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German Pages 176 Year 2015
Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum
2009-01-09 10-27-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e199395310696|(S.
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Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«
2009-01-09 10-27-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e199395310696|(S.
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Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien.
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INHALT Kommunikation – Gedächtnis – Raum: Orientierungen im spatial turn der Kulturwissenschaften 7
VERORTUNGEN IM SPATIAL TURN Geschichte findet Stadt ALEIDA ASSMANN 13 Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie JULIA LOSSAU 29 Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum SIGHARD NECKEL 45
INSZENIERUNGEN DES RAUMS IN DER ÄSTHETIK Raum im Film – spatial versus topological turn und der Standort der Kritik MICHAELA OTT 59 In die Geschichte eintreten. Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber GERALD SIEGMUND 71 Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur. Die Pariser Passagen in Louis Aragons Paysan de Paris MECHTHILD ALBERT 93
Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten CHRISTA BRÜSTLE 113
VIRTUELLE UND REALE RÄUME Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma PETER ZAJAC 133 Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? URS ALTERMATT 149
Personenregister 169 Autorenverzeichnis 171
Kommunikation – Gedächtnis – Raum: Orientierungen im spatial turn der Kulturwissenschaften Schon vor dem spatial turn interessierten sich Kulturwissenschaften für „Kultur-“, „Kommunikations-“ und „Gedächtnisräume“: Wie in ihr sind aber auch im Alltagssprachgebrauch Ort und Bedeutung seit jeher eng verbunden. Menschen suchen nach „Orientierung“, im „Koordinatensystem“ der Landkarte ebenso wie im Bedeutungs- und Werteangebot – also dem „Koordinatensystem“ ihrer Kultur. Wenn sie dann ihren „Ort“ gefunden haben, befinden sie sich auf einem „Standpunkt“ oder vertreten eine „Position“, geographisch wie ideologisch: Sie verwenden rhetorisch bestimmte „Topoi“, fixe „Orte der Bedeutung“, um ihre Meinung „festzumachen“ oder „festzulegen“. Die speichern sie dann in einer „mind map“ oder einer bestimmten „Region“ ihres Gehirns. All diese Sprachspiele unterstellen, dass konkrete Orte eindeutig mit Bedeutungen zu identifizieren wären: Dieser Mythos „naturalisiert“ kulturelle Bedeutungen durch ihre Verortung. Zur Kritik daran will das vorliegende Buch beitragen, indem es solche metaphorischen und historischen Vereinfachungen aus der Perspektive einer Vielfalt kulturwissenschaftlicher Fächer kritisiert. In der Begrifflichkeit gesprochen, die Aleida Assmann im einleitenden Beitrag vorschlägt: In diesem Band wird analysiert, welche Mechanismen und welche Politik der Bedeutung wirksam werden, wenn ein bedeutungsneutraler, physischer „Raum“ zu einem kulturell definierten und beladenen „Ort“ wird. Das Buch reflektiert damit auch eine andauernde Paradigmendiskussion der Kulturwissenschaft, die unter dem Schlagwort spatial turn (Edward W. Soja, Doris Bachmann-Medick) Bedeutung gewonnen hat. Richtungweisend für diese Wende wurden frühere Ansätze bei Claude Lévi-Strauss (Absage an eine eurozentristische Raumkonzeption), Michel Foucault (zur wechselseitigen Abhängigkeit von Raum und Diskurs), Siegfried Kracauer (zur
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Kulturwissenschaften nach dem spatial Turn wechselseitigen Abhängigkeit von Raumkonstruktion und sozialer Schicht) und Pierre Bourdieu (Theorie des sozialen Feldes). Die Vielfalt bisheriger, unter dem Schlagwort spatial turn zusammengefasster Forschungsarbeiten thematisiert dabei so unterschiedliche Gegenstände wie eine Soziologie des Raums (z.B. Martina Löw), den Raum als dominante historische Kategorie (Karl Schlögel), die lieux de mémoire (Pierre Nora) oder den Zusammenhang von Raum und Schrift (topographical turn, Sigrid Weigel). Insgesamt richtete sich dieser spatial turn der Kulturwissenschaften gegen „eine Überlieferung, die Katastrophe ist“ (Walter Benjamin): Das 19. Jahrhundert prägte ein nationales Narrativ aus, das mehr oder weniger homogene Räume voraussetzte (Container-Raum), national-politische Raum-Abgrenzungen definierte und kulturelle Konfigurationen entsprechend festschrieb, tradierte bzw. in die Vergangenheit zurückprojizierte. Wenn jedoch unter Kultur das gesamte Ensemble von Elementen, Zeichen, Codes oder Symbolen verstanden wird, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren, dann ist auch ein solcher Begriff von Raum obsolet. Der Soziologe Sighard Neckel entwickelt das in diesem Band exemplarisch am Beispiel Bourdieus, der mit seinem Begriff des Feldes Handlungsräume definiert, die sich eben nicht als Container, sondern als Relation von Objekten und Akteuren konstituieren. Kultur ist dann als Kommunikationsraum zu verstehen, in dem durch die Setzung oder Verwerfung von Elementen Lebenswelten und Machtverhältnisse ausverhandelt werden. Dieser dynamische, performative, relationale und entgrenzte Kommunikationsraum bietet Individuen und Gruppen die Möglichkeit, sich in einem gesellschaftlichen Kontext immer wieder neu zu orientieren (Kultur als Bedeutungssystem). Ein solcher Kulturbegriff hat den Vorteil, dass er sich weder auf die repräsentative Kultur beschränkt, noch zwischen Hoch- und Alltagskultur unterscheidet, eine nationale Festschreibung von Kultur transzendiert und insgesamt eine Absage an eine essentialistische Vorstellung von Kultur und Raum ist. Nur ein solcher Raumbegriff kann etwa der traditionalen sprachlichen (und ethnischen) horizontalen Differenziertheit der zentraleuropäischen Region gerecht werden, einer imaginären, „nichtintentionalen Einheit“ (Milan Kundera). Sie setzt sich aus Kommunikationsräumen zusammen, die sich sowohl konkurrenzieren als auch überlappen. Daraus folgt, dass in der Realität Individuen und soziale Gruppen sich in der Regel, trotz nationaler Zuweisungen, in mehreren komplexen bzw. hybriden Kommuni-
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Kommunikation – Gedächtnis – Raum kationsräumen vorfinden (können), dass Identitäten sich auf ein Gedächtnis berufen, das durch mehrere Erinnerungsweisen und -mechanismen aktualisiert wird. Ein kompliziertes Netz interferenzieller Gedächnisorte definiert, so resümiert Peter Zajac in seinem Beitrag, den mitteleuropäischen Raum. Scheinbar homogene „Gedächtnisorte“ lassen sich in unterschiedliche Diskurse, „Geschichten“ (vgl. histoire croisée) bzw. „Bilder“ (Walter Benjamin: „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“) dekonstruieren, die jeweils ihre Gültigkeit haben: Vor diesem Hintergrund stellt in diesem Band der Schweizer Historiker Urs Altermatt die Frage, ob der Umgang der Schweiz mit dem ihr immanenten Pluralismus Vorbildwirkung für ein plurizentrisches Europa haben könnte. Einige der stärker theoretisch orientierten Beiträge, die mit Assmann und Neckel diesen Band eröffnen, entwickeln allerdings eine skeptische Perspektive darauf, ob die Abkehr von der Containermetapher für sich ausreicht, einen Essentialismus auch in der Stoßrichtung des kulturwissenschaftlichen spatial turn zu vermeiden. Die Kulturgeographin Julia Lossau etwa skizziert, wie historisch ihr Fach seine Aufgabe immer weniger darin sah, physische Räume zu beschreiben, und seine Gegenstände als davon abzuhebende Bedeutungsräume begriff: Vor dieser Entwicklung erscheint aber die Emphase, mit welcher die Kultur- und Geisteswissenschaften einen teilweise durchaus physisch verstandenen Raumbegriff neu zu entdecken vorgeben, durchaus problematisch. Die Filmtheoretikerin Michaela Ott kommt zu einem vergleichbaren Befund, auch wenn sie für ihre Analyse einen ganz anderen Hintergrund wählt: Die Auflösung einer essentialistischen Vorstellung des Raums, so argumentiert sie, motivierte sich wissenschaftsgeschichtlich aus seiner Koppelung mit der Vorstellung der Zeit. Während aber ein Medium wie der Film eine solche Koppelung anschaulich mache, wenn er seine Mittel bewusst gebraucht, habe einige unter dem Etikett spatial turn publizierte Theorie sie wieder verdrängt, um Zeit und Raum als Gegensatz zu inszenieren. Ästhetische Verfahrensweisen stellen Mechanismen der Koppelung von Raum und Bedeutung aus, welche den spatial turn der Kulturwissenschaften bestimmen: Das zeigt sich nicht nur in Bezug auf den Zusammenhang von Zeit und Raum im Film: Die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Albert führt am Beispiel der Pariser Passagen vor, wie sehr schon ein Surrealist wie Aragon den Raum „als eine Art Text“ (Sigrid Weigel) betrachtet. Er nutzt die Unentschiedenheit der Passagen innerhalb einer Dichotomie
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Kulturwissenschaften nach dem spatial Turn von Innen und Außen, um konventionelle Bedeutungszuschreibungen zu verunsichern und den Schauplatz als einen des Begehrens zu inszenieren. Die Musikwissenschaftlerin Christa Brüstle führt aus, wie auch in der Musik der Raum zunehmend als mitbestimmender Faktor für die Komposition einerseits und die Aufführung andererseits erkannt und mit inszeniert wird. Und der Theaterwissenschaftler Gerald Siegmund schließlich nähert sich der Verbindung von Raum und Bedeutung über den Begriff der Reflexion: Er geht davon aus, dass Theatralität sich überall dort ereignen kann, wo der Blick einen anderen Ort aushebt, von dem aus wir, die Zuschauer, selbst wiederum angeblickt werden können. Von da ausgehend beschreibt er, wie die avancierten Theaterprojekte von Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber die traditionelle Unterscheidung von Spiel- und Zuschauerraum ins Spiel bringen. Sie inszenieren damit zugleich eine Differenz dessen, was Aleida Assmann in ihrem einleitenden Beitrag als „Ort“ und „Raum“ unterschieden hat. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der 9. Internationalen Konferenz des Forschungsprogramms Orte des Gedächtnisses der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die vom 8. bis 10. November 2007 in Wien stattfand. Die Herausgeber danken dem wissenschaftlichen ExpertInnenrat der Kommission und ihren KollegInnen an der Kommission für inhaltliche Anregungen und organisatorische Unterstützung sowie Sabine Krammer für die umsichtige Bearbeitung der Druckfassung. Moritz Csáky
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Christoph Leitgeb
Verortungen im spatial turn
Geschichte findet Stadt ALEIDA ASSMANN All unser Wissen von Geschichte haftet an Orten. [...] Wir kommen ohne Bilder von Schauplätzen, an denen sich alles ereignet hat, nicht aus. History takes place – Geschichte findet statt.1
Angeregt von diesen Sätzen Karl Schlögels möchte ich im folgenden Beitrag über den Zusammenhang von Geschichte, Raum und Gedächtnis nachdenken. „History takes place“ – diese Formel eröffnet gewichtige Fragen: wie kommt die Geschichte zum Raum? Wie besetzt Geschichte Räume und wie wird das Besetzen von Räumen zum Ziel von Geschichte? Angesichts dieses umfassenden Komplexes von Fragen, mit denen ich es hier nicht annähernd aufnehmen kann, werde ich mich auf einen kleinen Ausschnitt beschränken. Die Zuspitzung des Themas schlägt sich in der Variation meines Titels nieder. Es soll um das Verhältnis von Geschichte und Stadt gehen, und damit um die Frage, wie sich Geschichte in den städtischen Raum einschreibt, in ihm verankert und diesen immer wieder verändert. Bevor ich jedoch auf die Stadt als Palimpsest und Geschichtsspeicher eingehe und anschließend Probleme architektonischer Rekonstruktion diskutiere, möchte ich zunächst einige theoretische Vorbemerkungen vorausschicken und dabei eine begriffliche Unterscheidung vorschlagen.
Raum und Ort Der so genannte spatial turn hat in die Kulturwissenschaften neue Begriffe und Fragen eingebracht. Bekanntlich war eine wichtige Stimme bei dieser Wende die des Geographen und Architekturtheoretikers Edward Soja. Er bediente sich der Wende1
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien: Hanser 2003, S. 70.
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Aleida Assmann rhetorik, um das Paradigma der Zeit, das die Historiker seit dem 19. Jahrhundert geleitet hatte, durch das neue Paradigma des Raumes als das des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu ersetzen. Raum als die Dimension der Gleichzeitigkeit, so das Argument, sei lange genug durch die Konzentration auf die linearen Prozesse von Zeit und Wandel verdeckt worden. Noch einmal Schlögel: Das historische Narrativ hat wesentlich dazu beigetragen, den Raum zum Schweigen zu bringen, der nicht in der zeitlichen Sequenz zur Sprache und zur Anschauung gebracht wird, sondern in der Vergegenwärtigung des Nebeneinander.2
Soja zeigte, was dabei mit vergessen worden war: nämlich die schöpferisch lokalisierte Lebenswelt, die nicht nur das Produkt von Geschichte, sondern vor allem auch der Konstruktion menschlicher Geographien ist, einer sozialen Konstruktion von Raum und der stetigen Formung und Umformung geographischer Landschaften.3
Soja konnte an die Arbeiten französischer Historiker anknüpfen, die bereits zwei Jahrzehnte zuvor den Grund für die Wende gelegt hatten. Einer von ihnen war Henri Lefebvre, der über La Production de l’espace geschrieben hatte und den Raum als „ein Reservoir von Ressourcen“ definiert hatte. Raum, so Lefebvre, sei „mehr als ein Theater, eine Bühne oder ein Setting für Handlung. Raum ist nicht nur eine neutrale Voraussetzung, sondern hat einen aktiven Anteil am Geschehen als Instrument und Ziel, Mittel und Zweck.“4 Vor Lefebvre hatte bereits Foucault in einem Vortrag vor Architekten aus dem Jahre 1967 über Andere Räume (des espaces autres) gesprochen. In diesem Vortrag, der erst kurz vor seinem Tode knapp zwei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde, schrieb er: Am Ende des 20. Jahrhunderts leben wir in einer Epoche der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinanders, in einer Epoche der Nähe und Distanz, der räumlichen Enge und der großen Entfernungen. Wir verstehen uns heute weniger als Wesen, deren Leben sich in der Zeit 2 3
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Ebd., S. 64. Edward Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London u.a.: Verso 1989, S. 10. Vgl. auch: Ders.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real and Imagined Places, Cambridge/Mass.: Blackwell 1996. Henri Lefebvre: La Production de l’espace, Paris: Éd. Anthropos 1974, Englisch, Ders.: The Production of Space, Oxford u.a.: Blackwell 1991, S. 410f.
Geschichte findet Stadt entwickelt, denn als solche, die über bestimmte Knotenpunkte miteinander vernetzt und verschränkt sind.5
Mit dem spatial turn hat sich immer stärker die Einsicht verbreitet, dass historisches Geschehen nicht nur in Räumen stattfindet, sondern sich mit ihnen auch verschränkt und von ihnen wesentlich mitbestimmt ist. In einem politischen Zusammenhang, zum Beispiel, heißt Raum Territorium und setzt spezifische Ziele; er kann erobert, verteidigt, entdeckt, durchquert, kolonisiert, vermessen, kartographiert, besetzt, besiedelt und umbesiedelt werden. In diesem Sinne ist Raum immer schon ein zentraler Motor kolonialer und imperialer Politik gewesen. Immer geht es in diesem Handlungs-Dispositiv auf irgendeine Weise darum, Raum umzuformen und auszubeuten und ihn damit zur zentralen Dimension der Manifestation von Macht zu machen. Genau gleichzeitig mit dieser Entwicklung, die inzwischen gut bezeugt ist6, gibt es einen weiteren Raumdiskurs, der von diesem unterschieden ist und ebenfalls auf französische Historiker zurückgeht. Zwischen 1986–1992 arbeitete Pierre Nora mit mehr als hundert Kollegen an seinen 130 lieux de mémoire, die in eine siebenbändige Studie mündeten und heute nicht nur in viele Sprachen übersetzt sind, sondern auch Nachfolgeprojekte angestoßen haben. Obwohl es beides Mal um Raum geht, entwickelten sich diese beiden Diskurse weitgehend unabhängig und nahmen voneinander kaum Notiz. Der eine Diskurs wurde zur Grundlage der stark politisch orientierten kolonialen und postkolonialen Studien, der andere konzentrierte sich auf den inneren Zusammenhang von Geschichte und Nation. Ich möchte hier einleitend auf unterschiedliche Raum-Perspektiven eingehen, indem ich mich den zentralen Begriffen und ihren Implikationen zuwende, die den jeweiligen Diskursen zugrunde liegen. Mir geht es dabei um die Unterscheidung von Raum und Ort. Wer über ‚Raum‘ nachdenkt, spricht von etwas, das es zu konstruieren, gestalten, nutzten, besetzen gilt. Raum ist vorwiegend ein Gegenstand des Machens und Planens, eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure, ob es sich dabei um
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1984 Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 34–46; hier: S. 34. Kompetent und anschaulich aufbereitet in Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt 2006, S. 284–328.
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Aleida Assmann Eroberer, Architekten, Stadtplaner oder Politiker handelt. Alle haben die Zukunft im Blick; sie wollen eingreifen, verändern, umgestalten. ‚Orte‘ sind demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen. Orte haben Namen und Geschichte bzw. Geschichten, sie bergen Vergangenheit; Räume dagegen öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft. Während Raum also eher zukunftsgerichtet und – mit den Worten Lefebvres – Gegenstand von Instrumenten und Zielen, von Mitteln und Zwecken ist, sind Orte eher vergangenheitsgerichtet und haben eine Geschichte, die an ihnen haftet und weiterhin ablesbar ist. Der Raumtheoretiker Soja ist nicht zufällig Architekt und schreibt unter anderem über Los Angeles, eine Stadt, in der die Raumdimension die Ortsdimension ständig aufzehrt im Zuge einer „beständigen Formation und Reformation geographischer Landschaft“; wo, mit anderen Worten, die stetige Bewegung der Bewohner und Investoren eine räumliche Kristallisierung von Geschichte und Gedächtnis verhindert.7 Das Bewusstsein nicht nur für Raum als ein zentrales Dispositiv der Macht, der Repräsentation, der Gestaltung, sondern auch für Orte in ihrer Konkretheit und Unverwechselbarkeit bildet Grundlage und Gegenstand des neuen Raumdiskurses. Nach Struktur-, Makro- und Mikrogeschichte gewinnen Orte im historischen Denken eine neue Beachtung als Schauplätze historischer Ereignisse, als Form der Verdichtung und Vergegenständlichung von Geschichte, als greifbare Träger von Zeichen und Spuren, die zerstört oder bewahrt, verworfen oder entziffert, markiert oder negiert, vergessen oder erinnert werden.8 Der neue Begriff des Ortes tauchte in dem Moment auf, wo Historiker ihr Konzept von Geschichte erweiterten und von der Analyse, wie Geschichte gemacht wird, ausdehnten auf die Frage, wie Geschichte erlebt wurde und erinnert wird. Ort ist ein neuer Gegenstand histori7
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Yi-Fu Tuan: Space and Place. The Perspective of Experience, Minneapolis, London: Univ. of Minnesota Press 1977. – Los Angeles unterscheidet sich in dieser Hinsicht von New York, das ebenfalls eine ,convertible city‘ war, wo inzwischen aber erstmals ganze Bereiche unter Denkmalschutz gestellt wurden. Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt a.M.: Fischer 2001; J. Hillis Miller: Topographies, Stanford: Stanford Univ. Press 1995.
Geschichte findet Stadt scher Analyse, der über schriftliche und bildliche Quellen hinausgreift und das Prinzip der Lesbarkeit auf Landschaften, Städte, Plätze ausdehnt, wo immer – mit den Worten von Foucault – „es zu einer schicksalhaften Kreuzung von Zeit und Raum kam“, oder, um mit Benjamin zu sprechen – „Geschichte in den Schauplatz eingewandert ist“. Im Mittelpunkt der Sorge um Spurensicherung stehen nicht nur Orte, die für die Geschichte nationaler Identifikation grundlegend geworden sind (Noras Lieux de mémorie), sondern auch solche, in die sich eine traumatische Geschichte eingeschrieben hat, und die in Form von Gedenkorten als Wunden der Erinnerung offen gehalten und zur Schau gestellt werden. Ihren Widerpart finden die geschichts-, erfahrungs- und gedächtnisträchtigen Orte in den so genannten non-lieux wie Parkplätzen, internationalen Flughäfen, Kettenhotels und Kettenbistros, in denen eine bestimmte kommerzielle Funktion die Spezifik der lokalen Physiognomie ausgelöscht hat.9 Um das Bisherige zusammenzufassen: unter der proklamierten Wende vom Paradigma der Zeit zum Paradigma des Raums tut sich eine weniger beachtete Unterscheidung auf, die etwas mit Zukunfts- bzw. Vergangenheitsperspektiven zu tun hat. Während der Raum im engeren Sinne mit Gestaltungsmöglichkeit und Zukunftspotential assoziiert ist, ist der Ort besonders durch seine Geschichte bestimmt, die im Ausnahmefall der Gedenkstätten einen ausschließlich retrospektiven Charakter annimmt. Neben der Wende von der Geschichte zum Raum gibt es also eine weitere Wende vom Raum zurück zur Geschichte, wobei hier Geschichte und Gedächtnis ineinander übergehen. Das neue Interesse am Raum bedeutet also keineswegs eine Abkehr von der Geschichte sondern eröffnet neue Zugänge zu ihr. Statt weiterhin auf die großen Linien von Entwicklung und Wandel zu fokussieren, schärft die Kategorie des Raumes die Perspektive für die Machtverhältnisse im Machen und Erleiden von Geschichte, während die Kategorie des Ortes den Blick frei gibt auf eine nichtlineare Geschichte in der longue durée ihrer Brüche und heterogenen Schichtungen. „History takes place“, Geschichte greift Platz und ergreift Orte, sowohl in groß angelegten konstruktiven Entwürfen, die das Leben der Menschen bestimmen, als auch in Markierungen und Spuren, die zum Gegenstand von Symbolbildungen und Narrationen werden. Das Paradigma Raum, das stets Gegenstand widerstreitender Werte und Erfahrungen 9
Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1994.
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Aleida Assmann ist, führt dabei zu einer Zersplitterung homogener Erzählungen und einer Vervielfältigung von Erfahrungen, Erinnerungen, Perspektiven.10
Die Stadt als Palimpsest Für eine Vielzahl europäischer Städte drängt sich das Bild eines Palimpsests auf. Ein Palimpsest ist eine kostbare PergamentHandschrift, deren Beschriftung von mittelalterlichen Mönchen sorgfältig abgekratzt wurde, um einer Neubeschriftung Platz zu machen. Durch Anwendung geeigneter Mittel kann jedoch der ausgelöschte Text später unter der Überschreibung wieder lesbar gemacht werden. Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Architektur der Stadt lässt sich als geronnene und geschichtete Geschichte beschreiben und somit als ein dreidimensionaler Palimpsest aufgrund wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen. Wir können hier auch mit Reinhart Koselleck von „Zeitschichten“ sprechen.11 Die Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt paradigmatisch für die unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz. Obwohl im Stadtraum alles gleichzeitig anwesend ist, heißt das jedoch keineswegs, dass jeweils alle Schichten auch gleichzeitig wahrgenommen werden und im Bewusstsein präsent sind. Der polnisch-amerikanische Autor Czeslaw Miãosz hat die selektiven Wahrnehmungsformen der Zeitschichten am Beispiel von Städten wie Königsberg, Breslau und seiner Heimatstadt Wilna hervorgehoben, als er schrieb: „Ein Pole in Danzig zum Beispiel wird mit der deutschen Kultur konfrontiert, die sich Jahrhunderte lang aufgeschichtet hat und die in jedem architektonischen Detail anwesend ist.“ Nach dem Zusammenbruch des polnischen Kommunismus registrierte er eine gewisse Bereitschaft zur Wahrnehmung der longue durée und damit der Anerkennung der geschichteten Geschichte. „Die Polen, die sich als Danziger oder Breslauer fühlen, weil sie in diesen Städten ihre Kindheit und Jugend verbrachten, scheinen Achtung für das Erbe zu lernen. Und dieses Erbe verdanken sie der Arbeit von vielen deutschen 10 Edward Said: „Invention, Memory, Place“, in: Critical Inquiry 26, no. 2 (Winter 2000), S. 175–192, besonders S. 180ff. 11 Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.
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Geschichte findet Stadt Generationen.“ In exemplarischen Palimpsest-Städten wie Gdansk, Wrozãav, Riga oder Wilna, wo sich die Kulturen unterschiedlicher Bevölkerungen ablagerten und die den rapiden Wechsel von politischen Systemen und Nationen erlebt haben, stellt sich nach Miãosz für die Nachgeborenen die Frage: „Wie kann man dieses Erbe als das eigene anerkennen, wie fügt man sich in die Generationenkette dieser Stadt ein?“12 So wie Miãosz die Stadt als Palimpsest beschrieb, hat der serbische Architekt und Künstler Bogdan Bogdanoviþ die Stadt als „Depot gesammelter Erinnerungen“ definiert. Was ihn faszinierte, war die stabile longue durée der Stadt, die die um so vieles kürzeren Lebenszyklen ihrer Bewohner relativierte: Von welch kurzer Dauer sind die verschiedenen ethnischen Perioden, wenn wir sie mit der Dauerhaftigkeit einzelner Städte vergleichen – um von politischen Teilungen gar nicht zu sprechen. Sprachen und Nationen sind oft kurzlebiger als viele alte städtische Siedlungen, durch die eine Vielzahl von Völkern hindurchgegangen ist, und in denen in verschiedenen Sprachen gesprochen wurde.13
Umso schwerer traf ihn die Serie von Städtezerstörungen wie Vukovar, Mostar, Sarajevo, Dubrovnik, die von der jugoslawischen Stadt Belgrad ausging, in der er zehn Jahre zuvor Bürgermeister gewesen war. In seinem Buch Die Stadt und der Tod analysiert er die Motivation, die hinter der radikalen Zerstörungswut „moderner Barbaren“ steht. Er deutet den „Urbizid“ als Ausdruck einer Furcht vor der komplexen und unerschöpflichen Formensprache vergangener Epochen und kultureller Überlagerungen, die die Städtezerstörer weder verstehen, beherrschen noch kontrollieren können.14 Stadt und Urbanität, historische Tiefe und Gedächtnisbildung hängen für Bogdanoviþ aufgrund der geschichteten Struktur eng zusammen.
12 Czeslaw Miáosz: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie. Aus dem Poln. von Doreen Daume, München u.a.: Hanser 2001, S. 53–55. 13 Bogdan Bogdanoviü: Architektur der Erinnerung, Klagenfurt: Wieser 1994, S. 20. 14 Den Begriff ,Urbizid‘ übernehme ich von Renate Lachmann, deren Aufsatz ich wichtige Einsichten verdanke. Dies.: „Bogdan Bogdanoviü und seine Zerstörungsphilosophie“, in: Davor Beganovic/Peter Braun (Hg.), Krieg Sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München: Fink 2007, S. 105–127, hier S. 107.
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Aleida Assmann Die verräumlichte Geschichte gewinnt in der Stadt eine durch Überbauungen und Ablagerung kultureller Restbestände ,gewachsene‘ Struktur, wo die Kulturen und Gruppen in einer „tausendjährigen gegenseitigen Durchdringung“ existierten.15 Hatte Bogdanoviþ bereits in den 70er Jahren in verschiedenen Essays eine positive Stadtphilosophie entwickelt, so steigert sich diese angesichts der Zerstörungen des Krieges kontrafaktisch in ein urbanistisches Ideal, bei dem die Pluralität und Verschränkung unterschiedlicher kultureller Codes im Mittelpunkt steht. Sarajevo entspricht dem Idealbild einer von religiöser und kultureller Koexistenz gezeichneten Stadt, in der über mehr als 500 Jahre lang kulturelle Differenz und Durchlässigkeit herrschten, bis sie einer auf Trennung und nationalistische Reinheit ausgerichteten Politik zum Opfer fiel. Die blutige Teilung der Stadt zerstörte die Grundformel der Stadt, die Bogdanoviþ folgendermaßen definiert hat: Diese Formel war wie ein alchimistischer Weisheitsalgorithmus in die Psychomatik der Stadt eingewebt, in die urbanen Räume, in die Erinnerungen, in die menschlichen Schicksale, in die menschlichen Charaktere, in die Sprache der Strasse, in spezifische Tropen, in den Humor. Der Algorithmus der Toleranz und Harmonie verband auch die Architekturformen der vier Zivilisationskreise zu einem in Jahrhunderten geformten kohärenten Stilrezitativ.16
Der Zerstörung der Städte gingen viele signifikante Handlungen der Trennung voran: die räumliche Distanzierung, die sprachliche Entflechtung und der Wettkampf von nationalen Symbolen, die zu Abzeichen, Fanalen und Kampfzeichen aufgerüstet wurden. Die Städtezerstörer hatten es dann auf eben jene symbolträchtigen Zeichen abgesehen: auf Brücken, Kirchtürme, Kuppeln und Minarette. Renate Lachmann resümiert: Es ging also gerade um die Zerstörung der Geschichte, an der keinerlei Anteil erwünscht war, und die nicht als eine gemeinsame erfahren wurde, einer fremden Geschichte also, die sich durch sichtbare Zeichen, ihre architektonischen Male, kundtat.17
In der Analyse von Bogdanoviþ gilt der Urbizid, die Zerstörung der Stadt, dem von ihr verkörperten Gedächtnisspeicher, ist also zu15 Bogdan Bogdanoviü: Die Stadt und der Tod, Klagenfurt: Wieser 1993, S. 42–44. 16 B. Bogdanoviü: Architektur der Erinnerung, S. 119f. 17 R. Lachmann: Bogdan Bogdanoviü und seine Zerstörungsphilosophie, S. 118.
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Geschichte findet Stadt gleich ein Mnemozid. Die Verordner eines neuen nationalistischen Gedächtnisses schaffen diesem Geltung, indem sie das Frühere auslöschen.
Der Fall Berlin Diese historische Komplexität zu zerstören und ihre eigene Geschichte absolut zu setzen ist auch das Ziel totalitärer Städteplaner gewesen, das nicht nur auf dem Wege der Zerstörung, sondern auch auf dem Wege radikaler Neugestaltung zu erreichen ist. Berlin zum Beispiel war der privilegierte Gegenstand für die megalomane Stadtplanung Albert Speers, der die Generalvollmacht erhielt, Hitlers und seine mythischen Visionen einer neuen Hauptstadt Germania mit souveräner Brachialgewalt durchzusetzen. Der gebaute Geschichtsspeicher der Hauptstadt sollte dabei umgewandelt werden in eine Bühne politischer Machtentfaltung. Für Megaparaden und Sichtachsen mussten tiefe Schneisen ins Stadtbild geschnitten werden; überdimensionale Bauwerke sollten „die unbändige Tatkraft und Entschlossenheit“ des Regimes demonstrieren und das Gefühl des Erhabenen wecken.18 Mit ähnlichen Argumenten verteidigte Ulbricht im Jahre 1950 den Abriss des Berliner Stadtschlosses: „Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, müssen zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden.“ Beide Visionen standen in schroffem Gegensatz zum historischen Palimpsestcharakter Berlins, das heute zum achten Mal die Hauptstadt eines sich wandelnden politischen Gemeinwesens ist. Die beiden deutschen Diktaturen haben zu einer umfassenden Umbenennung von Straßen und Plätzen geführt, bei der die eigene Gegenwart kanonisiert und eine staatstragende Vergangenheit ins verbindlich öffentliche Gedächtnis gehoben wurde. Die heterogenen, historischen Spuren wurden dabei mit möglichst einheitlichen Botschaften überschrieben. „Die Straßenbenennungen“, schreibt Dieter Simon, sind „die hochgeschätzte Beute aller
18 Hans J. Reichhardt/Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der ,Reichshauptstadt‘ durch Albert Speers Neugestaltungsplan, Berlin: Transit-Verl. 2001, S. 34.
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Aleida Assmann politischen Wendegewinner geworden.“19 Auch nach 40 Jahren DDR war noch einmal in Berlin der ,Rückbenennungsbedarf‘ groß, und er wurde, wie Simon hinzufügt, zum Teil mit der Radikalität eines Exorzismus durchgeführt. Straßennamen spiegeln gerade auch Stationen der Lokalgeschichte. In Demokratien sind es Bürgerentscheide, die zu Umbenennungen führen. Ein solcher fand im Jahre 2004 in Berlin statt, als es darum ging, ein Leitbild der 68er Generation zu verewigen. Auf Antrag der taz wurde ein Abschnitt der Kochstraße in „Rudi-Dutschke-Straße“ umbenannt. Da bereits zehn Jahre zuvor der nördliche Teil der Lindenstraße in „Axel-Springer-Straße“ umgewandelt worden war, treffen nun Rudi Dutschke und Axel Springer an einer Kreuzung in Kreuzberg-Friedrichshain aufeinander. In unmittelbarer Nachbarschaft des Springerkonzerns, wo Geschichte einst Platz gegriffen hatte, d.h. wo bei Massenkrawallen Molotowcocktails und Steine flogen, markieren nun zwei Straßenschilder Geschichte im Raum. Namen lassen sich mit einem Federstrich ändern, Denkmäler lassen sich abbauen (wie die Leninstatuen) oder umwidmen (wie die Neue Wache), Gebäude dagegen setzen der symbolischen Umkodierung einen stärkeren Widerstand entgegen. Aber auch sie können abgerissen und überbaut werden. Ich möchte hier noch einmal auf die Unterscheidung der Begriffe Raum und Ort zurückkommen. An dieser Stelle möchte ich den nahe liegenden Einwand entkräften, dass ich eine starre Dichotomie einführe und im Begriff bin, Konzepte zu essentialisieren. Es geht mir hier keineswegs um die Konstruktion eines mutuell exklusiven Gegensatzes, sondern um die Hervorhebung unterschiedlicher Perspektiven. Die historische Physiognomie des Ortes, so haben wir betont, steht der Plastizität und Disponibilität des Raumes gegenüber – und im Wege. Ob man eine gegebene geographische Fläche eher als Ort oder als Raum ansieht, ist nicht eine Frage ihrer inhärenten Qualität, sondern eine Frage des Blicks, der Perspektive, des aktuellen Handlungs-Interesses. Wer sie als Ort sieht, wird ihre unverwechselbare Physiognomie und ihr historisches Gedächtnis betonen, was das Planungspotential stark einschränkt. Wer die Fläche dagegen als Raum sieht, wird umgekehrt die existierenden Spuren übersehen und sie im Dienste der Umgestaltungsmöglichkeiten abtragen und auslöschen. In den heute alltäglich gewordenen Kämpfen um das Gesicht unserer Städte 19 Dieter Simon: „Verordnetes Vergessen“, in: Gary Smith/Avishai Margalit (Hg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 21–36, hier S. 25.
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Geschichte findet Stadt wird die Perspektive des Raums durch den homo oeconomicus bzw. homo investor in Gestalt von Firmen und Gemeinderäten vertreten, die Perspektive des Ortes dagegen durch den homo conservator in Gestalt von Denkmalschützern und Bürgerbewegungen. Im Raum der Stadt müssen beide Gruppen beständig pragmatische Kompromisse eingehen.
Wiederaufbau und Rekonstruktion Die zentrale Frage, die sich heute angesichts des Geschichtsspeichers deutscher Städte stellt, lautet nicht mehr ausschließlich „Abriss oder Konservierung?“ sondern immer öfter „Erhaltung des Status Quo oder Rekonstruktion?“ Im Zentrum stehen dabei die neuen Worte „Wiederaufbau“ und „Rekonstruktion“. Das Wort „Wiederaufbau“ hat heute einen ganz anderen Klang als in der Nachkriegsmoderne. Es geht nicht mehr um den Ausbau von Infrastruktur und die Linderung existentieller Not, sondern um weit reichende Fragen der Reklamierung von Geschichte im Spiegel eines veränderten städtischen oder nationalen Selbstbilds. Abgerissen wird nicht mehr vorrangig, um Platz zu machen für eine neue Zukunft, sondern für eine andere, meist sehr viel ältere Vergangenheit.20 Vom Historismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich diese Option dadurch, dass die Vergangenheit nicht mehr, wie es etwa bei den Repräsentationsbauten an der Wiener Ringstraße geschah, durch historische Einfühlung und stilistische Anleihen in die Gegenwart zurückgeholt wird, sondern durch die mimetische Rekonstruktion real existiert habender, individueller historischer Bauten. Da die Standorte solcher wiederherzustellender historischer Bauten in der Regel jedoch nicht leer sind, schließt die Entscheidung für ein ,neues altes‘ Gebäude meist die Entscheidung gegen ein anwesendes, weniger altes Gebäude ein. Solche aktuellen Fragen stellen sich gegenwärtig in deutschen Städten anhand von circa 50 Gebäuden, deren Wiederkehr nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten der Abwesenheit diskutiert oder bereits geplant ist. Die Debatte um die Mitte Berlins, die Diskussion um den Palast der Republik vs. das barocke Stadtschloss, ist also kein Einzelfall, sondern nur das bekannteste Beispiel eines
20 Vgl. den Artikel mit (anschließendem Interview) von Roland Stimpel: „Verweigern oder Verbessern?“, in: Deutsches Architektenblatt 09/07, S. 12–19.
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Aleida Assmann in dieser Form absolut neuen Umgangs mit der Stadt als gebautem Geschichtsspeicher. Die neuen Fragen lauten: welcher der Zeitschichten soll im Stadtbild der Vorzug gegeben werden? Bzw.: wie viel heterogene Geschichte soll in einer Stadt überhaupt erhalten werden? Geschichte, das wird dabei deutlich, ist nicht nur gewachsen und geschichtet, sondern wird immer mehr zu einer plastischen Verfügungsmasse, über deren Gestalt die jeweilige Gegenwart entscheidet. Während die Millionen durch Krieg und Holocaust, Bombardierung, Flucht und Vertreibung Getöteten nicht wiederauferstehen können, lassen sich Steine wieder aufrichten und Gebäude wieder herstellen. Soll die Architektur dabei das Trauma der Geschichte lindern? Lässt sich Geschichte durch solche neuen Wahlmöglichkeiten heilen?21 Der Wunsch nach Rekonstruktion geht heute vorwiegend von der Bevölkerung aus; unter Architekten und Denkmalpflegern findet er in der Regel wenig Zustimmung. Letztere verschreiben sich der Erhaltung und Pflege authentischer Bausubstanz, ihnen gilt die Rekonstruktion als „geschichts-, kunst- und denkmalfeindlich“.22 Die Puristen unter ihnen nennen die Rekonstruktion von zerstörten Gebäuden gar ein „Verbrechen“; denn für sie stellt der veränderte oder zerstörte Zustand des Originals selbst eine geschichtliche Quelle dar, die durch Rekonstruktion verfälscht wird. Den Befürwortern der Rekonstruktion hingegen geht es keineswegs um Zerstörung von Geschichte, sondern um Möglichkeiten einer Reaktivierung bedeutender Kunst- und Kulturzeugnisse. Sie argumentieren, dass Rekonstruktion ein Teil architek21 „Die Architekturtheoretiker unterscheiden zwischen Kopie, Teilrekonstruktion, Nachbildung, Wiederaufbau und Rekonstruktion. Unter ,Wiederaufbau‘ verstehen sie die Wiederherstellung eines Gebäudes ohne lange Zeitverzögerung aus seinen Resten, das durch ein unglückliches Ereignis zerstört wurde, während ,Rekonstruktion‘ sich auf die Wiederherstellung eines verlorenen Originals nach Bild-, Schrift- oder Sachquellen bezieht. Nicht selten verwandeln sich Rekonstruktionen im Bewusstsein der Bevölkerung zurück in ,Originale‘, wie es etwa mit der Münchner Innenstadt oder der Semper-Oper in Dresden geschehen ist. Die Generationen, die darum wussten, sterben aus; die Gebäude authentifizieren sich durch die Zeit von selbst.“ Manfred Fischer: Rekonstruktion in der Denkmalpflege: Überlegungen – Definitionen – Erfahrungsberichte. Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz 57 (1997), S. 7, 11. 22 Adrian von Buttlar: „Kunstdenkmal versus Geschichtszeugnis“, in: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hg.), Denkmalkultur zwischen Erinnerung und Zukunft, Bonn 2004, S. 32–35.
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Geschichte findet Stadt tonischer Normalität sei, weil in der Geschichte schon immer weiter- und umgebaut wurde. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen Objektschutz und räumlicher Erneuerung aufgetan, die gegensätzliche Positionen in der demokratischen Öffentlichkeit abbildet. Während Entscheidungen für Baumaßnahmen im monarchischen und totalitären Staat unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen wurden, sind die Bürger in der Demokratie zu einem sehr viel höheren Grade an Entscheidungsprozessen mitbeteiligt. In den Debatten um die Bebauungspläne werden zugleich zentrale Fragen nach dem Umgang mit der eigenen Geschichte demokratisiert. Die Folge ist eine permanente und vielstimmige Auseinandersetzung zwischen Fachleuten, Politikern, Investoren und Bürgern. 1948 erschien ein Buch, das wie kein anderes den Zeitgeist der 50er Jahre ausgesprochen und geprägt hat. Es stammte von dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und hieß Verlust der Mitte.23 In diesem Buch beschrieb er den Entwicklungsverlauf der Moderne in den bildenden Künsten und knüpfte daran die These vom Verlust eines einheitlichen Stils, der alle Lebenserscheinungen einer Epoche durchwirkt. Den Verlust der Mitte haben die Deutschen in den 1940er bis 1960er Jahren sehr konkret erlebt durch die Zerstörung der historischen Stadtkerne und den Wiederaufbau, bei dem manches, was vom Krieg verschont geblieben war, nachträglich beseitigt wurde. Nach dem Krieg wurden auch andere Stadtschlösser abgerissen, und zwar in Ost und West wie z.B. in Halle oder Braunschweig. Deshalb besuchten die Deutschen in den Ferien auch so gerne die oberitalienischen Städte, in deren Mittelpunkt sie romanische Kathedralen in ihrem historisch gewachsenen Umfeld bewundern konnten. Den Verlust der Mitte hatten die beiden Nachkriegsdeutschländer aber auch noch auf andere Weise zu beklagen. Die einzige Mitte, die es hier gab, war die Mauer, die im Zeitalter des Kalten Krieges zur Mitte Deutschlands, Europas und einer zweigeteilten Welt wurde. Erst mit Überwindung dieser tödlichen Mitte stellte sich die Frage nach einer neuen Mitte. Diese neue symbolische Mitte gilt es nun zu besetzen. Die Hauptstadt Bonn war in diesem Sinne eine fünfzig Jahre lang gehegte Leerstelle. Nach dieser Phase der Abstinenz von Tradition, Pathos, Würde und Geschich23 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte: Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg: Müller 1948.
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Aleida Assmann te wird in Berlin vieles nachgeholt, und es geschieht mit einer Verve, die die Gefahr in sich birgt, auch gleich noch die unmittelbare Vorgeschichte, d.h. die der ehemaligen Hauptstadt der DDR, unter sich zu begraben. Die Frage, die Ceslaw Miãosz an Städte wie Kaliningrad/Königsberg und Wilna gestellt hat, gilt also auch für Berlin: wie fügt man sich ein in die Generationenkette dieser Stadt? Klaus von Beyme hat Berlin einmal eine „ungleichzeitige Stadt“ genannt.24 Die Frage ist nur, wie viel von dieser Ungleichzeitigkeit sichtbar erhalten und im Bewusstsein der Bevölkerung präsent bleibt. Durch Selektion bestimmter Epochen, die durch plakative Leitbilder vermittelt werden, entstehen auf dem Wege der Rekonstruktion neue museale Zonen zeitlicher Homogenität, die die gewachsene Heterogenität der Stadt in eine immer einheitlichere historische Kulisse verwandeln. Architektonische Rekonstruktionen dürfen nicht dazu führen, dass auf Kosten anderer Zeitschichten (wie der DDR) ein harmonisiertes preußisches Epochenbild geschaffen wird. Denn je länger die Vergangenheit zurückliegt, die wieder aufgebaut wird, desto mehr historische Lagen müssen im Prozess der Rekonstruktion abgetragen und vergessen werden.25 Nicht jeder Staat kann sich aufwändige Gedenkstätten, Sanierungen und Rekonstruktionen leisten. All das setzt einen gewissen Wohlstand voraus. In einer Demokratie beteiligen sich immer stärker auch die Bürger an den entstehenden Kosten. Für die Dresdner Frauenkirche zum Beispiel hat der Nobelpreisträger Günter Blobel rund 820.000 Euro seines Preisgelds gespendet. Für das neue historische Großprojekt, das Stadtschloss in der Mitte Berlins, sollen durch private Spenden die Mehrkosten für die Fassadenrekonstruktion von etwa 80 Millionen Euro aufge-
24 Klaus von Beyme: Kulturpolitik und nationale Identität. Studien zur Kulturpolitik zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Autonomie, Opladen: Westdt. Verl. 1998, S. 196. 25 Masha Gessen: „Auf den Flohmärkten der Geschichte“, in: Der Tagesspiegel (17.4.1999), S. 4, spricht in diesem Zusammenhang von der „Gefahr der Fälschung“. Sie schreibt über Moskau: „Ich komme aus einer Stadt voller Fälschungen: Moskaus Hauptdurchfahrtsstraße wurde dadurch erweitert, dass die anliegenden Gebäude beiseite geschoben wurden, weg von der Straße. Das bemerkenswerteste Denkmal wurde willkürlich von einer Straßenseite auf die andere gestellt; die Stadt füllt sich mit Gebäuden, welche die weit zurückliegende Vergangenheit nachahmen.“
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Geschichte findet Stadt bracht werden.26 Solche Investitionen in die Nachwelt sind plastischer Ausdruck eines affektiven Geschichtsengagements. Dieses Engagement hat unmittelbar mit Erinnern und Vergessen zu tun; in ihm drückt sich das Trauma einer Kriegs-Generation aus, die auf die Erfahrung der Zerstörung ihrer Städte durch Bombenkrieg und Nachkriegsmoderne heute mit einer rückwärtsgewandten Utopie reagiert. Nach den Kriegen und Kulturrevolutionen des 20. Jahrhunderts hat das Bedürfnis nach historischer Nachhaltigkeit deutlich zugenommen. Die vielen Kahlschläge, die auf das Konto von zunächst totalitärer Politik und dann forcierter Modernisierung gingen, sind mit starken Emotionen besetzt und verantwortlich dafür, dass das affektive Verhältnis zu älterer und vormoderner Architektur so zugenommen hat. Aus der Rekonstruktionswelle spricht deshalb nicht zuletzt die Sehnsucht nach einer langen Geschichte und damit die Nostalgie einer durch den Blackout des Zweiten Weltkrieges traumatisierten Generation.
26 „Berlin erhält sein Stadtschloss zurück“, in: FAZ Nr. 153 (5. Juli 2007), S. 1.
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Räume von Bedeutung. Spatial turn, cultural turn und Kulturgeographie JULIA LOSSAU
1. Einleitung Raum ist kein einfacher Begriff. Im deutschsprachigen Kontext hatte die Verbindung von Raumdenken und nationalsozialistischer Expansionspolitik nach 1945 bekanntlich zu einer Diskreditierung und tendenziellen Dethematisierung des Raumbegriffs geführt. Der Historiker Karl Schlögel beispielsweise schreibt: Raum und alles, was mit ihm zu tun hatte, war nach 1945 obsolet, ein Tabu, fast anrüchig. Wer die Vokabel benutzte, gab sich als jemand von gestern, als ewig Gestriger zu erkennen. [...] Raum zog eine ganze Kette von Assoziationen und Bildern nach sich: ‚Raumnot‘, ‚Volk ohne Raum‘, ‚Ostraum‘, ‚Raumbewältigung‘, ‚Grenzraum‘, ‚Siedlungsraum‘, ‚Lebensraum‘. Es roch nach Revisionismus, und es hatte seinen guten Grund, aufmerksam zu sein. Der Nationalsozialismus hatte das ganze Vokabular aufgesogen oder zumindest kontaminiert.1
Seit etwa zwei Jahrzehnten aber sind auch die deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften durch eine Aufwertung raumbezogener Fragen und Perspektiven gekennzeichnet. Die Renaissance des Raums hat in den Augen vieler Kommentatoren nicht zuletzt mit den gesellschaftspolitischen Umbrüchen der späten 1980er-Jahre zu tun. Tatsächlich dürften das Ende des Ost-WestKonflikts und die mit ihm verbundenen Entgrenzungen, Neu- und Wiederbegrenzungen dazu geführt haben, dass „Raum“ wieder zu 1
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München: Hanser 2003, hier S. 52.
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Julia Lossau einem zentralen Begriff der sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung geworden ist. Nachdem der Gedanke an die Verbindung von Raum und Nationalsozialismus verbreitet in den Hintergrund getreten ist, sind Vokabeln wie „Raumwirksamkeit“ und „Raumüberwindung“, „Grenzüberschreitung“ oder „Topographie“ auch in solchen Disziplinen wieder aufgegriffen worden, die sich zuvor durch eine gewisse Raumvergessenheit auszeichneten. Der weithin ausgerufene spatial turn hat die Geschichtswissenschaft ebenso erfasst wie die Sprach- und Medienwissenschaften, die Soziologie oder die Literaturwissenschaft. Aus geographischer Sicht stellt die Neu- bzw. Wiederentdeckung des Raums eine ambivalente Entwicklung dar. Zwar wird die Geographie, und dabei insbesondere die Kulturgeographie, aufgrund ihrer traditionellen Zuständigkeit für die räumliche Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse zuweilen als Leitdisziplin des spatial turn gehandelt. Gleichwohl steht das Fach in den entsprechenden Diskussionen eher abseits. So schreibt Doris Bachmann-Medick in ihrer Abhandlung der gegenwärtigen kulturtheoretischen Wenden: Zum ersten Mal gerät die (Kultur-)Geographie als die Wissenschaft vom Raum in den Rang einer Leitdisziplin, ohne dass dies jedoch von den anderen Humanwissenschaften schon ausreichend anerkannt und für eine Begriffspräzisierung oder gar Kooperation genutzt würde.2
Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel des vorliegenden Beitrags darin, im Rahmen eines interdisziplinären Sammelbandes einige Überlegungen zu Räumen von Bedeutung aus kulturgeographischer Sicht anzustellen. Dabei setzt er an der bereits erwähnten Ambivalenz an, die sich aus Sicht der fachwissenschaftlichen Geographie mit der räumlichen Wende verbindet. Einerseits findet das Fach, das den Raum als seinen traditionellen Grundbegriff reklamiert, eben diesen Grundbegriff – recht unvermittelt – im Zentrum der sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriediskurse wieder. Entsprechend wird in der Einleitung zu einem jüngeren kulturgeographischen Sammelband bemerkt, der spatial
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Doris Bachmann-Medick: „Spatial turn“, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek b.H.: Rowohlt 2006, S. 284–328, hier S. 285.
Räume von Bedeutung turn rücke „die bisher eher marginalisierte Kulturgeographie ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Diskussion“.3 Auf der anderen Seite aber löst die gegenwärtige Konjunktur des Raums in der Kulturgeographie auch heute noch ein gewisses Unbehagen aus, das weniger disziplinpolitisch als vielmehr erkenntnistheoretisch motiviert ist. Im Versuch, dieses Unbehagen verständlich zu machen, wird zunächst die Entwicklung skizziert, die die Kultur- und Sozialgeographie in den letzten zwanzig Jahren durchlaufen hat. Dabei wird sich zeigen, dass das Fach einen Paradigmenwechsel vollzogen hat, der zu einer Kulturalisierung des Raums führte. Was mit dieser plakativen Formel angedeutet sein soll, ist jene generelle Aufwertung von Sinn- und Bedeutungswelten, die gemeinhin mit dem cultural turn assoziiert wird und die sich in der Geographie auch auf den Raumbegriff auswirkte. In diesem Zusammenhang entwickelte sich im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte die so genannte „neue Kulturgeographie“. Dieser Ansatz findet seine Forschungsgegenstände nicht mehr in den traditionellen geographischen Räumen als den physischmateriellen Ausschnitten der Erdoberfläche, sondern beschäftigt sich mit der symbolisch-signifikativen Dimension der geographischen Wirklichkeit. Die Sozial- und Kulturwissenschaften hingegen, so die These des zweiten Abschnitts, sind durch eine gegenläufige Entwicklung gekennzeichnet. Hier hat der spatial turn insofern zu einer Verräumlichung der Kultur geführt, als der Raum im Allgemeinen und die „realen“, geographischen Räume im Besonderen auch theoriebautechnisch (wieder) interessant geworden sind. Zwar ist das neue Interesse für den Raum nicht unbedingt mit einem Abschied von Repräsentation, Interpretation und Symbolhaftigkeit als den traditionellen Leitlinien sozial- und vor allem kulturwissenschaftlicher Forschung gleichzusetzen. Was dabei jedoch in den Fokus rückt, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der physisch-materiellen Realität der geographischen Räume einerseits sowie den bedeutungsvollen sozial-kulturellen Wirklichkeiten und deren räumlicher Strukturiertheit andererseits. Genau dieser Zusammenhang soll im dritten Abschnitt problematisiert werden. Zu diesem Zweck wird gefragt, ob die Sozialund Kulturwissenschaften nicht ihren eigenen erkenntnistheoretischen Prämissen widersprechen, wenn sie Soziales und Kultu3
Hans Gebhardt/Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer: Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg–Berlin: Spektrum Akad. Verl. 2003, hier S. 16.
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Julia Lossau relles mit Räumlich-Materiellem verbinden. Ist es nicht ein epistemologischer Fehler, „Nichträumliches [...] als räumlich-materiell Fixierbares“, als räumlich-materiell „Verankertes“ oder „Bedingtes“, wenn nicht sogar als „ganz und gar Räumliches oder PhysischMaterielles erscheinen zu lassen“?4 Aus kulturgeographischer Sicht jedenfalls birgt die Verräumlichung der Kultur die Gefahr, Produkte sozialer und kultureller Praktiken in scheinbar natürliche „geographische Gegebenheiten“ zu verwandeln; sie also zu verdinglichen und letztlich zu naturalisieren.
2. Kulturalisierung des Raums, oder: Geographie und cultural turn Die deutschsprachige Geographie pflegt zum spatial turn ein recht eigentümliches Verhältnis. Einerseits betrachtet sie die „Wiederkehr des Raums“ in den Nachbardisziplinen mit großem Interesse. So stellte man schon Anfang der 1990er-Jahre fest, „dass die Relevanz des Raumes auch außerhalb der Geographie mehr und mehr erkannt wird und die Beschäftigung mit räumlichen Aspekten Anerkennung findet“.5 Zwar wurden damals zunächst Befürchtungen laut, die eigentlich spannenden Diskussionen um die räumlichen Dimensionen der Gesellschaft könnten fürderhin in den Nachbardisziplinen geführt werden.6 An die Stelle der Furcht vor Abkopplung und Marginalisierung ist aber mittlerweile – zumindest: auch – ein neues Selbstbewusstsein bzw. die Freude darüber getreten, recht unverhofft zur „Leitdisziplin“ für Raumfragen aufgestiegen zu sein. Auf der anderen Seite ist die Geographie an den interdisziplinären Raumdiskussionen wenn überhaupt, nur randlich beteiligt. Tatsächlich finden sich in der Literatur zur gegenwärtigen fächerübergreifenden Raumkonjunktur nur wenige geographische Beiträge – ganz so, als wollten die eigentlichen ‚Raumspezialisten‘
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Gerhard Hard: „Raumfragen“, in: Peter Meusburger (Hg.), Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion, Stuttgart: Steiner 1999, S. 133–162, hier S. 156. Jürgen Pohl: „Kann es eine Geographie ohne Raum geben? Zum Verhältnis von Theoriediskussion und Disziplinpolitik“, in: Erdkunde 47 (1993), S. 255–266, hier S. 260. Vgl. ebenda sowie Fred Scholz: „Das Ende der Geographie… nicht nur Polemik“, in: Rundbrief Geographie 151 (1998), S. 11–15.
Räume von Bedeutung ihr ‚geheimes Wissen‘ lieber für sich behalten.7 Vielleicht lässt sich diese Zurückhaltung nicht zuletzt damit erklären, dass die Rede von einer räumlichen Wende aus geographischer Sicht nur wenig sinnvoll ist. Immerhin widmete sich das Fach der räumlichen Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse lange, bevor andere Disziplinen von einem spatial turn zu sprechen begannen. „Raum“ ist die zentrale Vokabel geographischen Arbeitens, seit das Kernparadigma der traditionellen Geographie in den 1970erJahren aufgegeben wurde. Dieses Kernparadigma beschrieb den „konkreten territorialen Menschen in Harmonie und Kontrast, im Gleich- und Ungleichgewicht mit seinem konkret-ökologischen, landschaftlich-regionalen Milieu“.8 Damit lenkte es das geographische Forschungsinteresse auf die Beziehungen zwischen Ausschnitten der Erdoberfläche einerseits und den darin lebenden Menschen andererseits. Als ein Schlüsselbegriff des so genannten ‚altgeographischen Paradigmas‘ fungierte die „Landschaft“, die als individueller „Gesamtinhalt eines Teilstücks der Erdoberfläche“9 biotische und abiotische Komponenten ebenso enthielt wie anthropogene. Unter dem Stichwort „Landschaft“, das physisch-geographische und kulturgeographische Betrachtungen zu integrieren vermochte, interessierte sich die Geographie für „die kausalen Wirkungszusammenhänge [...] zwischen den natürlichen Bedingungen und der vom Menschen geschaffenen Kulturlandschaft“.10 In den 1970er-Jahren wurden die Landschafts- und Länderkunde dann durch den sog. raumwissenschaftlichen Ansatz ersetzt. Der raumwissenschaftliche Ansatz führt die Geographie „vom Konkreten zum Allgemeinen, von erdräumlich fixierbaren Sachverhalten zu Anordnungsmustern und von ‚anschaulichen Qualitäten‘ [...] zu objektiven Gesetzmäßigkeiten (Distanzrelatio-
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Jörg Döring/Tristan Thielmann: „Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen“, in: Dies. (Hg.), Spatial turn, Bielefeld: transcript 2008, S. 7–45. 8 Ulrich Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer „Raumwissenschaft“ zu einer Gesellschaftswissenschaft, Kassel: Gesamthochschulbibliothek 1980 zit. n. Gerhard Hard: „Alltagswissenschaftliche Ansätze in der Geographie“, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 29 (1985), S. 190–200, hier S. 194. 9 Hans Bobek/Josef Schmithüsen: „Die Landschaft im logischen System der Geographie“, in: Erdkunde 3 (1949), S. 112–120, hier S. 115. 10 Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern: Haupt 2000, hier S. 102.
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Julia Lossau nen) [...]“.11 Das Ziel der Geographie als Raumwissenschaft bestand darin, mittels quantitativer Methoden räumliche Verteilungs- und Verbreitungsmuster zu erklären. Dies stellte zwar für viele Geographinnen und Geographen eine Verbesserung gegenüber der als unwissenschaftlich empfundenen Landschaftsgeographie dar. Gleichzeitig konnte das Kernproblem einer sozialund kulturwissenschaftlich ausgerichteten Geographie auch im Rahmen des raumwissenschaftlichen Ansatzes nicht gelöst werden. Dieses Problem besteht darin, dass die sozial-kulturelle Welt insofern eine merkwürdig unräumliche Welt ist, als, wie Benno Werlen schreibt, „nur materielle Gegebenheiten eine räumlich lokalisierte Existenz aufweisen [...], nicht aber (immaterielle) subjektive Bewusstseinsinhalte, soziale Normen und kulturelle Phänomene“.12 Dieses Problem konnte zufrieden stellend erst im Zuge des cultural turn gelöst werden. Der cultural turn brachte innerhalb der Geographie insofern einen erneuten Paradigmenwechsel mit sich, als sich das mit ihm verbundene Interesse für Sinnsysteme und Bedeutungswelten auch auf den Raumbegriff auswirkte. So steht der cultural turn aus geographischer Sicht meist als Begründung für eine explizite Abkehr von objektivistischen und substantialistischen Raumvorstellungen. Die damit angezeigte Wende ist im Lauf der 1980erJahre zunächst im angloamerikanischen Kontext eingeleitet worden. Im Zuge des cultural turn etablierte sich dort die sog. new cultural geography, die zu einer umfassenden Neuorientierung der englischsprachigen Humangeographie geführt hat.13 Im deutschsprachigen Raum hingegen kommt insbesondere Benno Werlen das Verdienst zu, die Humangeographie konsequent von raum- auf sozialwissenschaftliche Füße gestellt zu haben.14 Für Werlen bilden nicht räumliche Gegebenheiten, sondern 11 Roland Lippuner: Raum, Systeme, Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart: Steiner 2005, hier S 20. 12 Benno Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen 1. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Stuttgart: Steiner 1995, hier S. 3. 13 Vgl. etwa Edward Soja: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-imagined Places, Oxford: Blackwell 1996; Gillian Rose: Feminism and Geography. The Limits of Geographical Knowledge, Cambridge: Polity Press 1993; Derek Gregory: Geographical Imaginations, Cambridge MA: Blackwell 1994; Doreen Massey: Space, Place and Gender, Cambridge: Polity Press 1994; David Harvey: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Cambridge MA: Blackwell 1989. 14 Vgl. B. Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen 1.
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Räume von Bedeutung menschliche Tätigkeiten den humangeographischen Forschungsgegenstand. Seine „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ zielt darauf ab, die „regionalisierenden Alltagspraktiken“ handelnder Subjekte zu analysieren15, sprich: das alltägliche Geographie-Machen auf wissenschaftliche Weise zu untersuchen. „Raum“ ist bei ihm ein kognitives Konstrukt, das im alltäglichen Handeln bei der Bezugnahme auf physische Welt hergestellt und aufrechterhalten wird. Zwar unterscheidet sich die handlungstheoretische Konzeption Werlens in zentralen Punkten von den eher sprach- und zeichentheoretischen Zugängen der new cultural geography. Was die gegenwärtig diskutierten Ansätze aber eint, ist ihr Bestreben, die klassische geographische Forschungsfrage nach den Wechselwirkungen zwischen physisch-materiellem Raum einerseits und Gesellschaft andererseits zu verabschieden. Unter dem Stichwort einer „neuen Kulturgeographie“ steht vielmehr die symbolischsignifikative Dimension der geographischen Wirklichkeit im Vordergrund – und damit die Frage, wie Räume im Rahmen sinnkonstituierender Zeichenpraktiken erst bedeutungsvoll produziert und reproduziert werden.16
3. Verräumlichung der Kultur oder: Sozial- und Kulturwissenschaften und spatial turn Entgegen einem verbreiteten Verständnis von Geographie geht es der Kulturgeographie heute also nicht mehr um die Frage, wie dieser oder jener geographische Raum beschaffen ist und inwieweit er gesellschaftliche Wirklichkeiten zu beeinflussen oder zu bestimmen vermag. Untersucht wird vielmehr, wie Räume als symbolische Verräumlichungen sprachlich-kommunikativ und/oder alltagspraktisch erst hergestellt werden. So kann man sagen, dass der cultural turn innerhalb der Geographie zu einer Kulturali15 Ders.: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen 2. Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart: Steiner 1997, hier S. 253. 16 Vgl. Julia Lossau: Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer ANDEREN Geographie der Welt, Bielefeld: transcript 2002; H. Gebhardt, P. Reuber, G. Wolkersdorfer: Kulturgeographie; Michael Flitner/ Julia Lossau: Themenorte, Münster: LIT 2005; Christian Berndt/Robert Pütz (Hg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld: transcript 2007.
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Julia Lossau sierung des Raums geführt hat, in deren Folge der alte geographische, der „reale“ erdräumliche Ausschnitt an Bedeutung verliert. In den Sozial- und Kulturwissenschaften hingegen lässt sich in gewisser Weise das genaue Gegenteil beobachten. Hier hat der spatial turn zu einer Verräumlichung der Kultur in dem Sinne geführt, dass die „harte“, konkrete Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit und nicht zuletzt deren physisch-materielle Grundlagen wieder stärker berücksichtigt werden. Folgt man dem bereits eingangs zitierten Historiker Karl Schlögel, so hat der spatial turn deutlich gemacht, dass „nicht alles Zeichen, Symbol, Simulacrum, Text ist, sondern Stoff, Materie, Baumaterial [...]“.17 In diesem Sinne habe etwa der 11. September uns daran erinnert, dass es Orte gibt, „Städte, die getroffen werden können, Türme, die zum Einsturz gebracht werden können, Treppen, die [...] zu tödlichen Fallen werden [...]“.18 Diese Erfahrung zwinge uns, die Welt wieder durch eine räumliche Brille zu sehen – eine Brille, „die auch eine Konkretisierung und Visualisierung“19 mitbefördere und uns raffiniertere Verfahren der Wahrnehmung und Erfahrung beschere. Auch in der Literaturwissenschaft hat die Rede von konkreten, realen Räumen und Orten Konjunktur. Folgt man Doris Bachmann-Medick, so führte der spatial turn hier „weg von der Überbewertung innerer Räume und hin zu einer Aufwertung realer Räume, als Thema, aber auch als Bedingungsumfeld literarischer Texte“.20 Horst Wenzel etwa schreibt in seiner Einleitung zur Sektion Räume der Literatur im Band Topographien der Literatur: Als Manifestation ‚zerdehnter Kommunikation‘ sind Literaturen adressiert, sie brauchen Räume, in denen sie entstehen, wandern, ankommen und aufgenommen werden, Wechselbeziehungen eingehen und dabei ihre eigenen Subsysteme reflektieren. Literatur steht stets im Raum von kulturellen Praktiken [...]. Das Spannungsverhältnis von kultureller Praxis, materiellen und imaginären Räumen erweist sich deshalb als konstitutiv für das Medium der Literatur [...]. Sprache eröffnet eigene Schauräume, die imaginativ betreten und durchschritten werden können, das Durchqueren von Sprachräumen im Schreiben
17 Karl Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“, in: Heinz-Dieter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München: Fink 2004, S. 261–283, hier S. 262. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 263. 20 D. Bachmann-Medick: Spatial turn, S. 310.
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Räume von Bedeutung und Lesen bleibt aber zugleich rückgebunden an die Modi der Erfahrung von empirischen Welten. Die Frage nach der ‚Literatur im Raum‘ ist von den imaginären Räumen der Literatur grundsätzlich nicht abzulösen, und es ist gerade diese Wechselbeziehung, die auf die Vielfalt von Raumkonzepten und ihre historischen Dispositive verweist.21
Nicht zuletzt die Soziologie hat – nach Jahrzehnten der „Raumvergessenheit“22 – den Raum wieder in den Blick genommen.23 In einer kurzen Skizze einer Ökologie der Gesellschaft oder einer Ökologie sozialer Systeme fordert etwa Rudolf Stichweh, die Wirkung des Raums nicht länger an die „kommunikativen Operationen seiner Definition und Bestimmung“24 zu knüpfen, sondern die materiellen Bedingungen der natürlichen Umwelt stärker in Rechnung zu stellen. Dies sei notwendig, weil „die Transformation aller Ökosysteme unter dem Druck der Gesellschaft nicht die kausalen Abhängigkeiten der Gesellschaft von Bedingungen der physischen Geographie und der Biogeographie eliminiert hat.“25 Jared Diamond hat kürzlich überzeugend gezeigt, wie sehr die soziokulturelle Evolution auf verschiedenen Kontinenten u. a. davon abhängt, ob diese Kontinente primär von einer Nord-Süd- oder von einer Ost-West-Achse dominiert werden. Kontinente wie der amerikanische, in denen eine Nord-SüdAchse bestimmend ist, zeichnen sich dadurch aus, dass Diffusionsprozesse über Unterschiede von Breitengraden hinweg und damit über Vegetationsund Klimagrenzen hinweg erfolgen müssen. Das hat Diffusionsprozesse von domestizierten Tieren und Pflanzen offensichtlich über Jahrtausende verlangsamt, aber in seinen Wirkungen auch genereller die Populationen gegeneinander isoliert, mit erheblichen Wirkungen in Richtung auf die Diffusionsgeschwindigkeit von Kulturen, Sprachen und technischen Erfindungen.26
Zwar sind Stimmen, die – wie Stichweh – auf „die fortdauernde kausale Abhängigkeit der Bildung von Sozialsystemen von Vor-
21 Horst Wenzel: „Sektionseinleitung. Räume der Literatur“, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposium 2004, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 215–223, hier S. 215. 22 B. Werlen, Sozialgeographie, S. 13. 23 Prominent durch Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 24 Rudolf Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, in: Ders., Die Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 184–206, hier S. 192. 25 Ebd., S. 191. 26 Ebd., S. 192–193.
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Julia Lossau aussetzungen der natürlichen Umwelt“ hinweisen27, im aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs (noch) in der Minderheit. Nur wenige Autorinnen und Autoren argumentieren, die Bedeutung räumlicher Gegebenheiten könne aus dem Raum selbst, aus der physischen Materialität, abgleitet werden. Anstelle eines solchen Determinismus ist oftmals lediglich von einer Art Passung zwischen physisch-materieller Realität und sozial-kultureller Wirklichkeit die Rede. Dahinter steckt der Gedanke, dass räumliche Bedingungen gesellschaftliche Zusammenhänge zwar nicht determinieren, also kausal bestimmen, aber doch bestimmte Möglichkeiten des Handelns nahe legen und andere ausschließen. In diesem Sinne bemerkt Markus Schroer: Die kommunikative Herstellung eines sozialen Raums muss nicht, kann aber ein ganz bestimmtes raumphysikalisches Substrat erzeugen, und von diesem materiellen Raum gehen ganz bestimmte soziale Wirkungen aus. [...] Diese materielle Seite des Raums darf in einer soziologischen Raumanalyse nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man sich nicht allein auf die soziale Herstellung des Raums kaprizieren will. Es geht nicht nur darum zu sehen, wie der Raum sozial hergestellt wird, sondern auch darum zu berücksichtigen, was der Raum selbst vorgibt. Das hat nun nichts mit Raumdeterminismus zu tun, sondern damit, dass räumliche Arrangements nicht ohne Wirkung auf unser Verhalten bleiben. Die Fülle möglicher Verhaltensweisen wird durch Raum selektiert [...].28
Bei der Verräumlichung der Kultur durch die deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften geht es also nicht allgemein oder in erster Linie darum, Kulturelles und Soziales durch Räumlich-Materielles ursächlich erklären zu wollen. Was im Zuge des spatial turn aber verstärkt in den Fokus rückt, ist die Frage nach dem Zusammenhang, der zwischen geographischen (physischmateriellen, realen, konkreten) Gegebenheiten einerseits und sozial-kulturellen (imaginären, inneren oder symbolischen) Phänomenen andererseits besteht. Dieser Zusammenhang soll nun aus der spezifischen Sicht der neuen Kulturgeographie diskutiert werden.
27 Ebd., S. 191–192. 28 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 177–178.
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Räume von Bedeutung
4. Zum Zusammenhang von Geographie und Gesellschaft Die neue Kulturgeographie betrachtet Diskussionsbeiträge, in denen Zusammenhänge zwischen Geographie und Gesellschaft, zwischen physisch-materiellen Räumen und ihren sozial-kulturellen „Inhalten“ postuliert werden, mit einigen Vorbehalten. Zur Begründung dieser Vorbehalte wird häufig auf die geographische Disziplingeschichte verwiesen. Hervorgehoben werden die historischen Dimensionen des Raumbegriffs ebenso wie die besonderen Verbindungen, die die geographische Forschung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung eingegangen war.29 Als Inbegriff dieser Verbindungen gilt die Geopolitik, deren postdarwinistische und vor allem geo- und umweltdeterministische Einstellung dazu diente, politische Entscheidungen auf scheinbar natürliche „geographische Gegebenheiten“ zurückzuführen – oder, wie Karl Haushofer schrieb, auf die „dauernden Bedingungen der Bodengestalt“.30 Demgegenüber kann die Geschichte der deutschsprachigen Geographie – wenn nicht seit 1945, so doch seit den 1970er-Jahren – als Versuch interpretiert werden, sich von einer Perspektive zu emanzipieren, der zufolge „Raum [...] unser Verhalten [prägt] und [...] ihm seinen Stempel auf[drückt]“.31 Spätestens seit der Verabschiedung der Landschaftsgeographie ist die Humangeographie bemüht, naturalistische Begründungen sozialer Phänomene zu vermeiden und die soziale Welt als eine Realität sui ge-
29 Vgl. Michael Fahlbusch/Mechthild Rössler/Dominik Siegrist: Geographie und Nationalsozialismus: 3 Fallbeispiele zur Institution Geographie im Deutschen Reich und der Schweiz, eingeleitet durch Hans-Dietrich Schultz, mit einem Anhang von Peter Jüngst und Oskar Meder, Kassel: Gesamthochschule 1989; Klaus Kost: Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, Bonn: Dümmlers 1988; Mechthild Rössler: Wissenschaft und Lebensraum. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin, Hamburg: Reimer 1990. 30 Karl Haushofer: „Politische Geographie und Geopolitik“, in: Freie Wege vergleichender Erdkunde. Erich von Drygalski zum 60. Geburtstag gewidmet von seinen Schülern, München, Leipzig 1925, S. 87–103; vgl. Gerhard Sandner: „Deterministische Wurzeln und funktionaler Einsatz des ‚Geo‘ in Geopolitik“, in: WeltTrends 4 (1994), S. 8–20, hier S. 10. 31 M. Schroer: Räume, S. 176.
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Julia Lossau neris anzuerkennen.32 Auch die neue Kulturgeographie hütet sich davor, jene altgeographischen „Raumgestalten“ wiederzubeleben, in denen, wie Benno Werlen33 schreibt, „‚Natur‘, ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘ zu einer Einheit zusammenwachsen”. In diesem Sinne sind es heute vor allem erkenntnistheoretische Gründe, die die Vertreterinnen und Vertreter der neuen Kulturgeographie dazu bewogen haben, den physisch-materiellen Raum als Bestimmungsgröße sozial-kultureller Phänomene endgültig zu verabschieden. Das bedeutet freilich nicht, dass die gegenwärtige Kulturgeographie die körperliche oder sinnliche Erfahrbarkeit physischmaterieller Gegebenheiten bezweifeln würde. Auch wird niemand bestreiten, dass ein gegebenes räumliches Arrangement für eine bestimmte Tätigkeit besser geeignet sein mag als für eine andere. Was hingegen bezweifelt wird ist, dass aus der sinnlichen Erfahrbarkeit eines physisch-materiellen Objekts auf dessen sozialkulturelle Bedeutung geschlossen werden kann. Ebenso fragwürdig ist es, aus der gezielten Ausrichtung eines Raums auf bestimmte Tätigkeiten abzuleiten, die dort ausgeübten Tätigkeiten ergäben sich aus dem Raum selbst – und nicht aus den mit ihm verbundenen Regeln, sozialen Konventionen und kulturellen Traditionen. So kann man sagen, dass in der Bezugnahme auf Raum zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene genau das ausgeblendet wird, was für die Erklärung dieser Phänomene eigentlich relevant wäre. Dies zeigt auch das Beispiel der (nicht zuletzt in der Geographie) beliebten Praxis des wissenschaftlichen Reisens, bei der fremde Gebiete buchstäblich erfahren werden sollen. Die entsprechenden Exkursionen führen wahlweise in brandenburgische Kleinstädte, in den Harz, nach Frankreich, Kuba oder Brasilien. Doch so inspirierend es auch sein mag, an einer Exkursion teilzunehmen oder allgemein vor Ort zu sein – die Erfahrungen, die
32 Vgl. Dietrich Bartels: „Einleitung“, in: Ders., Wirtschafts- und Sozialgeographie, Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 13–45; Gerhard Hard: „Zu Begriff und Geschichte der ‚Natur‘ in der Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Götz Grossklaus/Ernst Oldemeyer (Hg.), Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe: von Loeper 1983, S. 141–167; Helmut Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation, Gießen: Geograph. Inst. d. Justus-Liebig-Univ. 1986; Benno Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum. Grundlagen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie, Stuttgart: Steiner Verl. 1985. 33 B. Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen 2, S. 44.
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Räume von Bedeutung man dort macht, sind – ebenso wie die daraus (möglicher Weise) hervorgehenden Erkenntnisse – zu einem guten Teil von dem (Vor-)Wissen abhängig, das man von zuhause mitgebracht hat. Vor allem aber wird die bloße Ansicht von ausgewählten Standorten nur sehr wenig offenbaren, was nicht vieldeutig wäre und also unter Zuhilfenahme zusätzlicher Quellen (z.B. in Gesprächen mit lokalen Expertinnen und Experten) erst gedeutet werden müsste. Vor diesem Hintergrund besteht ein Verdienst der jüngeren deutschsprachigen Geographie darin, deutlich gemacht zu haben, dass die Bedeutung von Orten in keinem notwendigen Zusammenhang mit deren physischer Materialität steht und daher auch nicht über die Erforschung der Orte selbst erschlossen werden kann. Insbesondere Benno Werlen wird nicht müde zu betonen, dass die Bedeutungen, die materielle Gegebenheiten haben, zugeschrieben und nicht wesensimmanent sind. Ein Ort kann in sozialer Hinsicht alles Mögliche oder auch gar nichts bedeuten. Was er konkret bedeutet, ist natürlich alles andere als beliebig – aber es ist eben nicht von seiner Stofflichkeit bestimmt. Die Bedeutung eines Ortes ist ein Produkt bestimmter Konventionen und Traditionen, von semantischen Zuschreibungen und gesellschaftlichen Verortungsleistungen. Solche Verortungsleistungen oder Zuschreibungen von Sinn und Bedeutung auf (physisch-materiellen) Raum spielen in der alltäglichen Kommunikation eine wichtige Rolle: Vorstellungen von „hier“ und „dort“, „oben“ und „unten“, „nah“ und „fern“ oder „bei uns“ und „anderswo“ sind offenbar notwendig, wenn man sich über die Welt verständigen will.34 Auch die Kultur- und Sozialwissenschaften können nicht auf den Gebrauch räumlicher Begriffe verzichten. Die komplexitätsreduzierende Funktion von Raumsemantiken kann das wissenschaftliche Denken jedoch zu einem epistemologischen Fehler verleiten. Dieser Fehler besteht darin, die symbolischen Einschreibungen von Bedeutung in räumliche Umwelt bzw. Materie so zu behandeln, als seien sie Bestandteile oder Eigenschaften der materiellen Welt; als seien die Einschreibungen also unabhängig von jenen sozialen und kulturellen Prozessen, durch die Bedeutung erst generiert und reproduziert wird. Mit diesem Fehler verbindet sich eine Form der Verdinglichung, die darin besteht, die Beobachtung mit dem Ge34 Antje Schlottmann: „2-Raum-Deutschland – alltägliche Grenzziehung im vereinten Deutschland. Oder: Warum der Kanzler in den Ostern fuhr“, in: Berichte zur deutschen Landeskunde, 79, 2–3 (2005), S. 179–192.
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Julia Lossau genstand, den Begriff mit dem Ding und semantische Strukturen mit der Realität zu verwechseln.35 Solche Verdinglichungen können insofern als naturalisierend bezeichnet werden, als sie Unverfügbarkeit ins Spiel bringen und die Kontingenz der sozialkulturellen Welt (und ihrer Beobachtung) suspendieren.36
5. Fazit Seit ungefähr zwanzig Jahren ist sowohl innerhalb als auch außerhalb der Universitäten von einer „Wiederkehr des Raums“ die Rede. Der damit verbundene spatial turn hat in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu einer Verräumlichung der Kultur geführt, in deren Rahmen der vermeintlich natürliche, der physisch-materielle oder auch geographische Raum eine diskursive Aufwertung erfahren hat. Diese Entwicklung ist aus kulturgeographischer Sicht ebenso interessant wie ambivalent. Einerseits rückt die Kulturgeographie durch das neue Interesse an realen Räumen zumindest de jure ins Zentrum der kulturwissenschaftlichen Theorieproduktion. Dies passiert aber zu einem Zeitpunkt, an dem die Kulturgeographie die vermeintliche Natürlichkeit des geographischen Raums in Frage gestellt hat. Anders ausgedrückt: Die Kulturgeographie hat den geographischen Raum als Bestimmungsgröße gesellschaftlicher Zusammenhänge in dem Moment verabschiedet, als er ins Interesse der Nachbarwissenschaften gerückt ist. Der cultural turn führte, wie gesehen, zu einer theoretischen Neuformulierung, im Zuge derer der alte geographische Raum im Sinne des physisch-materiellen Containers als Erkenntnisgegenstand ‚entsorgt‘ wurde. Als Folge der Kulturalisierung des Raums fokussiert die Kulturgeographie nicht mehr auf den vermeintlich voraussetzungslos gegebenen geographischen Realraum. Es geht ihr vielmehr um gesellschaftlich produzierte, wahrgenommene und angeeignete Bedeutungsräume. Tatsächlich hat der cultural turn innerhalb der Kulturgeographie zur Auffassung geführt, dass es geographische Räume, 35 Wolfgang Zierhofer: „State, Power and Space“, in: Social Geography 1 (2005), S. 29–36, hier S. 31. 36 Vgl. Roland Lippuner/Julia Lossau: „In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften“, in: Georg Mein/Markus RiegerLadich (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld: transcript 2004, S. 47–63.
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Räume von Bedeutung die jenseits von Sinnzuschreibungen und Beobachtungsleistungen einfach da wären, schlicht nicht geben kann. Vor diesem Hintergrund ist die neue Kulturgeographie auch vorsichtig, wenn über den Zusammenhang zwischen Geographie und Gesellschaft, zwischen räumlichen, physisch-materiellen Gegebenheiten einerseits und sozial-kulturellen, symbolischen Phänomenen andererseits diskutiert wird. Das Postulieren eines Zusammenhangs impliziert aus kulturgeographischer Sicht genau jenen versteckten Naturalismus, der innerhalb der Kulturgeographie erst kürzlich überwunden werden konnte. Um diesen Naturalismus zu umgehen, müsste die Existenz von voraussetzungslos gegebenen, natürlichen geographischen Räumen in Frage gestellt werden. An seine Stelle müsste das Bewusstsein treten, dass auch der traditionelle geographische Raum, der doch in seiner physischen Materialität vermeintlich eindeutig und unmissverständlich gegeben ist, immer schon mit Bedeutungen versehen ist. In diesem Sinne sind etwa die Sahara, das Burgenland oder Niedersachsen Räume von Bedeutung, deren symbolische Gehalte nicht von ihrer physischen Materialität bestimmt sind, sondern Produkte kultureller Zuschreibungen sind. Versucht man, diese symbolischen Gehalte abzuziehen, so stellt man fest, dass nichts übrig bleibt, was von Bedeutung wäre – und damit eben auch kein natürlicher geographischer Raum.
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Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum SIGHARD NECKEL
Die Soziologie hat zur Kategorie des Raumes lange Zeit ein problematisches Verhältnis gehabt. Wenn Raum und Zeit als die beiden Voraussetzungen jedweder Vergesellschaftung gelten können, so sympathisierte jedenfalls die moderne Soziologie eindeutig mit der Kategorie der Zeit, während jene des Raumes an sich einem gewissen theoretischen Misstrauen verfiel. Dies hatte mehrere Gründe. In vielen konventionellen Sichtweisen des Sozialen und auch schon in klassischen Grundkonzeptionen der Soziologie, wie sie in Frankreich von Auguste Comte1 begründet wurden, firmierte die Entgegensetzung von Statik und Dynamik als eine scheinbar universelle Eigenschaft gesellschaftlicher Prozesse2. Die Seite der Dynamik, d.h. die Seite des Wandels und der Veränderung, wurde von der Zeitdimension repräsentiert, während die Statik, also die Beharrung und Erstarrung im Sozialen, räumlich gedacht worden ist. Zeit war das Veränderliche, der Raum das vermeintlich Festgefügte, das an sich nicht wandelbar ist. Kein Wunder also, dass sich Raum und Zeit auch gesellschaftspolitisch aufgeladen haben. Die Zeitbetonung des Denkens schien den Fortschritt, die Raumbetonung hingegen den Konservatismus, ja die Reaktion zu charakterisieren, würde der Raum vermeintlich doch jeden in der Zeit sich vollziehenden Wandel gewissermaßen wieder in seine an sich gegebenen eigenen Grenzen einschließen. Und tatsächlich haben sich konservative bis faschistische politische Strömungen in Europa stets auch als 1 2
Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug (1842), hrsg. von Friedrich Blaschke, Stuttgart: Kröner 1974. Vgl. auch Theodor W. Adorno: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“ (1961), in: Ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 26–45.
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Sighard Neckel Ordnungskräfte des Raumes verstanden. Carl Schmitt etwa nahm Zeit und Raum als eine der wesenhaften Dichotomien in seine politische Theologie auf und gab mit seinem Sinnbild von Land und Meer der Entgegensetzung von fließender Zeit und beharrendem Raum selbst noch einmal eine literarisch-geographische Gestalt.3 Eine Ursache dafür, dass diese statischen Raumkonzeptionen lange Zeit nicht überwunden werden konnten, war die Vorherrschaft eines auch alltagsweltlich bedeutsamen Raumverständnisses, das Raum gewissermaßen als „Behälter“ oder moderner: als „Container“ versteht.4 So wie dies in der Wissenschaftsgeschichte von der Newtonschen Konzeption des so genannten „absoluten Raumes“ vorgedacht worden ist, wird Raum hier als losgelöst von der ihn ausfüllenden Materie verstanden. Auch in den Sozialwissenschaften hat diese physikalische Vorstellung ihre Entsprechung gefunden. Im Konzept des Raumes als eines „Behälters“ steht der physikalische Raum, also ein Ort oder ein Territorium, außerhalb des sozialwissenschaftlichen Erklärungszusammenhanges, der sich gewissermaßen nur für die soziale Materie innerhalb des Ortes oder des Territoriums interessiert. Hier wird erneut klar, weshalb in einem solchen Denken der Raum an sich schon die scheinbare beharrende, gleichsam konservative Voraussetzung jeder Vergesellschaftung darstellen muss: Der Raum setzt diesem Denken zufolge dem Sozialen Grenzen, limitiert also soziale Entwicklungen stets hinsichtlich ihrer potentiellen Verbreitung. Erst die relativistischen Raumtheorien in den Naturwissenschaften, und viel später dann auch in den Sozialwissenschaften, haben mit diesem Dualismus von Raum und der in ihm befindlichen Materie gebrochen. Im relativistischen Raumverständnis entsteht Raum erst durch die Beziehungen zwischen Objekten. Physische und soziale Räume können damit als wechselseitige Verweisungen und als jeweilige Manifestationen voneinander begriffen werden. Physische Räume nehmen damit nicht nur die Eigenschaft an, Träger sozio-kultureller Bedeutungen zu sein. 3 4
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Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942), Stuttgart: Klett-Cotta 2007. Vgl. Dieter Läpple: „Gesellschaftszentriertes Raumkonzept. Zur Überwindung von physikalisch-mathematischen Raumauffassungen in der Gesellschaftsanalyse“, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a.M., New York: Campus 1991, S. 35–46; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 24–35.
Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum Sieht man Räume vielmehr an sich bereits als relationale Ordnungen an, die durch die Beziehungen zwischen Objekten und Körpern gebildet werden, dann tritt der Raum selbst als eine in sich prozesshafte und wandelbare Größe in den Blick, so dass die alte Dichotomie von Statik und Dynamik vollständig verschwindet. Im Raum materialisieren sich mithin soziale Prozesse und Strukturen, und als ein solches soziales Artefakt wirkt der Raum dann wiederum auf diese sozialen Prozesse und Strukturen zurück. Diese durch das Handeln von Akteuren, mithin erst durch Geschichte bewirkte Konstitution des Raumes aber gibt sich den Handelnden kaum zu erkennen, da die Materialität des Raumes immer schon objektiv gegeben scheint. Die soziale Realität schreibt sich in die physische Welt des Raumes geradezu ein, wodurch sie von der räumlichen Physis nicht mehr zu unterscheiden ist. Dies ruft eine Art „Naturalisierungseffekt“ 5 hervor, der uns die sozial geschaffene Räumlichkeit wie eine natürlich bestehende Größe wahrnehmen lässt. Innerhalb der jüngeren Sozialtheorie nun sind es zwei theoretische Konzeptionen gewesen, die wesentlich zur Ausbreitung eines relativistischen, oder im sozialtheoretischen Sinne besser: eines relationalen Raumverständnisses beigetragen haben. Zum einen Anthony Giddens Theorie der time-space-constitution sozialer Systeme6, wonach die gesellschaftliche Reproduktion darauf beruht, soziale Praktiken über Raum und Zeit hinweg kontinuierlich an bestimmte Muster zu binden. Zum anderen die Theorie des sozialen Raumes des französischen Soziologen Pierre Bourdieu7, auf die ich nunmehr ausführlicher eingehen möchte, da mir Bourdieus Theorie besonders geeignet erscheint, die Kategorie des Raumes aus ihrer vormaligen verdinglichten Starrheit zu befreien. Zunächst fällt in den Schriften von Bourdieu auf, dass der Begriff des „Raumes“ vielfach in Zusammenhängen gebraucht wird, in denen wir konventioneller Weise den Begriff der „Gesellschaft“
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Pierre Bourdieu: „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, S. 27. Anthony Giddens: A Contemporary Critique of Historical Materialism, Vol. 1, Power, Property and the State, London: Macmillan 1981, S. 26–48. Vgl. insbesondere P. Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum; Pierre Bourdieu: „Ortseffekte“, in: Ders. et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft (1993), Konstanz: UVK 1997, S. 159–167.
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Sighard Neckel erwarten würden. Wie bei anderen soziologischen Klassikern8 scheint der vermeintlich wichtigste soziologische Grundbegriff, eben jener der „Gesellschaft“, bei Bourdieu ein Schattendasein zu führen. Tatsächlich dient „Gesellschaft“ in Bourdieus Werken keinen theoretischen, sondern mehr empirischen Zwecken, ist mit diesem Begriff doch vornehmlich eine bestimmte Wahrnehmungsund Repräsentationsweise der sozialen Welt gemeint, die sich aus der Teilnehmerperspektive selbst als jene einer bestimmten „Gesellschaft“ bezeichnen lässt. Häufig ist dem Gesellschaftsbegriff zudem eigen, als eine kollektive Größe verstanden zu werden, die den Akteuren gegenüber übergeordnet ist. Paradigmatisch hierfür ist etwa Émile Durkheims Anschauung, dass die Gesellschaft eine Realität sui generis sei, eine eigene Wesenheit also, die den Individuen vorgängig ist und die sich ihnen gegenüber vor allem als ein einziger übermächtiger Zwang vermittelt, als ein „Kollektivbewusstsein“, das jeden einzelnen übersteigt.9 Im Unterschied dazu ist Bourdieus Theorie stärker daran interessiert, wie und mit welchen Konsequenzen Akteure tatsächlich miteinander interagieren, sich voneinander abgrenzen oder miteinander kooperieren, und dadurch erst jene sozialen Verbindungen in ihrer konkreten Praxis herstellen, die im Gesellschaftsbegriff stets schon als gegeben vorausgesetzt werden.10 Dies ist der Grund, weshalb er mit seiner Theorie des „sozialen Raumes“ eine Art Sozialtopologie entwickelt hat, um mittels sozialräumlicher Analysen aufzeigen zu können, welchen Platz innerhalb sozialer Beziehungen jedes einzelne Element im Verhältnis zu anderen Elementen hat. Erst aus diesen Beziehungsmustern heraus ergibt sich dann eine bestimmte Sozialordnung, deren verdinglichter Begriff gewissermaßen jener der „Gesellschaft“ ist. Stattdessen ist es der Raumbegriff in Bourdieus Theorie, der die zentrale Kategorie darstellt, mit der soziale Beziehungen, Prozesse und Strukturen umfassend erklärt werden sollen.
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Man denke etwa an Max Weber, dessen soziologische Leitbegriffe jene der „sozialen Ordnung“ bzw. der „Herrschaftsordnung“ waren, oder an Georg Simmel, der statt von „Gesellschaft“ von „Vergesellschaftung“ sprach. 9 Vgl. Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode (1895), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 92–101. 10 Vgl. hierzu insgesamt Eva Barlösius: Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissensch. 2004, S. 118–185.
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Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum Ähnlich wie die relativistische Raumtheorie in den Naturwissenschaften, denkt Bourdieu den Raum dabei nicht als Behälter, der mit Elementen nur aufgefüllt ist. Vielmehr baut sich seinem Verständnis nach der Raum erst aus den Relationen von Objekten und Akteuren auf. Objekte und Akteure werden in einem aktiven Prozess sozialer Praxis untereinander in Relationen gesetzt, wodurch ihre Beziehungen zueinander soziologisch bestimmbar werden. Der Raum entsteht aus dem Prozess der Zuweisung von Positionen. Wie und in welcher Weise sich die sozialen Elemente zueinander verteilen, in welchen Abständen sie sich befinden, gibt die innere Struktur eines Raumes an und seine Grenzen nach außen. Dies gilt für den physischen wie für den sozialen Raum gleichermaßen. So wie der physische Raum dadurch gekennzeichnet ist, dass sich Objekte in einer Ordnung der Koexistenz befinden, so ist auch „der soziale Raum durch die gegenseitige Exklusion oder Distinktion der ihn konstruierenden Positionen definiert.“11 Es ist also die aktive Praxis selbst, die den sozialen Raum erst konstituiert, welcher seinerseits auf den Relationen aufeinander verweisender Elemente beruht. Zwei Formen sozialer Praxis spielen hierbei eine wichtige Rolle: Zum einen, auf der symbolischen Ebene der Wahrnehmung und Bewertung, die Praxis der Klassifikation, also der Einordnung vorgefundener Elemente auf einer Skala zugeschriebener Werte. Die Klassifikation unterteilt den Raum in einer hierarchischen Weise, in dem sie die Plätze anweist, die die jeweiligen Objekte und Elemente in einer legitimierten Weise einzunehmen haben. Dem korrespondieren auf der Handlungsebene der sozialen Praxis die verschiedenen Techniken und Strategien der sozialen Schließung, durch welche Raummonopole gebildet werden und sich Räume als ein Effekt von Inklusion und Exklusion von anderen abgrenzen lassen. Erst Klassifikation und Schließung führen dazu, dass sich aus den wechselseitigen Positionsbestimmungen von Akteuren und Objekten heraus ein Raum aufspannt, der von allen Beteiligten dann als eine gemeinsame Ordnung wahrgenommen werden kann. Ohne diese aktive Praxis könnte nichts entstehen als das bloße Nebeneinander verschiedener sozialer Positionen, entstünde, um es noch einmal mit dem konventionellen Begriff zu sagen, keine „Gesellschaft“ und keine Gesellschaftlichkeit.
11 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 172.
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Sighard Neckel Der soziale Raum stellt sich nicht als ein einheitliches Gebilde dar. Er zerfällt in unterschiedliche Felder, welche in sich abgeschlossene und abgetrennte Mikrokosmen darstellen, von denen jeder seine eigene Logik und seine spezifischen Regeln aufweist. Mit dem Begriff des sozialen Feldes trägt Bourdieu dem Tatbestand der sozialen Differenzierung moderner Sozialordnungen Rechnung, wie dies auch in konkurrierenden Sozialtheorien der Gegenwart häufig geschieht. Das Spezifische der Bourdieuschen Betrachtungsweise in diesem Zusammenhang nun ist, dass Felder räumlich gedachte Handlungssphären sind, deren innere Logik sich einerseits nach Maßgabe der jeweils vorherrschenden Ressourcen oder Kapitalformen ergibt, wobei Bourdieu bekanntlich ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital unterscheidet. Andererseits sind es die jeweils spezifischen Verteilungsverhältnisse zwischen Akteuren und ihre Ressourcen, die die Regeln bestimmen, nach denen sich Felder untereinander abgrenzen. Die Logik eines Feldes begründet immer eine bestimmte Perspektive in der Wahrnehmung von Akteuren, einen bestimmten Blickwinkel, der selbst jedoch nicht in der Blick kommt, wie Bourdieu sagt, also den blinden Fleck darstellt, den Akteure eines Feldes gewöhnlich ihrer eigenen Sichtweise gegenüber besitzen. Zum Beispiel unterliegen das ökonomische und das künstlerische Feld jeweils anderen Logiken, die diese Felder für sich erst begründet haben. Während das ökonomische Feld historisch aus dem Geist der Berechnung des eigenen Vorteils entstand, hat sich das künstlerische Feld gerade in der Ablehnung bzw. in der Umkehrung der Regeln vom materiellen Profit gebildet. Der blinde Fleck stellt sich heute z.B. dann ein, wenn sich, wie auf den modernen Kunstmärkten, ökonomische und künstlerische Logiken derart vermischen, dass sie für die Beobachtung von außen schier ununterscheidbar geworden sind. In der Teilnehmerperspektive der handelnden Akteure des künstlerischen Feldes jedenfalls wird sich die ökonomische Logik aber stets als Fortentwicklung künstlerischer Strömungen darstellen, da nur dieser Blick auf die Kunst den Regeln von Künstlern entspricht, nach denen sich im Feld der Kunst Positionen erreichen lassen und sich die spezifischen Relationen zwischen den künstlerischen Akteuren ergeben. Der vom britischen Künstler Damien Hirst jüngst für 75 Millionen Euro verkaufte Platinabguss eines echten Totenschädels, der von Hirst mit 8601 Diamanten bestückt wurde (darunter ei-
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Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum nem 52-Karat-Diamanten auf der Stirn), stellt sich daher nicht als wirtschaftliches Anlageobjekt dar, sondern als künstlerische Aussage über die heutige Welt der Anlageobjekte, obgleich er gewiss auch eine ökonomische Anlage selber ist. Gleichwohl würde allein nach der Logik, dass das teuerste Kunstwerk aller Zeiten auch das Bedeutendste sei, noch nicht einmal der Kunstmarkt funktionieren, und schon gar nicht das künstlerische Feld selbst, welches als ein solches bedroht wäre, würde es an der Differenz zum wirtschaftlichen Geschäft nicht in irgendeiner Weise festhalten wollen. Am Beispiel solcher Unterscheidungsprinzipien kann man verstehen, weshalb in der Sichtweise der Bourdieuschen Sozialtheorie es notwendigerweise Bedeutungen und Ethiken sind, die soziale Räume erst schaffen. Ohne künstlerische Ethiken kein künstlerisches Feld. Diese Bedeutungen und Ethiken schlagen sich bei den Akteuren als inkorporierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata nieder – somit als Ergebnisse eines praktischen Umgangs mit den spezifischen Differenzen und Regeln, die ein bestimmtes Feld charakterisieren. Welche Vorzüge nun mag es insgesamt haben, die Sozialwelt kategorial als Raum, differenziert nach jeweils spezifischen Feldern, zu begreifen? Hierfür lassen sich mit Bourdieu drei Begründungszusammenhänge benennen12. Zum ersten eignet sich die Raumkategorie deshalb besonders gut zur Repräsentation der Sozialwelt, weil mit dem Raum grundlegende Orientierungsweisen fest assoziiert sind, die zur Kennzeichnung aller denkbaren Prozesse und Sachverhalte eingesetzt werden können, insbesondere für die nähere Charakterisierung sozialer Beziehungen: nah und fern, rechts und links, oben und unten, Zentrum und Peripherie. Ähnlich wie für Georg Simmel besitzt für Bourdieu die Räumlichkeit des Sozialen eine geradezu anthropologische Qualität13. So konstatiert Simmel, dass Menschen sich „nicht einander nahe oder fern sein können, ohne dass der
12 Vgl. zum folgenden E. Barlösius, Kämpfe um soziale Ungleichheit, S. 118–185. 13 Am deutlichsten formuliert in Bourdieus frühen ethnologischen Untersuchungen über die kabylische Berberkultur in Algerien. Das kabylische Haus als Inbegriff der Verräumlichung des Sozialen repräsentiert zugleich die symbolische Ordnung der kabylischen Gesellschaft, vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979.
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Sighard Neckel Raum seine Form dazu hergebe.“14 Ihre Wechselwirkungen untereinander empfänden die Menschen gleichzeitig als Erfüllung des Raumes, womit Simmel darauf hinweisen wollte, dass die räumliche Wahrnehmungsweise an sich unserer Perzeption des Sozialen eigen ist. Vor allem durch die Leibgebundenheit unserer Wahrnehmung prägt sich die räumliche Vergegenwärtigung des Sozialen stets in unsere sinnliche Erfahrung ein. Der Leib wird stets auch in seiner Verortung im Raum erlebt. Schöne Beobachtungen hierzu verdanken wir etwa auch Elias Canetti, der in seinem epochalen Werk über Masse und Macht eine Vielzahl von Beispielen darüber gibt, wie sich eine soziale Ordnung durch die Verteilung von Körpern im Raum repräsentiert und man einer sozialen Ordnung auf diese Weise geradezu haptisch habhaft werden kann.15 Ein weiterer Vorzug des Raumbegriffes, der bei Bourdieu gewissermaßen in sich eine theoretische Notwendigkeit darstellt, ist, dass Räumlichkeit eine relationale Analyse sozialer Prozesse ermöglicht. Orte und Positionen, an denen ein Akteur lokalisiert ist, erhalten ihre Bestimmtheit erst durch gegenseitige Adressierung. Nur im jeweiligen Bezug aufeinander können soziale Elemente als höher oder niedriger, als zentral oder periphär identifiziert werden. An sich sind keinem Element schon bestimmte Positionen und bestimmte Eigenschaften gegeben. Sie entstehen erst aus der relationalen Praxis von Klassifikation und Schließung in bestimmten Feldern, die auch als solche wiederum bedeutender oder randständiger sind, je nach der Stellung, die diese Felder zueinander einnehmen. Dies bedeutet auch, dass der soziale Raum in sich stets in Bewegung ist und nur als Ergebnis einer theoretischen Beobachtung etwa auf bestimmte Verteilungsverhältnisse fixiert werden kann. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch von Standbildern, welche die Soziologie als wissenschaftliche Konstrukte über einen Prozess erzeugt, der tatsächlich ständig in Veränderung ist. Damit soll vor allem auch der Essentialisierung sozialer Verhältnisse vorgeschützt werden, jener Doxa des Denkens also, die dem Sozialen unveränderbare Wesenseigenschaft zuschreibt. Und interessanterweise vollzieht 14 Georg Simmel: „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Gesamtausgabe Bd. 11, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 687. 15 Vgl. Elias Canetti: Masse und Macht (1960), Hamburg: Claasen 1984, S. 445–460.
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Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum sich diese theoretische Strategie einer De-Essentialisierung ausgerechnet mit einem räumlichen Begriffsgebäude, dem in der konventionellen Anschauungsweise die Essentialisierung immer schon eigen war. Schließlich eignet sich der relationale Raumbegriff für die Sozialanalyse deshalb besonders gut, weil sich mit ihm die physische und die soziale Welt, also physikalischer und sozialer Raum, gemeinsam betrachten lassen. Für Bourdieu stellt diese gemeinsame Betrachtung zum einen ein theoretisches Erfordernis dar, weil sich das Soziale in Form jeweils bestimmter Anordnungen von Akteuren und Eigenschaften stets in den physischen Raum übersetzt, eine Sozialanalyse ohne Untersuchung des physischen Raumes also unvollständig wäre. Beide Räume sind assoziiert und weisen homologe Strukturen auf. Die Physis von Gebäuden und Quartieren, die Größe und Zentralität von Territorien, die Dichte eines Ortes oder seine Weitläufigkeit – all diese räumlichen Eigenschaften sind Beispiele dafür, wie sich die Sozialstruktur in den Elementen der physischen Welt materialisiert. Darin zeugt der physische Raum aber auch selbst immer von seiner sozialen Gewordenheit, weshalb die Anschauung des physischen Raumes als einem sozialen ein Unterpfand gegen die Naturalisierung räumlicher Gegebenheiten darstellen kann. Ein besonderes Interesse bringt die Bourdieusche Sozialtheorie in diesem Zusammenhang den Wechselwirkungen von physischem und sozialem Raum entgegen, wobei sich der Blick vor allem auf den Zusammenhang von Raum, Macht und sozialer Ungleichheit richtet.16 Da die Aneignung und die Beherrschung von Räumen Bourdieu zufolge eine der privilegiertesten Formen von Herrschaft ist, vermag eine Machtanalyse des Raumes zugleich eine Mikrologie von Herrschaft zu sein. Bourdieu unterscheidet verschiedene Erscheinungsweisen räumlicher Herrschaft. Als erstes werden „Situationsrenditen“17 genannt, die sich aus der Nähe oder Ferne zu unerwünschten Personen und Objekten ergeben, sei es, dass bestimmte Einrichtungen (wie beispielsweise Fabriken und Flughäfen) hinsichtlich der eigenen Lokalisierung gemieden oder etwa bestimmte Nachbarschaften 16 Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 82–106; Markus Schroer: „Raum, Macht und soziale Ungleichheit“, in: Leviathan, 34. Jg. (2006), Heft 1, S. 105–123. 17 P. Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 31.
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Sighard Neckel gerade gesucht werden, um einen sozialen Raum zu erzeugen, in dem ein Gefühl der Ähnlichkeit Kohärenz nach innen und Abgrenzung nach außen verspricht. Eng hiermit verbunden sind die „Positions- oder Rangprofite“18, von denen Bourdieu als Ergebnis räumlicher Distinktionen spricht. Wem es gelingt, vermittels einer bestimmten Haltung und ausgreifender Gesten einen Raum durch den eigenen Körper in Beschlag zu nehmen19, der vermag „Territorien des Selbst“, wie Erving Goffman20 dies genannt hat, zu errichten, in denen Zeit und Raum anderer verfügbar gemacht werden können. Je nach Knappheit und Güte dieser Territorien entsteht so eine Hierarchie der gesellschaftlichen Adressen, bei denen gleichsam als ein eigenständiger Ortseffekt die Magie oder die Schande des ausgesprochenen Namens räumliche Ranggewinne konstituiert. Eine letzte Variante sind die „Okkupations- oder Raumbelegungsgewinne“21, die sich immer dann realisieren, wenn eine Monopolisierung von Räumen ihren Inhabern vor allem die Möglichkeit verschafft, durch Raumbesitz Menschen und Dinge auf Abstand zu halten. „Tatsächlich“ – so Bourdieu – „steht einem nichts ferner und ist nichts weniger tolerierbar als Menschen, die sozial fern stehen, aber mit denen man in räumlichen Kontakt kommt.“22 Die Nähe im sozialen Raum prädisponiert zur Annäherung auch im physischen Raum – aber nicht umgekehrt, weshalb räumliche Nähe allein keineswegs schon zu sozialer Nähe führen muss, sondern zumeist heftigste Distinktionsbemühungen auslöst, die umso entschlossener ausfallen, je enger die räumliche Nachbarschaft ist. Bourdieu widerspricht damit der vielfach genannten These, die sich von der philosophischen Phänomenologie bis zur Stadtsoziologie auffinden lässt, wonach über die Nähe im physischen Raum auch soziale Nähe entstünde.23 So heißt es etwa bei Maurice Halbwachs24, dass durch die „Tatsache, einan18 Ebd. 19 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 739. 20 Erving Goffman: „Die Territorien des Selbst“, in: Ders., Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 54–96. 21 P. Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, S. 31. 22 Ebd., S. 32. 23 Vgl. M. Schroer: Raum, Macht und soziale Ungleichheit, S. 94–100. 24 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis (1950), Frankfurt a.M.: Fischer 1985, S. 136.
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Felder, Relationen, Ortseffekte: Sozialer und physischer Raum der räumlich nah zu sein“, auch soziale Beziehungen begründet würden, und in der Chicago School der amerikanischen Stadtsoziologie findet sich wie ein feststehendes Gesetz formuliert, dass physische Distanz als ein verlässlicher Index für das Ausmaß der sozialen Distanz dienen kann.25 Die räumliche Annäherung oder Kohabitation von Akteuren, die sich im sozialen Raum fern stehen, kann jedoch gerade umgekehrt intensivste Bemühungen um Segregation auslösen. Je geringer der räumliche Abstand, desto größer das Streben nach Distinktion, desto größer der „Narzissmus der kleinsten Differenzen“, von dem Sigmund Freud26 einst gesprochen hat. Bezogen auf die Themen der Kommunikation von Erinnerung und der Gestaltung von Gedächtnisräumen, die im Mittelpunkt dieses Bandes stehen, hieße dies, dass die räumliche Nähe zu einem Erinnerungsobjekt nicht zwangsläufig der sozialen Bereitschaft förderlich sein muss, das eigene kollektive Gedächtnis zu aktivieren. Manchmal sorgt gerade eine größere Entfernung für das starke Bedürfnis, weit ab von den zu erinnernden Orten Gedächtnisräume zu schaffen, während große Nähe geradezu ein sozialräumliches Hindernis für die Kommunikation von Erinnerung sein und der kollektiven Amnesie Vorschub leisten kann. Erinnerung schafft räumlichen Kontakt mit Objekten, deren physische Nähe als unerträglich erscheinen mag, wie etwa zahlreiche lokale Episoden um die vergangene Wehrmachtausstellung in Deutschland demonstrierten. Insofern sind von den Wechselwirkungen zwischen sozialem und physischem Raum auch die gesellschaftlichen Erinnerungskulturen betroffen, und hierzu einige Überlegungen und Begriffe beizusteuern, sollte die Absicht dieses Beitrages sein.
25 Vgl. Robert E. Park: „Die Stadt als räumliche Struktur und als sittliche Ordnung“ („The Urban Community as a Spatial Pattern and a Moral Order“, 1925), in: Peter Atteslander/Bernd Hamm (Hg.), Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1974, S. 90–100. 26 Vgl. Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 243.
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Inszenierungen des Raums in der Ästhetik
Raum im Film – spatial versus topological turn und der Standort der Kritik MICHAELA OTT
spatial versus topological turn Der zeitgenössische kulturwissenschaftliche spatial turn ist ein nur vorgeblich kritischer epistemischer Zugriff, da er ein doppeltes Vergessen praktiziert. Um als erkenntniskritisches Paradigma fungieren zu können, muss er sich, so meine These, erneut zu seinem kritischen Potential befreien. Angetreten ist der spatial turn als erkenntniskritische Haltung, insofern er auf jene strukturalistische Raumorientierung zurückgeht, die unter dem Eindruck der Zerstörungen des 2. Weltkriegs ein Abrücken von zeitlinearen Kulturkonstruktionen eingeklagt und die theoretische Gleichbehandlung von Kulturräumen für unabdingbar erklärt hat. Bekanntlich hat der Anthropologe Claude Lévi-Strauss in seinem Vortrag Race et histoire 1952 vor der UNESCO im Sinne einer solchen Gleichbehandlung von Kulturräumen das Abrücken von eurozentrischen Evolutionsgedanken und ihrer histoire cumulative1 gefordert, was von Michel Foucault2 in die Forderung nach Beachtung unterrepräsentierter und unterbelichteter heterotopischer Orte innerhalb ein und derselben Gesellschaft verlängert worden ist. 1
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Clauce Lévi-Strauss: „Race et histoire“ (1952), in: Ders., Anthropologie structurale deux, Paris: Plon 1997, S. 395; Übersetzt: Ders.: „Rasse und Geschichte“, in: Ders., Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 363–407. Michel Foucault: „Des espaces autres“ (Vortrag am Cercle d’études architecturales, gehalten am 14.3.1967), in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, Paris: Gallimard 1994, S. 752; Übersetzt: Ders.: „Andere Räume“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.
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Michaela Ott Der spatial turn, der sich gerne auf die Forderungen Foucaults beruft, vergisst darüber allerdings, dass er in seiner methodologischen Raumausrichtung eine Wiederkehr seiner selbst darstellt, und zudem, dass diese einseitige Raumausrichtung historisch bereits zweimal kritisiert worden ist. Eine methodologische Raumausrichtung gibt es in den Geisteswissenschaften bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die allerdings aufgrund der Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumeist übersehen wird. Vorbereitet wurde dieser grundlegende Wandel in der Mathematik und Physik mit der Annahme nicht-euklidischer Geometrien für „Mannigfaltigkeiten von n-Dimensionen“3 durch Bernhard Riemann, wonach der euklidische Raum nur mehr als Sonderfall erscheint. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Wissensbereiche der Soziologie und Anthropologie widmen sich vergleichenden Studien von Sozial- und Kulturräumen. Die Kunstgeschichte beginnt ihre Stilanalysen in Raumbildungsanalysen zu transformieren4. Die Philosophie entwickelt eine existentielle Raumemphase5, die Architekturtheorie setzt mit der erstmaligen Formulierung eines Raumbegriffs ein6. Die Psychoanalyse entgründet den Raum des Bewusstseins durch Entdeckung des Unbewussten und findet ein mediales Pendant in den neuen Medien Fotografie und Film.
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Alexander Gosztonyi: Der Raum, Bd. 1, Freiburg, München: Alber 1976, S. 494. Vgl. Alois Riegls Historische Grammatik der bildenden Künste (1897/ 1898, hg. v. K. M. Swoboda/O. Pächt, Graz, Köln 1966) und die darin beobachtete Entwicklung von „unorganisch-kristalliner“ zu „organischer“ Raumgestaltung, aber auch Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung (1908), München: Piper 1987 und ihre raumkritische Umwertung, S. 57: „Die Unterdrückung der Raumdarstellung war schon deshalb ein Gebot des Abstraktionsdrangs, weil es der Raum gerade ist, der die Dinge miteinander verbindet [...], und weil der Raum sich eben nicht individualisieren lässt.“ Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M.: Klostermann 1977, S. 17f.: „Raum ist präreflexiv da im Vollzug aller leiblichen und geistigen Aktivitäten, ohne dabei Bewußtseinsgegenstand zu sein. [...] Befragt, was der Raum sei, nimmt es [das Bewußtsein – d. Verf.] ihn als Leeres, das angefüllt erscheint mit den Dingen, Geschehnissen, Sachverhalten der Welt und somit als ,Weltraum‘ schlechthin.“ Vgl. Kenneth Frampton: Studies in Tectonic Culture: The Poetics of Construction in Nineteenth and Twentieth Century Architecture, Chicago: MIT Press 1996; August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig: Hiersemann 1894.
Raum im Film – spatial versus topological turn Der damit einhergehenden Kulturrelativierung trägt die Phänomenologie von Ernst Cassirer7 Rechnung, insofern sie Räumlichkeit als von unterschiedlichen symbolischen Besetzungen strukturiert und damit je anders ausgebildet begreift. Sie befördert eine Perspektivierung der Phänomene aus dem Blickwinkel räumlicher Anordnung und nimmt damit Ansätze des französischen Strukturalismus vorweg. Der spatial turn vergisst diese seine Vorgängigkeit, aber auch die Kritik daran, da sich bereits wenige Jahrzehnte später die Einsicht durchsetzt, dass Raum nur mit Zeit verschränkt gedacht werden kann. Ins öffentliche Bewusstsein tritt diese Erkenntnis mit Albert Einsteins Relativitätstheorie, welche im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Abhängigkeit des Raums von Geschwindigkeit und Messvorrichtungen formuliert. Ein Jahrzehnt zuvor, 1908, formuliert der Mathematiker Hermann Minkowski die Erkenntnis von der „Vierdimensionalität der Welt“: „Von Stund an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“8 Diese Erkenntnis wechselseitiger Abhängigkeit von Raum und Zeit lässt die Physik ab da von „Raumarten“ und „Raummodellen“ sprechen, die, weil sie sich der gewohnten Überschaubarkeit der Schachtelvorstellung entziehen, zu Objekten der Spekulation und Imagination werden und im Film ihr mediales Pendant finden. Es ist mithin der Raumzeitgedanke, der den kritischen methodologischen Zugriff der Moderne darstellt; der Wiederentdeckung dieser Einsicht entspricht in der Gegenwart die Verschiebung des spatial turn hin zum topological turn. Denn auch der Poststrukturalismus geht von der unauflöslichen Verschwisterung des Räumlichen mit dem Zeitlichen aus und kritisiert die einseitige Raumorientierung des Strukturalismus und seine starre Binarität. In Rückgriff auf Leibniz’ Verständnis des Räumlichen als Verknüpfung von Orten – in Abgrenzung von Newtons Konzeption des absoluten Raums als dreidimensionalem, isotropem Kontainer – denkt Gilles Deleuze das Räumliche als relationale und topologische Struktur. Das Topologische betont dabei das Konstruktionsabhängige des Raums, seine Genese als zeitrelative, veränderliche und von symbolischen Besetzungen abhängige Verbindung von Orten und nimmt eine Perspektive 7
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Vgl. Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931), in: Ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. v. E. W. Orth u.a., Hamburg: Meiner 1985. Zit. A. Gosztonyi: Der Raum, S. 582.
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Michaela Ott „von unten“, aus dem Blickwinkel der Raumkonstrukteure ein. Das Topologische wird denn auch begriffen als dynamischer Begriff, der der sich globalisierenden Gegenwart, ihren sich verlagernden und beschleunigten realen und imaginären Ortsbesetzungen und sich multiplizierenden Vernetzungen bestmöglich entgegen kommt.
Raum und Film Die Einsicht in die Untrennbarkeit von Raum und Zeit bringt eine mediale Erfindung zur Ansicht, in der sich beide unhintergehbar verschränken: den Film. Die Genese des Filmischen ist denn auch mit jener des Raumzeitparadigmas aufs engste verknüpft. Die Filmtheoretiker haben das früh erkannt und darin eine Chance für neue Wahrnehmungen und Ästhetiken erblickt. Als einer der ersten erörtert der ungarische Filmtheoretiker Bela Balazs in Der Geist des Films von 19309 die insbesondere von der Großaufnahme herbeigeführten Wahrnehmungsmodifikationen. Die Großaufnahmen würden erlauben, „den Menschen näher zu kommen“ und sogar diese „aus dem Raum überhaupt heraus und in eine ganz andere Dimension“10 hinein zu führen, ein Gedanke, den Gilles Deleuze in der Bestimmung des filmischen „Affektbilds“ und seiner Hervorbringung „beliebiger“ Räume wieder aufgreifen wird. Die Eröffnung neuer Raumdimensionen und veränderter „Raumgefühle“ schreibt Balazs vor allem den filmspezifischen Verfahren der Kamerabewegung und Montage zu: Durch Überblendungen etwa werden Raumwechsel ohne Perspektivenwechsel geboten, so dass im Zuschauer mentale Bilder und Visionen entstehen. Vor allem aber lässt der Film – im Gegensatz zur zweidimensionalen Malerei – Raum „wirklich erleben. Den Raum, der nicht zur Perspektive geworden ist, nicht zum Bild, das wir von außen betrachten.“11 Zeitgleich mit Balazs’ Schrift lobt Siegfried Kracauer in seinem Feuilleton Über Arbeitsnachweise von 1930 die Möglichkeit des Einblicks in das soziologisch Unbewusste dank der realitätsnahen filmischen Raumwiedergabe:
9 Vgl. Bela Balazs: Der Geist des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 10 Vgl. ebd., S. 16. 11 Ebd., S. 59f.
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Raum im Film – spatial versus topological turn Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewusstsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.12
Seine Suche nach unbewussten gesellschaftlichen Raumbildern motiviert nicht zuletzt seine Zuwendung zum filmischen Medium, wie seine Studie Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films13 von 1947 zeigt, in der er die psychischen Dispositionen der Gesellschaft der Weimarer Republik retrospektiv aus ihren filmischen Raumbildern erschließt. Sein Begriff des Raumbildes ist ein unbestimmter, insofern er eine nicht-messbare, numinose Größe bezeichnet, die von affektiven, lebenspraktischen und unbewussten Besetzungen lebt. Hätte der Nationalsozialismus diese Traditionslinie nicht durchschlagen und das Zeit- und Raumparadigma gleichermaßen diskreditiert, hätte es nicht seiner Wiederkehr unter der Bezeichnung des spatial turn bedurft. Als Theorieimport aus der französischen Anthropologie und Philosophie und als symptomatische Reaktion auf die vorangehende historische Traumatisierung macht er sich einer neuen Vereinseitigung schuldig, insofern er die Erkenntnis seiner Zeitabhängigkeit vergisst. Die Tatsache, dass der französische Strukturalismus seinerseits ob seiner Zeitvergessenheit kritisiert wird und die poststrukturalistische Philosophie mit gleichzeitigen Verfahren begrifflicher Spatialisierung und diskursiver Verzeitlichung überkommene Denkmodelle zu erweitern und erneut zu verlebendigen sucht, dringt verspätet in die deutschsprachige Kulturwissenschaft vor. Dabei unterziehen Deleuze und Guattari seit den 70er Jahren nicht nur die Philosophiegeschichtsschreibung, sondern auch andere Wissensfelder einer verräumlichenden Lektüre und legen Verbindungslinien zwischen diesen Feldern offen, auf dass sich Korrespondenzen und Wechselwirkungen zwischen ihren Aussagen auftun und das Feld des Wissbaren in dynamische Bewegung gerät. Der wieder gewonnene Raumzeitbegriff mündet in die Buch12 Siegfried Kracauer: Der verbotene Blick, Leipzig: Reclam 1992, S. 32. 13 Siegfried Kracauer: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film, Princeton: Univ. Press 1947; Übersetzt: Ders.: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.
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Michaela Ott konzeption ihrer späten Schrift Tausend Plateaus14 (1980), wo sie, wie der Titel verrät, sogenannte gekerbte Denkstrukturen durch heterogenisierende Begriffsstrategien erneut in Bewegung zu bringen, zu entkerben und zu „glätten“ versuchen. In einer der Kartographie und Geologie entlehnten Begrifflichkeit entziffern sie auch künstlerische Produktionen als Raumzeitstrategien. Vor allem in seinen Filmanalysen legt Deleuze unbestimmte und topologische Räume offen, die sich aus spezifischen, achronologischen Verzeitlichungsprozessen der Filme ergeben. Deleuze schätzt am filmischen Medium dessen Potenz, dem vielfältigen Werden des Lebendigen gerecht zu werden, allerdings nicht ausschließlich in der Weise der fotografischen Wiedergabe der äußeren Wirklichkeit. Mit Bazin teilt er zwar die Annahme, dass filmische Bilder erst dadurch möglich werden, dass es vorgängig zu ihnen Bilder im Außerhalb oder, wie er sagt, „Augen in den Dingen“ gibt, die verlocken und ködern und die Blickreflexion wachrufen. Da diese dinghaften Augen aber gerade keine anthropomorphen Blicke aus menschlicher Perspektive aussenden, verlangt er vom Film, den Raum nicht aus der angenommenen menschlichen Normalwahrnehmung wiederzugeben, sondern in dem, was an Bildern und Tönen begegnet, das dem menschlichen Auge sich Entziehende, Nicht-Gesehene und eben deswegen Bedenkenswerte freizulegen. Mit dem Filmischen verbindet sich für ihn die Forderung nach Durchdringung auswendiger Bilder auf anderes, auf etwas in ihnen hin – auf Raumzeitdimensionen, die die Heraufkunft von Künftigem evozieren. Der Film soll mithin als Lupe dienen, um unterschlagene und unterbelichtete Momente der äußeren Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen und uns letztlich darüber aufzuklären, dass die Dinge im Fluss sind und nur fortgesetzte Metamorphose denkbar ist. In seiner zeichenorientierten Perspektive bindet er die Erörterung des Räumlichen nicht an die Zuschauerwahrnehmung, sondern an die filmische Gestaltung der Zeit in Zeit, der er die Potenz zu Selbstvervielfältigung und Differenzgenerierung zuerkennt. So entfalte sich der Film als Aktualisierung vorgängiger Zeit- und Raumverhältnisse, die sich wechselseitig voraussetzen und hervorbringen, insofern jede Verzeitlichung gewisser Verräumlichungen bedarf, wie jede Raumnahme nur in Zeit geschehen kann. Für diese Verschränkung prägt Deleuze den Begriff des „beliebigen Raums“, des „espace quelconque“, welcher der Tatsache der 14 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille Plateaux, Paris: Ed. de Minuit 1980; Übersetzt: Dies.: Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag 1992.
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Raum im Film – spatial versus topological turn grundsätzlichen Raumzeitlichkeit der Filme Rechnung tragen und doch jene Verfahren auszeichnen soll, die sich der Reproduktion einer common-sense-Raumwahrnehmung entziehen. „Beliebige Räume“ sieht er dort entstehen, wo die Wiedergabe äußerer Raumkontinua und auswendiger Bewegungsabläufe durch filmische Konstruktion neuer Raumzeitformationen durchbrochen wird. Der Begriff des „beliebigen Raums“ dient ihm mithin zur Bezeichnung von singulären filmischen Raumzeiten, die er zusammenfassend so charakterisiert: Ein beliebiger Raum ist keine abstrakte Universalie jenseits von Zeit und Raum. Er ist ein einzelner, einzigartiger Raum, der nur die Homogenität eingebüßt hat, das heißt das Prinzip seiner metrischen Verhältnisse oder des Zusammenhalts seiner Teile, so dass eine unendliche Vielfalt von Anschlüssen möglich wird.15
Der Begriff des „beliebigen Raums“ und seine vielfältigen Anschlüsse stehen im Dienste des philosophischen Anliegens der denkerischen Bejahung des Prozessualen, die sich auf die Forderung beläuft, der Mannigfaltigkeit der Welt durch ein Denken des Mannigfaltigen und ein mannigfaltiges Denken zu entsprechen. Erst in der denkerischen und insbesondere filmischen Wiedergabe kann das Räumliche in seiner Veränderbarkeit sichtbar werden, diesseits der standardisierten Wahrnehmung, die es auf Wiedererkennbarkeit fixiert. Die filmische Verwandlungsarbeit lässt es unbekannt und bedenkenswert erscheinen – was dem Film in Deleuzes Augen einen ethischen Status verleiht.
Unbestimmte und topologische Filmräume Gewisse Großfilme, die sich dem Prinzip des continuity editing, der möglichst unsichtbaren Bewegungsmontage verschreiben und scheinbar die Raumwahrnehmung der Lebenswelt in den Film verlängern, nehmen ihre Möglichkeit, unbestimmte und neue filmische Raumzeiten zu konstruieren, nicht wahr. Sie geben einen selbstevidenten Raumbezug vor, der den Raum erneut als Behälter, als etwas, in dem man sich bewegt, erscheinen lässt.
15 Gilles Deleuze: Cinéma 1. L’image-mouvement, Paris: Ed. de Minuit 1982; Übersetzt: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 153.
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Michaela Ott Innovative Autorenfilme dagegen erfinden neue Raumzeiträume, indem sie etwa konventionelle Raumgestaltungen dekonstruieren. Als Meister der Hervorbringung unbestimmter Filmräume sei hier der italienische Filmemacher Michelangelo Antonioni genannt, der ab den 60er Jahren Räume wie Protagonisten auf ihre Identität hin befragt, weshalb es in seinen Filmen keine establishing shots, keine Überblickseinstellungen, sondern nur quasi-taktile Raumwahrnehmungen gibt. Ab seinem ersten Farbfilm Die rote Wüste/Il deserto rosso von 1963 bringt er die Farbe neben anderen Verfremdungsverfahren zu Raummodifikationszwecken in Einsatz. Unbestimmt wird der Raum dank Modi farblicher Absorption, Verflachung und Entkonturierung des Außenraums. Il deserto rosso präsentiert Ansichten eines Fabrikgeländes, der Landschaft der Poebene und einer Kleinstadt, lässt diese jedoch unbestimmt werden, indem der Film die Außenräume winterlich entfärbt, mit Nebeln verschleiert, opake Zwischenwände einschiebt und der Volumenbildung und gewohnten Tiefenwahrnehmung entzieht. Als Filter dienen Rauch- und Nebelschwaden, die sich vor das Tiefenräumliche schieben, seine Konturen verwischen, sich mit Artikulationen psychischer Verstörung verweben und den gesamten Filmraum ins Imaginäre entrücken, so dass eine Atmosphäre des Wachtraums entsteht. Dank der räumlichen Entkonturierung wird auch die Zeitdarstellung thematisch, die nun in ihrer Selbstpräsentation fragwürdig wird: Eine „Welt von Chrono-Zeichen“ weckt „Zweifel an der falschen Evidenz, das kinematographische Bild sei an die Gegenwart gebunden“.16 Denn da der Anhalt an die Welt verloren und der Ort rätselhaft erscheint, sind das „Visuelle und Akustische, [...] Gegenwart und Vergangenheit, das Hier und Dort“17 zur fortgesetzten Dechiffrierung aufgegeben. Die Verflachung des Räumlichen in abstrakte Tableaus nach Art des amerikanischen Expressionismus, deren intensivierte Präsentierung verunmöglichen auch die Tiefendimensionierung der Zeit, verunmöglichen den erinnernden Halt und stellen stattdessen Uneingelöstes, einen Affekt psychischer Desorientierung und existentieller Haltlosigkeit aus. Trotz des flächigen Kontinuums erscheinen die Personen isoliert, erscheint der unbestimmte Raum nicht menschenkonform. Vielleicht erklärt sich der Titel rote Wüste eben daraus…
16 Gilles Deleuze: Cinéma 2. L’image-Temps, Paris: Ed. de Minuit 1985; Übersetzt: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 40. 17 Ebd., S. 40f.
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Raum im Film – spatial versus topological turn Derartig unbestimmte Filmräume fasst Deleuze als Einlösung der Riemannschen „mannigfaltigen Räume mit n-Dimensionen“ zusammen: In diesem Sinn kann man von Riemannschen Räumen bei Bresson, im Neorealismus, in der nouvelle vague und in der New Yorker Schule sprechen; von Quantenräumen bei Robbe-Grillet, von Wahrscheinlichkeitsräumen und topologischen Räumen bei Resnais, von kristallisierten Räumen bei Herzog und Tarkovskij.18
Als zweites Charakteristikum zeitgenössischer filmischer Raumzeitkonstruktionen sei von daher exemplarisch die Topologie von Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad/L’année dernière à Marienbad (1960) vorgestellt. Statuarische Tableaus, gemäldeartige, zum Teil gefrorene Szenen, werden mittels Kamerafahrten verbunden, wobei die Kamera durch die barocken Säle gleitet und die steinerne Vergangenheit in ihrer Inblicknahme vorübergehend wiederbelebt. Einstellungen auf die Korridore samt einer Klage über deren Stille und Leere kehren insistent wieder, wie um den im Gemäuer schlummernden Zwang zu verdeutlichen, sich der uneinholbaren Vergangenheit der Architektur anverwandeln zu müssen. Aus diesem Grund erstarren bald die Bewegungsbilder zur Fotografie, werden bald gefrorene Tableaus zum Leben erweckt. Die Kamera berührt wie mit einem Zauberstab das verwunschene Schloss und belebt das Bild der vergangenen Zeit. Vor allem aber verbindet sie die Korridore als Sinnbilder der Zeit mit den versteinerten Personen im Theatersaal zu jenem Relationsraum, der als Relationierung verschiedener Zeit- und Raumschichten erkennbar wird. Die Zuschauer erwachen zum Leben, als ein bestimmtes Wort auf der Bühne gesprochen wird, um später wieder zu versteinern, dann wieder lebendig zu werden und erneut zu erstarren. Der magische Satz lautet: „maintenant je suis à vous…“, von einer Figur gesprochen, die sich als Schauspielerin entpuppt und durch diese Losung die Zuschauer aus ihrem Bann entlässt. Der Barockarchitektur entsprechend entfaltet sich die Handlung als Spiel im Spiel. Das Wörtchen „maintenant“ eröffnet eine Zeitfalte, die sich nun dank der Kamerabewegung vergegenwärtigt als räumliche Flucht, als Verbindung verschiedener Tableaus aus unterschiedlichen Zeiten, die über ihre Getrenntheit hinweg korrespondieren.
18 Ebd., S. 172.
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Michaela Ott Eine andere topologische Struktur bietet der zeitgenössische Essayfilm von Hito Steyerl, Die leere Mitte (2004), der in stilistischer Verbindung von Dokumentation und Fiktion eine Heterotopie im Sinne Foucaults vorführt, insofern er einen einzelnen Platz, den Potsdamer Platz in Berlin, auf seine historischen Sedimentierungen und die in diesen schlummernden Politiken hin untersucht. In einer Art archäologischer Belichtung lüftet er dort verborgene und verdrängte Vergangenheitsschichten. Anlass ist die „Rückkehr“ der Mitte Berlins nach dem Mauerfall 1989 und der Verdacht, dass sich mit dem Fall der Mauer neue Grenzziehungen ergeben. In der Überlagerung und kompositorischen Verdichtung unterschiedlichen Bild- und Tonmaterials sucht Steyerl zu zeigen, dass Berlins Mitte seit je mit dem Kampf um Anerkennung als unliebsam verstandener Protagonisten verbunden war. Mit Hilfe von Archivbildern, Zeichnungen, Filmausschnitten und aktuellen Dokumentaraufnahmen evoziert sie eine Kontinuität der Ausgrenzung unliebsamer Personen von Moses Mendelssohn bis heute, bis hin zu zeitgenössischen Fremdarbeitern. Und sie demonstriert die Kontinuität von Gewalt, die über räumliche Verteilungen, über Ortsbesetzungen und Grenzziehungen verläuft: die fallenden Zollschranken am Brandenburger Tor gehen mit der Entstehung des Kolonialismus, die Diskussion um die Fassade des Reichstags mit der gleichzeitigen Festlegung des politischen Orientbildes einher. Indem sie verdeutlicht, dass der Potsdamer Platz dank der in ihm verabschiedeten Politik einerseits aus dem umgebenden Normalgefüge herausfällt und dieses andererseits erstellt, skizziert sie eine Heterotopie, einen Ort, an dem die Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeit selbst zur Verhandlung steht. Die für die Gegenwart vermutlich symptomatischste Raumzeitgestaltung führt der Film Erde und Asche/Terre et cendres (2005) von Atiq Rahimi vor: Er zeigt eine Straßenkreuzung im afghanischen Niemandsland, an der ein alter Mann und sein Enkel verweilen, weil, wie sich nach und nach, dank des filmischen Verharrens am Ort und einer insistenten Ausleuchtung von dessen natürlichen Beleuchtungswechseln, herausstellt, das erlittene Leid zu groß ist, als dass sich die beiden Akteure weiterbewegen, als Kundschafter fungieren und dem Film eine narrative Struktur verleihen können. Die Ortsbesetzung bohrt sich immer tiefer in die Landschaft hinein, die dabei zugleich unbestimmter und sinnbildlicher wird: Der Ort liefert ein Bild der Heillosigkeit des menschlichen Daseins und wird darin selbst zum beliebigen, abstrakten, dafür umso vieldeutiger schillernden Ort.
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Raum im Film – spatial versus topological turn Nach Darlegung dieser unterschiedlichen filmischen Raumzeitstrategien stellt sich abschließend die Frage, ob nicht der zeitgenössische topological turn nun seinerseits durch einen neuen, kritischen Raumbegriff ergänzt werden muss. Denn so sehr die Netzstruktur des Topologischen eine bedeutsame Dimension der globalen Raumbildungen der Gegenwart abgibt, so übersieht sie doch die wiedererstarkende Kontainerisierung von Kulturräumen, die durch imaginäre und reale Abgrenzungen markiert werden, wie sie seit dem Mauerfall nicht mehr für möglich gehalten worden sind. Von daher muss die Forderung nach einem dritten spatial turn erhoben werden, der nun erneut die Durchlässigmachung der Grenzen einklagen, die rivalisierenden Kulturräume in kritischen Vergleich ziehen und der kritischen Dekonstruktion der sich symbolisch und affektiv verhärtenden Raumphantasmen befleißigen muss.
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In die Geschichte eintreten. Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber GERALD SIEGMUND
1. Der gespaltene Blick und die vier Räume des Theaters Theater braucht keinen festen Theaterraum. Es kann überall stattfinden, wo Menschen auf eine bestimmte Art und Weise zusammenkommen. Die kanadische Theaterwissenschaftlerin Josette Féral hat dieses bestimmte Verhältnis des Zusammenkommens als eine doppelte Spaltung des Blicks und damit der Wahrnehmung definiert.1 Theatralität, wie sie diese Spaltung bezeichnet, kann sich für sie überall dort ereignen, wo der Blick einen anderen Ort aushebt, von dem aus wir, die Zuschauer, selbst wiederum angeblickt werden können. Von Seiten der Zuschauer erfolgt diese Spaltung, sobald sie sich entscheiden, bestimmte Situationen z.B. in einem Straßencafé als hervorgehoben und dadurch als „anders“ zu betrachten. Die Darsteller erzeugen ihrerseits eine Spaltung in ihrem Verhalten, wenn sie wissen, dass sie für eine gewisse Zeit in einem anderen Raum agieren. So werden sie ihr Verhalten ändern, sobald sie bemerken, dass sie angeschaut werden. Beide Seiten brauchen nicht notwendigerweise zur Deckung zu kommen. Oft treten zeitliche Verzögerungen ein, bis sich die Spaltung auf beiden Seiten bewusst einstellt und der Zuschauer etwa feststellt, dass das, was er gerade gesehen hat, gespielt oder „demonstriert“ war. Dieser andere Ort, der sich in der Relation zwischen Blicken herstellt, ist im traditionellen dramatischen Theater die Bühne, die diesen gespaltenen Blick in 1
Josette Féral: „Theatricality: The Specificity of Theatrical Language“, in: Substance, 31 (98–99/2002), S. 94–108.
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Gerald Siegmund Gestalt der Rampe architektonisch festschreibt. Der andere Ort und die andere Zeit, denen wir uns gegenüber sehen, sind Ort und Zeit der Fiktion, die sich in unserem Beisein entfaltet. Theatralität stellt sich in diesem Sinne durch eine doppelte Spaltung des Blicks her – wenn sowohl Zuschauer als auch Darsteller durch den Blick des jeweils anderen zu Zuschauern und Darstellern gemacht werden, wenn sie sich in Abhängigkeit eines Anderen, auf den sie nur bedingt Einfluss haben, erfahren. Theatralität etabliert für Féral zwei Räume, deren Verhältnis zueinander in die Schwebe gebracht werden kann, wenn sich die Blicke nicht, wie in der Regel im Theaterraum, zeitgleich überlagern. Auf der einen Seite haben wir es mit dem Raum der Zuschauer zu tun, der normalerweise nicht weiter auffällig wird, weil er sich entweder mit dem abgedunkelten Parkett selbst ausblendet oder weil er sich mit dem Alltagsraum, in dem man sich gerade befindet, deckt. Auf der anderen Seite befindet sich der Raum, dem wir Aufmerksamkeit schenken: der fiktionale Raum, der Raum des Dargestellten, der an sprachlich-imaginative Prozesse, an akustische und visuelle Bilder und ihre Räume sowie an hervorgehobene körperliche Vorgänge gebunden ist. Nimmt man jedoch Férals Bestimmung einer relationalen, prinzipiell ortlosen und daher ubiquitären Theatralität ernst, so ergeben sich daraus zwei weitere Bestimmungen des Raumes, die in Férals Text selbst nicht zum Tragen kommen. Wenn sich der Zuschauerblick nicht ungehindert auf den fiktionalen Raum ausrichten kann, dieser andere Raum sich also nicht eindeutig als anderer Raum etablieren kann, vermag der Ort des Zuschauers selbst auffällig zu werden. Unabhängig von unserem Status als Zuschauende und dem damit verbundenen Raum wird unser Blick und unsere Aufmerksamkeit auf den realen Ort gelenkt, an dem, wie Aleida Assmann es formuliert hat, bereits gehandelt wurde, an dem bereits etwas stattgefunden hat. Die Geschichtlichkeit des Ortes selbst wird dabei auffällig und ins Spiel der Blicke integriert und ausgespielt. Des Weiteren lässt sich aus der Feststellung eines gespaltenen Blicks die Schlussfolgerung ziehen, dass es diesseits einer Spaltung des Raumes in Zuschauende und Darstellende einen gemeinsamen Raum der beiden Parteien geben muss, der die Theatersituation als solche erfasst. Erika Fischer-Lichte hat diesen Raum der Zusammenkunft den „performativen Raum“ genannt.2 Dieser vierte Raum entsteht beim Zusammenkommen der beiden 2
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Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 188–200.
In die Geschichte eintreten Hälften und verschwindet nach Beendigung des theatralen Vorgangs wieder. Dieser Raum ist handlungsorientiert: er muss im Beisein aller verhandelt und seine Regeln müssen ausgehandelt werden. Er bildet sich heraus und verändert sich, während er sich vollzieht. Der performative Raum nimmt die anderen drei Räume in sich auf. Er orientiert sich nicht am Dargestellten einer Fiktion, sondern er ist der Raum der Darstellung selbst. Er etabliert die Möglichkeitsbedingung theatraler Spaltungen als prozessuale, sich in der Zeit erstreckende Vorgänge. In diesem Sinne bildet er die Grundlage für die Herausbildung der anderen drei Räume. Der performative Raum kann sich in weitere Räume auffächern. In der Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern erzeugt er z.B. Atmosphären und Rhythmen, sodass man auch von einem atmosphärischen und einem rhythmisch-musikalischen Raum sprechen kann. Gleichzeitig sind akustische und visuelle Räume nicht ausschließlich Teil des fiktionalen Raums, sondern gehören durch ihren Bezug auf den Zuschauer ebenso zum performativen Raum. All dies spricht für die komplexe Verschachtelung und Durchdringung verschiedener, äußerst mobiler Räume im Theater. Im bürgerlich-dramatischen Theater, wie es sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert als Norm etabliert hat, kommen weder der Ort noch der performative Raum zum Tragen. Sie geraten dann in den Blick, wenn die Grenzen des fiktionalen Raumes verschwimmen und der Raum der Zuschauer dadurch selbst auffällig wird. In solchen Momenten können wir uns nicht sicher sein, ob das, was wir sehen und hören, tatsächlich jenem anderen Ort und jener anderen Zeit angehört. Es sind dies Augenblicke der Verunsicherung und der Unterbrechung, in der wir die Dinge anders wahrnehmen können, weil sie selbst und ihre Bedeutung instabil werden. Der Blick spaltet den Raum in einen anderen, fiktionalen Raum, der wiederum eingelassen ist in den Raum, den ich mit den anderen Zuschauern und den Darstellern teile. Theater hat die Möglichkeit diese vier Räume, den Raum der Fiktion, der sich im traditionellen Literaturtheater in sich und nach außen gegen den Raum der Zuschauer abschließt, und den Raum der Theatersituation, in dem wir uns alle im Hier und Jetzt gemeinsam an einem bestimmten, historisch sedimentierten Ort befinden, gegeneinander zu verschieben, um die vier Räume in ein je spezifisches Verhältnis zueinander zu bringen. Wird die Fiktion selbst aufs Spiel gesetzt, gerät das Spiel, das So-Tun-AlsOb, selbst an seine Grenze. Die Grenzen des Spiels rücken dann
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Gerald Siegmund auch die Grenzen des Zuschauerraums in den Blick, der sich nicht mehr länger als distinkter Raum mit eigenen Regeln und Gesetzen vom Ort des Dargestellten abgrenzen kann.3 In der Konsequenz erscheint der eine als Fortsetzung des anderen. Sie durchdringen sich und lenken so die Aufmerksamkeit auf das performative Geschehen im Theaterraum selbst, in dem wir uns gemeinsam mit Anderen befinden. In diesem neuen, performativen Raum, der sich im Zusammenkommen herstellt, kann sich vieles ereignen. Durch bestimmte Inszenierungsstrategien kann er auch zum Gedächtnisraum werden, in dem Erinnerungen an Geschichte aktiviert werden. Bei dem Gedächtnis dieses Theaters kann es nicht mehr länger um die Darstellung einer geschlossenen vergangenen Welt gehen, die im Hier und Jetzt durch eine Inszenierung re-präsentiert und dadurch erinnert wird. Vielmehr wird der Werkcharakter der Aufführung aufgegeben zugunsten eines performativen Prozesses, der den Zuschauer und seine Erinnerungen auf vielfältige Weise einschließen kann. In diesem Zwischenraum also ereignet sich auch das Gedächtnis des Theaters. Die Jetzt-Zeit des Erinnerns, in der sich die Aufführung mit uns vollzieht, eröffnet eine andere Zeit, in der wir die Geschichte als mögliche und unmögliche zugleich erfahren. Sie wird möglich, weil wir sie selbst im Vollzug der Aufführung körperlich herstellen. Sie bleibt unmöglich, weil die Spaltung des Blicks und des Raumes sie zugleich unverfügbar, irreal macht. Fiktion, so eine These des Vortrags, ist der Ausgang der Erinnerung. Sie macht sie aus, löscht sie und bringt sie gleichzeitig hervor. Erinnerung gibt die Fiktion Preis, ohne dabei an ihrer Notwendigkeit zu zweifeln. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass die Gedächtnisfunktion des Theaters immer dann aktiviert wird, wenn sich zwischen Signifikant und Signifikat ein Riss auftut, sich die (phantasmatische) Verbindung der beiden Seiten des Zeichens lockert und öffnet. Dadurch wird die Bedeutungsfunktion suspendiert und die Materialität der Signifikanten (Körperlichkeit, Stimmlichkeit, Atmosphären, Töne, Farben, Lichtstimmungen, Materialien der verwendeten Objekte) tritt in ihrer Möglichkeit, Begehren zu 3
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Hans-Thies Lehmann spricht im Zusammenhang mit dem Raumverständnis in postdramatischen Theaterformen von „metonymischen Räumen“, die aneinander angrenzen anstatt sich metaphorisch aufeinander zu beziehen, um dadurch eine andere Wirklichkeit zu behaupten, Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 287–289.
In die Geschichte eintreten binden und subjektive Erinnerungsprozesse über die Sinnlichkeit des Materials auszulösen in den Vordergrund.4 Daran schließt sich hier die Beobachtung an, dass sich dieser subjektive Gedächtnisraum an reale Orte der Geschichte anschließt und sich an ihnen bricht. Die Erinnerungsfunktion von Theater kommt in diesem Sinn dann ins Spiel, wenn die pluralen theatralen Räume akustisch oder optisch gegeneinander verschoben werden, sodass der Ort und die Situation selbst auffällig werden. Die Verschiebung unterbricht die Wahrnehmung des Raumes und erzeugt heterogene Räume, in denen sich Erinnerungen ereignen können. Sie kann dies tun, so die zentrale These meines Vortrags, weil sie die Synthese zu einem geschlossenen fiktiven Bild- und Wahrnehmungsraum verhindert. Eine Strategie, das Spiel an seine Grenzen zu bringen, ist die Preisgabe des Theaterraums selbst. Die Aufführungen finden im Stadtraum oder einem historischen Gebäude statt, welches selbst Spuren der Geschichte trägt. Ich werde dies im Folgenden an einer Stadtrauminszenierung des Regiekollektivs Rimini Protokoll,5 Call Cutta aus dem Jahr 2005, diskutieren, bevor ich zur Erhärtung der These am Ende noch auf ein zweites Beispiel zurückgreifen möchte: Klaus Michael Grübers Winterreise im Berliner Olympiastadion von 1977.
2. Performatives Erinnern als körperliche Tätigkeit Schon die Anlage des Projekts Call Cutta, das Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi, die unter dem Namen Rimini Protokoll arbeiten, 2004 zunächst im indischen Kalkutta und anschließend vom 2. April bis zum 26. Juni 2005 in Berlin am Theater Hebbel am Ufer (HAU) durchgeführt haben, basiert auf Erinnerungsarbeit. Bei dem Projekt handelt es sich um eine Stadtführung durch Berlin, die per Mobiltelefon durchgeführt wird. Die Teilnehmer wurden mit einem Handy ausgestattet, das sie mit einem Call Center Agenten oder einer Agentin im indi4 5
Gerald Siegmund: Theater als Gedächtnis, Tübingen: Narr 1996, S. 97– 135. Zur Geschichte der Gruppe sowie zu deren Arbeitsweise vgl. Florian Malzacher: „Eine Blackbox voll mit Leben“, in: Theater Heute, 48 (11/2007), S. 4–17; Miriam Dreysse/Florian Malzacher (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll, Berlin: Alexander Verl. 2007.
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Gerald Siegmund schen Kalkutta verbindet. Die Stimme aus dem fernen Indien führt die Teilnehmer einzeln vom HAU 2 am Halleschen Ufer durch Kreuzberg zum Potsdamer Platz. Die Gesprächspartner in Indien kennen jedoch die Route nicht aus erster Hand. Ihnen liegt lediglich ein Szenario vor, das aus Texten, Wegbeschreibungen, Pfeilen, Bildern und ergänzenden historischen Fakten besteht, mit deren Hilfe sie ihre jeweiligen Partner durch das ihnen unbekannte Berlin führen. Die Inszenierung folgt dabei den Arbeitsvorgängen in einem Call Center, in dem die Agenten tatsächlich eine Art Szenario mit möglichen Handlungsoptionen zur besseren Kommunikation mit den Kunden vorliegen haben.6 Das Stück ist somit auch eine Intervention in eine zeitgenössische Arbeitswelt, deren Verfahren und Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten zwischen Menschen es kenntlich macht und für eigene künstlerische Zecke verwendet. Sie besetzen damit einen Ort, an dem sich die Vorstellungskraft des Einzelnen mit den Erinnerungsspuren der Dokumente überlagert, um während der 60-minütigen Führung Zeit und Raum, Erinnerung und gegenwärtiges Erleben zu einem Erfahrungsraum verschmelzen zu lassen. Ein zentraler Bestandteil des Stadtrundgangs ist die Geschichte des indischen Freiheitskämpfers Subhas Chandra Bose (1897–1945). Bose, der aus Kalkutta stammt und der in seiner Heimatstadt nach wie vor ein Mythos ist, war Mitstreiter von Mahatma Ghandi und Jawaharlal Nehru und zwischen 1938 und 1939 Präsident der Kongresspartei. Im Gegensatz zu Ghandi und Nehru jedoch verfolgte er, um an sein Ziel, die Befreiung Indiens von den britischen Kolonialherren, zu kommen, keine pazifistische Strategie des zivilen Ungehorsams. Bose träumte von einer indischen Großmacht und suchte zu diesem Zweck Unterstützung beim Feind seines Feindes: dem nationalsozialistischen Deutschland. Zwischen 1933 und 1937 hielt Bose, der von seinen Anhängern auch Netaji, „Führer“, genannt wurde, sich mehrere Male in Deutschland und Österreich auf, bevor er schließlich 1941 über Kabul und Moskau nach Berlin kam. Hitler erlaubte ein Jahr später die Aufstellung einer 3.000 Mann starken Truppe aus Kriegsgefangenen. 1943 reiste er an Bord eines Nazi-U-Boots nach Japan, wo er mit dem Geld von emigrierten Indern die Indische Nationalarmee aufbaute und mit Japan gegen Indien ins Feld zog. Nach der Kapitulation Japans 1945 soll er bei einem
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Ich orientiere mich für meine Überlegungen in erster Linie an diesem unveröffentlichten Szenario, das die Gruppe zur Verfügung gestellt hat.
In die Geschichte eintreten Flugzeugabsturz auf Taiwan ums Leben gekommen sein. Seine Leiche wurde jedoch nie gefunden.7 Ein Inder, der im nazistischen Deutschland mit Hilfe des Führers eine Armee gegen Indien aufbaut: allein das ist schon ein merk- und denkwürdiges Detail aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, das in die Produktion erinnernd einbezogen wird. Gleichzeitig mutet diese Geschichte derart merkwürdig an, dass sie immer wieder Zweifeln unterliegt. Call Cutta spielt mit diesen Ambivalenzen, die sich nie ganz auflösen lassen und den Zuschauer aber gerade dadurch immer bei der Stange halten, sowie dem Vertrauen, das sich in den Anderen nur über das Hören einer Stimme einstellt. Inhaltlich verweist das Stück somit auf eine Form der Globalisierung avant la lettre, bei der eine outgesourcte indische Armee auf deutschem Territorium entsteht, eine Situation, die Rimini Protokoll parallelisieren mit der aktuellen Situation von deutschen Firmen, die Teile ihrer Dienstleistungen nach Indien auslagern. Der Kreuzungspunkt zwischen diesen beiden Ländern, Geschichten und Räumen steht dabei im Vordergrund ihres Interesses. Rimini Protokoll nehmen die deutsche Episode aus Netajis Geschichte und projizieren sie dorthin zurück, wo sie einst stattfand: in den Stadtraum Berlins. In der 9. Minute der Stadtführung werden wir in einem Hinterhof auf zwei Feuerwehrkästen aufmerksam gemacht, neben denen ein Bild angebracht ist. Während wir das Foto betrachten erklärt uns unser „Führer“ die Geschichte des Fotos: Das Foto ist genau hier entstanden, wo Du stehst, 1942 im Krieg: Der Mann rechts ist mein Opa, Samir Muckerjee. Während der ganzen Zeit in Deutschland konnte er sich nicht mit Kaffee anfreunden. ... Jetzt schau Dir den an, der gerade Kaffee trinkt: Merk dir sein Gesicht!8
Auf unserem Weg zum Potsdamer Platz werden wir zu fünf weiteren Fotografien geführt, die an weiteren vier Plätzen deponiert sind. Insgesamt sehen wir also sechs Bilder an fünf verschiedenen Orten im Stadtraum Berlins. In einem Park, der „aus Resten vom letzten Weltkrieg“ gemacht sein soll, liegt unter dem Deckel eines blauen Mülleimers ein Bild, auf dem Ghandi und Netaji zu
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Den Hintergrund zum Projekt zusammen mit einem Wahrnehmungs- und Erfahrungsprotokoll der Stadtführung beschreibt Miriam Ruesch in: Miriam Ruesch: „Call Cutta – bei Anruf Kunst“, in: Andreas Kotte (Hg.), Theater im Kasten, Zürich: Chronos 2007, S. 161–217. Szenario Call Cutta, 9. Minute, S. 20.
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Gerald Siegmund sehen sind. Das dritte und das vierte Foto entdecken wir hinter einer Holzabsperrung vor einer Brücke auf dem Weg zu den Resten der alten Philharmonie. In der 55. Minute, kurz vor Ende der Führung, werden die Teilnehmer auf der Ebene D des DaimlerChrysler Parkhauses am Potsdamer Platz auf ein Foto hingewiesen, das Netaji 1943 inmitten der Matrosen des U-Boots auf seiner Reise nach Japan zeigt. Warum es hier hängt, wird in der Erklärung deutlich: „Mein Opa blieb unterdessen in Berlin. Er sendete Befreiungsreden in 10 verschiedenen indischen Sprachen über Radio nach Indien. Zusammen mit anderen, ehemaligen Zwangsarbeitern von Daimler-Crysler...“9 Hier deutet sich bereits an, was mit den vier zu Beginn des Textes aufgestellten Räumen geschieht. Der Raum der Fiktion etabliert sich zunächst zwischen dem Call Center Agenten, der die Geschichte seines oder ihres vermeintlichen Großvaters lediglich erzählt, ohne in ihr zu agieren, und dem Theaterbesucher, der zuhört. Durch die Stimme entsteht ein mentales, imaginäres Theater mit abwesenden Darstellern aus dem 2. Weltkrieg im Kopf des Zuhörers. Gleichzeitig verändert dieser fiktionale Zwischenraum aber auch die Räume des Zuhörers und des Call Center Agenten, der in einer Art Regie- oder Kontrollraum als Auslöser der Geschichte agiert. Denn der Theaterbesucher wird selbst zum Akteur in der Geschichte des Agenten, der andere Raum der Fiktion ist identisch mit jenem Stadt-Raum, in dem er sich bewegt und wahrnimmt. Gleichzeitig wird aber auch der Agent, der am Telefon nicht nur kontrolliert, sondern ebenfalls eine Rolle als informierter Helfer spielt, zum Zuhörer für Projektionen des Theaterbesuchers, sodass der Raum des Akteurs sich mit dem Raum des Zuschauers zu mischen beginnt. Immer wieder kommt es zum Austausch von persönlichen Details, werden dem Anderen am anderen Ende der Leitung neugierige Fragen gestellt, die den abgesteckten Rahmen des Szenarios verlassen.10 Die beiden Räume, die Féral getrennt hat, fallen hier zusammen. Damit wird unser Augenmerk auf den Ort, den Berliner Stadtraum gelenkt, in dem ich im Hier und Jetzt agiere und der mir zugleich als anderer, fremder, fiktiver Raum vorstellig gemacht wird. In diesem Prozess des Andersmachens bildet sich ein performativer Raum zwischen Hören und Sehen, zwischen Anrufer und Agenten heraus, der sich immer wieder neu herstellt, der mit persönlichen 9 Szenario, 55. Minute, S. 100. 10 Vgl. dazu Eva Behrendt: „Ich muss es rauslassen“, in: Theater Heute, 48 (11/2007), S. 11–13.
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In die Geschichte eintreten oder vermeintlich persönlichen Details gefüllt wird, die eine je individuelle Beziehung zwischen den beiden Seiten etablieren. In einem Vorgang, in dem sich der Raum der Zuschauer mit dem Raum der Darstellung und dem realen Ort überlagern und für einander durchlässig werden, werden der Anrufer aus Kalkutta und der Hörer im Stadtraum Berlins für sich selbst, vor sich selbst und zugleich für den jeweils anderen zu Darstellern und Zuhörern. Doch darüber hinaus setzt eine Art mise-en-abîme der Räume ein, die sich auf der jeweiligen Seite, in Berlin und in Kalkutta, spiegeln und wiederholen. Der Geführte wird auch für andere Passanten in Berlin, die sein Verhalten beobachten oder merkwürdig finden, zum Akteur, woraufhin sich wiederum eine Teilung des Raumes in Zuschauer und Darstellung ereignet. Vergleichbar wird der Agent oder die Agentin im Call Center für andere Mitarbeiter zum herausgehobenen Akteur. In diesem Sinne findet auch eine Verdoppelung und Fortsetzung der performativen Räume statt. Nicht nur zwischen Berlin und Kalkutta stellt sich fernmündlich ein gemeinsamer Raum her, sondern auch zwischen den Akteuren und ihren Zuschauern am jeweiligen Ort, an dem sie sich befinden. Das Mobiltelefon verweist dabei nicht allein auf eine der vorherrschenden zeitgenössischen Kommunikationsformen, die den öffentlichen Raum in lauter kleine private Räume parzelliert und die auf diese Weise den öffentlichen Raum transformiert oder gar aufhebt. Er ist belegt mit Stimmen und Bildern, die dort nicht anzutreffen sind und nur für den Hörer als Theater im Kopf existieren. Das Handy übernimmt im Raumspiel von Call Cutta die Funktion der Bühnenrampe. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Apparat der Mitteilung, der das voneinander trennt, was er vorgibt zu sagen. Durch die Trennung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Gehörtem und Bezweifeltem übergibt der Apparat die Botschaft ans Hypothetische, Fiktive, dem ich wie dem Geschehen auf der Bühne jenseits der trennenden und verbindenden Rampe Glauben schenken muss, damit es wirksam wird.
3. Die Metaphorisierung des Faktischen Dem Raum, durch den wir uns bewegen, kommt demnach die zentrale Bedeutung in der Erinnerungsarbeit zu. Mögen Holzverschläge und Abfalleimerdeckel selbst noch völlig harmlose Orte sein, so befinden sie sich doch, wie der Gesprächspartner in In-
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Gerald Siegmund dien nicht müde wird zu betonen, auf einem Terrain, das die Spuren des Zweiten Weltkriegs trägt. Dies wird an zwei Orten in der Führung besonders deutlich: dem Gelände des ehemaligen Anhalterbahnhofs, von dem aus die Deportationen von Juden nach Auschwitz erfolgte, und dem Gelände der Alten Philharmonie. „Diese grauen Augen haben traurige Augen, kannst Du sie sehn?“, fordert uns die Stimme am Telefon auf. Die „Augen“ sind „eigentlich“ Nasen an den Stämmen der Birken, die hier auf dem Gelände stehen. „Von hier fuhren die Züge in Richtung Süden“, fährt die Stimme fort, um die Teilnehmer gleich darauf auf dem Gelände zu verorten. „Wenn Du zurück schaust, wo du herkamst und dann weiter nach rechts, kannst Du noch Gleis 1 sehen. In der anderen Richtung liegt Gleis 8, ein Zwischengleis nach Auschwitz“,11 und wenig später: „Du stehst auf Gleis 5. Hier kam Netaji 1941 in Berlin an. Er war über Nacht aus Kalkutta geflohen.“12 Rimini Protokoll haben sich in der Vorbereitung des Projekts bei der zuständigen Behörde nach dem Gleisverlauf erkundigt, so dass die Positionierung des Teilnehmers den Tatsachen entspricht.13 Obwohl die Zeit den Ort verändert und in gewisser Weise dem Verfall anheim gestellt hat, wird er von uns mit Hilfe von Zeichen (den Augen auf den Baumstämmen, Bildern und Worten) an einem bestimmten historischen Augenblick wieder ins Gedächtnis gerufen. Eine wesentliche Rolle bei dieser Überlagerung der Zeitebenen (gestern-heute) und Räume (historischer Ort – aktueller Zustand dieses Ortes) spielt das Verfahren der Metaphorisierung. „Die Augen warten immer noch auf einen Zug“, heißt es im Szenario in Bezug auf die Bäume, deren Astnarben durch die Metapher zu Augen, deren Stämme zu menschlichen Körpern werden, zu stummen Zeugen einer vergangenen Zeit, die merkwürdigerweise in ihrer Erinnerungspose noch anzudauern scheint. „Erinnerung kann wie Dekoration aussehen, oder?“, sagt der Führer anbetracht der Reste der alten Philharmonie.14 Doch ich kann die scheinbar wertlosen dekorativ herumliegenden Trümmer wie Walter Benjamins Melancholiker erretten, indem ich sie aufsammle und ihnen eine neue, allegorische Bedeutung zuschreibe. 11 Szenario, 20. Minute, S. 36. 12 Szenario, 21. Minute, S. 37. 13 www.rimini-protokoll.de, Call Cutta, „,Here the city has expanded without any plan‘ – Notes from the diary of Rimini Protokoll in Calcutta and Berlin PART 2“, Eintrag vom 18.1.2005 (Zugriff: 7. Januar 2007). 14 Szenario, 38. Minute, S. 75.
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In die Geschichte eintreten Dann sieht auch das verlassene halbrunde Spielgerüst vor einem tristen Wohnblock plötzlich aus „wie der Helm von Opa“ Muckerjee15, durch meinen (gelenkten) Blick wird es zu etwas anderem. Die Vergangenheit kann plötzlich an diesem konkreten Ort hier und jetzt in der Erinnerung in die Jetztzeit einbrechen und diese suspendieren, gerade so, als läge Opas Helm aus dem Krieg immer noch vor mir. Durch die Metaphorisierung des Faktischen und dessen Transformation ins Mögliche, Fiktive, wird der Ort selbst, an dem wir und den wir erinnern, in die Schwebe gebracht. Die Gleise des Anhalter Bahnhofs sind längst verschwunden. Wir können sie nicht mehr sehen, der Ort hat sich verändert. Doch das, was wir erzählt bekommen, beschwört den alten Zustand wieder herauf, ohne den Ort in seinen alten Zustand zurückversetzen zu können. Es ist mein Raum, in dem ich stehe, und immer zugleich schon ein anderer Raum, der sich mir entzieht, weil er nur noch je individuell und deshalb auch immer anders imaginiert werden kann. Zu dieser komplexen Situation der Erinnerungen und der Zeitebenen trägt auch die Rahmensituation erheblich bei. So hören wir auf dem Gelände des Führers, Adolf Hitlers, von einem indischen Führer am Mobiltelefon, der uns hier und jetzt durch Berlin führt, die Geschichte eines anderen indischen Führers, Natajis. Wir bekommen also von einem anderen Ort aus unsere Geschichte erzählt, die zugleich unsere aktuelle Situation während der Aufführung beschreibt (wir werden geführt) und die auch die Geschichte des/eines anderen ist. Dass wir dabei auch an der Nase herum geführt werden können, liegt auf der Hand. Doch dieses An-der-Nase-herum-Führen ist genau der Punkt, an dem sich individuelles und kollektives Gedächtnis berühren und die subjektive Erfahrung in ein Allgemeines umschlägt. Dieses „Sowohl-als-Auch“ macht uns misstrauisch und aktiviert uns gleichzeitig.16 Die Möglichkeit, dass in der Geschichte etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, unterbricht die suggerierte Kontinuität zwischen gestern und heute. In der Tat ist die Figur des Großvaters erfunden. Sie soll auf der einen Seite Vertrauen stiften, weil sie die Geschichte personalisiert und an die Erfahrungen meines Gesprächspartners bindet. Auf der anderen Seite aber ist sie das Einfallstor für Zweifel an der Richtigkeit des Erzählten. 15 Szenario, 39. Minute, S. 77. 16 Ich vertrete daher auch nicht die These, der Ort ‚Anhalter Bahnhof‘ werde essentialisiert. Der Modus des Imaginären, der hier ins Spiel gebracht wird, widersetzt sich einer Ontologisierung des Raumes.
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Gerald Siegmund Die Fiktion dringt in den Stadtraum ein und unterbricht meine Wahrnehmung von ihm. An drei Stellen im Rundgang müssen die Teilnehmer laut Passwörter sagen, als befänden sie sich inmitten eines Computerspiels und verlangten Zugang zur nächsten Ebene des Spiels. In der Nähe des Tempodroms sollen die Teilnehmer an einem „kaputten schwarzen Gitterzaun“ „ICH BIN DABEI“ rufen, ein perfider Sprechakt, der uns nicht nur als Akteure im Hier und Jetzt der Stadtführung ausweist. Vielmehr treten wir durch das laute Aussprechen auch in die Geschichte und noch genauer in die Nazi-Armee von Muckerjee ein, von der der Agent gerade berichtet. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes Mitläufer. Wir treten also ein in den Prozess der Erinnerung, der in der Rezeptionssituation immer wieder selbst zum Thema wird. Zwischen der Aufforderung „Merk Dir sein Gesicht“ im Zusammenhang mit dem ersten Foto und der Frage „Erkennst Du ihn?“ im Zusammenhang mit dem zweiten Bild müssen wir unser Erinnerungsvermögen aktivieren, müssen überprüfen, was wir uns wie gemerkt oder auch nicht gemerkt haben. Die umständliche Suche nach den Bildern, die Unsicherheit, wo wir hingehen und was wir finden sollen, der ungewisse Ausgang der Geschichte, den wir nicht überblicken können, suggeriert, dass wir „mittendrin“ sind, dass wir die Geschichte, die wir hören und in der wir uns gleichzeitig bewegen, selbst entdecken, weil wir sie im Moment selbst erfahren. Diese Erfahrung ist auch eine körperliche. So werden wir in einem Hinterhof aufgefordert, auf ein Podest zu steigen, den linken Fuß etwas vor zu stellen und mit dem linken ausgestreckten Arm nach links, nach Indien, zu zeigen, um so zur „Skulptur von Netaji“ zu werden.17 Durch diese körperliche Haltung nehmen wir eine Position in der Geschichte ein. Wir nehmen die Pose eines anderen ein, den wir für einen kurzen Moment wie ein Schauspieler verkörpern und darstellen. Erinnerung unterliegt hier Verkörperungsprozessen, die mich aber zugleich auf Distanz zu mir setzen. Ich erfahre mich in meinem körperlichen Tun als anderen, vor allem auch dann, wenn ich von nichts ahnenden Passanten ob meines Tuns verwundert angeblickt werde. Die Unterbrechung, die der Einbruch der Erinnerung für meine Wahrnehmung des Stadtraums bedeutet, ist also immer auch eine körperliche Erfahrung. Ich befinde mich auf den Spuren von jemandem, den es nicht gegeben hat, und produziere damit Erinnerung an etwas, das ich im Prinzip nicht erinnern, sondern lediglich imaginieren 17 Szenario, 32. Minute, S. 55.
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In die Geschichte eintreten kann, obwohl ich doch konkret daran teilhabe. Mein Körper steht auf der Trennlinie von gestern und heute, hier und dort. Meine Bewegungen transportieren und verschieben diese Linie ständig mit meinem Gang durch die Stadt. In Call Cutta treten der akustische und der städtische Raum auseinander, um Raum zu schaffen für Transformationsprozesse zwischen Vorstellungsbild, Sprache und dem realen Ort, die das individuelle Gedächtnis des Teilnehmers in Gang setzen. Damit ist auch gesagt, dass durch den performativen Akt der Erinnerung im Hier und Jetzt die Dinge, die ich wahrnehme, verändert hervorgebracht werden. Sie erheben sich über das Faktische und erzählen eine Geschichte. Dies unterscheidet Call Cutta von einer regulären Stadtführung. Werden mir dort Fakten an historischen Orten näher gebracht, trete ich durch den Moment der Fiktion in die Geschichte ein. Denn der Großvater ist, trotzdem er in der Geschichte personalisiert wird, letztlich eine Unmöglichkeit, die nie erschöpfend beschrieben werden kann und dessen vermeintliche Erfahrungen mir nie zugänglich sind. Weil er von jedem Call Center Agenten bemüht wird, firmiert er als eine Art Platzhalter oder als Leerstelle, in der sich mein individuelles Gedächtnis, an das ständig appelliert wird, in ein kollektives verwandelt. Auch die anderen Teilnehmer nehmen ihren Platz in der Geschichte ein, die es auf diese Weise so nie gegeben hat. „Samir Muckerjee“ und seine Geschichte stellt eine allgemeine Matrix dar, in der ich mit meinen individuellen Erfahrungen nie aufgehen kann. Gerade weil niemand „seine“ Erfahrungen gemacht hat – schließlich gab es sie gar nicht –, wir in sie aber durch die performativen Akte erinnernd verstrickt sind, die wir an historischer Stätte im Berliner Stadtraum wiederholend erinnern, eröffnet sich ein Raum der Allgemeinheit, in welchem sich mein individuelles Gedächtnis mit dem kollektiven berührt. Genau diese Möglichkeit der Unmöglichkeit, die letztlich die Fiktion charakterisiert, schließt mir Erfahrungsräume und Gedächtnisorte auf, in denen ich mich mit der Vergangenheit als erinnerter auseinandersetzen muss. Die „andere Zeit“ der Erinnerung ist zugleich immer auch eine Unterbrechung, eine Diskontinuität, ein Riss in der Alltagswahrnehmung und der Wahrnehmung der anderen Zeit und des anderen, historischen Ortes. Sie stiftet einen diskontinuierlichen Zusammenhang, weil über die hergestellte Möglichkeit das Hin- und Herlaufen zwischen Fakt und Fiktion, Glaube und Unglaube, zwischen Erinnerung und Jetztzeit nicht zum Stillstand kommen kann.
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4. Zitathaftes Nachleben: Grübers Winterreise ins Berliner Olympiastadion Ein zweites Beispiel, das die Grenze zwischen fiktionalem Raum und realem Ort auf eine besondere Art und Weise durchlässig macht, ist Klaus Michael Grübers Winterreise nach Textfragmenten von Hölderlins Hyperion oder der Eremit in Griechenland, sowie seinem Gedicht Brod und Wein. Die Inszenierung wurde zwischen 1. und 13. Dezember 1977 achtmal im Berliner Olympiastadion aufgeführt. Sie war eine Produktion der Schaubühne am Halleschen Ufer und wurde mit Mitgliedern des SchaubühnenEnsembles sowie mit Sportlern, „Experten“ in eigener Sache, wie es Rimini Protokoll formulieren würden, realisiert.18 Während die Schauspieler in dicker, altmodischer Wollkleidung wie Flüchtlinge und Vertriebene verloren das kalte, unwirtliche und weite Olympiastadion bevölkern, setzen die Sportler auf der Aschenbahn zum Hürdenlauf an, oder versuchen an der Stabhochsprunganlage, die Latte zu nehmen. Klaus Michael Grüber und sein Bühnenbildner Antonio Recalcati haben das Olympiastadion, das von Albert Speer zwischen 1934 und 1936 für die Olympischen Spiele der Nazis erbaut wurde, als geschichtsträchtigen Ort genutzt, um dort ihr Gedächtnistheater zu entfalten, in dem heterogene Orte und Zeiten in einem Raum zusammengeführt werden. In der Ostkurve des Stadions, dort, wo sonst ein Fußballtor steht, hat Recalcati eine Nachbildung des Anhalter Bahnhofs platziert. Daneben steht eine Imbissbude, die von Obdachlosen und sozial schwachen Mitgliedern der Gesellschaft bevölkert wird. In der Kurve dahinter projiziert die Stadionanzeige, über der verschiedene Fahnen gehisst wurden, Textauszüge in Leuchtschrift ins Stadionoval. Auf der gegenüber liegenden Seite, dort, wo das Marathontor das Stadion zur Stadt hin öffnet, ist die Tribüne mit Pappkartons übersäht, was den Eindruck eines Trümmerfeldes erweckt. Vor dem Tor steht auf einem fahrbaren Gestell eine Nachbildung aus Draht und Plastikfolie jener Reiterstatue, die einst vor dem Stadium stand. Zu Beginn der Inszenierung verlassen Männer und Frauen in langen Mänteln die Skulptur, wie einst die Griechen das Trojanische Pferd innerhalb der Stadtmauern Trojas. Die Zerstörung, das Spiel mit der und um die Erinnerung, kann beginnen. Zwei 18 Jede der Aufführungen wurde gefilmt. Aus den Aufnahmen hat Wolfgang Knigge einen Super 8-Film zusammengeschnitten, der meinen Betrachtungen zugrunde liegt.
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In die Geschichte eintreten Militärjeeps parken davor. Links und rechts von der Mittellinie auf der Achse zwischen Trümmerfeld und Anhalter Bahnhof wurde eine Reihe von Zelten aufgeschlagen, die Flüchtlingen oder Migranten Unterschlupf bieten. Auf der Nord-Südachse des Stadions werden weitere Spielorte eröffnet. Die Zuschauer sitzen, schenkt man den Beschreibungen Glauben, in Wolldecken eingehüllt auf der Haupttribüne an der Zielgeraden. Zwei Trainerkabinen aus Plexiglas stehen im Abstand von 50 Metern davor. Ein Siegerpodest steht in der Mitte vor der Tribüne. Auf der Gegengeraden erstreckt sich ein Gräberfeld aus weißen Tüchern auf den Rängen. Als Zeichen eines verlorenen Idylls, das hier gleichsam nur zitiert wird, mischen sich ein paar hellgrüne Zypressen unter die Kreuze, die in ihrer nüchternen Gleichförmigkeit an Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkrieges erinnern. Darüber in den Einlassnischen zu den Rängen sind Silhouetten zu erkennen.19 Bei dieser verräumlichten Anordnung von Kulissen von lediglich einem fiktionalen Raum zu sprechen, der das Schicksal von Hölderlins Hyperionfigur darstellte, hieße die komplexen Überlagerungen und dichten Assoziationsketten, die Grüber herstellt, zu verkennen.20 Jede dieser im Stadion markierten Stationen ist ein eigener fiktionaler Raum, der eine Als-Ob-Wirklichkeit durch das Spiel der Darsteller herstellt. Gleichzeitig gerät beim Betrachten der einzelnen Spielorte das Stadion nie aus dem Blick. Zu klein sind die Dinge, um die Ränder zum Ort, in den sie hineingestellt wurden, zum Verschwinden zu bringen, was die Voraussetzung dafür wäre, dass sie sich vor uns und für uns abschließen könnten. So umspielen sie stets die Grenze zwischen ihrer Fiktionalität und dem realen Ort des performativen Vollzugs, den die Sportler vielleicht am Deutlichsten kenntlich machen, stellen sie doch keine andere Realität dar, sondern erschöpfen sich in ihrem Tun, das zudem nichts anderes ist, als das, was sie auch außerhalb des Aufführungszusammenhangs tun: nämlich
19 Das Szenario mit dem Text, den Beschreibungen des Raumes und den übrigen Regieanweisungen ist zusammen mit zahlreichen Fotos und Kritiken abgedruckt in: „Winterreise“, in: Theater Heute, 19 (2/1978), S. 17– 38. 20 Friedemann Kreuder hat zahlreiche dieser Verkettungen und deren mögliche Bedeutungszuschreibungen nachgezeichnet; vgl. Friedemann Kreuder: Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin: Alexander Verlag 2002, S. 71–109.
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Gerald Siegmund Sport treiben. An jenem konkreten Ort, der für Sporttreiben gedacht ist: im Olympiastadion. Was für den Raum gilt, gilt auch für die Figuren, die dort agieren. Auch in ihnen überlagern sich semantische Räume und Bezüge. Das Szenario weist die Hauptfigur als „Wanderer durch die Nacht“ aus, was, ähnlich wie der Titel Winterreise, zahlreiche Deutungen zulässt. Er ist auch ein Wanderer durch die WeltRäume, denn er verbindet in seinem Parcours die einzelnen Orte und mischt sich unter jedes Volk – auch unter die Sportler, an deren Aktivitäten er des Öfteren teilnimmt. Inhaltlich evoziert er zum einen Hölderlins Romanfigur Hyperion, er kann aber auch als Figur für die Person Hölderlin und seinen Fußmarsch im Winter 1801 von Nürtingen nach Bordeaux gelesen werden, oder gar als zeitgenössische Figur, die an der Teilung Deutschlands, der Eiszeit oder bleiernen Zeit des Kalten Krieges, den Morden der RAF im Deutschen Herbst 1977 und den verlorenen Idealen der 68er Generation leidet.21 In den Figuren wie den Räumen werden also inhaltliche Achsen gezogen. Diese reichen von der Olympischen Idee der Antike und deren Pervertierung durch die Nazis, die sich als Wiederbelebung der attischen Polis in Szene setze und die im Stadion für die Spiele 1936 Stein geworden ist, über die Begeisterung Hölderlins für die Französische Revolution und seine anschließende Abkehr von ihrer Realität, ihrem Scheitern im restaurativen, in Kleinstaaten zersplitterten Deutschland an der Wende zum 19. Jahrhundert, die Hölderlin auf den Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken 1770 rückprojiziert und Grüber auf die politische und geistige Lage der Nation im Jahr 1977 ausweitet, bis hin zur deutschen romantischen Idee des antiken Griechenlands als Wiege der Kultur, das Ideal des Schönen und des schönen Körpers zum Körperkult der Nazis und der Sportler im Stadion. So fungiert die Figur des Wanderers durch die Nacht ähnlich wie Samir Muckerjee in Call Cutta als eine Art Platzhalter zwi-
21 Rolf Michaelis verweist in seinem kurzen Text Bilder des Wahns, in dem er Deutungswege vorschlägt, die von der Biographie Hölderlins über die Romanfigur Hyperion und Schuberts Winterreise bis zur Eiszeit des Kalten Krieges reichen, auch auf den Zusammenhang mit der RAF: „‚Winterreise‘ – dies war der Schmeichelname für die erste große Polizeiaktion im Bundesgebiet gegen Terroristen.“ In der Filmaufnahme ist in diesem Zusammenhang an der Trinkerbude ein RAF-Fahndungsplakat zu erkennen; Rolf Michaelis: „Bilder deutschen Wahns“, in: Theater Heute, 19 (2/1978), S. 35.
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In die Geschichte eintreten schen verschiedenen Territorien und Zeiten, zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Er wird zu einer zusammengesetzten hybriden Figur, die die Geschichte in ihren spektralisierten Facetten bündelt, ohne sie abrunden zu können. Denn seine Anwesenheit im Raum erneuert die Geschichte vielmehr. Die Figur wird zum Gespenst und Wiedergänger, die in den Köpfen der Zuschauer Verwirrung und Unruhe stiftet, gerade weil das, was sie wiederholt und wieder hoch holt als unabgegolten gelten kann. Die Theatersituation als performativer Raum macht sie zu etwas Unabschließbarem. Der Wanderer wird zur emblematischen KunstFigur und zur Chiffre, zum Körper gewordenen, verkörperten Schriftzeichen, dem man verschiedene Bedeutungen zuschreiben kann. Worauf es mir in dieser allzu kurzen Diskussion von Grübers Inszenierung ankommt, ist das zitathafte Nachleben von Räumen und Figuren. Sie werden allesamt als Zitate ins Spiel gebracht. Dies wird auch an der Behandlung der Sprache deutlich. Ein Sprecher hat, so das Szenario, „in der rechten Spielhälfte [...] Papiere verstreut, die manchmal noch der Wind über den Rasen weht. Das sollen Blätter der Hyperion-Feldpostausgabe aus dem 1. Weltkrieg sein. Nun können auch Sätze vom Band gelesen werden.“22 Sowohl die Figur des Wanderers als auch die Figuren um die Imbissbude heben in der Folge immer wieder einzelne Blätter auf und lesen mit befremdeten Tonfall oder mit unverkennbarer Ironie, die ans Nichtverstehen grenzt, einzelne Sätze vor, gerade so, als sei die Bedeutung tatsächlich von der Sprache abgefallen. Die Sprache stößt den Figuren zu. Sie fungiert als Abfall, als Sprachmüll, den man sammeln kann. Sie wird gefunden und aufgefunden, aufgehoben in ihrer Fremdheit wie ein Objekt, über das man zufällig stolpert. Auch die Leuchtschrift der Stadionanzeige stellt Sprache in den Raum. „DER WEISS NICHT, WAS ER SÜNDIGT, DER DEN STAAT ZUR SITTENSCHULE MACHEN WILL.“23 Sprache wird auf diese Weise als Objektives in die Dingwelt eingereiht. Damit geht sie zusammen mit den anderen Objekten und den Figuren Konstellationen ein, die mögliche Bedeutungszusammenhänge für eine kurze Zeitspanne herstellen, nur um sie ebenso schnell wieder aufzulösen. Die einzelnen Spielorte werden in diesem Verfahren etwa durch Scheinwerferlicht oder Aktionen jeweils zu unterschiedlichen Konstellationen zusammengefügt, die Bedeutung immer nur momentan über die Potentiale erzeugen, 22 Winterreise, Theater Heute, S. 20. 23 Ebd.
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Gerald Siegmund die in actu und in situ anhand der Fragmente erinnert und ins Spiel gebracht werden, ein Spiel, auf dem Grüber insistiert, indem er ein ‚reales‘ Fußballspiel als Folie für die einzelnen Aktionen ablaufen lässt. „Licht flach aus den Mannschaftsräumen unterhalb der Haupttribüne auf Hyperion und Lotte Zimmer, die vor dem Siegerpodest den Zuschauern zugewandt stehen und ihre Schatten auf das Gräberfeld gegenüber werfen“,24 heißt es etwa im Szenario. Damit wird eine ebenso sichtbare wie vergängliche Linie zwischen Hyperion und Lotte Zimmer, der Schreinerstochter, die Hölderlin einst im Tübinger Turm gepflegt hat, gezogen. Die Linie setzt sich durch den Schattenwurf gespenstisch auf die andere Seite des Stadions fort, wo im Gräberfeld des 1. Weltkriegs aus dem vermeintlichen Sieg eine bittere Niederlage wird. Sie stellt somit auch eine Linie zwischen Privatem und Geschichtlichem sowie zwischen Realem und Fiktivem dar, deren Räume sich schillernd überlagern und durchdringen. Zum Schluss wohnen die Zuschauer einer merkwürdigen Siegerehrung bei, bei der die Hyperionfigur von einem Militärjeep verfolgt und am Verlassen des Stadions durch das Marathontor gehindert wird. Er und die anderen Figuren werden zur Siegerehrung wie zur Deportation regelrecht zusammengetrieben. Von unseren Plätzen aus schauten die Zuschauer an der fragwürdigen Siegerehrung vorbei über das leere Spielfeld, den Anhalterbahnhof rechts im Blick, an den Zelten hinüber zum Gräberfeld. Es ist ein Durchblicken durch verschiedene Zeiten und Räume, die wir nicht homogenisieren können, hinüber zum Tod. Auch in Grübers ortsspezifischer Inszenierung wird die Geschlossenheit der Fiktion unmöglich gemacht. Im Gegensatz zu Call Cutta von Rimini Protokoll, die eher ein heiteres Spiel zwischen dem, was wir für wirklich halten, und der Wirklichkeit der Fiktion treiben, inszeniert Grüber mit der Winterreise ein regelrechtes Trauerspiel. Das Olympiastadion wird zum allegorischen Schauplatz, wie ihn Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch diskutiert hat. Die Geschichte zieht in den Schauplatz ein, der als Trümmerfeld seine zeichenhafte Fragmente dem Nachleben anheim stellt. „Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie das als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ‚Geschichte‘ in der Zeichenschrift der Vergängnis.“25 Obwohl integraler Bestandteil des Spielaufbaus, sind 24 Ebd., S. 18. 25 Walter Benjamin: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Abhandlungen: Gesammelte Schriften I.1., hg. von Rolf Tiedemann und Her-
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In die Geschichte eintreten die Zuschauer hier nicht selbst gehend und handelnd tätig. Die Performativität der Erinnerung liegt in ihrer Tätigkeit, die Fragmente mit ihrem melancholischen Blick des Allegorikers belehnen zu müssen, weil sie aufgrund der katastrophischen Geschichte aus sich heraus jeden Sinn verloren haben. Dennoch entzieht sich ihnen auch hier aufgrund der Dimensionen des Olympiastadions und der zahlreichen Parallelaktionen die Situation der Verfügbarkeit. Stattdessen etablieren sich heterogene Räume, die aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten stammen, die sich überlagern und doch räumlich distinkt von einander gesetzt werden. Das Olympiastadion, das all jene Räume umschließt, wird selbst gesprengt und in verschiedene Erinnerungsräume zerteilt. Es fungiert als eine Art hortus conclusus, der fern davon, einen paradiesischen Garten zu inszenieren, gerade das Traumatische der Geschichte aufbewahrt, ausstellt und damit die Mauern in den Köpfen der Betrachter in einer doppelten Geste wieder sprengt.
5. Die Selbstbezüglichkeit des ästhetischen Gedächtnisses Der Schauplatz im Benjaminschen Sinne ist auch der Ort, an dem sich die Dinge und Menschen zur Schau stellen. Sie zeigen auf sich und sie stellen sich in Formationen auf wie die einzelnen Stationen im Stadion. Sie stellen sich in ein bestimmtes räumliches Verhältnis zueinander und bilden so momentane Konstellationen. Ein solches Verständnis von Schauplatz impliziert eine bewusste Geste des Zeigens und damit im Sinne Férals ein Wissen der Elemente der Aufführung um ihr Ausgestelltsein und ihre Theatralität. Diese Geste funktioniert selbstreferentiell in dem Sinne, dass durch sie Momente der Möglichkeitsbedingung ihrer Darstellung, d.h. der Theatersituation als performativem Raum, ins Dargestellte, d.h. in den fiktiven imaginären Raum, einbezogen werden.26 Das wird in Grübers Winterreise an mehreren Stelmann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 203–409, hier: S. 353. 26 Christoph Menke leitet aus dieser Bewegung die Souveränität der Kunst und damit ihren Autonomiestatus ab; zuletzt in: Christoph Menke: „Ästhetik der Tragödie. Romantische Perspektiven“, in: Bettine Menke/ Christoph Menke (Hg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 179–198.
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Gerald Siegmund len deutlich. So nehmen die Zuschauer in seinem Endspiel der Geschichte einen Platz neben anderen ein und haben als Fragmentblock zwischen anderen Fragmentblöcken Teil an der Zertrümmerung von Gewissheiten. Im räumlichen Dispositiv des Olympiastadions bilden sie eine Station unter/neben anderen und markieren so keineswegs den Fluchtpunkt der Handlung, die vor ihnen abläuft. Nicht nur das Publikum in der Einlaufkurve schaut demnach zu, sondern auch die Dinge und Schauspieler an den einzelnen Stationen erhalten die Möglichkeit, sich einerseits gegenseitig zuzuschauen, wie sie spielen, und andererseits ihrerseits auch das Publikum anzuschauen, wie es seinerseits zuschaut. Das Zuschauen, das in der Regel zur Ebene der Darstellung gehört, wird zum Teil des Dargestellten, des Inhalts, der gezeigt wird. Das Gleiche gilt für die baulichen Vorrichtungen im Stadion: die Reiterstatue neben dem Marathontor, die Trinkerbude, die Trainerkabine, die Zelte der Flüchtlinge, das Gräberfeld und die Nachbildung des Anhalterbahnhofs. Nach der Zerstörung des Bahnhofsgebäudes im Zweiten Weltkrieg ist der Anhalterbahnhof ähnlich wie die Gedächtniskirche am Bahnhof Zoo nicht wieder aufgebaut und als Ruine im Zentrum Berlins in der Nähe des Potsdamer Platzes stehen gelassen worden. Er fungiert mithin zum einen als mahnendes Geschichtszeichen für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und, wie in Call Cutta deutlich wird, für den Holocaust. Zum anderen gemahnt der Ort im West-Berlin des Jahres 1977 in der Nähe der Mauer immer auch an die aus dem Krieg resultierende Teilung Deutschlands. Diese doppelte historische Kodierung wird nun in der Aufführung aufgerufen, indem die Nachbildung im Fußballfeld zum Zeichen des Zeichens erhoben wird, welches sich in seiner Erinnerungsfunktion selbst ausstellt und damit auf sich im Sinne einer selbstreferentiellen theatralen Geste zeigt. Die Kulissenhaftigkeit der Attrappe, wie auch die der Zypressen und der Reiterstatue, tritt in den Vordergrund und betont die theatrale, nach-gebildete, gleichsam zitierte Künstlichkeit. Das Erinnerungszeichen Anhalterbahnhof ist das Zeichen für die Spaltung und Teilung der Gedächtnisräume selbst. Eine derartige Selbstbezüglichkeit, wie ich sie eben beschrieben habe, bedeutet jedoch keineswegs, dass das Theater sich nur mit sich selbst beschäftigen würde. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Selbstreferentialität, die Elemente der Darstellung ins Dargestellte einfügt, öffnet durch ihre Geste gerade den geschlossenen Raum der Fiktion auf den performativen Raum der Thea-
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In die Geschichte eintreten tersituation. Indem sie die Grenzen der Räume überschreitet, impliziert sie den einen im jeweils anderen. Sie leitet einen Prozess des ständigen Einschließens des Ausgeschlossenen und des Ausschließens des Eingeschlossenen ein und vermag gerade deshalb, den historischen Ort und den performativen Raum als unabgeschlossenene und unabschließbare, weil unabgeltbare Räume ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Ich schlage daher hier einen ästhetischen Modus des Gedächtnisses vor, der es erlaubt, Erfahrungen mit der Erinnerung zu machen, die in nicht-ästhetischen Zusammenhängen nicht gemacht werden könnten. Gedächtnis im Modus des Ästhetischen verhält sich nicht in erster Linie kontinuitäts- oder identitätsstiftend in dem Sinne, dass eine Vergangenheit in den Horizont der Gegenwart gerückt und befragt würde. Das ästhetische Gedächtnis arbeitet dagegen unterbrechend und zäsurierend. In diesem Sinne bringt das Gedächtnis die Spuren der Geschichte ins Spiel. Es spielt mit ihnen und spielt sie aus, ohne dass der Umgang mit ihnen wahr oder falsch sein könnte. Das Gedächtnis macht die Spuren aus und beendet das Spiel, weil es die Grenze vom Ort zum Spielraum selbst umspielt. Alle Zusammenhänge, räumlich wie inhaltlich, so sehr sie in Grübers Inszenierung auch simultan aufgerufen werden, bleiben in diesem Schauplatz durchtrennt, sodass es vom Blick der Zuschauer und der Spieler, die ja auch Zuschauer sind, abhängt, ob und wie dieser sie zum Sprechen bringt. Die Frage nach Deutschland und der Funktion des Staates bleibt als Rätselfrage im Raum stehen. Das Theater als Gedächtnis setzt, wie es Samuel Weber im Zusammenhang mit Benjamins Trauerspielbuch formuliert hat, immer wieder in Szene, dass es keine Antwort, Lösung und damit auch keine abgeschlossene Bedeutung oder Sinngestalt gibt.27 Was bleibt, ist der Akt des Erinnerns selbst. Damit dieser nicht zur Ansammlung bloßer historischer Fakten und Daten erstarrt, sondern zum performativen Erfahrungsraum werden kann, braucht es das Moment der Fiktion, ihrer Sprache und ihres Raumes, der, wie am Beispiel von Rimini Protokoll deutlich wurde, zunächst auch ein rein mentaler und akustischer Raum sein kann. Das Ausspielen des fiktiven Raumes ermöglicht das Ereignis der Erinnerung als Möglichkeit, dass es so hätte sein können, aber nicht ist. Eine eindeutige Setzung unterbleibt. Die heterogenen Räume und die Erinnerungen, 27 Samuel Weber: „Genealogy of Medernity: History, Myth, and Allegory in Benjamin’s Origin of the German Mourning Play“, in: Modern Language Notes, 106 (3/1991), S. 465–500.
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Gerald Siegmund mit denen wir sie belehnen, können nicht zur Deckung kommen. Im Berliner Olympiastadion sehen und spüren wir immer auch die Distanz, den Abstand, die Leere, die Isolation, die Kälte zwischen den einzelnen Positionen im Raum. Die räumliche Distanz, mit der Grüber spielt, trennt nicht nur uns vom Geschehen, sondern trennt auch die einzelnen Aktionen im Raum voneinander. Die räumliche Distanz wird auch zur zeitlichen Distanz, die unüberbrückbar scheint. Theater ver-räumlicht. Es teilt, verteilt im Raum, teilt mit und trennt das Mitgeteilte gleichzeitig von sich. Es etabliert Positionen, von denen aus gesprochen, gehört und gesehen werden kann. Dieser Abstand zwischen den Positionen, der sich als Abstand selbst zeigt, verhindert im Falle von Rimini Protokoll und Grüber die Geschlossenheit einer fiktiven Welt. Die Repräsentationsfunktion des Theaters wird unterbrochen, ein Gleiten zwischen Möglichem und Unmöglichem, Realem und Fiktivem setzt ein. Diese Unterbrechung macht immer auch ein Hinübergleiten zum realen Ort „Olympiastadion“ und in den Stadtraum Berlins unumgänglich, zu der Geschichte dieser Orte und den Assoziations- und Bedeutungsfragmenten, mit denen sie belehnt wird. So bleibt letztlich eine Erfahrung des Entzugs, des Nicht-Wissens in die Wahrnehmungs- und Vorstellungsbilder, mit denen die Inszenierungen arbeiten, integriert, die sie als Bilder erinnernd auf ein Anderes der Bilder öffnen.
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur. Die Pariser Passagen in Louis Aragons Paysan de Paris MECHTHILD ALBERT
Bereits Gaston Bachelard hat in seiner Poétique de l’espace aus dem Jahre 1957 für die Überwindung der „formalen Opposition“ zwischen Drinnen und Draußen plädiert.1 Er kritisiert die „Zerstückelungsdialektik“ dieser Antithese, die als Grundlage weitreichender Kategorisierungen und Wertungen verabsolutiert werde.2 Die dichotomischen Metaphern des Drinnen und Draußen, Offenen und Geschlossenen, implizieren ebenso scharfe Grenzziehungen wie Diesseits und Jenseits, Sein und Nichtsein, deren Rigidität dem Wesen der Ontologie nicht gerecht wird, wie der Phänomenologe Bachelard anhand des Begriffs Da-Sein verdeutlicht.3 Die Spirale,4 ja das ziellose Schweifen5 wären demnach treffende räumliche Bilder für das Sein des Menschen. Zu dessen Beschreibung habe die „Phänomenologie der dichterischen Einbildungskraft“6 Wesentlicheres beizutragen als die Geometrie; dank ersterer „werden wir Klarheit darüber bekommen, dass die Dialektik
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Gaston Bachelard: „Poetik des Raumes“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 166–179, hier S. 170. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 172. Ebd. Ebd., S. 173. Ebd., S. 175.
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Mechthild Albert des Drinnen und des Draußen sich in unzähligen Nuancen vervielfältigt und abwandelt“.7 Indem er die festgefahrene Dialektik des Drinnen und Draußen aufbricht, bahnt Bachelard einer neuen Epistemologie des Raums den Weg, wie sie wenig später von Michel Foucault grundgelegt wird. Die Dekonstruktion der antithetischen Kategorien von Innen und Außen leistet Foucault mit dem Konzept der Heterotopie, das er in seinem Vortrag Des espaces autres aus dem Jahre 1967 entwickelt hat.8 Das Charakteristikum der Heterotopien ist bekanntermaßen, „dass sie den binomischen Oppositionen und Trennungen von Außen und Innen nicht gehorchen. Vielmehr durchqueren sie die Grenzen, kontaminieren die vermeintliche Homogenität von Innen und Außen.“9 Heterotopien sind demnach ambige bzw. heterogene Räume, die „eine Schwelle [bilden] zwischen unterschiedlichen Ordnungen, deren kategoriale Trennung nicht mehr aufrechterhalten werden kann“.10 Einen weiteren Schritt in der Entdifferenzierung zwischen Innen und Außen vollzieht Michel de Certeau, indem er in seiner Kunst des Handelns. Praktiken im Raum den Begriff der „Grenze“ durch den des „parcours“ ersetzt und dem Raum somit eine performative Qualität verleiht. „Betrachtet man aber die Grenze als Handlung, so entdeckt man eine Vielzahl von Öffnungen, Kontakten, Übergängen.“ Demarkationen erweisen sich in dieser Hinsicht als „Übergangsräume, die Kontaktregionen stiften“.11 Die Entgrenzung von Außen- und Innenraum, die hier zunächst auf epistemologischer Ebene skizziert wurde, lässt sich als historisches Phänomen in der klassischen Moderne beobachten, wo sich das Dazwischen, die Vorliebe für „Grenzen, Schwellen, Übergänge“ als Reflex auf die anthropologische Verfasstheit eines „von Auflösungserscheinungen bedrohte[n] Ich der Moderne“ erkennen lässt.12 Ein neuer „Urbanitätsmythos“ greift im beginnen-
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Ebd., S. 174. Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 317–329. 9 Vittoria Borsò: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“, in: Dies./Reinhold Görling (Hg.), Kulturelle Topographien, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 13–42, hier S. 29. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 21. 12 Vgl. Rüdiger Görner: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 9.
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur den 20. Jahrhundert Platz, ein „Mythos der Grenze, der Barriere, der Vorstadt“,13 des Raums „zwischen Innen und Außen“.14 Dieser veränderten Raumerfahrung entspricht auch eine „neue künstlerische Sensibilität“.15 So begegnen uns beispielsweise in der Malerei Darstellungen der Durchlässigkeit zwischen öffentlich-urbanem Raum und Raum des Individuums, zwischen Straße und Interieur,16 wie etwa in Umberto Boccionis Gemälde Die Straße dringt ins Haus aus dem Jahre 1911.17 Der italienische Futurist sieht die Stadt in Expansion begriffen. Sie stürzt gewissermaßen auf den Betrachter bzw. die dargestellte Betrachterin ein und desintegriert sie bzw. ihn. Die vitalen Farben Gelb und Rot überwältigen das kühle Schwarz und Blau, das der Betrachterin in Verlängerung ihres Interieurs zugeordnet ist. Die hochwachsenden Vertikalen der Baugerüste erobern die schwarze Horizontale des Balkongitters, das den Innenraum kaum noch abzugrenzen, geschweige denn zu bewahren vermag.
Die Passage als Heterotopie Exemplarisch lässt sich die Durchdringung, ja Umkehrung von Innen- und Außenraum anhand der Passagen beobachten, wie sie Walter Benjamin in seinem Passagenwerk analysiert. Wenn er die Straßen als „Wohnungen des Kollektivs“ betrachtet, so ist „die Passage der Salon“: „Mehr als an jeder anderen Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte, ausgewohnte Interieur der Masse zu erkennen.“18 Mit Bezug auf Benjamin hat kürzlich Timo Skrandies die Passagen als „Räume des Übergänglichen“ beschrieben19 und dabei eine Perspektive auf Foucault eröffnet: „An13 Jacques Leenhardt: „Eine Ästhetik des Randgebietes“, in: Manfred Smuda (Hg.), Die Großstadt als ‚Text‘, München: Fink 1992, S. 91–100, hier S. 95. 14 Ebd., S. 94. 15 Ebd., S. 97. 16 Vgl. den Ausstellungskatalog von Karin Sagner (Hg.): Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz, München: Hirmer 2006. 17 Vgl. Umschlagillustration zu M. Smuda (Hg.): Die Großstadt als ‚Text‘. 18 Walter Benjamin: Das Passagenwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 1051–1052. 19 „Die Passage selbst durchläuft nicht einen leeren, absoluten Raum, in dem wiederum sie selbst sich befände. Sie liegt in den Orten, die sie verbindet und zugleich trennt, und liegt ebenso außerhalb dieser, indem sie deren kulturelle Qualitäten im Übergänglichen des eigenen Raumes
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Mechthild Albert gesichts dieser Raumqualitäten könnte man versucht sein, die Passage als Heterotopie zu verstehen – doch das wäre ein anderes Thema.“20 Im Folgenden wollen wir diesen Hinweis aufgreifen und die Pariser Passagen als Heterotopien untersuchen, in denen sich die Dekonstruktion von Außen- und Innenraum vollzieht. Ungeachtet anderer Beispiele wie der Passage Choiseul bei Céline21 oder der Passage Pommeraye in Nantes bei André Pieyre de Mandiargues22 oder Julien Gracq23 konzentrieren wir uns auf die Passage de l’Opéra, die im Mittelpunkt von Louis Aragons Paysan de Paris steht,24 bekanntermaßen ein Initialimpuls für Walter Benjamins Passagenwerk. Dieser Schlüsseltext des Surrealismus erschien zunächst 1924–25 in Fortsetzungen in der Revue Européenne, als Buch dann 1926. Wie auch André Bretons Nadja aus dem Jahre 1928 illustrieren diese „simples promenades, mêlées de réflexions“ ein flanierendes Denken, ein Schreiben in Bewegung. Die in diesem hybriden Genre thematisierten Räume sind teils real, teils inszeniert, teils imaginär. Eröffnet im Jahre 1821, fiel die Passage de l’Opéra etwa 100 Jahre später, nämlich 1925, dem Durchbruch des Boulevard Haussmann zum Opfer;25 vor dem Hintergrund der drohenden Zerstörung schreibt Aragon seinen Paysan de Paris. Der Grundriss26 gibt einen ersten Eindruck der Verortung im städtischen
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hybridisiert.“ Timo Skrandies, „Moderne Grenzüberschreitungen. Benjamins Passagenräume“, in: V. Borsò/R. Görling, Kulturelle Topographien, S. 327–346, hier S. 327. Ebd., S. 327–328. Louis-Fedinand Céline: Mort à crédit, 1936; den Vergleich zwischen der Darstellung der Passagen bei Aragon und Céline führt Schaper zurück auf den Gegensatz zwischen Passagenbesucher (Aragon) und Passagenbewohner (Céline); vgl. Rainer-Michael Schaper: „Ein Mikrokosmos unter Glas. Pariser Passagen bei Louis Aragon und Louis-Ferdinand Céline“, in: Akzente 31 (1984), S. 153–172. André Pieyre de Mandiargues: „Le Passage Pommeraye“, in: Ders., Le Musée noir, Paris: Gallimard/Folio 1974. Julien Gracq: La forme d’une ville, Paris: Corti, 3e éd. 1985; ich danke Herrn Dr. Christoph Leitgeb für den Hinweis auf dieses Werk. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich im Folgenden auf die deutsche Übersetzung von Rudolf Wittkopf/Louis Aragon: Pariser Landleben, München: Rogner & Bernhard 1969. Zur Geschichte der Passage de l’Opéra, vgl. Johann Friedrich Geist: Passagen: ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, München: Prestel 1982, S. 268–271. Illustration vgl. ebd., Abb. 170, S. 268, Abb. 206, Anhang, o.S.
Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Raum und von der Binnenstruktur der Passage, die mit ihren verwinkelten Binnenräumen ein Labyrinth, ja einen „Maulwurfsgang“ (S. 71) – „taupinière“ – darstellt. Das in der Passage de l’Opéra gelegene Café Certa wurde von Aragon und Breton Ende 1919 zum „Hauptsitz der Dada-Tagungen“ erhoben – „aus Haß auf Montparnasse und Montmartre, aus einer Vorliebe für das Dubiose der Passagen, und ganz bestimmt auch verlockt von einem ungewöhnlichen Ambiente, das uns später so vertraut werden sollte“ (S. 88). Das „Dubiose der Passagen“ verweist auf ihren heterotopen Charakter. In diesem Sinn will Walter Benjamin die „Zweideutigkeit der Passagen als eine Zweideutigkeit des Raumes“ verstanden wissen.27 Die Passagen sind ein Durchgang, der in verschiedenen Richtungen als Ein- und Ausgang dient. In ihm vollzieht sich das Hin und Her der Passanten, das Promenieren der Flaneure und Prostituierten. In diesen „des Tageslichts beraubten Gängen“ (S. 18) herrscht eine „wechselnde Beleuchtung“, ein diffuses Zwielicht, eine „pénombre glauque“, ein „irgendwie abgrundtiefes Meergrün“ (S. 18–19), das zur Entgrenzung von Innen und Außen, Oben und Unten beiträgt.28 Sowohl Aragon (S. 19) als auch Benjamin (S. 1051) vergleichen die gläserne Konstruktion der Passage mit einem Aquarium, das die Dekonstruktion von Innen und Außen treffend veranschaulicht: als ein Binnenraum, der vom Außenraum lediglich durch eine transparente Grenze getrennt ist. Für den Surrealisten Aragon ist die Passage de l’Opéra gar „ein großer Glassarg“, in dem sich das „Doppelspiel von Liebe und Tod“ (S. 41) entfaltet. Die gläserne Hülle unterläuft die Demarkation zwischen den „Labyrinthen der Wollust“ drinnen und dem „Land der Ehrbarkeit“ draußen (S. 23). Die Passagen mit ihren „gebrochenen Perspektiven“ (S. 71) sind changierende Räume des Trugs, der Illusion und Sinnestäuschung, Spiegelkabinette und Theaterkulissen. In labyrinthischer Verschachtelung bergen sie zahlreiche Binnenräume, deren Abgeschlossenheit jedoch ebenfalls durch das voyeuristische Wechselspiel von „schlecht schließenden Türen“ (S. 22), Vorhängen, Häkelgardinen und anderen Formen verbergenden Enthüllens unterlaufen wird. Die Dekonstruktion von Außen und Innen im Dazwischen der
27 W. Benjamin: Passagenwerk, S. 1050. 28 Vgl. Jacques Poirier: „Droits de passage: Aragon, Breton et Céline“, in: Etudes de Lettres 1–2 (2000), S. 67–78, hier S. 72: „pour l’imaginaire la percée horizontale qu’il [i.e. le passage] constitue équivaut à une plongée (verticale) dans les profondeurs.“
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Mechthild Albert Passage führt Aragon in folgender Beobachtung besonders sinnfällig vor Augen: In der Höhe der Druckerei [...] genau oberhalb der kleinen Treppe, über die man zur Rue Chauchat gelangt, an dieser äußersten Spitze des Geheimnisses der Mitternacht zu, wo die Grotte sich auf eine tiefe Bucht hin öffnet, die belebt ist vom Kommen und Gehen der Dienstmänner und Laufburschen und wo an der Grenze zweier Tage verschiedene Lichtverhältnisse die äußere Realität der inneren der Passage gegenüberstellen, in dieser fremd anmutenden Zone, wo alles ein Lapsus ist, Lapsus der Aufmerksamkeit und der Unaufmerksamkeit, hier lasst uns etwas verweilen, um diesen Taumel zu spüren – wie ein Mensch, der am Rande seiner Abgründe innehält, ebenso angezogen von der Dinge Trift wie vom Sog seiner selbst. Der doppelten Illusion, der wir hier erliegen, steht unser Verlangen nach absolutem Wissen gegenüber. Hier taugen die beiden großen geistigen Bewegungen gleich viel und keine Erklärung der Welt kann mich noch beeindrucken. (S. 57)
Als Schwellenraum bringt die Passage zwei Bereiche miteinander in Kontakt, die beide relativiert und in ein Drittes überführt werden. Antithetische Begriffe – äußere Realität vs. innere Realität – werden außer Kraft gesetzt in der Heterotopie („fremd anmutende Zone“), die ein hybrides Drittes bildet: den Lapsus, den Taumel, den Sog, die jenseits aller geometrischen Binarität und rationalen Antinomien liegen (vgl. die Spirale und das Schweifen bei Bachelard). Diese räumlich artikulierte Dialektik – die Aufhebung der Antinomien in einem hybriden Dritten – lässt sich an einer Vielzahl von Aspekten verifizieren. Denn als Heterotopie, Raum des Hybriden und der Ambiguität steht die Passage nicht nur für die Entgrenzung von Innen und Außen. Sie verweist auf die Dekonstruktion weiterer normativer Antinomien von Macht und Revolte, Moral und Eros, Rationalität und Imagination. Diese Ebenen der Subversion, die in der „dichte[n] Textur des [Passagen-]Raums“ mit seinen „vielfältigen Dimensionen des Kulturellen und Sozialen“ wie auch des Ästhetischen impliziert sind,29 sollen im Folgenden näher analysiert werden – doch zuvor ein kurzer Rückblick.
29 V. Borsò: Grenzen, Schwellen und andere Orte, S. 26.
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur
Heterotopien avant la lettre Schon frühere Beiträge haben den räumlichen Sonderstatus der Passagen im Hinblick auf die Dekonstruktion antithetischer Denkfiguren treffend beschrieben, ohne auf das Konzept der Heterotopie zu rekurrieren. So geht Jacques Leenhardt von der räumlichen Neuorientierung der Moderne aus, die sich der Peripherie zuwendet und infolgedessen jene Räume in den Blick nimmt, wo das „eindeutig-zweiseitige Gegenüber zweier Substanzen verschwindet“.30 In diesem Zusammenhang wird die Passage zum privilegierten Grenz-Raum, bildet sie doch „die Zwischenansicht zweier ontologisch und chronologisch verschiedener Welten“.31 Avantgarde-Künstler wie De Chirico und Aragon schätzen die „Besonderheit des urbanen Klimas im Schnittpunkt unterschiedlicher Lebensstile“ sowie „die Gleichzeitigkeit dessen, was Vernunft und Ordnung trennen muß: die beunruhigende und ersehnte Fremdheit“.32 Die in der Kontaktzone Passage unterlaufenen Dichotomien sind bei Aragon laut Leenhardt primär soziologischer Natur, betreffen jedoch auch wesentlich Psychologie und Ästhetik: „Die Passage der Oper verbindet die Welt der Instrumentalisierung und Effizienz, der Finanzen, des väterlichen Über-Ichs und der Gesetzgeber mit der Welt der Galanterie, des Spiels und des Geheimnisvollen.“ Sie knüpft „ein Band zwischen den ontlogischen Welten des Ernstes und der Leichtigkeit.33 Auch Jacques Poirier erkennt die zentrale Bedeutung der Passage darin, die traditionelle dichotomische Raumordnung zu überwinden. „Mi-clos, mi-ouvert“, bildet die Passage einen „espace intermédiaire“, einen „lieu de toutes les ambiguïtés“.34 Als Raum des Dazwischen, des Zweideutigen und der Widersprüche – „le lieu de toutes les contradictions“35 – bringt die Passage Gegensätzliches miteinander in Berührung und trägt dadurch zur Dekonstruktion tief verwurzelter Antinomien bei: „Il met en coïncidence ce qui devait être séparé: les affaires et le plaisir, le féminin et le masculin, le réel et l’imaginaire, et constitue ainsi le lieu de l’excès.“36 In 30 31 32 33 34 35 36
J. Leenhardt: Eine Ästhetik des Randgebietes, S. 96. Ebd., S. 98. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. J. Poirier: Droits de passage: Aragon, Breton et Céline, S. 70. Ebd., S. 69. Ebd.
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Mechthild Albert ihrer dialektischen Funktion stilisiert Poirier die Passagen zu einem „Monstrum“ der Paradoxien: „véritable monstre oxymorique, le passage surréaliste n’en finit pas de se métamorphoser en son contraire, puisqu’il participe aussi bien de la nature que de la culture, de l’originaire que de l’artefact “.37 Dank der Überwindung antithetischer Denkstrukturen führt das subversive Potential dieses Schwellenraums zur radikalen Befreiung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse – „dérèglement du sens“, „circulation du signifié“, „affranchissement envers les contraintes du signe et une volonté de relire librement le monde“38 – sowie zum Verzicht auf jedwede Art von Territorialisierung: „le passage est donc invite à […] renoncer à toute territorialisation “.39 Die aufschlussreichen Befunde von Leenhardt und Poirier lassen sich im Hinblick auf die Charakterisierung des Passagen-Raums und seiner Funktionen mit dem Terminus Heterotopie auf den Begriff bringen. Am Beispiel von Aragons Passage de l’Opéra erweist sich das Foucaultsche Konzept der Heterotopie einmal mehr als zentrale analytische Kategorie im Kontext des topographical turn der Kulturwissenschaften. Im Folgenden sollen einige wesentliche Aspekte der Dekonstruktion von Antithesen betrachtet werden, die sich im Rahmen der heterotopen Passage bei Aragon darstellen, und zwar als Subversion der Macht, des Zeitgefüges und der Moral sowie im Hinblick auf das Dazwischen als Erkenntnismodus.
Das Dazwischen und die Subversion der Macht Die Passage als Raumgefüge im Dazwischen entzieht sich der Macht des panoptischen Blicks, der laut Foucault die Raumordnung bestimmt. Gegen die großen Schneisen der Haussmannschen Boulevards40 ist sie eine „taupinière“, Hort des Zwielichti-
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Ebd., S. 71. Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Dieser räumliche Kontrast findet sich eindrücklich bei W. Benjamin: Passagenwerk, S. 1042–1043. Sobald der Flaneur aus der Passage heraustritt, sieht er sich auf dem Boulevard der absolutistischen Zentralperspektive gegenüber: „[…] ich stehe im Freien. […] ich gehe die Straße hinauf zu dem Triumphtor, das grau und glorreich Lodovico Magno erbaut ist. An den Reliefpyramiden seiner steigenden Pfeiler lagern Löwen, hängen Waffenleiber und verdämmernde Trophäen.“
Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur gen und der Subversion; und nicht zuletzt deshalb zum Abriss verurteilt. Der „gerechtfertigte Aufruhr“, den die Anwohner der Passage gegen deren Zerstörung mobilisieren, wird als „regelrechte[r] Bürgerkrieg“ qualifiziert, der sich „zur Errichtung von Barrikaden und zu Schießereien ausweiten könnte“ (S. 32). Hier erkennt man in den Passagen die letzten Reduits jenes revolutionären Widerstands gegen die Staatsgewalt, der durch die Städtebaumaßnahmen Haussmanns ‚ausgemerzt‘ werden sollte. Als Raum des Ausgegrenzten und Subversiven „am Rande der Gesellschaft und an den Grenzen der Vernunft“ (S. 56), beherbergen die Passagen neben „sentimentale[n] Abenteurer[n], verträumte[n] Hochstapler[n]“ (S. 56) auch Kriminelle wie den Mörder Landru, der in der Passage de l’Opéra seinen Herrenschneider hat. Die Passage als Refugium der Marginalisierten fasst Aragon in das Bild der Einöde und des Brachlands, klassische Heterotopien, traditionelle Zufluchtsorte von Gesetzesbrechern und Vogelfreien. Die Passage dekonstruiert also die Opposition von Staatsmacht und Freiheit, Gesetz und Verbrechen: Der Mensch streift heute nicht mehr mit seinen Hunden und seinem Bogen am Rande der Sümpfe umher: sein Freiheitsdrang hat sich andere Einöden erschlossen. Intellektuelles Brachland, wo der Einzelne dem gesellschaftlichen Zwang entgeht. Dort lebt ein unbekanntes Volk, das sich um seine Legende wenig kümmert. (S. 57)
Auch was die Dimension der Zeit betrifft, stellt die Passage zwar, wie es bei Benjamin heißt, „raumgewordene Vergangenheit“ dar,41 dies jedoch dergestalt, dass der „Augenblick des Jetzt einer hybriden Verschmelzung des gegenwärtig Geschehenden mit einem revenant des Historischen“ entspringt42 – unter dem Zeichen des Ephemeren. Aus der „présence juxtaposée du passé et du présent“43 ergibt sich eine Bewegung der Zeit, die der Bewegung des 41 W. Benjamin: Passagenwerk, S. 1041. Auf derselben Seite evoziert er „die Passage de l’Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Haussmann verschlungen hat. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumgewordene Vergangenheit. Veraltende Gewerbe halten sich in diesen Binnenräumen und die ausliegende Ware ist undeutlich oder vieldeutig.“ 42 T. Skrandies: Moderne Grenzüberschreitungen. Benjamins Passagenräume, S. 338. 43 Jean-Xavier Ridon: „Le Passage ou l’architecture du devenir“, in: Paroles gelées. UCLA French Studies 10, (1992), S. 39–49, hier S. 45.
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Mechthild Albert Flaneurs im Raum entspricht. Zwischen dem Nicht mehr und dem Noch nicht erschließt sich in der Heterotopie der Passagen die „moderne Mythologie“: Zwar ist ihr ursprüngliches Leben aus ihnen schon gewichen, doch verdienen sie es immerhin, als Asyle für mehrere moderne Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie faktisch geweihte Stätten eines Kults der Vergänglichkeit geworden, gespenstische Kulissen für verruchte Vergnügen und Gewerbe, die gestern ganz undenkbar waren und von denen schon morgen keiner mehr weiß. (S. 19)
Das Dazwischen und die Subversion der Moral Als Heterotopie beherbergen die Passagen und ihre vielfältigen Binnenräume das gesellschaftlich Unerwünschte, und das ist primär der Bereich des Trieblebens, der Sexualität, der Körperlichkeit. Luzide konstatiert Aragon die Lokalisierung der transgressiven, subversiven Erotik in den Räumen des Dazwischen: Die heutige Gesellschaft trägt den natürlichen Trieben des Menschen kaum Rechnung: sie glaubt das eine wie das andere ignorieren oder beseitigen zu können [...], dennoch gibt es in der Liebe ein anarchisches Prinzip, eine nicht zu unterdrückende Lust, Gesetze zu übertreten, Gebote zu missachten und den Drang zu zerstören. Man kann dieser hundertköpfigen Leidenschaft Grenzen setzen so oft man will oder ihr Paläste anweisen: sie wird anderswo wieder auftauchen, immer woanders, dort, wo niemand sie erwartet, wo ihre Herrlichkeit reine Entfesselung ist. Möge sie wachsen, wo niemand sie sät [...]. (S. 62–63)
Als Raum des Transitorischen, ausgestattet mit den oben genannten Eigenschaften der Offenheit und Abgeschlossenheit, der Ambiguität und Subversion, ist die Passage bereits erotisch aufgeladen, herrscht eine „érotisation générale“,44 ein „gewisse[s] laszive[s] Fluidum“ (S. 43). Die „viele[n] Spaziergängerinnen in diesen Galerien, die ihre Komplizinnen sind“ (S. 42) hinterlassen ein „Kielwasser aus Sinnlichkeit“ (S. 43). Innerhalb der Passage gibt es eine Vielzahl von Binnenräumen – ebenfalls wieder Räume des Transitorischen –, die der Prostitution gewidmet sind, diesen Zweck jedoch – als Tribut an die herrschende Norm bürgerlicher Wohlanständigkeit – mehr oder weniger verschleiern. Ein verstaubter Laden etwa, der Taschentücher feilbietet, versucht durch 44 J. Poirier: Droits de passage: Aragon, Breton et Céline, S. 74.
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Vorhänge und abstruse Draperien von Röcken und Taschentüchern den Blick ins Innere zu verwehren, aber das verräterische Öffnen und Schließen der Tür im Abstand von 10–15 Minuten lässt keinen Zweifel an der eigentlichen Funktion dieses Durchgangsorts (vgl. S. 98–100). Das „maison de passe“, das Stundenhotel, das zugleich jedoch auch als ganz gewöhnliches Hotel funktioniert, kann als Emblem der Passage und ihrer vielfältigen Implikationen als Heterotopie gelten: „cette maison contient en elle toute la nature du passage de l’Opéra: l’éphémère et l’équivoque.“45 Das Stundenhotel kann als Inbegriff eines transitorischen Raums gelten, der vor allem als Raum der moralischen Subversion fungiert, doch auch die Bezüge zum Theater und zum Illusionären (Unterlaufen der Dichotomie wahr – falsch) sowie zur Welt des Verbrechens (Subversion der rechtlichen Norm) sind offensichtlich: In diesem romantischen garni, dessen Türen bisweilen schlecht schließen, kann man seltsame Muscheltiere sehen; seine Raumverteilung macht es noch zweideutiger, als der vielleicht gewöhnliche Gebrauch, den ein- und ausgehendes Volk von diesem Hotel macht. Von langen Gängen, die man für Theaterkulissen halten könnte, gehen die Logen, will sagen, die Zimmer ab, alle zur Passage hin. Zwei Treppenhäuser gestatten es, mehr oder weniger tief in die Passage hineinzugehen. Alles ist dazu angetan, eine etwaige Flucht zu erleichtern oder einem oberflächlichen Beobachter Zusammenkünfte zu vertuschen [...]. (S. 22)
Nicht zuletzt die sympathische Wirtin dieses Hauses entspricht dem ambigen Status des Dazwischen: „Redselig, die Nachsicht in Person, hat sie bei ihrem Beruf am Zweideutigen und Unbeständigen Geschmack gefunden. Kaum, dass sie ihre Mieter zu zahlen drängt [...] Unregelmäßigkeit findet sie ganz natürlich und erwartet sie selbst von den pünktlichsten Zahlern.“ (S. 23–24) Bei alledem verwundert es nicht, dass der junge Surrealist dieses Etablissement darüber hinaus als attraktive Mietgelegenheit für Künstler und andere Marginalisierte betrachtet: „Es ist ganz angenehm, in einem Stundenhotel zu wohnen, wegen der Freiheit, die dort herrscht, und weil man sich dort weniger überwacht fühlt als in einem gewöhnlichen garni.“ (S. 21) Besonders ausführlich schildert Aragon ein als Massagestudio ausgewiesenes Bordell zwischen der Küche des Restaurants Arri45 Kiyoko Ishikawa: „Ville, surréalisme, roman – trois mots-clefs pour une lecture du Paysan de Paris d’Aragon“, in: Etudes de Langue et Littérature Françaises 74 (mars 1999), S. 138–150, hier S. 141.
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Mechthild Albert goni und dem Eingang zum Théâtre Moderne. Spätestens hier wird deutlich, dass Aragon eine spezifisch männliche Raumerfahrung wiedergibt bzw. modelliert, die eine „vision masculine de la femme“46 impliziert. Der Besuch in diesem Bordell wird als männlicher „rite de passage“ stilisiert. Die räumliche Inszenierung erhellt sich aus dem persönlichen Kommentar: „Noch heute ist mir wie einem Schuljungen zumute, wenn ich mit merkwürdiger Erregung über diese Schwellen trete.“ (S. 125) Auffällig ist zunächst, dass die Lokalität abgelegen und schwer zu erreichen, am Ende einer Reihe von Schwellen und Treppen liegt: „Dunkle Treppe, du führst zu den Freuden der Welt.“ (S. 121) „Hat man das winzige Vorzimmer, wo höchstens zwei warten können, durchquert, [...] wird [man] nach links durch einen dunklen und engen Gang geführt, Vorsicht, Stufe, dann eine Tür und du bist im Zimmer. Die Damen bitte!“ (S. 122) Der Binnenraum des Bordells ist unterteilt in weitere Séparés, die gegeneinander durchlässig sind, sowohl akustisch als auch optisch: „Wie der Lichtschein unter der Tür hervordringt, durchdringen die Seufzer die Pappwände.“ (S. 126) Schließlich tut sich ein letzter Hohlraum auf, an dem sich der Komplex des Voyeurismus47 festmacht, der geradezu eine Signatur der Entgrenzung von Innen und Außen darstellt: Während ich mich wieder anziehe, erforscht meine Partnerin, die den Wandbehang über dem Kanapee hochhebt, einen Hohlraum dahinter. Sie wird ganz verlegen. Oh! Es ist nichts, nur ein Wandschrank. Allein dieser Satz erregt meinen Verdacht. Nun gut, soll man mich beobachtet haben: Alte Geschichten von Voyeuren fallen mir ein. Ich werde nichts tun, um mir Gewissheit zu verschaffen. (S. 126–127)
Ausdrücklich verleiht Aragon dem Binnenraum des Bordells in einem expliziten Kommentar dieselbe subversiv-heterotope Funktion wie seiner Mietwohnung im Stundenhotel: Nicht einen Augenblick denke ich an die gesellschaftliche Seite dieser Häuser: Von einer Maison de tolérance kann ernstlich nicht die Rede sein. Im
46 J.-X. Ridon: Le Passage ou l’architecture du devenir, S. 43. 47 Der Stich, der die Wand des Séparés ziert, wirkt insofern als mise en abyme des Voyeurismus-Motivs: Er „stellt einen Alkoven dar, dessen Vorhang achtlos zerknittert ist und worin ein hübsches Mädchen schläft, anscheinend ohne zu merken – es ist sehr warm – dass die Bettdecke heruntergerutscht ist und eine noch keusche Brust sehen lässt, die bald ganz entblößt sein wird. Sie träumt.“ (S. 123)
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Gegenteil, ich fühle mich an diesen Zufluchtsorten frei von jeder Konvention: in heller Anarchie, wie man sagt in heller Verzweiflung. Oasen. [...] Trugoder Spiegelbild: [...]. (S. 126)
Ein besonders intrinkates Raumdispositiv von Fluren, Treppen und Schwellen, Foyers, Sälen und Kabinen zeichnet die Badeanstalt aus: Kabinentüren und merkwürdige, geheimnisvolle Klappen zwischen den Kabinen entgrenzen Innen und Außen (vgl. S. 68–69). Diese Ambivalenz von Separation und Kontakt bildet die räumliche Entsprechung zu jenem „mächtige[n] wirkungsvolle[n] Kontrast“ der „Intimität an einem öffentlichen Ort“ (S. 64),48 zwischen Bekleidung und Nacktheit. Es ist der sinnliche Reiz, die latente „Wollust“, welche „zum Geheimnis dieser öffentlichen Anstalten beiträgt, […]. So stehen diese Tempel eines zweifelhaften Kults im Ruch von Bordellen und magischen Stätten.“ (S. 61) Als Heterotopie bildet die Badeanstalt geradezu einen extraterritorialen Raum der Alterität, ein anderes Land, das die mit Exotismus und Orientalismus verbundenen Träume von Freiheit und Ungebundenheit aufruft: Schließlich sind solche Orte so ruhig, dass man meinen möchte, in einem anderen Land zu sein, in irgendeiner fernen Kultur, ach, sprecht mir nicht vom Reisen. Muß einem alle Phrenesie abgehen, wenn man in die Bäder geht und nicht sogleich davon überzeugt ist, dass man sich da auf ein völliges Rätsel einlässt! (S. 65)
Eine weitere Heterotopie innerhalb der Passagen, Ort des gesellschaftlich Ausgeschlossenen par excellence, sind die Toiletten zwischen dem Café Certa und dem Briefmarkenladen, deren Thematisierung Aragon als klaren Tabu-Bruch markiert: „Ich will ganz offen reden von den Toiletten. Ich weiß nicht, warum diese Einrichtungen so in Verruf geraten sind. Das lässt seitens der Menschen auf vulgäre Vorstellungen und recht wenig Sehnsucht 48 „In den Bädern verlockt eine Stimmung ganz anderen Ursprungs zu gefährlichen Träumereien: ein doppelt mythisches Gefühl [...]. Einmal die Intimität an einem öffentlichen Ort, was für ein mächtiger, wirkungsvoller Kontrast für den, der sie jemals gespürt hat; und dann diese Lust am Kneten und Quetschen, die den Sinnen eigen ist [...]. Ein Mann, der gewöhnt ist, sich völlig angezogen zu sehen, dürfte sich, wenn er seinen Körper am helllichten Tag betrachtet, der mehr oder weniger berechenbaren Gefahr aussetzen, dem Trieb, sich Lust zu verschaffen, nicht widerstehen zu können. Die Bäder scheinen deshalb für körperlichen Verkehr wie geschaffen und noch mehr für das unwahrscheinliche Abenteuer einer echten Liebe.“ (S. 64–65)
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Mechthild Albert schließen.“ (S. 87) Der männliche Blick taucht „von der Galerie aus […] durch die spaltbreit geöffnete Tür in den Waschraum“, ein „verwirrende[s]“ Universum der Weiblichkeit (S. 87): „Ich wurde nicht müde, an diesem Durchgangsort zu verweilen, wo die Luft von Wollust geschwängert war.“ (S. 88) In den Damentoiletten tut sich vor dem Voyeur das Schauspiel einer Metamorphose von Natur in Kunst auf, das Spektakel einer von Artifizialität geprägten Weiblichkeit wie sie auch schon Baudelaire gefeiert hat und deren Instrument die Schminke ist: „O dieser Mund, der sich zum Schminken verzieht, diese Wolke von Puder und du, künstlicher Flieder, der du unter ihren Augen vor mir erblühst!“ (S. 88) Nicht zuletzt sind diese Räume des Transitorischen (Aragon verwendet das zeitgemäße Bild des Schnellzugs) das Refugium einer devianten Erotik, das Reich Gomorrhas – „Oft fanden die Reisenden dieses Schnellzugs dort wortlos Gefallen aneinander und Hände oder Lippen kamen sich näher“ (S. 88) – so wie Sodom in der „Zweideutigkeit der Bäder“ eine – im Grunde obsolete – Zuflucht findet (S. 66). Den Orten der Prostitution verwandt ist schließlich das Théâtre Moderne, ein Theater, „das als Mittel und Zweck nur die Liebe kennt“ (S. 128). Als Theater ist es zugleich dem Komplex des Maskenspiels und der Illusion verwandt, das der Passage zum einen durch die Nachbarschaft der Oper eignet, zum anderen durch die trügerische Doppelbödigkeit des „Dazwischen“. Insofern kann das Theater, wie auch das Stundenhotel, als eine Art mise en abyme der Passage im Hinblick auf die Heterotopie betrachtet werden.49 Aragon würdigt das Etablissement, eine „Alhambra der Nutten“ (S. 130), als Medium authentischer Kunst: Dieses Theater [...] ist ohne Zweifel das einzige, das uns eine unverfälschte und wirklich moderne Schauspielkunst zeigt. Warten wir ab, schon bald werden die der Music-halls und der Zirkusse überdrüssigen Snobs wie Heuschrecken über diese geächteten Theater herfallen, wo die Notwendigkeit, einige Mädchen und ihre Zuhälter und zwei oder drei schmächtige Schandbuben zu ernähren, eine Kunst hervorgebracht hat, die genauso erstklassig ist wie die der Passionsspiele im Mittelalter. Eine Kunst mit ihren Konventionen und Kühnheiten, ihren Gesetzen und Widergesetzlichkeiten. (S. 128)
49 Vgl. J.-X. Ridon: Le Passage ou l’architecture du devenir, S. 46: „Tout le passage doit pouvoir devenir un ‚théâtre moderne‘, un endroit sans séparation entre la scène et le public, entre l’intérieur et l’extérieur, entre l’inconscient et le conscient.“
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Die räumliche Entgrenzung, Durchlässigkeit und Zweideutigkeit besteht hier darin, dass Darsteller und Publikum nicht klar voneinander getrennt sind, sondern vielmehr – jede szenische Illusion durchbrechend – miteinander kommunizieren in einer archaischen Form von Performanz: Hier ist man der großen dramatischen Mittel der antiken Komödie, die für Spannung sorgen, wie Missverständnisse, Verkleidungen, Liebesleid bis hin zu Verwechslungen eingedenk geblieben. Auch der Geist des ursprünglichen Theaters ist hier durch die natürliche Gemeinschaft von Zuschauer und Darsteller bewahrt, dank der Lüsternheit der Männer, den herausfordernden Reizen der Frauen oder der Privatunterhaltungen […]. (S. 129)
Das Dazwischen als Erkenntnismodus Die Passage als Heterotopie operiert jedoch nicht nur im Sinne einer Entdifferenzierung von moralischer Norm und Triebwelt. Vielmehr korrespondiert diesem Raum des Transitorischen auch ein spezifischer Erkenntnismodus, der eine Entgrenzung von Vernunft und Phantasie, rationalem Bewusstsein und Traum bedeutet.50 Für Walter Benjamin gehören die Passagen, wie auch Wintergärten und Bahnhofshallen, zu jenen „Traumhäusern des Kollektivs“,51 in denen Wachwelt und Traumgesichte ineinander übergehen.52 Nicht anders als beim „Träumeerzählen“ „kann man von den Passagen handeln“,53 in denen dem Flaneur gelegentlich eine „Fata Morgana“ begegnen mag.54 Doch während für Benjamin die Dimension des Onirischen dem Primat des historisch-
50 Zu Passagen, flanierender Wahrnehmung und Erkenntnis bei Aragon und Benjamin vgl. u.a. Jacques Leenhardt: „Le passage comme forme d’expérience: Benjamin face à Aragon“, in: Heinz Wismann (Hg.), Walter Benjamin et Paris, Paris: Editions du Cerf 1986, S. 163–171; Josef Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis: Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart: Metzler 1988; Pierre Ouellet: „Métaphysique de la vue: Passages du Paysan de Paris“, in: Jean Arroye (ed.), Ecrire et voir. Aragon, Elsa Triolet et les arts visuels, Aix en Provence: Université de Provence 1991, S. 191–209. 51 W. Benjamin: Passagenwerk, S. 511. 52 T. Skrandies: Moderne Grenzüberschreitungen. Benjamins Passagenräume, S. 339. 53 W. Benjamin: Passagenwerk, S. 1054. 54 Ebd., S. 1049, 1052.
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Mechthild Albert soziologischen Blicks eher nachgeordnet ist,55 folgt die flanierende Wahrnehmungsweise Aragons einem anderen Erkenntnisinteresse. Für ihn sind die Passagen ganz wesentlich „Räume des Surrealistischen“.56 Der ihrer Übergänglichkeit und dem schweifenden Flanieren entsprechende Erkenntnismodus fungiert im Sinne des antirationalistischen Programms, das Aragon in seinem Vorwort zu einer modernen Mythologie formuliert. Die Passagen als hybride Räume des Dazwischen entsprechen jener „Metaphysik der Orte“, die Aragon dort erwähnt. Sie sind solche „Ufer des Unbekannten und des Schauders“, wo uns „das Gefühl des Fremdartigen überkommt“ (S. 17). „Im Dämmer der Orte gibt es solche Türen zum Unendlichen, die schlecht schließen.“ (S. 18) Im trügerischen Zwielicht der Passagen mit ihren voyeuristischen Raumdispositiven offenbart sich das „alltägliche Wunderbare“, das „merveilleux quotidien“, öffnet sich der Zugang zum „insolite“, zum Wunder, zum Surrealen. Die Passage de l’Opéra mit ihrer Affinität zu Illusion und trompe l’œil (S. 61), zu Theater und Maskenspiel hält das Bewusstsein in der Schwebe zwischen Realität und Irrealität – „an den Grenzen der Wirklichkeit “ (S. 60) bzw. „an den Türschwellen der Phantasie“ (S. 72) – wie der Concierge in seinem Glashaus:57 Wie gern sich der Mensch doch an den Türschwellen der Phantasie aufhält! Dieser Gefangene möchte noch so gern ausbrechen, an der Schwelle der Möglichkeiten zögert er, er fürchtet, diesen Weg schon zu kennen, der ja doch nur in seinen Kerker zurückführt. (S. 72) Verschwinde, Tölpel! Du hältst Morast für festen Boden. Du wirst nie versumpfen! Weil du nicht die unendliche Macht des Irrealen kennst. Deine Phantasie, mein Lieber, taugt mehr als du denkst. (S. 73)
55 Benjamin (ebd., S. 1057) bezeichnet den Paysan de Paris als bewegenden „Nachruf“ auf die Passage, Mutter des Surrealismus, während er mit dem Passagenwerk deren „Physiologie“ bzw. „Sektionsbefund“ beabsichtigt. 56 T. Skrandies: Moderne Grenzüberschreitungen. Benjamins Passagenräume, S. 339. 57 In einem der zahlreichen Binnenräume der Passage, der „mit Fenstern versehen[en] Portiersloge“, lebt das Portiersehepaar: „Man stelle sich vor, dass hinter diesen Scheiben zwei passive Wesen verbannt sind, an den Grenzen des Unbekannten und des Abenteuers! […] Seit Jahren sind sie an diesen absurden Ort am Rande der Galerien gebunden, diese beiden Alten, die ihr Leben vertun, [...]. Recht wunderliche Blüten [müssen] dieses Gehirnpaar schmücken.“ (S. 25)
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Im Hinblick auf Aragons Auseinandersetzung mit der Tradition des Rationalismus bezeichnet die Heterotopie der Passagen jenen Ort, wo die Vernunft ins Schwanken gerät und sich die Schranken des Bewusstseins öffnen, um das „Hinübergleiten“ (S. 149) in die Traumwelt des Unbewussten und Surrealen zu ermöglichen. Der Schwellenraum der Passagen illustriert somit den „sens liminaire du conscient à l’inconscient“ (S. 155). Exemplarisch zeigt sich die surrealistische Entgrenzung zwischen Traum und Wirklichkeit in einer nächtlichen Phantasmagorie, die im übrigen deutliche Reminiszenzen an E.T.A. Hoffmanns romantische Traumbilder aufweist. Aus dem Schaufenster eines Stockhändlers dringt grünliches, submarines Licht; die ganze Passage ist von Meeresrauschen erfüllt, und den Auslagen entschlüpft eine singende Nixe. Fasziniert bewundert der Flaneur die verführerische Erscheinung, doch als er sie anruft mit den Worten „Das Ideal!“, ist der Zauber gebrochen: „Die Sirene sah mich erschreckt an und streckte die Arme nach mir aus. Da befiel die Auslage ein allgemeiner Veitstanz.“ (S. 29) „Mit dem Rauschen des Meeres erstarb auch die Helle.“ (S. 30) In der Wirklichkeit des nächsten Tages erinnert eine leise Spur an die phantastische „Zauberei“ der Nacht: Nun, als ich am nächsten Morgen zurückkam, sah alles wieder normal aus, außer dass im zweiten Schaufenster eine Meerschaumpfeife, die eine Sirene darstellte, wie in einer gewöhnlichen Schießbude in ihrem Ständer zerbrochen war ohne dass es einem weiter aufgefallen wäre. Am Ende des phantasievollen Rohrs wölbte sich noch die doppelte Kurve ihres reizenden Busens und etwas weißer Staub, der auf die Halbseide eines Regenschirms gefallen war, zeugte vom einstigen Vorhandensein von Kopf und Haar. (S. 30–31)
Während die Traumvision beispielhaft die Öffnung der Realität auf die Surréalité in Szene setzt, finden wir ergänzend dazu den programmatischen Kontext in der Rede der Phantasie, eine Art surrealistisches Manifest, das Aragon in seinen Paysan de Paris integriert. Im typisch prophetischen Ton avantgardistischer Manifeste proklamiert er die Heraufkunft des „Surrealismus, Sohn des Wahnsinns und der Finsternis“, der den „Erleuchteten“ und „Verrückten“ „visionäre Macht über die Welt verleiht“ (S. 78). „Dieses Laster, genannt Surrealismus, besteht in dem unmäßigen und leidenschaftlichen Gebrauch des Rauschgiftes Bild […] auf dass es im Darstellungsbereich unvorhersehbare Umwälzungen und Metamorphosen bewirkt“. (S. 78–79) Wie das Rauschgift ist der Surrealismus eine subversive Schmuggelware, die entgrenzend wirkt:
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Mechthild Albert Heute bringe ich euch ein Rauschgift, das von den Grenzen des Bewusstseins, dem Rande des Abgrunds kommt. [...] es übertrifft eure Wünsche, erweckt sie und lässt euch neue verrückte Wünsche haben; aber seid euch darüber im klaren: die diesen Zaubertrank des Absoluten in Umlauf bringen, sind Gegner der Ordnung. Sie verabreichen ihn heimlich unter den Augen der Ordnungshüter in Form von Büchern und Gedichten. (S. 77)
Der „Rausch“ (S. 86) und „Taumel“ (S. 79) des Surrealismus – hier sei an „Lapsus“, „Taumel“ und „Sog“, die eingangs zitierten Begriffe einer heterotopen Raumwahrnehmung erinnert – erweitert Grenzen, setzt das Nützlichkeitsprinzip außer Kraft und unterhöhlt die Pfeiler der Gesellschaft wie Armee, Familie, Beruf. Die Passagen als Heterotopien mit den oben entfalteten Konnotationen der Entgrenzung, Transgression und Subversion sind insofern der ‚natürliche‘ Ort des Surrealismus, der – ebenso wie die daselbst befreite Triebwelt – nicht nur ein „Laster“ (S. 78), sondern schiere Anarchie bedeutet: Man wird sich auf die Gefahr für die Öffentlichkeit berufen, auf das Gemeinwohl, die Erhaltung der ganzen Menschheit. Große Empörung wird die ehrbaren Leute packen gegen dieses unhaltbare Treiben, diese um sich greifende Anarchie [...]. Welch herrliche Verheerungen: [...]. (S. 79–80)
Fazit Die Passagen sind demnach der Übergangsraum zur Surréalité und bezeichnen insofern einen zentralen Ort in der Emergenz des Surrealismus. In ästhetischer wie individueller Hinsicht, so macht Louis Aragon deutlich, besitzen die Passagen für ihn als Schwellenraum, den er flanierend durchschreitet, eine initiatorische, als Heterotopie eine subversiv-emanzipatorische Bedeutung: […] diese Passage [ist nichts] anderes als eine Methode, mich von gewissen Zwängen zu befreien, ein Mittel, über meine Kräfte hinauszuwachsen und in einen noch verbotenen Bereich vorzustoßen. (S. 105)
Im Epochenkontext sind die Passagen ein emblematischer Ort der Moderne, ermöglichen sie doch die Überwindung bürgerlicher Werte, deren Antithesen im „Schmelztiegel“ der Heterotopie ihrerseits unterlaufen werden, um letztlich zur Entdifferenzierung aller binären Oppositionen überhaupt zu führen:
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Zur (De-)Konstruktion von Außen- u. Innenräumen in der Literatur Das Schöne, das Gute, das Rechte, das Wahre, das Reale... noch ganz andere Worte machen in diesem Augenblick Bankrott. Und hat man ihren Gegensätzen erst den Vorzug gegeben, verschmelzen sie bald miteinander. Ein einziger Stoff, allein aus idealen Tatsachen bestehend, bleibt am Ende in dem universalen Schmelztiegel zurück. (S. 131)
Das moderne Individuum erweist sich letztlich als Konzentrat dieses Prozesses, als letzte Grenze in dieser De-Markation zwischen Innen und Außen:58 „Ich selbst bin der Übergang [„passage“] vom Dunkel zum Licht, bin gleichzeitig die Abenddämmerung und die Morgenröte. Ich bin eine Grenze, ein Strich.“ (S. 131)
58 Vgl. K. Ishikawa: Ville, surréalisme, roman – trois mots-clefs pour une lecture du Paysan de Paris d’Aragon, S. 144: „En sacralisant ce ‚domaine‘ ambigu […], l’homme, qui traverse cette construction transitoire, devient lui-meme ce passage“. J. Poirier: Droits de passage: Aragon, Breton et Céline, S. 76 bezieht diese Metamorphose auf den surrealistischen Autor, der durch das Schreiben, verstanden als psychischer Automatismus (écriture automatique), zu einer Art Medium wird: „l’écrivain est en lui-même passage, brèche ou écluse dès lors que son but est de s’abandonner, de se laisser envahir.“
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten CHRISTA BRÜSTLE
Klang zeigt als Begriff und als Sache mindestens genau so viele und unterschiedliche Bedeutungsnuancen und kontextuell abhängige Varianten wie Raum. Klang – engl. sound – bildet zusammen mit Ton, Stimme, Laut, Geräusch, Schall usw. ein Begriffsfeld, das mit ineinander verwobenen Bedeutungsebenen die elementare Gegebenheit des Akustischen bezeichnet.1 Klang gilt darüber hinaus als bestimmte und eigentümliche Klangfarbe eines Instruments oder einer Stimme (Timbre) oder als spezifische einheitliche Klangerscheinung einer Komposition (hauptsächlich abhängig von ihrer historisch geprägten und stilistisch gebundenen Instrumentierung), wobei allerdings in der Popmusik seit den 1960er Jahren aus Gründen der Abgrenzung gegenüber der „klassischen Musik“ vorzugsweise der Begriff sound benutzt worden ist.2 Klang steht darüber hinaus auch für ein charakteristisches, zusammengesetztes „Klangbild“ oder „Klangpanorama“ zum Beispiel einer Stadt oder Landschaft, wobei die visuelle Metapher, wie später zu zeigen sein wird, nicht zufällig ins Spiel kommt. Neben der Anführung dieser verschiedenen Klang-Definitionen muss nun betont werden, dass Klang immer auch performativ ist, das heißt, weder bei der Klangerzeugung noch bei der Klang1
2
Vgl. Albrecht Riethmüller: „Ton alias Klang. Musikalische Elementarterminologie zwischen den Disziplinen“, in: Gunter Scholtz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (= Archiv für Begriffsgeschichte 2000, Sonderheft), Hamburg: Meiner 2000, S. 73–84. Vgl. Werner A. Deutsch/Helmut Rösing/Franz Födermayr: „Klangfarbe“, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearb. Ausgabe, Sachteil, Bd. 5, Kassel, Stuttgart u.a.: Laaber 1996, Sp. 158–159.
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Christa Brüstle erscheinung oder gar bei der Klangrezeption – nicht einmal bei der Vorstellung von Klängen – kann davon abgesehen werden, dass Klang auch Aktion ist, dass Klang spezifische Wirkungen hat und Klang gerade im Rahmen eines Beschreibungs- oder Interpretationsprozesses (verbal oder nonverbal) immer in einem Wechselverhältnis von Klingendem und Hörendem steht. Der Raum im Sinne des Ereignis- und Aufführungsraums – und dies kann durchaus auch ein Vorstellungs- oder Erinnerungsraum sein – ist dabei ein Medium für Klang, das den Klang einerseits beeinflusst, und das andererseits von ihm (von Klang) beeinflusst wird. Der akustische Einfluß des Aufführungsraumes [...] verändert die Klangfarbe über die Halligkeit, welche abhängig von der räumlichen Ausstattung frequenzspezifische Wirkungen ausübt. Bei der Bedämpfung von Räumen ist Vorsorge zu treffen, daß der gesamte Frequenzbereich gleichmäßig erfaßt wird: Hohe Frequenzen werden leichter bedämpft, wodurch der Raum baßlastig wird [...] Deutlich sollte unterschieden werden zwischen der Dauer des Ausschwingverhaltens der Schallquelle und der Nachhallzeit des Raumes. [...] Durch die Raumakustik werden bessere und schlechtere Orchesteraufstellungen und Abhörpositionen bestimmt [...] Schließlich wird die Klangfarbe auch durch die Bewegung von Schallquellen [...] beeinflußt.3
So ist beispielsweise auch die Verschmelzung von Klängen in sehr „trockenen“ Räumen mit wenig Nachhallzeit problematisch. Dadurch wird die dynamische Gestaltung und die Klangproduktion der Musiker schwierig, wobei sich dies auch auf den optischen Eindruck der Aufführung auswirken kann. Letzteres zeigt sich unter anderem daran: Dirigenten werden in akustisch zu stark gedämpften Konzertsälen gezwungen, Einsätze und Dynamik zu forcieren, womit sie ihre Körperkräfte über Gebühr einsetzen und damit die Lockerheit der Stabführung, aus der allein seelische Intuition unmittelbar klangliche Gestaltung werden kann, verlieren.4
Die gegenseitige Prägung von Klang und Raum (im Akt des Geschehens) impliziert die Erfahrung bestimmter Eigenschaften eines Raums, die gewissermaßen als Konstanten und Varianten in die individuelle Empfindung von Räumlichkeit eingehen (wozu auch die Atmosphäre als „gestimmter Raum“ gehört, wie Gernot 3 4
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Ebd., Sp. 141–142. Fritz Winckel: Klangwelt unter der Lupe. Ästhetisch-naturwissenschaftliche Betrachtungen. Hinweise zur Aufführungspraxis in Konzert und Rundfunk, Berlin, Wunsiedel: Hesse 1952, S. 66.
Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten Böhme in seinen Schriften zu diesem Thema ausgeführt hat).5 Raumwahrnehmung im Sinne der Empfindung von Räumlichkeit oder der Entstehung eines subjektiven Raumeindrucks – Resultate des performativen Prozesses – wird von allen Komponenten eines Raums mitgeschaffen, einschließlich der eigenen, subjektiven Befindlichkeit in einem Raum beziehungsweise des Bewusstseins der eigenen Situation gemessen an den eigenen leiblichen Raumkoordinaten. Klang als Bestandteil der „Einrichtung“ eines Raums oder des „spacing“, wie Martina Löw diese „Einrichtung“ genannt hat, trägt dazu bei, die unterschiedlichen Raumkomponenten zu verbinden (in einem erweiterten Sinn können wir daher Klang als Teil des Dispositivs eines Raums auffassen).6 So können etwa klingende Objekte Körperbewegungen auslösen, mit denen Räume verschiedenen erfahren werden oder durch die Verbindungen von unterschiedlichen Orten in Räumen stattfinden. Klänge sind in diesem Sinn auch Teile einer intermedialen Konstellation, die eine Person im Raum herstellt (denn intermediale Bezüge sind nicht per se vorhanden, sondern sie treten ebenfalls erst prozessual in perzeptiven und interpretatorischen Vorgängen hervor).7 Die amerikanische Komponistin Pauline Oliveros – berühmt für ihre Höhlen und Speicher einschließenden Raum-Klang-Rituale des deep listening – begann ihre Laufbahn als Hornistin. In ihren Erinnerungen beschreibt sie zwei typische Erfahrungen im Hinblick auf die Raumakustik: When I played my French horn in a dry hall (a room with little or no reverberation) the sound felt stuffy, and it seemed harder to play. [...] More reverberant rooms always felt better – especially rooms with wooden floors and walls as the reflective surfaces. My tone was fuller, richer, and rounder, and it was easier to play in these rooms. 8
Diese Erfahrungen dürften wahrscheinlich die meisten Musiker und Musikerinnen teilen. Für Oliveros hatten sie dann beispiels5
6 7
8
Vgl. Gernot Böhme: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern: Edition Tertium 1998; Ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Vgl. dazu Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002. Vgl. auch Patchwork. Klanginstallationen: Ute Safrin, Texte: Christa Brüstle, Saarbrücken: Pfau 2007. Siehe Pauline Oliveros: „Acoustic and Virtual Space as a Dynamic Element of Music“, in: Leonardo Music Journal 5 (1995), S. 19.
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Christa Brüstle weise zur Folge, dass sie bei ihren ersten Versuchen mit Tonbandmusik (tape music) in den späten 1950er Jahren Klangquellen in der leeren Badewanne aufnahm, um den Kompositionen eine gewisse Raumwirkung zu geben. When I used dry sounds (sounds recorded directly from the source without a sense of room space), reverberation of some kind was needed to make the sounds seem more musical. In my first attempts at composing tape music in the late 1950s, I used the resonance and reflective surfaces of my bathtub as an approach to help solve this problem. I recorded small acoustic sound sources with the microphone in the (empty) bathtub.9
Das aktive und aktivierende Zusammenspiel von Klang und Raum zeigt sich auch beim Hören von Geräuschen, deren Klangquellen nicht sichtbar sind. Klänge erweisen sich in diesem Kontext als indexikalische Zeichen, die nicht nur die Imagination ihrer Ursachen, sondern auch deren Eigenschaften und Umgebung hervorrufen. Hören wir etwa Schritte in einem Gebäude, so lässt sich in der Regel auf die Raumgröße und Raumausstattung schließen. Man kann sogar zumeist erkennen, ob es sich um einen Gehenden oder eine Gehende handelt, ob die Akteure alt oder jung, leicht oder schwer sind. Darüber hinaus imaginieren wir nicht nur Klang-, sondern damit zusammenhängend auch Körperbewegungen im Raum. Dabei wird zudem die eigene Verortung beziehungsweise der eigene Standort als Zuhörer oder Zuhörerin bewusst. Eine weitere Ebene der Performativität von Klängen betrifft ihre affektive Dimension und emotionale Wirkung, in die räumliche Erfahrungen häufig katalysierend oder verstärkend eingehen. Lesen wir etwa Heinrich Heines Bericht von den Bergwerken, die er in seiner Harzreise 1824 beschrieben hat: „Da unten ist ein verworrenes Rauschen und Summen [...] immerwährendes Brausen und Sausen, unheimliche Maschinenbewegung, unterirdisches Quellengeriesel, von allen Seiten herabtriefendes Wasser, qualmig aufsteigende Erddünste“. Heine behauptet, er habe keinen Anflug von „sogenannter Angst“ empfunden, aber er habe sich an einen Sturm auf der Nordsee erinnert, den er ungefähr vor einem Jahr miterlebt habe. Der Sturm allerdings schien ihm nun vergleichsweise lustig und frisch – in der Erinnerung verbanden sich damit auch akustische Erlebnisse: wenn „die Winde ihre Trompeterstückchen losblasen“ und „zwischendrein der lustige
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Ebd.
Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten Matrosenlärmen erschallt“ –, weil er bald das Gefühl hatte, in der Grube im Bergwerk keine Luft mehr zu bekommen.10 Das Zusammenwirken und die Wechselwirkungen von Klang und Raum sind grundlegend und elementar, die Erfahrung solcher Klang- und Raumaktionen alltäglich, wie die gegebenen Beispiele in Kürze demonstrieren sollten. Aus diesem Grund erscheint es mehr als erstaunlich, dass in der Musik Raum lange Zeit als relativ zu vernachlässigendes Akzidens behandelt wurde. So hat etwa Arthur Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819/1844) formuliert, dass Musik „einzig und allein in und durch die Zeit, mit gänzlicher Ausschließung des Raumes“ rezipiert werde.11 Und noch für Hans Heinrich Eggebrecht galt Musik in erster Linie als „versinnlichte, tönende Zeit“12 oder – wie es in einer nachgelassenen Schrift von Eggebrecht formuliert ist – als „Spiel mit Sinnesreizen in Form einer Stiftung von Zeit“.13 Seit den physikalischen Erforschungen von Raumakustik14 und seit den gehörsphysiologischen und gehörspsychologischen Studien zur Lokalisierung von Schall Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Forschungen, die nicht zuletzt auch durch den Ersten Weltkrieg befördert wurden – und vor allem seit der Entstehung von Raumkompositionen sowie von raumspezifischer Klangkunst seit etwa 1950 ist allerdings deutlich geworden, dass der Aufführungsraum von Musik und der Erscheinungsort oder Installationsort von Klängen essentiell zur Kulturgeschichte des Akustischen und des Hörens dazugehört.15 10 Heinrich Heine: „Die Harzreise“ (1824), in: Ders., Reisebilder (1826), Frankfurt a.M.: Insel 1980, S. 30f. Heine spielt vermutlich auch auf die „Bergwerke zu Falun“ von E.T.A. Hoffmann an, dort wird ein Seemann zum Bergmann und stirbt dabei. 11 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, nach der Edition von Arthur Hübscher, Stuttgart: Reclam 1987, S. 382. 12 Carl Dahlhaus, Hans H. Eggebrecht: Was ist Musik?, Wilhelmshaven 2: Noetzel 1987, S. 185. 13 Albrecht von Massow/Matteo Nanni/Simon Obert/Hans H. Eggebrecht (Hg.): Musik als Zeit, Wilhelmshaven: Noetzel 2001, S. 25. 14 Erst 1898 fand Wallace Clement Sabine eine mathematische Beziehung zwischen Nachhallzeit, Raumvolumen und absorbierender Fläche und gab Anhaltspunkte und Anregungen für die gezielte Bedämpfung von Räumen durch schallschluckende Einbauten. Vgl. dazu Claus Römer: Schall und Raum. Eine kleine Einführung in die Welt der Akustik, Berlin, Offenbach: VDE-Verl. 1994, S. 13. 15 Vgl. Wallace Clement Sabine: Collected Papers on Acoustics, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1927. Zur Lokalisation von Schall vgl. auch
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Christa Brüstle Über ein damit zusammenhängendes „Raumgefühl“ haben Musikwissenschaftler vermutlich erstmals beim Vierten Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1930 in Hamburg nachgedacht, wobei damals allerdings nicht die Aisthetik, also die Wahrnehmung von Klängen im Zentrum stand, sondern die Frage nach den Veränderungen der herkömmlichen Tonsysteme beziehungsweise nach den Veränderungen von abstrakten Tonraumvorstellungen.16 Heute verbindet die Fokussierung von Klang und Raum beziehungsweise Räumlichkeit dreierlei: Es treffen sich hier gewissermaßen der spatial turn und der performative turn im Sinne einer neuen Perspektivisierung des prozessualen Raumerlebens und der Raumwahrnehmung mit dem auditiv turn im Sinne einer besonderen Aufmerksamkeit auf die aktive und reaktive akustische Dimension unserer Lebenswelt (auch als Gegengewicht zur visuellen Dimension, die kulturwissenschaftlich immer im Vordergrund stand).17 In vier Punkten werde ich im Folgenden meine bisherigen Ausführungen zur Wechselwirkung von Klang und Raum vertiefen.
1. Konstruktion, Abstraktion und Körperlichkeit oder innermusikalische und außermusikalische Räumlichkeit Klänge können als distinkte Tonhöhen in einem abstrakten Koordinatensystem von Skalen einen Ort einnehmen und damit einen virtuellen „Klangraum“ ausbilden, der für Musiktheoretiker und Komponisten zu einem „Erlebnisraum“ werden kann. Arnold Schönbergs Tonraumvorstellung beispielsweise, die er mit Swedenborgs Himmel verglich, der in Balzacs mystischer Erzählung Seraphita beschrieben wurde – es war der Ausgangspunkt Carl Stumpf: Tonpsychologie, Bd. 1, Leipzig: Hirzel 1883, sowie Erich M. v. Hornbostel: „Das räumliche Hören“, in: A. Bethe/G. v. Bergmann/G. Embden/A. Ellinger (Hg.), Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, Bd. 11: Receptionsorgane I, Berlin 1926: Springer, S. 602– 618. Vgl. auch Gisela Nauck: Musik im Raum – Raum in der Musik. Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 38), Stuttgart: Steiner 1997. 16 Vgl. Hermann Noack (Hg.): Vierter Kongress für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg, 7.–9. Oktober 1930, Bericht, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1931. 17 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.): Praktiken des Performativen, Paragrana 13/1 (2004), Berlin: Akad. Verlag 2004.
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten für seine „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ – schien ihm völlige Freiheit der Bewegung und ein stufenloses Schweben zu versprechen.18 Hier bildete die Vorstellung einer unbegrenzten Verfügbarkeit aller Töne den Unteroder Hintergrund für in der Zeit ablaufende (mehrdimensionale) musikalische Reliefs, deren Gestalt kompositorisch bestimmt wird und die von den Hörenden gewissermaßen „abgetastet“ wird.19 Fragen wir jedoch nach den Kategorien für Räumlichkeit, die in Hinsicht auf die Wahrnehmung und Interpretation der musikalischen Reliefs in Anschlag zu bringen sind – und Reliefs weisen zweifellos räumliche Dimensionen auf –, so geraten wir auf schwieriges, zum Teil bis heute nicht eindeutig zu klärendes Terrain. Während beispielsweise dynamische Kontraste, Kontraste der Lautstärke, durchaus mit Nähe und Ferne in Verbindung gebracht werden können, bleibt eine Koinzidenz von Tonhöhe und -tiefe mit tatsächlicher Höhe und Tiefe im „realen Raum“ immer zweifelhaft („hohe Töne“ und „tiefe Töne“ wurden in der Regel als Metaphern angesehen). Aktuelle neurowissenschaftliche Untersuchungen geben allerdings Anhaltspunkte dafür, dass die Verarbeitung von Tonhöheninformationen mit Empfindungen von Bewegung im Sinne von Ortsveränderung in Verbindung stehen könnte.20 Vergegenwärtigen wir uns das Spiel unterschiedlicher Instrumente, so wird rasch deutlich, dass die Tonhöhendimension mit ganz verschiedenen Bewegungsrichtungen verknüpft ist. Pianisten beziehungsweise Spieler von Tasteninstrumenten bewegen sich von links nach rechts, Kontrabassisten und vor allem Holzbläser von oben nach unten, Violinisten oder Violaspieler, übrigens ebenso wie beispielsweise Posaunisten, bewegen sich bezie18 „Jede musikalische Konfiguration, jede Bewegung von Tönen muß vor allem verstanden werden als wechselseitige Beziehung von Klängen, von oszillierenden Schwingungen, die an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten auftreten.“ Siehe Arnold Schönberg: „Komposition mit zwölf Tönen“, in: Ivan VojtČch (Hg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, Frankfurt a.M.: Fischer 1976, S. 79. 19 Die Vorstellung des zeitlich-räumlichen „Abtastens“ geht auf Helmut Lachenmann zurück, vgl. ders.: „Klangtypen der Neuen Musik“, in: Josef Häusler (Hg.), Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1996, S. 1–20. 20 Vgl. dazu Wolfgang Auhagen: „Theorien zu Bewegung in Musik“, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.), Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen: Shaker 2004, S. 61–72, insb. S. 70f.
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Christa Brüstle hungsweise einen Teil ihres Körpers oder Instrumentes nach vorne und nach hinten, vom Körper weg und zum Körper hin oder am Körper vorbei. Musiker und Musikerinnen, von Sängern und Sängerinnen ganz zu schweigen, entwickeln demnach ein je individuelles Gefühl für die körperliche „Verortung“ ihrer Töne.21 Bei Komponisten gehört dieses Körpergefühl sicherlich zu dem von Martin Zenck sogenannten „corporalen Subtext“22, der unter anderem korrigierend oder provokativ in Kompositionen eingehen kann. Es stellt sich die Frage, wie ein zuhörendes und zusehendes, mithin ein nach Merleau-Ponty responsiv zu nennendes Publikum davon beeinflusst wird. Eine solche Frage findet bislang kaum Antworten, denn Untersuchungen zur Rolle des Körpers bei Musikaufführungen (im Blick auf Spieler und Hörer) sind noch immer selten und wurden erst seit den 1990er Jahren etwas systematischer verfolgt. Hier sind zum Beispiel die Arbeiten von Jane Davidson (University of Sheffield, Music Department) hervorzuheben.23 Sie hat sich allerdings fast ausschließlich auf die Kommunikation expressiver Gesten konzentriert, die aus einem Komplex von rein motorischen Körperbewegungen, Anpassungen an das Instrument und an die Raumakustik, Stimmungen des Publikums usw. resultieren. Die Tonhöhendimension als räumliche Bewegungsdimension ist darin ebenfalls ein Teilmoment (bei Pianisten ein Teilmoment des kreisenden Bewegungsflusses aus der Hüfte). Da die Tonhöhen aber bei unterschiedlichen Instrumenten mit ganz verschiedenen Bewegungen erzeugt werden, ist es in diesem Zusammenhang sehr fraglich, ob sie im Körper der Zuhörer eine (einheitliche) Repräsentation erfahren (wie dies für expressive Gesten im Zusammenhang mit westlich-abendländischer Musik angenommen wird). In der zeitgenössischen Musik, insbesondere im experimentellen Musiktheater oder in szenischen Konzertstücken, wird mit21 Sofern von der „Ortlosigkeit“ der Stimme gesprochen wird, kann dies auch daran liegen, dass es keine sichtbare Verortung der Stimme gibt (weil die räumlichen Konstellationen der Produktion der Stimme im Innenkörper liegen). 22 Vgl. Martin Zenck: „Luigi Nono – Marina Abramovic. Eingeschriebene, bewegte und befreite Körper zwischen Aufführungspartitur, Live-Elektronik und freier Improvisation/Performance“, in: Petra Maria Meyer (Hg.), Performance im medialen Wandel, München: Fink 2006, S. 119–145. 23 Vgl. Jane Davidson: „Developing the ability to perform“ sowie „Communicating with the body in performance“, in: John Rink (Hg.), Musical Performance. A Guide to Understanding, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2002, S. 89–101 und 144–152.
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten unter das Verhältnis von Klangerzeugung und „Klangort“ beziehungsweise „Klangquelle“ reflektiert oder in irritierenden Bildern thematisiert. Ein kompositorisches Spiel mit dem Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang von „Spielraum“ und „Tonräumen“ in diesem Sinne zeigt beispielsweise Michael Beils Stück Mach Sieben (2000) für Klavier, Zuspiel und Video. Hier wird der übliche Zusammenhang von hohen Tönen rechts gespielt, tiefen Tönen links gespielt durch die Spiegelsituation des Pianisten in der Videoprojektion durchbrochen. Die umgekehrte „Tonordnung“ am Klavier korrespondiert mit dem Rückwärtslauf des Spiels.24 Für den Zuhörer und Zuschauer ist in diesem Kontext auch die Größe eines Instruments von Bedeutung. Große Instrumente stehen bekanntlich für tiefe Töne oder tiefe Lagen, kleine Instrumente für hohe Töne oder hohe Lagen, und es ist klar, dass es ungewöhnlich ist, beziehungsweise ein besonderer klanglicher, aber auch manchmal ein besonderer visueller Effekt beabsichtigt ist, wenn sehr hohe Töne auf sehr großen Instrumenten gespielt werden (oder umgekehrt). Es ist allerdings immer ein schwieriges Unterfangen, innermusikalische räumliche Vorstellungen mit einem körperlichen Raumgefühl oder mit der Räumlichkeit eines Aufführungsraums in Beziehung zu setzen. Meines Wissens gibt es nur einen Komponisten, der in seiner Musik die Relationen von Tonhöhen und räumlichen Platzierungen beziehungsweise Bewegungen von Musikern in Räumen inszeniert hat. Dabei handelt es sich um den Komponisten Henry Brant, eine Ikone der experimentellen Musik Amerikas. Durch Bewegungen der Spieler entstehen für das Publikum in seinen Werken Eindrücke von Nähe und Ferne sowie eine Verstärkung beziehungsweise Intensivierung des Erlebnisses von absteigenden oder aufsteigenden Tonoder Klangfolgen oder Register, wobei dies für Brant in vielen Experimenten manifest wurde. Brant zufolge entsteht ein extrem realistisches, physisches Gefühl und Erlebnis von Abstieg und Aufstieg, wenn man die vertikale Anordnung von Musikern im Raum mit Tonhöhenbewegungen verbindet.25 Da Brants Inszenierungen in Europa eine Seltenheit sind, muss auf eine solche besondere Gelegenheit gewartet werden, um seine Aussagen über24 Vgl. http://www.michael-beil.com/Texte/Mach%20Sieben.htm vom 29. Februar 2008. 25 Henry Brant: „Space as an Essential Aspect of Musical Composition“, in: Elliott Schwartz/Barney Childs (Hg.), Contemporary Composers on Contemporary Music, New York: Holt, Rinehart and Winston 1978, S. 222– 242, vgl. insb. S. 241.
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Christa Brüstle prüfen zu können (man kann solche Konzerte im Prinzip auch nicht als Kopien auf Tonträgern anhören, weil sie völlig auf das Erleben der Musik im Raum angelegt sind).
2. Akustisches „Raumverhalten“ und Reflektion – Nachhall und Echo Da die Einflussnahme der Akustik eines Raums auf die in diesem Raum produzierten Klänge bereits oben besprochen wurde, seien an dieser Stelle nur einige wichtige Fakten und Daten in Erinnerung gerufen, die auch für die Klangproduzenten und ihr Verhalten sowie für die individuelle Empfindung von Räumlichkeit in einem Aufführungsraum von großer Bedeutung sind. Einen Raum in seinen Dimensionen klanglich zu erfahren, steht beispielsweise mit seinem Nachhall in Verbindung (dies ist unmittelbar einleuchtend, wenn man an große Kirchenräume denkt). Nachhall ist die Reduktion von Schallenergie in Form eines Abklingvorgangs, wobei die Abnahme der Schallenergie einerseits durch einen langen Ausbreitungsweg und andererseits durch schallabsorbierende Wirkungen von Raumbegrenzungen entsteht, dort also, wo der Direktschall nicht reflektiert wird. Ein gewisser Nachhall – wir erinnern uns an das Beispiel der leeren Badewanne von Pauline Oliveros – ist oft erwünscht und wird in Konzertsälen eingeplant. Musikalische Aufführungen verlangen nach halligen Räumen, die den Schall verstärken und die einzelnen Stimmen durchmischen. Die Nachhallzeit sollte allerdings nicht wesentlich mehr als 2 s betragen. Auch bei Vortragsräumen und Theatern bewirkt der Nachhall eine Schallpegelerhöhung. Günstig sind hier [...] Werte zwischen 1 s und 1,2 s.26
Heutzutage wird in vielen Sälen durch eine „unsichtbare“ Mikrofon-Lautsprecher-Kombination eine Nachhallregelung vorgenommen. Kritisch sind immer unerwünschte Echo-Wirkungen, also Schallreflexionen, die auf Grund ihrer zurückgelegten Wegstrecken zu spät ankommen und sich vom Direktschall deutlich hörbar absetzen und „nachklappern“. Ich kann auf weitere Details der Raumakustik hier nicht eingehen, aber es dürfte klar sein, dass eine Optimierung von klanglichen Wirkungen in Räumen zwar durch Messungen und Berechnungen erzielt werden kann, 26 C. Römer: Schall und Raum. Eine kleine Einführung in die Welt der Akustik, S. 88.
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten dass sie jedoch empirische Experimente mit dem akustischen „Raumverhalten“ – also performative Prozesse im Sinne eines Kreislaufs von Klangerzeugung und Wahrnehmung von Klang – nur eingeschränkt wirklich ersetzen können. Dies gilt auch für Zuhörer im Publikum, die sich an solchen Experimenten beteiligen, wenn sie allmählich einen „besten Platz“ für sich gefunden haben. In diesem Zusammenhang schreiben sich klangliche Erfahrungen in Räumen in die Körper und in das Gedächtnis der dort Agierenden ein, die wiederum mit ihrem Verhalten die Empfindung von Räumlichkeit anderer beeinflussen, weil sie unter anderem auch die Raumakustik mitbestimmen beziehungsweise verändern.
3. Gemeinschaftsbildung und Ritualisierung in „akustischen Räumen“ Mit meinem dritten Erläuterungspunkt wird die Akustik und Physiologie zugunsten soziologischer Aspekte verlassen. Es geht zum Beispiel darum, dass jede Gemeinschaft einen akustischen Raum ausprägt, der mit ihrer lautlichen Reichweite zusammenhängt. Kollisionen zwischen akustischen Räumen zeigt die lange Geschichte von Lärm und Ruhe, von Verboten nächtlicher Ruhestörungen oder offenen Fenstern beim häuslichen Musizieren, wie Kurt Blaukopf einmal erläuterte.27 Gehören in diese akustischen Räume Sprache beziehungsweise das Sprechen und spezifische Kulturen des Sprechens (von der Kultur des Feierns bis etwa zur Streitkultur), Alltagsgeräusche und Musik (um im Bild zu bleiben: beispielsweise verschiedene Auffassungen von Hausmusik), so tragen auch spezielle musikalische Komponenten, etwa sozialisierende Rhythmen bei der Arbeit, beim Militär, beim Tanz, beim Sport zur Gemeinschaftsbildung bei. In der Folge des performative turn wird heute etwa in der Sport- oder Tanzwissenschaft danach gefragt, wie sich die Bewegungskoordinationen und Synchronisierungen in solchen Prozessen der Gemeinschaftsbildung erklären lassen, denn es geht in der Tat um Ergebnisse aus zeitlich und räumlich strukturierten Abläufen. Gibt es beispielsweise ein „Schwarmgefühl“, das den Zusammenhalt von Bewegungen (in Zeit und Raum) unmerklich steuert? Wie werden Störungen und Irritationen von Bewegungen in einer Gruppe ausgeglichen, wenn
27 Vgl. Kurt Blaukopf: Hexenküche der Musik, Teufen: Niggli 1959.
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Christa Brüstle eine Korrektur nonverbal und „unterwegs“ vorgenommen wird?28 Wir dürfen sicherlich davon ausgehen, dass dies nicht nur über Sichtkontakte funktioniert, sondern auch über „Hörkontakte“: ein schreitendes Corps hält den Rhythmus vor allem auch deshalb, weil es sich klanglich wahrnimmt. Das im 19. Jahrhundert etablierte öffentliche Konzert in eigens dafür gebauten Konzerträumen stellt eine andere, ritualisierte Gemeinschaftsbildung des europäischen, eigentlich (sofern man Hanns-Werner Heisters Abhandlungen über das Konzert als Kulturform folgt): des deutschsprachigen Bürgertums dar.29 Mit Georg Simmel kann man davon ausgehen, dass sich hier eine gesellschaftliche Vereinheitlichung in räumliche Gebilde umgesetzt hat.30 Die globale Verbreitung und Akzeptanz von Konzerträumen „westlicher Prägung“ zeigt jedoch, dass das Konzertritual (das heißt eine bestimmte Hörhaltung gegenüber Musik) als gesellschaftliche Institution mit „funktional-struktureller und temporaler Distanz zu Alltag und Leben“31 auch von anderen Kulturen übernommen wurde – einen Konzertsaal kann man zu den von Michel Foucault sogenannten Heterotopien zählen, und zwar vor allem im Sinne von Illusions- und Kompensationsräumen. Mit Heterotopien bezeichnete Foucault […] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.32
Mit der Übernahme des Konzertrituals in anderen, nicht-westlichen Kulturen hat sich im Weiteren die Ausübung von zugehörigen Produktions- und Rezeptionspraktiken sowie die Bevorzugung 28 Vgl. dazu Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i. Br.: Rombach 2007. 29 Vgl. Hanns-Werner Heister: Das Konzert. Theorie einer Kulturform, 2 Bde., Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1983. 30 Georg Simmel: „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 307. 31 H.-W. Heister: Das Konzert. Theorie einer Kulturform, Bd. 1, S. 55. 32 Siehe Michel Foucault: „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1990, 61998, S. 39, 45.
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten eines spezifischen musikalischen Repertoires verknüpft.33 In der Hauptsache handelt es sich dabei um europäisch-westlich geprägte Musik, etwa symphonische Musik, Kammermusik, Solokonzerte, das heißt um funktional ungebundene oder „autonome Musik“.34 Wir können fragen, inwiefern im Konzertsaal der Klang beziehungsweise das Klangliche zur Prägung der Institution, zur Prägung des Rituals und des heterotopischen Ortes beigetragen hat. Dies ist nur scheinbar eine rhetorische Frage, denn das real Erklingende war im Konzert lange Zeit einer Konzentration auf Form und Struktur sowie einer das Klangliche sublimierenden Kontemplation (vor allem in der Kammermusik) nachgeordnet. Das Klangliche, das real Erklingende stand bei den Apologeten der Formästhetik und der Autonomie von Musik im Verdacht, die Rezeption der Hörer zu sehr auf die sinnliche Ebene zu lenken und damit eine Immersion zu bewirken, die den Verstand auszuschalten in der Lage war. Eduard Hanslick beispielsweise sah in dieser Musikrezeption etwas „Pathologisches“ und beschrieb sie in seiner Abhandlung vom Musikalisch-Schönen (1854) folgendermaßen: Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie scharfen Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt, aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so unschuldig sind. [...] Das ästhetische Merkmal des geistigen Genusses geht ihrem Hören ab; eine feine Cigarre, ein pikanter Leckerbissen, ein laues Bad leistet ihnen unbewußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemächlichen Dasitzen der Einen bis zur tollen Verzückung der Anderen ist das Princip dasselbe: die Lust am Elementarischen der Musik.35
Hanslick schrieb dies, bevor mit Wagner und Bruckner, Mahler und Strauss dann tatsächlich der „Klang“, die klangliche Erschei33 Betrachtet man Konzerte als „anthropologische Räume“, so bilden kulturelle Praktiken den Zusammenhang unter diesen Räumen. Dabei ist interessant, dass sich das Konzertritual heute in Europa stark aufzuweichen beginnt, während etwa in Lateinamerika oder Japan an seinem festlichen Charakter mehr oder weniger strikt festgehalten wird. 34 „Als Realisierungsort autonomer Musik ist so das Konzert ein Ort der imaginär-realen wahren Selbstverwirklichung der Bürger als Menschen“, hat dazu Hanns-Werner Heister idealisierend formuliert. Siehe H.-W. Heister, Das Konzert. Theorie einer Kulturform, Bd. 1, S. 94. 35 Zit. nach Dietmar Strauss (Hg.): Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, Teil 1: Historisch-kritische Ausgabe, Mainz: Schott 1990, S. 129.
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Christa Brüstle nung eines Werks massiv und raffiniert in den Vordergrund treten sollte (mit Berlioz als Vorläufer, auf den vielleicht Hanslick abgezielt hat). Doch nun kreuzte sich das sinnliche Vergnügen mit Andacht und Gottesdienst im Sinne der „Kunstreligion“, vermutlich eine Rezeptionshaltung, die noch heute den traditionellen institutionellen „Konzertraum“ im performativen Prozess weitgehend beherrscht. Außerhalb dieses Raumes haben sich längst andere Formen der musikalischen Produktion und Rezeption entwickelt, die ihn in den letzten Jahren Schritt für Schritt zu unterwandern scheinen. Die Zukunft der Institution „Konzert“ ist daher meiner Meinung nach offen (weil andere und neue performative Praktiken der Musikproduktion und -rezeption allmählich Raum greifen). Wie sich hierin gesellschaftliche Prozesse spiegeln oder auf neue Gemeinschaftsbildungen auswirken, das bleibt vorerst abzuwarten. Es bleibt zu beobachten, wie sich flexible Netzwerkbildungen, projektorientiertes Arbeiten, Mehrfachkompetenzen der Künstler, Selbstorganisation, Nomadisieren zwischen den Sparten und das Arbeiten in unterschiedlichen künstlerischen „Gemeinschaftsräumen“ für die Konzertszene der Zukunft entwickeln.36
4. Landschaft, Urbanität und Klang – „anthropologischer Raum“ und akustische Ökologie Klangliche Komponenten von Kulturen, Landschaften oder von Städten haben sich seit der Industrialisierung und vor allem seit dem Aufkommen elektronischer Reproduktionsmedien kontinuierlich und radikal verändert. Während die nepalesische Stadt Bhaktapur beispielsweise noch heute einer Partitur gleicht, nach der unterschiedliche Musikergruppen durch das tägliche Spielen von Invokationen die Macht ihres Gottes aktualisieren, und quasi der ganze Stadtraum durchsetzt ist mit Markierungen und Zeichen für die Musikausübung, ist in einer modernen westlichen Stadt zumeist nicht einmal mehr mit Glockenschlägen zu rechnen, die die Zeit ihrer Bewohner akustisch strukturieren könn36 Vgl. dazu Christa Brüstle: „Selbstorganisation von Frauen in der Musik – Performativität des Kollektivs“, in: Martina Oster/Waltraud Ernst/Marion Gerards (Hg.), Performativität und Performance. Geschlecht in Musik, Theater und MedienKunst (= Focus Gender 8), Hamburg: Lit. Verlag 2008, S. 146–154.
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Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten ten.37 Durch die Medien sind Klänge von ihren Klangquellen abgespalten und global verfügbar geworden, sie markieren allenfalls einen privaten, medialen Raum (beispielsweise eine individuelle Klang- beziehungsweise Musiksammlung) oder einen gemeinschaftlichen „virtuellen“ Raum (zum Beispiel über ein sogenanntes NetLabel, in dem bestimmte Musik im Internet präsentiert wird und heruntergeladen werden kann). Klänge können aber auch durch die Medien neu in Räume integriert oder in Räumen neu installiert werden, so dass man heute weniger von einer akustischen Entleerung der Umwelt als vielmehr oft von einer künstlich, manchmal auch künstlerisch erzeugten und gestalteten akustischen Einrichtung von Räumen sprechen kann, etwa wenn Vogelgezwitscher in einer Einkaufspassage den Eindruck einer natürlichen Umgebung suggerieren soll. Die Evozierung von „Natürlichkeit“ entsteht dadurch, und dies muss dabei ausdrücklich betont werden, dass solche Klänge im Erinnerungs- und Wahrnehmungsprozess noch immer mit einer ganz bestimmten, spontan zu entschlüsselnden Codierung verknüpft sind. Der kanadische Komponist und Klangforscher Richard Murray Schafer gilt als Pionier der Untersuchung von Grundlagen der akustischen Ökologie. Er beschäftigte sich mit dem Einfluss von Klängen der Umgebung auf den privaten und gesellschaftlichen Raum und stellte beispielsweise fest, dass „kein Laut der Natur [...] von den Menschen so gerne gehört [wird] wie Vogelstimmen.“ Nur noch wenigen könne es aber gelingen, die Vögel nach ihrem Gesang auch zu identifizieren oder gar Vögel an ihren Fluggeräuschen zu erkennen. „Nur diejenigen, die zurückgezogen auf dem Land leben, können Vögel am Geräusch ihres Flugs identifizieren. Der städtische Mensch vermag dies nur noch bei Insekten und Flugzeugen“, so fährt Schafer in der Betrachtung von Vogelgesang fort.38 Vögel und andere Tiere sowie weitere Naturgeräusche bilden Schafer zufolge ebenso wie städtische Geräusche sogenannte soundscapes oder Lautsphären aus, die eine Gegend oder ein Revier beherrschen oder sich überlagern und in Wechselwirkung 37 Vgl. Gert-Matthias Wegner: „Die Stadt als Partitur: Buddhistische Prozessionsmusik in Bhaktapur/Nepal“, in: Christa Brüstle/Matthias Rebstock (Hg.), Jahrbuch der berliner gesellschaft für neue musik VI: reflexzonen/migration, Saarbrücken: Pfau 2006, S. 101–108. 38 Siehe Richard Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, aus dem Engl. übersetzt von Kurt Simon und Eberhard Rathgeb, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988, S. 43, 47.
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Christa Brüstle treten können. Schafer hat Grundtöne, Signallaute und Orientierungslaute der soundscapes unterschieden, deren Definitionen kurz zu referieren sind, um die verschiedenen klanglichen Ebenen, mit denen wir im Alltag konfrontiert sind und auf die wir bewusst und unbewusst reagieren, zu verdeutlichen. „Grundtonlaute“, so schreibt Schafer, sind „jene Laute, die von einer bestimmten Gesellschaft dauernd oder oft gehört werden, so daß sie einen Hintergrund bilden, vor dem andere Laute vernommen werden.“39 Schafer führt im Weiteren aus, dass Grundtöne der Umgebung in der Regel nicht bemerkt, jedenfalls kaum bewusst wahrgenommen werden: Einen subtilen Grundton bilden [zum Beispiel] die Laute des Lichts. [...] Wir werden nicht erwarten, bei den Alten überraschende Bekenntnisse über die Laute von Kerzen und Fackeln zu finden, genauso wenig wie wir ausgearbeitete Beschreibungen des 50 oder 60-Hertz-Summens bei den Modernen finden werden; denn wenn beide Laute auch von unausweichbarer Präsenz sind, so sind sie dennoch Grundtöne; und jene, die mit ihnen leben, hören selten bewusst auf sie hin, denn sie bilden den Grund, auf dem die Figur aus Signalen erst deutlich hörbar wird. Grundtöne werden jedoch wahrgenommen, sobald sie sich verändern; und wenn sie völlig verschwinden, wird man sich vielleicht sogar auf sentimentale Weise an sie erinnern.40
Bilden die Grundtonlaute den Hintergrund, so ist ein „Signallaut [ein Laut], auf den die Aufmerksamkeit besonders gerichtet wird.“41 Signallaute werden also den Grundtonlauten gegenübergestellt wie Figur und Grund bei der visuellen Wahrnehmung. Signallaute waren beispielsweise Posthörner oder Jagdhörner, sind bis heute etwa das Läuten von Kirchenglocken und Glockenschläge von lokalen Kirchen- oder Uhrtürmen, Pausenglocken und Fabriksirenen. Während nun Signallaute zu bestimmten Zeiten allgemein verbreitet waren, bezieht sich ein Orientierungslaut Schafer zufolge „auf einen Gemeindelaut, der einmalig ist oder Eigenschaften besitzt, welche die Menschen in dieser Gemeinde dazu bringen, auf ihn besonders zu hören.“42 Hier sind Klänge gemeint, die Schafer als charakteristische, schützenswerte Klänge in einer Umgebung, in einer Landschaft oder in einem Stadtraum bezeichnet, weil sie das akustische Leben einer Gemeinschaft charakterisieren. 39 40 41 42
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
313. 82. 317. 316.
Klang als performative Prägung von Räumlichkeiten Als schützenswerte Klänge listete Schafer 1977 zum Beispiel auf: Das Klingeln alter Registrierkassen Wäsche, die auf einem Waschbrett gewaschen wird Butter, die in einem Fass gestampft wird Das Abziehen von Rasiermessern auf dem Streichriemen Petroleumlampen Das Knarren ledernder Satteltaschen Die von Hand geleierte Kaffeemühle Das Klappern von Milchkannen auf einem Pferdewagen Schwere Tore, die zugeschlagen und verriegelt werden Von Hand geläutete Schulglocken Hölzerne Schaukelstühle auf Holzfußboden Das leise Klicken alter Kameras Von Hand betätigte Wasserpumpen
Es ist kein Zufall, dass die schützenswerten Klänge allesamt mit kulturellen Praktiken zusammenhängen, die ebenfalls überwiegend museal geworden sind. Doch sie sind – wenn nicht alles täuscht – im Gedächtnis gespeichert, so dass wir sie in der Erinnerung und Imagination aktualisieren können. In diesen Erinnerungsprozess fließen allerdings noch andere Momente ein, zum Beispiel die Erinnerung an den Film, in dem wir das Knarren lederner Satteltaschen gehört haben. Gerade in seiner imaginativen Aktualisierung zeigt es sich, dass Klang ganz komplexe Räumlichkeiten prägt, und zwar in einem Erinnerungsprozess, den wir ebenfalls performativ nennen können.43
43 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte/Gertrud Lehnert (Hg.): Inszenierungen des Erinnerns, Paragrana 9 (2000), H. 2, Berlin: Akad. Verl. 2000.
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Virtuelle und reale Räume
Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma PETER ZAJAC1
Der mitteleuropäische Raum ist geographisch schwer fassbar. Seine veränderliche historische Gestalt verliehen ihm unterschiedliche politische Konzeptionen und Machtkämpfe. Seine Identität, sein kulturelles Gedächtnis, seine ästhetischen und künstlerischen Imaginationen finden sich jedoch eher in den Orten der „schöpferisch lokalisierten Lebenswelt, die nicht nur das Produkt von Geschichte, sondern vor allem auch der Konstruktion menschlicher Geographien ist...“2 Die menschlichen Geographien der lokalisierten Lebenswelt formen sich auf Grundlage individueller autobiographischer Gedächtnisse, in denen die Atmosphäre eines Ortes gespeichert ist: „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde.“3 Aus diesen individuellen autobiographischen Gedächtnissen entsteht das kollektive kulturelle Gedächtnis des Raums. Der kulturhistorische Raum Mitteleuropas weist spezifische Eigenschaften auf. Er ist heterogen, gekennzeichnet von zahlreichen Schwellen und Übergängen und von synoptischer und interferenzieller Gestalt.
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Der Autor bedankt sich bei Rainette Lange für die Übersetzung des Beitrags und die Korrektur. Edward Soja: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social theory, London u.a.: Verso 1989, S. 10. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 96.
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Peter Zajac
1. Die Heterogenität des mitteleuropäischen Raums hat Moritz Csáky als komplexes, der mehrfachen Kodierung unterworfenes System bezeichnet und seinen endo- und exogenen Charakter untersucht. Außerdem hat er zwei wichtige Marker der mitteleuropäischen Heterogenität identifiziert: ihre Hybridität, von der auch Jenö Szücz4 spricht, und das Spannungsverhältnis zwischen der kulturellen Kreativität und Konfliktgeladenheit.5 Kulturelle Heterogenität hat zwei grundlegende Aspekte – auf der horizontalen Ebene durchbricht sie das Prinzip der Kausalität und Finalität und auf der vertikalen ist sie reflexiv. Rhetorisch gefasst ersetzt sie horizontal die Ekphrase durch die Katachrese und vertikal verhält sie sich metaleptisch. Noch anders gesagt, es zeichnet sie eine starke Subversion der Referenzialität und ein Hang zur Selbstreferenzialität und Reflektivität aus, wodurch ein System der Mehrperspektivität entsteht. Die Heterogenität des mitteleuropäischen Raums lässt sich am besten anhand der Kartographie literarischer Texte zeigen. Sie bildet die thematische Vernetzung solcher Texte wie Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus oder Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek. Die Kartographie des mitteleuropäischen Raums bei Karl Kraus erfolgt sternförmig. Zentrum und Knotenpunkt ist die Stadt Wien, von der aus Strahlen in alle vier Himmelsrichtungen verlaufen. Die Heterogenität des gesamten Raums zeigt sich dabei nicht nur in den Beziehungen von Zentrum und Peripherien, sondern auch im Zentrum selbst, das als ein Zerrspiegel den gesamten geographischen Raum verdoppelt. Den narrativen Raum von Hašeks Roman umreißt eine Karte von Schwejks Reise an die Front. Die schneckenartige und rückgekoppelte Route dieser Reise ist ein kartographisches Abbild des gesamten mitteleuropäischen Raumes. Schwejk nähert sich der Front in mehreren Spiralen. Zuerst umrundet er ganz Prag, danach begibt er sich in Spiralbewegungen auf seine Anabasis von Tabor nach Budweis und beginnt dann seine tschechisch-österreichisch-ungarisch-slowakisch-polnische Route an die Front über verschiedene mitteleuropäische Knotenpunkte wie Wien, die 4 5
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Jenö Szücz: Tri historické regióny Európy, Bratislava: Kalligram 2001. Moritz Csáky: „Introduction“, in: Moritz Csáky/Elena Mannová (Hg.), Collective Identities in Central Europe in Modern Times, Bratislava: AFP 1999, S. 7–20, hier S. 8–13.
Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma „dreieinige“ Stadt Bruck an der Leitha (Most nad Litavou/Kyrályhida), Budapest, Neustadt bei Satoraljaujhely, Humena und Hatvan an der Grenze zu Galizien, bis er an den Damm des Teiches gelangt, wo er bei Churawa in russische Gefangenschaft gerät. An jedem dieser Haltepunkte verirrt er sich in einem lokalen Labyrinth und beschreibt in ihm wiederum eine Spiralbewegung. Und all diese Spiralen, in die die labyrinthische Heterogenität eingeschrieben ist, katapultieren ihn schließlich näher an die Front. Bei der Kartographierung des mitteleuropäischen Raumes geht es aber nicht nur um die Thematisierung seiner Heterogenität, sondern auch um die auffällige Präsenz heterogener Genres. Es ist daher auch kein Zufall, dass kulturhistorisch betrachtet gerade die musikalischen Gattungen Oper, Operette und Musical für den mitteleuropäischen Raum so große Bedeutung hatten.6 Dies lässt sich am besten anhand der Libretti des Musiktheaters verdeutlichen. Das Libretto ist ein Narrativ, mit dem in der Oper, der Operette und im Musical eine Geschichte erzählt wird. Die Heterogenität des Librettos weist drei Aspekte auf, indem sie das Musiktheater semiotisch, performativ und intermedial charakterisiert. Semiotisch betrachtet oszilliert das Libretto zwischen einzelnen Dialogen und Liedtexten, performativ zwischen dem diegetischen Zeigen und der performativen Vorführung und intermedial gesehen stellt es eine Medienkombination mit vielen intermedialen Bezügen und Transfers dar. Alle diese drei Beziehungen sind heterogen. Die Wechselbeziehung zwischen dem mimetischen Dialog der Figuren und dem diegetschen Wesen der Liedtexte bedeutet auch immer eine Störung der kausalen Referenzialität des Textes und einen Schritt in Richtung metaleptischer Selbstreferenzialität. Dasselbe gilt für die Wechselbeziehung zwischen dem diegetischen Zeigen und der performativen Vorführung, in der das diegetische Zeigen eine semiotisch orientierte Kommunikation über Kommunikation darstellt.7 Performativ betont die Vorführung wiederum den körperlichen Charakter des Handlungsgeschehens.8 6
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Jan Assmann: Die Zauberflöte, München, Wien: Hanser Verlag 2005; Moritz Csáky: Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay, Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 1996, S. 48–58, hier S. 48ff.; Peter Zajac: „Musical, Song, lyrischer Minimalismus“, in: Alfrun Kliems/Ute Raßloff/Peter Zajac (Hg.): Intermedialität. Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa III, Berlin: Frank und Timme 2007, S. 355–386. Ivo OsolsobČ: Divadlo, které mluví, zpívá a tanþí [teorie jedné komunikaþní formy], Praha: Editio Supraphon 1974; Ivo OsolsobČ: „Ostenze a
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Peter Zajac Intermedialität ist schon ihrem Wesen nach heterogen, denn sie verbindet die unterschiedlichsten medialen Formen, egal, ob es sich dabei um Medienkombinationen, Medienwechsel oder intermediale Bezüge handelt.9 Hier kommt es in einem einzigen Medium zu einer direkten Interferenz verschiedener Medien, wobei gleichzeitig in Form von Palimpsesten auf der Ebene der einzelnen Segmente und Fragmente des Textes intertextuelle Bezüge mit einem unterschiedlichen Grad an Freiheit (Zitate, Paraphrasen, Allusionen) und einer Änderung der Perspektive (Parodie, Travestie, Pastiche) entstehen. So gesehen geht es bei der Heterogenität des mitteleuropäischen Raums nicht nur um eine heterogene Topografie äußerer Räume, sondern auch um eine heterogene Topologie innerer Beziehungen.
2. Heterogene Räume zeichnen sich durch eine Vielzahl von Übergangssituationen aus. Charakteristisch für eine Übergangssituation sind in erster Linie die Problematisierung der Grenze und die Schwellensituation. Schwellen sind schließlich „Zonen der Unsicherheit und des Übergangs, in denen Altes und Neues aufeinandertrifft“.10 Der Begriff der Schwelle wird im modernen Denken linear als Übergang zwischen zwei Zeiten und im Sinne eines Fortschritts als Übergang zwischen dem Alten und Neuen begriffen. Die Schwellen sind aber Räume mit eigenen Gesetzen und Qualitäten: „Den Charakter der Schwelle bestimmen Ambiguität und Entgrenzung.“11 Besonders wichtig ist ihr fließender, gleitender Charakter: Dodatek k ostenzi“, in: Principa parodica. Posbírané papíry pĜevážnČ o divadle, Praha: Akademie múzických umČní 2007, S. 84–94 und S. 95–97. 8 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Die Autorin betrachtet Performativität als nicht-semiotische Erscheinung. Auf Grundlage neuerer neurophysiologischer Forschung lässt sich jedoch konstatieren, dass auch körperliches Handeln semiotisch ist. 9 Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: A. Francke Verlag 2002, S. 19. 10 Reingard M. Nischik/Caroline Rosenthal: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Schwellentexte der Weltliteratur. Konstanz: UVK 2002, S. 9–31, hier S. 9. 11 Ebd., S. 10.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma Sie entzieht sich der Messbarkeit und der Fixierung auf einen Ort, sie ist beunruhigend durch ihre potenzielle Offenheit für alles und in ihrer Aggressivität in Bezug auf Vergangenheit und Zukunft. Im Schwellen-Moment sind die vertrauten Parameter der Entwicklung suspendiert.12
An der Schwelle ereignen sich Innovationsversuche, die einerseits eine Wiederholung des Gleichen in verschiedenen Permutationen bedeuten können, andererseits kommt es jedoch auch zu solchen Erneuerungen, die zu Veränderungen und in einigen Fällen auch zum Eintreten einer neuen Situation führen. An der Schwelle wird eine Reihe von Wechselwirkungen und Verknüpfungen erzeugt, weswegen man die Übergangssituation auch als Knotensituation bezeichnen kann. Für den mitteleuropäischen Raum ist jedoch nicht nur das Problem der Schwelle als Ort des gleitenden Übergangs von einer Zeit in eine andere charakteristisch, sondern genauso wichtig sind auch Orte des Übergangs von einem Raum in einen anderen. Auch die Schwellen und Übergänge zwischen zwei mitteleuropäischen kulturellen Räumen bestimmt ein fließender, gleitender Charakter, Ambiguität und Entgrenzung, potentielle Offenheit für alles, aber auch Aggressivität und Suspendierung der vertrauten Parameter. Eine Schwelle hat auch eine räumliche Konfiguration, ihr dazwischen, ihr innen und außen, darüber und darunter und oft kommt es auch zu Situationen mit unterschwelligen Übergängen. Schwellen bilden Orte und Knotenpunkte von Übergängen, durch die sich der Raum konstituiert. Sie sind „dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen“.13 Aus paradigmatischer Sicht sind zwei grundlegende Eigenschaften der mitteleuropäischen Übergangsschwellen interessant. Es kennzeichnet sie eine räumliche Ambiguität und die Verzahnung von Zeit und Raum. Die Schwellensituationen haben die Gestalt gleitender Übergänge, aber auch undurchlässiger Grenzen, sie sind potentiell offen, aber auch luftdicht geschlossen, sie suspendieren vertraute Parameter, aber sie konservieren sie auch, sie bilden Felder ge-
12 Renate Lachmann: „A. Puškins ‚Eugen Onegin‘ und dessen Nachgeschichte in Nabokovs Werk“, in: R. Nischik/C. Rosenthal, Schwellentexte der Weltliteratur, S. 169. 13 Aleida Assmann: „Geschichte findet Stadt“, in diesem Band, S. 16.
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Peter Zajac genseitiger Anziehung, aber auch der Abstoßung, Felder der Kreativität, aber auch der Stereotypisierung. Für den mitteleuropäischen Raum ist ein doppeltes Verknüpftsein, ein Oszillieren von Zeit und Raum merkmalhaft, das man als Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raums bezeichnen kann. In der beschleunigten Zeit wird hier der Raum als Zeit wahrgenommen, in der verlangsamten Zeit nimmt man die Zeit als Raum wahr. Im ersten Fall verschwindet der Raum in der akkumulierten Zeit, im zweiten nimmt die Zeit die Gestalt eines unveränderlichen Raums an. Die ambivalenten Schwellensituationen der Übergänge, in denen es zu einem ständigen Oszillieren zwischen Zeit und Raum kommt, sind heterogen und hybrid und können für den mitteleuropäischen Raum als paradigmatisch gelten.
3. Übergangsprozesse lassen sich nur als synoptische Karten darstellen. Diese kennzeichnen Gleichzeitigkeit, Parallelität sowie Korrespondenz und Koinzidenz der Bewegung in Zeit und Raum. Mit der Erstellung synoptischer Karten versucht man, die Aporie zwischen Zeit und Raum, zwischen Diachronie und Synchronie zu überwinden: Die Entstehung synoptischer Karten hat neue Raumkonfigurationen ermöglicht, ihre Erweiterung um eine Dimension, und zwar die Zeit [...] Blieben die synchrone und diachrone Perspektive bei Saussure eindeutig getrennt, sind sie bei der synoptischen Betrachtung hingegen voneinander abhängig [...]. Die synoptische Karte ist mehrschichtig – man kann sie sowohl horizontal als auch vertikal lesen; die horizontale Lesart gibt Auskunft über den momentanen Zustand, die vertikale Lesart ist mit der Zeitachse verbunden.14
Synoptische Karten sind polymorph, d.h. sie sind polyfunktional, polyfokal, polyperspektivisch, polychron und polyterritorial.15 Aus paradigmatischer Sicht sind zwei Aspekte synoptischer Prozesse grundlegend – die Polyterritorialität und die Polychronie. Die Polyterritorialität verweist auf interferenzielle Räume, die vielförmige Topographien bilden: „Bei der synoptischen Analyse untersuchen 14 Pavel Matejoviþ: Synoptici, Bratislava: Kalligram 2000, S. 35, 39, 130. 15 Peter Zajac: „Nationalliteratur und mitteleuropäische Literatur“, in: Moritz Csáky/Elisabeth Großegger (Hg.), Jenseits von Grenzen. Transnationales, translokales Gedächtnis, Wien: Praesens Verlag 2007, S. 129–142, hier S. 132.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma wir [1] Werte der gleichen Schicht an verschiedenen Orten, [2] Werte verschiedener Schichten an ein und demselben Ort, [3] Werte verschiedener Schichten an verschiedenen Orten“.16 Die Polychronie verweist wiederum darauf, dass es an einem Ort oder in den Beziehungen zwischen verschiedenen Orten zu Durchdringungen und Überlagerungen verschiedener Zeitschichten kommt, die wir als räumlich gleichzeitig wahrnehmen. Polyterritorialität und Polychronie sind grundlegende Eigenschaften aller interferenziellen kulturellen Prozesse, die auf dem kulturellen Gedächtnis beruhen. Sie werden wahrgenommen als das Gedächtnis eines Ortes „durch das gegenseitige Korrespondieren der einzelnen Schichten“17, oder als Gedächtnis verschiedener interferierender Orte, an deren Schwellen und Übergängen sich ihre Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit offenbart.
4. Das Bindeglied heterogener synoptischer Prozesse, die auf horizontalen und vertikalen, territorialen und zeitlichen Übergängen basieren, ist ihre Interferenzialität. Der Begriff der Interferenzialität wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Jedoch lässt sich ganz allgemein sagen, dass Interferenzialität die grundlegende Eigenschaft von Erscheinungen ist, bei denen es zu einer Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren Prozessen, zu Überlagerungen und Überschneidungen kommt, wie auch schon der lateinische Ursprung der lexikalischen Bedeutungen der Worte inter (zwischen) und ferro18 (führen) erkennen lässt. 16 P. Matejoviþ: Synoptici, S. 129. 17 Ebd., S. 59. 18 Zu den Begriffen mit dem lateinischen Kern ferro gehört auch der Begriff der Inferenz, und zwar auch im Zusammenhang mit der Charakteristik des Raums: „Abstrakt betrachtet ist räumliche Inferenz nichts anderes als das Überführen implizit repräsentierter räumlicher Information in explizit repräsentierte“ (vgl. http://cognition.iig.uni-freiburg.de/events/work&conf/e_w_ri.htm vom 4. Dezember 2008). Den Begriff der Inferenz benutzt man auch in der Literaturtheorie im Sinne des Ableitens von Schlussfolgerungen. Vgl. in: Lubomír Doležel: Heterocosmica. Fikce a možné svČty, Praha: Karolinum 2003, S. 74 (ursprünglich in: Ders., Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds, Baltimore: Hopkins University Press 1998) und Miroslav ýervenka: „Fikþní svČty lyriky“, in: Miroslav ýervenka/JiĜí Holý/ZdenČk Hrabta u.a., Na cestČ k smyslu. Poetika literárního díla 20. století, Praha: Torst 2005, S. 711–783, hier S. 736ff.
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Peter Zajac In der Physik beschreibt der Begriff eine durch gegenseitige Überlagerung von zusammentreffenden Wellen verursachte Verstärkung, Schwächung oder Auslöschung der Wellen und in der Biologie versteht man unter Interferenzialität die Beeinflussung eines biologischen Vorgangs durch einen anderen.19 Eine Schlüsselposition kommt dabei ontologisch der neurophysiologisch begründeten Theorie der Emotionen, Gefühle und des Geistes bei Damasio zu, der die Begriffe „interaktive Wahrnehmungen“ und „Verschachtelungen“ ins Spiel bringt20, sowie der vom selben theoretischen Ausgangspunkt ausgehenden Konzeption der menschlichen Identität, die auf einem interferenziellen autobiographischen Gedächtnis beruht.21 Ein ausgesprochen interferenzielles Phänomen stellt auch die synästhetische Wahrnehmung dar.22 Dabei handelt es sich um Erscheinungen, bei denen es zur Vermischung der Sinne in einer cross-modal-perception kommt.23 Hier greift man, ob nun im Bereich der echten oder der metaphorischen Synästhesie, auf synonyme Begriffe wie Kooperation, Kollision, Interferenz, wechselseitige Stützung oder Parallelaktion der Sinneseindrücke zurück. Lawrence E. Marks und Robert D. Melara beschreiben das synästhetische Phänomen als intermodale Analogie, die auf der Wahrnehmungsintermodalität basiert.24 Intermodale Analogien zwischen verschiedenen Arten der Wahrnehmung sind interferenziell – es kommt dabei zu gegenseitigen Überlagerungen und Überschneidungen unterschiedlicher modaler Formen der Sinneswahrnehmung. 19 Friedemann Bedürftig: Das moderne Fremdwörterlexikon, Köln: Naumann& Göbel 2005, S. 245. 20 Antonio R. Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin: List Taschenbuch 2005, S. 110. 21 Hans Joachim Markowitsch/Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart: Klett Cotta 2005, S. 259–261. 22 Hans Adler/Ulrike Zeuch: „Vorwort“, in: Synästhesie: Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, Würzburg: Königshausen&Neumann 2002, S. 1–3, hier S. 1. 23 Lawrence Marks: „On colored-hearing synaesthesia: implications for the processing of speach and faces“, in: Simon Baron-Cohen/John E. Harrisson (Hg.), Synaesthesia. Classic and Contemporary Readings, Oxford: Blackwell 1997, S. 49–98. 24 Vgl. Sabine Gross: „Literatur und Synästhesie: Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung, Sprache und Poetizität“, in: Hans Adler/Ulrike Zeuch (Hg.), Synästhesie: Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, Würzburg: Königshausen&Neumann 2002, S. 71.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma Hinderk M. Emrich betonte den unbestreitbaren Zusammenhang neurophysiologischer, neuropsychologischer und philosophischer Aspekte der Synästhesie und bezeichnete sie als spezielle Lebensform: „Synästhesie als Lebensform bedeutet, dass man den Gegenständen (und sich selbst) eine neue Vielschichtigkeit, Uneindeutigkeit, Komplexität und einen neuen Bedeutungsgehalt zumisst.“25 Damit überbrückte er den kognitiven Graben zwischen dem biologischen und dem kulturanthropologischen Denken. Die neurophysiologische und synästhetische Theorie geben dem Denken über kulturelle interferenzielle Prozesse eine ontologische Grundlage, die sich auf die Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmung und die Entstehung der menschlichen Identität stützt. Sie zeigen, dass die menschliche Wahrnehmung, die Emotionen, Gefühle und Geist verbindet, sowie die Entstehung der menschlichen Identität auf Grundlage des autobiographischen Gedächtnisses im Grunde genommen interferenzielle Vorgänge sind. In der Kulturwissenschaft wird der Begriff der Interferenzialität diffus verwendet. In der Philosophie gebraucht man eine Reihe synonymer oder sehr ähnlicher Begriffe. Leibniz verwendete in der Philosophie den Begriff der „Monade“ im Zusammenhang mit der Vorstellung des zweistöckigen barocken Hauses, in dem es zwischen dem ersten und zweiten Stock Öffnungen gibt26, die als Durchlässe einen ausgesprochen interferenziellen Charakter aufweisen. In der Frühromantik verwendete Friedrich Schlegel den Begriff des „reflexiven Bewusstseins“27 und sein Schlüsselbegriff der romantischen Ironie lässt sich ebenfalls nur interferenziell deuten. Zu der Tradition interferenzieller Begriffe kehrt auch die interferenzielle Ästhetik des Erhabenen28 und der Natur zurück. Die interferenzielle Ästhetik „formuliert eine Position ästhetischer Differenz“29 und gerade diese Differenzen bilden die Felder interferenzieller ästhetischer Räume.
25 Hinderk M. Emrich/Udo Schneider/Monika Zedler (Hg.): Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen, Stuttgart, Leipzig: S. Hirzel Verlag 2002, S. 62. 26 Gilles Deleuze: Die Falte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 13. 27 BĜetislav Horyna: DČjiny rané romantiky. Fichte, Schlegel, Novalis, Praha: Vyšehrad 2005, S. 175. 28 Jean-François Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München: Wilhelm Fink Verlag 1994. 29 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 262.
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Peter Zajac In der Kunsttheorie verwendet man für die Verbindung figurativer Elemente und geometrischer Muster in prähistorischen Höhlenmalereien die Begriffe ikonische Vision und entoptisches Phänomen, die das gegenseitige Durchdringen ikonischer Visionen und starker emotionaler Erlebnisse betonen: Ein Bild geht in das nächste über und wird dadurch lebendiger. Die Menschen hören auf, ihre Visionen mit Hilfe von Vergleichen zu beschreiben und sind davon überzeugt, dass das, was sie sehen, Wirklichkeit ist. Sie hören auf, zwischen wörtlichen und analogen Bedeutungen zu unterscheiden. Trotzdem können in diesem im Grunde ikonischen Stadium entoptische Phänomene fortdauern: ikonische Figuren können auf den Hintergrund geometrischer Muster projiziert werden oder sie können von entoptischen Phänomenen umrahmt werden.30
Die Verwendung des Begriffs Interferenz hat überall dort Berechtigung, wo es um synoptische Parallelitäten, um Korrespondenzen und Koinzidenzen in Zeit und Raum geht. Dies gilt genauso für die Exegese der synoptischen Evangelien, wo wir sie unter dem Begriff concordia discors finden31, oder für die synästhetische Theorie der Metapher.32 Auch in der Theorie der Übersetzung lässt sich das Prinzip der nichtkongruenten Übereinstimmung zweifellos identifizieren, in der Sprachwissenschaft spricht man von der „Beeinflussung einer Sprache durch die andere“, doch ebenso findet man die Interferenzialität bei Jakobson im Begriff der „Transfonologie“33 oder in Zusammenhang mit makaronischen Durchdringungen verschiedener Sprachen und Bilingualismen.34 Der tschechische Philosoph Miroslav PetĢíĀek jr. geht noch einen Schritt weiter und formuliert eine neue Perspektive der Komparatistik, in deren Rahmen „nicht die Dinge an sich wichtig sind, sondern wichtig ist das Feld [...], weil erstens die Dinge nie isoliert entstehen, sondern immer in gegenseitigen Beziehungen – und
30 David Lewis-Williams: Mysl v jeskyni. VČdomí a pĤvod umČní, Praha: Academie 2007, S. 153. 31 P. Matejoviþ: Synoptici, S. 53. 32 S. Gross: Literatur und Synästhesie, S. 57–95. 33 Roman Jakobson: Semiotik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 172–175. 34 Rudolf Chmel: Literatúry v kontaktoch, Bratislava: VydavateĐstvo SAV 1972, S. 51. R. Chmel weist auch auf die strukturalistische Tradition des Begriffes Interferenz bei J. MukaĜovský und bei M. Bakoš hin. In: Jan MukaĜovský: „Estetická norma“, in: Ders., Studie z estetiky, Praha: Odeon 1966, S. 75ff. sowie Miroslav Bakoš: „O vzĢahoch slovenskej a maćarskej literatúry“, in: Matiþné þítanie 1970, Nr. 1, S. 4.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma weil zweitens die Dinge in gewisser Weise nicht vom Feld zu trennen sind, in dem sie sich ‚ereignen‘.“35 Die Perspektive der Komparatistik morphogenetischer Felder, die auf der gegenseitigen Bezugnahme zwischen Gegenständen und Feldern beruht, hat eindeutig interferenziellen Charakter. Es ist auch kein Zufall, dass PetĢíĀek Intertextualität und Intermedialität als Grundlagen einer neuen Komparatistik versteht, die zweifellos interferenzieller Natur sind, auch wenn der Begriff selbst weder in der Intertextualitätstheorie noch in der Intermedialitätstheorie auftaucht. Dabei ist ohne Interferenzialität weder Intertextualität noch Intermedialität denkbar.36 Es ist seltsam, aber zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen der Begriff Interferenzialität oder ähnliche Begriffe verwendet werden, scheint es keinerlei Zusammenhänge zu geben. Damasios’ Theorie der Wahrnehmung, Walzers und Markowitschs Theorie des autobiographischen Gedächtnisses, Cytowic’ Theorie der Synästhesie und Williams Theorie der entoptischen Phänomene, die sich alle auf neurophysiologische Befunde stützen und auf Interferenzen der Emotionen, Gefühle und des Geistes basieren, korrespondieren überhaupt nicht miteinander. Und dies gilt auch für Interferenzen in den Kognitionswissenschaften, in der Kulturwissenschaft, in der Philosophie, in der Ästhetik, der Kunsttheorie, Literaturtheorie, Komparatistik und in der Sprachwissenschaft. Dies liegt in der bereits angesprochenen Uneindeutigkeit des Begriffes Interferenzialität und der starken Dissipation einzelner Aspekte und Modalitäten interferenzieller Prozesse begründet, wie interaktive Wahrnehmungen und Verschachtelung, cross-modal perception, wechselseitige Stützung oder Parallelaktion der Sinneseindrücke, intermodale Analogie, Wahrnehmungsintermodalität, entoptische Phänomene, Vermischung der Sinne, Monade, morphische Resonanz, parallele Kontemplation, reflexives Bewusstsein. Das alles führt zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Verwendung des Begriffs der Interferenzialität. Dabei weisen die interferenziellen Prozesse in allen Bereichen einige grundle-
35 Miroslav PetĜíþek jr.: „Komparation als Art des Denkens“, in: Veronika Brouþková/Veronika Martinek–Faktorová/David Jakub a Skalický (Hg.), Dialog mezi filozofii a literaturou, ýeské BudČjovice: Nakladatelství Tomáš Halama 2006, S. 27–34, hier S. 28. 36 P. Zajac: Musical, Song, lyrischer Minimalismus, S. 361.
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Peter Zajac gende Eigenschaften auf, anhand derer wir den Begriff Interferenzialität präzisieren können: a) Es geht immer um die Überschneidung zweier oder mehrerer Prozesse in einem Schwellenraum mit unterschiedlichem Übergangspotenzial. b) Interferenzielle Prozesse sind nicht dichotom oder binär im Sinne eines entweder-oder organisiert, sondern modal, sie sind stark differenziert und an der Achse des sowohl-als-auch durch eine Vielzahl gleitender Übergänge verbunden, wobei sie eine breite Skala feiner Unterschiede bilden. c) Im Zusammenhang mit interferenziellen Prozessen, und dies gilt in erhöhtem Maße für räumliche Interferenzen, ist die Skala der interferenziellen Bezüge besonders breit. d) Die bipolaren Endpunkte des gesamten Feldes der Interferenzen bedeuten auf der einen Seite die gänzliche Isolation von modalen Prozessen, auf der anderen deren völliges Verschmelzen. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich die ganze Übergangsskala intermodaler Bezüge, angefangen von parallelen Bewegungen und Korrespondenzen über Berührungen hin zu gegenseitigen Überlagerungen, Überlappungen und Überschneidungen bis zu gänzlichen Überdeckungen.
5. Die Skala der räumlichen Interferenzen ist breit und nuancenreich. Ihre Spanne auf einer Achse von weichen hin zu harten Interferenzen umfasst unterschwellige, von außen nicht wahrnehmbare Berührungen, Schwellen der Berührung, gegenseitiges Berühren, Überschreitungen, Überlagerungen, Vermischungen, Loslösungen, Verschmelzungen, aber auch Überlappungen, Überschichtungen, Verschränkungen, Verzahnungen, Durchdringungen. In diesem Zusammenhang muss man sich jedoch der Tatsache bewusst sein, dass konkurrierende und kooperierende Räume, die sich in interferenziellen Prozessen in einem dynamischen, elastischen Gleichgewicht befinden, auch in den Zustand einer unbeweglichen Null-Interferenz gelangen können. In dieser Situation können sich einzelne Räume zwar gegenseitig tolerieren, im Inneren eines Raums oder zwischen einzelnen Räumen entstehen jedoch keine Orte der Schwellenberührungen oder Übergänge, sondern die Toleranz wird zur Gleichgültigkeit, die Räume bilden geschlossene, von einander isolierte Nischen.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma Nicht selten sind diese Situationen der Null-Interferenz eine Vorstufe negativer, konfliktgeladener Situationen. Die modale Skalierung wird zur binären Opposition, die Übergangsschwellen zu unüberschreitbaren Grenzen, an denen es zu Kollisionen und Konfrontationen kommt, in exzessiven Fällen zu Zusammenstößen und zu einem abrupten, penetranten Übergang von einem Raum in den anderen, dessen Ziel die gewaltsame Homogenisierung des Raumes ist. Gerade als Raum der Gewalt thematisieren und lokalisieren den mitteleuropäischen Raum an den Orten seiner Knotenpunkte auf den Karten des Ersten Weltkriegs Jaroslav Hašek in seinen Abenteuern des braven Soldaten Schwejk und Karl Kraus in den Letzten Tagen der Menschheit. Die interferenziellen Situationen sind produktiv, da nichtinterferenzielle Situationen immer die Tendenz haben, in eine destruktive Form umzuschlagen. In diesem Sinne betrachten wir die Paradigmatik des mitteleuropäischen Raumes nicht nur als deskriptive Kategorie, sondern auch als Wertkategorie. Die Interferenzialität des mitteleuropäischen Raumes ist deswegen nicht nur topographisch zu sehen, sondern auch topologisch. Sie ist es, die den wesentlichen Wert der mitteleuropäischen kulturellen Identität und des kulturellen Gedächtnisses ausmacht.
6. Das Paradigma des mitteleuropäischen Raumes besteht auch in einer Vernetzung räumlicher und zeitlicher Interferenzen. Für die Identität des kulturellen Gedächtnisses des mitteleuropäischen Raumes sind Interferenzen zwischen einzelnen Räumen und zwischen einzelnen Zeitschichten kennzeichnend. Eine große Rolle bei der Bildung des kulturellen Gedächtnisses spielen jedoch auch die Interferenzen zwischen Zeit und Raum, die wir als Verräumlichung der Zeit und als Verzeitlichung des Raums bezeichnet haben. Gerade sie bilden das mitteleuropäische kulturelle Chronotop. Bei der Interferenz vielgestaltiger räumlicher Konfigurationen, ihren horizontalen Brüchen und vertikalen Verschiebungen in der Zeit, können die „älteren Etagen auf die neueren gelangen, sich mit ihnen vermischen, sich ‚aktualisieren‘, und ebenso können plötzlich die allerjüngsten Schichten – vorübergehend oder für
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Peter Zajac immer – in die tiefen Schluchten der Urgebirge fallen, sie können sich ‚archaisieren‘“.37 Den topologischen Kern des mitteleuropäischen kulturellen Gedächtnisses bildet jedoch die Interferenz zwischen den Topographien der äußeren und inneren Orte des Gedächtnisses. Diese Orte bilden die Räume der mitteleuropäischen Imagination und lassen eine doppelte Karte äußerer und innerer Landschaften entstehen. Der slowakische Prosaiker Pavel Vilikovský beschreibt in seiner Erzählung Alles was ich über das Mitteleuropäertum weiß38 die Topographie einer Reise von Bratislava nach Olmütz, wo der Erzähler bei dem Schönheitswettbewerb Miss Volksdemokratie in der Jury sitzen soll. Gleichzeitig verfolgt der Leser die Topographie eines imaginativen Treffens mit Albert Camus. Hier interferieren an einem Ort zwei Zeiten – die Zeit des Erzählers der 1960er Jahre und die Zeit Camus’ des Jahres 1937, in dem er sich in Olmütz aufhielt und in seinem Tagebuch festhielt: „Weiche, gemächliche Felder Mährens. Saure Pflaumen und beeindruckende Fernsicht.“39 Die Erzählung ist gleichzeitig eine Interferenz zweier Orte und zweier verschiedener Zeiten – Vilikovskýs Stadt Olmütz und Camus Stadt in dem Roman Die Pest. Den Kern der Erzählung bildet jedoch eine Interferenz der äußeren Welt der Stadt Olmütz und der inneren Welt des Erzählers, wie sie in der Erzählung Vilikovskýs als „Camus’ Vermächtnis an Olmütz; oder vielleicht Olmütz’ Vermächtnis an Camus…“40 in Form eines Zitats aus Camus’ Roman Die Pest vergegenwärtigt wird: Gewiss erscheint es einem heute nur natürlich, wenn die Leute von morgens bis abends arbeiten und dann die Zeit, die ihnen zum Leben bleibt, beim Kartenspiel, im Caféhaus und mit Geschwätz vertun. Aber es gibt doch Länder und Städte, wo die Menschen von Zeit zu Zeit eine Ahnung von etwas anderem haben. Gewöhnlich ändert sich ihr Leben deswegen nicht. Nur hat sie die Ahnung wenigstens einmal gestreift, und damit ist schon etwas gewonnen.41 37 Oskár ýepan: „Ešte jeden antidialóg“, in: Oskár ýepan, Literárne bagately, Bratislava: Tatran 1971, S. 129. 38 Pavel Vilikovský: „Všetko, þo viem o stredoeurópanstve“, in: Prózy, Bratislava: Kalligram 2005, S. 191–197. 39 Albert Camus: Tagebücher 1935–1951, Erstes Heft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, S. 29. 40 P. Vilikovský: Všetko, þo viem o stredoeurópanstve, S. 197. 41 Albert Camus: Die Pest, Zürich: Coron 1967, S. 70.
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Interferenzialität als mitteleuropäisches Raumparadigma Das komplizierte Netz interferenzieller Orte des Gedächtnisses, das eine individuelle und kollektive Identität einzelner Räume hervorbringt, ist keine ausschließliche Eigenschaft des mitteleuropäischen Raums. Es ist kennzeichnend für alle Räume der Imagination. Für den mitteleuropäischen Raum hat es jedoch paradigmatische Gültigkeit.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? URS ALTERMATT Es gibt kein anderes europäisches Land, das in den Visionen und Fiktionen über ein vereinigtes Europa jahrzehnte-, ja jahrhundertelang eine derart prominente Vorbildfunktion eingenommen hat wie die Schweiz.1 Selbst im Mitteleuropa-Diskurs am Ende der kommunistischen Ära in Osteuropa spielte sie eine beispielhafte Rolle. Der ungarische Schriftsteller György Konrád kam 1985 in seinem Traum von Europa kurz auf die Schweiz zu sprechen. Für ihn war Mitteleuropa eine „kulturpolitische Antihypothese“, die durch „die blühende Vielfalt der Bestandteile“ und das „Selbstbewusstsein der Diversität“ gekennzeichnet sei. Und er fügte bei: „In unseren politischen Gesprächen erwähnten wir oft die Schweiz als Paradigma für ein würdiges Zusammenleben der Völker.“2 In einem ganz anderen Zusammenhang meinte drei Jahrzehnte früher der deutsche Schriftsteller Thomas Mann in Erinnerungen an sein USA-Exil während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland: „Wenn ich ‚Europa‘ dachte, so war es eigentlich immer die Schweiz, die ich im Sinne hatte: dies freie, kleine, aber nicht enge, sondern vielgestaltige und mehr-
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Dieser Beitrag fusst auf einem Vortrag, den ich am 9. November 2007 im Rahmen der 9. Internationalen Konferenz des Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“ in Wien gehalten habe. Mit dem Thema habe ich mich wiederholt beschäftigt. Siehe etwa: Urs Altermatt: „Die mehrsprachige Schweiz – Modell für Europa?“, in: Ders./Emil Brix (Hg.), Schweiz und Österreich. Eine Nachbarschaft in Mitteleuropa, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1995, S. 39–49; Ders.: „Plädoyer für die StaatsbürgerNation in einem multikulturellen Europa“, in: Ernst-Peter Brezovszky/ Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hg.), Multikulturalität und Multiethnizität in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Frankfurt a.M.: Lang 1999, S. 305–321. Ich danke David Luginbühl für die Unterstützung bei der Schlussredaktion dieses Textes. György Konrád: „Mein Traum von Europa“, in: Kursbuch 81 (Berlin 1985), S. 175–193, Zitate: S. 188–189 bzw. S. 186.
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Urs Altermatt sprachige, von europäischer Luft durchwehte und nach seiner Natur so grossartige Land […].“3 Wenn man die zahlreiche und häufig zitierte Literatur überblickt, die seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zur Thematik „Schweiz und Europa“ verfasst worden ist, fallen Topoi und Stereotypen auf, die sich fast wörtlich wiederholen. Der Zürcher Literatur- und Kulturwissenschaftler Michael Böhler spricht in seinen Erkundungen des topologischen Raumes Schweiz von der Schweiz als „Gegen-Europa“, als „Muster Europas in nuce“ und als „‚Herz‘ Europas“.4 In den letzten zweihundert Jahren findet man bei politischen Denkern eine Vielzahl von Zeugnissen, die die Schweiz als „paradigmatischen Fall politischer Integration“ bezeichnet haben.5 Je nach Zeit und Interessenlage drehte sich der Diskurs dabei um Demokratie und Republik, Föderalismus und Bundesstaat, Multikulturalität und friedliches Zusammenleben. Im Nachhinein zeigen die Schweiz-Diskurse meistens Defizite in den Verfassungen und Verfassungswirklichkeiten europäischer Staaten an. Anbetrachts der autoritären Monarchien stand im 19. Jahrhundert die republikanisch-demokratische Verfassung im Vordergrund, während im 20. Jahrhundert angesichts der mörderischen Kriege, Totalitarismen und Völkermorde das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und Völker ins Zentrum der Diskurse rückte. In der langen Epoche von 1815 bis 1989, die in Europa durch den Zerfall von Imperien und die Gründung von immer wieder neuen Nationalstaaten geprägt ist, ging die Schweiz einen Sonderweg und bildete für viele Europäer einen Ort der Stabilität, eine geographisch und räumlich identifizierbare Projektionsfläche für Sehnsüchte und Wünsche, gleichsam eine „Antithese“ zum jeweils realen Europa.6 Während in fast ganz Europa autoritäre 3
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Thomas Mann: „Radio-Interview“, in: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt a.M.: Fischer 1974 (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden 11), S. 527; zit. nach: Michael Böhler: „Topologische Spiegeleien – Schweizer Wechselspiele im Imaginären Europas“, in: Moritz Csáky/Johannes Feichtinger (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld: transcript 2007, S. 103–132, hier S. 120. M. Böhler, Topologische Spiegeleien. Ich danke Michael Böhler für die anregenden Gespräche während des Symposiums in Wien, 2007. So 1976 der aus Prag stammende amerikanische Politologe Karl W. Deutsch. Siehe Karl W. Deutsch: Die Schweiz als ein paradigmatischer Fall politischer Integration, Bern: Haupt 1976. Siehe dazu: Herbert Lüthy: Die Schweiz als Antithese, Zürich: Die Arche 1969.
Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? Monarchen herrschten, war die Schweiz wie die ebenfalls zum Vergleich herangezogenen Vereinigten Staaten von Amerika republikanisch; während die neu entstandenen Nationalstaaten in ihrer Grundstruktur den Zentralismus zum Programm machten, war die Eidgenossenschaft föderalistisch aufgebaut. Inmitten eines von Hegemonialmächten und Mächteallianzen beherrschten und von Kriegen und Konflikten aufgewühlten Kontinents konnte der alpenländische Kleinstaat die Neutralität bewahren und praktizierte aussenpolitische Passivität und Pazifität.7 Wobei vielfach vergessen wird, dass die sich modernisierende Schweiz bei den konservativen Machthabern der Heiligen Allianz seit 1830 als Hort revolutionärer Unruhe, in moderner Terminologie als Ursprungsland des politischen Terrorismus galt. Unter dem Applaus der europäischen Liberalen führte in der Schweiz die 48er Revolution zum vollen Erfolg. Dieser revolutionären Epoche der Schweizer Geschichte von 1798 bis 1848 verdankt das Wort „Putsch“ seine mediale Weltkarriere. Wer bringt heute dieses Wort mit dem Bild der friedlichen Eidgenossenschaft in Verbindung!8
Die politische Kohäsion des multikulturellen Nationalstaates als Attraktion Nach der Gründung des Bundesstaates von 1848 interessierten sich vorab Politiker aus Deutschland und dem Habsburger Reich für das Schweizer Modell.9 Der deutsche Historiker und Politiker Carl von Rotteck befürwortete in seinem 1848 erschienenen Staatslexikon die Föderalisierung der Habsburger Monarchie.10 Im selben Jahr bezeichnete der deutsche Publizist Julius Fröbel das
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Siehe dazu nochmals ebd.; sowie: Edgar Bonjour: Geschichte der Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Aussenpolitik, 9 Bde., Basel u.a: Helbing & Lichtenhahn 1965–1976. 8 Siehe zum Wort „Putsch“: Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache 4, Frauenfeld: Huber 1901, Sp. 1935–1941. 9 Siehe dazu u.a. die Beiträge in: U. Altermatt/E. Brix (Hg.): Schweiz und Österreich. Siehe auch das Kapitel „Die Schweiz als Modell der Nationalitätenpolitik“ in: Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 303–328. 10 Carl von Rotteck/Carl Welcker (Hg.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften 10, Altona 2: Hammerich 1848, S. 331.
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Urs Altermatt Habsburger Reich als „grosse monarchische Schweiz“.11 Ein halbes Jahrhundert später – 1902 – wies der sozialdemokratische Politiker Karl Renner in Wien allerdings darauf hin, dass die Schweiz mit ihren weitgehend geschlossenen Sprachgebieten kein geeignetes Vorbild für die zusammengewürfelte Gemengelage der Völker Ostmitteleuropas abgebe.12 Als sich die Donaumonarchie im Niedergang befand, schrieb der Staatsrechtler Friedrich Tezner, dass sich das Habsburger Reich eben bescheiden müsse, „eine Gross-Schweiz zu sein“.13 Damit brachte der Wiener einen Topos zur Sprache, der bis ans Ende des 20. Jahrhundert gelegentlich auftaucht: die Schweiz als Paradebeispiel für ein Land, das sich aus der Weltpolitik zurückgezogen hat und am Rande der Staatengemeinschaft in selbstgenügsamer Isolation friedlich vor sich hin dämmert.14 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im amputierten Österreich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Wort von der „Verschweizerung“ häufig eine negative Konnotation besass, indem es auf die verpönte Kleinstaaterei und auf den als anachronistisch empfundenen „Kantönligeist“ verwies. In Deutschland lassen sich dieselben Stereotype feststellen. So warnte etwa der alldeutsch-völkische Chemieprofessor Hans Freiherr von Liebig in einem 1928 erschienen Buch vor der „Verschweizerung des deutschen Volkes“.15 Oswald Spengler sah 1933 den Willen zur politischen Mitte als „greisenhafte[n] Wunsch nach Ruhe um jeden Preis, nach Verschweizerung der Nationen, nach geschichtlicher Abdankung, mit der man sich einbildet, den Schlägen der Geschichte entronnen zu sein.“16 Und ein Beispiel aus jüngster Zeit: In einer Rezension verschiedener Bücher zu Europas Rolle in 11 So Julius Fröbel in seiner 1848 erschienen Flugschrift „Wien, Deutschland und Europa“. Siehe T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, S. 305–306. 12 Karl Renner: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich. Erster Teil: Nation und Staat, Leipzig, Wien: Deuticke 1918, S. 73. Es handelt sich hier um die zweite, vollständig überarbeitete Auflage von: Ders.: Der Kampf der oesterreichischen Nationen um den Staat, Leipzig, Wien 1902. 13 Friedrich Tezner: Die Wandlungen der oesterreichisch-ungarischen Reichsidee. Ihr Inhalt und ihre politische Notwendigkeit, Wien: Manz 1905, S. 126. 14 Siehe dazu ausführlich: M. Böhler: Topologische Spiegeleien. 15 Hans Freiherr von Liebig: Die Verschweizerung des deutschen Volkes, Leipzig: Hammer Verlag 1928. 16 Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München: Beck 1933, S. 131.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? der Welt fragte der frühere Europa-Korrespondent für die Zeit in Brüssel, Joachim Fritz-Vannahme: „Droht Europa die Verschweizerung?“17 Am Ende des Ersten Weltkrieges 1918/19 brach das Habsburger Reich auseinander, und wie stets in Krisen- und Umbruchszeiten erlebte das Modell Schweiz im östlichen Mitteleuropa eine Renaissance. Führende Politiker der neu gegründeten Tschechoslowakei beriefen sich auf das helvetische Muster, ohne es in der praktischen Politik zu befolgen. 1922 meinte der tschechoslowakische Präsident Tomás G. Masaryk: Vielleicht könnte man eher vom belgischen Muster sprechen, weil Belgien ein einheitlicher Staat ist, während die Schweiz seit altersher in viele selbständige kleine Staaten zerfällt. Unser Staat – und speziell die böhmischen Länder – hat sich historisch einheitlich entwickelt und muss es daher bleiben. Über territoriale Autonomie kann und wird nicht verhandelt werden, das lässt auch die unvorteilhafte Konfiguration der Minoritäten nicht zu.18
Für Siebenbürgen wurde um die gleiche Zeit das Projekt einer „östlichen Schweiz“ entworfen, das auf ein Kantonalsystem entlang ethnisch geschlossener Siedlungsgebiete hinausgelaufen wäre.19 Wenn man sich die Schweiz-Diskurse vor Augen hält, erstaunt es nicht, dass auch das Ende des Sowjetimperiums 1989/90 dem Schweizer Modell in Osteuropa für kurze Zeit Attraktivität verlieh. In den Diskussionen um die neue Staatsordnung im ehemaligen Jugoslawien tauchte in den 1990er Jahren ebenfalls der Schweiz-Topos auf. In Bosnien-Herzegowina wurden sogar so genannte „Kantone“ eingeführt.20 Parallel zu diesen den föderalistischen und plurikulturellen Charakter der Eidgenossenschaft hervorhebenden Zitaten für ein-
17 Joachim Fritz-Vannahme: „Gegengifte zur Verschweizerung. Neue Bücher über Europas Rolle in der Welt“, in: Internationale Politik (April 2008), S. 132–136, hier S. 132. Siehe dazu auch: Martin A. Senn: „Eine riesige Schweiz“, in: NZZ am Sonntag (25. Mai 2008). 18 Aus der Neujahrsrede von Tomás G. Masaryk im Jahre 1922, auf Deutsch abgedruckt im Prager Tagblatt vom 3. Januar 1922, zit. nach: T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, S. 317–318. 19 Siehe dazu: Judit Garamvölgyi: „Die Schweiz und Mitteleuropa. Vexierbilder und Verknüpfungen“, in: U. Altermatt/E. Brix (Hg.), Schweiz und Österreich, S. 111–119, hier S. 114. 20 Da ich 1997 eine Gastprofessur an der Universität Sarajevo innehatte, erinnere ich mich gut an diese Debatten.
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Urs Altermatt zelne Staatswesen besass die Schweiz auch Vorbildcharakter für die Vorstellungen von einem vereinigten Europa. Ein bekanntes Beispiel stammt von Richard Coudenhove-Kalergi, der 1958 pathetisch schrieb: Im nationalistischen Europa ist die Schweiz eine Wunderwelt. Existierte sie nicht, so würde sie niemand für möglich halten. […] In Wahrheit ist die Schweiz das Gegenbild des nationalistischen Europa. Sie zeigt den anderen Völkern, was Europa sein könnte, wenn es wollte.21
Im Zusammenhang mit der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft 1991 publizierte der deutsche Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Neuen Zürcher Zeitung einen langen Artikel, in dem er auf die Vorbildsrolle der Schweiz für das multikulturelle Europa hinwies. Die Schweiz habe es verstanden, „ethnisch-kulturelle Pluralität, d.h. das Bestehen und die Entfaltung mehrer Kulturnationen, mit der Errichtung und dem Fortbestand nationaler politischer Einheit zu verbinden“.22 Diesen Belegen könnte man viele weitere Zitate anfügen. Umso mehr irritierten die internationale Öffentlichkeit im letzten Drittel des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts schweizerische Volksabstimmungen zu Ausländer-, Migrations- und Europafragen und die Wahlerfolge nationalkonservativer und rechtspopulistischer Parteien.23 Die wohlhabende Schweiz ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Anziehungspunkt für Migranten aus Europa und später aus aller Welt geworden, ein Phänomen, das das Selbstbewusstsein der Eidgenossen immer wieder durcheinander gebracht hat und Angst- und Abwehrpsychosen aufkommen lässt. Trotz dieser Krisen blieb bisher die nationalstaatliche Kohäsion der Schweiz erhalten, was in der Diskussion über das eben21 Richard Coudenhove-Kalergi: Eine Idee erobert Europa. Meine Lebenserinnerungen, Wien, München, Basel: Desch 1958, S. 187. 22 Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Schweiz – Vorbild für Europa?“, in: Neue Zürcher Zeitung, (14./15. Dezember 1991). 23 Siehe dazu schon in den 1970er Jahren: Urs Altermatt: „Xenophobie und Superpatriotismus. Die populistische Anti-Überfremdungsbewegung in der Schweiz der sechziger und siebziger Jahre“, in: Faschismus in Österreich und international. Jahrbuch für Zeitgeschichte 1980/81, hg. von der Österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte (Wien 1982), S. 167–193. Eine neue Studie unter anderen erscheint demnächst: Damir Skenderovic: The Radical Right in Switzerland. Continuity and Change, 1945–2000 (in Vorbereitung).
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? falls multikulturelle Europa zur Frage führt: Gibt es Regeln, die das Integrationsmodell des multikulturellen Nationalstaates Schweiz erklären?
Mechanismen der politischen Integration Bei meinen Ausführungen gehe ich von der Voraussetzung aus, dass die internationale Weltordnung in Staaten und nicht in Völker eingeteilt ist. Der Staat besitzt die Souveränität über ein bestimmtes, genau begrenztes Territorium und bringt in diesem Raum politische Macht und Gesellschaft zur Deckung. Der Zugang zum Staatsterritorium, das heisst die Eintrittsregeln zu den Bürgerrechten, zum Arbeitsmarkt und zur sozialen Wohlfahrt, regelt die Staatsbürgerschaft.24 Das Selbstverständnis als „Willensnation“: Seit 1848 versteht sich die moderne Schweiz in ihren offiziellen Dokumenten – um die Terminologie von Friedrich Meinecke aus dem Jahre 1907 zu verwenden – als „Staats-“ und nicht als „Kulturnation“.25 Ähnlich wie die Franzosen begreifen die Schweizer ihr Land als politisches Gemeinwesen von Bürgern, die vor dem Recht gleich sind, unabhängig von sozialer Stellung, Abstammung, Sprache oder Religion.26 Im Falle der Schweiz konnte sich die nationale Identität am bereits vorhandenen Staat formen und bildete ein voluntaristisches Nationalverständnis heraus, das die Geschichte und den Willen zur politischen Gemeinschaft in den Vordergrund stellt, weshalb sich in der schweizerischen Literatur immer wieder der Begriff „Willensnation“ findet.27 Demgegenüber bevorzugten ostmitteleuropäischen Staatsdenker in ihrer Terminologie in Be-
24 Siehe dazu ausführlich: Urs Altermatt: Das Fanal von Sarajevo. Ethnonationalismus in Europa, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1996; anregend: Rogers Brubaker: Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg: Junius 1994. 25 Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, München 9: Oldenbourg 1969. 26 Siehe dazu: U. Altermatt: Das Fanal von Sarajevo, S. 23–93. 27 Siehe neuerdings: Paul Widmer: Die Schweiz als Sonderfall. Grundlagen – Geschichte – Gestaltung, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007.
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Urs Altermatt zug auf die Schweiz meistens den Ausdruck „Nationalitätenstaat“.28 Die „stabilitas loci“ des Territorialstaats: Neuere Forschungsperspektiven, die den Raum als Ort von vielschichtigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Produktions- und Transferprozessen in den Fokus nehmen, gehen häufig von der These aus, dass sich die Identitäten der Menschen in plurikulturellen Kontexten „entterritorialisieren“.29 Diese Entterritorialisierungsthese bestätigt das Modell Schweiz weder in seiner Aussen- noch in der Innenwahrnehmung. In den Schweiz-Diskursen nehmen räumlich-territoriale Vorstellungen eine zentrale Stellung im Staatsverständnis ein. In Anlehnung an Aleida Assmanns Beitrag kann man sagen: Die Geschichte nimmt in der Schweiz im eigentlichen Sinne Platz: „History takes place“.30 In europäischer Langzeitperspektive gilt die Schweiz gerade wegen ihrer stabilen Aussengrenzen als Paradebeispiel von Frieden, Wohlstand und Sicherheit. Politische Denker gingen immer wieder davon aus, dass es der Eidgenossenschaft trotz ihrer Plurikulturalität, trotz der unterschiedlichen Kulturen, Sprach- und Religionsgemeinschaften gelang, die Bürger mit Erfolg räumlich zu integrieren und die nationale „Einheit in der Vielfalt“ territorial-staatlich zu verwirklichen.31 Die Gründe für diese im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts fast einzigartige territoriale Stabilität eines Staatswesens 28 So etwa der siebenbürgische Rumäne Aurel C. Popovici 1906: „Ich weiss, dass das Exempel der Schweiz schon längst banal geworden ist, nichtsdestoweniger bleibt dieser Nationalitätenstaat für das Habsburgerreich nicht nur ein lehrreiches staatsrechtliches Vorbild, sondern überhaupt das einzig mögliche Vorbild.“ Aurel C. Popovici: Die Vereinigten Staaten von Gross-Österreich, Leipzig 1906, S. 232, zit. nach: T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, S. 310. Siehe weitere Beispiele in: U. Altermatt/E. Brix (Hg.): Schweiz und Österreich. 29 Siehe zu dieser Perspektive u.a.: Christoph Conrad: „Vorbemerkung“, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 339–342; Maria Todorova: „Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit“, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), S. 470–492; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 284–304; Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München: Fischer 1999, S. 9–19. 30 Siehe den einleitenden Beitrag von Aleida Assmann in diesem Band. 31 Siehe als Beispiel: E.-W. Böckenförde: Die Schweiz – Vorbild für Europa?
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? sind zahlreich. Die europäische Gleichgewichtspolitik ermöglichte seit dem Wiener Friedenskongress 1815 die aussenpolitische Neutralität, um die für die Grossmächte geostrategisch wichtigen Alpenpässe zu neutralisieren.32 Für die internationale Anerkennung ihrer aussenpolitischen Maxime der Neutralität durch die europäischen Grossmächte war die damalige strategische Lage in den geopolitischen Kraftfeldern Europas ausschlaggebend. Die Schweiz, die die zentralen Alpenpässe für den Nord-Südverkehr kontrollierte, sollte durch die Neutralität von den internationalen Konflikten ferngehalten werden. Diesen gesamteuropäischen Interessen verdankt die Eidgenossenschaft neben anderen Faktoren, dass sich ihre äusseren Landesgrenzen seit der Friedensordnung von 1815 nicht mehr verändert haben. In Europa blieben nur noch die Grenzen zwischen Spanien und Portugal unverändert. Ansonsten haben sich in den letzten beiden Jahrhunderten die Grenzen überall, selbst im Vereinigten Königreich und in Skandinavien, verschoben. Dies ist ein bemerkenswertes Faktum, das die Schweiz als europäischen Sonderfall ausweist. Dazu gehörte eine Portion kluger Selbstbeschränkung des Kleinstaates selbst. Nach dem Ersten Weltkrieg verzichteten die Schweizer auf das angrenzende alemannische Vorarlberg, das sich der Eidgenossenschaft in einer Weg-von-Österreich-Bewegung anschliessen wollte.33 Letztlich war es – so meine These – diese uneuropäische „stabilitas loci“ der räumlich-territorialen Grenzen, die die Schweiz im sich durch Kriege, Annexionen und Reduktionen ständig verändernden Europa zum Paradigma von Frieden und Sicherheit machte und später in der europäischen Geschichte zum Fluchtpunkt von Kapital und Banken heranwachsen liess. Alpenfestung, Barriere und Pass zugleich: In den Stereotypen, die Schweizer und Europäer seit der Renaissancezeit zur Schweiz
32 Siehe E. Bonjour: Geschichte schweizerischen Neutralität; Alois Riklin/ Hans Haug/Raymond Probst (Hg.): Neues Handbuch der schweizerischen Aussenpolitik, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1992; Georg Kreis: Kleine Neutralitätsgeschichte der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz seit 1943, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 2004. 33 Siehe Daniel Witzig: Die Vorarlberger Frage. Die Vorarlberger Anschlussbewegung an die Schweiz, territorialer Verzicht und territoriale Ansprüche vor dem Hintergrund der Neugestaltung Mitteleuropas, 1918–1922, Basel, Stuttgart: Helbing & Lichtenhahn 1974.
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Urs Altermatt konstruierten, tauchten oft Naturbilder aus dem geographischen Raum der Alpen und Berge auf.34 Vorab im 18. Jahrhundert formte sich das Bild von der Schweiz als Land der Freiheit, bewohnt von freiheitsliebenden Bergbewohnern, die im Gegensatz zum umliegenden monarchischen Europa republikanisch-demokratische Staats- und Gesellschaftsordnungen besitzen würden. Dabei symbolisierten die Alpen nicht nur geographisch, sondern auch historisch die Eidgenossenschaft. Historisch, indem die populäre Gründungsgeschichte mit Wilhelm Tell, dem Rütlischwur und dem Aufstand gegen die Habsburger die alpine Innerschweiz zum Ursprung der Eidgenossenschaft erklärte; geographisch, indem das Nationalbewusstsein den Alpenraum und vor allem den Gotthard als Mitte und Klammer des Staatsgebietes betrachtete. Im neuen Bundesstaat nach 1848 führten die konfessionellen und sprachlichen Konflikte zu einer Besinnung auf die integrative Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte in der Urschweiz und auf die gemeinsame Alpenlandschaft um den Gotthard.35 Trotz seiner Modernität brauchten die Eliten des neuen Bundesstaates diese alteidgenössischen Geschichtsbilder, die in der Innerschweizer Gründungssage von 1291/1307 kulminierten.36 Da die moderne Industriegesellschaft ohne das Hirtenvolk in den Alpen auskam, traten die geographischen Elemente im schweizerischen Identitätsbewusstsein im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stärker hervor. Zum Symbol der modernen Schweiz wurde der Gotthard als Pass und Alpenfestung, seit 1882 auch als imposantes und hypermodernes Tunnelwerk. Der Gotthard wurde sozusagen zum Heiligen Berg der nationalen Integration erhoben, zum Ort der Mitte, wo die verschiedenen Kulturen und Sprachräume, symbolisiert in den Flüssen Rhein, Rhone, Reuss und Ticino, zusammenkommen. In der „Geistigen Landesverteidigung“ der 1930er Jahre wurden die Alpen Widerstandsymbol gegen die 34 Siehe dazu nochmals: M. Böhler: Topologische Spiegeleien. 35 Siehe dazu u.a.: Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel: Schwabe 2006, insb. S. 429–479; Georg Kreis: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes, Zürich: Orell Füssli 2004; Oliver Zimmer: A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761–1891, Cambridge: Cambridge Univers. Press 2003. Siehe auch: Urs Altermatt: „Der Alpenraum und die Schweiz“, in: Unser Alpenkorps, hg. vom Gebirgsarmeekorps 3, Zug 1983, S. 15–49. 36 Siehe dazu u.a.: Urs Altermatt: „Das Bundesjubiläum 1891, das Wallis und die katholische Schweiz“, in: Blätter aus der Walliser Geschichte, 21 (1989), 89–106.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? Gefahren des Totalitarismus nationalsozialistischer, faschistischer oder bolschewistischer Observanz, zum Bollwerk schweizerischer Freiheit und Unabhängigkeit.37 Diese Tatsache wird in der Regel zu wenig beachtet. In den Schulbüchern und Festreden wird die „Willensnation“ mit der gemeinsamen Geschichte beschworen und gerne die Geschichtsmächtigkeit der Geographie vergessen. Wie Jean-François Bergier betont, sind die Alpen Pass und Barriere zugleich: Sie sondern einerseits von der Umwelt ab, öffnen sich aber zur Welt. Diese Widersprüchlichkeit gibt dem Alpenraum und damit der ganzen Schweiz ein Doppelgesicht und prägt die Politik des Landes bis heute.38
Der Föderalismus als Paradestück Alle diese Regeln würden im Endeffekt nicht genügen, um die vielfältige Schweiz zusammenzuhalten, wenn der Staat nicht nach dem Prinzip des Föderalismus und der Subsidiarität aufgebaut wäre. Der Föderalismus ist die eigentliche Kraft, die das Land zusammenhält. Die Kantone erlauben es, Konflikte auf einer tieferen politischen Ebene auszutragen und sie auf diese Weise zu entschärfen.39 Das Wort Föderalismus besitzt in der Schweiz und in den USA nicht dieselben Bedeutungen. Im politischen Denken der Amerikaner bezeichnet Föderalismus das Verbindende und den Zusammenschluss der Einzelstaaten. Demgegenüber geht es im schweizerischen Wortgebrauch in erster Linie um die Eigenstän37 Siehe Josef Mooser: „Die ,Geistige Landesverteidigung‘ in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit“, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 47 (1997), S. 685–708; Kurt Imhof: „Wiedergeburt der geistigen Landesverteidigung: Kalter Krieg in der Schweiz“, in: Ders./Heinz Kleger/Gaetano Romano (Hg.), Konkordanz und Kalter Krieg. Analyse von Medienereignissen in der Schweiz der Zwischen- und Nachkriegszeit, Zürich: Seismo-Verl. 1996, S. 173–248. 38 Siehe Jean-François Bergier: Die Schweiz in Europa, Zürich, München: Pendo Verlag 1998; Ders.: Pour une histoire des Alpes, Moyen Âge et Temps modernes, Aldershot u.a.: Schwabe 1997; Ders.: Wilhelm Tell. Realität und Mythos, München, Leipzig: List 1990. 39 Siehe dazu u.a.: Leonhard Neidhart: Die politische Schweiz. Fundamente und Institutionen, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2002; Wolf Linder: Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern, Stuttgart, Wien: Haupt 1999.
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Urs Altermatt digkeit der einzelnen Kantone. Föderalismus bedeutet hier etwas Defensives. Dieser wichtige Unterschied hängt damit zusammen, dass die Föderalismus-Konzeption in der Schweiz nicht auf eine systematische politische Theorie aufbaut; sie knüpft vielmehr an das in der Eidgenossenschaft historisch Gewachsene an. Der politische Diskurs blieb in der Schweiz – wie es der Historiker Herbert Lüthy formuliert hat – „ein Denken gegen den Staat“.40 Daher lief der föderalistische Geist in der Schweiz immer wieder Gefahr, Zersplitterung und Widerstand gegen den Bund anzustacheln. Die politische Sensibilität der meisten Schweizer blieb kantonal verankert. Die kantonalen Archive nennen sich noch heute „Staatsarchive“. Nur dank föderalistischer Ordnungsprinzipien war die Schweiz in der Lage, die kulturelle und gesellschaftliche Vielgestaltigkeit zu überwinden und zu einem gesamtstaatlichen Willen umzuformen. Wo sich das wirtschaftliche Entwicklungsgefälle mit soziokulturellen Unterschieden verbindet, besteht wie in Belgien und Kanada die Gefahr, dass sich die Unterschiede verstärken. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass ethnische und kulturelle, sprachliche und konfessionelle Gruppierungen durchaus zur Zusammenarbeit in einem Bundesstaat bereit sind, wenn sie mit Hilfe eines föderalistischen Staatsaufbaus ihre Eigenarten und Autonomie im Gesamtstaat bewahren können. Föderalismus schützt die Eigenständigkeit und ermöglicht damit erst die Bildung eines Gesamtstaates. Den Schweizer Kantonen obliegt in der Regel der Vollzug der Bundesgesetze mit ihrem eigenen Verwaltungsapparat. In diesem Punkt unterscheidet sich der Schweizer Föderalismus grundsätzlich vom amerikanischen. Die Schweiz überlässt die Durchführung der Bundeserlasse den Kantonen, während in den USA Bundesgesetze durch bundeseigene Organe ausgeführt werden, die in den gesamten USA über eine eigene Bundesbürokratie verfügen. Darüber hinaus besitzen die Schweizer Kantone weitgehende Mitwirkungsrechte an der Bundesgewalt. Das schweizerische Regierungssystem enthält eine Vielzahl föderalistischer Regeln, die den Einfluss der Kantone sichern. Das Nationalratswahlrecht, die Regeln und Usanzen bei der Wahl der Bundesregierung, die Vor40 Herbert Lüthy: „Vom Geist und Ungeist des Föderalismus, 1964“, in: Ders., Gesammelte Werke. Essays II 1963–1990, hg. von Irene Riesen und Urs Bitterli, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2004, S. 82–102, hier S. 86.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? schriften bei den eidgenössischen Volksabstimmungen wie zum Beispiel das Kantonsmehr, die Gleichstellung der Zweiten Kammer im parlamentarischen Betrieb, das Anhörungsrecht der Kantone und so weiter stellen derartige Mechanismen dar. Die moderne Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte dazu, dass der Föderalismus in eine Krise geriet. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren identifizierte man Fortschritt mit Vereinheitlichung. In dem Masse, in dem sich die Staatstätigkeit auf Politikfelder wie Bildungs-, Sozial- und Umweltschutzpolitik ausdehnte, geriet der Bundesstaat unter unitarisch-zentralistischen Druck. Immer mehr Entscheide verlagerten sich auf die Zentrale.
Am Ursprung der Religionsfrieden Ähnlich wie in den USA haben die Koexistenzmechanismen in der plurikulturellen Schweiz ihren Ursprung in den Regelungen für die Aufrechterhaltung des Religionsfriedens. Im konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts wurden Modelle entwickelt, die verschiedenen (wohlverstanden: nicht allen) Kirchenund Bekenntnisgemeinschaften das Nebeneinanderleben ermöglichten. Die alteidgenössischen Landfriedensordnungen, die auf die konfessionellen Bürgerkriege von 1529, 1531, 1656 und 1712 folgten, gingen davon aus, dass die beiden grossen christlichen Konfessionsgemeinschaften grundsätzlich eine Existenzberechtigung besassen, sich aber auf dem gesamten Territorium nicht frei ausbreiten durften. Mit der räumlich-territorialen Formel „cuius regio eius religio“ schützten sie die offiziell anerkannte Konfessionsgemeinschaften vor dem Übergriff der andern und möglicherweise mächtigeren Gemeinschaft und gewährleisteten die religiös-kulturelle Identität und Homogenität in genau bezeichneten geographischen Lebensräumen. Diese Formel war eine für das konfessionelle Zeitalter pragmatische Lösung, um Bürgerkriege einzudämmen, die das politische Gemeinwesen auf die Dauer zerstört hätten.41 41 Siehe u.a.: Hans Conrad Peyer: Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich: Schulthess 1978. Siehe zu Konfessionskultur und Konfessionskonflikten in der Schweiz der frühen Neuzeit neuerdings die Beiträge von Thomas Maissen, Philip Benedict, Ulrich Pfister, Marco Jorio und Andreas Behr in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 101 (2007), S. 225–340.
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Urs Altermatt Im Anschluss an die Französische Revolution setzte sich in der Schweiz schrittweise die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Individuums durch. Der konfessionelle Glauben wurde zu einem Individualrecht. Die Bundesverfassung von 1848 bekannte sich zur Religionsfreiheit und machte das Glaubensbekenntnis ausdrücklich zu einer Angelegenheit des Individuums, dessen Ausübung im Unterschied zur Alten Eidgenossenschaft – und das ist hier wesentlich – nicht an das Niederlassungsrecht gebunden war.42 Eine einschränkende Anmerkung ist freilich anzubringen. Zwar bekannte sich die Bundesverfassung von 1848 zur Religionsfreiheit, doch galt diese zunächst nur für die Christen. Den Juden gewährte der Bundesstaat erst 1874 die gleichen Rechte.43 Im Schmelztiegel der modernen Industriegesellschaft erwies sich die säkulare Kultur auch in der Schweiz stärker als die Religion.44 Mit der Entstehung der modernen Schweiz im 19. Jahrhundert begannen die Sprachgemeinschaften die politisch-soziale Stellung einzunehmen, die bisher die Konfessionen innegehabt hatten. Analog zum konfessionellen Zeitalter anerkannte der Bundesstaat bereits 1848 Deutsch, Französisch und Italienisch als offizielle Landesprachen an.45 42 Siehe Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 2 Bde., Bern: Stämpfli 1992–2004; Urs Altermatt: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2: Benziger 1991. 43 Siehe Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), hg. vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Zürich 2004, mit Beiträgen von Urs Altermatt, Georg Kreis u.a.; Aram Matolli: „‚Vaterland der Christen‘ oder ‚bürgerlicher Staat‘? Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, 1848–1874“, in: Urs Altermatt/Catherine Bosshart-Pfluger/Albert Tanner (Hg.), Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert, Zürich: Chronos 1998, S. 217–235; Ders.: „Die Schweiz und die jüdische Emanzipation 1798–1874“, in: Ders. (Hg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960. Mit einem Vorwort von Alfred A. Häsler, Zürich: Orell Füssli 1998, S. 61–82; Holger Böning: „Bürgerliche Revolution und Judenemanzipation in der Schweiz“, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, XIV (1985), S. 157–180. 44 Vgl. Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin: Rotbuch Verlag 1991; Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt, New York 3: Campus Verlag 2005. 45 Siehe zur Mehrsprachigkeit in der Schweiz u.a.: Hans Bickel/Robert Schläpfer (Hg.): Die viersprachige Schweiz, Aarau u.a. 2: Sauerländer 2000; Christophe Büchi: „Röstigraben“. Das Verhältnis zwischen deut-
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? In Anlehnung an die Paritätsregelungen der Alten Eidgenossenschaft band der Bundesstaat von 1848 den Sprachenschutz an territoriale und nicht an personale Verbände. Die gesetzlichen Regelungen wurden den Kantonen überlassen. Diese hatten dafür zu sorgen, dass die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Räume erhalten blieb. Ein frankophoner Schweizer, der von Genf ins deutschsprachige Zürich umzieht, untersteht an seinem neuen Wohnsitz der Sprachenhoheit des Kantons Zürich, dessen Sprache Deutsch ist. Mit Bundesbehörden kann er zwar weiterhin in seiner französischen Muttersprache verkehren, ansonsten muss er in Zürich Deutsch als Amts-, Schul- und öffentliche Verkehrssprache benutzen. In Anlehnung an das konfessionelle Zeitalter lautete die neue Formel „cuius regio eius lingua“ und regelte nach räumlich-territorialen Gesichtspunkten das Zusammenleben der Sprachgemeinschaften. Dies war ein fundamentaler Unterschied zu gemischtsprachigen Regionen Ostmitteleuropas, wo eine Gemengelage in einem zentralistisch organisierten Staat vorherrschte. Im Unterschied zu Belgien kennt die Schweiz staatsrechtlich keine Sprachenblöcke im korporativistischen Sinne des Wortes. Sprachgemeinschaften besitzen in der Schweiz keine staatlichen Institutionen.46
Ein Konglomerat von wechselnden Minderheiten In anderen europäischen Ländern führte die kulturelle Vielfalt oft zu einer gewissen Labilität des politischen Systems, da das stabilisierende Element der einheitlichen Kultur fehlte. In Zypern hat die ethnische Diversität zur Teilung der Insel geführt; in Belgien bedroht der Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen die nationale Einheit; in Nordirland herrschte lange Zeit zwischen den Katholiken und Protestanten ein bürgerkriegsähnlicher Zustand;
scher und französischer Schweiz. Geschichte und Perspektiven, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2000; Bernhard Altermatt: „Language Policy in the Swiss Confederation: The Concepts of Differentiated Language Territoriality and Asymmetrical Multilingualism“, in: Federalism, Decentralisation and Good Governance in Multicultural Societies, Fribourg Suisse 2004 (Publications de l’Institut du Fédéralisme Fribourg Suisse PIFF, Travaux de Recherche 34), S. 8–36. 46 Zu Belgien: Els Witte/Harry Van Velthoven: Sprache und Politik. Der Fall Belgien in einer historischen Perspektive, Brüssel: VUB Univ. Press 1999. Siehe auch U. Altermatt: Das Fanal von Sarajevo, S. 140–145.
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Urs Altermatt und die Tschechoslowakei löste sich in zwei Staaten auf. Warum zerfällt die Schweiz nicht in ihre kulturellen, das heisst sprachlichen oder konfessionellen Teile? Die erste Antwort besitzt zentralen Stellenwert: Da sich die verschiedenen Kraftfelder überschneiden, entsteht ein vielfältiges Gewebe, das die Schweiz zusammenhält. Überaus wichtig ist dabei, dass sich die Kantonsgrenzen nicht immer mit den soziokulturellen Grenzen der Sprachen und Konfessionen decken.47 Durch einen glücklichen Zufall sind die Sprachen- und Konfessionsgrenzen nicht identisch. Dieses typisch schweizerische „cross-cutting“ – wie die Politikwissenschaftler sagen – ermöglicht es, dass sich die Schweizer mit den andern Eidgenossen von Fall zu Fall identifizieren können. Der französischsprachiger Genfer fühlt sich etwa mit dem französischsprachigen Freiburger verbunden, obwohl beide unterschiedlichen konfessionellen Kirchen angehören; und der katholische Urner stellt sich auf die Seite des Freiburgers, obwohl er eine andere Sprache spricht, aber eben der gleichen Konfession angehört. Es ist dieses Netz von überlappenden Gemeinsamkeiten und Loyalitäten, das die Schweiz zusammenhält. Man kann diese These auch negativ formulieren: Die Schweiz hält zusammen, weil jede Ethnie, jede Konfessionsund Sprachgemeinschaft die andere nicht besonders liebt. Da dies den Krieg aller gegen alle bedeuten würde, hat man schon im 16. und 17. Jahrhundert eingesehen, dass man die andern zunächst einmal zu tolerieren hat. Praktische Koexistenz, nicht emphatische Sympathie lautet die Devise. Je nach politischer Sache und je nach Konflikt setzen sich Minderheit und Mehrheit anders zusammen. Die Schweiz ist ein Konglomerat wechselnder Minoritäten. Das heisst nicht, dass es keine sprachlichen oder konfessionellen Konflikte gäbe, im Gegenteil; diese konnten aber bisher durch das Wechselspiel der Minderheiten gedämpft werden. Da die stärksten Regionen deutschsprachig und ursprünglich protestantisch sind, fühlen sich die lateinischen Schweizer gelegentlich benachteiligt. Doch die Vielfalt der verschiedenen Kraftfelder stellt sicher, dass die Konflikte nicht überall gleich sind und fallweise durch andere Gegensätze überlagert werden.
47 Ulrich Klöti u.a.: Handbuch der Schweizer Politik, Zürich 4: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2006; W. Linder: Schweizerische Demokratie; Ders.: Swiss democracy. Possible solutions to conflict in multicultural societies, New York: Macmillan 1994; Erich Gruner: Die Parteien in der Schweiz, Bern 2: Francke 1977.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? Dadurch werden sie von Fall zu Fall abgeschwächt oder ganz aufgehoben. Ein zweites Element ist nicht zu unterschätzen: Die politische Stabilität der multikulturellen Schweiz hängt damit zusammen, dass die Schweiz kein politisch-kulturelles Zentrum besitzt und durch eine ausgeprägte Dezentralisierung gekennzeichnet ist.48 Die Bundesregierung und ihre Verwaltung residieren in Bern; Bern ist jedoch nur die Bundeshauptstadt des Landes. Das Bundesgericht hat seine Sitze in Lausanne und Luzern, Bellinzona und St. Gallen. Und wie Washington in den USA ist Bern nicht das Wirtschaftszentrum des Landes. Das Wirtschaftsleben mit Handel, Banken und Versicherungen wird hauptsächlich von Zürich aus gesteuert. Doch auch Zürich beherrscht die Wirtschaft nicht alleine; die Schweizer Wirtschaft ist in hohem Masse dezentralisiert. Nestlé, der grösste multinationale Schweizer Konzern, ist in einer Kleinstadt am Genfersee beheimatet; ABB in Baden, Novartis in Basel. Das führende internationale Konferenzzentrum stellt nicht Bern oder Zürich, sondern Genf dar, das europäischer Sitz der Vereinten Nationen ist und eine grosse Zahl weiterer internationaler Organisationen beherbergt. Die Schweiz besitzt auch im kulturellen Leben keine Metropole. Die französische Schweiz blickt nach Paris, das Tessin orientiert sich an Mailand und der Lombardei; und die deutsche Schweiz blickt heute am ehesten nach Berlin. Die schweizerische Dezentralisierung prägt sogar die katholische Kirche, die eine föderalistische Kultur besitzt. Die sechs katholischen Bistümer bilden keine Kirchenprovinz und die Schweiz kennt keinen Erzbischof. Schon im 19. Jahrhundert schufen die katholischen Bischöfe eine Bischofskonferenz, in der der Vorsitz im Turnus wechselt.49 Die zahlreichen kleineren Zentren tragen dazu bei, dass sich kulturelle Konflikte nicht zusätzlich an der einseitigen Stellung der Metropole verschärfen. In der französischen Schweiz, die bevölkerungsmässig nur einen Fünftel des Landes ausmacht, bestehen freilich Ansätze zu einem antideutschschweizerischen ZürichKomplex, der sich rasch zu einem eigentlichen Graben ausweiten kann, wenn die Deutschschweizer die wirtschaftliche Vormachtstellung auch im kulturellen Bereich durchzusetzen scheinen.
48 Siehe dazu auch: Jonathan Steinberg: Why Switzerland?, Cambridge 2: Cambridge Univ. Press 2004. 49 Siehe U. Altermatt: Katholizismus und Moderne.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? Es versteht sich von selbst, dass die Modernisierung mit der zunehmenden Mobilität der Menschen, den neuen Kommunikationsmitteln und der immer spezialisierteren Arbeitsteilung die Vereinheitlichungen im Raume der Schweiz förderte. Auch die plurikulturelle Schweiz homogenisierte die Kultur auf ihrem Territorium, mit dem Ziel, alle Bewohner an den Vorteilen der staatlichen Gemeinschaft profitieren zu lassen. Mit Kultur meine ich im Falle der Schweiz nicht die Sprache – da die Schweiz ja unterschiedliche Landessprachen kennt –, sondern allgemeine Lebenswerte wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung und Fleiss etc.50 Wie Moritz Csáky51 im Zusammenhang mit Zentraleuropa auf eindrückliche Weise dargestellt hat, verstärkte die Modernisierung nicht nur die Vereinheitlichung, sondern auch die Differenzierung. Menschen verschiedener ethnischer und sprachlicher Herkunft entwickelten ein Gefühl der Differenz, das sie vorher in der ländlichen Umgebung nicht besessen hatten. So kann man in der Schweiz seit den 1960er Jahren von einem Romandie-Bewusstsein sprechen, das sich bei Volksabstimmungen und anderen Gelegenheiten äussert und die Röstigraben-Diskussion anheizt.52 Diese impressionistischen Bemerkungen führen mich zur Frage: „Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen?“ Auch wenn sich die klassischen Schweiz-Diskurse in den nationalpolitischen Denkmodellen des 19. und 20. Jahrhunderts bewegen, bieten sie hilfreiche Anstösse für das institutionalisierte Europa der Europäischen Union. Das helvetische Paradigma lässt sich zwar keineswegs schematisch auf das im Entstehen begriffene institutionelle Europa übertragen, dennoch ist das Modell für die politische Integration unterschiedlicher Kulturgemeinschaften interessant.53 50 Siehe dazu etwa: Albert Tanner: Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830–1914, Zürich: Orell Füssli 1995. 51 Siehe u.a.: Moritz Csáky: „Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage“, in: Urs Altermatt (Hg.), Nation, Ethnizität und Staat in Mitteleuropa, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, S. 44–64. 52 Urs Altermatt: „Sprachenregionalismus in der Schweiz im Vormarsch“, in: Die multikulturelle Schweiz, Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 2002/2003 (Zürich, Chur 2003), S. 39–49; Ders.: Das Fanal von Sarajevo, S. 145–155; C. Büchi: „Röstigraben“. 53 Siehe dazu auch: Wolf Linder: Europäisierung der Schweiz – Verschweizerung der EU?, Konstanz: Uni Verlag Konstanz 2000.
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Ist die Schweiz ein Europa im Kleinen? Die Europäische Union kann nur bestehen, wenn sie – ähnlich wie die Schweiz – die politische Europa-Bürgerschaft von der sprachlichen, kulturellen und religiösen Identität ihrer Bewohner entkoppelt und damit ihren Bürgern ermöglicht, kulturelle und politische Identitäten miteinander zu verbinden, das heisst mehrere Identitäten öffentlich – und das ist das Entscheidende – zum Ausdruck zu bringen.54 Der noch zu entwickelnde europäische Verfassungspatriotismus erfordert Loyalität gegenüber dem politischen Rahmen, setzt aber keine Einschmelzung der kulturellen Differenzen voraus.55 Die Identität des politischen Gemeinwesens Europas wird durch die Zivilität und nicht durch die Ethnizität kultureller, religiöser oder sprachlicher Natur bestimmt. Diese normativen Bemerkungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa so wenig wie die Schweiz das Phänomen der europaregionalen und der globalen Migration geregelt, geschweige denn gelöst hat. In Europa wie in der Schweiz stellen die Migranten aus aller Welt mit ihren Kulturen und Lebensweisen die traditionellen Integrationsmechanismen, die sich am Modell des europäischen Nationalstaates orientieren, in Frage. Da die herkömmlichen Integrationsmodelle weder in der Schweiz noch im übrigen Europa genügen, entstehen Abwehrmechanismen bei den Inländern. Zur Abwehr der neuen Zuwanderer in das als Eigenes betrachtete Territorium entwickeln die Inländer xenophobe Migrationsdiskurse, in denen die Zuwanderer zu Fremden erklärt und ausgegrenzt werden. Dass dabei das Gedächtnis an den geographischen Ort eine zentrale Rolle spielt, ist hier nur anzudeuten.56 Wie die Inländer besitzen auch die Zuwanderer ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität, das in kultureller Hinsicht nur transnational verwirklicht werden kann. Mit einer gewissen Überstrapazierung des Vergleichs könnte das helvetische Modell der Mehrfachidentität weiter entwickelt werden. Dieses Integrationsmuster hat zum Inhalt, dass sich der Durchschnittseuropäer
54 U. Altermatt: Das Fanal von Sarajevo; Ders.: Die mehrsprachige Schweiz – Modell für Europa? 55 Michael Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin: Rotbuch Verlag 1992; Jürgen Habermas: „Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft“, in: Nicole Dewandre/Jacques Lenoble (Hg.), Projekt Europa. Postnationale Identität: Grundlage für eine europäische Demokratie?, Berlin: Schelzky & Jeep 1994, S. 11–29. 56 Siehe dazu: U. Altermatt: Das Fanal von Sarajevo.
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Urs Altermatt als Europa-Bürger mit der politischen Kultur der Union verbunden fühlt und als Polnisch-, Ungarisch- oder Spanischsprachiger gleichzeitig den zugehörigen Sprachnationen angehört. Warum kann diese Regel nicht auch für einen Afrikaner in Europa gelten? Wenn das institutionalisierte Europa keine Abstammungsgemeinschaft bildet, rücken die Eintrittsregeln im Sinne der Bürgerrechte in den Vordergrund.57 Sofern man „Ethnos“ und „Demos“ voneinander trennt, können die universalen Grundsätze der Menschenrechte und des Rechtsstaates leichter mit den partikularen Interpretationen der eigenen kulturellen Lebenswelt zur Deckung gebracht werden.58 Wie Jürgen Habermas richtig sagt, hängt die Identität des politischen Gemeinwesens, die auch durch die Immigration nicht angetastet werden darf, primär an den in der politischen Kultur verankerten Rechtsprinzipien und nicht an bestimmten ethnisch-kulturellen Lebensformen, auch wenn diese „europäisch“ genannt werden. Es ist selbstverständlich, dass sich die Einwanderer an die politische Kultur ihres neuen Aufenthaltsortes innerhalb der Union anpassen.59 Ich schliesse mit der Bemerkung, dass es für die zivile Gesellschaft Europas und damit auch für die Europäische Union neue transnationale Konzepte braucht, um die kulturalistisch und essentialistisch aufgeladenen Konzepte territorial-staatlicher Räume, seien diese nun die Schweiz, Österreich oder Europa, aufzuweichen. Zur gleichen Zeit geht es darum, staatliche Einheiten unterschiedlicher Grösse zu einem neuen Europa im Rahmen der Europäischen Union zusammen zu schliessen, ohne die Eigenarten der einzelnen Teile dadurch aufzuheben. In Ost und West steht damit Europa in einer ähnlichen Phase der Geschichte, wie sie die Schweiz in den Jahren von 1798 bis 1848 durchgemacht hat.
57 J. Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität; R. Brubaker, Staats-Bürger. 58 Mario Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdt. Verlag 1990; Ders.: „Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft“, in: Rudolf Wildenmann (Hg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, Baden-Baden: Nomos Verlag 1991, S. 19–40; Heinz Kleger: „Europäischer Verfassungspatriotismus und europäische demokratische Identität“, in: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik, 15, 29 (1995), S. 29–38. 59 Vgl. J. Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität.
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 45 Antonioni, Michelangelo 66 Aragon, Louis 9, 93, 96–111 Bachelard, Gaston 16, 93f., 98 Bachmann-Medick, Doris 7, 15, 30, 36, 156 Balazs, Bela 62 Balzac, Honoré de 118 Baudelaire, Charles 106 Bazin, André 64 Beil, Michael 121 Benjamin, Walter 8f., 17, 80, 88f., 91, 95–97, 100f., 107f. Berlioz, Hektor 126 Blaukopf, Kurt 123 Blobel, Günter 26 Boccioni, Umberto 95 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 154, 156 Bogdanoviþ, Bogdan 19f. Böhme, Gernot 37, 115, 133 Bose, Chandra Subhas 76 Bourdieu, Pierre 8, 47–54 Brant, Henry 121 Bresson, Robert 67 Breton, André 96f., 99, 102, 111 Bruckner, Anton 125 Camus, Albert 146 Canetti, Elias 52 Cassirer, Ernst 61 Céline, Louis-Ferdinand 96f., 99, 102, 111 Certeau, Michel de 94 Chirico, Giorgio de 99 Comte, Auguste 45 Damasio, Antonio R. 140, 143 Deleuze, Gilles 61–67, 141
Diamond, Jared 37 Durkheim, Émile 48 Dutschke, Rudi 22 Eggebrecht, Hans Heinrich 117 Einstein, Albert 61 Emrich, Hinderk M. 141 Féral, Josette 71f., 78, 89 Fischer-Lichte, Erika 72, 118, 129, 136 Foucault, Michel 7, 14f., 17, 59f., 68, 94f., 100, 124 Freud, Sigmund 55 Fritz-Vannahme, Joachim 153 Fröbel, Julius 151f. Ghandi, Mahatma 76f. Giddens, Anthony 47 Goffman, Erving 54 Gracq, Julien 96 Grüber, Klaus Michael 10, 71, 75, 84–92 Guattari, Félix 63f. Habermas, Jürgen 167f. Halbwachs, Maurice 54 Hanslick, Eduard 125f. Hašek, Jaroslav 134, 145 Haussmann, Georges-Eugène 96, 100f. Heine, Heinrich 116f. Heister, Hanns-Werner 124 Herzog, Werner 67 Hirst, Damien 50 Hitler, Adolf 21, 63, 76, 81 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 109, 117 Hölderlin, Friedrich 84–86, 88 Hornbostel, Erich M. v. 118 Jakobson, Roman 142
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Kommunikation – Gedächtnis – Raum Konrád, György 149 Koselleck, Reinhart 18 Kracauer, Siegfried 7, 62f. Kraus, Karl 134, 145 Kundera, Milan 8 Lefebvre, Henri 14, 16 Leibniz, Gottfried Wilhelm 61, 141 Lévi-Strauss, Claude 7, 59 Liebig, Hans Freiherr von 40, 152 Löw, Martina 8, 37, 46, 115 Lüthy, Herbert 150, 160 Lyotard, Jean-François 141 Mahler, Gustav 125 Mandiargues, André Pieyre de 96 Mann, Thomas 149f. Marks, Lawrence E. 140 Masaryk, Tomás G. 153 Meinecke, Friedrich 155 Melara, Robert D. 140 Mendelssohn, Moses 68 Merleau-Ponty, Maurice 120 Miãosz, Czeslaw 18f., 26 Minkowski, Hermann 61 Nehru, Jawaharlal 76 Newton, Isaac 46, 61 Nono, Luigi 120 Nora, Pierre 8, 15, 17 Oliveros, Pauline 115, 122 PetĢíĀek jr., Miroslav 142f. Popovici, Aurel C. 156 Rahimi, Atiq 68 Recalcati, Antonio 84 Renner, Karl 152 Resnais, Alain 67 Riegl, Alois 60 Riemann, Bernhard 60, 67
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Rimini Protokoll (Helgard Haug, Daniel Wetzel, Stefan Kaegi) 10, 71, 75, 77, 80, 84, 88, 91f. Robbe-Grillet, Alain 67 Rotteck, Carl von 151 Sabine, Wallace Clement 117 Saussure, Ferdinand de 138 Schafer, Richard Murray 127–129 Schlegel, Friedrich 141 Schlögel, Karl 8, 13f., 29, 36 Schmitt, Carl 46 Schönberg, Arnold 118 Schopenhauer, Arthur 117 Schroer, Markus 38f., 53f. Schubert, Franz 86 Sedlmayr, Hans 25 Simmel, Georg 48, 51f., 124 Soja, Edward W. 7, 13f., 16, 34, 133 Speer, Albert 21, 84 Spengler, Oswald 152 Springer, Axel 22, 118 Steyerl, Hito 68 Stichweh, Rudolf 37 Strauss, Richard 125 Stumpf, Carl 118 Swedenborg, Emanuel 118 Tarkovskij, Andrej 67 Tezner, Friedrich 152 Ulbricht, Walter 21 Vilikovský, Pavel 146 Wagner, Richard 125 Weber, Max 48 Weber, Samuel 91 Weigel, Sigrid 8, 9 Werlen, Benno 32–35, 37, 40f. Worringer, Wilhelm 60 Zimmer, Lotte 88
Autorenverzeichnis
Albert, Mechthild: Professorin für Iberoromanische Literaturund Kulturwissenschaft, Universität Bonn [email protected] Altermatt, Urs: Professor für Allgemeine und Schweizerische Zeitgeschichte, Universität Freiburg [email protected] Assmann, Aleida: Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft, Universität Konstanz [email protected] Brüstle, Christa: Dozentin für Musikwissenschaft, Freie Universität Berlin [email protected] Csáky, Moritz: Professor em. für Österreichische Geschichte, Universität Graz; Obmann der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften [email protected] Leitgeb, Christoph: Dozent für neuere deutsche Literaturwissenschaft, Mitarbeiter der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften [email protected] Lossau, Julia: Professorin für Kulturgeographie, Humboldt-Universität Berlin [email protected]
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Kommunikation – Gedächtnis – Raum Neckel, Sighard: Professor für Allgemeine Soziologie und Analyse der Gegenwartsgesellschaft, Universität Wien [email protected] Ott, Michaela: Professorin für Ästhetische Theorien, Hochschule für Bildende Künste, Hamburg [email protected] Siegmund, Gerald: Assistenzprofessor für Theaterwissenschaft, Universität Bern [email protected] Zajac, Peter: Professor der Bohemistik und Slowakistik, Humboldt-Universität Berlin, ehem. Abgeordneter des slowakischen Nationalrats [email protected]
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hg.)
Räume Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2008 Dezember 2008, 160 Seiten, kart., 8,50 , ISBN 978-3-89942-960-2 ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) und Räume (2/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht März 2009, 326 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0
Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft April 2009, ca. 204 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5
Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls März 2009, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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3) ANZ1120.p 199329907680
Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner Im Widerstreit vereint Kulturelle Globalisierung als Geschichte der Grenzen Juni 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-652-6
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt Der Diskurs der Folter April 2009, ca. 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1009-3
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Kultur- und Medientheorie Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven Fernsehen in Literatur und Film März 2009, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-938-1
Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hg.) Zwischen Apokalypse und Alltag Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts April 2009, ca. 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1045-1
Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling Die Unsichtbarkeit des Politischen Theorie und Geschichte medialer Latenz
Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hg.) Wider den Kulturenzwang Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur März 2009, ca. 400 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-987-9
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Florian Hartling Der digitale Autor Autorschaft im Zeitalter des Internets
Mai 2009, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-969-5
März 2009, ca. 394 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1090-1
Marijana Erstic, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Körper in Bewegung Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde
Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts
März 2009, ca. 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1099-4
Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2
Sonja Neef (Hg.) An Bord der Bauhaus Zur Heimatlosigkeit der Moderne März 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1104-5
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