtschaft und Marktwirtschaft in der Forschungsliteratur. Denn während einerseits die kaufmännische Buchführung dazu dient, die Bedarfsdeckung des Haushalts zu gewährleisten, wird andererseits die Treu- und Verwandtschaftsbeziehung der Vormundschaft wie eine Geschäftspartnerschaft konzipiert. Demosthenes beginnt seine Rede mit dem sachlich gegliederten und in Geld bezifferten Vermögensinventar, mit dem auch die Vormundschaft begann. Das entspricht einer Regel kaufmännischer Buchführung, die Luca Pacioli in seinem Lehrbuch zur Doppik von 1494 zu Anfang formuliert: Die Buchführung eines Kaufmanns habe mit einem Vermögensinventar zu beginnen, das an einem einzigen Tag anzulegen sei – im Fall von Demosthenes’ Vormundschaft ist das der Todestag seines Vaters. Demosthenes’ vollständige Auflistung entspricht Paciolis Forderung, alle Besitztümer aufzuführen, vom Hausrat bis zu den Handelswaren.253 Dieser kaufmännischen Taxierung des häuslichen Vermögens entspricht, dass Demosthenes das den Vormündern ausgehändigte Erbe als ta archaia, als „Stammkapital“, bezeichnet. In diesem Sinne gelten die Vormünder als mit der Geschäftsführung betraute Partner, von denen man eine gewinnorientierte Wirtschaft zugunsten der Eigentümer erwartet.254 Und genau so beurteilt Demosthenes die Vormünder. Eine gewisse Gewinnbeteiligung als Vergeltung für ihre Arbeit bei der Verwaltung seines Vermögens billigt er ihnen zu (auch das eine Parallele zu Commenda-Partnerschaften von Babylon bis Florenz: Der eine Partner investiert das Kapital, der andere ganz oder hauptsächlich seine Arbeit).255 Genau wie bei einer Ge251 Demosth. 27.50. 252 Wie verbreitet derartige Kalkulationen waren, zeigt Platons Vorschlag, leg. 11, 920c, sie zur Regulation von Marktpreisen anzuwenden; die Marktaufseher sollten „feststellen, welche Einnahmen und Ausgaben (λῆμμά τε καὶ ἀνάλωμα) dem Händler einen angemessenen Gewinn bringen (κέρδος ποιεῖ τὸ μέτριον)“ und diese verbindlich festschreiben, so dass die Händler davon leben könnten, aber niemand einen Schaden habe; die Singularformen (lēmma kai analōma) zeigen, dass Platon wie die Gerichtsredner ein Bilanzblatt vor Augen hat und nicht konkrete Waren- und Geldmengen; bemerkenswert ist auch, dass er es für denkbar hielt, selbst bei kleinen Markthändlern die Gewinnmargen aufgrund von Berechnung so festzulegen, dass die Gewinne den Ausgaben plus Bedarf entsprachen. 253 Kap. 2 und 3, zit. nach der deutschen Ausgabe von C. E. Poeschel, 1933, S. 90–94. 254 Bei Is. 11.39 lobt sich ein Vormund eben dafür selbst; vgl. Is. fr.1 Thalheim; in Lys. 32.22 wird dem Vormund umgekehrt vorgeworfen, er habe seine Aufgabe absurderweise umgekehrt aufgefasst und statt Gewinnen nur Kosten verursacht. 255 Vgl. Jursa 2010, 207 zu Babylonien; Inst. Iust. 3.25 für Rom; Roover 1956a, 86 f. zu Genua, Goldth waite 2009, 299 zu Florenz.
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schäftspartnerschaft endete der Betrieb nicht notwendigerweise nachdem das Startkapital aufgebraucht war. Als die Vormünder „das gesamte Startkapital aufgebraucht hatten“, trugen sie für alle weiteren Ausgabenposten Demosthenes als Schuldner ein:256 Sie führten den Betrieb also weiter, nun in der Doppelrolle als Geschäftsführer und Investoren. Am Ende der Rede steht, was am Ende der Vormundschaft wie am Ende einer Geschäftspartnerschaft stand: die Endabrechnung mit der Gesamtbilanz der Gewinne und Verluste. Heutige Betrachter mag es befremden, dass Demosthenes und seine Vormünder das moralisch normierte verwandtschaftliche Verhältnis der Vormundschaft nach den Prinzipien einer Geschäftspartnerschaft konzipierten. Die Zeitgenossen hingegen betrachteten bei Bedarf alle häuslichen Gütergemeinschaften in dieser Weise: die Ehe, eine Adoption oder das ungeteilte Erbvermögen zweier Brüder.257 Die Flexibilität dieser traditionellen häuslichen Beziehungen erlaubte die Anpassung an die geldbasierte Verkehrswirtschaft. Im Verlauf dieser Anpassung nahmen sie selbst Züge der kommerziellen Geschäftswelt an. Und wenn es schon bei Hesiod heißt, man solle selbst bei Geschäften mit dem Bruder einen Zeugen hinzuziehen,258 so empfahl es sich im 4. Jh. erst recht, auch bei Geschäften unter Verwandten genau Buch zu führen.259 13.3.5 Die Verbreitung hauswirtschaftlicher Buchführung Die Vormundschaftsreden von Lysias und Demosthenes dokumentieren eine außergewöhnliche Gefährdungsperiode im Lebenszyklus eines Haushalts: die Kontrolle des Haushalts durch einen anderen Hausvorstand nach dem unzeitigen Tod des Hausvaters. Kamen die komplexen Buchführungstechniken von Vormundschaften, die diese Reden erwähnen, in der gewöhnlichen Haushaltsführung überhaupt zum Einsatz? Xenophon jedenfalls legte den gleichen Bewertungsmaßstab an Vormünder wie auch an Feldherren und Sklavenaufseher.260 Demosthenes’ Vormundschaftsreden zeigen ebenfalls, dass man vom unfreien Verwalter generell die gleiche Rechnungslegung erwartete wie vom freien Vormund.261 Theophrasts ‚Geiziger‘ fordert von seinem Aufse-
256 S. o. Anm. 243. 257 Ehe: Xen. oik. 7.13, dazu Kap. 10.2.3; vgl. Demosth. 41.3 f., auch zur Adoption; Erbvermögen von Brüdern: Demosth. 36.8 f. 258 Hes. erg. 371. 259 Vgl. Millett 1991, 137 zum Spannungsverhältnis von moralischer Verpflichtung und schriftlicher Absicherung in der Kooperation von Verwandten. 260 Xen. mem. 1.5,1. 261 Aphobos erwiderte auf Demosthenes’ Vorwürfe, er solle sich vom Sklaven/Freigelassenen Milyas die „Abrechnung holen“, denn der habe „alles verwaltet“, Demosth. 27.19–22; dass diese Darstellung entgegen Demosthenes’ Behauptung zutraf, ist durchaus wahrscheinlich; vgl. Schwahn 1929, 25 und Thür 1972, 169 f.
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
491
her sogar die Berücksichtigung der Wechselgebühr bei der Abrechnung – ein Zeichen besonders penibler Handhabung.262 Hypereides’ Anklage-Rede gegen den Geschäftsmann Athenogenes baute ihre Argumentation unter anderem darauf auf, dass dieser von den Schulden, die dessen Sklave Midas als Geschäftsführer eines Parfümladens machte, gewusst haben musste, weil er sich „monatliche Abrechnungen“ geben ließ.263 Schriftliche Buchführung, verbunden mit exaktem Wiegen, Zählen und Rechnen war im 4. Jh. in großen städtischen Haushalten demnach allgemein üblich geworden und die dabei eingesetzten Techniken ausgefeilt. Während Briefe die Hauswirtschaft räumlich ausdehnten, dehnten Buchführung und Archivierung die Hauswirtschaft vor allem zeitlich aus. So konnte man sie teils über Generationen hinweg nachvollziehen. Genaue Rechnungslegung diente dabei nicht nur der Kontrolle des Vergangenen. Die prognostische Berechnung von Lebenshaltungskosten und Einkünften war notwendig, um die Bedarfsdeckung des Haushalts zu sichern und die Aufzehrung des Vermögens zu verhindern. Ein Posten, den große Haushalte insbesondere in Athen zu beachten hatten, waren die Liturgien und Vermögenssteuern (eisphorai). Dies waren große Ausgaben, die einen Haushalt besonders dann belasteten, wenn er gerade eine Knappheitsphase seines Lebenszyklus durchlief.264 Zusätzlich konnte es hier leicht zu Konflikten und Gerichtsprozessen kommen, die es notwendig machten, öffentlich vorzuweisen, was man geleistet hatte. In einem solchen Streit lässt sich Apollodoros, der Sohn des Bankiers Pasion, breit über seine präzise Buchführung als Trierarch aus. Er habe alle Posten „sorgfältig aufgeschrieben“ (ἀκριβῶς ἐγέγραπτο) und zwar nicht nur die „Beträge der Ausgaben“ (τἀναλώματα), sondern auch ihre „Zwecke und Empfänger“ (ὅποι ἀνηλώθη καὶ ὅ τι ποιούντων), und zusätzlich die Preise, die Währungen und Wechselkurse.265 Die Abrechnung seines Zahlmeisters habe über die Lohnzahlungen monatsweise und über die Verpflegungsausgaben tagesweise „Posten für Posten“ (καθ᾽ ἕκαστον; τὰ καθ᾽ ἡμέραν ἑκάστην ἀναλισκόμενα) Buch geführt.266 Apollodoros’ vorbildliche Buchführung gleicht den Abrechnungen der Bauinschriften und Vormundschaftsreden. Es ist ein reizvoller Gedanke, dass Aufsteiger wie Apollodoros für die kompensative Übererfüllung ihrer Bürgerpflichten ausgerechnet die kaufmännischen Techniken ihrer Herkunftsfamilien anwandten. Deutlich wird jedenfalls, dass öffentliche und private Buchführung sich strukturell glichen und daher ein doppelter Anpassungsdruck zu ihrer Verfeinerung bestand.
262 263 264 265 266
Theophr. char. 30.15; vgl. [Demosth.] 50.30. Hyp. 5.19: λόγους δὲ κατὰ μῆνα λαμβάνω[ν]. Vgl. Kap. 16.2. [Demosth.] 50.30. § 25; dazu Bresson [1994] 2000, 144; Eich 2006, 442, der ebd. 437–445 den unternehmerischen Stil der Trierarchie-Führung betont.
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13 Rationalisierung und Rationierung
Die genauen Aufzeichnungen über gemeinnützige Ausgaben dienten nicht nur der Rückversicherung. Sie erlaubten zugleich eine Rationalisierung der Konvertierung von Geld in Ansehen. In Gerichtsreden zitieren Angeklagte ausgiebig die von ihnen geleisteten gemeinnützigen Leistungen, um sich die Richter günstig zu stimmen.267 Die Auflistung von Liturgien in einer Lysias-Rede des Jahres 402/1 klingt wie aus dem Rechnungsbuch vorgelesen. In der knappen formalisierten Sprache der Abrechnungsinschriften zählt der Redner auf, in welchem Jahr er welche Leistungen zu welchen Kosten erbrachte.268 Fast scheint es, als halte der Sprecher den Richtern seine gemeinnützigen Leistungen vor wie ein Gläubiger seinem Schuldner die Kredite, um ihn an den geschuldeten Dank wie an fällige Zinsen zu erinnern.269 Rationalisierung der Hauswirtschaft bedeutete eben auch Rationalisierung der Ökonomie der Ehre und der Reziprozität, das Soll und Haben des symbolischen Kapitals wurde mithilfe von Geld und Schrift genauso berechnet wie das restliche Kapital des Hauses. All das bedeutet nicht, dass jeder Haushalt ständig und genau Buch führte. Die Abrechnungen auf Stein und die Gerichtsreden erwecken gleichermaßen den Eindruck – der sich mit dem Vergleichsmaterial zur nachantiken Buchführung deckt (s. Kap. 19.2) –, dass eine anspruchsvolle Buchführung besonders dann gefordert war, wenn die Komplexität der Organisation hoch war und Konflikte drohten, die man nicht ‚in der Familie‘ klären konnte. Deshalb bot die Buchführung des 4. Jhs. vermutlich eine genauso „bunte Vielfalt der Techniken“ und Niveaus wie in späteren Perioden der Antike.270 Während die oben zitierten Belege reiche Kaufmannshaushalte betreffen, die stark diversifizierte Vermögen besaßen und viel mit Kredit zu tun hatten, verspottet die aristophanische Komödie den Landmann Strepsiades für seine primitive Buchführung. Es wäre allerdings falsch, die Grenze aufwendigerer Buchführung allein zwischen Landwirtschaft und städtischer Geldwirtschaft zu ziehen. Denn auch die Landwirtschaft wurde, jedenfalls im Gebiet der in den stadtübergreifenden Verkehr eingebundenen Städte, rationalisiert und kommerzialisiert. Xenophons Oikonomikos empfiehlt Ischomachos’ Vater als Vorbild, der die Landwirtschaft als einträgliches Geschäft betreibt.271 Ein gewinnorientierter Gutsbetrieb, wie Xenophon ihn beschreibt, erforderte 267 S. Kap. 16.3. 268 Lys. 21.1–5. 269 Bereits Earp 1929, 63 registriert den buchhalterlichen Ton mit dem Griechen der Stadt (und ebenso den Göttern) Leistungen in Erwartung auf Gegenleistungen anzeigten. 270 Vgl. Jakab 2003, 505. 271 Pomeroy 1994, 333 f.; Foxhall 2007, 76; Figueira 2012, 683 f.; so schon Weber [1909] 2006, 538. Ischomachos’ erwarb Landstücke um „viel Geld zu verdienen“ und beim Weiterverkauf ein „vielfaches des alten Preises zu erzielen“, Xen. oik. 20.23 f.; vgl. die Bemerkung von Is. 9.28, der Vater habe ein Landgut „bepflanzt und bestellt und im Wert verdoppelt“; Fokus auf Weinbau und Baumkulturen bei Xenophon: oik. 19.1–17; 20.4; Dünger: 16.11; 17.10; 20.3 f., 10. Intensives Umpflügen, Boden aufhacken, Unkraut jäten: 16.11, 14 f.; 17.12–15; Pomeroy 1994, 328 zu 16.14: „Frequent ploughing and pulverization of the soil demands an abundant source of labour, such as slaves were most likely to supply.“
13.3 Die zeitliche Ausdehnung der Hauswirtschaft: Buchführung
493
Kapital zur Anschaffung von Setzlingen, Werkzeugen und Sklaven, sorgfältige Planung und konstante Beaufsichtigung.272 In der pseudo-demosthenischen Rede Gegen Phainippos wird das Landgut eines gewissen Phainippos geschildert, das Holz, Gerste und Wein für den Markt produzierte. Über das Holz heißt es, Phainippos nehme durch seinen Verkauf „täglich mehr als zwölf Drachmen ein“.273 Selbst wenn der Redner die Zahlen übertrieb oder erfand:274 Er ging davon aus, dass seine Zuhörer nicht daran zweifeln würden, dass sich die Einkünfte eines großen Landguts als täglicher Geldgewinn berechnen ließen.275 Die Grenze der Rationalisierung und des Einsatzes von Buchführung und Geldkalkulation verlief also eher zwischen großen und kleinen Haushalten.276 Der aristophanische Durchschnittsbürger, der in den Fröschen seine Hausgenossen im Kontrollwahn terrorisiert (vgl. Kap. 13.1), ist eine komische Figur, weil er die Techniken einer großen Hauswirtschaft auf sein bescheidenes Hauswesen anwendet, in dem es außer angenagten Oliven nicht viel zu verbuchen gibt. Der extensive Gebrauch von Schriftlichkeit im Haus setzte voraus, dass neben dem Hausvater auch die Ehefrau und einige privilegierte Sklaven lesen, schreiben und rechnen konnten.277 In den Briefen auf Blei erscheinen Ehefrauen und Mütter in der Tat mehrfach als Mitadressaten.278 Attische Vasenbilder zeigen Frauen im Haus beim Lesen von Schriftrollen.279 In der Rede gegen Diogeiton ist es die Mutter, welche die Bedeutung des Rechnungsbuchs erkannte und dem Vormund ihrer Kinder auf dieser Grundlage Vorhaltungen machte.280 Im verwickelten Erbschaftsfall um das Vermögen des Polyeuktos spielten ebenfalls Schriftstücke (grammata) eine Rolle, die dessen
272 Vgl. zusätzlich zu den in Anm. 270 zitierten Stellen Xen. oik. 20.22 f.: Die erworbenen Landstücke sind „unbearbeitet und unbepflanzt“ (ἀργὸς καὶ ἀφύτευτος) und werden durch „Bearbeitung“ (ἐξειργασμένους) im Wert gesteigert; 11.16 f., 17.4–11; Entscheidungen werden vor Ort nach Einschätzung der aktuellen Lage getroffen – erfordern also regelmäßige Beaufsichtigung des Betriebs, die mehrfach gefordert wird, zuletzt 21.3–10. 273 Vgl. [Demosth.] 42.7, 20: πλέον ἢ δώδεκα δραχμὰς τῆς ἡμέρας. 274 Zum Umfang des Anwesens vgl. Ste. Croix 1966 und Bresson 2016, 146–148. 275 Hierzu Eich 2006, 253 f. 276 Harris 1989, 67 f. 277 Harris 1989, 65–115 zielt zwar darauf, übertriebene Vorstellungen des Alphabetisierungsgrads in klassischer Zeit zu relativieren (ähnlich Thomas 1992), trägt dabei aber das umfangreiche Material zusammen, das die zunehmende Alltäglichkeit von Schreiben und Lesen im 5. und 4. Jh. belegt; das hat sich seither noch vermehrt: Die von Langdon 2015 veröffentlichten Graffiti belegen Alphabetisierung selbst der attischen Hirten bereits im 6. Jh.; die Orakelanfragen aus Dodona (DVC) belegen, dass diese schichtübergreifende Alphabetisierung nicht auf Attika beschränkt war. 278 S. o. Anm. 56. 279 Besprechung der Abbildungen bei Lewis 2002, 157–159, die jedoch skeptisch hinsichtlich des Quellenwerts dieser Abbildungen für weibliche Alphabetisierung ist; vgl. Harris 1989, 107. 280 Lys. 32.14 f.
494
13 Rationalisierung und Rationierung
Witwe über von ihr vergebene Darlehen angefertigt hatte.281 Xenophons Ischomachos vertraut seiner Frau die Buchführung im Haus an. Damit war Xenophon nicht allein. Theophrast bezeichnet die „Erziehung zum Schriftwesen“ (ἡ τῶν γραμμάτων παίδευσις) sogar als „notwendigste“ Erziehung der Frau, weil sie „nützlich für die Haushaltsführung“ (χρησίμου πρὸς οἰκονομίαν) sei. Sein Zusatz, zuviel Unterricht mache die Frau allerdings geschwätzig und wichtigtuerisch, zeigt einmal mehr, welche Ängste die hauswirtschaftliche Bedeutung der Ehefrau auslöste (vgl. Kap. 10.2.1).282 Insgesamt lässt sich sagen, dass die Alphabetisierung der Ehefrauen, genau wie die Buchführung im Allgemeinen, ein Phänomen reicher und kaufmännischer Haushalte war.283 Das gilt wohl auch für die Schrift- und Rechenkenntnisse von Sklaven. Dass ein Sklave, der als Bankgehilfe eingesetzt wurde, Lesen und Schreiben lernte, ist berufsbedingte Besonderheit.284 Doch auch ein Sklave, der als Handelsagent reiste, empfing Anweisungen per Brief und Perikles verließ sich auf seinen unfreien Verwalter Euangelos.285 Demosthenes ließ die Zeugenaussagen, mit deren Hilfe er die unterschlagenen Beträge seines Vermögens berechnete, von einem schreibkundigen Sklaven aufzeichnen. Er hatte eine charakteristische (also gut wiedererkennbare) Handschrift und ein gutes Gedächtnis.286 Theophrasts „Überheblicher“ überlässt dem Sklaven die Abrechnung gleich ganz.287 Diese Szenen zeigen, dass reiche Hausherrn zwar extensiven Gebrauch von Buchführung und Rechnungswesen machten, aber diese Aufgaben auch gerne delegierten. Die Buchführung war eben, wie die Rationalisierung der Hauswirtschaft im Allgemeinen, ein notwendiges Übel.
281 282 283 284 285 286 287
Demosth. 41.9. Umgekehrt warf Apollodoros seiner Mutter vor, sie habe Aufzeichnungen ihres verstorbenen ersten Mannes auf Betreiben ihres zweiten Mannes Phormion verschwinden lassen; vgl. Demosth. 36.18. Theophr. fr. 662 Fortenbaugh (= Stob. 2.31,31). Harris 1989, 106–108; vgl. ebd. 111 zu Sklaven. [Demosth.] 45.71 f.; vgl. Thomas 2009, 17 f. [Demosth.] 34.8; Plut. Perikles 16.3–5; ob der Brief des Sklaven Lesis, IL 1702, von diesem selbst geschrieben war, ist umstritten. Demosth. 29.21. Theophr. 24.12; zur dunklen Textbedeutung s. Arnott 1970; Diggle 2004, 450 f.
14 Gelegenheitsoptimierung Die Hauswirtschaft war nicht spezialisiert, sondern umfassend (vgl. Kap. 2.3.2). Hauswirtschaft bezeichnet deshalb nicht einen speziellen Bereich des Wirtschaftens, sondern die Art und Weise, wie der Haushalt organisiert an verschiedenen Bereichen des Wirtschaftens partizipierte. Kleinere Haushalte lebten natürlich primär von den Einkünften des Bereichs, in dem der Hausvater über Ausbildung und Erfahrung verfügte, etwa der Landwirtschaft oder einem speziellen Handwerk.1 Doch selbst diese Haushalte versuchten alle sich bietenden Gelegenheiten zu nutzen, um Einkünfte zu erzielen oder die eigenen Ausgaben zu begrenzen. Die dabei typischerweise angewandten Strategien werden im Folgenden als Formen der Gelegenheitsoptimierung untersucht, d. h. als planvolles Handeln, das darauf ausgelegt war, sich bietende Gelegenheiten beherzt beim Schopf zu packen, beständig nach solchen Gelegenheiten Ausschau zu halten und die Flexibilität der eigenen Mittel zu erhalten, um sie in jedem Fall einsetzen zu können. 14.1 Das Kontinuum der Möglichkeiten Die Voraussetzung für die Gelegenheitsoptimierung war die relativ freie Verfügung eines Haushalts über seine Arbeit und sein Kapital. Griechische Haushalte konnten ihr Kapital und ihre Arbeitskraft auf vielfältige Weise kombinieren. Die gewinnbringendste, aber auch kostenträchtigste und riskanteste Kombination war die Eigenwirtschaft, bei welcher der Eigentümer direkt über die Allokation entschied und als Arbeitender oder Verwaltender seine eigene Arbeit einbrachte. Das war schon die Auffassung der literarischen Ökonomiken (s. Kap. 6.3, vgl. Kap. 13.1). Weniger kostenintensiv war eine arbeitsteilige Bewirtschaftung. Beim Teilbau (ital. mezzadria, franz. métayage) trugen Eigentümer und Pächter Kosten und Risiken gemeinsam, entschieden zusammen über die Allokation der Mittel und teilten den Gewinn. Noch weniger kostenintensiv war es, das Kapital gegen eine vertraglich festgesetzte Rente zu verpachten. Bei dieser Regelung lagen unternehmerisches Risiko und Geschäftsgewinn auf Seiten des Päch-
1
Vgl. Kap. 10.1.1, 10.2.2 und 11.1.
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14 Gelegenheitsoptimierung
ters.2 Schlussendlich konnte man seine Vermögenswerte durch Verkauf oder Schenkung veräußern. Wie man sich entschied, hing von der räumlichen und politischen Lage ab und von den Eigentumsverhältnissen: Nahe gelegene, besonders ertragreiche und sichere Vermögenswerte bewirtschaftete man selbst; entfernte und unsichere Vermögenswerte wurden eher verpachtet, etwa überseeischer Grundbesitz oder das Vermögen eines Mündels.3 Diese Möglichkeiten waren keine kategorischen Gegensätze. Sofern das Gesetz nicht eine bestimmte Form der Nutzung vorschrieb, musste sich der Hausvater nicht dauerhaft auf eine Nutzungsweise seines gesamten Vermögens festlegen: Die Güter waren ja ‚hauseigen‘, oikeia, in den Worten der bereits zitierten Definition von Aristoteles’ Rhetorik.4 Das gab dem Hausvater die Freiheit, auf einem Kontinuum der Möglichkeiten eine bestimmte Kombination der Produktionsfaktoren zu wählen. Die Lysias-Rede Über den Ölbaum bietet ein anschauliches Beispiel für dieses Kontinuum der Möglichkeiten seinen Besitz zu bewirtschaften, weil in ihr die Verwendung eines Stücks Land im Verlauf von acht Jahren beschrieben wird. Das Beispiel zeigt zugleich den Einfluss politisch-rechtlicher Faktoren auf wirtschaftliche Entscheidungen. Während der letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges und in den ersten Jahren danach wurde das Land mehrfach verkauft oder mit kurzen Laufzeiten (ein bis drei Jahre) verpachtet. Die drohende Verwüstung durch Feinde und der unsichere Rechtstitel (das Land war von einem verbannten Oligarchen konfisziert worden und dann an einen um die Demokratie verdienten Metöken verschenkt worden, bevor es der Redner kaufte) machten Eigenwirtschaft und langfristige Investitionen riskant.5 Der Besitz war nicht ‚sicher‘, asphalēs, in den Worten von Aristoteles’ Rhetorik.6 Erst 398/7, sieben Jahre nachdem der Redner das Land erworben hatte, begann er es „selbst“ – d. h. mit der Arbeit der von ihm instruierten Sklaven – zu bewirtschaften.7 Athen und Sparta waren jetzt Verbündete und die Aussichten auf eine Restitution des verbannten Vorbesitzers gering. Neben Verkauf und Verpachtung gab es noch eine weitere Möglichkeit aus einem gefährdeten Besitz Gewinn zu schlagen, die sich modern als asset-stripping bezeichnen 2 3 4 5
6 7
Audring 1974, 454 f. Etwa die athenischen Landlose auf Lesbos 427, Thuk. 3.50,2; zur Verpachtung der Vermögen von Waisenkindern s. Lys. 32.23 mit Demosth. 38.7; dazu Leese 2018. Arist. rhet. 1, 1361 a 21 f.: τοῦ δὲ οἰκεῖα εἶναι ἢ μὴ ὅταν ἐφ᾽ αὑτῷ ᾖ ἀπαλλοτριῶσαι: λέγω δὲ ἀπαλλοτρίωσιν δόσιν καὶ πρᾶσιν. Lys. 7.4–10; zu den politischen Hintergründen Todd 2007, 481 f., 516; vgl. Foxhall 2007, 74 f.; ehemals konfiszierter Besitz war unsicher, weil ein innenpolitischer Umschwung die Rückkehr der ehemaligen Besitzer bedeuten konnte, woraufhin es leicht zu Konflikten über Restitutionen usw. kommen konnte, vgl. Lonis 1991 für Gesamtgriechenland; die Fragmente von Lysias’ Rede Gegen Hippotherses, in dem es um das von den Dreißig beschlagnahmte Vermögen des Redners geht, zeigen, wie derartige Konflikte in Athen Anfang des 4. Jhs. aussehen konnten. Arist. rhet. 1, 1363 a 19. Lys. 7.11.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
497
lässt. Der Redner der Lysias-Rede berichtet, dass während des Peloponnesischen Krieges viele Landbesitzer ihre privaten Olivenbäume fällten oder die Zweige abschnitten und als Setzlinge verkauften.8 Dem Redner wird vorgeworfen, 397/6 ebenso mit einem der Athena geweihten Olivenbaum auf seinem Grundstück verfahren zu sein.9 Er bestreitet das und stützt sich dabei ganz auf ökonomische Plausibilitätsargumente: Es sei irrational, für einen so geringfügigen Gewinn einen so großen Schaden (die Verurteilung wegen Frevels) zu riskieren. Der Ankläger könne nicht nachweisen, dass er „aus Armut“ dazu gezwungen gewesen sei, oder dass das Grundstück den Redner „ruinierte“, oder dass der entsprechende Ölbaumstumpf (oder seine Einfassung?10) Weinstöcken oder einem Haus im Weg stand.11 Ob man dem Redner glaubt oder nicht:12 Seine Erzählung und seine Plausibilitätsargumente zeigen, wie üblich es war, dass griechische Hausväter Arbeit und Kapital flexibel an die wechselnden Umweltbedingungen anpassten. 14.2 Die Suche nach guten Geschäften Die Gelegenheitsoptimierung war nicht auf die Landwirtschaft beschränkt. Griechische Hausväter hielten auf allen Gebieten Ausschau nach günstigen Gelegenheiten. Xenophon führt in seinen Poroi aus, wie die Menschen ihr Wirtschaften ganz allgemein nach den Absatzchancen ihrer Erzeugnisse richteten:13 Denn hier [sc. beim Erzabbau] liegen die Dinge anders als in dem Fall, dass die Kupferarbeiten billiger werden und die Kupferschmiede aufgeben, wenn es viele Kupferschmiede gibt, und die Eisenschmiede ebenso; und wenn es viel Getreide und Wein gibt, die Früchte billiger werden und die Landwirtschaftsbetriebe keinen Gewinn erzielen, hören
8 9 10 11 12
13
§ 6 f.; ähnlich wurde einem gewissen Theopompos vorgeworfen, die Olivenbäume eines Grundstücks ausgegraben und verkauft zu haben, weil er wusste, dass sein Erbanspruch ungültig war, [Demosth.] 43.69 f. Lys. 7.2. Bereits in der Spätantike war unsicher, ob σηκός den Baum oder seine Einfriedigung meint; vgl. Todd 2007, 485–487; beim Verkauf des Olivenholzes ging es jedoch sicher um die Veräußerung der als Triebe wertvollen Zweige; vgl. Foxhall 2007, 104–109. Lys. 7.12–14; zur ökonomischen Sprache dieser Passage s. Kap. 8.2.1. Möglich ist, dass der Redner angesichts der sich seit 396 ankündigenden Konfrontation mit Sparta, die 395 in den Korinthischen Krieg mündete, beschloss, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen und einem Kriegsverlust vorzubeugen, vgl. Hornblower 2002, 221–223 zum historischen Kontext. Xen. vect. 4.6: καὶ γὰρ οὐδ’ ὥσπερ ὅταν πολλοὶ χαλκοτύποι γένωνται, ἀξίων γενομένων τῶν χαλκευτικῶν ἔργων, καταλύονται οἱ χαλκοτύποι, καὶ οἱ σιδηρεῖς γε ὡσαύτως· καὶ ὅταν γε πολὺς σῖτος καὶ οἶνος γένηται, ἀξίων ὄντων τῶν καρπῶν, ἀλυσιτελεῖς αἱ γεωργίαι γίγνονται, ὥστε πολλοὶ ἀφέμενοι τοῦ τὴν γῆν ἐργάζεσθαι ἐπ’ ἐμπορίας καὶ καπηλείας καὶ τοκισμοὺς τρέπονται. Übers. G. Audring.
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14 Gelegenheitsoptimierung
viele auf, den Boden zu bearbeiten, und wenden sich dem Fernhandel, dem Kleinhandel und dem Geldverleih gegen Zinsen zu.
Bemerkenswert und viel kommentiert an dieser Passage ist ihr praktisches (wenngleich gänzlich untheoretisches) Verständnis für den Zusammenhang von Angebot und Nachfrage.14 Bemerkenswert ist außerdem das offensichtliche Fehlen einer Spezialisierung, die die beschriebene Anpassung an veränderte Gegebenheiten verhindert hätte. Philippe Gauthier nimmt deshalb an, dass hier das Verhalten reicher Athener beschrieben wird, die kein spezielles Geschäft betrieben und ihr Geld diversifiziert investierten, also das Geld mobil war, nicht die Gewerbetreibenden selbst.15 Die Richtigkeit dieser Annahme wird nun zu prüfen sein. Die Suche nach guten Geschäften war nämlich nicht auf eine spezielle soziale Gruppe beschränkt. Als die athenische Flotte 415 zur sizilischen Expedition ausfuhr, nahmen nicht nur die mitfahrenden Händler Handelswaren mit, sondern auch die Soldaten.16 Die im folgenden Jahr aufgeführten Vögel des Aristophanes sind eine der besten Quellen für diese Art der Suche nach Geschäften. Die beiden ausgewanderten Athener Euelpides und Peisetairos beraten den Chor der Vögel, wie diese die Herrschaft über das Menschengeschlecht zurückgewinnen können. Peisetairos macht Vorschläge, Euelpides wirft Anmerkungen ein. Die ersten Vorschläge sind negativ. Spatzen und Krähen sollen den Menschen die Saat von den Äckern fressen – dann werden sie sehen, dass Demeter unfähig ist, die Menschen zu beschenken. Dann sollen die Raben den Schafen und Zugtieren die Augen aushacken – woraufhin Euelpides einwirft, das sollten sie nicht tun, bevor er seine Ochsen verkauft hat.17 Es folgen Vorschläge, die den Menschen die „guten Dinge“ (ἀγαθοί) bringen. Das erste und wichtigste Gut: Reichtum. Woher kommt der Reichtum, den die Menschen „so sehr lieben“ (σφόδρ᾽ ἐρῶσιν)? Peisetairos fallen zwei Antworten ein: Wenn jemand das Orakel befragt, werden die Vögel ihm sagen, wo die guten Bergwerke“ sind und „welche Handelsfahrt gewinnbringend“ (τάς τ᾽ ἐμπορίας τὰς κερδαλέας) ist, so dass kein Schiffseigner umkommen wird; ein Vogel wird dem Fragesteller sagen: „Segle nicht, es wird ein Unwetter geben“ oder: „Nun segle, es wird einen Gewinn (κέρδος) geben.“ Euelpides wirft begeistert ein, er werde sich nun gleich ein Handelsschiff kaufen und Schiffskapitän werden und die Stadtgründung (um die es in den Vögeln geht) im Stich lassen. Peisetairos fährt fort, die Vögel würden den Menschen auch verraten, wo die Altvorderen 14
15 16 17
Die Bemerkung von Gauthier 1976, 120, diese Passage sei „essentiel pour saisir l’absence de mentalité économique (au sens moderne) des anciens Grecs“ bleibt mir rätselhaft; vielleicht meint Gauthier mit „mentalité économique“ ein theoretisches Verständnis von Konjunkturen; an diesem Maßstab geprüft würden allerdings auch viele heutige Äußerungen zur Wirtschaft als ‚unmodern‘ scheitern. Gauthier 1976, 121 f.; ebenso Figueira 2012, 681. Thuk. 6.31,5. Aristoph. Av. 578–585.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
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ihre Silberschätze vergraben haben. Sofort kündigt Euelpides an, er werde sein Boοt verkaufen, einen Grabstock kaufen und die versteckten Schätze finden.18 Die Szene zeigt in komischer Übersteigerung eine Reihe von Aspekten der griechischen Geschäftsmentalität. Erstens, das Streben nach Bereicherung als menschlichen Grundzug. Von den drei „Gütern“, welche die Vögel den Menschen bringen, werden dem Reichtum 14 Zeilen gewidmet, der Gesundheit, die zur Folge des Reichtums erklärt wird, und dem hohen Alter zusammen lediglich acht.19 Zweitens, das ausgeprägte Risikoempfinden bei Landwirtschaft, Bergbau und Seehandel gleichermaßen – die Orakelbefragung dient dabei der Kontingenzbewältigung.20 Drittens, der häufige Wechsel zwischen den Gewerben auf der Suche nach dem höchsten und leichtesten Gewinn. Die Karikatur dieser rastlosen Gelegenheitsoptimierung ist Euelpides. Der ist nicht nur geldgierig, sondern auch egoistisch und opportunistisch. Euelpides will die Zugtiere verkaufen, bevor sie geblendet werden, also einem ahnungslosen Käufer den Verlust unterschieben. Als er erfährt, dass der Seehandel lukrativ wird, erklärt er den anderen gleich, er werde sie nun mit ihrer Stadtgründung im Stich lassen.21 Was bei Aristophanes launischer Spaß ist, wird bei Platon zu bitterer Sittenkritik. Wie Aristophanes spricht Platon von der „Liebe zum Reichtum“ (ὑπ’ ἔρωτος πλούτου).22 Sie führe dazu, dass sich die Leute nur noch um die Fürsorge für ihre privaten Eigentümer kümmerten und sich aus „Unersättlichkeit“ nach Gold und Silber „jedem Gewerbe und jedem Mittel“ (πᾶσαν μὲν τέχνην καὶ μηχανήν) zuwenden, wenn es nur reich mache, „ob es nun schön oder würdelos“ (καλλίω τε και ἀσχημονεστέραν) ist. Anstatt Schönes zu treiben und Übungen für den Krieg, würden die „bedächtigeren Naturen“ (κοσμίους) zu Händlern, Schiffskapitänen und überhaupt zu „Dienern“ (gemeint sind offenbar ‚Dienstleister‘), die „tapferen“ hingegen zu Seeräubern, Einbrechern, Tempelräubern, kriegerischen oder tyrannischen Menschen.23 Platons pessimistische Schilderung ist zwar Teil eines Dekadenznarrativs, deckt sich jedoch mit Xenophons wertfreier Beschreibung des Gewerbewechsels in den Poroi. Platon kritisiert hier nicht marginalisierte, professionelle Händler, die für Johannes Hasebroek die typischen Fernhändler waren.24 Den stärksten Hang zum ‚Geldscheffeln‘ (chrēmatizesthai) attestiert Platon vielmehr den oligarchisch gesinnten Mitgliedern
18 19 20 21
22 23 24
Av. 592–602. Av. 603–609. Vgl. Plut. Nikias 4.2. In den Gerichtsreden taucht der Opportunist ebenfalls als Negativfigur auf: Er hält nur solange zu seinen ‚Freunden‘, wie die Geschäfte laufen; geraten sie in Schwierigkeiten oder hat er seinen Teil bekommen, lässt er sie im Stich, wird zum Feind oder nutzt deren Notlage aus, Is. 5.39; Isokr. 17.8–10; 21.3, 20; Demosth. 37.15; [Demosth.] 45.63–70. Plat. leg. 8, 831c. Leg. 8, 831d–832a. Hasebroek 1928, 2–20.
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14 Gelegenheitsoptimierung
der Oberschicht wegen ihres Geldbedarfs.25 Seine Unterteilung in friedlichen Handel und kriegerischen Erwerb erinnert an die jungen Männer aus Bürgerhaushalten, die als Händler oder Söldner in die Ferne aufbrachen (vgl. Kapitel 11.3). Das bemerkenswerteste Zeugnis für das Suchen nach günstigen Erwerbsmöglichkeiten und die Bereitschaft zum Wechsel des Gewerbes sind die privaten Anfragen an das Zeus-Orakel im epirotischen Dodona, die von den Herausgebern zum größten Teil in das 4. Jh. datiert werden.26 Sie bestätigen Aristophanes’ komisches Bild der opportunistischen Götterverehrung und geben eine Vorstellung von den drängendsten Anliegen der Schichten unterhalb der Oberschicht. Die ausführlicheren Fragen bestätigen, dass das soziale Bezugssystem des Wirtschaftens der Haushalt war. So will ein anonymer Fragender Ende des 5. Jhs. wissen, zu welchem Gott er beten soll, damit es ihm gut ergehe „in Bezug auf seinen gesamten Besitz, seine Nachkommen (γενεᾶς) und seine Ehefrau“.27 Ein gewisser Sokrates fragt, welches Gewerbe er ausüben solle (ἐργαζόμενος), „damit es ihm und seiner Familie / seinen Nachkommen (γενεᾶι)“ besser ergehe.28 Solche Fragen sind ausgesprochen häufig und nicht selten geht es dabei auch darum, ob man das Gewerbe wechseln soll.29 In einer komplexen Entscheidungssituation befand sich ein gewisser Epilytos aus Süditalien. Er will wissen, welchen Göttern er opfern müsse, um „erfolgreich“ zu sein, ob er das gelernte Handwerk weiter ausüben oder etwas anderes anfangen solle, und ob er Witwer bleiben, eine gewisse Phainomena oder eine ganz andere Frau heiraten solle.30 Die meisten Fragen gelten Erwerb oder Vermögen (48 %) und persönlicher Mobilität (12 %), wobei Fragen zum Seehandel, Schiffsbesitz und Seefahrt am häufigsten sind (16 %), gefolgt von Landwirtschaft (12 %), Handwerk/Gewerbe (5 %) und Fragen zu Geld und Krediten (15 %).31 Bei den Handelsgeschäften widmen sich die Fragen nicht nur einzelnen Handelsfahrten, sondern auch der grundsätzlichen Ausrichtung der Ge-
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S. Kap. 3.2.3. Zum Corpus vgl. Kap. 8.3.2 mit Anm. 106. Lhôte 116: περὶ πανπασίō αὐτοῦ καὶ γενεᾶς καὶ γυ̣ναικό̣ς. Lhôte 105. Bei 38 Anfragen zeigt das Signalwort techna oder ein gewerbespezifischer Ausdruck, dass es um Fragen nach dem auszuübenden Gewerbe geht; der Wechsel des Berufs ist erkennbares Thema bei den zehn Anfragen, die vom ‚väterlichen Gewerbe‘ sprechen, vgl. Kap. 11.1, Anm. 168 für die Einzelbelege; der Wechsel des Gewerbes ist auch Thema der Anfragen DVC 1369B, 1574B und 2809A. DVC 2367 (2. Hälfte 4. Jh.). Vgl. Bonnechere 2017 mit den Zahlen in Tabelle 6, die das Ergebnis der Auswertung der 1323 hinreichend lesbaren Tafeln in einer noch zu publizierenden Dissertation von Nancy Duval sind; meine eigenen statistischen Stichproben, auf denen die hier angegebenen Zahlen für Seehandel und Seefahrt, Landwirtschaft und Handwerk/Gewerbe beruhen, decken sich mit Bonnecheres Zahlen; die Themen lassen sich trotz des häufig schlechten Erhaltungszustands der Bleitafeln aus wenigen Signalwörtern recht sicher erschließen, weil die Anfragen sehr formelhaft sind; vgl. Parker 2016, 71–75 zu den Regeln und zur Technik der Befragung und ebd. 77–85 zu den Themen der privaten Anfragen.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
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schäfte, genau wie bei Aristophanes in den Vögeln.32 Es ist anzunehmen dass die Seehändler überrepräsentiert sind: Dodona lag günstig an der Seeroute Richtung Adria und Großgriechenland, die Risiken im Seehandel waren außeralltäglich und Händler waren mobiler als Kleinbauern und Hirten. Die Zahlen zeigen gleichwohl, wie diversifiziert die Wirtschaft war und wie mobil die Bevölkerung (innerhalb einer Region) war, sowohl geographisch wie sozial. Unter den Fragen danach, ob man den Wohnort wechseln soll, sind einige, die den Wechsel ausdrücklich mit der Hoffnung auf erfolgreiches Gewerbe am neuen Ort verbinden.33 Relativ häufig sind auch die Fragen, ob man das „väterliche Gewerbe“ weiterbetreiben soll oder mit einem anderen mehr Erfolg habe.34 Ein solcher Schritt wurde also nicht leichtfertig unternommen – man stieg in die epirotischen Berge am Rande der hellenisierten Welt, um das Orakel zu befragen –, aber er war eine Möglichkeit, um ‚besser‘ zu leben, wie Anfragen es ausdrücken. Die Orakel-Anfragen von Dodona zeigen, dass Gauthier sich irrte, als er annahm, dass nur das Geld mobil war, nicht die Menschen selbst. Das Gros griechischer Haushalte verfügte zwar über geringere Mittel als die vermögenden Haushalte, deren Strategien aus den attischen Gerichtsreden bekannt sind. Aber ihre Strategien und Ziele waren strukturell dieselben: der Erhalt und die Förderung ihres kleinen ‚ganzen Hauses‘, oder, wie die Anfragen weniger abstrakt formulieren: ‚Mein Besitz, meine Nachkommen, meine Sklaven, meine Ehefrau‘. 14.2.1 Der Gelegenheitshandel großer Haushalte Lin Foxhall hat betont, dass der ‚Gelegenheitscharakter‘ ein struktureller Zug der griechischen Hauswirtschaft war – so widmeten sich etwa alle besitzenden Schichten Athens dem Geldverleih, nicht nur Bankleute.35 Ein primärer Zweck dieser Diversifizierung war die Risikominimierung (dazu noch Kap. 15.2), aber dies war nicht ihr einziger Zweck. Die Finger in vielen Geschäftsbereichen zu haben, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, in einem dieser Bereiche eine günstige Gelegenheit ergreifen zu können.36 Diese Gelegenheitsoptimierung durch Diversifizierung passte sich nicht nur an
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Vgl. für ein besonders interessantes Beispiel Kap. 11.3.1. Vgl. Lhôte 86 und 88 als Beispiele; vgl. Eidinow 2007, 72–74; laut Bonnechere 2017, Tab. 6 beziehen sich 12 % der Fragen auf Reisen, den Wohnort oder den Wohnortwechsel. S. Kap. 11.1. Foxhall 2007, 53; zum Geldverleih Millett 1991, 127–178; bereits Andreev 1984, 125–138 beobachtete dieses Strukturmerkmal; weil er allerdings die Maßstäbe eines modernen, spezialisierten Wirtschaftssystems anlegte, erkannte er die dahinterliegende Rationalität nicht und sprach von der „überschäumende[n] ‚Geschäftstüchtigkeit‘ breiter athenischer Kreise“, die als „überflüssige“ „Hektik“ ökonomisch unsinnig gewesen sei. Demosth. 37.4–17, 25 f., 52–54: Nikobulos verlieh Geld auf Zins und unternahm Handelsfahrten; als er mit der Arbeit eines Mannes, dem er Geld für den Betrieb einer Silbererz-Werkstatt geliehen
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14 Gelegenheitsoptimierung
eine dynamische, aber wenig integrierte Verkehrswirtschaft an, sie setzte sie vielmehr voraus. Das Warten auf Gelegenheiten wurde zur Routine: Griechische Haushalte spezialisierten sich geradezu darauf, nicht spezialisiert zu sein. Insofern ist es irreführend, wenn Weber und Hasebroek die Geschäfte von Mitgliedern der Oberschicht als ‚Gelegenheitshandel‘ marginalisieren.37 Der Unterschied zwischen armen und reichen Haushaltsvorständen bestand nicht darin, woher ihr Vermögen stammte, sondern ob sie in eigener Person das Feld bestellen oder mit ihren Handelswaren reisen mussten und wie viele Einkommensquellen ihr Vermögen umfasste. Die Patrizier des mittelalterlichen Florenz werden zwar häufig als merchant banker bezeichnet, sie steckten ihr Geld allerdings in jedes sich bietende Geschäft und besaßen daneben auch Landbesitz und Werkstätten.38 Francesco Datini, dessen Aufstieg in Kap. 11.3 knapp geschildert wurde, war zugleich Händler, Bankier, Tuchhersteller und enthusiastischer Landbesitzer; er handelte mit allem, was sich gerade anbot: Waffen, Wolle, Erz, Getreide, Tuch, Sklaven und Kunst.39 Datini war ein Aufsteiger, dem Vertraute vorhielten, dass er sich zuviel um das Geld und zu wenig um Ruf und Seelenheil kümmerte.40 Sich vornehm aus der direkten Verwaltung der Geldgeschäfte herauszuhalten, bedeutete jedoch nicht, auf diese zu verzichten, wie das Beispiel des Giovanni Piccamiglio zeigt. Der genuesische Adlige lenkte seine Angelegenheiten persönlich „comme il administre sa maison“, wie Jacques Heers schreibt, beschränkte sich dabei jedoch darauf Anweisungen und Kapital zu geben, während er die Ausführung seiner Geschäfte Händlern und Bankiers überließ.41 Heers’ Beschreibung Piccamiglios liest sich wie eine Beschreibung eines reichen athenischen Hausvaters in seiner Rolle als Prinzipal. Seine technē war keine spezielle, sondern der Umgang mit Geld an sich: die Bezeichnung chrēmatistēs, ‚Gelderwerbsmann‘, ist deshalb gerade in ihrer Diffusität exakt. 14.2.2 Die Gelegenheitsarbeit kleiner Haushalte Dem Gelegenheitshandel großer Haushalte entsprach die Gelegenheitsarbeit kleiner Haushalte. Je urbanisierter eine Region war, desto mehr Möglichkeiten boten sich, um den Ertrag des eigenen Ackers durch Lohnarbeit oder den Verkauf im Haus angefertig-
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hatte, unzufrieden war, setzte er einen Sklaven als Aufseher ein und involvierte sich damit direkter in den Betrieb der Werkstatt. Weber [1921] 1999, 193–195; Hasebroek 1928, 12 f. Brucker 1969, 57 f.; Najemy 2006, 109–117, 116; vgl. Goldthwaite 2009, 37–262. Origo [1957] 1993, 12, 33, 220 f., 228 f.; wie diese Gelegenheitsgeschäfte zustande kamen, zeigt ein Brief des Jahres 1387 mit der Anweisung, nur dann Bilder (für den Export) zu kaufen, wenn die Künstler in Geldnot seien, so dass man gute Bilder für geringen Preis bekäme; engl. Übers. in Lopez/Raymond 1955, 115 f. (Text 43). Origo [1957] 1993, 133 f., 197–200. Heers 1959, 37.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
503
ter Waren zu ergänzen. Männer verdingten sich als Ruderer, Erntehelfer oder Bauarbeiter, Frauen als Ammen oder Marktverkäuferinnen.42 Genau deshalb standen sie einem einzelnen Arbeitgeber nicht dauerhaft als Arbeitskräfte zu Verfügung (s. Kap. 12.3.5). Christophe Feyel hat mit seiner Auswertung der Bauinschriften der Heiligtümer in Athen, Delos, Delphi, Eleusis und Epidauros gezeigt, wie hoch die Mobilität und Flexibilität der arbeitenden Bevölkerung war. Die Arbeiter und Handwerker, die in den Heiligtümern arbeiteten, kamen aus der gesamten Ägäiswelt. Die meisten von ihnen waren „Zugvögel“, die nur ein oder zwei Aufträge erledigten.43 Die Stipulationen inschriftlich erhaltener Verträge zeigen, dass die Auftraggeber diese Mobilität als Problem empfanden, weil sie die Kontinuität der Arbeit gefährdete. Deshalb versuchten sie die Auftragnehmer durch Vergünstigungen und Vorschriften an sich zu binden.44 Das Meer, das diese Mobilität ermöglichte, schuf dabei selbst den größten Bedarf an Arbeitskraft: Der Bau, der Unterhalt und die Bemannung der Handels-, Transport und Kriegsschiffe brauchte hunderte gelernter Handwerker und tausende Seeleute und Ruderer.45 Studien zum mittelalterlichen Genua und Venedig betonen die wirtschaftliche Bedeutung der (dort ebenfalls mit Rudern angetriebenen) Seefahrt für die Städte und die Chancen, die sie der arbeitenden Bevölkerung boten.46 Im ägäischen Griechenland war dieser Effekt noch gleichmäßiger verteilt als im mittelalterlichen Norditalien, denn hier lagen die meisten größeren Städte am Meer und die wichtigsten von ihnen unterhielten eigene Galeerenflotten. Das Selbstbewusstsein des „Seepöbels“ (ναυτικὸς ὄχλος) in diesen Städten irritierte die Mitglieder der Oberschicht.47 Die Bereitschaft von Seeleuten und Ruderern kurzfristig zum Soldherrn mit dem höchsten Angebot zu wechseln, selbst wenn dieser auf feindlicher Seite stand, galt als so vorhersehbar, dass strategische Planungen darauf aufbauten.48
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Vgl. dazu Kap. 12.3.5. Feyel 2006, 332–336, 341–368. Eine Ausnahme sind die attischen Bauprojekte, bei denen der Großteil der Auftragnehmer aus Attika selbst kam, weil hier, anders als in den kleinen Städten, das lokale Arbeitsangebot ausreichte, ebd. 342–348; aber selbst hier erledigten die meisten Auftragnehmer nur ein oder zwei Arbeiten, ebd. 333, Abb. 5, 6. Feyel 2006, 336–340; vgl. Burford 1969, 89–109 für griechische Bauverträge. Dazu Kap. 14.2. Epstein 1996, 98 f. für Genua; Lane 1973, 48–51 für Venedig. Vgl. Thuk. 8.84 über die Aufmüpfigkeit der freien Seeleute aus Syrakus und Thurioi; [Xen.] Ath. pol. 1.19 f. kommentiert die Erfahrung des athenischen Dēmos als Ruderer, Seeleute und Steuermänner auf Trieren und Frachtschiffen; Aristoph. Ran. 1069–1073 bezeugt das besondere Selbstbewusstsein der Schiffsmannschaften ebenfalls; Aristot. pol. 7, 1327 b 11–16 empfiehlt deshalb Freie durch Sklaven zu ersetzen; das Selbstbewusstsein der Ruderer, Seeleute und Schiffsbauer prägte auch Venedig; vgl. Lane 1973, 50 f. und die bei Chambers 1992, 289–291 in engl. Übers. abgedruckten Aktenberichte über das Protestpotential und die Verdienstmöglichkeiten der Arbeiter des Arsenals, der großen Kriegswerft in Venedig. Thuk. 1.121,3; Xen. hell. 1.5,4–8; vgl. [Demosth.] 50.7, 12, 35. Es war übliche Praxis, dass Feldherren einen Teil des Lohns zurückhielten, um Soldaten oder Ruderer an sich zu binden, Pritchett 1971, 24–26.
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14 Gelegenheitsoptimierung
Flexibilität und Mobilität waren häufig schlichte Notwendigkeit in einer Welt ohne feste Anstellungsverhältnisse oder kontinuierliche Industriearbeit. Für Gewerbetreibende konnte die Ausweitung ihres Tätigkeitsspektrums allerdings auch Zeichen sozialen Aufstiegs sein. Der Geschichtsschreiber Diodor bedauert es angesichts der Erblichkeit des Berufsstandes bei den Ägyptern, dass „bei anderen Völkern“ – gemeint sind offensichtlich die Griechen – die Handwerker ihre Aufmerksamkeit vielen Dingen zuwenden und „aus Habsucht“ (διὰ τὴν πλεονεξίαν) nicht bei „ihrem eigenen Gewerbe“ (τῆς ἰδίας ἐργασίας) bleiben wollen. Stattdessen wendeten sie sich Landwirtschaft und Fernhandel zu, so dass sie „zwei oder drei Gewerbe (τεχνῶν) vereinen“.49 Der Textkontext und die Gegenüberstellung mit einem ähnlichen Vergleich von ägyptischen und griechischen Sitten bei Herodot legt nahe, dass Diodor hier einer älteren Vorlage oder zumindest einem etablierten Topos folgt.50 Platon bestimmt in den Gesetzen, dass kein Handwerker (dēmiourgos) zwei Handwerke gleichzeitig ausüben soll, weil niemand gleichzeitig zwei Gewerbe/Künste (technai) gut ausführen oder auch nur einen anderen in einem zweiten Gewerbe „beaufsichtigen“ (ἐπιτροπεύειν) könne. Deshalb solle kein Erzgießer Zimmermann sein und auch niemand, der als Zimmerman tätig sei, für andere, die als Ergießer arbeiteten, mehr Fürsorge treiben als für sein eigenes Gewerbe, etwa unter dem Vorwand, „dass er sich um viele als Handwerker tätige Sklaven kümmern müsse“ (πολλῶν οἰκετῶν ἐπιμελούμενος ἑαυτῷ δήμιουργούντων), denn es sei wahrscheinlich, dass er mehr „für die anderen Sorge trage“ (ἐπιμελεῖται), weil sie ihm größere Einkünfte brächten als sein eigenes Gewerbe.51 Platon verwendet den Ausdruck epimeleisthai, „Fürsorge tragen, managen“, einen Schlüsselbegriff der Ökonomik, dreimal in diesem einen Satz.52 Sein Beispiel vom Mann, der eine Erzwerkstatt und eine Tischlerwerkstatt vereint, entspricht verblüffend genau Demosthenes dem Älteren, der bei günstiger Gelegenheit die familiäre Messerschmiede um eine ‚Werkstatt‘ von klinen-herstellenden Sklaven ergänzte.53 Das Beispiel zeigt zudem, dass die Fähigkeit zur Diversifizierung eine Frage des wirtschaftlichen Erfolgs war. Der Mann, der mehrere Werkstätten unter seiner Aufsicht vereint, steigt vom spezialisierten Handwerker zum Eigentümer eines diversifizierten Vermögen auf, der seine Sklaven beaufsichtigt und die Waren kaufmännisch vertreibt.54
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Diod. 1.74,7. Vgl. Hdt. 2.167. Plat. leg. 8, 846d–847a; vgl. den „demokratischen Mann“ in rep. 8, 561c–d. Vgl. Kap. 13.1. Zum Vermögen des Demosthenes d. Ä. vgl. Kap. 13.3.4 und 15.2. Auch dafür gibt es einen nicht-literarischen Beleg aus Dodona: Ein Mann mit rhodischem Dialekt (4. Jh.) fragt, ob es „vorteilhaft“ (σύμφορον) für ihn sei, wenn er Fernhandel betreibe, nach Gutdünken importiere und exportiere, und dabei weiterhin „sein Gewerbe betreibe“ (τᾶι τέχναι χρεύμενος); offenbar handelt es sich um einen Handwerksmeister, der darüber nachdenkt, zum fernhandeltreibenden Unternehmer aufzusteigen, vgl. Lhôte 89.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
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Die Erweiterung des eigenen Vermögens um eine ganze Werkstatt oder der Wechsel des Wohnorts oder des Gewerbes waren weitreichende Entscheidungen, die man nicht häufig oder spontan fällte. Diese besonderen Entscheidungen sind allerdings nur Kulminationspunkte der alltäglichen Suche nach günstigen Gelegenheiten. Die attischen Komödien und die Charaktere Theophrasts zeigen ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Schwanken von Preisen (das eine Komödienfigur mit Fieber vergleicht55) und die Versuche, dabei einen guten Schnitt zu machen, häufig auch auf Kosten anderer. Im Alltag war mit dem „rechten Moment“, ὁ καιρός, meist ein gutes Geschäft gemeint.56 „Die guten Hauswirte (οἰκονόμοι)“, schreibt Xenophon in den Memorabilien, „sagen, dass man kaufen muss, wenn man etwas von großem Wert um einen geringen [Preis] erwerben kann“.57 Ischomachos im Oikonomikos ist dafür Vorbild. Der antike chrēmatistēs, so hat es Carlo Natali treffend beschrieben, glich nicht dem modernen Geschäftsmann, sondern eher dem vormodernen Jäger: Er brauchte kein abstraktes Modell der Marktmechanismen oder mathematische Analyse, um sein Revier zu kennen und seiner Beute nachzustellen.58 14.2.3 Die Suche nach wertvollen Informationen Was der Jäger günstiger Geschäfte brauchte, war Information. Denn Gelegenheiten konnte nur nutzen, wer von ihnen wusste. Die Gelegenheitsoptimierung erforderte daher beständige Informationsbeschaffung und -bewertung: „If Greek householders could ever be considered ‚specialized‘ in any sense, it may have been as gatherers and evaluators of information.“59 Diese Informationssuche war sozial eingebettet. Nicht die Tageszeitung, die Handelskammer oder amtliche Statistiken stellten die relevanten Informationen zur Verfügung, sondern die Interaktion auf der Agora, auf der Straße und beim gemeinsamem Speisen und Trinken. Der „Bäurische“ fragt auf dem Weg in die Stadt zuallererst nach den aktuellen Preisen und der „Misstrauische“ lässt sich über die Preise auf dem Markt informieren, um nicht von seinen Sklaven übervorteilt zu werden.60 Zu den Informationen, die Theophrasts „Redseliger“ verbreitet, gehören die Klage über den allgemeinen Sittenverfall und der Tratsch über den großzügigsten Spender bei den Mysterien, aber auch die Angabe, wie billig der Weizen auf dem Markt 55 56 57 58 59 60
Alex. fr. 15 PCG (Athen. 3.117e–118a); vgl. Arnott 1996, 95–99 zur Textrekonstruktion. Theophrasts „Ungelegener“ (ἄκαιρος) bringt erst einen Käufer, „der mehr bietet“, wenn man bereits verkauft hat, char. 12.8; der ‚Kleinliche‘ macht anderen den Erfolg schlecht: „Hat einer billig eingekauft und rechnet es ihm vor, behauptet er, es sei noch zu teuer“, 10.4. Xen. mem. 2.10,4: οἱ μέντοι ἀγαθοὶ οἰκονόμοι, ὅταν τὸ πολλοῦ ἄξιον μικροῦ ἐξῇ πρίασθαι, τότε φασὶ δεῖν ὠνεῖσθαι. Natali 1990, 324. Foxhall 2007, 53. Theophr. char. 18.2.
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14 Gelegenheitsoptimierung
ist, wie viele Fremde in der Stadt sind und dass das Meer seit den Dionysien schiffbar sei und er nächstes Jahr ein Feld bestellen werde.61 Ein Gutteil der Informationen, über die man tratschte, sind also wirtschaftlicher Art. Charakteristisch für den Redseligen ist allerdings, dass er Informationen verbreitet, die niemandem einen wertvollen Vorsprung verschaffen, weil sie allgemein verfügbar sind. Sian Lewis hat die Bedeutung von Barbierstuben, Parfümläden und Wirtshäusern als wichtige Orte zur Verbreitung von Informationen herausgearbeitet.62 Wer einen Kaufmann suchte, der konnte erwarten, ihn dort zu finden.63 Bei den Tischen der Geldwechsler konnte man Neuigkeiten aus der Fremde erfahren, weil dort Reisende nach ihrer Ankunft Geld einwechselten,64 und Bankleute und Geldwechsler waren bevorzugte Vermittler neuer Geschäfte.65 Werkstätten waren Treffpunkte, um Meinungen und Informationen auszutauschen und neue Geschäfte anzubahnen.66 Das Phänomen war nicht auf Athen beschränkt. Theopomp berichtet über Byzantion, dass das ganze Volk seine Zeit auf dem Markt, am Hafen und beim Wein in Wirtshäusern verbringe. Sie täten dies, weil sie in einer Demokratie lebten und ihre Stadt ein Handelszentrum sei.67 Die Begründung verrät, dass hinter der abfälligen Bemerkung mehr steckt als die Verleumdung eines demokratischen Regiments. In einer Stadt, die vom Zwischenhandel lebte und viele Fremde aufnahm, bot die Vermietung von Unterkünften an Fremde und das gemeinsame Trinken Gelegenheit zum Austauschen relevanter Informationen und Anbahnen neuer Geschäfte.68 Aufsehen erregende Neuigkeiten waren Stadtgespräch und damit tendenziell jedem zugänglich.69 Wirklich wertvoll waren hingegen Informationen, die nicht jeder ausnutzen konnte, weil sie sich über persönliche Netzwerke verbreiteten. Während Haushalte nach außen hin Schweigen bewahren sollten (vgl. Kap. 8.2), war es innerhalb 61 62
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Char. 3.3. Lewis 1995; 1996, 9–23; vgl. Matuszewski 2019, 63–92, 174–176. In Aristophanes’ Plutos, 335–345, erfährt Blepsidemos in den Barbierstuben, dass sein Freund Chremylos zu Reichtum gekommen sei und macht sich auf, seinen Anteil zu holen; in Menanders Samierin (vv. 508–513) malt sich ein Hausvater aus, dass sein vorbildliches Handeln Stadtgespräch in allen Säulenhallen und Barbierstuben wird. [Demosth.] 34.13; Hyp. 4.21; Theophr. char. 11.8. Plut. de garr. 513a–c; die Historizität der Anekdote ist zweifelhaft, aber ihre Plot-Struktur glaubwürdig, wie der Vergleich zu Plat. Hipp. min. 369a zeigt; vgl. Soverini 1998, 32. Bogaert 1968, 385; Cohen 1992, 111–189; vgl. Demosth. 37.11–17 und [Demosth.] 35.6–9. And. 1.40; Lys. 24.20; Isokr. 7.15; Hyp. 4.21. Theop. FGrH 115 F 62 (= Athen. 12.526d–f). Zur Vermietung von Unterkünften in Byzantion vgl. Kap. 9 mit Anm. 10 und Kap. 11.3.3 zu Weinkonsum und Kommensalität; man vergleiche die Rolle der Gast- und Schankwirte bei der Vermittlung von Geschäften im spätmittelalterlichen Brügge, Roover 1963a, 109, 114 f. Der athenische Unternehmer Leokrates verbreitete angeblich 338 in Rhodos die falsche Nachricht vom Fall Athens, weshalb die Kaufleute, die nach Athen segeln wollten, ihre Waren gleich vor Ort abluden, Lyk. 18; vgl. als fiktive Variante Eur. Hipp. 155–160; der Denunziant zeigt an, was er auf dem Markt aufschnappt, Aristoph. Thesm. 577–581, und die Händler verbreiten falsche Schreckensnachrichten, um das Getreide zu teuern, Lys. 22.14.
14.2 Die Suche nach guten Geschäften
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des erweiterten Haushalts umgekehrt geradezu moralische Pflicht, Informationen zu teilen.70 Netzwerkanalysen der modernen Wirtschaftswelt betonen die Wichtigkeit informeller Netzwerke besonders bei der Stellensuche. Im antiken Griechenland waren sie für jeden Aspekt des Geschäftemachens essentiell.71 Netzwerke mussten nicht nur intensiv geknüpft sein, sondern auch extensiv, damit man über ‚schwache Verknüpfungen‘ (weak ties) zu anderen Gruppen Informationen außerhalb des Gesichtskreises des externen Haushalts erhielt.72 Auch wenn es um Geldgeschäfte ging, waren die Kooperationspartner zu allererst Freunde (philoi), Vertraute (epitēdeioi) oder gar ‚Hausvertraute‘ (oikeioi) – nicht anders als in Florenz, wo Geschäftsfragen in der Sprache der Freundschaft verhandelt wurden.73 Informationssuche und Gelegenheitsoptimierung waren nicht das Resultat anonymer Kapitalmärkte, sondern der gezielten Akkumulation und Investition von sozialem Kapital. Die relevante Information war deshalb sowohl sachlich als auch sozial: War das Geschäft, das in Aussicht stand, attraktiv? War der potentielle Kooperationspartner vertrauenswürdig, genoss er einen guten Ruf? So wie die begrenzte Rationalität griechischer Hauswirtschaft Entscheidungen über Entscheidungen erforderte, erforderte sie Information über Information: die MetaInformation der Reputation (dazu noch Kap. 16.3.2).74 Vertrauen und Reputation waren wichtig, weil Information in dem Maße, wie sie der Gelegenheitsoptimierung diente, auch dem Opportunismus dienen konnte. Es war immer zu befürchten, dass selbst Geschäftspartner zu Konkurrenten um den entscheidenden Informationsvorsprung werden konnten.75 70
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Men. Pk 267–274: Ein Sklave hofft, durch das Überbringen nützlicher Informationen die Gunst seines Herrn zu erwerben; Hdt. 7.237,2 f.: Es ist das Zeichen der Konkurrenz unter Bürgern, dass diese einander guten Rat verschweigen, der Gastfreund hingegen gut berät; Theophr. char. 12.8: Der „Ungelegene“ bringt seinem Freund erst dann einen guten Käufer, wenn der schon verkauft hat; ebd. 30.12: Der „schändlich Gewinnsüchtige“ nutzt die Fehlinformation eines Freundes aus, um an ihn teurer zu verkaufen. Den prominentesten netzwerktheoretischen Ansatz in der Wirtschaftssoziologie vertritt Granovetter 2017. Vgl. den klassischen Aufsatz von Granovetter 1973, bes. 1363–1373. Vgl. Kap. 2.2 und 11.2 zur Kooperation im erweiterten Haushalt, sowie in diesem Kapitel Anm. 68 und 74; zu Florenz, vgl. Padgett/McLean 2011. Vgl. [Demosth.] 35.6–9: Der Redner rechtfertigt, warum er mit Männern, die er nicht persönlich kannte, Geschäfte machte, damit, dass Freunde den Kontakt vermittelt hätten und er sie deshalb für „anständige Leute“ (ἐπιεικεῖς ἀνθρώπους) hielt; laut Demosth. 37.7–17 beschwerte sich Nikobulos bei seinem Bekannten Mnesikles darüber, dass dieser ihm einen (angeblich) so unzuverlässigen Geschäftspartner wie Pantainetos vermittelt habe; Mnesikles fühlte sich offenbar in der Verantwortung, denn er organisierte daraufhin ein Schlichtungstreffen. Der Florentiner Paolo da Certaldo rät, wenn man Briefe für andere und sich selbst empfange, zuerst die eigenen zu lesen, bevor man diejenigen weitergebe, die man für andere mitgenommen habe, Nr. 251, Ed. V. Branca (1986); vgl. [Demosth.] 56.8–10 für die Beschwerde eines Investors, seine Vertragspartner hätten sich mit Briefen über Preise ausgetauscht, um ihren Gewinn zu maximieren, anstatt sich an die Vertragsbedingungen zu halten; dazu Mossé [1962] 1979, 134 f. und Möller 2007, 369 f.; vgl. die Anekdote in [Aristot.] oec. 2, 1352 b 4–13; ein ähnliches Problem mit unzuverlässigen Agenten schildert [Demosth.] 34.8, 28: Der reiche Kaufmann Chrysippos gab
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Bürger genossen bei dieser Konkurrenz um Information einen gewissen Vorsprung, weil sie entweder selbst an der städtischen Regierung teilhatten oder in Nahbeziehungen zu aktiven Bürgern standen.76 Die attischen Reden und die pseudo-aristotelische Verfassung der Athener zeigen, dass athenische Bürger in vielfältigen Rollen, ob als Richter, Magistrat oder als Priester, aus erster Hand über Besitzverhältnisse, Erbfälle, Handelsgeschäfte und relevante politische Ereignisse informiert wurden. Eine große Stadt wie Athen war zwar gerade nicht mehr „gut überschaubar“ (εὐσύνοπτος), wie es Aristoteles für die ideale Stadt fordert, damit jeder den Wert seines Mitbürgers einschätzen könne.77 Aber in einer kleinen Stadt wie Delos war Aristoteles’ Kriterium schon besser erfüllt. In die Verpachtung der dem Gott Apollon geweihten Landgüter auf Delos, Rheneia und Mykonos war ein Großteil der Bürgerschaft (jedenfalls ihrer Oberschicht) als Pächter, Bürgen, Priester, Verwalter des Heiligtums, Aufseher und Richter direkt involviert.78 Die soziale ‚Einbettung‘ der Wirtschaft, ihre mangelnde funktionale Differenzierung, ist also in beide Richtungen zu denken.79 Kaum eine soziale Beziehung war ausschließlich ‚geschäftlich‘. Bei der Suche nach guten Geschäften und Informationen mussten die Mitglieder eines Hauses stets die Normen der Freundschaft und des Bürgerseins achten. Umgekehrt galt jede soziale Beziehung als potentielle Verknüpfung zur nächsten nützlichen Information und zur nächsten günstigen Gelegenheit, um sein eigenes Haus ‚zu vergrößern‘. 14.3 Unabhängigkeit und Verhandlungsmacht Die Voraussetzung für die Gelegenheitsoptimierung war die hinreichende Unabhängigkeit des Haushalts von äußeren Zwängen, um nach Maßgabe der eigenen Präferenzen zu entscheiden. Das erforderte nicht nur die Freiheit von förmlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Haushalten, sondern auch, dass man es sich leisten konnte, auf günstige Gelegenheiten zu warten, weil man über hinreichende Mittel zur Deckung des täglichen Bedarfs verfügte. Das Kunstwort autarkeia brachte dieses
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dem Händler Phormion Briefe an seinen Sklaven/Freigelassenen und an seinen Bruder und Geschäftspartner im Bosporos mit; Phormion habe die Briefe nicht ordnungsgemäß übermittelt, weil er wusste, dass sie seinen betrügerischen Plänen abträglich waren; Theophr. char. 18.2 thematisiert das Problem in alltäglicher Situation, dem Lebensmitteleinkauf auf dem Markt. Vgl. Roover 1956b, 153 zum Unwillen der florentinischen Kaufleute im 15. Jh., ihre Bücher den Steuerbeamten vorzulegen, weil diese als Privatpersonen zugleich Geschäftskonkurrenten waren. Aristot. pol. 6, 1326 a 35–b 25; z 31–33; genauso Plat. leg. 5, 738e; dazu Veyne 1976, 119. Kent 1948, 267–276; die Pächter waren reiche Bürger, welche die Gehöfte mit ihren Sklaven bewirtschafteten, Pečírka 1973, 137–140; Jameson 1992, 139. Vgl. Kah 2014 für die Berechnung des hohen Partizipationsgrads der Bürger in Priene. Ähnlich Leese 2017, 43 mit Bezug auf Heiratsallianzen.
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Ideal der Unabhängigkeit dank Weisungsungebundenheit und hinreichender Versorgung auf den Begriff (s. Kap. 6.4.4): Ökonomisch ausgedrückt bedeutete das, nicht zu Transaktionen gezwungen zu sein, solange man in einer schwachen Verhandlungsposition war. Dieses Leitmotiv teilten Kleinbauer und Großgrundbesitzer, Kaufmann und Handwerker. Lysias und Isokrates führen es als Elend von Verbannten an, in der Fremde von Freunden verlassen „wegen geringfügiger Verträge versklavt zu sein“.80 Formulierung und Kontext dieser Wendung verraten eine gewisse Topik des Gedankens, aber seine Logik leuchtet ein. Dem Verbannten fehlt ein erheblicher Teil seines akkumulierten Kapitals, das ihm Sicherheit bietet: Grundbesitz, das soziale Kapital der „Freunde“, das institutionelle Kapital des Bürgerrechts. Die Abhängigkeit, die dem begüterten Bürger während der Verbannung drohte, drohte demjenigen, der nur von seiner Arbeit lebte, ständig. In Menanders Heros wird die Geschichte eines Hirten namens Tibeios erzählt, der sich Geld borgen musste, um seine Kinder zu ernähren. Nach seinem Tod musste sein Sohn Gorgias erneut Geld leihen, um seinen Vater nach rechtem Brauch zu bestatten und seither arbeiten seine Schwester und er selbst die Schulden im Haus des Gläubigers ab. Den Sklaven im Haus gelten sie bereits als ‚Quasi-Sklaven‘.81 Die diversifizierte Wirtschaft großer Städte wie Athen bot kleinen Haushalten allerdings mehr Möglichkeiten als das Hinterland, Versorgungsengpässe durch Gelegenheitsarbeit zu überwinden.82 Alltäglicher als die Angst vor Verknechtung war hier das Gefühl zu ungünstigen Bedingungen kaufen und verkaufen zu müssen. Paradigmatisch ist die Haltung des Weinbauern Dikaiopolis in Aristophanes’ Archarnern. Zu Beginn des Stücks verflucht er den städtischen Markt und sehnt sich zurück aufs Land, wo er nichts zu kaufen braucht, weil sein Landgut seinen Grundbedarf deckt.83 Was Dikaiopolis ärgert, ist nicht der Markt an sich, sondern die für ihn ungünstigen Bedingungen wegen der kriegsbedingten Teuerung.84 Den Frieden nutzt er sofort, um selbst einen Markt abzuhalten; auf dem genießt er selbst die größere Verhandlungsmacht, weil nun er an andere verkauft, die in Not sind und er die Regeln festlegt. Der Chor kommentiert: „Hier schadet keiner dir durchs Wegkaufen der Speisen.“85 Im Frieden feiern die Weinbauern neben dem reichen Angebot an Lebensmitteln auch, dass die 80 81
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Lys. 12.96–98: μικρῶν ἂν ἕνεκα συμβολαίων ἐδούλευον; Isokr. 14.48. Men. Heros 18–45; Ste. Croix 1981, 163 hatte vermutet, dass die hier beschriebene Schuldknechtschaft ein Resultat der oligarchischen Verfassung nach 322 sei; Harris 2002a zeigt, dass zu dieser Erklärung kein Grund besteht, weil die Schuldknechtschaft in Athen nie abgeschafft wurde; das galt zumindest, muss man einschränkend hinzufügen, für Nicht-Bürger vgl. dazu HINSCH (im Druck). Millett 1991, 74–79. Aristoph. Ach. 32–36. Harris 2002b, 78 gegen Finley [1973] 1993, 123 und ähnliche Interpretationen dieser Stelle; Olson 1991, 202 f. hebt allerdings zu Recht hervor, dass sich Dikaiopolis einen Markt ohne Geld wünscht. Aristoph. Ach. 719–928, hier 842: οὐδ᾽ ἄλλος ἀνθρώπων ὑποψωνῶν σε πημανεῖ τι. Übers. L. Seegers.
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Werkzeuge der städtischen Handwerker nun wieder erschwinglich sind und megarische Arbeitskittel für Sklaven angeboten werden.86 Gerade wegen ihrer engen Bindung an den städtischen Markt hatten die Landwirte ein gespaltenes Verhältnis zum Kaufen und Verkaufen. Es ist kein Zufall, dass Aristophanes beim Thema Marktabhängigkeit auf Lebensmittel fokussiert. Die Nachfrage ist bei ihnen besonders inelastisch, weil man auf Grundnahrungsmittel nicht verzichten kann. In der gesamten Antike kam hinzu, dass ihr Angebot stark schwankte, aufgrund von Ernteausfällen, Kriegsführung und den Zufälligkeiten eines Handels, der über eine Vielzahl nur schwach integrierter Märkte abgewickelt wurde (s. Kap. 3.1). Es war deshalb nicht nur eine Frage des Prestiges, wenn reiche Aufsteiger ihr Geld in Landgüter reinvestierten. Ihr Ziel war nicht, sich vom Markt abzuschotten, sondern in ein profitables Verhältnis zu ihm zu treten. Wer über ein eigenes Landgut verfügte, konnte sich (im Gegensatz zur städtischen Unterschicht) besser vor den Preisschwankungen bei Nahrungsmitteln schützen oder sogar von ihnen profitieren, wenn er Getreide hortete und portionsweise verkaufte.87 Dikaiopolis träumt davon, ein Verkäufer auf einem Käufer-Markt zu sein, genauer gesagt: der einzige Verkäufer. Eine solche Monopolstellung zu erringen, war die Idealvorstellung der Gelegenheitsoptimierung. Beide Beispiele praktischer Erwerbskunst in Aristoteles’ Politik I betreffen Individuen, die einen Informationsvorsprung (Thales) oder situativ verfügbares Kapital (der Mann in Sizilien) nutzen, um eine außerordentliche Monopolrente einzustreichen.88 Die Finanzverwaltung von Städten und Herrschern, die der privaten Hauswirtschaft strukturell glich, betrieb eine ähnliche Gelegenheitsoptimierung, um Versorgungsengpässe zu überwinden (vgl. Kap. 6.1.6). Für einzelne Haushalte war die Errichtung eines Monopols fast immer ein Wunschtraum, den man gerade in Notzeiten träumte, wie Dikaiopolis. Als handlungsleitende Idealvorstellung ist dieser Wunsch jedoch aufschlussreich für die Strategien der Hauswirtschaft im Umgang mit städtischen Märkten. Zugleich hilft sie zu erklären, warum die Beteiligung am kommerziellen Handel schlecht beleumdet war, obwohl sie so weit verbreitet war. Ein Monopol verschafft dem Anbieter einer Ware eine Produzentenrente, d. h. einen Gewinn, der nicht nur durch die Optimierung des gegenseitigen Grenznutzens durch Tausch entsteht, sondern durch Umverteilung. In einer solchen Lage spiegelte der Nutzen des einen Haushalts den Schaden des anderen. Vor diesem Hin86 87
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Aristoph. Pax 999–1250. Wolf 1966, 45; Halstead [1987] 2002, 53–70; Gallant 1991, 133–142; die Forschung argumentiert hier stark mit dem ethnographischen Vergleich; die Bemerkung von Plut. Perikles 16.4, dass an Perikles’ Hauswirtschaft besonders war, dass er nicht portionsweise verkaufte, zeigt allerdings die Berechtigung der Analogie; vgl. dazu Kap. 13.3.3. Das athenische Getreidesteuergesetz von 374/3 schrieb den Verkauf des Getreides in öffentlicher Hand für den Frühlingsanfang vor, also genau die Zeit, wenn die Preise saisonbedingt am höchsten waren; vgl. Rhodes-Osborne, GHI 26 mit Engels 2000, 111. Aristot. pol. 1, 1259 a 14–33; vgl. dazu oben Kap. 5.2.2.
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tergrund ist Aristoteles’ Theorie des gerechten Tauschs zu verstehen. Sie begreift den Tausch nicht als Markttransaktion, bei dem die Warenpreise durch die Integration von Angebot und Nachfrage zahlloser Marktteilnehmer konzeptualisiert wird, sondern als bilaterale Verhandlungssituation, bei welcher der Bedarf / die Bedürftigkeit (chreia) über den Preis entscheidet und der Gewinn (kerdos) des einen Tauschpartners ein Verlust (zēmia) des anderen ist.89 Xenophons „gute Hauswirte“, die sich auf das Kaufen und Verkaufen im richtigen Moment verstehen, folgen der gleichen Maxime wie jene, die laut Xenophon „auf der Agora die Güter umschlagen, und darauf aus sind, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen“, Kleinhändler also, die Xenophon abschätzig zum einfachen Volk zählt.90 Hierin liegt die Erklärung, warum die Gelehrten des 4. Jhs. den Handel an sich für notwendig oder sogar gut hielten, die Händler jedoch fast ausnahmslos für verworfene Personen. Bei Platon heißt es, der Handel sei gut, weil er die Güter und den Reichtum gleichmäßig verteile und damit der Befriedigung „der Bedürfnisse“ (ταῖς χρείας) und dem Ausgleich der Vermögensverhältnisse diene. Doch leider fehle es denen, die Handel treiben, an der Selbstbeherrschung, um darauf zu verzichten, ihre lokale Verhandlungsmacht auszunutzen.91 Platon nennt als Beispiel den Gastwirt in der Einöde, der seine Gäste ausnimmt. Das Beispiel schafft Distanz, indem es suggeriert, dass die Gelegenheitsoptimierung auf die berufsmäßigen kleinen Gewerbetreibenden beschränkt war. Das ist nicht der Fall. Derselbe nutzenmaximierende Opportunismus, den Platon mit Blick auf den Gemeinnutzen verurteilt, empfiehlt Xenophon mit Blick auf den partikularen Nutzen des Hauses.92 Xenophons und Platons Unbehagen mit dieser Vorteilnahme spiegelt das Problembewusstsein ihrer Zeit: Des einen Hauses Vorteil war in diesen Fällen immer des anderen Hauses Nachteil. Es gab daher ein Bedürfnis nach Rechtfertigungen, und die Gelehrten lieferten diese. In Anschluss an die oben zitierte Klage über die mangelnde Tugend (aretē) der Handeltreibenden führt Platon weiter aus, dass wenn „in jeder Hinsicht hervorragende Männer“ (τοὺς πανταχῇ ἀρίστους ἄνδρας) oder auch Frauen einmal doch durch irgendeine „Zwangslage“ „gezwungen wären“ (προσαναγκάσειεν; τινος ἀνάγκης εἱμαρμένης) Kramhandel oder eine Gastwirtschaft zu betreiben, sie dies so redlich täten, dass sie „wie Mütter oder Ammen“ – liebevolle Versorger also – verehrt würden.93 Dieses scheinbar rein philosophische Gedankenspiel hat Realitätsbe-
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Eth. Nic. 5, 1132 b 11–20, 1133 a 5–27; dazu ausführlich Lowry 1987, 182–212. Xen. mem. 3.7,6: τοὺς ἐν τῇ ἀγορῷ μεταβαλλομένους καὶ φροντίζοντας ὅ τι ἐλάττονος πριάμενοι πλείονος ἀποδῶνται. Plat. leg. 11, 918a–919a. Vgl. die parallel konstruierte Konditionalphrase zur Beschreibung der günstigen Gelegenheit: Xen. mem. 2.10,4: ὅταν τὸ πολλοῦ ἄξιον μικροῦ ἐξῇ πρίασθαι; Plat. leg. 11, 918d: ὅταν ἐξῇ χρήματα λαθεῖν πολλά. Plat. leg. 11, 918d–e.
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zug. Gerade deshalb schafft Platon mit sprachlichen Markern Distanz zum Thema.94 Denn tatsächlich kam es immer wieder vor, dass ihrem Selbstverständnis nach ‚Edle‘ wegen wirtschaftlicher Not Tätigkeiten ausüben mussten, die ihrem Standesethos widersprachen – man denke an die Figuren im zweiten Buch von Xenophons Memorabilien.95 Platons ausdrücklicher Verweis auf die Arbeit sogar von Frauen unterstreicht den Wirklichkeitsbezug seiner Äußerungen.96 Platons Gedankenspiel lieferte gewissermaßen ein Rechtfertigungsmuster für Haushalte, bei denen Status und Erwerbspraxis im Widerspruch standen. Dieses Muster bedient sich des etablierten Gegensatzes vom Guten und vom Notwendigen: Der Zwang der widrigen Umstände ist Grund für eine temporäre Praxis, bei der man – anders als die meisten – die eigene Tugend beibehält. Wie Xenophons Ischomachos und Aristophanes’ Chremylos ist Platons Gelegenheitshändler ein einsamer Gerechter, umringt von habsüchtigen Verbrechern.97 Diese Weltsicht ist kollektiv betrachtet inkonsistent, doch sie entspricht der subjektiven Wahrnehmung des einzelnen Haushalts. Praktische Anschauungsbeispiele zu Platons theoretischer Konstruktion liefern die Narrative geschickter Hauswirtschaft im zweiten Buch von Xenophons Memorabilien (vgl. Kap. 4.1.1 und 6.2.1). Ein gemeinsames Merkmal dieser Episoden ist, dass eine temporäre Notlage die ehrenwerten Hausväter dazu zwingt, zur Erfüllung ihrer Familien-, Freundes- oder Bürgerpflichten ihre Hauswirtschaft neu auszurichten, um an den Gewinnchancen der Verkehrswirtschaft zu partizipieren. Die Gerichtsreden zeigen, dass die im gelehrten Diskurs konstruierten rhetorischen Vorlagen zum praktischen Einsatz kamen resp. ihr Anschauungsmaterial aus der alltäglichen Kommunikation nahmen. In der pseudo-demosthenischen Rede gegen Gegen Eubulides rechtfertigt der Sprecher die Arbeit seiner Mutter als Stillamme mit dem Hinweis auf eine kriegsbedingte Not, die freilich genauso diffus bleibt wie analoge Verweise in Xenophons Memorabilien.98 In der Rede Gegen Pantainetos entzieht sich ein gewisser Nikobulos dem Vorwurf, er betreibe den verhassten Wucher mit der Behauptung, dass er nur gelegentlich und nicht professionell Geld verleihe und eigentlich Händler sei.99 Nikobulos konnte diese Verteidigungstaktik wählen, weil er dank seiner diversifizierten Geschäfte Spielraum hatte, welches Gewerbe er als sein ‚eigentliches‘ auswählte. Wenn sein performatives Auftreten diese Selbstdarstellung nicht zu deutlich Lügen strafte, dann hatte sie Aussicht auf Erfolg, weil die berufliche Identität nicht von Zunft94 95 96 97 98 99
Gleich zu Beginn steht die abwehrende Formel „das möge nie passieren“ (μή ποτε γένοιτο οὐδ’ ἔσται), fast wie die Erwähnung des Todesfalls im Testament; ein Humor-Marker (γελοῖον εἰπεῖν) wahrt ebenfalls Distanz. Xen. mem. 2.7–10; dazu Kap. 4.1.1. Vgl. Kap. 10.2.2 zur notbedingten Arbeit von Frauen. Vgl. Kap. 3.2.1. Demosth. 57.45. Demosth. 37.52–54: Der Angeklagte gehöre nicht zu jenen, die den Wucher zur technē gemacht hätten.
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registern oder Meisterbriefen festgelegt wurde, sondern vom Auftreten in der städtischen Öffentlichkeit.100 Nicht von einer einzigen Einkommensquelle abhängig zu sein schützte also nicht nur gegen wirtschaftliche Risiken im engeren Sinne, sondern auch vor dem sozialen Risiko des Ansehensverlusts, wenn man die Optimierung der Hauswirtschaft allzu aggressiv betrieb.
100 Vgl. Kap. 3.3.2; bereits Weber [1921] 1999, 196 f. stellt fest, dass vor allem die ostentative Lebensführung über den sozialen Status entschied; kaum zufällig verwiesen die Gegner des Nikobulos auf dessen performatives Auftreten in der städtischen Öffentlichkeit.
15 Risikominimierung Ein wichtiges Ergebnis des Vergleichs mit den ethnologisch erforschten Formen der peasant economy ist, dass die Priorität vormoderner Hauswirtschaft eher auf Risikominimierung als auf Gewinnmaximierung lag.1 Tatsächlich zeigen die literarischen Texte des 5. und 4. Jhs. ein ausgeprägteres Bewusstsein für die Unsicherheit wirtschaftlicher Erfolge als manch ein modernes Ökonomie-Lehrbuch.2 Platon und Aristoteles betonen als Merkmal der praktischen Künste, für die sie Ackerbau und Erwerbskunst als Beispiele nennen, dass ihre Beherrschung darin liege, mithilfe von Erfahrung die Ungewissheit der Folgen des eigenen Handelns angemessen zu berücksichtigen.3 Xenophon rechnet damit, dass man seinem Lob der Landwirtschaft zuerst mit Verweis auf deren Unberechenbarkeiten widersprechen wird – und empfiehlt als Gegenmaßnahme neben Risikominimierung auch die eifrige Verehrung der Götter.4 Trotz dieses ausgeprägten Bewusstseins kennt das Altgriechische (ähnlich wie für ‚Ratio-
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Zum Beitrag der Forschungen zur peasant economy vgl. Kap 2.3.1. Ein Testfall sind die regelmäßig neu aufgelegten und übersetzten Standardwerke von Nicholas Mankiw; in der zweiten deutschsprachigen Auflage Grundzüge der Volkswirtschaftslehre von 2001 fehlt das Wort ‚Risiko‘ im Index; in der neunten englischen Auflage gibt es zu Risiko etwas über drei Seiten von insgesamt 616 Textseiten und nur speziell zum Finanzsektor (Mankiw 2016); vgl. die achte Aufl. seiner Principles of Economics (2018) mit ebenfalls nicht ganz vier Seiten dazu. Die sog. Neue Institutionenökonomik steht in dieser Hinsicht nicht besser da: bei North 1981 fehlt ‚Risiko‘ im Index, North 1990 behandelt es auf lediglich zweiten Seiten. Mehr Aufmerksamkeit hat die Mikroökonomie dem Problem geschenkt: vgl. Jones 2014, 202–257 und Pindyck/ Rubin feld 2018, 179–207. Ihre formalistischen Modelle geben allerdings wenig Anregungen zum substantiellen Verständnis des vormodernen Umgangs mit Risiko. Plat. Lach. 195b–c; Aristot. eth. Nic. 3, 1112 b 8 f. Kritobulos entgegnet auf Sokrates’ Enkomion der Landwirtschaft, „dass in Fragen der Landwirtschaftskunst die meisten Dinge dem Menschen nicht vorhersehbar (προνοῆσαι)“ seien, weil Unwetter und Dürre „die schön erdachten und durchgeführten Pläne“ zunichte machten, Xen. oik. 5.18; vgl. 17.1–6 für die Ungewissheit, wann im Jahr günstiges Wetter für die Aussaat sein wird und ein Vorschlag zur Minimierung des daraus resultierenden Risikos; dazu Pomeroy 1994, 330; vgl. oik. 19.11 für eine Maßnahme zum Schutz von Setzlingen vor unberechenbarem Wetter. Sokrates’ Antwort auf Kritobulos’ skeptische Frage lautet, in der Landwirtschaft müssten die Götter mindestens so sehr befragt werden wie im Krieg (weil die Ergebnisse ähnlich ungewiss sind): „die Verständigen (οἱ σώφρονες) dienten den Göttern wegen der trockenen und feuchten Früchte, der Rinder, der Pferde, des Kleinviehs, kurz, um all ihrer Besitztümer wegen“, 5.20; vgl. 2.5, 5.3, 7.7, 11.8 für entsprechende Opfer und Gebete.
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nalität‘, s. Kap. 13.1) kein Synonym für den Ausdruck ‚Risiko‘ im wirtschaftswissenschaftlichen Sinn. Die moderne Theorie unterscheidet spätestens seit Frank Knight in Abweichung von der Umgangssprache zwischen Risiko im technischen Sinn (risk), verstanden als objektiv kalkulierbare Wahrscheinlichkeit des Misserfolgs, und Risiko im umgangsprachlichen Sinn, bei der über die Erfolgsaussichten Ungewissheit (uncertainty) herrscht, weshalb die Wahrscheinlichkeiten nur subjektiv eingeschätzt werden können.5 Der Begriff eines streng objektiven Risikos ist naturgemäß ein Idealtypus, denn eine vollständige Datengrundlage ist nie gegeben.6 Der Idealtyp erlaubt es allerdings, historische Unterschiede in der Wahrnehmung und Einschätzung von Risiken festzustellen. Gemessen an heutigen Standards war das antike Griechenland eine Welt der subjektiv geschätzten Ungewissheit, nicht des objektiv kalkulierten Risikos. Der griechische Ausdruck, der dem heutigen umgangssprachlichen Risikobegriff am nächsten kommt, ist κίνδυνος, „Gefahr“ (häufig ist auch die Rede von κινδυνεύειν, „etwas wagen“). Der Gegenbegriff ist ἀσφάλεια, ‚Sicherheit‘. Kindynos war, genau wie ōpheleia, „Nutzen/Gewinn“, dem es häufig gegenübergestellt wurde, ein nicht speziell ökonomischer Ausdruck, der in der Alltagssprache jedoch stark wirtschaftlich eingefärbt war. Bei Texten mit rechtssprachlicher Färbung zum Transport oder Verkauf von Handelswaren, erscheint das Wort dort, wo heute „Risiko“ stünde.7 Die Kalkulation einer Wahrscheinlichkeit in Zahlenwerten findet sich meines Wissens nie; angesichts der Kontingenz wirtschaftlich relevanter Ereignisse wäre Quantifizieren reine Spielerei gewesen. Risiken werden stattdessen nach Gewohnheit oder Erfahrung als „klein“ oder „groß“ eingeschätzt8 und in relativen Begriffen verglichen, wobei man den potentiellen Gewinn den potentiellen Kosten bei Misserfolg gegenüberstellt.9 Seefahrt und Bankgeschäfte galten als besonders riskant,10 doch Xenophon rechnet im Oikonomikos mit dem Einwand, dass auch die Landwirtschaft unberechenbar sei und die Orakelanfragen von Dodona zeigen, dass man nicht nur den Seehandel als so riskant empfand,
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Knight 1921, 3–50. Selbst wenn man hypothetisch annimmt, dass alle Daten über die physische Umwelt vorlägen, besteht das mit Empirie unlösbare Problem, dass bei jedem Geschäft, das die Kooperation von Menschen erfordert, der wechselseitige Versuch der Antizipation der Antizipation in den infiniten Regress führen würde; vgl. Jones 2014, 215 f. und 235–246. Vgl. Lys. 32.25, [Demosth.] 34.28 und 52.20 f. für Seehandelsgeschäfte und SEG 44.35, 10–15 (= Osborne-Rhodes, GHI 25) für den Transport von Getreide durch Steuerpächter. And. 1.137: in τοῖς μεγίστοις κινδύνοις begibt sich, wer in der Winterzeit Seehandel treibt; vgl. Lys. 32.2: τοὺς ἐσχάτους κινδύνους; das Gegenteil bei Is. 4.22: μικρὸς ὁ κίνδυνος. Vgl. den Vergleich eines Bankgeschäfts mit einer Schmiedewerkstatt bei Demosth. 36.11; vgl. Lys. 7.12 f. und Demosth. 31.11; Lys. 22.20: Die Getreidehändler gehen für große Gewinne große Risiken ein; vgl. Aristot. eth. Nic. 4, 1122 a 10: Die ‚schändlich Gewinnsüchtigen‘ gehen große Risiken für jegliche Einnahme ein; vgl. Lys. fr. 1 Carey (= Athen. 13.611d): ein Darlehen an Aischines von Sphettos habe als gefährlicher gegolten als eine Handelsfahrt in die Adria (eine notorisch gefährliche Unternehmung). [Demosth.] 33.4; Demosth. 37.54, sowie die Belege in Anm. 8 und 9.
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dass man den Gott befragte, bevor man sich ihm widmete, sondern auch Ackerbau oder Viehzucht nicht als ‚sichere Wahl‘ galten.11 So, wie die Hauswirtschaft jede Art von Nutzen kalkulierte, berücksichtigte sie alle Arten von Risiko: Ehrverlust, Konflikte mit Verwandten, öffentliche Strafen, Steuerzahlung.12 Millett hat betont, dass sich die Höhe des Zinssatzes nicht nach dem wirtschaftlichen Risiko bemessen habe, sondern nach der sozialen Nähe von Kreditgeber und -empfänger.13 Dem ist mit guten Gründen widersprochen worden.14 Ergänzen lässt sich, dass in einer Welt, in der die meisten Geschäfte über persönliche Netzwerke abgewickelt wurden, das Kriterium der Vertrautheit genuin wirtschaftliche Relevanz hatte. Der persönliche Umgang erlaubte es, die Kreditwürdigkeit einzuschätzen und stiftete Vertrauen. Zugleich verbesserte er die Chancen, einen ausstehenden Kredit zurückzufordern, weil der Betrug an einem persönlichen Vertrauten nicht bloß gegen das Gesetz verstieß, sondern auch gegen die Moral und insofern besonders rufschädigend war. Wo über Ungewissheit und Gefahr reflektiert wurde, zeigt sich eine allgemeine Neigung zur Risikoaversion. Risikominimierung galt als klüger als Gewinnmaximierung. Bei Thukydides begründet Perikles seine Kriegsstrategie gegen Sparta mit einer allgemeinen Spruchweisheit: Zu verlieren, was man besitzt, ist beschämender, als am Zugewinn gehindert zu werden.15 Achtzig Jahre später greift Demosthenes, wiederum bei der Rechtfertigung einer militärischen Strategie, auf die gleiche Maxime zurück: Niemand kämpft „um Zugewinn“ (τοῦ πλεονεκτεῖν) mit derselben Kraft wie um den Erhalt des vorhandenen Besitzes.16 Demosthenes macht klar, dass er hier eine, von „allen“ (πάντες) geteilte alltägliche Maxime zitiert. Die Konsequenz dieser Haltung ist der Appell, vorsichtig zu sein, anstatt sich durch unverhoffte Gewinne zu weiteren Abenteuern verleiten zu lassen. Ein entsprechender Gemeinplatz findet sich wiederum bei
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Vgl. zu den Zahlenverhältnissen Bonnechere 2017 mit den Angaben in Tabelle 6; vgl. dazu Kap. 14.2, Anm. 31; 14 Anfragen fragen danach, ob man „die Erde bearbeiten“ soll (γᾶ/γῆ + ἐργαζομαι/'Ƒεργάζομαι): DVC 95A, 327, 995A, 1014B, 1782B, 1887B, 2039A, 2650B, 2749A, 2751B, 3196A, 3213A, 3251A, 3765A; 13 Anfragen fragen nach Kleinviehhaltung (προβατεία, προβατεύω, πρόβατον): 8B, 202A, 795A, 925B, 1083A, 2028A, 2617A, 2760B, 2969A, 3059A, 3688A, 3761B, 3891A; vgl. auch die 17 Fragen nach der Ernte (καλλικαρπία, καρπεία, πολυκαρπία): 160A, 772A, 1025A+, 1758B, 2153A, 2173A, 2198A, 2279A, 2319A, 2401, 2440, 2886A, 2988B, 3278A; 3287B, 3426A, 3440A. Besonders emphatisch sind die Appelle keinen Ehrverlust für Geldgewinne zu riskieren: vgl. Demokr. fr. B 253 DK 68 (= Stob. 4.1,44); Demosth. 20.10; Aristot. eth. Nic. 4, 1121 b 31–1122 a 4; Demosth. 48.8: keinen Prozess „gegen Verwandte riskieren“ (κινδυνεύειν πρὸς οἰκεῖον); Is. 4.21 f.: „geringes Risiko“ (μικρὸς ὁ κίνδυνος) beim unlauteren Wettbewerb um Erbschaften. Millett 1991, 91–108; vgl. 1983, 36–52; die Grundidee bereits bei Thompson 1982, 17. Casson 1976, 33–47, Thompson 1978 und Christesen 2003, 39–54 haben gezeigt, dass sich athenische Investoren durchaus am unterschiedlichen wirtschaftlichen Risiko von Landwirtschaft, Bergbau, Handel und Geldverleih orientierten; vgl. Faraguna 2008, 56 f. Thuk. 2.62,3: αἴσχιον δὲ ἔχοντας ἀφαιρεθῆναι ἢ κτωμένους ἀτυχῆσαι. Demosth. 15.10.
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Thukydides in der Debatte um das abtrünnige Mytilene. Der Politiker Kleon erklärt, ein unverhoffter „Glücksfall“ (εὐπραγία) sorge für „Hochmut“ (ὕβριν): Dabei ist „berechnetes Wohlergehen sicherer (κατὰ λόγον τοῖς ἀνθρώποις εὐτυχοῦντα ἀσφαλέστερα) als unerwartetes (παρὰ δόξαν) und es ist fast leichter (ῥᾷον), sich aus Not zu befreien, als Wohlergehen (εὐδαιμονίαν) zu bewahren“.17 Xenophons Kyrupädie wiederholt diese Mahnung zur Mäßigung in Momenten außerordentlichen Erfolgs. Wer sein Glück auf die Probe stelle, dem werde es ergehen wie jenen, die „wegen ihres Erfolgs“ (διὰ τὸ εὐτυχεῖν) die Seefahrt nicht aufgeben wollen und irgendwann untergehen.18 Der Vergleich zum Seehandel erinnert an das in Kap. 11.3.1 beschriebene Muster temporärer Mobilität, bei dem Händler hofften, irgendwann als Investoren sesshaft zu werden, laut dem Selbstzeugnis eines ehemaligen Fernhändlers wegen des geringeren Risikos gegenüber dem Seehandel.19 Xenophons Beispiel zeigt, dass die politische Maxime der Risikominimierung ihre Plausibilität aus dem wirtschaftlichen Alltagsleben gewann. Die Maxime war dort so etabliert, dass sie zur Spruchweisheit kondensiert werden konnte.20 Derartige Mahnungen zur Mäßigung wären freilich nicht notwendig gewesen, wenn es nicht auch die Bereitschaft gegeben hätte große Risiken einzugehen, um sich bietende Gelegenheiten zu nutzen. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Höhe des Gewinns mit der Höhe des Risikos korreliert. Abstiegsängste oder Aufstiegswünsche erhöhten die Risikobereitschaft von Haushalten. Dementsprechend kann Diodotos, Kleons Gegner in der Mytilene-Debatte, bei Thukydides ebenfalls auf einen Gemeinplatz zurückgreifen, um Kleon zu widersprechen.21 Kein Gesetz und keine Bestrafung könnten ganz verhindern, dass sich Menschen „im Privaten oder Öffentlichen“ (καὶ ἰδίᾳ καὶ δημοσίᾳ) schuldig machen, denn: die Armut, die verwegen ist aus Not (ἡ μὲν πενία ἀνάγκῃ τὴν τόλμαν παρέχουσα), und die Macht, habgierig aus Frevelmut und Stolz, und alle anderen Lebenszustände, wie sie die Menschen mit irgendeiner Leidenschaft fassen, sie alle reißen mit ihren wechselnden Übergewalten unwiderstehlich zum Wagnis (ἐς τοὺς κινδύνους). Und den größten Schaden stiften immer wieder die Hoffnung und die Begierde (τε ἐλπὶς καὶ ὁ ἔρως), diese führend, jene folgend, da diese den Anschlag ausheckt, jene die Gunst des Schicksals (τὴν
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Thuk. 3.39,4. Xen. Kyr. 4.1,15. [Demosth.] 33.4. Eur. Hipp. 785: τὸ πολλὰ πράσσειν οὐκ ἐν ἀσφαλεῖ βίου. Thuk. 3.45: ἀλλ’ ἡ μὲν πενία ἀνάγκῃ τὴν τόλμαν παρέχουσα, ἡ δ’ ἐξουσία ὕβρει τὴν πλεονεξίαν καὶ φρονήματι, αἱ δ’ ἄλλαι ξυντυχίαι ὀργῇ τῶν ἀνθρώπων ὡς ἑκάστη τις κατέχεται ὑπ’ ἀνηκέστου τινὸς κρείσσονος ἐξάγουσιν ἐς τοὺς κινδύνους. ἥ τε ἐλπὶς καὶ ὁ ἔρως ἐπὶ παντί, ὁ μὲν ἡγούμενος, ἡ δ’ ἐφεπομένη, καὶ ὁ μὲν τὴν ἐπιβουλὴν ἐκφροντίζων, ἡ δὲ τὴν εὐπορίαν τῆς τύχης ὑποτιθεῖσα, πλεῖστα βλάπτουσι, καὶ ὄντα ἀφανῆ κρείσσω ἐστὶ τῶν ὁρωμένων δεινῶν. καὶ ἡ τύχη ἐπ’ αὐτοῖς οὐδὲν ἔλασσον ξυμβάλλεται ἐς τὸ ἐπαίρειν· ἀδοκήτως γὰρ ἔστιν ὅτε παρισταμένη καὶ ἐκ τῶν ὑποδεεστέρων κινδυνεύειν τινὰ προάγει. Übers. G. Landmann.
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εὐπορίαν τῆς τύχης) voraussetzt; ungesehen sind diese beiden stärker als alle sichtbaren Schrecken. Außerdem tut auch noch der Zufall das Seine, um die Menschen anzustiften; denn unerwartet leiht er gelegentlich seinen Beistand und drängt so auch einen Schwächeren zur Gefahr […].
Die Parallelisierung von Privatleuten und Gemeinwesen (kai idia kai dēmosia) verweist auf die lebensweltliche Plausibilität der hier auf die Politik angewandten Maxime. In einer strukturell gelegenheitsorientierten Wirtschaftsweise war es geradezu geboten, „die Gunst des Schicksals“ (τὴν εὐπορίαν τῆς τύχης) zu nutzen. Diodotos’ Hinweis auf die Armut erinnert zugleich daran, dass nicht alle Haushalte über die Ressourcen verfügten, um sich eine Risikominimierung leisten zu können. Denn diese Minimierung setzt immer die Akkumulation hinreichender Mittel voraus. 15.1 Die Akkumulation von Vorräten und Vermögen Akkumulation erscheint geradezu als Grundmodus des häuslichen Wirtschaftens. Xenophon beginnt seine Beschreibung des idealen Wohnhauses mit den Räumen, in denen kostbare Stoffe und Gerätschaften, das Getreide und der Wein gelagert sind; sie befinden sich gleich neben den Schlafgemächern des Hausherrn.22 Aristophanes’ Plutos stellt den Reichtum als ein Haus dar, in dem Kisten und Krüge überquellen von Mehl und Wein, Gold und Silber.23 Platons Sinnbild des häuslichen Strebens nach Eigennutz, eine mit Schätzen vollgestopfte Vorratskammer, wiederholt dieses Bild in negativer Verkehrung.24 Platon denkt bereits an die Hortung von Edelmetall und Münzen. Ihren Ursprung hatte die Akkumulation allerdings in der Hortung von Ernteerträgen als Anpassung an den Wechsel von Mangel und Überfluss in der Landwirtschaft. Deshalb versuchte man Lebensmittel haltbar zu machen und zu lagern, um Planungssicherheit zu gewinnen.25 Aus Sicht der Hauswirtschaft war Geld daher zu allererst ein Wertspeicher. Die organischen Erzeugnisse der Landwirtschaft haben nur eine begrenzte Haltbarkeit.
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Xen. oik. 9.3. Aristoph. Plut. 802–822. Etwa Plat. rep. 8, 548a; leg. 7, 801b, 12, 955e–956a. Garnsey 1988, 53–55; Gallant 1991, 94–98; Reuthner 2006, 100–112; literarische Erwähnungen von Vorratskammern bei Plat. Prot. 315d, Men. Sam. 13–21; archäologischer Indikator für Vorratskammern sind entsprechende Keramikgefäße, insbesondere die großen (und teuren) pithoi; zu solchen Befunden in Eretria s. Ducrey (u. a.) 1993, 43, 46 f. (‚Haus der Mosaike‘) und Reber 1998, 56 f., 78, 84 f., 101 f. (Häuser im Westquartier); Pithos-Fragmente wurden auch in attischen Landhäusern gefunden, Jones 1963, 279 (‚Dema-Haus‘), Lohmann 1994, 99 (‚Palaia Kopraisia‘); für Olynth vgl. Cahill 2002, 94 (‚Haus der vielen Farben‘), 102–104 (‚Villa der Bronzen‘; Haus A vii 4) und 145 f., 227–235.
15.1 Die Akkumulation von Vorräten und Vermögen
519
Feuchtigkeit, Trockenheit oder Schädlingsbefall vermindern ihren Wert kontinuierlich.26 Zu ihrer Aufbewahrung brauchte es außerdem entsprechende Räumlichkeiten und Gefäße, deren Anschaffung und Instandhaltung teuer waren. Ausgrabungen zeigen, dass gesonderte Vorratskammern und große Vorratsgefäße stets zu großen, wohlhabenden Häusern gehörten.27 Edelmetall und Münzgeld nahmen hingegen wenig Raum ein, verloren nicht an Wert und ließen sich zu beliebiger Zeit und in beliebiger Menge gegen beliebige andere Güter eintauschen.28 In Athen betrieben kleine Haushalte eine Wirtschaftsweise, die als ‚attische Haushaltung‘ bekannt wurde. Sie verkauften den Ernteertrag gleich nach der Ernte und deckten ihren Bedarf anschließend auf dem Markt.29 Die Kehrseite dieser Anpassung war die Abhängigkeit kleiner Haushalte von den städtischen Märkten mit ihren stark schwankenden Preisen.30 Akkumuliertes Münzgeld und Edelmetall in Form von Schmuck und Geschirr dienten Haushalten als Versicherung gegen unvorhergesehene Notfälle. Die Menschen lieben das Geld, meint der Anonymus Iamblichi, wegen der Dinge, die sie fürchten: Krankheit, Alter und „unerwartete Verluste“ (αἱ ἐξαπιναῖοι ζημίαι) wie den Tod von Tieren und Sklaven oder den Brand des Hauses.31 Münzgeld hatte den zusätzlichen Vorteil, dass es sich leicht verstecken ließ, ob vor Räubern, Eroberern, Bürgerkriegsfeinden oder städtischen Behörden. Das Vergraben und das Suchen von im Haus von Vorbesitzern vergrabener Schätze war ein geradezu topisches Thema und Platon hielt die Sache für wichtig genug, um ihr in den Gesetzen spezielle Regelungen zu widmen.32 Im Falle von Verbannung oder Flucht ließ sich Münzgeld leichter mitnehmen oder man konnte es leichter verschwinden lassen.33 Damit erhielt Geldreichtum eine ideelle Dimension: Er provozierte den Vorwurf, dass er zum Schaden der Freunde und des Gemeinwesens verborgen werde; sichtbarer Besitz an Häusern, Land und Hausrat hingegen diente den Freunden und der Stadt.34 Die Grabungen in Olynth zeigen, dass der rhetorisch ausgeschmückte Vorwurf einen gewissen Realitätsbezug hatte: Die größten Münzvorräte fanden sich in den kommerziell geprägten Häusern nahe der Agora; sie
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Gallant 1991, 97 f.; Theophr. char. 16.6: Mäuse, die Mehlsäcke anfressen; Wiesel wurden gegen Mäuse gehalten, galten jedoch selbst als diebisch: Aristoph. Thesm. 568; Maus und Wiesel galten geradezu als Inbegriff der Hauswirtschaft, Vesp. 1181 f. S. o. Anm. 25; große Vorratsgefäße waren Symbole des Reichtums, vgl. Diod. 13.83,1–3. Vgl. Xen vect. 4.7: „Hausrat“ (ἔπιπλα) kann man nur begrenzt „im Haus besitzen“, Silber hingegen unbegrenzt. [Aristot.] oec. 1, 1344 b 31 f. und Plut. Perikles 16.4. Singer 1958, 48 f.; Reuthner 2006, 112–116; Bresson 2016, 199–205 betont hingegen die Prekarität der selbstversorgenden agrarischen Haushalte. Anon. Iamb. 17, 2 DK 89: φιλοχρημαστοῦσι δὲ τῶνδε εἵνεκα, ἅπερ φοβεῖ αὐτούς. Plat. leg., 11, 913a–914a; zur Schatz-Topik vgl. z. B. Antiph. fr. B 54 DK 87 (= Stob. 3.16,30); Aristoph. Av. 599–602; Plut. 237 f.; Xen. Kyr. 3.3,2 f.; Plut. Regum 176c. S. Kap. 8.2, Anm. 54. Ferrucci 2005, 159–164.
520
15 Risikominimierung
waren deutlich weniger repräsentativ gestaltet als jene Häuser, die neben geschmückten Speiseräumen auch traditionelle Vorratsräume hatten.35 Lange bevor Münzgeld in allen Haushalten Einzug hielt, dienten gewebte Textilien als Wertspeicher, mit dem man nicht nur materielle Güter (Wolle), sondern auch Arbeit dauerhaft abspeichern konnte. Noch in klassischer Zeit werden häusliche Textilien (Bettdecken, Teppiche, Gewänder) ähnlich wie Münzgeld und Tafelgeschirr behandelt: Sie werden sorgfältig in verschlossenen und versiegelten Kisten und Truhen aufbewahrt und als sichtbare Zeichen häuslichen Reichtums aufgezählt.36 Siegelring, Schlüssel und Truhe waren schlechthin Symbole der Hauswirtschaft.37 Vasenbilder und Grabreliefs zeigen gerne Ehefrauen, die Kisten inspizieren, etwas in ihnen ablegen (z. B. Textilien) oder Schmuck herausnehmen.38 Diese Bilder vereinen zwei Symbole des hauswirtschaftlichens Erfolgs: Zum einen den üppigen Hausrat, der den Reichtum des Hauses manifestiert. Zum anderen die Ehefrau, die diese Reichtümer bewacht, aber nicht körperlich arbeiten muss. 15.2 Die Diversifizierung des Vermögens Diversifizierung, die Vervielfältigung untereinander unabhängiger Einnahmequellen, war eine weitere Form der Risikominimierung. Für die Landwirtschaft der klimatisch und geologisch stark fragmentierten griechischen Siedlungsgebiete sind dementsprechende Strategien gut untersucht. Landwirte kultivierten eine Mischung verschiedener Fruchtsorten und bewirtschafteten Grundstücke in Streulage. Beide Verfahren streuten das Risiko des Ernteverlusts durch Wetterschwankungen, Ungezieferplagen oder feindliche Plünderungen. Zugleich bot diese Mischwirtschaft Gelegenheit, jedes Stück Land seiner Lage und Bodenbeschaffenheit entsprechend zu bewirtschaften und mit allen Lebensmitteln aus eigener Arbeit versorgt zu sein: In der fruchtbaren
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37 38
Cahill 2002, 269–272. Textilien als Ausdruck im Haus akkumulierten Reichtums: Aristoph. Lys. 1188–1215; Plut. 527–530; Antiph. fr. 223 PCG (= Athen. 11.500e–f); Theophr. char. 5.9; Men. fr. 26 PCG (= Athen. 11.484c–d); Ail. var. 7.9; zu Textilien als Wertspeicher s. Pomeroy 1994, 61–63 und Wagner-Hasel 2000, 318–322. Aristoph. Equ. 947–959; Lys. 1188–1215; Thesm. 414–428; Theophr. char. 18.4; als heterotopische Inversion bei Megasth. FGrH 715 F 32 (= Strab. 15.1,53); zur Ikonographie von Truhen und Kisten s. Richter 1966, 72–81. Vgl. Richter 1966, Abb. 386–400; weitere Abbildungen kritisch diskutiert bei Lewis 2002, 130–159; viele Vasenbilder weiblich-häuslicher Pracht finden sich auf Lekythoi und Pyxides, also Gefäßen, die häufig als Schmuck- oder Schminkkästchen verwendet wurden, vgl. Moraw 2002, Abb. 196–203.
15.2 Die Diversifizierung des Vermögens
521
Ebene pflanzte man Getreide, am steinigen Südhang Wein oder Oliven und in marginalen Zonen weidete man das Vieh.39 Die Strategie der Diversifizierung war allerdings nicht auf die Landwirtschaft beschränkt.40 Die pseudo-aristotelische Ökonomik fordert, dass die „Unternehmungen so verteilt sind, dass man nicht mit allen zugleich ein Risiko eingeht“ (τὰς ἐργασίας οὕτω νενεμῆσθαι, ὅπως μὴ ἅμα κινδυνεύσωσιν ἅπασιν).41 Das unspezifische ergasia kann gleichermaßen Seehandel, Werkstattbetrieb oder Landwirtschaft beschreiben, es geht dem Verfasser offenbar mehr um das ökonomische Prinzip als einen speziellen Anwendungsbereich.42 Aus den Gerichtsreden und Poletai-Inschriften kennen wir die Zusammensetzung mehrer athenischer Vermögen. Sie zeigen, dass reiche Grundbesitzer ihren ohnehin gestreuten Landbesitz durch Darlehen, Werkstätten oder Handwerkssklaven weiter diversifizierten.43 Umgekehrt erwarben reiche Gewerbetreibende Land.44 Der soziale Effekt der Diversifizierung war eine sukzessive Angleichung großer Vermögen, weil Aufsteiger in Grundbesitz investierten, während Grundbesitzer sich Geldquellen im städtischen Gewerben erschlossen.45 Auch rein kaufmännische Vermögen waren diversifiziert, wie das Vermögen von Demosthenes dem Älteren illustriert. Neben zwei mit Sklaven betriebenen Werkstätten, die Messer und Betten fertigten, umfasste das Vermögen Zinskredite, ein Seedarlehen, Einlagen bei zwei Banken, ein Darlehen an seinen Großneffen Demomeles und mehrere zinslose Darlehen (eranoi) von vergleichsweise geringer Höhe (200 bis 300 Dr.); hinzu kamen Hausrat, Textilien und bares Silber.46 Hinter der knappen Aufzählung 39 40 41 42 43 44
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Halstead [1987] 2002, 66–69; Osborne 1987, 36–46; Garnsey 1988, 48–53; Burford 1993, 119; Hanson 1995, 150–167; Horden/Purcell 2000, 263. Descat 1987, 242; Foxhall 2007, 37–54; zur Theorie vgl. Williamson 1975, 143 f. [Aristot.] oec. 1, 1344 b 29. Vgl. Zoepffel 2006, 506 f. zu dieser Stelle. Lotze 1990, 139; vgl. Is. 6.33 f., 8.35; 11.41–44; Aischin. 1.97 f., 101, 105; vgl. den Besitz der Mysterienfrevler in den Att. Stelen, Stele 6, 18–46, 63–73 und das 343/2 versteigerte Vermögen von Philokrates (PAA 937530), SEG 17.40, 15–50; 101–115, dazu Meritt 1936, 409. Der Bankier Pasion besaß zum Zeitpunkt seines Todes Grundbesitz im Wert von 20 Tal., Demosth. 36.5; dazu Davies 1971, 431; Demosth. 36.50 suggeriert, dass die Konvertierung von Bankgewinnen in Landbesitz allgemein üblich war; ein anderer Weg als ‚Geldmann‘ an Grundbesitz zu gelangen, war die Inbesitznahme verpfändeten Landes; laut [Aristot.] oec. 2, 1347 a 1–3 erlaubte die Stadt Byzantion aus Geldnot Metöken, die Darlehen auf Grundstücke verliehen hatten, diese bei Zahlung einer Sondersteuer in Besitz zu nehmen; ungeklärt ist dabei, wie Metöken Land als Sicherheit nehmen konnten, obwohl sie nicht zu Grundbesitz berechtigt waren; zu dieser Frage vgl. Riezler 1907, 13 f.; Schlegel 1909, 29; van Groningen 1933, 68; Walser 2008, 174 f.; Landerwerb durch Hypothekenverfall belegt auch das ephesische Gesetz über Schuldentilgung (um 300), I. Ephesos 4a, 74–77 und 88–94, allerdings geht Walser, op. cit., 179 f. davon aus, dass die Kreditgeber hier reiche Bürger waren, die bereits Land besaßen. Mossé 1972, 143 f.; Davies 1981, 68–72. Demosth. 27.9–11, 33; die Behauptung, dass dieses Vermögen einzigartig gewesen sei, Finley 1951, 58 und Millett 1983, 52, ist unberechtigt: die kaufmännischen Vermögen bei Lys. 32.4–7, Demosth. 38.7, [Demosth.] 48.12 f., Lyk. 21–24, sind ein Großteil der überhaupt bekannten Vermögen – zu keinem gehört Ackerland.
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15 Risikominimierung
der Rede von Demosthenes dem Jüngeren verbirgt sich eine komplexe Strategie der Streuung von Risiken und Profiten.47 Sie berücksichtigt nicht nur wirtschaftliche Faktoren, sondern auch die soziale Beziehung zu den Geschäftspartnern. Der Silberschatz brachte keine Rendite, aber war so sicher, wie ein Schatz eben sein konnte und diente vermutlich als Notreserve.48 Hausrat und Schmuck hatten Gebrauchswert, ließen sich aber im Notfall ebenfalls ‚versilbern‘. Die Darlehen changierten von sichereren Darlehen mit niedrigen Zinsen (12 %), über ein riskanteres Seedarlehen, das vermutlich höher verzinst war (in Athen mit bis zu 33 %), bis hin zu zinslosen eranos–Darlehen an Freunde, die keine materielle Rendite einbrachten, aber dafür soziale Verpflichtungen seitens der Nutznießer.49 Die Geschäftspartner sind nach ihrer sozialen Beziehung zum Hausherrn diversifiziert: von der Geschäftsbeziehung zu Xythos, der das Seedarlehen empfangen hatte, über das Vertrauensverhältnis zum Bankier Pasion, der für Demosthenes als Mittelsmann agierte, bis hin zur Verwandtschaftsbeziehung zu Demomeles und den Freundschaftsbeziehungen zu den nicht namentlich genannten Empfängern der Eranos-Anleihen. Diese soziale Diversifizierung ergab ökonomisch Sinn: Ein Seedarlehen an einen Händler (wenn es sich bei Xythos um einen solchen handelt) war auch deshalb riskant, weil bei einmaligen Transaktionen die soziale Kontrolle einer Nahbeziehung fehlte. Ein Darlehen an einen Freund oder engen Verwandten versprach hingegen niedrigere oder keine pekuniären Gewinne; dafür lag eine höhere moralische Bringschuld beim Schuldner, das Geld zurückzuzahlen und sich bei Gelegenheit zu revanchieren.50 Die ‚bunte Mischung‘, die große Vermögen in Athen häufig darstellten, ist demnach kein Zeichen mangelnder ökonomischer Vernunft.51 Sie war rational angesichts des hohen Maßes an Ungewissheit in allen Wirtschaftsbereichen. Mit einem breit diversifizierten Vermögen streute man daher nicht nur Risiken, sondern erweiterte auch den Möglichkeitsraum für günstige Gelegenheiten. Hauswirtschaftliche Strategien wurden deshalb darauf ausgerichtet, Kapital und Arbeit flexibel zu halten, anstatt sich durch Spezialisierung und Investition in Technologie auf eine bestimmte Erwerbsform festzulegen.52 Die Vermögensaufstellung von Demosthenes’ dem Älteren zeigt, dass kluge Hausväter nicht nur ihr ökonomisches Kapital diversifizierten, sondern auch ihr soziales Kapital. Sie investierten in mehrere untereinander nur schwach verbundene Gruppen sozialer Beziehungen. Besonders deutlich wird das bei Demosthenes’ Wahl von Vormündern für seine Kinder. Alle drei Personen stammten aus Personenkreisen, 47 48 49 50 51 52
Weber [1909] 2006, 713; Korver 1941, 21 f.; Schmitz 2014b, 121 f. Vgl. Xen. vect. 7–9; [Aristot.] oec. 2, 1349 b 18–27; Lys. 12.9–11. Zu Krediten s. Millett 1991, 97–196; Cohen 1992, 54–60; Christesen 2003, 46–54. Millett 1991, 109–159 hat die Bedeutung von Kreditgeschäften unter Freunden und Verwandten herausgearbeitet, dabei aber das Fehlen wirtschaftlicher Kalkulation betont. So hingegen Humphreys 1978a, 154; Hopper [1979] 1982, 151 f.; Andreev 1984, 137 f. Burford 1993, 156–159; Horden/Purcell 2000, 263, 293; Scheidel 2007, 55–57; Foxhall 2007, 53.
15.2 Die Diversifizierung des Vermögens
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die mit Demosthenes stark verknüpft waren, aber untereinander nur schwach. Der Neffe Demophon, der von seinem Vater Demon, Demosthenes’ Bruder, unterstützt wurde, vertrat die patrilineare Verwandschaft; der Cousin Aphobos vertrat die Verwandtschaft mütterlicherseits; Theridippides, ein „Freund seit Kindertagen“ (φιλός ἐκ παιδός), vertrat die nicht-verwandten Freunde.53 Diese Mischung von Personen mit jeweils verschiedenen Interessen, Anrechten und Pflichten sollte verhindern, dass sich die Vormünder zum Schaden ihrer Mündel verbündeten; sie entspricht normativen Forderungen zur Vormundschaft und war in Athen in der Tat üblich.54 In Demosthenes’ Fall scheiterte diese Vorsichtsmaßnahme zwar, wie die Gerichtsprozesse zeigen, aber einen gewissen Nutzen hatte sie. Denn der mangelnde Zusammenhalt der drei Vormünder (sie belasteten sich gegenseitig durch widersprüchliche Aussagen) ermöglichte es Demosthenes dem Jüngeren, Aphobos zu isolieren und erfolgreich gegen ihn zu prozessieren.55 Die Diversifizierung des sozialen Kapitals erlaubte es außerdem, im Konflikt mit Mitgliedern einer Bezugsgruppe Hilfe aus anderen Gruppen zu mobilisieren, wie die Gerichtsreden über Erbschaften und Vormundschaften zeigen: Angeheiratete und Freunde wurden gegen Verwandte ausgespielt, die mütterliche Linie gegen die väterliche und so weiter. Es liegt in der Natur der Sache, dass derartige Absicherungsstrategien zwar das individuelle Risiko senkten, im Aggregat jedoch das systemische Risiko für Konflikte und Enttäuschungen erhöhten.56 Denn eine breite Absicherung durch redundante Nahbeziehungen bedeutete, dass jede einzelne Nahbeziehung gegebenenfalls dem opportunistischen Erheischen einer günstigen Gelegenheit geopfert werden konnte.
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Demosth. 27.4. Vgl. Plat. leg. 11, 924b und Diod. 12.15; dazu Humphreys 2018, 96 f. mit weiteren athenischen Fallbeispielen. Zu den belastenden Widersprüchen s. Demosth. 27.42–44; 28.11, 14. Vgl. Osborne 1985, 152 f. zum Konfliktpotential bei der Wahl zwischen Verwandten und Nachbarn als Heiratspartnern.
16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals Die Investition in die Pflege eines Netzwerks von Nahbeziehungen, auf das man bei Geschäften und Konflikten zurückgreifen konnte, leitet über zur dritten Form der Risikominimierung: Kapitalkonvertierung. Gemeint ist der Konsum des ökonomischen Kapitals zur ‚Produktion‘ von sozialem, kulturellen, symbolischen und institutionellem Kapital: Freundschaften, Bildung (‚Humankapital‘), Ehrung und rechtliche Privilegien. Pierre Bourdieu insbesondere hat dieses Konzept zur Beschreibung sozialen Handelns populär gemacht.1 Angesichts der inzwischen mitunter inflationär anmutenden Anwendung dieses Konzepts sind allerdings einige einschränkenden Bemerkungen notwendig. Zunächst impliziert die Bezeichnung ‚Kapital‘ für soziale Güter, dass sich diese Güter akkumulieren und bei riskanten Investitionen verwenden lassen, um andere Güter zu ‚produzieren‘.2 Von ‚Kapitalkonvertierung‘ sollte man daher nur dort sprechen, wo erkennbar ist, dass das Risiko und der Gewinn einer Investition in soziale Güter Teil der Kalkulation war. Des Weiteren sind die Besonderheiten sozialer Güter gegenüber herkömmlichen ‚Waren‘ zu beachten: zum einen ihr persönlicher Charakter – Bildung und Ansehen lassen sich nicht ohne Weiteres abtreten – und zum anderen ihr sozialer, d. h. relativer Charakter. Der Wert einer Ehrung hängt nicht nur davon ab, wie sehr sie dem Geehrten irgendwie ‚nutzt‘, sondern auch davon, wie viele nicht in den Genuss der gleichen Ehre kommen.3 Schließlich ist nicht das einzelne Individuum als Zentrum der Konvertierung zu sehen, sondern der Haushalt, der als Team kooperierte, um soziale Güter zu gewinnen, die im Haus akkumuliert allen Hausgenossen (wenngleich unterschiedlich stark) zugute kamen. Ökonomisch gesehen ist die Kapitalkonvertierung eine Form der Grenznutzenoptimierung. Weil sich der Grenznutzen jeder weiteren Einheit eines Guts in der Regel 1
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Vgl. Bourdieu [1979] 1987; 1994; systematischer allerdings Esser 2000c, 209–268; Esser 1999, 44 definiert „Kapital“ als die „Menge aller Ressourcen, die ein Akteur aktuell unter Kontrolle hat und die er somit als Mittel einsetzen könnte“. Sie sind „der Satz der möglichen Alternativen des Handelns“. Die Erweiterung des Kapitalbegriffs ist nicht neu, vgl. bereits Knight 1921, 374 und zum Begriff des Humankapitals Becker [1964] 1993, 15–58. Esser 2000c, 211. Dazu ausführlich Kap. 3.2.3.
16.1 Die soziale Funktion des Konsums
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verringert, je mehr man davon besitzt (vgl. Kap. 6.4.2), wurden insbesondere materielle Güter nicht grenzenlos akkumuliert, sondern zur Produktion von Ansehen und Freundschaften investiert. Dieses symbolische und soziale Kapital konnte wiederum, wenn das Geld knapp wurde, produktiv mobilisiert werden. Daraus, dass ein Haushalt bei der Konvertierung eine Form sozialer Güter als Kapital einsetzte, um eine andere zu gewinnen, folgt logisch, dass er nie alle Güterarten gleichzeitig maximieren konnte. Deshalb optimierte der Haushalt die (quantitative) Zusammenstellung von Güterkombinationen, indem er er durch ‚Kapitalkonvertierung‘ einen „Ausgleich der Grenzproduktivitäten“ für alle Kapitalsorten herbeizuführen suchte.4 16.1 Die soziale Funktion des Konsums Kapitalkonvertierung bedeutete nicht immer, aber häufig ostentativen Konsum in Form von Gastmählern, Geschenken, unentgeltlicher Hilfe, freiwilligen Abgaben an die Stadt und aufwendig durchgeführte Liturgien. In vieler Hinsicht sind die aufgezählten Formen des Konsums verschieden. Öffentliche Leistungen galten als gemeinnützig und damit edel und in Athen waren außerordentliche Vermögensteuern (eisphorai) und Liturgien verpflichtend vorgeschrieben. Gastmähler und Ähnliches wurden hingegen je nach Gattung als privater Luxus gegeißelt oder verspottet. Bereits die Zeitgenossen waren sich allerdings nicht einig, wo die Grenze zwischen legitimem, gemeinnützigem Aufwand und privater Verschwendungssucht zu ziehen sei, was angesichts des öffentlichen Charakters vieler Anlässe für privaten Aufwand auch nicht überrascht (vgl. Kap. 16.1.2). Während sich ihr institutioneller Rahmen unterscheidet, können diese Formen des Konsums aus Sicht der Hauswirtschaft zusammengefasst betrachtet werden, weil es sich um einen sorgfältig inszenierten Konsum handelte, der Teil der allgemeinen Statuskonkurrenz war (und so hielt es auch die zeitgenössische Selbstbeschreibung: vgl. Kap. 3.2.1). Während die Produktion des Haushalts häufig bewusst verborgen oder heruntergespielt wurde, suchte man zu bestimmten Anlässen die Publizität: Das unterscheidet den ostentativen Konsum vom alltäglichen Konsum und auch vom individuellen Genuss. 16.1.1 Kommensalität: Soziale Integration und Distinktion Es liegt in der Logik der Statuskonkurrenz der Haushalte, dass man den eigenen Konsum als freigiebig, gemeinnützig oder gottesfürchtig inszenierte, den Konsum konkurrierender Haushalte hingegen als Zeichen von Genusssucht und Verschwendung
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Esser 1999, 129.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
abwertete. Weil die öffentlichen und gemeinnützigen Ausgaben, wie die Festliturgien, nur schwer abzuwerten waren, selbst wenn sie mit besonderer Pracht ausgeführt wurden, konzentrierten sich die rhetorischen Angriffe auf aufwendige Speise- und Trinksitten und die dazugehörige Ausstattung der Gastmähler mit Mobiliar, Geschirr und begleitender Unterhaltung. Die literarische Ökonomik teilte diese Kritik und war Teil des breiteren Luxus- und Reichtumsdiskurses (Kap. 4.3.3). Xenophon beginnt seinen Oikonomikos mit der Kritik an Edelgeborenen und Reichen, die ihr Vermögen für Gelage, Glücksspiel und Hetären verschwenden, um damit ihren Status zu demonstrieren. Ähnliche Kritik an aufwendigem Verbrauch findet sich wiederholt in seinen Schriften.5 Bei Aristoteles dient die widernatürliche Erwerbskunst ebenfalls der Befriedigung des Luxusbedürfnisses.6 Autarkeia brachte das Ideal der Unabhängigkeit auf den Begriff; zugleich war es ein Schlagwort für die Mahnung zur Mäßigung (Kap. 6.4). Indem diese Sittenkritik aufwendigen Konsum als individuelle Verfehlung behandelte, verdeckte sie seine soziale Bedeutung. Gerade das aufwendige Speisen in Gemeinschaft war von grundlegender Bedeutung für die Beziehungen innerhalb des Hauses und der Beziehungen des Hauses zu seiner sozialen Umwelt.7 Kommensalität konstiutierte die Hausgemeinschaft als solche, wie die alten Bezeichnungen der Hausgenossen als „Brotkorbgenossen“ und „Krippengenossen“ und des Verwandten (oikeios) als „Herd- und Tischgenossen“ zeigen.8 Aristoteles zitiert das berühmte Sprichwort vom gemeinsam gegessenen Scheffel Salz als Beleg dafür, dass die Tischgemeinschaft die Grundlage wechselseitigen Vertrauens ist.9 Gastfreunde (xenoi) wurden zu temporären Hausgenossen, indem sie zu Tischgenossen des Hausherrn wurden. Ihnen zu diesem Anlass besonders ausgesuchte Speisen vorzusetzen, galt als Ehrenpflicht.10 Um sich der Hilfe eines Mannes zu versichern, empfiehlt Xenophon, solle man ihn im eigenen Haus bewirten.11 Umgekehrt konnte man den Aus-
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Xen. oik. 1.15–23; dazu Kap. 4.1.1 und 6.2.1; Kritik an üppigen Tischsitten beim attischen Symposion: Xen. mem. 3.14; asketische spartanische Sitten: Lak. pol. 1.3, 2.5, 5.4–7, 7.6; in der Kyrupädie wird die asketische Lebensweise der Perser systematisch der üppigen Lebensweise der Meder gegenübergestellt, vgl. Xen. Kyr. 1.3,4–7, 6,8; 4.5,4–8; vgl. Platons Bemerkungen zu Sparta und Kreta, etwa leg. 1, 637a–b, Min. 320a. S. Kap. 6.1.4. Zu sozialen und kulturellen Dimensionen des gemeinsamen Speisens vgl. Zingerle 1997; Gestrich 2003, 606–616; Dietler 2011. Für die Antike vgl. Garnsey 1999. Die altertümlichen Ausdrücke bei Aristot. pol. 1, 1252 b 14 f.; dazu Bien 1990, 46; bei Plat. Eutyphr. 4b–c wird der oikeios als συνέστιός σοι καὶ ὁμοτράπεζος umschrieben; vgl. Gestrich 2003, 610–614 mit ähnlichem Befund für die europäische Frühe Neuzeit. Aristot. eth. Nic. 8, 1156 b 26–28. Lys. fr. 286 Carey (= Dion. Hal. Is. 6 f.); Xen. oik. 2.5; Diod. 13.83,1; Plat. Gorg. 447b; Theophr. char. 5.8, 30.2; Alex. fr. 232 PCG (= Athen. 10.431a–b); Athen. 11.499c (Lynkeus von Samos); Eub. fr. 72 PCG (= Athen. 6.239a); Diphilos fr. 17 PCG (= Athen. 4.132c). Xen. mem. 2.3,13.
16.1 Die soziale Funktion des Konsums
527
schluss eines Verwandten von einer gemeinsamen Feier als Beleg der Entfremdung zitieren.12 Gemeinsames Speisen symbolisierte und integrierte die Hausgemeinschaft. Zugleich repräsentierte sie das Haus nach außen und manifestierte Statusunterschiede. Dafür wurde zu festlichen Anlässen die sonst gültige Routine der Hauswirtschaft verkehrt. Wenn die Alltagsernährung von nahrhaften und lagerbaren Grundnahrungsmitteln (σῖτος) geprägt war, so wurden zu festlichen Anlässen feine und frische Beikost (ὄψον) serviert, insbesondere frischer Edelfisch.13 An die Stelle strenger Rationierung traten Überfluss und Freigiebigkeit, an die Stelle lokaler oder selbsthergestellter Produkte importierte Produkte, deren Herkunftsorte Marker ihres Werts waren.14 Hesiod warnt seinen Bruder Perses eindringlich vor dem Hunger als Folge der Armut. Ausreichend Essen und ein Schluck guten Weins sind ihm hingegen Zeichen von Wohlstand.15 Auch im 4. Jh. noch galt Hunger als Zeichen der Armut schlechthin,16 wurde Reichtum mit Vielfalt der Speisen und überquellenden Lagerräumen gleichgesetzt.17 Die Erforschung griechischer Kommensalität hat sich überwiegend auf das Symposion konzentriert, das Gastmahl mit anschließendem ritualisierten Weintrinken. Im Mittelpunkt stand die Frage, wann diese Praxis einsetzte, wann sie aus der Mode kam und ob sie sich auf die ‚aristokratische‘ Oberschicht beschränkt habe.18 Mit Bezug auf Athen hat James Davidson hingegen generell angezweifelt, dass der festliche Konsum vor allem der Statusmanifestation gedient habe. Davidson betont, dass Wein und Fisch in Athen von den meisten geschätzt wurden.19 Dieser Gegensatz zwischen ‚aristokra-
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Is. 1.31 f. Ephipp. fr. 15 PCG (= Athen. 8.359a–b) entwickelt seinen Witz daraus, dass der Hausherr, der einem Koch Anweisungen gibt, zwar nicht von der hauswirtschaftlichen Maxime lassen kann, nur günstig einzukaufen, jedoch zugleich die wertvollsten Fische vorführen will; vgl. Arched. fr. 2 PCG (= Athen. 7.294b–c); der ungeheure Luxus der Tarentiner drückt sich darin aus, dass sie den Festtag zum Alltag machen, Theop. FGrH 115 F 233 (= Athen. 4.166e–f); vgl. F 36 (= Athen. 6.275b): heute gebe man für den „täglichen“ Konsum (καθ᾽ ἡμέραν) mehr aus, als früher für Feste und Opfer; vgl. Wilkins 2000, 52–64 und Gherchanoc 2012, 110 für Feste als Anlässe für gemeinsames aufwendiges Speisen. Vgl. die Aufzählung von Lebensmitteln (und anderen Luxusartikeln mit Bezug zum Gastmahl) samt Herkunftsorten bei Hermipp. fr. 63 PCG (= Athen. 1.27e–f); Antiph. fr. 233 PCG (= Athen. 1.27d–e); Eub. fr. 18 PCG (= Poll. 6.67), 130 PCG (= Athen. 1.28c); ähnlich Kritias FGrH 338a F 1a (= Athen. 1.28b), 12a (= Athen. 11.486e), [Xen.] Ath. pol. 2.7; zum Motiv der geographischen Aufzählung s. Wilkins 2000, 160–164 und hier Kap. 6.2.2. Hes. erg. 298–302; 312–316; 403 f.; 474–476; 496 f.; 588–596; 646–649. Aristoph. Plut. 254–265, 283; Polioch. fr. 2 PCG (= Athen. 2.60b); Alex. fr. 167 PCG (= Athen. 1.55a–b); Anaxandr. fr. 18 PCG (= Athen. 15.694e–f); Archestr. fr. 60 Olson-Sens (= Athen. 3.101c–e); Pherekr. fr. 26 PCG (= Athen. 3.119d) schildert vielleicht nur kriegsbedingte Not; vgl. Roubineau 2015, 147–152. Aristoph. Eccl. 604–615; Plut. 802–822; vgl. Hippon. fr. 26 West (= Athen. 7.304b). Für aktuelle Forschungsüberblicke und -thesen vgl. Murray 2009, Węcowski 2014, Schmitt Pantel 2015. Davidson 1998, 227–246, 310.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
tischer‘ Distinktion und allgemeinem Festtagsgenuss erscheint mir nicht zwingend: Gerade weil alle Haushalte zu festlichen Anlässen eine ritualisierte Kommensalität pflegten, boten diese Anlässe Gelegenheit, den Status des eigenen Hauses zu demonstrieren. Zweifellos konsumierten auch ärmere Haushalte zu besonderen Anlässen außeralltäglich: Kommensalität war für alle Haushalte wichtig. Sie taten das allerdings seltener und bescheidener als ihre reicheren Nachbarn.20 Zeitgenossen betrachteten die Qualität des Essens nicht bloß als Zeichen von Wohlstand, sondern auch als Mittel der gezielten Distinktion, weshalb man unabhängig vom Geschmack das Teure und Exotische bevorzugte.21 Dabei ging es nicht bloß um Klassenzugehörigkeit, sondern auch um Standeszugehörigkeit. Hipponax dichtete bereits im 6. Jh. hämisch über einen Verschwender, der früher Thunfischfilets aß, doch jetzt nur noch „abgewogene Feigen“, d. h. „Sklavenmahlzeit“.22 Billiger Fisch galt als „Speise für Freigelassene“; kauften sie ostentativ teuren Fisch, war das Grund zur Entrüstung.23 Denn der Konsum feiner Speisen war Ausweis des freigeborenen Mannes.24 Die Unterschiede in der Speisung markierten nicht nur Unterschiede zwischen Haushalten, sondern auch innerhalb des Haushalts selbst. Sklaven erhielten ausreichende, aber eintönige und billige Nahrung und durften nur zusehen, wie die Herren Spezereien verzehrten.25 Xenophons Empfehlungen zur Qualität und Menge der Verpflegung und Bekleidung suggeriert, dass es auch in dieser Gruppe weitere durch Essen symbolisierte Rangunterschiede gab.26 Die Differenzierung der Ernährung war auch geschlechtsspezifisch. Frauen wurden schlechter ernährt als die Männer im Haus und wurden, ähnlich wie Sklaven, pauschal der Verfressenheit verdächtigt.27
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Purcell 1995, 136; Fisher 2000, 358–369; Roubineau 2015, 153–155. Chrysipp. Stoic. fr. 2 SVF III (= Athen. 7.285d–e): Die Athener verachten Kleinfisch, der bei ihnen viel gefangen wird, weil er „Bettlerspeise“ (πτωχικὸν […] ὄψον) sei, während er anderswo begehrt sei, obwohl von schlechterer Qualität; (der Kleinfisch aus dem Hafen von Phaleron war besonders geschätzt; vgl. Archestr. fr. 11 Olson-Sens (= Athen. 7.285b–c)); ebenso begehrten die Athener Geflügel aus Adria am gleichnamigen Meerbusen, während man dort athenische Geflügel importierte; Chrysippos’ Bemerkungen stammen aus dem 3. Jh., der Gedanke ist jedoch älter, vgl. Timokl. fr. 11 PCG (= Athen. 6.241a–b). Hippon. fr. 26 West (= Athen. 7.304b). Alex. fr. 159 PCG (= Athen. 7.302f–303a); Philippid. fr. 9 PCG (= Athen. 3.230a–b); Diphilos fr. 67 PCG (= Athen. 6.225a–b). Antiph. fr. 181 PCG (= Athen. 9.370e), Alex. fr. 249 PCG (= Athen. 8.340b); vgl. Herakl. Pont. fr. 39 Schütrumpf (= Athen. 12.512b); Aristoph. Vesp. 488–499, Antiph. fr. 188 PCG (= Athen. 8.342e– 343a): Wer den gesamten Fisch aufkauft und keinen für die Mitbürger lässt, handelt tyrannisch; dazu Davidson 1998, 278–283; Wilkins 2000, 174 f. Roubineau 2015, 159–162; Theophr. char. 9.3: Der schamlos Geizige bedient sich beim Opferfest nicht selbst am Tisch eines anderen, sondern lässt sogar seinen Sklaven zugreifen; von Lynkeus von Samos (Anfang 3. Jh.), soll die Wendung stammen: Ziegenfleisch ist für die Sklaven, Wildschweinfleisch für den Hausherrn und seine Freunde, Athen. 9.402a. Xen. oik. 13.9–13. Roubineau 2015, 155–157; vgl. Aristoph. Pax 119–123 und zu den Vedächtigungen Kap. 10.2.
16.1 Die soziale Funktion des Konsums
529
Das ‚Haus‘ war in jeder Hinsicht die Einheit des Konsums: seine Hauswirtschaft stellte die zu verzehrenden Güter bereit, seine Hausgemeinschaft konstituierte sich über den gemeinsamen Verzehr, sein Wohnhaus war Schauplatz der Kommensalität. Der legendäre Reichtum des Atheners Kallias wird vom Bühnendichter Eupolis und vom Gelehrten Platon gleichermaßen mit einer Schilderung seines Hauses dargestellt, in dem zahlreiche Gäste aufwendig bewirtet werden.28 Anerkennung für die Ausstattung des Wohnhauses galt geradezu als Pflicht des Gastes, der damit Dankbarkeit für die erwiesene Gastlichkeit ausdrückte.29 Ostentativer Konsum definierte das Haus nicht nur sozial und räumlich, sondern auch in seiner zeitlichen Dimension, indem es wichtige Wendepunkte seines Lebenszyklus markiert.30 Die Bewirtung anlässlich der Geburt eines Sohns beim Amphidromion-Fest machte bekannt, dass die Kontinuität des Hauses gesichert war.31 Bei keinem häuslichen Fest wurde mehr Aufwand getrieben als bei der Hochzeit.32 Dabei wurden nicht nur Reichtum und Freigiebigkeit zur Schau gestellt, sondern zugleich die Allianz zweier bestehender Häuser und die Gründung eines neuen Haushalts öffentlich bekannt gemacht.33 Wie im Bereich der Produktion wurden auch bei der Konsumtion die bestehenden Strukturen und Strategien der Hauswirtschaft an die Bedingungen der monetarisierten Verkehrswirtschaft angepasst. Der städtische Markt entwickelte eine zunehmende Bedeutung für den ostentativen Konsum der Haushalte. Gerade weil sich Haushalte im Alltag häufig von den Erzeugnissen ihrer Gärten oder Äcker ernährten, markierten gekaufte Importprodukte das Außeralltägliche, den Festtag. Das galt sogar für ärmere Haushalte, die ihre Grundkost um geräucherten oder gesalzenen Trockenfisch
28 29
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33
Eupol. fr. 157 PCG (= Diog. Laert. 9.50); 161 (= Poll. 10.10); 162 (= Poll. 9.89); 174 (= Athen. 7.286b); Plat. Prot. 314c–316a; vgl. Xenophons Symposion. Aristoph. Vesp. 1214 f.; der Schmeichler sagt zum Geschmeichelten „sein Haus sei schön gebaut“, Theophr. char. 2.12; vgl. Diog. Laert. 8.63 (unter Verweis auf Geschichtsschreiber der klassischen Zeit) für die prächtigen Häuser der Bürger von Akragas; der Parasit erscheint ungeladen und ist so auf das Essen fokussiert, dass er die Einrichtung des Hauses mit keinem Wort lobt oder sogar Witze über sie reißt, Diphilos fr. 61 PCG (= Athen. 6.236b); vgl. Athen. 6.241d für eine ähnliche Anekdote ohne Quellenangabe. Wilkins 2000, 52; vgl. dazu ausführlich Gherchanoc 2012, 102–201. Ephipp. fr. 3 PCG (=Athen. 9.370c–d); vgl. Gherchanoc 2012, 138 f. Antiph. fr. 188 PCG (= Athen. 8.342e–343a); 204 PCG (= Athen. 7.309d–e); Euang. fr. 1 PCG (= Athen. 14.644d–e); Men. Sam. 189–227; vgl. das märchenhaft übersteigerte, in seiner Grundstruktur jedoch typische Hochzeitsbankett von Iphikrates und seiner thrakischen Prinzessin bei Anaxandr. fr. 42 PCG (= Athen. 4.131a–132f); die beabsichtigte Publikumswirkung betont eine Anekdote darüber, wie der ‚neureiche‘ Demades die Hochzeit seines Sohns ausrichtete, Plut. Phokion 30.3; zum Aufwand vgl. Gherchanoc 2012, 107–138; zu den theoretischen und praktischen Bemühungen um gesetzliche Beschränkungen des Aufwands Vérilhac/Vial 1998, 301 f. Is. 3.79 f.; 8.18; Hyp. 1.4–7. Zur Hochzeit s. Pomeroy 1997, 36; Vérilhac/Vial 1998, 296–326; Hartmann 2002, 78–93; Gherchanoc 2012, 107–124; vgl. Diod. 13.84,1–3 für einen Hochzeitsumzug fürstlichen Ausmaßes im sizilischen Akragas.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
(τάριχος) ergänzten, der ebenfalls häufig importiert war.34 Bereits bei Hesiod war importierter Wein Ausweis des Wohllebens.35 Aber nun wurde die Agora zum ständigen Schauplatz des häuslichen Konsums. Sie eignete sich als solcher nicht nur wegen ihres großen Warenangebots, sondern auch, weil sie als gesellschaftlicher Treffpunkt der ideale Ort war, um dem häuslichen Konsum Aufmerksamkeit zu verschaffen, also aus lediglich teurem Konsum tatsächlich ostentativen Konsum zu machen. Während die Zahl der geladenen Gäste begrenzt war und überwiegend aus Freunden und Verwandten des Hauses bestand, konnte man durch das ostentative ‚Leerkaufen‘ des Markts der eigenen Feier stadtweite Beachtung verschaffen.36 Nicht nur die Speisen, sondern auch die Kunst der Zubereitung wurde auf dem Markt gekauft. Der professionelle Koch, der mit seiner Kochkunst angibt oder unter den Anforderungen eines Auftraggebers ächzt, wird im 4. Jh. zur fixen Figur der Komödie.37 Ein Grund dafür, einen Koch anzuheuern, war wohl, dass sich in klassischer Zeit selbst reiche Haushalte keinen eigenen (unfreien) ausgebildeten Koch leisten konnten. Wichtig war aber auch, dass man seinen Gästen nicht nur reichlich vorsetzen, sondern auch Weltgewandtheit und verfeinerte „städtische“ Lebensart unter Beweis stellen wollte. Dafür bedurfte es des Kochs, der die richtigen Zutaten einkaufte und nach aktueller Mode zubereitete.38 16.1.2 Privater Konsum und Luxuskritik Die Luxuskritik stellte den Aufwand beim Gastmahl als Folge individueller Genussund Prunksucht dar. Derartige Abwertungen ostentativen Konsums waren nicht nur Sache der Philosophen, sondern auch rhetorisches Mittel in Gerichtsreden, die sogar Choregien zu einer Sache privater Eitelkeit abstempelten.39 Die Kritik suggerierte, ge34 35 36
37 38 39
Zu importiertem Pökelfisch s. Dalby 1998, 114–116; zur Bedeutung des Imports aus dem Schwarzmeergebiet s. Braund 1995. Hes. erg. 588–592. Derartige Marktszenen, die besonders bei den Fischsständen spielen, sind in der Komödie des 4. Jhs. zunehmend beliebt, vgl. Aristoph. Pax 999–1015; Antiph. fr. 188 PCG (= Athen. 8.342e– 343a) mit Nesselrath 1998, 281–283; Alex. fr. 47 PCG (= Athen. 8.338d–e); Diphil. fr. 31 PCG (= Athen. 6.227e–228b); als Zeichen der Überheblichkeit des Meidias zitiert Demosthenes (21.158), dass dieser mit drei oder vier Begleitern über den Markt schlendere und so laut von „Bechern und Trinkhörnern und Schalen“ spreche, dass es alle Anwesenden hören; vgl. die Anekdote über den Dichter Philoxenos von Kythera, der eben erst in Ephesos angekommen von einer großen Hochzeit erfuhr, weil der Fischmarkt leergekauft war, Klearch. fr. 54 Wehrli (= Athen. 1.6b–c). Nesselrath 1990, 297–309; Dalby 1998, 171–175; Wilkins 1998, 257 f.; 2000, 87, 369–414. Sotad. Com. fr. 1 PCG (= Athen. 7.293a–f); Dionys. Com. fr. 2 PCG (= Athen. 9.404e–405d); Diphilos fr. 17 PCG (= Athen. 4.132c); weitere Belege zitiert oben in Anm. 13; zur Kochkunst im 4. Jh. vgl. Dalby 1998, 161–175. Demosth. 3.24–31, 21.158 f., 22.75; ungewöhnlich weit geht Lyk. 139 f., der erklärt, selbst Pferdezucht und Choregie dienten nur dem privaten Prunk; ähnlich Isokr. 18.35.
16.1 Die soziale Funktion des Konsums
531
nau wie der Komödienspott über genusssüchtige Schlemmer, dass es sich um persönliche Vorlieben und Verfehlungen handelte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass nur dann außeralltäglicher Aufwand getrieben wurde, wenn ein familiärer oder städtischer Anlass, der irgendwie religiös gerahmt war (z. B. auch die Erfüllung eines privaten Gelübdes), eine Rechtfertigung dazu bot.40 Bei solchen Anlässen war außergewöhnlicher Aufwand nicht nur akzeptiert, sondern wurde von Reichen regelrecht erwartet: Wem die Tyche materielles Glück beschert, der soll das Umfeld seines Hauses daran Anteil haben lassen.41 Das war ein Gebot der Freigiebigkeit, aber es hatte auch eine mittelbar nützliche Signalwirkung. In einer Epoche, in der man zu zukünftigen Geschäften nicht den Finanzberater, sondern das Orakel des Zeus befragte, weil er als Verteiler des Reichtums galt, machte ostentativer Konsum bekannt, dass der eigene Haushalt göttliches Wohlwollen genoss. Wenn ein Händler nach einer erfolgreichen Handelsfahrt von Bord ging und anschließend ein üppiges Fest feierte, dann war das vermutlich Ausdruck echt empfundener Freude, zugleich erinnerte es aber auch potentielle Partner daran, dass ihr Geld bei ihm gut aufgehoben war.42 Ähnliche Gründe dürfte es gehabt haben, wenn Erwerbsleute öffentlich über ihre Handelsreichtümer und Geschäftserfolge fabulierten.43 Die Rechtfertigung, dass der Konsum des einzelnen Haushalts vielen zugute komme, war auch Teil der literarischen Ökonomik. Xenophon hebt im Oikonomikos mehrfach hervor, dass Haushaltsführung und Landwirtschaft es dem Haushalt ermöglichten, prächtige Liturgien zu leisten, aber auch einzelnen Mitbürgern, Gastfreunden und Freunden und natürlich den Göttern gegenüber großzügig zu sein (Kap. 3.2.1). Der Fokus liegt zwar auf den Liturgien, die in Athen verpflichtend für die reichsten Haushalte waren, aber Xenophon trennt sie bezeichnenderweise nicht kategorisch von freiwilliger Großzügigkeit und Euergetismus und Hilfsleistungen für ‚Freunde‘.44 Ähnlich
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43
44
Das verrät ausgerechnet eine gehässige Bemerkung von Theopomp über den Luxus der Tarentiner, FGrH 115 F 233 (= Athen. 4.166e–f); vgl. das aufwendige Fest für Pan bei Men. Dys. 400–453 und die Rahmenhandlungen der literarischen Symposien; Demosthenes’ Rede gegen Meidias wertet zwar dessen Aufwand bei den eleusinischen Mysterien als Großmannssucht ab, Demosth. 21.158, verrät jedoch zugleich, dass Demosthenes selbst für die Prozession beim Dionysos-Fest Goldkranz und golddurchwirktes Gewand in Auftrag gab, § 22. Isokr. 16.34; Theophr. char. 10.11; Alex. fr. 260 PCG (= Athen. 7.286e), 265 PCG (= Athen. 2.40e–f); Eub. fr. 72 PCG (= Athen. 6.239a); Men. Dys. 805–812. Bei Diphilos fr. 42 PCG (= Athen. 7.291f–292d) kehrt ein Händler von einer außergewöhnlich ertragreichen Handelsfahrt zurück und „schwätzt von seiner Fracht und rülpst seine Darlehen heraus“ (λαλῶν τὰ ναῦλα καὶ δάνει᾽ ἐρυγγάνων) und gibt eine große Feier; vgl. Aristoph. Plut. 1178 f. zur Erfüllung von Gelübden durch erfolgreiche Seehändler. Vgl. Theophr. char. 23.2 für den Prahler, der am Hafen Fremden etwas von seinen erfolgreichen Seegeschäften vorlügt; vgl. Aristophanes’ Witze über Theogenes von Acharnai, der als reicher Kaufmann mit Reichtum in der Ferne prahlte, der angeblich nicht echt war, Av. 821–823, 1126 mit Schol. Aristoph. Av. 822, Suda s. v. Θεαγένους χρήματα τά τ’ Αἰσχίνου (Adler θ 81). S. Veyne 1976, 184–200 und Rohde 2019, 231–245 zur Nähe von freiwilligem Euergetismus und verbindlichen Liturgien in Athen; vgl. Christ 1990, 150; Wilson 2000, 92, 145–147.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
hält es Aristoteles. In Politik I fordert er auf, den Erwerb auf die „lebensnotwendigen Dinge“ (ta anankaia) zu beschränken. Wie in Kapitel 6.1.3 gezeigt wurde, meint das allerdings mehr als das Existenzminimum, weil schließlich das gute Leben, nicht das bloße Leben das Ziel ist. Seine Behandlung der „Großgeartetheit“ (megaloprepeia) in der Nikomachischen Ethik ähnelt Xenophons Ausführungen. Anders als bei der Freigiebigkeit betrifft diese Tugend nur „große“ Ausgaben.45 Es geht allerdings nicht nur um die Größe der Ausgaben, sondern auch um die richtige Haltung zum Reichtum, die sie demonstrieren. Aristoteles nennt zuerst gottgefällige Ausgaben wie Weihgeschenke und Opfergaben, dann Liturgien, also Ausgaben, die „gutes Ehrstreben in Bezug auf das Gemeinwesen“ (πρὸς τὸ κοινὸν εὐφιλοτίμητα) zeigen.46 Bei privaten Ausgaben seien diejenigen am ‚großgeartetsten‘, die für alle stattfinden, wie Hochzeiten „an denen die ganze Stadt interessiert ist“, außerdem die Pflege von Gastfreundschaften, Ausgaben nämlich, die man nicht für sich selbst mache, sondern für das Gemeinwesen, wozu auch Weihgeschenke zählten.47 Selbst eine dem Reichtum entsprechende Ausschmückung des Wohnhauses gehöre dazu, als Zierde der Stadt, genau wie jegliche „dauerhaften Werke“.48 ‚Privat‘ war der häusliche Konsum also nur in dem Sinn, dass er aus privaten Mitteln bezahlt wurde. Sofern er allerdings nur persönlichen Vertrauten und dem eigenen erweiterten Haushalt zugute kam, ließ er sich als ‚private‘ Verschwendungssucht angreifen. Anders lag der Fall, wenn das Gemeinwesen selbst Nutznießer des ostentativen Konsums war. Die finanziellen Belastungen durch Trierarchien, Vermögenssteuern und Liturgien wurden zwar gerne als ‚Ruin der Reichen‘ verdammt. Anders als privatere Formen der Großzügigkeit ließen sich Liturgien jedoch in öffentlichen Reden nicht als Privatinteresse abwerten, sondern lediglich leugnen.49 Deshalb boten sie eine günstige Gelegenheit, den Erfolg der eigenen Hauswirtschaft in der städtischen Öffentlichkeit zu inszenieren, ohne sich angreifbar zu machen. Dieses Inszenierungspotential wird von Xenophons Oikonomikos ausführlich entwickelt und ist bei Aristoteles zumindest angedeutet. Praktische Anwendung fand es vor Gericht. So erklärte der Sprecher der Lysias-Rede Über das Vermögen des Aristogeiton frei heraus, für die Richter sei es nicht nur in Hinsicht auf „ihr Ansehen“ (πρός δόξαν), sondern auch „in Hinsicht auf die Geldberechnung“ (εἰς χρημάτων λόγον) „gewinnbringend“ (λυσιτελεῖ), ihm das Vermögen seines Verwandten auszuhändigen, statt es zu einzuziehen. Denn die Beschlagnahmung brächte der Bürgerschaft nur einen einmaligen Gewinn; aus einer Bewirtschaftung durch ihn würden sie hingegen „ein Vielfaches mehr an Nutzen zie45 46 47 48 49
Aristot. eth. Nic. 4, 1122 a 19–28. Eth. Nic. 4, 1122 b 19–23; a 23 f. nennt außerdem die Führung einer Festgesandtschaft. Vgl. die aufwendige Hochzeit des ‚reichsten Mann von Akragas‘, die die ganze Stadt zur Festbühne machte, bei Diod. 13.84, oder die große Hochzeit in Ephesos, zu der auch ungeladene Gäste kamen, bei Klearch. fr. 54 Wehrli (= Athen. 1.6a–b). Aristot. eth. Nic. 4, 1122 b 35–1123 a 9. Für entsprechende Beispiele s. Lys. 26.4 f., 31.15 f.; Demosth. 21.151–159, 25.78.
16.2 Das Kalkül des Konsums
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hen“ (πολὺ γὰρ πλείω ὠφεληθήσεσθ᾽), weil er daraus Liturgien leisten werde, so wie sein Vater vor ihm und er selbst zum jetzigen Zeitpunkt.50 Die unverblümte Sprache einer Gewinnkalkulation, aber auch die Feststellung, dass der Redner offenbar genau in dem Moment begann, eine Trierarchie auszustatten, als er vor Gericht um ein Vermögen stritt, führen beide zur Frage nach der Kalkulation des Konsums. 16.2 Das Kalkül des Konsums Wie weit wurden soziales und symbolisches Kapital nicht nur faktisch akkumuliert, sondern dieser ‚Erwerb‘ im Rahmen der Hauswirtschaft auch explizit kalkuliert und strategisch optimiert? Bereits ausgeführt wurde, dass die Philosophen ausgerechnet bei ihrer Kritik einer materialistischen Lebensweise regelmäßig die Sprache des Geldes und Gewerbes zur Veranschaulichung verwendeten (vgl. Kap. 4.2). Wo es um den Wert von Nahbeziehungen geht, ist ihre Sprache mitunter von der modernen Formulierung des ‚sozialen Kapitals‘ nicht weit entfernt. Die Freundschaft um des Nutzens willen, bei der Leistung und Gegenleistung erbracht werden, bewertet Aristoteles zwar geringer als die Freundschaft um der Tugend willen, hält sie jedoch für die realiter häufigste Form von philia (ein umfassender Begriff affektiver Nahbeziehungen, der mit ‚Freundschaft‘ nur unzureichend übersetzt ist).51 Aristoteles gibt sogar einen Rat, wie man das Problem der Berechnung von Gegenleistungen lösen könne, das in solchen Beziehungen zu Konflikten führe. Das „Maß“ (μέτρον) solle der „Nutzen“ (ὠφέλεια) sein, und zwar der Nutzen für den Empfänger.52 Xenophon geht noch einen Schritt weiter, indem er das Anknüpfen nützlicher Freundschaften als geldwerte Investition beschreibt. Beim „Erwerb“ von Freunden soll man der Maxime der guten Hauswirte folgen, und wertvolles „einkaufen“, wenn es gerade günstig ist, heißt es in den Memorabilien; einem Bekannten, der in Not ist, soll man daher helfen, weil er es später umso höher vergelten wird.53 Es handelt sich um das alte Schema des reziproken Gabentauschs, dessen kalkulierenden Charakter Xenophon auch sonst offenlegt.54 Die Kunst des „Erwerbs und Gebrauchs von Freunden“ (τις ὠφελεῖσθαι πρὸς φίλων κτῆσίν 50
51 52 53 54
Lys. 19.61 f.; Is. fr.1 Thalheim (= Dion. Hal. de Is. 8) dreht das Argument um: Der Prozessgegner sei ein schlechter Bürger, weil er sein liturgie-fähiges Vermögen verschwendet habe, anstatt sich darum zu „sorgen“ (epimelesthai – das Schlagwort tüchtiger Hauswirtschaft), um der Stadt ein nützlicherer Bürger zu sein. Zum umfassenden Begriff der philia bei Aristoteles und zur ‚nützlichen Freundschaft‘ vgl. Guthrie 1981, 384–390; Millett 1991, 109–126; Konstan 1997, 64–82; Zelnick-Abramovitz 2000, 67 f.; Flashar 2013, 98–102. Aristot. eth. Nic. 8, 1163 a 10–21; vgl. hierzu und zum Folgenden Millett 1991, 116–126 und Konstan 1997, 78–82. Xen. mem. 2.10,4. Mem. 2.3,11–14: Wer Hilfe von einem Freund möchte, muss mit einer entsprechenden Gefälligkeit in Vorleistung gehen; dazu Millett 1991, 116–120 mit Vergleichsmaterial.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
τε καὶ χρείαν) will erlernt sein. Ein Freund ist der beste „Besitz“ (κτῆμα), besser als Pferde, Zugtiere oder Sklaven, weil er „universal nützlich“ (πάγχρηστον) ist: Er hilft beim privaten Erwerb und in öffentlichen Angelegenheiten, er unterstützt einen in der Not und vor Gericht.55 Genau wie Sklaven habe jeder Freund einen in Geld benennbaren Wert: Der eine ist zwei Minen wert, der andere nicht mal die Hälfte.56 Trotz der sprachlichen Angleichung an eine Kauftransaktion folgt die Ökonomie der Ehre und Freundschaft anderen Regeln als explizite Zug-um-Zug-Geschäfte. Während bei diesen Geschäften der ökonomische Aspekt des Handelns Teil der expliziten Kommunikation ist, beruht der Nutzen von Ehre und Freundschaft gerade darauf, dass ihr potentieller ökonomischer Wert latent bleibt. Die explizite Festlegung von Qualität und Quantität der getauschten Güter, und des Zeitpunkts der Transaktion werden vermieden. Denn das wechselseitige Vertrauen und die gegenseitigen moralischen Ansprüche, die Freundschaftsbeziehungen ‚wertvoll‘ machen, beruhen gerade darauf, dass sie mehr sind als bloße Nutzbeziehungen und dass dies öffentlich kommuniziert wird.57 Investitionen in soziales Kapital waren deshalb langfristig angelegt und mussten gepflegt werden. Als Apollodoros während seiner Zeit als Trierarch (362–360) außerhalb Athens in Geldnot geriet, erhielt er einen Kredit von zwei Gastfreunden seines Vaters auf Tenedos. Apollodoros erklärt: Weil er der Sohn des Pasion war, der sich in Griechenland viele Gastfreunde gemacht und Vertrauen erworben hatte, habe er keinerlei Schwierigkeiten gehabt, sich Geld zu leihen.58 Der Nutzen von Pasions Investition in Vertrauen und Freundschaft realisierte sich also erst in der nachfolgenden Generation, dann aber in konkreter finanzieller Form. Das Beispiel zeigt die praktische und semantische Verzahnung der Ökonomie der Freundschaft (soziales Kapital) und der Ehre (symbolisches Kapital). Weil jemand seine Freundschaften pflegt, genießt er einen guten Ruf. Und umgekehrt: Weil jemand einen guten Ruf genießt, gewinnt er nützliche Freunde.59 Dieselbe Verquickung von Ansehen und Gabentausch führt Demosthenes’ Rede Gegen Leptines mit Bezug auf das Verhältnis von Stadt und Wohltäter aus.60 Die Rede argumentiert gegen ein Gesetz, das die Steuerbefreiungen, die verdienten Bürgern und Fremden verliehen worden waren, widerrief, um die Geldnot Athens zu mildern. Ein Hauptargument der Rede ist, dass der gute Ruf (doxa) wichtiger sei als das Geld (chrēmata). Während die früheren Athener dieser Maxime gehorcht hätten 55 56 57 58 59 60
Xen. mem. 2.4,1–6. Mem. 2.5,2 f. Vgl. die Kritik von Eich 2006, 102–104 an über-ökonomisierenden Interpretationen der Investition in soziales und symbolisches Kapital; vgl. Millett 1991, 116–126 zu den Spiegelregeln der Reziprozität im klassischen Athen; zur Theorie Esser 2000c, 235–253. [Demosth.] 50.56. Vgl. Xen. mem. 2.2,14. Vgl. Canevaro 2016, 77–97 für eine umfassende Analyse der ‚Ökonomie der Ehre‘ in der Rede Gegen Leptines.
16.2 Das Kalkül des Konsums
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und „aus Ehrliebe“ (ὑπὲρ φιλοτιμίας) ihre öffentlichen und privaten Gelder ausgaben oder riskierten, bringe dieses neue Gesetz Athen Schande und „erwerbe“ den Bürgern „dreifache Verachtung: dass man neidig, treulos, undankbar zu sein scheint“.61 Der Appell an das Ehrgefühl der Zuhörer ist auf den ersten Blick rein ethisch – die Bürger sollten wie früher das Edle dem Gewinn vorziehen.62 Diese ethische Forderung wird jedoch umgehend mit einem Nutzenkalkül begründet. Die Bürgerschaft müsse glaubwürdig in der Lage sein, treue Helfer zu entlohnen, um sich zu schützen.63 Die Kosten der Ehrungen seien dabei gering im Verhältnis zu den handfesten Gewinnen; Demosthenes zählt sie ausführlich auf: Beute, Steuereinnahmen, günstige Handelshäfen, reichliche Getreideversorgung, abhängige Städte.64 Beraube man diese Männer jetzt ihrer Ehrungen als Gegenleistung für ihre Wohltaten, riskiere man zukünftige Zuwendungen neuer Wohltäter.65 Demosthenes beschreibt die Beziehung zwischen Bürgerschaft und Wohltäter in der Sprache des Gabentauschs zwischen Individuen. Der Wohltäter erwartete vom Empfänger seiner Gabe χάρις, Dankbarkeit, die sich nicht in ideeller Anerkennung erschöpfen soll.66 Demosthenes formuliert für gemeinnützigen Euergetimus die gleiche Botschaft wie Xenophon für private Nahbeziehungen: Die Ehre der Bereicherung vorzuziehen ist langfristig auch für die Bereicherung vorteilhaft. Der Gedanke taucht auch bei anderen Redenschreibern auf und scheint dort wie hier von der allgemeinen Ethik auf die Politik übertragen. Isokrates erklärt, es sei ein Irrtum zu denken, dass die Gerechtigkeit zwar gut angesehen, aber „unprofitabel“ (ἀλυσιτελής) sei: Denn auch beim „Gelderwerb“ (χρηματισμός) sei „Tugend“ (ἀρετή) das Wichtigste.67 Den Grundgedanken teilen bereits die frühen Weisheitssprüche.68 Er lässt sich in zwei Richtungen wenden: als normativer Appell gegen die kurzfristige Nutzenoptimierung; oder als praktischer Ratschlag zu strategischer Investition in Ansehen und geschuldeter Dankbarkeit. Es tut sich ein interessanter Widerspruch zwischen praktischen und normativen Erwartungen auf: Praktisch erwartete man selbstverständlich von jedem, dass er Kosten und Nutzen seiner Freigiebigkeit genau kalkulieren würde; normativ hingegen wurde erwartet, dass man gerade nicht kleinlich nachrechnete, sondern nur um des
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Demosth. 20.10: τρία γὰρ τὰ μέγιστ’ ὀνείδη κτᾶται, φθονεροὺς ἀπίστους ἀχαρίστους εἶναι δοκεῖν. § 13. § 17. § 21–86; die Aufzählung der Gewinne ebd. 30–33. § 5, 104, 108. Vgl. Davies 1981, 92–96; Ober 1989, 226–233; Konstan 1997, 81 f. Isokr. 8.31 f.; vgl. Hyp. 4.37: Der gute Bürger vergrößert die öffentlichen Mittel nicht durch ungerechte „Sofortgewinne“ (παραχρῆμα), welche die Stadt langfristig „von gerechten Einkünften“ (ἐκ δικαίου πρόσοδον) abschneiden; stattdessen versucht er zu bewahren, was der Stadt zukünftig Nutzen bringt, und erhält so ihre Eintracht und ihren guten „Ruf “ (δόξα). Vgl. Kap. 4.3.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
Edlen und Angenehmen willen ‚großgeartet‘ konsumierte.69 Zur Kunst des ostentativen Konsums gehörte deshalb auch, zwar den Effekt des Konsums zu maximieren, im Konsum selbst jedoch jeglichen Verweis auf dessen Berechnung zu minimieren. Dies ließ sich erreichen, indem man den außerordentlichen Konsum auf Zeitpunkte konzentrierte, zu denen der normative Druck besonders hoch und die Publizität des Konsums garantiert war.70 Von Demokrit ist der Sinnspruch überliefert: „Sparsamkeit und Hunger sind nützlich; im rechten Augenblick jedoch auch Ausgaben; dies zu erkennen ist Sache des edlen Mannes.“71 Im Bereich des Essens und Trinkens waren diese ‚rechten Augenblicke‘ Feste und die Bewirtung von Gästen. Selbst reiche Haushalte folgten einem entsprechenden Zeitregiment. Im idealen Haushalt von Xenophons Oikonomikos wird der gesamte Hausrat – Bekleidung, Tafelgeschirr und Kochutensilien – danach geordnet, ob er täglich (καθ’ ἡμέραν; ἀεί) benutzt wird oder nur an Festtagen (εἰς ἑορτάς), zur Zubereitung festlicher Mähler (τὰ θοινητικά) oder zur Bewirtung von Gästen (ξενοδοκία). Diese Gerätschaften werden gesondert aufbewahrt und über ihre Verwendung wird genau Buch geführt.72 Es ist bereits erwähnt worden, dass Haushalte freie Köche zum jeweiligen Anlass anheuerten, weil es den Gastgebern erlaubte, Gästen verfeinerte Speisen zu servieren, ohne dauerhaft einen unproduktiven Sklaven als Koch besitzen zu müssen. In ähnlicher Weise wurde die prachtvolle Ausstattung des Gastmahls, allen voran das kostbare Tafelgeschirr, manchmal ebenfalls nur zum jeweiligen Anlass geliehen.73 Eine vergleichbare Optimierung des äußeren Eindrucks findet sich mancherorts auch in räumlicher Dimension. In Eretria und Olynth konzentrierte sich die permanente repräsentative Ausstattung der Wohnhäuser auf die Eingangsbereiche und Speiseräume, also auf Bereiche, die Gästen zugänglich waren.74 Die bisherigen Überlegungen betreffen den ‚privaten‘ Konsum der Kommensalität im Haus. Auch im Bereich des gemeinnützigen Konsums lässt sich eine ähnliche Öko-
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Aristot. eth. Nic. 4, 1122 b 7 f.: akribologia ist Zeichen des Kleinmütigen; vgl. Demosth. 51.7. Davidson 1998, 238 f. sieht in der zeitlichen Begrenzung umgekehrt einen Beleg dafür, dass es sich nicht um ostentativen Konsum gehandelt habe; bereits Hesiod empfiehlt, gerade beim gastreichen Mahl reizend zu sein, weil man aus Geselligkeit „meiste Dankbarkeit zu geringsten Kosten erhielte (πλείστη τε χάρις δαπάνη τ’ ὀλιγίστη), erg. 722 f.; das Corpus Theognideum räsoniert darüber, dass sich Sparsamkeit und Großzügigkeit viel besser über die Lebenszeit hin kalkulieren ließe, wenn man deren genaue Länge wüsste, Thgn. 903–932; der Geizhals (mikrologos) zeichnet sich durch Sparsamkeit ὑπὲρ τὸν καιρόν aus, Theophr. char. 10.1: Er erkennt nicht, in welchen Situationen Großzügigkeit geboten ist, um Schande zu vermeiden. Demokr. fr. B 229 DK 68 (= Stob. 3.16,19): φειδώ τοι καὶ λιμὸς χρηστή· ἐν καιρῶι δὲ καὶ δαπάνη· γινώσκειν δὲ ἀγαθοῦ. Xen. oik. 9.6–10; vgl. Theophr. char. 18.4 (versiegelter Becherschrank) und Lys. 12.10. Theophr. char. 18.7; [Demosth.] 49.22–24; Diog. Laert. 4.38; vgl. Alexis FGrH 539 F 2 (= Athen. 12.540d–e) für Samos; bei allen Mahlzeiten Tafelgeschirr aus Edelmetall zu benutzen, wurde als Prunksucht neureicher Aufsteiger verdammt: Philippid. fr. 9 PCG (= Athen. 3.230a–b); Theop. FGrH 115 F 252 (= Athen. 6.230e–f); vgl. Aristoph. Plut. 802–822. Cahill 2002, 180–190; Reber 1998, 27, 31 f., 47 f., 67, 99, 113–115; selbst im großen ‚Haus der Mosaike‘ fanden sich ornamentale Mosaike nur in den Speiseräumen, Ducrey (u. a.) 1993, 45–47, 63.
16.2 Das Kalkül des Konsums
537
nomie der Ehre erkennen. Die Diskussion muss sich dabei auf Athen beschränken, weil wir nur hier genau genug informiert sind. Die moderne Bewertung der Liturgien oszilliert zwischen zwei Polen. Die eine Position ist, dass Liturgien keine Steuern (im modernen Sinne) waren, sondern ostentative gemeinnützige Gaben, die man aus Ehrstreben (philotimia) leistete und dafür im Gegenzug Dankbarkeit (charis) erwartete.75 Die Gegenposition ist, dass es sich um lästige Zwangsabgaben handelte, denen man sich durch die Verheimlichung von Vermögen zu entziehen suchte.76 Für beide Positionen lassen sich Belege finden: Die Gerichtsreden behandeln die Übererfüllung der liturgischen Pflichten als ebenso plausibel wie die Vermeidung von Liturgien.77 Das widersprüchliche Bild hat seine Ursache nicht zuletzt darin, dass das athenische Liturgien-System eine einzigartige Kombination von Freiwilligkeit und Zwang war.78 Es ist deshalb streng genommen nicht auszuschließen, dass sich die liturgische Schicht in zwei Gruppen von Haushalten aufteilte: solche, die prinzipiell ihre Pflichten übererfüllten und solche, die prinzipiell jegliche Leistung vermieden. Diese Erklärung ist jedoch problematisch, weil auf allen Haushalten derselbe wirtschaftliche, soziale und institutionelle Druck lastete. Große Vermögen ließen sich schlecht dauerhaft verbergen und waren dem Risiko ausgesetzt, zum Vermögensaustausch (Antidosis) aufgefordert zu werden.79 Umgekehrt konnte sich kaum ein Haushalt die grenzenlose Übererfüllung seiner gemeinnützigen Pflichten leisten. Wieso gab es dann das beobachtbare Spektrum an Verhaltensweisen? Zu erklären ist dies meines Erachtens damit, dass die Frage, ob eine Liturgie eher nützte oder kostete, von zwei Variablen abhängig war, welche die Haushalte genau berechneten. Die erste war die Unterschiedlichkeit der geforderten Leistungen: Kriegsbeiträge und Trierarchien waren besonders teuer und die Trierarchie zusätzlich auch persönlich riskant, und boten im Vergleich weniger Raum für individuelle Inszenierung, insbesondere seit ihre Erbringung im 4. Jh. kollektiv erfolgte.80 Es ist deshalb plausibel, dass zwar auch hier einige besonderen Aufwand 75 76 77
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Finley [1973] 1993, 176–178; Veyne 1976, 189–200; Davies 1981, 26, 92; Gehrke 1985b, 327; Wilson 2000, 92. Rostovtzeff [1941] 1955, 491–495; Christ 1990, 157–169; Cohen 1992, 194–201; Cecchet 2015, 209 f. Eine Mittelposition ist die Annahme, Liturgien seien ursprünglich ehrenvoll und freiwillig gewesen, aber hätten diesen Charakter im 4. Jh. zunehmend verloren, weshalb Zwangsmaßnahmen notwendig wurden; vgl. Christ 1990, 150–155, daran anschließend Carmichael 1997, 262–264, 270. Rohde 2019, 233–237 argumentiert zu Recht, dass Übererfüllung nicht singulär war, aber verallgemeinert unberechtigterweise auf Grundlage der Trierarchie-Reden von Apollodoros und Demosthenes ([Demosth. 50] und Demosth. 51), die überhaupt nur als Gerichtsreden überliefert sind, weil es um spektakuläre Ausnahmen ging. Ober 1989, 241–243; Christ 1990, 152 f.; Burford 1993, 93; Cecchet 2015, 205. Zum Antidosis-Verfahren und seiner Wirkung auf die Bereitschaft zur Vermögensdeklaration s. Davies 1981, 9–14; Gabrielsen 1987; Ober 1989, 241–243; Christ 1990, 161–168. Bei den Eisphorai ab 378/7, bei der Trierarchie vermutlich seit 358, vgl. Bleicken 1995, 164, 296 f.; Hansen 1995, 115–117; vgl. die ausführliche Diskussion der Belegstellen bei Wyse 1904, 580 f. in seinem Kommentar zu Is. 7.38.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
trieben (der z. B. mit Kränzen für das schnellste Schiff belohnt wurde), viele aber die Tierarchie als Belastung empfanden, während sie Choregien bereitwilliger leisteten.81 Denn die Festliturgien wurden vor den Augen der ganzen Stadt ausgeführt und boten ein breiteres Spektrum kleinerer und größerer Ausgaben, so dass man die Wahl der auszuführenden Liturgie und den Aufwand bei ihrer Ausführung genauer an die Möglichkeiten und Ziele seines Haushalts anpassen konnte.82 Die zweite Variable war der Zeitpunkt, zu dem Liturgien zu leisten waren. Eine wichtige Einsicht von Thomas Gallants dynamischem Modell der Hauswirtschaft ist, dass diese im Laufe eines Lebenszyklus mehrere Vulnerabilitätsphasen durchlief, in denen Haushalte über geringe Sicherheitspuffer verfügten, um zusätzliche Ausgaben zu verkraften. In diesen Phasen waren Liturgien nicht nur eine zusätzliche Belastung, sondern regelrecht gefährlich.83 In einem System wie dem athenischen, das die Liturgien nach dem Vermögen bemaß, aber nur wenig Rücksicht auf die laufenden Kosten der Haushaltsführung nahm, war das Hauptproblem also nicht die absolute Höhe der geforderten Leistungen, sondern dass der individuelle Haushalt keine Kontrolle darüber hatte, wann sie erforderlich waren.84 Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die meisten Haushalte sich nicht dauerhaft allen Anforderungen entziehen wollten, aber versuchten, durch das zeitweilige Verbergen des Vermögens die Kontrolle über Zeitpunkt und Umfang einer Leistung zu gewinnen. Das erlaubte es, die eigenen Leistungen als freiwilligen Akt zu inszenieren, was ihren Ehrenwert erhöhte.85 Sodann ließen sich liturgische Ausgaben auf Phasen beschränken, in denen der Haushalt Überschüsse erwirtschaftet hatte oder es besonderen Anlass gab, Ansehen zu erwerben.86 Schließlich
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[Xen.] Ath. pol. 3.4 erwähnt ein spezielles Verfahren, um Einspruch gegen eine auferlegte Trierarchie zu erheben, aber nichts dergleichen für die Choregie; dazu Davies 1981, 16 f.; das Gleiche gilt für die bei Demosth. 51.7 belegte Verpachtung der Trierarchie, dazu Eich 2006, 438–445; Is. 5.36 wirft dem Prozessgegner vor, nie eine Trierarchie, aber zwei Choregien geleistet zu haben, obwohl er reicher war als manch ein Trierarch. Vgl. Davies 1981, 9 zum Spektrum der Liturgien; Wilson 2000, 92 zum entsprechenden Kalkül, sowie 145–194 zu Ehrstreben und Ambitionen der Choregen. Gallant 1991, 101–112. Vgl. Antiph. fr. 202 PCG (= Athen. 3.103e–f); Isokr. 8.20. Vgl. Carmichael 1997, 262–264 zum Zusammenhang von Freiwilligkeit und Höhe des Ansehengewinns. Frischer Reichtum erlaubt Liturgien: Lys. 27.10; der Sprecher der Lysias-Rede Über das Vermögen des Aristophanes leistete just in dem Moment seine erste Trierarchie, als er vor Gericht um ein großes Vermögen stritt, Lys. 19.61 f.; Demosthenes akzeptierte die Liturgie, die ihm per Antidosis aufgedrängt wurde, weil sie ihm zum Zeitpunkt der Übernahme Vorteile im Prozess gegen seine Vormünder bot, Will 2013, 28 f.; seine erste Trierarchie empfahl ihn für eine anschließende Rednerkarriere, ebd. 37–39, und seine Choregie im Jahr 349 übernahm er, als dies wegen des Fehlens eines Pflichtkandidaten besonders hervorstach und er sich damit zugleich den Kriegsdienst ersparte, ebd. 95–97; vgl. Davies 1971, 519 zu den Liturgien von Hypereides und Sohn: „The fact that these, the only known liturgies of the family, were all undertaken inside a twelvemonth strongly suggests that they were deployments for political purposes, at a time when they might be a worthwhile investment, of a wholly exceptional source of income.“
16.3 Die Funktionen des Konsums
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wirkte die Höhe einer gemeinnützigen Ausgabe desto ehrenvoller, je geringer das Vermögen veranschlagt wurde, aus dem sie geleistet wurde. Aristoteles schreibt über die Freigiebigkeit, sie werde „nach dem Vermögen“ (κατὰ τὴν οὐσίαν) beurteilt, d. h., nicht nach der absoluten Höhe des Gegebenen, sondern nach der relativen Höhe im Verhältnis zu den Mitteln des Gebenden: „So spricht nichts dagegen, dass derjenige freigiebiger ist, der weniger gibt, wenn er von weniger gibt.“87 Dieses Bewertungsprinzip fand in den Gerichtsreden praktische Anwendung.88 Es war also gerade dann sinnvoll, das eigene Vermögen zu verheimlichen oder zu untertreiben, wenn man den eigenen Ehrgewinn maximieren wollte. 16.3 Die Funktionen des Konsums 16.3.1 Soziales Kapital als Versicherung Die Konvertierung von ökonomischem Kapital hatte, was immer die Akteure individuell zum Streben nach Ansehen, Freundschaften und Privilegien motivierte, systemische Funktionen für die Hauswirtschaft. Eine Funktion war Risikominimierung, die Fortsetzung der Strategien der Akkumulation und Diversifizierung mit anderen Mitteln. Dieser Aspekt ist beim sozialen Kapital besonders gut erkennbar und zwar schichtübergreifend. Für kleine Haushalte schufen kleine Leihgaben von Nahrungsmitteln und Gerätschaften unter Nachbarn die Voraussetzung, um in Bedrängung selbst Hilfe zu erhalten. Bei Hausgerät, das man nur gelegentlich brauchte, ersparte das Leihen zugleich die dauerhafte Anschaffung.89 Große Haushalte sicherten sich gegen die Risiken großer Geldgeschäfte, Gerichtsprozesse und politischer Aktivität ab. Die Investition in Dankesschulden war geboten, weil über eine gewisse Schwelle hinaus nicht nur jede weitere Drachme an relativem Wert verlor, sondern zugleich die Wahrscheinlichkeit steigerte, dass Konkurrenten ihr Ansehen oder ihren Einfluss nutzen würden, um diesen Reichtum zu erbeuten. Xenophon thematisiert den Versicherungsaspekt von Investitionen in Nahbeziehungen besonders direkt. Der besiegte Lyderkönig Kroisos, Inbegriff grenzenlosen materiellen Reichtums, wundert sich, warum der Großkönig Kyros keine Schätze horte. Kyros entgegnet, er liebe „Vermögensgüter“ (χρήματα) genau wie alle anderen Menschen und sei unersättlich nach Reichtümern. Doch anders als die meisten horte 87 88 89
Aristot. eth. Nic. 4, 1120 b 7–11: οὐθὲν δὴ κωλύει ἐλευθεριώτεροι δὲ εἶναι τὸν τὰ ἐλάττω δ ιδόντα, ἐὰν ἀπ’ ἐλαττόνων διδῷ. Lys. 19.28 f., 42 f.; Is. 3.80; 6.38; fr. 1 Thalheim (= Dion. Hal. de Is. 8); Deinarch. 1.70; Demosth. 36.39–41; [Demosth.] 42.22. Osborne 1987, 93 f.; Garnsey 1988, 56–58; Gallant 1991, 155–158; Millett 1991, 139–148; Hanson 1995, 136–142; Schmitz 2004b, 423–431; vgl. z. B. Aristoph. Ran. 1158 f.; Pax 282–284; Eccl. 446–451; Hermipp. fr. 29 PCG (= Athen. 478c); Theophr. char. 4.14.
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er seine Reichtümer weder noch verschwende er sie; stattdessen investiere er sie in Freunde. Das verhindere ihren Neid und Hass und mache sie zu Wächtern seines Vermögens – zu „Schatzkisten“ (θησαυροί). Er vergrabe seinen Besitz nicht und lasse ihn nicht verrotten, und begnüge sich auch nicht wie andere Menschen damit, ihn „beständig zu zählen, zu messen und zu wiegen und zu bewachen und mit sich herumzutragen, so dass, „das überschüssige Vermögen (τὰ περιττὰ χρήματα) eine Bürde ist“. Stattdessen beginne er, „den Mangel seiner Freunde“ zu beseitigen, sobald er einen Überschuss habe: Indem er sie reich mache und ihnen Wohltaten erweise, erwerbe er sich ihr Wohlwollen und ihre Freundschaft und ernte von ihnen „Sicherheit (ἀσφάλεια) und Ansehen“ – Besitztümer, die nie verrotten oder durch Übermaß schädigen.90 Wie Aristoteles (s. Kap. 6.2.2) hat Xenophon einen akkuraten, wenngleich vorwissenschaftlichen Begriff davon, dass der Grenznutzen eines Guts abnehmen kann: Weil der materielle Reichtum ab einem gewissen Punkt an Nutzen verliert oder sogar schädigt, ist es vernünftig, ihn in soziales Kapital umzutauschen, das nicht verrottet und nicht geraubt werden kann. Der Hinweis auf die Vermeidung von „Neid“ deutet an, dass mit dem Reichtum auch die Begehrlichkeiten und die Statusfurcht der Konkurrenten steigt und damit das Risiko von Anfeindungen und Konflikten. Aristoteles diskutiert den Versicherungsnutzen der Freundschaft ebenfalls. Freundschaft (philia) ist nicht nur Ausdruck von Tugend, sie gehört zu den „notwendigsten Dingen des Lebenserhalts“ (ἀναγκαιότατα εἰς τὸν βίον). Der Reiche, der Regierende und der Dynast haben besonderen „Bedarf “ (χρεία) an Freunden. Ihre Verfügung über Macht und Reichtum ist nur „nützlich“ (ὄφελος), wenn sie Freunde haben, denen sie „Wohltaten“ (εὐεργεσίας) erweisen können. Hier geht es um Ansehenserwerb. Außerdem brauche man die Freunde, um das eigene Glück zu bewahren und zu verteidigen, das umso „gefährdeter“ (ἐπισφαλεστέρα) sei, je größer es ist. „In der Armut wiederum und in sonstigen Unglücksfällen halte man die Freunde für seine einzige Zuflucht.“91 Aristoteles schließt sich hier einer Meinung an, die er für allgemein vertreten hält. Eine Passage in Menanders Dyskolos bestätigt diese Annahme. Geld (chrēmata) sei eine „unbeständige Sache“ (ἀβεβαίου πράγματος). Es sei ungewiss, dass es einem „für alle Zeit“ erhalten bleibe, weil man es dem Schicksal (tychē) verdanke; es könne auch wieder abhanden kommen. Deshalb müsse man „sich edel nützlich machen“ (χρῆσθαι σε γενναίως), solange man könnte, und anderen helfen, indem man sie „vermögend“ (εὐπόρους) macht. Das sei „unsterblich“ (ἀθάνατον), weil einem in eigener Not die Hilfe vergolten würde: „Ein sichtbarer Freund ist dem verborgenen Reichtum um vieles
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Xen. Kyr. 8.2,18–22, hier 22: ἐπειδὰν δὲ, ἃ ἂν ἴδω περιττὰ ὄντα τῶν ἐμοὶ ἀρκούντων, τούτοις τάς τ᾽ ἐνδείας τῶν φίλων ἐξακοῦμαι καὶ πλουτίζων καὶ εὐεργετῶν ἀνθρώπους εὔνοιαν ἐξ αὐτῶν κτῶμαι καὶ φιλίαν, καὶ ἐκ τούτων καρποῦμαι ἀσφάλειαν καὶ εὔκλειαν. Der Schatz-Metapher bedient sich auch Isokr. 1.29. Aristot. eth. Nic. 8, 1155 a 3–12. Übers. O. Gigon; vgl. eth. Nic. 1, 1099 a 31–b 8.
16.3 Die Funktionen des Konsums
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überlegen.“92 Das Bemerkenswerte all dieser Passagen ist nicht, dass sie die Freundschaft zynisch zum reinen Geschäft abwerten; bemerkenswert ist die Verschmelzung von moralischer Doktrin und kommerzieller Sprache, welche die Gleichzeitigkeit dieser Bedeutungsaspekte in Nahbeziehungen adäquat wiedergibt.93 Bei Haushalten der Oberschicht und bei kommerziell aktiven Haushalten galten insbesondere Gerichtsprozesse als Gefahr, gegen die man sich mit Freunden versicherte. Es ist ein Gemeinplatz, dass Reiche und Angesehene Gerichtsprozesse riskieren können, weil sie von Freunden unterstützt werden. Entsprechend der partikularen Moral der Hauswirtschaft hält man sich die Hilfe solcher Freunde zugute, während man sie bei Gegnern als unzulässige Einflussnahme beklagt.94 Da die meisten privaten Gerichtsprozesse direkt das häusliche Vermögen betrafen – Mitgiften, Erbtöchter, Erbschaften, geschuldete Darlehen oder Kaufbeträge usw. – war diese Versicherung eine ziemlich direkte Investition in den Erhalt des eigenen Haushalts. Auch das symbolische Kapital eines Haushalt – Ansehen und Anerkennung in der städtischen Öffentlichkeit – galt als Besitz, der zugleich selbst ein ‚sicheres‘ (weil immaterielles) Gut ist und Sicherheit für andere Güter schafft. „Der gute Ruf ist ‚eiserne Ration‘ (ἐφόδιον ἀσφαλές) für jeden kritischen Moment und jede Schicksalswendung“, dichtet Menander.95 Vor Gericht zitierten Redner regelmäßig ihre Liturgien und Trierarchien und verlangten im Gegenzug die Gunst der Richter96 – manch ein Redner gestand offen, dass er seine Leistungen als Versicherung im Falle zukünftiger Gerichtsprozesse geplant habe.97 Dass man dabei auch die Liturgien der Väter und Großväter zitierte, entspricht der Langfristigkeit hauswirtschaftlicher Strategien. Wirtschaftlich erfolgreiche Aufsteiger und Nichtbürger investierten besonders in öffentliche Ehrungen: Teils um den Status zu erwerben, den sie nicht geerbt hatten, teils um die Missgunst abzuwehren, die Aufsteigern besonders entgegenschlug.98 Je stärker Kriegsführung und Nahrungsversorgung von Handel und Geldverkehr abhingen, desto mehr Gelegenheiten boten sich Händlern und Unternehmern, durch Geld und Sachspenden Kapital zu konvertieren. Für Nichtbürger ging es dabei nicht nur um symbolisches Kapital, sondern auch um Privilegien und wohlwollende Behandlung.99 Der bosporanische Kaufmann Chrysippos erinnerte an seine großzügigen Geld- und 92 93 94 95 96 97 98 99
Men. Dys. 797–812: πολλῷ δὲ κρεῖττον ἐστιν ἐμφανὴς φίλος ἢ πλῦτος ἀφανής; dazu Dover 1974, 277 und Millett 1991, 120. Hierzu Zelnick-Abramovitz 2005, 43–45 unter Verweis auf Thuk. 2.40,4 f. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Plat. Gorg. 479a–c; And. 1.150; [And.] 4.15; Demosth. 21.62 f., 138–140; 24.157–159; 32.31 f.; [Demosth.] 44.3, 15, 28; 53.1; Isokr. 17.2; Lyk. 20. Men. fr. 261 PCG (= Stob. 3.37,10). Antiph. 5.77; 6.11–14; [And.] 4.41 f.; Lys. 7.31; 19.28 f., 42 f., 61 f.; 20.23; 21.1–20, 24 f.; 25.12 f.; 26.4 f., 21 f.; Is. fr. 34 Thalheim; Isokr. 16.35; Demosth. 21.151; 36.41. Etwa Lys. 20.31; 25.12 f.; fr. 106 Carey (= P. Lond. 2852, sp. 2); [Demosth.] 34.38 f. Vgl. Rohde 2019, 242 f. Zur Missgunst gegenüber Aufsteigern, s. Kap. 3.2.2. Garnsey 1988, 71 f., 82–84; Eich 2006, 249 f.; vgl. Engen 2010, bes. 27–53, 113 f.
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Getreidespenden an die Athener in den vorausgegangenen Krisenjahren, als er 327/6 vor einem athenischen Gericht um die Rückzahlung eines Seedarlehens stritt.100 Was für Athen in den 330er- und 320er-Jahren gilt, galt für kleinere Städt erst recht: Notlagen zwangen sie, Kaufleuten im Tausch gegen Versorgungsgüter (meist Getreide) Ehrungen und bevorzugte Behandlung zu bieten.101 16.3.2 Guter Ruf, gute Geschäfte Investitionen in gutes Ansehen schützten nicht nur vor Risiken bei Geschäften, sie eröffneten auch günstige Gelegenheiten für neue Geschäfte. Das galt besonders für Geldgeschäfte, in denen „Vertrauen“ (πίστις) das größte „Startkapital“ (ἀφορμή) ist, wie ein Redner es vor Gericht ausdrückt.102 Wo das Vertrauen nicht auf gemeinsamer Sozialisation oder alter Bekanntschaft beruhte, war der Ruf von Ehrlichkeit und Freigiebigkeit Basis des Vertrauens. In diesem Sinn argumentiert Demosthenes, wenn er die Athener anhält, sich gegenüber ihren Wohltätern nicht kleinlich zu zeigen, um zukünftige Wohltäter anzuziehen (s. Kap. 16.2). Demosthenes’ Mahnung, den langfristigen Gewinn durch den Ruf der Ehrbarkeit dem kurzfristigen Geldgewinn vorzuziehen, findet sein Echo in den Hausbüchern der Florentiner Patrizier mit explizitem Bezug auf ihre Geldgeschäfte. Kredit (credito) zu genießen, bedeutete hier im doppelten Wortsinn sowohl die Möglichkeit Geld zu leihen, als auch das Vertrauen und die Anerkennung seiner Mitbürger zu genießen.103
100 [Demosth.] 34.38–40. 101 Ain. Takt. 10.12 empfiehlt die Auslobung von Ehrenkränzen für Kaufleute und Schiffseigner, die helfen, Getreide in eine belagerte Stadt zu bringen. 102 Demosth. 36.44. 103 Padgett/McLean 2011, 38; Paolo da Certaldo meint, der gute Ruf (buona fama), den man durch Tugend erwirbt, sei wichtiger als ein großes Vermögen (un gran tesoro) und mache unsterblich, vgl. Nr. 83, Ed. V. Branca (1986), S. 13; Alberti feiert seine Familie dafür, dass sie ihre Handelsunternehmungen stets zum Nutzen ihrer Stadt und ihrer Freunde und in Ehre durchgeführt hätten, s. Kap. 4.3.1, Anm. 216, dazu Marietti 2000, 892; Francesco Guicciardini wiederholt in seinen Ricordi mehrfach, dass derjenige den meisten Erfolg habe, der die Ehre nicht vernachlässige, vgl. Nr. 44; 118; 158: es sei zwar richtig, nach dem eigenen Interesse zu handeln, doch falsch zu denken, dieses bestünde mehr im Geld als im guten Namen (la riputazione e el buono nome), vgl. Nr. 218, Ed. E. L. Scarano (1970); Giovanni Rucellai schreibt im Zibaldone: „Merkt euch, meine Söhne, dass ein geliebter Verkäufer immer viele Käufer haben wird, und unter den Gewerbetreibenden der gute Ruf (la buona fama) und die Zusammenarbeit mehr wert sind als Vermögen“; Ed. A. Perosa (1960), S. 5. Den Kontext solcher Ratschläge beleuchtet ein Eintrag im geheimen Tagebuch des Kaufmanns Dati; er beklagt eine Partnerschaft, die ihm nur Ärger eingebracht habe; wegen eines Gerichtsprozesses, Verdächtigungen und dem Neid übler Leute habe er seinen „Kredit verloren“ (mancandoci il credito) und nun sei er gezwungen, seine „Freunde“ (amici) um Geld zu bitten und mit großem Verlust Bankrott und „Schande“ (vergogna) abzuwenden; sein Partner würde diese Geldkosten zwar lieber meiden, er selbst jedoch wolle eher seiner Besitztümer beraubt werden als seiner „Ehre“ (onore), Ed. C. Gargiolli (1869), S. 87.
16.3 Die Funktionen des Konsums
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Vergleichbare Äußerungen finden sich aus klassischer Zeit. Platon beginnt seine Diskussion der Gerechtigkeit in der Politeia mit einem kaufmännischen Begriff von Gerechtigkeit, den er für unzulänglich, aber allgemein verbreitet hält.104 Mit Bedacht legt er diese Definition Kephalos in den Mund, dem greisen Metöken und Unternehmer, der sich selbst als Erwerbsmann (chrēmatistēs) bezeichnet.105 Das „Nützlichste“ (χρησιμώτατος) am Vermögensbesitz sei, meint Kephalos, dass er ermögliche, niemanden übervorteilen oder hintergehen zu müssen und weder den Göttern ihre Opfer noch den Menschen ihr Geld schuldig zu bleiben. Sokrates fasst Kephalos’ Definition mit den Worten zusammen: „die Wahrheit sagen und zurückgeben, was man empfangen hat“.106 Das anschließende Gespräch, in dem Kephalos’ Sohn an die Stelle seines Vaters tritt, akzentuiert den kaufmännischen Ton der Definition.107 Auf die Frage, „zu welchem Gebrauch oder Erwerb (τίνος χρείαν ἢ κτῆσιν) im Frieden die Gerechtigkeit nützlich sei“, antwortet Kephalos’ Sohn Polemarchos für „Vereinbarungen“ (συμβόλαια), genauer, „Partnerschaften“ (κοινωνήματα).108 Der Gerechte sei weder beim Brettspielen, Kitharaspielen oder Hausbauen ein „nützlicher Partner“ (χρησιμώτερός τε καὶ ἀμείνων κοινωνός), sondern in „Geldangelegenheiten“ (εἰς ἀργυρίου), nämlich dann, wenn man „Silber und Gold gemeinsam gebrauchen will“ (κοινῇ χρῆσθαι) und zwar besonders hinterlegte Gelddeposite.109 Im zweiten Buch heißt es, der scheinbar gerechte Mann erhalte aufgrund seines Ansehens öffentliche Ämter und könne nach Belieben Heiratsallianzen und Partnerschaften eingehen (συμβάλλειν; κοινωνεῖν) und „ziehe aus all dem mit Profit Nutzen“ (πάντα ὠφελεῖσθαι κερδαίνοντα).110 Die Wörter chrēsimos, chreia, ōpheleisthai erinnern fortwährend an das Nutzenkalkül hinter dieser Form der Gerechtigkeit. Auch im letzten Buch der Politeia kritisiert Platon noch einmal das konventionelle Verständnis der Gerechtigkeit als geschäftstüchtige Ehrbarkeit. Der geldliebende oligarchische Mensch wahre den guten Ruf der Gerechtigkeit (εὐδοκιμεῖ δοκῶν δίκαιος εἶναι), den er in „Geschäftsverhältnissen“ (συμβολαίοις) genieße, nicht aus wahrer Vernunft, sondern aus Furcht um sein Vermögen.111 Die vermeintliche Gerechtigkeit ist also letztlich bloß kalkulierter Eigennutz. Als radikal denkender Moralphilosoph legt Platon höhere Maßstäbe an als der wohlhabende Erwerbsmann Kephalos und sein Sohn Polemarchos und meint, dass
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Schriefl 2013, 185 f.; vgl. Lycos 1987, 26–39. Plat. rep. 1, 330b: zu Kephalos und seiner Familie s. Kap. 4.1.1 und 11.2.4. Rep. 1, 331b–d: ἀληθῆ τε λέγειν καὶ ἃ ἂν λάβῃ τις ἀποδιδόναι. Lycos 1987, 33 hat betont, dass Polemarchos’ Definition von Gerechtigkeit nicht mit der seines Vaters identisch ist; gleich ist allerdings ihre kommerzielle Konnotation dieser Tugend. 108 Plat. rep. 1, 333a; koinōnēma ist ein Synonym zu koinōnia, vgl. leg. 1, 639a–d; 4, 738a. 109 Rep. 1, 333b–334b. 110 Rep. 2, 362b. 111 Rep. 8, 554c–d.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
Gerechtigkeit mehr sein müsse als Geschäftstreue.112 Dabei gibt er jedoch zu verstehen, dass seine eigene Position eine Minderheitenposition ist. Das ist in der Tat der Fall.113 Polemarchos’ Beispiel für gerechtes Handeln, die Zurückzahlung eines Deposits (parakatathēkē), ist ein Leitbeispiel für Reflexionen über Gerechtigkeit,114 und die Gerichtsredner teilten Kephalos’ pragmatischen Gerechtigkeitsbegriff. Den Ruf ‚gerecht zu handeln‘ bewahre man, indem man seine Geldschulden begleicht. Darauf bauten das Vertrauen und die Reputation auf, die zukünftige Kreditgeschäfte ermöglichten.115 Dementsprechend wird ihre Bedeutung besonders für Bankiers, die ganz vom Geldgeschäft lebten, hervorgehoben.116 Für Fernhändler war das öffentliche Ansehen ebenfalls wichtig, weshalb sie sorgfältig darauf achteten, ihrem ehrbaren Geschäftsgebaren Publizität zu verleihen, etwa durch die Hinzuziehung vieler Zeugen bei der Rückzahlung eines Darlehens.117 Um sich zu rechtfertigen, warum er mit Leuten Geschäfte gemacht hatte, die keine persönlichen Bekannten waren, führt ein Redner aus, enge Freunde hätten den Kontakt vermittelt, deshalb habe er die Angeklagten für „anständige Leute“ (ἐπιεικεῖς ἀνθρώπους) gehalten.118 Apollodoros half der gute Ruf seines Vaters Pasion Kreditgeber zu finden.119 Und der junge Händler, der 393 gegen eben jenen Pasion klagte – ausgerechnet wegen Unterschlagung eines Deposits –, erklärte gleich zu Beginn seiner Rede, er führe den Prozess um seinen Ruf zu schützen. Wenn er den Eindruck der Ungerechtigkeit nicht vor Gericht widerlege, dann sei die dauerhafte Schädigung des Ansehens schlimmer als der Geldverlust.120 Das mag gelogen sein – als Auftakt einer Gerichtsrede war es sicher auf die Erwartungen der Richter abgestimmt.
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Die Frage, ob Platon die Position des Kephalos eher würdigte oder kritisierte, bleibt in der Forschung umstritten; vgl. zuletzt Natali 2005, 220 (Würdigung als gerecht) und Schriefl 2013, 185 f. (Kritik als ungerecht); man wird vermittelnd sagen können, dass der Dialog die Position als ungenügend kritisiert, sie jedoch für weniger gefährlich und anstößig hält als die Gleichsetzung von Recht und Macht, die anschließend der ‚Sophist‘ Thrasymachos vertritt; vgl. in diesem Sinn Lycos 1987, 26–39 und passim. 113 Vgl. Dover 1974, 171 f. für diese Deutung mit entsprechenden Belegen. 114 Schon die zweite Frage der pseudo-aristotelischen Problemata zum Thema Gerechtigkeit lautet, probl. 950 a 28: „Warum ist es schlimmer, ein Deposit zu unterschlagen als ein Darlehen?“ Die antiken Kommentatoren unterschieden die parakatathēkē als Freundschaftsdienst vom verzinsten Darlehen an Fremde, ebd. 950 a 29–31, erwarteten jedoch, dass beide Parteien Nutzen, nicht selten finanzieller Natur, daraus zogen; vgl. Thuk. 2.72,3; Lys. 32.4–15; Demosth. 28.15 und Is. fr. 18 Thalheim (= Dion. Hal. Is. 5); zum normativen Gehalt des Begriffs s. RE 18,4 (1949), s. v. παρακαταθήκη, sp. 1186–1201 (W. Hellebrand) und Ehrhardt 1958. 115 Demosth. 30.12 f.: Wer die geschuldete Mitgift zahlt, der gewinnt einen oikeios und Schwager, befreit sich von jeglichem Verdacht und handelt gerecht; dazu Pearson 1972, 177: „Justice, as so often, means paying one’s debts and fulfilling obligations.“ Vgl. [Demosth.] 34.13 für dieselbe Formulierung mit Bezug auf ein verzinstes Seedarlehen. 116 Isokr. 17.2; Demosth. 36.44; [Demosth.] 49.68; Is. fr. 18 Thalheim (= Dion. Hal. Is. 5). 117 [Demosth.] 34.28–31. 118 [Demosth.] 35.7; vgl. 52.3. 119 [Demosth.] 50.56. 120 Isokr. 17.1.
16.3 Die Funktionen des Konsums
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Die langfristigen Gewinne des Verzichts auf kurzfristige Gewinnmaximierung konnten sehr konkret werden. Der Händler Herakleides aus Salamis (auf Zypern) etwa hatte in den Krisenjahren 330 bis 324 mehrfach Getreide zu niedrigem Preis in Athen verkauft und Geld für Getreideankäufe gespendet. Dafür wurde er belobigt, bekränzt und zum Proxenos und Wohltäter der Stadt ernannt. Zugleich erhielt er das Recht auf Land- und Hausbesitz (enktesis); als er auf einer Fahrt von Herakleoten gekapert wurde, setzten sich die Athener diplomatisch für ihn ein.121 Angesichts der politischen Segmentierung Griechenlands war die Investition in Ehrung und Privilegien ein Mittel, den Spielraum der eigenen Hauswirtschaft auf Orte jenseits der eigenen Heimatstadt auszudehnen. Ein Ehrendekret aus Eretria auf Euböa (302) zeigt in vielleicht einmaliger Weise die Verquickung von Geschäftsvorteilen und Statusgewinn und die Kooperation von Brüdern zum Nutzen des ‚ganzen Hauses‘. Ein gewisser Glaukippos und seine Brüder und ihre Nachfahren erhalten Proxenie und Euergesie, dazu außerdem Grundbesitzrecht (enktesis), Steuerfreiheit (ateleia) bei der Ein- und Ausfahrt, sowie „Unverletzlichkeit und Sicherheit (ἀσφάλεια) im Krieg und Frieden zu Wasser und zu Land“. Der spezielle Hinweis auf die Befreiung vom Hafenzoll und die „Sicherheit“ legen nahe, dass die Geehrten Handelsinteressen hatten.122 Neben den wirtschaftlichen Vorteil trat, ganz wie Xenophon es sich dachte, die Statuserhöhung hinzu: Die Anrede als Gastfreunde und ‚Wohltäter‘ und die Memorierung dieser Ehre auf Stein.123 Während Brüder nur gelegentlich als Mitgeehrte erscheinen,124 ist die Ausweitung der Privilegien auf die Nachfahren die Regel. Bei Inschriften aus den wichtigen Transithäfen Lindos125 und Kos126 weisen sowohl die gewährten Privilegien (Befreiung vom Hafenzoll, sichere Ein- und Ausfahrt) als auch die Herkunft der Geehrten aus wichtigen Hafenstädten entlang der wichtigen östlichen Handelsrouten darauf hin, dass die Geehrten ihren Nachfahren hier langfristig Vorteile im Handel zwischen der Ägäis
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IG II3 367; Ehrungen: zz. 18, 34, 74 f.; Privilegien: zz. 36–41. Zur kommerziellen Relevanz dieser Ehrungen vgl. Bresson 2016, 288–293. IG XII 9, 210, 21–26; zum historischen Kontext vgl. Diod. 20.110. Vgl. IG II2 32 mit Proxenie und Euergesie für einen namentlich genannten Bruder und seine Nachfahren (385/4); IG II3 302 mit Ehrendekret für einen Mann aus Abdera und seine zwei namentlich genannten Brüder (346/5); II3 363 mit Isotelie für zwei Brüder (327/6); IG II3 401 Erwähnung (ungenannter?) Brüder (ca. 345–338); SEG 46.2223 mit Ehrung aus Rhodos (um 300) für „Neon und seine Brüder“; IG XI 4, 1038 mit Ehrendekret aus Delos (um 280), das dem Knidier Sostratos und „seinen Nachkommen und Brüdern“ neben der Befreiung von der Hafensteuer auch Ehrenrechte im Kult einräumt; Pauschal erscheinen die Brüder als Nutznießer in den Privilegienverleihungen aus Olbia, s. Kap. 11.2.1. I. Lindos 16 app. (= Syll.3 110, Anm. 4); IG XII 1, 760+ (= I. Lindos 16 = Syll.3 110). Besonders gut erhalten ist das Formular in IG XII 4, 1,8; in IG XII 4, 1, 2, 4 ist es vom Editor auf Grundlage der formularischen Einheitlichkeit ergänzt; vgl. Nr. 10–16; 12 (um 300) führt das Recht auf Hauserwerb zusätzlich auf (z. 9), das offenbar nicht immer gewährt wurde.
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16 Kapitalkonvertierung: Der Konsum des ökonomischen Kapitals
und dem östlichen Mittelmeer sicherten (ob diese sie nutzten, ist eine andere Frage).127 Nicht nur Händler konnten von den genannten Privilegien profitieren. Grundbesitzer nützten Steuerbefreiung und Sicherheiten für ihre Güter ebenfalls, etwa wenn sie sich länger im Ausland aufhielten128 oder wenn sie auswärtige Besitzungen hatten.129 Ehrungen und Privilegien, die Brüder oder Söhne berücksichtigten, wie die Serie von Ehrendekreten aus Olbia aus dem 4. Jh., hatten den Vorteil, dass sie die altersspezifische Kooperation erleichterten, mit der man geographische Entfernungen überwand. Wenn der Sohn oder Bruder als ‚Juniorpartner‘ in eine andere Stadt geschickt wurde, konnte er sich dort bereits von seinen älteren Verwandten erworbenes Ansehen oder Privilegien zunutze machen (vgl. Kap. 11.1 und 11.2.2). Victor Ehrenberg vertrat die Ansicht, dass der kaufmännische Ehrbegriff sich grundsätzlich vom kriegerisch-politischen Ehrbegriff des alten Adels und der Bürger unterscheide.130 Das Problem an dieser These ist, dass eine solche Unterscheidung weder in der Semantik noch in der populären Ethik greifbar ist. Polemarchos zitiert, um das Gerechtigkeitsverständnis seines unternehmerischen Vaters zu erläutern, das alte und allgemein anerkannte Motto, dass man Freunden nützen und Feinden schaden solle – ein Motto, das seit der Archaik auch Devise ‚adliger‘ Dichter war und das in der Tragödie zu Lebzeiten des Polemarchos einer Prinzessin in den Mund gelegt werden konnte.131 Es gab habituelle Unterschiede zwischen einem Kaufmann aus dem Piräus und einem Gutsbesitzer aus Acharnai. Doch ihre Semantik und Moral hatte dieselben Grundzüge. Die Händler erhielten als Auszeichnung nicht nur Vergünstigungen für 127 128
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Die in Rhodos Geehrten stammten aus Naukratis; die in Kos Geehrten stammten aus Mytilene (Nr. 2); Naukratis (3); Alexandria (5); Byzantion (6); Kios (Kleinasien) (8); Tyros (15); Knidos (16); Halikarnassos (17). Als Dion infolge seines Konflikts mit Dionysios II. Syrakus verlassen musste, händigte der Tyrann dessen Vertrauten zwei Schiffe aus verbunden mit der Aufforderung, Dions Vermögen und Sklaven nach Belieben auszuführen; später schickten seine Frau und seine Anhänger ihm auf diesem Weg vieles hinterher, was ihm im Exil ein Leben ermöglichte, Plut. Dion 15.2–5. Xen. oik. 1.5 rechnet damit, dass Haushalte auswärtigen Besitz haben und spielt in den Memorabilien auf solchen Besitz zur Zeit des Athenischen Seereichs an; das Seereich erlaubte es den Athenern, auf Kosten der Bündnerstädte auswärtigen Besitz zu erwerben, vgl. [Xen.] Ath. pol. 1.16, 19; dazu Gauthier 1973 und Davies 1981, 60 mit weiteren Belegen. Die Attischen Stelen, zeigen, dass die verurteilten Frevler Landgüter auf Thasos, Att. Stelen 6, 55 f., 133, in Abydos, Stele 7, 78, und auf Euböa, Stele 2, 177, 311–314; 4, 19–22, besaßen, wo landwirtschaftliche Erzeugnisse lagerten, die dann in Athen versteigert wurden; Lys. 32.15 zeigt, dass private Haushalte den Ertrag ihrer auswärtigen Besitzungen nach Athen brachten; vgl. den Landbesitz griechischer „Emporitai“ mitten im thrakischen Binnenland, SEG 49.911, 10 f.; gerade die mobilen Mitglieder der reichen und gebildeten Schichten hatten an mehreren Orten Besitz, vgl. die thrakischen Bergwerke von Thuykdides’ Familie, Thuk. 4.105,1 und Konons Landbesitz auf Zypern, Lys. 19.40; dass der auswärtige Besitz nicht auf die politische Elite beschränkt war, zeigt Aristoteles’ Vermögen, vgl. Diog. Laert. 5.14, und eine Anfrage an das Orakel von Dodona, DVC 3320A. Ehrenberg 1968, 305, 315, 367–383; vgl. Mossé [1962] 1979, 65–73 und Pečírka 1976, 19–28; ähnliches behauptet Martin [1932] 1974, 133 f. für die italienische Renaissance. Nämlich Medea, Eur. Med. 807–810; weitere Belege bei Dover 1974, 180 f.; zur Verbreitung dieser Devise und zu ihren Implikationen s. Blundell 1989, 26–59.
16.4 Ehre und Gewinn: Ein Zielkonflikt
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Handel und Besitzerwerb, sondern auch Ehrenplätze und Ehrentitel verliehen. Während Mitglieder der alten Oberschicht zumindest Gelegenheitsweise am Handel partizipierten und in Steuerpacht und Bergwerke investierten, orientierten sich neureiche Aufsteiger an den Werten der etablierten Oberschicht.132 Entscheidend ist, dass das kombinierte Streben nach (Geld-)Gewinn und Ehre eben kein Marketing im Sinne moderner ‚Unternehmen‘ ist.133 Die Geehrten hoffen zwar auf konkrete Vorteile. Das Erforderte jedoch, dass der Austausch von Spende und Ehrung in der Form des Gabentauschs stattfand, anstatt des ausdrücklichen Verkaufs; Zeitpunkt und Form der Vergeltung einer Wohltat waren nicht fixiert und nicht einklagbar.134 Zugleich entsprach es der Logik der Hauswirtschaft, wenn diese Ehren nicht nur als Mittel zum Zweck erworben wurden, sondern einen Eigenwert hatten. Die Händler kommen für den Gewinn und die Ehre, wie Xenophon sagt.135 Nicht der Markenname, sondern der Name der Familie stand auf dem Spiel, wann immer Mitglieder des Haushalts mit anderen Haushalten Geschäfte machten. 16.4 Ehre und Gewinn: Ein Zielkonflikt Gewinn und Ehre waren also weder im Denken noch im Handeln zwingende Gegensätze. Investitionen in Ansehen und Vertrauen zahlten sich langfristig auch finanziell aus. Die häufige Rede vom ‚schändlichen Gewinnstreben‘ (aischrokerdeia) setzt logisch voraus, dass es auch ein nicht-schändliches Gewinnstreben gibt.136 Dann stellt sich allerdings die Frage, warum der Vorwurf der aischrokerdeia so oft zu hören war und der Verzicht auf Gewinnmaximierung ständig moralisierend angemahnt werden musste, wenn ehrbares Verhalten nicht nur gut, sondern auch nützlich war. Die Annahme, dass nahezu jeder Mensch ein Schuft sei, und der ‚Erwerbsmann‘ besonders, ist nicht auf Moralisten wie Platon beschränkt. Chremylos, der Held von Aristophanes’ Plutos, meint ebenfalls, nur er selbst sei fromm und gerecht, alle anderen Athener hingegen unehrlich und kriminell. Aber sein Freund Blepsidemos denkt genauso! Genüsslich führt Aristophanes die Absurdität dieser Inselperspektive vor, einer Perspektive, die jeder für sich, aber nicht alle zusammen einnehmen können.137 In den Gerichtsreden
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Im antiken Griechenland wie im mittelalterlichen Italien; vgl. Trexler 1980, 17–19 zum Fortbestehen aristokratischer Werte nach der Durchsetzung des popolo in Florenz. So hingegen Silver 1995, 42–45. Eich 2006, 102–104. Xen. vect. 3.4 f. Der Ausdruck taucht zwar als Adjektiv schon bei Hdt. 1.187,5 und einmal bei Plat. rep. 3, 408c auf, scheint jedoch v. a. in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. populär zu sein; vgl. Aristot. eth. Eud. 3, 1232 a 12 f., eth. Nic. 4, 1122 a 2, Theophr. char. 30; und die Redner, s. u. Anm. 138. S. Kap. 6.1.3.
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findet sich das Problem wieder: Schändlich gewinnsüchtig sind immer nur die anderen.138 Will man sich nicht damit begnügen, den Griechen kollektive Heuchelei vorzuwerfen, ist nach den strukturellen Ursachen dafür zu fragen, dass idealiter Ehre und Gewinn als vereinbar galten, man realiter allerdings erwartete, dass viele Leute den ungerechten Gewinn der Ehrbarkeit vorziehen würden. Diese strukturellen Gründe sind in den speziellen Risiken und Kosten der Kapitalkonvertierung zu suchen: Langfristigkeit und Opportunismus. Langfristig mochten sich Reichtum und Ehre gegenseitig verstärken; kurzfristig, d. h. bei der jeweiligen Transaktion, war das unmöglich. Der Inbegriff edlen oder freundschaftlichen Handelns war der Verzicht auf Gewinnmaximierung zugunsten des Gegenübers, was eine gleichzeitige Maximierung von Gewinn und Anerkennung logisch ausschließt. Das bedeutete, dass Kapitalkonvertierung genau wie Akkumulation hinreichende Reserven voraussetzte, um das Eintreten eines gesteigerten Nutzens in einer ungewissen Zukunft abwarten zu können. Es ist daher kein Zufall, wenn insbesondere die Tätigkeiten kleiner Leute als Inbegriff schändlicher Berufe aufgezählt werden (Kap. 6.1.4). Krämer, Schankwirte und Pfandleiher mussten situativ maximieren, weil ihre Reserven gering und ihre Gewinnspannen niedrig waren. Kleine Gewerbetreibende waren deshalb strukturell zum Opportunismus gezwungen. Aber auch für große Haushalte konnte Opportunismus attraktiv sein. Der Zielkonflikt zwischen Ehre und Gewinn entsprach dem Zielkonflikt zwischen Vertrauensbildung und Gelegenheitsmaximierung. Beide Verhaltensweisen waren Anpassungen an die ungewisse Umwelt des Haushalts. Hausübergreifende Vertrauensbeziehungen schufen Berechenbarkeit und schützten damit vor fremdem Opportunismus. Andererseits erlaubte die Ungewissheit es spiegelbildlich selbst opportunistisch zu handeln. In diesem Sinne ist Platons Kritik zu verstehen, dass der nach Gewinn strebende Mann den Schein der Gerechtigkeit wahre, aber ungerecht sei, sobald er dazu sichere Gelegenheit habe, etwa als Vormund von Waisen.139 Platons Beispiel der Vormundschaft bündelt die Eigenarten der Hauswirtschaft. Ihre Abhängigkeit von demographischen Kontingenzen: der vorzeitige Tod des leiblichen Vaters. Ihre Einbettung in institutionalisierte Sozialbeziehungen: die Einhegung des Vormunds durch moralische und gesetzliche Regeln. Schließlich ihr Primat der Gelegenheitsoptimierung: Die Verwaltung eines Waisenvermögens war ein potentiell lukratives Geschäft, weil man für
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Im Corpus Demosthenicum wird das Wort zum Routine-Pejorativ, das fast jedem Gegner entgegengeschleudert wird, ob in öffentlichen oder privaten Prozessen: Demosth. 18.295; 19.28; 23.201; 24.195; 27.38, 46; 29.4, 48; 51.5, 7; [Demosth.] 45.2, 67; 49.67; 52.5; 59.64; andere Redner verwenden es sparsamer: vgl. [And.] 4.5; Lys. 12.19; Is. 1.8; Deinarch. 1.21, 108; 3.6; Hyp. fr. 223 Jensen (= Poll. 3.113). Plat. rep. 8, 554c.
16.4 Ehre und Gewinn: Ein Zielkonflikt
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mehrere Jahre frei über das Vermögen der Mündel verfügen konnte.140 In einer solchen Lage galt es richtig abzuschätzen, ob es sich lohnen würde, in Vertrauen und Ansehen zu investieren oder stattdessen Gewinn aus einer überlegenen Position zu schlagen.141 Opportunismus war ein reales Risiko, nicht nur weil die Verlockungen groß waren, sondern auch, weil Nahbeziehungen instabil oder zweifelhaft waren. Das Diktum, dass man Freunden nützen, Feinden hingegen schaden solle (s. o.) und von ihnen profitieren, wie es Xenophons „guter Hauswirt“ tut,142 gibt keine praktische Auskunft dazu, wie man Freund und Feind sicher unterscheidet und wann Freunde zu Feinden werden. Wer falsche Freunde nicht als ‚Feinde‘ erkannte und dementsprechend handelte, musste sich das selbst ankreiden.143 Der kluge Hausherr musste daher den Ansehens- und Vertrauensgewinn eines Verzichts auf Opportunismus gegen das Risiko abwägen, dadurch selbst zum Opfer von Opportunismus zu werden.144 Ungewissheit und Komplexität führten deshalb dazu, dass die Kooperation unter Hausvätern häufig Züge eines Gefangenendilemmas trug, in dem beide Parteien Interesse an aufrichtiger Kooperation hatten, jedoch aus Furcht vor Opportunismus selbst opportunistisch handelten. Das erklärt, warum zwar alle Hausväter aufrichtig ehrenhaft und gemeinnützig handeln wollten, und doch häufig – aus pragmatischer Vorsicht – stattdessen kurzfristige Gewinne sicherten. Und es erklärt, warum sie sich mit Chremylos’ Inselperspektive identifizieren konnten. Geldgewinn und Ehre standen schließlich auch deshalb im Konflikt miteinander, weil Ausgaben zum Ehrerwerb eben jene Statuskonkurrenz befeuerten, die wiederum zum fortgesetzten Gelderwerb zwang (Kap. 3.2). Der Anonymus Iamblichi hatte diesen Zusammenhang bereits an der Wende vom 5. zum 4. Jh. mit pessimistischer Klarheit erkannt145 – aber die literarische Ökonomik spann diesen Faden nicht fort, sondern plädierte für die Vereinbarkeit von Ehre und Gewinn.
140 Da die primären Quellen für Vormundschaften Anklagereden gegen Vormünder sind, entsteht leicht der Eindruck, dass jeglicher Gewinn des Vormunds Betrug am Mündel gewesen sei; tatsächlich wurde mäßige Bereicherung toleriert und als Entschädigung für den Aufwand der Vormundschaft angesehen, vgl. Lys. 32.5 und Demosth. 27.4; vgl. [Aristot.] Ath. pol. 56 zum gerichtlichen Streit um die Pachtung profitabler Vermögen; zur Gewinnträchtigkeit Leese 2018; eine Anfrage aus Dodona (DVC 31A = Lhôte 28) belegt, dass das Phänomen nicht auf Athen beschränkt war; dazu Eidinow 2007, 84. 141 Vgl. die Geschichten von Leuten, die in einer Bedrohungssituation Vermögen bei Vertrauten versteckten, die dies hernach ableugneten: Isokr. 17 und 21.2 f. 142 Xen. oik. 1.15; vgl. Kyr. 1.6,35. 143 Vgl. Xen. mem. 2.6,1–5 zur Auswahl ‚nützlicher‘ Freunde; und Aristoph. Plut. 829–839 für den Spott über naive Großzügigkeit gegenüber Freunden. 144 In einer denkwürdigen Wendung unterstellt Isokr. 17.8 dem Angeklagten der Rede (der Bankier Pasion), er habe ein Deposit unterschlagen, weil ein so großer Gewinn „eine Schande wert“ (ἄξι᾿ ἀναισχυντίας) gewesen sei. 145 Anon. Iamb. 3.2–5 DK 89; dazu Kap. 3.2.1.
Teil V Schluss
17 Skaleneffekte: Die Ungleichheit der Haushalte Die Effizienz der in Teil III und IV dieser Arbeit beschriebenen Strukturen und Strategien hing nicht allein vom individuellen Geschick der Mitglieder eines Haushalts ab. Ein entscheidender Faktor war die Größe des Haushalts, d. h. die Zahl seiner Mitglieder und der Umfang seiner materiellen und immateriellen Güter. Die moderne Wirtschaftslehre versteht unter positiven Skaleneffekten (economies of scale) Effizienzvorteile, die auf Betriebsgröße beruhen. In der industrialisierten und bürokratisierten Wirtschaft der Gegenwart haben große Unternehmen häufig einen Wettbewerbsvorteil, wenn es um die spezialisierte und technologie-intensive Massenproduktion von Konsumgütern und Dienstleistungen geht; sie können bei gleichen Fixkosten höhere Produktionsmengen realisieren. Die griechische Hauswirtschaft war gerade nicht spezialisiert und deutlich weniger technologie-intensiv. Gleichwohl genossen auch große Haushalte spezifische Wettbewerbsvorteile in der Konkurrenz um Gewinn und Ehre. Strukturelle Differenzierung, wie sie in Teil III beschrieben wurde, setzte hinreichende Größe voraus. Nur reiche Haushalte konnten dem Ideal der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung genügen, indem sie auf weibliche Arbeit außer Haus verzichteten oder die Hausmutter von händischer Arbeit freistellten (s. Kap. 10.2.2). Die altersspezifische Mobilität hing davon ab, dass die Arbeitskraft der jungen Männer abkömmlich genug war, um sie in der Hoffnung auf langfristig größere Geld- und Prestigegewinne in die Ferne zu schicken. Größenvorteile gab es auch bei der statusspezifischen Arbeitsteilung. Je größer die Zahl der Sklaven war, desto effizienter ließ sich ihre Kontrolle und die Vermarktung ihrer Produkte organisieren. Nur wer genug Sklaven besaß, konnte durch Arbeitsteilung Anreize schaffen und ‚Spezialisten‘ schulen (vgl. Kap. 12.3.4).1 Schließlich war selbst die Frage, inwiefern die eigene Hauswirtschaft eine regelgerechte oikonomia war, eine Frage der Größe. Ein großer Haushalt mit einem Hausvater, der das Haus in öffentlichen Angelegenheiten vertrat, einer stolzen Hausmutter von
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Für die neuzeitlichen Plantagen lassen sich die Größenvorteile sogar quantifizieren; vgl. Engerman/Fogel 1974, 192–196.
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17 Skaleneffekte: Die Ungleichheit der Haushalte
guter Abstammung und Sklaven als Objekt und Symbol von Herrschaft und Paternalismus war wirklich ein ‚ganzes Haus‘ im Sinne Brunners, seine Leitung Ökonomik, kunstvolle Herrschaftsausübung. Ein kleiner Haushalt, dem Abhängige und Landbesitz fehlten, dessen Mitglieder – einschließlich der Ehefrau – ‚außer Haus‘, d. h. für andere Haushalte, arbeiten mussten, war ein unvollständiges ‚Haus‘ und die Vorstellung abwegig, dass seine Leitung seinen Vorstand zum königsgleichen Herrscher machen könnte – der Vorstand des armen Haushalts ähnelte nicht Xenophons Kyros, sondern Aristophanes’ kleinem Mann, der nach dem Verbleib einer angenagten Olive forscht. Je kleiner der eigene Hausstand war, desto wichtiger waren die sozialen Einheiten, die jenseits des eigenen Hauses Zugang zu ökonomischem und sozialem Kapital ermöglichten.2 Als ein Set sozialer Normen spiegelte die Ökonomik also nicht einfach die Praktiken der Hauswirtschaft wider, sondern trug zugleich dazu bei, dass die rein materielle Ungleichheit der Haushalte zu einer akzeptierten Ungleichheit im sozialen Status wurde, weil die großen Haushalte die allgemein geteilten Normen besser erfüllten als ihre kleinen Nachbarn. Alle Haushalte verfolgten die gleichen Strategien, größere Haushalte jedoch mit größeren Erfolgschancen. Akkumulation setzte voraus, dass man überhaupt Überschüsse produzierte und über Möglichkeiten verfügte diese zu speichern. Gelegenheitsoptimierung und Diversifizierung setzten ein hinreichend großes Vermögen voraus und auch die Mittel, um ein weit gespanntes Netzwerk zu pflegen.3 Konvertierung setzte schließlich voraus, dass ein Überschuss jenseits des Subsistenzbedarfs verfügbar war, den man in Freundschaften und Ansehen investieren konnte. Nur größere Haushalte konnten es sich leisten, auf kurzfristigen Opportunismus zu verzichten, weil angesichts ihres größeren Vermögens und der breiteren Streuung ihres sozialen Kapitals die Risiken geringer waren. Weil die Hauswirtschaft weder ökonomisch noch sozial spezialisiert war, gab es für Haushalte keine produktionsspezifische Betriebsgröße.4 Stattdessen galt: je größer, desto besser. Erfolge in einem Bereich wirkten sich kumulativ auf alle Bereiche aus, weil die Kapitalkonvertierung im Lauf der Zeit den ‚Grenznutzen‘ der unterschiedlichen akkumulierten Kapitalsorten ausglich: Geld verhalf zu Ansehen, Ansehen zu Freundschaften, Freundschaften zu Geld. Unterbrochen wurde dieser sich selbstverstärkende Prozess zunehmender Ungleichheit nur durch die sozialen und politischen Konflikte, die desto wahrscheinlicher waren, je schärfer Statuskonkurrenz und soziale Ungleichheit wurden. Neben Seuchen und katastrophalen militärischen Niederlagen
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Vgl. oben Kap. 2.3.3. Osborne 1987, 36–46; Foxhall 2007, 57. Wenn die eigentlichen Inputs der Produktion bereits optimal eingesetzt sind (also Abläufe und Technologie nicht mehr optimiert werden können), vergrößert sich die Produktionskapazität nur noch linear, während die relativen Kosten von Verwaltung und Kontrolle steigen; die marginale Produktivität sinkt also; vgl. Coase 1937, 393–397; Williamson 1975, 133–136.
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waren es vor allem interne Konflikte, die sich immer wieder zu regelrechten Bürgerkriegen auswuchsen und immer wieder zur Vernichtung oder Umverteilung akkumulierter Vermögen führten, auch ohne sozialrevolutionärem Impetus.5 Letztlich stellte die materielle Vernichtung gegnerischer Haushalte oder die Bereicherung auf ihre Kosten ein weiteres, besonders drastisches Mittel der Statuskonkurrenz dar.
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Zum Verhältnis interner Konflikte und sozialer Mobilität vgl. Kap. 3.2.2. Dass Bürgerkriege (staseis) auch um des Gewinns willen geführt wurden resp. um Verlust zu vermeiden, war ein Gemeinplatz, vgl. Thuk. 3.82,8; Antiph. fr. B 1, 2; Lys. 18.17; Plat. rep. 4, 422e–423a; Aristot. pol. 5, 1302 a 32– 34; dazu Eich 2006, 543–555. Der griechische Fall entspricht damit augenfällig Thomas Pikettys allgemeiner These (Piketty 2014), laut der die ökonomische Ungleichheit in Zeiten politischer Stabilität steigt, während Kriege und andere schwere Umwälzungen durch Vermögenszerstörung und -umverteilung für größere relative Gleichheit sorgen.
18 Statt einer Zusammenfassung: Ausdehnung und Konflikt Zwei Motive finden sich in allen Bereichen der Hauswirtschaft: die zeitliche und räumliche Ausdehnung der Hauswirtschaft und die Spannung zwischen Norm und Praxis, zwischen individuellen Absichten und systemischen Erfordernissen. Die Chancen einer dynamischen Verkehrswirtschaft lockten dazu, die Hauswirtschaft auszudehnen, die Zwänge der städtischen Statuskonkurrenz drängten dazu (Kap. 3). Die Dynamik der Verkehrswirtschaft war ebenso sehr eine Folge der Mobilität von Gütern und Menschen wie deren Ursache. Haushalte fürchteten angesichts erfolgreicher Aufsteiger um ihren Status, und rationalisierten in Reaktion darauf ihre wirtschaftlichen Strategien. Wenn in der Folge nicht nur die Produktion des Reichtums, sondern auch dessen Konsum als ‚Kapitalkonvertierung‘ rationalisiert wurde, so ist das kein Ausdruck von individuellem Zynismus, sondern eine strukturelle Reaktion auf den exogenen Druck der Statuskonkurrenz. Haushalte, die nicht fähig oder gewillt waren, ihre Wirtschaft diesem Druck anzupassen, hatten schlechtere Chancen, sich sozial zu reproduzieren. Die Ausweitung der Hauswirtschaft erfolgte über eine Anpassung der überkommenen Strukturen häuslicher Arbeitsteilung an eine zunehmend monetarisierte und kommerzialisierte Verkehrswirtschaft. In der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der Eheleute (Kap. 10) war der Mann je nach Größe seines Hauses entweder Hauptarbeitskraft oder ‚Prinzipal‘, der sich darauf verstehen musste, Aufgaben zu delegieren und ihre Ausführung zu kontrollieren. Als Stellvertreterin des Mannes verfügte die Hausmutter in größeren Haushalten über Sklaven und verwaltete die häuslichen Finanzen. In kleineren Haushalten trug sie durch außerhäusliche Lohnarbeit oder Verkauf hausgefertigter Waren zum Überleben des Haushalts bei. Die altersspezifische Arbeitsteilung unter Verwandten (Kap. 11) betraf zunächst die wechselseitigen Pflichten von Fürsorge und Gehorsam von Eltern und Kindern. Mütter und Väter setzten ihren Ehrgeiz in den sozialen Aufstieg ihrer Kinder. Für den Erwerb häuslichen Vermögens war insbesondere die Kooperation unter Vätern und Söhnen und unter Brüdern wichtig. Diese Kooperation beruhte nicht mehr auf der väterlichen Hausgewalt über den Haushalt im engeren Sinne, denn volljährige Söhne und Geschwister waren rechtlich eigenständig. Sie beruhte auf dem durch gemeinsa-
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me Sozialisation gestifteten Vertrauen, einem ungeteilten väterlichen Vermögen und dem geteilten Interesse, das ‚ganze Haus‘ der väterlichen Linie zu erhalten. Altersspezifische Mobilität diente im Fernhandel dazu, die hauswirtschaftliche Suche nach Gewinnchancen über die Grenzen der Heimatstadt hinweg auszudehnen. Väter und Söhne und Brüder kooperierten als Vermögens- und Geschäftspartner, wobei die Älteren ihr Wissen und ihr Kapital bereitstellten, während die Jüngeren die Risiken der Mobilität auf sich nahmen. Statusspezifische Arbeitsteilung (Kap. 12) bedeutete in den ägäischen Städten seit dem 5. Jh. vor allem den vermehrten Einsatz gekaufter Sklaven. In der vernetzten Welt der Ägäis und angrenzender Küstenregionen boten Sklaven gegenüber Hörigen und Tagelöhnern wirtschaftliche Vorteile für die Partizipation an der Verkehrswirtschaft. Weil Sklaven Eigentum ihres Herrn waren, konnte dieser frei über sie verfügen und ihren Arbeitseinsatz flexibel an die Bedürfnisse des Haushalts anpassen. Weil Sklaven stärker der Kontrolle des Hausherrn unterworfen waren als Vertragspartner oder rechtlich eigenständige Verwandte, waren privilegierte Sklaven ideale Stellvertreter als Verwalter, Händler oder selbstständige Handwerker. Mit der Anschaffung von Sklaven akkumulierte der Hausherr Humankapital und Arbeitskraft und dehnte seine Hauswirtschaft über die Grenzen seiner persönlichen Anwesenheit hinaus aus, ohne dafür mit neuen institutionellen Formen der Kooperation experimentieren zu müssen. Der Rationalisierung der Hauswirtschaft waren wenig grundsätzliche Hindernisse in den Weg gelegt, weil das Recht der meisten griechischen Städte sie kaum einschränkte.1 Dennoch war der Haushalt keine reibungslos laufende Maschinerie. Vielfach sind es gerade normative Äußerungen, die deviantes Verhalten verurteilen oder vor Konflikten warnen, die uns als Quellen für die Hauswirtschaft dienen. Die Äußerungen reichen von der Klage über untreue Ehefrauen, verschwenderische Söhne und diebische Sklaven bis hin zu Mahnungen zur Eintracht unter Brüdern und maßvoller Behandlung der Sklaven. Der hauswirtschaftliche Erfolg galt den Zeitgenossen offen-
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Gesetze, die in die Freiheit der Geschäfte oder Berufswahl eingreifen, waren auf die Regulation von Härtefällen beschränkt, wie etwa die Begrenzung des Zinssatzes in Delphi im sog. Gesetz von Kadys, vermutlich in einer Krisensituation Anfang des 4. Jhs., F. Delphes III 1, 294; dazu Asheri 1969, 23–25; vgl. das ephesische Gesetz über die Schuldentilgung um 300, I. Ephesos 4a (= Walser 2008); vgl. in Athen die Begrenzung der Gewinnmargen beim Getreideverkauf, Lys. 22, oder das Gesetz gegen die Prostituierung von Bürgern, Aischin. 1.29; Aristoteles berichtet über den Ausschluss von Handwerkern von den Ämtern nur in der Vergangenheitsform, Aristot. pol. 3, 1278 a 6–8, genau wie über ein entsprechendes Gesetz in Theben, das er als einziges Beispiel eines solchen Ausschlusses nennt, 1278 a 25 f.; vgl. 6, 1321 a 26–32; im selben Zusammenhang erklärt er, dass die Oligarchien die Handwerker (technitai) anders als die Theten gerade nicht ausschlössen, weil diese ja häufig reich seien, pol. 3, 1278 a 21–25; das Gewerbeverbot für die spartanischen Vollbürger galt den Zeitgenossen als Besonderheit im Kontrast zu allen anderen griechischen Städten; vgl. Kap. 3.3.1; natürlich waren Handwerker geringer angesehen als Grundbesitzer (die Belege bei Spahn 2008) und galten manche Gewerbe als ‚schändlich‘; diese soziale Ächtung bot allerdings Spielraum für performative Distanzierung und rhetorische Rechtfertigung.
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sichtlich als ständig gefährdet; sie glaubten nicht, dass die bloße Summe der Eigeninteressen der Hausgenossen den Erfolg sicherte. Zu Recht: Denn zu den Unwägbarkeiten einer von Ungewissheit geprägten Umwelt kam hinzu, dass die Mitglieder des Haushalts eben nicht spezialisierte Mitarbeiter einer zweckorientierten Organisation waren, sondern Menschen mit eigenen Präferenzen, deren dauerhafte Nahbeziehungen nicht auf die ökonomische Kooperation beschränkt waren. Gegenüber ihren Partikularinteressen musste die institutionelle Ordnung des Hauses und die Rationalität der Nutzenproduktion immer wieder in Erinnerung gerufen und durchgesetzt werden. Die Kooperation im Haus war demnach eine Form antagonistischer Kooperation. Eine Kooperation also, von deren Erfolg zwar alle Beteiligten profitieren, bei der jedoch um die Verteilung der Kosten der Kooperation gerungen wird, weil das Ergebnis ein Kollektivgut ist. Für die Durchsetzung der Normen war der Hausvater hauptverantwortlich, der sich die Mithilfe seiner Hausgenossen ebenso wie seiner ‚Hausvertrauten‘ (oikeioi) durch die richtige Mischung von Anreizen, Mahnungen und Drohungen sichern musste. Als Stellvertreter seines Hauses war der Hausvater in der Stadtgemeinde selbst mit normativen Anforderungen konfrontiert. Alle Hausgenossen hatten zwar Anteil an Ehre und Schande ihres Hauses, aber er als Prinzipal besonders, so wie er auch besonders vom hauswirtschaftlichen Erfolg profitierte. Während die Rolle des Hausvaters von einem Mann verlangte, den Nutzen seines Hauses zu maximieren, verlangte seine Rolle als Ehrenmann, dass er Nachbarn, Verwandten, Freunden und den Bürgern seiner Stadt durch die freigiebige Verwendung seines Geldes und seiner Zeit nützte und ihnen gegenüber auf eine opportunistische Maximierung seines häuslichen Nutzens verzichtete.2 Hieraus erwuchs das Handlungsproblem, das ich als ‚Adelsdilemma‘ bezeichnet habe: Die Moral der Gesellschaft erforderte Geldausgaben und schränkte zugleich die Möglichkeiten zum Gelderwerb ein (Kap. 3.3). Dieses Problem artikulierte sich am schärfsten in der Oberschicht der Bürger, denn hier waren die normativen Erwartungen und finanziellen Belastungen durch ostentative Lebensführung, Liturgien und Ämterbekleidung am ausgeprägtesten. In seinen Grundzügen aber findet sich das Dilemma auch bei kleineren, gewerbetreibenden Haushalten, die im Verkehr mit ihren Nachbarn und Bekannten ebenfalls Ehre gegen Gewinn abwägen mussten. Sich ‚gerecht‘ und ‚freigiebig‘ zu verhalten, zahlte sich zwar auf lange Sicht aus, weil ein guter Ruf geschäftsfördernd war, auf kurze Sicht bedeutete er jedoch einen Verzicht auf Gewinnmaximierung (Kap. 16.4). Angesichts dieser doppelten Herausforderung des freien Mannes, zugleich guter Hausherr und guter Freund/Nachbar/Bürger zu sein, bot die häusliche Arbeitsteilung Entlastung. Ich habe diese Funktion als performative Distanzierung bezeichnet, weil
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Auch Metöken, die keine vollwertigen Mitglieder der Stadtgemeinde waren, partizipierten in diesem Sinne am gesellschaftlichen Leben mit seinen vielfältigen Verpflichtungen.
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sie den Hausherrn in der persönlichen Kommunikation mit Standesgenossen von zweifelhaften Aktivitäten distanzierte, obwohl diese seinem Haus systemisch gesehen nützten (Kap. 3.3.2). Die altersspezifische Mobilität sorgte dafür, dass der Vermögenserwerb als Händler oder Söldner in der Fremde stattfand und in einem Zeitraum, bevor man als ehrbarer Vorstand eines eigenen Haushalts noch stärker unter öffentlicher Beobachtung stand. Wenn man die Abwicklung des täglichen Geschäfts unfreien Stellvertretern überließ, entsprach das nicht nur der zunehmenden Komplexität der Hauswirtschaft, sondern auch dem Wunsch, eine gewisse Distanz zu den Quellen des eigenen Reichtums zu schaffen. Nicht nur bei der Produktion, auch beim Konsum des häuslichen Vermögens fand eine solche Arbeitsteilung statt. Wenn die Ehefrauen, Töchter und Söhne aufwendig lebten, während der Hausvater bescheiden auftrat, so repräsentierte das den Reichtum seines Hauses, schützte den Hausvater jedoch vor unmittelbar auf seine Person gerichteten Anfeindungen seiner Standesgenossen. Selbst wenn sie ihn für seinen hauswirtschaftlichen Erfolg beneideten, bot er ihnen als Person keine Angriffsfläche. Die Ausweitung der Hauswirtschaft weit über den Gesichtskreis des Hausvaters hinaus, ihre steigende Komplexität und die damit einhergehenden Spannungen zwischen Normen und Praktiken erklären das gesteigerte Interesse an Ökonomik. Der gelehrte literarische Diskurs zur Ökonomik richtete sich zunächst an die Mitglieder der Oberschicht als der Schicht, aus der sich die Schüler der Gelehrten rekrutierten (Kap. 4.1.1) und in der die Intensivierung von Statuskonkurrenz und Hauswirtschaft am stärksten wahrgenommen wurde: Wer am meisten hat, hat am meisten zu verlieren. Eine normative Theorie, welche die einzelnen Aktivitäten der Hausgenossen unter dem Oberbegriff der oikonomia vereinte und ihre Grundprinzipien allgemeingültig artikulierte (Bedarfsorientierung, Nutzenmaximierung, Herrschaft, Arbeitsteilung, Unabhängigkeit), bot hier Orientierung (Kap. 6). Zugleich bot sie Vergewisserung bestehender Normen und Institutionen angesichts der steigenden Mobilität von Kapital und Menschen, die für den Fortbestand des Hauses neben Chancen auch Risiken mit sich brachte. Es entspricht diesem Bedürfnis nach ideeller Bestandssicherung, dass die Ökonomik die Figur des landbesitzenden und kriegsdienstleistenden Edelmanns idealisiert, obwohl sie wusste, dass die Geldquellen ihrer Rezipienten vielfältiger waren. Rückwärtsgewandt war die Ökonomik jedoch nicht: Denn der Haushalt blieb der primäre institutionelle Organisationsrahmen des Wirtschaftens. Außerdem formulierte die literarische Ökonomik ihre Prinzipien so allgemein, dass sie für die meisten Haushalte galten, unabhängig davon, woher ihre Einkünfte stammten. Indem sie traditionelle Rollenbilder literarisch aufarbeitete, ermöglichte es die Ökonomik außerdem Aufsteigern, sich oberschichtsspezifische Verhaltensregeln durch Lektüre und Unterricht anzueignen. In der Vermittlung schichtspezifischen Wissens kommt der Ökonomik schließlich noch eine weitere Funktion zu. Sie unterrichtete nicht so sehr darüber, was für Haushaltsführung und Erwerb zu wissen war, als darüber, wie über diese Themen außerhalb
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des Hauses zu kommunizieren sei (Kap. 5). Denn wie in der Kommunikation unter Anwesenden (vgl. Kap. 8.1 und 8.2) war es auch in der literarischen Kommunikation wichtig, hinreichend Distanz zwischen der Person des Autors/Rezipienten und der Tätigkeiten zu wahren, die als zwar nützlich, aber nicht edel galten. Mit ihrer Unterscheidung vom ‚Notwendigen‘ und ‚Edlen‘ bot die literarische Ökonomik ein rhetorisches Muster zur öffentlichen Rechtfertigung der eigenen Hauswirtschaft an. Das Streben nach hauswirtschaftlichem Nutzen war – so lautete das im Verlauf des 4. Jhs. fest etablierte Argument –, wenn nicht edel, so doch notwendig, weil es in gemeinnützige Ausgaben reinvestiert der ganzen Stadt nutzte.
19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée 19.1 Kontinuität und Wandel Zum Abschluss dieser Untersuchung soll versucht werden, ihre Ergebnisse in diachroner Perspektive zu bewerten. Durchlief die Hauswirtschaft einen nennenswerten strukturellen Wandel? Das heißt zum einen: Unterscheidet sich die Hauswirtschaft der klassischen Zeit grundlegend von jener der archaischen oder hellenistischen Epoche? Das heißt zum anderen: Welche Entwicklung fand innerhalb des Untersuchungszeitraums statt? Der Eindruck, die Jahre zwischen 450 und 300 seien eine Zeit besonders dramatischer Dynamik gewesen, entsteht leicht, weil die Quellen für diese Zeit besonders reich sprudeln und mit den Gerichtsreden und Komödien Gattungen verfügbar sind, die über Haushalte mehr Details preisgeben als Geschichtswerke, Lyrik oder Inschriften. Man sollte daher umgekehrt fragen, ob es belastbare Zeugnisse dafür gibt, dass bestimmte Strukturen und Strategien erst oder nur in klassischer Zeit aufkamen. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Grundstrukturen der Hauswirtschaft lange vor 450 etabliert waren.1 Bereits bei Homer und Hesiod steht der Haushalt im Zentrum des Denkens und Handelns.2 Der Erhalt des Hauses bewegt das Denken von Helden und Bauern gleichermaßen.3 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist etabliert: Der Mann vertritt das Haus nach außen, die Ehefrau hat den Hausstand zu wahren und zu mehren.4 Von
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Vgl. van Wees 1992, 49–53, 221–237 zur gewinnorientierten Homerischen Hauswirtschaft. Lacey 1968, 33–50; Spahn 1980, 536–545; 1984, 307–309; Millett 1984; Schmitz 2004b, 74–101, 111–119; 2007, 9–21. Hom. Il. 15.496–499; 17.220–226; 19.321–339; 21.587–589; 22.46–53; Od. 9.34–36; 10.60–61; 11.430– 432; 19.154–161, 513–534. Erwähnt sei nur die berühmte Szene, in der Telemachos seine Rolle als „Herr des Hauses“ etabliert, Hom. Od. 1.356–359; vgl. 7.103–111; zu den Tugenden der guten Hausmutter: Hom. Il. 3.121– 128, 421–425; 22.440–444; Od. 17.93–97; 18.313–316; 19.513–516.
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19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée
Homer und Hesiod zieht sich eine Kontinuitätslinie über die ‚Weibergedichte‘ von Semonides und Phokylides bis hin zur literarischen Ökonomik des 4. Jhs.5 Bemerkenswerter ist, dass auch die Strategien altersspezifischer Mobilität und Arbeitsteilung bereits bei Homer erscheinen. In der Odyssee haben die vier Söhne des alten Aigyptios jeweils andere Wege eingeschlagen, um dem väterlichen Haus zu Wohlstand und Ansehen zu verhelfen und wohl auch, um Konflikte untereinander zu vermeiden.6 Offenbar aus demselben Grund spricht eine Mutter in einem Chorlied des Stesichoros aus Himera (630–580) die Empfehlung aus, der eine Sohn solle das „Haus haben und in der Stadt wohnen“ (ἔχοντα δόμους ναίειν πόλ[ιν]), der andere das Vieh und das väterliche Gold nehmen und wegziehen.7 Hier erscheint die Trennung endgültig, die Vermeidung von Konflikten wichtiger als die Aufrechterhaltung der Kooperation. Eine derartige Kooperation wird hingegen durch die an verschiedenen Orten der griechischen Welt gefundenen Inschriften von Weihgeschenken des 6. Jhs. bezeugt, die Väter und Söhne oder Brüder als Zehntgabe (dekatē) eines Gewinns aus ihrem offenbar ungeteilten Vermögen gestiftet hatten.8 Ein besonders interessantes Schlaglicht auf altersspezifische Mobilität und familiäre Kooperation um 600, werfen Sapphos Gedichte. Laut der literarischen Überlieferung ging ihr Bruder Charaxos als Händler nach Naukratis und ließ sich dort mit einer Hetäre ein, was Sappho missbilligte.9 Zugleich lobte Sappho ihren anderen Bruder Larichos dafür, dass er Weinschenk im Prytaneion der Mytilenier war – also ein prestigereiches ‚Amt‘ ausübte.10 Die 2014 zuerst veröffentlichten Neufunde von Sappho-Fragmenten bestätigen diesen bisher nur literarisch bekannten Befund und erlauben die Verbindung mit bereits bekannten Fragmenten.11 Das sogenannte ‚Brudergedicht‘ erwähnt nach gängiger Deutung Sappho und ihre Mutter, die darauf hoffen, dass Charaxos mit einem „vollbeladenen Schiff “ und „reich gesegnet“ (πολύολβοι) – also reich – heimkehren werde. Vom Bruder Larichos hofft die Schwester, dass er zum „Herrn“ werde (ἄνηρ γένηται).12 Das Gedicht zeigt uns das gemeinsame Streben aller Familienmitglie-
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Semon. fr. 7 West (= Stob. 4.22,193); Phok. fr. 2 Diehl (= Stob. 4.22,192); zum sozialen Kontext derartiger Weiberschelte in archaischer Zeit vgl. zuletzt Seelentag 2014; vgl. das Bild der tüchtigen Ehefrau als ‚Biene‘ bei Xenophon s. Kap. 5.1.1. Hom. Od. 2.15–23: einer ist mit Odysseus nach Troja gezogen, einer hält es mit den Freiern, zwei weitere erledigen „die Werke des Vaters“ (πατρώια ἔργα); dazu Walcot 1970, 48 f. Stesich. 222 (b) Davies; die Entscheidung wird per Los gefällt. Für die Belege vgl. Kap. 11.2.2, Anm. 97–100. Hdt. 2.135; Strab. 17.1,33; Athen. 13.596b. Athen. 10.425a. Zu den Problemen der literarischen Überlieferung vgl. Obbink 2014, 32–35; vgl. Raaflaub 2016, 133 f. P. Sapph. Obbink + P. Oxy. 2289; vgl. Sapph. fr. 5, 7, 15; zur Neuedition vgl. Obbink 2016. Wenn ich richtig sehe, zweifelt die Mehrheit der Fachleute zwar die Richtigkeit der Herkunftsangaben dieser Neufunde an, aber nicht deren Echtheit an sich.
19.1 Kontinuität und Wandel
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der nach dem Erhalt ihres ‚Hauses‘.13 Die Mobilität des Bruders als Händler erscheint bereits hier als Quelle häuslichen Reichtums, aber auch als Risiko, genau wie bei Menander rund drei Jahrhunderte später.14 Auch in der Bewertung und rhetorischen Darstellung derartiger Mobilitätsphasen herrscht bemerkenswerte Kontinuität. Hesiod zieht zwar das Leben als Gutsbesitzer dem Seehandel vor, gesteht jedoch ein, dass es ein notwendiges Mittel sein kann, um der Armut zu entkommen, so wie einst sein eigener Vater.15 Die gleiche Haltung findet sich bei Theognis wiederholt;16 Plutarch überliefert eine dahingehende Geschichte über den jungen Solon.17 Bereits hier taucht der aus späteren Texten bekannte Rechtfertigungstopos auf, dass die Händlertätigkeit bloß temporärer Natur sei, erzwungen durch widrige, aber unverschuldete Umstände. Die Kontinuität der Hauswirtschaft zeigt sich also nicht bloß in den Strukturen, sondern auch in der Selbstbeschreibung. Schließlich hat auch die statusspezifische Arbeitsteilung in Form der Erweiterung des Haushalts um gekaufte Sklaven seine Anfänge bei Homer. Nach verbreiteter Meinung setzte der massenweise Einsatz von Sklaven als Arbeitskräfte erst im 6. Jh. ein.18 Edward Harris hat dagegen die Belege für eine weitgehende Kontinuität stark gemacht, die in der Tat zahlreich sind und David Lewis betont ebenfalls die qualitative Kontinuität. Bereits bei Homer gehören Unfreie (δμῶες) ebenso fest zum Haus wie die blutsverwandten Hausgenossen und der unbelebte Besitz, sie werden gekauft und verkauft.19 Der Schweinehirt Eumaios wirkt wie ein Vorläufer des privilegierten, eigenständigen Sklaven klassischer Zeit,20 die alte Kämmerin (ταμίη) Eurykleia wie die Vorläuferin der weiblichen Verwalterin in Xenophons Oikonomikos.21
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Vgl. Obbink 2014, 35 und Raaflaub 2016; Lardinois 2016 weicht in einigen Punkten entscheidend ab und erinnert damit daran, wie hypothetisch alle Deutungen bleiben müssen. Noch eine weitere bei Menander prominente Figur tritt bereits um 600 auf: Der miles gloriosus. Ein Fragment eines Gedichts von Sapphos Zeitgenossen Alkaios begrüßt dessen Bruder Antimenidas, der als Söldner mit sichtbarem Reichtum geschmückt aus der Fremde zurückkehrt, Alk. fr. 350 Lobel-Page; vgl. Strab. 13.2,3; zum Kontext Luraghi 2006, 23; Fantalkin/Lytle 2016 haben zuletzt den bisherigen Konsens angezweifelt, dass Antimenidas für den babylonischen König kämpfte, wie Strabon annahm, und dass das Alkaios-Fragment die Häufigkeit griechischer Söldner in babylonischen Diensten belege. Hes. erg. 618–694. Vgl. Theognis’ kryptische Bemerkung, Thgn. 173–180, über den Mann, der sich auf der Flucht vor der Armut ins Meer stürzt. Plut. Solon 2.1. Westermann 1955, 1–4; Finley [1980] 1985, 79–110; Garlan [1982] 1995, 35–45; Schmitz 2014b, 23–25. Harris 2012; Lewis 2018b, 107–124; knapp bereits van Wees 2009, 451 f. Vgl. etwa Hom. Il. 19.321–339; Od. 11.430–432; 18.313–316; 19.525–527; 24.205–212; speziell Verkauf: Hom. Od. 15.40– 483; 17.249 f.; 20.382 f. Vgl. Hom. Od. 14.449–456, wo Eumaios Odysseus fast wie ein eigenständiger Hausherr bewirtet und Sklaven erwähnt, die er aus eigenen Mitteln angeschafft habe. Hom. Od. 4.742–754; 22.395 f.
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19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée
Trotz der schlechteren Quellenlage finden sich also viele Indizien für die Kontinuität der Hauswirtschaft. Die Strukturen und Strategien, die sich in klassischer Zeit weiterentwickelten und verbreiteten, waren seit früharchaischer Zeit zumindest angelegt. Bereits in archaischer Zeit existierten griechische Haushalte mit einer komplexen Arbeitsteilung, die ihre Handlungsspielräume durch temporäre Mobilität und den Erwerb unfreier Hausgenossen ausweiteten, um die notwendigen Ressourcen für die Statuskonkurrenz zu erwerben.22 Der Wandel, der sich in der Folgezeit vollzieht, erscheint insofern als eine Intensivierung und Verdichtung innerhalb vorgezeichneter Bahnen. Der wichtigste neue Faktor war wohl der Aufstieg hegemonialer Regionalmächte, welche die Intensivierung der stadtübergreifenden Verkehrswirtschaft wesentlich beförderten (vgl. Kap. 3.1). Im 4. Jh. waren selbst kleine und ländliche Haushalte mindestens teilweise in die städtische Gesellschaft und Verkehrswirtschaft integriert. Darauf reagierten sie nicht durch die Erfindung neuer Organisationsformen, sondern mit der Anpassung und Perfektionierung einer bewährten Organisation, ihrem Haushalt. Dies spiegelt sich in der literarischen Ökonomik wider. Sie wurde zwar von den speziellen Bedingungen einer verdichteten Verkehrswirtschaft und dem städtischen Konkurrenzdruck angestoßen und war eine neue Untergattung der sich ausdifferenzierenden Prosaliteratur (Kap. 4.3). Sie griff jedoch auf eine lange Tradition normativ-pragmatischer Reflexionen über Haushaltsführung und Reichtum zurück (Kap. 6.1.4). Die ideellen Strukturen der Hauswirtschaft waren ebenso vorgezeichnet wie ihre praktischen Strukturen. Der Prozess zunehmender Intensivierung und Verfeinerung im Rahmen bestehender Grundstrukturen lässt sich auch innerhalb des Untersuchungszeitraums beobachten. Wie zu Beginn des 5. Jhs. war die Ehefrau noch am Ende des 4. Jhs. entscheidender Faktor hauswirtschaftlichen Erfolgs und zugleich dessen personale Repräsentation (Kap. 10.2). Entsprechend der Verfeinerung der Techniken der Haushaltung hatten sich die Anforderungen erhöht: Eine Frau sollte nun auch ausreichend lesen, schreiben und rechnen können. Neben die Verschriftlichung der Haushaltsführung (Kap. 13.2 und 13.3) trat ihre zunehmende Monetarisierung: Häuslicher Erwerb und Reichtum wurden im 4. Jh. durch das Medium des Münzgelds kalkuliert (Kap. 13). Der stärkste Wandel liegt wohl in der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung gekaufter Sklaven und Freigelassener. In allen Wirtschaftsbereichen tauchen sie auf, vom einfachen Arbeiter bis zum eigenständig agierenden Stellvertreter oder Verwalter (Kap. 10.1.2 und 12.3.4). Sofern die Hauswirtschaft stets verschiedene Formen der Arbeit und des Kapitals flexibel kombinierte, wurde die Hauswirtschaft allerdings nie exklusive Sklavenwirtschaft. Freie Saisonarbeit, die Mitarbeit der Familienmitglieder und Verpachtung wurden mit Sklavenarbeit kombiniert (vgl. Kap. 11.3.4 und 14.1).
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Vgl. Stein-Hölkeskamp 2019 für Statuskonkurrenz als Schwungrad des Erwerbsstrebens.
19.1 Kontinuität und Wandel
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Schwerer einzuschätzen als die Kontinuitäten seit der archaischen Zeit ist der Wandel in hellenistischer Zeit und darüber hinaus. Überblicksdarstellungen zur hellenistischen Wirtschaft betonen die weitgehende Kontinuität, zumindest für das 3. Jh.23 Der Haushalt blieb die zentrale wirtschaftliche Organisationseinheit,24 auch im Fernhandel.25 Menanders Komödien zeigen, wie die Expansion nach Osten griechischen Haushalten neue Felder für angestammte Strategien erschloss, weil sie das Gebiet vergrößerte, in dem griechische Sprache, Sitten und Institutionen galten und Griechen Teil der dominanten Gesellschaftsschicht waren.26 Neben der Überprüfung dieser Kontinuitäten wäre aber auch zu fragen, wie sich die Hauswirtschaft zur offenbar zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung von korporativen Einheiten wie Heiligtümern und Vereinen verhielt27 und es wäre zu prüfen, welche Auswirkung die mancherorts ausgeweitete Geschäftsfähigkeit von Frauen28 oder die Formalisierung der Bindung von Freigelassenen durch Paramonē-Verträge29 für die Hauswirtschaft hatte. Zu fragen wäre schließlich, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen griechischer und römischer Hauswirtschaft bestanden. Laut William Harris unterschied sich die spätrepublikanische Wirtschaft von ‚einfachen Formen des Kapitalismus‘ nicht durch das Fehlen von Märkten, sondern durch die Tatsache, dass Haushalte und nicht Unternehmen („firms“) die Einheiten urbaner Produktion waren.30 Die patria potestas erlaubte es dem Hausvater prinzipiell, ähnlich wie die griechische kyrieia (und vielleicht noch wirksamer), seine Hauswirtschaft flexibel an die Umweltbedingungen anzupassen. Frauen, Söhne und Sklaven konnten bei formeller Geschäftsunfähigkeit de facto als Agenten ihres Hausherrn agieren.31 Es wäre allerdings zu untersuchen, welche Auswirkungen die große Ausdehnung des Reichs, die kaiserliche Gesetzgebung und v. a.
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Reger 2007 hält die politische Epochengrenze von 323 v. Chr. für unbedeutend und sieht einen stärkeren Bruch erst 200 v. Chr., durch den dann anwachsenden römisch-italischen Einfluss; ähnlich behandelt Eich 2006 das 6. bis 3. Jh. als eine Epoche; Bresson 2016 geht sogar bis zum 1. Jh. herab; vgl. die Bemerkungen bei Rostovtzeff [1941] 1955 zur Kontinuität, etwa 982–988 zur handwerklichen Produktion, 1011–1013 zum Handel. Reger 2007, 477 f.; vgl. Chandezon 2011 zur Verwaltung großer Anwesen. In einer Weihinschrift aus Halikarnassos dankt ein gewisser Phaeinos der Göttin Aphrodite dafür, dass sie ihn „zum Großhandel (μέγαν ἔμπορον) auf das Meer ausgeschickt hat“, wodurch er den Reichtum seines „Hauses“ (δῶμα) bewahrte, Steinepigramme I, 01/12/06. Reger 2007, 461–463; vgl. Archibald 2011 zur Mobilität von Soldaten und Handwerkern. Vgl. Gabrielsen 2001 zu Vereinen im hellenistischen Rhodos und Chankowski 2011 zur wirtschaftlichen Rolle von Heiligtümern. Stavrianopoulou 2006, bes. 319–329 zur den eigentumsrechtlichen Handlungsspielräumen von Frauen in den Kykladen; vgl. Günther 2015 zu den Eigentumsrechten von Frauen in Milet; beide Studien betonen die weitgehende Kontinuität der Frauenrolle. S. Hopkins/Roscoe 1978; Sosin 2015; Zelnick-Abramovitz 2018. Harris 2007, 529. Harris 2013, 105 f.; vgl. Cantarella 2003, 288 zu Söhnen und Tchernia 2011, 42–52 zu Sklaven und Freigelassenen.
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19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée
die höheren Inzestschranken der römischen Rechtstradition auf die Entwicklung der Hauswirtschaft hatten. Deutliche Kontinuität zeichnet sich jedenfalls im Bereich der gelehrten Auseinandersetzung mit Hauswirtschaft ab, soweit die literarischen Fragmente ein Urteil erlauben.32 Sie belegen ein fortgesetztes Interesse an Haushaltsführung und der Frage nach Erwerb und Verwendung von Reichtum bis in die hohe Kaiserzeit. Einzelne Autoren und Philosophenschulen setzten zwar unterschiedliche Akzente; die Ausgangsfragen und Grundbegriffe blieben jedoch gleich.33 In diesem Sinn scheint die Entstehung der Ökonomik als normativer Theorie mit eigener Begrifflichkeit und literarischer Form als der besondere Beitrag der klassischen Zeit zur antiken Hauswirtschaft. Die These einer langen Kontinuität der griechischen Hauswirtschaft führt schlussendlich zur Frage nach den Gründen für diese Kontinuität. Warum kam es trotz Monetarisierung und Verdichtung der Verkehrswirtschaft nicht zu einer Auflösung der Hauswirtschaft zugunsten anderer, institutionell ausdifferenzierter und spezialisierter Organisationsformen? 19.2 Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten Eine erste Erklärung für die Kontinuität der Hauswirtschaft liegt in der Tendenz adaptiver Strategien, eben jene Umweltbedingungen zu perpetuieren, die ihre Befolgung überhaupt sinnvoll machen. Die Strategien der Risikominimierung und Gelegenheitsoptimierung – Akkumulation, Diversifizierung, Kapitalkonvertierung – waren für jeden einzelnen Haushalt rational. Global betrachtet entzogen sie der Verkehrswirtschaft allerdings ökonomisches Kapital und begrenzten Spezialisierung und technische Innovation (vgl Kap. 15 und 16). Handwerkerhaushalte lebten am stärksten von ihrer technischen Spezialisierung. Aber gerade erfolgreiche Handwerker und Werkstattbesitzer diversifizierten ihre Vermögen, um die mit Marktschwankungen verbundenen Risiken zu verringern und Gelegenheitsgewinne zu realisieren (Kap. 14.2). Risikominimierung und Gelegenheitsoptimierung trugen selbst zur Ungewissheit bei, die sie beherrschbar machen sollten. Denn die Umwelt jedes einzelnen Haushalts bestand aus anderen Haushalten, die analoge Strategien verfolgten. Nicht alle Haushalte konnten gleichzeitig ‚billig kaufen, teuer verkaufen‘. Nicht alle Haushalte konnten Kapital und Arbeit akkumulieren. Ein freier Hausvorstand musste zu Recht um die Unabhängigkeit seines Haushalts fürchten, wenn er seine Arbeitskraft dauerhaft in den Dienst eines anderen
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Zur philosophischen Ökonomik im Hellenismus s. Natali 1995, 2003 und Zoepffel 2006, 429– 263. Vgl. die Fragmente-Sammlung bei Audring/Brodersen 2008, 176–239. Zum philosophischen Begriff von oikonomia im Hellenismus vgl. Kap. 6.1.5. Für einen Überblick über die Fortführung der Tradition in der griechischen Literatur bis in die Kaiserzeit s. Zoepffel 2006, 247–310 und Swain 2013, bes. 27–31 und 193–256.
19.2 Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten
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Haushalts stellte. Der große Haushalt, der zusätzliche Arbeitskraft erwerben wollte, musste wiederum fürchten, dass seine freien Arbeitskräfte ihm nicht dauerhaft zu Verfügung stehen würden, weil sie das Risiko der Abhängigkeit minimieren wollten oder nach günstigeren Gelegenheiten suchten (vgl. Kap. 12.3.5). Gerade jene Entscheidungen eines Haushalts, die als ‚notwendig‘ empfunden wurden, gingen häufig auf Kosten eines anderen Haushalts oder verstärkten zumindest dessen Ungewissheit. Die selbstverstärkende Wirkung bestimmter Strategien zeigt sich insbesondere für das Nullsummenspiel der Statuskonkurrenz (Kap. 3.2). Jeder Haushalt hatte zu Recht den Eindruck, dass die Konkurrenz anderer Haushalte ihn dazu zwinge, sein eigenes Wirtschaften zu optimieren. Zugleich trug seine eigene Optimierung jedoch dazu bei, den Konkurrenzdruck auf alle anderen Haushalte zu erhöhen, die wiederum mit Optimierung reagierten. Rationalisierung und Adaption stellten hier keinen Ausweg aus überkommenen Strukturen dar, sondern ihre Perpetuierung. Dennoch war auch die antike griechische Hauswirtschaft kein Perpetuum mobile. Es bleibt daher die Frage, welche exogenen Faktoren dazu beitrugen, dass der Haushalt als Organisationsform so lange konkurrenzlos blieb. Eine Antwort kann darauf nur versuchsweise und partiell gegeben werden – es fehlt der Vergleich zu nachklassischen und römischen Entwicklungen. Der Versuch lohnt jedoch um genauer zu bestimmen, inwiefern die Antike zumindest streckenweise eine ‚Epoche der Hauswirtschaft‘ gewesen ist. Der Vergleich mit den italienischen Städten des Mittelalters soll dabei einmal mehr bemüht werden. Jetzt dient er allerdings dazu, epochenspezifische Unterschiede festzustellen, um so die historische Besonderheit der antiken griechischen Hauswirtschaft zu bestimmen.34 Ausgangspunkt des Vergleichs ist eine evolutionstheoretische Perspektive, die soziokulturelle Entwicklung weder defizitär noch teleologisch beschreibt. Nicht der Tüchtigste überlebt, sondern der am besten Angepasste – und manchmal auch bloß derjenige, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist: Die Zufälle individuellen Erfolgs wirken erst auf Systemebene strukturbildend.35 ‚Fortschritt‘ im Sinne zunehmender soziokultureller Differenzierung ist deshalb kein Automatismus. Weil sich soziale Systeme an ihre Umwelt anpassen, streben sie in ihrer endogenen Entwicklung einem homöostatischen Gleichgewicht zu.36 Je effizienter eine bestehende Güterverteilung,
34 35
36
Zur Methode des historischen Vergleich s. Kap. 2.3.4. Zur sozio-kulturellen Evolution als nicht-gerichteten Prozess vgl. Service 1971; Luhmann 1978, 422–440; 1997, 413–594; Runciman 1989, 37–48, 285–450; 2009; vgl. ebd. 16–20 die Zurückweisung der Idee des ‚survival of the fittest‘; aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive Alchian 1950, 213–220; vgl. Caporaso 1989, 155; Mokyr 2017, 3–56 zur wirtschaftlichen Dimension kultureller Evolution; für die antike Wirtschaft hat jüngst Manning 2018, 32–34 eine evolutionäre Perspektive gefordert. Caporaso 1989, 150 spricht aus institutionenökonomischer Perspektive von der „low-level equilibrium trap“; der Ausdruck punctuated equilibria geht auf ein paläontologisches Modell von Gould/Eldredge 1972 zurück; vgl. North 1990, 90 für eine ökonomische Adaption.
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19 Die griechische Hauswirtschaft in der longue durée
je erfolgreicher ein bestimmtes Set von Institutionen ist, desto weniger wahrscheinlich ist ihr grundlegender Wandel.37 Eine Entwicklung, bei der frühere Entscheidungen spätere Entscheidungen zwar nicht determinieren, allerdings deren Variations-Spielraum einschränken, wird in der Ökonomie als ‚Pfadabhängigkeit‘ bezeichnet.38 Solange die Umwelt hinreichend gleich bleibt, wird es mit der Zeit immer kostengünstiger und risikoärmer, bestehende Institutionen und Techniken beizubehalten und zu verfeinern, weil die Kosten ihrer Durchsetzung sinken, während umgekehrt die Kosten eines ‚Systemwechsels‘ im gleichen Maß steigen. Das führt dazu, dass Systeme, die unter Anpassungsdruck geraten, ihre etablierten Verfahren nicht aufgeben, sondern im Gegenteil steigern. Dieser Prozess, bei dem gerade bei nachlassendem Erfolg bewährte Handlungsmuster nicht aufgegeben, sondern intensiviert werden, lässt sich als Involution bezeichnen. Auf diese Weise kam es in ‚vormodernen‘ Gesellschaften immer wieder zu enormen Steigerungen struktureller Komplexität, auch im Bereich des Wirtschaftens, ohne dass es zu einem grundsätzlichen Wechsel der primären Form sozialer Differenzierung kam, wie sie erst im Verlauf der industriellen Revolution mit der funktionellen Ausdifferenzierung der ‚Wirtschaft‘ stattfand.39 Diese Studie hat versucht zu zeigen, dass eine solche involutive Anpassung im 5. und 4. Jh. im Ägäisraum und den angrenzenden Küstenregionen stattfand. Die bestehenden Strukturen und Strategien der Hauswirtschaft wurden nicht durch neue Formen der Betriebswirtschaft ersetzt, sondern stattdessen erweitert und verfeinert, um den Bedingungen einer geldbasierten Verkehrswirtschaft gerecht zu werden. Gegenüber den Stadtrepubliken Italiens, deren gesellschaftliche Strukturen und Umweltbedingungen in vielerlei Hinsicht denen der griechischen Städtewelt ähnelten (s. Kap. 2.3.4), stechen zwei Faktoren heraus, die eine Anpassung der Hauswirtschaft erleichterten: Erstens das Familienrecht mit seinen geringen Heirats- und Adoptionsschranken, zweitens die Kaufsklaverei als wirtschaftlich bedeutsames Massenphänomen. Strategien, die auf Verwandtschaft und Verschwägerung beruhen, haben den Vorteil, dass sie etablierte Sozialstrukturen zur Grundlage riskanter Entscheidungen machen. Sie haben allerdings auch einen großen Nachteil: demographische Kontingenz. Kinderlosigkeit, plötzliche Todesfälle oder persönliche Unverträglichkeiten gefährdeten familiäre Kooperation und Kontinuität. Diese ‚natürlichen‘ Risiken wurden verschärft durch die ‚kulturell‘ erzeugten Risiken von Teuerung, Seefahrt und Söldner37 38 39
Caporaso 1989, 150; North 1990, 80–82 unterscheidet „allocative efficiency“ und „adaptive efficiency“. Zur Pfadabhängigkeit s. North 1990, 80–98; Frier/Kehoe 2007, 137–142; Runciman 2009, 30 f.; vgl. Greif 2006, 158–268, für die Grenzen endogenen Wandels am Beispiel der mittelalterlichen Stadtrepublik Genua. Vgl. Arlinghaus 2004 zur Komplexitätssteigerung bei gleichbleibender Differenzierungsform am Beispiel des europäischen Mittelalters; besonders relevant ist in diesem Zusammenhang, Arlinghaus’ Verweis auf Familienkooperation italienischer Kaufleute, ebd. 122–128. Vgl. Geertz 1963, 79–103 und Luhmann 1980, 82–108 zur Involution als Prozess soziokultureller Evolution.
19.2 Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten
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dienst (s. Kap. 11.3). Dieselben Mobilitätsstrategien, die dem finanziellen Erhalt des Hauses dienten, gefährdeten seinen demographischen Fortbestand. Die Risiken demographischer Kontingenz ließen sich nicht völlig eliminieren. Doch das griechische Familienrecht war in besonderer Weise geeignet, sie zu minimieren. Die Beschränkung der Endogamie durch Inzestverbote waren gering:40 Sie beschränkten sich auf die eigenen Eltern und leiblichen Geschwister. Die Heirat mit der agnatischen Cousine war nicht nur erlaubt, sondern regelrecht üblich, denn mit ihrer Hilfe ließ sich das geteilte väterliche Vermögen in der dritten Generation wieder vereinen. Die Cousinenheirat ist in vielen Gesellschaften verbreitet; das griechische Recht erlaubte aber sogar die Heirat mit der eigenen Nichte. Die Institution der Erbtochterschaft (Epiklerat) diente zwar nicht allein dem Erhalt des Haushalts, sondern auch der Absicherung der verwaisten Tochter. Doch selbst hier wurde die patrilineare Verwandtschaft privilegiert, die ihren Anspruch auf die Hand der Erbtochter selbst dann gerichtlich durchsetzen konnte, wenn diese bereits verheiratet war.41 Wichtig waren weiterhin die im Vergleich unkomplizierte Auflösung von kinderlosen Ehen und die Adoption volljähriger Männer als Erben.42 Diese Möglichkeiten, Verwandtschaftsbeziehungen an die Erfordernisse des eigenen Haushalts anzupassen, relativierte die Folgen von Kinderlosigkeit und übte disziplinierende Wirkung auf Verwandte und Eheleute aus, die wussten, dass sie strategisch nicht unersetzlich waren. Finley betonte, dass diese allgemeinen Merkmale des griechischen Familienrechts banal seien, insofern ähnliche Regelungen in den meisten vormodernen Hochkulturen existiert hätten.43 Das ist mit Blick auf das alte Israel, die islamisch-arabische Welt oder das kaiserzeitliche China richtig, wobei selbst hier griechisches Familienrecht im Vergleich besonders wenige Einschränkungen diktiert.44 Es ist allerdings falsch im Vergleich zum christlich geprägten und von der Kirche mitgestalteten Familienrecht Europas seit der Spätantike, das trotz regionaler Unterschiede gemeinsame Grundzüge hatte, die es vom antiken griechischen Familienrecht deutlich unterscheiden. Ein erster Grundzug dieses Familienrechts sind hohe Inzestschranken. Sie verbieten nicht nur die Heirat der Cousine, Nichte oder Bruderswitwe, sondern sperren sogar die entferntere agnatische (bis zum siebten Grad) und kognatische Verwandtschaft (bis zum vierten Grad) und die durch Heirat und Patenschaft gewonnenen Nennverwandten von der Endogamie aus.45 Hinzu kam die Erschwerung der Scheidung, der Adoption von Volljährigen und der Empfehlung zum Witwentum, selbst wenn Letzteres aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Zwänge meist nicht zu ver-
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Vgl die Belege in Kap. 2.2 und 11, und Humphreys 2018, 107–134 zu endogamen Ehen. S. Kap. 2.2 mit Anm. 56 und 61. Hartmann 2002, 90 und Kap. 11.3.2 für einen solchen Fall. Finley [1966] 1975. Vgl. Mitterauer 2004, 92–104. Goody 1983, 134–151; Herlihy 1985, 61 f.; Mitterauer 2004, 83–86.
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wirklichen war.46 Ergänzt wurde diese Entwicklung durch eine Ausweitung der Testamentierfreiheit zuungunsten der Verwandten47 und, ebenfalls unter dem Einfluss von Christentum und Kirche, einer allgemeinen Abschwächung patrilinearen Denkens (Ahnenkult) zugunsten einer Vorstellung von geistiger Verwandtschaft.48 Die Gründe für diese globalhistorische Sonderentwicklung (und ihre geographische Reichweite) sind umstritten.49 Für den hier angestrebten Vergleich sind vor allem ihre Auswirkungen entscheidend: Das Familienrecht schränkte die Möglichkeiten ein, durch Heirat, Adoption oder Scheidung den Haushalt zu erhalten und Kapital zu akkumulieren oder erhöhte die Kosten solcher Strategien, etwa um den Preis kirchlicher Dispense.50 Umgekehrt stieg die Bedeutung nicht-verwandtschaftlicher Organisationen außerhalb des Haushalts, zunächst der Kirche und später anderer Korporationen wie Gilden und Universitäten. Mobilitätsmuster lösten sich (partiell) vom Herkunftshaushalt ab: Als Arbeiter, Bedienstete oder Lehrlinge wurden junge Leute zu temporären Mitgliedern nichtverwandter Haushalte, aus denen sie auch nicht in ihren Herkunftshaushalt zurückkehrten.51 Der Haushalt verlor zwar seine soziale und wirtschaftliche Bedeutung vorerst nicht, doch viele Aktivitäten ließen sich im Vergleich zur griechischen Antike schlechter in seine bestehenden Strukturen integrieren. Die Folgen des veränderten Familienrechts für die Entwicklung wirtschaftlich relevanter Institutionen zeigen sich an der Entwicklung der Handelsgesellschaften im mittelalterlichen Italien, besonders Florenz. Max Weber betonte bereits in seiner Dissertationsschrift, dass der Ausgangspunkt der Entwicklung zur Handelsgesellschaft als personenunabhängige Rechtskonstruktion im mittelalterlichen Italien die Hausgemeinschaft war. Bis ins Spätmittelalter hinein funktionierte sie wie im klassischen Griechenland als Wohn- und Arbeitsgemeinschaft und bei Brüdern, die ihr Vermögen nicht geteilt hatten, auch als Haftungsgemeinschaft bei Geldgeschäften.52 Die florentinischen Handelspartnerschaften waren „mit gutem wirtschaftlichen Grunde“ überwiegend Familienpartnerschaften, weil das für Vermögenskontinuität über den Tod einzelner Partner hinaus sorgte (die „Achillesferse aller damaligen und heutigen As-
46 47 48 49
50 51 52
Goody 1983, 68–75, 183–193. Goody 1983, 98 f., 117 f. Mitterauer 2004, 80–108 im Vergleich zu China und der arabisch-islamischen Welt. Goody 1983, 44–47 vertritt die Theorie, dass die Kirche diese Regeln bewusst durchsetzte, um Besitz und Macht zu akkumulieren; vgl. Goody 2002, 42–47 und passim; Herlihy 1985, 11–13 und Mitterauer 2004, 84 lehnen diese These als zu monokausal ab; Mitterauer 2003, 360–362 ergänzt als weiteren Faktor das Lehenswesen mit seiner grundherrschaftlichen Fundierung. Goody 1983, 183–193; 2002. Mitterauer 2004, 104–108; vgl. Groebner 1995, 76 f. Weber [1886] 1988, 346–386, 411–416; Weber [1919/20] 2011, 278 f. erklärte die Hausgemeinschaft zum Ursprung von Geschäftspartnerschaften in allen vormodernen Gesellschaften. Vgl. Arlinghaus 2004, 122–128 zur Symbiose von Familiengemeinschaft und Geschäftskooperation bei den Kaufleuten des spätmittelalterlichen Italien.
19.2 Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten
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soziationen“) und besondere Vertrauensverhältnisse stiftete.53 Das Athen des 5. und 4. Jhs. und das Florenz des 13. und 14. Jhs. gleichen sich in dieser Hinsicht.54 Noch Mitte des 15. Jhs. empfiehlt Giovanni Ruccellai in Anschluss an Leon Alberti, wenn möglich Leute „des eigenen Hauses“ als Geschäftsleiter bei Bank- und Handelsgeschäften einzusetzen anstatt „Fremde“, weil sie zur Hilfe verpflichtet und vertrauenswürdiger seien. Geeignete Verwandte aber sind nicht immer zur Stelle, wie Rucellai an gleicher Stelle beklagt.55 Sie ließen sich – das ist der Unterschied zu Griechenland und (mit Abstrichen) zum antiken Rom56 – weniger leicht durch Adoption kreieren oder durch endogame Heiraten dazu bewegen, ihren eigenen Erfolg mit dem des verschwägerten Haushalts gleichzusetzen.57 In dem Maße, in dem Nicht-Verwandte zu Geschäftspartnern wurden, wurde es zunehmend wichtig, Vermögenskontinuität und gegenseitiges Vertrauen durch eigens geschaffene Rechtsinstitute zu sichern, welche die Vorläufer des Unternehmens als juristischer Person und damit der „Verselbständigung des Geschäfts“ (Sombart) waren.58 In dieselbe Richtung wie das veränderte Familienrecht wirkte die Tatsache, dass gekaufte Sklaven im Europa nördlich der Alpen im Verlauf des Hochmittelalters verschwanden und außer an einigen Orten der Mittelmeerküste keine größere wirtschaftliche Bedeutung hatten.59 Wenn griechische Hausherren nicht auf Verwandte als Ge53 54 55 56
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58
59
Weber [1886] 1988, 413 f. S. Kap. 11 und zu Florenz Roover 1963a, 75. S. Rucellais Zibaldone, Ed. A. Perosa (1960), S. 5. Die römischen Heiratsverbote für Verwandte reichen viel weiter als bei den Griechen, vgl. Bettini 1992, 153–178; Verstöße wurden allerdings weniger strikt geahndet als später durch die Kirche und Scheidung mit Wiederverheiratung sowie Adoption waren akzeptierte Familien-Strategien; vgl. Corbier 1991 und Goody 2002, 42–47. Bei der Frage, wie die Kontinuität und Stärke von Familien zu sichern seien, verweist Alberti geradezu bedauernd auf die Antike, in der Scheidung bei Kinderlosigkeit und Adoption legitim und verbreitet waren, Della Famiglia III, Ed. R. Romano / A. Tenenti (1972), 150–153. Zur Seltenheit innerfamiliärer Eheschließungen in der florentinischen Oberschicht s. Molho 1994, 261–267; wenn in Florenz innerfamiliärer Ehen geschlossen wurden, dann aus demselben Grund wie im antiken Griechenland: um das Familienvermögen zusammenzuhalten. Vgl. Sombart 1917, 101–110 zur Entstehung „der kapitalistischen Unternehmung als Vermögensorganisation“. Zweifellos spielte die Familie auch noch in der Frühen Neuzeit und bis in das 20. Jh. hinein eine wichtige Rolle für Vermögenserhalt und Unternehmensorganisation; vgl. Landes 2006 und die Beiträge in Cavaciocchi 2009. Aber die von mir vertretene These der Wichtigkeit des religiös fundierten Familienrechts findet externe Bestätigung in den Strategien jüdischer Kaufleute und Bankiers der frühen Neuzeit: Die sephardischen Händler im Mittelmeerraum setzten nicht auf die im 16. Jh. aufkommenden neuen Formen von Geschäftspartnerschaften, sondern wie die antiken Griechen auf die Kombination traditioneller Familienpartnerschaften mit endogamen Heiraten, besonders zwischen Cousin und Cousine oder Onkel und Nichte, weil diese von religiösen Autoritären nicht nur geduldet, sondern sogar empfohlen wurden; vgl., Trivellato 2009, 132–152. Mit denselben Mitteln sicherten auch noch die Rothschilds im 18. und 19. Jh. Vermögen und Vertrauen; vgl. Landes 2006, 52. Heers 1981, 135–144; Epstein 1991, 223–227, 257; Blackburn 1997, 32–83; zum Verschwinden der Sklaverei in Nordeuropa s. Arnoux 2014; Charles Verlinden hat mit seinen Archivforschungen nachgewiesen, dass die Zahl der Sklaven an den Mittelmeerküsten, besonders in Barcelona,
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schäftspartner oder Agenten zurückgreifen wollten oder konnten, setzten sie Sklaven ein. Bei der Verteilung der Gewinne und bei Konflikten konnte der Hausherr ihnen gegenüber nach Belieben verfahren (Kap. 12.3). Einem freien Vertragspartner war man hingegen Rechenschaft schuldig; genaue Buchführung beugte Konflikten um die Verteilung von Gewinnen und Verlusten vor oder wappnete für den Fall, dass solche Konflikte vor Gericht ausgetragen wurden. Dazu kam es auch im antiken Griechenland – jedoch desto seltener, je häufiger man sich auf dienstschuldige Freigelassene oder gewaltunterworfene Sklaven verließ. Die Bedeutung der Sklaverei und des Familienrechts auf die Entwicklung wirtschaftlicher Organisationsformen und Techniken zeigt sich am Beispiel der italienischen Buchführung, die sich im Verlauf des 14. Jhs. zu jener Form der doppelten Buchführung entwickelte, die seit dem 19. Jh. als Inbegriff kapitalistischen Wirtschaftens gilt. Anders als Althistoriker häufig annehmen, diente sie bei ihrer Entstehung nicht primär der Rentabilitätskontrolle. Wichtiger wurde die Buchführung vielmehr, weil eine neue Form wirtschaftlicher Organisation Bedeutung gewann. Die Entstehung längerfristiger Handelsgesellschaften mit mehreren Vertragspartnern außerhalb etablierter Haushalts- und Verwandtschaftsbeziehungen erhöhte die Komplexität der Vorgänge und erzeugte damit ein Interesse an einer Technik, die helfen konnte, den Überblick zu bewahren, Rechtsstreitigkeiten mit außerfamiliären Vertragspartnern vorzubeugen und Behörden und potentiellen Kooperationspartnern Vertrauenswürdigkeit zu signalisieren.60 Dem entspricht, dass doppelte Buchführung und die Trennung von privater Haushaltung und Geschäftsvorgängen nur hier konsequent zum Einsatz kamen.61 Der Genuese Piccamiglio, der seine Geschäfte „wie seinen Haushalt“ führte, weil er keine Geschäftspartner hatte, wandte die doppelte Buchführung nur der äußeren Form nach an, weil er niemandem Rechenschaft oder Gewinnbeteiligung schuldete.62 Als ‚kulturelles Gedächtnis‘ diente demnach auch die elaborierte italienische Buchführung des ausgehenden Mittelalters denselben beiden Zwecken wie seit
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auf Sizilien und auf den Balearen, größer war als häufig angenommen; vgl. Verlinden 1955, 278– 281, 427–440, 792–803 und 1977, 281 f.; die Zahlen sind allerdings gering im Vergleich zu denen der Antike und die Geschlechterverhältnisse und Kaufpreise zeigen, dass die produktive Arbeitskraft von Sklaven zunehmend an Bedeutung verlor; vgl. 1955, 284–287, 440–454; 1977, 329 f. In den Handelsmetropolen Italiens hatten unfreie Dienstmägde und Konkubinen nur als ‚Luxus-Objekte‘ Bedeutung, vgl. ebd. 362, 383, 397, 409, 416, 493–495, 511, 525, 666. Weber [1919/20] 2011, 277–279; vgl. Roover 1956b, 115–117; Yamey 1964, 126 f. und Macve 1996, 19–22 betonen allerdings, dass die Doppik nicht der ausschlaggebende Faktor dieser Entwicklung war und die gestiegenen Kontrollbedürfnisse durch diese Technik allein nicht gelöst wurden; vgl. Carruthers/Espeland 1991, 36–55 zur symbolischen und rhetorischen Dimension doppelter Buchführung. Später kam noch die Notwendigkeit hinzu, Gesetzen über Buchführung zum Schutz von Investoren zu genügen. Vgl. Kap. 13.3 mit den Belegen in Anm. 63. Heers 1959, 11. Vgl. Roover 1956b, 156–158 zur weniger rigorosen Buchführung von Partnerschaften von Brüdern in Venedig.
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den Anfängen der Verwendung von Schrift zu wirtschaftlichen Zwecken: Der Kontrolle von Untergebenen und der Vorbeugung von Konflikten mit Partnern; aber sie tat das in einer Situation als diese Personen zunehmend Vertragspartner waren und nicht Hausangehörige.63 Benedetto Cotrugli lobt in seinem 1458 verfassten (aber erst 1573 gedruckten) Kaufmanns-Lehrbuch die Buchführung als Gedächtnisstütze, die insbesondere den Nutzen habe, „vielen Zwistigkeiten, Streitigkeiten und Ärgernissen vorzubeugen“,64 indem sie genau festhalte, was man anderen schulde oder von diesen einzufordern habe.65 Ein Brief von Tommaso Portinari an Cosimo de Medici von 1464, der die Übersendung der Buchführung der Brügger Zweigstelle der Medici-Bank nach Florenz begleitete, illustriert Cotruglis theoretische Ausführungen. Er belegt zugleich die subjektiven Methoden der Bewertung der Posten und die Wichtigkeit von Rang, Ehrbarkeit und Risikovermeidung bei der Einschätzung von Geschäften – all das ist aus dem klassischen Griechenland bekannt (vgl. Kap. 16.3).66 Der sehr ausführliche Partnerschaftsvertrag von 1455, das Gründungsdokument der Brügger Zweigstelle, illustriert wiederum, wie man in Florenz durch neu geschaffenes Recht abzusichern versuchte, was im antiken Griechenland beim Einsatz von Sklaven bereits durch die Hausgewalt gegeben war: Der Vertrag legt größten Wert darauf, dem Geschäftsführer jegliche Eigenständigkeit zu untersagen (Geschäfte, Mobilität) und ihm einen maßvollen Lebenswandel (Abstinenz von Glücksspiel, Frauen, Verschwendung allgemein) vorzuschreiben.67 Die Anforderungen an den Geschäftsführer entsprechen genau denen an den Aufseher in Xenophons Oikonomikos – nur musste Ischomachos keinen komplizierten Vertrag aufsetzen, um seine Rolle als Prinzipal zu sichern. Die Abwesenheit von Kaufsklaven als beliebig einsetzbarer Arbeitskraft förderte auch die Entwicklung anderer Formen außerhäuslicher Organisation. Dazu zählten die Gilden, mit deren Hilfe die Arbeitgeber sich der Kontrolle über ihre Arbeiter versicherten,68 oder die italienische Form der Teilpacht (mezzadria), eine intensive, markt-
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Vgl. Yamey 1949, 103 f. zu Gerichtskonflikten in der Frühen Neuzeit; vgl. Goody 1990, 89–151 zu den wirtschaftsbezogenen Zwecken von Schriftlichkeit (einschließlich Buchführung) in den frühen Hochkulturen. Yamey 1975, 718–722 widerspricht mit historischen Beispielen der verbreiteten Vorstellung, die Doppik habe dem Betrug durch Agenten besser vorgebeugt; man wird aber sagen können, dass die höhere routine-mäßige Ordnung der Bücher, die Yamey selbst als Leistung der Doppik beschreibt (1964, 133–135; vgl. 1949, 110), die Schwelle für die Vertuschung von Inkompetenz und Betrug erhöhte. Benedetto Cotrugli, Il libro dell’arte di mercatura, Buch 1, Kap. 13 „Del’ ordine di tenere le scripture“, Ed. U. Tucci (1990), S. 171: le quali non solamente conservano et ritengono in memoria le cose tractate et facte, anzi sono cagione di fuggire molti litigii, questioni et piati. Deutsche Übers. C. Kheil (Benedetto Cotrugli Raugeo. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchhaltung. Wien 1906). Ed. U. Tucci (1990), S. 172. Der Brief in engl. Übers. bei Lopez/Raymond 1955, 403–407. Lopez/Raymond 1955, 206–211. Roover 1963a, 93; Jones 1997, 250 f., 586 f.; Najemy 2006, 103.
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orientierte Bewirtschaftung von Landgütern mithilfe freier Landarbeiter.69 In solche außerhäuslichen Institutionen musste ein griechischer Sklavenbesitzer nicht investieren: Über die Mittel zur Disziplinierung, Kontrolle und Ausbeutung von Arbeitskräften verfügte er kraft Eigentum automatisch.70 Zusammengefasst: Wie im mittelalterlichen Oberitalien führte die Kombination von geographisch günstiger Transferlage und stadtbürgerlichem Polyzentrismus zur Entstehung einer dynamischen, monetarisierten Verkehrswirtschaft als Umwelt der individuellen Hauswirtschaft. Anders als im klassischen Griechenland entwickelten sich hier in Anpassung an die Verkehrswirtschaft institutionalisierte Organisationsformen wie Handelsgesellschaften, Gilden und Teilpacht, die sich langfristig als wegweisend für die Entwicklung von Arbeitsmärkten, Handelsrecht und Buchführung erwiesen. Im klassischen Griechenland hingegen fehlten hinreichende Anreize, um derartige Innovationen anzustoßen: Denn aufgrund des Familienrechts und der Kaufsklaverei waren Haushalte flexibel genug, um Vertrauen, Kontrolle über Arbeit und Akkumulation von Geld und Wissen innerhalb ihrer bestehenden institutionellen Ordnung zu gewährleisten. Insofern ist die Dominanz der Hauswirtschaft tatsächlich der Grund dafür, dass die antike Wirtschaft ‚vormodern‘ blieb. Allerdings aus ganz anderen Gründen als häufig angenommen: Nicht, weil die Hauswirtschaft die Ausweitung einer monetären Verkehrswirtschaft gehemmt hätte, sondern weil sie gerade umgekehrt ein allzu kostengünstiges und risikoarmes Vehikel zur Teilnahme an dieser Verkehrswirtschaft war, fanden strukturelle Innovationen nicht statt. Welches enorme ökonomische Potential diese Innovationen entfalten konnten, ist eine Einsicht, die erst in der historischen Rückschau möglich ist.
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Zur Mezzadria s. Jones 1968; 1997, 165–172. Die Wiedereinführung von Sklaven als primärer Arbeitskraft während der europäischen Inbesitznahme der ‚Neuen Welt‘ widerlegt den hier vermuteten Zusammenhang nicht, sondern bestätigt ihn eher; als durch die sukzessive Erschließung Westafrikas, der atlantischen Inseln und schließlich der Karibik und der Amerikas ein Angebot an Menschen als Handelswaren und eine Nachfrage nach Arbeitskräften aufeinandertrafen, entwickelte sich eine Sklavenwirtschaft, die in Umfang und betrieblicher Rationalität diejenige der Antike noch weit übertraf, s. Kap. 12.1, Anm. 14; in der alten Welt hingegen hatten sich in der Zeit des faktischen Verschwindens der Sklaverei Institutionen gebildet, deren Nutznießer nun wiederum kein Interesse an der Wiedereinführung von Sklaven als unfreien Arbeitern hatte; vgl. Verlinden 1955, 435–437, 512; Epstein 1991, 225; Arnoux 2014, 58 f., 71 f. zum Widerstand von Bauern und Zünften gegen den Arbeitseinsatz von Sklaven; auch das ist Pfadabhängigkeit.
Verzeichnisse In das Quellenverzeichnis wurden nur Werke aufgenommen, die ausführlich oder wörtlich zitiert wurden. Wo Textausgaben mit Kommentaren in Hinsicht auf ihren Kommentar verwendet wurden, sind sie als Literatur zitiert. Antike Autoren und Werktitel sind entsprechend des Abkürzungsverzeichnisses im DNP zitiert. Autoren, die dort fehlen, wurden unter Verzicht auf Latinisierungen entsprechend dem LSJ abgekürzt. Zeitschriften sind entsprechend L’Année philologique abgekürzt. Die Abkürzungen der Inschrifteneditionen folgt den Empfehlungen der „Checklist of Editions of Greek Inscriptions“, Stand Mai 2019, mit Ausnahme von DVC und Lhôte (statt wie dort vorgeschlagen „I. Dodone Evangelidi“ und „I. Dodone Lhôte“). Abkürzungsverzeichnis Agora XXI Agora I. Att. Stelen BNJ CID II DK DNO DNP DVC DTA
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TLG
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Abbildungs-/Tabellenverzeichnis Abb. 1: Stele I 7396 (Bild-Nr. 2012.58.0839, Autor Craig Mauzy), © American School of Classical Studies at Athens: Agora Excavations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Sog. Charon-Relief; Kerameikos-Museum, Athen, P. 396 (Bild-Nr. D-DAI-ATH-2001/1065, Autor Hans Rupprecht Goette), © Deutsches Archäologisches Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 1: Die Dialog-Ebenen in Xenophons Oikonomikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 2: Die Systematik der Begriffe bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 3: Naturgemäße und widernatürliche Erwerbskunst bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. 4: Die Systematik der Begrifflichkeit bei Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
368 381 149 185 199 256
Verwendete Textausgaben und Übersetzungen Aeneas Tacticus, Asclepiodotus, Onasander. Übers. Illinois Greek Club. Loeb Classical Library. Cambridge, Ma. 1923. Aischylos. Tragödien. Griechisch-deutsch. Hrsg. v. Bernhard Zimmermann. Übers. v. Oskar Werner. Sammlung Tusculum. Mannheim 72011. Anecdota Graeca. Bd. 1: Lexica Segueriana. Hrsg. v. Immanuel Bekker. Berlin 1814. Anthologia Lyrica Graeca. Hrsg. v. Ernst Diehl. Bibliotheca Teubneriana. Leipzig 1954. Aristophanis Fabulae. Hrsg. v. Nigel G. Wilson. Oxford 2007. Aristophanes. Sämtliche Komödien. Übers. v. Ludwig Seeger, neubearb. v. Hans-Joachim Newiger. München 1976. Aristotelis ars rhetorica. Hrsg. v. William D. Ross. Oxford 1959. Aristoteles. Rhetorik. Übers. und erläutert v. Christof Rapp. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4,2. Berlin 2002. Aristote. Économique. Hrsg. v. André Wartelle u. Bernhard A. van Groningen. Les Belles Lettres. Paris 1968. Aristoteles. Oikonomika. Übers. und erläutert v. Renate Zoepffel. Werke in deutscher Übersetzung Bd. 10,2. Berlin 2006. Aristoteles. Oikonomika. In: Oikonomika. Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike. Hrsg. und übers. v. Gert Audring und Kai Brodersen. Texte zur Forschung. Darmstadt 2008. Aristotelis ethica Eudemia. Hrsg. v. Franz Susemihl. Bibliotheca Teubneriana. Leipzig 1884. Aristotelis ethica Nicomachea. Hrsg. v. Ingram Bywater. Oxford 1894. Aristoteles. Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übers. v. Olof Gigon, neu hrsg. v. Rainer Nickel. Sammlung Tusculum. Düsseldorf 22007. Aristoteles. Poetik. Griechisch-deutsch. Hrsg. und übers. v. Manfred Fuhrmann. Reclams Universalbibliothek. Stuttgart 22014. Aristotelis politica. Hrsg. v. William D. Ross. Oxford 1957.
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Register Stellenregister Claudius Aelianus var. 3.19: 128 7.9: 520 Agora I. 3183A, 244: 430 5656, 60 f.: 430 IL 1702: 424; 494 Agora XXI B 1: 452 B 2: 452 B 9: 452 Aineias Taktikos 10.12: 542 14.2: 220 29.6: 132 Aischines 1.18: 333 1.29: 557 1.77 f.: 72 1.97 f.: 430; 521 1.98: 430 1.101: 521 1.102: 373 1.103: 413 1.105: 521 1.123 f.: 326; 329 1.125: 120 1.173: 120 1.175: 120 3.180: 83
Aischines Socraticus (fr. Giannantoni) 91: 153 Aischylos Ag. 155: 182 606 f.: 336 1042–1045: 438 1042–1045: 77 Choeph. 503–509: 38 743–762: 274 755–757: 274 758–760: 274 Alexis (FGrH 539) F 2: 536 Alexis Comicus (fr. PCG) 15: 505 47: 530 77: 413 94: 77 110: 413 159: 528 167: 527 232: 526 248: 413 249: 528 260: 531 265: 531 Alkaios (fr. Lobel-Page) 360: 207 350: 563
Alkidamas Fragmente (Sauppe) 2: 264 Soph. 32: 128 Amphis (fr. PCG) 33: 460 Anaxandrides (fr. PCG) 18: 527 25: 393 42: 529 46: 413 Andokides 1.38: 430 1.40: 506 1.124–128: 153 1.133–136: 111 1.133–137: 130 1.137: 111; 414; 515 1.144: 61 1.144 f.: 414 1.146: 331; 431 1.146 f.: 38; 312 1.150: 101; 541 2.11: 111; 130; 414 2.20 f.: 111; 130; 414 Fragmente 3.2: 431 [Andokides] 4.5: 548 4.15: 541 4.41 f.: 541
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Stellenregister
Androtion (FGrH 324) F 75: 132 F 77–81: 132 Anonymus Iamblichi (DK 89) 2.5: 69 3.2–5: 69; 549 4.5: 69 17,1: 122 17,2: 519 Antiphanes (fr. PCG) 27: 413 166: 438 181: 528 188: 528–530 198: 393 202: 61; 460; 538 204: 529 223: 338; 520 233: 527 Antiphon 5.77: 541 6.11–14: 541 Redenfragmente B 1: 555 B 2: 555 C 1: 370; 407 Fragmente (DK 87) B 49: 85 B 54: 233; 519 Archedikos (fr. PCG) 2: 527 Archemachos (FGrH 424) F 1: 423; 434 Archestratos (fr. Olson-Sens) 11: 528 60: 527 Archilochos (fr. West) 130: 61 Archippos (fr. PCG) 31: 101
Aristomenes (fr. PCG) 11: 132 Aristophanes Ach. 31: 458 32–36: 509 300 f.: 431 719–928: 437, 509 942: 312 Av. 578–585: 498 592–602: 499 598: 400 599–602: 519 603–609: 499 717 f.: 356 793–796: 343 821–823: 531 1126: 531 1353–1357: 366 1693: 255 Eccl. 44: 431 210–240: 221; 342; 351 383–388: 90; 330 424–426: 107 441–454: 342 446–451: 539 597–600: 221 599 f.: 351 604–615: 527 1024–1025: 344 Equ. 2–5: 340 43–68: 340 129–144: 107; 285; 431 164–174: 285 316–321: 431 739: 431 740: 431 946–950: 340; 473 947–959: 520 1315: 431 Fragmente (PCG) 119: 329
Lys. 9–11: 342 35 f.: 342 195–197: 342 368 f.: 342 403–419: 342 411–419: 343 492–497: 221; 351 496: 221 1188–1215: 520 Nub. 9–37: 362 18–20: 473 21: 473 31: 473 41–52: 362 56–59: 363 61–64: 363 65–70: 363 92–118: 337 135: 363 874–876: 104 1065: 431 1286: 474 1287–1289: 474 Pax 119–123: 471; 528 190: 471 268–270: 431 282–284: 539 683–687: 338 686: 340 690: 431 795: 312 999–1015: 530 999–1250: 510 1127–1196: 436 1151: 312 1198–1264: 61 1240–1250: 470; 473 Plut. 26 f.: 433 27–51: 72 28–31: 208 32–38: 208 47: 208 87–142: 61
626 103–109: 208 160–167: 209 188–190: 208 218–226: 71 237 f.: 519 253–265: 71 254–265: 527 253–283: 427 283: 71; 527 287: 209 335–345: 506 335–385: 318 352–355: 318 350–385: 208 406–408: 209 509–534: 209 510–516: 209 510–534: 71 517–524: 209 527–530: 520 532–534: 71 535–548: 71 551–554: 71 551–571: 62 563–571: 77 676–681: 209 802–822: 438; 518; 527; 536 829–839: 549 842–847: 71 850–958: 209 976: 239 1171–1184: 209 1178 f.: 531 Ran. 168–179: 314 959–964: 313 959–970: 449 971–979: 313; 449 980–988: 343; 449 980–991: 45; 314 1053–1056: 313 1069–1073: 503 1153–1157: 314 1158 f.: 314; 539 1384–1388: 314
Register
Thesm. 154–170: 314 339 f.: 342 389–397: 341 389–428: 314 395–398: 343 398–417: 341 402: 312 414–428: 520 418–428: 342 446–458: 354 555–565: 342 558 f.: 312 568: 519 577–581: 506 733–759: 342 790–829: 342 836–845: 346 Vesp. 363 f.: 312 488–499: 528 656–664: 459 712: 408 1122–1175: 312 1174 f.: 312 1174–1187: 312 1174–1207: 180 1181 f.: 519 1188 f.: 409 1190–1196: 312 1197–1207: 312 1214 f.: 529 1309 f.: 77 Aristoteles cael. 1, 279 a 6–22: 297 eth. Eud. 1, 1215 a 26–b 5: 167 3, 1232 a 12 f.: 547 3, 1234 a 4–23: 157; 167 7, 1238 a 11–29: 61 7, 1238 b 15–39: 291 7, 1238 b 30 f.: 293 7, 1242 a 1–4: 373 7, 1244 b 3–11: 291
7, 1244 b 16 f.: 291 7, 1244 b 19 f.: 291 eth. Nic. 1, 1094 a 6–9: 196 1, 1096 a 6 f.: 205 1, 1097 a 28–b 6: 290 1, 1097 a 28–b 21: 204 1, 1097 b 6–21: 290 1, 1099 a 31–b 8: 540 3, 1112 b 1–4: 444 3, 1112 b 8 f.: 514 3, 1112 b 8–11: 444 3, 1112 b 24–29: 445 3, 1112 b 28 f.: 4, 1120 a 4 f.: 243 4, 1120 a 23–1121 a 7: 205 4, 1120 b 7–11: 539 4, 1120 b 11–14: 398 4, 1120 b 13–18: 84 4, 1121 b 15–17: 206 4, 1121 b 31–1122 a 3: 206 4, 1121 b 31–1122 a 4: 516 4, 1122 a 2: 547 4, 1122 a 10: 515 4, 1122 a 19–28: 532 4, 1122 a 22 f.: 68 4, 1122 a 23 f.: 532 4, 1122 a 24–28 b 6 f.: 68 4, 1122 a 29–34: 77 4, 1122 b 7 f.: 536 3, 1122 b 11–17: 445 4, 1122 b 19–23: 532 4, 1122 b 29: 75 4, 1122 b 29–33: 68 4, 1122 b 30: 68 4, 1122 b 35–1123 a 5: 68 4, 1122 b 35–1123 a 9: 532 4, 1123 a 6–9: 330 4, 1123 a 18–27: 77 4, 1123 a 22: 255 4, 1125 a 11 f.: 293 4, 1127 b 33–1128 b 9: 157; 167 5, 1130 b 25–1131 b 14: 252 5, 1131 a 3: 202 5, 1131 b 32–1132 a 6: 239 5, 1132 a 25–b 20: 118
Stellenregister
5, 1132 b 11–20: 511 5, 1132 b 21–1133 b 28: 239 5, 1132 b 31–33: 239 5, 1133 a 5–27: 511 5, 1133 a 12–19: 239 5, 1133 a 18–20: 240 5, 1133 a 19–24: 239 5, 1133 a 25–b 16: 240 5, 1133 a 30 f.: 204 5, 1133 b 21–23: 204 5, 1134 a 24–32: 291 5, 1134 a 26 f.: 204 6, 1140 a 25–27: 444 6, 1140 a 28–30: 444 6, 1144 a 23–28: 446 7, 1147 b 23–31: 241 7, 1147 b 26 f.: 241 8, 1155 a 3–12: 540 8, 1155 a 5–9: 240 8, 1155 a 32–35: 115 8, 1156 a 24–b 6: 390 8, 1156 b 26–28: 526 8, 1158 a 8: 241 8, 1158 a 27–30: 241 8, 1160 a 14–18: 377 8, 1160 a 19–30: 377 8, 1160 a 36–b 12: 291 8, 1160 b 33–1161 a 3: 354; 413 8, 1161 a 14 f.: 116 8, 1161 a 32–b 8: 263 8, 1161 b 30–36: 376 8, 1161 b 33–1162 a 16: 372 f. 8, 1162 a 3, 11: 40 8, 1163 a 9–21: 241 8, 1163 a 10–21: 533 8, 1163 a 16: 241 8, 1163 a 31 f.: 356 8, 1163 b 12–28: 366 8, 1163 b 13–18: 117 9, 1164 b 27–1165 a 2: 117 9, 1169 b 3–10: 291 9, 1171 b 18–26: 242 9, 1171 b 22–25: 241 10, 1176 a 36–b 16: 290 10, 1177 a 12–b 26: 290 10, 1178 a 12: 241
10, 1178 b 33–35: 292 10, 1179 a 1–22: 292 10, 1179 a 16–22: 292 10, 1180 a 27–29: 170 10, 1181 b 5 f.: 243 Fragmente (Rose3) 53: 351 140: 128 586: 421 640: 170 hist. an. 609 b 28 f.: 312 met. 1, 981 a 2–4: 164 1, 981 a 12–17: 165 1, 981 a 24–b 2: 165; 261 1, 981 b 13–17: 165 1, 981 b 17–25: 165 1, 981 b 30–982 a 3: 165 1, 982 a 17–19: 165 1, 982 a 20–b 28: 165 phys. 2, 194 a 34–195 b 30: 115 2, 196 a 1–197 a 19: 116 poet. 1451 b 5–11: 170 1453 a 17–22: 45; 312 1455 a 8 f.: 170 1455 b 29 f.: 170 pol. 1, 1252 a 7–9: 193 1, 1252 a 1–7: 194 1, 1252 a 14–16: 213 1, 1252 a 18–21: 164 1, 1252 a 18–34: 194 1, 1252 a 35–b 5: 238 1, 1252 b 7 f.: 168 1, 1252 b 7–9: 262 1, 1252 b 9: 168 1, 1252 b 9–16: 194 1, 1252 b 9–1253 a 1: 294 1, 1252 b 10: 294 1, 1252 b 10–15: 168 1, 1252 b 14 f.: 526 1, 1252 b 15–27: 204 1, 1252 b 16: 294 1, 1252 b 19–23: 168
627 1, 1252 b 22 f.: 170 1, 1252 b 27–30: 194; 294 1, 1253 a 1–5: 168 1, 1253 a 25–29: 294 1, 1253 a 26–28: 291; 297 1, 1253 b 4: 239; 416 1, 1253 b 5–9: 255 1, 1253 b 6 f.: 170 1, 1253 b 14–17: 256 1, 1253 b 15 f.: 194 1, 1253 b 16: 241 1, 1253 b 18–20: 256 1, 1253 b 20–22: 256 1, 1253 b 23–25: 256 f. 1, 1253 b 23–33: 194 1, 1253 b 25: 260 1, 1253 b 25–27: 257 1, 1253 b 27–30: 257 1, 1253 b 27–1254 a 1: 168 1, 1253 b 30–33: 257 1, 1253 b 33–1254 a 1: 257; 261 1, 1254 a 1–8: 258 1, 1254 a 11–26: 261 1, 1254 a 24–b 13: 255 1, 1254 a 36 f.: 168 1, 1254 b 27–32: 243 1, 1254 b 27–39: 262 1, 1255 a 1 f.: 262 1, 1255 a 1–4: 169 1, 1255 a 5–28: 262 1, 1255 a 28–b 4: 262 1, 1255 b: 258 f. 1, 1255 b 12–14: 262 1, 1255 b 20–33: 258 1, 1255 b 22–30: 259 1, 1255 b 23–25: 424 1, 1255 b 30–37: 166 1, 1255 b 33–37: 258 1, 1255 b 35–37: 340 1, 1255 b 35–39: 259 1, 1255 b 40–1256 a 10: 195 1, 1256 a 1–2: 195 1, 1256 a 10–16: 195 1, 1256 a 13 f.: 195 1, 1256 a 15–b 25: 199 1, 1256 a 19–30: 294
628 1, 1256 a 40–b 26: 293 1, 1256 a 40–b 39: 259 1, 1256 b 15–20: 293 1, 1256 b 25–37: 198 1, 1256 b 26–30: 293 1, 1256 b 26–39: 296 1, 1256 b 30–33: 169 1, 1256 b 39–1257 a 2: 195 1, 1256 b 40–1257 a 2: 200 1, 1257 a 4–5: 166 1, 1257 a 6–13: 237 1, 1257 a 6–16: 200 1, 1257 a 13–b 29: 199 1, 1257 a 14–26: 238 1, 1257 a 28–31: 200 1, 1257 a 36 f.: 240; 243 1, 1257 a 41–b 10: 201 1, 1257 b 3–4: 166 1, 1257 b 7 f.: 201 1, 1257 b 8–10: 196 1, 1257 b 10–13: 201 1, 1257 b 14–17: 201 1, 1257 b 26–28: 204 1, 1257 b 28: 199 1, 1257 b 28–30: 295 1, 1257 b 34–40: 196 1, 1257 b 40–1258 a 10: 245 1, 1258 a 2 f.: 202 1, 1258 a 10–14: 204 1, 1258 a 14–16: 203 1, 1258 a 31–34: 204 1, 1258 a 35–38: 259: 293 1, 1258 a 37–1260 b 20: 255 1, 1258 b 7 f.: 202 1, 1258 b 9 f.: 236 1, 1258 b 9–11: 166 1, 1258 b 12–16: 171; 236 1, 1258 b 12–20: 133 1, 1258 b 23–25: 171 1, 1258 b 25: 202 1, 1252 b 27–29: 203 1, 1258 b 30: 236 1, 1258 b 33–35: 167 1, 1258 b 34 f.: 132; 171 1, 1258 b 35–39: 212 1, 1258 b 39–1259 a 3: 132; 171
Register
1, 1259 a 3–5: 131 1, 1259 a 3–6: 171 1, 1259 a 4–18: 393 1, 1259 a 5–23: 172 1, 1259 a 14–21: 172 1, 1259 a 14–33: 510 1, 1259 a 23–33: 173 1, 1259 a 33–36: 218 1, 1259 a 34 f.: 223 1, 1259 a 34–36: 205 1, 1259 a 38: 255 1, 1259 b 12–14: 168 1, 1259 b 18 f.: 255 1, 1259 b 27–1260 b 19: 195 1, 1259 b 29–1260 a 29: 215 1, 1260 a 28–31: 168 1, 1260 a 32–b 6: 261 1, 1260 a 33–b 7: 263 1, 1260 a 39–b 2: 259 1, 1260 b 4–6: 426 1, 1260 b 12–17: 195 2, 1261 a 22–b 6: 213 2, 1261 b 11 f.: 295 2, 1264 a 1–5: 208 2, 1264 b 1–6: 197 2, 1265 b 24–26: 197 2, 1266 a 37–1267 b 21: 88 2, 1266 b 37–1267 a 8: 76 2, 1267 a 37–41: 76 2, 1267 b 16–21: 88 2, 1267 b 23–28: 128 2, 1268 b 34–1269 a 8: 208 2, 1268 b 38–1269 a 2: 203 2, 1269 a 34–b 12: 88 2, 1272 a 12–21: 64 2, 1274 a 18–21: 42 3, 1275 b 20 f.: 295 3, 1277 a 33–37: 260 3, 1277 b 20–25: 197 3, 1278 a 6–8: 557 3, 1278 a 21–25: 75; 557 3, 1278 a 25 f.: 557 3, 1278 a 26 f.: 330 3, 1278 b 16–30: 294 3, 1278 b 17–19: 197 3, 1278 b 30–40: 197 3, 1278 b 34–37: 425
3, 1278 b 37 f.: 34; 333 3, 1284 b 35–1288 a 32: 291 4, 1289 b 34–40: 362 4, 1290 b 14–19: 294 4, 1290 b 38–1291 b 13: 294 4, 1291 a 4–6: 201 4, 1291 a 16: 201 4, 1291 a 33–38: 64 4, 1291 b 24: 75 4, 1295 b 2–1296 a 21: 292 4, 1297 b 1–12: 410 5, 1302 a 32–34: 555 5, 1302 a 38–b 2: 76 5, 1302 b 23 f.: 64 5, 1303 a 1–10: 75 5, 1303 a 28–b 2: 72 5, 1304 a 14: 255 5, 1305 a 2–7: 64 5, 1306 a 34: 255 5, 1308 b 31–33: 220 5, 1308 b 31–1309 a 9: 410 5, 1308 b 31–1309 a 24: 82 5, 1309 a 14–21: 83 5, 1309 a 17–20: 64 5, 1314 a 40–b 18: 196; 220 5, 1314 b 14 f.: 196 6, 1320 a 17–36: 83 6, 1320 a 17–b 11: 122; 205 6, 1320 a 31 f.: 141 6, 1320 a 32–b 11: 141 6, 1320 b 9–14: 82 6, 1321 a 26–31: 330 6, 1321 a 26–32: 557 6, 1321 a 32–35: 64 6, 1321 b 13–18: 295 6, 1321 b 16: 241 6, 1322 a 34: 241 6, 1323 a 5: 351; 408 7, 1323 a 24–38: 244 7, 1323 a 38–b 12: 244 7, 1325 a 23–3: 263 7, 1325 a 25–27: 258 7, 1325 b 40–1326 a 3: 239 7, 1325 b 40–1326 a 5: 115 7, 1326 a 14 f.: 297 7, 1326 a 25–b 11: 295 6, 1326 a 31–33: 508
Stellenregister
6, 1326 a 35–b 25: 508 7, 1326 b 11–25: 296 7, 1326 b 26–1327 a 10: 296 7, 1327 a 28–30: 296 7, 1327 a 11–13: 296 7, 1327 a 13–31: 296 7, 1327 b 11 f.: 428 7, 1327 b 11–16: 409; 503 7, 1328 b 11: 241 7, 1328 b 33–1329 a 1: 88 7, 1328 b 37–1329 a 2: 212 7, 1329 a 2–26: 88 7, 1329 a 19–21: 212 7, 1329 a 34–38: 212 7, 1329 b 27: 241 7, 1330 a 11–13: 64 7, 1330 a 23–33: 88 7, 1330 a 32 f.: 263 7, 1330 b 14–17: 243 7, 1331 a 13: 241 7, 1331 a 30–b 4: 88 7, 1331 a 32–35: 330 7, 1334 b 32: 255 7, 1335 b 41: 170 8, 1338 a 15–17: 460 8, 1340 a 2: 243 8, 1343 b 3 f.: 243 rhet. 1, 1376 b 11–14: 243 1, 1354 b 31–1355 a 1: 321 1, 1355 b 2: 241 1, 1355 b 26–36: 337 1, 1356 b 4–11: 115 1, 1357 a 7–19: 115 1, 1359 a 11–13: 174 1, 1359 b 19–32: 218 1, 1360 b 14–31: 292 f. 1, 1361 a 12–14: 196 1, 1361 a 12–19: 480 1, 1361 a 13–25: 205; 235 1, 1361 a 16–19: 167 1, 1361 a 21 f.: 496 1, 1362 a 21–29: 290 1, 1362 b 10–12: 290 1, 1363 a 19: 496 1, 1364 a 5–9: 290 1, 1364 b 7 f.: 165
1, 1365 a 33: 241 1, 1372 a 36–b 1: 315 1, 1373 a 7–9: 335 1, 1375 b 4 f.: 118 1, 1375 b 26–1376 a 16: 170 2, 1381 a 19–24: 336 2, 1382 b 4 f.: 206 2, 1383 b 19 f.: 206 2, 1384 b 9–11: 320 2, 1384 b 30 f.: 241 2, 1385 a 29–33: 241 2, 1386 b 8–11: 77 2, 1387 a 13–23: 77 2, 1389 a 3–1390 a 27: 390 2, 1390 b 32–17: 77 2, 1394 a 5–8: 179 2, 1395 a 2–6: 136 2, 1397 b 3–6: 170 2, 1398 b 6: 170 2, 1399 a 8–10: 170 2, 1399 a 30–32: 127 2, 1399 b 1–4: 170 2, 1399 b 29 f.: 170 2, 1400 a 27–30: 170 2, 1401 a 36–38: 170 2, 1401 b 34–1402 a 1: 344 3, 1403 b 36 f.: 167 top. 3, 118 a 6–13: 211 3, 118 b 10–19: 244; 429 [Aristoteles] Ath. pol. 6.2: 318 28.1–4: 74 40.5: 72 48.3 f.: 458 52.2: 321; 356 54.2: 458 56: 549 56.6: 374 56.7: 333 oec. 1, 1343 a 1–4: 213 1, 1343 a 5 f.: 214 1, 1343 a 11: 273 1, 1343 a 15 f.: 214
629 1, 1343 a 18: 214; 333 1, 1343 a 20–23: 215 1, 1343 a 25: 215 1, 1343 a 26–30: 215 1, 1343 a 28: 215 1, 1343 a 30–b 1: 215 1, 1343 b 18–22: 215 1, 1344 a 23–b 21: 215 1, 1344 a 28 f.: 267 1, 1344 a 29–34: 267 1, 1344 b 2–4: 425 1, 1344 b 3 f.: 267 1, 1344 b 4–21: 268 1, 1344 b 10 f.: 425 1, 1344 b 22–27: 214 1, 1344 b 23–25: 141 1, 1344 b 28 f.: 480 1, 1344 b 29: 521 1, 1344 b 31 f.: 519 1, 1344 b 31–33: 216 1, 1344 b 35–1345 a 1: 216; 334 1, 1345 a 1–5: 140; 152; 334 1, 1345 a 3 f.: 216 1, 1345 a 5–11: 448 1, 1345 a 8–11: 216 1, 1345 a 12–16: 448 1, 1345 a 24–32: 216 2, 1345 b 7–10: 219 2, 1345 b 14–16: 222 2, 1345 b 16 f.: 222 2, 1345 b 20–1346 a 16: 223 2, 1346 a 7–13: 219 2, 1346 a 15 f.: 480 2, 1346 a 26–31: 174 2, 1346 b 13: 173 2, 1346 b 24–26: 175 2, 1346 b 29–33: 411 2, 1346 b 30: 173 2, 1347 a 1–3: 175 f.; 521 2, 1347 a 18: 176 2, 1347 a 25: 176 2, 1347 b 4: 176 2, 1347 b 4–9: 175 2, 1347 b 16: 176 2, 1348 a 11: 176 2, 1348 a 35 f.: 176
630 2, 1348 b 17 f.: 176 2, 1348 b 22–32: 175 2, 1348 b 33: 176 2, 1349 a 9: 176 2, 1349 a 25: 176 2, 1349 a 32 f.: 176 2, 1349 b 1: 176 2, 1349 b 14: 176 2, 1349 b 18–27: 316; 522 2, 1350 a 9: 176 2, 1350 a 12: 176 2, 1350 a; 23 f.: 176 2, 1350 b 34: 176 2, 1351 b 1 f.: 176 2, 1351 b 6: 176 2, 1351 b 20 f.: 176 2, 1351 b 36 f.: 176 2, 1352 b 4–13: 507 3: 212 probl. 916 b 36–917 a 2: 446 950 a 28: 544 950 a 29–31: 544 Athenaios 4.159c: 458 4.165d–168b: 413 5.220a–c: 129 6.241d: 529 6.263b–271 f.: 421 6.272b–d: 420 8.336d–f: 322 9.402a: 528 10.425a: 562 11.499c: 526 13.596b: 562 Att. Stelen 2, 177: 546 2, 311–314: 546 4, 19–22: 546 6, 18–27: 430 6, 18–46: 521 6, 33–46: 430 6, 55 f.: 546 6, 63–73: 521 6.133: 546 7, 78: 546
Register
Cato agr. 2.7: 131 Cicero Cat. 22: 393 de orat. 2.58: 129 off. 1.151: 130 Chrysippos von Soloi (fr. SVF III) 2: 528 CID II 31, 68–70: 467 31, 80–107: 467 32, 1–14: 467 34, 16–18: 467 4: 462 9: 462 31: 462 31, 2: 467 31, 10: 467 31, 20: 467 31, 30: 468 31, 37–70: 467 31, 68–70: 468 31, 82: 467 31, 90: 467 31–32: 462; 467 32, 39–41: 468 34: 465; 467 34, 8: 465 34, 11 f.: 467 34, 13–16: 468 91 f.: 462 92: 462 105: 462 Columella 1.33: 132 11.3,2: 133 Damon (FGrH 389) F 1: 407
Deinarchos 1.21: 548 1.43: 413 1.58: 359 1.70: 112; 316; 539 1.97: 220 1.108: 548 3.6: 548 Demetrios (fr. Fortenbaugh-Schütrumpf) 87: 139 Demokrit (fr. DK 68) B 0 c: 393 B 78: 233 B 176: 61; 275 B 209: 276 B 210: 275 B 219: 226 B 228: 414 B 229: 139; 536 B 246: 276 B 253: 85; 334; 516 B 255: 122 B 270: 238; 428 B 275–278: 361 B 279: 134; 384; 393 B 283: 226 Demosthenes 3.14–15: 277 3.24–31: 330; 530 4.46: 436 14.16: 374 15.10: 516 18.51: 408 18.127–131: 113; 366 18.227: 458 18.257: 386 18.257–265: 113; 366 18.295: 548 19.28: 548 19.199–201: 113; 366 19.249: 366 19.314: 77 19.340: 277 20.5: 535
Stellenregister
20.10: 516; 535 20.10–17: 83 20.13: 535 20.17: 535 20.21–86: 535 20.30–33: 535 20.57: 358 20.104: 535 20.108: 535 21.22: 531 21.61–67: 83 21.62 f.: 541 21.138–140: 541 21.151: 541 21.151–159: 532 21.158: 530 f. 21.158 f.: 330; 530 21.159: 438 21.215: 111 22.65: 335 22.75: 530 23.154: 436 23.201: 548 23.207 f.: 330 23.210–213: 72 24.11: 110 24.127: 373 24.157–159: 541 24.195: 40; 548 24.202 f.: 356 24.208 f.: 110 24.215: 110 25.78: 532 27.4: 372; 386; 523; 549 27.7: 483 27.9: 483 27.9–11: 430; 521 27.10 f.: 328; 484 27.11: 372 27.13: 328 27.13–16: 483 27.16: 386 27.17: 356; 488 27.18: 486 27.19: 430; 486 27.19–21: 339; 485 f. 27.19–22: 490
27.20: 423; 431 27.20–22: 486 27.23: 487 27.24: 356; 487 27.31: 486 27.32 f.: 484 27.33: 430; 521 27.36: 466 27.34–37: 488 27.38: 487; 548 27.40: 348; 482 27.42–44: 482; 523 27.45: 386 27 46: 548 27.49: 482 27.49 f.: 481 27.50: 489 27.53: 481; 483 27.58: 320 27.59: 480–482; 487 27.60–69: 482 27.63: 482 28.3: 316 28.5: 482 28.5 f.: 482 28.10: 482 28.11: 357; 523 28.11–13: 316; 423 28.12: 486 28.14: 482; 523 28.15: 372; 386; 544 28.19: 386 28.44: 316 28.56: 372 29: 358; 482 29.3: 358 29.4: 548 29.21: 494 29.30: 358; 487 29.31: 358 29.36: 483 29.48: 357; 548 30.12: 358 30.12 f.: 544 31.11: 515 32.18: 380 32.31: 40
631 32.31 f.: 372; 541 36.4–6: 388 36.5: 521 36.7 f.: 385; 388 36.8: 374; 388 36.8 f.: 490 36.9: 388 36.11: 388; 430; 515 36.11–14: 388 36.12–14; 388 36.14: 349 36.18: 494 36.20: 388 36.28: 388 36.28–31: 349; 430 36.29: 349 36.34: 373 36.34 f.: 388 36.36: 459; 475 36.36 f.: 388 36.39: 388 36.39–41: 488; 539 36.41: 388; 541 36.44: 542; 544 36.45: 77; 413; 438 36.50: 521 36.53: 388 36.57–59: 233 37.4–17: 501 37.7–17: 507 37.11–17: 506 37.15: 499 37.25 f.: 339 f.; 430; 501 37.50 f.: 333 37.52–54: 501; 512 37.54: 515 38.6 f.: 348 38.7: 316; 329; 378; 496; 521 39.25: 188 39.33: 366 39.34: 373 41.3 f.: 357; 490 41.4: 370; 478 41.5: 356 41.8–10: 459 41.8–11: 316 41.9: 345; 494
632 48.8: 516 51: 537 51.5: 548 51.7: 536; 538; 548 57: 72 57.10: 408 57.35: 352 57.45: 352; 408; 512 ep. 1.6: 277 Ex. 33.3: 277 60.14: 277 [Demosthenes] 33.4: 398; 515; 517 34.8: 454 33.15 f.: 430 34: 333; 378; 396 34.8: 430; 494; 507 34.13: 506; 544 34.21: 40 34.28: 454; 507; 515 34.28–31: 544 34.30: 320 34.38 f.: 541 34.38–40: 542 34.52: 230 35.6–9: 379; 506 f. 35.7: 544 35.15 f.: 337 35.15–17: 379 35.32: 471 35.34: 471 35.40: 120 35.40–42: 337; 379; 446 35.44: 385 40.47: 365 40.52: 369 42.7: 493 42.20: 493 42.22: 83; 539 43.12: 38 43.19: 383 43.20: 384 43.69 f.: 497 43.70: 317
Register
43.74: 39 43.75: 38 44.3: 541 44.9 f.: 374 44.15: 38; 541 44.19: 374 44.22 f.: 374 44.28: 541 44.43: 38 45.2: 548 45.3–5: 389 45.13: 388 45.28–33: 388 45.30: 388 45.32 f.: 338 f.; 430 45.37: 388 45.39: 350; 388 45.63–70: 499 45.64: 40 45.67: 548 45.71 f.: 424; 494 45.74: 350 45.75: 350 45.83 f.: 388 45.85: 430 47.34 f.: 385 48.1: 40 48.3: 40 48.9–11: 322; 358; 379 48.12: 316; 388 48.12 f.: 328; 521 48.14 f.: 339; 430 48.14–18: 338; 340; 431 f. 48.25–27: 433 48.28: 322; 358 49: 459; 475 49.5: 465; 468 49.22–24: 536 49.43 f.: 481 49.59–64: 468 49.67: 548 49.68: 544 50: 388; 537 50.7: 503 50.12: 503 50.17: 411 50.25: 491
50.30: 491 50.35: 503 50.56: 534; 544 50.60 f.: 350 52: 475 52.5: 548 52.3: 465; 544 52.3 f.: 465; 468 52.4: 465 52.7: 468 52.8: 439 52.9: 110 52.14 f.: 111 52.20 f.: 378; 515 52.30: 110 f. 52.25: 110 52.28: 110 53.1: 541 53.4: 338; 388 53.10: 378 53.20 f.: 333; 423 56.8–10: 454; 507 59.22: 387 59.22–33: 407 59.24–48: 432 59.30: 407 59.35: 357 59.64: 548 59.104–106: 72 59.122: 332 Diodor 1.74,7: 504 12.15: 523 13.83,1: 526 13.83,1–3: 519 13.84: 532 13.84,1–3: 529 14.41,6: 328 14.41–43: 61 14.85,3: 409 Diogenes Laertios 1.37–97: 139 1.59: 208 1.86: 208 1.97: 208 1.105: 57
633
Stellenregister
2.56: 129 2.62: 103 3.3: 112 3.41–43: 112; 475 3.43: 475 4.4: 143 4.11 f.: 143 4.38: 536 5: 128 5.13: 112 5.14: 546 5.14–16: 263 5.15: 252 5.22: 164 5.36: 112 5.47: 143 6.2: 143 6.5–12: 143 6.16: 143 6.20 f.: 114 6.56: 114 6.67: 100; 114; 366 6.68: 366; 424 6.70: 367 6.78 f.: 100; 114; 366 6.80: 143 6.82: 114; 430 7.1: 401 7.1–3: 399 7.2: 399 7.4 f.: 399 7.6: 399 7.10–12: 399 7.12: 401 7.13: 399 7.28: 399 7.31 f.: 399 7.32–33: 89 9.35 f.: 393 9.48: 133; 297 10.24: 144 Dion Chrysostomos 74.9: 344 Dionysios Comicus (fr. PCG) 2: 530
Dionysios von Halikarnassos ant. 2.17: 72 2.26: 333 3.46: 75 Isoc. 1: 100 Diphilos (fr. PCG) 17: 407; 411; 526; 530 31: 394; 530 42: 531 61: 529 67: 528 DTA 87: 71 DVC 8B: 516 24: 99 24A: 438 25A: 99; 438 26B: 438 31A: 549 95A: 516 123: 315 160A: 516 167A: 400 202A: 516 272A: 231 302B: 400 313A: 62; 231 327: 516 336A: 183 479B: 231 527A: 231 572B: 183 576B: 368 772A: 516 795A: 516 925B: 516 995A: 516 1005A: 400 1014B: 516 1025A+: 516 1083A: 516
1138B: 183 1196B: 432 1214B: 432 1215B: 368 1239A: 368 1369B: 500 1394: 368 1411: 434 1450B: 432 1574B: 500 1675: 432 1687A: 400 1758B: 516 1782B: 400; 516 1864A: 432 1887B: 516 1933A: 432 2008: 231 2028A: 516 2039A: 516 2077B: 368 2102: 368 2114A: 368; 438 2153A: 516 2169A: 328; 438 2171B: 231 2173A: 516 2198A: 516 2279A: 516 2319A: 516 2367: 500 2401: 516 2440: 516 2510: 231 2609A: 231 2617A: 516 2650B: 516 2749A: 516 2751B: 516 2760B: 516 2768B: 231 2809A: 500 2810A: 400 2886A: 516 2969A: 516 2988B: 516 3014B: 432
634 3030A: 231 3059A: 516 3067B: 183 3128: 231 3111: 438 3116A: 432 3147B: 368 3196A: 516 3213A: 516 3214A: 400 3235A: 432 3251A: 516 3276B: 432 3278A: 516 3287B: 516 3320A: 546 3426A: 516 3440A: 516 3453B: 368 3472A: 438 3473A: 432 3688A: 516 3690B: 432 3700B: 432 3761B: 516 3765A: 516 3891A: 516 3999B: 432 4010A: 432 4048A: 368 Ephippos (fr. PCG) 3: 529 15: 527 Ephoros (FGrH 70) F 42: 188 F 117: 422 Epikur Ep. fr. 58: 278 122: 278 Ep. Men. 130–131: 278 Sent. Vat. 44: 278 45: 278
Register
Epimenides (FGrH 457) F 2: 168 F 20: 169 Eubulos (fr. PCG) 18: 527 72: 526; 531 130: 527 Eupolis (fr. PCG) 157: 120; 529 158: 120 161: 312; 470; 529 162: 470; 529 174: 529 194: 104 208: 104 Euripides Fragmente (Nauck) 29: 274 578: 451; 454; 460 Hipp. 155–160: 506 420–423: 361 462–466: 319 466: 319 628–633: 357 634–637: 358 636–667: 342 785: 517 1102–1110: 61 Iph. A. 1400: 168 Med. 232 f.: 356 239 f.: 134 807–810: 546 1029–1037: 361 1090–1115: 361 Or. 917–922: 336 Suppl. 238–245: 336 Εuangelos (fr. PCG) 1: 529
F. Delphes III 1, 294: 557 1, 294, sp. 3, 5–9: 344 4, 453: 383 Gorgias (fr. DK 82) B 20: 233 Harpokration s. v. ἀποστασίου: 321 s. v. Μετοίκιον: 80 s. v. ὀβολοστατοῖ: 202 Hegemon fr. Brandt: 394 Heliodor (FGrH 373) F 6: 110 Herakleides Pontikos (fr. Schütrumpf) 39: 528 42: 316; 318 44: 77 Hermippos (fr. PCG) 29: 539 63: 132; 285; 527 Herodas 6.1–8: 470 Herodot 1.30–32: 272 1.32 f.: 280 1.32,4: 61 1.32,5–7: 281 1.32,8 f.: 281 1.153: 57 1.165,1: 75 1.187,5: 547 2.135: 562 2.167: 75; 504 3.104,2: 57 3.125,1: 392 3.129–137: 392 3.137,5: 392 5.29,2: 126; 249 6.121,2: 318 6.125: 318 6.125, 5: 362
635
Stellenregister
7.158,2: 230 7.223,1: 57 7.237,2 f.: 315; 507 Hesiod erg. 10–26: 136 11–26: 135 192–194: 135 195 f.: 135 213: 136 274: 136 286: 136 295–319: 135 298–302: 527 312–316: 527 313–326: 207 320–341: 135 341: 135 342–360: 135 371: 135; 490 375: 136 396: 136 403 f.: 527 405: 169 406: 169 423–436: 135 474–476: 527 496 f.: 527 588–592: 530 588–596: 527 618–694: 563 633: 136 646–649: 527 722 f.: 536 theog. 594 f.: 152 Hipponax (fr. West) 26: 527 f. 36: 207 Corpus Hippocraticum Acut. 1: 279 5: 279 Aff. 47: 279 50: 279
Art. 40: 279 De prisc. med. 4.1: 125 Epid. 3.3,17: 298 Jusj. passim: 368 Liqu. 5: 279 Vict. 1.2: 279 1.3: 280 Homer Il. 1.544: 168 3.121–128: 561 3.421–425: 561 4.451: 394 9.63: 168 15.496–499: 561 17.220–226: 561 19.321–339: 561; 563 21.441–457: 436 21.587–589: 561 22.46–53: 561 22.440–444: 561 Od. 1.356–359: 561 2.15–23: 562 2.101: 394 4.601–608: 59 4.742–754: 563 7.103–111: 561 8.137: 436 9.34–36: 561 9.114 f.: 168 10.60–61: 561 11.430–432: 561; 563 14.449–456: 563 15.40–483: 563 17.93–97: 561 17.249 f.: 563 17.418–444: 61 18.130–142: 61 18.313–316: 561; 563
19.146: 394 19.154–161: 561 19.513–516: 561 19.513–534: 561 19.525–527: 563 20.382 f.: 563 22.395 f.: 563 24.136: 394 24.205–212: 563 Hypereides 1.1 f.: 423 1.4–7: 529 3: 333; 345 4.21: 506 4.37: 535 5.17: 112 5.19: 491 Fragmente ( Jensen) 57: 390 137: 331 134–137: 388 144: 255 183: 413 223: 548 Gegen Timandros 3: 37 4: 39 I. Cret. IV 72, sp. 2, 47–50: 355 72, sp. 4, 27 f.: 383 72, sp. 5, 28–32: 375 I. Délos 17: 383 98: 466 290–291: 345 354: 345 362: 345 370–372: 345 399: 345 406–407: 345 442–443: 345 455: 345 458: 345 460: 345 1415: 345
636 I. dial. Olbia Pont 15: 371 15, 5 f.: 371 15, 7–12: 371 15, 13: 371 23: 454 24, 9: 454 25: 453 49: 452 I. Didyma 1: 382 7: 383 I. Eleusis 159: 463 177: 463 I. Ephesos 4a: 557 4a, 74–77: 521 4a, 88–94: 521 I. Kalchedon 16: 116 I. Lindos 2, B 101–108: 382 2, C, 15–18: 382 18: 382 22: 382 27: 382 29: 382 30: 382 31: 382 33: 382 41: 382 43: 382 47: 382 48: 382 51: 375 f. 52: 382 53: 382 54: 382 66: 382 67: 382 71: 382
Register
I. Olbia 3: 371 4: 371 5: 371 5, 9–14: 371 6: 371 7, 7–12: 371 8: 371 9: 371 14: 371 15: 371 Idomeneus (FGrH 338) F 14: 396 Inscriptiones Graecae I3 52, 7–9: 474 I3 52, 11–13: 469 I3 61: 411 I3 370: 463 I3 375: 463 I3 386–390: 464 I3 420–430: 324 I3 421–430: 464 I3 435: 462 I3 436–440: 462 I3 475: 463 I3 475–477: 462 I3 476, 46–53: 466 I3 476, 55–57: 465 I3 476, 183–188: 464; 466 I3 476, 188–280: 464; 466 I3 266–269: 464 I3 696: 382 I3 718: 382 I3 731: 382 I3 783: 382 I3 1453: 116 II2 32: 545 II2 1157A, 501: 430 II2 1421: 464 II2 1423: 464 II2 1425: 464 II2 1428–1432: 464 II2 1436: 464 II2 1437: 464 II2 1496: 464 II2 1553–1578: 324
II2 1553, sp. 1: 324 II2 1559A, 148 f.: 430 II2 1566: 430 II2 1567: 353 II2 1570, sp. 2 und 3: 353 II2 1576a, Seite B, sp. 1: 353 II2 1576b, sp. 1: 353 II2 1576b, sp. 2: 353 II2 1579: 464 II2 1582: 464 II2 1611–1631: 464 II2 1672: 470 II2 1673, 60–62: 470 II2 2492, 1–4: 369 II2 4334: 354 II3 302: 545 II3 363: 545 II3 367: 545 II3 399, 9–17: 402 II3 401: 545 II3 550, 15: 413 IV2 1, 103: 462 f. IV2 1, 104+: 463 IV2 1, 112: 467 XI 2, 156: 344 XI 2, 158: 344 XI 2, 161, A, 89: 463 XI 2, 161–162: 345 XI 2, 287: 345 XI 4, 1038: 545 XII 1, 750+: 545 XII 1, 764: 344 XII 4, 1,8: 545 XII 5, 872 passim: 344 XII 7, 55: 345 XII 7, 412: 344 f. XII 9, 210, 21–26: 545 Inst. Iust. 3.25: 489 Isaios 1: 40 1.2: 40 1.8: 548 1.12: 37; 134 1.28: 37; 134 1.31 f.: 527
637
Stellenregister
1.39: 39; 357 2.3–6: 404 2.6–9: 404 2.7–12: 404 2.9: 357 2.10: 365 2.13–17: 38 2.28: 378; 387 2.28 f.: 373 f. 2.29: 40; 373 2.33: 40 3.13: 317 3.35: 356 3.79 f.: 529 3.80: 539 4.7: 404 4.7–10: 379 4.21 f.: 379; 516 4.22: 515 5.36: 538 5.39: 499 5.41: 466; 488 6.18–21: 330 6.19 f.: 439 6.20: 438 6.20 f.: 439 6.33: 430 6.33 f.: 521 6.38: 369; 488; 539 7.30: 38; 365 7.38: 537 8.8: 107 8.9–13: 429 8.18: 529 8.32: 366 8.35: 430; 521 9.7: 365; 404 9.14: 404 9.17 f.: 373 9.28: 492 10.10: 344 11.2: 372 11.11: 372 11.39: 489 11.41–44: 521 11.42: 329
11.47: 316 11.48 f.: 404 Fragmente (Thalheim) 1: 533; 539 2: 487; 489 18: 316; 433; 544 19: 433 34: 541 Isokrates 1.2: 39 1.27 f.: 233 1.29: 540 1.34: 315 4.42: 282 4.76: 310 7.15: 506 7.31–35: 122 7.43–45: 410 7.45: 362 7.49: 366 7.74: 57 8.20: 538 8.26: 334 8.28: 334 8.31 f.: 535 8.88: 74 8.88 f.: 72 8.124–126: 471 9.74–76: 128 11.41–43: 316 12.145: 118; 249 12.204: 444 14.48: 365; 509 15.2 f.: 128 15.37 f.: 128; 330 15.93 f.: 110 15.124: 118; 249 16.34: 531 16.35: 541 17: 549 17.1: 544 17.2: 541; 544 17.3: 40 17.3 f.: 371 17.5–7: 316 17.8: 549
17.8–10: 499 17.9: 111 17.11: 430; 439 17.12: 340 17.45: 111 17.51 f.: 340 17.55: 430 17.57 f.: 371 18.23: 101 18.35: 530 19.5–10: 391 19.7: 391; 407 19.10 f.: 39 19.10–12: 392 19.18–27: 392 21.2: 316 21.2 f.: 329; 549 21.3: 499 21.20: 499 Klearchos von Soloi (fr. Wehrli) 54: 530; 532 78: 124 Kratinos (fr. PCG) 171, 68 f.: 77 209: 431 223: 77 365: 153 Kritias DK 88 fr. B 44: 128 FGrH 338a F 1a: 182; 283; 527 F 4: 284 F 8: 284 F 10: 284 F 11a–c: 284 F 12a–b: 284; 527 F 16: 284 Lexeis rhetorikai s. v. Τίνες ποίων δικαστηρίων εἴχον τὴν ἡγεμονίαν: 333
638 Lexica Segueriana (= Bekker, Anecdota Graeca 1) 5: 333; 436 Lhôte 80: 231 84: 231 86: 501 88: 438; 501 89: 231; 504 94: 400 95: 400 105: 500 116: 99; 500 117: 231 Lykurg 16 f.: 358 18: 506 19: 317 20: 541 21–24: 359, 521 22: 430 22 f.: 358 22–24: 316 37–41: 72 50 f.: 310 55–58: 414 57 f.: 358 76–108: 359 139 f.: 310; 530 Lysias 1.6 f.: 332 1.6–15: 342 1.7: 182 6.19: 111; 414 6.48 f.: 111; 414 7.2: 497 7.4–10: 496 7.6: 497 7.11: 335; 496 7.12: 315; 446 7.12 f.: 445; 515 7.12–14: 497 7.13: 231; 315 7.18: 317
Register
7.19: 335 7.31: 541 7.35: 429 7.41: 38 12.8: 387; 430 12.9–11: 522 12.10: 536 12.10 f.: 387 12.12: 387 12.18 f.: 387 12.19: 548 12.20: 387 12.96–98: 509 18.17: 555 19: 317 19.14 f.: 77; 357 19.19: 110 19.28 f.: 404; 539; 541 19.33: 35 19.36 f.: 383 19.40: 372; 546 19.42 f.: 404; 539; 541 19.46: 153 19.47 f.: 153 19.49: 77 19.58 f.: 77 19.61 f.: 533; 538; 541 19.63: 362 20.11 f.: 366 20.23: 233; 316; 541 20.31: 541 21.1–5: 492 21.1–20: 541 21.16 f.: 488 21.24 f.: 541 22: 557 22.8 f.: 176 22.14: 506 22.20: 515 24.6: 367, 424 24.20: 506 25.12 f.: 541 26.4 f.: 532; 541 26.21 f.: 541 27.10: 330; 538 31.15 f.: 532 32: 396; 485
32.1: 347 32.1 f.: 319 32.2: 515 32.4: 377 32.4–7: 521 32.4–15: 544 32.5: 549 32.5–7: 474 32.5–8: 378 32.6: 474 32.7: 474 32.8: 479 32.9: 392 32.11 f.: 360 32.12: 364 32.12–15: 475 32.13–15: 348; 477 32.14: 331; 475; 485 32.14 f.: 378; 493 32.15: 475; 546 32.16 f.: 364 32.17: 412 32.18: 364 32.19: 476 32.19–22: 412 32.20: 476 f. 32.21: 478 32.21 f.: 477 32.22: 489 32.23: 316; 496 32.24: 478 32.25: 348; 356; 477; 485; 515 32.26: 476 32.26 f.: 478 32.28: 476 32.28 f.: 412; 479 32.29: 466; 485 Fragmente (Carey) 1: 103; 515 8: 370; 407 85: 40 89: 153 106: 541 164–173: 496 191: 436 277: 413 286: 40; 526
639
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286–287: 316 287: 40 449: 120; 128 458: 40 512: 188 Markellinos Vit. Thuk. 19 f.: 111 Megasthenes (FGrH 715) F 32: 520 Menander Aspis 1–10: 402 20–82: 397; 402 Colax 1–11: 411; 438; 470 Dis ex. 47–57: 370 Dys. 235–245: 319 327 f.: 299; 335 369 f.: 335 400–453: 531 713: 299 714: 273 743–745: 299 767–769: 299 797–812: 541 805–812: 531 Epitr. 134 f.: 354 136–141: 470 Fragmente (PCG) 26: 520 98: 393 246: 370 247: 370; 414 261: 541 299: 299 356: 299 Georg. 1–20: 370; 401; 407 35–82: 408; 436 75–82: 65; 299; 317
Heros 18–45: 509 45–47: 411 Pk. 267–274: 507 267–290: 433 Sam. 7–18: 406; 411 13–21: 518 101–104: 411 189–227: 529 295–324: 427 302 f.: 428 305–308: 431 320–324: 431 368–398: 432 508–510: 432 508–513: 506 616–640: 406 670–682: 427 697–708: 319 697–709: 366 Metagenes (fr. PCG) 4: 408 64: 408 66: 408 Osborne-Rhodes, GHI 26: 176 Pausanias 1.18,8: 129 1.37,5: 80 Pherekrates (fr. PCG) 26: 527 205: 255 Philippides (fr. PCG) 9: 77; 528; 536 Philochoros (FGrH 328) F 196: 413 F 218: 113 Philodemos col. XII: 217 f. col. XII–XIX: 218 col. XXI: 217
Flavius Philostratos soph. 1.12: 366 1.15,2: 134 1.17,4: 129 Phokylides (fr. Diehl) 2: 152; 182; 562 Phylarchos (FGrH 81) F 7: 329; 407 F 8: 420 Pindar P. 7: 362 7 vv.2–4: 362 Platon apol. 22c–d: 424 23c–d: 100; 366 23e–24a: 101 33d: 103 36b: 101; 186 36c–e: 101 36e: 362 Charm. 156e: 297 ep. 1, 310a: 273 7, 328a: 40 Euthyd. 4c–d: 408 288d–289a: 234 291e: 101 304b–307c: 101 304c: 188 306d–e: 366 306d–307a: 101 307a: 188 Euthyphr. 4b–c: 526 14e: 118 Gorg. 447b: 526 447d–448c: 115 448c: 126; 337 449d: 115
640 451e–452d: 188 451e–452e: 127 452b–c: 188 452d–e: 337 457c: 101 467d: 189 472b: 312 477a–b: 189 477e: 189 478a–b: 188 f. 479a–c: 541 480b–c: 337 481c–482c: 157 482c–484c: 157 484c–486a: 101, 157 485b–c: 136 486a–c: 157 486a–d: 337 486c–d: 157 486d: 118 487c: 107 490b–491b: 115 491a: 115 503e: 115 508c–d: 337 512b–d: 310 517b: 124 517c–518a: 310 518c: 126 526d–e: 101 Hipp. mai. 281a–c: 310 Hipp min. 369a: 506 369a–370c: 127 Krit. 108e: 88 110c–d: 76 110c–112e: 88 Lach. 185a: 34 f.; 333; 366 187b: 115 192e: 139 195b–c: 514 leg. 1, 625a–c: 101 1, 637a–b: 526
Register
1, 639a–d: 543 1, 643b–c: 134; 156; 367 2, 665d: 444 3, 677a–680a: 116 3, 694c–d: 184 3, 695e–696a: 134; 413 4, 716d–718a: 116; 366 4, 717b: 117 4, 717c: 117 4, 719c–e: 81 4, 720b: 424 4, 721a: 255 5, 726a–728e: 117 5, 728a: 130 5, 734e–735a: 115 5, 736c–741e: 87 4, 738a: 543 5, 738e: 508 5, 739d–744a: 87 5, 739e: 87 5, 741a: 75 5, 741b–c: 76 5, 741e–743c: 76 5, 744a–745a: 76 5, 745a–e: 87 5, 745e–746d: 86 5, 747b: 184; 460 6, 776c–d: 421 6, 776d–e: 431 6, 777b–c: 268 6, 777c–d: 429 7, 788a: 315 7, 788b: 315 7, 793c: 115 7, 801b: 518 7, 803a–b: 115 7, 803c–d: 156 7, 805d–e: 332; 351 7, 807e: 315 7, 807e–808b: 34; 448 7, 808a–b: 185 7, 809c–d: 184; 460 7, 818c: 460 7, 819c: 184 8, 831b–c: 117 f. 8, 831c: 499 8, 831d–832a: 499
8, 842c: 57 8, 842d: 116 f. 8, 842d–e: 87 8, 846d–847a: 504 8, 849d: 471 8, 850a–c: 76 9, 853d–855c: 87 9, 858b: 115 10, 902d: 115 10, 903c: 115 10, 906d: 116 11, 913a–914a: 519 11, 915a–c: 76 11, 915c–921d: 288 11, 918a–919a: 511 11, 918b–d: 130 11, 918b–919b: 122 11, 918d–e: 511 11, 920c: 489 11, 921d–922a: 115 11, 923c–e: 384 11, 923c–929a: 87 11, 924b: 523 11, 926a–b: 39 11, 928a–929a: 76 11, 930e–932a: 366 11, 934b: 115 12, 955e–956a: 518 12, 955e–956b: 81 12, 958d–960a: 81 12, 959a–c: 373 Lys. 205c–d: 362 208c–209c: 406 209c: 184 209c–d: 384 Men. 71e: 332 90a: 101 94e: 101 Min. 320a: 526 Parm. 127b–c: 128 Phaidr. 227a: 128 227a–d: 101
641
Stellenregister
227b: 103 228a–e: 128 248d–e: 186 256e: 255; 394 257b: 103; 128; 387 257d: 128 270c–d: 297 Phaid. 59b: 103 69a–b: 116 Phil. 67a: 277 polit. 259a–c: 184 259b: 193 259c: 184 260c–d: 116 260c–268b: 116 267a: 118 271d–272a: 287 277a–c: 115 279a–290d: 115 f. 287c–290d: 115 290c–d: 118 308b–311c: 115 Prot. 311b–c: 297; 367 311b–312b: 126 311b–312c: 115 313a–b: 134; 366; 373 314c–316a: 330; 529 315a: 101 315d: 103; 518 316b: 312 316c–d: 134 316c–317c: 128 318d–319a: 125 323c–324c: 108 328a: 367 rep. 1, 327a–c: 103 1, 327a–328b: 387 1, 328b: 103 1, 328b–d: 103 1, 330b: 188; 414; 543 1, 330b–331c: 103 1, 331a: 171
1, 331b–d: 543 1, 331d: 103 1, 331d–e: 171 1, 333a: 543 1, 333b–334b: 543 1, 335a–354c: 158 1, 343a–345d: 116 1, 343b–c: 235 1, 343d–e: 245 1, 345c: 117 1, 345c–347a: 235 1, 345e–346d: 116 1, 353a: 238 2, 362a–c: 246 2, 362b: 356; 543 2, 369b–372a: 269 2, 369c: 287 2, 369d: 287 2, 369e–371e: 288 2, 372a–c: 288 1, 372c, 372e, 373b, 373d: 289 2, 372e: 288 2, 373a–374a: 289 2, 373c: 438 3, 387c–e: 373 3, 387d–e: 277 3, 407b: 184 3, 408c: 547 3, 415a: 87 3, 415a–d: 76 3, 415e: 187 3, 415e–417b: 87 3, 416d–417b: 187 3, 416e: 466 4, 420c–d: 115 4, 421d–422a: 76 4, 422e–423a: 555 4, 424e–425a: 156 4, 431e: 367 5, 467a: 367 5, 469b–c, 470a–c: 264 6, 497e–498a: 187 7, 540e–541a: 366 8, 544c–550c: 87; 187 8, 548a: 518 8, 549c–d: 361
8, 550b: 361 8, 550c–556e: 82 8, 550d–555a: 69 8, 550e: 69; 84; 362 8, 551a: 69 8, 551a–b: 82 8, 553a–d: 69 8, 554b: 61 8, 554c: 548 8, 554c–d: 543 8, 554e–555a: 82 8, 556c–d: 90 8, 561c–d: 504 9, 565a: 335 9, 578a: 239 9, 582c: 69 9, 592a–b: 86 soph. 216b–d: 121 223b–e: 201 223d: 335 symp. 172c: 101 173a–d: 101 Tht. 169d: 276 172c–d: 101 175e: 259 Tim. 32c–33d: 291; 297 68e: 291; 297 Platon Comicus (fr. PCG) 183: 104 Plautus Bacch. 342 f.: 370 Cas. 31–66: 396 1013 f.: 396 merc. 9 f.: 395 11 f.: 396 40–45: 396 46–50: 396 51–68: 396 61–68: 408
642 71 f.: 396 73–76: 397 87–92: 397 93–107: 397 276 f.: 453 Plinius der Ältere nat. 1.8: 132 f. 1.10: 132 f. 1.15: 132 f. 1.17: 132 f. 1.18: 132 f. 34.83 f.: 124 35.55–58: 410 35.58 f.: 410 35.61–64: 410 35.67: 124 35.67–72: 410 35.76 f.: 367 35.79 f.: 124 35.79–92: 410 35.108–110: 367 35.162: 128 Plutarch Aristeides 5.7 f.: 318 de Alex. fort. 328a–329d. 89 de frat. 484e: 129 de garr. 513a–c: 506 Demosthenes 5.4: 367 Dion 15.2–5: 546 17.2: 112 48: 409 mor. 576c: 40 577a: 40 Nikias 3–6: 317 4.2: 318; 330; 499 4.3: 319
Register
4.4–8: 318 5.2: 317 Pelopidas 8.1: 40 Perikles 16: 470 16.3: 471 16.3–5: 268; 339; 494 16.4: 510; 519 16.4–6: 472 36.2 f.: 333 36.2–4: 319 Phokion 19.2: 438 30.3: 529 Regum 176c: 232; 316; 519 Solon 2: 414 2.1: 563 2.4: 112 15.6 f.: 318 20.6: 356 Themistokles 5: 319 Timoleon 36.3: 320 [Plutarch] de lib. educ. 9d: 140; 152 10d: 339 Vit. Dec. 836e: 128 839b: 129 849d: 396 Poliochos (fr. PCG) 2: 527 Pollux 3.83: 421 Poseidonios (FGrH 87) F 8: 423 Prignitz 2: 465; 467 2, 13–20: 465
2, 18–20: 465 2, 274–311: 465 2, B, 167–169: 465 Rhodes-Osborne, GHI 26: 510 66: 467 Sappho fr. 5: 562 fr. 7: 562 fr. 15: 562 P. Sapph. Obbink + P. Oxy. 2289: 562 Semonides (fr. West) 7: 562 83: 152 Scholia Aristoph. Av. 822: 531 Eccl. 1024–1025: 344 Equ. 44c: 431 Nub. 64: 318 Ran. 681: 431 Thesmoph. 805: 431 Plat. Phaidr. 227b: 103 276d: 156 Die Sieben Weisen (DK 10) 3, α (Kleobulos) 4: 311 6: 311 3, β (Solon) 5: 311 17: 311 18: 311 3, γ (Chilon): 311 2: 311 4: 311 10: 208 14: 311 3, δ (Thales) 4: 208 5: 311 15: 208 16: 311
643
Stellenregister
3, ε (Pittakos) 2: 311 6: 208 11: 208 12: 208 3, ς (Bias) 4: 311 10: 311 11: 311 13: 208 17: 208; 311 4: 208 3, ζ (Periandros) 5: 208 14: 311; 319 Solon (fr. West) 55: 366 56: 366 13: 169; 207 Sophokles Ai. 293: 168 Ant. 52: 336 El. 1393: 77 Oid. K. 1054–1059: 275 Sotades Comicus (fr. PCG) 1: 530 Steinepigramme I 01/12/06: 565 Stesichoros (fr. Davies) 222 (b): 562 Stobaios 3.1,173: 225 Strabon 8.5,4: 423 8.6,20: 75; 407 12.3,4: 422 13.2,3: 563 17.1,33: 562
Strattis Comicus (fr. PCG) 3: 129
Syll.³ 1259: 452
Suda s. v. Δημάδης (Adler δ 414– 415): 113 s. v. Θεαγένους χρήματα τά τ’ Αἰσχίνου (Adler θ 81): 531 s. v. Θεόφραστος (Adler θ 199): 112 s. v. Λακκόπλουτον (Adler λ 4658): 318 s. v. Ξενοφῶν (Adler ξ 48): 129
Theognis (West) 53–60: 207 149 f.: 207 173–180: 563 173–192: 207 903–932: 536
SEG 2.579, 13–18: 352 16.14: 382 17.40, 15–50: 521 17.40, 101–115: 521 25.180: 324 29.87: 116 34.778: 345 35.134: 464 36.186: 369 38.783c: 382 44.35, 10–15: 515 44.68: 324 46.180: 324 46.2223: 545 47.1175: 452 48.988, 5: 454 48.1011: 454 48.1012: 454 48.1024: 454 49.325: 452 49.911, 10 f.: 546 50.276: 454 53.256, 5: 454 55.307, 8–10: 367 59.834: 453 60.853: 454 61.615: 453 61.6155, 2 f.: 328 SVF III Fr. 623: 217; 440
Theophrast char. 1.5: 317 2 f.: 206 2.6: 132 2.12: 330; 529 3.3: 506 4.6: 431 4.14: 539 4.15: 474 5.8: 526 5.9: 520 6.5: 205 7: 206 7.6: 451 8: 206; 451 8.63: 529 9: 143; 451 9.3: 528 10: 143; 334 10.1: 450; 536 10.4: 458; 505 10.5: 438; 470 10.8: 132 10.11: 531 11.4: 132 11.8: 506 12.8: 505; 507 13: 206; 451 14.2: 458 16: 206 16.6: 519 18: 334 18.2: 505; 508 18.2–4: 451 18.4: 520; 536 18.7: 536 19: 206
644 20: 206 20.4: 450 20.7: 450 22: 143 22.10: 357; 423; 438 23.2: 458; 531 23.6: 458 23.12: 458 30: 547 30.2: 526 30.9: 438 30.11: 438; 470 30.12: 206; 507 30.15: 438; 458; 491 30.16: 438 30.17: 423 Fragmente (Fortenbaugh) 35: 183 36: 183 84: 183 613: 316 662: 494 Theopompos von Chios (FGrH 115) F 25: 120; 128 F 36: 438; 527 F 62: 89; 407; 506 F 86: 316 F 97: 413 F 122: 420 f. F 176: 421 F 224: 460 F 233: 527; 531 F 252: 77; 536 F 291: 112 Theopompos Comicus (fr. PCG) 58: 101 Thukydides 1.1,2: 59; 335 1.2–18: 57 1.5,8–6,6: 203 1.8,3: 57 1.13,5: 75 1.37: 329
Register
1.37,3: 282 1.38,2: 282 1.121,3: 503 1.137,3: 316 1.141,3–5: 59; 335; 336 1.142,1–7: 59 1.142,7: 335 2.15,5: 255 2.36,2 f.: 282 2.40,2: 126; 249 2.40,4 f.: 541 2.41,1: 276 2.51,3: 279 2.53,1: 74 2.62,3: 516 2.65,7: 231 2.65,7–10: 74 2.72,3: 544 3.39,4: 61; 517 3.45: 517 3.50,2: 496 3.70–85: 75 3.74,2: 329 3.82,8: 75; 555 4.105,1: 111; 546 6.6,2: 255 6.12–16: 362 6.31,5: 498 8.15,2: 409 8.21: 75 8.24,3–5: 75; 420 8.40,2: 420 8.45,4: 75 8.45,5: 420 8.63,3 f.: 75 8.72–75: 75 8.84: 503 8.84,2: 409 Timaios (FGrH 566) F 11a: 408; 419 F 152: 128 F 156: 128 Timokles (fr. PCG) 11: 528 15: 413 16: 413
Varro rust. 1.1: 132 1.1,8: 133 Vitruv praef. 11: 124 Xenophon Ages. 1.26: 61 an. 1.9,19: 446 3.5,4–13: 403 5.6,15–7,12: 403 5.6.4: 403 5.6,30: 403 6.4,8: 402 6.1,17: 402 6.1,23: 402 6.6: 403 7.5–7: 403 f. 7.6,34: 402 7.8: 403 apol. 28: 101; 367; 413 29–31: 108 equ. 1.1: 125; 154 2.1: 362; 390 hell. 1.4,16: 83 1.5,4–8: 503 2.1,1: 408; 419 2.4,19: 106 3.4,17: 61 4.8,10: 409 4.8,27: 411 5.3,7: 426 6.2,16: 436 6.2,37: 408; 419 Hier. 6.10: 408 hipp. 47: 57 kyn. 1.18–2.1: 410 2.1: 232
Stellenregister
Kyr. 1.1: 116; 159 1.1,1: 248 1.1,6: 85; 248 1.2,2: 134 1.2,3: 330 1.2,4 f.: 86 1.2,15: 86 1.3,4–7: 86; 526 1.3,10: 86 1.6,7 f.: 147; 151 1.6,7–11: 108 1.6,8: 526 1.6,9–11: 222 1.6,12: 221 1.6,15 f.: 115 1.6,33: 134 1.6,35: 549 3.1,16: 233 3.1,38: 147 3.2,17–22: 270 3.3,2 f.: 232; 519 3.3,2–3: 231 4.1,15: 61; 517 4.3,4: 277 4.3,12: 86; 362 4.4,10 f.: 428 4.5,4–8: 86; 526 4.5,41 f.: 60 4,10 f.: 86 7.5,67: 335 8.2,5: 239 8.2,5 f.: 269 8.22: 540 8.2,18–22: 540 8.3,37 f.: 408 8.8: 86 8.18: 86 Lak. pol. 1.1: 85 1.3: 526 2.5: 526 5.4–7: 526 6: 86 6.1: 134; 333 7: 57; 86
7.6: 231; 526 14: 86 mem. 1.1,2: 320 1.2,14: 277 1.2,22: 84 1.2,31–38: 115 1.2,48: 100; 105; 126 1.4,7: 255 1.5,1: 490 2.1–8: 277 2.1,1–14: 310 2.1,8 f.: 67 2.1,15: 228 2.1,19: 126 2.2,5: 255 2.2,6: 134; 366 2.2,13: 365 2.2,14: 534 2.3: 373 2.3,11–14: 533 2.3,13: 526 2.3,14: 68 2.3,15: 152 2.4,1: 118; 249 2.4,1–5: 118 2.4,1–6: 534 2.5,2: 424; 430 2.5,2 f.: 534 2.6,1–5: 549 2.6,2: 84 2.7: 37 2.7,1: 104 2.7,2–12: 105 2.7,3–6: 107 2.7,5 f.: 228 2.7,6: 35; 107; 430 2.7,7–9: 228 2.7,12: 228 2.7,13 f.: 270; 336 2.7–10: 512 2.8: 338 2.8,1–6: 105 2.8,3: 229 2.9: 319 2.9,1–5: 230 2.9,7 f.: 230
645 2.10: 105 2.10,1–4: 230 2.10,2: 425 2.10,3: 117 2.10,4: 505; 511; 533 3.1,4: 450 3.4: 248 3.4,1: 108; 222 3.4,2–6: 108; 222 3.4,7–10: 249 3.4,7–12: 222 3.4,12: 108 3.6,2: 126 3.6,13: 218 3.7,5–7: 107 3.7,6: 330 3.10,9–15: 424 3.14: 526 4.1,1: 156 4.2,12: 125 4.3,10: 227 4.4,22 f.: 255 4.7,1: 277 f. oik. 1.1: 146; 151 1.1–4: 189 1.2: 214; 450 1.3: 338 1.4: 190; 250; 446; 466 1.5: 190; 224; 333; 546 1.6: 224 1.7: 190; 224 1.7–15: 190 1.8: 151 1.9: 224 1.10 f.: 224 1.12.: 225 1.13: 226; 245 1.15: 67; 227; 549 1.15–23: 526 1.16: 109 1.16–22: 413 1.18–22: 245 1.18–23: 151 1.19–22: 226 1.20: 109; 247 1.21 f.: 109; 247
646 1.34: 68 2.1–3: 226 2.2–9: 151 2.3: 155; 160 2.4: 226 2.4–6: 66 2.5: 514; 526 2.5–8: 226 2.6: 66 2.10: 191; 447 2.14–16: 152 2.17: 191 2.17 f.: 447 2.18: 191 3.1: 447 3.1–5: 151 3.2 f.: 447 3.4: 251 f. 3.5–8: 447 3.5–9: 191; 447 3.7 f.: 154 f. 3.8: 156 3.9 f.: 161 3.10: 266; 424; 447 3.14: 155 4.1: 247; 266; 424 4.2 f.: 90; 254; 330 4.4: 248 4.4–25: 247 4.25: 149; 335 5.1: 232; 248; 298 5.2–11: 232 5.3: 514 5.4: 335 5.6: 227 5.11: 227 5.13–16: 248 5.18: 514 5.20: 514 6.3: 118; 192; 356 6.5–8: 330 6.6–11: 336 6.12–17: 150 6.5–8: 90 7–8: 149 7.1. f.: 150 7.4–13: 266
Register
7.7: 134; 514 7.11: 250 7.11–16: 227 7.12: 134; 151; 215 7.13: 355; 490 7.13–18: 332 7.15: 149 7.18: 227; 249 7.18–34: 266; 332 7.19: 255 7.28: 227 7.30: 250 7.32–37: 250 7.35–37: 266 7.36: 427 7.36 f.: 425 7.37: 267 7.40: 141 7.41: 227; 252; 266; 424 7.42: 155 8.3: 248 8.3–8: 248 8.10: 149 8.12: 192 8.15 f.: 149 9.3: 518 9.5: 255; 267 9.6–10: 469; 536 9.8: 470 9.9–16: 227 9.10: 149 9.10–13: 250 9.12: 250 9.19: 118 10: 251 10.2–8: 215 10.3: 192; 356 10.3–9: 343 10.10 f.: 353 10.10–13: 250 11.1: 150 11.4 f.: 152; 160 11.8: 67; 514 11.9 f.: 67 11.14–24: 250 11.16: 249 11.16 f.: 493
11.19–21: 67 11.23–25: 67; 338 11.25: 155 12.1–3: 250 12.3: 424 12.3 f.: 149 12.4: 250 12.5: 227 12.5 f.: 250 12.8–14: 251 12.12: 448 12.19: 251 12.20: 140; 152; 216; 249; 334 13: 215 13.2: 227; 251 13.2 f.: 251 13.4: 251 13.4 f.: 156 13.6–12: 251 13.9: 251; 426 13.9–13: 528 13.11: 436 14.2: 227 14.3: 252 14.4–8: 250 14.6: 252 14.6 f.: 248; 251 14.7: 227 14.8: 436 14.9 f.: 252 14.11: 251 14.12: 252 15.1: 227 15.2: 227 15.4: 227; 232 15.10–13: 161 15.11: 424 16.1: 131; 161 f. 16.2–7: 161 16.11: 492 16.14 f.: 492 17.1–3: 161 17.1–6: 514 17.4–11: 493 17.10: 155; 492 17.12–15: 492
647
Stellenregister
18.1–15: 161 18.5: 161 18.9: 162 18.10: 161 18.14: 227 19.1–17: 492 19.5–17: 161 19.6: 161 19.11: 514 19.16: 155; 162 20.3 f.: 492 20.4: 152; 492 20.5–9: 248 20.10: 492 20.18: 248 20.22 f.: 493 20.23 f.: 492 20.24–26: 153 20.25: 227 20.25 f.: 155 20.25–27: 151 20.26–28: 156 20.27 f.: 227
20.27–29: 192 20.29: 156; 227 21.1 f.: 248 21.2–10: 266 21.3–8: 248 21.3–10: 493 21.10: 248 f.; 253 21.11 f.: 269 symp. 3.12: 152 4.12–28: 154 4.30 f.: 106 4.31 f.: 106 4.34–44: 272 vect. 3.4: 230 3.4 f.: 547 4.4 f.: 139 4.6: 497 4.7: 519 4.14: 430 4.14–16: 423 7–9: 522
[Xenophon] Ath. pol. 1.1–6: 73 1.11: 426 1.11 f.: 265; 438 1.13: 67 1.16: 546 1.17 f.: 329; 423 1.17–20: 59 1.19: 546 1.19 f.: 503 2.3: 283 2.3–12: 57 2.6: 283 2.7: 283; 527 2.17–20: 73 3.4: 538 passim: 73 Zenon (fr. SVF I) 264: 89
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Register
Personen-, Orts- und Sachregister Abakus 458, 459, Anm. 84, 463 Abdera 298, Anm. 612, 393, 545, Anm. 124 Abydos 370, 407, Anm. 246, 546, Anm. 129 Adel, siehe Lebensführung, edle Adelsdilemma 84–91, 106, 148, 163, 189, 210, 232, 270, 398, 471, 558 Adoption 38 f., 87, 356 f., 369, 374, 404 f., 490, 568–571 Ägäis 25 f., 56, 58, 73, 88, 132, 282, 284, 336, 344 f., 347, 354, 370, 392, 399, 420–422, 437 f., 503, 545 f., 557 f. siehe auch Kykladen Ägina 348 f., 391, 392, Anm. 157, 419, Anm. 21, 430, Anm. 84, 457, Anm. 73 Agora, siehe Markt Agronomik 131–134, 148, 161 f., 171 Ägypten 23, Anm. 29, 63, Anm. 29, 112, 165, 283, 286, 419, Anm. 18, 435, 546, Anm. 127 Akkumulation 44, 49 f., 178, 208 f., 236, Anm. 290, 244, 339, 386, 400, 413, 417, 422, Anm. 8, 424 f., 436 f., 507–509, 518–520, 524 f., 539, 548, 554 f. Alkibiades 83, Anm. 147, 370, 407, Anm. 246 Ämterbekleidung, politische Teilhabe 42 f., 52 f., 61 f., 63 f., 69 f., 73, 77, 86 f., 92, 101, 108 f., 110 mit Anm. 92, 127, 186 f., 245 f., 248 f., 317 f., 346, 386, 402, 404, 410, Anm. 261, 458 f., 508, 543 siehe auch Trierarchie Andokides 111, 113, 130, Anm. 216, 153, 331, Anm. 19, 414, Anm. 275 Anekdoten, Exempel 104, 140, 143, 152, 161, 171–173, 174, 178 f., 229–233, 394 f., 410, Anm. 263, 426 Ansehen, siehe Ehre Antidosis-Verfahren 63, 537, 538, Anm. 86 Antisthenes 142 f., 213 Anytos 101 f., 108, 176, Anm. 168, 413, Anm. 273 Apollodoros, Sohn des Pasion (und Familie) 110, Anm. 88, 113, 348–350, 373, Anm. 45, 374, 385, 387–389, 413, Anm. 273, 415, 430, Anm. 87, 468, 475, Anm. 174, 488, Anm. 250, 491, 494, Anm. 281, 534, 544
Arbeit 37, 49 f., 191, 247–252, 257 f., 266 f., 334–336, 351–354, 366 f., 396, 408 f., 417– 440, 470 f., 486, 489, 495–497, 566 f., 573 f. – Gelegenheitsarbeit 339, Anm. 40, 423, 428, 434–438, 502–505 – Geringschätzung 71, 86–89, 98, 105, 113, 166, 176 f., 228 f., 243, Anm. 325, 253 f., 259 f., 262, 268, 336, 338, Anm. 40, 351, 390, 418, 434 f., 512 f. – Hausarbeit 19, 182 f., 250, 329, 351–353, 425, 469 f. – Kinderarbeit 366 f., 408 – Lohnarbeit 45, 49 f., 58, Anm. 9, 105, 171, 190, 211 f., 260, 268, 287, 351, 366, 416, 418–423, 428, 434–438, 502–505, 512, 536, 554, 573 f. – Saisonarbeit 408 f., 420, 503 Arbeitsteilung 45, 47, 90 f., 115, 116, Anm. 131, 162, 204, 253–270, 287 f., 338–340, 380, 404, 428 f., 430 f., 468, 553, 556–559, 562–564 – Altersspezifische Arbeitsteilung 376, 379 f., 386–389, 390–411, 413 f., 562 – Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung 197, 214 f., 266 f., 303, 329, 332–354, 553, 556, 560 f. – Spezialisierung 43, 44, 125–127, 207, 208 f., 238 f., 269, 289, 337, 430, 501 f., 522 Archäologie, siehe Quellenlage Argos 75, Anm. 98, 367, 409 Aristoteles 112, 124 f., 163 f., 176 f., 263, 273, 546, Anm. 129 Armut, Verarmung 42, 50, 65, 71 f., 104–107, 172 f., 188, 209, 229 f., 239 f., 334–336, 351 f., 411, 517 f., 527, 540 f. – Relativer Armutsbegriff 71 f., 155, 226, 277, 335 f. Askese, siehe Selbstgenügsamkeit Athen (und Attika) 74 f., 78–83, 88, 120, 146 f., 282–287, 330 f., 344–347, 350, 367, 370 f., 374, 382, 404, 409, 416 f., 420, 430, Anm. 84, 439, 440, 459, 465 f., 479, 491, 519, 534 f., 537–539, 545, 557, Anm. 1 Attische Wirtschaft 472 f., 519
Personen-, Orts- und Sachregister
Aufseher, Verwalter 45, 105, 162, 227, 249–252, 260 f., 267 f. 338–340, 372, 429–433, 440, 448, 471–473, 490 f. Autarkie 17–22, 35, 44, 98, 119, 203 f., 269, 270–272, 294–296, 303, 508 f. siehe auch Subsistenzwirtschaft Banken, Bankiers 45, 50, 112–114, 233, 316, 328, 339 f., 348–350, 387 f., 432 f., 439, 465, 468, 484, 494, 506, 515, 521 f., 544 Bankrott, Ruin 62, 72, 81, 84, 134 f., 153 f., 254, 284, 370, Anm. 31, 393, 396, 398, 413, 439, 473 f., 532, 542, Anm. 103 Bauprojekte, öffentliche 61, 409, 435, Anm. 114, 461, 503 Becker, Gary 29 f., 33, 44, 524, Anm. 1 Bedarf, Bedürfnisse 41, 44 f., 65, 192 f., 198 f., 210 f., 226, 228, 240–243, 287–289, 294–296, 302 f., 364, 425, 456, 469 f., 472 f., 509–511, 538 Bergbau 101, 215, 236, 317 f., 369, 423, 424, Anm. 47, 428, Anm. 69, 429, 440 Beruf 27, 115 f., 120 f., 202, 207, 209 f., 287–289, 311, 352, Anm. 106, 366–368, 429 f., 500, Anm. 29, 504, 512 f., 557, Anm. 1 siehe auch Identität, soziale Besitz, unsichtbarer, siehe Geheimhaltung Bildung, Erziehung 100–104, 107 f., 120 f., 125 f., 134 f., 150–152, 157 f., 161, 169–171, 184, 195, 250 f., 337, 361, 366–368, 379, 383 f., 393, 399, 411 f., 459 f., 524 Bosporos, kimmerischer 316, Anm. 54, 340, Anm. 52, 371, 378, Anm. 78, 507, Anm. 76, 541 f. Bourdieu, Pierre 29, 44, Anm. 88, 83, Anm. 149, 160, 524 Briefe 307 f., 325, 359 f., 380, 451–454, 491, 493 f. 507 mit Anm. 75 Brunner, Otto 23, Anm. 29, 28 f., 34–36, 204, mit Anm. 111 Bücher, Karl 17–19, 24, 51, 270, 416 f. Buchführung 223, 320, 347 f., 454–494, 572–574. – Amortisierung 465, Anm. 69 Byzantion 329, 407 f., 411, Anm. 265, 506, 521, Anm. 44, 546, Anm. 127 Chios 59, Anm. 15, 75, 172, 284, 408, 409, Anm. 257, 419, Anm. 18, 420
649
Choregie, siehe Liturgien Chrēmatismos, siehe Erwerb Darlehen, Kredite 87, 117, 201 f., 232 f., 344– 346, 350, 369, 370, 459, 473 f., 484 f., 521 f. – Deposite 206, 484, 543 f. – Eranos-Darlehen 484, 522 – Pfandgabe 72, Anm. 79, 117 mit Anm. 137, 209, 329, 483, 521, Anm. 44, 548, – Schulden 116 f., 338, Anm. 37, 350, 362, 385, 419, 421 f., 509, 543 f. – Seedarlehen 50, 89, 112, 311, 377–379, 398 f., 474–476, 483–485, 522, 543 f. – Wucher 87, 112, 202, f., 205–207, 346, 512 – Zinsen 117 f., 137, 175 f., 202, 232, 346, 350, 356, 466, 473 f., 483–485, 492, 516, 521 f., 544, Anm. 115, 557, Anm. 1 Delphi 58, Anm. 9, 72, Anm. 79, 208, Anm. 135, 344, 346 f., 383, Anm. 100, 409, 461, 465 f., 469, 503, 557, Anm. 1 Demades 113, 529, Anm. 32 Demetrios von Phaleron 78, 81 f., 139 Demographie 36 f., 42 f., 58, 74, 295 f., 417, 422–424 Demokratie 42, 63 f., 66 f., 73, 79–83, 88 f., 92, 97, 106 f., 119, 145, 459, 496, 506 Demokrit 26 f., 133 f., 297, Anm. 610, 393 Demosthenes (der Ältere) 19, 259, 340, Anm. 52, 372, 386, 430, Anm. 87, 504, 521–523 Demosthenes (der Jüngere) 40, Anm. 66, 110, Anm. 92, 112 f., 120, Anm. 163, 311, 348, 358, 372, 386, 480–490, 531, Anm. 40, 538, Anm. 86 Denksprüche, siehe Spruchweisheiten Diätetik, siehe Ernährung Dike apostasiou, siehe Freilassung Diogenes von Sinope 96, 100, 114, 142 f. Distanzierung, performative 89–91, 171, 210 f., 270, 304, 329 f., 333 f., 349, 410 f., 439 f., 512 f., 557, Anm. 1, 558–560 Diversifizierung 113, 138, 210 f., 260, 337, 339, 358, 373, 425, 430, 492, 498, 501 f., 504, 512, 520–524, 554, 566 Dodona, siehe Orakelanfragen
650
Register
Effizienz 31 f., 48 f., 62 f., 191–193, 264, 266, 414–419, 430 f., 436, 443–451, 471, 553 siehe auch Rationalität, Rationalisierung Ehre, Ehrungen 42 f., 52, 53, 63–65, 76 f., 137, 206, 361 f., 531 f., 534 f., 541–547, 547–549 – Ehrstreben (philotimia) 65, 67, 75, Anm. 100, 109, 128, Anm. 207, 412, 532, 534 f., 537 siehe auch Lebensführung, edle Eigentum, Besitz 38, 89, 190, 194 f., 214, 224 f., 234 f., 264, 268 f., 287, 292, 334, 344 f., 347, 375 f., 483–490, 496 f. – Konfiskation des Vermögens 316, 324, 496, 532 f. – Landbesitz 42, 111, 162 f., 232, 299, 316, 347, 401, 404, 430, 510, 520 f., 546 mit Anm. 129 – Überseeischer Besitz 73, 105 f., 496, 546 mit Anm. 129 siehe auch Erbschaft Einbettung 25, 41 f., 60, 97, 233, 490, 505–508, 548 f. siehe auch Kapitalkonvertierung Eisphorai, siehe Steuern Elite, siehe Stratifizierung Epidauros 58, Anm. 9, 409, 410, Anm. 259, 461, 466 f., 469, 503 Erbschaft 38 f., 357, 373, 383, 393, 401 – Aufteilung 374–376, 383–385, 388 – Erbtochter (epikleros) 38 f., 374, Anm. 55, 412 f., 541, 569 Eretria 316, Anm. 54, 330, 402, Anm. 218, 518, Anm. 25, 536, 545 Ernährung 267 f., 276, 278–280, 283 f., 288 f., 297 f., 425, 427, 527–530 – Hunger 62, 71, 201, 209, 264 f., 276, 278 f., 482, 527, 536 siehe auch Kommensalität Ernte 56 f., 60, 172, 227, 229, 252, 283, 396, 408, 419 f., 423, 453, 472 f., 503, 510, 516, Anm. 11, 518 f., 520 Erwerb, Gelderwerb (chrēmatismos) 68–70, 84–89, 101, 113 f., 117 f., 126 f., 156, 166 f., 171–173, 187–189, 231, 356, 391, 471 f., 497– 501, 531, 535, 543, 546 f. siehe auch Gewinnstreben und Reichtum
Euergetismus, siehe Freigiebigkeit und Liturgien Euripides 113, 274 f., 313 f., 322, 341 f., 449 f. Evolution, soziokulturelle 30–32, 48–50, 56, 207 f., 451, 567–574 Fabel, Märchen 136, 178–180, 270, 312, 392, Anm. 157, 398, 529, Anm. 32 Fachbuchliteratur 119–134, 142 f., 161 f., 177 f., 219, 304 siehe auch Agronomik Fest, Feier 267 f., 529, 531 f., 536 Finanzverwaltung 174–177, 196, 197, 218–223, 344–351, 458–460, 465–469, 477–479, 484–490 Finley, Moses 20, 24, 28 f., 32, Anm. 23, 38, 54, Anm. 147, 95 f., 98, 130 f., 181, 191, 271, 308, 419, Anm. 16, 434 f., 481, 488, 569 Fisch 199, 215, 293, 411, Anm. 265, 413, Anm. 273, 427, 527–530 Frauen, siehe Arbeitsteilung und Geschlecht und Verwandtschaft Freigiebigkeit 65–68, 77, 84, 90, 110, 205 f., 210, 232, 293, 408, 414, Anm. 275, 482, 527, 529, 531 f., 535 f., 538 f., 541 f., 558 Freilassung, Freigelassene 76, Anm. 107, 113, 263, 267, 321, 324 f., 333, Anm. 8, 340, Anm. 52, 348 f., 352, Anm. 106, 387 f., 415, 422, 429, 431–434, 438, Anm. 124, 439, 528, 531 f., 564 f., 572 – Freilassung, bedingte 321, 324 f., 431 f., 565 Freundschaft, siehe Nahbeziehungen Gabentausch, Geschenke 32, 69, 111 f., 135, 137, 145, 241 f., 372, 495 f., 525, 533–535, 547 Gastmahl 86, 283 f., 288 f., 311–313, 320, 329, 406–408, 411, 525–530, 536 siehe auch Kommensalität Gefangenendilemma 548 f. Geheimhaltung 90, 127, 308–311, 315–319, 349, 357, 424, 432, 439 – Besitz, unsichtbarer 316 f., 377 f., 388, 519 f., 537 Gehöft, Landgut 37, 119, 129, 145, 162, 232, 249, 258 f., 317, Anm. 58, 326 f., 329 f., 335 f., 339, 388, 396 f., 420, Anm. 25, 430, 440, 452 f., 492 f., 508–510, 546, Anm. 129, 573 f. Geiz, siehe Gewinnstreben
Personen-, Orts- und Sachregister
Geld 59 f., 69, 75, 84, 87, 89, 187, 195 f., 201– 205, 207–209, 211, 354, 413 f., 457 f., 470, 509 mit Anm. 84, 540 – Als Wertmaßstab 59, 239 f., 288, 354, 457–460, 489, 534 – Als Wertspeicher 224 f., 232–234, 518–520 siehe auch Erwerb und Reichtum Geldwechsler, siehe Banken, Bankiers Gemeinwohl, siehe Stadtgemeinde Generationenkonflikt 311–313, 323, Anm. 94, 396 f., 406–408 Geographie 56, 58 f., 88, 91, 392, 419 f., 437 f., 496, 503, 545 f., 574 Gerechtigkeit 84 f., 118, 127, 135, 142–144, 179 f., 186 f., 205–208, 215, 239–241, 245 f., 252, 261–263, 510–512, 535, 543 f., 546–548 Gerichtsprozesse 40, 67 f., 72, 128, 229 f., 246, 299, 316 f., 319–322, 330, Anm. 15, 337 f., 347, 358, 361 f., 373, Anm. 46, 388 f., 393, 487, 523, 532, 534, 541 f., 544, 572 – Schiedsgerichte, Schlichtung 110, Anm. 92, 319, 330, Anm. 15, 374, 459, 481 f., 488 f., 507, Anm. 74 siehe auch Konflikte Gerichtsreden, siehe Quellenlage Gerüchte, Gerede 67, 318–320, 353, 388, 487 Geschlecht 155, 182–184, 197, 341–343, 352 f., 359 f., 424, 469 f., 528, 565 siehe auch Arbeitsteilung Geschlechtsvormundschaft, siehe Recht unter Geschäftsfähigkeit Gesellschaft, siehe Stadtgemeinde und Stratifizierung Getreide 57, 59, 75, 453 – Anbau 132 f., 283, 420, 477, Anm. 186, 493, 497 f., 520 f. – Handel 57, 59, 107, 113, 156, 175, 176, Anm. 168, 192, 218, 227 mit Anm. 241, 286, 283, 344, 371, 470 f., 493, 497 f., 505 f., 510, 515, Anm. 9, 541 f., 545, 557, Anm. 1 – Konsum 75, 229 f., 276, 286, 288, 427, 470, 518, 535, 541 f., 545 Gewinnstreben 171 f., 190–193, 202–211, 289, 314 f., 402 f., 445–447, 489 f., 497–501, 504, 516–518, 532 f.
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– Schändliches Gewinnstreben (aischrokerdeia) 86, 201 f., 205 f., 251, 438 f., 450 f., 512, 547–549 – Habsucht (pleonexia) 75, Anm. 100, 87, 234, 246, 289, 296, 392, 504, 512 Goffman, Erving 90, 319, 330 Gortyn 344, 347, 354 f., 357, Anm. 127, 375, 383, Anm. 105, 421 mit Anm. 30 Grabmal, Sepulkralkontext 39, 70, 78–83, 114, 128, 129, 310 f., 354, 365, 380–383, 390, Anm. 147, 404, 410, Anm. 263, 412, 520 – Totenkult 365, 404 f., 570 Habitus, siehe Identität, soziale Haftung, siehe Recht unter Geschäftsfähigkeit Handel 18–20, 53–55, 56–61, 75 f., 85–89, 111–113, 115–117, 130 f., 171 f., 191 f., 199–205, 210 f., 230 f., 282–288, 293–296, 328 f., 339, 347 f., 335 f., 358, 370–372, 376–383, 392–401, 406 f., 420 f., 429, Anm. 77, 430, 453, 497– 501, 510 f., 515 f., 531, 541 f., 544–547, 563 – Emporien 230, 282–286, 296, 329, 394, 407, 411, Anm. 265, 420, 506, 535 – Gelegenheitshandel 111–113, 414, 501 f., 511 f., 547 – Import und Export 49, 57 f., Anm. 9, 60, mit Anm. 19, 222, 282–285, 287 f., 295 f., 352, Anm. 106, 370 f., 379 f., 400 f., 420, 471, 504, Anm. 54, 527–530, 541 f., 545 – Kramhandel 70 f., 87 f., 199–201, 209 f., 288, 351, 430, 433 f., 489, Anm. 252, 491, 506, 511 f., 548 Handwerk, Gewerbe 19, 45, Anm. 95, 58, 61, 70 f., 73 f., 107 f., 115 f., 165 f., 212, 228, 257– 263, 269, 287–289, 328–330, 334, 366–368, 408–410, 417, 423–425, 429–431, 471, 500, 503 f., 557 mit Anm. 1 – Geringschätzung 86–89, 90, Anm. 194, 102, 108, 122, 161, 167, 186 f., 212, 260, 330 mit Anm. 15 – Werkstätten 19, 50, 107, 112 f., 128, 162, 228 f., 253 f., 261, 269 f., 328–330, 340, Anm. 52, 352, 367, 387 f., 425, 430–432, 440, 453 f., 483–487, 504, 506, 521 f. ‚Haus, ganzes‘ 23, Anm. 29, 29, 34–36, 44, 53 f., 65, 85, 95 f., 99, 107, 127–129, 184, 197,
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Register
216–218, 223, 353, 362, 382 f., 384, 387–389, 405, 478, 501, 545, 553 f. Hausrat, Mobiliar 71, 104, 106, 151 f., 284, 316, 351, 364, 382, 447, 469 f., 475, 484, 519–522, 526, 536 Hausväterliteratur 35 f., 51 f., 95 f., 120 mit Anm. 161, 123, 129–131, 136–140, 308 f., 375, 542 Hegemonie, politische Vorherrschaft 57, 59 f., 72 f., 75, 281–287 siehe auch Seereich, Athenisches Heiligtümer 50, 81, 409 f., 465–469, 503, 508, 565 Heirat, Ehe 39, 153 f., 214 f., 249 f., 266 f., 355 f., 360, 384, 401, 404 f., 407 – Endogamie 39, 374 f., 378, 386 f., 569– 571 – Heiratsstrategien 39, 153, 348–350, 354, 356–359, 374, 378, 529 – Hypergamie 348 f., 357 f., 362 f., 391 – Scheidung 404, 569 f. Helotentum, Hörigkeit 86, 419–422, 428, 434 Herakleia am Pontos 110, Anm. 92, 175, 409, Anm. 257, 420, Anm. 20, 422, 434 Herrschaft, Führung 184 f., 193 f., 221 f., 259 f., 270 siehe auch Management Humor, Komik 98, 148, 155–158, 201 f., 312, 346, 433 f., 450 f. Hyperbolos 104, 338, Anm. 37, 346, 431, Anm. 89 Ideengeschichte, siehe Selbstbeschreibung, gesellschaftliche Identität, soziale 90, 310 f., 335 f., 349 f., 512 f., 546 f. siehe auch Distanzierung, performative Ideologie, siehe Selbstbeschreibung, gesellschaftliche Ikonographie 79, 327, 351–353, 380–383, 410 mit Anm. 263, 520 Information 32 f., 46 f., 172 f., 349, 435–437, 451–454, 456, 505–508 siehe auch Geheimhaltung Innovation, Erfindung 49, 64, Anm. 37, 123, 165, 283, 350, 431, Anm. 91, 439 f., 522, 564–568, 574 Inschriften, siehe Quellenlage
Institutionen 17, 21 f., 32 f., 36–38, 46–50, 63, 83, 89, 91 f., 263 f., 334, 338 f., 347, 355–357, 383–385, 414, 432–440, 457, 525, 548 f., 557–559, 565–574 – Neue Institutionenökonomik (NIÖ) 46–48, 514, Anm. 2 siehe auch Recht Involution, siehe Evolution, soziokulturelle Ionien (und die dortigen Städte) 58, Anm. 12, 59 mit Anm. 15, 75, 175, 284, 330, 382, 392, Anm. 157, 508, Anm. 78, 536, Anm. 73, 565, Anm. 28 – Ephesos 61, Anm. 24, 365, Anm. 15, 370, 521, Anm. 44, 530, Anm. 36, 532, Anm. 47, 557, Anm. 1 Isokrates (und Familie) 100, 110 f., 112, 120, Anm. 163, 125, 128 f., 337 Kallias, Sohn des Hipponikos (und Familie) 101, 103, 120, 153, 318, Anm. 65, 470, 529 Kapital 44, 118, 190, 224–227, 354–357, 359, 362, 379, 400 f., 424 f., 430 f., 480 f., 487– 489, 507, 521–523, 524 – Kapitalkonvertierung 44, 102 f., 304, 350, 369, 386 f., 413, 424 f., 491 f., 524 f., 533–535, 538–542, 545–547, 548 f., 554 Kinder, Kindheit – Kinderlosigkeit 361 mit Anm. 149, 404, 568 f. – Waisen 37, 364, 374, Anm. 55, 548 f. siehe auch Verwandtschaft unter Eltern-Kind-Beziehung Kleidung, Textilien 250 f., 287 f., 311 f., 364, 412, 469 f., 520, 528 – Herstellung 18, Anm. 8, 107, 115, Anm. 122, 228, 352–354 Kleinasien (und die dortigen Städte) 59, 420, 422, 546, Anm. 127 siehe auch Ionien Klima, siehe Geographie Knappheit, Mangel 28 f., 66 f., 281, 291, 350, 394, 509 f., 538 f. Kommensalität 407, 439, 506, 525–530, 536 Kommerzialisierung, Monetarisierung 57– 60, 75, 87–89, 114, 119–122, 137 f., 203 f., 336, 347, 529 f., 556–560, 574 Kommunikation 127 f., 167 f., 179 f., 206, 210 f., 307, 309–315, 451–454, 505–508, 559 f.
Personen-, Orts- und Sachregister
– Kommunikation unter Anwesenden 60 mit Anm. 20, 65, 90, 109 f., 127 f., 139–141, 150–152, 156–158, 206, 311–313, 338, 364, 379, 530 mit Anm. 36 – Öffentliche Kommunikation 96 f., 127–129, 313 f., 319–321, 341, 451, 481, 491 f., 505 f., 508, 529–533, 534 f., 544 siehe auch Geheimhaltung Komödie, siehe Quellenlage Konflikte 47, 49, 67 f., 73, 75, 179 f., 187 f., 207, 319, 337, 349, 356 f., 373 f., 384, 388 f., 406–408, 412 f., 491 f., 523, 562, 572 f. – Bürgerzwist (stasis) 64, Anm. 35, 72, Anm. 81, 73–76, 88, 104, 142, 264, Anm. 451, 391 f., 519, 554 f. Konkubinat 323, 407, 432 Konkurrenz 32, 44, 56 f., 70 f., 83, 187 f., 210, 298 f., 437, 507 f., 553 – Negativsummenspiel 47, 83, 179 f. – Nullsummenspiel 41, 73, 510 f., 567 – Statuskonkurrenz 44, 63–71, 80–83, 86, 89, 91 f., 120, 413 f., 491, 525 f., 554 f. Konsum 65, 103, 235, 247, 397–399, 407 f., 427 f., 469–479 – Ostentativer Konsum, Luxus 69 f., 77–79, 83, 103, 275 f., 278, 283–289, 298, 330 f., 362 f., 394, 410–414, 524–533, 535 f., 559 siehe auch Bedarf und Ernährung und Vorratshaltung Kooperation, antagonistische 334, 341, 397, 558 Korinth 75, 114, 394, 407, 409, 420, 430, Anm. 84 Korkyra 75, 281 f., 329, 356, Anm. 123, 368, 408, 419 mit Anm. 18, 420 Korporationen, Genossenschaften 50, 65, Anm. 40, 377, 565, 570, 574 – Attische Demen 50, 377, 369, 429, 452, 546 Kos 420, 545 f. Kreta 25, 43, Anm. 82, 64, 82, 88, 286, 404, 420 f., 434 Krieg – Krieg, Peloponnesischer 74 f., 78–80, 105 f., 119, 123, Anm. 178, 142, 153, 282, 286, 323, 496–498
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– Krieg, Kriegsrüstung 59–61, 73–75, 107 f., 120, 215, 218, 262, 286, 288 f., 334 f., 401–405, 409 mit Anm. 257, 423, 496 f., 499 f., 503, 537, 541 f. siehe auch Liturgien Kykladen (und die dortigen Städte) 344 f., 367, 382, 391, 408 f., 420, 508 – Delos 58, Anm. 9, 308, Anm. 3, 328, Anm. 3, 344, 382, 409, 420, Anm. 24, 432, Anm. 96, 461, 466, 503, 508, 545, Anm. 124 Kyrieia, siehe Recht unter Geschäftsfähigkeit Landgut siehe Gehöft Landwirtschaft 41, 115, 131–133, 146, 155 f., 160–163, 171, 334–336, 396, 408 f., 420, 436 f., 452 f., 492 f., 495–497, 498–501, 514–516, 520 f. – Anwesen des Phainippos 493 – Intensivierung 58, 132 mit Anm. 229, 171, 408, 420, 492 f. – Viehzucht 115 f., 131, 171, 199, 222, 227, Anm. 241, 230, 269 f., 289, 316, Anm. 49, 363, 409, Anm. 257, 501, 509, 516, 520 f., 562 f. – Wertschätzung 87, 122, 130, 192, 215 f., 232, 270, 298, 302, Lebensalter, siehe Lebenszyklus Lebensführung, edle 66–68, 113 f., 167 f., 188, 206, 210–212, 247 f., 292, 311–314, 362 f., 386–389, 401, 439, 525–533, 558–560 siehe auch Adelsdilemma siehe auch Konsum Lebenszyklus, Lebensalter 37, 152 f., 157 f., 280 f., 367, 373 f., 383 f., 390–411, 490, 529 Lesbos (und die dortigen Städte) 183, Anm. 8, 404, 496, Anm. 3, 546, Anm. 127, 562 Lindos, siehe Rhodos Liturgien 42 f., 63 f., 66 f., 78, 107, 233, 316 f., 491, 531–533, 537–539 – Trierarchie 61 f., 63, 68, 110, Anm. 92, 248, 350, 374, Anm. 55, 385, 404, 458, 478, 491, 532 f., 534, 537 f., 541 – Choregie 61 f., 63, 66, 68, 81, Anm. 139, 108, 110, Anm. 92, 222, 248, 369, 411 f., 530, 538 Luhmann, Niklas 34, Anm. 29, 309 f.
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Register
Lysias (und Familie) 103, 112, 128, Anm. 203, 171, 188, 387, 414 f., 430, Anm. 87, 543 f. Management, Aufsicht, ‚Fürsorge‘ (epimeleia) 46 f., 190 f., 217, 247–255, 264 f., 334– 341, 383 f., 428–434, 447–451, 470–473, 504 Mangel, siehe Knappheit Mariandynoi, siehe Helotentum Markt, Marktplatz 32 f., 57–60, 88, 119 f., 287 f., 295, 330, 345, 421, 423, 470 f., 497 f., 509 f. – Marktwirtschaft 24 f., 28, 32 f., 35, 44, 60, 71, 119, 204, 236 f., 301, 489 – Preise 32, 58, Anm. 9, 60, Anm. 21, 225, 240, 367 mit Anm. 17, 423 f., 437 f., 439, 489, Anm. 252, 491, 505, 510, 519, 545 siehe auch Kommerzialisierung und Verkehr Marx, Karl, Marxismus 236, 240, 416 Medizin, Krankenpflege 267, 274, 279 f., 289, 297 f., 367, 425 Megara 352, Anm. 106, 358 f., 420 Metöken, Nicht-Bürger 42 f., 70–81, 103, 175, 283, 296, 311, Anm. 17, 324, Anm. 104, 327, 358, 382, 387, 407, 496, 521, Anm. 44, 506, 534, 541 f., 509, Anm. 81, 543, 558 mit Anm. 2 Meyer, Eduard 18 f., 24, 51, 96, 416, Anm. 4 Mitgift 38, 87, 227, 323, 344, 349–359, 393, 402, 405, 474, 541, 544, Anm. 115 Mobiliar, siehe Hausrat Mobilität, physische 80, 112, 296, 370, 378– 383, 390–411, 437 f., 500 f., 562 f. Mobilität, soziale 64, 72–78, 101–110, 112 f., 411–415, 521, 559 – Abstieg 71 f., 106, f., 402, 413–415 – Aufstieg 68, 73 f., 107–109, 210, 350, 357 f., 362 f., 386–388, 391 f., 397, 413 f., 491, 504, 541 f. Monetarisierung, siehe Kommerzialisierung Monopol, siehe Verhandlungsmacht Moral, Ethik 135, 142–144, 159, 179 f., 191 f., 205–210, 275–278, 297–300, 534 f. siehe auch Gewinnstreben Mündlichkeit, siehe Kommunikation unter Kommunikation unter Anwesenden Mythologie 141, 201, 209, 287
Nachbarschaft 41, 60, 65, 70 f., 83, 135, 179 f., 314, 317, 319 f., 338, Anm. 40, 360, 384, 406, 408, Anm. 252, 436 f., 451, 539, 558 Nahbeziehungen, Netzwerke 39 f., 229 f., 241–243, 274 f., 291, 319, 378 f., 436 f., 489 f., 499 mit Anm. 21, 506–508, 516, 521–523, 526 f., 533–535, 540 f., 549 – Gastfreundschaft 34, 40, 66, 135, 150, 254, 274, 315, Anm. 46, 370, 391, 526, 531 f., 534 Nationalökonomie, siehe Wirtschaftswissenschaften Naturalwirtschaft, siehe Subsistenzwirtschaft Netzwerke, siehe Nahbeziehungen Nikias (Sohn des Nikeratos) 101, 317 f. Nomos argias 394 Nordwestgriechenland 25 f., 59, 325, 400, 419, Anm. 19, 420, 500, 501 Nutzen 30, 44, 224–245, 533 f., 543 – Grenznutzen 243–245, 436, 510, 524 f., 539 f., 554 – Nutzenmaximierung 30, 234, 246, 254, 426–428, 445 f., 497–501, 525, 533–539, 548 f. – Nutzenproduktion 30, 44, 225, 304, 334, 558 Oberschicht, siehe Stratifizierung Ökonomische Analyse, siehe Wirtschaftswissenschaften Olbia 371, 375, 430, Anm. 83, 452 f., 454, Anm. 54 und 57, 546 Oligarchie 64, 69 f., 75, 79, 81–83, 106 f., 142, 283, 499 f., 543, 557, Anm. 1 Oliven, Olivenöl 132 mit Anm. 229, 159, 172, 175, 314, 341, 363, 420, 493, 496 f., 520 f. Olynth 132 mit Anm. 229, 326, 328–330, 352 mit Anm. 106, 518 mit Anm. 25, 519 f., 536 Opportunitätskosten 32, 437, 456 Orakelanfragen 62, 99, 127, 183, 208, Anm. 135, 220, 231, 315, 325 f., 328, 356, 368, 400 f., 432, 434, 438, Anm. 124, 493, Anm. 277, 498–501, 504, Anm. 54, 515 f., 531 Ordnung, Organisation 36–38, 192, 248–251, 266 f., 379 f., 430 f., 447 f., 469–473, 477. 557 f. Pacht 50, 269, 324, 416, 466, 495 – Banken 388
Personen-, Orts- und Sachregister
– Bergwerke 110, 113, 440, 547 – Land 369, 420, Anm. 24, 437, 495–497, 508, 564 – Landwirtschaftliches Gerät 73, 172 – Sklaven 423, 431, Anm. 93, 486 – Steuern 50, 87, 111, 176, Anm. 168, 205, 358, 515, Anm. 7, 547 – Trierarchie 538, Anm. 81 – Vermögen (von Waisen) 320, Anm. 77, 378, Anm. 75, 480, 549, Anm. 140 – Werkstätten 388, 440 – Wohnhäuser 73, 104, 326, 329, 373, Anm. 45, 506 Paramonē, siehe Freilassung Partnerschaften, geschäftliche 22, 50, 192 227, 245 f., 250, 266, 321 f., 328, 332, 337, 355 f., 358, 365–385, 431 f., 457, 459, 478, 488–490, 507, 521 f., 531, 543 f., 557, 570–574 Pasion, siehe Apollodoros Patronage, siehe Nahbeziehungen Peasant economy, siehe Subsistenzwirtschaft Peer polity interaction, siehe Verkehr Peloponnes 25 f., 58 f., 268, 283, 286, 334–336, 367, 401, 403, 409, 420, 438, Anm. 124 Penestai, siehe Helotentum Perikles (und Familie) 61, Anm. 24, 73 mit Anm. 89, 155, 268, 319, Anm. 69, 333, Anm. 9, 339 f., 363, Anm. 161, 465, 471–473, 494 Peripatos 176 f., 212, 273 f. Pfadabhängigkeit, siehe Evolution, soziokulturelle Phaleas von Chalkedon 76, 88 f., 142 Philosophie, Philosophen 89, 100–103, 120– 122, 142 f., 172, 186 f., 211, 393, 399, 410 Piräus 103, Anm. 42, 282 f., 329, 340, Anm. 52, 399, 429, 430, Anm. 87, 439, 546 Platon (und Familie) 27, 96, 100 f., 111–113, 118, 120 f., 125, 129, 142 f., 188, 193 f., 234 f., 475 Polanyi, Karl 24, Anm. 32, 32, Anm. 23, 204 mit Anm. 111, 240, Anm. 315, 253 Präferenzen 30, 33, 243–245, 302 f., 389, 413, 508 f., 558 Priene 330, 508, Anm. 78 Prinzipal-Agenten-Problem, siehe Management und Vertrauen
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Privilegien 42 f., 63 f., 70–73, 75, 91, 325, 371 f., 524, 534 f., 539, 541 f., 545 f. Produktion, gewerbliche 61 mit Anm. 24, 195, 258–260, 328–330, 351 f., 379 f., 418–421, 483–488, 553 siehe auch Handwerk Produktivität, siehe Effizienz Prostitution 77, Anm. 117, 209, 330, Anm. 15, 352, Anm. 106, 366, Anm. 5, 396, 407 f., 413, 439, 562, 557, Anm. 1 Proxenie 110, Anm, 92, 370, 371, 545 Quellenlage, Quellenkritik 31, 51 f., 78, 96–98, 127–131, 307–309, 351–353, 355, 359 – Archäologie 31, Anm. 20, 58, 78, 80, 326 f., 328 f., 351, 353 – Gerichtsreden 97 f., 321 f., 347–350, 389, 475, 481, 512 – Inschriften 324–326, 371 f., 382 f., 409, 461 – Komödie 97 f., 322– 324, 341–343, 370, 395 f., 398, 406 f., 473 f. – Tragödie 71, 272, 322 Rationalität, Rationalisierung 25, 30 f., 56, 84, 92, 114, 120, 160, 191 f., 211 f., 223, 264 f., 268 f., 303, 314 f., 332, 417 f., 425 f., 431, Anm. 91, 443–451, 455–457, 460 f., 463, 471–473, 481, 492–494, 507, 522, 535 f., 556–558, 566 f., 574, Anm. 70 Rationierung 423 f., 425, 470–473 Realteilung, siehe Erbschaft Recht 38, 45, 319, 333–335, 344–347, 366, Anm. 5, 383–385, 431–433, 557 mit Anm. 1, 569–574 – Aufwandsgesetzgebung 78, 81 f., 529, Anm. 32 – Geschäftsfähigkeit, Haftung 333–335, 340, 344–347, 376, 384, 385, 565 – Verträge 38, 50, 57, Anm. 7, 176, 243, 281 f., 295, 320, 337, 356–359, 367 f., 369, 379, 385, 407, 431 f., 435 f., 451, 482 f., 485, 495 f., 503, 507, Anm. 75, 509, 529, 543, 557, 565, 571–573 siehe auch Institutionen Reichtum 31, Anm. 20, 61 f., 67 f., 71–73, 80, 98, 100–103, 134 f., 187 f., 211, 331, 353, 357, 361–363, 391 f., 398, 408, 410–415, 498 f., 518–520, 528–532, 539–541
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Register
– Reichtumsdiskurs 77 f., 86–89, 92, 114, 117–120, 137, 142 f., 167, 187–189, 195 f., 198, 201 f., 204 f., 207–209, 217 f., 232–235, 240 f., 244–246, 254 f., 280 f., 283–286, 289 f., 292 f., 298 f., 318 f., 471, 526, 530–533, 539 f., 566 Religion 114, 116 f., 498–501, 531–533, 543, 569 f. Rentabilität, siehe Effizienz Renten, Rentnertum 19, 48 f., 64, 252 f., 333 f., 340, 418, 424, Anm. 48, 425, 430, 437, 495 f., 510 f. Repräsentation, soziale, siehe Distanzierung, performative und Konsum Reproduktion, natürliche 44, 182, 214 f., 231, Anm. 265, 255, 267 f., 288, 341 f., 350, 361, 374, 391, 403–405, 407, 422 Ressourcen, natürliche 56 f., 281, 295 f., 367, 420 Reziprozität, siehe Gabentausch Rhetorik 104, 170, 210, 264, 292, 304, 337 f., 481, 512, 530 Rhodos 54, 64, Anm. 35, 286, 328, Anm. 3, 344 mit Anm. 69, 345, 347, 358, 375 f., 382, 396 f., 505, Anm. 54, 506, Anm. 69, 545, 565 mit Anm. 27 Risiko, Ungewissheit 30 f., 60–62, 268 f., 414 f., 432–434, 436, 456, 495 f., 499, 514–516, 568 f. – Risikominimierung 376, 378 f., 385, 404 f., 436–438, 514–523, 539–541, 566 siehe auch Diversifizierung siehe auch Zufall Rodbertus, Karl 17–19, 270 Schifffahrt 58 f., 189, 192, 281–283, 285 f. mit Anm. 551, 370 f., 377–382, 394–401, 407, 498–500, 503, 515 f., 517, 562 f., 568 f. – Ruderdienst 60, Anm. 18, 312, 409, 503 Schiffsbesitz 113, 370 f., 397, 400 f., 404, 498–501 Schlüssel und Siegel 308, Anm. 3, 328, Anm. 3, 340–342, 379, 451, 453, 474, 482 f., 520 Schriftlichkeit, literarische Kommunikation 125 127–129, 139 f., 142–144, 156 f., 163, 167 f., 171, 175–177, 307–309, 459 f., 473 f. siehe auch Briefe und Buchführung
Schulden, siehe Darlehen Schuldknechtschaft 419, 421 f., 509 Schumpeter, Joseph 95, 240, Anm. 315, 245, 455 Schwarzmeergebiet 80, 283, 325, 371, 375, 381 f., 411, Anm. 265, 420, 452–454, 471 Seereich, Athenisches 26, 57, 59 f., 73–75, 282–287, 291, 342, 459, 546, Anm. 129 Selbstbeschreibung, gesellschaftliche 29, 32, 34 f., 96–99, 318 f., 563 Selbstgenügsamkeit 226, 275–278, 280 f., 283 f., 287 f., 298 f. Semantik (antike und moderne Definitionen) 34–36, 40 f., 73, 98 f., 117 f., 170, 181– 184, 193–198, 201 f., 218–221, 255, 270–274, 443–448, 515 f. Sittenkritik 88 f., 202–208, 276, 283–285, 288 f., 297–300, 499 f., 525 f. Sizilien und Großgriechenland (und die dortigen Städte) 75, Anm. 98, 141, 283, 392, Anm. 157, 309, Anm. 257, 498, 501, 503, Anm. 47, 527, Anm. 13, 531, Anm. 40, 532, Anm. 47 – Syrakus 61, Anm. 23, 172 f., 286, 316, Anm. 54, 328, Anm. 4, 409, Anm. 257, 503, Anm. 47, 546, Anm. 128 Skaleneffekte 430 f., 486, Anm. 235, 553–555 Sklaverei 37, 49, 194 f., 230, 251 f., 255–266, 416–440, 469 f., 493 f., 528, 557, 563, 571–574 – Bestrafung, Folter 249 f., 265, 267 f., 338, 425–433, 448 – Privilegien für Sklaven 265–267, 339– 341, 427–429, 432–434, 438 f., 493 f., 557, 563 siehe auch Aufseher Sokrates 96, 100–102, 104 f., 120 f., 126, 142 f., 151–153, 157–161, 186, 192 Söldnerdienst 80, 112, 129, 175, 286, 323 f., 373, 379, 389, Anm. 146, 401–405, 406–408, 436 mit Anm. 118, 563, Anm. 14, 568 f. Sophisten, Sophistik 24, Anm. 32, 100, 102, 103, 108, 116, Anm. 131, 119–122, 125–128, 142 f., 157 f., 185, 186, 232–234, 235, 252, 276, 337, 366, 544, Anm. 112 Sophokles 113, 168, 275, 393, Anm. 163 Sparta (und Lakonien) 38, 43, Anm. 82, 57, Anm. 7, 58, Anm. 12, 59, 64, 75 mit
Personen-, Orts- und Sachregister
Anm. 98, 85 f., 88, 112, 187, 283 f., 334 f., 344, 347, 401 mit Anm. 214, 403, 421–423, 428, 434, 496 f. mit Anm. 12, 526, Anm. 5, 557, Anm. 1 Spenden (epidoseis) 84, 110, 375, 541 f. Spieltheorie 31, Anm. 19, 549 siehe auch Kooperation, antagonistische und Konkurrenz Sprachliche Mittel 135 f., 140 f., 151 f., 156–158, 170 f., 175 f., 201 f., 225, 229, 284 f., 311–313, 363 – Dialogizität 100 f., 109 f., 146–148, 163 – Ironie 155–160, 337 f. – Parodie, Satire 97, 159, 313 f., 318 f., 394 – Vergleich, Metapher, Bild 114–118, 195, 234, 248, 312, 342 f., 414, 428, 533 f., 539 f. Spruchweisheiten, Sprichwörter, 115, 136 f., 139–141, 152, 216, 249, 275, 311, 319, 354, 363, Anm. 112, 390, Anm. 47, 516 f., 526, 535 Stadtgemeinde, Bürgerschaft 37 f., 60, 63–65, 85, 205, 222 f., 245 f., 287–289, 294–297, 345–347, 458 f., 508, 531–533, 558–560 Stadt-Land-Gegensatz 41–43, 65, 119 f., 298 f., 396 f., 429, 437 f., 452, 473 f., 492 f. Stand, Status, siehe Stratifizierung Statistik, Quantifizierung 18 f., 29, Anm. 11, 31, 78 f., 272 f., 416–418, 456, 500, 505, 515 Stellvertretung 45, 340, 341, 371, 372, 431, 559 Steuern, Abgaben 63, 66–68, 111, 196, 222, 233, Anm. 275, 316 f., 335, 371, 374, 480, 487, 491, 516, 521, Anm. 44, 525, 532, 534–537, 545 f. Stratifizierung 42 f., 53, 71–78, 90, 97 f., 205, 291 f., 351 f., 492 f., 537–539, 548 f., 553–555 – Bürgerstatus 42, 52 f., 72, 73, 264, 311, 350, 353, 401, 415, 471, 491 – Oberschicht 53, 62–70, 81–83, 100–110, 156–158, 164–168, 179 f., 210 f., 260 f., 298, 311–313, 329 f., 340, 406, 410 f., 417, 521, 527 f. Subsistenzwirtschaft 17–20, 44, 87, 199, 203 f., 293 f., 298, 334–336, 417, 509 – Peasant economy 37, 41–43, 120, 136, 271, 343, 366, 383, 394, 436, 514, 520 f. – siehe auch Autarkie Symposion, siehe Gastmahl
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Technik, Technologie 27, 44, 115, 179, 261, 339, 424, Anm. 48, 430 f., 454–457, 522, 553, 568 – Landwirtschaftliche Geräte 61, Anm. 24, 107, 132, Anm. 229, 172, 436, 456, Anm. 69, 539 – Transport 58, 328, 380, 419, 453, 503 Testamente 252, 263, 320, 347–349, 372, 378, 386, 404, Anm. 227, 451, 474 f., 478, 482 f., 570 Thasos 284, 298, Anm. 612, 394, 420, 546, Anm. 129 Theben (und Böotien) 58 f. mit Anm. 12 und 13, 330, Anm. 15, 351, 367, 557, Anm. 1 Theophrast 112, 143, 205 Thessalien 25 f., 58 f., 88, 231, 284, 286, 420– 422, 434 Treue, siehe Vertrauen Trierarchie, siehe Liturgien Umverteilung 49, 57, 60, 74 f., 205, 510 f., 554 f. Ungewissheit, siehe Risiko Verbannung, Exil 40, 60, 75, 111 f., 316 mit Anm. 54, 359, 414 mit Anm. 275, 496, 509, 519, 546, Anm. 128 Vergleich, historischer 23, 32 f., 35 f., 38, 43, 51 f., 57, Anm. 3, 65, Anm. 40, 81 f., 114, 434 f., 437, 455–457, 469, 488 f., 570–574 – Florenz 43 mit Anm. 83, 51–55, 114 mit Anm. 117, 129–131, 136–140, 308 f., 310, 315, 355, 359, 362, 370, 375, 384, Anm. 117, 390, Anm. 150, 398, 431, Anm. 91, 435, 466, 488, 489 f., 502, 507, 508, Anm. 76, 542, 547, Anm. 132, 570–574 – Antikes Rom 45, 81 f., 131, 148, 162 f., 331, Anm. 19, 333, Anm. 9, 355, 375, Anm. 56, 384, Anm. 111, 386, Anm. 118, 396, Anm. 184, 489 mit Anm. 255, 565 f., 571 – Sklaverei in den Amerikas und der Karibik 265, 268, 339, 418, 420, 423, Anm. 41, 425, 427, Anm. 66, 434, Anm. 107, 109 und 112, 435, 438, 574, Anm. 70 – Italienische Stadtrepubliken 51–55, 74, 355, 376, 385, 390 f., 431, 502, 503, 567–574 Verhandlungsmacht 46, 120, 172 f., 175, 299 f., 334, 357, 432–434, 472 f., 508–513, 519
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Register
Verkehr, Verkehrswirtschaft 44 f., 56–60, 75, 113, 205 f., 209, 344–347, 384 f., 419–422, 437 f., 492 f., 501–503, 556 Verleumdung, üble Nachrede, siehe Gerüchte Vermögen, siehe Eigentum, Besitz Verschwendung, siehe Bankrott Versicherung 378, 415, 435–437, 491 f., 518 f., 521–523, 539–542 Versorgung, siehe Bedarf Vertrauen 46 f., 332, 338, 341–343, 349, 376 f., 429–434, 507, 516, 522, 534, 542–547, 548 f. Verwandtschaft 38–40, 79–81, 104 f., 128 f., 360, 364, 454 mit Anm. 57, 522 f., 562 f., 568–573 – Abstammung 77, 109, 262, 354, 357, 362 f., 374 f., 377, 391 f. – Eltern-Kind-Beziehung 102 f., 116 f., 129 mit Anm. 209, 134 f., 149–151, 155 f., 157 f., 184, 311 f., 319, 347 f., 356 f., 360, 361–364, 365–372, 382 f., 383–385, 391 f., 392–401, 406 f., 410 f., 411–415, 453 f., 509, 556 f. – Geschwister 38 f., 135 f., 157 f., 344 f., 373–389, 402, 404 f., 509, 545, 562 f. – Nachkommen 127, 128 f., 341–343, 354, 360, 367 f., 404 f., 412 f., 500, 545 f. – Patrilinie 34, 38 f., 365, 366–368, 372, 384, 386, 522 f., 569 – Verschwägerung 39 f., 79, 347 f., 356– 360, 522 f., 544, Anm. 115, 569–571 Volljährigkeit, Mündigkeit 36 f., 100, 158, 333, Anm. 9, 347, 365, 367, 370, 382 f., 390, 392 f., 396 f., 406, 411 f., 481, 556 f., 569 siehe auch Recht unter Geschäftsfähigkeit Vorderasien 285 f., 545 f. Vormundschaft (über Waisen) 37 f., 134, Anm. 240, 153, 321, 347–349, 358–360, 364, 372, 374, 378, 385 f., 388 f., 392, 475–479, 480–490, 522 f., 548 f. Vorratshaltung 103, 141, 187, 233 f., 312, 340– 343, 353, 469–473, 518–520 Wachstum 31, Anm. 20, 48 f., 57–60, 62 f., 72 f., 74, Anm. 95 Weber, Max 19, 25, 29, 44 f., 51, 53 f., Anm. 147, 56, Anm. 2, 418, 430, 455, 502, 513, Anm. 100, 570
Weihgeschenke 65, Anm. 40, 125, Anm. 186, 129, Anm. 209, 246, 354, 367, 382 f., 532, 562 Wein – Anbau und Handel 58, 132, 175, 284, 492, Anm. 271, 493, 497 f., 509 f., 520 f. – Konsum 226, 229, 251, 267, 288, 341 f., 353, 407, 413, 420, 427, 506, 518, 527, 530 Weisheitsliteratur 135 f. Wert, Wertlehre 70, 83, 201 f., 224–226, 230, 236–245, 251 f., 354, 424, 449, 456, 518 f., 524, 533 f., 539 siehe auch Nutzen Wirtschaftswissenschaften 17 f., 29 f., 35, 46–50, 95 f., 181, 225, 236 f., 240, 245, 246 f., 252 f., 288, Anm. 560, 417 f., 421, 443, 455, 472, Anm. 158, 505, 514 f., 567 f. Wissen 106, 125–127, 134–141, 150 f., 161–163, 164–168, 174 f, 178–180, 184 f., 257 f., 279 f., 348 f. – Fachwissen 108, 124 f., 147 f., 161 f., 189 f., 251, 260 f., 366 f., 421, 424 f., 444 f. Witwen 154 f., 345, 347–349, 354, 360, 364, 412 f., 569 f. Wohnen, Wohnhaus 34, 38–40, 90 f., 103, 130 f., 187 f., 216, 316 mit Anm. 49, 326 f., 328–331, 341, 374 f., 400, 412, 429, Anm. 77, 440, 452 f., 518–520, 529, 532, 536 Xenophon 111 f., 124 f., 129, 145–147, 159, 402–404 Zenon von Kition 89, 112, 142, 399, 401 Zensus, Regimentsfähigkeit 42 mit Anm. 78, 71, 75–77, 87, 107 f., 330, Anm. 15, 557, Anm. 1 siehe auch Ämterbekleidung Zufall, Schicksal (tyche) 61 f., 275 f., 280 f., 299, 445 f., 517 f., 531, 540 f., 567 siehe auch Risiko Zwang, Gewalt 268, 334, 338, 425–427, 431–433, 453 f. Zypern 283, 372, 545
historia
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einzelschriften
Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend), Christelle FischerBovet, Mischa Meier, Sabine Panzram, Henriette van der Blom und Hans van Wees.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0341–0056
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Provincial Allocations in Rome 123–52 BCE 2019. 243 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 9783515121194 Frank Ursin Freiheit, Herrschaft, Widerstand Griechische Erinnerungskultur in der Hohen Kaiserzeit (1.–3. Jahrhundert n. Chr.) 2019. 340 S. mit 11 Tab., geb. ISBN 9783515121637 Cristina RosilloLópez (Hg.) Communicating Public Opinion in the Roman Republic 2019. 304 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 9783515121729 Rafał Matuszewski Räume der Reputation Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. 2019. 375 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 9783515122337 Henning Börm Mordende Mitbürger Stasis und Bürgerkrieg in griechischen Poleis des Hellenismus 2019. 362 S., geb. ISBN 9783515123112 Konrad Petzold Die großen Taten der kleinen Leute im Alten Rom 2019. 338 S., geb. ISBN 9783515122153 Michele Bellomo Il comando militare a Roma nell’età delle guerre puniche (264–201 a. C.) 2019. 277 S. mit 6 Tab., geb. ISBN 9783515123846 Karen Piepenbrink Die „Rhetorik“ des Aristoteles und ihr Verhältnis zum historischen Kontext 2020. 244 S., geb. ISBN 9783515125642 in Vorbereitung Jan Bernhard Meister ‚Adel‘ und gesellschaftliche Differenzierung im archaischen und frühklassischen Griechenland 2020. 443 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 9783515127158 Frank Görne Die Obstruktionen in der Römischen Republik 2020. 336 S. mit 6 Abb., geb. ISBN 9783515127547
Die Antike war die Epoche der Hauswirtschaft. Moritz Hinsch vertritt diese alte These für das klassische Griechenland mit grundlegend neuer Ausrichtung. Der Haushalt blieb die zentrale wirtschaftliche Organisationseinheit, gerade weil seine flexible institutionelle Ordnung die Anpassung an die expandierende Geldwirtschaft im Mittelmeerraum erlaubte. Auch die philosophischen Abhandlungen zur Ökonomik, der Kunst der Haushaltsführung, bewertet Hinsch neu. Diese Texte waren keine praktischen Fachbücher, aber sie geben Auskunft über Grundprinzipien der griechischen Hauswirtschaft. Sie waren literarisch
ISBN 978-3-515-12841-4
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gestaltete Beiträge zu einem normativen Diskurs über Reichtum und Erwerb. Die Zeitgenossen der klassischen Zeit empfanden diese Themen zunehmend als problematisch, weil die gesteigerte Statuskonkurrenz alle Haushalte dazu zwang, effizienter zu wirtschaften und ihren Nutzen zu maximieren. Die zu diesem Zweck verfolgten Strategien waren komplex: Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Ehe, Kooperation unter Verwandten und der rationalisierte Einsatz von Sklaven, aber auch die Investition in soziales und symbolisches Kapital durch ostentativen Konsum und ehrenhaftes Geschäftsgebaren.
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