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German Pages 246 Year 2019
Albert Gouaffo, Stefanie Michels (Hg.) Koloniale Verbindungen – transkulturelle Erinnerungstopografien
Histoire | Band 145
Albert Gouaffo, Stefanie Michels (Hg.)
Koloniale Verbindungen – transkulturelle Erinnerungstopografien Das Rheinland in Deutschland und das Grasland Kameruns
Gefördert durch die Alexander von Humboldt-Stiftung und die Anton-Betz Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Speer (Detail), den Eugen Zintgraff aus Kamerun mitbrachte und der 2016 erstmals in Düsseldorf ausgestellt wurde Lektorat & Satz: Kevin Reidegeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4529-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4529-7 https://doi.org/10.14361/9783839445297 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung
Albert Gouaffo & Stefanie Michels | 9
REGIONEN UND WELTEN Zur Erforschung von Regionen als Kulturräume im Kontext der Moderne Das Institut »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Jasmin Grande | 31 Topographieren, malen, photographieren und erzählen Das Grasland von Kamerun und seine kulturgeographische Mediatisierung im Rheinland – and back
Albert Gouaffo | 51 Düsseldorf und die Welt – Globalgeschichte goes regional
Stefanie Michels | 69
KOLONIALE VERBINDUNGEN Chancen und Möglichkeiten kooperativer Bildforschung Der fotografische Nachlass von Marie Pauline Thorbecke am Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
Lucia Halder | 97 »Du bist wie ein Küchlein in mein Haus gekommen, Weißer…« Intermediale Erinnerung an eine transnationale Männerfreundschaft im kolonialen Kamerun
Richard Tsogang Fossi | 111 Biographie einer Raphia-Tasche aus dem Grasland Gebrauch, Beschaffung, Musealisierung
Yaǧmur Karakış | 131
Franz und Marie Pauline Thorbecke zwischen Fiktion und Realität Eine geokritische Untersuchung zu Im Hochland von Mittelkamerun und Auf der Savanne
Omer Lemerre Tadaha | 153
ERINNERUNG TRANSKULTURELL – TRANSDISZIPLINÄR »Fünf Minuten für Zintgraff, fünf Minuten für die chiefs?« Visuelle Historiografie im Spannungsfeld der kolonialen Verbindungen Deutschland-Kamerun
Martin Doll | 173 Erinnerung als interaktive Leistung: Kontextualisierungs- und Positionierungsaktivitäten in Interviews über Kolonialgeschichte
Alexander Ziem | 191 Hermann von Wissmann und die Verflechtung nationaler, internationaler und lokaler Erinnerungsdiskurse
Britta Schilling | 217 Autor/innen | 241
Vorwort
Am Anfang dieses Projektes stand die Idee zwei Universitätsstandorte in ein gemeinsames Forschungsprojekt zu überführen. Was verbindet Düsseldorf und Dschang? Das war eine Frage, die wir uns 2013 bei Sonnenschein am Rheinufer zum ersten Mal stellten. Auf der Suche nach historischen Verbindungen und der gegenwärtigen Erinnerung erschloss sich uns ein komplexes Feld. In den fünf Jahren, die das Projekt insgesamt lief, haben wir Forschende und Wissensexpert/innen aus verschiedenen Disziplinen (Germanistik, Geschichtswissenschaft, Medien- und Kulturwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte) und aus unterschiedlichen Wissensinstitutionen (Universitäten, Archiven, Museen) zur Beschäftigung mit diesen Fragen anregen können. Besonders erfreulich war die Beteiligung von Studierenden der Universitäten Düsseldorf und Dschang an diesem Prozess, aus dem eine beträchtliche Zahl von Bachelor- und Masterarbeiten entstanden ist. An dieser Stelle bedanken wir uns bei verschiedenen Förderungen durch die Heinrich-Heine-Universität, wie dem elearning-Förderfonds und dem Lehrförderfonds. Aus Mitteln zur Internationalisierung konnten wir dann im Jahr 2018 sogar eine gemeinsame Sommerschule an der Universität Dschang realisieren. Ergebnisse unserer translokalen und transdisziplinären Forschung wurden auch in die breitere Öffentlichkeit getragen: es gab zwei Ausstellungen, eine in Düsseldorf (2016) und eine in Dschang (2018) außerdem eine polyphone und interaktive Projektwebseite (www.deutschland-postkolonial.de) und einen Dokumentarfilm, sowie eine breite Presseresonanz an beiden Orten. Zudem wurden in Düsseldorf globalhistorische Stadtrundgänge, ein Stadtplan und eine App zum Thema entwickelt. Im Rahmen des Projektes »RheinlandGlobal« möchten wir diese Formate auch in Zukunft in Düsseldorf anbieten. Die Professur für die »Geschichte der Europäischen Expansion mit dem Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert« wird an der Heinrich-Heine-Universität mit dem Sommersemester
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2018 eingestellt. Sie war aus Mitteln des Hochschulpaktes 2020 auf fünf Jahre befristet. Wie die Beiträge in diesem Buch zeigen, ist das Potential eines regional vergleichenden Ansatzes jedoch noch lange nicht ausgeschöpft – im Gegenteil, die bisherige Zusammenarbeit verweist auf weitere konkrete Forschungsprojekte. Die Zahl der beteiligten Personen zu nennen, die zum Gelingen beigetragen haben, scheint kaum möglich. Für die großzügige Förderung der Forschungen und Publikation danken wir der Alexander von Humboldt-Stiftung. Weitere finanzielle Unterstützung erhielten wir von der Anton-Betz-Stiftung (Düsseldorf), sowie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dem transcript Verlag danken wir für die gute Zusammenarbeit und Kevin Reidegeld für die Übersicht und Gewissenhaftigkeit in der redaktionellen Arbeit. Unser größter Dank gilt aber den Beiträgerinnen und Beiträgern. Ebenso danken wir all jenen, die an unserem Forschungsprojekt in den letzten Jahren zentral beteiligt waren, als Wissenschaftler, als Studierende, als Mitarbeitende oder als Zuhörer/innen und Diskussionspartner/innen. Wir wünschen uns weiteren fruchtbaren transkulturellen und transdisziplinären Austausch. Albert Gouaffo und Stefanie Michels im September 2018.
Einleitung Albert Gouaffo & Stefanie Michels
Eine unserer Ausgangsfragen im Forschungsprojekt »Transkulturelle Erinnerungstopografien – koloniale Verbindungen: Rheinland/Grasland – Deutschland/Kamerun« war Folgende: Das Institutspartnerschaftsprojekt fragt theoretisch und praktisch nach den Gründen eines »Gedächtnisschwunds« zum Thema »Kolonialismus in Kamerun und in Deutschland«, bzw. versucht zunächst eine empirische Annäherung an eine Annahme, die meist rein intuitiv gestellt wird. Die bisherigen wissenschaftlichen Publikationen zum Thema »Erinnerungsorte« von Nora bis Zimmerer haben nicht näher begründet, wie sie zu ihrer Auswahl gekommen sind.1 Ihr eigentlich subjektiver Zugang konstruiert und schafft von daher »Erinnerungsorte«, denen möglicherweise kein Gedächtnisträger – außer den wenigen aktiv beteiligten Wissenschaftlern – folgt. Wir meinen, die […] Forschung zu »Erinnerungsorten« rekurriert auf das Expertenwissen von Spezialisten. Unser Ansatz wäre demnach ein umgekehrter – wir würden von konkreten Akteuren und konkreten medialen Zugängen in Bezug auf Erinnerungen an Kolonialismus ausgehen und diese dann mit Alternativen kontrastieren. Im Gegensatz zu den bestehenden Forschungen zu den Erinnerungsorten ist der dem vorliegenden Antrag zugrundeliegende Ansatz auf die Aussagen der Akteure […] und Medien zentriert.2
1
Vgl. das dreibändige Werk zu Gedächtnisorten in Frankreich: P. Nora: Lieux de mémoires; das ebenfalls dreibändige Werk E. François/H. Schulze: Deutsche Erinnerungsorte; das wiederum dreibändige Werk: P. den Boer: Europäische Erinnerungsorte; sowie J. Zimmerer: Kein Platz an der Sonne.
2
Albert Gouaffo, Stefanie Michels, Projektantrag »Transkulturelle Erinnerungstopographien«, 2013 von der Alexander von Humboldt-Stiftung bewilligt.
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Wir begannen im Jahr 2015 mit dem Forschungsprojekt zwischen dem Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität und dem Département des Langues Etrangères Appliquées der Universität Dschang, das die Alexander von Humboldt-Stiftung großzügig förderte. Lehrende beider Universitäten haben mit ihren Studierenden aus den Fächern Geschichtswissenschaften, Medien- und Kulturwissenschaft und Germanistik geforscht. Dazu ging die Forschung von den Orten Dschang und Düsseldorf, bzw. den Regionen Grasland und Rheinland, aus. Dem transdisziplinären Ansatz geschuldet wurde sehr heterogenes empirisches Material erhoben: einige führten Interviews in der Gegenwart, andere besuchten Museen und Ausstellungen, wieder andere sichteten historisches Material in Archiven und Museumsdepots – manche taten alles gleichzeitig. Die Beiträge von Gouaffo, Michels, Tadaha, Tsogang Fossi, Karakış, Doll und Ziem in diesem Band sind unmittelbares Ergebnis dieser empirischen Forschung und zeigen die disziplinäre Bandbreite auf (germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Medien- und Kulturwissenschaft). Konzeptuell finden sich in diesem Band zwei weitere sehr bereichernde Beiträge: Jasmin Grande stellt dezidiert Fragen nach der analytischen Kraft einer Region, Britta Schilling positioniert sich gegen den oben genannten Befund eines »Gedächtnisschwundes« – hier am Beispiel der Figur Hermann von Wissmann und stellt dem die Konzepte »koloniale Aphasie« und »dismembering« entgegen. In der Neueinbeziehung dieser beiden Perspektiven sehen wir die Möglichkeiten weiterer forschungspraktischer Zusammenarbeit. Eines der wichtigsten Zwischenergebnisse, das wir mit unserem Projekt formulieren können ist, dass wir besonders im transkulturellen Raum in einer Phase »kolonialer Aphasie« stecken und von einem »Gedächtnisschwund« keineswegs die Rede sein kann. Das Konzept der »kolonialen Aphasie« geht auf die Ethnologin Ann Laura Stoler zurück und wurde von der Historikerin Britta Schilling erstmals auf den deutschen Kontext angewendet. Schilling schreibt dazu: »Aphasia is not a straightforward forgetting, but rather ‚dismembering, a difficulty speaking, a difficulty generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts with appropriate things.«3 Bezogen auf den deutschen Fall: »Aphasia thus describes how, despite the confrontation with Germany’s colonial past by historians and activists in the 1960s, scholars today still talk of largescale ›colonial amnesia‹«.4 Genau hier hat die jüngst erschienene Studie von Christiane Bürger angesetzt, die sich mit der Historiografiegeschichte des meist als Genozid bezeichneten Krieges der Herero und Nama gegen die Deutschen
3
B. Schilling: Postcolonial Germany.
4
Ebd.
Einleitung | 11
(1904-1908) in der DDR und der BRD (1945-1984) beschäftigte.5 Ihr theoretisch-methodisches Vorgehen und insbesondere ihre Ergebnisse verweisen ebenfalls auf das Konzept der »kolonialen Aphasie« und argumentieren dezidiert gegen das der »kolonialen Amnesie«. Ihre Arbeit kann als eine Fallstudie für »koloniale Aphasie« gelesen werden, obwohl Bürger das selbst nicht tut. Sie zeichnet empirisch nach, dass historiografische Werke stets in intermedialen und zeithistorischen Kontexten gesehen werden müssen. Sie kann die Wechselwirkungen zwischen der Historiografie zu Deutsch-Südwestafrika, wichtigen Dokumentarfilmen und historischen Romanen zeigen, die sich jeweils rezipierten (ähnlich für den kamerunischen Fall Tsogang Fossi in diesem Band). Die zweite wichtige Einsicht der Arbeit von Bürger betrifft direkt das Konzept der »kolonialen Amnesie«. »Die These einer umfassenden ›kolonialen Amnesie‹ hält jedoch einer wissensgeschichtlichen Perspektive nicht stand.«6. Wir erkennen aus ihrer Arbeit, dass selbst viele der dezidiert antikolonialen – und scheinbar kritischen – Positionen der Gegenwart Narrative, Erzählstrukturen und Begriffe der Kolonialzeit wiederholen – genau das also, was unter »kolonialer Aphasie« verstanden werden kann. Wie Stefanie Michels in einer Anwendung des Konzeptes gezeigt hat, ist es gerade das Verschwinden oder Übersprechen afrikanischer Stimmen, die hier eine Kontinuität ausmachen.7 In der Gegenwart ist dies häufig daran zu erkennen, dass europäische Wissenschaftler mit afrikanischen Künstlern zusammenarbeiten – den Menschen aus dem globalen Süden also eine deutlich andere Art des Zugangs und der Auseinandersetzung zugewiesen wird, als den Menschen aus dem globalen Norden. Der vorliegende Band versucht nun, einige der Komplexitäten, Leerstellen und Widersprüche, auf die wir bei der Frage nach dem gegenwärtigen Umgang mit der deutschen Kolonialzeit im kamerunischen Grasland und im deutschen Rheinland gestoßen sind, vorzustellen. Als Rahmen folgt zunächst ein kurzer Überblick über unsere empirische Forschung, gefolgt von einer methodisch-theoretischen Reflektion, einem kurzen Einblick in unsere Forschungsergebnisse sowie einem Ausblick auf den Band
5
C. Bürger: Deutsche Kolonialgeschichte(n).
6
Ebd., S. 268.
7
S. Michels: Askarispende.
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UNSERE GEMEINSAME FORSCHUNG Die beteiligten Wissenschaftler/innen forschten jeweils gemeinsam an beiden Orten.8 In beiden Orten wurde ein symmetrisch angelegtes Forschungsdesign durchgeführt. In Zusammenarbeit mit Studierenden beider Universitäten führten wir Interviews – dazu verwendeten wir jeweils identische Fragebögen.9 Wir unterschieden zwei Arten von Interviews und zwar zum einen Passanteninterviews, die an den Forschern vorher identifizierten Orten spontan durchgeführt wurden, die eine direkte (koloniale) Verbindung zum jeweils anderen Land aufwiesen.10 Zum zweiten mit vorher kontaktierten Personen, die als Experten zum Thema »deutsch–kamerunische Geschichte« angefragt wurden. Wenn diese dem zustimmten, wurden diese Interviews zusätzlich von Studierenden der Medien- und Kulturwissenschaften gefilmt.11 Aus diesem Material entstand ein 15minütiger Dokumentarfilm (s. dazu Doll in diesem Band). Die Passanteninterviews, die wir 2016 in Düsseldorf und Dschang führten, waren zwar – allein aufgrund ihrer geringen Anzahl – nicht repräsentativ, aber dennoch signifikant. Insgesamt waren es 80 Interviews, 44 im Rheinland, 36 im Grasland.12 In Düsseldorf wussten nur 36% der Befragten, was der jeweilige Ort des Interviews mit deutsch-kamerunischer Geschichte zu tun hatte. In Dschang
8
Prof. Albert Gouaffo, Dr. Omer Lemerre Tadaha und Dr. Richard Tsogang Fossi kamen nach Düsseldorf, Prof. Stefanie Michels, Dr. Caroline Authaler, Junior-Professor Martin Doll, Tristan Oestermann und Yaǧmur Karakış gingen nach Dschang. In Düsseldorf war zudem Prof. Alexander Ziem an der Konzeption, Erhebung und Auswertung der Interviews zentral beteiligt.
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Die Fragen und die Antworten der semi-strukturierten Passanteninterviews können hier eingesehen werden: http://deutschland-postkolonial.de/wp-content/uploads/2017/ 03/Quantitative-Auswertung-RheinlandGrasland_27.07.17_Prozente.pdf
10 In Düsseldorf waren das die Soden- und Woermannstr. in Urdenbach; der Zoopark; der Kolonialwarenladen 2.0. in Bilk und eine afrikanische Kirche. In Kamerun handelte es sich um die katholischen Kirche Sacré Coeur, die ehemaligen landwirtschaftliche Versuchsstation in Djutitsa und die Chefferien Foto, Fontem und Bana. 11 In Düsseldorf waren es Sprecher von Umbenennungsinitiativen für koloniale Straßennamen, Anwohnervertreter, Lokalpolitiker, Heimatvereine, Geschichtslehrer, Pastoren. In Kamerun waren es Katechisten und Pastore, Könige und Notable und Lokalhistoriker. In beiden Fällen auffälliger Weise nur Männer. 12 Die einzelnen Ergebnisse, sowie die Fragen sind abrufbar unter: http://deutschlandpostkolonial.de/wp-content/uploads/2017/03/Quantitative-Auswertung-RheinlandGrasland_27.07.17_Prozente.pdf.
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waren es hingegen 83%. Die kolonialen Straßennamen evozierten in Düsseldorf dabei knapp die Hälfte des Wissens über Verbindung des Ortes zur deutschkamerunischen Geschichte. Im kamerunischen Grasland hingegen wurden eine viel größere und auch widersprüchlichere Bandbreite an Themen genannt: Die Benennung der Stadt, Friedhöfe, Militärstationen, Schulen, Zwangsarbeit, Konflikte mit dem König, Kooperation mit dem König, die Architektur und die Gründung der Kirche durch die Deutschen (s. Abb. 1).13
13 Der Befund dieser relativ kleinen Studie ist aus der Sicht von Afrikahistoriker/innen nicht ganz überraschend. Vgl. dazu bereits S. Michels/ A.-P. Temgoua: Politique de la mémoire coloniale. Für eine komplexe Re-Lektüre mündlicher Quellen gegen ein etabliertes historiografisches Narrativ am Beispiel des Maji-Maji-Krieges im heutigen Tanzania, vgl. J. Monson/J. Giblin. Maji Maji.
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Abb. 1: Quantitative Auswertung der Passanteninterviews. Frage: Was hat dieser Ort mit deutsch-kamerunischer Geschichte zu tun?
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Wir haben die Interviews aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgewertet (s. dazu den Beitrag von Alexander Ziem in diesem Band). Und hier deutete sich noch etwas anderes an, nämlich dass es in Düsseldorf einen kleinen Kreis von Personen gibt, die sich sehr aktiv mit den Themen beschäftigen und in Düsseldorf beispielsweise Straßenumbenennungen fordern und das Thema dadurch auch in die Lokalpolitik bringen. Der Befund der Passantenbefragungen zeigt, dass sie damit das Thema tatsächlich auch in die lokale Gesellschaft getragen haben. Die Aktivist/innen rufen teilweise starke moralische Fragen auf und verwenden dazu ein dichotomes Narrativ: Es geht hier um eine Verurteilung der Kolonialgeschichte unter Betonung der afrikanischen Opfer. Kommen wir dazu zu einem Fallbeispiel: Aus der Perspektive eines von uns interviewten Menschen ist das Bewusstsein für die deutsch-kamerunische Geschichte in der Öffentlichkeit nicht mehr ausreichend vorhanden. Er positionierte sich im Gespräch als Mitglied seiner Initiative zur Umbenennung von Straßen im Düsseldorfer Stadtteil Urdenbach, die nach Akteuren der deutschen Kolonialgeschichte benannt sind. Das Interview wurde im Rahmen eines gemeinsamen Seminars von Studierenden der Geschichtswissenschaften und der Germanistik transkribiert und analysiert. Ein Studierender verfasste dazu folgendes Fazit: Die Frage, ob die deutsch-kamerunische Geschichte für Düsseldorf heute noch wichtig sei, beantwortet der Interviewte schnell und nachdrücklich mit den akzentuierten Wörtern »ja« und »sehr«. Er legt dar, dass es öffentlich sichtbare »Spuren« dieser Geschichte in Düsseldorf gebe. Durch die Verwendung des Wortes »Spuren« bezieht er die Frage der Interviewerin auf das Thema der Straßennamen. Außerdem benutzt er akzentuiert das Wort »wir« in Bezug auf Düsseldorf. Er positioniert sich demzufolge als Düsseldorfer und verdeutlicht die gemeinsame Verantwortung der Einwohner, die geschichtlichen »Spuren aufzudecken«. Er betont zunächst, die Düsseldorfer Bevölkerung müsse sich dieser »Spuren« bewusst »sein«. Er reformuliert dies jedoch, indem er erklärt, die Bevölkerung müsse sich die »Spuren« bewusst »machen«. Damit deutet er an, dass er das Bewusstsein in der Bevölkerung als kaum oder gar nicht vorhanden einstuft. Auf sprachlicher Ebene zeigen sich hier also Annäherungsschwierigkeiten zwischen postkolonialen Initiativen und der Öffentlichkeit. N.T.D., Geschichte, 3. Semester Diese Gruppen tragen das Thema in den öffentlichen Raum und rufen damit auch Widerstand hervor. Ein weiterer wichtiger Befund unserer Forschung war
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hier, dass unsere Frage nach Kamerun meist schnell zum Thema Namibia führte. Ein Interviewpartner, der Anwohner einer Siedlung mit kolonialen Straßennamen in Düsseldorf war, formulierte die Gegenfrage, ob Kamerun Namibia wäre. Das bedeutet, dass die öffentlichen Debatten über Namibia ihn erreicht haben, und dieses Thema für ihn nun stellvertretend für die gesamte deutsche Kolonialgeschichte steht. Auch dieses Interview wurde im Seminarkontext ausgewertet. Eine Studierende der Germanistik kam zu folgender Einschätzung: Für den Befragten ist es fraglich, ob überhaupt eine gemeinsame koloniale Geschichte zwischen Deutschland und Kamerun existiere. Für ihn gehört dieses Thema der Vergangenheit an und er bewertet die Erinnerung daran als irrelevant. Eine Geschichte, die länger als 100 Jahre zurückliege und unzureichend in der Schule gelehrt worden sei, sei für die Gegenwart nicht mehr von Bedeutung. Anhand seiner verzögerten und teilweise ausbleibenden Reaktionen auf eine gestellte Frage zu diesem Thema lässt sich seine geschichtliche Unkenntnis feststellen. Er hat Schwierigkeiten eine Antwort ohne Pausen oder Verzögerungen zu konstruieren. Doch dieses fehlende Wissen zu der Geschichte ist ihm nicht unangenehm. Wenn es eine gemeinsame Geschichte geben soll, soll der Interviewende ihn darüber aufklären. Doch auch, nachdem ihm deutlich erläutert wird, dass eine deutsch-kamerunische Geschichte existiert, sieht er keinen Grund darin, dieses Thema weiter zu diskutieren: »Kamerun, is dat Namibia?« Durch diese Gegenfrage wird seine ignorante und ablehnende Haltung deutlich. Er hat kein Interesse über dieses Thema zu diskutieren und macht dies seinem Gegenüber deutlich. I.W., Germanistik 5. Semester Zum Thema Namibia wurde in Düsseldorf dann meist der Genozid an den Herero assoziiert. Auch dies wieder führte zu einer negativen Bewertung der deutschen Kolonialgeschichte. In dem oben bereits erwähnten Interview wurde die Position vertreten, dass die Tatsache, dass über die deutsch-kamerunische Geschichte nichts bekannt sei, wohl bedeuten würde, dass es sie entweder nicht gab oder dass sie nicht wichtig gewesen wäre. In Kamerun stellte sich diese Situation deutlich anders dar. Die Themen und Geschichten, die erzählt wurden, waren mannigfaltig. Das Sprechen darüber mit Deutschen hatte, generell gesagt, eine große Bedeutung für die Interviewpartner. Im Fokus standen die afrikanischen Akteure und deren Handlungen. Eine Bewertung in moralischen Kategorien stand nicht im Vordergrund, wurde meist gar
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nicht vorgenommen. Es ging um eine komplexe Geschichte, die Teil der eigenen Gegenwart ist. Der Befund deckt sich mit der Analyse der kamerunischen Historiografiegeschichte in Analogie zu Bürger (2017), die von Tristan Oestermann und Stefanie Michels im Rahmen einer Lehrveranstaltung vorgenommen wurde. Hier wurden die wichtigsten kamerunischen Geschichtsbücher, historische Romane, Abschlussarbeiten und Interviews ausgewertet14 (vgl. dazu auch den Beitrag von Tsogang Fossi in diesem Band). Transkulturelle »koloniale Aphasie«? Unser Forschungsdesign hat gezeigt, wie komplex es ist, gemeinsam über diese Geschichte zu sprechen. Und wir sehen eine Gefahr: In der Öffentlichkeit findet derzeit eine sehr verengte Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte statt. Es wird auf Verbrechen und Unrechtskontexte fokussiert. Afrikaner/innen kommen mehrheitlich als Opfer zu Wort. Diese Sicht fällt mehrere Jahrzehnte hinter die wichtigen Einsichten historischer Forschung zurück. Der renommierte Afrikahistoriker Frederick Cooper hat hierauf in einem als programmatische Kampfschrift verfassten Buch »Colonialism in Question« 2007 mit Verve hingewiesen.15 Der nigerianische Historiker Ade Ajayi hatte bereits 1969 formuliert, dass die Kolonialzeit in der Perspektive der Afrikaner/innen nur eine Episode sei und die Europäer kein Monopol auf die Initiative in dieser Situation gehabt hätten.16 Die Historiografie zur Kolonialgeschichte pointiert zusammenfassend kam die Ethnologin Anna-Maria Brandstetter bereits 1997 zu einer dezidierten Zurückweisung des in der Literatur vertretenen »OpferMythos«, da dieser weiterhin einer kolonialen Betrachtungsweise folge. Der ›Opfer-Mythos‹ homogenisiert Kolonisatoren und Kolonisierte zu abstrakten monolithischen Blöcken, stattet die Kolonialherren mit mehr Macht aus, als sie tatsächlich hatten, und unterschätzt die vielfältigen Handlungsstrategien der Kolonisierten – jenseits von Unterwerfung und Kollaboration.17
14 Vgl. dazu auch C. Authaler: Geschichtspolitik. 15 Das Buch liegt seit 2012 auch in deutscher Übersetzung vor. F. Cooper: Colonialism in Question und ders.: Kolonialismus denken. Die Kritik an einer dichotomen Darstellung kolonialer Geschichte geht viel weiter zurück, vgl. zusammenfassend und immer noch lesenswert bereits A.-M. Brandstetter: Kolonialismus. 16 Vgl. A. Ajayi: Colonialism. 17 A.-M. Brandstetter: Kolonialismus, S. 83.
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Cooper moniert an diesem Vorgehen – das er auch in den postcolonial studies verortet – ebenfalls, dass das tatsächliche Handeln nicht in den Blick gerate und damit letztlich eine Enthistorisierung der Kolonialgeschichte stattfinde.18 Wie wichtig es ist, jenseits von dichotomen Kategorien zu denken, zeigen Forschungen zu Familiengründungen und komplexen Figuren, wie den Dolmetschern, Kolonialsoldaten und auch den politischen Herrschern (s. hierzu Tsogang Fossi in diesem Band). Je moralischer und dichotomer die öffentliche Debatte in Deutschland jedoch wird – und das ist derzeit der Fall, desto mehr könnte sich auch die Diskussion in Kamerun in diese Richtung drehen. Die Forschung von Larissa Förster zu den Herero in Namibia hat genau das gezeigt.19 Die ambivalenten Geschichten, die bei den Herero vor 2004 noch erzählt wurden, waren nach 2004, der großen internationalen Aufmerksamkeit um die 100jährige Wiederkehr des Krieges gegen die Herero, verschwunden. Nicht nur Aktivist/innen schreiben an diesem Diskurs – auch Historiker/innen sind daran beteiligt. Historiker/innen konstruieren eine kohärente Deutung vergangener Ereignisse auf der Grundlage von historischem Material – seien es Schriftquellen, Bildquellen oder mündliche Geschichte, oder auch Artefakte. Dabei werden an vielen Punkten Entscheidungen getroffen, die sich jeweils vor dem Hintergrund gegenwärtiger Debatten und der Positionalität der forschenden Person ergeben. Das beginnt bei der Forschungsfrage, methodisch bei der Frage nach dem Forschungsdesign, bei den Archiven und Quellen, nach denen gesucht wird, an der Sprachkompetenz der forschenden Person, sowie dem alltäglichen Erfahrungshintergrund der Person. Und es geht dann weiter bei der Überführung in das Endprodukt, das Buch, den Artikel, oder den Wortbeitrag. Welche Begriffe werden gewählt, wie sind diese zustande gekommen? Bereits Christiane Bürger hat am Ende ihrer Untersuchung dafür plädiert Erzählformen zu erproben, »die Darstellungskonventionen der akademischen Geschichtswissenschaft hinterfragen und aufbrechen.«20 (zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Doll in diesem Band). Um dieser Polyphonie Rechnung zu tragen, haben wir unsere Projektergebnisse auch auf einer Webseite präsentiert und historisches und gegenwärtiges visuelles, filmisches und textliches Material bewusst möglichst unübersetzt gelassen.21 Unsere Erfahrungen mit den beiden Ausstellungen, die wir gemacht haben (Düsseldorf 2017, Dschang 2018) hat jedoch die Grenzen
18 Vgl. F. Cooper: Kolonialismus, S. 97. 19 L. Förster: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. 20 C. Bürger: Kolonialgeschichte(n), S. 278. 21 www.deutschland-postkolonial.de.
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dieses Unterfangens gezeigt – auch der Dokumentarfilm brauchte Untertitel, um ein Verstehen sowohl deutschsprachiger als auch französisch – und englischsprachiger Menschen zu ermöglichen. Wie »koloniale Aphasie« im transkulturellen Kontext wirkt, soll das abschließende Beispiel kurz anreißen. Das Verschwinden des Königs Asunganyi im transkulturellen Forschungsprozess Im August 2016 führte eine Gruppe von Studierenden aus Dschang und Düsseldorf (insgesamt drei Personen) ein Experteninterview in Fontem. Fontem liegt im anglophonen Gebiet Kameruns, unweit von Dschang und Bali und wird zum kamerunischen Grasland gezählt. Die Gruppe der Studierenden wurde von Prof. Afutendem (Anglistik, Universität Dschang) begleitet, der selbst aus der Gegend stammt und den Kontakt vermittelt hatte. Im Palast von Fontem sprach die Gruppe mit Vertretern des Königs über die Verbindung von Fontem und Deutschland. Das Interview wurde von einer Düsseldorfer Studierenden der Medien- und Kulturwissenschaft gefilmt und später für den Film verwendet. Um den Studierenden die Arbeit mit den Interviews (die mehrheitlich auf Französisch geführt wurden) zu erleichtern, ließen wir von einem Germanisten in Dschang Transkriptionen der Interviews anfertigen. Der Transkribierende war also ein Akademiker, der sich bestens mit Deutschland und deutscher Literatur und Gesellschaft auskannte und an unseren Forschungen in Kamerun zumindest am Rande beteiligt war (allerdings war er bei den Interviews selbst nicht anwesend).
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Wir unterscheiden im Folgenden zwischen drei verschiedenen Versionen der Interviewsequenz: Der Transkription des englischen Originals durch den kamerunischen Germanisten (TG), der deutschen Übersetzung (Ü) und unserer Transkription (TSM) 22.
TG So, they told us that, the Germans administered the whole Cameroon from the Coast area, and that they came to Fontem, borrowed workers and took them to the coast to work with them in the plantations. While going with those people, the Germans insure verbally that they will bring them (those workers) after finishing with the work. Ü Sie haben uns gesagt, dass die Deutschen ganz Kamerun von der Küstenregion aus verwalteten und dass sie nach Fontem kamen, Arbeiter ausliehen und diese mitnahmen zur Küste, wo sie auf den Plantagen arbeiten sollten. Als sie diese Leute mitnahmen, gaben die Deutschen ihr Wort, dass sie sie (diese Arbeiter) zurückbringen würden, nachdem die Arbeit beendet wäre. TSM At the reign of Fontem Asunganyi the Germans, who at the time administered Cameroon from the coastal areas came up to Fontem in the inner lands and borrowed workers, take them down to the coast to work in the plantations and they had some contracts, verbal contracts that they will bring back these people with time.
22 Das Interview ist nachzuhören auf unserer Webseite: www.deutschland-postkolo nial.de als Audiodatei unter dem Punkt »Conrau in Fontem«.
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An dieser Sequenz, die stellvertretend für viele stehen kann, die wir untersucht haben, lässt sich die »koloniale Aphasie« im transkulturellen Forschungsprozess sehr gut nachzeichnen. Der transkribierende Kameruner hat hier einige Entscheidungen getroffen. Er hat zunächst entschieden, den Namen des afrikanischen Akteurs wegzulassen. Warum? Unsere Vermutung ist, dass er hier sein Wissen einsetzte, dass Deutsche mit afrikanischen Namen nichts verbinden und diese eher verwirrend finden. Dadurch dreht sich jedoch nicht nur grammatikalisch die Subjekt-Objekt-Konstellation um. Zudem bindet er die Geschichte in den hegemonialen Deutungsrahmen einer Expansionsgeschichte ein, wodurch sich auch die dezidierte regionale Perspektive verliert. Die interviewte Person spricht von Fontem als »oben« und der Küste als »unten«, was wahrscheinlich topografisch gemeint ist, denn Fontem liegt am Rande des hoch gelegenen Graslands. Historisch gesehen war dieses Gebiet das Übergangsgebiet zwischen zwei Handelsregionen, die sowohl in den atlantischen als auch den Handel nach Norden übergingen – also eine strategisch wichtige Funktion besaßen. »Up« und »down« bezeichnet also ebenso eingeübte Handelsrichtungen, die nicht von der Küste, sondern von Fontem ausgehen. Aber auch die tatsächliche Rede bringt Probleme des Verstehens bei einem deutschen Publikum mit sich. Wieso »liehen« sich die Deutschen Arbeiter, was waren das für »mündliche Verträge«? Handelt es sich hier um »Zwangsarbeit« – einem in Deutschland zeitgenössisch und in der Forschung umstritteneren Begriff? Erst ein weiterer regionaler und historischer Zusammenhang lässt hier Komplexitäten aufschimmern: Fontem Asunganyi stand in untergeordneter Position zu Galega aus Bali. Der ihn besuchende (und letztlich in Fontem inhaftierte und verstorbene) deutsche Arbeiteranwerber Conrau arbeitete als eine Art freelancer (oder ganz aktuell ausgedrückt: Multijobber) für verschiedene Arbeitgeber, u.a. für die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Victoria, aber auch für das Völkerkundemuseum in Berlin – und wieder stellen sich begrifflich aufgeladene Deutungsmuster ein: »koloniales Raubgut?« Die Erzählung in Fontem ist an diesen Deutungen nicht interessiert. Das Metanarrativ der Geschichte ist das Heldentum Asunganyis und seine stets präsente aktive Rolle als Handelnder. Der Krieg der Deutschen wird in seiner Gewalttätigkeit klar benannt und die Entscheidung Asunganyis, sich zu stellen, als heroisches Opfer gewürdigt. Am Ende der Erzählung kehrt Asunganyi aus dem Exil zurück und regiert in Fontem bis zu seinem Tode in den 1950er Jahren. Dieses Beharren auf eigenen Raum, eigener Zeit und eigenem Sinn (in Anlehnung an Alf Lüdtkes Konzept des »Eigen-Sinns«) ist auch in vielen lokalhistorischen und
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literarischen Werken, sowie in Verfilmungen in Kamerun zu konstatieren (vgl. Tsogang Fossi in diesem Band).23 Where from here? Methodologisch folgte unsere Forschung ebenso wie dieses Buch der histoire croisée, die in Verbindung mit Gedächtnistopographien gebracht wurde.24 Wir stellen allerdings fest, dass wir weiterhin im Stadium der Reformulierung der Begriffe und des Forschungsgegenstandes stecken. Die vorliegenden Beiträge in diesem Buch kreisen um drei thematische Achsen, nämlich »Regionen und Welten«, »koloniale Verbindungen« und transdisziplinären Ansätze zur transkulturellen Erinnerung (»Erinnerung – transkulturell und transdisziplinär«). Der erste Teil des Buches, der sich mit methodisch-empirischen Ansätzen zum Thema »Regionen und Welten« (Paulmann) beschäftigt, besteht aus drei Beiträgen. Jasmin Grande betrachtet in ihrem programmatischen Beitrag zur Erforschung von Regionen diese vor allem als Kulturräume in der Perspektive der sie schaffenden Akteure. Nach einem kurzen Überblick über die Säulen des Instituts »Moderne im Rheinland« an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, dem sie angehört, konzentriert sie sich auf Forschungsmethoden zu regionalen Kulturräumen, die Produkte, Ereignisse, Interaktionen und deren kulturelle Inhalte hervorheben – hier immer bezogen auf die Akteurskategorien »Rheinland« und »Moderne«. Sie deutet auch die Möglichkeiten des erweiterten Bezugsrahmens eines »Rheinlands« in seinen »globalen Beziehungen« an. Albert Gouaffos Beitrag will zeigen wie vielschichtig und facettenreich die in der Vergangenheit interkulturell erfahrenen und erlebten Räume in der Gegenwart gedeutet werden können. Indem Franz Thorbecke und seine Frau Marie Pauline als Forschungsreisende unter äußerst schwierigen Bedingungen ihr Wissen und Können im Dienste der Koloniallobby stellten, wussten Sie nicht, dass Sie für die dominant orale Kultur der Grasländer Kameruns eine große Doku-
23 Jüngstes fulminantes Beispiel für die elaborierte Entwicklung solcher eigensinnigen Räume: P. Nganang: Mont Plaisant (auf Deutsch: Im Schatten des Sultans), aber bereits J. Ikelle-Matiba: Cette Afrique-Là (auf deutsch: Adler und Lilie). 24 M. Espagne: Transferts franco-allemands, vgl. auch M. Werner/B. Zimmermann: De la comparaison à l’histoire croisée; M. Werner/B. Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung; S. Michels: Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopographien; A. Lübcke/S. Michels: Theoretische Überlegungen zu Erinnerungskonzepten; auch M. Rothberg: Multidirectional Memory und A. Erll/A. Rigney: Cultural Memory Studies.
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mentationsarbeit leisteten, die angesichts der zunehmenden Globalisierung für die Stiftung von Identitäten in diesem Raum von enormer Wichtigkeit sein kann. Franz und Marie Pauline Thorbecke haben im Auftrag der deutschen Kolonialgesellschaft neben Landvermessung und Erkundung des Nordhinterlandes von Kamerun ethnographisches Material aus dem bereisten Gebieten gesammelt, die der Stadt Mannheim als Gegenleistung für einen Reisekostenzuschuss übereignet wurde. Skeletten wurden der Universität Heidelberg geliefert und Marie Pauline hat ihre völkerkundlichen Fotografien der Reise dem Kölner Rautenstrauch-Joest Museumgeschenkt, die als Illustrationsmaterial für das Museum verwendet wurde. 1914 publizierte Marie Pauline ihr Tagebuch, in dem die Erfahrungen der zwischen 1911 und 1913 unternommenen Forschungsexpedition erzählerisch und multimedial (Photographie, Malerei, Zeichnung) dokumentiert wurden. Das (post-)koloniale Grasland von Kamerun und das Rheinland verdanken heute dem Werk der beiden Forscher eine Möglichkeit Rekonstitution der gemeinsamen Geschichte, sei es im Sinne der Provenienzforschung, sei es der kolonialen Erinnerung und Versöhnung. Gouaffos Aufmerksamkeit in diesem Beitrag gilt besonders der Analyse des Werkes Auf der Savanne. Tagebuch einer KamerunReise. Im Kontext der interkulturellen Erinnerung möchte ich aus kamerunischer Perspektive die Topoi des Graslandes als Landschaft und images herausarbeiten, die wegen starker Urbanisierung der beschriebenen Region zu verschwinden drohen, aber auch das Potential dieses archivierten Wissens für die Gegenwart zu erläutern. Orte des Erinnerns sind Dschang, Bana, Tikar und Wute. Stefanie Michels’ Reflexion konzentriert sich auf die Stadt Düsseldorf und ihre Beziehungen zur Welt im 19. und 20. Jahrhundert. Sie kann hier regionale Spezifika herausarbeiten und erklärt, dass die Beziehungen der Stadt zur Welt durch die Industrie, die Kunst, große Ausstellungen und Kriege sowie durch die Präsenz von Menschen verschiedener Horizonte aufgebaut wurden. Der zweite Teil dieses Buches beschäftigt sich mit kolonialen Verbindungen und mit Akteuren und Objekten, die in den betrachteten Regionen (Rheinland und Grasland) im kolonialen Kontext zirkulierten. Die Ethnologin Lucia Halder erläutert am Beispiel unseres Forschungsprojektes zum fotografischen Nachlass von Marie Pauline Thorbecke aus dem Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum wie historische Fotografien aus der Kolonialzeit in kooperativen oder partizipativen Forschungsprojekten erschlossen werden können und ordnet die Erkenntnisse in die derzeitige Diskussion um geteiltes kulturelles Erbe aus der Kolonialzeit ein. Richard Tsogang Fossi interessiert sich für verschiedene Medien wie Film, Fernsehen und Internet, die die Erinnerung an die Freundschaft zwischen deutschen und kamerunischen historischen Figuren erinnert: Eugen von Zintgraff,
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ursprünglich aus Düsseldorf und Galega I, dem König von Bali. Er zeigt, dass die »Freundschaft«, die er »hegemoniales Kalkül« nennt, zwischen den beiden Männern, zu einem komplexen Ort der Erinnerung im kamerunischen Grasland und im gegenwärtigen Kamerun geworden ist, der sich je nach Akteursperspektive anders darstellt – der Beitrag zeigt somit die koloniale Ambivalenz und damit auch die »koloniale Aphasie« innerhalb Kameruns an. Yaǧmur Karakış hingegen untersucht die Biographie von ethnografischen Objekten, die während der Kolonialzeit nach Deutschland gebracht wurden. Ihr besonderes Interesse gilt der Objektgeschichte einer Bast-Tasche aus dem kamerunischen Grasland. Diese Tasche mit der Referenznummer IV Af 8054 im Mannheimer Völkerkundemuseum wurde in Fongodeng, hergestellt, für zwei Reichsmark gekauft und 1911/12 vom Ehepaar Thorbecke nach Deutschland gebracht und befindet sich seitdem im Depot der Reichs-Engelhorn-Museen in Mannheim. Omer Lemerre Tadahas Beitrag ist eine literarische Analyse von semifiktionalen Narrativen von Franz und Marie Pauline Thorbecke. Viele Reisende des kolonialen Unternehmens strebten nach physischen und symbolischen Funden unterschiedlicher Arten. Im Sammlungsprozess in der vermeintlich exotischen Welt schwebten die Reisenden zwischen Realität, Vernunft und Phantasie, sodass der Schatz, den sie bei der Rückkehr mitbrachten, sich als vielseitig erwies. Franz und Marie Pauline Thorbecke fixierten ihre Graslanderfahrungen in Texten, denen sie ihren Ruhm zum Teil verdanken. In den Werken »Im Hochland von Mittel-Kamerun«, »Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes« und »Auf der Savanne«, wo es um die symbolische Aneignung des Graslandes geht, wird klar, dass die Verfasser keinen Unterschied zwischen Fiktion und Realität finden. In geokritischer Hinsicht wird hervorgehoben, wie die Verfasser in ihrem Schreibprozess einen Zwischenraum erfinden, der dem wirklichen Graslandraum nicht entspricht. Es entstand ein Zwischenraum, ein Meta-Raum, wo ZombieFiguren oder Marionettenfiguren hin und herliefen. Die Erschaffung dieses Raumes durch besondere Schreibtechniken diente zu einem einzigen Zweck, und zwar der Heroisierung, der Mythisierung und der Mystifizierung der Franz und Marie Pauline Thorbecke. Der dritte und letzte Teil dieses Buches ist transdisziplinären Zugängen zu transkultureller Erinnerung gewidmet. Der Beitrag von Martin Doll reflektiert die gemeinsamen Forschungen von Wissenschaftler/innen mit geschichtlichen Zeugen aus Kamerun und Deutschland nicht nur als transnationalen, sondern auch als transdisziplinären Prozess. Vor dem Hintergrund des Dokumentarfilms, der in diesem Rahmen entstanden ist, werden die möglichen methodologischen Problemstellen einer visuellen Ko-
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lonialhistoriografie zwischen Objektivismus und Partikularismus thematisiert. Im Anschluss daran werden die Strategien skizziert, den beschriebenen Dilemmas im Film zu entkommen, um abschließend die anvisierte filmästhetische Ambiguität mit den durch das Ausstellungsdesign angestrebten ambivalenten Deutungsangeboten ins Verhältnis zu setzen. Wie ist es filmisch möglich, nicht dichotom zu erzählen, ist seine Hauptfrage. Im thematischen Mittelpunkt des Beitrags von Alexander Ziem (germanistische Sprachwissenschaft) stehen Erinnerungen in Interviews über Wissen über die deutsche Kolonialzeit. Erinnerung wird nicht allein als ein kognitives, sondern ebenso als ein inhärent soziales Phänomen begriffen, das erst in der Interaktion zwischen den Gesprächsteilnehmer/innen entsteht. Konkret geht der Beitrag interaktionsspezifischen Konstitutionsbedingungen von Erinnerungsprozessen – insbesondere Kontextualisierungs- und Positionierungsaktivitäten der Beteiligten – nach. Ziel der Beispielanalyse ist es, am Beispiel der kolonialgeschichtlichen Vergangenheit Deutschland aufzuzeigen, inwiefern interaktive Praktiken teils implizit, teils explizit dazu beitragen, den Gegenstand und die Herausbildung von Erinnerungen zu steuern. Historische Erinnerungen, so die These, lassen sich nicht vom interaktiven Ort ihrer Entstehung loslösen, weil vergangene Ereignisse durch orchestrierte diskursiv-situierte Praktiken interaktiv verfügbar gemacht und thematisiert werden Der abschließende Beitrag der Historikerin Britta Schilling macht anhand der stets umstrittenen Figur Hermann von Wissmann das Konzept der »kolonialen Aphasie« stark, indem sie die Zyklen der Erinnerung an ihn historisch vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und NS-Zeit bis in die Gegenwart nachtzeichnet. Gegen den Hintergrund der heutigen Umbenennungsinitiativen der Wissmannstraße in Düsseldorf analysiert dieser Beitrag Hermann von Wissmann als kontroverses Symbol und Verflechtungspunkt der Erinnerungen an den deutschen Kolonialismus, eine Figur zwischen Herrschaft und Fürsorge, Heldentum und Rassismus und nationaler und regionaler Identitäten. Die öffentliche Erinnerung, aber z.T. auch private Erinnerungen an Wissmann, werden kritisch untersucht. Warum kehrt Wissmann immer wieder ins kulturelle Gedächtnis zurück? War er jemals vergessen? Das Projekt, zu dem Albert Gouaffo die kamerunischen Germanisten auffordert, nämlich die koloniale Literatur als wichtigen Wissensbestand zur kamerunischen (Literatur-)Geschichte zu sehen, wird ebenfalls vielfältige »koloniale Aphasien« hervorrufen. Gerade im transkulturellen Raum – und das hat bereits das gemeinsame Verfassen von Artikeln und das gemeinsame Redigieren der hier versammelten Beiträge gezeigt, muss empirisch dichte und produktive Begriffsarbeit geleistet werden. Und ganz nebenbei: das kann sogar Spaß machen
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UND es bringt einen fruchtbaren Dialog zustande. Wir hoffen, dass die Beiträge in diesem Buch zeigen, in welche unterschiedliche Richtungen wir gemeinsam und getrennt gedacht und geforscht haben. Wir hoffen auf eine Weiterführung unserer lebhaften Diskussionszusammenhänge.
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LITERATUR Ajayi, Ade: »Colonialism. An Episode in African History«, in: Lewis H. Gann/Peter Duignan (Hg.): Colonialism in Africa 1870-1960, Bd. 1, London 1969, S. 497-508. Authaler, Caroline. Geschichtspolitik im postkolonialen Kamerun. Geschichtsschulbücher zwischen Dekolonisierung und Nationbildung. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Heidelberg 2009. Boer, Pim den (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. München 2012. Brandstetter, Anna-Maria: »Kolonialismus. Wider die vereinfachenden Dichotomien«, in: Jan-Georg Deutsch/Albert Wirz (Hg.): Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten. Berlin 1997, S. 75-106. Bürger, Christiane: Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und der BRD. Bielefeld, 2017. Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley 2007 (auf deutsch: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt/Main 2012. Erll, Astrid/Rigney, Ann (Hg): Cultural Memory Studies after the Transnational Turn. Special Issue of Memory Studies 11,3 2018. Espagne, Michel: Les transferts franco-allemands, Paris 1999. Förster, Larissa: Postkoloniale Erinnerungslandschaften. Wie Deutsche und Herero in Namibia des Kriegs von 1904 gedenken, Frankfurt/Main 2010. François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. München 2001. Ikelle-Matiba, Jean: Cette Afrique-Là. Paris 1963. Lübcke, Alexandra/Michels, Stefanie: »Theoretische Überlegungen zu Erinnerungskonzepten. Eine erinnerungstopographische Annäherung an eine Migrations-Familien-Geschichte«, in: Elisabeth Boesen/Fabienne Lentz (Hg.): Migration und Erinnerung. Konzepte und Methoden der Forschung. Migration et mémoire. Concepts et méthodes de recherche, Berlin, 2010, S. 191219. Michels, Stefanie/Temgoua, Albert-Pascal (Hg.): La politique de la mémoire coloniale en Allemagne et au Cameroun. Münster 2005. Michels, Stefanie: »Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopographien – Medien, Akteure, Topoi«, in: Steffi Hobuß/Ulrich Lölke (Hg): Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas, Münster 2007, S. 117-139. Michels, Stefanie: »›Kennwort: Askarispende‹ – Koloniale Kontinuitäten in der Ära Adenauer und darüber hinaus«, in: Gertrud Cepl-Kaufmann et al. (Hg.):
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Die Bonner Republik 1945-1963 – Die Gründungsphase und die AdenauerÄra. Geschichte – Forschung – Diskurs. Bielefeld 2018, S. 265-304. Monson, Jamie/Giblin, James (Hg.): Maji Maji. Lifting the fog of war, Boston 2010. Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoires: Paris, 1997. Nganang, Patrice: Mont Plaisant. Paris, 2017. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009. Schilling, Britta: Postcolonial Germany. Memories of Empire in a Decolonized Nation. Oxford 2014. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: »Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte (Hg): De la comparaison à l’histoire croisée. Paris 2004. Zimmerer, Jürgen (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt/Main 2013.
Regionen und Welten
Zur Erforschung von Regionen als Kulturräume im Kontext der Moderne Das Institut »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Jasmin Grande
Die hier vorgestellten theoretischen und methodischen Ansätze sowie Konzepte der Forschung, die seit der Gründung des Arbeitskreises zur Erforschung der »Moderne im Rheinland« e.V. 1989 sowie des Instituts »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2000 maßgeblich unter der Leitung von Gertrude Cepl-Kaufmann sowie seit 2011 mit mir in stellvertretender Leitungsposition entwickelt wurden, stellen einen Querschnitt durch das von vielfältigen Akteuren und Einflüssen getragene Forschungsfeld der »Moderne im Rheinland« dar.1 Als wichtiger Begleiter und inhaltlicher Impulsgeber, nicht zuletzt in allen Forschungsebenen zum Sakralen ist hier Jürgen Wiener zu nennen, der dem An-Institut seitens der Heinrich-Heine-Universität aus der Kunstgeschichte vorsteht. Als Forschungseinrichtung versteht sich das An-Institut »Moderne im Rheinland« als Knotenpunkt zwischen kulturpraktischen und kulturwissenschaftlichen Institutionen und Akteuren, der Forschungspositionen und –fragestellungen kritisch anstößt und in einen Disziplinen und Institutionen übergreifenden Austausch bringt. Um diesen Anspruch an unser Forschungsfeld zu gewährleisten, haben wir fünf Punkte erarbeitet, die die Basis bilden. In der Forschungsperspektive mag dieser zunächst praktisch orientierte Zugriff erstaunen, doch sind es eben diese programmatischen Voraussetzungen, auf die sich das An-Institut mit einer Vielzahl an Herangehensweisen und Projekten beruft.
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Weiterführend: G. Cepl-Kaufmann: Erforschung der Moderne im Rheinland.
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INTER- UND TRANSDISZIPLINARITÄT Der Gründungsimpuls zur »Moderne im Rheinland« ging maßgeblich vom Wissenschaftsministerium NRW aus: mit einer losen Forschungsgemeinschaft sollten interdisziplinäre Forschungen zur Region angestoßen werden. Schnell fanden sich an der RWTH Aachen Vertreter verschiedener Disziplinen bereit, das Thema zu diskutieren. Mit der Gründung des An-Instituts an der Heinrich-HeineUniversität zur Jahrtausendwende wurde eine Doppelstruktur der »Moderne im Rheinland« initiiert, die bis heute ihr Aktionsfeld prägt: Der lose Arbeitskreis ging in den Verein zur Erforschung der »Moderne im Rheinland« e.V. über, hier versammelten sich Mitglieder und Interessenten aus vielfältigen Arbeitskontexten und Institutionen unter dem demokratischen Dach einer Vereinsstruktur zusammen. Das Institut »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität hob die enge Verknüpfung von universitärer Forschung und Lehre in der »Moderne im Rheinland« auf eine institutionelle Ebene. In dieser Doppelstruktur manifestiert sich zugleich der Anspruch des Nachdenkens über die Disziplinen und Institutionen hinweg, indem die Aktivitäten konzeptionell am Institut entwickelt und im Diskurs mit den Mitgliedern des Arbeitskreises durchgeführt werden. Insbesondere in den letzten Jahren erweitert der Arbeitskreis die Aktivitäten des An-Instituts durch eigene Diskursbeiträge und Veranstaltungen, so z.B. anlässlich der Initiierung eines Forschungsschwerpunkts der »Moderne im Rheinland« gemeinsam mit der Philosophischen Fakultät der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf zu der Phase der Bundesrepublik, die gern auch als »Bonner Republik« gefasst wird: von der Konstituierung in der Nachkriegszeit bis zum Umzug nach Berlin.2 Der Arbeitskreis »Moderne im Rheinland« veranstaltete hierzu im Mai 2016 einen Workshop im Haus der Universität, in dem die Mitglieder mit Kurzbeiträgen ihre Zugriffe auf den Zeitraum präsentierten. In diesem Workshop fanden sich die Kompetenzen der Arbeitskreismitglieder zum Thema gebündelt und in einem Format, das den Raum für über den wissenschaftlich legitimierten Zugriff hinausgehende Reflexionen bereitstellte. So konnten hier z.B. Sammlungsinteressen ebenso wie eigene Erfahrungen mit dem
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Die ersten Aktivitäten im Forschungsschwerpunkt fanden 2016 statt, mit einer Ringvorlesung zu »Die Bonner Republik. Forschung – Diskurs – Öffentlichkeit«, die erste Publikation hierzu erschien 2018: G. Cepl-Kaufmann/J. Grande/U.Rosar/J. Wiener (Hg.): Bonner Republik.
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Forschungsstand in Abgleich gebracht und zu weiteren Fragestellungen entwickelt werden.3 Verpflichtung zur Öffentlichkeit Diese breite Aufstellung als Mittler und Initiator von Forschungen aus Kulturpraxis und Wissenschaft verpflichtet die »Moderne im Rheinland« darüber hinaus zum Austausch mit der Öffentlichkeit. Es geht also um die Einbindung der Medien, Fachkreise, der universitären, z.B. studentischen ebenso wie der digitalen Öffentlichkeit in der Region und darüber hinaus in unsere Aktivitäten und um den Austausch mit dieser! Eines der aktuellen Themen der »Moderne im Rheinland«, das hundertjährige Gründungsjubiläum des Bauhauses, weist in der Diskrepanz zwischen dem in der Gesellschaft an Weimar geknüpften Geschichtsbegriff und dem Forschungsdiskurs auf die dringende Notwendigkeit des fortwährenden Austauschs hin. Im Staatsvertrag mit elf Bundesländern wird 2019 unter dem Titel »Bauhaus100« und in NRW als »Bauhaus100 im Westen« die Gründung der Verbindung von Kunstakademie und Kunstgewerbeschule gefeiert. Parallel hierzu, aber weitgehend unabhängig finden eine ebenfalls markante Vielzahl an Aktivitäten anlässlich der Gründung der Weimarer Republik vor einhundert Jahren statt.4 Doch trotz in der bereits im Vorlauf dichten Berichterstattung zu den Anlässen, macht sich eine Diskrepanz bemerkbar, auf die unlängst Franka Maubach in einem hierzu erschienenen Themenheft der Bundeszentrale für politische Bildung hinwies: Spätestens seit dem neunzigsten Gründungsgedenken der Republik 2009 auch in der breiteren Öffentlichkeit wahrnehmbar, verweisen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die prinzipielle (Gestaltungs-)Offenheit der Geschichte der Weimarer Zeit: […] Statt Weimar immer nur im Rückspiegel, vom Scheitern der Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 her zu sehen und zu verstehen, fordern sie – mal mehr, mal weniger programmatisch – eine antiteleologische Perspektive, die den offenen Erwartungshorizont der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ernst nimmt. Die Dissonanz zwischen Forschungsstand und gesellschaftlicher Debatte […] ist frappierend.
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Vgl. hierzu die Beiträge von Ulrike Laufer, Georg Mölich, Thomas Schleper und Michael Zepter im o.g. Band:G. Cepl-Kaufmann et al. (Hg): Bonner Republik.
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Angestoßen werden diese Aktivitäten vor allem durch den Verein Weimarer Republik
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Maubach, Franka, Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Ausblick auf
e.V. http://www.weimarer-republik.net/ [16.05.2018]. das Gründungsjubiläum 2019, in: APuZ, 18-20 (2018), S. 4-9, hier S. 4.
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Insbesondere solche Verbundprojekte, die in ihrem Umfang und bestenfalls ihrer Komplexität an einer europäischen Ebene des Themas arbeiten, sind dazu geeignet, einem vereinfachenden Geschichtsbegriff entgegenzuwirken. In der Frage nach der Verantwortung von Wissenschaft und Kulturbetrieb gegenüber der Gesellschaft ist der Austausch mit einer größeren Öffentlichkeit Teil der Aufgabe, der sich auch die »Moderne im Rheinland« verpflichtet. Reflexion des Einflusses der bestehenden Möglichkeiten auf die Arbeitsweise Sowohl die Vereinsstruktur der Basis – der Arbeitskreis – als auch das Fehlen einer finanziellen Dauerförderung haben zur Konstruktion der »Moderne im Rheinland« beigetragen. Erst so lässt sich das sowohl räumlich als auch zeitlich fluide und rege metastrukturelle Konstrukt der »Moderne im Rheinland« verstehen. Neben der überlebensnotwendigen Verpflichtung zur Aktualität sowohl im Kultursektor als auch im Wissenschaftsdiskurs gehört die disziplinenübergreifende (oder auch -unterwandernde) inhaltliche Klammer zu den Basisanforderungen, die geleistet werden müssen, um auf den vielfältigen Drittmittelfeldern zwischen DFG, LVR, Ministerien, Bund, Stiftungen, etc. erfolgreich zu bleiben. Auch wenn die Kritiken an der Drittmittelzuwendung des gegenwärtigen Wissenschaftssystems in jeder Hinsicht nachvollziehbar sind, so ist doch genau dies die Existenzgrundlage, auf der das Institut sich in den vergangenen bald 20 Jahren entwickelt hat. Die historisch ablesbaren Dynamiken entsprechen also nicht dem einer finanziell kontinuierlich gesicherten Einrichtung. Die Sorge ums Überleben und die daran geknüpften Selbsterfindungen ebenso wie zu gründenden Interessensgemeinschaften stellen die kontinuierliche Basis der »Moderne im Rheinland«. Dazu gehört auch, dass Planungssicherheit über die personelle Kontinuität und die fortwährende Aktivität jenseits finanzieller Ressourcen gesichert sein muss. Das erfordert eine fortwährende Selbstbefragung hin zur Rollenverteilung in Anbetracht der unsicheren Ressourcen bis hin zur Rückversicherung auf Professionalisierung. Professionalisierung Professionalisierung als Versicherung auf die Zielebene hin verstanden stellt in einer Initiative, die sich über eine Vielfalt an Interessen und Akteuren definiert sowie zwischen den Institutionen wechselt, ein wichtiges Schlagwort dar. Alle Aktivitäten sind auf die Frage, inwiefern sie einen Beitrag zu an der kritischen Theorie ausgerichteten Forschungen zur Region im Kontext eines europäischen
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Selbstverständnisses leisten können. Insofern changieren die Handlungsfelder zwischen Wissenschaft,6 Kultur,7 Lehre bzw. Vermittlung8 und Politik9 und erfahren entsprechend unterschiedliche Ausrichtungen und Formate. Auf der Zielebene bleibt jedoch die Notwendigkeit, die Aktivitäten am Ende für das Gesamtkonzept »Moderne im Rheinland« zu legitimieren, präsent. »No man is an island« (John Donne): Die Moderne im Rheinland in Europa in der Welt Das Rheinland wird im Konzept der »Moderne im Rheinland« als Transferregion verstanden, deren Erforschung erfordert, den Austausch zwischen den Akteuren über die Region hinaus wieder sichtbar zu machen. So haben Tagungen zum Kulturtransfer vor dem Ersten Weltkrieg die Relevanz hervorgehoben, die z.B. Berlin und Paris für die Moderne im Rheinland hatten und vice versa das Rheinland z.B. für die Ausstellungsgeschichte des 20. Jahrhunderts in New York.10 Die Ausdehnung der Perspektive, wie sie im Rahmen des Workshops zur (kolonialen) Begegnung Rheinland – (kamerunisches) Grasland im August 2016 stattfand, ist in diesem Sinne eine notwendige Erweiterung, weil es die Perspektive
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Z.B. in den über 70 Tagungen, die die »Moderne im Rheinland« bisher veranstaltet
7
Z.B. in den über zehn großen Ausstellungen, die die »Moderne im Rheinland« bisher
hat. kuratiert hat. Vgl. hierzu G. Cepl-Kaufmann/J. Grande: Nachdenken über das Ausstellen. 8
Z.B. im Lehrkonzept »Archiv – Museum – Ausstellung« der »Moderne im Rheinland«, das in eine Vielzahl an Studierendenkolloquiua und -ausstellungen erprobt wurde und mit Variationen weitere Bereiche der Kulturpraxis aufgreift, z.B. virtuelle Ausstellungen, wikis, etc.
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Z.B. in der Begleitung großer Verbundprojekte, wie sie seit 2011 mit Unterstützung der »Moderne im Rheinland« u.a. vom Landschaftsverband Rheinland angestoßen werden, vgl. die Dokumentation zu »1914 – Mitten in Europa«: http://www. lvr.de/de/nav_main/kultur/berdasdezernat_1/1914/1914_1.jsp oder auch jetzt aktuell zu »Bauhaus100 im Westen«: http://www.lvr.de/de/nav_main/derlvr/presse_1/presse meldungen/press_report_129288.jsp. Mit Verbundprojekten in regionen- und spartenübergreifender Struktur, wie auch z.B. zum Reformationsjubiläum mit dem Titel »Luther2017«, werden neue Wege erprobt, die Relevanz von Kultur in und für die Gesellschaft zu stärken.
10 Vgl. z.B. G. Cepl-Kaufmann/J. Grande/G. Mölich (Hg.): Rheinisch! Europäisch! Modern!
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auf globale Bezüge des Rheinlands weitet. Nicht zuletzt handelt es sich bei dem Begriff »Rheinland« selbst um einen zwischen historischen und politischen Räumen sowie kulturellen Aufladungen anzusiedelnden Begriff. Im Zentrum der Erforschung der Moderne im Rheinland steht also nicht die Erarbeitung eines abgegrenzten politischen Raumes, sondern ein fluides Konzept, das zwischen Akteuren und Zeiten changiert und dessen Vielfalt nur in der Komplexität vermittelbar ist. Die »Moderne im Rheinland« ist hiermit Teil der wissenschaftstheoretischen und -historischen Entwicklungen zum spatial turn.11 Mit diesen fünf Punkten, die als Selbstverständnis und damit konzeptionelle Basis der »Moderne im Rheinland« fungieren sowie die historische Genese abbilden, gilt es nun, nach einer kurzen Vorstellung des methodischen Spektrums ein konkretes Beispiel hervorzuheben sowie das Transferpotential im Regionenvergleich Rheinland/(kamerunisches) Grasland zu reflektieren.
METHODEN ZUR ERFORSCHUNG VON REGIONEN Beispiele aus der »Moderne im Rheinland«: Regionen im Vergleich, die Region stellt sich aus, Rhetorik der Region Im Umfeld der Bewegungen zum spatial turn der letzten Jahrzehnte erforscht die »Moderne im Rheinland« die Region in ihrer Raumangebot kultureller Ausprägungen. Kulturelle Produkte, Ereignisse, Interaktionen und Inhalte werden im Hinblick auf ihre Raumreferentialität untersucht, um damit ein komplexes Gefüge von konstituierenden und diskursivierenden Anteilen in der Lesart der Region Rheinland nachvollziehbar zu machen. Um aber einzelne Ereignisse, Prozesse, Produkte und Akteure in einem wissenschaftlichen Zugriff auf ihre Relevanz für die Region hin zu untersuchen, bedarf es eines komparatistischen Ansatzes, der in der Vielfalt der Vergleichsmomente gezielte Zuspitzungen ermöglicht.
11 Dreiländerecke als vergleichenden Ansatz zur Regionenerforschung und als alternative Kartographie Europas hat die »Moderne im Rheinland« unter der Leitung Gertrude Cepl-Kaufmanns in einem umfangreichen EU-Antrag in den Blick genommen, der leider abgelehnt wurde, aber z.B. in der Tagungskooperation über »Gedächtnistopographien im Grenzraum. Pomorze und Rheinland als trilaterale Kulturräume« mit der Arbeitsstelle zur Erforschung von Erinnerungsnarrativen in Grenzräumen am Institut für Deutsche Philologie der Universität Danzig 2015 in den Blick genommen, die Publikation ist in Vorbereitung.
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Naheliegend zur Erforschung einer Region ist der Ansatz eines Regionenvergleichs, mit dem mit dem Rheinland als Zentralperspektive nicht zwischen zwei, sondern drei Regionen Vergleichsmomente herausgearbeitet werden können. Mit dem Denkbild des Dreiländerecks kann das Rheinland auf diachroner sowie synchroner Ebene befragt werden. Als Spannungsgefüge bieten sich hier die Zuschreibungen zwischen Preußen, Frankreich und dem Rheinland an, aber auch zwischen den Niederlanden, Belgien und Nordrhein-Westfalen.12 Gerade für das 20. Jahrhundert bietet sich ein weiteres Format an, mit dem sich Regionen selbst gestaltet haben: die Ausstellung.13 Als Maßnahmen der Profilierung sowie Imagepflege umfasst der Begriff Ausstellung im 20. Jahrhundert sowohl Kunstausstellungen als auch Gewerbe- und Industrie, Gartenausstellungen, etc. Das Thema ist bereits umfangreich erforscht, jedoch in seiner Relevanz als Mittel der Selbstdarstellung einer Region noch nicht hinlänglich untersucht.14 Parallel zu den Weltausstellungen entsteht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Repräsentationssystem, in dem sich die Regionen in eigenen Riesenschauen in den Kontext ihrer Zeit einordnen und z.B. eine unzulängliche Präsentationsmöglichkeit auf den Weltausstellungen aufzufangen suchen. Köln und Düsseldorf können hier mit den in die internationale Ausstellungsgeschichte eingegangenen Ausstellungen des Werkbunds (z.B. 1914), des Sonderbunds (z.B. 1912), der Pressa (1928), aber auch der GeSoLei (Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen, 1926) eine herausragende historische Position für sich behaupten. Doch insbesondere der Vergleich zweier Orte wie Köln und Düsseldorf und ihrer jeweiligen Ausstellungsprojekte zeigt, wie divergent das einzelne Profil herausgestellt wurde und wie unterschiedlich der jeweilige städtische Zugriff auf die Modernität war.15 Als dritte und komplexeste Methode zur Erforschung von Regionen hat Gertrude Cepl-Kaufmann seit 2010 das Modell der »Rhetorik der Region« entwickelt.16 Es bildet, insbesondere mit seinen Forschungserträgen zu den Basiskon-
12 »Für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellung relevant ist nicht der Raum als Begriff einer physikalischen Entität, sondern die Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte.« S. Günzel: Raum – Topologie – Topographie. 13 Vgl. hierzu noch immer spannend E. Mai: Expositionen; sowie die Forschungen aus der »Moderne im Rheinland”: J. Grande: Sinnagenturen der Moderne; J. Grande: Die Moderne ist unsere Antike; J. Grande/V. Peters/M. Romeike: Spurensuche. 14 T. Großbölting: Reich der Arbeit; J. Grande: Parallelen. 15 Vgl. G. Cepl-Kaufmann/J. Grande: Christus ausgestellt. 16 G. Cepl-Kaufmann: Denkbild und Praxis.
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zepten von Region, Identität und Komparatistik die Grundlage der Arbeit am Institut »Moderne im Rheinland«. Gertrude Cepl-Kaufmann schreibt darin die Rhetorik in eine Analyse kultureller Zeichensysteme weiter. Anknüpfend an Gert Ueding versteht sie Rhetorik auch als Lehre des Schreibens und, mit Rückgriff auf Heideggers universalistischer Lesart von Hermeneutik, als eine »Hermeneutik des Daseins«. Als Zeichensystem aller Äußerungsformen von Kultur macht sie, so Cepl-Kaufmann, klassische Indikatoren einer Wirkungsästhetik lesbar, Kultur wird in diesem Verständnis von Rhetorik zu einem Akt des Zeigens: In Kultur zeigt sich der Fundus erzeugter Äußerungen in einem gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang, der, zu einem Teppich verdichtet, sich als Form gewordenes Netz präsentiert und sich dabei historisch bekannter oder neu erzeugter Muster bedient. So stellt die Rhetorik der Region sowohl als Denkbild zur Reflexion des Spezifischen einer Region, aber auch als Methode, als Abfragesystem in Einzelforschungen ein belastbares Instrument dar.17
Mit Blick auf die fünf Produktionsstadien einer Rede – inventio, dispositio, elocutio, memoria und pronunciato – werden fünf Frageperspektiven auf das Zeichensystem einer Region übertragen: •
•
•
•
•
In der inventio wird als »Theorie der Erinnerung« interpretiert, mit ihr werden die Dimensionen des Feldes nach dem Fragekatalog der topoi/lociLehre eruiert, in der dispositio, die nach der Gliederung des Vortrags fragt, werden die Strukturvorgaben des Zeichensystems festgestellt: in welchen Vorgaben und strukturellen Überlegungen wird das zu untersuchende Element angelegt. Über die elocutio, in der Rhetorik die sprachliche Gestaltung der Rede, werden ästhetischen Darstellungen des zu untersuchenden Themas spartenübergreifend ausdifferenziert, auch im Hinblick auf sich daraus ergebende Regelsysteme, bzw. Poetiken. In der Memoria wird nach der organisatorischen und strukturellen Erinnerung, nach den Ablagesystemen, deren Dauer und den konkreten Orten gefragt. Über die pronunciato werden die Vermittlungsformen sowohl historisch als auch projektspezifisch ermittelt.
17 Ebd., S. 78.
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Diese analytische, in der Weiterschreibung und Aktualisierung der Rhetorik fundierte Praxis einer Erforschung von Regionen hätte nach dem Prinzip der Evidenz einige Chancen, nicht nur die Stereotype quantitativ und qualitativ herausstellbar zu machen, sondern auch die progressiven Muster, politische Zielvorstellungen und die ihnen zutiefst zugrunde liegenden und eingeschriebenen Humanitätsmuster zu zeigen,18
stellt Gertrude Cepl-Kaufmann abschließend fest. Der nun bald zehn Jahre währende Ansatz zur Erforschung der Region kann weitergedacht werden hin zu den Kontexten von Kulturpraxis und -theorie, in denen die »Moderne im Rheinland« sich positioniert. In einem ansatzweisen Transfer der »Rhetorik der Region« als Befragungssystem auf das Verbundprojekt des Bauhausjubiläums und des Gründungsjubiläums der Weimarer Republik. Transfer I: In der inventio wird das Thema präsentiert und nach den bisherigen mnemotechnischen Dimensionen befragt: Die Gründung des Bauhauses 1919 jährt sich 2019 zum einhundertsten Mal. Das hierzu angeregte Verbundprojekt im Staatsvertrag hat auch in Nordrhein-Westfalen zu Aufsehen geführt, bzw. ist hier, im Gefolge des Verbundprojektes »1914 – Mitten in Europa«, das der LVR angestoßen und getragen hat, bereits früh in den Blick gekommen.19 In einer außergewöhnlichen Verbindung zwischen LVR, LWL und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft haben sich drei rheinland- und westfalenspezifische Institutionen die Aufgabe gestellt, dieses Jubiläum von NRW aus zu gestalten. Nun hat aber sowohl das Gründungsjubiläum der Weimarer Republik als auch des Bauhauses in der Befragung der Region Rheinland einen Nachteil – Weimar liegt nicht im Westen. Nichtsdestotrotz haben eine Vielzahl an Institutionen das Thema sofort als anschlussfähig aufgegriffen, z.B. die Architektenkammer mit einem online-Portal sowie einer App, die Bauhaus-Objekte im Westen verzeichnet. Auch an anderen Orten werden die Bauhaus-Reminiszenzen hervorgekramt, so z.B. in Krefeld im Projekt MiK (Mies van der Rohe in Krefeld) mit den Häusern Esters und Lange oder in einer durch LWL und LVR bereitgestellten Wanderausstellung »Weimar im Westen: Republik der Gegensätze«. Mit dem Titelstichwort Bauhaus wird also eine Erinnerungsmaschinerie in Gang gesetzt, die gar nicht in erster Linie nicht nach dem regionenspezifischen
18 Ebd. 19 Vgl. hierzu T. Schleper: Kultur und Bildung im Westen.
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sucht, sondern von der Bauhaus-Matrix dominiert sich vergleichbar zu den Bauhausorten machen möchte. Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft, Isabel Pfeiffer-Poensgen bemerkt hierzu: »Weniger bekannt ist, wie sehr die BauhausBewegung auch Nordrhein-Westfalen ihren Stempel aufdrückte.«20 In der dispositio wird die Zielebene herausgearbeitet, mit der sich das Thema im Blick auf die Region darstellt: Strukturiert man das Bauhausjubiläum nach seinem Potential für die Region, so fällt auf, dass es eigentlich nicht genügend bietet, dass es in vielen der teilnehmenden Bundesländern der Region und ihrer regionalen Zuschreibungen nicht gerecht zu werden vermag. Die Herausforderungen zeigen sich z.B. auf der Projektseite www.bauhaus100.de, auf der unter dem Stichwort Reisen« die Bundesländer vorgestellt werden: Thüringen – das erste Bauhaus, Sachsen-Anhalt – Land der Moderne, Berlin – Moderne in der Metropole, Hamburg – Backstein Moderne im Norden, etc. da wird es schon schwierig, da der Moderne-Begriff zwar regional transferfähig ist, aber als Titel spätestens beim vierten Bundesland nur noch wenig Spezifik bietet. Dementsprechend: Baden-Württemberg – Avantgarde in Stuttgart und Ulm, Niedersachsen – Bauhaus-Tapeten und Industriekultur, Hessen – Schauplatz des Neuen Bauens, Nordrhein-Westfalen – Samt, Seide und Neues Bauen, etc.21 In dem erläuternden Text weist jedes Bundesland auf seine Besonderheiten unter der Bauhaus-Brille hin, so z.B. NRW: »Ob in Krefeld, Essen oder Düsseldorf, das Bundesland bietet vielerorts ›moderne Reiseziele‹ und Jubiläumsbeiträge.« Genannt werden auch hier: Museen Haus Lange und Haus Esters, Färberei – und HE-Gebäude der Vereinigten Seidenwebereien AG, Zeche Zollverein, Blauer Hof und Weiße Stadt Köln, St. Engelbert in Köln, Ehemaliges Bundeshaus Bonn, Tonhalle. Mit diesem architekturhistorischen Fokus wird die Komplexität, auf die mit dem Bauhaus-Jubiläum eigentlich verwiesen werden könnte – das Jahr 1919 als Jahr nach dem Krieg, des Aufbruchs in das politische System Demokratie, einer Vielfalt an Aktivitäten, so z.B. der Rätebewegung, das Land nach dem Krieg in eine zukunftsfähige Dimension zu bringen sowie die Suche nach Anknüpfungsmomenten der Jahre vor dem Krieg – reduziert. In der Pressemeldung zur ersten Programmkonferenz aller Akteure in Dessau wird festgestellt:
20 https://www1.wdr.de/nachrichten/ausstellungen-bauhaus-jubilaeum-100.html, abgerufen am 15.05.2018. 21 https://www.bauhaus100.de/de/reisen/Verbund/, abgerufen am 16.05.2018. Aktualisierte Beschreibungen mit z.T. veränderten Titeln finden sich unter https://www. bauhaus100.de/de/bauhaus-100/05_Jubilaeumsbeitraege-der-Laender/, abgerufen am 16.05.2018.
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Von den Bauhaus-Repliken in unseren heutigen Wohnzimmern bis zu dem originären Bauhaus, das das Gesicht ganzer Stadtteile bis heute prägt, von der historischen Lehranstalt Bauhaus bis zu zeitgemäßen Vermittlungsprogrammen unserer Tage, von der gedruckten Typografie bis zur bewegten Choreografie: Unter diesen Vorzeichen ließ die Konferenz die Idee einer ganzheitlichen Vision aller kulturellen Ausdrucksformen des Bauhauses als ein Gesamtkunstwerk im besten Sinne des Wortes wiederauferstehen - ohne produktive Kontroversen auszublenden und auf spannende Grundsatzdebatten zu verzichten.22
Eine Ausklammerung erfährt allerdings die Frage nach den Parallelitäten zum Bauhaus und zur Möglichkeit, das Bauhaus–Erfolgsnarrativ mit seiner Alleinstellungsgeste zu hinterfragen. Denn tatsächlich finden sich, schaut man in die Archive im Rheinland eine ganze Reihe an Aktivitäten, die parallel zum Bauhaus oder auch bereits im Vorfeld angestoßen wurden: Von der Neuausrichtung der Kunstakademie in Düsseldorf in Verbindung mit der Düsseldorfer Kunstgewerbeschule, über die Planungen zur Gründung eines Instituts für religiöse Kunst, zu einer interdisziplinären Künstlergemeinschaft, die sich in Simonskall zusammenfand und in engem Austausch zu den Kölner progressiven stand, dem Aktivistenbund in Düsseldorf und ebenfalls hier dem Jungen Rheinland. Nicht zu vergessen die Aktivitäten, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg angestoßen waren, z.B. von und im Umfeld von Karl Ernst Osthaus in Verbindung mit Henry van de Velde. Alle diese Initiativen weisen Parallelen zum ersten Bauhausprogramm auf, indem sie die Relevanz der veränderten Kunsterziehung über die Einbindung von Werkstätten stärken, künstlerisches Spartendenken nivellieren und vor allem das Verhältnis von Künsten und Gesellschaft auf eine verpflichtende, die Künste zentral setzende Ebene bringen: Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.23
22 Pressemitteilung vom 8. November 2017 anlässlich der ersten Programmkonferenz aller Akteure in Dessau, hrsg. v. Pressebüro 100 jahre bauhaus, S. 1-3, hier S.1. 23 W. Gropius: Bauhaus, S. 173.
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Was verändert sich, wenn das Bauhaus nicht auf seine Ausschließlichkeit hin stark gemacht würde, sondern als Denkbild für eine Zeit und ihr Verhältnis zur Moderne? Die Ausschreibung der Fonds Bauhaus heute durch die Bundeskulturstiftung stellt das Potential des Bauhausjubiläums heraus: Kaum eines der Themen, die das Bauhaus gesetzt hat, hat bis heute an Relevanz verloren. Im Gegenteil: Die Fragen, wie und in welchem Umfeld wir in Zukunft lernen, arbeiten, leben, uns austauschen und unser Miteinander gestalten wollen, sind gleichbleibend aktuell. Sie alle gilt es aus der Perspektive einer Gesellschaft aufzugreifen, die von den Herausforderungen der Migration, Digitalisierung, Globalisierung und Ressourcenverknappung betroffen ist.24
Am Bauhaus soll also die Möglichkeit einer Neuausrichtung auf eine gemeinsame Zukunft tragfähig gemacht werden. In der aktuellen Darstellung funktioniert das aber nicht, weil es das Regionale außer Acht lässt. Das Bauhausjubiläum wird in der Beteiligung von elf Bundesländern zum Architektursuchspiel und pflegt damit einen elitären, exklusiven somit einem Herrschaftsgestus versehenen Kunstbegriff. Der Architekt Benedikt Stahl antwortet dem LifestyleMagazin Rhein-Exklusiv auf die Frage: »Können Sie Bauhaus-Beispiele aus Bonn und Umgebung nennen?« Ganz authentische Beispiele in der Bonner Umgebung zu nennen, fällt mir schwer. Sicher sind jedoch eine ganze Reihe bedeutender Bauwerke in Bonn zu finden, die unter dem Einfluss der Bauhaus-Architektur entstanden sind. Dazu gehört der Kanzler Bungalow von Sepp Ruf, die Beethovenhalle von Siegfried Wolske, die Bonner Oper, das Frankenbad, das Bundeshaus von Hans Schwippert und viele mehr. Auch das nicht gerade sehr geliebte Stadthaus der Stuttgarter Architekten Heinle, Wischer und Partner darf hier nicht unerwähnt bleiben, ist es doch im Stadtbild sehr präsent und ein Kind modernen Städtebaus.25
Dem setzt Thomas Schleper aus dem Lenkungskreis zum Projekt in NRW die Forderung nach dem Fokus auf das »Laboratorium der Moderne« entgegen, gestärkt durch Habermas’ Hinweis auf dessen noch nicht erfolgte Vollendung im Positiven sowie Hannah Arendts Plädoyer für die Natalität. Um dies konstruktiv für die Region weiterzudenken bedarf es eines Blicks in die Museumslandschaft mit ihrer regionalen Geschichte vom Museum Schnütgen bis zu den Schauen des
24 https://www.kulturstiftung-des-bundes.de/de/projekte/erbe_und_vermittlung/detail/ fonds_bauhaus_heute.html, abgerufen am 16.05.2018. 25 Interview Benedikt Stahl mit Rhein-Exklusiv, 4.10.2016, http://www.rheinexklusiv.de /bauhaus/, abgerufen am 16.05.2018.
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Sonderbunds und des Werkbunds, bis hin zu ihren kleinen, vom Vergessen bedrohten Museumsinitativen wie dem Junkerhaus in Simonskall, das bis vor Kurzem die Erinnerung an die Kalltalgemeinschaft wachgehalten hat. Ebenso bedarf es eines Blicks in die Archive und der Frage, wo die progressiven Ansätze zu finden sind, die in einem einhundert Jahre währenden Schlummer vergessen wurden. Erst auf dieser ausdifferenzierten, vielfältigen Ebene wären die Narrative aufzufangen, die das Bauhaus-Programm noch heute als progressiv und zeitgemäß auszeichnen und damit fragen lassen, was an Ihnen nicht funktioniert hat, um diesen Stellenwert auch einhundert Jahre später noch zu behalten. Generell wäre dies eine Möglichkeit, das Projekt der Moderne in Europa, das im Kontext des Bauhausjahres 2019 auch als Angebot eines europäischen »Heimat«narrativs beobachtet werden muss, in dem Potential seiner Vielfalt wahrzunehmen und nicht als elitäres marktaffines Standardnarrativ. In der elocutio wird nach den Gestaltungsmöglichkeiten des Themas im Kontext der Region gefragt: Was verändert sich, wenn man den Blick dahingehend öffnet? Die Herausforderung des Bauhausjahres liegt nicht zuletzt darin, mit dem Begriff der Moderne die Parallelität der Definitionen und ihre Komplexität, auf die Christof Dipper verweist, indem er drei Bedeutungsebenen herausarbeitet: Die klassische Moderne als Stilrichtung, als Verbindung von »Zeitdiagnose und Weltverhalten« die mit dem Fokus auf Rationalisierung das Verhältnis von Subjekt und Welt verändert und als dritte Bedeutung die einer geschichtlichen Epoche. Interessant an diesen drei Bedeutungen, dass sie sich in einem jeweils veränderten Verhältnis zur Geschichte des 20. Jahrhunderts positionieren. Als Stilrichtung werden mit modern, Modernität die KünstlerInnen gefasst, die im Kontext völkischer und nationaler Tendenzen schon im Vorfeld, jedoch ab 1933 unter existentielle Repressionen bis hin zur Tötung leiden. Nach dem Krieg sind es eben jene KünstlerInnen (nicht so die Literatur), die von den Besatzungsmächten zur Demokratisierung vermittelt werden. Die Konnotationen der Stilrichtung sind dementsprechend positiv, linksintellektuell aufgeladen. Als, um hier auch Max Weber einzubeziehen, »okzidentaler Rationalismus« umfasst Moderne ein stärker gesellschaftliches und politisch ausgerichtetes Verständnis und wird z.B. in der Postmoderne bewusst gegengeschrieben,26 um sich von dem zu distanzieren, was Teil des Legitimationsvolumens für die Shoah und den Zweiten Weltkrieg ist. Wenn also im Projekt Bauhaus100 das Geschichtsnarrativ einer fatalistischen Lesart von »Zwischenkriegszeit« zurückgenommen wird, wird die Frage
26 Vgl. z.B. den programmatischen Essay von L. Fiedler: Cross the border, close the gap.
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nach der historischen Konsequenz der Dynamiken erneut relevant. Teil dessen ist die Aufgabe, die Lesarten der Projekte der Moderne und der Avantgarde wieder auszudifferenzieren. Eine Reihe an Theorien im Gefolge und in der Aktualisierung der kritischen Theorie, angeregt durch die Befragung des Verhältnisses von Politik und Philosophie ist hier seit einigen Jahren aktiv und resultiert z.B. in dem Konzept des »ästhetischen Regimes« bei Jacques Ranciere, mit dem Fokus auf das Sinnliche als eigene Kategorie die Verbindung von Kunst und Politik, Kunst und Gesellschaft, etc. auf eine neue Ebene gehoben wird: »die Bildung einer Gemeinschaft des Fühlens.«27 Auch Forderungen nach einem Perspektivwechsel, wie sie die feministische Theorie mit Judith Butler oder die queer theory in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung, z.B. mit Didier Eribon vertritt, wären hier zu nennen.28 Mit dieser Relektüre der Avantgarden wäre auch dem Regionendiskurs eine neue Rolle gegeben, die in der Verantwortung stehen, die Abstraktion der Diskurse wieder ins Konkrete zu setzen. Hier bietet sich z.B. eine Auseinandersetzung mit dem Kosmischen Kommunismus von Otto Freundlich an, der in der Arbeit mit Formen und Farben über die künstlerische Umsetzung seiner auch schriftlich dargestellten Vorstellungen einer angemessenen Moderne nachgedacht hat. Freundlich gehört zu den, trotz einer großen Retrospektive im Museum Ludwig 2017, in ihrer Relevanz für die Region unterschätzten Künstlern. So war er es z.B. der 1912 gemeinsam mit Wilhelm Niemeyer, der zwar in seinem Engagement zur Gründung des Sonderbunds kaum bekannt ist, signifikanterweise aber die programmatischen Texte in den Publikationen bereitstellt,29 nach Paris. Die memoria stellt ebenso wie die pronunciato eine Herausforderung an die Gegenwart dar, denen sich die Projekte im Kontext des Bauhauses erst noch widmen, zu denen aber die Notwendigkeit der Digitalisierung und der open source als zeitgemäße Erinnerungsformen und Öffentlichkeitselemente darstellen. Da-
27 Vgl. Ranciere, Jaques, Das ästhetische Unbewußte, aus dem Frz. von Emiliano Battiast, London, New York 2011, S. 48, zitiert nach: Völker, Jan; Hebekus, Uwe: Neue Philosophien des Politischen. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2012, S. 172. 28 Die Anregung zur Auseinandersetzung mit Ranciere und die daran angeknüpften Überlegungen verdanke ich dem Austausch mit Angela Weber, mit der ich gemeinsam das Projekt »›Woraus wird Morgen gemacht sein?‹ Ein Bildungsprojekt im Bauhausjahr 2019« erarbeite. 29 Vgl. zur unterschätzten Rolle Wilhelm Niemeyers im Sonderbund: J. Grande/V. Peters/M. Romeike: Spurensuche.
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bei geht es nicht um eine Rücknahme des Stellenwerts der Region, sondern bestenfalls um eine Vertiefung durch das Angebot der Vergleichbarkeit. Transfer II: Zur Relevanz der Moderne (im Rheinland und anderen Regionen) Notwendigerweise verortet sich ein Beitrag zur Erforschung von Regionen als Kulturräume auch innerhalb der methodischen und theoretischen Facetten des spatial turns. Teil der Diskussion um den spatial bzw topographical turn ist die Frage der VerOrtung der Moderne im Kontext eurozentristischer, z.B. mit dem Formulierungsversuch der Expansion gefasster kulturtheoretischer Ansätze, wie sie Sigrid Weigel in ihrem Beitrag »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften« skizziert hat. Im Denkbild des »Zwischenraums« wird die Begegnung der Kulturen an deren Schnittstelle sichtbar, allerdings nicht in der als ethnologische Perspektive, sondern das Potential der Schnittstelle wird im »Entwurf einer symbolischen Topographie für den theoretischen Diskurs« angesetzt, so Weigel.30 In diesem Spannungsfeld zwischen den Kulturen und Kolonialismen wird die Frage nach der Schnittmenge der Moderne wieder relevant: Die Situation von »stereophonic, bilingual, or bifocal cultural forms«, in der sich die Schwarzen in den Regionen um den Atlantik befinden, sei es in Afrika, England, Nordoder Südamerika, wird darin zum Paradigma einer interkulturellen und transnationalen Gegenkultur der Moderne, eines Gegen-Diskurses, der sich aus der Erinnerung an die Kultur der Kolonisierten und Sklaven speist.31
Wo also Moderne als Schlagwort in europäischer Dimensionierung die Erforschung einer Region positiv, ja konstitutiv zwar befördert, da umfasst es zugleich eine Geste der Exklusivität, die sich nicht auflösen lässt. Die Dichte, mit der sich diese Überlegungen auf die Region Rheinland beziehen, hat unlängst Claudia Bosse und das theatercombinat im Rahmen ihres performative walks »reenacting the archives« hervorgehoben. Auf der Basis von Recherchen im Düsseldorfer Stadtarchiv haben sie ein Stück Düsseldorfer Ausstellungsgeschichte in Erinnerung gerufen. Fotografien von nachgebauten exotischen Dörfern anlässlich der großen Düsseldorfer Ausstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie der Industrie- und Gewerbeausstellung 1902, wurden hierbei in le-
30 S. Weigel: Topographical turn, S. 156. 31 Ebd.
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bensgroßen Abzügen auf Holz und Papier gedruckt durch die Stadt transportiert und parallel zu Lesungen und Sound an neuralgischen Stellen der Stadt nachgestellt, präsentiert und reinszeniert. Anknüpfend an das von Britta Schilling und Stefanie Michels weitergeführte Schlagwort einer »kolonialen Aphasie«,32 mit der eine Differenz zwischen historischen Fakten und in Sprache transportierter Erinnerung zum Ausdruck kommt, wäre hier die Auseinandersetzung mit einer spezifisch modernen Form der Selbstrepräsentation im Rheinland als Therapiemaßnahme gegenüber dem Vergessen anzudenken. Doch das Nachdenken über ein ins Verhältnis Setzen von Moderne als Gegenstand der komparatistischen und vergleichenden Erforschung von Regionen ist vielschichtiger und im Prozess. So skizziert Elíso Macamo in einem Schwerpunktbeitrag über »Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en), Mensch zu sein« auf Philosophie InDebate, einer digitalen Plattform des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, die Probleme im Transfer der Moderne auf Afrika, wie sie auch der Afrikahistoriker Andreas Eckert 2016 im »Handbuch Moderneforschung«33 als Stand der europäischen Diskussion präsentiert hat: Die koloniale Geschichte wurde von der Überzeugung geprägt, dass Fortschritt in der Aneignung der europäischen Lebensweise bestehe und dass es Aufgabe der Kolonialherren sei, diesen zu erzwingen. Das Unbehagen der Afrikaner an der Moderne gründet wesentlich auf Erfahrungen mit dieser ganz speziellen Auslegung, nach der die Geschichte allein am europäischen Maßstab zu bemessen sei.34
In dieser Lesart von Moderne verweist Macamo aber auf einen Transferfehler, der in der Reduktion von Moderne auf den Gegensatz von Tradition und Moderne liegt, anstelle der Öffnung auf die Fragestellung, auf die auch das Projekt Moderne verweist: Dass es etwas gibt, das dazwischen liegt, wird dabei sträflich übersehen. [...] Dabei gerät genau das, was dem afrikanischen Vergesellschaftungsprozess Struktur und Substanz verleiht, aus dem Blickfeld. Es ist die Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden. [...]
32 vgl. S. Michels: Askarispende und den Beitrag von Britta Schilling in diesem Band. 33 A. Eckert: Afrika. 34 E. Macamo: Afrikanische Moderne. Vgl. hierzu ebenfalls online den Vortrag »Afrikas Mühe mit der ›Moderne‹« von Elísio Macamo auf den 17. Karlsruher Gesprächen, vom 22.-24.02.2013 »Die ›Zwischengesellschaft‹: Tradition und Moderne im Widerspruch”, https://www.youtube.com/watch?v=mm2CW0aqn8M, abgerufen am 15.05.2018.
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Meine These knüpft hier an und besagt, dass die afrikanische Erfahrung der Moderne gerade in der Wahrnehmung der vielen Möglichkeiten besteht, Mensch zu sein. [...] Die existentielle Frage bestand darin, die Begegnung mit Europa, vor allem durch die Sklaverei und die abwertenden Theorien über Afrikaner, die im 19. Jahrhundert in Europa salonfähig waren, zu deuten und zu verstehen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich so ein Diskurs von Afrikanern über Afrika, der bis zum heutigen Tag die Grundlage für die Historisierung der afrikanischen Wirklichkeit darstellt.35
Die Erforschung der Regionen im Kontext ihres Beitrags zur Moderne oder vielmehr im Kontext ihrer Modernität im Sinne einer sowohl gesellschaftlichen als auch ästhetischen Autonomisierungsprojekts wird erst mit der Befragung und Gestaltung von Perspektiven für das 21. Jahrhundert, wie im Kontext der theoretischen und methodischen Befragung der »Moderne im Rheinland« dargelegt, gegenwartsadäquat/modern.
35 Ebd.
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LITERATUR Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Der ›Arbeitskreis zur Erforschung der Moderne im Rheinland‹ als An-Institut an der Heinrich-Heine-Universität«, in: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2006/ 2007), S. 515-528. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Christus ausgestellt. Vermittlungskonzepte in der frühen Moderne und heute«, in: Anne-Marie Bonnet/Gertrude Cepl-Kaufmann/Klara Drenker-Nagels/Jasmin Grande (Hg.): Christus. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne. Düsseldorf 2012, S. 15-62. Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Denkbild und Praxis. Zur Rhetorik der Region«, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich (Hg.): Konstruktionsprozess der Region in europäischer Perspektive. Essen 2010 (=Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft 6), S. 45-79. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Rosar, Ulrich/Wiener, Jürgen (Hg.): Die Bonner Republik 1945-1963. Die Gründungsphase und Adenauer-Ära – Geschichte – Forschung – Diskurs. Bielefeld 2018. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin: »Vom Nachdenken über das Ausstellen im Zeichen der Literatur. Theorien und Praktiken im Institut ›Moderne im Rheinland‹« in: Barbara Schaff/Katerina Kroucheva (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur. Bielefeld 2013, S. 54-94. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Mölich, Georg (Hg.): Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg. Essen 2013. Eckert, Andreas: »Afrika«, in: Friedrich Jaeger/Wolfgang Knöbl/Ute Schneider (Hg.): Handbuch Moderneforschung. Stuttgart 2015, S. 17-26. Fiedler, Leslie A.: Cross the border, close the gap. New York 1972. Grande, Jasmin: »›Sinnagenturen der Moderne‹. Ausstellungen als Bewältigungserzählungen des 20. Jahrhunderts«, in: Simon Huber/Behrang Samsami/Ines Schubert/Walter Delabar (Hg.): Das riskante Projekt: die Moderne und ihre Bewältigung. Bielefeld 2015, S. 109-130. Grande, Jasmin: »Parallelen. Kölner und Düsseldorfer Modernen«, in: CeplKaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Mölich, Georg (Hg.): Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg. Essen 2013, S. 199-214. Grande, Jasmin/Peters, Vanessa/Romeike, Mascha: »Eine Spurensuche: Wilhelm Niemeyer (1874-1960)«, in: Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Mölich, Georg (Hg.): Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und
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Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg. Essen 2013, S. 269273. Gropius, Walter: »Bauhaus-Manifest«, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (19091938) (Sonderausgabe). Stuttgart/Weimar: 2005, S. 173. Großbölting, Thomas: »Im Reich der Arbeit«. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 17901914. München 2008. Günzel, Stephan: »Raum – Topologie – Topographie«, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 13-29. Macamo, Elísio: »Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en), Mensch zu sein«, in: Philosophie InDebate (11.04.2017); https://philosophieindebate.de/2879/schwerpunktbeitrag-afrikanische-moderne-und-diemoeglichkeiten-mensch-zu-sein/#more-2879. Mai, Ekkehard: Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens, München 1986. Maubach, Franka: »Weimar (nicht) vom Ende her denken. Ein skeptischer Ausblick auf das Gründungsjubiläum 2019«, in: APuZ, 18-20 (2018), S. 4-9. Michels, Stefanie: »›Kennwort: Askarispende‹ – Koloniale Kontinuitäten in der Ära Adenauer und darüber hinaus«, in: Gertrud Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande/Ulrich Rosar/Jürgen Wiener (Hg.): Die Bonner Republik 1945-1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung – Diskurs, Bielefeld 2018, S. 265-304. Völker, Jan/Hebekus, Uwe: Neue Philosophien des Politischen. Zur Einführung. Hamburg 2012. Schleper, Thomas: »Perspektiven von Kultur und Bildung im Westen. Ein Versprechen auf dem Weg zu den Zentenarien von Bauhaus und Weimarer Republik«, in: Gertrud Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande/Ulrich Rosar/Jürgen Wiener (Hg.): Die Bonner Republik 1945-1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung –Diskurs, Bielefeld 2018, S. 5784. Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik, 2, H2 (2002), S. 151-165.
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INTERNETQUELLEN https://www.bauhaus100.de/de/reisen/Verbund/, (abgerufen am 16.05.2018) https://www1.wdr.de/nachrichten/ausstellungen-bauhaus-jubilaeum-100.html, (abgerufen am 15.05.2018) http://www.kulturstiftung-des bundes.de/cms/de/projekte/erbe_und_vermittlung/bauhaus/fonds_bauhaus_heute .html, abgerufen am (16.05.2018)
Topographieren, malen, photographieren und erzählen Das Grasland von Kamerun und seine kulturgeographische Mediatisierung im Rheinland – and back Albert Gouaffo
Die Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit mit der Raum- und Diskursmetapher zu verbinden will zeigen, wie vielschichtig und facettenreich die in der Vergangenheit interkulturell erfahrenen und erlebten Räume in der Gegenwart gedeutet werden können. Als Franz Thorbecke und seine Frau Marie Pauline als Forschungsreisende unter äußerst schwierigen Bedingungen ihr Wissen und Können in den Dienst der Koloniallobby stellten, ahnten sie nicht, dass sie für die dominanten oralen Kulturen der Grasländer Kameruns eine große Dokumentationsarbeit leisteten, die angesichts der zunehmenden Globalisierung für die Stiftung von Identitäten in diesem Raum von enormer Wichtigkeit ist. Franz und Marie Pauline Thorbecke haben im Auftrag der deutschen Kolonialgesellschaft neben Landvermessung und Erkundung des Nordhinterlandes von Kamerun ethnographisches Material aus den bereisten Gebieten gesammelt, die der Stadt Mannheim als Gegenleistung für einen Reisekostenzuschuss übereignet wurde.1 Skelette wurden der Universität Heidelberg geliefert, und Marie Pauline hat ihre völkerkundlichen Fotografien von der Reise dem Kölner Rautenstrauch-Joest Museum geschenkt, die als Illustrationsmaterial für das Museum verwendet wurden.2 1914 publizierte Marie Pauline ihr Tagebuch, in dem die Erfahrungender zwischen 1911 und 1913 unternommenen Forschungsexpedition erzählerisch und intermedial (Photographie, Malerei, Zeichnung) dokumentiert wurden.
1
F. Thorbecke: Forschungsreise, S. 770.
2 Vgl. das Vorwort in F. Thorbecke: Hochland von Mittel-Kamerun. S. VII-VIII.
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Das (post-)koloniale Grasland von Kamerun und das Rheinland verdanken heute dem Werk der beiden Forscher die Rekonstitution der gemeinsamen Geschichte, nicht nur im Sinne der Provenienzforschung, sondern auch der kolonialen Erinnerung und Versöhnung.
KULTURELLE ÜBERSETZUNG, ETHNOLOGISCHES SCHREIBEN UND TRANSLOKALE ERINNERUNGSTOPOGRAPHIE Friedrich Schleiermacher, einer der Gründungsväter der Übersetzung- bzw. Translationswissenschaft, betont in einer Abhandlung, die er am 24. Juni 1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit dem Titel »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens« präsentiert hat, dass die Übersetzung vor allem eine Kunst des Verstehens ist. Der interlinguale Transfer kommt nur zustande, wenn man den Ausgangstext in seiner Ganzheit verstanden hat: Schleiermacher spricht in seiner Abhandlung von der Übersetzung im klassischen Sinne als Übertragung eines fremden Textes aus der fremden Sprache in die eigene. Beim ethnographischen bzw. kulturellen Übersetzen haben wir es mit dem gleichen Prozess zu tun. Die fremden Kulturzeichen müssen zunächst einmal von dem reisenden Forscher wahrgenommen, dekodiert und verstanden werden, bevor die Übertragung in die Kategorien der eigenen sprachlichen und kulturellen Zeichen erfolgt. Dies ist zumindest die Forderung, die die Kulturwissenschaftlerin und Komparatistin Doris Bachmann-Medick an die Übersetzungswissenschaft und die Ethnologie stellt. Anschließend an die WritingCulture-Debatte der 1970er und 1980er Jahre, die in dem Essay des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz3 ihren Niederschlag gefunden hat, plädiert sie für einen offenen Kulturbegriff in der Übersetzungswissenschaft. Die Übersetzungswissenschaft sollte über den interlingualen Transfer hinaus die kulturelle bzw. die interkulturelle Dimension der Übersetzung berücksichtigen. In diesem Sinne öffnen sich Perspektiven der Wechselwirkung zwischen ethnologischem Schreiben und der Übersetzungswissenschaft und umgekehrt.4 Die Übersetzung eines fremden Textes ist demnach eine Übersetzung in und zwischen den Kulturen. Durch den Prozess des Übersetzens nimmt man zugleich eine fremde Kultur wahr und repräsentiert sie in der eigenen Sprache und Kultur. Die Übersetzung aus der fremden Kultur und Sprache ist dann ein Austausch zwischen
3
Vgl. C. Geertz: Dichte Beschreibung.
4
Vgl. D. Bachmann-Medick: Einleitung.
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dem Fremden und dem Eigenen. Das Wissen, das durch Übersetzung in die eigene Sprache und Kultur zustande kommt, ist weder auf die authentische fremde Kultur noch auf die Reproduktion der eigenen Kultur zurückzuführen. Es ist immer ein Mischprodukt aus beiden, eine translokale bzw. transkulturelle Kultur, also ein Konstrukt, das durch die rhetorischen Mittel wie Argumentation, ethnographisches Präsens, teilnehmende Beobachtung, Dolmetschen, erlebte Rede und sonstige mediale rhetorische Strategien dem Leser als wahr angeboten wird. Im Prozess des Übersetzens setzt der Übersetzer als Interpret und Vermittler der fremden Kultur immer eigene Akzente. Es kann sogar zu Verzerrungen kommen, wenn die Machtbeziehungen oder die Asymmetrie zwischen dem Übersetzer und der fremden Kultur zu groß sind.5 Dies ist der Fall bei manchen kolonialen Kulturbegegnungen. Wenn wir uns aber auf die Verantwortung des Übersetzers als eines kulturellen bzw. interkulturellen Mittlers verlassen, kann es Spielräume in der Repräsentation fremder Kulturen geben, auch in äußerst asymmetrischen Situationen. Ethnologisches Schreiben, Reiseberichte und Reisetagebücher als autobiographisches Genre passen gut zusammen. Damit ein Reisebericht entstehen kann, muss eine Reise empirisch gemacht werden. Der Erzähler bzw. die Erzählerin erscheint in der Person der wirklichen Reisenden mit allen Charakterzügen, als Erkundende(r) in dem bereisten fremden Gebiet. Reiseliteratur ist Realitätsabbildung durch Sprache, aber sie führt auch zur Herausforderung. Die Gegenstände der fremden Welt werden als Teil der eigenen Welt begriffen und in sie eingeordnet.6 Die Darstellung des Fremden ist also immer eine Selektion von Einzelaspekten dieses Fremden und kann nie die reale Fremde sein. Aus einem geokritischen Gesichtspunkt haben die bereisten Landschaften und Gebiete einen referentiellen Charakter.7 Landschaften werden zu Orten, wenn sie benannt werden, mit Menschen und Leben gefüllt werden. Aus der Feder des erzählenden Protagonisten entstehen Landschaftskizzen, die zu Dörfern, Feldern und Städten werden und eine geographische Region bilden. Diese Orte haben einen Wahrscheinlichkeitscharakter, weil sie ein Echo mit real existierenden Orten haben. Die Topographie als Beschreibung und Darstellung der Erdoberfläche kommt als fiktionaler Raum in dem Text zustande. Die beschriebenen Topoi erhalten dadurch einen anthopogeographischen Charakter, dass sie Auskunft über Menschen und die besetzten Räume geben. So Bertrand Westphal:
5
Ebd., S. 6.
6
P. Brenner: Erfahrung der Fremde, S. 30.
7
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tadaha in diesem Band.
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L’enjeu principal de la géocritique n’est pas d’assurer la médiation vers une œuvre désignée. La géocritique permet d’abord de cerner la dimension littéraire des lieux, de dresser une cartographie fictionnelle des espaces humains. C’est ensuite qu’elle permet de situer l’œuvre en perspective d’un référent spatial plus ou moins largement exploité par ailleurs. En cela, elle est susceptible d’apporter de précieuses informations dans un contexte monographique.8
Wenn beschriebene Orte im Text auf außertextuelle Orte hinweisen können, können wir nun untersuchen, inwiefern das Tagebuch Auf der Savanne von Marie Pauline Thorbecke Orte, Menschen und Kulturen des Graslandes darstellt und wie dies alles dem erzählerisch und rhetorisch deutschen Leser vermittelt wird.
MARIE PAULINE THORBECKE ALS ÜBERSETZERIN Berücksichtigt man die künstlerischen Fertigkeiten von Marie Pauline Thorbecke als Autorin und Erzählerin in ihrem Tagebuch, kann man sagen, dass sie eine Schriftstellerin besonderer Art ist. Die Formen und Modi der Repräsentation der Graslandlandschaft, -völker und -kultur sind intermedial verzahnt, um der gesehenen und erlebten Realität als teilnehmende Beobachterin treu zu bleiben. Ihr erzählter Text ist das Ergebnis von wissenschaftlichen und künstlerischen Techniken wie Übersetzungen aus der Oralität, Photographie, Malerei und Unterhaltungen mit den Akteuren wie Dorfchefs vor Ort. Darüber hinaus macht sie von ihrer Mehrsprachigkeit Gebrauch – sie spricht zusätzlich Englisch und Pidgin. Dies verringert die Distanz zu ihrem Forschungsobjekt. Die Erzählung, die der deutsche Leser im Endeffekt zu lesen bekommt, ist eine polyphone und multimediale Vertextung der fremden Kultur. Diese Technik der Glaubhaftmachung wendet sie im gesamten Text und besonders in den verschiedenen Etappen ihrer Reise in Dschang, Banganté-Bana, Bamum und Yoko an. Paratextuelle Elemente zum erzählten Text machen das Tagebuch zu einem hybriden Text an der Grenze zwischen Realität und Fiktion. So ist zum Beispiel das Inhaltsverzeichnis des Tagebuches, das genau angibt, an welchen Stellen im Text kreative Textelemente wie malerische Skizzen und faktische Elemente wie Photographien stehen. Dazu kommt noch die Übersichtsskizze des bereisten Gebiets am Ende des Tagebuches, eigentlich eine mentale Karte, die den Eindruck vermittelt, es würde sich um einen faktengetreuen Bericht handeln.
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B. Westfahl: Approche critique des textes; vgl auch B. Westfahl: Géocritique.
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Was wird aus dem Kameruner Grasland als Vermittlungswert verwendet? Wie sieht die Schablone aus, durch die Marie Pauline Thorbecke das Wissen aus der Region gefiltert hat? Die Schönheit der Landschaft des Graslandes interessiert die Erzählerin am meisten. Dann erst kommen die Kunstfertigkeit, die Architektur der Häuser sowie die Geschäftsdiplomatie der Graslandvölker. Sie bewundert auch die Tänze, die Menschen und erstellt ihre Porträts. Sie trägt mit dem Tagebuch, wie sie selbst im Vorwort zu ihrem Buch sagt, dazu bei, für »Kamerun neue deutsche Freunde« zu gewinnen und die Vorurteile derer zu beseitigen, die das Leben dort für Deutsche aus gesundheitlichen Gründen für unmöglich halten.
BILDER DER LANDSCHAFT Man kann der Erzählerin eine bestimmte exotische Faszination nicht absprechen. Die Landschaft des Graslandes und vor allem dessen rote Erde ist ein Naturereignis, das die Autorin zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt, so dass sie ihre Freude mit dem Leser teilen möchte: Im heißem Marsch brachten wir am ersten Tag mehr als 500 m Höheunterschied hinter uns, aber der Weg, der mit aller Sorgfalt angelegt ist und in vielen Kehren an den Bergen in die Höhe zieht, war wunderschön; es gab Ölpalmen über Ölpalmen, die in ganzen Wäldern hier beisammen stehen, hohe Laubbäume und dichtes, wirres Gebüsch; dazwischen Blumen und viele kleine Gebirgsbäche, die über Felsplatten springen und wunderbare Kühle um sich verbreiten. Jäh fiel der Berg an einer Seite ab; man sah in die Baumkronen hinein; steil stieg er an der anderen auf, alles ein Meer von Grün in den verschiedenen Abstufungen. Dazwischen leuchtet hier und da der brennend rote Streifen des Weges und die hellen, weißgrauen Stämme und Äste der Bäume. Dieser rote Boden! Er ist eigentlich die große Überraschung für mich. In allen meinen Afrikaträumen hatte ich mir nie vorgestellt, daß die Wege hier rot sein würden (AS, S. 17).9
In dieser Landschaftsbeschreibung rückt die Erzählerin ihre eigenen Kunstfertigkeiten ins rechte Licht. Als Photographin sucht sie einen guten Blickwinkel: die Vogelperspektive. Sie erlaubt durch die Steuerung des Teleobjektivs und des Weitwinkels, die Konturen des Gebirges von oben zu zeichnen: »Ölpalmen über Ölpalmen«, »Das Meer von Grün«. Dem Leser wird vermittelt, dass das gezeichnete Gebirge eine Grenze hat und zwar die flache Ebene wie »ein Meer von
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Zitate aus dem analysierten Text werden abgekürzt belegt (AS=Auf der Savanne).
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Grün«. Die Vogelperspektive bietet auch die Möglichkeit, »in die Baumkronen« hineinzuschauen. Besonders prägnant in dieser Beschreibung ist die Metapher des Lichtes: »Die brennend roten Streifen des Weges«. Die reisende Erzählerin übersetzt dadurch die rote Erde und spielt dabei mit dem exotischen Diskurs der 10 Jahrhundertwende, der Afrika ja als Land der brennenden Sonne auffasst. Bei ihren Bemühungen um kulturelle Übersetzung der Alterität benutzt sie sogar Analogievergleiche. Da sie die Namen der Bäume, die sie sieht, nicht kennt oder sie für deutsche Leser für allzu fremd empfindet, sucht sie entsprechende Begriffe in der deutschen Sprache: Laubbäume (»In ganzen Wäldern hier [stehen] beisammen hohe Laubbäume und dichtes Gebüsch«). Die Landschaft in Bamum, einer anderen Ortschaft des Graslandes, beschreibt die Erzählerin als noch schöner als jene von Dschang. Sie ist auch gebirgig und bietet eine schöne Aussicht: Es blutet einem das Herz, daß man hier nicht vier Wochen sitzen kann, nicht des guten Quartiers wegen, sondern wegen des zauberhaft schönen, gigantischen Vulkangebirges Bapit, an dessen Fuß wir lagen – Franz und Waibel sind gestern gegen Abend noch auf einem der vielen, einzeln liegenden kleinen Vorkraterberge gewesen und kamen ganz außer sich vor Begeisterung zurück. Wie eine Mondkarte, Kraterring um Kraterring, sieht das Land hier aus, alles frische schwarze Lava, und wo sie verwittert ist, ein üppiges Gartenland (AS, S. 45).
Das Grasland ist auch Hochland und es endet da, wo die Landschaft allmählich flach wird. So ist der Leser in Gambe und Tikar nicht mehr im richtigen Grasland: Es ist doch vieles sehr, sehr anders hier als in Dschang und Bamum, schon allein das Klima. In Dschang haben wir in den 1300 bis 1400 m Meereshöhe abends gefroren, Bamum ist ideal, nie zu warm und nie zu kühl; und hier ist es sehr heiß. Die 450 m Höhenunterschied zwischen Bamum (1180 m) und hier machen sich recht fühlbar (AS, S. 65).
In Bamum ist die Erzählerin nicht nur von der Landschaft beeindruckt, sondern vor allem von der entstehenden Stadt, die sogar als das »Paris von Kamerun« bezeichnet wird. Bamum gewinnt mehr Kontur und wird mit Menschenleben gefüllt. Es gibt dort nicht nur genug zu essen und zu trinken, sondern man findet auch genug Frauen, so dass jeder Deutsche dort auf seine Kosten kommt. Die Prostitution als Übel der Urbanisierung meldet sich schon:
10 T. Schwarz: Die Tropen bin ich.
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Bamum ist übrigens das Paris Kameruns. Alle unsere Leute sind im siebenten Himmel der Seligkeit, denn es gibt nicht nur Essen und Palmwein die Fülle, sondern auch galante Abenteuer. Für die vielen nur vorübergehend hier Weilenden und die Armen, die keine eigene Frau haben, ist das hier vollkommen organisiert. Die auf Zeit käuflichen Weiber wohnen in langen Gebäuden – früher Njojas Kasernen – und müssen für das freie Quartier Njojas Pferde putzen und füttern. Alle unsere erwachsenen Leute haben hier ihre Frau; Kostenpunkt: »two shilling for two week, and chop« (AS, 58).
Damit wirbt Marie Pauline nicht nur für die Stadt, sondern sie zeigt dem Leser gleichzeitig ihre Mehrsprachigkeit, indem sie Pidgin-Englisch, die lingua franca der Zeit in Kamerun verwendet. Sie sagt noch dazu, dass das Klima im Fumban verhältnismäßig gesund ist. Fieber gibt es dort weniger als an der Küste. Deshalb ihr Ratschlag: »Wer nicht schon Tropenkrankheiten mit heraufgebracht hat, muß hier wohnen können, ohne Leben und Gesundheit aufs Spiel zu setzen« (AS, S. 59).
KUNSTFERTIGKEIT, BAUARCHITEKTUR, VERHANDLUNGSDIPLOMATIE UND TÄNZE BEI DEN GRASLANDVÖLKERN Die Kunstfertigkeit, Bauarchitektur und Verhandlungsdiplomatie der Graslandvölker von Kamerun sowie die Tänze, die von einem besonderen Rhythmus geprägt sind, wecken die Aufmerksamkeit der Autorin Thorbecke. Im Tagebuch widmet sie diesen kulturellen Aspekten des Graslandes mehrere Briefe. Die Graslandvölker sind gute Handwerker und Künstler. Bamum scheint das Zentrum der Handwerkerregion zu sein. Das Paar Thorbecke hat dort so viele Objekte erworben, dass es nicht mehr weiß, wohin damit: Unser Haus ist das reine Museum; wir haben fabelhafte Schätze eingehandelt, meist von Weibern, die uns das Haus förmlich gestürmt haben, als sie merken, daß sie bei uns Geld, Tabak, Stoffe, Parfums, Spiegel für ihre Töpfe, Körbe, Schmucksachen und Pfeifen bekämen; es waren wohl 300 bis 400 Weiber auf einmal da, alle schrieen [sic! A.G.] zu gleicher Zeit, hielten uns Sachen entgegen, zerbrachen das Gitter der Veranda und wurden schließlich, als es ihnen nicht schnell genug ging, so ungebärdig, daß wir die Türen des Hauses schlossen und den Hund losließen, der sie mit wütendem Bellen rasch vertrieb.
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Jetzt kommen ab und an noch einzelne, da wir nur mehr besonders schöne oder alte Sachen kaufen (AS, S. 54).11
Die Kunstfertigkeit der Graslandregion ist nicht nur an den Haushalts- und Schmuckobjekten zu erkennen, die sie für ihren Alltagsgebrauch herstellen, sondern auch an der Architektur ihrer Häuser: Die Leute von Bana wohnen nicht in geschlossenen Ortschaften wie die Waldlandneger, sondern nach der Weise des Graslandes hat jeder Mann sich sein Gehöft, das aus dem größeren Männerhaus und mehreren kleinen Weiberhäusern besteht, einzeln und abgesondert von den anderen gebaut. Alle Häuser zeigen quadratischen Grundriß; die aus Palmrippen zusammengebundenen Wände sind ganz und gar mit dem roten Laterit beworfen. Meist sind sie höher als breit, und die Tür, die einzige Öffnung des Hauses, ist etwa ½ m über den Boden angebracht. Einzelne Häuser sind winzig; es gibt solche von 2 m im Geviert, die Tür darin ist dann nur 1 m hoch und ½ m breit. Bei allen ist das Dach hoch und spitz, ringsum weit vorspringend, gedeckt mit schweren Grasmassen (AS, S. 30-31).
Die Erzählerin gibt sich Mühe, die Bauarchitektur im Grasland zu erläutern, auch wenn es ihr nicht gelingt, eine detaillierte Beschreibung zu geben. Was die Raumbesetzung angeht, so macht sie den Unterschied zwischen Waldland- und Graslandvölkern deutlich. Waldlandvölker, so Thorbecke, wohnen dicht beieinander, weil es im Regenwald nicht einfach ist, Bäume zu fällen und den Wohnraum beliebig zu erweitern. Im Grasland aber gäbe es genug Bewegungsmöglichkeiten. Graslandvölker lebten in Gehöften, weil sie Ackerbauer und Viehzüchter zugleich seien. Deshalb wohnten sie nicht dicht einander. Die ein Meter hohen Haustüren hielten die Tiere davon ab, ins Haus zu gelangen. Die Dächer seien spitz, weil sie mit Stroh bedeckt sind. Im Gehöft einer Graslandfamilie gebe es viele Häuser verschiedener Größen: Ein größeres Wohnhaus für den Mann, ein kleineres für die Frauen, ein noch kleineres für die Götter und Ahnen, ein noch viel kleineres als Speicher, wo Nahrungsmittel und Samen aufbewahrt werden. Im Grasland herrscht die Institution der Polygamie, die Marie Pauline Thorbecke nicht hat erkennen können. Die Zahl der Häuser rund um das Haus des Ehemannes deutet auf die Zahl seiner Frauen hin und zeigt gleichzeitig seinen sozialen Status. Ein Aspekt der Kultur der Grasländer, von dem das Paar Thorbecke nichts zu verstehen scheint und ganz distanziert oder oberflächlich beschreibt, ist die Ver-
11 Zu den in Wirklichkeit gesammelten Objekten vgl. M. Schultz: Unser Haus ist das reine Museum.
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handlungsdiplomatie. Sie ist eine Kunst und verlangt Geduld und emotionale Stabilität, um beim Kauf eines Gegenstands erfolgreich zu sein: Auch von den eingeborenen Häuptlingen kamen Abgesandte, um Geschenke zu bringen und Sachen zum Verkauf anzubieten. Den Wert des Geldes kennen sie hier schon sehr gut und wissen auch, dass der sammelnde Europäer für schöne Stücke gut zahlt. Aber 80 Mark für eine gestickte Tanzmaske neuer Arbeit ist uns doch etwas zu hoch, wir fangen mit kleineren Dingen wie Messern mit geschnitztem Griff und ziselierter Klinge, Basttaschen, Bastmützen an und geben dafür bunte Kattunstoffe, Tabak, Spiegel und Löffel. Wenn mehrere Handelsgeschäfte zugleich betrieben werden – denn jedes einzelne dauert mit dem langen Hin und Her eine ganze Weile –, so verhöhnen sich die schwarzen Kerle gegenseitig, und einer macht des anderen Ware schlecht, um die seine recht herauszustreichen (AS, S. 23).
Im Grasland herrschte Tauschhandel. Da es kein Geld als Kaufmittel gab, bestimmen immer die Handelnden den Wert ihrer Ware. Der Handel gilt als erfolgreich, wenn beide Parteien sich geeinigt haben. Doch dauert es eine Weile bis man zu dieser Einigung kommt, da jeder die Qualität seiner Ware beim Tausch hervor hervorhebt. Der Tanz bei den Graslandvölkern, sei es bei den Frauen in Bamum oder beim König der Bana, ist das Ritual, das die Erzählerin im Detail beschreibt. In der Aufführung eines Tanzes spielen die Fußbewegungen eine große Rolle: Das »Play«, ein großes Tanzfest, ist das höchste im Leben des Negers. Es ist ein Gottesdienst, wilde Ekstase, übermütiger Spaß, alles auf einmal. Ein Vertrauter des Häuptlings, ein Tschinda, kam uns zu holen; das Play solle um 3 Uhr beginnen, wenn die Sonne brennt. Auf dem großen, sonst immer menschenleeren Platz vor dem Palast war alles in fieberhafter Aufregung. Schon von weitem hörte man das Trommeln und beim Näherkommen den Gesang, für unsere Ohren nur »ho-ho, ho-ho, ho-ho«, immer eine Quarte herunterschlagend, dazwischen kurze, chromatische Gänge aufwärts. […] Sie schreiten nicht, es ist ein ganz kurzes, rückweises Springen, mit gebogenen Knien, sehr schnell und rhythmisch nach dem Takt der Trommeln (AS, S. 36-37).
Das Tanzfest mit einem Gottesdienst zu vergleichen, zeigt den Grad der Alterität. Die Beobachterin verrät hier ihre Grenzen bei der Übersetzung des Fremden. Das, was sie in Bana erlebt, ist sprachlich nicht übersetzbar. Beispiele wie »wilde Ekstase« und »übermütiger Spaß« sind eigene Begriffe, durch die das Gese-
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hene für den Leser umschrieben bzw. paraphrasiert wird. Das Gesehene bleibt ihr fremd und kann nicht in ihr Referenzsystem integriert werden. In den Beschreibungen von Marie Pauline Thorbecke ragt die kulturelle Karte des Graslandes heraus. Die Gebiete Tikar und Gambe werden als nördliche Grenzen des Graslandes wahrgenommen. Die Musikinstrumente, die Tanzart und sogar die Gesänge, die sie mithilfe des Phonographen aufnehmen lässt, sind anders: »Trommeln wurden herausgebracht und Tanzspiel begann. Das ist in Tikar abwechslungsreicher und verrät seinen Sinn deutlicher als in Dschang und Bamun« (AS, S. 79).
MENSCHEN DES GRASLANDES UND IHRE PORTRÄTS Marie Pauline Thorbecke hegt eine besondere Sympathie für die Herrscher im Grasland. Sie ist besonders beeindruckt von ihrem Sinn für Macht. Akribisch beschreibt sie die Insignien dieser Macht. Dies kommt besonders im Porträt des Fon von Bana, Happi I, zum Ausdruck: Für den, der an den Anblick von Negern gewöhnt ist, ist der Häuptling von Bana eine ungewöhnlich schöne Erscheinung, groß und schlank, mit schmalem Gesicht und gerader Nase. Auf dem Kopf trägt er eine Baumwollmütze, deren weißer Grund dicht mit bunter Stickerei bedeckt ist; der Oberkörper ist nackt, auf der Brust sieht man seine Tätowierung; ein farbiges, weites Lendentuch, das zwischen den Schenkeln durchgezogen ist, reicht bis zu den Knieen [sic! AG]. Als Häuptling soll er sehr tüchtig sein, und sicher macht er einen intelligenteren Eindruck als die meisten anderen Neger; eine gewisse Gier auf unsere Kulturerzeugnisse ist bei seiner kurzen Bekanntschaft mit allem europäischen wohl begreiflich (AS, S. 35).
Die Erzählerin gibt den Eindruck, dass sie ein Faible für den Fon von Bana hat. Bei der Beschreibung der Person verrät sie ihr Schönheitsideal. Sind die Gesichtszüge, die sie vom Fon gibt, eigentlich seine oder projiziert sie ihr eigenes Schönheitsideal auf den Herrscher? Ihre Beschreibungskategorien stammen nicht von der Doxa, die im kolonialen Kontext für die Beschreibung afrikanischer Menschen zirkuliert: Schlankheit, schmales Gesicht und gerade Nase. Die Protagonistin Thorbecke scheint der Monarchie nahe zu stehen, die sie im Kameruner Grasland vorgefunden hat. Der Prototyp dieser Feudalherrscher ist der Sultan Njoya des Bamumvolkes:
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Er ist vielleicht 32 Jahre alt und sehr jung zur Regierung gekommen. Nachdem er in einem Kriegszug gegen die Bansso, in dem er zusammen mit einer Kompanie der Schutztruppe gefochten, seinen erschlagenen Vater gerächt hat, geht sein ganzes Trachten darauf, seine Bamumleute wirtschaftlich und technisch vorwärts zu bringen. Zuerst ist er dabei in das törichte Fahrwasser geraten, daß er wahllos alles, was er von europäischen Einrichtungen gesehen, nachmachte; und daß er bei den in Bamum ansässigen Weißen nicht immer nur die edelste Kultur gelernt hat, ist leicht zu begreifen. Vor allem hat das Militär es ihm angetan, und er hat jahrelang europäische Kleidung, besonders Uniformen, getragen, hat seine Bamum in Soldatenröcke gesteckt und Parademarsch üben lassen und ist sich ungefähr wie ein Bruder des deutschen Kaisers vorkommen (AS, S. 50).
Der Sultan Njoya wird als Freund des deutschen Kaisers dargestellt. Der Wille, Fortschritt in sein Reich einzuführen, macht aus ihm eine besondere Persönlichkeit. Er empfindet besondere Liebe für das Militär mit allem, was dazu gehört wie, beispielsweise die Uniform. Er muss, so Thorbecke, aufpassen, dass er seine Authentizität nicht verliert, weil er allem »wahllos« nachahmt. Synkretismus als produktive Aneignung des Fremden wird als Entartung betrachtet, was bisher als aber seine Stärke empfunden wurde.
TRANSKULTURELLE TOPOGRAPHIEN ALS HERAUSFORDERUNG IM POSTKOLONIALEN ERINNERUNGSKONTEXT Konsequenzen für Kamerun Das Tagebuch von Thorbecke könnte heute zu einer mentalitätshistorischen und interkulturellen Lektüre deutsch-kamerunischer Beziehungen verhelfen. Aus einem imagologischen Gesichtspunkt bietet das Tagebuch eine symbolische Plattform, an der sich deutsch-kamerunische Interaktionen auf einer imaginären Ebene beschreiben und durchspielen lassen.12 Dies artikuliert sich in der Figurenkonstellation und vor allem in der Art und Weise, wie deutsche Figuren (Franz und Marie Pauline Thorbecke als Hauptprotagonisten, aber auch Stationsleiter Rausch) mit den Einheimischen wie den Dorfchefs, den Karawanenführern, den Schutztruppensoldaten, den Dolmetschern, den Trägern oder den Köchen umgehen. Die Ich-Erzählerin hat eine dominante Beziehung zu den Kamerunern, die
12 Vgl. A. Gouaffo: Bilder im Kopf.
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sie wie Objekte behandelt, obwohl sie grundsätzlich von ihrem Können und Wissen abhängig ist: Und vor 7 Uhr sind wir morgens nie fortgekommen durch alle die Schererei mit den Trägern, die wirklich nicht viel besser sind als wilde Tiere; so ist es denn oft bis 2 Uhr geworden, oder gar noch später, bis wir im Lager anlangten (AS, S. 16).13
Ihr Ehemann Franz Thorbecke fühlt sich berechtigt, als Herr über Kameruner zu verfügen. Er scheut sich nicht, einem Dorfchef öffentlich eine »Ohrfeige« zu geben und ihn zu blamieren. Das ist der Fall von Djidda in Yoko, der sich weigerte, Träger zur Verfügung zu stellen, als Franz Thorbecke ihn darum bat: Und auch der Häuptling von Djidda hatte sofort zugestimmt, als wir ihn bei der Ankunft um drei Träger baten, nicht etwa sie forderten! Am Abmarschmorgen jedoch weigerte er sich, Leute zu stellen; wir hatten ja keinen Soldaten bei uns, weil wir den aus Joko nicht mit weg in den Banjobezirk nehmen konnten. Der Aufbruch vor dem sehr langen Tagesmarsch? wurde über eine Stunde verzögert, der Häuptling wurde immer unverschämter und lachte schließlich Franz in Gegenwart unserer Boys und Träger laut und höhnisch ins Gesicht. Da hatte er eine Ohrfeige, und noch nicht drei Minuten, da waren Träger zur Stelle (AS, 175).
Der Kontakt zwischen Deutschen und Kamerunern definiert sich – in den Texten der Thorbeckes – als eine Beziehung zwischen Herren und Untertanen. Einen Dorfchef im Grasland öffentlich zu beleidigen ist – bis heute – eine Schande, und die Repressalien von Seiten der eigenen Bevölkerung ließen nicht lange auf sich warten. Die Thorbeckes wurden nachts überfallen, und Marie Pauline hätte durch einen Pfeilschuss in den Kopf beinahe ihr Leben verloren. Das Possessivpronomen »unser« zeigt genau, dass die afrikanischen Begleiter während der Expedition als ihr Eigentum betrachtet werden. Wenn das Paar Thorbeke sein Essen mit den Kamerunern teilen will, bekommen diese nur Reste, die weggeworfen werden sollten. Das Beschämendste in dieser deutsch-kamerunischen Interaktion ist die Arbeit, die das Paar Thorbecke von einem achtjährigen Kind aus Dschang verrichten ließ. Heute würde das als unzulässige Kinderarbeit betrachtet. Hierzu die Erzählerin:
13 Marie Pauline schöpft hier aus einem Reservoir von Bildern über die afrikanische Fremde, die zurzeit im ganzen Europa in allen Formaten zirkulieren. Zur Photographie als visueller Text vgl. C. Geary: On the Savannah.
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Unser Hauspersonal hat sich um einen echten Mohren vermehrt, freilich nur einen ganz kleinen, »Ntong«, den wir auf der Straße aufgegriffen haben. Es ist ein etwa achtjähriges, strammes, ewig lachendes Kerlchen, nur mit einem winzig kleinen Schürzchen bekleidet. Bei Tisch, beim Packen, beim Reinmachen soll er helfen, und es ist erstaunlich, wie durchaus selbständig solch ein kleiner schwarzer Mensch ist. Heute hat ist? er selig und stolz, einen Rucksack mit Fleisch – und Obsttin [sic! AG]? und Schokolade auf dem Rücken, hinter Franz, dem Pferd und dem Pferdeboy hergelaufen. Er kennt den 15 Km weiten Weg und wird seine Sache sicher ausgezeichnet machen (AS, S. 26).
Selbstverständlich sind wir in der Welt der Fiktion und der Imagination. Was in dieser Textpassage besonders auffällt, ist das physische Porträt, das die Erzählerin von dem Knaben gibt: »Ein(en) echten Mohr(en)«. Dieses Vokabular gehört einem anderen Zeitalter an, als Europa von Afrika nur eine vage Vorstellung hatte. Die Verwendung des Begriffs in einem Reisetagebuch, das laut Erzählzeit zwischen November 1911 und Januar 1913 geschrieben wurde ist, ist besorgniserregend. Wie kann man ein minderjähriges Kind so quälen und von ihm mit Freude erzählen? Die Respektlosigkeit der Thorbeckes den einheimischen Mitarbeitern gegenüber zeigt sich besonders, wenn sie das Essen verteilen: Vor drei Tagen haben wir für 15 Mark ein Schaf gekauft, das 25 kg wog, und haben es geschlachtet. Seitdem leben wir, wie vorher von Hühnern, unentwegt von Schaffleisch. Gekocht, gebraten, als Sauerbraten, als Beefsteak, in jeder erdenklichen Form. Leber, Beine und Rückenstück sind für uns, alles Übrige, mitsamt den Eingeweiden, haben die Leute verschlungen (AS, S. 26).
In einem postkolonialen Kontext gilt es, eine solche asymmetrische Beziehung zu hinterfragen und die kolonialen Stereotype gegen den Strich zu lesen. Edward Said bietet dazu geeignete methodische Werkzeuge.14 Das Tagebuch von Marie Pauline Thorbecke kann auch Anlass dazu geben, die gesamte deutsche Literatur über Kamerun als deutsch-kamerunische Literatur des kolonialen Zeitalters zu thematisieren und zu studieren. Diese Literatur erzählt die Gründungsphasen der heutigen Republik Kamerun. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive könnte man ungeniert von »Gründungsliteratur« sprechen: eine Literatur, die von den vier Himmelsrichtungen des Landes erzählt, die die Franzosen und die Engländer nach dem Ersten Weltkrieg vorgefunden haben.15 Zwar waren die Kameruner nicht die ersten Rezipienten dieser
14 E. Said: Culture and Imperialism. 15 A. Gouaffo: Deutsche koloniale Reiseliteratur über Kamerun.
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Literatur, doch aus postkolonialer Sicht sind sie auch Teilhaber dieses Erbes. Die Texte sollten gesammelt, ins Englische oder ins Deutsche übersetzt und zugänglich gemacht werden, damit Lücken der nationalen Literaturgeschichtsschreibung geschlossen werden.16 Um die Zukunft besser zu planen, muss man sich an die Vergangenheit erinnern. Die Dezentralisierung des Nationalstaates, die sich die Kameruner zurzeit wünschen, kann nur besser gestaltet werden, wenn Regionalgeschichten gefördert werden, denn die »Kamerun-Nation« kann nur als Einheit in der Vielfalt konzipiert werden. In diesem Sinne hat Marie Pauline Thorbecke den Graslandvölkern, trotz aller unvermeidlichen Stereotype, und Vorurteile einen wichtigen Dienst erwiesen, indem sie in ihrer Erzählung die Gaslandvölker in ihrer kulturellen Gesamtheit schilderte. Dadurch hat sie die regionale Gemeinsamkeit gezeigt, die vor einigen kulturellen Abschottungsmechanismen wie »Tribalismus« warnen sollte. Voraussetzung ist aber, dass die Literatur dieser Epoche der kamerunischen Jugend von heute vermittelt wird. Marie Pauline Thorbecke und ihr Mann haben das kamerunische Grasland erkundet, und es gibt auch andere Deutsche, die Wald- und Küstenregion des Landes in der Kolonialzeit erforscht haben. Alle diese Beschreibungen bilden das ab, was ich unter »Gründungsliteratur«17 des heutigen Landes verstehe. Die deutsche Kolonialzeit in Kamerun darf nicht mehr allein den kamerunischen Historikern überlassen werden, die meist der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Konsequenzen für das Rheinland bzw. Deutschland Ein Ort der Begegnung kann zum Ort der Erinnerung, zum Archiv des Wissensund Kulturtransfers uminterpretiert werden. Das Reisetagebuch von Marie Pauline Thorbecke als Gattung, die sowohl für Literaturwissenschaftler, Ethnologen und Historiker als auch für Geographen von Interesse ist, ruft zu verschiedenen Lesarten auf. Aus der Perspektive der Provenienzforschung liefert das Tagebuch eine Objektbiographie, die für die Museen im Rheinland als Untersuchungsquelle dienen kann.18 So gesehen eröffnet Marie Pauline Thorbeckes Werk die Möglichkeit, einem breiteren Publikum das ermittelte Wissen aus dem Grasland zu-
16 M. Dippold: Kameruner Lesestücke. 17 Vgl. A. Gouaffo: Champ littéraire camerounais. 18 Der Beitrag von Karakış in diesem Band hat diese Anregung bereits empirisch umgesetzt. Hier wird das Tagebuch zentral genutzt, um die Provenienzgeschichte einer in einem deutschen Museum befindlichen Basttasche aus dem kamerunischen Grasland aufzudecken.
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gänglich zu machen. Es sind Orte, die vor ihrer Forschungsreise den Deutschen völlig unbekannt waren. Bis in die Spätphase der deutschen Kolonialzeit lagen weite Teile des Graslandes außerhalb des deutschen Wissenshorizontes. Bahnbrecher war zunächst der aus Düsseldorf stammende Eugen Zintgraff19 (Bali, Tinto), später dann der Geograph Kurt Hassert. Marie Pauline (Malerin und Photographin) und Franz Thorbecke waren die Forschungsreisenden, die als Erste landschaftliche und anthropologische Momentaufnahmen des Graslandes gemacht und Ethnographika aus der Region nach Deutschland gebracht haben. Das postkoloniale Deutschland verdankt ihren Beschreibungen heute die ersten Schrift- und Bildquellen, sowie ethnographische Sammlungen aus diesem Raum. Die (verstreute) Sammlung Thorbecke erweist sich demnach als Archiv der Erinnerung, das im deutschen Literatur- oder Geschichtsunterricht20 im Rahmen der kolonialen Geschichtsaufarbeitung thematisiert werden könnte.
ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Ziel dieses Beitrages war es, zu zeigen, dass Marie Pauline Thorbecke als Photographin, Malerin und Schriftstellerin eine spezifische Art der Wissensproduktion und -vermittlung über das Grasland von Kamerun betrieb. Im Mittelpunkt standen die kulturellen Aspekte des Graslandes, die ihrer Aufmerksamkeit auf sich zogen. Abschließend lässt sich beobachten, dass der Aufenthalt von Marie Thorbecke im Grasland von kurzer Dauer war (anderthalb Jahre), aber das, was sie in der kurzen Zeit für das bisher aus deutscher Sicht unbekannte Gebiet gesammelt hat, lädt zur Reflexion ein. Für die damaligen Leser im Rheinland waren die Informationen, die das Tagebuch vermittelte, von besonderer Relevanz. Das Wissen hatte möglicherweise eine gewisse Resonanz in Deutschland. Aus heutiger Sicht kann man von einem vergessenen Erinnerungsort sprechen. Im Rahmen der interkulturellen kolonialen Geschichtsaufarbeitung kann man an diesem Werk nicht vorbeischauen. Wie ihre Landschaftsskizzen zum Beispiel touristisch zu verwerten sind oder die Beschreibungen der Kultur des Graslandes im Kon-
19 Vgl. zu ihm und seinen Reiseberichten den Beitrag von Tsogang Fossi in diesem Band. 20 Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung sollte auch die Kolonialliteratur als Teil der eigenen Nationalliteratur einordnen können.
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text der Erinnerungskultur und des besseren Kennenlernens zu benutzen sind, sprengt den Rahmen dieses Beitrages.21
LITERATUR Bachmann-Medick, Doris: »Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin 1997, S. 1-18. Brenner, Peter J.: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, in: Peter J. Brenner (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt 1989 S. 14-49. Dippold, Max F.: Kameruner Lesestücke aus der deutschen Kolonial- und Missionsliteratur. Krumbach 2014. (2. Auflage) Geary, Christraud M.: »›On the Savannah‹: Marie Pauline Thorbecke’s images from Cameroun, West Africa (1911-12)«, in: Art Journal, 49 (1990), S. 150158. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1995. Gouaffo, Albert: »Champ littéraire camerounais et littérature migrante (allemande). Une identité nationale à (re-)construire», in: Neue Romania. Canon national et constructions identitaires: les nouvelles littératures francophones, 33 (2005), S. 171-184. Gouaffo, Albert: »Bilder im Kopf. Kontext ihrer Entstehung und Möglichkeiten ihrer Überwindung mit besonderer Berücksichtigung Kamerun-Deutschland«, in: Mont Cameroun, 4 (2007), S. 113-127. Gouaffo, Albert: »Deutsche koloniale Reiseliteratur über Kamerun als kamerunische Literatur des kolonialen Zeitalters? Legitimationsversuch eines postkolonialen Literaturkanons«, in: Obikoli Assemboni/Anna Babka/Laura Beck/ Axel Dunker (Hg.): Postkolonialität denken – Spektren germanistischer Forschung in Togo, Wien Praesens Verlag 2017, S. 67-77.
21 Im Rahmen der Ausstellung »Liaisons coloniales – Allemagne/Cameroon – Rhénanie/grassfields«, die Juli/August 2018 im Musée des Civilisations in Dschang, Kamerun gezeigt wurde, wurden erste Erfahrungen mit der Präsentation der Sammlung Thorbecke im Dialog mit einem Publikum im kamerunischen Grasland gesammelt. Ein im Jahr 2019 erscheinender Katalog wird die damals gemachten Erkenntnisse und Erfahrungen vorstellen.
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Said, Edward W.: Culture and Imperialism. London 1994. Schultz, Martin: »›Unser Haus ist das reine Museum‹. Die Sammlung Franz und Marie Pauline Thorbecke an den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim«, in: Kunst&Kontext (1) 2014, S. 5-15. Schwarz, Thomas: »›Die Tropen bin ich‹. Der exotische Diskurs der Jahrhundertwende«, in: kultuRRevolution 32/33 (1995), S. 11-21. Thorbecke, Franz: Im Hochland von Mittel-Kamerun, 1. Teil. Hamburg 1914. Thorbecke, Franz: »Forschungsreise der Deutschen Kolonialgesellschaft in Kamerun«, in: Deutsche Kolonialzeitung, 46 (18. November 1911), S. 770-771. Westfahl, Bertand: Pour une approche critique des textes. http://www. vox-poetica. org/sflgc/biblio/gcr.html#_ftnref46 (abgerufen am 20.03.2018). Westfahl, Bertand: La Géocritique. Réel, fiction, espace. Paris 2007.
Düsseldorf und die Welt – Globalgeschichte goes regional1 Stefanie Michels
»Regionen und Welten«, so titelte Johannes Paulmann 2013 programmatisch in der Historischen Zeitschrift.2 Seine Grundfrage war, ob es regionale Besonderheiten in der Art ihrer Beziehung zur Welt gibt. Zeitlich bezog sich Paulmann auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, also der Phase in der europäischen Geschichte, in der Weltbeziehungen in imperialen Bahnen gedacht und strukturiert waren.3
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Die Ideen zu diesem Forschungsfeld wurden maßgeblich von Caroline Authaler mitentwickelt. Ich danke Yaǧmur Karakış und Michael Rösser für Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Beitrags und Niels Hollmeier, Andreas Göttmann und den Studierenden vergangener Semester für wertvolle Archiv- und Recherchearbeiten. Erste Ergebnisse liegen vor in Form eines Stadtplans (2015), einer App (HistoriaApp) (2017), dreier Broschüren (2014, 2017, 2018), sowie auf der Projektwebseite www.deutschland-postkolonial.de (2017). Ich werde im Folgenden auch aus diesen grauen Veröffentlichungen zitieren, um die beteiligten Studierenden stärker sichtbar zu machen. In ähnlicher Form wurde der Beitrag im Düsseldorfer Jahrbuch des Geschichtsvereins 2018 veröffentlicht (88. Band, S. 77-99.)
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J. Paulmann: Regionen und Welten. Somit scheint in der Wissenschaft angekommen, was auf lokaler Ebene von zivilgesellschaftlichen Gruppen seit den 1990er Jahre begonnen wurde: die Suche nach kolonialen Spuren vor Ort, meist in einer Stadt. Am eindrücklichsten lässt sich diese Entwicklung in Hamburg verfolgen. In dieser Stadt entstand Ende der 1990er Jahre mit »Hamburg postkolonial« die erste Aktivistengruppe, die sowohl publizistisch als auch im Stadtraum durch Ausstellungen und Stadtrundgänge präsent war. Die so entstandenen stadtpolitischen Diskussionen konnte der 2011 auf eine Professur für Afrikanische
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Seinen Überlegungen für Südwestdeutschland folgend fragt dieser Beitrag, was Düsseldorfs Beziehungen zur Welt im 19. und 20. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen Regionen Deutschlands auszeichnete. Eine systematische und umfassende, empirisch tief und breit angelegte Forschung zu dem Thema fehlt bislang. Im Folgenden werden exemplarisch Verbindungen Düsseldorfs mit der Welt zusammengetragen und Thesen für die regionale Spezifik aufgestellt. Weitere Forschung wird zeigen, ob diese Thesen belastbar sind. Im 19. Jahrhundert wandelte sich Düsseldorf von einer kleineren Residenzund Garnisonsstadt zu einer eng mit den Industrien des Ruhrgebietes verzahnten Industrie- und Bankenstadt. Spezifisch für Düsseldorf im 19. Jahrhundert waren von daher: Kunst, Krieg und Industrie. Die beiden ersten waren dabei Vermächtnisse aus Düsseldorfs Zeit als frühneuzeitliche Residenzstadt. Der dritte Aspekt kam im späten 19. Jahrhundert dazu und führte zum Aufstieg Düsseldorfs zu einer Großstadt. Parallel zu diesem Prozess begann geopolitisch die sogenannte hochimperiale Phase, in der die Großmächte Europas um globale Vorherrschaft konkurrierten und in Asien und Afrika imperiale Strukturen aufbauten, auch Deutschland war ab 1884 dabei. Staatliche Kolonialpolitik wurde in Berlin, der Hauptstadt des deutschen Reiches gemacht. In Düsseldorf schrieb sich diese imperiale Geschichte Deutschlands jedoch nicht nur peripher – in Relation zu Berlin – nieder. Aufgrund seiner historischen Voraussetzungen hatte Düsseldorf ei-
Geschichte berufene Jürgen Zimmerer nutzen, um vom Hamburger Senat eine Forschungsstelle für Hamburgs postkoloniales Erbe an der Hamburger Universität einzurichten. Das Spektrum der Themen der stadtbezogenen postkolonial-Gruppen etablierte einen Kanon von Themen: koloniale Interessenverbänden, Missionsgesellschaften, einzelne lokal bekannte Kolonialprotagonisten, Völkerschauen, Kolonialwissenschaften, Völkerkundemuseen und Straßennamen – letztlich theoretisch und methodisch nicht begründet, was zu einer problematischen Enthistorisierung kolonialer Prozesse und Dynamiken führte. Lediglich für Bayern liegt eine monografische wissenschaftliche Untersuchung vor, der es gelingt, regional und zeitlich spezifische Aspekte eines »Kolonialismus in der Heimat« herauszuarbeiten. Ein Fazit dieser Studie ist, dass das koloniale Projekt in Bayern nicht staatlich gelenkt war, sondern eher von kleinen zivilgesellschaftlichen Interessengruppen ohne gemeinsame Agenda teilweise widersprüchlich getragen wurde. Zudem richteten sich expansive Interessen in Bayern eher Richtung Balkan, denn nach Übersee und ermöglichten so beispielsweise den Bau des Donaukanals, vgl. M. Seemann: Kolonialismus in der Heimat.
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ne spezifische Verbindung zur Welt im 19. und 20. Jahrhundert – sie unterschied sich von Berlin, ebenso wie von Köln4 und anderen Großstädten. Zunächst erfolgt ein knapper Überblick über die Ausgangslage: was zeichnete Düsseldorf als Stadt im 19. und 20. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen deutschen Städten aus. Anschließend werden die drei Bereiche vorgestellt, in denen Düsseldorfs Beziehungen zur Welt regional spezifisch waren: Welt als Markt, Welt als Ausstellung und Welt als Kriegsschauplatz.
AUSGANGSLAGE Zwischen 1709 und 1714 entstand mit dem Anbau der dreigeschossigen Gemäldegalerie an das Düsseldorfer Residenzschloss einer der ersten reinen Museumsbauten Europas in Düsseldorf. Zwar ging die Gemäldesammlung 1805/06 nach München, jedoch wurde Düsseldorf von Preußen durch den Bau der Kunsthalle kompensiert. 1819 entstand die »Königlich-Preußische Kunstakademie« in Düsseldorf und in ihr die »Düsseldorfer Malerschule«, die als »cosmopolitan school«5 einen internationalen Ruf hatte, gleichzeitig aber eine regionale Selbstbehauptung gegenüber Berlin und Preußen versuchte. In der kurpfälzischen Zeit waren bereits Regimenter in Düsseldorf stationiert. Zwischen 1794 und 1815 war Düsseldorf von verschiedenen französischen Besatzungsregimentern und Kriegsereignissen betroffen und wurde ab 1815 offizieller Standort preußischer Garnisonen. Ab 1848 waren es drei Regimenter, die Düsseldorf prägten: das 5. westfälische Ulanenregiment6, das 11. Husarenregiment und das 39. niederrheinische Füsilierregiment. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde Düsseldorf dann zunehmend durch Wirtschafts- und Finanzeliten geprägt. Ende des 19. Jahrhunderts gründeten sich in Düsseldorf eine Reihe von Interessenverbänden Industrieller mit gleichzeitig regionaler und globaler Ausrichtung, so der »Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen im Rheinland und in Westfalen«. Auch die Zentralverbände ei-
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Vgl. für Köln: M. Bechhaus-Gerst/A.-K. Horstmann: Köln und der deutsche Kolonia-
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M. Sitt: Düsseldorfer Malerschule, S. 85. Der gute Ruf ging Ende des 19. Jahrhun-
lismus. derts zugunsten Münchens zur Neige, vgl. ebd. 6
Kasernenstandort Düsseldorf Roßstr. 1929 errichtete die Stadt Düsseldorf ein Denkmal zur Erinnerung an die 1914-18 gefallenen Soldaten des 5. westfälischen Ulanenregiments an prominenter Stelle auf dem GeSoLei-Gelände, heute: Joseph-BeuysUfer.
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niger Schlüsselindustrien saßen in Düsseldorf – und nicht etwa in Berlin, so der 1876 gegründete »Centralverband Deutscher Industrieller« und der »Verein Deutscher Eisenhüttenleute« (1880 – mit Vorgängerverein 1860), der »Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten«, der »Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabrikanten«. 1904 schließlich der »Stahlwerksverband«, der Düsseldorf zum wichtigsten deutschen Eisen- und Stahlverkaufsort im deutschen Reich erhob. Bis heute wird Düsseldorf der »Schreibtisch des Ruhrgebiets« genannt. Informellen Niederschlag fand diese Verbindung von Industrie, Finanz- und Lobbyinteressen im 1912 gegründeten bis heute existierenden Industrie-Club Düsseldorfs. Düsseldorfs Ruf als Ausstellungsstadt war ebenfalls der Verbindung dieser Interessen geschuldet und schlug sich personell in Wilhelm Marx nieder. Als Oberbürgermeister und erster Vorsitzender des Industrie-Clubs stand er hierfür ebenso wie Heinrich Lueg, Geheimer Kommerzienrat und Industrieller, der hauptverantwortlich für die »Große Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung« von 1902 war.7 Düsseldorf wurde aus diesem Grund seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer Stadt der ambitionierten Ausstellungen. Düsseldorf spezifisch war dabei die Verbindung von Kunst- und Industrieausstellung und somit eine Integration von Düsseldorf als Stadt der Kunst und Stadt der Industrie. Im Gegensatz zu anderen Städten Deutschlands, die stärker von einem etablierten Großbürgertum geprägt waren, kam es in Düsseldorf nicht zur Gründung eines Völkerkundemuseums im 19. Jahrhundert. Ebenso fehlte Düsseldorf eine Universität, wo sich Wissenschaftler und Studierende mit weltbezogenen Themenfeldern beschäftigten, es entsprechende wissenschaftliche Vereinigung gab und Studierende aus anderen Teilen der Welt die Stadt geprägt hätten. Düsseldorf verfügte über einen wichtigen Binnenhafen und trat darüber in Beziehung zu Produkten aus aller Welt und auch zu einer globalen Arbeiterschaft. Mit den großen Seehafenstädten, wie Amsterdam, Liverpool und Hamburg war dies jedoch nicht zu vergleichen. Düsseldorf war im 19. Jahrhundert also durch die Eingliederung nach Preußen zunächst marginalisiert worden, um ab Ende des 19. Jahrhunderts durch die zunehmende Bedeutung der Eisen- und Stahlindustrie in Ruhrgebiet und Bergischem Land rasant zu expandieren. Wie schrieb sich nun die oben beschriebene regionsspezifische Ausgangslage in Düsseldorfs Beziehungen zur Welt ein? 1) Vertreter der Industrie interessierten sich besonders für Absatz- und Rohstoffmärkte; 2) durch die Ausstellungen holte sich Düsseldorf die Welt als Pres-
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Vgl. Industrie-Club: Treffpunkt der Eliten.
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tige und Erlebnis an den Rhein. 3) Durch die Beteiligung an Kriegen gingen Soldaten aus Düsseldorf in die Welt. Alle diese Bereiche waren aber keine Einbahnstraße – eine globalhistorische Perspektive auf die Stadtgeschichte fragt auch danach, wie Menschen aus dem globalen Süden in Düsseldorf und mit Düsseldorfern agierten. Diese theoretischmethodische Prämisse ergibt ein Narrativ jenseits von eurozentrischen Erzählmustern und ist gerade im Rheinland besonders einleuchtend: Düsseldorf war selbst mehrfach Kriegsschauplatz und (französisch) besetztes Gebiet, auf dem auch Soldaten aus dem globalen Süden eingesetzt wurden. Durch seine Kunstund Industrieausstellungen wurde Düsseldorf für Menschen aus aller Welt attraktiv, sei es als Arbeitskräfte oder als offizielle Delegation. Die Menschen aus aller Welt und auch aus dem globalen Süden (Asien, Afrika) die so nach Düsseldorf kamen, temporär oder dauerhaft, gingen zahlreiche Beziehungen ein. Dadurch kam es durchaus zu Überschneidungen und Berührungspunkten zu den in der Stadt aktiven Düsseldorfern mit Weltbeziehung. Diesen Punkt werde ich im Verlauf am Beispiel von transregionalen Familiengeschichten von Nayo Bruce und Josef Mambingo beleuchten, die in Düsseldorf nicht entsprechend bekannt sind, wie die des Afro-Deutschen Hilarius Gilges.8
DÜSSELDORF UND DIE WELT ALS MARKT Am 29. Januar 1881 wurde in der städtischen Tonhalle in Düsseldorf der »Westdeutsche Verein für Kolonisation und Export« (WVKE) gegründet. Er war damit der erste deutsche Verein, der das Wort »Kolonisation« im Vereinsnamen führte.9 Es verwundert nicht, dass die rheinische Wirtschaft zu den frühen Fürspre-
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Zu Mambingo ist 2018 im Rahmen der befristeten Professur »Geschichte der Europäischen Expansion« an der Heinrich-Heine-Universität eine Masterarbeit entstanden, die viele neue wichtige Details hervorbrachte und zu einem vertiefenden Verständnis für dessen Lebensentscheidungen führt, vgl. T. Dörpinghaus: Josef Mambingo, vgl. bereits J. Linkamp: Josef Mambingo und seine Familie.
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Vorgängerorganisationen mit ähnlichem Programm waren der 1878 in Berlin gegründete »Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland«, vgl. intensiv dazu: U. Soénius: Koloniale Begeisterung im Rheinland; Gründungsmitglieder des WVKE aus Düsseldorf waren der Ire, William Thomas Mulvany, der Industriefunktionär, Henry Axel Bueck, der Kommerzienrat, Wilhelm Pfeiffer sowie der Mediziner und spätere Kaufmann, Dr. Albert Pönsgen, vgl. T. Mörsch: Politische Vereine.
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chern für die Errichtung von Kolonien als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten agitierten.10 In der Vereinsgründung und den beteiligten Akteuren zeigte sich bereits die Verflechtung von wirtschaftlichen und politischen Interessen, wie sie für die rheinische Wirtschaftselite typisch war. Dabei vertraten die rheinischen Interessensverbände der Schwerindustrie ab 1879 die Forderung nach protektionistischer Politik, verbunden mit der – allerdings recht vagen – Idee von Handelskolonien.11 Eine Besonderheit des WVKE war die zentrale Beteiligung des Leiters der 1828 gegründeten Rheinischen Mission12, Friedrich Fabri, und des Journalisten Hugo Zöller, der für die Kölnische Zeitung schrieb und 1884 selbst aktiv koloniale Gebiete für Deutschland sicherte.13 1869 hatte Fabri die Missions-Handelsgesellschaft gegründet, die ausschließlich wirtschaftliche Ziele verfolgte. Er nutzte das Netzwerk der Missionare im südwestlichen Afrika für seine wirtschaftlichen Ziele und kam dabei sehr oft in Konflikte mit diesen. 1884 ver-
10 In der Forschung ist diese Betätigung jedoch überlagert durch die Konzentration auf die 1888 entstandene und in Berlin ansässige »Deutsche Kolonialgesellschaft«. Tatsächlich entstand diese aus regionalen Vorgängerorganisationen. Der »Westdeutsche Verein für Kolonisation und Export« war eine der drei wichtigsten darunter. Die erste Generalversammlung hielt der WVKE 1883 in der städtischen Tonhalle in Düsseldorf ab. Bereits hier wurde beschlossen, enger mit dem 1882 in Süddeutschland gegründeten »Deutschen Kolonialverein« zusammenzuarbeiten, der in der Folge, nämlich im November 1885 seine Generalversammlung auch in Düsseldorf abhielt. Der Vorstand des WVKE war ebenfalls anwesend und die Versammlung beschloss die Fusion der beiden Verbände, vgl. hierzu ausführlich U. Soenius: Koloniale Begeisterung. 11 Vgl. E. Bendikat: Organisierte Kolonialbewegung. 12 Sie entstand aus dem Zusammenschluss mehrerer in der Region aktiven protestantischen Missionsgesellschaften: Elberfeld (1799), Barmen (1818), Wesel (1822), Köln (1822). Geld wurde von lokalen »Hilfsvereinen« aus dem Rheinland und Westfalen gesammelt und 1829 die ersten vier Missionare in die britische Kapkolonie im südlichen Afrika entsandt. Sie arbeiteten dabei noch mit der London Missionary Society zusammen, erschlossen sich ab 1842 allerdings ein eigenes Missionsfeld nordwestlich der Kapkolonie, im Namaland, im heutigen Namibia. Fabri war 1857 zum ersten »Inspektor« im Hauptquartier in Barmen ernannt worden. Die rheinische Mission wurde die größte protestantische Mission in Deutschland und erweiterte ihr Missionsgebiet auf Borneo (1835), China (1847), Sumatra (1861) und Nias (1865). Südwestafrika blieb aber das wichtigste Missionsfeld. Die rheinische Mission hatte bereits 1868 beim preußischen König und den Briten um Schutz für ihre Missionsstationen in Südwestafrika gebeten. 13 B. Wiese: Hugo Zöller.
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ließ er die Mission. Die Missions-Handelsgesellschaft wurde als Kapitalgesellschaft betrieben. Sie war seit 1880 so gut wie bankrott. Fabri suchte nun nach Investoren für Minengesellschaften, die im südwestlichen Afrika nach Rohstoffen schürfen sollten. 1881 fand er mit F.A. Hasenclever aus Düsseldorf einen Investor. Friedrich Fabri war damals einer der politischen Vordenker deutscher Kolonisation, entwickelte konkrete wirtschaftliche Pläne und kleidete diese in politische, soziale und entwicklungspolitische Argumente.14 Er war einer der Hauptakteure, die Otto von Bismarck dazu brachten, am 24. April 1884 über von dem Bremer Kaufmann Lüderitz erworbene Gebiete im südwestlichen Afrika gegenüber der britischen Kapkolonie den staatlichen »Schutz« auszusprechen. Mit diesem Datum beginnt aus deutscher Sicht die staatliche Betätigung als Kolonialmacht. 1888 kam der Zentralisierungsprozess der verschiedenen kolonialen Lobbyverbände mit der Gründung der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) mit Sitz in Berlin zum Abschluss. Die DKG bildete in der Folge lokale Abteilungen aus – in Düsseldorf bestand diese von 1890 bis 1921 und wieder ab 1931.15 Ab 1890 zeigt sich in Düsseldorf für die Beteiligung der DKG das für Deutschland typische Muster: Der Zentralverein aus Berlin errichtet lokale Abteilungen. Es gehörte zum guten Ton der bildungs- und großbürgerlichen Elite Mitglied in diesen Abteilungen zu sein. Diese Art von kolonialer Betätigung war somit Teil eines
14 Fabris 1879 veröffentlichtes Manifest: »Bedarf Deutschland der Colonien« gab darin auf über 100 Seiten die Antwort »ja« und zwar aus vier verschiedenen Gründen: nationales Prestige, Auswanderungsgebiete, Absatzmärkte und soziale Integration. 1880 bat Fabri beim Reichskanzler Bismarck erneut um Schutz. 1883 erwarb der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz Land von Josef Brederiks von Bethanien für 500 Pfund und 60 Gewehre. Fabri setzte sich seit September 1883 dafür ein, dass das Deutsche Reich über dieses Gebiet ein Protektorat (v.a. gegenüber England) aussprach und verband damit wirtschaftliche Aktivitäten, wie Handel, Bergbau und Eisenbahnbau. Otto von Bismarck schickte am 24. April ein entsprechendes Telegramm nach Kapstadt und erklärte das deutsche Protektorat über die von Lüderitz erworbenen Gebiete. 1883 wurde Fabri Vize-Präsident des Deutschen Kolonialvereins, 1885 Ehrenmitglied der Gesellschaft für deutsche Kolonisten und ab 1887 Exekutiv-Komitee-Mitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft. 1884 legte er sein Amt als Missionsinspektor nieder, vgl. ausführlich: K. Bade: Friedrich Fabri und der Imperialismus und N. O. Oermann: Mission, Church and State Relations. 15 Die Leitung in Düsseldorf übernahm der Bergwerksdirektor Paul von Schwarze, der auch dem Gesamtvorstand der DKG angehörte. Nach dessen Tod folgte 1894 Albert Poensgen, ein Gründungsmitglied des WVKE.
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größeren bildungsbürgerlichen Elitenprozesses. Dieser Prozess verlief in Düsseldorf ganz ähnlich wie in anderen deutschen Städten. Bei der Mehrheit der breiteren Bevölkerung Düsseldorfer war keine »koloniale Begeisterung«16 ausgebrochen, das sollte sich im Prinzip auch nicht ändern.17 In den entscheidenden Jahren in Bezug auf Deutschlands staatliche koloniale Betätigung, 1879-1884 war Düsseldorf und das Rheinland jedoch mit entscheidend für die Umsetzung der Forderung nach kolonialer Betätigung, insbesondere als Absatz- und Rohstoffmärkte für die Industrie. Folgerichtig gründeten sich in der Folge in Düsseldorf und im Rheinland zahlreiche Handels- und Plantagenunternehmen in den deutschen Kolonien und wurden auch von Düsseldorfern und rheinischen Personen betrieben. Die Geschäfte der großen rheinischen Schlüsselindustrien in deutschen Kolonien gehören noch zu den bisher kaum erforschten Gebieten. Bekannter sind die kleineren – und oft wirtschaftlich wenig erfolgreichen Neugründungen, wie die 1895 gegründeten Westdeutschen Handels- und Plantagengesellschaft18, der 1904 gegründeten in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tanzania tätigen, Sisal-Agavengesellschaft und der 1899 gegründeten in Kamerun tätigen »Moliwe-Pflanzungesellschaft« – diese bestand bis 1939 und war erst nach dem Ersten Weltkrieg für ihre Investoren ertragreich.19
16 Anders: U. Soenius, Koloniale Begeisterung. 17 Bei den von kolonialen Themen bestimmten Reichstagswahlen von 1907, bei denen in Düsseldorf in Bezug auf Kolonien auf beiden Seiten polemisiert wurde, gewann der kolonialkritische Kandidat des Zentrums den Wahlkreis in einer Stichwahl gegen den ebenfalls kritisch eingestellten Kandidaten der Sozialdemokraten, vgl. »Ein Sieg für die Kolonialkritiker 1907«. Die 1908 erfolgte Umbenennung der Kaulbachstr. (nach München verzogener Protagonist der Düsseldorfer Malerschule) in Wissmannstr. (galt 1908 als Kolonialheld, da er 1889 in Ostafrika die deutsche Kolonie mit Waffengewalt erhalten hatte und 1905 während der erneuten Krise der deutschen Kolonialherrschaft starb) in Unterbilk steht damit zum Widerspruch zur Mehrheit in Düsseldorf (auch in Bilk hatte das Zentrum 1907 die meisten Stimmen geholt), vgl. ausführlicher zu den Umbenennungsdebatten: S. Michels: (Dis-)Locating Wissmann. 18 Aktiv in Deutsch-Ostafrika und Kenia (Handelsniederlassungen in Lindi und Mombasa, Plantagen bei Tanga). Sie betrieb Im- und Exporthandel und baute folgende Produkte an: Kokospalmen, Sisal, Kautschuk, Kapok, Kaffee, Ölpalmen (R. W. Schoeller: Westdeutsche Handels- und Plantagengesellschaft. 19 An allen dreien war der Düsseldorfer Albert Poensgen beteiligt. Poensgen, Gründungsmitglied des WVKE übernahm 1894, nach dem Tod des Bergwerksdirektors Paul von Schwarze die Leitung der Düsseldorfer Abteilung der DKG. Von 1898 bis
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Auch die Gründung der »Westafrikanischen Pflanzungsgesellschaft Victoria« (WAPV) im Jahr 1897 war so eng mit rheinischen Netzwerken verbunden, dass sie – trotz Gründung in Berlin – als rheinisches Kolonialunternehmen bezeichnet werden kann. Maßgeblich beteiligt waren Eugen Zintgraff, gebürtiger Düsseldorfer, und der Kölner Max Esser. 20 Eugen Zintgraff hatte von 1886-1891 im Auftrag des Auswärtigen Amtes das den Deutschen noch nicht bekannte Hinterland der deutschen Kolonie Kamerun bereist und gute Beziehungen – auch militärische – zu dem einflussreichen König Galega im kamerunischen Grasland aufgebaut.21 Wenige Jahre später konnte er eine Gruppe von Investoren schwerpunktmäßig aus dem Rheinland zur finanziellen Beteiligung an der WAPV bewegen. Gemeinsam mit dem Bankier Max Esser, reiste er nach Kamerun, um die Plantagen zu errichten.22 Hierbei waren sensible Fragen nach Land und Arbeitskräften berührt – beide wären ohne die Gewaltandrohung des kolonialen Staates in dieser Weise nicht lösbar gewesen. Das Arbeiterrekrutierungssystem gelang aber auch durch die Aktivierung vorkolonialer Wirtschaftsstrukturen, wie der Sklaverei und der Tributhegemonien des Königs Galega aus Bali.23 Zu den Kunden der WAPV gehörte die Firma Henkel & Co., die von der WAPV Palmöl für die Waschmittelherstellung bezog. Für die Firma Henkel, die seit 1907 ihren Firmensitz in Holthausen, heute Düsseldorf hat, war Palmöl einer der wichtigs-
zu seiner Auflösung 1908 war Poensgen Mitglied des Kolonialrates in Berlin, eines Gremiums, das die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes beriet. Es handelte sich dabei um ein Ehrenamt. Der Kolonialrat wurde 1908 aufgelöst, da es Konflikte mit dem Reichstag gegeben hatte, der sich umgangen fühlte. Es wurden in der Folge Kommissionen gebildet, die in den Ministerien angesiedelt waren, beispielsweise die 1911 gegründete »ständige wirtschaftliche Kommission« des Reichskolonialamtes, vgl. König: Kolonialrat. 20 C. Nischwitz: Plantage zum Waschmittel. Nischwitz hat im Konzernarchiv von Henkel hierzu Verträge mit dem Hauptmann Menzel aus dem Jahr 1912 gefunden, in dem es heißt: »Im Auftrage der Firma Henkel & Co. geht Herr Hauptmann Menzel zum Zwecke der Gewinnung oder der Vermittlung von Ankäufen von Palmfrüchten nach Afrika« (zit. n. ebd., S. 31, FN 11). 21 Vgl. hierzu unsere Dokumentation auf www.deutschland-postkolonial.de und E. Zintgraff: Nord Kamerun. 22 Vgl. ausführlich zu Essers Aktivitäten in Kamerun: E. Chilver/U. Röschenthaler: Cameroon’s Tycoon. Zintgraff erkrankte in Kamerun und starb auf der Rückreise 1898. 23 Vgl. zu Galega und dessen wichtige strategische Partnerschaft zum gebürtigen Düsseldorfer Eugen Zintgraff den Beitrag von Tsogang Fossi in diesem Band.
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ten Rohstoffe. Erste Forschungen im Firmenarchiv von Henkel ergaben, dass Henkel 1912 mindestens eine Expedition bestellte, die in Kamerun direkt Verträge über die Lieferung von Palmöl abschließen und die Möglichkeiten einer Anlage von eigenen Palmölplantagen eruieren sollten. Hierzu scheint es aber nicht gekommen zu sein.24 Stellvertretend für die Suche nach Rohstoff- und Absatzmärkten außerhalb deutscher Kolonien können die Remscheider Brüder Mannesmann stehen. Sie waren die Gründer der Mannesmann Röhrenwerke, schieden 1893 jedoch aus dem Vorstand und dem Unternehmen aus und versuchten sich in der Folge als Kaufleute – ab 1906 mit einem Schwerpunkt in Marokko.25 Sie schlossen 1908 weitreichende Verträge über Rohstoffnutzung und Landrechte mit der marokkanischen Regierung ab, die in die diplomatischen Verwicklungen zwischen Berlin und Paris kamen (sogenannte »Marokkokrise«). Die marokkanische Regierung stellte sich dabei auf Seiten der Familie Mannesmann. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die Mannesmanns in Marokko aktiv. Vier der fünf Mannesmannbrüder und ihre Ehefrauen verlegten sogar ihren Hauptwohnsitz nach Marokko. Umgekehrt nutzte die marokkanische Regierung ihre Kontakte zur Familie Mannesmann für ihre eigenen Interessen: Der marokkanische Außenminister Sidi Mohamed Ben Asus erhielt 1907 durch Vermittlung der Brüder Mannesmann in Berlin beim Auswärtigen Amt die Möglichkeit, die marokkanischen Interessen persönlich vorzutragen. Auf dem Weg nach Berlin legte er einen Zwischenstopp in Remscheid, bei der Familie Mannesmann, ein.26 Sidi Mohamed Ben Asus war damit kein Einzelfall: seit den Opiumkriegen war vielen Menschen im globalen Süden klargeworden, dass die Europäer ihre Waffen einsetzten, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Es begann ein »Wettlauf gegen die Zeit«27, mit dem Ziel, Europa waffentechnisch und wirtschaftlich die Stirn bieten zu können. Bekanntlich hat letztlich bis zum Ersten Weltkrieg nur Japan diesen Wettlauf gewonnen, v.a. weil es keine Kredite zur Finanzierung von militärischer Aufrüstung und Industrialisierung benötigte. Das Wissen Europas und der USA wurde schlagartig weltweit höchst relevant und Wissens- und Handelsexpeditionen aus aller Welt bereisten Europa und die USA: die bekannteste ist die Iwakura-Mission Japans (1871-1873), bei der der
24 Vgl. C. Nischwitz, Plantage. 25 Vgl. H. A. Wessel: Globale Unternehmensaktivitäten. 26 vgl. ebd., S. 88. 27 J. Darwin: Imperiale Traum.
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Düsseldorfer Kaufmann Louis Kniffler28 zur Ehrenbegleitung gehörte. Aber auch aus vielen anderen Gebieten kamen Delegationen oder Einzelpersonen, wie dem Osmanischen Reich (einschließlich Ägypten), Äthiopien, Westafrika, China und Indien. Auf Düsseldorf waren diese Persönlichkeiten durch die hier stattfindenden (Industrie- und Gewerbe-) Ausstellungen aufmerksam geworden. Ende Juli 1904 besichtigte eine chinesische Regierungsdelegation die Maschinenfabrik Haniel & Lueg.29 1906 besuchte die »Kaiserliche Chinesische Studienkommission« im Rahmen einer weltweiten Reise auch Düsseldorf und hielt sich zwei Tage in der Stadt auf. Geleitet wurde die Kommission vom Kaiserlichen Vizekönig und Generalgouverneur zweier Provinzen, Tuang Fang, wobei weitere hohe Beamte und Militärs vertreten waren.30 In Düsseldorf wurde die Kommission vom Stahlwerk-Verband empfangen, sie besichtigen die Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik, in der auch Schusswaffen hergestellt wurden, die städtische Kunsthalle, das Apollo-Theater, den Künstlerverein »Malkasten« und die städtische Tonhalle. Der Besuch erregte großes Aufsehen und wurde von großen Menschenmassen begleitet. Auf der Ebene der Kunst entwickelte sich im Folgenden eine recht lebhafte Beziehung zwischen Düsseldorf und China: Tuan Fang kaufte in der städtischen Kunsthalle drei Bilder für 3000 Mark und schenkte der Stadt ein Bild aus China, welches im Oktober 1907 von zwei chinesischen Gesandtschaftsmitgliedern in Düsseldorf übergeben wurde. Tuang Fang gab bei Düsseldorfer Künstlern weitere Bilder in Auftrag. Mit seinem Tod 1911 endeten diese Beziehungen.31 Die wirtschaftlichen Kontakte zwischen Düsseldorf und China blieben jedoch bestehen: 1913 lieferte die »Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik« schwere Waffen nach China. Nach einer längeren Pause, u.a. bedingt durch den Ersten Weltkrieg und die politisch instabilen Verhältnisse in China wurden die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland und auch zu Düsseldorf 1928 unter veränderten politischen Ver-
28 Louis Kniffler (1827-1888), der 1859 in Nagasaki das erste deutschen Handelsunternehmen in Japan errichtet hatte, kehrte erst 1865, nachdem er vier Jahre zuvor zum preußischen Vizekonsul ernannt worden war, nach Düsseldorf zurück. Über sein Unternehmen gelangten Textilien und Waffen nach Japan – seine Waren bezog er aus einem europäischen Handelsnetz, Gewehre kamen aus England, Kanonen von Krupp aus Essen, vgl. T. Otto: Düsseldorf und Japan, sowie B. Mauer: Düsseldorf und Japan. 29 Vgl. L. Pützstück: Düsseldorf und China, S. 53. Düsseldorf war aber eher ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Krupp in Essen. 30 Zwei höhere Offiziere, hohe Staatsbeamte und der Präsident des Kulturministeriums in Peking, Tai Hung Tse. Vgl. ebd., S. 52. 31 Vgl. minutiös zu diesem Besuch: ebd., S. 53-65.
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hältnissen in China von chinesischer Seite aus wieder aktiviert. Delegationen reisten in beide Richtungen. Ende August/Anfang September 1930 besuchte der chinesische Gesandte Tsian Tso Ping Düsseldorf und rheinische Industriebetriebe, wie die Vereinigten Stahlwerke, besonders interessierten ihn Stahlröhren. Laut Berichten der Tagespresse waren die rheinischen Unternehmen sehr interessiert, ihre Produkte auf den chinesischen Markt zu bringen. In der NS-Zeit kam es bis zum Kriegseintritt Chinas auf Seiten der Sowjetunion im Jahr 1941 zu einer weiteren Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen. Für Düsseldorf besonders im Bereich der Rüstungsindustrie. 1936 wurde zwischen der 1934 gegründeten »Handelsgesellschaft für industrielle Produkte« und der chinesischen Regierung ein langfristiger Liefervertrag vereinbart, an dem Rheinmetall-Borsig mit der Lieferung von Haubitzen beteiligt war.32 Da Düsseldorf keine Universität hatte, kam es nicht zu einer Ansiedlung von Studierenden aus dem globalen Süden, wie beispielsweise in Berlin.33 Einzelne Kinder und Jugendliche aus dem globalen Süden kamen jedoch zur Ausbildung nach Düsseldorf und ins Rheinland. Sie besuchten hier Schulen. Am prominentesten waren dabei drei Kinder des aus Togo stammenden Nayo Bruce, die von 1911 bis 1918 das Internat Neu-Düsselthal der Graf-Recke-Stiftung besuchten. Nayo Bruce war seit 1900 als eigenständiger Unternehmer und Manager im Unterhaltungsgewerbe tätig und tourte mit einer teilweise über 30 Personen umfassenden Gruppe von Artistinnen und Artisten durch Europa. Die während dieser Zeit geborenen Kinder wurden in Internaten oder in Pflegefamilien auf Kosten des Vaters erzogen und ausgebildet. Die drei Geschwister in Düsseldorf erhielten stets gute Zeugnisse. Am Ende des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1918 starb einer der drei Geschwistern: Fritz. Die beiden Schwestern Lisa und Annie blieben bis 1924 auf der Schule. Ab 1926 gingen sie nach Togo. Dort nahmen sie aufgrund ihrer Deutschkenntnisse und ihres Lebensweges einen Platz in der politischen Elite des Landes ein.34
32 Vgl. ebd., S. 72-75. 33 Explizit thematisiert wird dies in dem Zeitungsartikel über einen chinesischen Praktikanten bei der Düsseldorfer Eisenbahn 1932, der in Berlin Ingenieurswissenschaften mit dem Spezialgebiet Eisenbahnwesen studierte, vgl. dafür L. Pützstück: Düsseldorf und China, S. 74. 34 Sie arbeiten zunächst für die Bremer Mission in Lomé als Lehrerinnen. Annie Bruce unterrichtet Deutsch am Goethe-Institut in Lomé, vgl. ausführlich R. Brändle: Nayo Bruce. Die Zeugnisse finden sich im Stadtarchiv Düsseldorf, StAD 4-167-0-564.0000; s. auch L. Wolff: Die Familie Bruce.
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DÜSSELDORF UND DIE WELT ALS AUSSTELLUNG Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Düsseldorf als Ausstellungsstadt etabliert. Die Stadt orientierte sich an »Weltausstellungen« der großen internationalen Vorbilder: London (1851), Chicago (1893), Paris (1900). Ziel und Anspruch von »Weltausstellungen« war es, einen dokumentarischen Überblick über die »Welt« zu schaffen – die »Welt« in Miniatur an dem Ort der Weltausstellung abzubilden. Damit bildete die Weltausstellung des 19. Jahrhunderts auch eine Selbstbeschreibung westlichen Fortschrittsdenkens und zeigte das europäische Idealbild einer imperialen Weltordnung, in der Europäer bzw. der Westen die Führung innehatten. Einige dieser Ausstellungen verwiesen explizit auf die Kolonien.35 Die Ausstellungen in Düsseldorf hatten zwar eher einen regionalen Ansatz, einzelne Elemente von Weltausstellungen wurden jedoch integriert, so auch die Idee eines »Vergnügungsparks« für die breitere Bevölkerung, in dem Menschen und Konsumgüter aus aller Welt für die lokale Bevölkerung erfahrbar gemacht wurden. Eine Besonderheit Düsseldorfs war, dass ab 1880 Gewerbe- und Industrieausstellungen stets mit Kunstausstellungen kombiniert wurden. Düsseldorf erhob damit Anspruch darauf, durch die als Leistungsschau konzeptionierte Ausstellung international sichtbar zu werden. Gleichzeitig stand jede der großen Ausstellungen für eine städtebauliche Erweiterung. Somit ist das Stadtbild Düsseldorfs heute nicht nur als Materialisation eines regionalen Anspruchs zu sehen, sondern gleichzeitig als eine Position zur Welt. Die Weltbeziehungen, die sich die Ausstellungsplaner vorstellten, gingen in die Konzeption der Ausstellungsflächen, der Ausstellungsarchitektur, des Ausstellungsdesigns und auch der ausgestellten Objekte ein. Vieles davon ist bis heute in Düsseldorf wenn auch nur indirekt präsent, beispielsweise der 1874 eröffnete Zoo – als »Zoopark«, auf dessen Gelände 1880 die »Große Industrieund Gewerbeausstellung« stattfand.36 Zoologische Gärten waren im späten 19.
35 Weltausstellungen fanden im 19. Jahrhundert in Europa, den USA und Australien statt. Ab 1970 auch in Asien. Die erste deutsche Weltausstellung wurde im Jahr 2000 in Hannover ausgerichtet. Bis 1931 (Gründung Bureau International des Expositions in Paris) waren verschiedene Ausstellungskonzepte nicht klar voneinander getrennt, z.B. Gewerbeausstellungen, Kolonialausstellungen, oder Weltausstellungen. Die Ausstellung aus London 1851, die meist als erste »Weltausstellung« geführt wird, hatte den Titel: »Great Exhibition of the Works of Industry of All Nations«, vgl. A. Geppert: Weltausstellungen. 36 Auf dem Gelände des heutigen Zoos steht eine umfangreiche historische Erinnerungstafel, der »Zoopark« wird als Inschrift, als Straßenbahnhaltestelle, in der Restauration,
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Jahrhundert zentrale Orte, an denen sich breitere Bevölkerungsschichten in eine Beziehung zur Welt geben konnten. Die lebenden einheimischen Tiere in diesen Zoos und die aus anderen Weltregionen und anderen Klimazonen waren ein Beweis für die Aneignung der Welt durch Europa. Einen zoologischen Garten zu besitzen war von daher auch immer ein Prestigeprojekt, mit dem sich die Stadt in die Riege derjenigen Städte einordnen konnte, die die wirtschaftlichen und logistischen Mittel besaßen, Tiere aus fernen Ländern auf dem eigenen Stadtgebiet zu halten und der Bevölkerung vorzuführen. Eine Großstadt brauchte einen Zoo.37 Für den Zoo in Düsseldorf wurde eine eigene Landschaft mit Hügeln, einer Burgruine und einem Teich geschaffen. Die Umgestaltung der Landschaft steht gleichfalls für die Idee einer Verbesserung der Natur durch das Eingreifen des Menschen. Die Architektur in den Zoologischen Gärten, beispielsweise der Elefantenhäuser und der Gaststätten, folgte oft ebenfalls dem, was als »fremd« galt. Das Beispiel der Zoos zeigt also auch eine Neugierde auf die Welt, die durchaus ambivalent war – durch nüchternes Interesse ebenso gekennzeichnet wie durch Sensationslust bis hin zum Voyeurismus unter gleichzeitigem zumindest diffusem Bewusstsein der Gewalttätigkeit kolonialer Expansion in außereuropäische Gebiete. Dieses Spannungsfeld lässt sich umso mehr anhand der Auftritte von Menschen aus diesen Gebieten in den Zoologischen Gärten und den Vergnügungsparks von Ausstellungen, Jahrmärkten und Zirkusvorstellungen zeigen.38
den anliegenden Straßennamen und Parkbereichen »Zooviertel« erinnert, sowie auf der Webseite der Stadt Düsseldorf. Institutionell ist der Aquazoo der Nachfolger des nach 1945 verschwundenen Zoos. 37 Der erste Zoo im heutigen Sinne in Europa wurde 1828 in London eröffnet, 1844 folgte Berlin, vgl. J. Osterhammel: Verwandlung der Welt, S. 554. Noch heute klingt der bescheidene Stolz auf den Zoo auf der Internetseite der Stadt Düsseldorf durch: (https://www.duesseldorf.de/stadtgruen/park/zoopark.html, aufgerufen am 7.2.2018). Kölns Zoo hatte allerdings bereits 1860 eröffnet. 38 Besonders erfolgreich war in Düsseldorf eine Veranstaltung, die sich »Schaustellung der Samoaner Truppe« oder »Samoa-Karawane« nannte und 1896 und erneut 1911 im Zoo gastierte. Insgesamt traten im Düsseldorfer Zoo bis zu seiner Zerstörung 1943 gut zwei Dutzend Mal Menschen in exotisierenden Gastspielen auf. Sie stammten aus Australien, Ägypten, Benin, Ceylon, China, Finnland, Ghana, Indien, Kamerun, Namibia, Nordamerika, Samoa, Somali, Sudan und Zimbabwe, vgl. L. Pützstück: Afrika und Düsseldorf; C. Authaler: Tiere aus Kamerun im Zoo; F. Rissel: Exotenbilder. Bei den großen Ausstellungen waren die Bauten teilweise sehr aufwändig und kamen auch Objekte aus den jeweiligen Ländern zum Einsatz, die teilweise in den Sammlungen der Museen verblieben. 1902 in der »Kunst- und Gewerbeausstellung« wurde für das
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Sowohl Tiere als auch Menschen wurden von einem professionalisierten unternehmerischen Netz bereitgestellt. In Deutschland hatte die Firma Hagenbeck, die in Hamburg seit 1907 selbst einen Zoo betrieb, eine beherrschende Marktstellung und war auch Partner des Düsseldorfer Zoos. Die Firma Hagenbeck arbeitete dabei mit vielen Subunternehmern zusammen – auch solchen aus dem globalen Süden. Für den aus Kamerun stammenden Düsseldorfer Josef Mambingo wurde eine Anstellung im Zoo ab 1936 eine zentrale Voraussetzung für sein Leben in der NS-Zeit und darüber hinaus. Menschen aus dem globalen Süden waren seit dem späten 19. Jahrhundert in vielfältiger Weise als Schausteller in Deutschland und auch in Düsseldorf präsent. Düsseldorf scheint sich diesbezüglich vom Rest Europas nicht unterschieden zu haben. Klassische Auftrittsorte waren neben dem Zoo, die Rheinwiese, Vergnügungsparks im Rahmen der Ausstellungen sowie das Apollo-Theater, Varietés und Zirkusunternehmen. Die meisten der an diesen Aufführungen mitwirkenden Personen befanden sich nur kurzfristig in Europa. In einer älteren Forschung und der aktivistischen ausgerichteten Befassung mit diesem Phänomen wurden vor allem die exotisierenden und stereotypen Darstellungsweisen in den Vordergrund gestellt. Neuere Forschung hat demgegenüber begonnen, die Interessenlagen der beteiligten »Artist*innen of Color«39 in den Vordergrund zu stellen. Im Kaiserreich waren wirtschaftliche und politische Motivationen zum Abschluss entsprechender Engagements maßgeblich. Das Unternehmen von Nayo Bruce war vornehmlich wirtschaftlich motiviert. Er gastierte zweimal in Düsseldorf, einmal im Frühjahr 1900 und einmal 1911 für ein längeres Gastspiel.40
»arabische Dorf« eine Moschee nachgebaut. Inhaber des »arabischen Dorfes« war die Firma Sifico & Co und damit ein aus Ägypten stammender Mann. 1904 wurde an gleicher Stelle im Rahmen der »Kunst-, Garten- und Gewerbeausstellung« eine indische Straße und ein japanischer Garten mit Teehaus aufgebaut, in dem vier Japanerinnen beschäftigt waren (C. Tagsold: Japanische Gärten; 1926 auf der GeSoLei waren neben einem Alpendorf wieder ein »arabisches Dorf« und ein »nubisches Dorf« aufgebaut. Die Beliebtheit des Themas »arabisches Dorf« geht auf die Pariser Weltausstellung von 1900 zurück und der »rue de Caire«. Kairo und Ägypten waren zu diesem Zeitpunkt bereits von einem beginnenden bildungsbürgerlichen Tourismus betroffen, die mit Postkarten und Photographien gewisse – auf die Malerei des 18. Jahrhunderts zurückgehende – Bilderrepertoires gesetzt hatten. Wie Edward Said zeigte, war es die Malerei des 18. Jahrhunderts, die ein Bild des Orients als Gegenbild des Occidents schufen, vgl. E. Said: Orientalismus. 39 Vgl. S. Lewerenz: Geteilte Welten. 40 Vgl. R. Brändle: Nayo Bruce und L. Wolff: Familie Bruce.
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In der Weimarer Republik, besonders aber in der NS-Zeit wandelten sich die Gründe jedoch. Nachdem Deutschland seine Kolonien verloren hatte, waren einige »Kolonialmigranten« teilweise wider Willen in Deutschland gestrandet. Mit unklarem Aufenthaltstitel war die Unterhaltungsbranche für viele ein Ort, der ihnen gerade wegen ihres Aussehens Arbeit ermöglichte.41 In der NS-Zeit verschärfte sich diese Situation. In dieser prekären Lage boten die kolonialrevisionistischen Kreise Möglichkeiten des Lebens und Überlebens. Menschen aus den ehemaligen deutschen Kolonien, die in Deutschland lebten, waren in diesen Kreisen als potentielle Fürsprecher wichtig. Diese hatten bereits die rassifizierend argumentierenden Kampagnen während der Rheinlandbesetzung kritisiert, indem sie darauf hingewiesen hatten, dass es eine Interessensgemeinschaft zwischen Deutschland und den Menschen aus seinen ehemaligen Kolonien gäbe. In der NS-Zeit setzten viele diese Argumentation fort, so Kwassi Bruce, ein weiterer Sohn Nayo Bruces, in seiner Denkschrift 1934 an das Auswärtige Amt.42 Die Stadt Düsseldorf entwickelte sich in der NS-Zeit zwischen 1935 und 1937 zu einer Hochburg des kolonialen Gedankens. Ausgangspunkt war das »Kolonialfest« von 1935 und die zu diesem Anlass stattfindende Errichtung des Kolonialkriegerdenkmals im Stadtgebiet und unter der Ägide der Stadt.43 Die Planungen für die Ausstellung »Schaffendes Volk« wurden vor diesem Wissen getätigt und schrieben sich ein. Für die Ausstellung wurde das Stadtgebiet wiederum erheblich erweitert. Dabei entstanden zwei sogenannte Mustersiedlungen in der Golzheimer Heide, u.a. die Gustloff-Siedlung. Die Golzheimer Heide war für die NS-Propaganda aus drei Gründen passend: zum einen hatte sich hier das Militärlager befunden, in dem die Franzosen während der Ruhrbesetzung stationiert waren.44 Zum zweiten befand sich hier ein Erinnerungsort an Albert Leo Schlageter: Die französischen Militärs hatten ihn 1921 dort exekutiert. Schlageter war Teil jener nationalistischen Kreise, die militanten Widerstand gegen die Rheinlandbesatzung leisteten. 1921 hatte er in Düsseldorf-Gerresheim strate-
41 Aufschlussreich ist der Fall von Peter Makembe aus Kamerun, der in Berlin lebte und mit zwei weiteren Kamerunern über eine vom Auswärtigen Amt bezuschusste Gesellschaft ein Arbeitsangebot auf der GeSoLei in Düsseldorf 1926 als »Aufseher« oder »Maschinenschlosser« angeboten bekam für 150 Mark pro Monat. Makembe lehnte diese ab mit dem Hinweis auf laufende Miet- und etwaige Transferkosten (vgl. für den Vorgang Bundesarchiv Berlin, R1001/4457, Bl. 204, 208); allgemein zum Thema: R. Aitken/E. Rosenhaft: Black Germany. 42 Vgl. K. Bruce: Denkschrift. 43 Vgl. zur Vorgeschichte des Denkmals den folgenden Abschnitt. 44 Vgl. S. Schäfers: Werkbund.
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gisch wichtige Eisenbahnschienen gesprengt – diese Geschichte hat durchaus Parallelen zu einer kolonialen Situation. Der Ort seiner Hinrichtung auf der Golzheimer Heide wurde von deutsch-nationalen Kreisen bereits unmittelbar danach zu einem Erinnerungsort. Die NS-Propaganda vereinnahmte ihn und den Erinnerungskult um ihn und plante im Rahmen der Ausstellung »Schaffendes Volk« eine monumentale Erinnerungsstätte. Zum dritten befanden sich in der Golzheimer Heide wilde Siedlungen, die von Personengruppen bewohnt wurden, die sich keinen Mietraum in Düsseldorf leisten konnten und die nun abgerissen wurden. Die Straßennamen, die 1936 für das neu erschlossene Gebiet vergeben wurden, bezogen sich auf »verdiente Männer deutscher Kolonien« 45. Die Idee rührte aus dem Jahr 1935, als das Kolonialkriegerdenkmal am Frankenplatz aufgestellt wurde. Damals diskutierte die Stadtverwaltung die Frage, ob der Platz in »Kolonialplatz« umbenannt werden sollte. Dies wurde abgelehnt, weil es eine Anweisung gab, ohne triftigen Grund die alten Straßennamen zu behalten, als dann für die im Rahmen der Ausstellung »Schaffendes Volk« neue Straßennamen gebraucht wurden, wurde die Idee aufgegriffen. Damit wäre im Stadtbild Düsseldorfs eine direkte Verbindung zwischen der Idee des idealen Siedlungsraums und den ehemaligen deutschen Kolonien geschaffen worden – dazu kam es jedoch nicht. Die Kolonialstraßen wurden 1937 durch Pioniere der NS-Bewegung (die sogenannten »Blutzeugen«) ersetzt, was vermuten lässt, dass den überseeischen Gebieten nun doch weniger Gewicht beigemessen wurde.46 Die kolonialen Straßennamen wurden nun in das ebenfalls neu erschlossene, jedoch am dörflichen südlichen Stadtrand gelegene – und damit weit weniger zentrale – Urdenbach verlegt.
45 Aus einer großen Zahl potentieller Namen wurden letztlich folgende ausgewählt: Lüderitz, Peters, Leutwein, Solf, Meyer-Waldeck, Woermann, Soden und Trotha. Wissmann nicht, weil er bereits 1908 verwendet worden war, vgl. für den gesamten Vorgang StAD 0-1-24-1269.000 und 0-1-4-15919. 46 Bis jetzt haben wir noch keine Hinweise auf die Gründe dafür und die internen Debatten finden können.
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DÜSSELDORF UND DIE WELT ALS KRIEGSSCHAUPLATZ Aus Düsseldorf nahmen im frühen 20. Jahrhundert Soldaten an Kriegseinsätzen außerhalb Europas teil. 1900 meldeten sich aus Düsseldorf und Umgebung 45 Freiwillige für das »Ostasiatische Expeditionskorps« zum Einsatz gegen die Yihetuan (im Westen fälschlich »Boxer« genannt) in China – insgesamt nahmen 150-200 Soldaten aus Düsseldorf und Umgebung an diesem Krieg teil.47 Am Krieg gegen Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika von 19041908 nahmen fünfzig Düsseldorfer Soldaten teil.48 Das in Düsseldorf stationierte »Niederrheinische Füsilier-Regiment Nr. 39« setzte den fünf aus ihren Reihen in Deutsch-Südwestafrika ums Leben gekommenen Mitgliedern 1909 ein Denkmal. Dieses Denkmal mit der Inschrift »Es starben den Heldentod in DeutschSüdwestafrika« und den Namen der vier in Deutsch-Südwestafrika gestorbenen Soldaten wurde im Innenhof der Kaserne in der Roßstraße aufgestellt. Französische Soldaten beschädigten es während der Besetzung Düsseldorfs nach dem Ersten Weltkrieg. Mit den alliierten Truppen kamen auch Soldaten aus dem globalen Süden ins Rheinland und nach Düsseldorf. Im Ersten Weltkrieg kämpften auf Seiten Frankreichs über 500.000 Soldaten aus den französischen Kolonien in Europa.49 Auch unter den alliierten Besatzern des Rheinlandes ab 1918 waren Kolonialsoldaten.50
47 Vgl. L. Pützstück: Düsseldorf und China, S. 40, 42. 48 Über die regulär in den Kolonialtruppen dienenden Düsseldorfer gibt es bisher keine systematische Erhebung. 49 Großbritannien setzte zu Beginn des Krieges Truppen aus Indien in Europa ein, fuhr aber generell eine segregierte Politik im Ersten Weltkrieg. Kolonialtruppen wurden vornehmlich auf außereuropäischen Kriegsschauplätzen eingesetzt (Naher Osten, Afrika). Deutsche Kolonialsoldaten kämpften wahrscheinlich ausschließlich außerhalb Europas (Afrika, Pazifik). Die deutsch-ostafrikanische Truppe unter General von Lettow-Vorbeck kapitulierte erst nach dem Waffenstillstand in Europa, was ihm und seinen afrikanischen Soldaten, den Askari, den Ruf einbrachte »im Felde unbesiegt« gewesen zu sein. Der »Mythos der treuen Askari« fand sich in der Weimarer Republik ein in die Dolchstoßlegende. Die vermeintliche Todestreue der afrikanischen Soldaten zu ihren weißen Führern wurde in der NS-Zeit propagandistisch noch einmal überhöht, vgl. S. Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten. 50 Die Gesamtzahl französischer Besatzungstruppen im Winter 1919 wurde auf 200.000 Mann geschätzt. Im Januar 1920 reduziert auf 85.000. Im Sommer 1920 waren es
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Ab 1920 begannen Proteste gegen die Präsenz von Kolonialsoldaten im Rheinland.51 Die durch Vereine und Einzelpersonen getragene internationale Kampagne bediente sich dabei rassifizierter und sexualisierter Bilder und Sprache, deren Ziel die Entmenschlichung und Dämonisierung der Kolonialsoldaten und damit auch der sie einsetzenden Franzosen war. Die französische Regierung antwortete mit einer Gegenkampagne. Deren Ziel war es, die fehlende faktische Grundlage der behaupteten von Kolonialsoldaten begangenen Verbrechen zu belegen. Ab 1923 ebbte die Kampagne ab, die in ihr entworfenen Bilder und der Diskurs um »Rasse« sollten Deutschland jedoch nachhaltig prägen. In Düsseldorf waren erst zur Ruhrbesetzung französische Truppen stationiert und zwar in der Golzheimer Heide – unter ihnen eine unbekannte Anzahl französischer Kolonialsoldaten. Während sich die Deutschen auf der einen Seite bis 1918 durch die diversen Wissensinstitutionen als überlegene Besatzer und auf der Stufenleiter der Weltgeschichte stets am obersten Ende einordnen konnten, verunsicherte das besetzte Rheinland diese scheinbare Gewissheit. Die zahlenmäßig stärkste Konfrontation der deutsche Staatsbürger bzw. der rheinischen Bevölkerung mit Menschen aus dem globalen Süden fand somit innerhalb eines Besatzungsverhältnisses statt. Dabei waren die alliierten Besatzungssoldaten und auch die Kolonialsoldaten durchaus attraktiv für deutsche Frauen. Sie traten in unterschiedliche Beziehungen zu ihnen, von dem Wunsch nach Liebesheiraten, Familiengründungen bis zu Prostitution. Ein Vermächtnis der politischen und publizistischen Kampagne gegen solche Verbindungen war eine neue Sichtbarkeit für die aus diesen Beziehungen geborenen Kinder und eigens für diese geprägte Begriffe und Katego-
schätzungsweise 30-40.000 Kolonialsoldaten (die Alliierten selbst gaben die Zahlen geringer an: 14-25.000). Die Besatzungszeit dauerte insgesamt von 1919-1930. Wie lange genau schwarze Truppen zu den Besatzern gehörten ist nicht ganz klar. Offiziell nahm Frankreich 1923 mit der Ruhrbesetzung Abstand vom Einsatz von Kolonialsoldaten vgl. T. Campt: Other Germans, S. 35. 51 Ab April 1920 wurden die Kolonialtruppen im besetzten Rheinland in einer transnationalen Öffentlichkeit wahrgenommen. Auslöser war ein Vorfall in Frankfurt, wo es zu Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe von Frankfurtern und einigen Kolonialsoldaten kam. Weiße Frauen waren aktiv an dieser Debatte beteiligt, beispielsweise die Rheinische Frauenliga. Der Höhepunkt lag im Jahr 1921. Im Jahr 1922 wurden die öffentlichen Kampagnen weitgehend eingestellt, vgl. S. Maß: Weiße Helden – Schwarze Krieger.
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rien.52 Im 1925 erschienenen Buch »Mein Kampf« bezog sich Adolf Hitler direkt auf diese Personengruppe.53 Das Thema kam 1920 nicht neu auf, sondern war bereits seit 1904/05 durch politische Debatten (»Rassenmischehen«) und auch durch die Wissenschaft (Eugenik) gesetzt. 1929 allerdings wurden die Kinder von deutschen Frauen mit alliierten Kolonialsoldaten als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt, indem nunmehr eine staatliche Debatte darüber entbrannte, von den abwesenden Vätern und von Frankreich in Vertretung Unterhalt zu fordern.54 Die NS-Politik führte den rassischen Diskurs dann wieder ein. Es wurden zunächst alle Personen, die möglicherweise alliierte Kolonialsoldaten als Väter hatten, registriert. Im Jahr 1937 wurden an vielen dieser Menschen Sterilisierungen vorgenommen – die auch nach der existierenden NS-Rassegesetzgebung illegal waren. Unter den registrierten Personen waren auch solche, die mit der Rheinlandbesatzung nichts zu tun hatten, beispielsweise die Kinder von Josef Mambingo.55 Bereits ab 1935 geriet auch der aus Kamerun stammende Düsseldorfer Josef Mambingo in das Blickfeld der Stadt, die ihn allerdings in der Folge unterstützte. Er lebte bereits seit 1922 in Düsseldorf und hatte eine Familie mit drei Kindern gegründet. Wer auf wen aufmerksam wurde, ist noch offen. Bekannt ist, dass die Stadt Düsseldorf Mambingo 1936 »aus kolonialpolitischen Gründen«56 im Zoo beschäftigte. Mambingo trat ebenfalls deutschlandweit in der Uniform der ostaf-
52 Das Wort »Rheinlandbastard« wurde 1919-22 in deutschen Zeitungskampagnen geprägt. Es gibt keine gesicherten Zahlen über die tatsächlichen Verbindungen und Familiengründungen zwischen den schwarzen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen. Die Zahlen der Kinder sind nur Schätzungen. Sie belaufen sich auf 600-800. In den Regierungsbezirken Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Trier und Wiesbaden wurden insgesamt 4500 uneheliche Besatzungskinder gezählt. Laut Statistik hatten 35 von ihnen einen »farbigen Heeresangehörigen« zum Vater. In der besetzten Pfalz waren 1927 68 solcher Kinder amtlich erfasst, vgl. A. Przyrembel: Rassenschande; J. Roos: Rassismus. 53 Sein Argument war, dass die Vermischung von Arierinnen mit nicht-Ariern der Niedergang der »Zivilisation« sei, zit. nach S. Goodwin: Africa in Europe, S. 218. 54 vgl. J. Roos: Rassismus, S. 169. 55 Zwei seiner Kinder starben 1944 in Düsseldorfer Krankenhäusern, ob Sterilisierungen durchgeführt wurden, ist unklar. Die überlebende Tochter Mambingos heiratete, Kinder sind allerdings nicht bekannt. Vgl. für die Erwähnung der Kinder und generell: R. Pommerin: Sterilisierung. 56 StAD, Personalakte Mambingo, 0-1-5-15802.0000.
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rikanischen Kolonialsoldaten, der Askari, auf.57 Wie viele Menschen in ähnlicher Situation, z.B. Mohamed Husen, nutzte er das positive Bild, das in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg von den Askari existierte, für seine Zwecke.58 Von 1936 bis 1946 war Mambingo auf verschiedenen Positionen bei der Stadt Düsseldorf angestellt. Aus seiner Personalakte geht hervor, dass sich die Stadt an vielen Stellen für ihn eingesetzt hat und seine wirtschaftliche und letztlich auch gesundheitliche Situation dennoch 1945 eine sehr schlechte war. Mambingo starb 1952 in Düsseldorf. Ist das Maß der Unterstützung von Josef Mambingo durch die Stadt Düsseldorf während der NS-Zeit außergewöhnlich? Fast scheint es so. Wodurch erklärt sich das Phänomen in einer Stadt, in der 1933 der schwarze Kommunist Hilarius Gilges von der GeStaPo brutal ermordet wurde – und zwar sowohl aufgrund seiner politischen wie auch seiner rassischen Verortung durch seine Gegner.59 Im Fall Mambingos ist das Gegenteil der Fall – er wurde zum »Arbeiter« ohne jede rassifizierende Bezeichnung (1939).60 Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass sich Gilges und Mambingo kannten. Jedoch sehr wohl, dass Mambingo Kontakt zu anderen Kamerunern in der Region hielt. Der ebenfalls aus Kamerun stammende Max Bisam aus Wesel war zu seiner Hochzeit nach Düsseldorf angereist und fungierte als Trauzeuge.61 Mambingo erhielt also auch regionale Netzwerke zu anderen Kamerunern aufrecht. Kameruner – mehrheitlich Männer – lebten in Hamburg und Berlin, zu seiner Hochzeit kam ein Kameruner vom Niederrhein.
57 Ich danke Robbie Aitken für den Hinweis auf Mambingo in einer Fotografie der Bremer Kolonialtagung von 1938. In Essen übergab er an den Oberbürgermeister öffentlichkeitswirksam 1938 eine Spende für das Winterhilfswerk, vgl. T. Morlang: Askari und Fitafita, S. 155. 58 Ob er unter den »Askari« war, die im Mai 1935 während der Kolonialausstellung im Löbbeke-Museum, beschäftigt waren, ist bisher unbekannt. Bilder von Gesprächen zwischen Ritter von Epp, Gauverbandsleiter Jünnemann des Düsseldorfer Reichskolonialbundes, sowie einem SS-Oberführer erschienen in diversen lokalen Zeitungen, vgl. Düsseldorfer Nachrichten vom 15.5.1935, Remscheider Nachrichten vom 21.5.1935. 59 Vgl. dazu F. Sparing: Hilarius Gilges. 60 StAD, Personalakte Mambingo, 0-1-5-15802.0000. 61 Standesamt Düsseldorf, Gerresheim, 1922, 7_0_8_4_0194. Ich danke Robbie Aitken für den Hinweis auf die Biografie Max Bisams.
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AUSBLICK Düsseldorfs Beziehungen zur Welt und der Welt zu Düsseldorf waren im 19. Jahrhundert durch die rheinische Industrie, die großen Ausstellungen, im Fall Tuang Fangs auch der Künstler, Kriegseinsätze und die Präsenz von Menschen aus dem globalen Süden in spezifischer Weise geprägt. Sie unterschied sich von anderen Regionen und Großstädten in Deutschland, in denen es Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften, Völkerkundemuseen, starke Missionsgesellschaften und staatliche Kolonialbehörden gab. Anstatt eines Gesamtbildes entsteht für Düsseldorf, wie für andere Regionen auch, der Eindruck einer starken Fragmentierung. Fest steht, dass die Düsseldorfer Stadtgeschichte in ihrer Stadtentwicklung, Architektur, Denkmälern, Straßennamen und Archiven untrennbar verwoben ist mit Beziehungen zur Welt, die sich im 19. und 20. Jahrhundert in imperialen Bahnen vollzogen. Eine fundierte systematische und theoretische methodische Gesamtschau bleibt bisher ein Desiderat – und der gegenwärtige Beitrag versteht sich daher als ein Forschungsbericht.
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Koloniale Verbindungen
Chancen und Möglichkeiten kooperativer Bildforschung Der fotografische Nachlass von Marie Pauline Thorbecke am Rautenstrauch-Joest-Museum Köln Lucia Halder
Von 1911-1913 reiste Marie Pauline Thorbecke gemeinsam mit Ihrem Mann, dem Geografen Franz Thorbecke, im Auftrag der Deutschen Kolonialgesellschaft nach Kamerun.1 Ausgerüstet unter anderem mit einer Kamera, dokumentierte die ausgebildete Malerin die Expedition fotografisch. Sie erfasste Landschaften, Architekturen und BewohnerInnen Kameruns und schuf damit ein Bildwerk von besonderer Güte. Rund 800 Glasnegative mit Motiven dieser Reise übereignete die Fotografin dem Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM), 443 Stück überstanden den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Sie werden heute im Historischen Fotoarchiv des Museums aufbewahrt. In Kooperation mit Stefanie Michels vom Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf und Albert Gouaffo von der Universität Dschang, wurde die Sammlung gesichtet, analysiert und auf einer gemeinsamenen Exkursion als Bestandteil einer lebendigen Bild-Forschungspraxis erprobt. Im Folgenden soll der fotografische Nachlass von Marie Pauline Thorbecke vorgestellt und in generelle Überlegungen zum Umgang mit Historischen Fotografien aus der Kolonialzeitin kooperativen oder partizipativen Forschungsprojekten eingebettet werden.
1
Zu Hintergrund und Verlauf der Reise siehe die Beiträge von Albert Gouaffo, Omer Lemerre Tadaha und Yaǧmur Karakış in diesem Band.
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DIE SAMMLUNG Das Historische Fotoarchiv des Rautenstrauch-Joest-Museums, dem einzigen ethnologischen Museum in Nordrhein-Westfalen, umfasst heute rund 100.000 Objekte aus nahezu allen Regionen der Welt aus der Zeit von etwa 1870 bis in die 1960er Jahre. Im Jahr 1899 übereignete Adele Rautenstrauch, die Schwester des Kölner Weltreisenden Wilhelm Joest (1852-1897) der Stadt Köln 103 Fotografien aus Ozeanien aus dem Besitz ihres verstorbenen Brunders und begründete somit – noch vor der eigentlichen Gründung des Museums – die Fotosammlung desselben. Neben Joests Sammlung ethnographischer Objekte bildete diese Stiftung den Grundstock der Sammlung des 1901 gegründeten und 1906 eröffneten Museums. Die Bilder aus den unterschiedlichsten Erwerbungszusammenhängen – im Auftrag des Museums auf Reisen angefertigt, bei einem der zahlreichen Studios weltweit gekauft, von Fotografen angeboten oder mit anderen Institutionen getauscht – sind inhaltlich eng mit der kolonialen Expansion des deutschen Kaiserreiches verbunden. Bilder aus Afrika und Ozeanien bilden demnzufolge einen Schwerpunkt der Sammlung. Die Bilder wurden von den KuratorInnen des Museums rege als Arbeitsmaterial verwendet, die Interpretationen häufig von realienkundlichen Fragestellungen geleitet. Spätestens mit dem visual turn der 1990er Jahre rückten Bilder verstärkt in den Fokus der Forschung. Nicht mehr wie in der Frühzeit der Fotografie als objektive Abbilder der Welt oder reine Illustrationen, sondern als eigenständige Quellen, Repräsentationen, Medien oder gar generative Kräfte.2 Bereits ab den 1980er Jahren begannen MitarbeiterInnen des Museums damit, das Archiv systematisch aufzuarbeiten.3 Ein Meilenstein ethnographischer Bildforschung im deutschsprachigen Raum war die Ausstellung »Der geraubte Schatten«, der erste umfassende Überblick über Implikationen und Praktiken der Fotografie in der deutschen Etnologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung speiste sich unter anmderem aus Fotografien aus dem RJM und wurde dort 1990 präsentiert. Nicht länger war lediglich der Bildinhalt das Entscheidende, untersucht wurden nunmehr auch die Produktions-, Distributions und -Rezeptionsbedingungen im ethnologischen Kontext. Damit verbunden, richtet sich das Augenmerk der Forschung seither immer mehr auch auf die Überlieferungszusammenhänge und die Konservierung der fragilen Foto-Objekte.4
2
G. Paul: Visual History.
3
J. Engelhard:Licht und Schatten.
4
I. Ziehe/U. Hägele: Fotografie und Film.
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Der fotografische Nachlass von Marie Pauline Thorbecke ist einer der bedeutendsten Bestände der Kölner Foto-Sammlung. Er umfasst (neben knapp 30 ethnographischen Objekten) insgesamt 443 Glasnegative, 166 Abzügen und ein umfassendes Konvolut an Schriftgut aus dem Nachlass von Franz und Marie Pauline Thorbecke, darunter die Tagebücher von Franz Thorbecke, ein FotoNotizbuch von Maria Pauline Thorbecke sowie zahlreiche Manuskripte, Skizzen und Zeitungsausschnitte. Abb. 1: Die erste Doppelseite aus dem fotografischen Tagebuch von Marie Pauline Thorbecke. Sie notierte darin fortlaufend Bildnummern sowie das Motiv.
Rautenstrauch-Joest-Museum, Historisches Fotoarchiv.
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Die Negative sind nummerisch sortiert und inventarisiert, bislang jedoch noch nicht in einer Datenbank erfasst. Die Abzüge der Glasnegative (166 Stück) stammen aus Marie Pauline Thorbeckes Hand. Im Jahr 1956 übergab die Fotografin dem Museum die Fotografien. Diese sind in der Datenbank des Hauses erfasst. Das »Fototagebuch« von Marie Pauline Thorbecke, sowie die Tagebücher des Franz Thorbecke liegen digitalisert und teilweise auch transkribiert vor. Die Negative und Positive wurden im Rahmen eines großen Konservierungsprojektes im Jahr 2017 gereinigt, digitalisiert und archivgerecht umverpackt. Bereits in den 1980er Jahren analysierte Christraud Geary den Bestand für ihre Forschungen über Fotografie am Hof des Königs von Bamum.5 In Ihrer Monographie »Träume im Tropenlicht« untersuchte Anna Pytlik ebenfalls den Bestand, um Erkenntnisse über weibliche Forschungsreisende zu generieren.6 Eine weitere Untersuchung aus dem Jahr 2011 mündete in einer Masterarbeit, die im Fach Afrikanistik an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln eingereicht wurde. Abb. 2: Marie Pauline Thorbecke: Männerporträt, [Originaltitel: »Mann aus Bamumim(?)«], Silbergelatinetrockenplatte, 13x18cm
Rautenstrauch-Joest-Museum, Historisches Fotoarchiv, Inv.nr.: T652
5
C. Geary: Images from Bamum.
6
A. Pytlik: Träume im Tropenlicht.
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Das Studienprojekt zur Sammlung Thorbecke 2016 erfuhr der Nachlass von Marie Pauline Thorbecke erneut Interesse. Im Rahmen eines drei-semestrigen Projektes der Universität Düsseldorf in Kooperation mit der Universität Dschang und Buea (Kamerun), sowie mit dem RJM und den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim sollte die Erinnerungslandschaft zum Thema »deutscher Kolonialismus« im Rheinland/Deutschland und im Grasland/Kamerun untersucht werden. Während in der ersten Phase interdisziplinär und länderübergreifend theoretische Grundlagen erarbeitet wurden, widmete sich die zweite Projektphase der praktischen Erschließung von Quellenbeständen. Im Sommersemester 2016 besuchten Studierende und Lehrende aus Düsseldorf und Dschang das Historische Fotoarchiv des RJM, um sich den Nachlass von Marie Pauline Thorbecke zu erschließen. In einem gemeinsamen Workshop wurden die Fotografien gesichtet und den Studierenden zunächst die Grundlagen von Bildanalyse und -interpretation vermittelt. Zwei maßgebliche Stoßrichtungen prägen bis heute die Erforschung von Fotografien von Europäern auf dem afrikanischen Kontinent: einige Arbeiten betonen den dokumentarischen Wert von Fotografie, andere wiederum widmen sich den fotografischen und Motiven und sich daraus potenziell ableitenden Stereotypen – der »Erfindung Afrikas im Bild« sozusagen.7 Am Bestand von Marie Pauline Thorbecke erarbeiteten sich die Studierenden auf dieser Grundlage kritische Leitfragen für die weitere Arbeit mit den Fotografien. Im laufenden Prozess kristallisierten sich unterschiedliche Themen zur weiteren Bearbeitung heraus. Eruiert wurde unter anderem die Technikgeschichte der Fotografie zur Zeit Thorbeckes, die genaue Route der Expedition, die Aufenthaltsorte in den Regionen Bana und Dschang, der künstlerische Werdegang von Marie Pauline Thorbecke, bis hin zu einer übergreifenden Analyse einzelner Bildmotive. In gemeinsamen Diskussionen über die Fotografien zeigte sich rasch, dass es unter den Projekt-Beteiligten bereits eine immense Menge an Wissen über die Entstehungszusammenhänge, sowie die Bildinhalte gab. In der gemeinsamen Arbeit kamerunischer und deutscher Projektteilnehmer an den Fotografien zeigte sich das Potenzial kooperativer Bildforschungsprojekte, das in einem weiteren Schritt intensiviert werden konnte. Vom 28. Juli 2018 bis zum 08. August 2016 reiste eine Gruppe der Düsseldorfer Projektteilnehmer nach Kamerun, um dort, gemeinsam mit den kamerunischen Wissenschaftlern, Feldforschungen zum Thorbecke-Bestand durchzuführen. Im Gepäck hatten die Studierenden die in Köln (und Mannheim) gesammel-
7
C. Geary: Images from Bamum, S.11.
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ten Materialien. Die mitgebrachten Fotografien hatten dabei zweierlei Funktionen: Zum einen waren sie als visuelles Quellenmaterial integraler Bestandteil der Forschung zur Kameruner Regionalgeschichte. Zum anderen konnten die Projektteilnehmer mittels der Fotografien und oral history-Erhebungen wertvolles Wissen über die Bilder generieren. Die Ergebnisse des Projektes im Hinblick auf die Sammlung von Marie Pauline Thorbecke waren verblüffend: Objektbiografien konnten ermittelt werden, bislang unbekannte Infrastrukturen wurden sichtbar gemacht, und zahlreiche der Aufnahmen Marie Pauline Thorbeckes konnten kontextualisiert und lokalisiert werden. Mindestens drei Abschlussarbeiten entstanden aus dem Projektseminar und erweiterten das Wissen um den Fotobestand um unterschiedliche Perspektiven.8 In Bana, im Westen Kameruns, besuchte die Projektgruppe schließlich die Chefferie von Bana. Während einer Audienz des lokalen Chief Sikam Happi V. händigten die Vertreter dem Würdenträger Abzüge von Thorbecke-Fotos aus. Marie Pauline Thorbecke hatte bei ihrer Reise ebenfalls das Gebiet bereist und den einstigen Vorgänger des Herrschers, Fona Happi I., abgelichtet und gemalt.
8
K. Karmaat: Marie Pauline Thorbecke im Kameruner Grasland; Y. Karakış: Vom Kameruner Grasland nach Mannheim; A. Schütz: Weihnachten 1911 in Bana.
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Abb. 3: Die Leiter des Thorbecke-Projektes überreichen Abzüge von Fotografien aus dem Historischen Fotoarchiv des RJM an den Regierenden der Provinz Bana in Kamerun (vrnl.: Prof. Dr. Stefanie Michels, Prof. Dr. Albert Gouaffo, Sikam Happi V. mit einem Würdenträger).
Fotografie von Deborah Hakenholz, August 2016
Kooperation und Partizipation Die positive Resonanz des Projektes, der multiperspektivische Erkenntisgewinn und die mittlerweile gegebenen Möglichkeiten digitaler Bildreproduktion zogen weiterführende Überlegungen zur kooperativen und partizipativen Aufarbeitung von Bildbeständen nach sich. In der Planung befindet sich derzeit ein Projekt, in dem die gesamte Sammlung Thorbecke virtuell online versammelt und zugänglich gemacht werden soll. Gemeinsam mit zahlreichen Kooperationspartnern und einem internationalen Netzwerk soll eine umfassende Bearbeitung des Nachlasses in Angriff genommen werden. Die digitale Erfassung der Objekte und Fotografien, die intensive Zusammenarbeit von Projektpartnern aus Deutschland und Kamerun, sowie innovative Werkzeuge wie intenetbasierte Community Knowledge Management Systeme9 können kulturelles Wissen in einer veflochtenen Perspektive kumulieren und koperativer Arbeit an ethnographischen Objekten zu
9
Vgl. C. Kimberly: Opening Archives.
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einer neuen Qualität verhelfen. Gleichzeitig kann die virtuelle Zusammenführung diverser Sammlungsbestände und die kollaborative historische Neubewertung kulturelles Erbe aus der Kolonialzeit – in deutschen Museumsdepots ruhend – zurück zum Ort der Entstehung bringen. Ziel ist die Sichtbarmachung der verwahrten Fotografien. Bilder, die die Welt zeigen, sollen wieder in die Welt geschickt werden. Neu ist dieser Ansatz freilich nicht. Schon seit den 1970er Jahren befassen sich Museen – insbesondere ethnologische Museen – mit partizipativen Ansätzen bei der Erforschung von Objekten und Ausstellungskonzeptionen. Darüber hinaus gab es speziell auf diesem Feld zahreiche Weiterentwicklungen. Seit einiger Zeit formulieren beispielsweise die »Community Museology«, die »Appropriate Museology« oder »postkoloniale Museologie« Forderungen nach Teilhabe und Mitbestimung – insbesondere von indigenen Gruppen. Hinzugekommen sind jedoch neue technische Möglichkeiten, sowie das Bewusstsein um die Fragilität von bestimmten Objekten. 1996 lancierte die Europäische Kommission das »Memorandum of Understanding (MoU) on Multimedia-Access to the european cultural heritage«. Dies war ein erster Versuch die Rolle von Museen im Informationszeitalter zu definieren.10 Es ging dabei nicht nur um Transparenz, sondern auch darum, digitale Infrastrukturen im Kultursektor zu nutzen und nicht zuletzt besonders fragiles kulturelles Erbe (wie beispielsweise Fotografie) zu bewahren. Doch was kann dies für den Umgang mit Historischer Fotografie aus der Kolonialzeit bedeuten? Zunächst einmal sollen drei wegweisende Tendenzen in der allgemeinen musealen Diskussion identifiziert und spezifizieret werden: erstens der digitale Wandel, zweitens die Forderung nach Teilhabe am Museum und drittens die Frage nach Eigentumsverhältnissen von Museumsobjekten und dem Begriff des »shared heritage« – einem gemeinsamen geteilten kulturellen Erbe. Nach Leontine Meijer-van Mensch gilt es, diese Tendenzen zusammenzuführen. Neben drei Aspekten sozialer Inklsuion als Schlüssel zu einer nachhaltigen Museumsarbeit – Zugang, Repräsentation und Partizipation – sieht Mensch in der Entwicklung des web 2.0 eine beträchtliche Beschleunigung des Trends hin zur Partizipation.11 Eine klare Definition von Partizipation gibt Nina Simon, Museumsdirektorin in Santa Cruz (USA), Bloggerin und Autorin des Buches »The Participatory Museum«:
10 European Commission, General Direction XIII, »memorandum of Understanding”, Multimedia-Acess to european Cultural Heritage. Joint agreement, S. 121-122. 11 L. Meijer-van Mensch: Zielgruppen zu Communities.
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I define a participatory cultural institution as a place where visitors can create, share, and connect with each other around content. Create means that visitors contribute their own ideas, objects, and creative expression to the institution and to each other. Share means that people discuss, take home, remix, and redistribute both what they see and what they make during their visit.12
Die Möglichkeiten kooperativer Projekte sind mannigfaltig. Selbstverständlich gibt es dabei zahlreiche Herausforderungen und Limitationen. Museumstheoretikerin Nora Sternfeld glaub gar, dass hegemoniale Strukturen bei der Wissensproduktion unagetastet bleiben, bis nicht die Bedingungen der Partizipation selbst im Prozess zur Diskussion stünden (Sternfeld 2012). Aber auch von institutioneller Seite gibt es Ansätze zu einer kooperativen Sammlungs- und Museumsarbeit. So proklamieren die »Ethische(n) Richtlichen für Museen« des ICOM (Internationaler Museumsbund) aus dem Jahr 2013: 6.1 Co-operation: Museums should promote the sharing of knowledge, documentation and collections with museums and cultural organisations in the countries and communities of origin. The possibility of developing partnerships with museums in countries or areas that have lost a significant part of their heritage should be explored. 6. 2 Return of Cultural Property: Museums should be prepared to initiate dialogues for the return of cultural property to a country or people of origin. This should be undertaken in an impartial manner, based on scientific, professional and humanitarian principles as well as applicable local, national and international legislation, in preference to action at a governmental or political level.13
Die Richtlinien gehen mit dem Hinweis auf Rückgabe von kulturellem Eigentum einen Schritt weiter als bloße Forderungen nach Partizipation. Dies betrifft auch den Umgang mit Historischen Fotografien. Mit der Erkenntnis, dass auch Fotografien gewissermaßen entwendetes Eigentum sein können, entwickelte sich parallel zur Rückgabe von Objekten auch die Idee Lichtbildwerke oder Reproduktionen an ihren eigentlichen Entstehungsort oder zu Nachfahren oder Stellvertretern der Abgelichteten zurückzuführen (»visual repatriation« oder im Falle der Rückgabe von Kopien. »knowledge repatriation«14). Dabei hat die Übergabe von ethnographischen Fotografien aus Museumsarchiven an die Communities einerseits einen symbolischen Charakter – meist werden Reproduktionen der Fotogra-
12 N. Simon: The Participatory Museum. 13 ICOM Code of Professional4 Ethics. 14 J. Dudding: Visual repatriation, S. 228.
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fien übergeben. Gleichzeitig kann mit Hilfe der Fotografien auch die eigene Geschichte bearbeitet und bereits verlorengegangenes kollektives Wissen wiedererschlossen werden. Darüber hinaus kann die Rückgabe der Ausgangspunkt für gemeinsame Forschungsprojekte sein, in denen im Austausch von Museen und Communities, wertvolles Wissen zu den Fotografien gewonnen werden kann. So trägt die Rückgabe schließlich auch zur Erschließung bei und stellt für alle Beteiligten einen Gewinn dar. Im Rautenstrauch-Joest-Museum gab es bereits in den 1990er Jahren Ansätze zur Rückführung historischer Fotografien. Jedoch noch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Die Objekte nicht nur vor Ort, sondern auch an den Entstehungsorten der jeweiligen Fotografien einsehbar zu machen, ist neben der Zugänglichkeit zu den physischen Sammlungsbeständen mittlerweile eine Voraussetzung. Dass Fotografien, im Gegensatz zu dreidimensionalen Objekten, relativ einfach digital reproduziert werden können bietet einen großen praktischen Vorteil für die Zusammenarbeit und ermöglicht es Akteuren an unterschiedlichen Standorten gemeinsam mit den Objekten zu arbeiten. So ist die mittlerweile abgeschlossene Digitalisierung des Historischen Fotoarchives des Museums eine Chance für kommende Zusammenarbeiten und die weitere Erschließung des Bestandes Thorbecke. Der Zugang zu Sammlungen ist gleichzeitig Bedingung für eine Kultur der Partizipation. Eine aktive Teilhabe am Prozess der Wissensproduktion ist darüber hinaus nur über intensive Kooperationen, wie beispielsweise im Projekt zu Marie Pauline Thorbecke, möglich. Der Versuch, die oben identifizierten Tendenzen aus der musealen Theorie und Praxis mit den Erfahrungen und weiteren Planungen des Kooperationsprojektes zu Historischer Fotografie aus Kamerum zu verbinden, führt zu folgenden vorläufigen Erkenntnissen über mögliche Grundbedingungen für erfolgreiche kooperative Projekte bei der Sammlungserschließung und – Aufbereitung. (1) Der Zugang, nach Mensch eine der Grundbedingungen für eine hierarchiefreie Museumsarbeit, liegt in der Bereitschaft zur Öffnung der Institution und dessen Inventaren, ergo zu einer offenen Archivpolitik. Das Historische Fotoarchiv des Rautenstrauch-Joest-Museums ist einer solchen offenen Archivpolitik verpflichtet. Die Zugänglichkeit zu den physischen Sammlungsbeständen zu gewähren ist dabei eine Voraussetzung, die Objekte nicht nur vor Ort, sondern auch an den Entstehungsorten der jeweiligen Fotografien einsehbar zu machen, ist eine weitere. Der Zugang zu Sammlungen ist gleichzeitig Bedingung für eine Kultur der Partizipation. (2) Es ist unabdingbar eine gewisse Eigendynamik im Prozess zu akzeptieren. Wird ein
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Museum als eine »Contact zone«15 verstanden, ist es nur möglich neues und wertvolles Wissen zu schaffen, indem unterschiedlichste Gruppen in den Wissensbildungsprozess mit einbezogen werden. Nur wer die Deutungshohheit über Objekte oder Archivalien aufgibt, kann neue Aspekte entdecken (3) Kooperative Projekte erfordern mehr Arbeitskraft und neue Arbeitstechniken, da die Koordination und Übersetzungsleistung in alle Richtungen gewährleistet sein muss. Die Pflege digitaler Sammlungen und von Plattformen zur digitalen Bereitstellung von Informationen erfordert über den kuratorischen Aspekt hinaus auch informationswissenschaftliche Fähigkeiten. Dies sollte bei der Konzeption von Projetkten berücksichtigt werden. (4) Unabdingbar ist darüber hinaus eine genaue Kenntnis unterschiedlicher Bildkulturen, insbesondere aufgrund der digitalen Veröffentlichungspraxis und Reichweite. (5) Und nicht zuletzt ist die Institutionalisierung von Kooperationen, insbesodere zwischen Universitäten und Museen, die Grundlage für die Pflege und Intensivierung von WissensNetzwerken. Eine aktive Teilhabe am Prozess der Wissensproduktion ist nur über intensive transnationale Zusammenarbeit, wie beispielsweise im Projekt zu Marie Pauline Thorbecke, möglich. Wenn man die Idee der »shared heritage«, also des geteilten Erbes, ernst nimmt, dann sind die Objekte nicht mehr nur im Besitz des einen Museums. Denkt man so, dann ist es nicht mehr so wichtig, an welchem Ort ein Objekt zu finden ist, sondern vielmehr, in welchen Kontext man es stellt. […] Die Zukunft wird den Netzwerken gehören, Netzwerken aus Museen, indigenen und anderen Communities, Sammlern und nichtmusealen Einrichtungen, die nicht mehr zueinander in Konkurrenz um Aufmerksamkeit stehen, sondern miteinander agieren.16
Das Rautenstrauch-Joest-Museum ist in Kooperation mit der Universität Düsseldorf und der Universität Dschang mit dem fotografischen Nachlass von Marie Pauline Thorbecke einen ersten kleinen Schritt in diese Richtung gegangen. Weitere mögen alsbald folgen.
15 J. Clifford: Museums as contact zones. 16 L. Meijer-van Mensch: Von Zielgruppen zu Communities.
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»Du bist wie ein Küchlein in mein Haus gekommen, Weißer…« Intermediale Erinnerung an eine transnationale Männerfreundschaft im kolonialen Kamerun Richard Tsogang Fossi
In der Frühphase des deutschen Kolonialismus in Kamerun erscheinen zwei Figuren als prominent, obwohl nicht oft fokussiert. Es handelt sich um den gebürtigen Düsseldorfer Dr. Eugen Zintgraff und den großen König von Bali, Galega I. Dank der Freundschaft zwischen diesen beiden Figuren, die dadurch die Regionen des Rheinlandes in Deutschland und des Graslandes in Kamerun unmittelbar verbanden, gelang es den deutschen Kolonialherren, die Graslandregion zu erschließen. Mehr als ein Jahrhundert später wird die deutsche Präsenz in Kamerun noch erinnert. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab zu erforschen, wie und durch welche Medien die Begegnung zwischen beiden Figuren und Völkern in der kamerunischen Erinnerungsfigur wachgehalten wird.
EINLEITUNG Als die ersten Deutschen 1868 durch ihre Firmen und Faktoreien Fuß am Kamerunfluss fassten, könnte man nicht ahnen, dass sie kaum 20 Jahre später sich als Herren dieses Küstengebiets proklamieren würden. Am 12. Juli 1884 unterzeichnete der deutsche Generalkonsul, Dr. Gustav Nachtigal, einen sogenannten Schutzvertrag diesbezüglich und am 14. Juli ließ er die deutsche Flagge vor Ort hissen. Diese Inbesitznahme des Gebiets wurde dann durch die Berliner KongoKonferenz (November 1884-Februar 1885) anderen europäischen Mächten ge-
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genüber konsolidiert. Nichtdestotrotz blieben weitere Forschungsreisen zur Erschließung des Hinterlandes noch erforderlich. In diesem Rahmen erscheint der Düsseldorfer Dr. Eugen Zintgraff, der bis dahin eher unter fremder Flagge Afrika, und zwar die Region des unteren Kongo, erforschte, als eine der prominenten Figuren des deutschen Kolonialismus in Afrika; er sah in dem Entschluss seines Kanzlers, Otto von Bismarck, sich auch ins koloniales »Abenteuer« zu engagieren, eine große Chance, dem Vaterland selbst zu dienen, und zögerte nie, dessen Appell entgegen zu nehmen. Seine Hartnäckigkeit führte ihn durch bis dahin unerforschte Wege, auch zur Begegnung mit einigen Persönlichkeiten, mit denen er kollaborierte, um seine kolonialen Ziele zu verwirklichen. Einer der größten Herrscher, dessen Kollaboration mit Zintgraff dazu beigetrug, dass letzterer die deutsch-kamerunische Kolonialgeschichte im Grasland besonders mitprägt, ist der damalige König von Bali, Fon Galega I. Unser Hauptanliegen gilt den Erinnerungsformen, -medien und -strategien, genauso wie den Motiven, die in der kamerunischen Erinnerungskultur mit Rücksicht auf die angesprochenen Figuren Anwendung finden. Leitfrage ist: Wie und wann wird die Freundschaft zwischen Zintgraff und Galega zum intermedialen Erinnerungsort stilisiert? Den methodologischen Rahmen dieser Analyse bildet die von Stefanie Michels durchgeführte Diskussion zu kommunikativem und kulturellem Gedächtnis als sich auf Medialität beziehende Konzepte. Dabei versucht sie, die Dichotomie zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis, Oralität und Schrift, kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu überwinden, indem sie zeigt, dass verschiedene, materielle wie auch immaterielle Medien in der Tat in Beziehung zueinanderstehen und nicht als neutrale Träger fungieren, »sondern sie bestimmen die Art der Botschaft und damit auch die Performanz oder die Erzählung der einzelnen Akteure mit.«1 Nachdruck wird in der Analyse auf die Zirkulation der Motive von einem Medium zum anderen, und auf die Ineinanderverwobenheit der eingesetzten Medien gelegt, also die Intermedialität des Gedächtnisses.
1
S. Michels: Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopografien, S. 118.119.
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Zintgraff – Galegas Freundschaft als »hegemoniales Kalkül« Die Geschichte von Zintgraff und Galega ist vielfach dokumentiert, aber die Freundschaft zwischen beiden Persönlichkeiten als Erinnerungstopos ist in der Forschung nur ansatzweise fokussiert worden. Es sei zunächst ein Wort zur Entstehung dieser so bezeichneten »Freundschaft« eingeführt. Vor der Ankunft von Zintgraff im kamerunischen Grasland war der Ruf der Gegend von Bali so verbreitet, dass Zintgraff das Erreichen dieser Ortschaft als »Ziel meiner Wünsche« erklärte.2 Die Elemente, die eine große Faszination auf Zintgraff ausübten, waren die große Bevölkerungsdichte der Gegend, ihr Reichtum, der kriegerische Ruf der Bali, und die scheinbar unbeschränkte Macht seines Herrschers, die Zintgraff zur Verwirklichung seiner kolonialistischen Ziele nutzen wollte. Diese Macht Galegas erschien Zintgraff also als wertvolles Potential, und er freute sich, dass letzterer später »das Recht über Leib und Leben der Bali dem jeweiligen Führer der Expedition übertragen« hat, d.h. ihm selbst (Zintgraff). 3 Seinerseits sah Galega Zintgraff metaphorisch als »Küchlein« (Küken) an, das er leicht töten könne – so zumindest gibt Zintgraff in seinen Memoiren es wieder. Aber weil Galega von dem technischen Knowhow des fremden Mannes profitieren wollte, sah er in ihm den Weg zur Verwirklichung eigener hegemonialer Absichten im ganzen Grasland. Laut Zintgraff soll Galega Folgendes gesagt haben: Du bist wie ein Küchlein in mein Haus gekommen, Weißer, und ich hätte Dich mit Leichtigkeit tödten [sic] sowie Deine Schätze nehmen können. Allein seitdem du bei mir weilst, habe ich die Art des Weißen gesehen und kennen gelernt. Zwar sind noch manche Leute in meiner Umgebung, die mir rathen, Dich zu tödten. Allein fürchte nichts, ich werde Dir kein Leids zufügen, noch dulden, dass irgend ein Anderer es thue, denn es ist besser, den Verstand der Weißen zu erwerben und sie zum beständigen Segen als Freunde zu haben, anstatt durch einen gelegentlichen Raub kurzwährenden Vortheil davon zu tragen. 4
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass die sogenannte Freundschaft zwischen beiden Männern auf einem gegenseitigen, oppositionellen Kalkül fußte, bei dem jeder von der Macht des anderen profitieren wollte. Dies stellt auch die Dichotomie in Frage, bei der Kolonialisten und Kolonisierten oft einfach als Tä-
2
E. Zintgraff: Nord-Kamerun, S. 181.
3
Ebd., S. 205.
4
Ebd., S. 202. Eigene Hervorhebung.
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ter und Opfer betrachtet werden. Durch das technische Knowhow des Fremden wollte Galega die ganze Graslandregion unterwerfen; dagegen wollte Zintgraff die scheinbar »schrankenlose Macht« Galegas für die kolonialen Ziele einsetzen. Indem er Galegas Freundschaft erwiderte, wollte er daher die Vorherrschaft der deutschen Kolonialmacht im ganzen Gebiet dadurch herstellen und festigen, dass er »die Interessen des Fons an die der Kolonialmacht fessel[t]« 5, etwa »durch kluge Begünstigung und Förderung seiner Pläne.«6 Was wird an dieser strategischen Männerfreundschaft, die ein beidseitiges hegemoniales Kalkül war, in Kamerun noch erinnert, welche Motive bzw. Topoi werden rekonstruiert, welche Strategien eingesetzt?
Die Freundschaft Zintgraffs und Galegas als intermedialer Erinnerungsort Die Geschichte von Zintgraff und Galega wird in Kamerun heute in unterschiedlichen Medien erinnert. Außer den Geschichtsbüchern bzw. -lehrwerken wird diese Geschichte in anderen Medien auf lebhaftere Weise aktualisiert.7 Besonders auf diese Medien wollen wir eingehen, und zwar die Oralkultur, die Literatur und den Film bzw. das Fernsehen, gar das Museum. Hervorgehobene Topoi betreffen u.a. zunächst die physischen Eigenschaften der Figur Eugen Zintgraff, seinen Empfang in Bali, die Rivalität zwischen den Chefferien (Königtümern im kamerunischen Grasland), oder auch den gemeinsam von Galega und Zintgraff geführten Krieg gegen Bafut und Mankon, zwei rivalisierende Königtümer.
Zintgraff in der Oralkultur von Bali: der »Bali ndani« Die Freundschaft zwischen Zintgraff und Galega wird heute in der Region des kamerunischen Graslandes unterschiedlich gewertet, wenn man von einem Dorf zum anderen geht. Diese Erinnerung fungiert als Kombination von Geschichtsversionen aus Büchern, Archivmaterialien, Familien und Museen in jeweiligen Ortschaften, wie ich aus eigener Erfahrung als im Grasland groß gewordenen Kameruner.
5
Ebd., S. 195.
6
Ebd., S. 342.
7
Vgl. J. V. Ngoh: Cameroun 1884-1985.
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So gilt Zintgraff in Bali oft als »bali ndani«, d.h. »echter bali«. Diese Charakterisierung der Figur im Gegensatz zu anderen Europäern, die die Ortschaft bewohnten oder bereisten, verweist semiotisch auf die bevorzugten Beziehungen zwischen ihm und der damaligen Bevölkerung, und vor allem mit ihrem damaligen Herrscher Galega I., der sogar seinen »weißen Freund« als Oberhaupt mit Recht über Leib und Leben aller Bali und deren Vasalen krönen ließ. »Echt« in diesem Sinne bezeichnet folglich nicht nur denjenigen, der als »son of the soil« akzeptiert worden ist, sondern auch denjenigen, der die Sitten des »Landes« annimmt und internalisiert. Dadurch entwickelte Zintgraff einen Habitus, durch den er es verdient, nicht mehr als »fremd« bezeichnet zu werden trotz der Hautfarbe8. Außerdem bedeutet »echt« in Bezug auf die Bali auch einen echten, gar geborenen, Krieger, der sich nie vor Feinden beugt, wie sich jeder Bali verstand. Als solche wurden die Bali in der ganzen Graslandregion bis in die südlich angrenzenden Waldgebiete (Banyang-Land) gefürchtet.9 Dabei darf nicht vergessen werden, dass Galega Zintgraff den Oberbefehl über alle Bali-Truppen übertragen hatte anlässlich des Gefechts gegen Bafut und Mankon im Jahr 1891. Nach dem Krieg wurde dies anlässlich eines Rituals gefestigt, wobei Zintgraff den Kopf eines lebenden Huhns an einer Steinpyramide zerschmettern musste.10 Ein anderes, in der Oralkultur des Bali-Landes kursierendes Erinnerungsnarrativ über Zintgraff bezieht sich auf das Interesse, das er damals für die Arbeiterfrage entwickelte, was später in seinen Plänen gipfelte, Plantagen zu gründen. In der Tat wird in der Gegend und jenseits von einem bebrillten Weißen erzählt, der ins Land kam und die Leute zur Arbeit zwang. Als er dann aber pausieren wollte, nahm er seine Brillen weg und legte sie auf den Tisch, sagend: ›Ich gehe mich jetzt ausruhen. Ich lasse meine Augen hier, damit sie die Arbeit weiter überwachen. Weh den Faulenzern‹.«11 Von Zeit zu Zeit warfen die Arbei-
8
Dieser neue Habitus lässt sich z.B. in der Teilnahme von Zintgraff an unterschiedlichen örtlichen Riten abzeichnen (Blutsfreundschaft, Übernahme des Kommandos über die Bali-Krieger, usw.).
9
E. Zintgraff: Nord-Kamerun, S. 212.
10 So lautet die Bedeutung dieses Rituals nach den Worten Hutters, den Zintgraff zitiert: »Gleichwie das Huhn, gehört die ganze Kriegsmacht der Bali dem Weißen; wie er macht hat, das Huhn, sein Eigentum, zu tödten, so hat er fortan die Macht, jeden, der ein Gewehr trägt, eine Waffe führt, zu zerschmettern, zu tödten«. (E. Zintgraff: NordKamerun, S. 398). 11 Es handelt sich dabei um eine relativ verbreitete mündliche Geschichte in der Region von Bamenda und Umgebung, die ich persönlich mehrmals gehört habe. Wie bei vielen mündlichen Überlieferungen wird sie aber nicht so präzise wie bei einem schrift-
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ter einen geheimen Blick auf die Brillen, da hatte jeder den Eindruck, dass er besonders von den Augen überwacht wurde, und so verdoppelte er seinen Eifer. Das positive Image von Zintgraff in der Oralkultur Balis findet sich jedoch nicht in den Nachbarortschaften Bafut und Mankon. Hier entwickelte sich die Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit zu einem Ressentiment den Deutschen gegenüber aufgrund des von Zintgraff in der Gegend geführten Krieges. Die Erfahrung des Ressentiments sollte z.B. der Kolonialhistoriker Walter Nuhn machen, als er Bafut in den Jahren 1980 bereiste. Nach einem enthusiastischen Empfang in Bali wurden er und sein Team in Bafut eher kühl, misstrauisch empfangen, wenn nicht ruhig abgespeist. Er berichtet: Eine Tour führt uns nach Bafut, einem Nachbarort von Bali. Vor der Residenz des dortigen Fons begrüßt uns dessen Tochter, doch ihr Vater, obwohl zu Hause, lässt sich nicht blicken. Wie uns der Reiseleiter erklärt, soll der Fon einen Groll gegen die Deutschen hegen, sie besäßen noch aus der Kolonialzeit ein »Negativ-Image« in Bafut, weil sie die Bali, ihre früheren Todfeinde, begünstigt und sie, die Bafut, bekämpft hätten. Einen Tag später, in Big Bakanki, einem anderen Ort in Grasland, erzählt uns der dortige Fon, dass sein Großvater ein großer Freund der Deutschen gewesen sei, und zeigt uns voll Stolz eine alte schwarz-weiß-rote Flagge, eine Art Phantasieflagge, geziert mit dem Konterfei des deutschen Kaiserpaares in der Mitte und dem schwarzen Reichsadler in den Ecken. Sie sei seinem Großvater von Kaiser Wilhelm II. als Dank für die treuen Dienste, die er der deutschen Kolonialmacht erwiesen habe, geschenkt worden.12
Die Erfahrung Nuhns zeigt ganz klar, wie die Erinnerung in Nachbarortschaften differenziert gewertet werden kann. Die Erwähnung der Fahne geht eigentlich auf einen der Bräuche in der Kolonialzeit zurück, durch die die formale Verpflichtung auf die Kolonialadministration gekennzeichnet war. Prägnant, aber teilweise fraglich, beschreibt der Historiker Florian Hoffmann die Vorstellung, die mit der Fahne bei den einheimischen Herrschern verbunden war: »Das Überreichen der deutschen Fahne galt für viele Headmen und Chiefs als Ausdruck einer strategischen Allianz, die Prestige und Einfluss gegenüber konkurrierenden Gruppen versprach, ohne dass dabei eigene Herrschaftsrechte in Frage gestellt wurden.«13 Welche Motive werden in der Literatur aufgegriffen?
lich festgelegten Erlebnis. So ist die Figur dieser mündlichen Erzählung nicht unmittelbar als Zintgraff bezeichnet, sondern als »ersten Weißen« in der Gegend. 12 W. Nuhn: Kamerun unter Kaiseradler, S. 11. 13 F. Hoffmann: Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun, S. 253.
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Die Freundschaft Zintgraffs und Galegas als literarisches Erinnerungsmotiv Die zentrale Stellung von Literatur in der Kodierung von Vergangenheitsversionen und kollektiven Mythen ist schon bei Astrid Erll und Ansgar Nünning unterstrichen worden. Sie zeigen, dass und wie Romane, Gedichte und Dramen »die gesellschaftliche Diskussion über die Funktionsweisen des Gedächtnisses mitprägen.«14 Die literarischen Werke, die sich mit Zintgraff-Galegas Geschichte befassen, sind The White Man of God von Kenjo Jumban und Zintgraff and the Battle of Mankon von Bole Butake15. Auch interessieren hier die Motive, durch die diese Geschichte aktualisiert und popularisiert wird so wie die eingesetzten literarischen Mittel. Kenjo Jumbans Roman greift auf die Geschichte des ersten Weißen in Babessi und Banso in der Nähe von Bamenda im kamerunischen Grasland zurück und unterstreicht dabei physische wie auch technisch-wissenschaftliche Ausstattung der Figur (Zintgraff), die zur Folge hat, dass ihm übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Die hervorgehobenen physischen Eigenschaften beziehen sich z.B. auf seine weiße Haut, die der eines Albinos ähnlich sei, und seine Haare, die braun wie die eines Rindes und ebenso lang wie die Mähne eines Pferdes aussehen. Gerüchte zirkulieren auch reichlich über seine lange und gekrümmte Nase wie den »Schnabel eines Gabelweihs«, oder seine grauen Augen wie die eines Leoparden. Nicht zuletzt spreche der Mann durch Nase und Mund zugleich und man fragt sich verwirrt, wie er dann esse. Von allen Seiten ist es nur die Rede von dem »strange visitor«, »dem komischen Besucher«. Wurde er von Gott verflucht, oder ist es Zeichen eines bald auszubrechenden Unheils? Der Erzähler im Roman berichtet: A white man! How white was he, people were asking. White like the dry season clouds? White like white cotton? How white? How can a man be white? Had he the curse of God upon him? What did he want? Why did the fon have to welcome such a guest, with such a select diet? Was it to avert a danger? To appease the Gods? 16
Die physischen Eigenschaften des Ankömmlings, die die Einheimischen durch Vergleiche mit Dingen ihres Wohnorts erkunden wollen, sorgen bei ihnen für große Verwirrung, gar Aufregung, welche bald größer wird aufgrund des Be-
14 A. Erll/A. Nünning: Medien des kollektiven Gedächtnisses, S. 6. 15 B. Butake: Zintgraff and the Battle of Mankon. 16 K. Jumban: White Man of God, S. 23.
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nehmens des Fremden. Allen Erwartungen entgegen weigert er sich, in einem Haus zu schlafen, das für ihn gebaut und durchs Feuer warm gemacht wird: »›Put out the fire‹, he said. ›I can’t sleep in such a hot house‹.«17 Diese befremdlich erscheinende Haltung samt der Hautfarbe werden durch das technische Know-How der Figur pointiert. In der Tat hat der Ankömmling nicht nur Decken in seinem Koffer, sondern auch Zündholz und eine Lampe, die die Dorfbewohner mit der Sonne gleichsetzen. Damit erreicht die Aufregung ihren Höhepunkt. Wie könnte jemand mit der Sonne im eigenen Koffer reisen, oder Sonne im eigenen Haus schaffen? Für die Dorfbewohner – so die Erzählung weiter – kann das kein einfacher Mensch, eben deswegen werden ihm nun übernatürliche Kräfte, Zauberkräfte noch nie dagewesener Art – zugeschrieben. Die »magicians« und »medicine-men«, die von dem Fon (König) herbeigerufen wurden, um den Mann »gründlich« zu untersuchen, haben angekündigt, dass er nur »zwei Augen« habe und deshalb nur ein »pig« sei, ein Schwein. Sie haben also festgestellt, dass er ein gewöhnlicher Mensch ist und über keine magischen Kräfte verfügt. Wegen der scheinbar falschen Diagnose der »Medizinmänner« gerät der Fon in Wut und Schreck: -He has created sunlight in the house! -How? The fon asked in great fright and the fright was shared by his counsellors. -He has caused the sun to shine in his house. He has a piece of the sun, the sun exactly as it is, only much smaller, but shining with the same brilliance. -Do you see what I have been telling you? The fon asked of his counsellors. I have been suspicious of this man from the beginning. And the magicians and medicine-men all tell me he is a plain, simple man. Tell me what plain, simple man can do things like this? Call all the medicine-men and the magicians here. 18
Die Hautfarbe des Ankömmlings und seine technische Begabung erscheinen den Dorfbewohnern definitiv als typische Eigenschaften eines geheimnisvollen Gespensts, das den Gerüchten nach aus einem mächtigen See herstamme. 19 Einige Handlungsstränge, die Kenjo Jumban hier verwendet, tauchen bereits in den Memoiren von Eugen Zintgraff selbst auf. So die Decke und die Lampe. Damit ist durch Jumbans Erzählung einen unverleugbaren Bezug zu Eugen Zintgraff hergestellt. Zintgraff bezeichnete sogar seine Decke als »Mammy«, weil sie ihm von seiner Mutter geschenkt wurde, als er sich auf den Weg nach Kame-
17 K. Jumban, White Man of God, S. 26. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 24.
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run machte.20 Dies gilt auch für den Empfang, den der Fon (König) im Roman dem Fremden bei seiner Ankunft erweist, der auf das erste Treffen zwischen Galega und Zintgraff anspielt, genauso wie die Idee, er stamme aus dem Wasser. Außerdem ist eine stark »porträtierende« Schreibweise des Autors festzustellen, durch die er auf die physischen und intellektuellen Eigenschaften des Fremden eingeht. Dabei betreffen die Inszenierungstechniken dieser Geschichte nicht nur den expliziten, anthropomorphen bzw. personifizierenden und zoomorphen Vergleich, oder auch den komischen Unterton; man erfährt auch die Verankerung der Erinnerungsnarrative in einem Zwischenfeld zwischen Oralität und Schriftlichkeit. Es wird am nächtlichen Feuer erzählt, und da ist nicht mehr der Icherzähler Tansa die erinnernde Instanz oder agierende Person, sondern ein Nebenerzähler. Dieser Nebenerzähler ist keiner andere als der Vater. Das Publikum seiner Geschichte besteht aus Kindern und einigen Erwachsenen. Diese Elemente entsprechen der kamerunischen Kulisse des Erzählens: das nächtliche Feuer, ein Greis, der auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen erzählen darf, und ein aktives Publikum, das durch Fragen, Bejahungen, Gestik und Mimik am Erzählten direkt teilhaben. Darüber hinaus steht man mitten in Prozessen des kommunikativen Gedächtnisses, das nach Jan Assmann durch Unspezialisiertheit, thematische Unfestgelegtheit, Unorganisiertheit und einen beschränkten Zeithorizont charakterisiert ist.21 Die Ankunft des ersten Weißen in der Gegend wird hier zur alltäglichen Kommunikation, bei der jeder Zeitzeuge den Übergang von einer Generation zur anderen durch mündliche Übertragungen realisiert und dadurch zum Mittler des kollektiven Gedächtnisses wird. Aus dem bisher Gesagten kann festgehalten werden, dass die Erinnerung an diese deutsch-kamerunische Geschichte im Bamenda-Gebiet im kamerunischen Grasland bei Kenjo Jumban die absonderlichen physischen und intellektuellen Eigenschaften der Figur Zintgraff hervorhebt, welche die lokale Bevölkerung tiefgreifend geprägt hatten. Welche Aspekte hebt das Werk von Butake hervor? Bole Butakes Theaterstück ist eine direkte Anspielung auf die Periode zwischen 1885 und 1891, wobei der Krieg von Bali gegen Bafut und Mankon den Höhepunkt der Ereignisse bildet. Im Gegensatz zu Jumbans Roman, in dem die
20 Diese Decke verlor er sogar im Krieg gegen Bafut und Mankon. In der Tat wurde sie in einem Palmweinhaus in Bangoa vergessen, wo sie vor dem Feldzug übernachteten. Sie wurde aber kurz nach dem Krieg von einem Bali-Krieger wiedergefunden und zurückgebracht, als M’Bo, der zweitälteste Sohn Galegas, zur Suche der Leiche der gefallenen Europäer abgesandt wurde: E. Zintgraff: Nord-Kamerun, S. 386. 21 J. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9.
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historischen Fakten anonym fabuliert werden, bleibt das Stück von Butake realitätsnah. Schon am Titel ist die Absicht des Produzenten erkennbar, eine Geschichte darzustellen, die einen Wahrheitsanspruch erhebt. Der Titel »Zintgraff and The Battle of Mankon« wird sogar von einer paratextuellen Angabe verstärkt mit dem Ziel, das Ereignis zu kartographieren, zu kontextualisieren: »The play is set geographically in Bali and historically in 1891.« 22 Wie am Titel schon ersichtlich ist, fokussiert das Werk den Krieg zwischen Bali gegen Bafut und Mankon Ende Januar 1891. 23 Der Krieg war jedoch eine 24 einzige Katastrophe für Zintgraff, denn vier Europäer kamen uns Leben , und er selbst war nur mit einem blauen Auge davongekommen. Endresultat war eine große Enttäuschung und seine schlimmste Verfeindung mit dem vor kurzem ernannten Gouverneur Eugen von Zimmerer.25 Die hervorgehobenen Aspekte in dieser anderen Kodierung der deutschkamerunischen Vergangenheit sind wiederum die Hautfarbe des Ankömmlings Zintgraff und seine »große Zauberkraft« (»witchcraft«), die sein technisches Know-How symbolisiert, nämlich das Gewehr: »First Gwei [Bali-Spione bzw. Gesandte im Roman, T.F.]: witchcraft cannot be excluded. For they carry long tubes that roar like thunder and vomit fire causing desolation untold. With the tubes one man can decimate a whole crowd of warriors.«26 Diese betreffen aber auch die hegemonialen Absichten von Galega wie auch Zintgraffs wirtschaftliche Absichten, die Rivalität zwischen den Chefferien und den Mankon-Krieg. Wie in The White Man of God, spielen die physischen Züge des Fremden eine große Rolle in der Erinnerungskultur. Die Geschichte wird etwa »wahrheits-« bzw. wortgetreu durch literarische Mittel überliefert, und zwar an den Ort, an dem Zintgraff sich zum ersten Mal im Grasland aufhielt, nämlich Babessong (etwas südlich von Bali), aber auch die Zahl der Weißen, d.h. fünf (First Gwei: »From reliable accounts they number all the fingers of my hands«).27 Für die Einheimischen ist der Weltuntergang ganz nah auf Grund der Erscheinung von »bösen Geistern«. Diese metaphorische Gleichsetzung von den Weißen mit Geistern geht aus folgendem Bericht von zwei Boten hervor:
22 B. Butake: Zintgraff and Battle of Mankon, S. iii. 23 E. M. Chilver: Zintgraffs Exploration, S. 359. 24 Das waren Nehber, Leiter der Handelsexpedition, Huwe, Leutnant von Spangenberg und Tiedt. 25 E. Zintgraff: Beschwerden gegen das kaiserliche Gouvernement in Kamerun. 26 B. Butake, Zintgraff and the Battle of Mankon, S. 17. 27 Ebd., S. 16.
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Both Gweis: The world is coming to an end! Evil spirits stride the land! […] Titanji: What tidings do you bring from your sojourn in Babessong? Both Gweis: Horrible tidings, Great Fon! We saw a man of white body! The world has come to an end!
28
Im Gegensatz zu Jumban, der eher die endlose Angst des Königs von Banso beschreibt, möchte Galega den Fremden gerne empfangen; so befehlt er seinen Gesandten, den Fremden so schnell wie möglich zu ihm zu führen. Hier wird die Absicht von Galega sichtbar gemacht, die ganze Region unter seine Hegemonie zu stellen. In diesem Projekt scheint es nur noch zwei Erbfeinde zu haben, nämlich Bafut und Mankon. Er zögert nicht, seine Vorfahren, denen er sogar Getränke anbietet, zu Hilfe zu rufen: Galega: [...] Valorous forbears, bring the man of white body To your humble but brave successor so That the wrongs against us may be righted [...] Drink then and guide the steps Of those whom we await anxiously 29
Into this land you left us.
Außerdem wird die Absicht Galegas durch ein Frauen-Motiv zugespitzt, wobei Zintgraff bei seiner Ankunft der Prinzessin Kassa den Hof macht (ZBM 3541),30 was als Novität bei Butake erscheint und zu Fragen zu Zintgraffs Beziehungen zu Bali-Frauen führt.31 In der Tat lässt Galega, sehr schlau, seine Tochter
28 Ebd., S. 3. 29 B. Butake, Zintgraff and the Battle of Mankon, S. 10. Jaap van Slageren gibt auch zu, dass Galega aus Freude das Grab seiner Vorfahren aufgemacht habe, um ihnen ihren Anteil der von den Weissen mitgebrachten Geschenke und zum Tinken anzubieten. Vgl. J. Slageren: Origines de l’Eglise, S. 81. 30 Ebd. S. 35-41. 31 Zintgraff hat sogar ein Foto von derselben in seinem Buch veröffentlicht, vgl. E. Zintgraff: Nord-Kamerun, S. 256-257. In diesem Foto erscheint Kassa mit zwei anderen jungen Frauen, die Zintgraff, etwa ‚donjuanartig‘ als «Drei Grazien aus Bali» vorstellt, nämlich Uandi, Tochter Fo Bessongs, Fe, Lieblingsfrau Galegas und Kassa als dessen Tochter. Zintgraff selbst erwähnt einen Vorfall, als sie in den Krieg zogen: er habe mit Kassa gescherzt, was diese aber sehr ernst genommen habe und ihn bis zum nächsten Dorf, Bangoa, zu seiner Überraschung, begleitet habe, seine Waschschüssel und sein Gewehr tragend. Dieser «Vorfall», wie Zintgraff sich selbst ausdrückt, ist
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Kassa seine Gesandten begleiten, wobei er die Hoffnung hegt, dass sie den Weißen durch ihre Schönheit verführt: Galega: [...] Let the noble princess Kassa keep your company. Make sure she is plentifully supplied with food. It is said that a beautiful woman will break a man No matter how strong-willed he may be.
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In diesem Sinne ist das literarische Werk mit seinem freien Rekonstruktionsvermögen eine Chance dafür, dass auch vergessene, verdrängte, bis dahin nicht gewagte Erinnerungstopoi aufgegriffen werden. Die Rekonstruktion von Zintgraffs ökonomischen Plänen kommt auch zum Tragen und erinnert an seine Projekte, Männer aus dem Grasland für die Plantagen an der Küste anzuwerben. Dabei ist aber auch die Rivalität von Deutschland gegen England, das allein von dem ganzen Reichtum dieser Gegend profitiert, dem Entsetzen Zintgraffs nach nicht vergessen. 33 Solche Entlehnungen aus der Geschichte, die direkt auf Zintgaffs Plan der Erziehung der Bali- und Babessong-Genossen zur Arbeit »im Dienste der Weißen« entsprechend seinem Motto »Afrika den Afrikanern, aber uns die Afrikaner«34 Bezug nehmen, machen aus diesem Werk eine historiographische Metafiktion (Nünning), bei der das Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität, Literatur und Geschichte aufgehoben wird. Das literarische Werk entpuppt sich letzten Endes nicht mehr als Ort der bloßen Fantasie, sondern als Dokument im Diensten historiographisch-literarischer Tätigkeiten. Diese Feststellung gewinnt an mehr Kraft, wenn man einen Blick auf die unterschiedlichen Strategien wirft, durch die die Vergangenheit zum Erinnerungstopos aktualisiert wird, allen
aber vielsagend und man darf mit Recht sich fragen: Kann man jemandem einen Scherz machen, mit dem man nicht genug vertraut ist? Könnte sein Leibdiener hinnehmen, dass eher eine Frau das Gewehr seines in den Krieg ziehenden Herrn trägt, wenn er nicht von dem hohen Grad ihrer Beziehung überzeugt war? Textimmanent erscheint der Vorfall als klassisches Modell bzw. Motiv eines in den Krieg ziehenden Helden, der sich ein Stück von seiner Geliebten begleiten lässt. 32 B. Butake, Zintgraff and the Battle of Mankon, S. 8. 33 Ebd., S. 26. 34 P. Nchoji Nkwi: German Presence in the Western Grassfields; E. Zintgraff: NordKamerun, S. 409-413.
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voran die Onomastik (Patronymie und Toponymie)35. Dabei bezieht sich die Patronymie unmittelbar auf Figuren aus der Geschichte (Galega, Zintgraff, Gwalem, Formukong, usw.), ohne aber die Verankerung einiger Namen in der örtlichen Kultur zu übersehen. Die intermediale Rekonstruktion fußt bei ihm auf Gattungskombination von Tanz, Liedern sogar in der lokalen Sprache (Mungaka)36, Prosa, Versform, Oralität und Schrift auf. In der Tat erfolgt Galegas Reden zugleich in Prosa und in Versen, wobei einige Parolen sogar in (kamerunischen) Geschichtsbüchern auftauchen37. Dies gilt für die in der Forschung viel zitierten Worte, durch die Galega Zintgraff empfing: Galega: (Galega very majestically sings and dances) O ôôôôôôôôôô Kotoko ôôôôôôôôô kotoko ôôô kotiko koti Ôôôôôôôôô My nobles, valorous people of this land! Look, this white man has come to our land. Do not think that because he is small He is not to be feared. The leopard is small too, but you fear him by day and night. The white man has a good and bad side Like the moon. He is going to stay with us and we will
35 So ist Galega stets mit anthropomorphisierenden, d.h. vermenschlichenden Namen, bei denen Rekurs auf Namen von Naturkräften, oder mit ‚zoomorphisierenden‘ Namen, bei denen Rekurs auf Tiernamen samt ihren erschreckenden Eigenschaften gemacht wird, genannt: Roaring Thunder, Mighty Elephant, Fearful Leopard, Awful Buffalo, Mighty Sun usw. Diese metaphorischen Bezeichnungen verweisen auf seine Qualität als Großen Fon der Bali und als Furcht erregenden Krieger. Zintgraff ist seinerseits als »Fonmbang« genannt (ZBM 19), wobei Anspielung auf seine Hautfarbe gemacht wird. Der neue, gar Spitzname, ist eigentlich ein Kompositum aus »Fon«, Chef oder König, und »mbang«, d.h. rot, oder auch weiß. Dieser Name konnotiert Zintgraff und bezeichnet ihn also metonymisch, sogar wie eine Katachrese, als den ‚Häuptling der Weißen‘, die zu fünft Bali damals betraten. Im Bereich der Toponymie bleiben auch die Ortschaften dieselben wie in der Geschichte: Bali, Bafut, Mankon, usw. Alle diese Elemente sorgen dafür, dass die rekonstruierte Geschichte Merkmale des Authentischen aufweisen. 36 B. Butake, Bole, Zintgraff and the Battle of Mankong, S. 13, 18, 20, 21. 37 J. Slageren: Origines de l’Eglise.
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Build for him so that he likes it here. Whoever harms him or his people I will kill him. 38
Anzumerken ist aber, dass diese Worte in anderen Quellen nicht in Versform vorkommen, und auch nicht vom Gesang eingeführt sind.39 Produktionsästhetisch lässt sich hier die Absicht des Autors erkennen, die Geschichte von Zintgraff und Galega mit literarischen Mitteln zu problematisieren. Indem er den Anspruch auf Referentialisierbarkeit seiner Vergangenheitsvergegenwärtigung erhebt, versucht er zugleich, das Erinnerte in den jeweiligen kulturellen und ästhetischen Kontext zu verankern, denn Tanz und Gesang sind in Oralkulturen nicht nur Unterhaltung, sondern auch inhaltliche Ausdrucksformen. Zudem lässt der Autor einen Erzähler (Narrator) die Auftritte einleiten, Kommentare machen und das Stück beenden. Auf Grund der von dem Erzähler aufgegriffenen Fakten erweist er sich schließlich als Griot (professioneller Geschichtenerzähler) und misst dem Stück Charakteristiken der Oralität bei. Diese Oralität lässt sich z.B. an dem Grad des Rekurses auf Sprichwörter feststellen, welche in afrikanischen Gesellschaften nicht nur als Ausdruck der Weisheit gelten, sondern auch als Kunst des Redens und Überredens fungieren. Das gilt auch für die Sprachenvielfalt mit der Einführung von Gesängen auf Mungaka in einen auf Englisch verfassten Text. Nicht zuletzt erscheint das Werk als eine palimpsestartige Kombination zwischen einer ungeschriebenen Mungaka-Erinnerungsversion und deren englischen Fassung (Butake), genauso wie zwischen einem deutschen Bericht (Zintgraffs Buch), dessen englischen Übersetzung (Chilver) und der literarischen Verarbeitung (Butake), bei denen Hypo- und Hypertexte in Beziehung zueinander stehen. Die Beherrschung der Schrift führt nicht nicht zur Hintansetzung oraler Art des Geschichtenerzählens, sondern lässt eine hybride und deshalb produktivere Darstellungsform entstehen. Aus diesem Blickwinkel erscheint der »Narrator« zugleich als offizieller Historiograph und Archivar (Lüsebrink) seiner Gesellschaft und übernimmt eine zweifache Funktion: die des Aufbewahrens der Ereignisse, die für die Gruppenidentität bezeichnend und stiftend sind auf der einen, und die der Funktiona-
38 B. Butake, Bole, Zintgraff and the Battle of Mankon, S. 20-21. 39 Slageren zitiert: «Le corps du blanc ne brûle pas, l’homme blanc n’est pas sorti de l’eau. Voici maintenant ce Blanc est venu dans notre pays. Ne pensez pas parce qu’il est petit il n’est pas à craindre. Le léopard est aussi petit, pourtant il inspire crainte jour et nuit. L’homme blanc a un bon et mauvais côté, tout comme la lune. Il va rester avec nous et nous lui ferons une case pourqu’il préfère rester ici. Quiconque lui fait du mal, à lui ou à ses gens, sera tué». J. Slageren: Origines de l’Eglise, S. 79.
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lisierung und Überlieferung der Versionen der Vergangenheit an die jüngere Generation im Hinblick auf eine gewisse Konjunktur auf der anderen Seite. Diese Überlieferung ist es, die eine instrumentalisierte oder eine unwissenheitsbedingte Amnesie, die offizielle oder offiziöse Verdrängung, bekämpfen soll und so die Erinnerung an Vergangenes zu Pflicht macht. Wie wird diese Geschichte durch das Medium Film behandelt? Die Geschichte Zintgraffs und Galegas im Film, Fernsehen und Internet Die Geschichte von Galega und Zintgraff ist in der kamerunischen Erinnerungskultur auch in einem Film aufgegriffen worden. Es handelt sich um einen mehrteiligen Film, der vom ersten Ausblick wie eine literarische Verfilmung, d.h. ein Film aus einer literarischen Vorlage, erscheint. Er trägt nämlich den gleichen Titel wie das Buch von Bole Butake: »Zintgraff and the Battle of Mankon«. Der Film wurde in der Zeit zwischen 2010-2012 von Godwin Nganah als Leiter der Firma Premier Films produziert. Dabei kam der Impuls aber nicht vom Produzenten selbst, wie es bei Butake der Fall war, sondern von der kamerunischen Regierung, die den Film anlässlich der fünfzigsten Feier der Unabhängigkeit des Landes bestellt habe.40 Hier erfährt die Erinnerung eine intermediale Verarbeitung mit dem Bezug auf schon besprochene Medien, und in Kombination von Fernsehen, Kino und Internet, auch wenn es sich für letzteres um einen kaum eine Minute dauernden Auszug aus der achtzehnten Folge handelt.41 In der Tat wurde der Film, der übrigens aus 52 Folgen von jeweils 26 Minuten besteht, 2012 auf den kamerunischen Nationalfernsehsender CRTV gesendet. Stofflich-inhaltlich versucht auch der Film, wie das Werk von Butake, das Leben im Graslandgebiet um Bamenda im Jahre 1891 abzubilden und lässt die Begegnung zwischen Zintgraff und Galega zum Hauptthema werden. Nachdruck wird dabei auch auf die Rivalitäten zwischen den großen Königen der Region damals, nämlich Galega, Gwalem und Formukong gelegt. Das plötzliche Erscheinen eines weißen Mannes, der allen Angaben nach über eine enorme »Zauberkraft« verfüge, leistet den Dingen Vorschub, die bald einen Höhen- bzw. Wendepunkt durchlaufen. Die Akteure erscheinen meist im traditionellen Gewand aus Baumrindern, Tierfell, mit Mützen aus Federn. Dadurch zeigt sich das Anliegen des Produzenten, die Lebensweise der Bali und der Region vor europä-
40 Interview mit Godwin Nganah, 19.07.2017. 41 http://youtube.be/g_CKMKlystU. Stand 25.07.2017).
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ischer Ankunft wiederzubeleben.42 Im Gegensatz zum Eponym-Stück von Butake, das Bali als einzigen Ort der Handlung kennt, wechseln die Orte der Handlungen im Film und betreffen Bali, Mankon und Bafut samt den Höfen der Könige und Fürsten. Auf diese Weise gelingt es dem Produzenten, besser als das literarische Werk mehr Einblicke in die Lebensweise im Grasland gewinnen zu lassen, wie die Regelung alltäglicher Konflikte, die Anwerbung von Frauen für die Königshöfe, die Beziehung von Mann zu Frau, das Justizwesen, usw. Der Film versucht auch zu zeigen, welche Aufregung bei den Bali herrschte, als die Leute von der Ankunft eines Weißen erfuhren, und geht auf die Geschenke ein, die Zintgraff Galega überreichte. Ein besonderer Moment ist dabei der Empfang eines Spiegels, in dem die Leute ihr eigenes Gesicht blicken könnten. Verbunden mit dem »tönenden Rohr« ist dem Fon (König) und seinen Männern klar, dass der Weiße über eine unerhörte magische Kraft verfügt, und dass es klug sei, sich mit ihm zu verbünden, anstatt »ihn mit seinen bloßen Händen zu bekämpfen«. Die Idee eines hegemonialen Kalküls wird also, wie in der Literatur, nicht vergessen.43 Es gelingt auch dem Regisseur, den Film zu dem Ort zu machen, wo Galega seinem Freund Zintgraff erklärt, warum er ihn zum Oberhaupt der Bali gemacht habe, eine Strategie, um die Feindschaft seiner zwei ältesten Söhne um seinen Thron zu vermeiden. Anders gesagt, Galega hätte Zintgraff einfach manipuliert, um eine bevorstehende Gefahr in eigener Familie zu überwinden, er dachte also nicht im Geringsten daran, Zintgraff zum eigentlichen Chef aller Bali zu machen,44 ein Aspekt, den die bisher besprochene Literatur vernachlässigt hat. Die Hinrichtung von zwei zur Zintgraffschen Expedition gehörenden sogenannten »Vaiboys« durch den Fon von Bafut und die Gründe für seine Tat, wird im Film thematisiert, genauso wie Zintgraffs Pläne des Handels mit den Chefferien Bafut und Mankon.45 Die technische Organisation des Einführungsbildes betrifft die Großaufnahme von Zintgraffs mit Stroh bedecktem Haus auf Baliburg, über dem nicht die damalige schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreiches, sondern die heutige schwarz-rot-gelbe Flagge der Bundesrepublik Deutschland weht. Im Vordergrund sehen wir die Großaufnahmen von Zintgraff mit seinem »Zauber« (Gewehr) auf der Schulter und Galega auf der einen, dann Gwalem und Formukong auf der anderen Seite. Dieses Eingangsbild lässt schon, der Geschichte gemäß,
42 Interview mit Godwin Nganah, 19.07.2017. 43 Nganah, Godwin, Zintgraff and the Battle of Mankon. Film, Premier Films 2012, Folge 5. 44 Nganah, Godwin, Battle of Mankon, Folge 17. 45 Ebd., Folge 18.
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die Partnerschaft zwischen Zintgraff und Galega gegen die anderen verbündeten Könige erahnen. Die Graslandlandschaft erscheint im Hintergrund und somit sind fast alle Bestandteile des Puzzles, des historischen Dramas angegeben. Zu der Beziehung des Films zu dem Eponym-Werk von Butake, stellt man fest, dass beide Vergangenheitsverarbeitungen auf fast dieselben Motive und Akteure rekurrieren. Jedoch darf man den Film nicht als Verfilmung des Werkes und dieses als dessen Vorlage betrachten, aus dem Grund, dass der Regisseur kategorisch behauptet, er habe das Werk nie gesehen, gar gelesen. Er habe daher seinen Film in ganzer Autonomie produziert. Außerdem ist festzustellen, dass der Cineast eine alte Form des Englischen, des alten Shakespeare-Englischen (Tsogang/Nganah: 2017), auswählt, wo der Schriftsteller eher Prosa und Verse mischt. Auf jeden Fall könnte man nicht, selbst im Falle eines Einflusses des Dramas auf den Film, behaupten, dass es sich dabei um eine bloße Übertragung der Topoi von einem Medium ins andere handelt. Literatur und Film zeugen von der Absicht ihrer Autoren, durch spezifische mediale Mittel die Geschichte von Galega und Zintgraff in Kamerun wiederzubeleben. Schluss Die Analyse hat gezeigt, wie im ausgehenden 19. Jahrhundert zwei Persönlichkeiten das deutsche Rheinland und das kamerunische Grasland verbunden haben. Das, was im historischen Material als »Freundschaft« bezeichnet wurde war aber, auf Grund der Ambitionen der jeweiligen involvierten Seiten in der Frühphase des deutschen Kolonialismus in Kamerun, nicht als Zeichen des Altruismus zu verstehen, sondern ist hier als beiderseitiges »hegemoniales Kalkül« bezeichnet worden. Mehr als ein Jahrhundert später greift stets die kamerunische Erinnerungskultur auf diese Geschichte zurück und verhilft, differenzierte Einblicke darin zu gewinnen, dies durch die aktualisierten Topoi, die Topographie und die Akteure, die in den Rekonstruktionen der Erinnerung erscheinen. Die intermediale Verarbeitung dieser Geschichte ruht nicht nur daher, dass viele Medien eingesetzt werden; man erfährt mannigfache Grenzüberschreitungen der Medien und der Genres, bei der das Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Literatur und Film überwunden wird. Mit dem Frauen-Motiv wird merkbar, wie Frauen in der Kolonialzeitzeit zugleich als Akteure aber auch als Instrument in den Händen anderer Hauptprotagonisten standen. Die Prinzessin Kassa erscheint in der literarischen und filmischen Inszenierung des kolonialen Gedächtnisses als eine Figur, die diese Doppelseite symbolisiert: Von eigenem Vater als Spielzeug für seine hegemonialen Ambitionen genutzt, wird sie schließlich in den Fremden verliebt, den sie nur »verführen« sollte. Trotz der
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Spezifizität einzelner Medien ist das ständige Streben der Autoren merkbar, aus ihrer Sicht eine alternative Kolonialgeschichte spottend, heroisierend, hinterfragend bzw. subversiv zu verarbeiten.
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LITERATUR Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main 1988, S. 9-19. Butake, Bole: Zintgraff and Battle of Mankon. Yaoundé 2002. Chilver,E. M.: Zintgraffs Exploration in Bamenda, Adamawa and the Benue Lands 1889-1892. Buea 1966. Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin 2004. Helm, Ingo: »Literatur und Massenmedien«, in: Kklaus Briegleb/Siegrid Weigel (Hg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Bd. 12. München/Wien 1992, S. 536556. Hoffmann, Florian: Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun. Etablierung und Institutionalisierung des kolonialen Gewaltmonopols 1891-1914. Teil I. Göttingen 2007. Jumban, Kenjo: The White Man of God. London 1980. Lüsebrink, Hans-Jürgen: »Die Herausforderung der außereuropäischen Literaturen der Gegenwart (Schwarzafrika, Lateinamerika) für die Beziehungen zwischen Literatur und Geschichte im Kontext der Postmoderne«, in Daniel Fulda/Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin, New York 2010, S. 572-582. Michels, Stefanie: »Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopografien – Medien, Akteure, Topoi«, in Steffi Hobuß,Steffi/Ulrich Lölke (Hg.): Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas. Münster 2006, S. 117-139. Ngoh, Victor Julius: Le Cameroun 1884-1985. Cent ans d’histoire. Yaoundé 1990. Nchoji Nkwi, Paul: The German Presence in the Western Grassfields 1891-1913. A German colonial account. Leiden/Yaoundé 1989. Nuhn, Walter: Kamerun unter dem Kaiseradler. Geschichte der Eroberung und Erschließung des ehemaligen deutschen Schutzgebietes Kamerun. Ein Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte. Köln 2000. Slageren, Jaap van: Les Origines de l’Eglise évangélique du Cameroun. Missions européennes et christianisme autochtone. Leiden 1972. Zintgraff, Eugen: Meine Beschwerden gegen das kaiserliche Gouvernement in Kamerun. Hamburg 1893. Zintgraff, Eugen: Nord-Kamerun. Berlin 1895.
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INTERVIEW Tsogang Fossi, Richard, Interview mit Godwin Nganah, 19.07.2017.
INTERNETQUELLE http://youtube.be/g_CKMKlystU. Stand 25.07.2017.
FILM Nganah, Godwin, Zintgraff and the Battle of Mankon. Film, Premier Films 2012.
Biographie einer Raphia-Tasche aus dem Grasland Gebrauch, Beschaffung, Musealisierung1 Yağmur Karakış
Im Depot der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim (rem) befindet sich eine Basttasche – im Vergleich zu anderen ein eher unscheinbares Objekt. Es fristet seit über 100 Jahren ein Dasein in diesem Depot. Der folgende Beitrag zeigt, wie eine quellenkritische dichte und methodisch transdisziplinäre Beschäftigung mit einem – scheinbar vergessenen – Objekt dazu beitragen kann, sowohl die (koloniale) Vergangenheit, als auch die (postkoloniale) Gegenwart besser zu verstehen. Sie ist ein Plädoyer dafür die Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten kolonialen Sammelns, der kolonialen Infrastrukturen in Archiven und Depots aufzufinden. Analog zur Forderung Albert Gouaffos in diesem Band, die Texte von kolonialen Reisenden, wie den Thorbeckes, als wichtige Werke für die gemeinsame kamerunische-deutsche Geschichte als »Gründungsliteratur« zu sehen, zeigt dieser Beitrag, dass auch den von den Thorbeckes gesammelten Objekten, die sich heute in verschiedenen Museen Deutschlands befinden, ebensolches Potential innewohnt.
1
Der Beitrag stellt die Zusammenfassung einer im Jahr 2016 eingereichten Bachelorarbeit im Fach Geschichte an der Universität Düsseldorf dar: Y. Karakış: Vom Kameruner Grasland nach Mannheim.
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Abb. 1: »Basttasche«, Fo-Ngondeng, IV Af 8054, rem.
Fotografie: Lina Kaluza, © Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim 2016.
Die Basttasche, die im Fokus dieses Beitrags steht, wurde im Rahmen der Reise des Ehepaars Thorbecke ins kamerunische Grasland (1911-13) den reissengelhorn-museen in Mannheim übergeben. Dort befindet sie sich bis heute. Die Gliederung des Beitrags orientiert sich an der Methode der Objektbiografie.
HERSTELLUNGSPROZESS UND VERTRIEB Die Informationen über Herstellungsprozess und Vertrieb stammen aus der Dokumentation der Thorbeckes und des Museums, sowie ethnologischer Fachliteratur und eigener Forschung im Erwerbsgebiet im Jahre 2016. Die Tasche wurde aus Raphia-Fasern hergestellt. Die Fasern werden aus frischen Raphiablättern erzeugt, die zunächst getrocknet oder getrocknet vom Baum gepflückt werden. Diese getrockneten Fasern wurden früher mit natürlichen Farbpigmenten gefärbt, die aus Pflanzen oder Bäumen gewonnen wurden,
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wie etwa le safoutier.2 Heute verwenden die Hersteller zur Gestaltung der Taschen häufig industriell hergestellte Farbstoffe.3 Nach einem weiteren Trocknungsprozess bei gefärbten Fasern werden sie mithilfe eines Webrahmens zu einem Gewebe verarbeitet, woraus schließlich die Tasche entsteht. Einen solchen Prozess konnte ich an einem Herstellungsort zwischen Bamenda und Bafut und in Nzeumpuet bei dem Taschenhersteller Tanazé beobachten. Die Herstellung von Gegenständen aus Raphia-Fasern seien typisch für Gesellschaften, die auf den Bergen wohnten.4 Der Künstler Tato, der auch am Institut des beaux arts der Universität Dschang in Foumban unterrichtet, erzählte mir Webkunst bzw. das Handwerk sei früher vererbt worden, aber die Schaffung von »Kunst« war den Auserwählten und Begnadeten vorbehalten war. Laut Tato war die Tasche sehr selten: sie konnte nur an bestimmten Tagen in bestimmten Monaten nach bestimmten Regeln hergestellt werden. Hierbei wird/wurde zwischen weiblichen und männlichen bzw. positiven und negativen Monaten und Tagen unterschieden. Auch eine bestimmte Phase des Mondes konnte als dominant bzw. nicht dominant für die Herstellung der Tasche ausschlaggebend sein. Für eine besondere Persönlichkeit, wie zum Beispiel für einen Chief, hänge die Herstellung der Tasche und auch anderen Gegenständen von bestimmten 5 Umständen ab und erfolge nach bestimmten Regeln. Ansonsten, wenn die hergestellten Taschen zu funktionellen Zwecken hergestellt wurden, konnten sie in der Regel in untergeordneten Chefferien oder Quartiers vertrieben werden. Es gab zudem auch Markttage, an denen handwerkliche Produktionen verkauft wurden.6
GEBRAUCH UND BEDEUTUNG Es gibt im kamerunischen Grasland bis heute verschiedene Variationen der Raphia-Taschen. Es gibt auch Taschen aus Leder, Stoff, mit oder ohne Fell und verschiedene Formen von Henkeln und Trägern. Alle Varianten erfüllen eine bestimmte Funktion und dienen bestimmten Zwecken. Sie dienen als Zeichen und
2
D. Malabon: Patrimoine, S. 131; Interview Tato (eine Liste aller Interviews befindet sich beim Literaturverzeichnis).
3
D. Malabon: Patrimoine, S. 132; Interview Tato.
4
Interview Tato.
5
Interview Djoumessi; Interview Tato.
6
Interview Djoumessi.
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transportieren Informationen über das Prestige und die gesellschaftliche Rolle seiner Träger. Das Tragen der doppelten Variante der Raphia-Taschen mit dem Henkel in der Mitte ist beispielsweise Müttern von Zwillingen vorbehalten.7 Ansonsten könnten die Taschen zum Beispiel beim Ackerbau, bei Reisen, während religiöser und traditioneller Zeremonien oder einfach für das Prestige verwendet werden.8 Alle 2016 Befragten fanden die Raphia-Tasche auf der Fotografie sehr typisch für die Bamiléké-Region.9 Eine Tasche ähnlichen Typus gebe es auch in anderen Regionen wie in Bamum oder in der östlich angrenzenden North-WestRegion, aber sie seien häufiger aus anderen Materialien beschaffen wie Stoff oder Leder oder anders dekoriert.10 Tatsächlich konnte ich Taschen unterschiedlichsten Materialien und Formen in den Museen Mankon und Bafut (NorthWest-Region) betrachten, wo sie im Kontext von historischen Kriegen gezeigt werden. Es gab dort verschiedene Typen von Taschen, die während des Krieges getragen wurden und andere Taschen für den Gebrauch des fon (chief).11 Am häufigsten konnotierten meine Gesprächspartner*innen in Dschang und Umgebung die Raphia-Taschen mit Beerdigungszeremonien. Sie nannten auch andere Zeremonien und andere Anlässe, wobei die Raphia-Taschen getragen würden, aber die Zeichenhaftigkeit für den Verlust von Angehörigen bei einer nicht gefärbt oder dekorierten Tasche scheint am meisten verbreitet zu sein. Eine Raphia-Tasche, deren Form und Herstellung der von mir gezeigten Tasche entspreche, aber nicht gefärbt sei, trugen und tragen Frauen eine bestimmte Weile, nach dem Verlust ihrer Ehemänner.12 In Bansoa erklärte mir der befragte Chief in ihrem Kontext würden die ungefärbten Raphia-Taschen von Männern getragen, die ihre Frauen verloren hätten.13 Alle interviewten Personen waren sich darüber einig, dass die Tasche heute zwar von jedem Menschen, der das entsprechende Geld besitzt erworben werden könne und zu verschiedenen Anlässen für verschiedene Zwecke gebraucht werden könne, aber der traditionelle Charakter sei immer noch vorhanden, z.B. in Chefferien oder bei bestimmten Zeremonien.14
7
Interviews Tato; Djomo; Olivier.
8
D. Malabon: Patrimoine, S. 133; Interviews Tato; Djoumessi; Tatang Temgoua; Chief
9
Ebd.
Bansoa; Djomo. 10 Interview Tato. 11 Interview Guide Bafut; Guide Mankon. 12 Interviews Olivier; Tato; Malabon. 13 Interview Chief Bansoa. 14 Interview Tato.
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Die rötliche Farbe auf der von mir gezeigten Tasche wurde laut Tato von der Flüssigkeit eines Baums gewonnen.15 Die gelbliche Farbe wird/wurde aus etouwam (einem Baum) gewonnen und die weiße Flüssigkeit des Baumes wurde/wird für die Taschen der Witwen verwendet. Der Baum hat gleichzeitig eine medizinische Bedeutung und Funktion, weil seine Elemente gegen negative Energien und Einflüsse eingesetzt werden könnten. Die violette Farbe würde aus ntou-ntoulychuet (ein »Gras«) gewonnen. Die Flüssigkeit des Grases würde auf den Stoff bzw. auf die Raphia-Fasern gestrichen und anschließend gebrannt. Mit diesem Gras könnte man sich auch von Sünden bereinigen, aber auch bei allen Arten der Reinigung könne das Gras zur Anwendung kommen, denn ntou bedeute »zur Reinigung«.16 Die abgebildete Tasche sei nach der Kombination der Farben zu urteilen, für einen N’doering (ein starker, physisch energievoller Mensch/Mann), die die Eigenschaft hätten, sehr weise zu sein und mit Heiligen zu vergleichen wären, hergestellt worden. Man nenne sie auch kpemchue (übersetzt: »starker Mann«), wobei es bei ihnen nicht um die physische Stärke ginge, sondern um die Energie. Sie trugen die Tasche ohne Inhalt. Die Taschen für die n’doering stellten nicht gewöhnliche Weber her, sondern Leute, die man als traditionelle »Priester« bezeichnen könne. Diese Rolle könnte man in gewisser Weise auch Künstlern mit spezieller Begabung zuordnen.17 Das Design der Tasche funktionierte nach dem Prinzip einer Schrift: Zeichenhaftigkeit für seine Träger und den Zweck. Träger konnten Chiefs, Noblesse, Marktgänger und andere Persönlichkeiten sein, je nachdem, wie die Tasche designt war.18
DIE TASCHE IM MUSEUM Mehr als 1300 Objekte, darunter die »Basttasche« mit der Inventarnummer IV Af 8054, befinden sich seit ihrer Übergabe im Besitz der Reiss-EngelhornMuseen (rem) in Mannheim.19 Sie wurden unter dem Namen »Sammlung
15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Interviews Tato; Deko; D. Malabon: Patrimoine, S. 133-135. 19 1300 Objekte nennt Franz Thorbecke in einer Publikation unter statistischen Angaben, aber der ehemalige Kurator der Abteilung Weltkulturen und ihre Umwelt der rem gibt an, dass mit zusätzlichen Schenkungen, die später an das Museum übergeben worden
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Thorbecke 1911/12« erfasst und liegen bis auf wenige Ausnahmen heute noch in den Depots der rem. Wann die Objekte ganz genau nach Deutschland verbracht wurden und wann sie an das Museum übergeben wurden ist nicht bekannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass sie bereits vor der Ankunft des genannten Sammlers Franz Thorbecke in Deutschland im Jahr 1913 nach Mannheim verschickt wurden. Eine genauere Recherche der Umstände des Transportes und dessen Organisation in Archivbeständen könnte weitere Erkenntnisse über die Biographie der Tasche ermöglichen – es kann jedoch ein Zeitraum zwischen 1911 und 1913 angenommen werden. Etwas klarer ist, was nach der Übergabe an das Mannheimer Museum mit der Tasche geschah. Mit der Sammlung übergab Franz Thorbecke auch eine handschriftliche Objektliste an die rem.20 Zudem erhielten die Objekte bereits vor der Übergabe und z.T. auch nach der Übergabe an das Museum Etiketten aus Pappe, die neben einer Nummer auch die Bezeichnungen der jeweiligen Objekte und die Herkunft trugen. Diese seien später entfernt worden.21 Im Verzeichnis von Franz Thorbecke sind alle Objekte der Sammlung einzeln und zum Teil als kleinere Objektgruppen mit Nummern aufgelistet. Diese Liste übertrug vermutlich das Museumspersonal zu einem späteren Zeitpunkt in eine handschriftliche Inventarliste der »Sammlung Thorbecke 1911/12«. Dort wurden die Objekte zunächst mit Listennummern eingetragen. Die Tasche trägt die Nummer 17 und eine andere Tasche mit der sie wahrscheinlich zusammen erworben und in die Objektliste eingetragen wurde trägt die Nummer 18. Die Information »2. kl. Basttaschen. Fo-ngondeng (Dschang)« und der angegebene Tauschwert von 50 Pfennig sind ebenfalls in die Inventarliste übertragen worden.22 Der geschätzte Inventarwert von zwei Reichsmark dürfte jedoch kein Übertrag von der Objektliste sein, sondern erst vom Museumspersonal in die Inventarliste eingefügt worden sein. Die Inventarnummer »IV Af 8054« wurde vermutlich noch später in das Feld für »Bemerkungen« eingetragen, da die Handschriften und Tintenfarben in diesem Feld anders sind als die übrigen.23 Das Objekt besitzt heute auch eine ei-
seien, das Konvolut insgesamt 1341 Nummern zähle, vgl. Schultz, Martin: »Unser Haus ist das reine Museum«. Die Sammlung Franz und Marie Pauline Thorbecke an den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, in: Kunst&Kontext (1) 2014, S. 14. 20 Objektliste Thorbecke, handschriftl., rem Mannheim, Abt. Weltkulturen und ihre Umwelt, 1964. 21 M. Schultz: Prestigeschild der Bamun, S. 51. 22 Inventarliste, handschriftl., Konvolut Thorbecke, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen und ihre Umwelt, o. Datum. 23 Inventarliste.
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gene Karteikarte, die mit 1964 datiert ist.24 Laut dem ehemaligen Kurator der Abteilung »Weltkulturen und ihre Umwelt« der rem, Martin Schultz, seien bis heute nicht alle Objekte des Konvoluts vollständig inventarisiert worden, aber die Inventarisierung großer Teile in den 1960er Jahren erfolgt.25 Die Karteikarte zum Objekt mit der Inventarnummer IV Af 8054 gibt zusätzlich zu der Inventarnummer die Bezeichnung »Basttasche«, die geographische Zuordnung »Afrika Westafrika«, eine Beschreibung als »geflochtene bunte Basttasche mit geflochtenem Doppelhenkel. Dschang-Kamerun- Größe: 17,5 x 16 cm«, »Thorbecke Nr. 17 1911/12« in dem Feld »Erworben« und den geteilten Wert von der Objektliste und der Inventarliste als »0,25 Rm« an. Auf der Rückseite ist ein Diapositiv der Tasche, das Datum »1964« und die Aufnahmennummer »D722« in Handschrift zu sehen. Die Felder »Veröffentlicht«, »Literatur« und »Bemerkungen« sind frei, aber das Feld »Standort« ist mit einem handschriftlichen Kreuz ausgefüllt.26 Damit gehört die »Basttasche« neben über 1.300 weiteren ethnografischen Objekten, von denen laut Inventarverzeichnis 120 Nummern aus Dschang und dem umgebenen Grasland seien, zu einer Sammlung, die nie wissenschaftlich bearbeitet und in Gänze ausgestellt wurde.27 Nachweisbar sind die Ausstellungen einzelner Objekte der Sammlung im Jahr 1935 (in der Kolonialausstellung in Köln) 1978 und 1980 (jeweils in Mannheim). In der Sonderausstellung »Perlenarbeiten aus dem afrikanisch-arabischen Raum« von 1978 wurden nach den Berichten der Presse auch Objekte der Sammlung »Thorbecke 1911/12« gezeigt. In der Rhein-Neckar-Zeitung vom 10. August 1978 heißt es, dass auch der »Geograph Prof. Franz Thorbecke Wesentliches zu den Sammlungen«28 beigetragen hätte. Die Sonderausstellung »Kamerun. Kulturvölker der Savanne. Sammlung Thorbecke 1911/12« von 1980 präsentierte laut dem »Führungsblatt« der Ausstellung immerhin über 300 Objekte der Sammlung.29 Zu dieser Ausstellung ist eine Broschüre des Katalogcharakters überliefert. Weder im »Führungsblatt« der Ausstellung noch in einem 1981 herausgegebenen »Katalog« der »Skulpturen aus Kamerun. Sammlung Thorbecke 1911/12« sind Hinweise auf die Tasche zu finden.30 Einige Masken aus der Sammlung werden zurzeit in der der Daueraus-
24 Karteikarte, IV Af 8054, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen und ihre Umwelt, 1964. 25 M. Schultz: Prestigeschild, S. 51; Ders.: Haus, S. 14. 26 Karteikarte, rem Mannheim. 27 Schultz: Haus, S. 14. 28 A.U.: Schatzkästlein der Völkerkunde. 29 Führungsblatt, S. 4. 30 Führungsblatt; Städtisches Reiss-Museum Mannheim: Skulpturen.
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stellung »Musik-Welten« des Museums Bassermannhaus, einem neuen Glied des Museenverbundes der rem, gezeigt.31 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nur wenige Teile der Sammlung in den letzten 100 Jahren ein- bis zweimal für kurze Zeit das Depot verließen und der größte Teil seit dem Eingang in die Bestände der rem immer im Depot verblieb. Es verwundert sehr, dass sich die Stadt Mannheim immerhin mit einer beachtlichen Summe von 10.000 Reichsmark an der Expedition Thorbecke beteiligte, aber diese nicht dem finanziellen Aufwand entsprechend mit einer angemessenen Bearbeitung und Ausstellung wertschätzte. Auch Franz Thorbecke bemängelte diesen Umstand bereits 1932 in einem Brief an Prof. Dr. Walter vom Verkehrsverein Mannheim.32 Prof. Walter begründete die Undurchführbarkeit einer Ausstellung der Sammlung aus finanziellem und personellem Mangel.33 Auch der finanzielle und personelle Mangel der »Völkerkunde«-Abteilung der rem verwundert, denn im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts war die Völkerkunde und Völkerkundemuseen als Vergnügungs- und Bildungseinrichtungen höchst populär. Das öffentliche und wissenschaftliche Interesse galt »Repräsentationen von den kulturellen und körperlichen Ausdrucksformen von ›Völkern‹«.34 Diese Art von Repräsentation war ein wesentlicher Bestandteil von Völkerkundemuseen. Die Bestände dieser Museen und Gegenstände der Völkerkunde als wissenschaftliche Disziplin gingen oft auf eine längere Geschichte zurück meist adeliger Sammlungen zurück. Mit der Verwissenschaftlichung der Welt, steigenden Geltung wissenschaftlicher Beweise seit der Aufklärung war auch das Interesse an den materiellen Dingen der Welt gestiegen, die ferne Weltgegenden samt ihrer Kulturen und Eigenheiten vor Ort »zu Hause« erfahrbar und erforschbar machen sollten.35 Seitdem Deutschland offiziell Kolonien erwarb, erreichte die Völkerkunde und die Völkerkundemuseen als Orte der öffentlichen Repräsentationen außereuropäischer »Gebräuche und Sitten« anhand ethnologischer Gegenstände allerdings eine neue Dimension. Inwiefern diese Institutionen zu ihrer nie dagewesenen Bedeutung und zahlreichen Neugründungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als direkte Folge des deutschen Kolonialismus gelangten bzw. dadurch begünstigt wurden, wurde vor allem in den letzten 20
31 W. Eixler: Masken aus dem Kameruner Grasland, S. 159. 32 Brief von Franz Thorbecke an Prof. Dr. Walter vom 08.01.1932, Archiv Abt. Weltkulturen und ihre Umwelt, rem. 33 Brief von Prof. Dr. Walter an Prof. Dr. Thorbecke vom 15.01.1932, Archiv Abt. Weltkulturen und ihre Umwelt, rem. 34 A. Laukötter: Völkerkundemuseen, S. 47. 35 M. Schultz: Vom Naturalienkabinett zum Mehrspartenmuseum, S. 142.
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Jahren in der Forschung vielfach diskutiert.36 Was dabei unstrittig erscheint ist, dass fast alle Völkerkundemuseen ihre Bestände in dieser Zeit rasch erweiterten weil sie von den vorhandenen kolonialen Netzwerken profitierten. Sie konnten über die offiziellen Kanäle ihre Sammlungen erweitern, indem sie eine direkte Erwerbungspolitik betrieben, und auch indem sie Geschenke deutscher Kolonialbeamten sowie -militärs annahmen, die Erinnerungsstücke aus den Kolonien nach Hause mitbrachten. Außerdem ließen sie sich von »Protagonisten der Kolonialbewegung« unterstützen und andersherum unterstützten sie die Kolonialausstellung mit der Bereitstellung ihrer Objekte.37 Viele der Völkerkundemuseen erhielten einen Großteil ihrer heutigen Bestände aus den Gebieten, die zwischen 1884 und 1914 unter deutscher Kolonialherrschaft standen.38 Über die Hälfte der Afrika-Abteilung des Berliner Museums, ein Drittel der bis 1918 gesammelten Objekte des Rautenstrauch-Joest-Museums oder mehr als die Hälfte der Sammlungen in rem zum Beispiel stammen aus deutschen Kolonialgebieten.39 In diesem Sinne waren die Völkerkundemuseen vielleicht keine Einrichtungen, die eigens zur Legitimation der Kolonialpolitik existierten, aber sie gewannen vor allem in der Epoche durch ihren Beitrag an Bedeutung, in der die Erforschung der Kolonien auch im Rahmen anderer Wissenschaftsdisziplinen staatlich subventioniert wurden.40 Nicht selten begründeten die Direktoren der Völkerkundemuseen ihre Relevanz damit, für die Kolonialpolitik nützlich zu sein. So erklärte der damalige Direktor des Hamburger Museums für Völkerkunde, Thilenius, die Aufgabe des Museums bestehe unter anderem darin, die Begegnung der Europäer mit den sogenannten »Naturvölkern« kalkulierbar zu machen.41 Auch die Entstehungsgeschichte der Abteilung »Weltkulturen und ihre Umwelt« der rem basiert bis heute, trotz der Umbenennung auf Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts. In Mannheim begann die Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen mit der Gründung der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften in 1763 durch den Kurfürsten Carl Theodor.42 In den Kabinetten, die überwiegend naturkundlich ausgerichtet waren, befanden sich auch von Beginn
36 L. Förster: Köln, S. 325-326; H. G. Penny: Objects; A. Laukötter: Kultur. 37 U.a. L. Förster: Köln, S. 324-325. 38 Vgl. dazu ebd, S. 326; F. Bergner: Ethnografisches Sammeln; L. Förster: Objekte, S. 229. 39 L. Förster: Köln, S.325; Dies.: Objekte, S. 329. 40 A. Laukötter: Völkerkundemuseen, S. 40. 41 S. Schupp: Nutzungswert, S. 107. 42 M. Schultz: Naturalienkabinett, S. 137.
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an Ethnographika.43 Knapp 15 Jahre nach Gründung der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften (KAW) verlegte Carl Theodor seinen Hof nach München und nahm den bedeutenden Anteil seines Naturalienkabinetts und anderer Sammlungen mit. Die Reste seiner Kabinette wurden dann bis zur Gründung des Museums für Natur- und Völkerkunde in 1918 in Mannheim von verschiedenen Institutionen verwaltet. Der Umzug bedeutete zwar zunächst den Untergang der KAW in Mannheim, jedoch wuchsen im 19. Jahrhundert trotzdem rasch an. Trotzdem konnte die Ethnologie in der Stadt nicht an Bedeutung gewinnen. Bürger der Stadt Mannheim waren an der Finanzierung und der Verwaltung der Bestände und der Errichtung des neuen Museums beteiligt. Aber der Träger des nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Museums war die Stadt. Das mag an dem seit dem Umzug des Hofes von Carl Theodor schwierigen Stand der Völkerkunde in Mannheim liegen – was sich allerdings nicht selbsterklärt, angesichts des zuwachsenden Interesses Bedeutung der Völkerkunde in anderen deutschen Städten – dass in Mannheim keine gezielte Erwerbungspolitik betrieben wurde. Die Bestände waren bis zum Ersten Weltkrieg nur durch Schenkungen schnell angewachsen. Die einzige Sammlung, für die die Stadt Mannheim bzw. 44 Finanzierer Geld aufgebracht hatten, war die Sammlung Thorbecke 1911/12.
DER ERWERBUNGSKONTEXT Die Geschichte der »Sammlung Thorbecke 1911/12« in den rem und somit auch der »Basttasche« geht auf die etwa 13-monatige Expedition des Geografen Franz Thorbecke in das Kameruner Hochland zurück. So knapp und vermeintlich vielsagend ließe sich der Umstand beschreiben, dass über 1.300 Objekte aus dem Kameruner Grasland ihren Weg in die rem in Mannheim gefunden haben, wenn ich nur die verbliebenen Karteikarten, Objektlisten und Inventarlisten als Informationsquellen für diese Tasche heranzöge.45 Tatsächlich wäre es relativ einfach, wenn wir am Beispiel der »Sammlung Thorbecke« bleiben, allein aus dem Wissen über den »Sammler« einige Informationen über die konkreten Erwerbungssituationen zu generieren und somit auch ein weitaus komplexeres Bild über solch eine Erwerbungssituation nachzuzeichnen:46 Sowohl Franz Thorbecke
43 Ebd, S. 137-138. 44 Ebd., S. 148. 45 H. Wiegand et al.: Musik-Welten. 46 Vgl. zu dieser Idee in Bezug auf koloniale Reiseliteratur Albert Gouaffo in diesem Band.
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als auch seine Reisebegleiterin Marie Pauline Thorbecke haben nach ihrer Reise, auf die die Sammlung 1911/12 zurückgeht, einige Berichte über ihre Forschung und ihre Reiseerlebnisse und -erfahrungen veröffentlicht.47 Darin sind auch Texte eines weiteren Teilnehmers der Expedition – Leo Waibel – enthalten. Dieser arbeitete als wissenschaftlicher Assistent von Franz Thorbecke. In einigen Teilen lassen sie ihre Leser*innen konkret nachvollziehen, wann sie wo, unter welchen Umständen, welche Objekte erworben haben. Aufgrund der Einblicke, die sie in publizierter Form in ihren Reisealltag gewähren, sollte jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass diese authentische und die Summe aller Informationen seine, die es zu berücksichtigen gilt.48 Zwar beruhten gerade die Schriften des Ehepaares Thorbecke im Vergleich zu anderen Forschungsreisenden der Zeit auf Befragungen von Menschen vor Ort, aber der Umfang der ethnografischen Publikationen im Vergleich zu den physisch-geografischen fällt doch sehr viel geringer aus.49 Außerdem blieben die Begegnungen der Reisenden mit der lokalen Bevölkerung auch im Fall von dem Ehepaar Thorbecke nur flüchtig, da sie die meiste Zeit in Bewegung waren und kaum ausreichend Zeit an einem Ort verbrachten, um ethnologisch ertragreiche Aussagen über die Bevölkerung zu machen und was dazu notwendig ist, weitergehende Beziehungen mit den Menschen vor Ort einzugehen.50 In Dschang, im kamerunischen Grasland, verbrachte das Ehepaar gerade mal eine Woche, wo laut Marie Pauline Thorbecke immerhin 82 Objekte erworben wurden.51 Dementsprechend kurze Passagen widmen sie beide in ihren Publikationen diesem Ort.52 Was aber generell, sowohl in den Publikationen der Thorbeckes als auch in den »Reiseberichten« bzw. »Reisetagebüchern« anderer Reisender, ein Problem darstellt, ist die Perspektive, die ihre Schilderungen formen. Dabei sollten nicht nur die offen rassistischen Elemente ihrer Erzählhaltung zur Kritik dieser Quellen anregen, sondern auch ihre Autorenschaft. Franz und
47 F. Thorbecke: Hochland, 1. Teil. 48 Vgl. zu Denkanstößen im Umgang mit deren Beschreibungen Tadaha und Gouaffo in diesem Band. 49 C. Gräbel, Erforschung, S. 284. 50 C. Gräbel, Erforschung, S. 169. Damit meine ich allerdings nicht, dass bei längeren Aufenthalten authentischere Auskünfte über die Menschen und die sozialen Netzwerke vor Ort möglich wären, da ich nicht von einer Möglichkeit von authentischen Beschreibungen an sich ausgehe. 51 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 25. Die von ihnen erstellte Objektliste verzeichnet jedoch 120 Objekte aus Dschang sowie 100 Objekte unbekannter Herkunft, vgl. M. Schultz: Haus, S. 14. 52 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 16-20; F. Thorbecke, Hochland, S. 9.
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Marie Pauline Thorbecke fungieren hier als die Autor/in, weil sie die Verfasser/in der Texte sind, aber sie machen jeweils in ihren Berichten bzw. im Tagebuch die Teilhabe anderer Personen an beschriebenen Situationen und Erfolgen nicht transparent. Gerade die vermeintlich authentische Berichterstattung über das Erlebte und Gesehene täuscht über die Notwendigkeit einer erzähltheoretischen und gattungstheoretischen Analyse hinweg. Doch sind »Reiseberichte« vielmehr Hybride, »in der sich verschiedene literarische Formen und Schreibweisen wie Briefliteratur, Bericht, Tagebuch, Autobiographie, Dialog usw. überlagern und vermengen«.53 In den Geschichtswissenschaften und in der Ethnologie werden diese Textsorten als Quellen behandelt, die Auskunft über bestimmte Regionen und soziale Praxen geben sollen.54 Ein Beispiel für Perspektivgebundenheit und Verschiebungen von Rollen und Verantwortlichkeiten, ist, dass Franz Thorbecke seiner Frau im Vorwort seiner ersten Publikation zugestand, die Exkursion tatkräftig unterstützt und sich an allen Aufgaben beteiligt zu haben, aber sie nicht konkret als Sammlerin der an Mannheim übergebene Sammlung benennt.55 Als Begleiter/in benannte Franz Thorbecke seine Frau Marie Pauline Thorbecke und seinen Assistenten Leo Waibel, der die Reise krankheitsbedingt früher verlassen hatte. Dass sich beide »Reisegefährten«56 an den Arbeiten beteiligt hätten, betont er nur in seiner Danksagung im Vorwort. Auch denen, die sie »drüben«57 unterstützt hätten, widmet er seinen Dank: Er benennt dabei »in erster Reihe«58 das »kaiserliche Gouvernement«59, dann »der Woermann-Linie und der kolonialen EisenbahnBau- und Betriebsgesellschaft Lenz&Co. Und ihren Beamten«.60 Des Weiteren bedankt er sich allgemein bei allen Offizieren und Beamten, Pflanzern, Kaufleuten und Missionaren, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätten. Namentlich benennt er lediglich als »unsern Freund Max Müller, den stellvertretenden Stationsleiter von Joko im Jahre 1912«.61 Wem sein Dank nicht gilt bzw. wem der Dank in den drei Teilen der Expeditionsberichte, die zu Thorbeckes
53 U. Stamm: Orient der Frauen, S. 45. 54 S. Vlasta: Reisen. 55 F. Thorbecke: Hochland, 1. Teil, S. viii. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd.
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Lebzeiten erschienen sind, nicht gewidmet wurde, sind die vielen Begleiter*innen der Expedition und die Bevölkerung der bereisten Orte. Marie Pauline Thorbeckes Reisetagebuch legt nahe, dass sie für den Erwerb der Ethnographika zuständig war. Franz Thorbecke deutet es nur an.62 Aber auch hier werden viele beteiligte Akteur*innen nicht erwähnt. Denn eine Expedition bestand nie aus den namentlich genannten Teilnehmer*innen allein, sondern aus einer Karawane von oft mehr als 100 Helfer*innen vor Ort.63 Eine Karawane setzte sich immer aus mindestens einem Dolmetscher, Köch*innen, Headleuten, den sogenannten »Boys« und zum größten Anteil aus Trägern zusammen. Das heißt, dass, wenn man solch einer Forschungsexpedition Erfolge bzw. Leistungen anrechnete, müssten alle Teilnehmenden solch einer Expedition, die gerade mit ihrem know-how wesentlich zum Gelingen beitrugen, benannt werden. Gerade beim Erwerb der meisten Objekte sind doch die vermeintlichen Helfer*innen in der eigentlich handelnden Position, und das lässt sich sogar Marie Pauline Thorbeckes Schilderungen im Reisetagebuch explizit entnehmen.64 Sie beschreibt beispielsweise mehrere Handelsszenerien in Dschang minutiös. Ihren Angaben nach wurden einige Objekte von Haussa-Händlern und Abgesandten lokaler Herrscher gekauft. Ein Marktbesuch als weitere denkbare Möglichkeit wird für Dschang nicht, für das ebenfalls im Grasland gelegene Bangangte jedoch sehr wohl, erwähnt.65 Der Text gibt an, dass der Handel um die ethnografischen Objekte vor ihrem Rasthaus stattfand, wo die Händler mit ihren Waren und »Abgesandte« der Chiefs mit ihren Geschenken hinkamen. In diesem Zusammenhang erwähnt sie auch die wichtige Rolle eines Mannes, den sie Djimbe nennt. Sie hatte ihn bereits vorher als dritten, älteren »Oberboy« mit mehr Verantwortung vorgestellt.66 Djimbe erscheint in der beschriebenen Handelsszene in Dschang, wo auch die »Basttasche« gekauft worden sein könnte, als eine Schlüsselfigur. Denn er war derjenige, der zwischen den Händlern und den Käufer/innen – vermutlich Franz und Marie Pauline Thorbecke sowie Leo Waibel – die Handelskommunikation übermittelte und in Thorbeckes Worten sein Handelsgeschick einsetzte, um sich mit den Händlern zu einigen.67 Dass sich die Tasche unter den Objekten befand, die sie in Dschang gekauft hatten, lässt sich nur vermuten. Hinweise darauf sind, dass sie in ihrer Objektlis-
62 F. Thorbecke, Hochland, 2. Teil, S. 8-10; Ders.: Hochland, 3. Teil, S. vii. 63 C. Gräbel: Erforschung, S. 127. 64 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 23-24. 65 Ebd., S. 22-24. 66 Ebd., S. 12. 67 Ebd., Savanne, S. 24.
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te, die sie an die rem übergaben, Dschang als Erwerbungsort angaben. Aber auch »Fongo-Ndeng« ist ein Eintrag in der Objektliste. Im Reisetagebuch schrieb Marie Pauline Thorbecke zwar, dass sie kurz nach ihrem Einzug im Rasthaus in Dschang von Abgesandten lokaler Herrscher mit Gastgeschenken besucht worden seien und sogleich auch einige Objekte von ihnen kauften, darunter auch »Basttaschen«, aber ob es die »Basttasche« mit der Objektnummer 17 ist, kann nicht abschließend geklärt werden. Interessant ist dabei, dass für beide Objekte in der Objektliste als Kaufort Dschang eingetragen, aber der Ort »Fongo-Ndeng« zusätzlich vermerkt wurde.68 Fongo-Ndeng ist ein etwa zehn Kilometer von Dschang entferntes Dorf. Ich konnte 2016 den Ort in der Regenzeit auf unasphaltierten, bergigen Straßen in ein bis zwei Stunden mit dem Auto erreichen. Deshalb ist es auch denkbar, dass ein Abgesandter des Chiefs von Fongo-Ndeng mit einem Reittier oder zu Fuß den Ort Dschang erreichen konnte, um die Thorbeckes zu treffen. Eine andere Möglichkeit, die mir etwas naheliegender erscheint ist, dass die Künstler und Handwerker des Ortes Fongo-Ndeng zum Verkauf ihrer Produkte ohnehin regelmäßig nach Dschang kamen, da der Markt und die Handelsnetze in Dschang damals schon größer gewesen sein mochten als in Fongo-Ndeng. Der Künstler Eyonglé Mathias Djoumessi aus Fongo-Ndeng, der mit 2016 als der beste Künstler des Dorfes vorgestellt wurde, erzählte mir, an den Tagen vor dem Markttag in Dschang, dort zu arbeiten und zu übernachten. Diese Möglichkeit halte ich auch im Jahr 1911 für denkbar.69 Die Reisegruppe Thorbecke hatte nach eigenen Angaben Bargeld, Schecks und jede Menge Tauschware dabei, womit sie ihre Verpflegung, ihr Personal, dessen Verpflegung und die Ethnographika bezahlen konnten. Für die Tasche wird auf der Karteikarte der Kaufwert 25 Pfennig angegeben. Dieser Betrag kam dadurch zustande, dass die Thorbeckes zwei Basttaschen zusammen in ihre Objektliste eintrugen und als Tauschwert für beide 25 Pfennig angaben.70 Für eine der beiden Taschen trug das Museumspersonal die Hälfte des bezahlten Wertes in die dazugehörige Karteikarte ein.71 Ob die eingetauschten Waren bzw. Beträge dem jeweiligen Tauschwert der Objekte angemessen waren, müsste durch weitere historische Forschung zu den damals üblichen Marktpreisen geklärt werden. Zwei Varianten sind möglich: Sie könnten für die Objekte mehr als die lokal üblichen Beträge bezahlt haben, aber auch zu wenig, weil sie sich unter den gegebenen Umständen, nämlich wegen der Verbindung zur Kolonialverwaltung
68 Objektliste Thorbecke. 69 Interview Djoumessi. 70 Karteikarte; Objektliste Thorbecke, Inventarliste. 71 Karteikarte.
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und zur Militärstation zum Feilschen frei fühlten. Im Reisetagebuch sind die Handelssituationen so beschrieben – zwar in abwertender Weise, was vielleicht auch auf die eigene unterlegene Position in dieser Situation hindeuten kann – dass der/die Sammler/in sehr gewandten Händlern gegenüberstanden und sich beide Parteien erst nach längerem Hin und Her handelseinig wurden.72 Worüber uns die zugeordneten Kaufpreise und die Darstellung von einzelnen Handelsszenerien nicht so einfach hinwegtäuschen sollte, ist, dass Forschungsreisende in Kolonien, die lokale Bevölkerung und auch die Marktverkäufer aufgrund ihrer Nutzung der kolonialen Infrastruktur und Nähe zu kolonialen Militärs- und Ver73 waltungsstationen einschüchtern und sie vielleicht sogar berauben konnten. Dass sie gewalttätig wurden, erfahren wir explizit im Reisetagebuch, aber dass sie die Menschen unter Gewalt ihrer Waren beraubten, steht in der Regel nicht so offen in den Reiseberichten der Forschungsreisenden.74 Als sich die Thorbeckes von Haussa-Händlern betrogen fühlten, die ihnen für ihre Begriffe für zu viel Geld ein Pferd verkauft hatten, das kurze Zeit später erkrankte, griffen sie auch auf die »Hilfe« der »Station« zurück, um sich das bezahlte Geld von dem Händler zurückerstatten zu lassen. Alleine hatten sie keinen Erfolg gehabt, das Geld zurückzuerhalten, da der Händler damit argumentierte, dass der Handel abgeschlossen war.75 Das Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen zwischen Forschungsreisenden und der lokalen Bevölkerung hatte sich im Zuge des Kolonialismus in Kamerun nicht nur deshalb verschärft, weil die Reisenden oft bewaffnet waren oder von bewaffneten Soldaten begleitet wurden. Die kolonialen Ordnungsvorstellungen prägten nun auch die Beschreibungen der Reisenden. Laut Gräbel erfuhr man aus früheren Reiseberichten wesentlich mehr über einzelne Reisegefährten innerhalb der Karawane. Das Verhältnis zu ihnen habe sich ab Ende des 19. Jahrhunderts jedoch verändert und so fände keine Individualisierung der Einzelnen mehr statt und der Umgangston sei auch rauer geworden.76 Auch die lokalen Handelsstrukturen hatten sich während der deutschen Kolonialherrschaft in Kamerun verändert. Die Märkte vor den Chefferien wurden zum Teil durch deutsche bzw. europäische Kaufhäuser ersetzt und die Reichsmark als Währung eingeführt.77 Durch diese Veränderung hätten die Kunstobjekte, die als
72 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 22-23. 73 C. Gräbel: Erforschung, S. 134-135. 74 Ebd., S. 146-158; offen schreibt M.P. Thorbecke über die Verwendung der Peitsche hier: M. P. Thorbecke: Savanne, S. 9-10. 75 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 28. 76 C. Gräbel: Erforschung, S. 128-131. 77 D. Malabon: Patrimoine, S. 161.
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ethnologische Sammlungen nach Deutschland bzw. Europa kamen, ihren Prestigestatus eingebüßt. Denn die Möglichkeit der Verfügung über solche Objekte von nun an durch Geld bestimmt wurde.78
ZUSAMMENFASSUNG Am Herkunftsort der Tasche habe ich sie mit ihrer Herstellung, ihrem Gebrauchskontext und ihrer Bedeutung innerhalb von sich wandelnden gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert. Das hat den Symbol-Charakter und eine politisch und spirituell aufgeladene Bedeutung der Tasche ergeben. Auch zu den gesellschaftlichen Veränderungen in der Herkunftsregion, die durch den Einfluss europäischer Herrschaft und Handelsstrukturen ausgelöst wurden, zeigte die Tasche durch ihre veränderte und nun ambivalente Bedeutung Verbindungen. Durch die Rückbindung an die Herkunftsregion haben sich jedoch keine Verbindungen offenbart, die den konkreten Erwerb und das individuelle Leben Tasche betrafen, nachdem sie die Region verließ. Im musealen Kontext konnte die Tasche nur wenige Verbindungen zu ihrer Umwelt vorweisen. Sie wurde im Depot verschlossen und war in den letzten 115 Jahren nur für einzelne Personen sichtbar. Sie war auch mit den finanziellen und personellen Engpässen und dem schwierigen Stand der Völkerkunde in Mannheim verbunden, weshalb sie vielleicht auch ihr Dasein im Depot fristete. Die Verknüpfung mit dem »Sammler«, bzw. in diesem Fall den Sammler*innen, ermöglichte die weitere Verknüpfung zu Djimbe, dem jungen Mann, der ein Begleiter der Reise war. Seine mögliche Verbindung zur Tasche wird durch den Reisebericht Marie Pauline Thorbecke sichtbar. Es könnte Djimbe gewesen sein, der die Tasche ausgewählt und durch sein Handlungsgeschick erworben haben. Weitere Verflechtungen auf der Akteurs-Ebene könnten wieder sichtbarer werden, wenn durch Archivrecherchen und oral history andere Personen ausfindig gemacht werden könnten, die zur Karawane gehörten und deshalb an der Situation der Erwerbung beteiligt waren. Das Potenzial der Tasche, neue Beziehungen auszulösen, kann nicht ausgeschöpft werden, solange sie weiterhin im Depot verbleibt. In gewisser Weise hat ihr ihre lange Vergangenheit im Depot bzw. im Museum auch den Weg nach außen für immer verschlossen. Sie wurde in all der Zeit mit Pestiziden und anderen Chemikalien behandelt, um sie möglichst lange im Depot zu erhalten. Was könnte aber die Perspektive für die Tasche sein?
78 Ebd.
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Diese Frage habe ich teilweise mit den Interviewten Personen diskutiert, sofern sich die Gelegenheit ergab. Der Chief von Bansoa hatte beklagt, dass die kulturellen Objekte seiner Region früher von den Kolonialherren geraubt worden waren und nach der Unabhängigkeit von den Maquis79 verbrannt wurden. Deshalb hatte er aber kein Interesse daran, dass die »geraubten« Objekte wieder nach Kamerun zurückkommen sollten oder eines der Objekte, deren Abbildungen ich ihm zeigte. Er hat sehr entschieden eingefordert, dass diese Objekte, damit auch die Tasche, in Deutschland bleiben sollten, aber mit der notwendigen Wertschätzung ihrer Existenz. Diese Objekte sollten seine Kultur und Traditionen in Deutschland vertreten und damit auch seine persönliche Beziehung zu Deutschland, die historischen Berührungspunkte Deutschlands und seiner Chefferie sowie anderer Orte der Region repräsentieren.
79 Während des im Untergrund geführten bewaffneten Kampfes gegen die französische Kolonialherrschaft und die erste unabhängige Regierung Kameruns.
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Vlasta, Sandra: Reisen und davon erzählen. Reiseberichte und Reiseliteratur in der Literaturwissenschaft, http://literaturkritik.de/id/21077 (abgerufen am 07.06.2017).
ARCHIVALISCHE QUELLEN Brief von Franz Thorbecke an Prof. Dr. Walter vom 08.01.1932, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen, o. Datum Brief von Prof. Dr. Walter an Prof. Dr. Thorbecke vom 15.01.1932, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen, o. Datum Führungsblatt der Ausstellung »Kamerun. Kulturvölker der Savanne. Sammlung Thorbecke 1911/12«, rem Mannheim, 1980. Inventarliste, handschriftl., Konvolut Thorbecke, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen, o. Datum. Karteikarte, IV Af 8054, rem Mannheim, Abt. Weltkulturen, 1964. Objektliste Thorbecke, handschriftl., rem Mannheim, Abt. Weltkulturen, o. Datum.
INTERVIEWS Olivier, 39 Jahre, Mitarbeiter des Tourismusbüros in Dschang, im Tourismusbüro Dschang, 10. August 2016. Deko, 25 Jahre, Doktorand der Biologie und Künstler, Universität Dschang, Foto (Dschang), 11. August 2016. Tato, Künstler, vor seinem Haus in Nzempouet. Dschang, 12. August 2016. Chef 3. Dégré von Bansoa, in der Chefferie Bansoa (Penka-Michel), 14. August 2016. Réné Poundé, 74 Jahre, Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler, in seinem Haus in Foto (Dschang), 14. und 15. August 2016. Emile Landry Tatang Temgoua, Chef Superieur 2. Dégré Groupement FongoNdeng, in der Chefferie Fongo-Ndeng (Dschang), 23. August 2016. Eyoung`lé Mathias Djoumessi, Künstler und Kaffeeplantagenbesitzer aus Fongo-Ndeng, in seiner Verkaufswerkstatt in Foréké (Dschang), 04. September 2016. Guide Mankon, Museum of Mankon Palace, Mankon (Bamenda), 15. September 2016. Guide Bafut, Museum of Bafut Palace, Bafut (Bamenda), 15. September 2016.
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Prof. Dr. Esaïe Djomo, Professor für Germanistik an der Universität Dschang, in seinem Büro an der Universität Dschang, 20. September 2016.
Franz und Marie Pauline Thorbecke zwischen Fiktion und Realität Eine geokritische Untersuchung zu Im Hochland von Mittel-Kamerun und Auf der Savanne Omer Lemerre Tadaha
»Das Ziel einer Reise ist die Rückkehr, die Heimat, der Gegenpol zur Fremde.«1 Bei der Rückkehr trägt der Reisende seine Erfahrungen vor, stellt seine Sammlungen oder Funde aus und wird dadurch berühmt. Die Rückkehr ist das Symbol einer gelungenen Reise, denn die Ausfahrt symbolisiert die Tapferkeit, die Bewährung zur Prüfung menschlicher Reife.2 Sicherlich waren Franz und Marie Pauline Thorbecke dessen bewusst, als sie sich auf den Weg nach Kamerun »ins innere, dunkle Afrika« machten.3 Zugleich als reisende Forscher und Abenteurer setzten sie sich zum Ziel, Daten und Schätze anzuhäufen, die sich nach der Rückkehr in Deutschland in wertvolle Funde verwandeln konnten. Im Hochland von Mittel-Kamerun. Teil.2 Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes und Auf der Savanne gehören zu den wertvollen Schriften, die Franz und Marie Pauline Thorbecke zur wissenschaftlichen und historischen Anerkennung geführt haben.4 Der Ruhm Thorbeckes erweist sich als die Verwirklichung der »Träume im Tropenlicht«5, einer Selbstprophe-
1
A. Pytlik: Träume im Tropenlicht, S. 79.
2
Ebd.
3
Ebd., S. 27.
4
Das Forschungsprojekt »Koloniale Verbindungen«, das den Thorbeckes zum Teil gewidmet worden ist, ist ein Beweis dieser historischen und wissenschaftlichen Anerkennung.
5
Ebd. S. 45.
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zeiung, die in ihren Werken zur Sprache gebracht wurde. Es geht in diesem Beitrag darum, zu untersuchen, wie sich Franz und Marie Pauline Thorbecke durch die Fiktionalisierung und die anthropogeographische Untersuchung des kamerunischen Graslandes einen Namen gemacht hatten. Fiktion und Realität scheinen in den Werken Thorbeckes ein und dasselbe zu sein. Im gewählten Korpus erscheint das Grasland Kameruns als geographischer Spielraum, wo Menschen als Fiktionsfiguren fungieren und mit dem Raum interagieren, was zu einer geokritischen Analyse gut passt.
ZUR GEOKRITIK UND ANALYSE VON ARGUMENTATIVEN UND FIKTIONALEN TEXTEN Dieser Beitrag stützt sich auf die Geokritik, die sich in den 2000er Jahren entwickelt hat. Der Pionier dieser besonderen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Raum ist Bertrant Westphal. Dieser schlägt einen Ansatz vor, der den literarischen und menschlichen Raum in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Der Untersuchungsgegenstand der Geokritik ist der Zwischenraum, der Übergangsraum zwischen dem auf einer Landkarte identifizierbaren Raum und dem von ex-nihilo erfundenem Raum. Es geht in der Geokritik darum, die Frage zu beantworten, wie die Phantasie und das literarische Schreiben wirkliche Räume transformieren. Räumliche Referenzen im literarischen Text werden für zwischenräumliche Indikatoren gehalten. Sie können auch als Mnemotopen gelten, d.h. als Elemente, die auf wirkliche Räume zurückrufen. Die Geokritik beschäftigt sich auch mit dem Zusammenhang zwischen Raum und literarischen Darstellungsformen. Als wissenschaftliche Beschäftigung mit der Interaktion zwischen Menschen/Figuren und Lebensraum legt die Geokritik die Betonung auf vier Leitpunkte: die Multifokalisation, die Polysensorialität, die Stratigraphie und die Intertextualität.6 In der Multifokalisation handelt es sich um die Autorenperspektiven, wie der Raum wahrgenommen wird. Drei Perspektiven werden hier hervorgehoben, nämlich eine endogene Perspektive, eine exogene Perspektive und eine allogene Perspektive. Die endogene Perspektive ist die von einem Einheimischen. Sie setzt voraus, dass der Autor seinen eigenen Lebensraum fiktionalisiert. Bei der exogenen Perspektive ist der Autor ein Fremder und hält den fiktionalisierten
6
B. Westphal: Géocritique, S. 149-199.
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Raum für exotisch. In der allogenen Sicht hat sich der Autor in dem Raum etabliert aber betrachtet den Gastraum in der fremden Perspektive. Bei der Polysensorität wird die Interaktion zwischen dem Raum und den Sinnesorganen betont. Die Leitfragen sind: Wie wird der Raum durch Sinnesorgane wahrgenommen? Welche Emotionen werden dabei ausgelöst? Welches Handeln wird dadurch ausgelöst? Die Stratigraphie betrifft die Zeiteinstellung bzw. deren Wahrnehmung. In der Geokritik wird angenommen, dass die Zeit eine zentrale Rolle in der Fiktionalisierung des Raumes spielt. Die Zeit kann mechanisch oder kulturell sein. So wird sie je nach Gesellschaft monochron oder polychron betrachtet. Das dritte Paradigma der Geokritik ist die Intertextualität bzw. Intermedialität. Die Interaktion zwischen dem literarischen Text und anderen Textsorten und Medien ist auch ein wesentliches Untersuchungsmodus der Geokritik. Diese Interaktion kann zur Heroisierung oder zur Mystifizierung führen. Das Grasland oder das Ost-Mbamland, die die Thorbeckes bereist haben, sind dank der Phantasiekraft der reisenden Protagonisten transformiert. Diese Transformation lässt einen imaginären Zwischenraum entstehen, in dem Fiktion und Realität interagieren. 1. Ein deutscher Geograph, eine deutsche Malerin und Photographin und das Gras- und Hochland von Kamerun Es geht vielmehr um die Art und Weise, wie sich die Thorbeckes als beobachtende Instanzen in die exotische und unbekannte Fremde projizieren. Das historische, kulturelle und geographische Grasland oder das Ost–Mbamland verschwindet und wird in der Phantasie zu einer Wiese im Gebirge, wo Romantiker meditieren, die Natur bewundern und genießen. Deshalb tauchen in den Texten zwei Beobachtungsperspektive auf: eine exogene und eine allogene. 1.1 Eine exogene Vogelperspektive Die exogene Vogelperspektive ist die Beobachtung von oben. Sie liefert ein Panorama, einen Ausblick von einer erhöhten Position aus in die Runde, über die Umgebung und Landschaft hin. Von oben beobachtet spielen die Details keine Rolle. Das Wesentliche ist, das was die Augen wahrnehmen: der Horizont, die Landschaft (die Hügel, Täler und Canyons, Flüsse und Bäche, usw.), die Vögeloder Insektenschwärme, das Farbenspiel der Natur. Der Beobachtende ist hier fremd und seine Beschreibung sollte neutral sein.
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Schon im ersten Satz des Vorworts von seinem Buch schreibt Franz Thorbecke: »Erst jetzt kann dem ersten Teil der Veröffentlichungen über meine Forschungsreise nach Kamerun ein zweiter folgen.«7 Die Erwähnung der Forschungsreise weist darauf hin, dass er in der Fremde war, und den Leser darauf vorbereitet, die Peripetien der Kamerunodyssee mitzuerleben. Er ist von der Reise zurück und präsentiert seine Funde. Der Titel des ersten Kapitels des Buches lautet »Die Natur des OstMbamlandes« und dehnt sich auf sieben Seiten aus. Zusammenfassend beschreibt das Beobachtende Subjekt das Sichtbare ohne weitere Details. Die geographische Lage, die Gewässer, das Klima und die Vegetation sind die Leitfäden seines Beschreibungsunternehmens. Das Ost-Mbamland, das metaphorisch von Franz Thorbecke als »welliges Land«8 genannt wird, liegt im Joko-Bezirk und ist für seine Berge und Plateaus charakteristisch. Wie auf einem erhöhten Aussichtpunkt stehend dreht das beobachtende Subjekt und zieht die Grenzen des Ost-Mbamlandes. Im Osten, im Westen und im Südwesten fließen die Flüsse Mbam, Djerem und Sanaga. Im Norden erstreckt sich die Hochfläche von Tibati und im Süden liegt das SanagaTal. Das Ost-Mbamland ist atemberaubend. Die Savannen, die Grasfluren, Bäume und Flusswälder verschönen die Gegend. Metaphorisch und hyperbolisch wird die Gegend wie folgt beschrieben: »das wellige Land hat im Durschnitt eine Meereshöhe von 600 bis 1000 m. Aus ihm erheben sich Einzelberge wie Inseln aus dem Grasmeer; oft sind sie vergesellschaftet und bilden dann Inselberglandschaften.«9 Im Gegensatz zur Wüste ist die Natur im Ost-Mbamland grün, dank eines besonderen Klimas. Es sind in dieser Gegend zwei Jahreszeiten zu unterscheiden: eine kurze Trockenzeit und eine sehr lange Regenzeit (9 Monate). So können alle Pflanzen ihre Blätter stets grün halten. Es ist ein Spielraum für ein natürliches, spektakuläres Theaterspiel zwischen den Wolken und den Winden. Franz Thorbecke ist beeindruckt: »Von erhöhten Punkten aus, von einem Inselberg […] kann man dann sehen wie die Regenkörper als graue Säulen in bestimmten Abständen nebeneinander zwischen Himmel und Erde über der Landschaft stehen und mit dem Wind, meist von O nach W, über das Land hinziehen.«10 Das Grasland ist eine Savannenwelt, ein Übergangsgebiet zwischen dem immer
7
F. Thorbecke: Hochland, 2. Teil, Vorwort.
8
Ebd., S.3.
9
Ebd., S.1.
10 Ebd., S.5.
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feuchten Wald und der trocknen Steppe. Flusswälder auf beiden Seiten der Flüsse sind für die Savanne im Grasland charakteristisch. Wie Franz betrachtet Marie Pauline das Grasland in einer fremden Perspektive. Im Vorwort ihres Buches werden die Gründe ihrer Reise nach Kamerun klar vorgestellt: »Die Aufgaben der Reise waren die geographische und wirtschaftliche Erforschung der Landschaften Tikar und Wute und die Gewinnung einer ethnologischen Sammlung aus den von uns durchzogenen Gebieten.«11 Als Malerin hatte sie ihren Mann in der Expedition »Forschungsreise der deutschen Kolonialgesellschaft« begleitet. Neben ihrem Status der Ehefrau hat sie als Malerin im Projekt mitgearbeitet. Darüber hinaus hat sie individuelle Projekte entwickelt. Tagesbriefe gehören zu ihrem literarischen Projekt, das auf dem Weg entstanden war. Sie setzte sich zum Ziel, Vorurteile gegenüber Kamerun in Deutschland zu bekämpfen. Ihr Schreibprojekt erfolgt einer Feststellung: »Kamerun hat einen schlechten Ruf, sein Klima gilt als sehr ungesund.« 12 Sie solidarisierte sich mit Kamerun und engagierte sich freiwillig für die Verschönung des Kamerunbilds in Deutschland. Ihr Wunsch ist folgendermaßen ausgedrückt: »Wenn es mir gelingt, Kamerun neue Freunde zu gewinnen und Vorurteile beseitigen zu helfen, so ist der Zweck dieser Blätter erfüllt.« Ihr Buch ist ein Rückblick auf die Kamerun-Reise. Von ihrem Schreibzweck ausgehend, kann erwartet werden, dass die Schreibweise ihren eigenen Zielsetzungen entsprechen. Das Tagebuch beginnt mit einer Zeichnung, einem Panorama, das vom Meer aus den Kamerunberg in der Ferne veranschaulicht und im ersten Satz steht: »Nun sind wir wirklich da, und all die Aufregungen, die schlimme Hitze der letzten Wochen vor der Ausreise liegen fern hinter uns.«13 Das erste Kapitel des Buches lautet sogar »Die Eindrücke der Tropen«. Es wird klar, dass der Leser mit subjektiven Beschreibungen rechnen sollte. Die Beschreibungen bringen natürlich zum Träumen, wie die Erzählerin der Landschaft mehr Wert vergibt. Vom Meer aus kann man nicht genau sehen, was in der Ferne liegt. Man kann nur einen globalen Blick schaffen. »phantastische Bilder folgen, sobald man in einem der Häfen an Land geht; das leuchtende Rot des Bodens, das unbeschreiblich satte Blau weiter Gewänder auf dunklen, bronzefarbenen Gestalten brennen sich förmlich in den Augen ein.«14 Die Mangrovenwelt der Küste fungiert als ein Tor zum inneren Kamerun.
11 M. P. Thorbecke: Savanne, Vorwort. 12 Ebd., S. 1. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 3.
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Mit den ersten Eindrücken wird der Status der Erzählfiguren ans Licht gebracht. Sie sind fremd in Kamerun und geben einen globalen Blick, von dem was vor ihnen liegt. 1.2. Die allogene Perspektive oder eine Sicht von Innern Diese innere Beobachtungsperspektive geht von dem beobachtenden Subjekt aus, das sich in der Fremde etabliert hat, aber das Fremde geblieben ist. Der lokale Wohnraum wird bei ihm zum neuen Aussichtspunkt. Die Details werden bei der Beschreibung einbezogen, denn der Beobachtenden ist der Realität nah. Da er sich mit der Fremde nicht identifiziert, interessiert ihn die Andersartigkeit, das exotische, dass in seiner Heimat fehlt. Er fungiert als Augenzeuge und gewinnt bei dem Leser mehr Vertrauen. Die Forschungsreise des Ehepaares Thorbecke dauerte insgesamt drei Jahre nämlich von 1911 bis 1913. Während ihres Aufenthaltes durchziehen die Thorbecke das kamerunische Grashochland und das Mbamland. Die Ortschaften Douala, Nkongsamba und Santchou im Manengubahochland, über die sie gehen, sind Haltestellen, die eine symbolische Rolle spielen. Diese Ortschaften sind in der gleichen Zeit unentbehrliche Übergangswege. Sie sind der Eingang und der Ausgang ins und aus dem fernen Westkamerun, das für eine Kaverne gehalten wird. Franz Thorbecke übernimmt hier den Status des Forschers, der alles wissenschaftlich erklärt. Als Anthropologe und Geograph will er der Realität nah sein, um sie näher zu untersuchen und zu beschreiben zu können. Die Feldforschung ist bei der Datenerhebung unentbehrlich. Er muss systematisch verfahren, um die Klarheiten seiner Aussagen zu sichern. Als Geograph untersucht er den Boden, die Vegetation, das Klima, das Gewässer und zeigt genau wie diese Naturelemente interagieren.15 Was er aber außer Acht lässt, ist die Fauna. Wie kann sich ein Leser einen Busch, die Wildnatur vorstellen, wo es keine Tiere gibt. Seine Naturwelt wird künstlich. Bei den anthropologischen Untersuchungen beschäftigt er sich mit den Siedlungswellen und mit der Bevölkerung des OstMbamlandes. Die Lebensweisen, Sitten und Bräuche werden so von außen beschrieben, dass man den Eindruck gewinnen könnte, dass es bei den Völkern des Ost-Mbamlandes nur Machtbeziehungen gibt. Symbolische Werte, religionsbezogene Verhaltensweisen, Emotionsausdrücke werden nicht beschrieben. Nur wird der Bezug zur Natur betont, die Anpassung an die Natur. Franz hebt in seinen Beschreibungen besonders die Andersartigkeit hervor. Vergleichend bringt
15 F. Thorbecke, Hochland, besonders das Inhaltsverzeichnis.
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er den exotischen Status des Grashochlandes ans Licht, indem er beispielsweise sagt: »Ackerbau mit Pflug und Zugtier in unserem Sinn betreibt der Eigeborene des Ost-Mbamlandes so wenig wie der des übrigen tropischen Afrikas.«16 Franz Thorbecke folgt seinem Auftrag. Er sieht nur, das was für die wirtschaftliche Erschließung des Nordhinterlandes für die Koloniallobby wichtig ist. Er muss Rechenschaft bei der deutschen Kolonialgesellschaft abgeben. Die Hauptfigur Marie Pauline ihrerseits lebt in einer parallelen Welt, die sie selbst gestaltet und dominiert. Sie lebt ständig wie in den Träumen. Besessen von ihrem Projekt der Verschönung des Kamerunbilds schafft sie es, eine Welt aufzubauen, wo der Raum im Vordergrund steht, während menschliche Lebewesen im Hintergrund bleiben. Zwar will sie Kamerun als einen Ort vorstellen, wo sich Europäer sich wohl fühlen können, aber wie wird eine Welt ohne Menschen aussehen? Einer der seltenen Momente, in dem sie aus diesem künstlichen Schlaf erwacht, ist, als ein Zwischenfall auf dem Weg nach Tibati geschah. Franz Thorbecke hatte dem Headman des kleinen Dorfes Djibba eine Ohrfeige gegeben und dieser wollte sich rächen. Leider hat seinen Speer nicht Franz, sondern Marie Pauline am Kopf getroffen. Nur in diesem Moment beschreibt Marie Pauline die Figuren, die alles unternehmen, um ihr das Leben zu retten: Er reißt das Moskitonetz hoch, fasst zu, ein Ruck, bei dem ich glaube, die ganze Kopfhaut wird abgerissen, noch einer – Gott sei Dank, es ist heraus […] Und dann ist unser ganzes Volk da, Licht flammt auf, die Sturmlampe flackert, und während franz die Wunde untersucht, Haare abschneidet, desinfiziert und das Blut abwäscht, wobei er feststellt, dass der Speer am Felsenbein abgeprallt und wohl zehn Zentimeter tief zwischen Knochen und haut eingedrungen ist. 17.
Als Akademiker und Forscher beobachtet, analysiert und zeichnet Franz, während Marie Pauline beobachtend, malend und beschreibend fungiert. Bei der Datenerhebung und der schriftlichen und graphischen Fixierung der Forschungsergebnisse mischen sich Vernunft und Phantasie. Daraus entstehen neue Funktionen. Zum Status des Forschers und Künstlerin kommt ein neuer Status hinzu. Franz und Marie Pauline werden zu Abenteurern und Helden, die unbekannte Ortschaften bereisen, die der Feindlichkeit und allen Gefahrformen in der Fremde überleben. Die Habilitationsschrift, die Zeichnungen, die Fotos und die Aquarelle, die während der Forschungsreise entstanden, können als unterschiedliche Versionen eines gemeinsamen Abenteuerberichts betrachtet werden. Franz und
16 F. Thorbecke, Hochland, S. 51. 17 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 174-175.
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Marie Pauline Thorbecke sind Hauptfiguren im eigenen Abenteuerbericht und ihr Überleben in der gefährlichen Fremde verdanken sie ihren Sinnesorganen, die den Lebensraum wahrnehmen und das Handeln auslösen. Die Wahrnehmung des Raumes entsteht in der Interaktion zwischen dem Raum und den Sinnesorganen. Der Raum fungiert als Stimulus. Die Sinnesorgane werden von außen stimuliert und regiert. Diese Reaktion auf den Stimulus erzeugt dann Emotionen, die sich durch körperliche Anregungen manifestieren. Das Ganze kann dann das Handeln der Figuren auslösen. Die Figur wird so vom Raum als Geisel genommen, wird zur Marionette und agiert nicht mehr aus eigener Hand, sondern macht, das was vom Raum indirekt diktiert wird. Bei Franz Thorbecke ist die Raumwahrnehmung visuell, kognitiv und kommunikativ. Er schränkt sein Handeln auf das Sehen, Reflektieren und Beschreiben ein. Seine Stimuli sind unter anderen die Natur, die Landschaft, die Bevölkerung, die Lebensweise, die menschliche Wirtschaft, die Viehhaltung, der Verkehr um nur diese zu nennen.18 Diese sind sichtbare Aspekte des Raumes, die sich auf seine Sinnesorgane auswirken. Als Augenzeuge bereist er das »Grashochland«, kommt der Realität nah und schaut hin. Nur das Sichtbare ist ihm am wichtigsten: In zweimaligem Wechsel ändert die Natur im Grasland der Savanne ihr Aussehen im Lauf eines Sonnenjahres, zur Regenzeit und zur Trockenzeit. […] Am Ausgeprägtesten wechselt die Grasflur, besonders die der Savanne, Kleid und Aussehen in den beiden Jahreszeiten: während der Regenzeit üppigstes Wachstum oft riesiger Gräser, eine Fülle von Laub auf allen Bäumen, saftiges grün wohin man blickt; in der Trockenzeit eine gelbe, dürre Grasöde, schwarze Flecken frisch gebrannter Flächen, kahle Bäume mit dicker, hellgrauer Borke, Alles gelbgrau in der dunstigen Luft.19
Aus diesem Zitat geht hervor, dass die Augen des beobachtenden Subjektes besonders aktiviert bzw. stimuliert sind. Die Personifikation der Natur durch »Kleid und Aussehen« und das Farbenspiel »grün, gelb, schwarz, hellgrau, gelbgrau« betonen die idealisierte visuelle Wahrnehmung des Raumes. Franz Thorbecke würde den Standpunkt vertreten, dass nichts sehenswerter als das Grasland wäre. Interessant an menschlichen Wesen sind nur ihre Siedlungen und Alltagsaktivitäten, die dem Beobachtenden auffallen. Während die Figur Natur und Menschen betrachtet, wird der Verständnisvorgang ausgelöst. Die sichtbaren Aspekte
18 F. Thorbecke: Hochland, S. IV-X. 19 Ebd., S. 6.
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des Raumes werden nun reflektiert, mit der Absicht, ihnen eine Bedeutung zu vergeben. Hier wird das Sichtbare systematisch unter die Lupe genommen. Der Beobachtende übernimmt in diesem Fall den Status des Forschers, der sich mit den Raumrealitäten auseinandersetzt. Als vernunftbegabter Mensch, bedient sich die Figur ihres Gehirns. In diesem rationellen Blickwinkel kann verstanden werden, warum sich das Subjekt als Geograph für Natur, Wetter und Klima interessiert. Darüber hinaus beschäftigt sich das wahrnehmende Subjekt als Anthropologe mit Menschen mit deren Geschichte und Lebensweisen. Alle Details werden in Betracht gezogen. Das Verfahren bei Franz Thorbecke ist induktiv, vergleichend bzw. kontrastiv. Er geht von bekanntem deutschem Raum aus und analysiert den unbekannten Graslandraum, den er abschließend als exotisch und andersartig betrachtet, wie es in den folgenden Zeilen zu lesen ist: »Selbst in der primitiven Wirtschaft der Bewohner des Ost-Mbamlandes können wir deutlich unterscheiden Ortschaften, in denen Nahrungsmittel gebaut, und solche, in denen sie verzehrt werden, ein ähnlicher Unterschied wie bei uns zwischen Land und Stadt.«20 Diese intellektuelle Aktivität schließt natürlich emotionsorientierte Erklärungen aus, um auf die scheinbare Objektivität großen Wert zu legen. Nachdem die Vernunft die Ordnung und Logik in den vermutlich chaotischen Graslandraum gebracht hat, wird die Phase ausgelöst, wobei Wissen oder Vorstellungen über das Wahrgenommene vermittelt und verbreitet sein sollen. Die graphische, ikonografische oder schriftliche Fixierung der Erkenntnisse über den fremden Raum setzt voraus, dass das handelnde Subjekt über Kommunikationsfähigkeiten verfügt. Zu diesem Kommunikationszweck dienen die Medien, für die sich die Figur entscheidet. Zu den Medien, in denen Franz Thorbecke seine wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Ost-Mbamland speichert, gehören das Manuskript argumentativer Texte, 37 Abbildungen, 26 Tafeln und 2 Kartenskizzen.21 Bei Marie Pauline Thorbecke ist der Wahrnehmungsprozess visuell, haptisch und kommunikativ. Marie Pauline Thorbecke konzentriert sich auch viel mehr auf die Natur. Städtenamen sind in ihrem Reisetagebuch sehr präsent. Die Titelbezeichnungen der Kapitel sind nach Ortsnamen und linear angeordnet. Sie sind wichtige Haltestationen, die ihre Reiseroute bezeichnen. Sie sind so geordnet, dass man sie auf der Landkarte Kamerun identifizieren kann und sie mit einer Linie verbinden kann. Mehr als siebenundzwanzig Städte oder Stationen werden der Reihe nach erwähnt und gelten als räumliche Referenzen, sodass jemand, der ihnen folgen möchte, sich nicht verlaufen würde. Marie Paulines Beobachtungs-
20 Ebd., S. 35. 21 Ebd., Vorwort.
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perspektive ist, die von einer Kamerafrau, die alles aufnimmt, aber kommentiert und nur Einzelheiten beschreibt und kommentiert. Die Beschreibung der Spielräume ist bei ihr wichtiger als Lebensszenen. Sie beschreibt kaum Figurenhandlungen und legt den Akzent auf die Ergebnisse des Handelns. Alle Figuren, die zu ihrer Karawane gehören darunter ihr Mann, fungieren nur als Begleitfiguren. Ihre Namen werden nie erwähnt. Die Interaktionen zwischen den Figuren werden vernachlässigt. Nur das Resultat des Handelns zählt. Figuren, auf die sie die Aufmerksamkeit lenkt, sind zufällig getroffene Figuren, die ihre Reise besonders beeinflussen. Sie räumt zum Beispiel dem Chef der Militärstation in Dschang, dem König von Bana und dem Sultan in Foumban einen besonderen Platz in ihrer Erzählung ein. Der erste hatte für ihre Karawane Träger angeworben und bei den Vorbereitungen auf die Mbam-Reise mitgeholfen. Die letzten hatten ihr und ihrem Mann beziehungsweise in Bana und in Foumban wertwolle Objekte geschenkt und ihnen zu ehren Feste veranstaltet. Beschreiben als wahrnehmendes Handeln dient nicht nur zur Fixierung des Beobachteten, sondern auch zur Verschönung des sichtbaren kamerunischen Raumes wie sie es im Vorwort ihres Buches geplant hat. Die extreme Mobilität in dem Raum, das Malen, das Zeichnen und das Fotografieren sind Handlungsaktivitäten, die typisch für die haptische Wahrnehmung sind. Die Auswirkungen des Raumes auf die wahrnehmende Figur werden hier hervorgehoben. Sie manifestieren sich in der Form von Emotionen, die das wahrnehmungshandeln auslösen. Emotion als psychosomatisches Phänomen wird im schriftlichen Text durch den Stil, durch eine besondere Wortwahl zur Sprache gebracht. So gesehen können Subjektivität (Ausdruck persönlicher Impressionen, Gefühle und Meinungen) und Objektivität (Ausdruck wirtschaftlicher Wahrheiten) im Text analysiert werden. Die Figuren Franz und Marie Pauline Thorbecke schwanken zwischen Subjektivität und Objektivität. Der argumentative Text Franz´, dem eine Habilitationsschrift entstanden war, folgt dem wissenschaftlichen Prinzip der Objektivität. Trotzdem bestehen im Text manche Stellen, wo sich persönliche Eindrücke in Beschreibungen einmischen. Die Ich- und Wir-Erzählfiguren, die im Text Thorbeckes das Wort ergreifen, sind subjektive Instanzen. Die Ich-Figur taucht im Vorwort auf und fungiert als fiktionaler Stellvertreter von Franz Thorbecke. Im Vorwort präsentiert das lyrische Ich den Entstehungskontext des Textes und bedankt sich bei manchen Personen, die im Projekt mitgeholfen haben. Freude und Dankbarkeit sind hier zum Ausdruck gebracht. Im Haupttext verschwindet das Ich, aber bleibt im Hintergrund. Platz ist der Wir-Figur gemacht. Das Personalpronomen Wir wird zur symbolischen kollektiven Figur, die eine Menschengruppe vertritt. Das Wir bezieht sich nicht nur auf Franz Thorbecke und sein Forschungsteam, sondern
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auch auf die deutsche Gesellschaft, für die Thorbecke die Forschungsarbeit in Kamerun geleistet haben. Dabei verliert das wissenschaftliche Prinzip der Objektivität an Wert. Die Realitäten des Ost-Mbamlandes werden dann nur aus deutscher Sicht analysiert. Wird der historische Kontext in Betracht gezogen, dann kann diese Perspektive als kolonialistisch betrachtet werden. Die vielen Metaphern und Hyperbeln, die Franz Thorbecke benutzt, sind Beschreibungstechniken, die diese deutsche Perspektive unterstützen. Das Wir wird zum Ausdruck der Freude an einer kollektiven deutschen kolonialistischen Sichtweise. Franz Thorbecke bedient sich auch einer besonderen Ergänzungsstrategie. Bei den Beschreibungen von Situationen, wo Unklarheiten bestehen, sei es wegen Dokumentationsmangels oder wegen lückenhafter Übersetzung, werden Ergänzungen hinzugefügt. Ein anderer Blickwinkel könnte zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Festzuhalten ist, dass Subjektivität und Objektivität den Schreibstil von Franz Thorbecke charakterisieren, obwohl sein Text argumentativ aussieht. Bei Marie Pauline spielt die Subjektivität die Hauptrolle. Ihr Beitrag zum Forschungsprojekt ihres Mannes bestand, darin die Forschungsreise zu dokumentieren. Sie sollte fotografieren, zeichnen, fragen und aufschreiben.22 Der Arbeit, die sie im Projekt leistet, kann einer Ergänzungsfunktion zugeschrieben werden. Marie Pauline Thorbecke fixiert schriftlich, graphisch und ikonographisch das im Grashochland Gefühlte, während Ihr Mann das mutmaßlich Vernünftige niederschreibt. Das Reisetagebuch, die Zeichnung, das Malen, für die sich Marie Pauline entscheidet, sind fiktionale Mediengattungen, bei denen der Lyrismus eine bedeutende Rolle spielt. Die emotionellen Reaktionen der Figur Marie Pauline lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden. Auf einer Seite können von positiven Emotionen und auf der anderen Seite von negativen Emotionen gesprochen werden. Zu den positiven Emotionen gehören die Überraschung, das Wohlgefühl, die Euphorie, die Freude an Unbekanntem und Neuem. Die wunderbare Landschaft, die Oberflächengestalt des Raumes erwecken bei der Erzählfigur unkontrollierbare Gefühle. Marie Pauline drückt sich so aus: Wir sind durch wahre Wunder gezogen und haben seit Sanschu so viel Neues, Überraschendes gesehen, daß mir der Kopf schwirrt […] Dieser rote Boden! Es ist eigentlich die größte Überraschung für mich. In allen meinen Afrikaträumen hatte ich mir nie vorgestellt, daß die Wege hier rot sein würden. 23
22 M. P. Thorbecke: Savanne, S. 65. 23 Ebd., S. 16.
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Der Kopf, der Marie Pauline schwirrt, ist der Ausdruck der psychosomatischen Reaktion auf den Raum. Ausdrücke wie »wundervoll, fabelhaft, wunderbar, schön, phantastisch, großartig, merkwürdig«, um nur diese zu nennen, charakterisieren die positiven Emotionen, die im Tagebuch Marie Pauline geschildert sind. Die Dysphorie erlebt Marie Pauline in seltenen Situationen. Beispielsweise haben sich bei dem Angriff auf dem Weg nach Joko Angst und Schmerz in ihrer Abenteuerreise eingemischt. In Krankheitsfällen und in Situationen, wo sich Marie Pauline das Erhoffte nicht leistet, erlebt sie Enttäuschungen. Von dem Erlebten und Gefühlten herausgehend solidarisiert sich Marie Pauline Thorbecke am Ende ihres Buches, im Gegensatz zum Küstengebiet Duala, das europäisch aussieht, mit dem Grashochland, dem Raum, wo sie positive Eindrücke vermutlich gewonnen hat. Das Grashochland mit dem Küstengebiet vergleichend fügt sie hinzu: Da ich nun das ungebundene, wundervolle Leben in der Wildnis (im Grashochland) kenne, möchte ich nicht hier an der europäischen Küste (Großstadt Duala) leben. Von Afrika hat man nur die unerfreuliche Seite: furchtbare Hitze, Malariagefahr, im Vergleich zu Deutschland schlechte Wohnungs- und Verpflegungsverhältnisse. Das Schöne, die Freiheit des Lebens in der großen Natur, die tägliche Beobachtung von Neuem, Interessantem, das fehlt. 24.
Im geokritischen Ansatz spielt das Konzept der Intertextualität, nicht im Sinne von Julia Kristeva, eine bedeutende Rolle, insofern als die Wahrnehmung eines Raumes passende Darstellungsformen braucht, um das gezielte Publikum zu erreichen. In der Interaktion zwischen schriftlichen und ikonischen Formen wird der Raum sozusagen mediatisiert und dadurch berühmt gemacht. Caroline Doudet ist derselben Meinung und fügt hinzu: »la perception de l’espace ne peut qu’être médiatisée par d’autres textes, d’autres œuvres, et son étude ne peut faire l’économie de cette médiatisation.»25 Im Zusammenhang mit der Geokritik hält Westphal die Intertextualität für eine Interaktion zwischen unterschiedlichen Medien, die als Wahrnehmungssockel eines Raumes gelten. Es geht bei ihm um (Re-)Konstruktionen oder Metamorphosen eines Raumes in schriftlichen oder ikonischen Medien. Als solches lohnt es sich, so Rachel Bouvet, sich mit anderen Kunstformen am Beispiel der Kinematographie, der Malerei und der Fotografie auseinanderzusetzen, um die Art und Weise zu veranschaulichen, wie sie
24 Ebd., S. 231. 25 C. Doudet: Géocritique.
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den gleichen Raum behandeln. 26 Das Grashochland, das sich als Zwischenraum bei den deutschen Autoren Franz und Marie Pauline Thorbecke erweist, wird zur parallelen Welt, wo Fiktionsfiguren sich bewegen. Während sich der Raum in verschiedenen Medien (Text, Foto, Zeichnung, Abbildung) transformiert, bekommen die Figuren einen neuen Status. Der Raum wird berühmt und die Figuren werden zu Helden. Im Vorwort von Auf der Savanne steht: Auf einer wissenschaftlichen Expedition ins Innere Kamerun, die den Namen einer »Forschungsreise der deutschen Kolonialgesellschaft« trug, habe ich vom Herbst 1911 bis zum Beginn des Jahres 1913 meinen Mann, Dr. Franz Thorbecke, als Malerin der Expedition begleitet und mich auch an allen anderen Arbeiten beteiligt.27
So situiert Marie Pauline Thorbecke den historischen Kontext, in dem Sie Kamerun kennengelernt hat. Die Aufgabe ihrer Expedition bestand darin, die Landschaften des Tikar- und Wutelandes geographisch und wirtschaftlich zu erforschen und darüber hinaus ethnographische Sammlungen anzuhäufen.28 Natürlich wird gefragt, was eine Malerin mit so einer wissenschaftlichen Expedition zu tun hat. Als Begleiterin oder Mitarbeiterin hat sie im wissenschaftlichen Projekt ihres Mannes mitgewirkt und hat wahrscheinlich aus eigener Initiative parallele Projekte entwickelt und durchgeführt, nämlich Schreiben, Malen, Fotografieren und Zeichen. Ihr Buch Auf der Savanne, das 1914 in Berlin erschien, erweist sich als eine Mischung von künstlerischen Arbeiten, die sie auf der Kamerunreise geleistet hat. Sie veröffentlichte ihr Buch mit »16 Bildertafeln und Abbildungen im Text nach eigenen Zeichnungen und Photographien und einer Übersichtsskizze des Reisegebietes«.29 Das Unternehmen von Marie Pauline Thorbecke übt vor allem eine historische Funktion aus. Marie Pauline hat die Expedition dadurch dokumentiert. Ihre Texte, Fotos und Zeichnungen sind Archive, historische Beweise ihrer Kamerunreise und fungieren als historische Quellen. Sie tragen zusammen bei der Konstruktion des Wissens über Kamerun bei, indem sie sich ergänzen. Das Tagebuch oder der Tagebrief als literarische Gattung ist realitätsnah, denn es geht um eine
26 R. Bouvet: Géopoétique. 27 M. P. Thorbecke: Savanne, Vorwort. 28 Ebd. 29 Ebd, siehe Titelblatt.
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Beschreibung des Tagesablaufes. Was aber nicht detailliert beschrieben sein kann, wird von Marie Pauline fotografiert oder gezeichnet. Auf einer Seite sind Ereignisse, erzählt oder beschrieben und auf der anderen Seite sind Lebensszenen oder Lebenssituationen und Landschaften fotografiert und gezeichnet. Alle Details werden aufgenommen. In Auf der Savanne Texte, sind Fotos und Zeichnungen zusammengebracht, denn sie gehören zusammen. Sie schildern dieselbe Realität, nämlich das Grashochland. Die Fotos und Zeichnungen illustrieren, was im Text steht. Die künstlerische Arbeit von Marie Pauline ergänzt natürlich die wissenschaftliche Arbeit von Franz Thorbecke. Franz Thorbecke rekurriert auf die Arbeit von Marie Pauline, ist ihr sehr dankbar und schreibt im Vorwort seines Buches: »Wieder habe ich meiner Frau für ihre Hilfe beim Werden dieses Buches zu danken, viele Erkundungen bei der Eingeboren und die meisten Abbildungen stammen von ihr.« 30 Der Text Franz Thorbecke ist ein Metadiskurs über Kamerun. Franz Thorbecke gilt in der Gegend nicht als Pionier. Viele Deutschen haben den Ort viele Jahrzehnte früher bereist und haben Texte hinterlassen, die Franz Thorbecke als Sekundärliteratur benutzt hat. Hinter der vielfaltigen Mediatisierung des Grashochlandes steckt die Werbung um die Figuren Franz und Marie Pauline Thorbecke. Das Grasland gilt letzten Endes als Vorwand zur Selbstheroisierung. Die Figuren Thorbecke erscheinen als Helden einer abenteuerlichen Expedition nach Afrika. Als Helden haben sie ihre Aufgabe in Kamerun erfüllt, wie es in ihrem Vertrag stand. Ihre Texte, Fotographien, Zeichnungen, Abbildungen und ethnographischen Sammlungen können als wertvolle Funde betrachtet werden, sie auf ihrer Expedition nach Kamerun geholt haben. Als Helden eines so gefährlichen Abenteuers im inneren werden die Thorbecke zu Halbgöttern. Die Mystifizierung der Figuren Thorbecke beginnt mit ihrem kolonialen Auftrag. Nach ihrem Vertrag mit der deutschen Kolonial-Gesellschaft sollten sie bei der Kamerun-Expedition wirtschaftliche Daten erheben und ethnographischen Sammlungen für das deutsche koloniale Unternehmen in Kamerun einholen. Die Expedition gelang und die Thorbecke gaben nach ihrer Rückkehr ihre Funde ab. Franz Thorbecke veröffentlichte die wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Forschungsreise nach Kamerun in vier Bänden (der 4. Band erschien nach seinem Tod). Nachdem er als Held einer Kamerun-Exposition verehrt wurde, errang er einen akademischen Titel. Er promovierte an der Universität Heidelberg,
30 F. Thorbecke: Hochland, Vorwort.
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wurde Professor für Geographie an der Universität zu Köln. Darüber hinaus zählte er mit der Publikation seiner Bücher zu den berühmtesten Afrikaforschern. Als Experte für Kolonien veröffentlichte er 1926 und 1928 zwei interessante Bücher mit den Titeln »Die deutschen Kolonien als Arbeitsfeld des Akademikers« und »Das Tropische Afrika«. Bernd Wiese beschreibt den Ruhm Thorbeckes in den folgenden Zeilen: Das Ehepaar Franz (1875-1945) und Marie Pauline Thorbecke (1882-1913) verband geographische und ethnologische Afrikaforschung mit künstlerischer Erfassungen von Menschen und Landschaft. Wissenschaftliche Veröffentlichungen von Franz Thorbecke wie ›Das Manenguba-Hochland‹, seine Dissertation an der Universität Heidelberg, und das vier bändige Werk ›Im Hochland von Mittel-Kamerun‹ 1915-1951) gehören zu den wegweisenden Arbeiten der Afrikaforschung im frühen 2. Jahrhundert.31
Die Art und Weise, wie die Thorbeckes Wissenschaft mit Kunst zusammengebracht haben, ist beeindruckend. Sie waren besonders begabt. Diese subtile Verbindung von Vernünftigem mit Emotionalem durch die Reise zwischen Fiktion und Realität hat ihnen den Weg zum Ruhm bereitet. Während Franz im akademischen Milieu seinen Ruhm findet, gewinnt Marie Pauline mehr Sympathie im sozialen und künstlerischen Leben. Sie wurde dank ihrer Fotographien und Aquarellen sehr bekannt. Das Ehepaar Thorbecke, dessen Sammlungen und Werken in den deutschen Museen und Bibliotheken zu finden sind, gewinnen bis heute Interesse im universitären Milieu. Schluss Festzuhalten ist, dass das Gebiet, das in den Arbeiten von dem Ehepaar Thorbecke vorgestellt ist, nur ein Avatar des wirklichen historischen Gras- und Mbamlandes, das deutsche Afrikaforscher und Kolonisatoren bereist haben. Diesem Avatar, einem wissenschaftlichen und künstlerischen Konstrukt der Thorbecke, ist von diesen Letzten die Bezeichnung »Grashochland« versehen worden. In geokritischer Hinsicht gilt diesen Raum als Zwischenraum, wo sich Fiktion und Realität treffen, das Grashochland ist bei den Thorbecke in drei Perspektiven (allogene, endogene, exogene) wahrgenommen und projiziert worden. Es erscheint außerdem als ein zauberhafter Raum, der Figuren als Geisel nimmt, deren Sinnesorgane stimuliert und die Figuren zum Handeln zwingt. Hinter der vielfältigen Mediatisierung des Grashochlandes durch Texte, Fotographien und Aquarel-
31 B. Wiese: Weltansichten, S. 15.
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le steckt aber die geheime oder unbewusste Absicht der Selbstthematisierung. Dank dieser Selbstthematisierung, die sich auf viele Medien stützt, erlangen die Thorbecke den Status von Helden der abenteuerlichen Kamerun-Expedition. Darüber hinaus transformieren sie sich in mystische Wesen.
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LITERATUR Bouvet, Rachel: Vers une approche géopoétique. Quebec 2017. Collot, Michel: Pour une géographie littéraire. Paris 2014. Doudet, Caroline: »Géocritique: théorie, méthodologie, pratique«, in: Acta fabula, vol. 9, no. 5, (2008), http://www.fabula.org/acta/document4136.php. Moura, Jean-Marc: L’Europe littéraire et l’Ailleurs. Paris 1998. Pytlik, Anna: Träume im Tropenlicht. Forscherinnen auf Reisen. Reutlingen 1997. Thorbecke, Franz: Im Hochland von Mittel-Kamerun. Teil 2 Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes, Hamburg 1916. Thorbecke, Franz: Die deutschen Kolonien als Arbeitsfeld des Akademikers. Köln 1926. Thorbecke, Franz: Das tropische Afrika. Berlin 1928. Thorbecke, Marie Pauline: Auf der Savanne. Berlin 1914. Westphal, Bertrand: La géocritique. Réel, fiction, espace. Paris 2007. Westphal, Bertrand (Hg.): La géocritique mode d’emploi. Limoges 2000. Westphal, Bertrand: »Pour une approche géocritique des textes«, in: http://www. vox-poetica.com/sflgc/biblio/gcr.html. Wiese, Bernd: Weltansichten. Illustrationen von Forschungsreisen deutscher Geographen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln 2011.
Erinnerung transkulturell – transdisziplinär
»Fünf Minuten für Zintgraff, fünf Minuten für die chiefs?« Visuelle Historiografie im Spannungsfeld der kolonialen Verbindungen Deutschland-Kamerun Martin Doll
EINLEITUNG Das Forschungsprojekt »Koloniale Verbindungen« der Universitäten Düsseldorf und Dschang (2015-2018) verknüpfte nicht nur die Perspektiven zweier Regionen Düsseldorf/Dschang – Rheinland/Grasland – Deutschland/Kamerun, sondern auch die disziplinären Voraussetzungen von Geschichtswissenschaften einerseits und den Medienwissenschaften andererseits. Anhand der Konzeption und Ausgestaltung des im Rahmen der Zusammenarbeit unter meiner Anleitung entstandenen Dokumentarfilms1 möchte ich hier nachzeichnen, welche theoretischen bzw. methodologischen Reflektionen, die im gemeinsamen – mithin: transnationalen und transdisziplinären – Prozess entstanden sind, ich als relevant erachte.
1
Der Film wurde von Studierenden des Instituts für Medien- und Kulturwissenschaften der Heinrich-Heine-Universität erstellt: Robin Laumeyer, Vanessa Neuhaus und Nina Jean Norin.
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Abb. 1: Erste Skizze der komplexen Relationen zwischen Gegenständen, Personen und Themen im Geflecht der kolonialen Verbindungen DeutschlandKamerun
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Frage, wie man das in den Recherchen entstandene komplexe Netzwerk kolonialer Verbindungen in einen Dokumentarfilm übersetzt, bieten sich zwei gleichermaßen fragwürdige Extrempositionen an. Zu erwähnen wäre: • 1. Objektivismus: die Perspektive einer vermeintlich jederzeit verfügbaren Ob-
jektivität; damit einhergehend: ein Positivismus und ein Historizismus • 2. Partikularismus: die Verabsolutierung der Einzelobjekte und -aspekte, bei
denen die Relationen ins Hintertreffen geraten; damit mitunter als zusätzliche Vereinseitigung einhergehend: ein Subjektivismus (die radikale Fokussierung auf eine Einzelperspektive) Ich möchte die zwei Positionen im Folgenden problematisieren, um am Ende sichtbar machen zu können, inwiefern mit der schließlich gewählten Herangehensweise im Film durch bestimmte Vermittlungen und Ergänzungen ein Ausweg gesucht wurde. Am Ende möchte ich kenntlich machen, wie die erzielten
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Ergebnisse im Vergleich mit der 2016 im Stadtmuseum Düsseldorf gezeigten gleichnamigen Ausstellung zu bewerten sind.2 Wenn ich von Perspektive spreche, geht es auch um die Frage nach der Verantwortung von Autorschaft, von Verantwortung in der Triade von Zuschauer_innen, Filmenden und Gefilmten bzw. zwischen Zuhörer_innen, Interviewenden und Interviewten. Und auf einer abstrakteren Ebene geht es mit den beiden genannten Extrempositionen auch um die problematische Konfiguration Universalismus und Partikularismus: Denn auf der einen Seite kennt der Universalismus gar keine Differenzen, auf der anderen Seite kennt der Partikularismus im Extrem nur Differenzen. Zu erwähnen wäre in dieser Gegenüberstellung auch ein Universalismus, der eine partikulare Position verabsolutiert.3 Im Folgenden möchte ich also vor allem der Frage nachgehen, wie sich die genannten Problemstellen im Einzelnen darstellen, und dies v.a. vor dem Hintergrund medienwissenschaftlicher Fragestellungen in Konfrontation mit der konkreten historiografischen Arbeit des Dokumentierens von Erinnerungsprozessen.
OBJEKTIVISMUS Die allgemeine Position des Objektivismus aktualisiert sich im Bereich audiovisueller Medien als Abbildrealismus bzw. -positivismus. D.h., allein weil die Kamera eine bestimmte technische Beschaffenheit aufweist, wird den Bildern, die sie hinterlässt, eine uneingeschränkte objektive Beweiskraft zugesprochen und die mediale Differenz zwischen Beschreibung und Beschriebenem, Zeigen und Gezeigtem, Form und Bedeutung eingeebnet.4 Implizit wird dabei jede Kontextualisierung, die im Dokumentarfilmprozess bedeutungsstiftend im Spiel ist – sei es bei der Aufnahme, sei es bei der Aneinanderreihung der Bilder – vernachlässigt.5 Da der unverstellte Glauben an die Herstellung und Präsentation »objektiver Wahrheiten« sowohl in der Dokumentarfilm – als auch der neueren Geschichtstheorie längst dekonstruiert ist, will ich mich bei diesem Thema gar nicht länger aufhalten, sondern es positiv formulieren und fragen, welche Probleme sich in diesem Zusammenhang beim Filmen im Netzwerk der kolonialen Verbindungen Kamerun/Deutschland – Rheinland/Grasland konkret gestellt ha-
2
Die Ausstellung ist virtuell dokumentiert: http://www.geschichte.hhu.de/lehrstuehle/
3
E. Laclau: Identity and Hegemony.
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B. Nichols: Pornography, Ethnography, and the Discourses of Power, S. 224.
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A. Sekula: Reading an Archive, S. 449-450.
globalgeschichte/ausstellung-koloniale-verbindungen.html
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ben. Zum einen ist das »Aufnehmen« bestimmter Interviews, bestimmter Szenen ein radikales Herausreißen von etwas aus einer bestimmten Mannigfaltigkeit, ein Abstrahieren vom konkreten Kontext. Zum anderen führt die Aneinanderreihung in der Montage unvermeidlich zu Rekontextualisierungen und zu neuen Bedeutungsstiftungen: Ähnliches wirkt plötzlich wie ein Kontrast, Kontrastreiches erscheint ähnlich, Divergentem scheint eine gemeinsame Bedeutung, ein gemeinsamer Nenner zuzukommen etc. Um eine Formulierung von Alan Sekula im Zusammenhang mit Fotografie-Archiven für unser filmisches Rohmaterial zweckzuentfremden: »meaning exists in a state that is both residual and potential.«6 Bestimmte Bedeutungen werden in der Montage zum Tragen gebracht und andere dabei notwendig vernachlässigt. Gegen den Abbildrealismus gilt es daher bei der Erstellung eines Films immer wieder von Neuem anzukämpfen, indem man im Film selbst ästhetisch reflektiert, dass dokumentarische Echtheit, verstanden als »Übereinstimmung von Leben und Bild«7 nicht zu haben ist. Ein zweiter Aspekt des Objektivismus betrifft das Ideal der Ausgewogenheit. Jean-Luc Godard wurde bekannt für den Aphorismus: »l’objectivité, c’est 5 minutes pour Hitler, 5 minutes pour les Juifs« – also: »Objektivität, das ist 5 Minuten für Hitler und 5 Minuten für die Juden« – ein beißender Kommentar, auf den ich im Titel meiner Überlegungen anspiele. Was heißt das nun für den Film über das Projekt? Fünf Minuten über die Täter, Fünf Minuten über die Opfer? Ich formuliere das nicht ohne Grund in dieser von uns immer wieder problematisierten Dichotomie. Denn die Form vermeintlich objektiver Berichterstattung ist Teil des Problems geworden. Sie hat zu, zwar gut gemeinten aber wenig spezifischen Täter-Opfer-Narrationen geführt (ggf. auch zu Entschädigungen), aber nie zu einer Geschichtsschreibung, die das Aufeinandertreffens der einzelnen Akteur_innen und die dabei entstehenden Handlungsträgerschaften in ihrer Komplexität und Ambivalenz würdigt.8 Vor diesem Hintergrund waren wichtige Ergebnisse der Auseinandersetzung mit den mündlich tradierten Erinnerungen im gemeinsamen Forschen vor Ort im Jahr 2016, dass es aufseiten Kameruns nicht nur Opfer gab. Vielmehr gingen die Chefferien – so wurde es 2016 erzählt – häufig Kooperationen ein und haben sich meines Erachtens mitunter auch im schlechten Sinne der Kollaboration schuldig gemacht, wenn sie gegen benachbarte Chefferien strategische Partnerschaften mit den deutschen Truppen schlossen. Ferner wurde deutlich, dass, als die Deutschen sich nicht an die Verabre-
6
Ebd., S. 445.
7
H. Steyerl: Farbe der Wahrheit, S. 100.
8
Vgl. zur Forderung, eine solche historische Komplexität und Ambivalenz aus historischem Material herauszulesen, die Beiträge von Gouaffo und Karakış in diesem Band.
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dungen oder Verträge hielten oder in ihrer Gier nach mehr immer haltloser wurden, es an vielen Orten deutlich mehr Widerstand gab, als allgemein bekannt ist (militärisch koordiniert sowie mit Schusswaffen ausgeführt und nicht nur mit den paradigmatischen Speeren, die bis heute als Dokumente der Kolonialgeschichte in den Repositorien der Museen einen eher primitivistischen Blick auf die Akteur_innen Kameruns nahelegen). Der Objektivismus, mit Godard verstanden, neigt also dazu, eine bestimmte Form der Montage in Gegenüberstellungen zu bevorzugen und damit angestammten Dichotomien verhaftet zu bleiben. Im Falle einer Kolonialgeschichtsschreibung führte das automatisch dazu, die Übermacht der vermeintlichen »Sieger« erneut zu verstärken. Im schlimmsten Fall schreibt sich über die unhinterfragte Deutungshoheit der westlichen Filmer ein Machtgefälle in den Film ein, der nur zu gut zur häufig eingenommen Täter/Opfer-Perspektive passt. Mit Hito Steyerl lässt sich in diesem Zusammenhang von einer problematischen »hierarchische[n] Arbeitsteilung« sprechen, und zwar zwischen den untergeordneten Personen, deren Erlebnisse intensiv, aber »roh und unreflektiert« sind, und den anderen, den Dokumentarfilmer_innen bzw. den westlichen Zuschauer_innen, »die dieses Erlebnis verstehen und interpretieren können«.9 Ein weiteres Problem des Objektivismus ist, in historizistische Perspektiven abzudriften. D. h., es wird davon ausgegangen, dass man problemlos die Geschichte (verstanden als linearen Fortschritt) aus der schleichend als transzendent angenommenen, d. h. absolut gesetzten Perspektive der Gegenwart bergen könne (Sekula 2003: 447).10 Walter Benjamin schreibt: Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Ueberlieferung nicht, in die es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Massgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.11
Insofern ist eine perspektivlose Geschichtsschreibung schon immer eine Fiktion – die Fiktion, als sei das Überlieferte nicht selbst bereits organisiertes Wissen und zudem nicht Produkt einer immer schon Deutungen unterliegenden Geschichtsschreibung, sondern die Geschichte selbst. Es besteht nämlich implizit die Gefahr, jede (Zeit-)Geschichtsschreibung nicht als Interpretation von Doku-
9
H. Steyerl: Farbe der Wahrheit, S. 20; vgl. R. Chow: Film as Ethnography, S. 150.
10 A. Sekula, Reading an Archive, S. 447. 11 W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 34.
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menten oder Zeugenaussagen zu verstehen, sondern als Eins-zu-eins-RePräsentation vorgefundener Einzelheiten. Michael Renov formuliert treffend für den Dokumentarfilm: With regard to the complex relations between fiction and documentary it might be said, that the two domains inhabit one another. […] For it is not that the documentary consists of the structures of filmic fiction […] as it is that ›fictive‹ elements insist in documentary as in all film forms.12
PARTIKULARISMUS Vergegenwärtigt man sich noch einmal die Visualisierung des Netzwerks, so gibt sie auch einen Eindruck davon, welche Auswirkungen es hätte, in der vermeintlichen Gleichgewichtung der Einzelmomente wiederum nur einen Blick aus der Vogelperspektive zu wagen – mit dem Ergebnis, dass manchmal auch aus postkolonialer Perspektive noch von einem generellen »Afrika« gesprochen wird und alle Differenzen nivelliert werden. Bill Nichols bezeichnet das mit dem unbeobachteten Beobachten verbundene Narrativ der Überlegenheit und Kontrolle des »Anderen« (»to ›know‹ by possessing and possess by knowing«) scharfzüngig als »Pornographie des Wissens« (Nichols 1991: 209f.; vgl. a. 219 u. 223).13 Ein weiterer Effekt könnte sein, dass selbst im Anspruch auf Diversität schlicht zu viele Einzelteile aus der Distanz sichtbar werden, ohne dass sich daraus Sinn oder eine nachvollziehbare Position ergibt. Die Aktivistin Angela Davis gibt zu bedenken: »[T]here’s a model of diversity as the difference that makes no difference, the change that brings about no change«; ihr geht es stattdessen um: »differences that make a difference«.14 Selbst in einer radikal konzipierten Vielgestaltigkeit des Films wäre ein Anspruch auf vollständige Wiedergabe des Netzwerks im Film also ebenfalls eher unbefriedigend. Mit einem solchen Partikularismus wäre wiederum die Gefahr verbunden, um es erneut mit Sekula zu formulieren, einem »empirizistischen Modell von Wahrheit«15 aufzusitzen – einem Modell, das die Filmbilder und Interviews als Ansammlung von unverstellten Reflektionen der Wirklichkeit versteht. Die Zu-
12 M. Renov: Introduction, S. 3 und 10. 13 B. Nichols: Pornography, Ethnography, and the Discourses of Power, S. 209-210, vgl. auch S. 219 und 223. 14 A. Davis zit. n.: G. Younge: #blacklivesmatter. 15 Vgl. A. Sekula, Reading an Archive, S. 446.
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schauer_innen werden dann in die Situation der »machtlosen Allwissenheit«16 gebracht. Denn einerseits können sie sich kein Bild von den Gegebenheiten machen, weil sie nicht in die Lage versetzt werden, die gezeigten Aspekte selbst zu deuten; andererseits wird ihnen aber suggeriert, sie könnten die konstant wechselnden Perspektiven gleichsam allwissend überblicken. Eine äußerst problematische Unterform davon ist der dokumentarische Subjektivismus, weil er im Prinzip eine einzige Sichtweise verabsolutiert, diese aber zumindest dezidiert als subjektive markiert. Diese Herangehensweise entgeht zwar dem genannten Empirizismus, indem immer davon ausgegangen und gezeigt wird, dass beim Filmen die Wirklichkeit je interpretiert wird. Dennoch wird damit, obwohl sie im Grunde eine Partikularperspektive ist, paradoxerweise wiederum eine gewisse Vollständigkeit behauptet, diesmal als Archiv persönlicher Eindrücke.17 Streng genommen werden die gezeigten Momente, dadurch dass sie in ihrer subjektiven Perspektivierung so obsessiv präsent und erfahrbar gemacht werden, sogar ihrer Historizität enthoben. Das Vergessenmachen ihres geschichtlichen Kontexts führt so im Extremfall zur reinen (wenn nicht schon zynisch zu nennenden) Ästhetisierung des Dokumentierten.18 Joseph Ki-Zerbo betont dies mit aller Deutlichkeit in seiner Einleitung zum ersten, methodologisch orientierten Band der General History of Africa: [A]n oral account taken out of its context is like a fish out of water: It dies. Taken in isolation, oral tradition resembles African masks wrested from the communion of the faithful and exhibited to the curiosity of the uninitiated.19
Verabsolutiert der Objektivismus den Status des Gezeigten als neutrales Dokument, so verabsolutiert der Subjektivismus den Status des Gezeigten in seiner Summe als Ganzheit einer umfassenden persönlichen Erfahrung. Das Dokument wird zu Kunst, die Filmenden zu Künstler_innen – eine Position, die Sekula treffend als auteurism (vom Französischen auteur) gefasst hat. 20 Im schlimmsten Fall, und so scheint es nun Ai Weiweis Film THE HUMAN FLOW (D 2017) über die Situation der Geflüchteten aus Afrika gegeben zu sein, werden die Bilder zu ästhetischen Objekten. Sie werden dann um ihrer selbst willen als schöne An-
16 Ebd., S. 448. 17 Ebd., S. 447. 18 Ebd., S. 447f. 19 J. Ki-Zerbo: General Introduction, S. 1-23. 20 Vgl. A. Sekula, Reading an Archive, S. 449.
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sichten genossen.21 Im Grunde zeigt ein derart gestalteter Film »ruin porn« und Sozialromantik oder ist, verstanden als eine Form visueller Historiografie, um eine starke Formulierung von Steyerl zu zitieren, reiner Voyeurismus, die der Pornografie nur in Wenigem nachsteht; er wird zu einer »Art Table-Dance Bar, in der Geschichte nackt auf den Tischen tanzt«.22 Um hier einen komplexen Gedanken von Eduardo Viveiros de Castro aufzugreifen, wäre, um dem zu entgehen, beim Filmemachen ein Unterschied zu suchen zwischen einer konstruktivistischen Epistemologie und einem »perspectivism«: Während der Konstruktivismus auf die Formel »die Sichtweise konstruiert das Objekt« gebracht werden kann (somit das Subjekt die unveränderliche Bedingung oder Voraussetzung der Perspektive ist), übernimmt Castro von der amerindischen Philosophie eine perspektivische Ontologie. Diese Ontologie geht davon aus, dass der Blickwinkel das Subjekt hervorbringt: Was auch immer durch den Blickwinkel aktiviert oder affiziert wird, erhält Subjektstatus.23 Anders formuliert, durch den Wechsel von Epistemologie zu Ontologie geht es nicht mehr um unterschiedliche Perspektiven auf die immer gleiche Welt, sondern um unterschiedliche Welten, um ein anderes Sein, das je andere Perspektiven erfordert. In weniger radikaler Form (mit einem Schwerpunkt auf den Epistemologien) hat dies Dipesh Chakrabarty formuliert, insofern für ihn das Beharren auf einer westlichen »Rationalität« der Geschichtsschreibung bestimmte Narrative »sofort zu Vergangenheiten ›minderer Bedeutung‹ macht, weil sie nicht dem entsprechen, was gemäß dem herrschenden Verständnis in der Praxis westlicher akademischer Historiker als Tatsache und Beweis zählt«.24 Kurz: durch die Anwendung dieser Rationalität erscheinen bestimmte Narrative am Ende als »nicht rational«. Ein solches an Chakrabarty und de Castro angelehntes Denken könnte uns als Forscher_innen und Filmende jedenfalls davor schützen, kamerunische Gegebenheiten, Motive, Akteure etc. nur aus unserer westlichen Epistemologie heraus zu betrachten und damit den Subjektstatus von Masken, Totemtieren, Fetischen etc. zu traditionalisieren, zu exotisieren oder zu spiritualisieren.25 Die Utopie eines idealen Dokumentarfilmprozesses über die kolonialen Verbindungen zwischen dem Rheinland in Deutschland und dem Grasland in Kamerun müsste darin bestehen, Ausdrucksmittel für den genannten Perspektivismus
21 Ebd., S. 447. 22 H. Steyerl, Die Farbe der Wahrheit, S. 35. 23 E. B. V. Castro: Métaphysiques cannibales, S. 99. 24 D. Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 72. 25 Ebd., S. 76-78.
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zu finden. Mit de Castro gesprochen: Es geht um die filmische »DeExotisierung« der kamerunischen Chefferien bzw. chiefdoms und dabei um die Exotisierung des eigenen Blicks, insofern es gelingt, sich auf die perspektuale Ontologie einzulassen.26 Der Film THE HUMAN FLOW von Ai Weiwei, so gut er gemeint sein mag, mit seinen Klischees und seinen Ästhetisierungen der Flucht ist weit davon entfernt. Paradigmatisch lassen sich dafür die bezeichnenderweise sehr häufig aus der Vogelperspektive aufgenommen Filmeinstellungen aufführen, z.B. eine, in der kenianische Kinder wie fliehende Tiere bei der Großwildjagd erscheinen – ein ikonisches Bild, das als kevisual sowohl die Homepage als auch die Plakate ziert. Abb. 2: Plakat zu The Human Flow (Regie: Ai Weiwei, D 2017)
AC Films, Participant Media
26 E. B. V. Castro: Métaphysiques cannibales, S. 5.
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Um der genannten perspektuale Ontologie gerecht zu werden und nicht alles Vorgefundene durch das Sieb einer westlichen Epistemologie zu filtern, ist meines Erachtens ein Dokumentarfilm, verstanden als visuelle Historiografie, besser geeignet als ein Buch ein geschriebener Text. Er kann es vielleicht eher möglich machen, sich von der »einfache[n] Anwendung altbewährter Methoden auf eine neue Gruppe von Archiven« zu lösen.27 Auf filmische Weise ist es nämlich eher möglich, zu zeigen ohne allzu viel sprachlich hinzudeuten, kurz Heterogenitäten eher »einfach so« stehen lassen zu können. De Castro würde hier schon Einspruch erheben und nach der Position fragen, von der aus dieses andere (gr. héteros) der Heterogenität behauptet wird. Vielleicht lässt sich daraus die Lehre ziehen, besser von Ambivalenz oder Ambiguität zu sprechen.28 Chakrabarty wiederum würde eventuell gegen de Castro einwenden, ob er es sich nicht zu einfach mache mit der Annahme, der amerindische Perspektivismus sei so leicht gegen unser westliches Denken zu übernehmen. Einig wären sich beide in der Frage, dass man nicht von »pluralen Sichtweisen«, sondern von »pluralen Seinsweisen« auszugehen hätte.29 Die Arbeit am Film mag vor diesem Hintergrund als Impuls aufgenommen werden, die Privilegierung von Schrift und Sprache aufzugeben und bei zukünftigen Vorhaben von Anfang an auch nach audiovisuellen Formen der »kulturellen Übersetzung« zu denken.30 Rey Chow nimmt eine überzeugende deutliche Erweiterung der in solchen ÜbersetzungsProzessen involvierten Momente vor, »including the change from tradition to modernity, from literature to visuality, from elite scholastic culture to mass culture, from the native to the foreign and back, and so forth«.31 Die Dystopie eines ethnographischen Films wäre dann, lediglich eine Perspektive stark zu machen (selbst wenn diese auch als solche vor Augen geführt würde), z. B. in der obsessiven filmischen These, dass »Afrika« nur ein Konstrukt des (westlichen) Betrachters ist. Obwohl die Perspektivierung radikal relativiert würde, wäre das Machtgefälle, das eine solche Haltung erzeugte, nicht weniger problematisch als andere Ansätze, denn es würde wiederum eine Position radikal souverän gesetzt. Auch wenn der Film, der im Rahmen unseres Forschungsprojekts entstanden ist, weit von der genannten Utopie und einem de Castro’schen perspectivism ent-
27 D. Chakrabarty, Europa als Provinz, S. 79. 28 Vgl. D. Vaughan: Aesthetics of Ambiguity, S. 99-115; B. Nichols: Pornography, Ethnography, and the Discourses of Power, S.123. 29 D. Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 81. 30 R. Chow: Film as Ethnography, S. 148-170. 31 Ebd., S. 162.
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fernt ist, haben wir dennoch vorab eine Reihe an Überlegungen angestellt, d.h. manchmal auch intuitiv die genannten Problematiken mitbedacht. Dies resultierte bei der Konzeption des Films und später bei den Dreharbeiten selbst in einer Reihe von manchmal auch negativen Operationen.
FILMISCHE STRATEGIEN JENSEITS VON OBJEKTIVISMUS UND PARTIKULARISMUS Eine von Anfang an verfolgte Vermeidungsstrategie war: Der Verzicht auf ikonische, paradigmatische Bilder Sekula schreibt treffend über die problematischen Auswirkungen eines visuellen Reduktionismus auf das Verständnis der Mannigfaltigkeit bzw. Multikausalität geschichtlicher Ereignisse: »[T]he First World War ›begins‹ with a glimpse of an assassination in Sarajevo: the entry of the United States into the Second World War ›begins‹ with a view of wrecked battleships.« 32 Anders formuliert, es geht nicht darum, das einzelne Bild als Symbol, »als ikonischen Reizauslöser« 33 zu verwenden, sondern mittels der O-Töne möglichst gut zu kontextualisieren und dabei das Gefilmte als Dokument (zwar nicht für bare Münze), aber in seiner Bedeutungsvielfalt ernst zu nehmen. Dabei ging es uns auch darum, jede Form von Exotismus, der zwangsläufig eine Strategie des Othering, der Abwertung ist, zu vermeiden. So haben wir zuvor eine Liste von visuellen Klischees erstellt, die wir im Film unbedingt verhindern wollten und daher auch dezidiert nicht gedreht haben. Selbst wenn manche Szenen sich mitunter so ereigneten, hätte sich durch die filmische Verdichtung in der Montage zwangsläufig eine Bestätigung stereotyper Afrikabilder ergeben. Die Interviewsequenzen würden dann nämlich, um ein weiteres starkes Bild von Steyerl zu zitieren, nicht einen »Ort, an dem Geschichte produziert wird« bilden, sondern »zu einer Art Zoo« werden, in dem die einzelnen Protagonist_innen ausgestellt werden.34 Das betrifft auch den weitgehenden Verzicht auf Landschaftsaufnahmen, die den Eindruck eines unterentwickelten ‚Afrika’ ergeben hätten im Sinne von: hier herrscht (implizit aufgrund der Rückständigkeit) noch eine unberührte Natur vor – und dies, obwohl die
32 A. Sekula: Reading an Archive, S. 447. 33 H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 32. 34 Ebd., S. 35.
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wunderschöne Landschaft immer wieder auf unsere Bewunderung stieß, die sich auch in zahlreichen Fotografien der Studierenden niederschlug. Dadurch, dass solche »Schlagbilder«35 im Film fehlen, kommt die Multiperspektivität der Interviewaussagen in ihrer eigenen Qualität zum Tragen. Die Interviews verstehen sich dabei als Form der Geschichtsforschung im strengen Sinne, als manchmal einzige verfügbare Zeugnisse der kolonialen Verbindungen zwischen Deutschland und Kamerun ab 1884. Dezidiert wird dabei »Oral History« als notwendiges und gleichwertiges Komplement zu den überlieferten schriftlichen Dokumenten verstanden. Joseph Ki-Zerbo schrieb dazu im Jahr 1981: It has been said that oral tradition does not inspire confidence because it is functional – as if every human message were not by definition functional, including archives, which by their very passiveness, and beneath an appearance of neutrality and objectivity, conceal so many lies by omission, and clothe error in respectability.36
Perspektivierender Relationismus Um den genannten Fallstricken sowohl des Objektivismus als auch des Perspektivismus zu entgehen, ist der Film durch die Annahme geprägt, dass eine vermeintlich neutrale Position frei von Wertungen unmöglich ist. Schon Brecht hat zu bedenken gegeben: »Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen.«37 Dies lässt sich einerseits als Aufforderung zur Agitation interpretieren, insofern die Aufgabe des Film- bzw. Theatermachers dahingehend verstanden wird, seine Zuschauer_innen zu indoktrinieren. Fruchtbarer ist indes die Deutung, dass es laut Brecht schlicht unmöglich ist, in kulturellen Produktionen perspektivlos und wertfrei vorzugehen. In gewisser Form, so die daraus abgeleitete Prämisse unseres Films, schleicht sich ein Urteil mehr oder weniger deutlich immer ein, ob beabsichtigt oder nicht. Die Aufgabe beim Filmemachen besteht daher darin, dies bewusst zu reflektieren und damit zu arbeiten. Medien sind, um mit Bernard Stiegler zu sprechen, in dieser Hinsicht ein pharmakon: ihre heilende Wirkung im gleichem Maß wie Unmaß zerstörerisch; kurz: sie sind zugleich Gift und Heilmittel, Chance und Gefahr.38 Übertragen auf unser Forschungsprojekt hießt dies, dass eine Form der visuellen Kolonialhistoriografie
35 M. Diers: Schlagbilder. 36 J. Ki-Zerbo: General Introduction, S. 8; vgl. a. B. Kuster: Choix d’un passé, S. 40. 37 B. Brecht: Kleines Organon für das Theater, S. 86. 38 B. Stiegler: Distrust and Pharmacology, S. 27-39.
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auf der einen Seite die Möglichkeit für übelste bzw. giftige Propaganda eröffnet. Auf der anderen Seite ermöglicht sie eine ethische Haltung des Dokumentierens: Insofern sind Dokumentarfilme, wie Steyerl schreibt, »nicht nur Abbilder, sondern Appelle, Vorbilder, Anweisungen, Anleitungen«, mitunter »ethische Traktate, mit denen Haltungen zur Welt vorgeschlagen und eingeübt werden«.39 Sie sind, in den Worten MacDougalls, »more than a form of anthropological notetaking«.40 In unserem Falle betrifft diese die parteiische Haltung aller Beteiligten – in MacDougalls Worten: eine »common sense of urgency«41–, mit allen Mitteln Opfer/Täter-Narrative zu verhindern und im Zweifelsfall Aussagen zu privilegieren, in denen starke kamerunische Akteur_innen zu Wort kommen oder von starken kamerunischen Akteur_innen in der Kolonialgeschichte die Rede ist. Obwohl die Entscheidung über die in der finalen Fassung verwendeten Aussagen bei den Filmemacher_innen lag, konnte sowohl über die Zusammenarbeit mit den kamerunischen Forscher_innen vor Ort als auch durch die Interviews selbst vermieden werden, dass eine westlich-paternalistische Perspektive, verbunden mit den entsprechenden Hierarchisierungen der Betrachtungswinkel, zu sehr privilegiert wird, sondern möglichst eine Verschränkung der verschiedenen Ansichten und Absichten stattfindet. Der Film behauptet somit nicht, eine Repräsentation einer »anderen« Kultur zu sein; vielmehr dokumentiert er das Aufeinandertreffen von uns Filmemacher_innen und den Akteur_innen vor Ort. Die binäre Struktur »wir« und die »anderen« wird aufgesprengt, insofern im Film sowohl den betroffenen Kameruner_innen als auch den betroffenen Deutschen das Wort erteilt und die Möglichkeit gegeben wird, die kolonialen Verbindungen aus ihrer Perspektive, mit ihren Worten zu beschreiben und zu beurteilen. Nichols fasst diese schwierige Aufgabe in deutliche Worte: The challenge is to listen to what uncontained, unembalmed, self-representing others have to say; to evoke the give and take of conversation that matters as crucially to the one as to the other rather than represent, explain, describe, or interpret others in ways that matter very little to anyone but ourselves. (Nichols 1991: 228)
Aus diesem Grund haben wir auch auf einen deutenden voice-over-Kommentar verzichtet, der nicht umsonst in der Dokumentarfilmtheorie als »voice of god« in Verruf geraten ist. Der von uns angestrebte perspektivierende Relationismus eröffnet somit Verbindungen, unterprivilegiert bewusst bestimmte Aspekte, spart
39 H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 70. 40 D. MacDougall: Beyond Observational Cinema, S. 122. 41 Ebd., S. 126.
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aber auch nicht schmerzhafte bzw. ambivalente Aussagen aus (wie zum Beispiel die affirmativ gedachte Aussage eines Katechisten, dass die Ankunft der Deutschen 1890 dafür gesorgt habe, dass die Kameruner sich nackt vorgekommen seien).42 Der Film entzieht sich damit nicht bestimmten Deutungsangeboten, enthält sich aber endgültigen Wertungen. Der Begriff des Relationismus ist in diesem Zusammenhang mit Bedacht gewählt, weil ich damit einen Unterschied zu einem haltlosen Relativismus markieren möchte, auf dessen Grundlage letztlich »alternative Fakten« mit Geschichtsschreibung verwechselt werden könnten bzw. Geschichtsrevisionismus betrieben werden könnte. Auch hier gilt: Die pharmakologische Grenze zwischen Heilmittel und Gift ist durch das Medium Film selbst nicht vorgegeben. Dennoch ist unser Dokumentarfilm, der 2016 fertig gestellt wurde, im positiven Sinne ein ethischer Beitrag zum Entwurf einer historischen Realität, wie sie werden soll. Nicht umsonst besteht das als Eingangsmotto dem Film vorangestellte Zitat von Senior Prince Bangou Francis aus Fontem in der Ansicht: »Die Geschichte ist eine Erzählung von der Vergangenheit und sie hilft dabei, die Zukunft zu verbessern«. Im Verneinen bestimmter (nicht gezeigter oder nicht gemachter) Aufnahmen spiegelt der Film somit eine bestimmte theoretische Prämisse, ein bestimmtes Denken wider und folgt der Idee, dass eine dezidierte Perspektivierung einen präziseren Einblick in die kolonialen Verbindungen gibt als die Simulation eines – notwendig oberflächlich bleibenden – Einfangens des Gesamten.43 Auch diese Frage ist durch die zitierte Aussage Godards angesprochen: »5 minutes pour Hitler, 5 minutes pour les Juifs« spricht auch von einer im doppelten Sinne un-möglichen Neutralität. Ein selbstkritisches Eingeständnis sei zum Abschluss erwähnt: Obwohl es dem Film dezidiert um die Darstellung von kolonialen Verbindungen geht, werden durch die Gegenüberstellungen in der Montage nicht zwingend Dichotomien vermieden. Es sind zwar nicht die Täter-Opfer-Narrative, sondern eine von uns gesuchte ausgewogene Handlungsträgerschaft, die uns interessiert hat. Aber in der parataktischen Reihung von Perspektiven, in der ein Nebeneinander in ein Nacheinander überführt wird, entkommt der Film nicht zwingend einer dichotomen Struktur (Deutschland hier, Kamerun dort, kamerunische Forscher_innen in Deutschland, deutsche Forscher_innen in Kamerun). Um es mit bekannten Etikettierungen zu formulieren: Formal instituiert der Film eher eine Interkulturali-
42 Zu einer Kritik an der möglichen Unsichtbarkeit von politischen Hierarchisierungen innerhalb einer an Latour angelehnten als Ethik interpretierten flachen Ontologie vgl. M. Doll: Ethik des Kapitalismus, S. 87-110. 43 Vgl. D. MacDougall: Beyond Observational Cinema, S. 124 u. 126.
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tät, auch wenn die Interviews inhaltlich Transkulturalität zum Thema haben (wie agierten Deutsche und Kameruner zusammen, wie hat es beide verändert usf.) – eine Herangehensweise, die wiederum im Forschungsprozess selbst sehr präsent war und im besten Sinne eine »histoire croisée«44 darstellte. Für zukünftige Vorhaben wäre, um dieser Herangehensweise auch beim Filmen gerecht zu werden, noch mehr auf eine gemeinsame bzw. zumindest multiplere Film-Autorschaft45, verteilt zwischen kamerunischen und deutschen Akteur_innen, zu achten.
FAZIT Gefragt nach einem Fazit über das geeignete Medium zur Darstellung der kolonialen Verbindungen würde ich aus meinen Überlegungen heraus im Zweifelsfall zwar im Gegensatz zum Text immer für das Medium Film, mehr noch aber für das der Ausstellung plädieren. Durch die Möglichkeit, ein Neben- und Nacheinander, Konfrontation und Konfiguration (auf der räumlichen wie auf der logischen Ebene) miteinander zu verbinden, ist eine Ausstellung eher in der Lage, Multiperspektivität zu generieren. Ferner ermöglicht sie, sich dabei nicht in Beliebigkeit bzw. Partikularismen zu verlieren, sondern die vielfältigen Verbindungen auf bestimmte Weise zu perspektivieren, zugleich aber im Erfahrungsraum des Ausstellungsraums den Besucher_innen eine gewisse Deutungsoffenheit zu erhalten. Dadurch wird auch eine »machtlose Allwissenheit« verhindert, denn die Exponate fordern eine eigene Auseinandersetzung heraus und verhindern in ihrer komplexen Anordnung die Fehleinschätzung, man hätte damit alles in seiner Totalität erfasst. So wird, um eine Formulierung MacDougalls aufzugreifen, ein »comforting lack of ambiguity« vermieden.46 Mehr noch als der Film, der in der Montage zwangsläufig bestimmte Anordnungen und Betrachtungslängen vorgibt, zeigt sich die Ausstellung jedem Besucher und jeder Besucherin anders, und zwar je nach seiner oder ihrer eigenen Montage, die er oder sie bei ihrer Begehung selbst erstellt. Das Design der im Juli 2016 realisierten Ausstellung im Stadtmuseum Düsseldorf vermeidet so bewusst einen zentralperspektivischen, panoramatischen Blick, von dem aus eine restlose Übersicht gelingen würde. Die im Ausstellungsraum versammelten Me-
44 M. Werner/B. Zimmerman, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. 45 D. MacDougall, Beyond Observational Cinema, S. 129. 46 Ebd., S. 120.
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dien machten so aus den kolonialen Verbindungen Deutschland/Kamerun »a fluid and open-ended experience«.47 Abb. 3: Ausstellungsansicht mit Film
Fotografie: valiguity design studio 2017
Ich würde daher die Bilanz ziehen, dass der Film im Rahmen des Projekts, wie die anderen Einzelmedien auch, nicht ganz so gut für sich alleine funktioniert, aber dafür umso besser, wenn er zusammen mit anderen Aspekten im Rahmen einer Ausstellung und auf der Projekthomepage präsentiert wird.48 Nur so kann er die nötigen perspektivierenden Relationierungen erfahren und dabei im Netz der Bezüge, als solcher selbst ein Gefüge an Relationen, einen eigenen Schwerpunkt setzen.
47 R. Chow, Film as Ethnography, S. 166. 48 Zu finden ist er auf http://www.deutschland-postkolonial.de; außerdem auf Vimeo: https://vimeo.com/227292768.
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LITERATUR Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte – Benjamins Handexemplar«, in: Gérard Raulet (Hg.): Über den Begriff der Geschichte. Berlin 2010 (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe 19), S. 30-43. Brecht, Bertolt: »Kleines Organon für das Theater«, in: W. Hecht et al. (Hg.): Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23. Berlin/ Weimar 1993, S. 65-97. Castro, Eduardo Batalha Viveiros de: Métaphysiques cannibales. Lignes d’anthropologie post-structurale. Paris 2009. Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M 2010. Chow, Rey: »Film as Ethnography«, in: Paul Bowman (Hg.): The Rey Chow Reader. New York 2010, S. 148-170. Diers, Michael: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt a.M 1997. Doll, Martin: »Die neue Ethik des Kapitalismus. Für eine politische Kritik der Ökonomisierung«, in: Navigationen 16.2 (2016), S. 87-110. Ki-Zerbo, Joseph: »General Introduction«, in: Joseph Ki-Zerbo (Hg.): General history of Africa 1981, S. 1-23. Kuster, Brigitta: Choix d’un passé – transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften. Wien 2016. Laclau, Ernesto: »Identity and Hegemony. The Role of Universality in the Constitution of Political Logic«, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek (Hg.): Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left. London et al. 2000, S. 44-89. MacDougall, David: »Beyond Observational Cinema [1975]«, in: Paul Hockings (Hg.): Principles of Visual Anthropology. Berlin/New York 1995, S. 115132. Nichols, Bill: »Pornography, Ethnography, and the Discourses of Power«, in: Bill Nichols (Hg.): Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary. Bloomington et al. 1991, S. 201-228. Renov, Michael: »Introduction. The Truth about Non-Fiction«, in: Michael Renov (Hg.): Theorizing Documentary. New York et al. 1993, S. 1-11. Sekula, Allan: »Reading an Archive. Photography between Labour and Capital«, in: Liz Wells (Hg.): The Photography Reader. London/New York 2003, S. 443-452. Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld. Wien 2008.
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Stiegler, Bernard: Ce qui fait que la vie vaut la peine d’être vécue. De la pharmacologie Paris 2010. Stiegler, Bernard: »Distrust and the Pharmacology of Transformational Technologies«, in: Torben Zülsdorf (Hg.): Quantum Engagements. Social Reflections of Nanoscience and Emerging Technologies. Heidelberg 2011, S. 27-39. Vaughan, Dai: »The Aesthetics of Ambiguity«, in: Peter Ian Crawford/David Turton (Hg.): Film as Ethnography. Manchester/New York 1992, S. 99-115. Werner, Michael/Zimmerman, Bénédicte: »Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen«, in: Geschichte und Gesellschaft 28.4 (2002), S. 607-636. Younge, Gary: »#blacklivesmatter in the age of Obama [Bernie Grant Memorial Lecture 2015]«, in: The Justice Gap. http://thejusticegap.com/2015/09/blacklives-matter-in-the-age-of-obama/. .
Erinnerung als interaktive Leistung Kontextualisierungs- und Positionierungsaktivitäten in Interviews über Kolonialgeschichte Alexander Ziem
INTERAKTIVE KONSTRUKTIONEN VON ERINNERUNGEN: EIN PROBLEMAUFRISS Erinnerung, daran scheint kein Zweifel zu bestehen, ist zuvorderst eine kognitive Leistung. Um sich erinnern zu können, bedarf es vorgängiger Erfahrungen, die als zusammenhängender Erfahrungszusammenhang verfügbar und im (Langzeit-)Gedächtnis so abgespeichert sind, dass es zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist, sich die erfahrenen Ereignisse in ihrem Zusammenhang zu vergegenwärtigen.1 Wenn dieser Prozess der Vergegenwärtigung gemeinhin als »Erinnerung« bezeichnet wird, wird dabei unterstellt, dass trotz aller Widerstände ein zumindest schematisches Abbildverhältnis zwischen Erlebtem und seiner Vergegenwärtigung besteht. Die Widerstände sind zwar – potentiell – zahlreich; sie reichen von Überlagerungen der Erinnerung durch spätere Erfahrungen bis zu eklatanten Erinnerungslücken und der Gefahr, diese nachträglich beliebig zu füllen. Sie werden überlagert von dem mächtigen Eindruck der Authentizität – oder sollte man besser sagen: dem Eindruck der Illusion der Authentizität? Erinnerungen entziehen sich per definitionem der intersubjektiven Überprüfbarkeit. Nur die Person, die sich erinnert, ist Wächterin über Wahrheit oder Falschheit.
1
Vgl. hierzu die eindrucksvolle Studie von Bartlett: Remembering aus dem Jahr 1932, die als eine kognitiv-gestaltpsychologische Untersuchung gleichsam avant la lettre anzusehen ist.
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Der kognitiven Dimension der Erinnerung steht eine dezidiert soziale Dimension gegenüber. Erinnerungsprozesse finden nämlich nur selten im stillen Kämmerlein, also jenseits von Interaktion, statt, vielmehr sind sie in der Regel eingebunden in soziale Interaktionszusammenhänge. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Eine sehr fokussierte Kommunikationssituation liegt etwa vor, wenn sich Freunde oder Familienmitglieder über gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse der Vergangenheit – beispielsweise auf der Basis von Fotos – austauschen (»Weißt Du noch – damals?«). Zweifelsohne spielen auch hier kognitive Aspekte der Vergegenwärtigung eine gewichtige Rolle, aber diese sind unentwirrbar verknüpft mit der jeweiligen Interaktionssituation. Erinnerung ist hier weit mehr als Abrufen von Erlebtem: es ist die gemeinsame Herstellung einer Wirklichkeit, die über jeweils gegenseitig wahrnehmbare Prozesse der Schematisierung, Selegierung und Ergänzung von erinnertem »Wissen« in situ gesteuert wird.2 Im thematischen Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages stehen solche sozial-interaktiven Aspekte der Erinnerung. Von dem eher prototypischen Fall der auf Erinnerung fokussierten Interaktion zwischen Personen, die eine gemeinsame Kommunikationsgeschichte haben, weicht das im Folgenden behandelte Beispiel aber in zweierlei Hinsicht ab: Zum einen richtet sich der Beitrag nicht auf natürliche Interaktionen im Alltag, sondern auf den sehr spezifischen Interaktionsrahmen des Interviews; zum anderen handelt es sich nicht um persönliche Erinnerungen an eigene Erfahrungen, sondern um historische Erinnerungen, und zwar konkret an kolonialgeschichtliche Begebenheiten. Historische Erinnerungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht an Erfahrungen aus eigener Anschauung gebunden sind; als Erinnerungssubstrat fungieren vielmehr vermittelte Erfahrungen.3 Dadurch, dass ein unüberbrückbarer Hiatus zwischen Erinnertem und Erlebtem besteht, ergibt sich ein sehr spezifisches Anforderungsprofil, dem die Interagierenden Rechnung zu tragen haben: Einerseits entfällt die Möglichkeit, sich durch Rekurrenz auf das eigene Erleben gegen abweichende Erinne-
2
F. Macgilchrist: Psychologie.
3
Dieser Aspekte der vermittelten Erfahrung ist für eine geschichtswissenschaftliche Perspektive konstitutiv, vgl. A. Erll: Kollektives Gedächtnis, auch S. Michels: Postkoloniale kamerunische Gedächtnistopographien. Auch für eine linguistische Untersuchungsperspektive leitet sich aus der Mittelbarkeit der Erfahrung wichtige Fragen ab, so etwa nach sprachlich gesteuerten transkriptiven Verfahren der Erinnerung (vgl. L. Jäger: Erinnern und Vergessen) oder nach sprachlichen Markern für Erinnertes und Vergessenes; zur diskursanalytischen Perspektive vgl. I. Warnke: Sprachliche Konstituierung.
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rungen zu immunisieren (»So war es, ich habe es ja selbst gesehen!«). Andererseits bleibt es den Interagierenden zugleich verwehrt, sich gegenseitig für fehlende oder fehlerhafte Erinnerungen haftbar zu machen (»Kannst Du dich nicht erinnern, Du warst doch dabei!«). Wenn es um den Austausch über historische Erinnerungen geht, müssen die Interagierenden deshalb die kommunikative Aufgabe lösen, sich interaktiv dem Gegenstand des Erinnerten so anzunähern, dass sie gemeinsam festlegen, woran sich erinnert wird und worin der kommunikative Zweck dient, dies gemeinsam zu tun. Die Analyse von Gesprächen über historische Erinnerungen scheint ein geeigneter Gegenstand zu sein, um die soziale Dimension von Erinnerungsprozessen zu beschreiben. Wie schaffen es Interagierende, in Interviews eine gemeinsame Wirklichkeit herzustellen? Welche Verfahren werden verwendet, um Themen zu setzen und zu verhandeln? Wie organisieren und strukturieren die Interagierenden den Gesprächsverlauf? Welche Rolle spielt dabei der reflexive Umgang mit der (sozialen) Beziehung, die zwischen den Interagierenden besteht? Ausgehend von derartigen Fragen, besteht das Ziel des vorliegenden Beitrages, am Beispiel von historischen Erinnerungen in Deutschland – hier insbesondere kolonialgeschichtlicher Provenienz – aufzuzeigen, inwiefern interaktive Praktiken teils implizit, teils explizit wesentlich dazu beitragen, den Gegenstand und die Art und Weise von Erinnerungsprozessen zu steuern. Auch wenn die vorliegende Studie nur erste Hinweise und Anhaltspunkte liefern kann, sieht sie sich durch die Annahme geleitet, dass Kontextualisierungsverfahren als eine wichtige kommunikative Ressource fungieren, Erinnertes in der Interaktion auf eine spezifische Weise hervorzubringen und zu konturieren. Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten. Zunächst stelle ich kurz den Untersuchungsgegenstand und den interdisziplinären Forschungskontext der vorliegenden Studie vor. Eingeführt wird dabei auch das Konzept der Kontextualisierung, das für die Beispielanalyse leitend ist. Dass Kontextualisierungsaktivitäten auf der Ebene der Situations-, Beziehungs- und Sachverhaltskonstitution bei Erinnerungsprozessen eine essentielle Funktion erfüllen, wird am Beispiel eines Interviews im Einzelnen aufgezeigt und illustriert.
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Die allmähliche Verfertigung einer gemeinsamen »Wirklichkeit« beim Reden: Kontextualisierungsaktivitäten in Interviews Empirischer Gegenstand des vorliegenden Beitrages sind Interviews, die im Kontext des interdisziplinären Forschungs- und Lehrprojektes »Erinnerte Kolonialgeschichte« im Jahr 2016 in Düsseldorf entstanden sind.4 Ausgangspunkt des Projekts bildete die Beobachtung, dass sich im Düsseldorfer Stadtbild heute noch koloniale Spuren der deutschen Kolonialzeit – so etwa Straßennamen im Stadtteil Urdenbach oder das Kolonialkriegerdenkmal am Frankenplatz – entdecken lassen, die auf die vielfältigen Verwicklungen Düsseldorfs in koloniale Aktivitäten hinweisen. Ein Ziel des Projektes bestand darin zu eruieren, ob es bei den DüsseldorferInnen heute noch aktive Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit gibt. Vor diesem Projekt-Hintergrund sollen im Folgenden am Beispiel der deutschen Kolonialgeschichte verschiedene interaktive Strategien des Erinnerns und der »Konstruktion« von Erinnerung identifiziert und analysiert werden. Mit inhaltlichem Fokus auf der Erinnerungskultur im Alltag bestand eine zentrale Aufgabe darin, Praktiken historischer Erinnerungen aus Daten abzuleiten, die durch insgesamt elf Interviews mit interessierten Laien erhoben worden waren. Dazu ist es nötig, ausgehend von Besonderheiten des Textgenres Interview zunächst Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von erinnerungsbasierten Darstellungen und Erzählungen im kolonialgeschichtlichen Kontext zu erarbeiten. Im Folgenden werden zuerst relevante gesprächslinguistische Analysekategorien vorgestellt und in einem zweiten Schritt am Beispiel eines Interviews exemplarisch erprobt. Erinnerung an historische Ereignisse: Interview als Methode Was zeichnet den Interaktionsrahmen Interview aus? Inwiefern ist bei der Datenauswertung den interaktionalen Besonderheiten von Interviews Rechnung zu tragen? Zunächst ist festzustellen, dass sich Interviews von natürlichen verbalen Interaktionen im Alltag in vielerlei Hinsicht fundamental unterscheiden.5 So ist
4
Das Projekt basiert auf der Zusammenführung einer geschichtswissenschaftlichen und einer linguistischen Perspektive. Es wurde 2015 und 2016 in Kooperation von Stefanie Michels (Geschichtswissenschaft) und mir selbst (Als Vertreter der Germanistischen Sprachwissenschaft) an der Universität Düsseldorf durchgeführt.
5
Vgl. A. Deppermann: Interview als Text; A. Deppermann: Forschungsinterview.
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zum einen für Interviews eine extreme kommunikative Asymmetrie charakteristisch, die sich nicht zuletzt im exklusiven Recht des Interviewenden manifestiert, Fragen zu stellen und die Themenwahl zu steuern. Zum anderen ist in Interviews der Sprecherwechsel stark restringiert, weil die Gesprächssteuerung allein in den Händen des Interviewenden liegt. Ist dem Interviewten das Rederecht erteilt, hat er die Möglichkeit zu monologisieren, zumindest so lange, wie der Interviewende dieses Recht nicht einschränkt. Asymmetrisch ist die Gesprächsform des Interviews aber auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung des Gesprächsgegenstandes. Während der Interviewende Themen vorgibt, ohne diese selbst inhaltlich zu bedienen, wird von dem Interviewten erwartet, die eigene Sicht auf den erfragten Themenkomplex darzulegen, ohne dabei differenzierte Rückmeldung zu erhalten, ob seine Ausführungen verstanden worden sind und als angemessen bewertet werden. Generell verhindert das Interaktionsrahmen des Interviews die Verstehensdokumentation der beteiligten GesprächsteilnehmerInnen; Verstehen zu dokumentieren gilt als kennzeichnend für natürliche Interaktion im Alltag (im Sinne von Deppermann/Schmitt 2009). Es ist zu erwarten, dass interviewspezifische Voraussetzungen der Kommunikationssituation konkrete Konsequenzen für den interaktiven Prozess der Herausbildung von historischen Erinnerungen zeitigen. Deppermann (2013: Abschnitt 5.2) hat zurecht darauf hingewiesen, dass die kommunikative Voraussetzungssituation eines Interviews eine eigene soziale Wirklichkeit entstehen lässt, die für Interviewer und Interviewte einen Sinnhorizont eröffnen, vor dem diese ihre Äußerungen wechselseitig interpretieren. Die gemeinsame soziale Wirklichkeit wird dabei von den InteraktionsteilnehmerInnen selbst in situ hergestellt. Sie ist mithin kodeterminiert durch die teils einzelfallspezifischen, teils interviewbedingten kommunikativen Rahmenbedingungen; genauer ergibt sie sich durch • das wechselseitige Aufeinander-Bezugnehmen, welches verbal nach jedem
abgeschlossenen Turn und auch schon währenddessen durch Rückmeldungen mit sprachlichen, vokalen, mimischen, gestischen, blicklichen und anderen leiblichen Ressourcen geschehen kann6, • den Zuschnitt der Äußerungen auf das konkrete Gegenüber, seinen vermuteten Wissensstand, seine Interessen, Identität und Emotionen (»recipient design«)7, • die gemeinsame Herstellung von Sinn durch die wechselseitige Vorgabe von sinnkonstitutiven Kontexten (z.B. Vorinformationen über das Interview, Fra-
6
C. Goodwin: Conversational organization.
7
Vgl. M. Malone: Worlds of talk, »Polity«, Kapitel 5.
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gen), in Bezug auf die Reaktionen gestaltet werden und vor deren Hintergrund sie ihre spezifische Bedeutung gewinnen, und die wechselseitige Interpretation und Aushandlung.8 Da es naheliegt, dass in Interviews die interaktive Herausbildung von historischer Erinnerung durch kontextuelle Faktoren, wie die artifizielle Kommunikationssituation selbst, sowie durch jene kommunikative Bemühung der Beteiligten gesteuert ist, sich auf den Gegenüber einzurichten und die Gesprächsbeiträge auf ihn bzw. sie auszurichten, werde ich mich in der Beispielanalyse insbesondere auf den zweiten und dritten Punkt konzentrieren: Wie gelingt es den Interagierenden, im Interview eine gemeinsame Wirklichkeit herzustellen? Welche Verfahren und Praktiken verwenden sie dafür? Welche Rolle spielt dabei der reflexive Umgang mit der (sozialen) Beziehung, die zwischen den Interagierenden besteht? Wenn derartige Fragen im Mittelpunkt stehen, geht es um Erinnerungen als Resultat von empraktisch eingebundenen Aktivitäten.9 Erinnerung ist hiernach zuvorderst eine interaktive Leistung, wobei der Gegenstand der Erinnerung und seine verbale Ausgestaltung von den GesprächsteilnehmerInnen ausgehandelt wird, um sicherzustellen, dass die Gesprächsbeiträge kommunikativ anschlussfähig bleiben. Geht man davon aus, dass historische Erinnerungen in diesem Sinne aus der Interaktion von Interviewer und Interviewtem hervorgehen, so besteht eine wichtige empirische Aufgabe darin, interaktive Mittel zur Produktion von sozialem Sinn auszuweisen. Einzubeziehen ist etwa, inwiefern erinnerungsbezogene Äußerungen auf den Adressaten und die Kommunikationssituation zugeschnitten sind. Da sich der Sprecher bzw. die Sprecherin im Zuge der Verbalisierung von historischen Erinnerungen zum Gesagten immer schon in einer bestimmten Weise verhält, indem er bzw. sie etwa die eigene Haltung kundtut, können seine bzw. ihre diesbezüglichen Positionierungsaktivitäten aufschlussreich sein. Auch diese können als ein probates Mittel der (sozialen) Kontextualisierung dienen; sie betreffen vielfach die Ebene der Beziehungskonstitution. Kontextualisierungsaktivitäten in Interviews Der Begriff der Kontextualisierung geht auf Gumperz (1982) zurück und wurde insbesondere von Auer (1992) aufgegriffen und weiter differenziert. Auer fasst den Begriff zunächst sehr weit, wenn er festhält:
8
A. Deppermann, Interview als Text, Abschnitt 5.2.
9
Im Sinne von K. Bühler, Sprachtheorie.
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In most general terms, contextualization […] comprises all activities by participants which make relevant, maintain, revise, cancel […] any aspect of context which, in turn, is responsible for the interpretation of an utterance in its particular locus of occurrence.10
Wichtig ist zunächst, dass Auer »Kontext« – im Anschluss an Gumperz – nicht als eine statische, der Interaktion vorgängige Größe begreift, sondern vielmehr herausstellt, dass kontextuelle Gegebenheiten von den InteraktionsteilnehmerInnen selbst aktiv hergestellt wird. Auer betrachtet den Kontext genauer als das interaktive Ergebnis einer gemeinsamen Kontextualisierungsarbeit (»contextualisation work«).11 Um anzuzeigen, wie das Gesagte zu kontextualisieren ist, steht Auer zufolge den Interagierenden eine Fülle an Mitteln zur Verfügung; neben verbalen Ressourcen (wie prosodische Varianz, Akzentsetzungen und Lautstärkevariationen) sind non-verbale Möglichkeiten der Kontextualisierung zu nennen, so etwa mithilfe von Gesten und Augenkommunikation. Kontextualisierungsaktivitäten basieren auf einem Set an Schemata12, die funktional an den kommunikativen Aufgaben in einem Gespräch orientiert sind. Die grundlegende Unterscheidung von verschiedenen Ebenen der Gesprächskonstitution geht auf Kallmeyer (1985) zurück; er differenziert zwischen der Ebene der (a) Gesprächsorganisation, (b) der Sachverhaltsdarstellung, (c) Handlungskonstitution, (d) der Beziehungskonstitution, (e) der Reziprozitätsherstellung und (f) der Interaktionsmodalität (vgl. zusammenfassend Gotsbachner/Ziem/Mrocynski 2015: Abschnitt 3). Diese Unterscheidung ist unter anderem von Holly/Kühn/Püschel (1986) und Liebert (2002: 44ff.) aufgegriffen und modifiziert worden. Auch auf den spezifischen Interaktionsrahmen des Interviews lässt sich die Typisierung von kommunikativen Aufgaben im Gespräch gewinnbringend anwenden: • auf der Ebene der Situationskonstitution wird der interviewspezifische Interak-
tionsrahmen festgelegt, einschließlich seiner interaktiven Charakteristika wie der einseitigen Verteilung des Rederechts; • auf der Ebene der Beziehungskonstitution findet die Image-Arbeit (Selbst- und Partnerdarstellung) statt und die soziale Identität der Interagierenden wird – jenseits der Rollenzuschreibung des Interviews und des Interviewten – unter anderem mithilfe von Positionierungsaktivitäten verhandelt;
10 P. Auer: Introduction, S. 4. 11 Ebd. S, 26. 12 Vgl. auch P. Auer: Kontextualisierung.
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• auf der Ebene der Sachverhaltskonstitution bilden sich interaktiv die Gegen-
stände und Sachverhalte eines Interviews heraus, wobei freilich jene analytisch besonders interessant sind, die nicht vom Interviewenden gesetzt werden; • die Ebene der Gesprächsorganisation betrifft stärker strukturelle Aspekte wie Sprecherwechsel und Themenbehandlung im Interview; • auf der Ebene der textsortenkonstitutiven (Handlungs-)Muster geht es schließlich um interviewspezifische Eigenschaften wie einseitiges Fragerecht und methodisch kontrolliertes Rückmeldeverhalten etc. – diese können, müssen aber nicht mit Aspekten der Gesprächsorganisation zusammenfallen. Für die vorliegende Untersuchung ist nun von zentraler Bedeutung, dass sich so genannte Kontextualisierungsschemata jeweils nicht nur interaktiven Aufgaben im Interview, sondern auch bestimmten Ebenen der Gesprächskonstitution zuordnen lassen. Abb. 1 fasst diese Zuordnungen zusammen.13
Tab. 1: Kontextualisierungsaktivitäten auf verschiedenen Ebenen der Gesprächskonstitution Kontextualisierungsschemata
Interaktive Aufgabe
Ebene der Gesprächskonstitution
1
Schemata des Interagierens
Reden wir miteinander
Situationskonstitution
2
Schemata des Sprechwechsels
Wer redet mit wem?
Gesprächsorganisation
3
Beziehungsschemata
Wie stehen wir zueinander?
Beziehungskonstitution
4
Thematische Schemata
Worüber sprechen wir?
Sachverhaltskonstitution
5
Handlungsschemata
Was tun wir?
Für die Realisierung des Interaktionsrahmens des Interviews sind alle Ebenen der Gesprächskonstitution gleichermaßen relevant. Welche Ebene in den analytischen Fokus gerückt wird, hängt maßgeblich vom inhaltlichen Schwerpunkt der jeweiligen Untersuchung ab. Da im Kontext des vorliegenden Beitrages das Hauptaugenmerk auf der interaktiven Herausbildung von historischer Erinnerung liegt, widme ich mich im Folgenden insbesondere den Ebenen der Situations-, Sachverhalts- und Beziehungskonstitution. Die Ebene der Gesprächsorganisation wird vernachlässigt, weil ihr Einfluss auf Erinnerungstätigkeiten als gering anzusehen ist, denn sie richtet sich primär auf gesprächsstrukturelle Aspekte wie die Verteilung des Rederechts und überhaut auf das interviewspezifische Turntaking-System.
13 Die zu lösenden interaktiven Aufgaben sind von Auer (1992) übernommen.
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Konstitutionsbedingungen von historischen Erinnerungen in Interviews: ein Beispiel Im Folgenden sollen an einem konkreten Beispiel Kontextualisierungsverfahren illustriert werden, mit denen Erinnerung interaktiv hergestellt wird. Erinnerung wird dabei – wie bereits ausgeführt – nicht als ein primär kognitiver Prozess, sondern vielmehr als eine interaktive Leistung verstanden, die sich aus dem kommunikativen Anforderungsprofil der Interaktionssituation ergibt. Konkret konzentriere ich mich auf Kontextualisierungsaktivitäten auf der Ebene der Situationskonstitution (Abschnitt 3.1), der Beziehungskonstitution (Abschnitt 3.2) und der Sachverhaltskonstitution (Abschnitt 3.3). 1. Situationskonstitution Gegenstand der Beispielanalyse ist ein halbstrukturiertes Interview, das ein männlicher Interviewer (PV), unterstützt durch eine weibliche Projektmitarbeiterin (CA), mit einem Lehrer (MB) am 23. Juni 2016 im Besprechungsraum eines Düsseldorfer Gymnasiums geführt hat.14 Das Gespräch dauerte 23 Minuten und 55 Sekunden, wurde mit einem Audiorekorder aufgenommen und nach den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems GAT II (Basistranskript; siehe auch Anhang) transkribiert. Die Situationskonstitution des Interviews beginnt nicht erst mit dem Gespräch zwischen PV und MB, sie nimmt vielmehr ihren Anfang in der von langer Hand geplanten Befragung, so insbesondere in der methodischen Vorbereitung des Interviews, die maßgeblich im Kontext einer universitären Lehrveranstaltung stattfand. Weiterhin ist zweitens die organisatorische Vorbereitung – hier insbesondere die Kontaktaufnahme und Vorab-Kommunikation mit dem zu Interviewenden – Teil der Situationskonstitution. Drittens wird schließlich die Interviewsituation in situ, also im Laufe des Interviews selbst konstituiert; hier spielt eine Vielzahl an Aspekten eine Rolle, so etwa die interaktive Herstellung und Zuschreibung von Gesprächsrollen und Formen der Themenlenkung. Auf jede dieser drei Aspekte der Situationskonstitution gehe ich im Folgenden kurz ein. Methodische Vorbereitung des Interviews. Die Vorbereitung umfasst zum einen die Erarbeitung eines Interviewleitfadens, der ein Set an Fragen umfasst, die
14 Hier und im Folgenden werden aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Klarnamen, sondern Akronyme verwendet, um die Anonymität der beteiligten Personen zu wahren.
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im Laufe des Interviews vom Interviewenden »abzuarbeiten« sind; eine solche halbstrukturierte Gesprächsform soll sicherstellen, dass Interviews mit verschiedenen Interviewpartnern zu demselben Thema bei der analytischen Auswertung vergleichbar sind. Zum anderen gehört zur methodischen Vorbereitung auch die Festlegung eines Ablaufplanes sowie die Verteilung der (Partizipanten-) Rollen, hier insbesondere die Festlegung, wer als ratifizierter Partizipant (hier: PV) das Interview durchführt und wer als ratifizierter Zuhörer (hier: CA) zwar Teilnehmer des Gesprächs ist, ohne aber selbst über ein Fragerecht zu verfügen.15 Organisatorische Vorbereitung des Interviews. Die organisatorische Vorbereitung des Interviews betrifft vor allem die Kontaktaufnahme mit dem Interviewten und den der dabei gleichsam informell stattfindende Informationsaustausch; sie betrifft mithin die Situationskonstitution ante factum. Im vorliegenden Beispiel hat der Interviewer PV per E-Mail seinen ehemaligen Geschichtslehrer MB um die Möglichkeit gebeten, mit ihm ein Interview im Rahmen eines Geschichtsseminars, das er besucht, zu führen. Da PV zwar einst Schüler von MB war, jedoch seit zehn Jahren mit ihm nicht mehr in Kontakt steht, lief die Kontaktaufnahme über das Sekretariat des Gymnasiums, an dem MB als Lehrer arbeitet. Im Vorfeld der Interviewplanung wurden Art und Inhalt der Anfrage nicht festgelegt, jedoch gab es die dezidierte Vorgabe, den eigentlichen Forschungsgegenstand der historischen Erinnerungen an kolonialgeschichtliche Begebenheiten und Personen nicht zu kommunizieren, um Priming-Effekte beim Erinnern zu vermeiden: Die Nennung des kolonialgeschichtlichen Zusammenhangs sollte keine steuernde Funktion beim Erinnern haben. Dem Rechnung tragend, verweist PV in seiner E-Mailanfrage pauschal auf »Erinnerungen an die Geschichte zwischen Deutschland und Kamerun« (vgl. Abb. 2, Absatz 3). Die Kontaktaufnahme per E-Mail ist deswegen im hohen Maße situationskonstitutiv, weil aufgrund der früheren Lehrer-Schüler-Rollenverteilung im institutionellen Kontext der Schule die Notwendigkeit besteht, die Rollen neu zu definieren, zumal sie in der Interviewsituation vertauscht sein werden: Die kommunikative Asymmetrie ist im Interview vertauscht; der ehemalige Schüler PV wird hier das Gespräch führen und nur er – und nicht sein ehemaliger Lehrer – verfügt dabei über das Fragerecht.
15 Zur Unterscheidung von Teilnehmerrollen vgl. E. Goffman: Forms of Talk.
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Abb. 1: Kontaktaufnahme mit dem zu Interviewenden per E-Mail
Die augenfälligste Kontextualisierungsarbeit in der Kontaktaufnahme betrifft die biographische Selbstsituierung von PV. Als primärer Bezugspunkt fungiert zunächst der gemeinsame schulische Erlebnis- und Interaktionsrahmen von PV und MB (vgl. Abb. 2, Absatz 2). Dieser gehört zur geteilten biographischen Erinnerung, auch wenn PV die große Zeitspanne von zehn Jahren herausstreicht, die seit der letzten Begegnung vergangen ist. PV motiviert die Interviewanfrage durch biographische Bezüge, insbesondere dadurch, dass er dabei sei, sein (Geschichts-)Studium abzuschließen, wofür die erfolgreiche Absolvierung des Kurses, im Rahmen dessen das Interview durchgeführt werden soll, Voraussetzung ist. Zumindest bei der Kontaktaufnahme überlagert die geteilte persönliche Erinnerung den eigentlichen Grund der Anfrage: das Interview über historische Erinnerungen an die Geschichte zwischen Deutschland und Kamerun. PV nennt den Anlass zur Kontaktaufnahme bezeichnenderweise mit einem markierten Abstand, indem er den vorgegebenen »Anschreibetext« zitiert (Abb. 2, Abschnitt 4). Es wird sich in Abschnitt 3.3 zeigen, dass auch im Interview selbst die Tendenz besteht, historische Erinnerungen biographisch zu motivieren und dementsprechend zu kontextualisieren; historische Erinnerungen können erst durch die biographische Brille sichtbar werden. Konstitution der Interviewsituation in situ. Der Interaktionsrahmen des Interviews ist für die beteiligten Personen hochgradig artifiziell, und zwar nicht nur, weil es von der natürlichen Interaktion – wie oben erläutert – grundlegend abweicht, sondern auch weil die Interagierenden sich in kommunikativen Rollen wiederfinden, deren Besonderheiten ihnen nicht vertraut ist. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, diese sozialen Rollen zuallererst zu konstituieren und zu ratifizieren. In der per E-Mail erfolgten Absprache ist dies zwar vorbereitet, dies
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entbindet die Interagierenden aber nicht davon, die Interviewsituation und insbesondere die für diese charakteristische Rollenverteilung in situ herstellen zu müssen. Erst wenn PV und MB sich gegenseitig anzeigen, dass sie die Rollen und die an diese geknüpften Kommunikationsbedingungen erfüllen, kann das Interview selbst gelingen. Die Analyse der Interviewsituation basiert auf einem Transkript des gesamten Interviews, das nun in Ausschnitten untersucht werden soll; für die Untersuchung relevante Passagen werden im Folgenden zitiert.16 Im vorliegenden Fall erfolgt die Konstitution der Interviewsituation in drei Phasen. Durch die Thematisierung seiner technischen Voraussetzungen wird das Interview bereits – bevor es beginnt – als ein besonderer Interaktionsrahmen konturiert wird (vgl. Abb. 3, Segmente 3-5). Die Vorbereitungen werden von CA und PV getroffen, noch bevor MB den Raum betritt; sie betreffen die Speichermodalitäten (»s:peicherchip oder wo nimmt der AUF«, Segment 4) und einen Test des Aufnahmegerätes (»sag mal kurz HALlo«, Segment 9). Die zweite Phase beginnt damit, dass der zu Interviewende MB den Raum betritt. Er begrüßt PV lachend, indem er, das Interview antizipierend, seinen ehemaligen Schüler PV in Anspielung auf die Schulzeit begrüßt (»hallo philIPP guten Tag, willkommen in deinen alten gemÄUern«, Segmente 12-15). Diese biographische Kontextualisierung aktualisiert die damalige Lehrer-Schüler-Rollenverteilung.
16 Die Transkription erfolgte nach GAT II mithilfe des EXMARaLDA-Partitur-Editors (www.exmaralda.org/de; letzter Zugriff: 5. Mai 2018). Die im Folgenden ausschnitthaft zitierten Gesprächspassagen werden ebenfalls im Partitur-Editor angezeigt. In der Kopfzeile der Partitur befinden sich Angaben zum zeitlichen Verlauf. Weiterhin ist das Interview in durchnummerierten Segmenten unterteilt. Auch die Angaben zum Zeitverlauf und die Segmentnummern befinden sich in der Kopfzeile. Jede weitere Zeile ist einem Sprecher bzw. einer Sprecherin zugewiesen. Überlappen oder überschneiden sich (Teile der) Äußerungen der SprecherInnen, so ist dies in der Partitur durch die Verortung der Äußerungen auf der horizontalen Achse ablesbar.
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Abb. 2: Segmente 3 bis 22 des Interviews
In der dritten Phase – der letzten vor Beginn des Interviews – nimmt PV auf die neue Rollenverteilung im Interview reflexiv Bezug (»komm mir FREMD VOR irgendwie«, Segment 32-33, vgl. ausführlich hierzu Abschnitt 3.3). Diese Thematisierung der ungewohnten Interaktionssituation des Interviews und insbesondere der damit einhergehenden neuen Rollenzuweisung markiert den Übergang von der Begrüßung zum Interview. Zur Eröffnung des Interviews bedarf es der förmlichen Einleitung durch den dafür autorisierten Interviewer (»sollen wir dann STARten?«, Segment 37-39). PV beginnt das Interview mit jener Frage nach der deutsch-kamerunischen Geschichte (Segment 40-41), die er bereits in der Kontaktanfrage per E-Mail erwähnt hat (vgl. Abb. 2).
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Insgesamt erfolgt die Situationskonstitution maßgeblich über rollenspezifische Aktivitäten und Äußerungen. Zu nennen sind Handlungen zur Vorbereitung der technischen Hilfsmittel, reflexive Bezugnahmen auf soziale Rollen und nonverbale Kommunikation, insbesondere Lachen mit phatischer Funktion. Es wird sich zeigen, dass das situative Setting des Interviews eine steuernde Funktion für die Thematisierung von historischen Erinnerungen erfüllt. Abb. 3: Segmente 33 bis 41 des Interviews
2. Beziehungskonstitution: Positionierung als Identitätsarbeit Wie sich bereits angedeutet hat, ist die Konstitution des Interview-Interaktionsrahmens kaum zu trennen von der interaktiven Etablierung sozialer Rollen. Die Beziehungskonstitution ist dabei wesentlich angewiesen auf Selbst-und Fremdpositionierungen sowie auf so genannte Mitgliedschaftskategorisierungen. Im Anschluss an knappe Erläuterungen, was unter dem Begriff der Positionierung und der Mitgliedschaftskategorie zu verstehen ist, soll deren Funktion bei der Beziehungskonstitution im Interview analysiert werden. Bereits Sacks (1992) und Di Luzio/Auer (1986) haben darauf hingewiesen, dass soziale Kategorien zur Her- und Darstellung der Identität im Gespräch eine wichtige Rolle spielen. Eine Möglichkeit, soziale Identität anzuzeigen und im Gespräch herzustellen, ist die Verwendung von so genannten Mitgliedschaftskategorien.17 Dabei handelt es sich um Mittel zur Einordnung von Mitgliedern des
17 Vgl. hierzu insbesondere H. Sacks: Lectures, das Konzept des Membership Categorization Device.
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gleichen Kategorienverbundes. Sacks versteht unter Mitgliedschaftskategorisierung any collection of membership categories, containing at least as a category, which may be applied to some population containing at least a member, so as to provide, by the use of some rules of application, for the pairing of at least a population and a categorization device member. A device is then a collection plus rules for application.18
Kategorienklassen werden interaktiv hergestellt durch category-bound activities19, also durch (Kontextualisierungs-)Aktivitäten und Verhaltensweisen, die typischerweise mit einem Vertreter der Kategorie verbunden werden. Für den vorliegenden Fall des Interviews ist die Formierung der sozialen Kategorie des Interviewenden und des Interviewten von zentraler Bedeutung, damit ein adäquates Verständnis des Verhaltens und des Handelns der Interagierenden innerhalb des situativen Settings möglich ist. Zu den relevanten category-bound activities zählen unter anderem das Frage-/Antwortverhalten der Beteiligten und Kontextualisierungsaktivitäten (was gesagt werden »darf« und »soll«, wie gesprochen werden »darf« etc.). Die gebildeten sozialen Rollen und Kategorien machen Handlungen und Zusammenhänge interpretierbar und erwartbar. Selbstund Fremdpositionierungen betreffen ebenfalls die interaktive Herstellung von sozialen Beziehungen, sie dienen aber stärker dazu, inhaltliche Einstellungen zu adressierten Personen oder thematisierten Gegebenheiten und somit soziale Identität20 öffentlich wahrnehmbar zu machen. Eine vollzogene Positionierung gibt immer auch Aufschluss über soziale Beziehungen zwischen den Interagierenden; sie indiziert, wer der Sprecher bzw. die Sprecherin ist und welche Identität er bzw. sie dem Gegenüber zuschreibt.21 Selbst- und Fremdpositionierung laufen in der Regel synchron zueinander ab und sind eng miteinander verbunden. Positionierungsaktivitäten erfüllen in dem Untersuchungsbeispiel eine grundlegende Funktion, weil die soziale Beziehung zwischen PV und MB für die Interviewsituation neu definiert und von den Interagierenden ratifiziert werden muss. PV sieht sich in der Interviewanfrage zunächst dazu veranlasst, den biographischen Wandel seiner sozialen Identität in drei Etappen zu thematisieren (vgl. Abb. 5),: erstens in der Rolle des Schülers (»2006 habe ich Abitur am XXX-Gymnasium gemacht und war in deinem zweiten Sowi-LK«), zweitens in
18 H. Sacks: Lectures, S. 246. 19 Ebd., S. 335. 20 Im Sinne von C. Antaki/S. Widdicombe: Identity. 21 M. Bamberg: Positioning; M. Bamberg: Who am I?
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der Rolle des Jura-Studenten (»Ich habe das erste Staatsexamen in Jura gemacht«) und drittens in der Rolle des Geschichts-Studenten (»Auch das Geschichtsstudium möchte ich deshalb bald beenden«). Diese dreifache Mitgliedschaftskategorisierung ist nicht nur eine Form der Selbstdarstellung, sondern zugleich eine der Selbstherstellung (im Sinne von Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 168). Konkret heißt das, dass PV hier nicht nur die vergangenen Ereignisse darstellt, sondern zugleich seine aktuelle soziale Identität herstellt. Dafür ist es nötig, dass »sich das Ich des Sprechers aufgrund des speziellen Vergangenheitsbezugs des Erzählens in ein (gegenwärtiges) erzählendes Ich (als aktueller Sprecher und Interaktionspartner) und ein (früheres) erzähltes Ich (als Akteur in der Geschichte) aufspaltet« (Lucius-Hoene/Deppermann (2004: 172.). Diese Aufspaltung in ein erzähltes und ein erzählendes Ich ist in der Interviewsituation nicht mehr möglich. Schon deshalb ist die Herstellung der neuen sozialen Identität zumindest für PV prekär: Die durch die Kommunikationssituation des Interviews definierten rollenspezifischen Identitäten sind nicht narrativ, sondern interaktiv in der Kommunikationssituation zu etablieren, und dies kann scheitern, da dies unter Mitwirkung aller Beteiligten geschieht. PV stellt seine neue Rolle des Interviewers hochgradig reflexiv her, indem er gleich dreimal in unmittelbarer Abfolge sein Unbehagen ausdrückt (»schon ne ganz andere perspektTIve«, Segment 23; »irgendwie ungewohnt«, Segment 31-32; »kommt mir auch FREMD- VOR«, Segment 32-33). Abb. 4: Segmente 24 bis 40: Beziehungskonstitution vor dem Beginn des Interviews
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3. Sachverhaltskonstitution: Erinnerung an die deutschkamerunische Geschichte In seiner Funktion als Interviewender ist es zunächst PV, der Sachverhalte relevant setzt. MB fehlt die Möglichkeit, eigene thematische Schwerpunkte vorzugeben, seine Rolle bleibt in dieser Hinsicht zwangsläufig passiv. Anders als bei PV gibt es bei MB keine Indizien für Rollenkonflikte; ob tatsächlich welche vorliegen, muss offenbleiben. In gewisser Weise kann er weiterhin die Rolle des Lehrers einnehmen, wenn er nach historische Verbindungen zwischen Deutschland und Kamerun gefragt wird. Die Frage ist ihm bereits aus der Interviewanfrage bekannt; sie war erwartbar und ist nun stark durch die Interviewsituation überformt. Dass sich MB trotz der Möglichkeit, sich gezielt vorzubereiten, mehrfach selbst korrigiert, deutet weniger auf Unsicherheit, als auf einen hohen Grad an Reflexivität hin: Das Attribut »gemeinsame« (Abb. 6, Segment 42) – hier offensichtlich bezogen auf die Art der Verbindung zwischen den beiden Ländern – paraphrasiert er mit »gemeinschaftlich« (Segment 44), was ihm aufgrund des »machtgefüges« (Segment 46) unangemessen vorkommt. Auch stellt MB selbst einen Bezug zur Kolonialgeschichte her (Segment 50-52).
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Abb. 5: Segmente 39 bis 55 des Interviews
Die Sachverhaltskonstitution – hier die deutsch-kamerunische Geschichte betreffend – wirkt aufgrund des erläuterten Interaktionsrahmens des Interviews artifiziell. Dies hängt auch mit der fehlenden Rollenidentität zusammen. Es gibt Hinweise darauf, dass sich MB nicht in der Rolle eines Interviewten Laien sieht, sondern als Geschichtslehrer, also als Informant mit Spezialwissen auftritt. Neben den erwähnten Selbstkorrekturen deuten lenkende und metasprachliche Thematisierungen der Fragen darauf hin. PVs Frage, für wen die Geschichte zwischen Deutschland und Kamerun noch wichtig sei (Abb. 7, Segment 55-56), entgegnet MB mit »äh WICHTIG für !WEN! wäre ja die frage« (Segment 59). Er beantwortet die Frage selbst mit Verweis auf Kamerun, aber nicht ohne hin-
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zuzufügen, dass seine Ausführungen eher »spekulation« (Segment 64, wiederholend in Segment 69) seien. Abb. 6: Segmente 53 bis 73 des Interviews
Erst als CA (Segment 75-76, Abb. 8) und PV (Segment 79-80) die Frage explizit als »MEInungsfrage Einschätzungsfragen« (Segment 74) charakterisieren, zieht MB neben Schulbuchwissen auch solche historischen Erinnerungen (hier über den Hereroaufstand) in Betracht, die über die Medien vermittelt werden (Segment 85).
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Abb. 7: Segmente 73 bis 103 des Interviews
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Zum Gegenstand von MBs historischen Erinnerungen wird in der Folge auch die Kameruner Fußballnationalmannschaft (Segmente 86 bis 104). MB stellt hier den biographischen Bezug her, dass er in jungen Jahren über den damaligen Trainer der Kameruner Nationalmannschaft einen Zeitungsartikel geschrieben habe. Durch diese Aufspaltung von erzählendem und erzähltem Ich im Kontext biographischer Erfahrungen tritt ein neuer Typus historischer Erinnerungen zutage, der qualitativ mit historischen Erinnerungen, die auf (Schul-)Buchwissen zurückgehen, nicht viel gemeinsam hat. Dieser neue Typus entsteht nicht durch ereignisgeschichtliche, sondern durch biographische Kontextualisierungen, die im vorliegenden Fall motiviert sind durch gesprächssteuernde Aktivitäten der Interviewer (»MEInungs frage EINschätzungs FRAgen«, Segment 79). Geschichtserzählungen (hier insbesondere kolonialgeschichtliche Aspekte betreffend), so deutet sich hier an, können mit dem situativen Anlass ihres Zustandekommens stark verschränkt sein. Die Gründe für solche Verschränkungen sind sicherlich vielfältig: im vorliegenden Beispiel mag ein Grund darin liegen, dass der Einbezug persönlicher Erfahrungen – hier im Rückgriff auf das konversationell gut anschlussfähige Thema Fußball – MB entlastet und ihn zugleich davon entbindet, historische Fakten zur kolonialgeschichtlichen Beziehung Deutschlands zu Kamerun zu liefern. Generell ist es zu erwarten, dass Erinnerungen in dem Maße variieren können, wie sich die (soziale) Motivation, sich zu erinnern, verändert. Erinnerungen erweisen sich in dieser Perspektive als äußerst fragile Konstrukte, die jenseits ihres jeweiligen (interaktiven) Entstehungszusammenhangs nicht – oder zumindest nicht in dieser Form – reproduzierbar sind. Schlussbemerkungen Auch wenn Erinnerung zumeist als ein primär kognitives Phänomen angesehen wird, ist der Prozess der Erinnerung – zumindest, wenn dieser nicht im »stillen Kämmerlein«, sondern im Gespräch stattfindet – immer auch ein inhärent soziales Phänomen. Unter dieser Perspektive ergibt sich eine Reihe an interessanten Fragestellungen, die sich – auch aus linguistischer Sicht – nachzugehen lohnt. Macgilchrist nennt unter anderem die folgenden: Aber stammen Erinnerungen aus einem Ort im Kopf? Oder werden sie nicht eher in sozialen Situationen, zusammen mit anderen Personen oder Entitäten, und eingebunden in konkreten Praktiken, hervorgebracht? Gehört das Gedächtnis dem Individuum? Kann das abs-
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trakte Konzept »Gedächtnis« nicht eher durch ihre Materialisierung (bzw. Operationalisierung) in dezidiert soziale materialdiskursive Praktiken verstanden werden?22
Im vorliegenden Beitrag habe ich die Position vertreten, dass Erinnerungen in der Tat Ergebnisse von Kommunikationsprozessen sein können, insofern sie nämlich in diesen unter je interaktionsspezifischen Konstitutionsbedingungen hervorgebracht werden. Konkret wurde der Versuch unternommen, interaktive Praktiken und Voraussetzungen der Hervorbringung von Erinnerungen in Gesprächen aufzuzeigen. Unter besonderer Berücksichtigung von Kontextualisierungs- und Positionierungsaktivitäten geschah dies am Beispiel eines Interviews zur Beziehung zwischen Deutschland und Kamerun. Historisches »Wissen« zeigte sich hier eng verschränkt mit persönlichen Erinnerungen. Erinnerungen, so legen die erzielten Analyseergebnisse nahe, haben auch ein soziales Substrat, das sich aus ihren Entstehungszusammenhang ableiten lässt: Bei Erinnerungen handelt es sich insofern um interaktive Leistungen, als sie eng verknüpft sind mit (a) der (gemeinsamen) Kommunikationsgeschichte der Interagierenden, (b) den spezifischen Gelingensbedingungen des – hier: interviewspezifischen – Interaktionsrahmens, (c) den sozialen Rollen, die sich die Interagierenden innerhalb dieses Rahmens zuschreiben, sowie insbesondere mit (d) den multiplen Kontextualisierungsaktivitäten einerseits, die bei der Situations-und Sachverhaltskonstitution mitwirken, und (e) den Positionierungsaktivitäten andererseits, die bei der Etablierung und Ratifizierung von sozialen Beziehungen zwischen den Interagierenden maßgeblich beteiligt sind. Erinnerungen in Bezug auf historisches Wissen zur deutschen Kolonialgeschichte lassen sich zumindest in dem analysierten Beispiel nicht vom interaktiven Ort ihrer Entstehung loslösen; sie erweisen sich vielmehr als orchestrierte diskursiv-situierte Praktiken, mit denen vergangene Ereignisse interaktiv verfügbar gemacht und thematisiert werden.
22 F. Macgilchrist: Psychologie.
Erinnerung als interaktive Leistung | 213
TRANSKRIPTIONSKONVENTIONEN NACH GAT Sequentielle Struktur []
Überlappung
[] =
schneller Anschluss eines neuen Redezugs
Pausen (.)
Mikropause
(–), (––), (–––)
kurze, mittlere oder lange Pausen von ca. 0.25–0.75 Sekunden, bis zu ca. 1 Sekunde
(2.0) Pause von mehr als einer Sekunde Weitere segmentale Konventionen und=äh
Verschleifungen innerhalb einer Einheit
:, ::, :::
Längungen
‘
glottaler Verschlusslaut
Lachen so(h)o Lachpartikel während des Sprechens haha hehe hihi
»silbisches« Lachen
((lacht)) Beschreibung von Lachen Rezeptionssignale hm, ja, nein einsilbige Signale hm=hm, ja=a
zweisilbige Signale
‘hm’hm zweisilbiges Signal mit glottalem Verschlusslaut, signalisiert meist eine Verneinung Akzente AKzent Hauptakzent !AK!zent extra starker Akzent Tonhöhenbewegungen ?
stark ansteigend
,
steigend
-
gleichbleibend
;
fallend
.
stark fallend
Weitere Konventionen ((Husten)) paralinguistische und nicht-linguistische Handlungen und Ereignisse redebegleitende paralinguistische und nicht-linguistische Handlungen und Ereignisse
()
interpretierende Kommentare zur Rede
unverständlicher Abschnitt, entsprechend der Länge
(Arzt) vermuteter Wortlaut al(s)o vermuteter Laut oder Silbe ((...)) Textauslassung
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LITERATUR Antaki, Charles/Widdicombe, Sue: »Identity as an achievement and as a tool«, in: Charles Antaki/Sue Widdicombe (Hg.): Identities in Talk. London 1998, S. 1-14. Attig, Matthias: »Spuren des Erinnerns und Vergessens in funktionalen Texten«, in: Ekkehard Felder (Hg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin/Boston 2013, S. 287-308. Auer, Peter: »Kontextualisierung«, in: Studium Linguistik 19, Tübingen 1986, S. 22-47. Auer, Peter: »Introduction: John Gumperz’ Approach to Contextualization«, in: Peter Auer/Aldo di Luzio (Hg.): The Contextualization of Language. Amsterdam 1992, S. 1-38. Auer, Peter: »Context and Contextualization«, in: Jef Verschueren/Jan-Ola Östman/Jan Blommaert (Hg.): Handbook of Pragmatics. Amsterdam 1995, S. 1-19. Bamberg, Michael: «Positioning between structure and performance«, in: Journal of Narrative and Life History, 7 (1997), S. 335-342. Bamberg, Michael: »Who am I? Narration and its contribution to self and identity«, in: Theory & Psychology 21 (2011), S. 3-24. Bartlett, Frederic: Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge 1932. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsform der Sprache, Stuttgart 1965. Deppermann, Arnulf: »Interview als Text vs. Interview als Interaktion«, in: Forum Qualitative Sozialforschung (FQS) 14 (3) (2013), o.S. Deppermann, Arnulf: »Das Forschungsinterview als soziale Interaktionspraxis«, in: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.): Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen – 10 Jahre Berliner Methodentreffen, Heidelberg 2014, S. 133150. Deppermann, Arnulf/Schmitt, Reinhold: »Verstehensdokumentation: Zur Phänomenologie von Verstehen in der Interaktion«, in: Deutsche Sprache 3/08 (2009). S. 220-245. Di Luzio, Aldo/Auer, Peter: »Identitätskonstitution in der Migration: konversationsanalytische und linguistische Aspekte ethnischer Stereotypisierung«, in: Linguistische Berichte 104 (1986), S. 327-351. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2. Auflage. Stuttgart 2011. Goffman, Erving: Forms of Talk. Philadelphia 1981.
Erinnerung als interaktive Leistung | 215
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Hermann von Wissmann und die Verflechtung nationaler, internationaler und lokaler Erinnerungsdiskurse Britta Schilling
Im Juni 2016 forderten Schüler der Hulda-Pankok-Gesamtschule in Düsseldorf die Umbenennung der Wissmannstraße in Düsseldorf-Unterbilk. Im Jahre darauf sprachen sich auch Anwohner der Straße für eine Umbenennung aus. Aus Kostengründen entschied sich die Stadt gegen eine Umbenennung, aber für Informationstafeln mit Texten, die in Zusammenarbeit mit der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf geschrieben wurden und zur historischen Aufarbeitung der Figur Hermann von Wissmanns führen sollen. So wurde, 110 Jahre nach der Benennung der Straße, im lokalen Kontext entschieden, dass die damalige Würdigung eines nationalen kolonialen Helden nicht mehr in das heutige Geschichtsbild passe. Entwicklungen wie diese scheinen eine frappierende Wende im deutschen kollektiven Bewusstsein über die Kolonialzeit zu zeigen. So bahnbrechend dies zu scheinen mag, und so sehr es offensichtlich ein deutsches »Vergessen« der Kolonialzeit durchbricht, ist die Neubetrachtung von Wissmanns »Heldentum« eigentlich gar nicht so eindeutig neu. In den frühen Morgenstunden des 1. November 1968 wurde das Bild Hermann von Wissmanns, bildlich und buchstäblich, schon einmal von seinem Sockel gestürzt. Ein bronzenes Standbild des deutschen Forschers und Gouverneurs, 2,6 Meter hoch, an seiner Seite ein ihn scheinbar anbetender Askari (afrikanischer Kolonialsoldat), standen seit 1922 stolz vor der Universität Hamburg. Dieses Symbol vom Ruhm des Deutschen Reiches war ursprünglich 1909 in Dar es Salaam, der Hauptstadt des ehemaligen Deutsch-Ostafrikas, errichtet worden. Nachdem Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg seine Kolonien verlor, wurde das Denkmal, nach kurzem Aufenthalt als Kriegsbeute in England, schließlich
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nach Deutschland gebracht und vor dem ersten deutschen Kolonialinstitut, der Universität Hamburg, wieder aufgestellt.1 Doch seit 1961 kämpften Studierende mit der Universität Hamburg um die Beseitigung des Wissmanndenkmals, zusammen mit dem Standbild eines anderen Kolonialisten, Hans Dominik. Ermutigt durch den »Sozialistischen Deutschen Studentenbund« (SDS) protestierten die Aktivisten gegen die Denkmäler als Symbole des »Kolonialismus in der afrikanischen Welt«.2 Das WissmannStandbild wurde von den Studierenden als »tägliche zynische Beleidigung für unsere afrikanischen Mitschüler«3 gesehen. Im Herbst 1968 gelang es den Studierenden, die Figur zu stürzen und in die Mensa zu tragen, wo sie mit Farbe und Fruchtjoghurt beschmiert wurde.4 Der Denkmalstreit wurde schließlich durch die Universität geschlichtet, und das Standbild wird seitdem im Keller des örtlichen Planetariums aufbewahrt. Trotz Protest der »Vereinigung der Ostafrikaner«, des »Traditionsverbandes ehemaliger Schutz- und Überseetruppen« und einzelner Veteranen der ehemaligen Schutztruppe beschlossen die Universitätsbeamten, das Standbild außer Sicht zu behalten. Kurz wurde es für ein Projekt der Künstlerin Hannimari Jokinen im Jahre 2005 ausgestellt, um danach wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.5 Unter Historikern der deutschen Kolonialzeit wurde dieses eine bekannte Anekdote.6 Dieser »Fall« ist eben ein so anschauliches Beispiel dafür wie die ehemaligen Helden der deutschen Kolonialzeit in den 60er Jahren buchstäblich gefallen waren, bzw. gefällt wurden. Deshalb wurde der steinerne Wissmann auch erst kürzlich, im Jahr 2016, im Deutschen Historischen Museum Berlin im Rahmen der Sonderausstellung »Deutscher Kolonialismus« wieder ausgestellt.
1 2
J. Zeller: Kolonialdenkmäler, S. 201-211; vgl. auch W. Speitkamp: Denkmalsturz. Anonymous: »Wissmann-Denkmal sollte umgestürzt werden«, Hamburger Abendblatt, 9 Aug. 1967, S. 4.
3
Allgemeiner Studentenausschuss (ASTA) an der Universität Hamburg, Das permanente Kolonialinstitut. 50 Jahre Hamburger Universität, Trittau 1969, S. 39.
4
Anonymous: »Jetzt steht Wissmann in der Mensa«, Hamburger Abendblatt, 2 Nov.
5
H. Jokinen: Colonial monuments.
6
Selbst benutzte ich sie in meiner Dissertation über die deutsche Erinnerung an die Ko-
1968, S. 12.
lonialzeit, vgl. B. Schilling: Memory, Myth and Material Culture. Zur gleichen Zeit erschienen mehrere Publikationen die ebenso auf diese Anekdote zurückgriffen: J. Zeller: Decolonization; J. Verber: Building Up; I. Cornils: Denkmalsturz; Q. Slobodian: Foreign Front.
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Aber vielleicht ist genau diese Szene auch ein etwas irreführendes Bild, denn so einfach war für Deutschland auf kultureller Ebene der Übergang zwischen einer kolonialen und postkolonialen Wirklichkeit nicht. Bereits 1919 verlor Deutschland seine Kolonien, doch das Verlangen nach Weltmachtsstatus und die kollektive Erinnerung an deutschen Besitz in »Übersee« nahm nicht ab. Im Gegenteil, durch diesen Verlust wurden sie sogar in den 1920er und 1930er Jahren bekräftigt.7 Viele Historiker behaupten, dass nach 1945 der Traum der Kolonien endgültig zu Ende war und die Erinnerung daran durch viel zeitnähere Erinnerungen an Krieg, Holocaust, Flucht und Vertreibung verdrängt wurde. Nur noch als visuelle Unterstreichung dieses »Vergessens« sei dann das Niederreißen des Hamburger Standbildes zu verstehen.8 Doch wenn wir genauer hinsehen, ist das nicht wirklich der Fall. Eine kollektive Erinnerung an Wissmann und andere Figuren aus der Kolonialzeit lebte noch lange weiter, nach 1919, nach 1945, und auch nach 1968 – wenn auch in immer veränderter Form. Diese Erinnerung wurde nicht mit einem Mal abgeschafft, und sie kehrte auch nicht plötzlich im Gedenkjahr 2004 zurück, wie manche Historiker es gern betonen.9 Es mussten in den Jahrzehnten nach 1919 noch viele weitere Auseinandersetzungen mit der kolonialen Vergangenheit auf mehreren Ebenen stattfinden – auf privaten wie auf öffentlichen, auf nationalen, internationalen, transnationalen und lokalen Ebenen. In diesem Artikel werde ich versuchen, die Mechanismen, die der Mythos Wissmann aufgebaut hat, sowie Gegenpole dazu aufzudecken. Wie kommt es, dass Wissmann so berühmt wurde und wie und wann geriet er in Vergessenheit? War er jemals vergessen? Dabei werden drei historische Momente der Erinnerung näher berücksichtigt: die frühe Erinnerung an Wissmann während der Kolonialzeit selbst, die Entwicklung dieser Erinnerung in der Zwischenkriegszeit und das in Bruchteilen, oder »Fragmenten«, erhaltene Erinnerungsbild Wissmanns in der heutigen Zeit. Ich beziehe mich hierbei auf die sehr wichtige Forschung von Thomas Morlang und Tanja Bührer zur Person Wissmanns und von Joachim Zeller zum Thema Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein in Deutschland.10 Aber ich argumentiere auch, dass das Erinnern an Wissmann und an die deutsche Kolonialzeit noch viel weiter reicht als Historiker bisher berück-
7
Vgl. B. Schilling: Postcolonial Germany, S. 13-89.
8
Vgl. R. Kößler: Kolonialherrschaft; L. Wildenthal: Imperial Turns.
9
Dagegen spricht M. Albrecht: (Post-) Colonial Amnesia.
10 Vgl. J. Zeller: Deutschlands größter Afrikaner; T. Morlang: Finde ich keinen Weg; W. Speitkamp; Der Totenkult um die Kolonialheroen; C. Prinz: Wissmann als »Kolonialpionier«; M. Pesek: Koloniale Herrschaft.
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sichtigt haben, besonders wenn wir nicht nur auf nationale, sondern auch auf inter- und transnationale, lokale und persönliche Erinnerungsdiskurse achten.
WER WAR HERMANN VON WISSMANN? Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann wurde am 4. September 1853 in Frankfurt an der Oder geboren, wo sein Vater Hermann Wissmann als Regierungsrat tätig war. Wissmanns Vater starb bereits 1869; seine Mutter lebte noch viele Jahre in Bad Lauterberg im Harz. Durch seine enge Beziehung zu seiner Mutter hatte dieser Ort auch für Wissmann eine besondere Bedeutung und er besuchte sie oft dort, wenn er nach seinen Reisen in Übersee zur Erholung in Deutschland war. Wissmann besuchte als Junge das Gymnasium in Neu-Ruppin und wurde danach im preußischen Kadettenkorps ausgebildet. Während seiner Ausbildung wurde er mehrmals wegen Randalierens (später nochmal wegen eines Duells) festgenommen, was von seinen frühen Biographen locker als »Übermut« entschuldigt wurde.11 1874 wurde er Offizier und fünf Jahre später lernte er in Rostock den Forscher Paul Pogge kennen, mit dem er 1880 seine erste Afrikareise durch das Kongobecken antrat. Während ihrer Durchquerung von West nach Ost (zum ersten Mal von Europäern) und in einer weiteren Reise zur Erforschung des Kassai-Flusses ebenfalls im Kongogebiet 1883-5 sammelte Wissmann eifrig ethnografische Gegenstände für das Berliner Völkerkundemuseum.12 1886-7 durchquerte Wissmann ein zweites Mal Afrika in den Diensten des belgischen Königs Leopold II – und sammelte weiter. Damals besuchte er übrigens auch King Bell in Kamerun und verschiedene Dörfer der Duala, bei denen ihm: »ein hübsch gemaltes Ruder, eine Trommel, ein Schemel und einige kleine schön geschnitzte Kanoe-Modelle ...theils geschenkt, theils zum Kauf angeboten [wurden].«13 Das Trajekt dieser Objekte knüpfte damit auch einen Knoten zur Verbindung zwischen Kamerun und Deutschland. Nicht als Forschungsreisender, sondern vom deutschen Militär wurde Wissmann 1888/89 geschickt, den sogenannten »Araberaufstand« im Gebiet der von Deutschland beanspruchten ostafrikanischen Küste niederzuwerfen. Die von den Deutschen »Araber« genannten Personen waren in Wirklichkeit eine Koalition
11 C. von Perbandt/G. Richelmann/R. Schmidt: Hermann von Wissmann, S. 5, 7. 12 Ebd., S. 32; H. von Wissmann/L. Wolf/C. von François/H. Mueller: Im Innern Afrikas, S. viii. 13 Ebd., S. 2.
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lokaler Mächte, afrikanischer Patrizierfamilien nahöstlicher Abstammung und den unteren Klassen der Stadtbevölkerung mit Landarbeitern und versklavten Menschen sowie Kriegern des Landesinneren. Diese bestritten die deutsche und teilweise auch die Herrschaft des Sultans von Zanzibar und des Omanischen Königshauses und drohten das Gebiet, seit 1885 unter formaler »Schutzherrschaft« der Deutschen stand, wieder zu entreißen.14 Wissmann bildete die später sogenannte »Wissmanntruppe«, eine Streitmacht aus afrikanischen Soldaten und freiwilligen weißen Offizieren, die als Vorbild für die spätere ostafrikanische Schutztruppe diente. Wie Tanja Bührer bereits gezeigt hat, wurde die außergewöhnliche Formation dieser Truppe, eine Einheit zwischen privater und öffentlicher Streitmacht, eng mit dem »nonkomformistischen Verhalten«15 von Wissmann selbst in Verbindung gebracht. Besondere Erfolge für Wissmann waren die Siege über die Anführer Abuschiri ibn Salim al-Harthi (Bushiri bin Salim), 1889 erhängt, und Bwana Heri bin Juma, der sich 1890 zeremoniell unterwarf. Bis 1891 fungierte Wissmann als Reichskommissar für Deutsch Ostafrika. Nach Entlassung aus dem Militär und kurzer Genesung in Deutschland zog er wieder nach Ostafrika, um das Innere der Kolonie weiter zu sichern, indem er einen deutschen Dampfer ständig auf dem Tanganjika-See patrouillieren lassen wollte. Dieser Dampfer, zerlegt in mehrere Teile, wurde durch Tausende von afrikanischen Trägern durch das Gebiet gebracht und schließlich am Nyassa-See anstatt am Tanganjika-See endgültig zusammengesetzt. Kurz danach heiratete Wissmann Hedwig Langen, Tochter des Kommerzienrats Eugen Langen in Köln. Langen war Vertreter der Antisklaverei-Lotterie – ein Thema, was Wissmann auch beschäftigt hatte – und die Trauung fand 1894 in der Trinitatiskirche Köln statt. Hier wurde also eine weitere regionale Verbindung zwischen Afrika und dem Rheinland geknüpft. Zwischen 1895 und 1896 war Wissmann noch ein letztes Mal in Deutsch Ostafrika tätig, dieses Mal als Gouverneur. Er trat aber aus gesundheitlichen Gründen zurück und zog auf sein Gut in der Steiermark in Österreich, wo er 1905 starb.
14 J. Glassman: Feasts and Riot, S. 6. 15 T. Bührer: Kaiserliche Schutztruppe, S. 81.
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Zwischenbilanz: Das Urteil seiner Zeitgenossen und die heutige Perspektive Viele von Wissmanns Handlungen wären nach heutigem Kriegsgesetz und internationalen Menschenrechten illegal, z.B. das Anzünden von Wohnstätten der Zivilbevölkerung, körperlicher Missbrauch (auch gegen seine eigenen Soldaten im Namen der Disziplin), wie beispielsweise Strafdienst, Anbinden, Prügel, Kettenarbeit, Todesstrafe.16 Seinen eigenen Angaben nach führte er vier seiner Gegner mit sich an der Kette, um den Afrikanern zu beweisen »daß es mit der Macht der Araber hier zu Ende sei.«17 Plündern wurde von ihm befürwortet.18 Nicht zuletzt zu erwähnen ist auch das Sammeln feindlicher Schädel für ethnographische Forschung durch Wissmanns Mitreisende.19 Nach Angaben Selim bin Abakaris, der in einer Expedition Wissmanns im Gefolge von Dr. Bumiller den Dampfer »Hermann von Wissmann« zum NyassaSee brachte, wurde die Stadt des Oberhauptes Zunda, der sich weigerte die deutsche Flagge anzuerkennen, in folgender Weise besiegt: Am Abend kam ihm [Wissmann] der gute Gedanke, Steine, Pfeile und Speere zu sammeln und an diese in Petroleum getränkte Holzspäne, Grasbündel oder alte Lappen zu binden, sie anzuzünden und auf ihre Häuser in der Boma zu schleudern und zugleich Raketen loszulassen...Die Eingeborenen ließen die Stadt im Stich und rannten davon...Gegen Morgengrauen betraten wir die Stadt, trafen jedoch keinen einzigen Menschen mehr an, nur Feuer, Rinder und Ziegen.20
Teilweise wurden diese Taktiken der verbrannten Erde und des Terrors schon zu Wissmanns eigenen Zeiten als »exzessiv« aufgefasst. Sie kamen unter Kritik der Zivilregierung, wie wir aus einem Privatbrief des Generalkonsuls Michahelles entnehmen können: Eine Militärdiktatur, wie Wissmann sie heute übt, taugt nicht für längere Dauer… Durch das kursorische Hängen der Araber wurden diese in den Augen der Neger einfach für vo-
16 Vgl. C. von Perbandt et al.: Hermann von Wissmann, S. 24, 453-5; H. von Wissmann et al.: Im Inneren Afrikas, S. 57; H. von Wissmann: Afrika, S. 44, 56-57, 65-66. 17 RKA 741, Wissmann an Bismarck, 23. Sept. 1889, zit. in F. F. Müller: Deutschland – Zanzibar – Ostafrika, S. 445. 18 H. von Wissmann: Afrika, S. 24. 19 H. von Wissmann et al.: Im Inneren Afrikas, S. 175. 20 S. bin Abakari: Reise nach dem Nyassa.
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gelfrei erklärt, so daß ein Häuptling bei Wissmann anfragen ließ, ob er alle Araber ohne Unterschied totschlagen sollte… Auf der anderen Seite verdirbt aber auch der Ausnahmezustand die jungen Offiziere, weil ihr bonplaisir einfach keine Schranken im Gesetz mehr findet, und wenn ihr Pascharegiment einmal aufhört, so können sie sich in die normalen Verhältnisse nicht mehr hineinfinden.21
Inwiefern trug Wissmann mit dieser »Militärdiktatur« bei zur strukturellen Gewalt in den Kolonien und zur eskalierenden Gewalt im deutschen Militär? Zumindest galten für viele Militärs, deutsche wie englische, die Kolonien als Ausnahmen, in denen andere Kriegsmaßnahmen berechtigt waren als in Europa.22 Abgesehen davon waren einige Eigenschaften oder Handlungen Wissmanns sicherlich nicht die eines Helden: Er litt zum Beispiel unter Morphiumsmissbrauch.23 Für manche galt er als arrogant: Admiral Karl August Deinhard, Chef des Kreuzergeschwaders, erklärte, Wissmann sei »taktlos, nicht im Stande seine Instruktionen zu verstehen, und vom Größenwahn völlig verblendet«.24 Als Gouverneur von Deutsch Ostafrika hat er die Grundsätze zum weiteren Erwerb von Kronland in Afrika und zur Besteuerung der Bevölkerung gelegt.25 Diese sogenannte Hüttensteuer war sehr unbeliebt und einer von mehreren Gründen, die zu dem Maji-Maji Aufstand 1905-7 führten.26 Darüber hinaus war Wissmann, wie viele Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, überzeugt von einer getrennten Entwicklung von sogenannten »Rassen«, ein Glaube, dass Afrikaner Weißen gegenüber wie Kinder seien, Kinder, die »hart, aber gerecht«27 regiert werden müssten. Mit dieser Mentalität wurden Notstände, wie z.B. eine Heuschreckenplage und die dadurch entstehende Hungersnot nicht durch Essenssendungen bekämpft, sondern indem er den hungernden
21 RKA, Nr. 745, Bl. 95 f., Privatbrief Michahelles, Zanzibar, 5. März 1890, Abdruck in F. F. Müller: Deutschland – Zanzibar – Ostafrika, S. 552. Zu weiteren umstrittenen Seiten Wissmanns während seiner Lebzeiten, vgl. T. Bührer, Forschungsreisender. 22 T. Bührer: Kaiserliche Schutztruppe; S. Kuss: Deutsches Militär; I. Hull: Absolute Destruction; H. Arendt: Origins of Totalitarianism; J. Zimmerer: Krieg, KZ und Völkermord. 23 H. von Wissmann: Afrika, S. 82. 24 Zit. in T. Bührer: Kaiserliche Schutztruppe, S. 55. 25 C. von Perbandt et al.: Hermann von Wissmann, S. 437-439. 26 Vgl. J. Giblin/J. Monson: Introduction; T. Sunseri: Statist Narratives; J. Monson: Relocating Maji Maji; P. Hassing: German Missionaries; J. Iliffe: Organization of the Maji Maji Rebellion. 27 H. von Wissmann: Afrika, S. 63, 67-9.
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Leuten die Möglichkeit anbot, sich durch Wegebau Geld zu verdienen. In manchen Fällen wurden allerdings auch Saatgut und Lebensmittel ohne Entgelt ausgeteilt.28 Manch andere Handlungen Wissmanns würden heutzutage auf den ersten Blick als lobenswert angesehen, zum Beispiel im Bereich des Umweltschutzes: 1896 schlug Wissmann eine Reihe von Maßnahmen vor, um ostafrikanisches Wild zu schützen u.a. durch saisonbedingte Jagdeinschränkungen und eine Begrenzung der Jagdgenehmigungen. Diese Maßnahmen trug er 1900 in London einem internationalen Publikum vor und sie galten vor allem für die Engländer als vorbildlicher Tierschutz.29 Dabei muss natürlich gesagt werden, dass hierdurch aber auch die Jagdbeute einer Elite von Militärs oder wohlhabenden weißen Männern noch wertvoller wurde. Die Jagdpraktiken der afrikanischen Bevölkerung wurden dagegen zerstört, und somit auch die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse.30 Zudem spielte die Rhetorik der Anti-Sklaverei-Bewegung eine große Rolle in Wissmanns Bemühen, seine Kriegszüge in Deutsch Ostafrika zu rechtfertigen.31 In Wirklichkeit arbeitete er mit Sklavenhändlern wie TippuTip und Bwana Heri zusammen, verhandelte mit ihnen und war teilweise auch auf ihre Hilfe angewiesen.32 Seinen eigenen Aufzeichnungen zufolge zeigt Wissmann in der Tat eine Vorliebe für die Diplomatie als größte Waffe im Konflikt: So überlegte er, »ob man nicht vortheilhafter ohne Blutvergießen zu seinem Ziele gelangen kann, indem man dem Feinde »goldene Brücken« baut, als wenn man die Entschei-
28 C. von Perbandt et al.: Hermann von Wissmann, S. 451. 29 Ebd., S. 439, 529-535. 30 T. Sunseri: War of Hunters. Vgl. auch T. Lekan: Serengeti Shall Not Die; B. Gißibl: International Wildlife Preservation. 31 Im Namen der Antisklaverei wurde die Finanzierung der Wissmanntruppe ohne vollkommene Transparenz über militärische Details vom Reichstag bewilligt. Vgl. hierzu T. Bührer: Forschungsreisender, S. 54-5; vgl. auch K. Bade: Antisklavereibewegung. 32 Etwas zynischer die Auffassung des DDR-Historikers Fritz Ferdinand Müller 1959: »Wissmanns antiarabische Propaganda, die übrigens bei der Schilderung der Greuel der Sklavenjagd mit unbezweifelbar authentischen Tatsachen operierte, entstammte nicht echter humaner Empörung über die innerafrikanischen Vorgänge, sondern war ein Produkt zynischer agitatorischer Absichten: Die infernalischen Zustände in weiten Teilen Innerostafrikas, seit Jahrzehnten bekannt und als ‚Gegebenheiten‘ hingenommen und ignoriert, waren in dem Augenblick ‚unerträglich ‘geworden, als die DOAG von der Küste verjagt wurde.« F. F. Müller: Deutschland – Zanzibar – Ostafrika, S. 429.
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dung mit der Waffe sucht.«33 Und doch: »Andererseits ist aber wohl zu berücksichtigen, daß bei einem Feinde, den man nur mit den rücksichtslosesten Mitteln überwinden kann, eine sogenannte »goldene Brücke« eine ganz verkehrte Maßnahme wäre. Man möge daher an die Art der Afrikanischen Kriegführung nicht unseren gewohnten Maßstab legen, man ficht in Afrika meist mit einem Feinde, dem jedes Mittel recht ist. Wenn man ihm gegenüber nicht auch jedes Mittel für erlaubt hält, so befindet man sich oft genug im Nachtheil.«34 Diplomatie wurde also doch nur in bestimmten Fällen angewandt. Rückblickend kann man sagen, dass Wissmanns Äußerungen nie ganz eindeutig waren und seine Person mit Kontroversen und einem Hang für entgegengesetzte Ansichten über den deutschen Kolonialismus durchsetzt war. Tatsächlich war Wissmann schon während seiner Lebzeiten eine umstrittene Figur. Zwei Kontroversen machten ihm besonders zu schaffen: Seine Haltung gegenüber evangelischen Missionaren, die sich durch seine Äußerungen oft angegriffen fühlten und seine Ausgaben als Reichskommissar für Deutsch Ostafrika.35 Ihm wurden von der Regierung in Berlin zwei Millionen Reichsmark zugesprochen, um eine Truppe zu bilden und den damals in Deutschland sogenannten »Aufstand« von 1889-90 niederzuwerfen. Wissmanns letztendliche Rechnung belief sich auf über neun Millionen Reichsmark. Er wurde unter Kritik der Regierung seines Amtes enthoben. Nach seinem Dienst als Reichskommissar für Deutsch Ostafrika hatte er natürlich gehofft, er würde 1891 als Gouverneur benannt. Doch der neue Reichskanzler Caprivi sprach dagegen, da Wissmann die Finanzen der neuen Kolonie im Chaos gelassen hatte.36 Auch in weiteren Kreisen kam Wissmann rhetorisch unter Feuer. In der Presse wurde er wegen seiner anthropologischen Sammlungen, den Kosten seines Dampfer-Projekts und allgemein seines Strebens nach Ruhm und Macht kritisiert.37 Ein Gedicht aus der Zeitschrift Der Wahre Jakob im Jahr 1890 verhöhnte Wissmanns andauernde Kampagne gegen Abuschiri mit der wiederholten Strophe:
33 H. von Wissmann: Afrika, S. 17-18. 34 Ebd. 35 H. von Wissmann: Antwort. 36 W. O. Henderson: German East Africa, S. 132. 37 Anonymous: Briefkasten; Anonymous: Wissmann; Anonymous: Entlein.
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Wißmann zog nach Afrika – Ziemlich lang schon ist er da, Haut und schießt und hängt und sticht, Aber -fertig wird er nicht.38
Wie bereits erwähnt, wurde Wissmann trotz Kritik wiederberufen und diente sogar für kurze Zeit zwischen 1895-1896 als Gouverneur. Zu dieser Zeit war der Name Wissmann fast jedem deutschen Bürger bekannt. Man konnte sich sogar zum Karneval ein Wissmann-Kostüm ausleihen: Eine weitere Verknüpfung zwischen Wissmann, Afrika und dem Rheinland.39 1905: Gedenkmedaille für »Deutschlands größten Afrikaner« Nach dem vorzeitigem Tod Wissmanns im Jahr 1905 im Alter von nur 52 Jahren, angeblich durch einen (auch umstrittenen) Jagdunfall auf seinem Gut in Weißenbach, sammelten sich die Lobeslieder auf ihn. Mit einer großen Prozession wurde sein Leichnam nach einer Gedenkfeier in Köln beigesetzt. Danach begann der Erinnerungssturm – die Benennung einer Straße in Düsseldorf nach ihm im Jahre 1908 ist sicher in diesem Kontext zu sehen. Schon an einer Gedächtnisrede im Jahr 1905 wurde der Beiname, »Deutschlands größter Afrikaner« benutzt, ein Satz, den später auch Wissmanns Standbild in Bad Lauterberg tragen würde.40 1906 wurde ein später noch viel zitiertes Buch über Wissmann unter dem Titel Deutschlands größter Afrikaner publiziert. Es beinhaltet Anekdoten und Urteile über Wissmann, die Jahrzehnte später immer wieder zurückkommen würden: er sei »ein Tatmensch«, mit »Engelsgeduld«. Er habe die »hohe Befähigung, die Eingeborenen richtig zu behandeln, ihnen zu imponieren und gleichzeitig ihre Zuneigung zu gewinnen«. Insgesamt sei Wissmann ein »vorzüglicher Kenner des Wesens und Denkens der Eingeborenen«.41 Wissmann wird, kurz gesagt, in Deutschland nun als Held verherrlicht. Was oft übersehen wird ist jedoch, wie sehr dergleichen Veröffentlichungen Wissmanns Worte selbst wieder aufgreifen. Denn Hermann von Wissmann hatte eigentlich schon zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass eine bestimmte Erinnerung von ihm und seinem kolonialen »Werk« weitergegeben würde. Er selbst publizierte vier Bücher zwischen 1889 und 1901, sowie zahlreiche kleinere Artikel und
38 Anonymous: Kolonialschmerzen. 39 Anzeige in: Kladderadatsch 44 (Okt. 1891). 40 E. Wolf: Wissmann. 41 C. von Perbandt et al.: Hermann von Wissmann, S. 9, 24, 33, 438-439.
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Rechtfertigungen an die Presse. Wissmann griff womöglich so oft zur Feder, weil er selbst wusste, dass sein Image ganz und gar nicht fleckenlos war. Er arbeitete hart daran, sein eigenes Erbe zu sichern und gewissermaßen zahlte sich dies aus. Wenn wir allerdings wirklich die Erinnerung an Wissmann über seinen Tod hinaus begreifen wollen, sollten wir uns nicht nur auf Texte und Biografien begrenzen. Wir sollten auch darüber hinaus eine weitere »Pop-Kultur« Wissmanns mit einbeziehen, zum Beispiel, ein Abendprogramm aus dem Jahr 1907, entworfen zur Ehre Wissmanns. Ein sogenannter »Volksabend« beinhaltete Chorgesänge, eine Deklamation und Vorträge über Wissmann als Wiedereroberer und »Befreier« Deutsch-Ostafrikas. In diesen Äußerungen wird Wissmann immerzu in Verbindung gebracht mit der »Kolonisationspflicht« der Deutschen.42 Kurz nach seinem Tod wurde auch eine bronzene Gedenkmedaille, von A. M. Wolff entworfen und zu seinen Ehren herausgegeben, die repräsentativ für das hegemoniale kollektive Gedächtnis an Wissmann zu dieser Zeit gesehen werden kann. Die Medaille, auf der einen Seite mit Wissmann selbst und auf der anderen mit einem afrikanischen Soldaten versehen, verherrlichte durch die Kombination dieser zwei Motive Wissmanns angebliche Tugend als Menschenkenner mit einer ebenfalls angeblich außergewöhnlichen Gabe im Umgang mit Afrikanern. Nach 1907 gewann dieser Punkt besonders an Bedeutung, nämlich als Rechtfertigung für die sogenannte »deutsche Zivilisierungsmission« in Afrika. Häufig wird Wissmanns Verhalten in Ostafrika implizit oder explizit gegen ein viel schrofferes Auftreten der Deutschen in Südwestafrika gehalten. Dabei wird seine Vorgehensweise nicht von ungefähr zu Beginn einer neuen Regierungsstrategie von Bernhard Dernburg, die auf die Erhaltung und nicht die Zerstörung der indigenen Bevölkerung hinausstrebte, hervorgehoben. So wurden auch seine finanziellen Ausgaben für die Truppe – ein Brennpunkt früherer Kritik – durch die »Zivilisationsmission« im Nachhinein gerechtfertigt. Auch international wurde Wissmann wegen dieses scheinbar »wissenschaftlichen« Strebens gewürdigt. Nach Angaben des Bulletin of the American Geographical Society: »He will be remembered as an explorer of large achievement and an official of great executive capacity, whose constant effort was to develop the resources of the colony, to promote scientific research, and to improve the condition of the natives.«43 Die Erinnerung an Wissmann verwandelte sich zu dieser Zeit aber vor allem von einer Erinnerung an einen europäischen Forscher zum Gedenken an einen
42 O. Beta: Hermann v. Wißmann. 43 Anonymous: Obituary. Bulletin of the American Geographical Society.
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deutschen, einen nationalen Held. Es wurden immer mehr Vergleiche zum britischen Forscher Henry Morton Stanley gezogen und Wissmann wurde gewissermaßen »der deutsche Stanley«. Es kursierten auch Gerüchte, aufgegriffen im Journal of the Royal African Society im Jahr 1905, dass Wissmann sich von seinem eigenen Land nicht genügend gewürdigt fühlte und deshalb beschloss, nach Österreich zu ziehen.44 Der Mythos Wissmann wurde Anfang des 20. Jahrhunderts also nicht nur durch Wissmann selbst konstruiert, sondern auch als Projektionsfläche durch die nationale koloniale Lobby benutzt. Zehn Jahre später hatte Deutschland Ostafrika bereits militärisch verloren. Danach, in Artikel 119 vom Versailler Vertrag, verlor Deutschland auch politisch seine Kolonien, die von jetzt an unter britischer, französischer und südafrikanischer Mandatsherrschaft verwaltet wurden. Das verlorene Gebiet war relativ klein im Gegensatz zum Besitz anderer europäischer Kolonialmächte – und doch gewann es enorm an Wichtigkeit. Somit auch der Wissmann-Mythos. 1934: Eine Briefmarke Die Zwischenkriegszeit in Deutschland war die Zeit des Kolonialrevisionismus, der beinahe von allen Seiten des politischen Spektrums, mit Ausnahme der KPD, unterstützt wurde. Kolonialrevisionismus beinhaltete ein Verlangen nach weiterer deutscher Expansion, militärische Wiederaufrüstung und vor allem den öffentlichen Widerruf der sogenannten »Kolonialschuld«. Während der Versailler Verhandlungen wurde Deutschland wegen seiner »grausamen Repressionsmethoden« angeklagt, besonders mit Hinsicht auf die Vernichtung der Hereros in Deutsch-Südwestafrika. Deutschland sei nicht fähig, Kolonialmacht zu bleiben. Viele Kolonialbeamte, unter ihnen Heinrich Schnee, bestritten was sie als »Koloniale Schuldlüge« auffassten.45 In diesem Kontext wurde 1934 eine Briefmarkenserie zum »Kolonialjubiläumsjahr« mit vier sogenannten Kolonialhelden, darunter Wissmann, herausgegeben. Sehen wir uns diese Serie einmal genauer an, fällt auf, dass Wissmann, im Gegensatz zu seinen eher gelehrten, bürgerlichen Kollegen im Anzug, besonders jung, stolz und vor allem in Uniform dargestellt wird. Bedeutend hierbei ist unter anderem die Form der Erinnerung an Wissmann: durch ein Mittel, zu dem – im Gegensatz zur vorher erwähnten Gedächtnismünze – ein breiterer Teil der Bevölkerung Zugriff hatte. Benutzt wurden Briefmarken von jedem, gesammelt
44 Anonymous: Obituary: Journal of the Royal African Society. 45 H. Schnee: German Colonization Past and Future.
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wurden sie auch von einer breiteren Schicht als nur der Kolonialelite. So versuchte man die Erinnerung an Wissmann, wie auch die koloniale Idee, unter einem größeren Publikum zu verbreiten.46 Die Tendenz, eine breitere Bevölkerung für die Kolonialidee zu begeistern existierte bereits während der Weimarer Republik, kam aber erst unter den Nationalsozialisten richtig in Schwung. Zum Beispiel wurde 1937 unter dem Motto »Jeder einmal in Afrika« ein »Kolonialtag« im Berliner Zoo abgehalten und landesweite koloniale Gedächtnistage errichtet. Große Kolonialausstellungen fanden 1937 in Frankfurt und 1939 in Dresden statt, während zwischen 1938 und 1943 eine Reihe von afrikanisch-thematischen Filmen in die Kinos kamen.47 Zu diesem Zeitpunkt war Wissmanns Erinnerungswert als deutscher Kolonialheld selbstverständlich geworden – und zwar noch mehr als je zuvor. Es gab auch andere Facetten seiner Person, die zusätzlich betont wurden in der Zwischenkriegszeit. Erstens wurde die damals so genannte Anhänglichkeit der Afrikaner, die Wissmann begegneten, immer mehr hervorgehoben. Dies wurde auf der einen Seite auch wieder durch Wissmanns Veröffentlichungen selbst propagiert, besonders seine enge Beziehung zu den Bashilange (später Lulua genannt) Chief Tschingenge, Chief Kalamba und seiner Schwester Sangula Meta. Aber hier kreuzt sich auch sehr stark der Wissmannmythos mit dem Mythos des »treuen Askari«, der während der Weimarer Zeit und noch lange danach verbreitet wurde.48 Die sogenannten »treuen Askari« erschienen im deutschen Kolonialdiskurs besonders nach den Bemühungen des legendären Generals von Lettow-Vorbeck, der wie Wissmann mit einer Truppe schwarzer Soldaten kreuz und quer durch Ostafrika zog, um vor allem die britischen Mächte vom europäischen Kriegsfeld abzulenken. Geht man jedoch zurück zu Wissmanns eigenen Schriften, merkt man wie die weißen Offiziere oft drakonische Maßregeln benötigten, um ihre Truppe beisammenzuhalten und immerzu darum bemüht waren, weggelaufene Träger wieder aufzusuchen oder Ersatz zu finden.49 Bestimmte Aspekte von Wissmanns Person wurden in der NS-Zeit auch anders politisch beleuchtet. Der Sklavenhandel wurde in dieser neuen Interpretation durch Wissmann nicht nur aus moralischen Gründen bekämpft, sondern auch
46 Vgl. B. Schilling: Postcolonial Germany, S. 68-89. 47 Vgl. Ebd., S. 68. Auch in Düsseldorf und im Rheinland kam es in den Jahren 19341937 zu einer Vielzahl kolonialrevisionistischer Betätigungen, s. dazu den Beitrag von Stefanie Michels in diesem Band. 48 Vgl. S. Michels: Askari; T. Morlang: Askari und Fitafita; S. Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten; M. Moyd: Violent Intermediaries. 49 Vgl. H. von Wissmann et al.: Im Innern Afrikas, S. 27-9, 56.
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als Antwort auf das Arbeiterproblem in Ostafrika. Und der Finanzskandal wurde unter den Nationalsozialisten als »geheime Intrige« von Feinden, die Wissmann als Morphinisten darstellen wollten, beschrieben. Das Bild Wissmanns entwickelte sich also nun zu einem Mann, der – wie ein anderer wiederbelebter Kolonialheld der NS-Zeit, Carl Peters – missverstanden wurde, dem Unrecht getan wurde – erst von den Deutschen selbst (eine Art Dolchstoßlegende), dann vor allem von den Engländern, der größten europäische Konkurrenz in Ostafrika.50 Gleichzeitig beinhaltete das Bild Wissmanns weiterhin Gegensätze: ein »Freund der Schwarzen« und zugleich ihr Züchtiger, ein friedenssuchender Mann und zugleich ein furchtloser Krieger, ein umjubelter Held und doch ein Mann mit bedeutenden Feinden. Es bestehen also viele Kontinuitäten aber auch leichte Veränderungen in der Verehrung Wissmanns über die Jahrzehnte seit seinem Tod. Trotz der deutschen Niederlage 1945 änderte sich am Ansehen der deutschen kolonialen Vergangenheit innerhalb Deutschlands erst einmal wenig. Bis Wissmann – wieder zusammen mit Peters – eben genau wegen seiner bisherigen und immerwährenden Rolle als Vorbild für den deutschen Kolonialismus von Studenten niedergerissen wurde. Diese Aktion wurde zum Teil durch eine sich verändernde Geschichtsschreibung in Ost- und Westdeutschland in der Nachkriegszeit beeinflusst. Schon 1959 griff der Ostdeutscher Historiker Fritz Ferdinand Müller die Spannungen um Wissmanns Person wieder auf: Wissmann war weder ein humanistischer Vorkämpfer der Sklavenbefreiung im Stile eines Livingstone noch ein machtbesessener Konquistador oder Monomane wie Peters und Zelewski. Er gab sich vielmehr als ein bis in die Fingerspitzen »korrekter« Offizier, ein Mann von ganz anderem Schlage als die DOAG-Agenten. Seine Erfolge als Forscher und Eroberer verdankte er einem kühl rechnenden Verstande, der ihn nüchtern und leidenschaftslos töten, sengen und verwüsten ließ, wenn es ihm am Platze schien, während er ihn ausgesprochen menschenfreundlich, warmherzig und kameradschaftlich machte, wenn die Zweckmäßigkeit es erforderte. Und die Zweckmäßigkeit, die Situation und sein Auftrag geboten ihm bei seiner Mission als Reichskommissar, an seinen Namen mehr Blut und Flüche zu heften, als je ein Eroberer Ostafrikas vor ihm.51
Nach der Beseitigung von Wissmanns Standbild in Hamburg und der weiter revidierten Geschichtsschreibung nach 1968 schien dann tatsächlich die Erinne-
50 J. Froemgen: Wissmann, Peters, Krüger, insb. S. 10, 81-3. 51 F. F. Müller: Deutschland – Zanzibar – Ostafrika, S. 429.
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rung an Wissmann als deutschen Kolonialheldenzerstört zu sein. Eine kleine Anzahl ost- und westdeutscher Historiker beschäftigten sich noch gelegentlich mit verschiedenen Themen zur deutschen Kolonialzeit, aber es blieb kein materielles, anschauliches, antastbares Bild von Wissmann erhalten, das ein wirklich sehr breites, nationales Publikum ansprach. 2007: Fragmente und »Dismembering« Und dennoch verschwand Wissmann nicht. Zwei kurze Beispiele sollen zeigen, wie sich eine weitere Erinnerung an Wissmann nicht unbedingt auf nationaler, aber doch auf lokaler und persönlicher Ebene im 21. Jahrhundert abspielt. Zuerst zurück in die kleine Kurstadt Bad Lauterberg im Harz, wo, wie bereits erwähnt, Wissmanns Mutter lebte und ihr berühmter Sohn sie mehrmals besuchte. Hier wurde kurz nach Wissmanns Tod von seinen Freunden ein Standbild errichtet. 2007 beobachtete ich wie – wie jedes Jahr seit den 50er Jahren – hier eine Kranzniederlegung stattfand zusammen mit der Jahreshauptversammlung des »Traditionsverbandes ehemaliger Schutz- und Überseetruppen«, ein Verein, der 1956 durch sogenannte »alte Afrikaner« (Weiße, die während der Kolonialzeit länger in Afrika gewesen waren) eingerichtet wurde.52 Treffen des Verbandes werden von Vorträgen, Diashows, Ausstellungen und einem Büchermarkt begleitet, die alle einer besonderen Ansicht entsprechen: nämlich dass Deutschland eine »gute« Kolonialmacht war, die durch den Versailler Vertrag zu Unrecht bestraft wurde. Die Kolonialzeit wird im wahrsten Sinne des Wortes wieder lebendig bei diesen Treffen – z.B. hatten sich zwei Mitglieder 2007 in einer alten Schutztruppe und Marineoffizier-Uniform gekleidet. Das Treffen sozusagen zu Wissmanns Füßen geschah friedlich, allerdings nicht ohne Kontroverse. Das Programm wurde im letzten Augenblick verändert, um eine Konfrontation mit Protestierenden, vor allem von der Partei Die Linke, zu verhindern. Noch näher ins Rheinland führen uns die Spuren Wissmanns nach Köln, wo ich im selben Jahr ein Gespräch mit Dr. Claus-Helmuth von Wissmann führte. Claus-Helmuth von Wissmann, Jahrgang 1923 und mittlerweile verstorben, stammte aus der Linie Hermann von Wissmanns: Hermann war ein Vetter seines Großvaters. Es handelt sich hier also um einen zu der Zeit 84jährigen deutschen Mann, der stark in der nationalsozialistischen Kolonial- und Weltmachtpolitik sozialisiert wurde. Wissmann war in Pommern aufgewachsen. Teilweise aus diesem Grund, teilweise aus Gründen der etwas entfernteren Verwandtschaft, er-
52 Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen, Freunde der früheren deutschen Schutzgebiete, e.V.: http://www.traditionsverband.de.
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kennen wir in Claus Wissmanns Erinnerungen eine interessante Mischung aus öffentlichem und privatem Gedächtnis. Ganz anders als zum Beispiel die Nachfahren Hermann von Wissmanns, die in Weißenbach ein Museum zu Ehren des Forschers aufgemacht hat,53 – aber unter Umständen ein Beispiel, welches wesentlich typischer ist für deutsche Familien, deren Geschichte mit der Kolonialzeit verstrickt ist.54 Claus von Wissmann begann unser Gespräch, indem er mir einen Zeitungsartikel vorlegte, der soeben im lokal einflussreichen Kölner Stadt-Anzeiger erschienen war. Der Artikel beschrieb Hermann von Wissmann als »einer der umstrittensten deutschen ›Kolonialhelden‹. Der Offizier wütete unter dem Vorwand der Antisklaverei-Bewegung blutig in Bagamoyo und Daressalam...sein rassistisches und brutales Vorgehen führte 1905 mit zum Maji-Maji Krieg, dem zwischen 75.000 und 300.000 Afrikaner zu Opfer fielen.«55 Claus von Wissmann beteuerte aber: Jaja, da haben sie ihn erwähnt, aber falsch erwähnt. Sie haben ihn rassistisch und blutrünstig geschildert, das er nicht war... Denn er war der erste Gouverneur, der den Sklavenhandel bekämpft hat... Und ich hab das auch geschrieben, dass... Nyerere seinen ersten Besuch als Staatspräsident in Europa in Deutschland gemacht hat. [...] Und da hat ihn wie er abflog, ein Journalist vom Fernsehen gefragt, warum er nach Deutschland zuerst gekommen ist... Und da hat er gesagt, das wäre doch selbstverständlich, denn schließlich hätte sein Stamm mit dem Afrika-Wissmann Blutsbrüderschaft geschlossen... So stark ist das Gedächtnis.56
Das Thema der Blutsbrüderschaft, das hier aufkommt, wird öfter in der Literatur zu Wissmann erwähnt – ein wichtiger Bestandteil des Bildes von einem weißen Mann, der eine unglaublich gute Beziehung zu Afrikanern hatte. Meistens wird die Blutsbrüderschaft in Verbindung mit den Bashilange erwähnt. Nyerere war jedoch ein Zanaki, Sohn des Häuptlings Nyerere Burito, der allerdings auch von den Deutschen unterstützt wurde.
53 Afrika-Museum, Kollektion Kabassu-Babu, Weissenbach/Liezen, http://www.afrikamuseum.org/>; interessant ist auch die Auffassung der Beziehung Wissmanns zu den Bashilange nach Ansehen Franz von Wissmanns im folgenden YouTube Film: https://www.youtube.com/watch?v=‘HTWMygjASi4&rel=0&start=576. 54 Vgl. B. Schilling: Imperial Heirlooms. 55 R. Heimlich: Köln und der »Platz an der Sonne«. 56 Interview mit Claus-Helmuth und Dagmar von Wissmann, Köln, 27. April 2007.
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Aber gab es wirklich eine »Blutsbrüderschaft« zwischen Wissmann und einem afrikanischen Würdenträger/einer afrikanischen politischen Autorität? Wenn wir zurück zu Wissmanns eigenen Erinnerungen gehen, sehen wir, dass nicht er, sondern seine Offiziere, Blutsbrüderschaft mit Chief Kalamba getrunken haben; ob Wissmann selbst mitgemacht hat, ist zumindest nach diesen Quellen unklar.57 Er selbst hat eine Narbe vorgezeigt um eine Blutsbrüderschaft mit dem Häuptling Mirambo vorzutäuschen, um sich aus einer brenzligen Situation zu retten.58 Es hätte also eher ein Bluff als Wirklichkeit sein können. Zu Wissmanns angeblicher (Mit-)Verantwortlichkeit für den Maji Maji Krieg, die im Artikel des Kölner Anzeigers erwähnt wird, sollte noch erwähnt werden, dass der Auslöser des Konfliktes womöglich die Exekution von zwei Heilern in Mohoro von einem deutschen Beamten gewesen war, eine Hinrichtung, die im Juli 1905 geschah,59 einen Monat nach Wissmanns Tod. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Wissmann nicht zu einer Normalisierung von Gewalt beigetragen hat, die diesen Akt ermöglicht hat. Seinen Beitrag zur Hüttensteuer wurde oben bereits erwähnt. Ein direkter Auslöser des Maji Maji Konfliktes war Wissmann jedoch nicht. Wichtiger noch ist, dass diese Episode zeigt, wie in Claus von Wissmanns Generation, privates Familiengedächtnis – nämlich eine von seinem Vetter zitierte Anekdote – immer noch mehr Autorität besitzt, als das öffentliche Gedächtnis, das im Zeitungsartikel vertreten ist. Diese zwei Register der Erinnerung leben oft reibungslos nebeneinander. Im Falle des Zeitungsartikels von 2007 wurde jedoch die Diskrepanz zwischen privatem und öffentlichem Gedächtnis von Claus von Wissmann als zu groß angesehen – es musste ein Leserbrief geschrieben werden, die »richtige« Erinnerung musste doch Vorrang haben. 2017: Eine Straße in Düsseldorf-Unterbilk Wenn also im Jahr 2017 in Düsseldorf-Unterbilk Anwohner der WissmannStraße mit der Stadt über eine mögliche Umbenennung diskutieren, wirft dieses besonders zwei größere Fragen auf im Hinblick auf die längere Geschichte der Erinnerung an die deutsche Kolonialzeit. Erstens, warum gilt Wissmann – und
57 H. von Wissmann et al.: Im Inneren Afrikas, S. 151-152. 58 C. von Perbandt et al.: Hermann von Wissmann, S. 49. Zumindest eine Blutsbrüderschaft wird auch nachher als »List« erkannt, vgl. O. Beta: Hermann v. Wißmann, S. 28. 59 J. Giblin/J. Monson: Introduction, S. 6.
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auch die deutsche Kolonialzeit – als größtenteils »vergessen«, wenn beide noch lange nach 1918 in der deutschen Erinnerung erhalten geblieben sind? Wie erklären wir diesen Gegensatz einer scheinbar gleichzeitigen Präsenz und Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit? Die Ethnologin Ann Laura Stoler hat in Bezug auf den französischen Kolonialismus die Idee einer »kolonialen Aphasie« lanciert. Laut Stoler ist »Aphasie« eine komplexe Art des Vergessens – ein Vergessen und Erinnern zugleich. Das Konzept wäre auch im Falle des postkolonialen Deutschlands passend.60 Aphasie ist nicht ein einfaches Vergessen, sondern vielmehr, so Stoler, »dismembering, a difficulty speaking, a difficulty generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts with appropriate things«.61 Die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit ist also, kurz gesagt, ein Problem des Artikulierens, ein Problem der Worte oder der Sprache. Was passiert mit der Erinnerung? Sie wird unantastbar, man erkennt sie nicht mehr als solche. Aphasie erklärt also, warum, trotz der fortwährenden Konflikte um seinen Ruf und den Auseinandersetzungen hinsichtlich seiner Person weit über seinen Tod hinaus, Kolonialhelden wie Hermann von Wissmann immer noch von Historikern heutzutage als »vergessen« gelten. Nach dem gleichen Prinzip wird auch von einer weitgehenden »kolonialen Amnesie« gesprochen. Dies ist jedoch ganz und gar keine Amnesie. In der Nachkriegszeit bestand in Ostdeutschland durch den Einsatz sozialistischer Ideologie und in Westdeutschlandnach dem Einfluss der 68er ein öffentliches Tabu über die koloniale Vergangenheit. Mitglieder älterer Generationen haben ihre Erinnerungen verborgen. Jüngere Generationen dagegen kamen immer weniger mit der Kolonialzeit auf nationaler Ebene in Verbindung. Aber auf privaten und lokalen Ebenen lebte die Erinnerung weiter, wenn auch fragmentiert – es fehlte vielleicht die richtige Sprache, um aus diesen losen Teilen ein sinnvolles Ganzes zu machen. Nehmen wir diese Idee der »Sprache« einmal ganz wörtlich: »Kolonialheld«, »Deutschlands größter Afrikaner«, usw. sind deutlich veraltete Phrasen, die nicht mehr in unser Geschichtsbild passen. Ist »blutrünstig wütend« angepasster? Können wir diesem Stand der Aphasie durch eine mehr angepasste Sprache entkommen? Und, zweitens, wo sollten diese Gespräche geführt werden? Sicherlich weiter auf nationaler Ebene, aber auch auf der lokalen. Wissmann ist kein nationaler Held mehr, auch kein nationaler Schurke, sondern ein lokaler Ansatzpunkt zum
60 Paul Bijl passt das Konzept auch auf eine niederländische Erinnerung an die Kolonialzeit an: P. Bijl: Colonial Memory. 61 A. L. Stoler: Colonial Aphasia, S. 125.
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Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Und das nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Leipzig, Berlin und Bielefeld – und auch, wie weitere Beiträge in diesem Band zeigen, in Dschang, im kamerunischen Grasland. Während dieser Artikel sich ausschließlich mit Erinnerungen in Deutschland beschäftigt, ist weitere Forschung nötig um mögliche Spuren der Erinnerung an Wissmann und die Auswirkungen der Kolonialzeit z.B. in Rufiji und Sansibar aufzugreifen.62 Wie bleiben wir in dieser neuesten Etappe der Wiederaufgreifung der Erinnerung allen Stimmen und Grauzonen, allen Nuancen gerecht in der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit? Was denken Einwohner, Historiker, Aktivisten, Familienmitglieder? Inwiefern hat die Kolonialzeit Deutschland bereichert? Wer waren ihre Opfer? Und wie gehen wir mit diesen Gegensätzen und Kontroversen innerhalb der Biografie von nur einer Person um? Im Falle Wissmann: Bekämpfer des Sklavenhandels und gleichzeitig rassistisch und brutal, Teil eines anderen Systems der Unterdrückung, eine Figur zwischen Herrschaft und Fürsorge, Heldentum und Hohn und nationaler, internationaler und lokaler Bedeutung. In Düsseldorf und Dschang, aber auch in Berlin, Singapur, Brazzaville und Utrecht,63 wird das Verhältnis zwischen kolonialer Vergangenheit und lokaler Gegenwart im Umgang mit ehemaligen kolonialen »Helden« immer wieder neu verhandelt.
62 Wichtige Vorbilder hierfür sind bereits erschienene Forschungsberichte zur Erinnerung an Maji-Maji, z.B. University College, Dar es Salaam, Department of History, Maji Maji Research Project, 1968: Collected Papers, Dar es Salaam 1969; J. Giblin/J. Monson, Maji Maji. 63 Vgl. M. Jones/B. Sèbe/B. Taithe/P. Yeandle (Hg.): Decolonising Imperial Heroes; ZwischenraumKollektiv (Hg.): Decolonize the City?.
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INTERVIEW Claus-Helmuth und Dagmar von Wissmann, Köln, 27. April 2007.
Autor/innen
Doll, Martin, Dr. phil. Juniorprofessor für Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Studium »Drama, Theater, Medien« in Gießen. Promotion in Frankfurt am Main; danach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Gießen, Frankfurt am Main, Berlin und Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Medien-, Wissens- und Kulturgeschichte, Medientheorie, Politik und Medien, insbes.: Technisierung der Politik/Politisierung der Technik ab dem 19. Jahrhundert, Medialität der Architektur, Fälschung und Fake Fossi, Richard Tsogang, PhD, Lehrer an der Government High-School Sangmelima im Bereich DaF-Didaktik, Gastdozent an der Universität Dschang, Mitglied eines Forschungsteams der Universität Dschang (ERMEMIC), das sich auf die Erforschung von Gedächtnis in Kombination mit Medien und Interkulturalität spezialisiert. Forschungsschwerpunkte: das deutsch-kamerunische Kolonialgedächtnis in der Literatur; Perspektivierung der Kolonialgeschichte in Lehrwerken ehemaliger deutscher Kolonien; Provenienzforschung entwendeter Kunstwerke aus der Kolonialzeit. Gouaffo, Albert, Prof. Dr. Professor für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie für interkulturelle Kommunikation, Universität Dschang (Kamerun). Mitherausgeber von »MontCameroun: Zeitschrift für interkulturelle Studien zum deutschsprachigen Raum«. Forschungsschwerpunkte: Kolonialliteratur und -geschichte, postkoloniale Theorie, Erinnerungskultur und interkulturelle Kommunikation. Grande, Jasmin, Dr. phil, Studium Anglistik und Germanistik in Düsseldorf (HHU) und Cambridge (APU), Promotion 2010 über »Nussschalen der Wissenschaft. Aspekte des Phantastik-Diskurses«. seit 2011 stellvertretende Leiterin des
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Instituts »Moderne im Rheinland« an der Heinrich-Heine-Universität, Kulturwissenschaftlerin, Kulturpraktikerin. Aktuelle Vermittlungs- und Forschungsebenen: www.ortederutopie.eu (Ausstellen im Zeiten des Digitalen), die Bonner Republik – ein paradoxaler Chronotopos (Forschungsgruppe der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), wikis als Möglichkeiten forschenden Lernens, regionale und europäische Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung, das Phantastische im Wissenschaftsdiskurs, Übergriffe – Reflexionen zum Verhältnis von Literatur und Alltag. Halder, Lucia, M.A., Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Konstanz, Tübingen, Bologna und der FU Berlin, von 2012 bis 2016 Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Visual History. Institutionen und Medien des Bildgedächtnisses«, Referentin für das Historische Fotoarchiv am Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt, Köln und Redakteurin des Blogs www.visual-history.de. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Fotografie, Visual History, Fotografie&Ethnologie. Karakış, Yaǧmur, studierte Geschichtswissenschaften und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt auf Globalgeschichte. In ihrer BA-Arbeit beschäftigte sie sich mit Objekten aus der Sammlung Thorbecke 1911/12 und hielt sich dazu elf Wochen in Kamerun auf. Michels, Stefanie, PD Dr., Gastprofessorin für Globalgeschichte (Schwerpunkt Afrika) an der Universität Hamburg. Von 2013 bis 2018 Professorin für die Geschichte der »Europäischen Expansion« (Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. MA »African Studies« an der School of African Studies der University of London, Promotion 2003 (Universität Köln), Habilitation 2011 (Universität Frankfurt). Lehrte an den Universitäten Köln, Hannover, Frankfurt, Wien und Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Globalgeschichte, Afrikanische Geschichte, Deutsche Kolonialgeschichte. Schilling, Britta, PhD, Assistant Professor in Kulturgeschichte an der Universität Utrecht. Studierte Geschichte und Kunstgeschichte an der Rutgers University (B.A.) und Geschichte an der Universität Oxford (M.Phil., D.Phil.). 2012-2015 Leverhulme Early Career Fellow an der Universität Cambridge. Forschungsschwerpunkte: Kolonialismus, Erinnerung und materielle Kultur. Sie arbeitet zurzeit an einer vergleichenden Studie über koloniale Wohnkulturen in Afrika.
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Tadaha, Omer Lemerre, PhD, DAAD-Alumnus, hat 2015 nach dem Studium der Angewandten Fremdsprachen (Englisch-Französisch-Deutsch), der Romanistik und der Komparatistik an den Universitäten Dschang und Yaoundé I, der Pädagogik und Didaktik des DaF (Deutsch als Fremdsprache) an der École Normale Supérieure de Yaoundé zum Thema »Cross-Migrationserfahrungen und autobiografische Schriften im europäischen und afrikanischen postkolonialen Kontext« an den Universitäten des Saarlandes und Dschang promoviert. Er ist Mitglied der ERMEMIC, einer Forschungsgruppe der Universität Dschang, Postdoc im Partnerschaftsprojekt zu kolonialen Verbindungen Grasland/ Rheinland. Als Gymnasial- und Hochschullehrer unterrichtet er DaF, Literaturwissenschaft und Medienanalyse am GBHS-Bonaberi, SLZ-Douala und an der Universität Douala. Forschungsschwerpunkte: Fremdbilder in den Medien, postkoloniale und Migrationsliteraturen, für das koloniale Gedächtnis in Geschichtsschulbüchern und in literarischen Texten. Ziem, Alexander, Prof. Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Germanistische Sprachwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, seit 2011 Direktor des Graduiertenkollegs zum SFB 991 »The Structure of Representations«, Research Fellow am ICSI/FrameNet, Berkeley, USA. Forschungsschwerpunkte: Kognitive Semantik, Konstruktionsgrammatik, Diskurs- und Korpuslinguistik, öffentlicher Sprachgebrauch.
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
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Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
Manfred E.A. Schmutzer
Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 € (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2
Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2
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