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German Pages 298 Year 2014
Martin Sigmund Komponieren für Events
Martin Sigmund (Dr. phil.) beschäftigt sich mit Kultur und Bildung in nationalem und internationalem Kontext, insbesondere im Rahmen der strategischen Bildungsplanung der Republik Österreich. Er blickt zurück auf eine langjährige Lehr- und Forschungstätigkeit, unter anderem an der Wiener Musikuniversität, mit den Schwerpunkten Musikpädagogik, Kultursoziologie und Eventkommunikation.
Martin Sigmund
Komponieren für Events Zur Rolle der Künste in der Eventkultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Roundabout im Wiener Prater. Doris Kölbl-Tschulik 2011. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von der Fotografin Lektorat & Satz: Daniel Sigmund Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2419-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 1
Event versus Kunst: Annahmen, Fragen und Wege | 9 Von der Hypothese zur Forschungsfrage | 10
Die Suche nach gangbaren Wegen: Interdisziplinäre Verfahren | 12 2
Event als Gegenstand der Wissenschaft | 17
Ein vieldeutiger Begriff | 17 Erlebnisgesellschaft und Erfahrungs-Ökonomie | 26 Neun Merkmale von Events | 30 Zusammenfassung: Eventisierung als Prozess | 62 3
Event in der Kunst | 65
Autonome Kunst | 66 Gesamtkunstwerk | 69 Entwicklungen nach 1945: Ausgewählte Beispiele | 74 Zusammenfassung: Anregungen für Events | 98 4
Zeitgenössische Musik im Kontext | 101
Zeitgenössische Musik als Genre | 102 Das Publikum der zeitgenössischen Musik | 127 Resümee: Zeitgenössische Musik in funktionellem Kontext | 163 5
Fallstudien: Kompositionsaufträge für Events | 167 50 Jahre Oberösterreichische Ferngas | 170 Kyral Klang und Eppler Epen | 180 Allied Musical Forces Erlauf | 194 Grabenfesttage der ÖBV | 211 Ouverture – Philharmonie Luxemburg | 226 6
Integrative Analyse: Unterschiede im künstlerischen Arbeitsprozess | 243 Ein hypothetischer Gegensatz | 243
Unterschiede im künstlerischen Arbeitsprozess | 245 Sonderfrage: Kontextverschiebung | 269 7
Zusammenfassung der Ergebnisse | 273 Autonomie und Manipulation | 274 Liveness und Technikeinsatz | 275 Masse und Elite | 276 Kunst und Kommerz | 277 Distanz und Partizipation | 278 Schlussbemerkung | 280 Verzeichnisse | 281 Literatur | 281
Abbildungen und Tabellen | 293
V ORWORT Die Beschäftigung mit neuen und vitalen kulturellen Entwicklungen und Phänomenen führt immer in unsicheres Terrain: Sie stellt unsere Wertungen in Frage, ohne dafür die Gewissheit von lange Bewährtem bieten zu können. Der mögliche Gewinn besteht in der Erkenntnis von Zusammenhängen, die uns bisher unklar oder zur Gänze verborgen waren. Mein persönlicher Zugang zum Thema Event war anfangs geprägt von meiner Tätigkeit als Musikpädagoge. Ich beschäftigte mich vorrangig mit der Frage, wie im Kontext der Schule intensive Erfahrungen mit Musik ermöglicht werden könnten. Es zeigte sich rasch, dass die Gestaltung von atmosphärischen Erfahrungsräumen, die Entwicklung von Dramaturgien und die aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler Schlüsselfaktoren für diesen ästhetischen Zugang sind. Eines der Projekte, die in diesem Zusammenhang entstanden, heißt „die kunst der stunde“. Verschiedene Begegnungen und Überlegungen führten schließlich dazu, dass ich mich mit Events in einem weiteren Kontext zu beschäftigen begann. Es kam zur Zusammenstellung eines Thinktanks aus Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen und Arbeitsbereiche, welche sich ebenfalls mit Events befassten und bereits über umfassende praktische Erfahrung damit verfügten. Diese Gruppe nannte sich „the art of event“ und setzte sich zum Ziel, einen Lehrgang zu entwickeln, der sich nicht nur mit praktisch-organisatorischen Fragen (Eventmanagement) sondern auch mit Fragen der sozialen und künstlerischen Gestaltung von Events befasste (Eventkommunikation). Um den künstlerischen Aspekt zu betonen, wurde der Lehrgang nach einigen erfolgreichen Jahren weiterentwickelt zu einem Universitätslehrgang an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Dort gelang es mir auch, die erste wissenschaftliche Fachbibliothek zum Thema zu initiieren (Dank an die damalige Leiterin der Bibliothek Dr. Susanne Eschwé). Die Übersiedlung an die Musikuniversität (wo der Lehrgang bis 2009 bestand) stieß aber auch auf Widerspruch und brachte einige höchst interessante und kontroversielle Diskussionen mit sich. Dieser Impuls führte mich dazu, das Thema Event und die damit verbundenen Entwicklungen speziell im Hinblick auf Kunst zu hinterfragen und gab den Anstoß für diese Untersuchung.
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Mein Dank gilt allen Personen, die zu dieser Diskussion beigetragen haben und natürlich jenen, die mich bei der Arbeit unterstützt und wichtige Anregungen und Gedanken beigetragen haben: Peter Tschmuck, Franz Niermann, Brigitte Lion, Wolfgang Gratzer, Ursula Brandstätter, Harald Huber, dem Team von „the art of event“, Katharina Blaas (Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich), Berno Odo Polzer (WienModern), der Komponistin Tiziana Bertoncini, den Komponisten Michael BrucknerWeinhuber, Renald Deppe, Konrad Rennert und Helmut Schmidinger, den Ansprechpartnern der beauftragenden Unternehmen und Institutionen sowie all jenen Menschen, mit denen ich über das Thema sprechen durfte und so meine Gedanken bündeln und entwickeln konnte.
Wien, im Mai 2013
1 Event versus Kunst: Annahmen, Fragen und Wege Es gibt nur Erzählungen, nichts anderes. Selbst die Naturwissenschaften erzählen. Der Glaube, man könne aus einem Mikro- oder Makrokosmos objektiv berichten und so ein maßstabgetreues Abbild der Wirklichkeit liefern, ist ein grotesker Irrtum. CHRISTOPH RANSMAYR
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Bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten wird im deutschen Sprachraum der Begriff Event für eine neue Form von Veranstaltungen, aber auch – als reiner Anglizismus – für Veranstaltungen generell verwendet. Die Herkunft dieses Trends wird im Allgemeinen im Bereich des Marketing angenommen, mittlerweile aber haben Events ihren Platz auch in den Bereichen der Kunst, des Sports, der Politik, der Wissenschaft und sogar der Religion gefunden. Insbesondere im Bereich der Kunst stößt diese Entwicklung auf heftige Kritik. So trug eine Podiumsdiskussion in Salzburg im April 2006 den Titel „Event oder Tiefgang“ (vgl. Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen 2007: 79-122), der implizit auf die Oberflächlichkeit von Events verweist. In der Verbreitung der so genannten Eventkultur wird eine für die Kunst zerstörerische Macht gesehen. Ist diese Annahme berechtigt? Sind durch die zunehmende Bedeutung von Events negative Veränderungen für die Kunst feststellbar? Wenn ja, wie werden
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„Erzählen im Duett“. Ein Gespräch mit Martin Pollack und Christoph Ransmayr, von Mia Eidlhuber und Stefan Gmünder. In: Der Standard, Album, 24.9.2011
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diese Einflüsse von Künstlerinnen und Künstlern selbst wahrgenommen und bewertet? Im Folgenden wird dargestellt, wie aus diesen Annahmen Hypothesen und konkrete Forschungsfragen entstehen, und mit welchen Methoden die vorliegende Arbeit nach Antworten auf letztere sucht.
V ON
DER
H YPOTHESE
ZUR
F ORSCHUNGSFRAGE
Im Feld der Hochkultur, unabhängig davon, ob es sich um Bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater handelt, löst der Begriff „Event“ fast immer abwehrende bzw. negativ wertende Reaktionen aus. Will man etwa als Kulturmanagerin bzw. Veranstalter die entsprechenden Zielgruppen dieses Feldes mit Marketingmaßnahmen erreichen (vgl. Kapitel 4), empfiehlt es sich, die offensive Verwendung des Ausdrucks zu vermeiden, selbst wenn man in der Konzeption von Veranstaltungen bewusst den Prinzipien des Eventmarketing folgt. So wurde etwa bei einer Diskussion mit dem Titel „Publikumswandel 2008“ (10.11.2008) im Wiener Konzerthaus auf dem Podium darüber diskutiert, dass zeitgenössische Musik im Rahmen einzelner Repertoire-Konzerte immer weniger Publikum habe, „Events“ wie das Festival „Wien Modern“ hingegen großen Zulauf fänden2. Sofort kam eine empörte Wortmeldung aus dem Publikum, „Wien Modern“ sei „kein Event!“. Die Äußerung erhielt spontanen Applaus. Events werden hier vor allem der Populärkultur sowie jungen bzw. sehr jungen, hedonistisch orientierten Zielgruppen zugeordnet, vom überwiegend älteren und gebildeten Hochkulturpublikum pejorativ als „Spaßgesellschaft“ bezeichnet. Somit entsteht der Eindruck, dass hier zwei Relevanzsysteme gegeneinander stehen: Einerseits das an Kunst „von bleibendem Wert“, bzw. am „Ernst“ (z.B. im Ausdruck „ernste Musik“) orientierte System der Hochkultur, andererseits die am (vordergründig) spektakulären und flüchtigen Event und am „Spaß“ des einzelnen Menschen orientierte System der Eventkultur. Die deutliche Zunahme event-artig organisierter Großveranstaltungen innerhalb der letzten Dekaden lässt auf ein Anwachsen der Eventkultur schließen, welches als Eventisierung bezeichnet wird. Ist damit eine Verdrängung bzw. Bedrohung der Hochkultur verbunden?
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Der damalige künstlerische Leiter von Wien Modern, Berno Odo Polzer hatte zuvor in einem Gespräch mit dem Autor geäußert, dass er das Festival systematisch eventisiert hätte und den Erfolg unter anderem dieser Event-Strategie zuschreibe.
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Um sich mit dieser Frage zu befassen, sind mehrere Schritte der Eingrenzung und Konkretisierung erforderlich. Der erste betrifft die beiden Pole des Spannungsfeldes: •
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Handelt es sich bei Events tatsächlich um ein neues Phänomen, und wenn ja, welche besonderen neuen Aspekte tauchen darin auf? Wodurch sind Events gekennzeichnet, inwiefern unterscheiden sie sich von konventionellen Veranstaltungen wie Konzerten, Vernissagen, Theatervorstellungen, Modeschauen, Auktionen usw.? Was sind, mit anderen Worten, Merkmale von Eventisierung? Und worin besteht andererseits das Bezugssystem der Hochkultur? Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und kollektiven Orientierungen kennzeichnen dieses Feld?
Zur Beantwortung der ersten Frage steht eine für die Neuheit und Kürze der Entwicklung bereits relativ umfangreiche Literatur zur Verfügung. Der überwiegende Teil dieser Literatur hat Anleitungscharakter und befasst sich mit Event als Methode, zumeist im Rahmen des Eventmarketing. Darüber hinaus finden sich aber auch reflektierende Ansätze, die sich mit Events aus phänomenologischer, soziologischer, oder kulturanthropologischer Perspektive auseinandersetzen. Die zweite Frage fokussiert nicht zuletzt auf die Idee der Kunst, genauer: der so genannten autonomen Kunst. Um dieses weite Feld bearbeiten zu können, müssen Einschränkungen getroffen werden, es muss nach handhabbaren exemplarischen Teil-Feldern gesucht werden, mit anderen Worten nach einer besonders ausgeprägten Position der autonomen Hoch-Kunst. Eine solche besetzt zweifellos die zeitgenössische Kunstmusik seit Arnold Schönberg. Keine andere Form von Kunst steht heute so stark für die Idee autonomer Kunst, sowohl in ihren Ausdrucksformen als auch in der Haltung, z.B. der offensiven Ablehnung jeglicher Kompromisse an den Geschmack oder die Vorlieben des Publikums. Die Frage nach der Lage der Kunst in der Eventkultur wird also konkretisiert und zugespitzt auf die Situation der zeitgenössischen Musik im Kontext von Events: Stellt die Zunahme von Events bzw. die Eventisierung des Kultursektors eine Bedrohung für die zeitgenössische Musik dar? Wird diese ohnehin sehr kleine und sensible Nische durch die Eventkultur weiter zurückgedrängt? In der Befassung mit diesen Fragen tauchte bereits sehr bald eine hochinteressante und überraschende Schnittstelle auf: Der Autor stieß auf mehrere Unternehmen und Institutionen, die für ihre Events Kompositionsaufträge an zeitgenössische Komponistinnen vergeben.
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Ist ein solches Zusammenwirken der Gegensätze möglich? Bietet sich hier eventuell ein attraktives Entwicklungsfeld für die Künstler? Oder geht es um einen ökonomisch motivierten Kompromiss, einen Verrat an der Kunst? Was veranlasst Komponistinnen und Komponisten, solche Aufträge anzunehmen? Eine Hypothese dieser Untersuchung lautet, dass zwischen Events und zeitgenössischer Musik ein Spannungsfeld besteht. Daraus lässt sich die Annahme ableiten, dass eine Kombination dieser Gegensätze Veränderungsprozesse in verschiedene Richtungen auslösen könnte. Für die wissenschaftliche Bearbeitung der zu Grunde liegenden Frage, ob die zunehmende Bedeutung von Events für die Kunst negative Folgen hat, stellt diese Koinzidenz einen Glücksfall dar, denn daran wird sie überprüfbar. Mit den Kompositionsaufträgen für Events ist ein klar begrenzter Untersuchungsgegenstand gegeben, der eine weitere Konkretisierung der Forschungsfragen ermöglicht: •
• • •
•
Inwiefern unterscheiden sich die Bedingungen für die Produktion, Präsentation und Rezeption zeitgenössischer Musik in Events von denen im konventionellen Kontext? Mit welchen Veränderungsprozessen sind wir hier konfrontiert? Wie werden die angenommenen Widersprüche gelöst? Wie bewerten Künstler – konkret: die beauftragten zeitgenössischen Komponisten – die Bedingungen für die Produktion, Präsentation und Rezeption ihrer Arbeiten im Rahmen von Events? Welche Interessen haben Auftraggeber, die Kompositionsaufträge für Events vergeben?
D IE S UCHE NACH GANGBAREN W EGEN : I NTERDISZIPLINÄRE V ERFAHREN Mit welchen wissenschaftlichen Werkzeugen lassen sich Antworten auf die gestellten Fragen finden? Welche Daten müssen dazu erhoben werden? Wie sollen diese Daten erhoben werden? Und wie sollen die erhobenen Daten verarbeitet bzw. ausgewertet werden? Diese Fragestellungen legen einen interdisziplinären Zugang nahe: Die Erschließung des an sich schwer fassbaren Themas mit seinen verschiedenen Aspekten erfolgt von mehreren Seiten, die jeweils unterschiedliche Methoden verlangen. Nur die Kombination systematischer, hermeneutischer, historischer,
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komparativer und empirischer Verfahren ermöglicht eine Annäherung an die damit verbundene Komplexität. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die oben eröffneten Themenkomplexe, so zeigen sich zunächst zwei Bereiche, die nach unterschiedlichen Arbeitsweisen verlangen. •
•
Die Analyse der beiden Kontexte (Event / zeitgenössische Musik): Sichtung und Auswertung von Fachliteratur; Feldforschung und Recherche (Events, Konzerte, Tagungen, Institutionen); Experteninterviews; Medienschau Die Fallstudien „Kompositionsaufträge für Events“: Datensammlung zu den betreffenden Events (deskriptive Analyse); Leitfadeninterviews mit den Komponistinnen und Auftraggebern; Auswertung der Fallstudien (komparatistisch, hermeneutisch)
Nun kommt ein dritter wichtiger Aspekt dazu: Der Blick in die Geschichte der Künste im 20. Jahrhundert bringt eine Entwicklung zutage, die in dieser Untersuchung keineswegs ausgeblendet werden darf, auch wenn sie den angenommenen Antagonismus zumindest relativiert (oder gerade deshalb): Es handelt sich um die Entstehung verschiedener Strömungen, denen gemeinsam ist, dass der geschlossene Werkbegriff in Frage gestellt wird und durch neue, ephemere bzw. performative Formen ersetzt wird (vgl. Fischer-Lichte 2004). Eine zentrale Figur und Ausgangspunkt verschiedener Entwicklungen ist John Cage. Die Darstellung dieser hier so genannten „Event-Kunst“ steht irritierend zwischen den beiden Spannungspolen Event und Kunst und stellt diese Wirklichkeitskonstruktion in Frage. Damit bildet sich folgende Struktur der Studie heraus: 1. Darstellung und Analyse der beiden Pole des angenommenen Spannungsfel-
des: Event als Gegenstand der Wissenschaft / Zeitgenössische Musik im Kontext 2. Zwischenschritt: Event in der Kunst des 20. Jahrhunderts 3. Darstellung und Analyse von Fallbeispielen: Kompositionsaufträge für Events 4. Integrative Analyse
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Ad 1.: Darstellung und Analyse der beiden Pole des angenommenen Spannungsfeldes Die beiden Pole „Event“ und „zeitgenössische Musik“ können nicht nach einem gemeinsamen Raster analysiert werden, sondern bedürfen – wie bereits oben angesprochen – unterschiedlicher Behandlung: Event als Gegenstand der Wissenschaft: Hier geht es darum, den Begriff „Event“ einzugrenzen (z.B. gegen umgangssprachliche und polemische Verwendungen) und spezifische Merkmale festzumachen, also um eine systematische Orientierung. Die Basis dafür bildet insbesondere die Fachliteratur aus den Bereichen des Eventmarketing und des Kulturmanagement. Dort wird Event primär als Methode beschrieben. Daneben findet sich eine (geringere) Zahl an Publikationen, die Event nicht im Sinn einer Handlungsanleitung thematisieren, sondern einen analytisch reflektierenden Zugang haben. In der Zusammenschau dieser Literatur zeigt sich eine Reihe von Merkmalen, die in von Fall zu Fall unterschiedlicher Gewichtung bei Events zu beobachten sind. Das verstärkte Auftreten dieser Merkmale in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, also auch im Kultursektor, ergibt das, was wir als „Eventisierung“ bezeichnen. Zeitgenössische Musik im Kontext: Eine umfangreiche Literatur setzt sich mit zeitgenössischer Musik aus musikwissenschaftlicher Perspektive auseinander. Dabei liegt die Orientierung auf der Analyse von Werken, Stilen und künstlerischen Entwicklungen. Im Zusammenhang mit den vorliegenden Fragen sind diese Aspekte aber nachgeordnet. Gefordert ist vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Kontext der zeitgenössischen Musik. Dies geschieht aus drei Perspektiven: • • •
kulturell (stilistische Positionierung, Bezug zu anderen Stilfeldern) ökonomisch (Stellung auf dem Markt, Situation der Produzenten) soziologisch (hier speziell: das Publikum der zeitgenössischen Musik)
Ad 2.: Event in der Kunst des 20. Jahrhunderts Zur Beantwortung der Forschungsfragen ist es unerlässlich, auch eine (kunst)historische Perspektive einzubeziehen, das heißt, mit historischen Metho-
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den zu arbeiten. Dieser Teil behandelt den Einfluss der so genannten „performativen Wende“ in der Kunst des 20. Jahrhunderts und deren Ausformungen wie Happening, Fluxus, Aktionismus oder Klangkunst. Hier zeigt sich eine Vorwegnahme zentraler Merkmale und Wirkfaktoren von Events in der Kunst, für die es im wirtschaftlich orientierten Bereich des Eventmarketing praktisch kein Bewusstsein gibt. Umgekehrt werden diese Parallelen auch seitens der Kunstwissenschaft kaum explizit benannt. Ad 3.: Fallstudien Die Fallstudien beschreiben ausgewählte Kompositionsaufträge für zeitgenössische Musik, die im Rahmen von Events vergeben wurden. Mit Methoden der qualitativen Sozialforschung werden konkret drei Bereiche untersucht: • • •
Produktion (also der Prozess der Komposition bzw. Konzeption) Präsentation (also die Aufführung bzw. inszenatorische Umsetzung der Komposition) Rezeption (also Verhalten und Rückmeldungen des Publikums)
Erhebungsraster: Nach der Erhebung der Eckdaten wie Titel des Events, Auftraggeber, Ort und Zeit des Events folgen Angaben über den Ablauf bzw. das Programm, die räumlichen Bedingungen, die Publikumsstruktur sowie das Stück und dessen Rezeption im Rahmen des Events. Das Kernstück der Fallstudien bilden ausführliche Leitfadeninterviews mit den Komponistinnen und Komponisten. Die Bewertung der Bedingungen für die Produktion, Präsentation und Rezeption ihrer Arbeiten durch die Künstler selbst bildet den zentralen Indikator für die Frage nach Veränderungen gegenüber dem konventionellen Produktions-, Präsentations- und Rezeptionskontext zeitgenössischer Musik. Alle diese Angaben beziehen sich auf Forschungsfragen wie z.B.: • •
Wie bewerten die Künstlerinnen und Künstler die Arbeits- und Aufführungsbedingungen im Rahmen der Events? An welcher Stelle des Programmablaufs wird die Komposition aufgeführt und welche dramaturgische Funktion in der Gesamtkonzeption des Events hat sie an dieser Stelle?
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•
•
Wie wirken sich die räumlichen Bedingungen auf die Aufführung aus? Da Events oft an ungewöhnlichen Orten und nicht in traditionellen Konzertsälen stattfinden, ist diese Frage von größtem Interesse. Auf welches Publikum trifft das musikalische Werk im Rahmen des Events, und wie reagiert dieses darauf?
Ad 4.: Integrative Analyse Zuletzt werden die Ergebnisse der Fallstudien mit jenen der vorangegangenen Kapitel zusammengeführt, diskutiert und Erkenntnisse formuliert. Dabei wird die Struktur durch die drei in den Fallstudien untersuchten Bereiche (Produktion, Präsentation, Rezeption) vorgegeben. Ziel dieser Studie ist es, dem Diskurs über die Eventkultur, insbesondere über die Eventisierung des Kultursektors, eine bessere Fundierung zu verleihen.
2 Event als Gegenstand der Wissenschaft
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VIELDEUTIGER
B EGRIFF
Der Begriff Event wird häufig gebraucht und ist in zahlreichen Diskussionen präsent. „Event“ gilt als Trend und erzeugt kontroversielle Positionen. Daher ist er ein lohnender Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung. Andererseits wird das Wort in mehreren unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht, wovon einige sehr unscharf und schwer zu fassen sind. Das erschwert den wissenschaftlichen Zugang. Die meisten Menschen meinen heute, zu wissen, wovon sie sprechen, wenn sie das Wort Event verwenden. Was in unterschiedlichen Kontexten jeweils als Event gilt, ist aber nicht immer klar. Während in der Theorie des Marketing Event relativ präzise als Methode, nämlich als Eventmarketing dargestellt und eingegrenzt wird, wirkt die Verwendung des Wortes im umgangssprachlichen Kontext, aber auch in den Medien häufig unscharf und eher beliebig. In dieser Untersuchung sind sowohl die scharf umrissenen Bedeutungen als auch die schwerer zu fassenden, wenig präzisen Verwendungen von Event relevant, da sie alle im aktuellen Diskurs um die Eventkultur wirksam sind. Eine Reduktion auf wissenschaftliche Definitionen des Begriffs würde daher zentrale Aspekte ausblenden1. Im Sinn von Foucault steht der Diskurs um Events „fast allen Winden offen“: „Genauer gesagt: nicht alle Regionen des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen
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Über die dargestellten Bedeutungen hinaus bezeichnet der Begriff in der Informatik ein Ereignis, ein Element zur Steuerung des Programmflusses. Diese Bedeutung ist nicht Thema dieser Arbeit.
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Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen.“ (Foucault 2003 / 1972: 26)
Die Herkunft von „Event“ Der aus dem Englischen kommende Begriff Event ist ungefähr Mitte der 1970er Jahre in den deutschen (Umgangs-) Sprachgebrauch aufgenommen worden.2 Er geht auf das lateinische Wort eventus zurück, das Partizip Perfekt von evenire: hervortreten, geschehen, herauskommen. Eventus hatte im Lateinischen mehrere zum Teil divergierende Bedeutungen: Begebenheit, Erscheinung, Zwischenfall, Zufall, Schicksal, Los. Über das Mittelfranzösische gelangte es schließlich in die englische Sprache. Das „Online Etymology Dictionary“ vermutet die erste bekannte schriftliche Nennung des Wortes im Englischen um 1570 (www.etymonline.com, 28.10.2011). In seiner ursprünglichen Bedeutung im Englischen heißt event einfach „Ereignis, Vorfall“ bzw. auch „Ergebnis“. Bei seiner Übernahme in die deutsche Sprache änderte sich wie bei vielen Anglizismen die Bedeutung etwas. Event wurde zu einem Synonym für Veranstaltungen wie Modeschauen, Konzerte, Vernissagen und für Feste (im Englischen special events oder social events). Mittlerweile ist es im Deutschen üblich geworden, Event generell als Synonym für Veranstaltung zu gebrauchen, etwa als Bezeichnung der entsprechenden Rubrik auf Internetseiten von Unternehmen oder Institutionen. Event als Marketingmethode Seit Anfang der 1990er Jahre setzt sich Event als Werkzeug des Marketing durch. Damit wurde es notwendig, Events als spezielle Kategorie von anderen Veranstaltungen zu unterscheiden. Nach Schulze sind Events im Sinn des Eventmarketing durch vier Merkmale gekennzeichnet: • • • •
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Einzigartigkeit (nicht reproduzierbar) Episodenhaftigkeit (dramaturgischer Spannungsbogen) Gemeinschaftlichkeit (gemeinsames Erleben mehrerer Menschen) Beteiligung (die Besucher bleiben nicht nur passive Zuseher und Zuhörer, sondern werden selbst aktiv) (vgl. Schulze 2007: 313 f.)
Weder das „dtv-Brockhaus-Lexikon“ (1989), noch Alphons Silbermanns „Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung“ (1982), noch das „DudenWörterbuch der deutschen Sprache“ (1993) kennen den Begriff Event.
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Aus der Sicht des Marketing sind die intensiven Erlebnisse, die durch Events hervorgerufen werden können, besonders geeignet, Produkte mit einer Aura bzw. einer für Kunden relevanten Geschichte aufzuladen. Diese Aura bzw. Geschichte macht heute eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Komponente der Preisgestaltung von Produkten aus. Als Beispiel seien hier die Fan-Artikel angeführt: Konventionelle Produkte wie Feuerzeuge, T-Shirts, Kaffeetassen usw. erzielen deutlich höhere Preise, wenn sie mit Namen von Bands, FußballMannschaften, Fotos von Filmstars und Ähnlichem bedruckt sind und so zu Trägern von deren Aura bzw. Bedeutung werden. In ähnlicher Weise werden Parfums, Autos, Versicherungsleistungen oder Mineralwässer mit Narrationen umgeben. Im Zentrum steht dabei das Erlebnis, das mit dem Produkt verbunden wird und nicht mehr das materielle Produkt.3 Da es sich bei Eventmarketing um eine auf ein klares Ziel hin ausgerichtete und häufig eingesetzte Methode handelt, wird der Begriff Event dort kontinuierlich präzisiert und vertieft. Event als Artefakt Eine andere Erklärung wurzelt in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Dort bezeichnet Event eine dem Happening nahestehende Form, die unter Rekurs auf John Cage von den Fluxus-Künstlern eingeführt wurde. Als Bezeichnung für eine bewusste und systematische Konzeption wurde sie erstmals 1952 von John Cage verwendet. Sein „Untitled Event“ wird als erstes Happening angesehen. Der Begriff Happening entstammt ebenfalls dem Englischen und ist dort ein Synonym für Event, bedeutet also auch „Ereignis, Vorfall“. Als Terminus im künstlerischen Kontext taucht er allerdings erst sechs Jahre später auf, mit dem Stück „18 happenings in 6 parts“ von Allan Kaprow (1958, aufgeführt in New York 1959). John Cage änderte den Titel des Stückes „Untitled Event“ später in „Theatre Piece No.1“, doch die Fluxus-Künstler, von denen viele zwischen 1956 und 1960 seine Kurse am Black Mountain College (North Carolina, USA) besucht hatten, griffen das Wort Event wieder auf und stellten es ins Zentrum ihrer Terminologie:
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Diese Haltung wird sehr gut durch den mündlich überlieferten Ausspruch eines USamerikanischen Managers illustriert, der in etwa lautet: „Harley-Davidson verkauft ein Lebensgefühl. Das Motorrad gibt es gratis dazu.“
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„Um die Vielzahl der unterschiedlichen Bestrebungen und Darstellungen einheitlich fassen zu können, setzten sich sowohl seitens der Künstler als auch (und vor allem) der Kunstkritik die Begriffe ‚Performance’ und ‚Happening’ und mit dem Aufkommen der Fluxus-Bewegung der Terminus ‚Event’ durch.“ (Günzel 2006: 256)
Der Komponist Dieter Schnebel, der im September 1962 selbst an der Veranstaltung „Fluxus – Internationale Festspiele Neuester Musik“ in Wiesbaden beteiligt war, betrachtet Cages bahnbrechendes Stück 4'33" als erstes Event: „Tatsächlich waren Happenings und Events neue Formen, welche, anders als die herkömmlichen und selbst noch strukturellen der seriellen Musik, nicht auf normierte Abläufe, sondern auf Live-Prozesse und -Ereignisse aus waren: das Unvorhersehbare, quasi zeitlose Geschehen oder der besondere Augenblick. beide Formen stammten von John Cage, der schon um 1950 im Black Mountain College ein erstes Happening veranstaltet hatte und dessen 4'33" das erste Event war.“ (Schnebel, Dieter: Fluxuserinnerungen, in Neue Zeitschrift für Musik 4 / 2001: 24)
Im Kapitel 3 „Event in der Kunst“ werde ich näher auf diesen Zusammenhang eingehen. Unscharfe Bedeutungen im Alltag Die oben angesprochene wesentlich offenere Verwendung des Worts Event für beliebige Veranstaltungen und Feste führt zu weniger scharf abgegrenzten Erklärungen. Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und der Medien hat sie vor allem zwei Gründe: •
•
Nach wie vor stehen Anglizismen in der Öffentlichkeitsarbeit für Modernität und Internationalität. Die als Events bezeichneten Veranstaltungen bzw. die Auftraggeber der Veranstaltungen sollen in diesen Kontext gerückt werden. Die so bezeichneten Veranstaltungen sollen eine Aura von Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit erhalten. Der inflationäre Gebrauch des Wortes Event macht diese Wirkung aber wieder zunichte.
Um der Frage nach dem alltäglichen Gebrauch des Wortes Event und den damit verbundenen Bedeutungszuschreibungen nachzugehen, wurde die Verwendung in einem weitgehend zielgruppenneutralen, das heißt quer durch alle Bevölkerungsschichten gelesenen Print-Medium erhoben. Die Untersuchung der Verwendung des Wortes Event in der Tageszeitung „heute“ ergab vollkommen in-
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kohärente Bedeutungen. Diese Zeitung, das Gratis-Magazin in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Ost-Österreich, liegt in allen größeren Stationen zur freien Entnahme auf, hat enorme Resonanz und wird von praktisch allen Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen rezipiert. Es bietet unter dem Rubrikentitel „Wohin heute“ täglich eine Seite mit ausgewählten Veranstaltungshinweisen. Jeder Hinweis besteht neben Orts- und Zeitangaben aus einem Kurztitel sowie einer etwa 40 Worte umfassenden Beschreibung. Die Hinweise sind in fünf Kategorien von Veranstaltungen geordnet: Bühne; Musik; Kunst; Film; Events Jede dieser Kategorien enthält täglich eine Auswahl von drei bis vier Veranstaltungen. Anhand der Beschreibungen der Veranstaltungen lassen sich die mit den Kategorienamen verbundenen Bedeutungen rekonstruieren: „Bühne“ bezieht sich auf alle Arten von Theater- oder Musiktheater-Vorstellungen, „Musik“ auf Konzerte. Mit „Kunst“ sind ausschließlich Ausstellungen bildender Kunst gemeint, während „Film“ auf das Kinoprogramm verweist. Eine Analyse der Einträge über einen mehrwöchigen Zeitraum (Untersuchungszeitraum 2.10. – 30. 10. 2006) brachte für die Kategorie „Events“ folgende Ergebnisse (Reihung nach Häufigkeit): Tabelle 1: Veranstaltungen der Kategorie „Event“ Art der Veranstaltung
Anteil
Tanzveranstaltung / Party Fest / Feier Vortrag/ Diskussion Marketing Event Führung Themengastronomie Konzert Workshop / Kunstvermittlung Modeschau
60 % 13 % 7% 5% 5% 3% 3% 2% 2%
Quelle: Magazin „heute“, 2.10.-30.10.2006, eigene Auswertung
Auffällig ist, dass „Tanzveranstaltung / Party“ alleine 60% ausmacht. Bemerkenswert ist weiters, dass Marketing-Events, die in der Literatur zu Events eine zentrale Rolle einnehmen, nur 5% der Rubrik füllen.
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Der Grund, warum diese sehr verschiedenen Veranstaltungen in die Kategorie „Event“ eingereiht werden, ist offensichtlich weniger eine inhaltliche Gemeinsamkeit, als die journalistische Notlage, dass sie sich keiner anderen Kategorien zuordnen lassen. Dennoch ist davon auszugehen, dass einerseits hinter der Bezeichnung der Kategorie eine Vorstellung über die Bedeutung von Event steht, und umgekehrt eine solche Zeitungsrubrik diese Vorstellung wieder beeinflusst. Die weiter unten beschriebenen Merkmale von Events sind fast ausschließlich der Literatur zum Eventmarketing entnommen, da – wie schon erwähnt – in diesem Bereich bisher die umfangreichste Auseinandersetzung mit dem Begriff stattfindet. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Events um einen nahezu allumfassenden gesellschaftlichen Trend handelt und nicht nur um einen Trend im Marketing. Events bestimmen mittlerweile auch die Bereiche des Sports, der Politik, der Kultur, der Wissenschaft und sogar der Religion. Hepp und Krönert sprechen von „religiösen Feierlichkeiten […], die gezielt als Medienevents inszeniert werden“ (Hepp / Krönert 2010: 149). Event als Platzhalter für negativ bewertete Entwicklungen Insbesondere im Milieu der Hochkultur bzw. der Bildungsinstitutionen werden Ausdrücke wie Event oder Eventkultur häufig als Synonyme für kulturellen Niedergang, Verfall und Niveauverlust verwendet. Dies soll kurz an einem konkreten Beispiel verdeutlicht werden, nämlich der bereits oben genannten Podiumsdiskussion, die im April 2006 in Salzburg stattfand und durchaus charakteristisch für den Event-Diskurs unter den Bildungseliten war. Sie trug den bezeichnenden Titel „Event oder Tiefgang?“ und wurde in dem Band „Sustainable Mozart“ dokumentiert. Dort heißt es in der Einleitung: „Kunst und Kultur als Impulsgeberinnen für Zukunftsfähigkeit, Nachhaltigkeit als ästhetisches Prinzip, als Suche nach dem richtigen Maß, Kultur als Antipode zu Event- und Konsumfixierung [...].“ (Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen 2007: 13)
In der in dem Band der Robert-Jungk-Bibliothek dokumentierten Diskussion „Event oder Tiefgang? Auf der Suche nach einer neuen Diskurskultur“ wird das Wort Event zwar immer wieder als Symbol für unerwünschte Entwicklungen benutzt, eine präzise Klärung, was die Diskutanten darunter verstehen, kommt jedoch nicht zustande und wird vom Diskussionsleiter Peter Huemer auch nicht nachgefragt. Im Zentrum des Gesprächs stehen das Schweigen über die österrei-
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chische Vergangenheit, die Ausgrenzung von Migranten und die Jugendrevolten in Frankreich. Abbildung 1: Veranstaltungsplakat, Salzburg 2006
Foto: Martin Sigmund 2006
Barbara Frischmuth spricht in ihrem Beitrag das Problem an, dass der Anspruch, einzigartige Ereignisse zu schaffen, von vielen Events nicht eingelöst werden kann, geht aber dann nicht näher auf den Begriff ein: „Die meisten Events, an denen ich teilgenommen habe, waren keine Ereignisse. Woran liegt das? Unter anderem daran, dass in ganz Europa und speziell in einem Land wie Österreich, dessen Bewohner sich dezidiert als Kulturnation sehen, viele Veranstaltungen stattfinden, und weil es so viele sind, werden nicht alle entsprechend besucht. [...] Die Übertreibung ist nicht nur eine von großen Schriftstellern wie Thomas Bernhard mit Bravour geübte Kunst, sie ist auch eine Verhaltensstörung, die sich in Form von ausschlagartiger Superlativitis äußert. Die einzelnen Pustel reichen von steil zu geil, von super zu me-
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ga, von wipe zu hype, und selbst der Skandal, der in diesem Umfeld schon eher alt aussieht, wird oft noch versprochen, doch wegen Inflation selten eingelöst.“ (Robert-JungkBibliothek für Zukunftsfragen 2007: 81)
Im Beitrag von Antonin J. Liehm wird deutlich, dass dieser offenbar nicht zwischen Event und Ereignis unterscheidet: „Das eigentliche Event sind in Frankreich im Moment aber, so würde ich sagen, nicht die revoltierenden Jugendlichen in den Vororten, die Autos und Läden in Brand stecken, es ist auch nicht der neue Gesetzesvorschlag zur Jugendbeschäftigung, an dem sich die Konflikte entzündet haben. Das eigentliche Event sind die Parlamentswahlen im Jahr 2007, sie stehen hinter den Ereignissen auf den Straßen von Paris.“ (Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen 2007: 113 f.)
Liehm zitiert in seinem Statement Rilke, der „von einer Flut von gleichgültigen Dingen“ und von „Attrappen des Wesentlichen“ spricht. Diese Phrasen lassen sich als Hinweise auf Liehms Verständnis von Event deuten, haben jedoch primär bewertenden und kaum deskriptiven Charakter. Obwohl die Diskussion Event als zentralen Begriff im Titel trug, verzichteten die Diskutanten darauf, diesen zu präzisieren und begnügten sich damit, sich über die negative Bewertung zu verständigen. Möglicherweise kommt hier zum Ausdruck, was Pierre Bourdieu (im Zusammenhang mit der Distinktion gesellschaftlicher Eliten) als „Ekel vor dem Leichten“ bezeichnet: „Die Ablehnung alles Leichten im Sinne von ‚einfach’, ‚ohne Tiefe’, ‚oberflächlich’ und ‚billig’ deshalb, weil seine Entzifferung mühelos geschieht, von der Bildung her wenig ‚kostet’, führt ganz natürlich zur Ablehnung alles im ethischen oder ästhetischen Sinn Leichten, was unmittelbar zugängliche und deshalb als ‚infantil’ oder ‚primitiv’ verschriene Freuden bietet (im Unterschied zu den aufgeschobenen Vergnügen legitimer Kunst).“ (Bourdieu 1987: 757 f.)
In einem Radiogespräch mit dem Physiker und Biologen Ernst Ulrich von Weizsäcker zum Thema „Mit Ressourcen effizient umgehen“ rief eine Hörerin an und bezeichnete die Eventkultur als eine Ursache der Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung4. Weizsäcker, der sich sonst mit wissenschaftlicher Vorsicht jedes Urteils außerhalb seiner Fachgebiete enthielt, stimmte der Dame nicht nur zu, sondern führte den Gedanken auch noch in entlarvender Weise weiter. Er
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ORF Radio Ö1, Sendung „Von Tag zu Tag“, 12.7.2011, 14:05
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meinte, es ließe sich doch auch mit Akkordeon oder Violine ohne Verstärkung auf ressourcenschonende Weise sehr schön Musik machen. Damit war der eigentliche, nämlich kulturkämpferische Hintergrund der Wortmeldung offen gelegt. Hier ging es nicht um die Frage der Umweltverträglichkeit von Events, sondern um die Untermauerung des Wertes und der Allgemeinverbindlichkeit der eigenen kulturellen Präferenzen, bei gleichzeitiger Abwertung davon abweichender Kulturmuster. Mit ähnlichen (vermeintlich wissenschaftlichen) Argumentationen wurde z.B. schon im 19. Jahrhundert das Cancan-Tanzen für gesundheitsschädlich erklärt. Dieser Diskurs ist nicht erst mit dem Aufkommen heutiger Events entstanden, sondern reicht weit zurück bis in die Antike, wo bereits ähnliche Haltungen zu finden sind. Der Theologe und evangelische Pfarrer Jochen Wagner verweist auf den römischen Schriftsteller Tertullian und die Kirchenväter: „Schon für Tertullian bezeugten Spektakel den Verfall einer Gesellschaft. Von den altdogmatischen Kirchenvätern bis zu den kritischen Theoretikern der Kulturindustrie sind Events der erregten Gesellschaft die Signatur von Dekadenz.“ (Wagner 2007: 198)
Bemerkenswert ist, dass diese im Hochkulturmilieu weit verbreitete Haltung nicht verhindern kann, dass sich Events bzw. die Übernahme von EventMerkmalen (siehe folgender Abschnitt) auch dort, also in typischen Hochkulturveranstaltungen ungebremst durchsetzen. Diese eigentümliche Gespaltenheit thematisiert Gerhard Schulze in der Einleitung zu seinem Band „Die Sünde“5: „Die Ablehnung des hedonistischen Mainstreams durch Kulturwissenschaft, Theater, Feuilleton, Kunst und alle daran Interessierten ist selbst längst zum Mainstream geworden. Wer ernsthaft fragt, was eigentlich hinter dieser Ablehnung steht, lässt den gewohnten Stallgeruch vermissen und setzt sich dem Verdacht aus, ebenfalls bloß hinter seinem Spaß und sonst nichts her zu sein. Unter Gebildeten gibt es wenig Apologeten der Glückssuche, doch viele verachten und praktizieren sie gleichzeitig. Es herrscht eine als Eindeutigkeit maskierte Ambivalenz. Die oft geäußerte Verachtung des hedonistischen Alltags als banal, oberflächlich, billig, maßlos, sinnlos, unmoralisch und gesundheitsschädlich verrät durchaus eine Liebe zum Diesseits, wenn auch eine verschämte und verkniffene. Leicht angewidert nimmt man letztlich doch in Anspruch, was man verbal von sich weist.“
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Schulze, Gerhard: Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. München 2006
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E RLEBNISGESELLSCHAFT
UND
E RFAHRUNGS -Ö KONOMIE
Zwei voneinander unabhängige Befunde Als der deutsche Soziologe Gerhard Schulze 1992 sein Werk „Die Erlebnisgesellschaft“ veröffentlichte, erregte er damit großes Aufsehen. Er war der erste Soziologe, der Fragen von Mangel und Benachteiligung ausklammerte und sich mit der Überflussgesellschaft befasste (vgl. Schönauer 2004). Schulze beschreibt fünf verschiedene gesellschaftliche Milieus, die durch alltagsästhetische Schemata und Stiltypen charakterisiert sind. Die Wahl des Milieus folge nicht mehr sozialen Zwängen, sondern einer der Suche nach individuell passenden Erlebnissen, den dazu gehörigen Rahmenbedingungen und alltagsästhetischen Schemata. Diese Orientierung auf Erlebnisse erfolge mittlerweile konsequent und systematisch, im Sinne einer „Erlebnisrationalität“: „Die Rationalität der Erlebnisnachfrage, wie sie für unsere Gesellschaft charakteristisch ist, beruht auf der Prämisse, dass man schöne Erlebnisse herbeiführen kann, indem man aus einer Fülle von Erlebnisangeboten die richtigen, individuell passenden auswählt.“ (Schulze 1996: 431)
Nicht mehr die Verhältnisse würden das Subjekt formen, sondern das Subjekt wähle die Verhältnisse. Da es nicht mehr wie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft um die mühevolle Suche nach fehlenden oder in unzureichender Menge verfügbaren Konsumgütern gehe, sondern um die Auswahl aus einem Überangebot, rücke das Erlebnis in den Mittelpunkt. Daher spricht Schulze von einem Erlebnismarkt mit Erlebnisangebot und Erlebnisnachfrage sowie von einer Entwicklung, die von einem außenorientierten zu einem innenorientierten Konsum führe (ebd.: 427). Mit Innenorientierung meint Schulze, dass Produkte tendenziell nicht mehr in erster Linie wegen ihrer Funktionalität (Außenorientierung) gekauft würden, sondern wegen der damit verbundenen Erlebnisse. Das bedeute zum Beispiel bei einem Auto die Wandlung von einem „fahrbaren Untersatz“ zu einem Objekt der Faszination, bei einer Brille die Veränderung von einem Sehbehelf zu einem modischen Detail der Selbstinszenierung. Bestimmte Angebote wie Fernsehprogramme, Musik, Reisen, Zeitschriften, Ausstellungen, Mode, Theater usw. bedienen von vorne herein eine innenorientierte Nachfrage. Die Erlebnisrationalität weise über das Individuum hinaus, da es zu einer Heranbildung gemeinsamer Rationalitätstypen komme, zu gemeinsamen Orientierungen und damit zur Ausformung von Szenen und Milieus. Sie erfasse ten-
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denziell immer weitere Bereiche, so dass schließlich auch Arbeitsplatz, Beziehungswahl und politische Praxis davon bestimmt würden. Schulzes Arbeit wurde über den engeren soziologischen Diskurs hinaus bekannt und erlangte vor allem im Feld des Marketing großen Einfluss. Umso mehr überrascht es, dass „Die Erlebnisgesellschaft“ bis heute nicht in andere Sprachen, auch nicht ins Englische übersetzt wurde. In den USA erschien sieben Jahre später, also 1999 (ohne auf Schulze Bezug zu nehmen) ein Werk, das die Frage nach der zunehmenden Erlebnisorientierung nicht aus soziologischer, sondern aus ökonomischer Perspektive stellte. „The Experience-Economy“ von B. Joseph Pine und James H. Gilmore geht davon aus, dass historisch nacheinander vier Wirtschaftssysteme entstanden seien, die heute parallel existierten (Pine / Gilmore 1999): Agrar- / Industrie- / Dienstleistungs- / Experience-6
…Ökonomie
Die älteste Form ist die Agrarwirtschaft. Sie wurde im Zug der Industriellen Revolution aus dem Zentrum verdrängt. Im 20. Jahrhundert folgte die Wende zum Dienstleistungssektor. Und nun, so behaupten Pine und Gilmore, dreht sich die Schraube weiter: Die „Experience-Economy“, also eine Ökonomie, die auf Erlebnis- und Erfahrungsangeboten basiert, wird zum neuen wichtigsten Wirtschaftsmotor. Unabhängig von Schulze sehen wir hier also erneut die Diagnose der Herausbildung eines Erlebnismarktes. Pine und Gilmore betonen, dass in der historischen Aufeinanderfolge das Aufkommen eines neuen ökonomischen Modells stets drastische Auswirkungen auf die Preisentwicklung habe. Während das jeweils ältere Modell einem Preisverfall bzw. Preiskampf ausgesetzt sei, würden im jeweils neueren Modell so genannte „Premium prices“ erzielt. So habe sich etwa bei Industriegütern der Wettbewerb weitgehend auf die Preis-Ebene verlagert, als im 20. Jahrhundert die Dienstleistungs-Wirtschaft ins Zentrum gerückt sei. Damit verbunden sei auch der Wandel von materiellen zu immateriellen Angeboten, die auf vollkommen neuartige Weise hergestellt und vertrieben werden. Der aktuelle Wandel von der Dienstleistungs- zur Experience-Ökonomie sei ein ebenso großer Schritt.
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Da dem englischen Wort experience im deutschen zwei mögliche und bedeutungsverschiedene Übersetzungen gegenüberstehen (Erlebnis bzw. Erfahrung), bleibe ich im Folgenden der Einfachheit halber weitgehend bei der englischen Version. Auch bei allen weiteren Zitationen englischsprachiger Texte fehlt diese im Deutschen so wichtige Differenzierung.
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Dies wird besonders deutlich in der von Pine und Gilmore präzise verwendeten Begrifflichkeit: War es erst ein Schritt von standardisierten Industriegütern zu an Kundenwünsche angepassten Dienstleistungen, gehe es nun um persönliche Erlebnisse. Die Tätigkeit der Agenten bestehe nun nicht mehr im Liefern (von Dienstleistungen), sondern im Inszenieren (von Erlebnissen). Dies bedeute sowohl einen grundlegenden Wandel in der Rolle des Verkäufers als auch in jener des Käufers, der nun vom Auftraggeber zum Gast werde. Kritik an Schulze sowie Pine und Gilmore Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ fand zwar großes Echo, traf aber auch auf grundlegende Kritik. Gebesmair merkt an, dass Schulze mit dem Versuch, dem Modell der sozialen Determination von Bourdieu ein offeneres Modell der Milieuwahl gegenüberzustellen, gescheitert sei (Gebesmair 2001, 177 f.). Es bleibe nämlich unklar, wie es möglich sei, zu den in der Kindheit erworbenen Dispositionen, welche die Milieuzugehörigkeit konstituieren, in kritische Distanz zu gehen und sie durch Reflexion zu verändern. Gleichzeitig basiere Schulzes Milieumodell auf zwei Dimensionen, nämlich Alter und Bildung, wovon die erste als biologisches Programm Erlebnisformen und -präferenzen bestimme und durch das Individuum nicht beeinflussbar sei. Die andere Dimension, nämlich die Bildung, werde nahezu überhaupt nicht thematisiert. Weiters kritisiert Gebesmair die handlungstheoretischen Annahmen Schulzes. Da die Steigerung der Erlebnisqualität als alleinige Handlungsmotivation vorherrsche, würden ökonomische und soziale Interessen sowie Machtbeziehungen als treibende Kräfte aus diesem Zusammenhang ausgeblendet (ebd.: 178). Letztlich seien auch die Grundlagen der auf einer empirischen Untersuchung in einer deutschen Stadt in den 1980er Jahren beruhenden Arbeit Schulzes heute nicht mehr gültig, da Knappheit, Ungleichheit und Armut für große Teile der Gesellschaft wieder zu einer realistischen Bedrohung würden (ebd.: 181). In eben diesem Sinn argumentiert auch Thomas Meyer und spricht von einem „Rückfall hinter die Einsichten Bourdieus“ (Meyer 2001: 265 f.). Pine und Gilmores Konzept der „Experience-Economy“ wurde aus zwei entgegengesetzten Richtungen kritisiert. Einerseits wurde der Arbeit häufig vorgeworfen, nur ein weiteres Beispiel für den überzogenen Hype um die „dot.comBlase“ der 1990er Jahre zu sein, das sich primär an hohen Preisen orientiere, übertriebene Behauptungen enthalte und die Grenzen von Angeboten und Investitionen ausblende. Andererseits beanspruchten Stimmen aus den Feldern des Tourismus und der Freizeitindustrie, schon lange vor Pine und Gilmore auf die bedeutende Rolle von Erlebnissen im Wirtschaftssystem hingewiesen zu haben.
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Synchrone Stimmen Trotz durchaus berechtigter Kritikpunkte handelt es sich sowohl bei der „Erlebnisgesellschaft“ als auch bei der „Experience-Economy“ um überaus erhellende Arbeiten, die eine lohnende Auseinandersetzung anbieten (Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ wird in einem späteren Kapitel dieser Arbeit noch ausführlicher behandelt werden). Nicht zuletzt werden hier Befunde formuliert, die sich auch – wenngleich weniger pointiert – in zahlreichen anderen Studien finden und von anderen Autorinnen und Autoren angesprochen werden (Alheit 1994, Eder & Gratzer 1998, Früchtl & Zimmermann 2001, Gebhardt / Hitzler / Pfadenhauer 2000, Heilgendorff 2008, Hepp & Vogelsang 2000, Kemper 2001, Mandel 2004, Opaschowski 2000a, Pfleiderer 2008, Pühl & Schmidbauer 2007, Rifkin 2002, Tschmuck 2008, Wechner 2003, Willems & Jurga 1998, Zur Bonsen 2002). Einige davon weisen einen ähnlich unverbundenen Gleichklang auf wie die beiden besprochenen Arbeiten. Ein besonders wichtiges Werk wird weiter unten im Kapitel „Events in der Kunst“ eingehender behandelt werden: „Ästhetik des Performativen“ von Erika Fischer-Lichte, erschienen 2004. Hier kommt nach Soziologie und Ökonomie noch eine dritte Disziplin ins Spiel, die Kunsttheorie, und auch dieses Buch entstand unabhängig von den beiden besprochenen Konzepten, also ohne Referenzen zu Schulze oder Pine & Gilmore. Fischer-Lichte spricht von „leiblicher KoPräsenz von Akteuren und Zuschauern“ (101), von der „Aufführung als Ereignis“ (281), von „ästhetischer Erfahrung“ (332) und von einer „Wiederverzauberung der Welt“ (315). Sie spitzt den Begriff des „Erlebnis“ zu auf „Schwellenerfahrungen“, welche heute notwendig seien: „Ob es sich um Feste, politische Veranstaltungen oder Sportwettkämpfe handelt, immer haben wir es mit Aufführungen zu tun, welche die Möglichkeit zu Schwellenerfahrungen eröffnen.“ (Fischer-Lichte 2004: 348)
Schon alleine der Untertitel von Pine und Gilmores „Experience Economy“ weist erstaunliche Korrespondenzen auf: „Work is Theatre & Every Business is a Stage“. Während der folgende Abschnitt Merkmale von Events hauptsächlich auf der Basis von Literatur aus dem Bereich Eventmarketing darstellt, werden sich im Kapitel über „Events in der Kunst“ Parallelen zu diesen Merkmalen gerade in der Arbeit Fischer-Lichtes zeigen.
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N EUN M ERKMALE
VON
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Was unterscheidet Events von anderen Veranstaltungen? In der Fachliteratur zum Eventmarketing finden sich zahlreiche praxisorientierte Hinweise. Eine auf den Kulturbereich orientierte Auseinandersetzung mit dem Thema ist zwar ebenfalls vorhanden, aber in deutlich geringerem Ausmaß. Der überwiegende Teil aller Darstellungen der spezifischen Merkmale von Events hat handlungsorientierten und beratenden Charakter, wissenschaftlich-reflektierende Arbeiten sind schwer zu finden und beziehen gelegentlich einseitig Position: „Hinter der teilweise bösartigen Kritik [an Events, Anm. MS] verbergen sich elitäre Sichtweisen und sicher auch ein Stück Arroganz gegenüber Volksbelustigungen und Massenvergnügen.“ (Opaschowski 2000a: 54)
Die folgende Beschreibung der Merkmale von Events beruht auf Darstellungen in der vorhandenen Literatur, auf eigenen Beobachtungen und auf der Auswertung der Fallstudien (siehe Kapitel 5). Sie versucht, den Gegenstand „Event“ als besondere und neue Form von Veranstaltungen bzw. Installationen7 so präzise wie möglich zu erfassen. Dazu wird einerseits eine Reihe zentraler Merkmale identifiziert, und andererseits danach gefragt, was das wesentlich Neue an Events ist. Der Blick in die Geschichte mag zu der irrigen bzw. anachronistischen Annahme verführen, Events seien keine neue Erscheinung, Ähnliches habe es zu allen Zeiten – nur unter anderem Namen – gegeben. Was also unterscheidet Events von anderen Veranstaltungen und was ist neu an Events? Schulze beschreibt vier Merkmale, die als erste Grundlage ausführlicherer Überlegungen dienen können: Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Beteiligung (Schulze 2007: 313 f.). Seine Behauptung, das Neue an den Events der Gegenwart sei der kommerzielle Zusammenhang, trifft zwar teilweise zu, klammert aber eine große Zahl von Erscheinungsformen aus.8
7
In diesem heute gebräuchlichen Event-Begriff sind nicht nur zeitlich begrenzte Veranstaltungen, sondern auch dauerhafte Erlebnisangebote wie z.B. die Swarovski Kristallwelten Wattens, Disneyworld oder andere Themenparks eingeschlossen.
8
Schulzes Text in O. Nickels Band „Eventmarketing“ wurde aus der ersten Auflage von 1998 übernommen. In einem E-Mail an den Autor räumt Schulze ein, dass die Annahme obsolet geworden ist: „ein paar Jahre sind vergangen - und schon macht ein auf Kommerz eingegrenzter Begriff ‚Event’ keinen Sinn mehr, da gebe ich Ihnen
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Die Auflistung von sieben Kategorien von Events bei Heintel mag dies verdeutlichen: •
Sportveranstaltungen
•
spezifische Kulturereignisse
•
religiöse und ideologische Veranstaltungen
•
Nostalgieveranstaltungen
•
Großevents von Großorganisationen
•
nationale und internationale Großveranstaltungen
•
Produkt- / Markenevents (Heintel 2007: 65 f.)
Zumindest die dritte Kategorie steht eindeutig nicht in einem kommerziellen, sondern in einem ideologischen Zusammenhang. Von Heintel nicht explizit erwähnt werden die Events der neuen durch das Internet verbundenen Gemeinschaften, die vor allem als Folge der Entwicklung von Web 2.0 entstanden. Als Beispiel seien hier die LAN-Partys (Treffen von Computerspielern, bei denen 1000 oder mehr Computer miteinander vernetzt werden, um mehrere Tage hindurch gegeneinander zu spielen) oder die Reenactment Events (großangelegte Rollenspieler-Treffen, bei denen häufig historische Ereignisse nachgespielt werden, z.B. im Oktober 2007 die Schlacht von Hastings vom Oktober 1066) genannt. Die folgende Auflistung von Merkmalen ist nicht als scharfe Eingrenzung zu verstehen. Nicht alle Events weisen alle Merkmale in gleichem Maß auf. Dennoch wird anhand dieser Merkmale unterscheidbar, welche Eigenschaften eine Veranstaltung oder eine Installation zum Event machen, und wo das Wort „Event“ nur als modisches Schlagwort zur Aufwertung anderer, herkömmlicher Veranstaltungen eingesetzt wird. Außerdem lässt sich erkennen, wie Veranstaltungen – zum Beispiel wissenschaftliche Tagungen oder Musikfestivals – mehr und mehr typische Elemente von Events aufgreifen. Diese Entwicklung wird als „Trend zum Event“ (vgl. Kemper 2001) oder auch als „Eventisierung“ bezeichnet.
Recht. Diese Bedeutungskomponente würde ich also aus Gründen der historischen Aktualisierung einfach streichen [...]“ (28.1.2008)
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1
Subjektorientierung: Das Erlebnis im Mittelpunkt
Im Unterschied zu den Gladiatorenspielen im alten Rom oder den Festen am Hof Ludwig XIV. (vgl. Elias 1992, Alewyn 1989) ist den Events unserer Zeit gemeinsam, dass sie primär auf das Erleben der Besucherinnen und Besucher ausgerichtet sind. Während traditionelle Veranstaltungen die Präsentation von Personen, Institutionen, Informationen oder Kunstwerken ins Zentrum rückten, hat sich das Gewicht nun auf die dem Publikum gebotene Erlebnisqualität verlagert. Willems sieht hier Parallelen zur historisch ebenso neuartigen therapeutischen Kultur und der dort methodisch verfolgten Generierung von Gefühlen: „So sehr sich die Inhalte dieser Kultur von den Inhalten der Event-Kultur unterscheiden, so ähnlich sind die Medien- und Subjektivitätsformen, die jeweils im Spiel sind. In beiden Fällen geht es um außeralltägliche Gemeinschaften mit gegenalltäglichen Praktiken und Intimitätswerten. Und in beiden Fällen stehen in gewisser Weise methodisch generierte und ‚gepflegte’ Gefühle im Mittelpunkt des Geschehens. Auch die Möglichkeiten des (gruppen-)therapierten Individuums, an flexiblen und experimentellen Wirklichkeitskonstruktionen teilzunehmen, sind durchaus mit Erlebnischancen von Events zu vergleichen.“ (Willems 2000: 69, Fn. 21)
Bemerkenswert ist, dass der Begriff des „Erlebnis“ in der deutschen Sprache relativ jung ist. Bis ins 19. Jahrhundert gab es nur die Primärform „Erleben“, deren Bedeutung sich von unserer heutigen unterschied. Man verstand darunter schlicht die Tatsache, dass ein bestimmter Mensch zum Zeitpunkt eines bestimmten Geschehens (noch) am Leben gewesen sei, und damit dieses Geschehen (in rein zeitlicher Hinsicht) „noch erlebt“ habe: „ ‚Erlebnis’ und ‚Erleben’ gewinnen erst Mitte des 19. Jh. gemeinsam die Stellung philosophischer Termini und steigen in der Folge zu erkenntnistheoretischen Grundbegriffen auf. Das späte Auftreten von ‚Erlebnis’ erklärt sich dadurch, dass die Prägung des Wortes als Sekundärbildung zu ‚Erleben’ erst in das frühe 19. Jh. fällt.“ (Ritter 1972: 702)
Durch die primäre Orientierung auf das Erleben stehen Events in Spannung zu einer durchgängig industrialisierten Gesellschaft, und zwar in Hinblick auf das Verständnis von Zeit. Treibendes Element der Industriegesellschaft sind Maschinen, von der Dampfmaschine bis zum Mikrochip. Die Funktionsweise von Maschinen beruht ausschließlich auf der Anwendung physikalischer Gesetzmäßigkeiten. Daher hat sich in der Industriegesellschaft auch ein rein physikalischer Zeitbegriff durchgesetzt. Die Physik versteht Zeit als gleichförmigen linearen
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Parameter. Sie teilt die Zeit in gleichförmige und gleichbleibende Perioden, Stunden, Tage, Monate und Jahre, die wiederum aus der Beobachtung gleichförmiger und gleichbleibender Bewegungen im Kosmos, also aus Zeitabläufen der anorganischen Natur abgeleitet sind. Damit ist aber das Wesen der Zeit unzureichend dargestellt, denn in der primärem Erfahrung von Zeit unterscheidet sich jeder Tag und jede Stunde im Leben von Menschen, jeder Lebensabschnitt ist einzigartig und unverwechselbar. Picht beschreibt den daraus entstehenden Bruch in drastischer Weise: „Was vorher Lebensprozeß war, wird gezwungen, sich den Verlaufsmechanismen anorganischer ‚Prozesse’ zu fügen.“ (Picht 1993: 26)
Dieses Spannungsverhältnis tritt besonders in der praxisleitenden Literatur zum Eventmarketing zutage, weil dort versucht wird, Events industriellen Produktionsprinzipien und Erfolgsmaßstäben unterzuordnen. Joe Jeff Goldblatt, Autor des ersten Lehrbuchs für Eventmanagement, nennt bereits 1990 vier Merkmale von erfolgreichen Events (im Englischen „special events“): 1. 2. 3. 4.
sensory response active involvement emotional commitment new experience (vgl. Goldblatt 1990)
Diese stehen in der zeitlichen Reihenfolge, in der sie die Besucher ansprechen und zu einer neuen Erfahrung9 führen: „In sequential order, a special event should first elicit a sensory response and then create an opportunity for physical participation, ensuring a level of active involvement. Once invested physically, the participant will often relax and open up to the experience, making an emotional commitment. Once emotionally invested, the mind can be engaged, allowing the participant to embrace with the new experience totally.“ (Goldblatt 1990: 3)
Nickel und Esch nennen vier Merkmale von Events, die alle auf das Erlebnis abzielen:
9
Auf die fehlende Differenzierung zwischen „Erlebnis“ und „Erfahrung“ im englischen Wort „experience“ wurde bereits oben in einer Fußnote hingewiesen.
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Abstimmung auf Absender und Zielgruppe (Glaubwürdigkeit) Semiotic Engineering: Drei-dimensionale Umsetzung von Botschaften und Einsatz multisensualer Reize
•
Verstärkung der Kommunikationswirkung durch dramaturgische Gestaltung
•
Erhöhung der Erlebniswirkung durch aktive Einbindung der Teilnehmer (Nickel / Esch 2007: 65 ff)
Die Ausrichtung auf das individuelle Erleben bringt ein entscheidendes methodisches Problem mit sich. Erlebnisse werden immer zumindest zum Teil vom Individuum selbst konstruiert bzw. basieren auf dessen Wirklichkeitskonstruktionen und lassen sich daher nicht von außen vorgeben. Ein Beispiel: Wer ein fremdes Land bereist, dessen Erleben hängt entscheidend ab von seinem Vorwissen und seiner Haltung dem Land und seinen Einwohnern gegenüber, von seinem Gesundheitszustand, von seinen individuellen Fähigkeiten usw.. Umgekehrt sind aber diese Reise-Erlebnisse auch von außen vorkonstruiert, indem jemand bestimmt, welche Ausschnitte der komplexen Realität des bereisten Landes erlebenswert ist. Diese Ausschnitte werden dann in Reiseführern als Sehenswürdigkeiten vorgegeben. Landschaft als erlebenswerter Ausschnitt und als Sehenswürdigkeit existiert zum Beispiel überhaupt erst seit dem 19. Jahrhundert und ist eine primär urbane Konstruktion. Daher stießen die Maler der Schule von Barbizon, die erstmals reine Landschaftsbilder in Plein-Air-Methode und ohne mythologisches Programm herstellten, bei ihrer Ausstellung 1831 im Pariser Salon anfangs noch auf die Kritik, dass auf ihren Bildern nichts zu sehen sei. Gerhard Schulze beschreibt den Wunsch nach Erlebnissen als treibende Kraft der Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts und verweist dabei gleichzeitig auf die Gestaltung und Steuerung von Erlebnissen durch das Subjekt: „Ein subjektiver Prozeß soll sich vollziehen, von dem man, sich selbst beobachtend, sagen kann, daß er einem gefalle.“ (Schulze 1996: 46)
Begriffe wie „Semiotic Engineering” verschleiern diesen Umstand der subjektiven Steuerung und erwecken den Eindruck, Erlebnisse könnten technischindustriell hergestellt und wie Industriegüter massenhaft vertrieben werden.10
10 Die Fantasie der technischen „Machbarkeit“ von Erlebnissen bildet den Hintergrund für Paul Verhoevens Science-Fiction-Film „Total Recall“ (1990). Darin bietet das Unternehmen REKALL Inc. seinen Kunden in Form von Implantaten künstliche Erinnerungen an, die nicht von echten zu unterscheiden sind. Obwohl der Kunde weiß, dass
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Der Event-Guru Jochen Schweizer, Erfinder des Bungee-Jumping bietet über das Internet eine große Auswahl an Erlebnissen wie materielle Waren zum Kauf an, zum Beispiel: Hubschrauber Selberfliegen, erotisches Fotoshooting, Paintball, Konzert-Dinner im Schloss, House Running, Klangschalen-Massage, Luftkampf Training im Jet, ZEN-Tag, Bodypainting usw.11 Um die Suche zu erleichtern, ordnet Schweizer sein Angebot in „Erlebniskategorien“: Fliegen & Fallen, Abenteuer & Sport, Motorpower, Wasser & Wind, Wellness & Lifestyle, Essen & Trinken, Erlebnisse mit Tieren, Erlebnisse mit Stars, Körper & Seele, Weit weg. Auch wenn hier zweifellos starke Reize geboten werden, bleibt doch die Unmöglichkeit, Erlebnisse von außen herzustellen: „Erlebnisse sind psychophysische Konstruktionen, die sich nicht durch Gegenstände substituieren oder an Dienstleistungsunternehmen delegieren lassen.“ (Schulze 1996: 14)
Die Vorstellung, dass Erlebnisse von außen herstellbar wären, impliziert die Prämisse, dass es sich bei Wahrnehmungen – aus denen sich ja das Erleben ableitet – um einfache und restlos oder zumindest weitgehend klar determinierte Reiz-Reaktionsketten handelt. Diese Ansicht ist durch die psychologische Forschung bereits seit langem widerlegt. Schon in der Antike gab es ein Bewusstsein dafür, dass die allen Regeln der Harmonie bzw. Baukunst folgende kanonische Bauweise nicht immer die gewünschte Wirkung auf den Betrachter erzielte, weil im Sonnenlicht stehende Säulen schlanker wirken als im Schatten stehende, oder weil Säulen ab einer gewissen Höhe durch optische Täuschung nicht mehr parallel aussehen (Allesch 2006: 24). Die Tradition subjektorientierten Denkens in der Ästhetik setzte sich im Mittelalter fort. Später bezog der Philosoph David Hume (1711-1776) einen pointiert subjektivistischen Standpunkt: „Die Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst: Sie existiert nur im Bewußtsein des Betrachters; und jedes Bewußtsein nimmt eine unterschiedliche Schönheit wahr.“ (David Hume: Of the Standard of Taste, 1757, zit. nach Allesch 2006: 268)
Alfred Lang weist darauf hin, dass Wahrnehmungen Strukturbildungen der inneren Erfahrung sind, die durch äußere Reize eher angestoßen als kausal verursacht werden (Lang 1993, vgl. Allesch 2006: 121). Und im radikalen Konstruktivis-
das „Erlebte“ nicht real ist, lösen die „Erinnerungen“ dieselben Emotionen aus wie echte Erlebnisse. 11 http://www.jochen-schweizer.de , 20.03.2008
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mus des ausgehenden 20. Jahrhunderts wird überhaupt angenommen, dass die Realität von jedem einzelnen Menschen individuell als Konstruktion aus Gedächtnisinhalten und von außen kommenden Sinnesreizen hergestellt wird, dass also die Wahrnehmung kein Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität liefert (Foerster 1985, Glasersfeld 1995). Events können somit nur förderliche Rahmenbedingungen für Erlebnisse schaffen und setzen stets auf die Hoffnung, dass die Besucherinnen und Besucher die notwendige „Erlebnisarbeit“ (Schulze 2007) selbst leisten bzw. sich auf die neuen Erfahrungen einlassen. Um ihnen das zu ermöglichen, müssen Events ausreichend Anknüpfungspunkte für sie bieten. Dies ist der Anlass für die intensive Auseinandersetzung mit Zielgruppen von Events im Kontext der Marktforschung. Dabei gewinnt die Lebensstilforschung mit ihren primär qualitativen Ansätzen mehr und mehr an Bedeutung. Für die Auseinandersetzung mit Kompositionsaufträgen für Events ergeben sich daraus folgende Fragen: • •
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Welche Bedeutung hat zeitgenössische Musik in der Lebenswelt der Zielgruppe des jeweiligen Events? Wodurch werden im jeweiligen Event förderliche Rahmenbedingungen für das Erleben der neuen Komposition geschaffen? Liveness und Präsenz
Eventmarketing wird zur Abgrenzung gegenüber anderen, so genannten klassischen Marketingmethoden auch als „Live-Marketing“ bezeichnet. Nickel versteht darunter „jegliche Art der direkten Begegnung zwischen Marke und Kunden in einem inszenierten Umfeld“ (Nickel 2007: Vorwort VII), Dams versucht sich an einer etwas ausführlicheren Definition, geht dabei aber nicht über einen rein betriebswirtschaftlichen Blickwinkel hinaus: „Abgeleitet aus der klassischen Marketingdefinition definieren wir ‚Live-Marketing’ als ‚die aktive und systematische Planung, Koordination und Kontrolle aller auf die aktuellen und potentiellen Märkte ausgerichteten Unternehmensaktivitäten im Bereich der direkten und persönlichen Zielgruppenansprache’.“ (Dams 2008: 15, kursive Hervorhebung original)
Die Schwäche dieser Definition wie auch anderer Darstellungen in der Fachliteratur zum Eventmarketing liegt darin, das keine eingehendere Auseinandersetzung mit dem zentralen Begriff „Live“ erfolgt. Dieser stellt tatsächlich einen be-
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sonders wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Wirkfaktor von Events dar. Was aber bedeutet „Live“? Der Ausdruck „Live“ ist eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts und untrennbar mit der Entwicklung elektronischer Aufzeichnungs- und Übertragungstechnologien verbunden. Erst ab dem Zeitpunkt, als es möglich wurde, in der Zeit ablaufende Ereignisse auf Tonträger oder Film festzuhalten und mittels dieser Aufzeichnung zu einer späteren Zeitpunkt zu „wieder-holen“, ergibt das Wort „Live“ überhaupt Sinn. „Live“ ist stets auf seinen Antagonisten „nicht Live“ angewiesen. In der deutschen Sprache bezeichnet „Live“ zunächst die zeitgleiche Übertragung eines Geschehens in Rundfunk oder Fernsehen. In einer radikaleren Auslegung, wie sie für Events zutrifft, geht es dabei aber um die gemeinsame körperliche Präsenz von Protagonisten und Publikum an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Während die elektronischen Medien, insbesondere auch das Internet als das neueste und heute wichtigste Medium, Zeit und Raum aufheben, da sie ubiquitären Charakter haben, machen Events durch ihren Live-Charakter Zeit und Raum wieder erlebbar. Um an einem Event teilzuhaben ist es notwendig, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu sein. Somit ist das stetige Wachsen der Eventkultur als eine Gegenbewegung, ja als ein notwendiges Gegengewicht zur zunehmenden Mediatisierung der Welt zu verstehen. Die technisch vermittelte Aufzeichnung ist eben nicht der Event, sondern nur eine Repräsentation des Events, der etwas Wesentliches fehlt. Das gilt auch für eine so genannte Live-Übertragung via Fernsehen oder Internet. Jedem, der eine solche Aufzeichnung bzw. Übertragung via Bildschirm verfolgt, ist klar, dass er nicht persönlich dabei ist. Im Zentrum des „Live“-Begriffs steht als entscheidender Unterschied zu „nicht Live“ die körperliche Ko-Präsenz von Akteuren und Besuchern (vgl. Fischer-Lichte 2004). Diese ermöglicht Kommunikationsprozesse, die weit über das hinausgehen, was ein Bildschirm übertragen kann. Die Akteure beeinflussen durch ihr Handeln bzw. allein durch ihre körperliche Gegenwart die Besucherinnen, diese wirken wieder durch ihre Gegenwart und ihre Reaktionen auf die Akteure und auf die anderen Besucher ein, es entsteht ein zirkulärer Austauschprozess. Ich erlebe bestimmte Akteure, kann sie fast oder tatsächlich berühren, bin z.B. in der ersten Sitzreihe durch die Speicheltröpfchen der deutlich artikulierenden Schauspielerin bedroht oder kann ihr Blumen zuwerfen, welche sie dann tatsächlich aufhebt. Ich erlebe aber auch die anderen Menschen im Publikum, ihre Reaktionen, diese nehmen sowohl mich emotional und energetisch mit, als auch die Darsteller; alle Anwesenden beeinflussen einander gegenseitig.
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Fischer-Lichte bezeichnet diesen Prozess als „feedback-Schleife“ (FischerLichte 2004: 59). Da diese feedback-Schleife durch alle bei der jeweiligen Aufführung anwesenden (und damit am Ergebnis beteiligten) Menschen konstituiert wird, ist der Ablauf nicht vollständig vorausplanbar und vor allem nicht wiederholbar. Jede Aufführung ist einzigartig (siehe das folgende Kapitel „Einzigartigkeit“) und auf die körperliche Ko-Präsenz der zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammentreffenden Individuen angewiesen. Die elektronischen Medien versuchen den Mangel an Präsenz durch PräsenzEffekte (vgl. Fischer-Lichte 2004: 174 f.) auszugleichen. Da für die Wirkung einer Darbietung auf einzelne Zuschauer, wie im Vorangehenden besprochen, nicht nur die Darbietung selbst, sondern auch die Reaktion der anderen Zuschauer und Zuschauerinnen wesentlich ist, wird z.B. in so genannten TV-Sitcoms nach jeder Pointe eine Tonaufzeichnung von lachendem Publikum zugespielt. Diese Praxis stieß in Europa zunächst auf Widerstand und hat sich erst etwa drei Dekaden später als in den USA durchgesetzt. Dies mag in einer Differenz des Zugangs zur Frage von Echtheit und Simulation begründet sein, welche aber, wie die Entwicklung zeigt, tendenziell im Schwinden begriffen ist. Hier sei auf den vorhergehenden Punkt (Das Erlebnis im Zentrum) verwiesen: Wenn das subjektive Erlebnis im Zentrum steht, ist die Frage, ob dieses durch einen „echten“ oder „simulierten“ Auslöser hervorgerufen wurde sekundär. Doch genau hier entsteht ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen Präsenz und PräsenzEffekten. Denn das Erleben von realer körperlicher Ko-Präsenz ist durch Präsenz-Effekte nicht herstellbar: „Sie erzeugen den Schein von Gegenwärtigkeit, ohne doch tatsächlich Körper – und Objekte – als gegenwärtige in Erscheinung treten zu lassen.“ (Fischer-Lichte 2004: 174)
Ein eindrucksvolles Beispiel für die Arbeit mit Präsenz-Effekten in elektronischen Medien stellte die „Live“-Präsentation von David Bowies Studioalbum „Reality“ am 8. September 2003 dar. Dazu wurde eine echte Live-Aufführung aller Stücke des Albums aus London via Satellit zeitgleich in Kinos auf der ganzen Welt übertragen12. Höhepunkt des Events war eine interaktive Frage- und Antwortstunde, bei der Fragen von Zuschauern13 aus den Kinosälen gestellt werden konnten und von Bowie direkt auf der Leinwand beantwortet wurden. In den Kritiken wird der enorme technische und logistische Aufwand zwar anerkannt,
12 Bedingt durch den Zeitunterschied erfolgte die Übertragung nach Asien, Japan, Australien, Nord- und Südamerika verzögert. 13 aus Europa, siehe vorhergehende Fußnote
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doch rücken technische Probleme immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit, vor allem aber bleibt die Nachrangigkeit zu einem echten Live-Erlebnis stets präsent. Jörg Thoman in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lobt den innovativen Gedanken des Events und die künstlerische Qualität der Aufführung, bleibt aber letztlich skeptisch: „ ‚Let’s face the music and dance’ singt Bowie, doch das Publikum kommt nur dem ersten Teil der Aufforderung nach: Zum Tanzen erhebt sich hier niemand. […] Ganz überspringen will der Funke aus London aber nicht. […] Nach dem ‚Reality’-Set nimmt er (Bowie) auf einem Hocker Platz, um ausgewählte Fragen der aus den Kinosälen zugeschalteten Zuhörer zu beantworten, und entpuppt sich mit dem Moderator Jonathan Ross als prächtig harmonisierendes Comedy-Gespann – gerade weil die Technik nicht recht mitspielen will. […] Nicht einmal die Leitung von London nach London klappt: Die Leitung aus dem Kino am Leicester Square ist tot. […] Dann kommt der Abspann – nach einem netten, durchweg unterhaltsamen Kinoabend, der gleichwohl ein echtes Konzert nicht ersetzt.“ (FAZ, 9. September 2003)
Die Live-Situation bezieht ihre Energie und Spannung auch oder gerade aus der Möglichkeit des Scheiterns. Besonders deutlich wird das z.B. bei Artisten im Zirkus. Während im Kino- oder Fernsehfilm ein unaufhörliches Steigerungsspiel von immer extremeren Stunts, Tricks, raschen Schnittfolgen, digitalen Simulationen und ähnlichen Konstrukten notwendig ist, um die Spannung aufrechtzuerhalten, bleiben Gefahr und Risiko in der Manege immer präsent. Bei einem live auf der Tribüne erlebten (ja sogar bei einem „live“ übertragenen) Fußballspiel genügt dem Publikum schon die Ungewissheit des Ausgangs. So gesehen ist ein fehlerlos ablaufender Event nicht unbedingt der Idealfall, da ihm ein Mindestmaß an Kontingenz fehlt, und damit auch ein wichtiger Aspekt von „Liveness“.14 Fischer-Lichte spricht im Zusammenhang mit der körperlichen Ko-Präsenz bzw. Gegenwärtigkeit sogar von der Einlösung des Glücksversprechens der
14 Eventgestalter begegnen diesem Problem häufig, indem „Undercover“-Schauspieler in der Rolle von Zuschauern aus dem Publikum in das Geschehen eingreifen und so die Akteure auf der Bühne zu „spontanen“, vermeintlich außerplanmäßigen Reaktionen zwingen.
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abendländischen Zivilisation. Dieses basiere auf der erhofften Auflösung der Dichotomie von Körper und Geist und damit auf der Befreiung der durch den Körper gesetzten begrenzten Existenzbedingungen. Dabei herrscht die Idee vor, dass dies nur durch die Unterwerfung des Körpers unter die Kontrolle des Geistes zu erreichen sei, häufig mittels religiöser bzw. asketischer Praktiken. Im Theater bzw. in der Performance sei der Gegensatz aber aufgehoben, da Darsteller und Publikum im unwiederholbaren performativen Augenblick der Ko-Präsenz Körper und Geist nicht separiert erleben können. Stattdessen werde der Schauspieler bzw. die Schauspielerin in einer energetischen Präsenz wahrgenommen, als verkörperter Geist (embodied mind, Fischer-Lichte 2004: 171 f.), der die Dichotomie zum Kollabieren bringe: „Anstatt die Einlösung des Glücksversprechens auf das Ende des Zivilisationsprozesses zu verschieben, wird es in der Präsenz des Darstellers hier und heute eingelöst. Mehr noch: Indem die Präsenz des Darstellers den Zuschauer blitzartig sich selbst als embodied mind empfinden läßt, erklärt sie das Versprechen als immer schon eingelöst. Der Mensch ist embodied mind.“ (Fischer-Lichte 2004: 172)
Ein großes – von vielen Eventgestaltern unterschätztes bzw. überhaupt nicht erkanntes – Problem stellt der Verlust von „Liveness“ durch den zunehmenden Einsatz von Technik bei Events dar. In dem Maß wie technische Repräsentation die direkte körperliche Gegenwart von Akteuren substituiert wird der LiveCharakter geschwächt. Technische Übermittlung oder Überhöhung geht immer mit einem Verlust an Unmittelbarkeit einher. Ein gutes Negativ-Beispiel dafür ist der Einsatz von Mikrofonen in kleineren Veranstaltungsräumen, in denen eine ausreichende Sprachverständlichkeit auch ohne Verstärkung gegeben wäre. Es entstehen technische Verfremdungen des Stimmklanges, Dialoge mit Besuchern sind nur mit einem weiteren Mikrofon möglich und die Gefahr technischer Probleme steigt. Hier kommt es zu einem fatalen Zusammenwirken von zwei Faktoren, nämlich der Technikbegeisterung der Eventbranche, die häufig den Einsatz neuester Technologien mit Qualität gleichsetzt, einerseits, und dem Mangel an theoretischer Auseinandersetzung und Reflexion ihrer Protagonisten andererseits. Letzterer reproduziert sich in der vermeintlichen „Praxis-Orientierung“ vieler entsprechender Event-Ausbildungsgänge, in denen Theorie nur als die zumeist auf Beschreibungen banaler Ursache-Wirkungs-Ketten beschränkte MarketingTheorie verstanden wird.
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Einzigartigkeit: Die Antithese zum Alltäglichen
Materielle Produkte werden heute in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß kopiert und vervielfältigt, wobei die Perfektion der Kopien ständig zunimmt. Das Grundprinzip der Industrialisierung, welches stets die massenhafte Reproduktion standardisierter und möglichst identischer Objekte der singulären Produktion von Neuem vorzieht, hat auf fast alle Lebensbereiche übergegriffen. Picht spricht von einem „Überwuchern der Reproduktion“ und einer „gleichzeitigen Unterdrückung der produktiven Fähigkeiten des Menschen“ (Picht 1993: 24). Die Aura der Einzigartigkeit steht selbst im Bereich des Immateriellen in Frage, zum Beispiel durch die Digitalisierung von Musik, verbunden mit der Loslösung von materiellen Tonträgern und der grenzenlosen und kostenlosen Vervielfältigung und Verbreitung von Tonaufnahmen. So ist Einzigartigkeit nur mehr in jenem Bereich zu finden, der die körperliche Präsenz von Menschen an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit erfordert: im flüchtigen Erlebnis. Da die Einzigartigkeit in der (dem industriellen Denken kohärenten) Welt des Marketing und des Verkaufens aber von größter Bedeutung ist – man denke etwa an die immer präsente Frage nach der „Unique Selling Proposition – USP“ oder nach den „Alleinstellungsmerkmalen“ eines Produkts – rücken Events als geplante und inszenierte Erlebnisse immer mehr ins Zentrum. Ihre Einzigartigkeit ist dabei aber ständig bedroht, denn das ökonomische Denken fordert Wiederholung und Serienproduktion im Sinn der Amortisation. So stehen Events einerseits in einem kommerziellen Kontext, widersprechen aber traditionellen ökonomischen Denkweisen. Über die bloße Einzigartigkeit hinaus sollen Events über eine gewisse Bedeutsamkeit verfügen, Liessmann bezeichnet sie als „Knotenpunkte des Daseins“ (Liessmann 2007: 5). Hier zeigt sich die enge Verbindung mit dem Begriff „Erlebnis“, der ebenfalls auf Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit verweist: „Zum ‚Erlebnis’ wird Erlebtes, sofern es nicht nur schlicht erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung sichert. Im Erlebnis ist der Erlebende aus dem Trivialzusammenhang seines sonstigen Erlebens herausgehoben und zugleich bedeutsam auf das Ganze seines Daseins bezogen.“ (Ritter 1972: 703)
In der Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit bzw. im Anspruch darauf liegt aber auch ein grundlegendes Problem vieler als Event konzipierter Veranstaltungen, denn dieser Anspruch ist nicht immer einlösbar. Peter Kemper versteht unter Event daher kritisch einen „Marketing-Begriff, der Einmaligkeit suggerieren
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soll“ (Kemper 2001: 188). Der Anspruch auf Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit zwingt die Veranstalter, nach immer ausgefalleneren Elementen zu suchen, zum Beispiel neuen Fun-Sportarten, ungewöhnlichen Orten, exotischen CateringIdeen oder überraschenden Kombinationen von Kunst und Technik (etwa bei der Präsentation des neuen Airbus A380 am 18. Jänner 2005 in Toulouse). Die Uraufführung eines Stücks zeitgenössischer Musik hat ein weit höheres Potenzial an Einzigartigkeit als viele andere Elemente, und sie erhebt mit dem ihr zugesprochenen Kunstwert jedenfalls den Anspruch auf Bedeutsamkeit. Unwiederholbarkeit Was kann man dem Verlust von Einzigartigkeit durch Wiederholung entgegensetzen? Wie kann man Wiederholbarkeit überhaupt verhindern? Das 20. Jahrhundert war geprägt von einer Explosion der Möglichkeiten, Informationen zu speichern und zu vervielfältigen. Das lässt sich gut im Feld der Musik zeigen: Die Erfindung der Radioübertragung machte es möglich, gespielte Musik gleichzeitig an verschiedenen Orten zu hören, die weit vom Standort der Musiker entfernt waren. Durch die Schallplatte wurde auch die Zeitbindung der Musik außer Kraft gesetzt, ein Stück konnte nun jederzeit auch ohne die Beteiligung der Künstler wiederholt werden. Das Tonband und später seine mobile Variante, die Musikkassette und der Walkman erhöhten die Verfügbarkeit der Musik weiter enorm. Die technische Entwicklung veränderte auch die Musik selbst: Musiker begannen nicht mehr für konzertante Aufführungen, sondern für Tonträger zu komponieren. Das Tonstudio und das Mehrspur-Aufnahmeverfahren wurden zu den wichtigsten Instrumenten des 20. Jahrhunderts, wie der Musiker und Produzent Brian Eno einmal sinngemäß gesagt hat. Die Digitalisierung schraubte die Spirale der Verfügbarkeit weiter voran. Mittlerweile ist eine für den einzelnen Menschen längst nicht mehr fassbare ungeheure Menge an Musik im mp3-Format jederzeit im Internet zugänglich, und zum großen Teil sogar kostenlos erhältlich (legal oder illegal). Das Überangebot hat den Wert gespeicherter Musik drastisch gesenkt, sowohl materiell als auch immateriell: Wenn man Musik nicht auf einer illegalen Tauschbörse kostenlos herunterladen möchte, kann man einen Titel im Internet für weniger als einen Euro erwerben. Die Verfügbarkeit von nahezu jeder einmal aufgenommenen Musik auf der Video-Plattform YouTube in Kombination mit der Verbreitung von internetfähigen Smartphones stellt schließlich die Notwendigkeit des Downloads in Frage. Der Markt für Tonträger verfällt Jahr für Jahr mit zunehmender Geschwindigkeit. Gleichzeitig fällt auf, dass – entgegen anderslautender Behauptungen – die Hörer hinsichtlich der Tonqualität immer anspruchsloser werden, bzw. ihnen
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immer geringere Tonqualität geboten wird. Entsprach die Datenmenge einer analogen Schallplatte noch ungefähr 12 Gigabyte, sank diese mit der digitalen CD auf rund 700 Megabyte um schließlich mit dem mp3-Format auf zirka 70 MB zu schrumpfen. Das weit verbreitete Abhören von Musik über die winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons lässt selbst diese Auflösung als unnötig hoch erscheinen. Ähnliches gilt auch für die Entwicklung von Film und Fernsehen. Komplementär zu diesem Wertverlust gespeicherter Musik steigt die Bedeutung von live erlebter Kunst konstant an. Theater, Konzerte und Festivals sind so gut besucht wie schon lange nicht mehr, und das bei drastisch gestiegenen Kartenpreisen. Dabei steigt auch im Segment der Live-Veranstaltungen der EventCharakter mit dem Maß an Unwiederholbarkeit. Events stehen im Gegensatz zum Repertoire-Betrieb der Konzerthäuser und Theater. Sobald es zu einer Wiederholung kommt, wie zum Beispiel beim Wiener Opernball oder beim LifeBall, muss der Event-Charakter jedes Mal mit großem Aufwand wieder hergestellt werden. Im Fall des Opernballs erfolgt dies unter anderem durch die Einladung immer neuer „skandalöser“ bzw. „unpassender“ Gäste durch den Baumeister Richard Lugner. Doch auch im Bereich technisch gespeicherter Musik gibt es erste Versuche, Unwiederholbarkeit herzustellen: 2006 veröffentlichte Brian Eno die DVD „77 Million Paintings“ mit einem generativen Software Programm. Er nutzte den Computer, um, basierend auf realen Gemälden, 77 Millionen visuelle Darstellungen als „Originale“ mittels Überblendungen zu generieren und kombinierte diese mit ebenfalls aus Sound-Layern generierter Musik. Damit soll jedes Betrachten und Hören zum einmaligen Erlebnis werden. Die Forderung nach Unwiederholbarkeit steht in Widerspruch zur industriellen Logik des Musikgeschäfts. In diesem Spannungsfeld steht eine Frage an den Forschungsgegenstand dieser Arbeit: Komponisten sind seit der Entstehung der autonomen Künstler-Rolle im 18. Jahrhundert grundsätzlich daran interessiert, dass ihre Werke möglichst oft aufgeführt werden und so Verbreitung finden. Steht der Auftrag, für einen singulären und unwiederholbaren Event zu komponieren im Widerspruch zu diesem Interesse? Alleinstellungsmerkmale Im Bereich des Marketing steht immer wieder die Frage nach den Alleinstellungsmerkmalen eines Produkts im Mittelpunkt. Diese werden in der Kampagne dann besonders herausgearbeitet. „USP“ (Unique Selling Proposition) lautet der hierfür gebräuchliche Fachausdruck. Er verweist wiederum direkt auf das individuelle Erleben des Käufers: Was ist der entscheidende Grund, warum ein Kunde aus einer Vielzahl ähnlicher Produkte ausgerechnet ein bestimmtes auswählt?
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Als wichtiges Argument für den Einsatz von Events im Marketing nennen fast alle Autoren die Austauschbarkeit von Produkten verschiedener Hersteller. Es ist z.B. bekannt, dass Autos verschiedener Marken heute oft vom selben Fließband kommen und sich nur in ästhetischen Details des Designs unterscheiden. Daher erhält das besondere Erlebnis, das mit einer Marke verbunden wird immer größere Bedeutung. Durch Events soll die in der industriellen Massenproduktion verlorene Einzigartigkeit wieder hergestellt werden. Diese hat große Ähnlichkeit mit der Vorstellung der „Aura“ von Kunstwerken bei Walter Benjamin (Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Benjamin 1939 / 2007). In der Welt der Markenwerte ist sie zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor geworden: „Man zahlt für die Aura, die ein bestimmtes Produkt umgibt, einen erheblichen Zusatz zu demjenigen Preis, der ausreichen würde, um die Gestehungskosten einschließlich eines ansehnlichen Unternehmensgewinns abzudecken. [...] Events konkurrieren nicht in der selben Weise miteinander wie Dampfbügeleisen. Es verhält sich mit ihnen ähnlich wie mit den Produkten auf dem Kunstmarkt. [...] Das Objekt bedeutet wenig im Verhältnis zur dazu erfundenen Geschichte. Dies erkennt man auch am rapiden Verfall des Wertes bei der Aufdeckung von Fälschungen, egal ob es sich um Kunstwerke oder um Levis-Jeans handelt.“ (Schulze 2007: 315)
Die Ausdrucksformen zeitgenössischer Musik entziehen sich häufig einfacher Merkbarkeit und damit auch der Imitation. Im Gegensatz zu populären Musikstilen, wo Neues meist als neue Kombination bekannter Elemente entsteht, ja ein ausreichendes Anknüpfen an vertraute und bekannte Muster eine wesentliche Bedingung für Erfolg bzw. Popularität darstellt, gilt hier das Paradigma des originär neu Geschaffenen, noch nie da gewesenen. Somit findet sich auch hier, wenngleich nicht aus ökonomischen, sondern aus künstlerischen Gründen, die Suche nach Alleinstellungsmerkmalen. 4
Ansprechen aller Sinne – Multisensualität
In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass das Vermitteln von Botschaften auf unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen eine der zentralen Stärken von Events ist. Nach Kemper sollen Events „immer multisensitiv sein, möglichst alle Sinne ansprechen und dadurch gleichzeitig Information, Kommunikation, Motivation, Weiterbildung, Unterhaltung und Imageförderung vermitteln.“ (Kemper 2001: 188). Nickel und Esch sprechen von „ Semiotic Engineering: Drei- dimen-
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sionale Umsetzung von Botschaften und Einsatz multisensualer Reize“ (siehe oben, Nickel / Esch 2007: 65 ff). Hier zeigt sich auch eine Parallele zu Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks und allen später daraus oder in Reaktion darauf entstandenen Gesamtkunst-Konzepten. Wagner sprach von der Wiederherstellung des „ursprünglichen Vereins“ der „drei reinmenschlichen Kunstarten“ „Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst“ als „drei urgeborenen Schwestern“ (Wagner 1849: 67). In Kapitel 3 wird diese Parallele weiter ausgeführt. Neu ist jedoch der Blickwinkel der Events: Während es Wagner primär darum ging, die Zersplitterung der Künste rückgängig zu machen, bzw. die Künste zu vereinigen, fokussieren Events auf das Erleben der Besucher: Tabelle 2: Gesamtkunstwerk und Event Gesamtkunstwerk Perspektive der Produktion: Zusammenwirken aller Künste Musik Tanz Dichtung Bildende Kunst Architektur
Event Perspektive der Rezeption: Ansprechen aller Sinne visuell auditiv kinästhetisch olfaktorisch gustatorisch
Quelle: Eigene Darstellung
Dies bringt mit sich, dass bei Events auch mit Sinneseindrücken gearbeitet wird, denen keine bisher bekannte Form von Kunst zugeordnet ist, wie etwa dem Geruch. 5
Thematische Fokussierung
Events sind Umsetzungen eines Themas, das von den Gestaltern des Events aus den Vorgaben der Auftraggeber bzw. der Anspruchsgruppen entwickelt wird. Auch konventionelle Vorführungen oder Performances verfügen über eine besondere Art der Fokussierung, die sie von bloßen Veranstaltungen unterscheidet. Sie nutzen bestimmte Hervorhebungen wie Bühnen, Kostüme, Masken oder aufsehenerregende Aktivitäten (vgl. Knoblauch 2000: 40). Die thematische Zuspitzung von Events geht jedoch darüber hinaus: Charakteristisch ist die Bezugnahme tendenziell aller Elemente, also z.B. auch des Catering oder der Form der Einladung auf das Thema. Events leben davon, dass sie,
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wie Gebhardt treffend anmerkt „monothematisch fokussiert“ sind, dabei aber unterschiedliche ästhetische Ausdrucksformen verbinden (Gebhardt 2000: 21). Bei herkömmlichen Veranstaltungsformen ist das häufig genau umgekehrt: Eine Vielfalt von Themen wird in einer ästhetischen Ausdrucksform dargestellt. In einem traditionellen Konzert etwa werden Musikstücke aus verschiedenen Epochen von einem Solisten oder einem Ensemble präsentiert. Der Fokus liegt auf der Präsentation der Künstlerinnen und Künstler, was insbesondere in so genannten „Sandwichprogrammen“ deutlich wird: zwischen mehreren dem Publikum gefälligen Stücken aus Klassik oder Romantik schiebt man – mit erzieherischer Intention – ein Stück zeitgenössischer Musik ein, das das geschlossene Erlebnis unterbricht bzw. stört. Das Programm bildet somit eine Leistungsschau der Musikerinnen bzw. eine Demonstration ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem und ihre Vielseitigkeit, wobei auf das Erleben des Publikums wenig Rücksicht genommen wird. Im Gegensatz zu diesem verbreiteten Konzept kann man die Zunahme von thematisch fokussierten Konzerten als einen Schritt zur Eventisierung der Konzertkultur deuten. So ist etwa das Festival für zeitgenössische Musik „WienModern“ von vorne herein als monothematisch fokussierter Event konzipiert. Der Gründer Claudio Abbado bringt das in einem Gespräch mit Lothar Knessl pointiert zum Ausdruck: „Für mich sind diese Konzerte in Wien keine mit romantischem Programm, sondern mit Thema.“ (Knessl 2008: 9)
Auch andere erfolgreiche Musikfestivals weisen eine klare thematische Fokussierung auf, z.B. Festivals für Alte Musik, für elektronische Musik, für Alternative Rock oder die alljährlich in Vorarlberg stattfindende Schubertiade. Doch der Anspruch an die thematische Durcharbeitung in Events geht über die musikalische Programmierung hinaus. Im Gegensatz zu einem Konzert oder einer Theatervorstellung gibt es bei Events keine Unterscheidung von „innen“ (das Stück, die Darsteller, die Kulissen und Requisiten) und „außen“ (die Garderobe, das Pausenbuffet, das Programmheft, das Glas Wein danach). Alle Elemente, die sonst als „Rahmung“ verstanden werden, gelten in Events als ästhetische Aspekte, die mit ihren spezifischen Möglichkeiten auf das Thema bezogen sein müssen. Das heißt, dass beispielsweise eine Schubertiade-Veranstaltung noch stärker eventisiert werden könnte, indem man in originalen Gebäuden aus dem Biedermeier spielt oder sogar an Orten, an denen sich Franz Schubert zu Lebzeiten selbst aufgehalten hat (dann wäre man allerdings örtlich sehr eingeschränkt und müsste zudem Vorarlberg verlassen).
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Somit entsteht eine Erlebniswelt, die den Besucher vollständig umschließt. Pine und Gilmore geben den Gestaltern von Erlebnisangeboten sechs Handlungsanweisungen, von denen sich die ersten drei direkt auf die thematische Fokussierung und Durcharbeitung beziehen: •
Theme the experience. The first step is envisioning a well-defined theme. […]
•
Harmonize impressions with positive cues. […] Different kinds of experiences rely on different kinds of impressions. […]
•
Eliminate negative cues. Experience stagers eliminate anything that distracts from the theme. […] (Pine & Gilmore 1999: 45-68)
Die thematische Durcharbeitung auf allen Ebenen und die Herstellung eines größeren Zusammenhangs weisen gewisse Parallelen auf zu der im Gesamtkunstwerkes formulierten Idee, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben. In diesem Punkt knüpfen Events aber auch an noch ältere Vorbilder an. In den höfischen Festen des Barock arbeiteten nicht nur die besten Gelehrten, Köche und Künstler ihrer Zeit an einem gemeinsamen Werk. Ein zentrales Merkmal dieser Feste war ihr jeweils neu und speziell komponiertes mythologisches Programm, welches häufig erstaunliche Komplexität aufwies. Alewyn beschreibt ein Fest Versailles aus dem Juli des Jahres 1674, welches nicht weniger als sechs Tage und Nächte dauerte: Das „Divertissement de Versailles“ anlässlich der Eroberung der Freigrafschaft Burgund (Alewyn 1989: 9 ff.). Mehrere Theateraufführungen, Bootsfahrten, nächtliche Illuminationen und Feuerwerke, Musikstücke, Dekorationen, Festessen, Bälle, eigens errichtete Gartenarchitekturen und Wasserspiele waren sämtlich einer leitenden Idee untergeordnet, alle Details standen im Zusammenhang eines thematisch stringenten Programms. Kompositionsaufträge für Events sind also in einen thematischen Kontext eingebunden, dem sie untergeordnet sind. Eine solche Unterordnung steht möglicherweise in Spannung zum Anspruch künstlerischer Autonomie. Im Fall der Einbeziehung zeitgenössischer Werke in Events ist daher zu fragen: • •
In welchen thematischen Kontext ist die Komposition eingebunden? Verlangt die thematische Vorgabe Kompromisse aus künstlerischer Sicht?
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Verfremdung und Kontextverschiebung
Zur Herstellung von Einzigartigkeit, Überraschung und Bedeutsamkeit nutzen Events häufig die Mittel der Verfremdung und der Kontextverschiebung. Dieses Verfahren spielte eine bedeutende Rolle in der Pop Art der 1960er Jahre und wird heute auch in der Werbung massiv eingesetzt. Damit eine Kontextverschiebung verständlich und überhaupt wahrnehmbar wird, muss dem Rezipienten der „richtige“ Kontext bekannt sein. Dieser ist wesentlich für das Verstehen von Mitteilungen und Ereignissen, für das Entstehen von Bedeutung bzw. für die Konstruktion von Sinn: Brockhaus Enzyklopädie (17. Auflage 1970): Kontext [lat. contextus >Verknüpfung