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German Pages 164 Year 1977
Germanistische Arbeitshefte
11
Herausgegeben von Otmar Werner und Franz Hundsnurscher
M A X NIEMEYER VERLAQ TÜBINQEN ARCHIVEXEMPLAR E R S C H E I N VNQSDATVJM
3.6.1977 ARCHIVNUMMER
13U9
Heinrich Weber
Kleine generative Syntax des Deutschen I. Traditionelle Syntax und generative Syntaxtheorie
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weber, Heinrich Kleine generative Syntax des Deutschen. - Tübingen : Niemeyer. 1. Traditionelle Syntax und generative Syntaxtheorie. - 1. Aufl. - 1977. (Germanistische Arbeitshefte ; 11) ISBN 3-484-25013-5
ISBN 3-484-35013-5 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht-gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
VII
1. Was ist Syntax? 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Die Fragestellung der Syntax Die Syntax im System der traditionellen Grammatik Der Aufbau der generativen Transformationsgrammatik Aufgaben
2. Theoriebildung 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.
Vorbemerkung Alltagssprachliche Theorien Formale Theorien Methoden Aufgaben
3. Der Gegenstand der Granmatik 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6.
Vorbemerkungen Ganzheitliche Sprachbetrachtung Sprachsystem und Sprachgebrauch Sprachkompetenz Sprachnorm und sprachliches Handeln Aufgaben
4. Satzbaupläne und Konstituentenstruktur 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.4.3. 4.4.4. 4.4.5. 4.4.6. 4.4.7. 4.4.8. 4.4.9. 4.5. 4.6.
Der traditionelle Begriff des Satzbauplans Die Ermittlung der Kernsätze KS-Regeln und KS-Syntax Die Satzbaupläne des Deutschen Liste der Kernsätze Satzglieder, Ergänzungen und Angaben Die zugrundeliegende Satzgliedfolge Subjekt und Prädikat Prädikate ohne Ergänzung Prädikate mit einer Ergänzung Prädikate mit mehreren Ergänzungen Die Ergänzungen des Adjektivs Die Konstituenten der Nominal- und Präpositionalphrase Theorie der Satzbaupläne Aufgaben
1. 1 3 8 18 20 20 21 24 33 39 40 40 41 44 49 56 66 67 67 72 76 84 84 85 88 90 92 92 96 101 102 104 107.
VI 5. Die Ebene der Tiefenstruktur 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7.
Fragestellung Die Abstraktionsebene der traditionellen Grammatik Konstituentenstrukturebene und Transformationsebene Tiefenstruktur und Bedeutung Tiefenstruktur und menschliche Sprachfähigkeit Die Ebene der Tiefenstruktur in einer TG des Deutschen Aufgaben
109 109 111 115 123 131 136 137
Lösungshinweise zu den Aufgaben
139
Literaturverzeichnis
149
Personenregister
153
Sachregister
154
VORWORT
Dieses Buch hat zum Ziel, die Prinzipien einer generativen Syntax des Deutschen auf der Grundlage traditioneller Grammatiken zu entwickeln und dadurch die Kontinuität in der granmatischen Beschreibung des Deutschen herauszuarbeiten. Der Verfasser kann sich dabei auf Chomsky selbst berufen, der die ältere europäische Granmatiktradition für Amerika wiederentdeckt und bei der Formulierung seiner Syntaxtheorie in den "Aspects" traditionelle englische Grammatiken als heuristische Grundlage benutzt hat. Das Buch soll dazu beitragen, den zunächst unüberbrückbar scheinenden Gegensatz zwischen "moderner Linguistik" und traditioneller "Sprachwissenschaft" zu überwinden, indem es zu zeigen versucht, wie in der generativen Syntax überkatmene Konzepte aufgenctttnen, modifiziert und weiterentwickelt werden. Der Plan für dieses Buch ist aus Seminaren hervorgegangen, die der Verfasser in den letzten Jahren am Deutschen Seminar der Universität Tübingen gehalten hat. Er beruht einmal auf der Erfahrung, daß die generative Syntaxtheorie kaum etwas für das Verständnis des deutschen Satzbaus und für die Fähigkeit zur syntaktischen Beschreibung selbst einfachster deutscher Sätze beiträgt, wenn sie "abstrakt", d. h. ohne Bezug auf das schulgranma tische Vorwissen und auf reale deutsche Sätze, wie sie in Texten normalerweise vorkamen, gelehrt und gelernt wird. Zum andern beruht er auf der Einsicht, daß die Theorie nur dann die Praxis der syntaktischen Beschreibung und des Graitmatikunterrichts verbessern kann, wenn sie von dieser Praxis, wie sie in älteren Granmatiken und Sprachbüchern repräsentiert ist, ausgeht und sie theoretisch klärt und vertieft. Der hier vorliegende erste Band stellt den Aufbau der traditionellen Grairmatik dem der generativen Grammatik vergleichend gegenüber, erörtert traditionelle und generative Theoriebildung und untersucht die Gegenstandsbereiche verschiedener Granmatiktheorien. Er beschreibt die Satzbaupläne des Deutschen und rekonstruiert sie systematisch in der Theorie. Zuletzt untersucht er, inwieweit die Ebene der Tiefenstruktur sich zur systematischen Repräsentation der deutschen Syntax eignet. In einen geplanten Folgeband sollen die komplexe-
VIII ren Satzstrukturen des Deutschen (Adverbiale, Attribute, komplexe Prädikate, Satzgefüge, Koordinationen u. ä.) und die syntaktisch relevanten Eigenschaften des Wortschatzes als Tiefenstrukturen zusairmenhängend repräsentiert und transformationell in Oberflächenstrukturen überführt werden. Das Buch wendet sich in erster Linie an Germanistikstudenten, die sich mit der deutschen Syntax und ihren theoretischen Grundlagen vertraut machen wollen, und an Deutschlehrer, die eine theoretische Fundierung ihres Granmatikunterrichts suchen. Es ist so angelegt, daß es als Lehrbuch in Seminaren und zum Selbststudium benutzt werden kann; zu den Aufgaben sind Lösungshinweise gegeben. Der Verfasser dankt allen, die zur Entstehung des Buches beigetragen haben: Kollegen und Studenten für vielfältige Anregungen und Kritik, Herrn W. Kürschner, mit dem er eine frühere Fassung eingehend diskutieren konnte, den Herausgebern für zahlreiche nützliche Hinweise, Fräulein H. Ribarek für die Mithilfe bei der Herstellung von Manuskript und Register und nicht zuletzt dem Verlag für die Geduld, mit der er auf das Manuskript gewartet hat.
Tübingen, April 1977
H. Weber
1.
WAS IST SYNTAX?
1.1.
Die Fragestellung der Syntax
Die moderne Sprachwissenschaft hat bei der Erforschung der Syntax große Fortschritte gemacht. Trotzdem ist die Frage, was Syntax ist, heute noch genauso aktuell wie vor achtzig Jahren, als John RIES ihr ein ganzes Buch widmete. Auch heute noch trifft seine Feststellung zu, daß es "eine allgemein anerkannte Definition des so allgemein gebrauchten Wbrtes ... in der That nicht" gibt (RIES 1894, 3. A. 1967, 1).1 Wir können darum nicht von einer genauen Begriffsbestinmung ausgehen, sondern müssen uns zunächst mit einem Vorbegriff dessen begnügen, was wir unter Syntax verstehen wollen. In einer ersten Annäherung kann iran der Syntax die Aufgabe zuweisen, die Verbindung von Vförtern zu größeren Einheiten (Vfortgruppen und Sätzen) zu beschreiben. Wir wollen dies an einem Beispiel erläutern: Michael feierte bis drei Uhr früh
(Bild-Zeitung)
2
In dem Beispiel sind sechs Wörter zu einem Satz verbunden. Als erstes hat die Syntax die Aufgabe, die W o r t v e r b i n d u n g e n
herauszuarbeiten, die
in einer Sprache möglich sind. Sie muß z. B. den Satz oben abheben von Wortverbindungen wie *Bis feierte Uhr drei Michael früh oder *drei Uhr Michael bis feierte früh, die im Deutschen nicht möglich sind. Insbesondere hat sie die Wortverbindungen, die Sätze sind, von denen zu unterscheiden, die keine Sätze sind, d. h. sie hat zu erklären, was ein Satz ist. Intuitiv erkennen wir das ziemlich gut, eine allseits akzeptierte Satzdefinition ist aber bis heute nicht gefunden worden, obwohl iran einige Mühe darauf verwendet hat. 1
2
Wir zitieren im Text nach Verfasser und Erscheinungsjahr der benutzten Auflage. Das Jahr der Erstausgabe wird nur genannt, wenn es relevant ist. Die vollständigen bibliographischen Angaben der benutzten Auflage stehen im Literaturverzeichnis. Hinweise auf Erstausgaben, Originalausgabe bei Übersetzungen u. ä. folgen dort in Klammern. Bei Beispielen werden allenfalls Kurztitel oder Autor der Quelle genannt. Genauere Angaben erübrigen sich, da die Belege nur als Beispiele für den normalen Sprachgebrauch stehen.
2
Zum zweiten hat die Syntax anzugeben, wie die möglichen Wortverbindungen in sich s t r u k t u r i e r t
sind. Die Wörtgruppe bis drei Uhr früh bil-
det z. B. in sich eine Einheit und besitzt im Satz eine gewisse Selbständigkeit, im Gegensatz etwa zu feierte bis. Bis drei Uhr früh kann seine Stellung im Satz verändern (Bis drei Uhr früh feierte Michael) und kann als Äußerung vorkommen, etwa als Antwort auf die Frage Uie lange feierte Michael? Die Wortverbindung feierte bis kann ihre Stellung nicht verändern (*Drei Uhr früh feierte bis Michael) und ist keine mögliche Antwort auf eine Frage wie Was machte Michael um drei Uhr früh? Die Syntax hat zu erklären, warum das so ist. Eine dritte Aufgabe der Syntax besteht darin, die oder F u n k t i o n
B e d e u t u n g
von Wortverbindungen anzugeben. Sie hat z. B. bis
drei Uhr früh in irgendeiner Weise als Zeitangabe zu charakterisieren oder früh als nähere Bestimnung zu drei Uhr. Wenn rran mit der traditionellen Granrnatik Michael als Subjekt oder Satzgegenstand und feierte bis drei Uhr früh als Prädikat oder Satzaussage bezeichnet, versucht man ebenfalls eine Funktionsbeschreibung von Wortverbindungen. Viele Satzdefinitionen, in denen der Satz als Urteil, als einheitlicher Gedanke, als Stellungnahme zu einem Sachverhalt der Wirklichkeit oder in ähnlichem Sinne bestimmt wird, sind Versuche, die Funktion des Satzes zu erfassen. Allerdings überschneidet sich bei diesen Fragen die Syntax mit der Semantik (Bedeutungslehre). Zum vierten hat die Syntax die M i t t e l
zu untersuchen, mit denen
eine Verbindung zwischen Wörtern angezeigt wird. Wir fassen unser Beispiel nur deshalb als einen Satz auf, weil er das Verb mit Konjugationsendung feierte enthält. Die Äußerung *Michael Feier bis drei Uhr früh wäre mindestens inkorrekt und mißverständlich, wenn nicht schlicht unverständlich. Daß wir bis drei Uhr früh als Zeitangabe verstehen, hängt nicht zuletzt von dem Wbrt bis ab, das bestinmte Eigenschaften besitzt, die es von anderen Wörtern unterscheiden. Die Äußerung *Michael feierte Beendigung drei Uhr früh erscheint uns seltsam, obwohl Beendigung wie bis ihrer Bedeutung nach durchaus erkennen lassen, daß Michael mit dem Feiern aufhört. Mit der Untersuchung der Mittel, durch die Wortverbindungen angezeigt werden, greift die Syntax jedoch in die Lehre vom Wort über, d. h. in den Teil der Granrnatik, der die Wortarten, Wörtformen und sonstigen allgemeineren Eigenschaften der Wörter selbst zum Gegenstand hat (Formenlehre bzw. Morphologie; Wbrtbildungslehre). Auch hier ist die Abgrenzung schwierig und in der Literatur uneinheitlich. W o r t l e h r e
und
Syntax
bilden mit der Lautlehre, in manchen
Darstellungen auch mit Teilen der Bedeutungslehre die Grammatik. Neuerdings
3 wird auch das Lexikon in die Granmatik einbezogen. Da die Grenze zwischen Syntax, Vfortlehre und Bedeutungslehre fließend ist, hängt es von der jeweiligen Theorie ab, wieviel von der Gesamtgrammatik in der Syntax beschrieben wird. In den nächsten beiden Abschnitten versuchen wir zu zeigen, wie die Syntax mit ihren unterschiedlichen Fragestellungen ins System der Gramratik integriert ist. Da wir die generative Syntax auf der Grundlage traditioneller Darstellungen begreifen wollen, skizzieren wir zunächst die dort übliche Systematik und vergleichen sie mit der Rolle, die der Syntax in der generativen Transformationsgramnatik (TG) zugewiesen wird.
1.2.
Die Syntax im System der traditionellen Grammatik
Wenn man sich über die Syntax des Deutschen orientieren will, greift man inner noch am besten zu den Gesamtdarstellungen, die vor dem Bekanntwerden der neueren Syntaxtheorien entstanden sind. Wir wollen diese Darstellungen als "traditionelle Syntax" oder "traditionelle Granmatik" bezeichnen. Die d i t i o n e l l e
S y n t a x
tra-
bildet durchaus keine völlig einheitliche
Disziplin. Sie hat viele Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Tradition aufgenormten; beispielhaft seien nur die lateinische Granmatik, die nornativen und rationalistischen Grammatiken des 17. und 18. Jh. und die frühen Ergebnisse und Methoden des europäischen Strukturalismus genannt. Es besteht jedoch weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der systematischen Grundbegriffe, in denen der Sprachbau beschrieben wird. Als Beispiel für eine traditionelle Grammatik sei die DUDEN-Granmatik (1959, 3. A. 1973) hervorgehoben, die sich durch weite Verbreitung, relative Vollständigkeit und den Anspruch auszeichnet, die Sprachnorm zu repräsentieren. Der DUDEN gliedert den Stoff der Graimatik in die Hauptteile "Das Wort" und "Der Satz", wobei die Wbrtlehre mit 450 Seiten mehr als den doppelten Umfang der Satzlehre (Syntax) hat.
'Wort'
und
'Satz'
sind Grundbegriffe
der traditionellen Granmatik, wie ERBEN (1972, 27) besonders hervorhebt: "In Übereinstimmung mit dem Urteil zahlreicher Fachkollegen und mit der 'Intuition' des durchschnittlichen Sprecher-Hörers erkenne ich Wort und Satz als die ... wichtigsten, textkonstituierenden Einheiten der deutschen Sprache ...". Die
W o r t l e h r e
enthält zunächst einen Abschnitt über den Laut, der
hier nicht interessiert; in vielen Grannatiken wird auch die Lautlehre unabhängig von der Wortlehre behandelt. Den zentralen Abschnitt mit fast 300 Seiten bildet die Beschreibung der Wortarten (Wortklassen). Es folgen kurze Ab-
4 schnitte über die Wbrtbildung und über den Inhalt des Vfortes und die inhaltliche Gliederung des Wortschatzes. Die Wortklassenlehre ist folgendermaßen aufgebaut: In Hauptabschnitten werden die Wortklassen Verb, Substantiv, Artikel, Adjektiv und Pronomen sowie die Partikel behandelt; die Abschnitte über die einzelnen Wortklassen bieten eine Art Definition, bilden Untergruppen nach Bedeutung und syntaktischem Verhalten der Wörter, geben die wichtigsten syntaktischen Eigenschaften an und behandeln Bildung und Gebrauch der Wortformen. Zur Definition der Wortklassen verwendet der DUDEN wie die gesamte traditionelle Graitmatik eine M i s c h k l a s s i f i k a t i o n
, die in-
haltliche, syntaktische und morphologische Kriterien heranzieht. Sie sagt z. B. von den Substantiven (1973, 146), daß der Sprecher mit ihnen Lebewesen, Dinge und Nichtgegenständliches bezeichnet (inhaltliches Kriterium), das sie mit dem Artikel verbunden und als Subjekt, Objekt u. a. gebraucht werden (syntaktisches Kriterium) und daß sie deklinierbar sind und verschiedene Kasus- und Numerusformen bilden (morphologisches Kriterium) . Die Bildung von Untergruppen (Subklassen) der Wortklassen geschieht ebenfalls nach den genannten drei Kriterien. Beim Verb bilden z. B. die Handlungsverben, Vorgangsverben und Zustandsverben inhaltliche Subklassen. Syntaktische Subklassen bilden die ein-, zwei- und dreiwertigen Verben; deren syntaktische Klassen korrespondieren allerdings auch mit inhaltlichen Klassen. Morphologische Subklassen des Verbs sind z. B. die starken, schwachen und unregelmäßigen Verben. Bei der Angabe der syntaktischen Eigenschaften wird das näher ausgeführt, was mit der Definition der Wortklasse oder einer ihrer Subklassen bereits angedeutet war. Die Wortlehre greift hier in den Bereich der Syntax über. Syntaktische Angaben beziehen sich beim Substantiv z. B. auf den Artikelgebrauch, beim Adjektiv auf seine prädikative, attributive oder adverbiale Verwendung, beim Verb auf seine Valenz u. a. Den zentralen Platz in der Wortlehre nintnt die Lehre von der Bildung und dem Gebrauch der Wortformen ein. Sie behandelt die Deklination der Substantive, Artikel, Pronanen und Adjektive, die Konjugation der Verben und die Steigerung der Adjektive. Darüber hinaus stellt sie dar, wie die verschiedenen Wortformen im Satz verwendet werden. In der S a t z l e h r e
behandelt der DUDEN zunächst die Satzarten
Aussage-, Aufforderungs- und Fragesatz. Im Zentrum der Darstellung stehen die Satzbaupläne, d. h. die Muster, nach denen einfache Sätze gebildet werden. Sie werden als Gefüge von Satzgliedern aufgefaßt und nach Art und Zahl ihrer konstitutiven Satzglieder klassifiziert. Auch hier liegt eine Mischklassifi-
5 kation zugrunde. Es folgt die Beschreibung komplexerer Satzstrukturen: Attribute, Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen, Satzgefüge, Wort- und Satzreihen u. a., ohne daß eine strenge Systematik erkennbar wäre. Don Abschnitt "Wortstellung" fällt es hauptsächlich zu, die Stellung des finiten Verbs in den verschiedenen Satzarten und die Satzklanmer herauszuarbeiten. Abschließend wird die Klanggestalt des Satzes behandelt. Das System der traditionellen Grairmatik, das wir am Beispiel des DUDEN skizziert haben, wurde von John RIES im Jahre 1894 (3. A. 1967) analysiert und theoretisch begründet. In seiner meisterhaften, auch heute noch lesenswerten Analyse setzt sich RIES mit drei Auffassungen von Syntax kritisch auseinander, die in der Forschimg des 19. Jh. eine Rolle spielten: (1) der "Mischsyntax", (2) der Syntax als der Lehre von der Bedeutung der Wbrtklassen und Wortformen und (3) der Syntax als Satzlehre. 1. Die am weitesten verbreitete " M i s c h s y n t a x "
leidet daran, daß
weder Gegenstandsbereich noch Methode hinreichend definiert sind: Einerseits geht sie von den Wortklassen und Wortformen aus, die in der Formenlehre dargestellt sind, und behandelt ihre Bedeutung und ihren Gebrauch; andererseits geht sie von der Bedeutung des Satzes aus und fragt, wie diese Bedeutung in der Form und in den Teilen des Satzes ausgedrückt wird; insgesamt zeichnet sie sich aus durch eine "prinziplose Nebeneinanderstellung oder Durcheinanderwürfelung ihres verschieden gearteten Stoffes" (RIES 1967, 11). In der historischen Grarrmatik lebt die Mischsyntax weiter; die Syntax von DAL (1962) und die neue mittelhochdeutsche Syntax in PAUL/ MOSER/SCHRÖBLER (1969) haben den durch RIES erreichten Forschungsstand
bis heute nicht rezipiert. 2. Die Syntax als L e h r e klassen
und
von
der
Wortformen
Bedeutung
der
Wort-
hat zwar einen einheitlichen
Gegenstandsbereich, faßt ihn aber scwohl zu eng als zu weit. Sie ist zu eng, weil sie "keinen Raum läßt für eine, wenn auch noch so kurze, aber zusarmenhängende Erörterung solch grundlegender Fragen wie die nach dem Wasen und der Entwicklung des Satzes; nach den notwendigen Bestandteilen desselben; nach dem Verhältnis des logischen ... zu dem granmatischen ... Subjekt und Prädikat u.s.w. ... Wenn der Leser nicht in einer Syntax darüber Belehrung finden soll, was ein Satz ist, wo denn sonst?" (1967, 30) Sie ist außerdem zu eng, weil sie die Syntax nur als einen Teil der Bedeutungslehre betrachtet, und zwar als den Teil, der die Bedeutung der
Wortklassen und -formen beschreibt, aber nicht beachtet, daß "auch die syntaktischen Gebilde ... eine Form" haben (1967, 76). Sie ist zu weit, weil nicht alle Bedeutungen von Wortklassen und Wortformen für die Syntax relevant sind. So sind Genus und Numerus des Substantivs, das Tempus der Verben und die Steigerungsformen des Adjektivs nach Ansicht von RIES für die Syntax nicht weiter interessant, weil sie auf Form und Bedeutung syntaktischer Gefüge ohne Einfluß bleiben: "Wie 'Der Vater kommt' syntaktisch ganz dasselbe ist wie 'Der Bruder kommt' und 'Der Vater kommt' dasselbe wie 'Der Vater geht', so ist es für die Syntax auch völlig dasselbe, ob ich sage 'Der Vater kommt' oder 'Die Väter kommenob
ich sage 'Der Vater kommt' oder
'Der Vater kam'." (1967, 97) Es ist zwar konsequent, die Syntax auf die Semantik von Wortklassen und Wortformen zu reduzieren. Eine Syntax, die den Satz nicht behandeln kann, ist aber in sich ein Widerspruch. Gegenüber der Mischsyntax hatte diese Syntax geringere praktische Bedeutung; heute spielt sie keine Polle mehr. Die Syntax als S a t z l e h r e
steht in der Tradition der philosophi-
schen Graimatik. Sie wird vor allem repräsentiert durch Karl Ferdinand BECKER (1835), dessen logisch begründetes System die Schulgranmatik mit ihrer Lehre von den fünf Satzgliedern Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbiale und Attribut seit dem 19. Jh. nachhaltig geprägt hat. Obwohl RIES die Syntax als Satzlehre grundsätzlich akzeptiert, erhebt er zwei Einwände: Erstens geht die Satzlehre im Sinne BECKERS von der Bedeutung des Satzes aus und fragt nach seinen Ausdrucksformen; dabei besteht die Gefahr, "das syntaktische System einer Sprache fremdartigen Einflüssen unterzuordnen, - seien es nun logische Erwägungen oder die syntaktischen Eigentümlichkeiten einer anderen Sprache." (1967, 13) RIES will dem dadurch entgehen, daß er "in der analytischen Granmatik das Ausgehen von der Form zur Pflicht macht" (1967, 138). Zweitens erscheint ihm der Begriff "Satzlehre" zu eng, weil er die Behandlung nicht-satzbildender Wortgefüge in der Syntax ausschließt: "Die Lehre vom Attribut, von der Apposition handelt von der Verbindung gewisser Wortarten zu zusammengehörigen Gruppen, aber nicht zu Sätzen. Die Kasus, die Präpositionen dienen dazu, Worte miteinander in verschiedenster Weise zu verbinden - aber wozu? doch nicht zu Sätzen, sondern zu Satzgliedern, zu Wortgruppen." (1967, 55-56) RIES schlägt darum vor, Syntax als "die Lehre vom Satze und den übrigen Wortgefügen" aufzufassen (1967, 61). Aus der Kritik der Syntax seiner Zeit entwickelt er eine neue Gegenstandsbestiirmung, die heute so sehr Allgemeingut ist, daß man ihren Urheber kaum noch kennt.
7 Die Stellung der Syntax im System der Gesamtgraimiatik läßt sich festlegen, wenn man zwischen dem Gegenstand der Forschung und der Betrachtungsweise des Gegenstandes genau unterscheidet: L a u t l e h r e , W o r t l e h r e und S y n t a x sind Teile der Gesamtgrammatik, welche dadurch entstehen, daß man die menschliche Rede in ihre Bestandteile auflöst, diese als v e r s c h i e d e n e O b j e k t e d e r F o r s c h u n g sondert und nach der Größe ihrer Einheiten anordnet. F o r m e n l e h r e und B e d e u t u n g s l e h r e sind dagegen nichts als das Ergebnis v e r s c h i e d e n e r B e t r a c h t u n g s w e i s e n d e r s e l b e n F o r s c h u n g s o b j e k t e , die von verschiedenen Gesichtspunkten aus, dort nach der körperlichen, hier nach der geistigen Seite hin, einmal auf ihre Form, dann auf ihren Inhalt untersucht werden. (1967, 79)
Indem
RIES
zwischen Wortlehre und Syntax einerseits und Formenlehre und Be-
deutungslehre andererseits unterscheidet, kcmmt er zu folgendem Schema für den Aufbau der Granmatik (1967, 79): Objekt. / Betrachtet in Bezug auf die
Einzelwort
Wortgefüge
W o r t l e h r e
S y n t a x
III.
Bedeutungslehre
Bedeutung
Form
Formenlehre
I. Lehre von den Formen der Worte
Lehre von den Formen der syntaktischen Gebilde.
(Wortarten nach formalen Gesichtspunkten und Flexionslehre). IV.
II. Lehre von der Bedeutung der Worte, ihrer Arten und Formen.
Lehre von der Bedeutung der syntaktischen Gebilde.
Figur 1
Die Unterscheidung Wbrtlehre - Syntax ist bei der Anordnung des Stoffes wichtiger als die Unterscheidung Formenlehre - Bedeutungslehre. "Grundsätzlich ist nur die Forderung, daß in b e i d e n aller
Hauptteilen Form u n d
Bedeutung
behandelten Gegenstände zur Sprache konmt; die Anordnung im Einzel-
nen ist von geringerer Wichtigkeit und wird sich überhaupt nicht von vornherein und für alle Fälle in gleicher Weise festlegen lassen." (1967, 172) RIES
hat die Syntax aus ihrer unklaren Verflechtung mit Logik und Seman-
tik gelöst und als selbständiges Teilgebiet der Granmatik gleichberechtigt neben die Wortlehre gestellt. Das System der generativen Granmatik, das wir
8 im nächsten Abschnitt dem traditionellen System gegenüberstellen wollen, geht noch einen Schritt weiter: CHOMSKY stellt die Syntax in den Mittelpunkt der Granmatik und weist ihr die Aufgabe zu, zwischen Form und Bedeutung von Sätzen zu vermitteln. Über die Prinzipien des Aufbaus der traditionellen Grammatik kann man sich nirgends so gut wie bei RIES 1967 informieren. Zum Aufbau der Grammatik vgl. neben DUDEN 1973 die Vorworte und Inhaltsverzeichnisse der Gesamtdarstellungen von ADMONI 1970, BRINKMANN 1971, ERBEN 1972, SCHMIDT 1966 u. a. Eine neue Grundlegung der traditionellen Grammatik bietet ADMONI 1971, ohne auf dem Gebiet der Syntax RIES zu übertreffen. GLINZ 1967, 21-89 stellt SyntaxdarStellungen von 1837 bis zur Gegenwart vor. Einen Überblick über die gesamte Syntaxforschung bietet HUNDSNURSCHER 1973.
1.3.
Der Aufbau der generativen Transformationsgrammatik
Die generative Transformationsgrammatik (TG) unterscheidet sich in ihrem theoretischen Ansatz, in der Definition ihres Gegenstandsbereichs und in ihrem Aufbau sehr stark von der traditionellen Graitmatik. Den theoretischen Ansatz und den Gegenstandsbereich werden wir in den nächsten beiden Kapiteln behandeln, so daß wir uns hier auf die Darstellung des Aufbaus beschränken können. Der Beschreibungsapparat der TG wird dabei nur insoweit eingeführt, wie es für das Verständnis des Aufbaus erforderlich ist. Eine eingehende Darstellung bleibt späteren Kapiteln vorbehalten. Die
erste
F a s s u n g
der
TG,
die Noam CHOMSKY 1957 in
"Syntactic structures" (deutsch: "Strukturen der Syntax", 1973) vorgelegt hat, schränkt die Grarmatik auf die Beschreibung der sprachlichen Formen ein. Sie folgt darin noch der Tradition des amerikanischen Strukturalianus, der die Bedeutungen praktisch aus der Sprachwissenschaft ausklammert, weil sie nicht unmittelbar beobachtbar und darum nicht wissenschaftlich beschreibbar seien. Die von RIES entworfene Systematik wird nach dieser Auffassung sozusagen halbiert und auf die Lehre von der Form der Vförter und der syntaktischen Gebilde reduziert. CHOMSKY geht vom Satz aus und entwickelt ein zusamtierihängendes Regelsystem, durch das die Sätze einer Sprache deduktiv abgeleitet ("generiert") werden können. Bei der Ableitung werden stufenweise die Teile angegeben, aus denen sich Sätze zusammensetzen, bis die Ebene der nicht weiter teilbaren Morpheme erreicht ist. Transformationsregeln verändern die abgeleiteten Morphemketten und ordnen sie so um, daß sie als Sätze akzeptiert werden können, wie sie auch von den Sprechern einer Sprache produziert werden. Da bei der Ableitung die Wbrtgrenzen keine besondere Rolle spielen, besteht kein systemati-
9 scher Unterschied mehr zwischen Wörtlehre und Satzlehre. Der formale Teil Teil der Grammatik kann mit der Syntax identifiziert werden. Eine Bedeutungslehre fehlt völlig. In "Aspects of the theory of syntax", 1965 (deutsch: "Aspekte der SyntaxTheorie", 1969) hat CHOMSKY eine R e v i s i o n
der
TG
vorgenommen,
die die Einbeziehung der Bedeutungen ermöglicht. Die neue Fassung der TG bietet nun eine Theorie, mit der nicht nur der forrrale Aspekt, sondern der ganze Bereich der traditionellen Grarrnatik systematisch und zusaitmenhängend beschrieben werden kann. CHOMSKY geht von den Ergebnissen der traditionellen Granmatik aus: "Die Ausarbeitung einer generativen Grammatik beginnt am günstigsten mit der sorgfältigen Analyse von Informationen, wie sie traditionellen Granmatiken entnoimien werden können." (1969, 88) Er unterscheidet drei Aspekte des Satzes, die bei einer traditionellen Beschreibung berücksichtigt werden: 1. Den h i e r a r c h i s c h e n
Aufbau
des
Satzes
und
seine Zusaiuriensetzung aus Teilen (Konstituenten), die bestimmten syntaktischen Kategorien (Konstituentenklassen) angehören: Für den Satz (1) Unsere Technik dient dem Menschen
(Spiegel)
wäre hier anzugeben, daß er aus der Substantivgruppe unsere Technik und der Verbgruppe dient dem Menschen besteht, daß sich die Verbgruppe aus dem Verb dient und der Substantivgruppe dem Menschen zusammensetzt und daß die Substantivgruppen das Possessivpronomen unsere oder den Artikel dem und die Substantive Technik oder Menschen enthalten. Dieser Aspekt deckt sich in etwa mit dem Teil der Syntax, den RIES als "Lehre von der Form der syntaktischen Gebilde" bezeichnet. 2. Die F u n k t i o n e n
der
Satzteile:
In(1) ist unsere
Technik Subjekt und dient dem Menschen Prädikat des Satzes; dient ist Prä-
dikatsverb und dem Menschen Objekt der Verbgruppe. Dieser Aspekt ist dem Teil der Syntax zuzurechnen, den RIES "Lehre von der Bedeutung der syntaktischen Gebilde" nennt. 3. Die E i g e n s c h a f t e n
der
Wörter
des Satzes: Hier ist
anzugeben, daß Technik ein abstraktes Substantiv ist, während Menschen konkrete, belebte und menschliche Gegenstände bezeichnet, daß dient ein Verb ist, das ein Dativobjekt fordert, daß unsere ein Possessivpronomen der 1. Person Plural und dem eine Form des bestinmten Artikels ist, und ähnliches mehr. CHOMSKY beschränkt sich in seinen englischen Beispielen auf
10
semantische Eigenschaften der Wörter, die für ihre Verwendung im Satz relevant sind. Angaben über Kasus, Deklinations- und Konjugationsklassen u. ä. werden nicht gemacht, da sie im Englischen kaum eine Rolle spielen. Sie könnten aber in diesen Teil der Beschreibung integriert werden. Dieser Aspekt des Satzes entspricht der Vtortlehre nach RIES, wobei das Schwergewicht auf dem Bedeutungsaspekt liegt. Der grobe Uberblick iracht deutlich, daß CHOMSKY die traditionelle Beschreibung zum Ausgangspunkt für seine Theorie macht. Er diskutiert sie nicht mehr, sondern geht davon aus, daß sie "ohne Frage im wesentlichen richtig ist und in jeder Darstellung der Verwendung oder Aneignung der Sprache berücksichtigt werden muß." (1969, 89) Sein Ziel ist ein anderes: CHOMSKY will eine formale deduktive Theorie entwickeln (vgl. 2.3), durch die die gesamte Granmatik zusammenhängend und widerspruchsfrei beschrieben werden kann: "In den nächsten Abschnitten wird es hauptsächlich darum gehen, wie Information dieser Art in einer Strukturbeschreibung formal dargeboten werden kann und wie solche Struktur-Beschreibungen durch ein System expliziter Regeln generiert werden können." (1969, 89) Wir geben im folgenden eine vereinfachte Skizze des Aufbaus dieser Theorie. Die U n t e r s c h e i d u n g
von
Form
und
Bedeutung,
die schon RIES deutlich herausgearbeitet hat, steht bei CHOMSKY ganz im Mittelpunkt. Er versteht Granmatik als ein "System von Regeln
das Laut und Be-
deutung auf eine besondere Art und Weise in Beziehung setzt." (1970, 49) Die Grammatik Die S y n t a x
besteht aus drei Teilen: Syntax, Semantik und Phonologie. generiert Strukturen, die alle Informationen enthalten,
die die Bedeutung und die Form der Sätze bestimmen. Die
Semantik
interpretiert die Strukturen im Hinblick auf die Satzbedeutung, die logie
Phono-
im Hinblick auf die lautliche Form des Satzes. Die Syntax ist so-
mit das Zentralstück der Grammatik, das Form und Bedeutung in Beziehung setzt. Die interpretative Seitantik der TG ist lange nicht so gut ausgearbeitet wie die Syntax und in ihren Ergebnissen umstritten (vgl. 5.4.). Die phonologische Konponente legt die lautliche Form des Satzes fest. Ihre Theorie ist recht gut ausgearbeitet. Für das Deutsche ist eine morphologische Konponente vorzuschalten, die die Deklinations- und Konjugationsformen bestirnrrt. Morphologie und Phonologie des Deutschen sollen hier nicht näher beschrieben werden. Zwischen Form und Bedeutung von Sätzen besteht keine einfache und eindeutige Beziehung. Die Sätze
11 (1) Unsere Technik dient dem Menschen (2) Dem Menschen dient unsere Technik (3) Es dient unsere Technik dem Menschen
haben mindestens in dem Sinn die gleiche Bedeutung, daß nicht gleichzeitig der eine Satz wahr und die andern falsch sein können und umgekehrt. Der Beitrag der Satzteile zur Satzbedeutung ändert sich nicht, obwohl sich ihre Stellung ändert. Unsere Technik bleibt z. B. Subjekt des Satzes, obwohl es in (2) am Ende und in (3) in der Mitte steht. Ihrer äußeren Form nach unterscheiden sich die Sätze (1-3) dagegen erheblich voneinander. Umgekehrt sind die Sätze (4) und (5) ihrer Form nach einander sehr ähnlich: (4) Hans.rät seinem Freund, Sport zu treiben (5) Hans verspricht seinem Freund, Sport zu treiben
Sie unterscheiden sich nur in den Verben rät und verspricht. Die Infinitivkonstruktionen Sport zu treiben sind zwar formal völlig gleich. Trotzdem besteht ein erheblicher Bedeutungsunterschied: In (4) wird ausgedrückt, daß der Freund Sport treibt. In (5) wird ausgedrückt, daß Hans Sport treibt. In (4) fungiert das Dativobjekt der Verbgruppe, in (5) das Subjekt des Satzes als Subjekt der Infinitivkonstruktion. Dieser wichtige Bedeutungsunterschied komrtt in der Form des Satzes nicht unmittelbar zum Ausdruck. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß verschiedene Formen die gleiche und gleiche Formen verschiedene Bedeutung haben können, unterscheidet CHOMSKY zwischen zwei Ebenen der syntaktischen Struktur: Der tur
und der O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r
T i e f e n s t r u k . Die Tiefenstruktur
ist eine abstrakte Struktur, die alle Informationen zur semantischen Interpretation des Satzes enthält. Die Oberflächenstruktur ist ebenfalls eine abstrakte Struktur, die die Informationen zur morphologischen und phonologischen Interpretation enthält. Es ist Aufgabe der Syntax, beide Strukturen aufeinander zu beziehen. Die Tiefenstruktur wird durch das
R e g e l s y s t e m
generiert. Die Basis enthält mindestens zwei Komponenten: t e n s t r u k t u r r e g e l n
der
Basis
K o n s t i t u e n -
(KS-Regeln) geben an, aus welchen Teilen
(Konstituenten) sich ein Satz zusammensetzt und zu welchen Konstituentenklassen diese Teile gehören, d. h. sie legen seine Konstituentenstruktur (KS-Struktur) fest. Das
L e x i k o n
enthält eine Liste der Einheiten und ihrer
Eigenschaften, durch die die nicht weiter zerlegbaren Konstituentenklassen realisiert werden können. Die traditionelle Unterscheidung von Satzlehre und Vtortlehre wird an dieser Stelle auch in der TG vorgenannten. Das Lexikon bildet einen Teil der Syntax.
12
Es hat sich für das Deutsche als zweckmäßig erwiesen, in der Tiefenstruktur die Nebensatzwortstellung anzunehmen (vgl. 4.4.3.): (6) unsere Technik dem Menschen dient
KS-Regeln haben folgende Information über die KS-Struktur von (6) und aller anderen strukturgleichen Ausdrücke zu formulieren: 1. Ein Satz (S) besteht aus einer Substantivgruppe (Nominalphrase; NP) und einer Verbgruppe (Verbalphrase; VP). 2. Eine Verbgruppe (VP) besteht aus einer Substantivgruppe (NP) und einem Verb (V) . 3. Eine Substantivgruppe (NP) besteht aus einem Artikelwort (ART) und einem Substantiv (Nomen; N).
Die Regeln (KS-R 1-3) erfüllen diese Aufgabe: (KS-Rl) (KS-R2) (KS-R3)
s VP NP
— > > >
NP + VP NP + V ART + N
Man kann diese Regeln einfach als abgekürzte formelhafte Schreitweise für die Beschreibung in 1.-3. oben betrachten, wobei der Pfeil für 'besteht aus1 und das Plus-Zeichen für 'und' steht. In der TG haben sie jedoch eine weitergehende Funktion: Sie sind Anweisungen, die Symbole links vom Pfeil durch die Symbole rechts vom Pfeil wiederzugeben und dadurch die KS-Struktur von Sätzen schrittweise aus dem Ausgangssymbol 'S' deduktiv abzuleiten. Regel 1 erteilt die Anweisung, 'S' durch 'NP + VP' wiederzugeben, Regel 2 ersetzt 'VP' durch 'NP + V' und Regel 3 'NP' durch 'ART + N'. 'ART', 'N' und 'V' können hier nicht weiter abgeleitet werden, da sie nicht links vom Pfeil auftreten. Die Regeln haben die allgemeine Form 'X
> Y', wobei 'X' und 'Y'
Variable für die Ausgangskategorie 'S' und die Namen der Konstituentenklassen sind und der Pfeil als 'Gib X als Y wieder' bzw. 'Ersetze X durch Y' zu lesen ist. Der A b l e i t u n g s v o r g a n g
wird am besten durch eine Stanm-
baumstrüktur wie in Figur 2 wiedergegeben, die gleichzeitig die KS-Struktur als Ergebnis der Ableitung repräsentiert. Unter den Knoten des Stanmbaums ist jeweils die Regel angegeben, durch die die entsprechenden Teile der KS-Struktur abgeleitet wurden. Die gestrichelten Linien und die letzte Zeile des Stanmbaums dienen nur der Veranschaulichung und sind nicht Teil der Ableitung.
13
s
1
Unsere
Technik
ART
N
i
I
dem
'
Menschen
dient
Figur 2
Aus der KS-Struktur können die grammatischen F u n k t i o n e n
Subjekt,
Prädikat, Prädikatsverb und Objekt abgelesen werden. Die NP, die im Stamtibaum unter S steht, bildet das Subjekt des Satzes, die VP unter S das Prädikat des Satzes. Die NP unter VP ist Objekt, das V unter VP das Prädikatsverb der VP (Figur 3). Indem die KS-Struktur so bedeutungsrelevante Beziehungen zwischen den Satzteilen charakterisiert, liefert sie auch einige elementare Informationen über die Satzbedeutung.
NP
v
Figur 3
Der Ausschnitt aus dem L e x i k o n , der zur weiteren Ableitung von (6) heranzuziehen ist, enthält Informationen wie die folgenden: 1. Unsere ist ein Artikelwort (ART), und zwar ein Possessivpronomen (poss) der 1. Person (I) Plural (pl) . 2. Technik ist ein abstraktes (abstr) Substantiv (N). 3. dient ist ein Verb (V), das ein Dativobjekt (D-Obj) fordert. 4. dem ist ein Artikelwort (ART), und zwar eine Form des bestimmten (best) Artikels. 5. Menschen ist ein Substantiv, das einen konkreten (konkr), belebten (belebt) und menschlichen (menschl) Gegenstand bezeichnet.
Diese Informationen werden in der Theorie dargestellt durch einträge
Lexikon-
, die die lautlichen, syntaktischen und semantischen Eigen-
schaften der Worter in abstrakter Form als Merkmale angeben. Die lautlichen Merkmale wollen wir hier nicht diskutieren. Wir stellen sie vereinfacht durch die orthographische Form des Vfortes (ohne Deklinations- oder Konjugationsendung) dar. Die semantischen und syntaktischen Merkmale werden in eckige Klanmem hinter der Lautform geschrieben. Wir erhalten folgende Lexikoneinträge:
14
UNSER
[ART, poss, I pl]
TECHNIK
[N, abstr]
DIEN-
[V, D-Obj]
D-
[ART, best]
MENSCH
[N, konkr, belebt, menschl]
Eine L e x i k o n r e g e l
setzt die Lexikoneinträge und die KS-Struktur
zueinander in Beziehung. Sie legt fest, daß unter die Endkategorien der KS-Struktur 'ART', 'N' und 'V' Lexikoneinheiten eingesetzt werden können, wenn zwischen den Endkategorien und den rferknalen kein Widerspruch besteht. Wir können also z. B. unter der Endkategorie 'ART' UNSER oder D- einsetzen, aber nicht DIEN- oder TECHNIK. Die Anwendung der Lexikonregel leitet die Stannibaumstruktur in Figur 4 ab.
\
NP
ART
ART 1
N 1 1
"ART " poss I pl
"N abstr
"ART ' best
-UNSER-
-TECHNIK.
-D-
-
"N konkr belebt menschl .MENSCH .
"V D-Obj
-0IEN--
Figur 4
Die Lexikoneinheiten könnten aber auch so in die KS-Struktur eingesetzt werden, daß folgende Ausdrücke abgeleitet würden: (7) Der Mensch unserer Technik dient (8) Unser Mensch der Technik dient (9) Die Technik unserem Menschen dient
Ausgeschlossen sind nur Ableitungen wie (10) *Der Dien technike Unser menscht,
weil hier zwischen Endkategorien und Wbrtklassenmerkmalen ein Widerspruch besteht. Die Lexikoneinträge und die Bedingungen, unter denen Lexikoneinheiten in Konstituentenstrukturen eingesetzt werden können, sind allerdings wesentlich komplizierter, als wir es hier darstellen konnten. So haben wir z. B. alle Informationen weggelassen, die sich auf Kasus, Genus und Numerus beim Substantiv und Artikel sowie auf Person, Numerus, Tempus und Modus des Verbs
15
beziehen. Außerdem blieb ein Regeltyp unberücksichtigt, der die Endkategorien der KS-Struktur genauer spezifiziert: die Subkategorisierungsregeln. Die durch die B a s i s struktur
abgeleitete Struktur bildet die
Tiefen-
. Die Struktur von Figur 4 ist z. B. eine - wenn auch ver-
einfachte - Tiefenstruktur. Nach
CHOMSKYS
Auffassung bringt das Regelsystem
der Basis das zum Ausdruck, "was implizit in den unformalen Aussagen der traditionellen Granmatik ... enthalten ist". (1969, 143) Transformationsregeln
überführen die Tiefenstruktur
in die Oberflächenstruktur. Sie verändern entweder die KS-Struktur des Satzes, oder sie verändern die Merkmale, die durch das Lexikon eingeführt wurden. Sie legen die Form des Satzes fest, haben aber keinen Einfluß mehr auf seine Bedeutung. Wie wir oben schon festgestellt haben, sind die Sätze (1) Unsere Technik dient dem Menschen (2) Dem Menschen dient unsere Technik (3) Es dient unsere Technik dem Menschen
gleich in ihrer Bedeutung. Sie haben darum auch die gleiche Tiefenstruktur. (1) unterscheidet sich nur durch die Wortstellung in der VP von der Tiefenstruktur (6), wenn man von Transformationen absieht, die sich auf Merkmale beziehen. Bei (2) tritt die Objekt-NP an den Anfang des Satzes, die Subjekt-NP ans Ende. Bei (3) stehen Subjekt- und Objekt-NP hinter dem Prädikatsverb; an die Satzspitze tritt das Pronomen es, das nichts zur Satzbedeutung beiträgt. Diese Veränderungen werden als Transformationsregeln (T-Regeln) formuliert . T-Regeln haben die Form 'X ==> Y'. 'X' steht für die strukturelle Beschreibung (SB) der Strukturen, auf die die T-Regel angewandt werden kann. 'Y' steht für die strukturelle Veränderung (SV), die durch die T-Regel bewirkt wird. Der Doppelpfeil kann gelesen werden als 'Transformiere X zu Y'. Indexzahlen dienen zur Unterscheidung von Konstituenten, die in einer KS-Struktur mehrmals vorkonmen. Zur Ableitung von (1) formulieren wir folgende T-Regel: (T-R 1)
VP
NP
VP
v
v
NP
Sie überführt die KS-Struktur von Figur 4 in die KS-Struktur in Figur 5; die Merkmale bleiben hier unberücksichtigt:
16
I
I l I Unsere
1
I
I
ART
I
I
I
Technik
N
, I I
1
dient
I I I
dem
Menschen
Figur 5
Zur Ableitung von (2) und (3) formulieren wir die T-Regeln 2 und 3, die alternativ auf alle KS-Strukturen angewandt werden können, die die T-Regel 1 bereits durchlaufen haben: (T-R 2)
S
S
(T-R 3)
Die beiden T-Regeln überführen die KS-Struktur von Figur 5 in die KS-Strukturen von Figur 6 oder 7.
Menschen
dient
Technik
Figur 6
ES"
dient Figur 7
unsere
Technik
dem
Menschen
17
Die T-Regeln 2 und 3 verwischen den eindeutigen hierarchischen Zusaitmenhang der Satzteile. Die Kategorie VP wird völlig getilgt. Dies ist jedoch kein Nachteil, weil der Zusaitmenhang der Satzteile in der Tiefenstruktur nur für die Satzbedeutung wichtig ist, auf die Lautform des Satzes aber keinen unmittelbaren Einfluß hat. Auch auf die aus dem Lexikon übernortmenen Merkmale werden T-Regeln angewandt. Diese Regeln verändern nicht die KS-Struktur, sondern definieren die Form der Wörter in der Oberflächenstruktur. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben besteht darin, Deklinations- und Konjugationsformen festzulegen und die Kongruenz zwischen Subjekt-NP und Prädikatsverb oder zwischen Artikel und Substantiv zum Ausdruck zu bringen. Die T-Regeln leiten die O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r
ab und
definieren damit gleichzeitg den Zusanmenhang zwischen Form und Bedeutung des Satzes. In unserem Beispiel stellen sie fest, daß die Tiefenstruktur von Figur 4 durch drei verschiedene Oberflächenstrukturen realisiert werden kann. Auch die Oberflächenstruktur ist noch eine abstrakte Struktur. Erst ihre Interpretation durch die phonologische Komponente (vor die eventuell eine morphologische Komponente zu schalten ist) ergibt die Lautform des Satzes. Figur 8 stellt den A u f b a u
der
TG
im Überblick dar:
SYNTAX TRANS-
BASIS KS-Regeln
Tiefenstruktur
FORMATIONS-
/Oberflächen-1 struktur J
REGELN
Lexikon
SEMANTISCHE
PHONOLOGISCHE
KOMPONENTE
KOMPONENTE
Bedeutung des Satzes
Lautform des Satzes
Figur 8
Der t r a d i t i o n e l l e
Aufbau
kennengelernt haben, ist a d d i t i v
der Granmatik, den wir bei
RIES
: Die einzelnen Teile werden unter-
schieden nach dem Forschungsgegenstand (Wort oder Satz) und nach der Betrachtungsweise (Form oder Bedeutung). Die Einteilung dient nur der übersichtlicheren Anordnung des umfangreichen grammatischen Stoffes. Ein folgerichtiger Zusanmenhang zwischen den Teilen besteht nicht. Die Granmatik ist dagegen d e d u k t i v
CHOMSKYS
: Die Teile der Granmatik bilden ein zusammen-
hängendes System. Wenn man von dem Anfangssymbol 'S1 ('Satz') ausgeht und das
18
Regelsystem der Reihe nach anwendet, kann man - wenigstens der Zielsetzung nach - jedem Satz des Deutschen eine syntaktische Beschreibung zuordnen sowie seine Bedeutung und seine Lautform ableiten. Die Unterscheidung von Porm und Bedeutung, die bei RIES eher sekundär ist, steht bei CHOMSKY im Vordergrund. Serantik und Phonologie bilden eigene, selbständige Teile der Granmatik. Die Syntax vermittelt zwischen beiden, indem sie eine Tiefenstruktur zur seirantischen und eine Oberflächenstruktur zur phonologischen Interpretation generiert. Die Unterscheidung zwischen Wbrtlehre und Satzlehre ist bei CHOMSKY weniger klar herausgearbeitet. Sie läßt sich fassen in den Komponenten der Basis, KS-Regeln und Lexikon. Das Lexikon ist Teil der Syntax. Es bietet zugleich mehr und weniger als die Wbrtlehre der traditionellen Granmatik. Es bietet mehr, weil es nicht nur die allgemeinen Eigenschaften der Wortklassen und Wbrtformen aufführt, sondern - dem Anspruch nach - alle Wörter einer Sprache mit ihren speziellen Merkmalen aufzählt. Dieser Anspruch ist in der Praxis kaum zu verwirklichen, da die Zahl der Wörter einer Sprache sehr groß ist. Man wird sich wie die traditionelle Grairmatik auf die Beschreibung der allgemeinen Merkmale anhand von ausgewählten Beispielen beschränken müssen. Das Lexikon bietet weniger, weil es nichts enthält, was der traditionellen Formenlehre entspricht: es bietet die abstrakte Struktur der Vförter und überläßt die Beschreibung der konkreten Wbrtform den Transforrrationsregeln und der rrorphologisch-phonologischen Korrponente. Die TG macht die traditionelle Granmatik nicht überflüssig. Sie hebt vielmehr ihre Ergebnisse auf im mehrfachen Sinne des Wbrtes, indem sie sie in eine zusarrmenhängende Theorie integriert. Der Aufbau der TG wird in CHOMSKY 1969, 88-187 ausführlich diskutiert und begründet. Als Einführung sind die Darstellungen in BIERWISCH 1966, 104-120, BECHERT u. a. 1973, 172-189, WELTE 1974, 158-172 (mit vielen Literaturangaben) zu empfehlen. Zur Form der semantischen Komponente vgl. KATZ/F0D0R 1970 (engl. 1963), KATZ 1969, 92-169 (engl. 1966) und KATZ 1972. Dieser Teil der Theorie ist allerdings stark umstritten und durch die Ergebnisse der sprachanalytischen Semantik wohl überholt (vgl. z. B. HERINGER 1974). Das Standardwerk der generativen Phonologie ist CHOMSKY/HALLE 1968, für das Deutsche vgl. WURZEL 1970.
1.4.
Aufgaben
1. Sie finden unten drei Inhaltsverzeichnisse von Syntaxdarstellungen. Welchem Syntaxtyp würden Sie sie zuordnen? Begründen Sie Ihre Entscheidung. (a) 1. Kap. Satz und Satzverhältnisse 2. Kap. Prädikatives Satzverhältnis
19 1. 4. 5. 6. (b) I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Kap. Kap. Kap. Kap.
Attributives Satzverhältnis Objektives Satzverhältnis Syntax des zusammengesetzten Satzes Wortfolge
Das Substantiv Kasusrektion der Präposition Das Adjektiv Pronomina und pronominale Wörter Der Artikel Das Verbum Kongruenz und Synesis Verneinung Subjektlose Sätze. "Unpersönliche" Konstruktionen Wortstellung Verbindung von Sätzen
(c) 1. Vorbemerkungen 2 . Konstituentenstruktur 3. Transformationsteil 2. Eine traditionelle Grairmatik (DUDEN 2. A. 1966, 64-67) gibt folgende Wortartdefinitionen. Erläutern Sie, inwiefern diesen Definitionen eine Mischklassifikation nach inhaltlichen, formalen und syntaktischen Kriterien zugrundeliegt. (a) Verben: "Wörter, die uns sagen, was sich ereignet oder was ist." (b) Substantive: "Wörter ..., die Lebewesen oder Dinge benennen." (c) Adjektive: Sie drücken "die Stellungnahme des Sprechers zu den im Satz genannten Wesen oder Dingen sowie zum Sein oder Geschehen" aus. (d) Artikel: Sie "treten nur als Begleiter von Substantiven auf". (e) Präpositionen: Sie "bezeichnen meist die Verhältnisse, die zwischen dem im Substantiv genannten Wesen oder Ding und einem Geschehen oder Sein (Verb), einem andern Wesen oder Ding (Substantiv) oder einer Stellungnahme (Adjektiv) bestehen". (f) Konjunktionen: Sie "verbinden Satzteile oder Sätze". (g) Wortarten: Sie "unterscheiden sich durch die besondere Weise, in der sie an der sprachlichen Erschließung der Welt teilnehmen, und durch das Vorhandensein oder Fehlen einer Formenwelt". 3. Vergleichen Sie die Stellung der Syntax im System der traditionellen Grarrmatik mit der im System der TG. 4. Leiten Sie folgenden Satz mit Hilfe der eingeführten KS-Regeln und Transformationsregeln ab. Erweitern Sie das Lexikon um die neu auftretenden Wörter: Dem Tüchtigen hilft das Glück
2.
THEORIEBILDUNG
2.1.
Vorbemerkung
Im ersten Kapitel haben wir zwei verschiedene Ansätze zur Beschreibung der Syntax des Deutschen gegenübergestellt. Traditionelle Granmatik und generative Transformationsgrammatik stellen T h e o r i e n
dar, mit deren Hilfe wir
die sprachlichen Tatsachen zu erfassen, zu ordnen, zu erklären oder zu verstehen suchen. Ohne Theorie ist wissenschaftliche Erkenntnis nicht möglich, und es gibt darum auch keinen untheoretischen Zugang zur Syntax. Diese Behauptung muß begründet werden, weil die traditionelle Grammatik sowohl in ihrem Selbstverständnis als auch in den Augen vieler TG-Anhänger als untheoretisch, ja theoriefeindlich gilt. Viele Vertreter der traditionellen Granmatik nehmen an, einen unmittelbaren, nicht durch theoretische Konstrukte verstellten Zugang zu ihrem Gegenstand gewinnen zu können. BRINKMANN (1962, 2. A. 1971, VII) weist darauf hin, daß er nicht "im Dienst von Theorien" stünde, sondern "eine angemessene Darstellung des Gegenstands" erstrebe. ERBEN (1972, 28) glaubt nicht "an eine alleinseligmachende Theorie oder Methode". ADMONI (1971, 23) weist darauf hin, daß die Sprache als "eines der wichtigsten Phänomene des gesellschaftlichen Daseins des Menschen" so viele Aspekte besitzt, daß sie nicht "auf der Grundlage einer Ausgangsthese (oder einer äußerst begrenzten Anzahl von axiomatischen Begriffen) erforscht werden kann". WEISGERBER schließlich bringt den Gegensatz zwischen seiner traditionellen inhaltbezogenen Granmatik und der TG auf das schlichte Begriffspaar "Leben und Formel" (1973, 44). In der neueren Diskussion über Granmatiktheorien, die vor allem von der neopositivistischen Wissenschaftstheorie beeinflußt wurde, herrscht dagegen die Auffassung vor, daß nur solche allgemeinen Aussagen über die Sprache den Status von Theorien haben, die den Zusammenhang zwischen immittelbar beobachtbaren Tatsachen mit Hilfe eines logisch-mathematischen Apparats so erklären, daß neue, bisher nicht beobachtete Tatsachen zutreffend vorausgesagt werden können. BECHERT U. a. (1973, 19) vergleichen die Granmatiktheorie mit der Physik und weisen ihr die Aufgabe zu, "die Beobachtungsdaten zusanmen-
21
hängend, d. h. systematisch zu beschreiben und zu erklären". BARTSCH/VENNEMANN (1973, 35) sehen das Ziel der Sprachwissenschaft darin, "eine Theorie zu erstellen, die es erlaubt, aus einer endlichen Menge von Anfangsaussagen und Allgemeinaussagen alle übrigen Aussagen über die menschliche Sprache deduktiv abzuleiten" . Die traditionelle Granmatik erscheint im Vergleich dazu als vortheoretisch, ja vorwissenschaftlich. Der T h e o r i e b e g r i f f
, den wir hier zugrundelegen wollen, ist
weniger eng gefaßt. Wir unterscheiden zwischen alltagssprachlichen Theorien, wie sie der traditionellen Granmatik zugrundeliegen, und der formalen oder kunstsprachlichen Theorie der TG. Abschließend skizzieren wir einige Methoden syntaktischer Analyse.
2.2.
Alltagssprachliahe Theorien
In einer ersten Annäherung kann man sagen, daß eine
T h e o r i e
die
folgerichtige Zusammenstellung der als wahr akzeptierten allgemeinen Aussagen einer Wissenschaft über ihren Gegenstandsbereich ist. Sehen wir uns ein Beispiel an: Wenn wir sagen, daß am 24. 11. 1973 in der Bild-Zeitung stand Michael feierte bis drei Uhr früh, dann treffen wir eine Feststellung, die nichts mit Theorie zu tun hat. Es handelt sich um die schlichte Behauptung einer
E i n z e l t a t s a c h e
, aus der sich weitere Schlußfolgerun-
gen - wenigstens in dem Bereich, der uns hier interessiert, nicht ableiten lassen. Theoretisch relevanter ist schon die Behauptung, daß Michael feierte bis drei Uhr früh ein Satz mit sechs Vtörtern ist. Sie setzt nämlich eine a l l g e m e i n e
A u s s a g e
über die deutsche Sprache voraus, die
man so formulieren könnte: (1) Sätze bestehen aus Wörtern.
Natürlich erscheint diese Aussage banal und nicht der Rede wert, weil sie schon jedes Kind kennt, das überhaupt die Wörter Satz und Wort gelernt hat zu gebrauchen. Um sie zu kennen, braucht man keine Wissenschaft: sie gehört in unserer Kultur zum selbstverständlichen Alltagswissen. Gleichwohl ist (1) Teil einer möglichen Syntaxtheorie des Deutschen. Würde es diese allgemeine Aussage nicht geben, könnte man über den Beispielsatz vielleicht nur sagen, daß er Teil einer umfangreicheren Buchstabenfolge sei. Die traditionelle Syntax zerlegt den Beispielsatz in das Subjekt Michael und das Prädikat feierte bis drei Uhr früh. Auch diese Zerlegung hat eine allgemeine Aussage zur Voraussetzung, die durch den Granmatikunterricht in den Schulen so weit verbreitet ist, daß man sie zum Alltagswissen zählen kann:
22 (2) Sätze bestehen aus Subjekt und Prädikat.
Die beiden Aussagen bilden eine - wenn auch primitive, unzureichende und unvollständige - Syntaxtheorie des Deutschen. Die Vförter 'Satz', 'Wort', 'Subjekt', 'Prädikat' sind G r u n d b e g r i f
f e , die es uns erlauben,
die Vielfalt der sprachlichen Tatsachen in eine allgemeinere Ordnung zu bringen. Wissenschaftliche Erkenntnis ist ohne solche Grundbegriffe nicht möglich. Da die alltägliche Sprache solche allgemeinen Aussagen wie (1) und (2) mit den in ihnen enthaltenen Grundbegriffen zur Verfügung stellt, stellt sie auch eine Theorie zur Verfügung. In diesem weiten Sinne von Theorie ist wissenschaftliche Erkenntnis ohne Theorie nicht möglich. Theorien, die auf Begriffen der a l l t ä g l i c h e n
Sprache
beruhen, sind uns allerdings so selbstverständlich, daß wir sie gar nicht mehr als Theorien ansehen, sondern sie für genauso real wie die Einzeltatsachen selbst halten. Sprachwissenschaftler, die sich mit den Grundbegriffen der Alltagssprache begnügen, gelangen leicht zu der Überzeugung, sie hätten überhaupt keine Theorie. In Wirklichkeit haben sie eine Theorie, die wegen ihres Alters und ihrer weiten Verbreitung so selbstverständlich geworden ist, daß sie in die Alltagssprache aufgeronnen wurde und mit ihr gelernt wird. Alltagssprachliche Theorien sind oft vage und ungenau, weil ihre Grundbegriffe nicht eindeutig definiert werden können. Wir sind uns zwar sicher, daß Michael feierte bis drei Uhr früh ein Satz ist. Wir wissen aber schon nicht mehr ganz sicher, ob wir einen Ausruf wie Hilfe noch als Satz bezeichnen können, weil er nur aus einem Wort besteht, oder ob ein Nebensatz wie daß Michael bis drei Uhr früh feierte noch ein richtiger Satz ist, wie es in dem Wort 'Nebensatz' zum Ausdruck kennt. Und meinen wir dasselbe mit 'Satz', wenn wir sagen: In diesem Satz ist ein Kommafehler und Diesen Satz habe ich nicht verstanden? In dem einen Fall beziehen wir uns auf die äußere Form und im andern Fall auf den Inhalt. Der alltagssprachliche Begriff 'Satz' ist also keineswegs so klar, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine einheitliche Definition ist immöglich, wie die über hundert verschiedenartigen Satzdefinitionen zeigen, die bei RIES 1931 zusanmengestellt sind. Mit 'Wbrt' ist es nicht viel anders. Wir lassen den Unterschied zwischen den Worten des Vorsitzenden und den Vförtern im Lexikon außer Betracht und beschränken uns nur auf die Wörter. Daß feierte in diesem Sinn ein Wort ist, scheint klar. Durchaus nicht klar ist aber, ob feiern, feiert, Feier usw. noch dasselbe Wört ist oder ein anderes, oder ob wir in Er kam an mit kam an ein oder zwei Wörter vor uns haben, weil es auch ankommen gibt.
23 Bei der allgemeinen Aussage (2), nach der Sätze aus Subjekt und Prädikat bestehen, ist es noch schwieriger. Sind Ausdrücke wie Komm her!, Heute wird, getanzt keine Sätze, weil sie kein Subjekt haben? Oder gibt es zur Aussage (2) Ausnahmen? Oder soll man ein verborgenes Subjekt annehmen, das erkennbar wird, wenn man in Du kommst her! und Man tanzt heute umformuliert? Soll man das Subjekt formal verstehen im Sinne eines Substantivs im Nominativ wie Michael oder inhaltlich als den Satzteil, über den etwas ausgesagt wird? Ähnliche Probleme bestehen beim Prädikat. Wo ist das Prädikat in ein Mann - ein Wort? Gehören zum Prädikat alle Satzteile außer dem Subjekt (z. B. bis drei Uhr früh), oder gibt es Satzteile, die weder Subjekt noch Prädikat sind, weil mit Prädikat nur das Verb (z. B. feierte) geneint ist? Ist 'Prädikat1 als Bezeichnung der Verbform aufzufassen oder inhaltlich im Sinne von Satzaussage zu verstehen? Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Antwort auf solche und ähnliche Fragen ist bis heute nicht gefunden worden. Vagheit und Ungenauigkeit sind typisch für alltagssprachliche Begriffe. In den "Philosophischen Untersuchungen" hat Ludwig WITTGENSTEIN am Beispiel des Wortes Spiel gezeigt, daß das, was mit einem Begriff der Alltagssprache bezeichnet werden kann, keine durchgehenden Gemeinsamkeiten zu besitzen braucht, sondern nur durch ein Netz von k e i t e n
' F a m i l i e n ä h n l i c h -
' miteinander verbunden ist. Das Schachspiel hat Gemeinsamkeiten
mit dem Mensch-Ärgere-Dich-Nicht; beides sind Brettspiele. Dieses hat Gemeinsamkeiten mit dem Poker; beides sind Glücksspiele. Schachspiel und Fußballspiel haben gemeinsam, daß eine Partei über die andere siegen will. Das Fußballspiel hat mit dem Spiel eines Kindes, das für sich allein einen Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, gemeinsam, daß beides Ballspiele sind. Zwischen dem Spiel des Kindes und dem Schachspiel gibt es aber nur noch die Gemeinsamkeit, daß beides Spiel genannt wird. Wenn neue Tätigkeiten auftreten, die mit bestehenden Spielen Ähnlichkeit aufweisen, wird man sie ebenfalls Spiel nennen. Es ist darum nicht möglich, für Spiel und andere alltagssprachlichen Begriffe einheitliche Definitionen aufzustellen und die Grenzen ihrer Anwendung festzulegen. WITTGENSTEIN (1967, 49) schreibt: "Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen." Die traditionelle Granmatiktheorie ist sich der Vagheit und Ungenauigkeit ihrer Grundbegriffe nicht bewußt geworden oder hat sich damit abgefunden. Sie verzichtet darauf, genaue Grenzen zu ziehen, und begnügt sich mit der Anführung und Interpretation von Beispielen und Gegenbeispielen. Dies führt dazu, daß wir die alltagssprachlichen Grundbegriffe intuitiv gebrauchen lernen, ohne daß wir
24 dabei jeweils mit Worten erklären könnten, was wir damit meinen, d. h. ohne daß uns die allgemeinen Aussagen bewußt sind, durch die sie definiert werden könnten. Wir bezeichnen z. B. die Ausdrücke Michael feierte bis drei Uhr früh, Komm her! , Heute wird getanzt, Hilfe!, als er kam usw. als Sätze, können aber nicht angeben, was ihnen gemeinsam ist. Die "untheoretische" Syntax-Forschung baut also auf einer alltagssprachlichen Theorie auf. Ihre Vagheit ist in der Alltagssprache begründet, die sie gleichzeitig beschreibt und zur Beschreibung benutzt.
2.3.
Formale Theorien
Die neueren Syntaxtheorien versuchen, bei ihrer Begriffsbildung die Vagheit der Alltagssprache zu vermeiden. Dies kann geschehen, indem man die Begriffe der Alltagssprache durch Definition in ihrem Gebrauch einengt und vereinheitlicht oder neue künstliche Begriffe einführt. Man kann sich aber auch ganz von der Alltagssprache lösen und eine
k ü n s t l i c h e
S p r a c h e
kon-
struieren, in der alle Begriffe eindeutig definiert sind und miteinander im Zusammenhang stehen. Das bekannteste Beispiel für eine künstliche Sprache ist die Mathematik. Die Konstruktion von Kunstsprachen wurde vorangetrieben durch die Entwicklung der
f o r m a l e n
Logik
und durch die Ausbildung der Wis-
senschaftstheorie des N e o p o s i t i v i s m u s
in der Zeit zwischen den
Weltkriegen. Sie hat zum Ziel, den Menschen "aus dem Netz der Wörter, das er gesponnen hat" zu befreien und die Sprache, vor allem die Sprache der Wissenschaft, "einer gründlichen Reinigung, Vereinfachung und Systematisierung" zu unterziehen (MORRIS 1972, 20), um damit "das Denken vor Fehlern zu bewahren" (FREGE nach HERINGER 1971, 47). Die neueren Syntaxtheorien wären ohne die Fortschritte bei der Konstruktion von Kunstsprachen nicht denkbar gewesen. Wir wollen an einem einfachen Beispiel erläutern, wie eine Syntaxtheorie in einer künstlichen Sprache formuliert werden kann. Aufgabe dieser Theorie soll es sein, eine syntaktische Beschreibung für folgende Sätze zu liefern: Michael feiert. Marianne arbeitet.
Wir beginnen mit einer Beschreibung in der Alltagssprache. Ihr stellen wir die Beschreibung in der künstlichen Sprache der generativen Transformationsgranmatik (TG) gegenüber. Aus dem Vergleich beider Beschreibungen vollen wir einige wichtige Eigenschaften von kunstsprachlichen Theorien entwickeln. \
25
Alltagssprachliche Beschreibung: Die beiden Wortverbindungen Michael feiert und Marianne arbeitet bestehen aus je zwei Wörtern. Michael und Marianne sind Substantive. Feiert und arbeitet sind Verben. Die beiden Wortverbindungen sind Sätze. Sie bestehen aus Subjekt (Michael, Marianne) und Prädikat (feiert, arbeitet) .
Kunstsprachliche Beschreibung: (1) (2) (3) (4) (5)
S NP VP N V
> NP + VP >N >V > Marianne, > feiert,
Michael arbeitet
s
s
NP
VP
NP
VP
N
v
N
v
Michael
feiert
Figur 1
Marianne
arbeitet
Figur 2
Die a l l t a g s s p r a c h l i c h e
Beschreibung
beruht auf
den beiden allgemeinen Aussagen, die wir in 2.2. angeführt haben. Als dritte Aussage kommt hinzu, daß manche Worter Substantive, und daß manche andere Wörter Verben sind. Wir haben die Aussagen nicht besonders genannt, weil sie in der Beschreibung bereits implizit enthalten sind. Sie sind mit den Begriffen 'Satz', 'Wort', 'Subjekt', 'Prädikat', 'Substantiv', 'Verb' gegeben. Problematisch ist nicht nur die Ungenauigkeit der Begriffe, die wir bereits diskutiert haben, sondern auch ihr fehlender Zusammenhang. So wird nicht klar, wie die Behauptung, daß die Sätze aus zwei Wörtern bestehen, mit der Behauptung zu vereinbaren ist, daß sie aus Subjekt und Prädikat bestehen. Die k u n s t s p r a c h l i c h e
Beschreibung
ist nicht
unmittelbar verständlich und bedarf der Erläuterung. Zunächst ist die Kunstsprache selbst einzuführen. Zum zweiten ist zu zeigen, wie in ihr die Begriffe definiert werden, die zur Beschreibung des Gegenstandsbereichs erforderlich sind. Drittens soll der Zusaitmenhang zwischen den kunstsprachlichen Aussagen deutlich gemacht werden. Zuletzt wollen wir erörtern, inwieweit die Kunstsprache der TG syntaktische Beschreibungen liefern kann, die ihrem Gegenstand angemessen sind.
Die kunstsprachliche Beschreibung besteht aus zwei Teilen. Sie enthält zum einen die A u s s a g e n
(1) bis (5) (wir kennen sie bereits als
KS-Regeln aus Abschnitt 1.3.), zum andern die S t a m m b ä u m e
in
Figur 1 und 2, die aus den Aussagen abgeleitet sind. In den Aussagen kcumen drei Arten von Z e i c h e n
vor:
(a) die Großbuchstaben 'S*, 'NP1 , ' V P \ 'N' und ' V \ (b) die Wörter des Deutschen Michael, Marianne, arbeitet (c) Pfeile, Plus-Zeichen und Kommas.
und
feiert,
Wir werden unten sehen, daß die Zeichen (a) durch die Beschreibung selbst aufgrund ihres Zusammenhangs mit (b) definiert werden können. Die Zeichen in (c) und die Regeln, nach denen sie zu Aussagen verbunden werden können, müssen jedoch alltagssprachlich eingeführt werden. Alle Aussagen der Kunstsprache haben die F o r m
'X
> Y 1 . 'X' ist
eine Variable, für die jeweils ein Zeichen aus dem Inventar (a) eingesetzt werden kann. 'Y' ist eine Variable, für die ein Zeichen oder eine Zeichenfolge aus den Inventaren (a) und (b), aber nicht 'S' eingesetzt werden können. 'S' kann nur links van Pfeil vorkorrmen; es ist Anfangssymbol. Die Zeichen aus (b) können nur rechts vom Pfeil vorkamen; es sind Endsymbole. Die Zeichen 'NP1, 'VP', 'N' und 'V' karmen sowohl links wie rechts von Pfeil vor. Das Plus-Zeichen und das Kcnma treten nur rechts van Pfeil auf. Das Plus-Zeichen verkettet einfache Zeichen aus (a) oder (c) zu Zeichenketten; es kann als und gelesen werden. Das Komia entspricht am ehesten dem Wort oder. Der Pfeil selbst konstituiert die kunstsprachlichen Aussagen, indem er die anderen Zeichen zueinander in Beziehung setzt. Er hat eine ähnliche Funktion wie die Prädikatsverben in alltagssprachlichen Sätzen wie Bans liebt Grete oder Fritz ist Arbeiter. Seine Bedeutung kann in der Alltagssprache auf verschiedene Weise umschrieben werden je nach dem Zweck, zu den man die Kunstsprache einsetzt. Ganz allgemein kann er aufgefaßt werden als eine Anweisung, den Ausdruck links vcm Pfeil durch den Ausdruck rechts vcm Pfeil wiederzugeben, d. h. statt 'X1 'Y' zu schreiben bzw. 'X' durch 'Y' zu ersetzen. Nehmen wir an, daß 'X' für 'A' und 'Y' für 'B + C + D' steht, so ist der Pfeil eine Anweisung, statt 'A' in der nächsten Zeile 'B + C + D' zu schreiben bzw. eine Starrmbaumstruktur zu bilden, in der von A Äste zu den Knoten B, C und D ausgehen: (1)A (2)
A
B + C + D
Figur 3
27
Die kunstsprachlichen Aussagen enthalten also Anweisungen, Ausdrücke durch andere Ausdrücke zu ersetzen; sie bilden s y s t e m e
1
' E r s e t z u n g s -
.
Im Hinblick auf die Strukturbeschreibung von Sätzen kann der Pfeil verstanden werden als Bezeichnung einer Teil-Ganzes-Beziehung oder als Bezeichnung einer Klasse-Element-Beziehung. So kann (1) 'S
> NP + VP' ge-
lesen werden als 'Ein Satz besteht aus einer NP und einer VP' oder (4) 'N
> Marianne, Michael' als 'Ein N besteht aus Marianne oder Michael',
wobei natürlich zulässig ist, daß das Ganze nur aus einem einzigen (eventuell wie hier aus mehreren Alternativen ausgewählten) Teil besteht. Ersetzungssysteme können darum beschreiben, wie die Sätze einer Sprache aus Teilen zusammengesetzt sind. Die Aussagen (4) und (5) sind allerdings besser als Aussagen über Klasse-Element-Beziehungen aufzufassen; bei der Übertragung in die Alltagssprache wird der Pfeil als 'Y ist ein (bzw. sind) X' (d. h. mit Vertauschung von 'X' und 'Y') und das Kcrma als und gelesen: 'Marianne und Miohael sind N', 'feiert und arbeitet sind V'. Die TG interpretiert das Ersetzungssystem jedoch nicht bloß als Strukturbeschreibung von Sätzen, sondern als Anweisung zur
E r z e u g u n g
(Generierung, deduktiven Ableitung) von Strukturbeschreibungen und den ihnen zugeordneten Sätzen einer Sprache. Wir gehen darauf in Punkt 3. dieses Abschnitts ein. Die verschiedenen Möglichkeiten, das Pfeil-Zeichen in die Alltagssprache zu übertragen, machen deutlich, daß die Zeichen im Zusammenhang der Kunstsprache eine Bedeutung haben, für die es in der Alltagssprache keine unmittelbare Entsprechung gibt. Man kann sie oft nicht durch einen bestimmten alltagssprachlichen Ausdruck wiedergeben, sondern braucht eine längere Erklärung. Die künstliche Sprache definiert die Form der Theorie. Sie legt fest, welche Aussagen in der Theorie zulässig sind, und schließt alle anderen aus. So sind z. B. '
> V' oder 'NP + VP
> N + V' keine Aussagen der
Theorie, weil sie nicht formgerecht gebildet sind. Damit steckt sie den Rahmen dessen ab, was in der Theorie über einen Gegenstandsbereich überhaupt ausgesagt werden kann. Die durch eine Sprache vcm Typ 'X finierte Form der Theorie wird als t u r s y n t a x
' oder
> Y' de-
' K o n s t i t u e n t e n s t r u k -
'- g r a m m a t i k
'
(oft auch: Phrasen-
strükturgrairmatik) bezeichnet. Die Theorie umfaßt die als wahr akzeptierten Aussagen, die in der künstlichen Sprache über den Gegenstandsbereich gemacht werden. Die Aussagen 'NP
> VP + V' oder 'V
> M-LahaeV sind zwar formgerecht gebil-
28 det, aber falsch im Hinblick auf den Gegenstandsbereich und können darum nicht als Aussagen der Theorie akzeptiert werden. Die
Form
der
T h e o r i e ,
die wir hier vorgestellt haben,
ist gegenüber der Form der TG sehr stark vereinfacht. So kennen Aussagen wie (4) und (5) in der voll ausgearbeiteten TG nicht vor; stattdessen schließen sich Lexikon und Transformationsregeln an das Ersetzungssystem der KS-Regeln an, wie wir bei der Darstellung des Aufbaus (vgl. 1.3.) bereits gesehen haben. Da wir uns hier auf die Art der Theoriebildung beschränken, muß die Erweiterung der Kunstsprache späteren Abschnitten vorbehalten bleiben. 2. Die Zeichen 'S*, 'NP\ 'VP', 'N', 'V' sind die B e g r i f f e ,
mit de-
nen die künstliche Sprache ihren Gegenstandsbereich zu erfassen sucht. Um festzustellen, wie sie definiert sind, betrachten wir die Aussagen (1) bis (5) von unten nach oben. In (5) wird behauptet, daß feiert und arbeitet als V, und in (4), daß Marianne und Michael als N zu charakterisieren sind. Obwohl wir in 'V' leicht den alltagssprachlichen Begriff Verb und in 'N' den Begriff Substantiv (Ncmen) erkennen können, besteht doch ein wichtiger Unterschied. 'V' und 'N1 sind eindeutig definiert für die Wörter in (4) und (5) und für sonst nichts. Die Theorie sagt nichts darüber, ob auch Hans und Inge Noder ob schläft und singt V sind. Die Begriffe 'N' und 'V' gelten nur für das, was in der Theorie ausdrücklich so bezeichnet wird. Die Begriffe 'Verb' und 'Substantiv' stehen dagegen für alles, was wir aufgrund von Erfahrung und Sprachkenntnis dafür halten. Da die Kunstsprache das alltagssprachliche Vorverständnis ausschaltet, erhalten ihre Begriffe erst dadurch Bedeutung, daß sie durch klare und eindeutige Definitionen eingeführt werden. In unserem Beispiel haben wir eine Definition durch Aufzählung vor uns, wie sie für die TG charakteristisch ist. Eine andere Möglichkeit zu definieren besteht darin, eine Eigenschaft anzugeben, z. B.: "Verben sind Wörter, die konjugiert werden können." Alltagssprache und Kunstsprache bilden, was die der
B e g r i f f e
D e f i n i t i o n
betrifft, keine unüberbrückbaren Gegensätze.
Einerseits kann man auch in Kunstsprachen Undefinierte Begriffe verwenden. In unserem Beispiel brauchte man nur nach (3) abzubrechen. Man würde dann, um mit der Theorie überhaupt etwas anfangen zu können, 'N' und 'V' im Sinne von 'Substantiv' und 'Verb' verstehen. Gegenüber der Alltagssprache wäre nichts gewonnen als eine abgekürzte Schreibweise. Andererseits kann man auch in der Alltagssprache Begriffe definieren und nur noch nach Definition
verwenden. So könnte man z. B. festlegen, daß als Substantive und Verben nur die Wörter gelten, die in einer Liste aufgeführt sind. Auch bevor die Kunstsprachen erfunden worden sind, wurden solche "künstlichen" Bestandteile in die Alltagssprache eingeführt. Der Großteil der wissenschaftlichen Terminologie beruht auf diesem Verfahren. In (2) und (3) werden die Begriffe NP und VP mit Hilfe von N und V definierEs wird gesagt, daß jede NP ein N ist und jede VP ein V. Da wir durch (4) und (5) bereits wissen, was N und V sind, ist auch hier Eindeutigkeit gewährleistet. In (1) wird 'S' definiert als eine Verkettung NP und VP. Zwischen (1) und (5) besteht also ein durchgehender Zusaitmenhang. Durch ihn wird eindeutig festgelegt, wie die Begriffe auf ihren Gegenstandsbereich (der in unserem Beispiel allerdings nur aus vier Vförtern besteht) anzuwenden sind. Der durchgehende
Z u s a m m e n h a n g
der
Aussagen
ist
charakteristisch für kunstsprachliche Theorien. Er ist unabhängig von der Bedeutung der jeweils verwendeten Zeichen und ergibt sich allein aus der Form der Aussagen. In der Mathematik folgt z. B. aus der Aussage 'a + b = c' die Aussage 'a = c - b', und zwar unabhängig davon, für welche Zahlen a, b und c stehen. Ebenso folgt im Ersetzungssystem z. B. aus A B
> B und
> C, daß C ein A ist, und zwar unabhängig davon, ob A, B und C für NP,
N und Michael, für VP, V und feiert oder sonst etwas stehen. Kunstsprachliche Theorien werden darum auch
formale
Theorien
genannt.
Man kann die Aussagen (1) bis (5) in zweifacher Weise verwenden. Einmal kann man mit ihnen regelrecht "berechnen", ob eine vorliegende Äußerung, z. B. Marianne feiert, ein S ist: Nach (4) ist Marianne ein N und damit nach (2) eine NP; nach (5) ist feiert ein V und damit nach (3) eine VP. Nach (1) bildet die Verkettung von NP und VP ein S; also ist Marianne feiert ein S. Umgekehrt kann man aber auch fragen, welche Ausdrücke die Theorie als S charakterisiert, d. h. man kann diese S aus den Aussagen der Theorie " g e n e r i e r e n "
, d. h. deduktiv ableiten. Diese Möglichkeit ist
so grundlegend, daß sie der generativen Transformationsgrammatik mit ihren Namen gegeben hat. Die Generierung von Sätzen geht so vor sich, daß man das, was links von Pfeil steht, in der nächsten Zeile durch das wiedergibt, was rechts vom Pfeil steht, bzw. zwischen den durch Karma getrennten Ausdrücken wählt:
30 s (nach (nach (nach (nach (nach
1) 2) 3) 4) 5)
NP + VP N + VP N + V Michael + V Michael + feiert
(oder: Marianne (oder: Marianne Michael Marianne
+ V) + feiert + arbeitet + arbeitet)
Gleichwertig mit dieser Schreibweise ist die gebräuchlichere, weil übersichtlichere Starnribaundarstellung in Figur 1 und 2 oben. Die Theorie beschreibt nicht nur die Sätze, zu deren Beschreibung sie aufgestellt worden ist, sondern auch die Sätze Marianne feiert und Michael arbeitet. Sie gestattet es also, von bestimmten Sprachtatsachen auf andere Sprachtatsachen zu schließen, d. h. zu
v e r a l l g e m e i n e r n .
Ein besonderer Vorteil liegt auch in der genauen Angabe der Schritte, die erforderlich sind, um die allgemeinen Aussagen der Theorie auf konkrete Sprachtatsachen zu beziehen. Dadurch werden Widersprüche offenkundig und sind leichter zu vermeiden. 4. In einem banalen Sinne ist es selbstverständlich, daß Theorien G e g e n s t a n d
a n g e m e s s e n
ihrem
sein müssen. So wäre eine Theorie
mit Sicherheit unbrauchbar, die die Aussage enthält, daß Sätze beliebige Buchstabenfolgen seien. Denn sie könnte allein durch den Hinweis widerlegt werden, daß niemand die Buchstabenfolge abadefg... für einen Satz des Deutschen ansieht. Sehr viel schwieriger ist es zu entscheiden, ob eine alltagssprachliche oder eine kunstsprachliche Theorie ihrem Gegenstand eher angemessen ist. A l l t a g s s p r a c h l i c h e
Theorien können kaum als unange-
messen erwiesen werden, weil ihre Begriffe so flexibel sind, daß sie auf ganz verschiedenartige Sprachtatsachen noch angewandt werden können. Wenn man z. B. die Begriffe 'Subjekt' und 'Prädikat' genügend weit faßt, fallen auch noch Sätze wie Komm her! und Es regnet unter die Aussage, daß Sätze aus Subjekt und Prädikat bestehen: Bei Komm her! versteht man das Subjekt inhaltlich aus dem Zusanmenhang, auch wenn es nicht als Du ausgedrückt ist; bei es regnet versteht man es rein der Form nach, da für es kein Inhalt auszumachen ist. Die Vagheit der Begriffe sichert ihre Angemessenheit im jeweiligen Einzelfall. Man muß sie nur richtig zu verstehen wissen. K u n s t s p r a c h l i c h e
Theorien und alltagssprachliche Theorien
mit kunstsprachlichen Elementen (z. B. in Form exakt definierter Begriffe) können dagegen sehr leicht als unangemessen erwiesen werden. So ist unser
31 Beispiel nur angemessen für die Sätze, die es beschreibt, und unangemessen für alle anderen. Mit Hilfe der Aussagen der Theorie kann z. B. noch nicht gezeigt werden, daß der Ausdruck Unsere Technik dient dem Menschen (vgl. 1.3.) ein S ist, oder daß Hans schläft und Arbeitet Marianne? auch unter S fallen. Um dies zu erfassen, müssen neue Aussagen in die Theorie eingeführt werden, z. B. Aussagen wie 'VP schläftFür
> NP + V 1 , 'NP
> AKT + N' oder 'V
>
Arbeitet Marianne? erweist sich sogar ein neuer Typ von Aus-
sagen, die Transformationsregeln, als erforderlich. Die leicht zu erkennende Unangemessenheit kunstsprachlicher Theorien ist Absicht: sie ermöglicht ihre Überprüfung an dem Gegenstandsbereich, den sie beschreibt, macht die Lücken unseres Wissens deutlich und verlangt ihre Beseitigung durch Erweiterung, Verbesserung oder Neukonstruktion der Theorie. Die Theorie dient so als Mittel, neue Einsichten zu gewinnen und zu formulieren. Man weist formalen Theorien meist die Aufgabe zu, den hang
z w i s c h e n
b e o b a c h t b a r e n
Z u s a m m e n -
T a t s a c h e n
so
zu erklären, daß neue beobachtbare Tatsachen vorausgesagt werden können. Wenn ein Astronan den Zusammenhang zwischen den zu verschiedenen Zeiten beobachteten Planetenstellungen durch die Theorie der Planetenbahnen erklärt und damit künftige Planetenstellungen voraussagt, verwendet er die Theorie in diesem Sinne. Ähnlich könnte man unser Beispiel als Theorie verstehen, die aus den beobachteten Sätzen Michael feiert und Marianne arbeitet die Sätze Marianne feiert und Michael arbeitet voraussagt. Diese Theorieverständnis hat seine Ursachen darin, daß kunstsprachliche Theorien (vor allem mathematische Theorien) in den Naturwissenschaften mit sehr großen Erfolg angewandt wurden und daß man darum alle Theoriebildung nach ihrem Vorbild bestiimrt hat. Kunstsprachliche Theorien brauchen aber nicht notwendig auf beobachtbaren Tatsachen aufzubauen. Theorien über die Sprache werden sogar unangemessen, wenn sie sich auf das Beobachtbare beschränken und nicht auch als intuitive Wissen der Sprecher über ihre Sprache hinzunehmen. Wir werden in Abschnitt 3.3. bis 3.5. näher darauf eingehen. Die A n g e m e s s e n h e i t ihrem die
G e g e n s t a n d
Z i e l e ,
einer Theorie bestirnt sich nicht nur von
her. Sie muß auch angemessen sein im Hinblick auf
die mit ihr erreicht werden sollen. Alltagssprachliche
Theorien sind durchaus angemessen, wenn anhand von Beispielen und Gegenbeispielen der Gebrauch wichtiger Grundbegriffe gelehrt werden soll, deren Beherrschung für praktische Zwecke erforderlich ist. Sie spielen darum eine
32
wichtige Rolle im Sprachunterricht, wo sie die Voraussetzung schaffen, daß die Schüler über sprachliche Probleme (z. B. im Rechtschreibunterricht, bei der Stilschulung, bei der literarischen Interpretation und dem Fremdsprachenunterricht) reden und Erklärungen verstehen können. Kunstsprachliche Theorien sind dagegen eher geeignet, neue Einsichten über die Syntax einer Sprache zu formulieren, weil sie zur klaren Herausarbeitung von Unterschieden und Geireinsamkeiten zwingen, die durch die vagen alltagssprachlichen Begriffe verwischt werden. Sie sind ein angemessenes Instrument für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Syntax. Schon vor dem Aufkamen der fornalen Theorien hat John RIES (1894, 3. A. 1967, 138) die Hoffnung ausgesprochen, daß "die Benutzung von Buchstaben und anderen Zeichen und Formeln
desgleichen von
graphischen Darstellungen" bei der Beschreibung der Syntax "gute Dienste leisten" und "zu schönen Erfolgen" führen wird. Die kunstsprachlichen Theorien lassen diese Hoffnung Realität werden. Die unmittelbare A n w e n d u n g
formaler Theorien liegt im techni-
schen Bereich maschineller Sprachverarbeitung. Denn eine Maschine kann nur Informationen verarbeiten, die vollständig, klar und explizit sind und nichts mehr dem intuitiven Vorverständnis überlassen. Für den Sprachunterricht sind sie weniger geeignet, weil die Erlernung einer künstlichen Sprache mehr Zeit und Mühe kostet als für den Grairmatikunterricht sinnvollerweise zur Verfügung gestellt werden kann, und weil eine halbverstandene kunstsprachliche Theorie mehr Verwirrung als Nutzen stiftet. Ihr Nutzen für den Sprachunterricht ist eher indirekt: Die Begriffe und Sätze der formalen Theorie können helfen, die alltagssprachlichen Begriffe und Grundsätze zu verbessern. Kunstsprachen können in die Alltagssprache übersetzt werden. Wenn Begriffe an Beispielen eingeführt werden, können diese so gewählt werden, wie es die kunstsprachliche Definition verlangt. Auf diese Weise können die vagen alltagssprachlichen Begriffe durch exaktere abgelöst werden. Die Umsetzung formaler Theorien in die Alltagssprache ist eine wichtige Aufgabe. Nur so kann erreicht werden, daß sie das Sprachverständnis vieler verbessern und nicht nur das weniger Fachleute. In KLAUS/BUHR 1969, 11/1083-87, BARTSCH/VENNEMANN 1973 und WELTE 1974, 11/646-48 (letztere mit ausführlichem Literaturverzeichnis) wird Theorie in mehr naturwissenschaftlichem Sinne erklärt. Eine Rechtfertigung für formale Theorien über Sprache geben HERINGER 1971 und HERINGER 1973, 60-97. Das Ersetzungssystem wird u. a. in CHOMSKY 1957, dt. 1973, Kap. 4 diskutiert. SCHNELLE 1973, 78-114 arbeitet das Verhältnis von Alltagssprache und künstlicher Sprache bei der Theoriebildung heraus.
33 2.4.
Methoden
Zwischen der Theorie über einen Gegenstandsbereich und der Methode seiner Untersuchung besteht ein enger Zusammenhang. Trotzdem muß zwischen Theorie und Methode unterschieden werden. Alltagssprachliche Theorien umfassen mindestens einige allgemeine Aussagen über ihren Gegenstandsbereich. Formale Theorien bestehen aus einer Menge von Aussagen, die in widerspruchsfreiem Zusammenhang stehen und nur exakt definierte Begriffe enthalten. Sie sind im Idealfall ihrem Gegenstand angemessen, so daß alle wahren Aussagen über ihn aus den Aussagen der Theorie deduziert werden können. In Theorien wird beschrieben, was man über einen Gegenstand weiß. Es ist dabei für die Theoriebildung gleichgültig, wie diese Erkenntnisse gewonnen wurden. Eine
M e t h o d e
umfaßt dagegen die Mittel, die benötigt werden, um
ein Erkenntnisziel zu erreichen. Daß Sätze aus Subjekt und Prädikat bestehen, ist Theorie. Um das Subjekt und das Prädikat in Sätzen zu finden, braucht man eine Methode. Eine weitverbreitete Methode besteht z. B. in der Frage Wer oder was?, die wir aus der Schule kennen: Wer feierte bis drei Uhr früh? Die Antwort, Michael, bestimmt das Subjekt. Das Prädikat findet man mit der Frage Was tut Michael?. Die Antwort, bis drei Uhr früh feiern, enthält das Prädikat. Es geht hier nicht darum, ob dies eine gute Methode ist; jedenfalls ist es eine Methode. Die Methode setzt die Theorie von Subjekt und Prädikat voraus. Andererseits liegt aber auch die Annahme nahe, daß die Theorie erst möglich wurde, als es die Methode gab. In der Forschungspraxis besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Theorien und der Entwicklung von Methoden. Die Methoden, die von
a l l t a g s s p r a c h l i c h e n
Theorien aus-
gehen oder zu ihnen hinführen, sind so vielgestaltig und in ihrer Anwendung so wenig präzisiert wie die Theorien, denen sie entsprechen. Der sowjetische Germanist ADMONI hält die alltagssprachlichen ("offenen") Theorien und die dazugehörigen Methoden für die angemessensten, weil "die Sprache zu ihrer Erforschung und Erklärung einer erheblichen Anzahl von Zugängen und Aspekten" bedarf (1971, 23). Die Methoden beruhen seiner Ansicht nach auf der "Praxis der sprachlichen Karmunikation": "Aufgrund der sehr engen Verbindung zwischen der Sprache und dem praktischen Leben des Menschen und aufgrund der Tatsache, daß die Aufgabe, die grammatische Seite der Sprache zu beschreiben, am Anfang inmer von praktischer Bedeutung war - indem sie nämlich der Normierung des Sprachgebrauchs diente -, mußte die gesamte Auffassung van grarrmatischen Bau in der ersten Zeit sich auf die konkrete Erfahrung der sprachlichen Kcmnunikation gründen." (1971, 111) In die Erfahrung gehen auch frühere Beschreibungen
34
ein; es wirken "die vorgefundene und die persönliche Erfahrung des Forschers ineinander" (1971, 118). Diesem Zusammenwirken war es zu verdanken, daß die zuerst schematisch überncmrenen Kategorien der lateinischen Grarrmatik allmählich so modifiziert wurden, daß sie dorn Deutschen angemessen waren (1971, 112ff.). Die weitverbreitete Auffassung, daß alltagssprachliche Theorien auf Intuition beruhen, wird von ADMONI - allerdings zu Unrecht - abgelehnt. Die sprachliche Intuition (das Sprachgefühl) ist nämlich Ergebnis der Erfahrungen in der Lebenspraxis; da diese von Mensch zu Mensch verschieden sind und sich mit der Zeit ändern, haften der Intuition auch all die Unsicherheiten und Vagheiten an, die die unscharfen alltagssprachlichen Begriffsbildungen zur Folge haben. ADMONI faßt dagegen.die Intuition als "Forschen durch unmittelbare Betrachtung" auf (1971, 112), zeigt aber nicht, worin der Unterschied zwischen Forschung und mystischer Schau besteht. Die Ausarbeitung von e x a k t e n
Methoden
ist vor allem das
Verdienst des amerikanischen Deskriptivismus seit Leonard BLOOMFIELD. Da diese Richtung die Sprache als beobachtbaren Gegenstand im Sinne der Naturwissenschaften ansah und die Intuition als Erkenntnisquelle ablehnte, blieb nur noch der Zugang zum Gegenstand durch bewußt ausgearbeitete und präzis angewandte Methoden. Das - allerdings utopische - Ziel war, durch mechanische Anwendung der Methoden aus einem Corpus von bedaachteten sprachlichen Äußerungen die Gramratik zu erschließen (vgl. 3.3.). Um die A n a l y s e m e t h o d e n
des
Deskriptivismus
zu erläutern, untersuchen wir ein kleines Corpus von Äußerungen. Entsprechend den streng deskriptivistischen Ansatz tun wir dabei so, als ob wir diese Äußerungen weder verstehen noch spontan analysieren könnten; außerdem nehmen wir an, daß uns außer dem Corpus von der untersuchten Sprache nichts bekannt ist. Wir setzen allerdings voraus, daß die Äußerungen nach ihrer Lautform bereits analysiert sind und daß jede von ihnen eine Bedeutung hat, die von der aller anderen unterschieden ist. Durch die etwas verfremdete Schreitweise deuten wir an, daß sich die Analyse nur auf die beobachtbare äußere Form bezieht. Wir legen folgendes Corpus zugrunde: mariannearbeitet mariannefeiert michaelfeiert michaeiliebtmarianne michaelkenntmarianne hanskenntmarianne marianneliebtmichael mariannekennthans
35 Die Analyse erfolgt in mehreren Schritten. Im ersten Schritt werden die Teile (Formen oder Konstituenten) ermittelt, aus denen sich die Äußerungen zusaitmensetzen, d. h. die Äußerungen werden segmentiert. Im zweiten Schritt werden diese Teile nach ihran Vorkamen in gleicher Umgebung zu Klassen zusammengefaßt, d. h. nach ihrer Distribution klassifiziert. In einati dritten Schritt wird untersucht, wie sich die Äußerungen stufenweise aus Teilen zusammensetzen, d. h. es wird ihre Konstituentenstruktur ermittelt. Zuletzt werden die Ergebnisse in einer strukturellen Grarrmatik zusammengestellt. 1. Die grundlegende Methode der m a l p a a r a n a l y s e
S e g m e n t i e r u n g
ist die
Hini-
. Sie beruht auf der Tatsache, daß in ver-
schiedenen Äußerungen gleiche Konstituenten wiederkehren, z. B. rnarianne in mariannearbeitet undrnariannefeiert oder kennt in miahaelkenntmarianne und hanskenntmarianne. Um die kleinsten Konstituenten zu finden, die sich im Corpus wiederholen, stellt man Paare von Äußerungen gegenüber, die sich möglichst wenig voneinander unterscheiden, d. h. man bildet 'Minimalpaare '. Anhand von Minimalpaaren wie (1) rmichael, i. j kenntmananne hans (2)
. michael
.arbeite, {. . }t feier
(3)
., . michael
rlieb-, . } tmananne kenn
(4)
, , rnarianne-, . . .kennt t, } hans
können die nicht weiter zerlegbaren Konstituenten miohael, hans, arbeite, feier, lieb, kenn,rnarianneidentifiziert werden. Das Paar (4) kann sich allerdings nicht auf ganze Äußerungen erstrecken, weil eine Äußerung wie miahaelkennthans im Corpus nicht vorkamt. Als einziger Teil bildet t kein Minimalpaar. Wir setzen es aber als besondere Konstituente an, weil es in allen Äußerungen als Rest bleibt und in (2) deutlich von anderen Konstituenten zu trennen ist. Die durch die Minimalpaaranalyse gewonnenen kleinsten Konstituenten werden als 'Morpheme' bezeichnet. 2. Die Hauptmethode der K l a s s i f i k a t i o n t u t i o n s a n a l y s e
ist die
Substi-
. Sie stellt fest, welche Konstituenten in
Äußerungen so gegeneinander ausgetauscht werden können, daß wieder Äußerungen entstehen. Die Konstituenten, die in gleicher Umgebung gegeneinander ausgetauscht werden können, bilden eine Konstituentenklasse. In der folgenden Übersicht werden nach den im Corpus belegten Substitutionsmögliclikeiten Morphemklassen gebildet und durch Großbuchstaben bezeichnet:
(5) (marianne] | fBl
feier
I {t}
arbeite
michael hans
B2
kenn
marianne
lieb
michael hans
A
B
C
D
(= A)
Die Klassen A und D unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Elemente, sondern nur hinsichtlich ihrer Umgebung. Wir können sie zu einer einzigen Klasse mit zweifacher Distribution zusammenfassen. Die Klasse B zerfällt in die beiden Teilklassen B1 und B2, die sich nach ihrer weiteren Umgebung unterscheiden: Die Elanente von B2 treten in Verbindung mit Elanenten von D auf, die von B1 aber nicht. Es ist unschwer zu erkennen, daß die distributionelle Klassifikation in unserem Beispiel im wesentlichen traditionelle Unterscheidungen rekonstruiert. Als eine weiterentwickelte Form der Substitutionsanalyse ist die Analyse
I C -
(inmediate constituent analysis; Analyse in unmittelbare
Konstituenten) aufzufassen. Sie dient dazu, Äußerungen stufenweise nach Substitutionskriterien in ihre nächstgrößeren Teile (ihre unmittelbaren Konstituenten) zu teilen und diese Konstituenten zu klassifizieren. Dabei gelten die Kriterien, daß die Teile (a) möglichst umfangreich, (b) möglichst unabhängig, und (c) in möglichst vielen anderen Umgebungen verwendbar sein sollen. Die Teilungsschritte sind außerdem so anzusetzen, daß (d) umfangreichere Teile durch möglichst kleine Teile substituierbar sein sollen. Auf Einzelheiten des recht diffizilen Teilungsverfahrens kann hier nicht eingegangen werden. Nach der IC-Analyse werden die Äußerungen des Corpus zunächst in unmittelbare Konstituenten wie (6) marianne (A) / arbeitet (E) hans (A) / kennt marianne (E)
geteilt. Diese Teilung ist nach dem Kriterium (a) einer Teilung wie marianne / arbeite /t oder hans / kennt / marianne vorzuziehen; nach dem Kriterium (d) ist sie besser als eine Teilung wie hans kennt / marianne, weil hans kennt nicht durch einen kleineren Teil, wohl aber kennt marianne durch den kleineren Teil arbeitet substituierbar ist. Auf der zweiten Stufe wird die Konstituente E in Konstituenten wie (7) kennt (F) / marianne (D) liebt (F) / michael (D)
37
geteilt, scweit das möglich ist, d. h. nicht bei arbeitet (E). Eine Teilung wie arbeite / t und kenn / tmarianne ist auf dieser Stufe abzulehnen, weil sie gegen die Kriterien (b) und (c) verstößt: t ist in allen Äußerungen fest mit der vorausgehenden Konstituenten verbunden; tmarianne kennt in weniger anderen Äußerungen vor als marianne. Auf der dritten Stufe wird die letzte noch teilbare Konstituente F in ihre unmittelbaren Konstituenten aufgeteilt: (8) arbeite (B) / t (C) kenn (B) / t (C)
Die Teilungsschritte und die durch sie entstehenden Konstituenten können in einem Stannibaum dargestellt werden; die Klassenzugehörigkeit ist in Klammern angegeben: hanskenntmarianne (1. Stufe)
hans
(A)
ennt Marianne
(2. Stufe)
kennt
(F)
(3. Stufe)
kenn'^B^^^t
(E)
marianne
(D)
(C)
Figur 4
Die Verwendung des Staintibaums macht deutlich, daß ein enger Zusammenhang zwischen der IC-Analyse und der Konstituentenstrukturgrammatik der TG (vgl. 2.3.) besteht: Die IC-Analyse ist eine Methode zur Erstellung von Konstituentenstrukturgrammatiken. 4. Das Ergebnis der deskriptivistischen Analysemethoden ist eine s t r u k turelle
G r a m m a t i k ,
die die Elemente des Corpus in eine
übersichtliche Ordnung bringt. Sie besteht aus einer Aufstellung des Morpheminventars und der Distribution der Morpheme, für deren äußere Form der Deskriptivismus noch keine strengen Konventionen entwickelt hat: 1. Morpheminventar A: hans, michael, marianne B: 1. arbeite, feier 2. kenn, lieb C: t 2. Distribution der Morpheme G
(= Klasse der Äußerungen)
D
Figur 5
(= A; nur wenn B2)
38
Die Analysemethoden, die wir hier exemplarisch vereinfachend vorgeführt haben, konnten aus mehreren Gründen die in sie gesetzte Erwartung nicht erfüllen, auf mechanischem Wege unter völliger Ausschaltung der intuitiven Sprachkenntnis aus einem Corpus die in ihm enthaltene Grammatik zu erschließen. Allein angesichts der Komplexität von Äußerungen, die in beobachteten Corpora gewöhnlich auftreten, ist die vollständige Analyse in der Praxis viel zu aufwendig, wenn nicht undurchführbar. Selbst im Falle des Erfolgs würde sie nur etwas über die Struktur der Äußerungen aussagen, aber allenfalls indirekt etwas über die Sprachfähigkeit derer, die sie hervorgebracht haben. Darüber hinaus setzen diese Analysen eine Sprachtheorie voraus, die sich als zu einfach erwiesen hat (vgl. 3.3. und 3.4.). Trotzdem ist ihre Kenntnis aus zwei Gründen wichtig: zum einen ging CHOMSKYS Theorie aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Deskriptivismus hervor, dem sie sehr viel verdankt; zum andern sind diese Methoden - in modifizierter Form und in Verbindung mit anderen - auch weiterhin nützliche Instrumente, um intuitive Einsichten über die Sprachstruktur sich selbst und anderen bewußt zu machen, (vgl. 4.2.) Für formale Syntaxtheorien nach Art der TG ist es nicht von zentralem Interesse, wie ihre Aussagen gewonnen werden. Bei der Ausarbeitung der Theorie kann man sich der exakten Methoden des Deskriptivismus bedienen, kann aber auch auf die Methoden und Ergebnisse der alltagssprachlichen Theorien zurückgreifen. Der Wert der Theorie liegt nicht in der Methode, mit der sie ausgearbeitet wurde, sondern in der Angemessenheit der Beschreibungen, die mit ihr gemacht werden können. In gewisser Weise kann aber auch die Ausarbeitung formaler Theorien als Methode aufgefaßt werden: Die Theorie wird verstanden als Modell des Gegenstandes, den sie beschreibt. Im Vergleich des Modells mit dem Gegenstand erweist sich seine Angemessenheit oder Unangemessenheit. Das Ziel besteht darin, daß die Modelle ihrem Gegenstand inmer angemessener werden. Die Methode zur Erforschung eines Gegenstandsbereichs besteht darum in der Ausarbeitung inmer neuer formaler Theorien, die als Modelle ihrem Gegenstand inmer ähnlicher werden. Über Methodenfragen informieren im Überblick KLAUS/BUHR 1969, II, 717-23 und BÜNTING/PAPROTTfi 1973. ADMONI 1971 erörtert die mehr traditionellen Methoden. Die deskriptivistischen Methoden werden u. a. in APRESJAN 1971, HELBIG 1971a und PALMER 1974 zusammenfassend dargestellt. Ausführlichere Darlegungen finden sich in den amerikanischen Handbüchern von NIDA 1967, (1. A. 1949), HOCKETT 1958 und GLEASON 1961. Grundlegend für die streng mechanischen Corpusanalysen ist HARRIS 1966 (1. A. 1951), für die IC-Analyse WELLS 1947.
39 2.5.
Aufgaben
1. Welche Vor- und Nachteile hat eine formale Beschreibung im Vergleich zur traditionellen Beschreibung? 2. Die Ausdrücke "Form" bzw. "formal" werden einrral in der Gegenüberstellung "Form - Bedeutung" zum andern in der Gegenüberstellung "formale Theorie - alltagssprachliche Theorie" gebraucht. Bezieht sich "Form" bzw. "formal" jeweils auf die beschriebene Sprache oder auf die Beschreibungssprache? In welchem Sinn ist der Ausdruck "fontale Syntax" zweideutig? 3. Zeigen Sie am Beispiel der Wbrtartdefinition die Vagheit der traditionellen grammatischen Begriffe (vgl. z. B. Aufgabe 1.4.2. oder DUDEN 1966, 64-67). Ziehen Sie Beispiele heran. 4. Geben Sie eine traditionelle und eine formale Beschreibung für folgende Sätze: Inge war traurig Beate ist lustig
Zählen Sie alle Sätze auf, die durch die formale Beschreibung außerdem noch abgeleitet werden können. 5. Wenden Sie die deskriptivistischen Analysemethoden auf folgendes Corpus an und erstellen Sie eine strukturelle Grammatik für dieses Corpus: daskindschläft dasmädchenschläft einkindschläft einkindschrie
einmädchenschlief esschlief esschrie jemandschrie
3.
DER GEGENSTAND DER GRAMMATIK
3.1.
Vorbemerkungen
Die Frage nach dem Gegenstand von Graimatiken erscheint auf den ersten Blick trivial. Es hat den Anschein, daß die Antwort bereits im ersten Kapitel gegeben wurde: Traditionelle Graimatiken haben Wort und Satz zum Gegenstand, die beide im Hinblick auf ihre Form und ihre Bedeutung behandelt werden; generative Transfornationsgraniratiken behandeln den Satz, indem sie in der Semantik seine Bedeutung, in der Phonologie seine Lautform und in der Syntax den Zusammenhang zwischen Lautform und Bedeutung herausarbeiten. Diese Antwort liegt jedoch auf einer anderen Ebene als die Frage. Sie sagt nur, wie man den Gegenstand am besten gliedert, aber nichts über seine Natur. Die menschliche Sprache hat viele Aspekte. Die Fähigkeit, eine Sprache erlernen zu können, unterscheidet den Menschen vom Tier. Jeder Mensch besitzt - wenn man von pathologischen Fällen absieht - eine mehr oder weniger große Zahl sprachlicher Mittel, mit denen er sich in seiner Unweit verständigen kann. Die Mitglieder sozialer Gruppen zeichnen sich dadurch aus, daß sie ähnliche - im Idealfall gleiche - sprachliche Mittel zur Komnunikation verwenden. Das System dieser Kommunikationsmittel bildet die Sprache einer Sprachgemeinschaft. Die Sprechtätigkeit des Menschen besteht in der Produktion von Lautfolgen, sekundär auch in der Produktion von Buchstabenfolgen. Sie erlaubt ihm, auf seine Umwelt zu reagieren und sie wiederum zu beeinflussen. Die Produkte der Sprechtätigkeit können durch die Schrift oder durch Schallaufzeichnungen auf Dauer festgehalten und für sich betrachtet werden, auch wenn man den Sprecher und die Sprechtätigkeit selbst nicht kennt. Nicht zuletzt werden die Produkte der Sprechtätigkeit danach bewertet, ob sie mit den in einer Sprachgemeinschaft geltenden Regeln und Normen übereinstimmen. Die Maßstäbe, die dieser Bewertung zugrunde liegen, haben große praktische Bedeutung für den Sprachunterricht. Grammatiken können sich danach unterscheiden, welchen Aspekt der Sprache sie in den Vordergrund stellen und zum Gegenstand der Beschreibung machen. Traditionelle Graimatiken versuchen, möglichst viele Aspekte zu berücksichti-
41 gen, ohne sie systematisch voneinander abzugrenzen. Ihr Hauptinteresse liegt auf solchen schriftlichen Produkten der Sprechtätigkeit, die in Übereinstimmung mit den Normen einer Sprachgemeinschaft gebildet wurden. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, den richtigen Sprachgebrauch zu lehren. Strukturelle Granmatiken beschreiben das Sprachsystem einer Sprachgemeinschaft oder die Produkte der Sprechtätigkeit einzelner Individuen. Die TG CHOMSKYS hat die idealisierte Sprachfähigkeit des Sprechers einer Sprache zum Gegenstand. Sie verfolgt das Ziel, Aufschlüsse über die allgemeine msnschliche Spraphfähigkeit zu gewinnen. In den folgenden Abschnitten wollen wir einzelne dieser Gegenstandsbestimnungen näher erläutern. Wir gehen aus von der umfassenden, aber wenig präzisen Gegenstandsbestinmung der traditionellen Grarmatik und skizzieren, wie strukturelle Granmatiken den allzu weiten Gegenstandsbereich auf das Sprachsystem oder auf den Sprachgebrauch einengen. Unser Hauptinteresse gilt der Sprachkcnpetenz, die für CHOMSKY den Gegenstand der Grarmatik bildet. Abschließend zeigen wir, daß die Beschreibung der Sprachkompetenz ohne den Aspekt der Sprachnorm unvollständig bleibt.
3.2.
Ganzheitliche Sprachbetraehtung
Die traditionelle Granmatik versucht, Sprache in ihrer G a n z h e i t
zu
erfassen. ERBEN (1972, 27) will "möglichst alle beobachteten Fakten wie auch allgemeine Einsichten in die Struktur und das Funktionieren sprachlicher Zeichensysteme ... angemessen ... berücksichtigen". BRINKMANN (1962, 2. A. 1971, IX) mächte "ein Gesamtbild der deutschen Sprache unserer Zeit" geben. ADMONI (1971, 23) hebt die Kcmplexheit der Sprache hervor: "Die Sprache bedarf zu ihrer Erforschung und Erklärung einer erheblichen Anzahl von Zugängen und Aspekten; sie hat ihre Basis nicht in irgendeinem einzigen Punkt; sie steht auf einer Vielzahl von Stützpfeilern." WEISGERBER (1962a, 22) stellt apodiktisch fest: "Ein ganzheitliches Bild von der Sprache führt notwendig auch zu einer ganzheitlichen Sprachforschung." Die ganzheitliche Betrachtung hat den Vorteil, daß in den traditionellen Grammatiken sehr viele Erscheinungen und Eigenschaften des Sprachbaus behandelt werden, nach denen man in neueren Syntaxtheorien vergeblich sucht. Traditionelle Granmatiken sind umfangreicher und vollständiger. Insbesondere haben sie nie versucht, den Bedeutungs- und Gebrauchsaspekt systematisch aus der Beschreibung auszuschließen, wie es für die theoretischen Ansätze lange Zeit kennzeichnend war. Der Vorteil der (relativen) Vollständigkeit ist jedoch im allgemeinen erkauft mit einen Verlust an Systematik, Klarheit und Einheitlichkeit.
42
Um die verschiedenen Gesichtspunkte der ganzheitlichen Betrachtungsweise herauszuarbeiten, greifen wir auf eine Darstellung zurück, die J. Chr. ADELUNG
in der Einleitung seiner "Deutschen Sprachlehre für Schulen"
(1781, 6. A. 1816) gegeben hat. Trotz ihres Alters ist sie keineswegs überholt. Sie repräsentiert die Ergebnisse der rationalistischen Grammatik der Aufklärung in Deutschland, die in der traditionellen Grammatik weitergewirkt haben. Auf dem Gebiet der systematischen Granmatik brachte das 19. Jh. kaum neue Erkenntnisse, da das Forschungsinteresse fast ausschließlich auf die Sprachgeschichte gerichtet war. ADELUNG
unterscheidet zunächst zwischen dem
und dem S p r e c h e n :
Sprachvermögen
"Sprache ist in diesem Verstände sowohl dieses
Vermögen, als auch der ganze Inbegriff vernehmlicher Laute, vermittelst welcher Menschen einander die Reihe ihrer Vorstellungen mittheilen" (1816, 3), benutzt diese Unterscheidung aber nicht, um seinem Gegenstandsbereich einzuschränken; er anfaßt beides. Eine wichtige Rolle spielen die Begriffe "Regel"
und " R i c h t i g k e i t " ,
die uns in der TG wieder be-
gegnen werden: "Sprachregeln sind allgemeine Vorschriften, nach welchen die Wörter einer Sprache gebildet, gesprochen, verändert, verbunden und geschrieben werden, und sie zusammen gencrrmen, machen die Graitmatik oder Sprachlehre aus, welche es demnach bloß mit der Richtigkeit der Ausdrücke zu thun hat, so wie sich die Logik mit ihrer Wahrheit, und die Redekunst mit ihren Schmucke beschäftigt." (1816, 6) Auffallend ist zunächst, daß sich die Regeln nur auf Wärter, nicht aber auf Sätze beziehen: die Regelhaftigkeit der Satzbildung ist eine relativ neue Erkenntnis, die erst seit Ende des 19. Jh. aus der Syntax als einer Lehre vcm Gebrauch der Wärter eine wirkliche Satzlehre gemacht hat. Von größerer Bedeutung ist es aber, daß die Regeln den Charakter von V o r s c h r i f t e n
haben. Sie sagen nicht, wie man spricht oder
schreibt, sondern wie man sprechen und schreiben soll. Der Zusammenhang mit dem Sprachvermögen und dem "Inbegriff vernehmlicher Laute" bleibt ungeklärt: es wird nicht gesagt, ob das Sprachvermögen mit der Beherrschung der Sprachregeln zusanmenfällt oder nicht, und ob der "Inbegriff vernehmlicher Laute" auch die tatsächlich geäußerten Lantrolgen umfaßt, die nicht den Regeln genügen. Dagegen versucht
ADELUNG
die Regeln aus der "Analogie" und dem
"Sprachgebrauch" zu erklären. Unter
"Analogie"
versteht
ADELUNG
die "Sprachähnlichkeit,
d. i... das übereinstinmige Verfahren in ähnlichen Fällen" (1816, 6). Sie beruht auf der Annahme, daß Sprache regelmäßig ist. Eine Analogie ist z. B. die schwache Konjugation: sagen verhält sich zu sagte und gesagt wie maehen
43
zu machte und gemacht usw., nach der die meisten deutschen Verben konjugiert werden. Die Analogie ist für
ADELUNG
grundlegend; sie hat "bey dem Ursprünge
und der ersten Ausbildung der Sprache alles gethan". (1816, 7) Die bis in die Antike zurückreichende Lehre von der Analogie ist im europäischen Strukturalismus unter Abstraktion van Sprachgebrauch präzisiert und radikalisiert worden zur Lehre vcm Sprachsystem.
ADELUNG
schränkt dagegen den Geltungsbe-
reich der Analogie zugunsten des S p r a c h g e b r a u c h s
ein: "Dieses
heilere Gesetz, welchem die Analogie unterworfen ist, ist nun kein anderes als der Sprachgebrauch, welcher eigentlich der Inbegriff sänmtlicher, von einem Volke nun einmahl angenommenen Analogien ist, und sich über alles erstrecket, was in der Sprache nur veränderlich ist. Die Analogie ist bloß Classe, was aber in jede Classe gehöret, kann niemand anders, als der Sprachgebrauch entscheiden." (1816, 7-8) Der Sprachgebrauch ist bei
ADELUNG
im
Sinne von Brauch und Gewohnheit zu verstehen. Er umfaßt nicht alles, was gesagt wird, sondern nur das, was üblich ist. Die Feststellung des Üblichen ist keine Frage der Beobachtung, der Statistik oder der Informantenbefragung, sordern basiert auf einem Werturteil: "In einer durch Schrift und Geschmack ausgebildeten Sprache, dergleichen die Hochdeutsche ist, wird dieser Sprachgebrauch am sichersten aus der herrschenden und übereinstimmten Gewohnheit der besten Schriftsteller von dem richtigsten Geschmacke erkannt; nicht als wenn sie den Sprachgebrauch machten und bestimmten, sondern weil sie, wenn sie die gehörige Feinheit und Richtigkeit des Geschmackes besitzen, das beste und richtigste aus der Sprache des täglichen Umganges ausheben." (1816, 8) Die Frage nach dem richtigen Sprachgebrauch verweist darum über den Gegenstand hinaus auf die Gesellschaft, deren Normvorstellungen den Sprachwissenschaftler beeinflussen und die er umgekehrt mit seinen Schriften wieder beeinflussen will. Ähnlich weitgespannt wie
ADELUNG
fassen auch die neueren praktisch orien-
tierten Grammatiken ihren Gegenstand auf, da sie noch in der gleichen Tradition stehen. Verändert haben sich nur die rien
Bewertungskrite-
für "richtiges Deutsch": nicht die "besten Schriftsteller" entschei-
den heute; als verbindlich wird vielmehr die "Schicht der Gemeinsprache" angesehen, "die in Literatur, im wissenschaftlichen Schrifttum, in Presse, Rundfunk und Femsehen, in Kirche, Universität und Schule und in allen anderen öffentlichen Bereichen verwendet oder angestrebt wird."
(DUDEN
1973, 19)
Über die Bedeutung ADELUNGS informiert JELLINEK 1931. Zum Gegenstandsbereich vgl. neben ADELUNG 1816 auch dessen Hauptwerk ADELUNG 1782 sowie die Einleitungen neuerer traditioneller Grammatiken, z. B. DUDEN 1973,
44 ERBEN 1972. Die Relevanz der Sprachwissenschaft in der Zeit der Aufklärung wird in CHOMSKY 1966, dt. 1971a, diskutiert. Zur Weiterentwicklung der traditionellen Grammatiktheorie vgl. ADMONI 1971.
3.3.
Sprachst/stem und Sprachgebrauch
Da sich der umfassende Gegenstandsbereich der Granmatik, wie er traditionellen Grairmatiken zugrundeliegt, für eine exaktere Theoriebildung als zu weit erwies, haben die e u r o p ä i s c h e n S t r u k t u r a l i s t e n
und
a m e r i k a n i s c h e n
eine radikale Eingrenzung ihres Forschungs-
gegenstandes vorgenommen. Die Erkenntnisse des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de De
SAUSSURE
SAUSSURE
bilden die Grundlage für den europäischen Strukturalismus.
hat in Vorlesungen über die "Grundfragen der allgemeinen Sprach-
wissenschaft", die nach seinem Tod von Schülern 1916 veröffentlicht wurden (deutsch 1931, 2. A. 1967), den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft neu bestirtmt. De
SAUSSURE
grenzt den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft ein auf den
einzigen Aspekt der
"Sprache"
(Langue): "
wenn wir die mensch-
liche Rede [Langage] von mehreren Seiten aus zugleich studieren, erscheint uns der Gegenstand der Sprachwissenschaft als ein wirrer Haufe verschiedenartiger Dinge, die unter sich durch kein Band verknüpft sind ... man muß sich von Anfang an auf das Gebiet der Sprache begeben und sie als die Norm aller andern Äußerungen der menschlichen Rede gelten lassen." (1967, 10-11) Die Sprache ist für de
SAUSSURE
eine
soziale
I n s t i t u t i o n ,
die unab-
hängig vom einzelnen Menschen existiert und die die Voraussetzungen für Sprechen und Verstehen bildet. Der einzelne kann sie nur passiv internalisieren, er kann sie aber nicht schaffen oder umgestalten. De
SAUSSURE
ninmt an, daß
jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft eine Kopie der Sprache im Bewußtsein hat, "ungefähr so wie ein Wörterbuch, von dem alle Exemplare, unter sich völlig gleich, unter den Individuen verteilt wären" (1967, 23). Die Sprache ist zum zweiten ein System, und zwar nicht ein System von materiellen Gegenständen, sondern ein abstraktes
System
von
Werten,
das die
ungegliederte Masse der Laute und des Denkens organisiert und miteinander in Beziehung setzt. Sie schafft "eine Form, keine Substanz" (1967, 134). Wir wollen den Systemcharakter der Sprache an einem Beispiel erläutern: Der W e r t ,
den das sprachliche Zeichen Buch für das Sprechen besitzt,
ist unabhängig von seinen materiellen bzw. substantiellen Eigenschaften; er bleibt gleich, ob er nun graphisch durch verschiedenartige Schriftzeichen oder akustisch durch unterschiedliche Lautfolgen realisiert wird. Er würde
45 sich darum auch nicht grundsätzlich ändern, wenn man Buch durch book, libre oder - völlig willkürlich - durch Malb ersetzen würde: Es ändert sich ja auch der Wert einer Münze nicht, wenn sie durch eine Neuprägung ersetzt wird. Der Wert eines sprachlichen Zeichens wird vielmehr bestimmt durch die Eigenschaften, die es von anderen Zeichen unterscheidet (So weist Buch lautliche Eigenschaften auf, die es von lautlich ähnlichen Zeichen wie Tuch, Bub, Bach, und inhaltliche Eigenschaften, die es von inhaltlich ähnlichen Zeichen wie Heft, Broschüre, Aufsatz, Zeitschrift unterscheiden) scwie durch die Verbindungen, die es mit anderen Zeichen eingehen kann (Buch kann z. B. in die Zeichenverbindungen Ich lese ein
, Das
ist zu teuer, Er kauft das
eintreten). Mit anderen Wbrten: Der Wert eines Sprachzeichens ist nicht in sich selbst begründet, sondern ergibt sich erst aus dem System, d. h. dem Beziehungsgefüge, durch das es mit anderen Werten verbunden ist. De SAUSSURE vergleicht den Wert eines Sprachzeichens mit dem Wert eines Springers im Schachspiel, der nicht auf seinem Material (Holz, Metall, Elfenbein usw.) beruht, sondern allein von seiner Stellung zu anderen Figuren im System abhängt. Die Auffassung, daß die Sprache als soziale Institution ein System von Werten sei, engt den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft sehr stark ein. Mit der Unterscheidung von menschlicher Sprachfähigkeit und Sprache
(L a n g a g e )
( L a n g u e ) klammert de SAUSSURE die Fragen aus, die mit
der allgemeinen menschlichen Sprachfähigkeit und der Rolle der Sprache in der Kultur zusarrmenhängen, und weist sie anderen Wissenschaften wie der Psychologie, der Anthropologie oder der Philosophie zu. Mit der Unterscheidung von Sprache und Sprechen
(L a n g u e
und
P a r o l e )
und der Be-
schränkung auf die Sprache fallen alle Probleme weg, die mit der Sprechtätigkeit und ihren Produkten zusairmenhängen. Die Unterscheidung von F o r m S u b s t a n z
und
gestattet es, von den materiellen Eigenschaften der Laute ab-
zusehen, scwie die reale Welt und die Gedanken und Vorstellungen der Menschen, auf die man sich mit Sprache bezieht, als möglichen Untersuchungsgegenstand auszuscheiden. Die Annahme schließlich, daß die Sprache bei allen gleich sei, macht Überlegungen zum richtigen Sprachgebrauch gegenstandslos. Die Beschränkung auf das Sprachsystem hat die Entwicklung zusammenhängender Theorien über den Sprachbau ermöglicht und zuerst auf dem Gebiet der Lautstruktur (in der Phonologie), vor allem aber auch in der Syntax, grundlegende neue Einsichten eröffnet, führte aber zur Vernachlässigung anderer wichtiger Aspekte des umfassenden Gegenstandsbereichs Sprache. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg hat auch die
a m e r i k a n i s c h e
Sprachwissenschaft ihren Gegenstand neu bestinmt. Die theoretische Begründung
46 der neuen Richtung, die als Deskriptivismus, Distributionalismus oder amerikanischer Strukturalismus bezeichnet wird, wurde von Leonard BLOOMFIELD mit seinem Hauptwerk "Language" (1933, 2. A. 1935) und mehreren theoretischen und programmatischen Aufsätzen geleistet. BLOOMFIELD gründete seine Sprachtheorie auf die Forschungen der leipziger Junggrammatiker, auf den Behaviorismus und auf die neopositivistische Wissenschaftstheorie. Die
J u n g g r a m m a t i k e r
, deren Methodenlehre zusammenfassend
in Hermann PAULS "Prinzipien der Sprachgeschichte" (1880, 5. A. 1920) dargestellt ist, sahen den Gegenstand der Sprachwissenschaft allein in der Sprechtätigkeit des einzelnen Menschen und erkannten der Sprache keinerlei abstrakte, überindividuelle Realität zu. Die spätere Lehre de SAUSSUREs van Sprachsystem als sozialer Institution wäre für sie nicht akzeptabel gewesen. Die Sprechtätigkeit hatte für sie eine physische Seite, die durch unmittelbare Beobachtung von geäußerten Lautkomplexen erfaßt wurde, und eine psychische Seite, die - wenn auch schwieriger - durch Selbstbeobachtung der mit den Lautkcmplexen verbundenen Vorstellungen zugänglich gemacht werden konnte. Ihr Ziel bestand darin, den Zustand einer Sprache aus ihrer Entwicklung zu erklären. Als Ursache des Sprachwandels betrachteten sie die Sprechtätigkeit der einzelnen Menschen und die mit ihr verbundenen psychischen Vorgänge. Ihren sprachgeschichtlichen Forschungen lag die Hypothese zugrunde, daß die Gesetze des Sprachwandels, vor allem die Lautgesetze, ausnahmslos Geltung wie die Naturgesetze besitzen. Die
b e h a v i o r i s t i s c h e
P s y c h o l o g i e ,
die in den
zwanziger Jahren von amerikanischen Psychologen wie WATSON, WEISS U. a. begründet wurde, steht auf dem Standpunkt, daß das Verhalten von Mensch und Tier als System von Reaktionen auf Reize der Umwelt beschrieben und kausal erklärt werden kann und daß Verhaltensregularitäten allein auf erworbenen Gewohnheiten beruhen. Sie bestreitet, daß man zur Erklärung von Verhalten das Vorhandensein von Bewußtsein, Vorstellungen, Gedanken u. ä. annehmen nüsse, und hält Richtungen der Psychologie, die mit solchen "mentalistischen", d. h. Bewußtseinsinhalte bezeichnenden Begriffen arbeiten, für unwissenschaftlich. Die Sprechtätigkeit wird von den Behavioristen genauso als Reaktion auf Reize erklärt wie das übrige menschliche und tierische Verhalten. Die
n e o p o s i t i v i s t i s c h e
t h e o r i e
W i s s e n s c h a f t s -
, die in den zwanziger Jahren von Philosophen des Wiener Kreises
wie CARNAP, WITTGENSTEIN (in seinem Frühwerk) u. a. entwickelt wurde, beruht auf der Auffassung, daß nur zwei Arten von Aussagen wissenschaftlich relevant seien: (1) Aussagen über physikalische Tatsachen, d. h. Tatsachen, die in
47 Raum und Zeit beobachtbar sind, und (2) Aussagen über die Wissenschaftssprache, in der die Aussagen (1) formuliert werden. Aussagen, die nicht in Aussagen über physikalische Tatsachen oder die Wissenschaftssprache übersetzbar sind, sind wissenschaftlich wertlos. Die empirischen Wissenschaften, z. B. die Naturwissenschaften, haben die Aufgabe, Aussagen über beobachtbare Tatsachen zu machen. Die Philosophie, die auf die Logik reduziert wird, macht Aussagen über die Sprache der Wissenschaften, nicht über die Wirklichkeit. Sie zeigt den Zusammenhang zwischen Aussagen und ermöglicht Theorien, die Aussagen über Beobachtungen in einen widerspruchsfreien Zusammenhang bringen und dadurch erklären (vgl. auch 2.3.). BLOOMFIELD übernirrnvt den Standpunkt der Junggrammatiker, daß die Sprechtätigkeit, d. h. der unmittelbar beobachtbare Sprachgebrauch, allein Gegenstand der Sprachwissenschaft ist, beschränkt sich aber auf die Erforschung der physischen Seite, weil er im Anschluß an Behaviorismus und Neopositivismus Aussagen über psychische Inhalte für unwissenschaftlich hält. Er sieht stattdessen die B e d e u t u n g Verhalten
einer sprachlichen Äußerung in dem
, das ihr vorausgeht (Reiz) und den, das ihr folgt
(Reaktion). Da dieses Verhalten nicht mehr zum Sprachgebrauch im engeren Sinne gehört, konnte man es in der Folgezeit theoretisch rechtfertigen, die Untersuchung der Bedeutung ganz aus der Sprachwissenschaft auszuschließen. Die Tätigkeit des Sprachwissenschaftlers beginnt mit dem Sammeln von obachtungen
Be-
über den Sprachgebrauch. Das Interesse richtet sich
auf alle sprachlichen Äußerungen, von wem und bei welcher Gelegenheit sie auch inrner geäußert wurden. Der Forscher darf keine Äußerungen aus seiner Sanmlung ausschließen, weil sie seiner Auffassung von korrektem und normalem Sprachgebrauch nicht entsprechen, denn "er beobachtet alle Sprachformen unparteiisch" (nach BLOOMFIELD 1935, 22). Die Sanmlung von Beobachtungen, das "Corpus"
sprachlicher Äußerungen, bildet die Grundlage für die
linguistische Analyse. Für diese Analyse darf - wenn man den theoretischen Ansatz ernst niirmt - die intuitive Sprachkenntnis des Forschers nicht herangezogen werden. Er tritt seinem Gegenstand von außen entgegen, d. h. er verhält sich - wie es NIDA, ein Vertreter der BLOOMFIELD-Schule, einmal ausgedrückt hat - wie ein Mensch vom Mars, der zum ersten Mal eine menschliche Sprache hört (NIDA 1967, 1). Als Analyseinstrument steht ihm nur die Wissenschaftssprache zur Verfügung, etwa in Form künstlicher Sprachen nach Art von Logik und Mathematik, mit deren Hilfe er die Beobachtungen ordnen und im Zusammenhang beschreiben kann. BLOOMFIELD hat selbst versucht, eine Beschreibungssprache für die Linguistik zu formulieren, indem er - wie in der
48 Mathematik - Axiome aufgestellt und Definitionen für linguistische Begriffe aus ihnen abgeleitet hat (vgl. BLOOMFIELD 1926). Die Analyse dient dem Ziel, aus dem Corpus der Äußerungen die Grammatik zu rekonstruieren. Granmatik wird dabei aufgefaßt als eine Liste der Formen, die in verschiedenen Äußerungen gleich sind, und als eine Liste der Verbindungen, die diese Formen miteinander eingehen können. Die Graimatik enthält deswegen nichts, was nicht schon in den Äußerungen selbst vorhanden wäre. Sie liefert nur eine systematische Beschreibung der Formen und ihrer Distribution im Corpus (vgl. 2.4.). Der Deskriptivisnus hat den Gegenstandsbereich der Sprachwissenschaft auf den b e o b a c h t b a r e n
S p r a c h g e b r a u c h
reduziert und
alle anderen Aspekte der Sprache aus ihren Forschungen ausgeklarrmert. Die Einschränkung des Gegenstandsbereichs ist jedoch zu weit gegangen; es zeigte sich vor allem, daß auf die
S p r a c h k e n n t n i s
bei der Analyse
nicht verzichtet werden kann. Der Sprachforscher kann ohne Sprachkenntnis nicht entscheiden, ob eine Äußerung zur untersuchten Sprache gehört oder nicht. Beim Saitmeln von Beobachtungen stößt er z. B. auf Äußerungen wie Iah iah mein iah glaub; dann wurde man; aber darum iah weiß nicht; das war schön, daß sie mal; och n bißchen aber schon nich usw. (aus der Tonbandnachschrift eines Gesprächs), die unvollständig sind oder vom normalen Sprachgebrauch abweichen. Er kann auf Sprecher stoßen, die sich in ihrer Sprache unterscheiden, weil sie aus dem Ausland, aus anderen Dialektgebieten oder anderen sozialen Schichten stanmen. Sein Corpus könnte die Äußerung einer Arbeiterfrau aus dem Ruhrgebiet Iah bin denn in Haushalt gegangen wie die zufällig protokollierte Äußerung eines Studenten Nee, aber das is natürlich auch ne dumme Sache umfassen. Das Corpus, das der Sprachforscher auf diesem Wege erhielte, wäre nicht einheitlich. Es wäre ein sinnloses Unterfangen, daraus eine Granmatik konstruieren zu wollen. Eine Methodologie, mit der man nachträglich die ungeeigneten Äußerungen ausscheiden und das Corpus einheitlich machen könnte, wäre - falls überhaupt möglich - äußerst koirpliziert und in der Praxis nicht anwendbar. Man bedient sich darum eines anderen, einfacheren Verfahrens, der
I n f o r m a n t e n -
b e f r a g u n g . Der Sprachforscher kann sein Corpus einem Informanten vorlegen, der die zu untersuchende Sprache beherrscht, und sich von ihm sagen lassen, welche Äußerungen zur untersuchten Sprache gehören und welche nicht. Wenn der Informant z. B. sagt: "Ja, so kann man sagen" oder "Das ist richtig" oder "Ja, so lernt man es in der Schule" usw., dann bleibt die Äußerung im Corpus. Sagt er dagegen: "Hier hat sich jemand versprochen" oder "Das verstehe ich
49
nicht" oder "So sagt man vielleicht in Bayern, aber nicht hier" usw., wird die Äußerung aus den Corpus ausgeschlossen. Auf diesem Weg ist es grundsätzlich möglich, ein einheitliches Corpus zu erhalten. Die Informantenbefragung kann vereinfacht werden, wenn der Sprachforscher seine eigene Sprache untersucht. Er ist dann sein eigener Informant. Die Reaktionen des Informanten auf die ihm vorgelegten Sätze können zwar unmittelbar beobachtet werden. Sie haben jedoch selbst keine unmittelbare Beobachtung zum Inhalt, sondern ein Urteil aufgrund intuitiver Sprachkenntnis, das auch von anderen Mitgliedern der gleichen Sprachgemeinschaft intuitiv nachvollzogen werden kann. Darum kann die Informantenbefragung nicht mehr ohne weiteres in den behavioristischen und neopositivistischen Ansatz integriert werden. Sie macht eine Revision des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft notwendig. Zur Bedeutung de SAUSSUREs für die moderne Sprachwissenschaft vgl. HEESCHEN 1972, 20-41 und HELBIG 1971a, 33-45. Zur Gegenstandsbestimmung vgl. de SAUSSURE 1967, 1-27, 120-166. Die Dichotomie Langue - Parole wird von COSERIU 1970b und 1975c diskutiert. Über die Junggrammatiker und die amerikanischen Deskriptivisten informieren HEESCHEN 1972, HELBIG 1971a und MAAS 1973. Für die junggrammatische Methodologie ist PAUL 1920 grundlegend. BLOOMFIELD erläutert seinen Ansatz vor allem im Hauptwerk BL00MFIELD 1935, 21-41 und in den Aufsätzen BLOOMFIELD 1926 und BLOOMFIELD 1939; sie sind in MAAS 1973 auszugsweise übersetzt.
3.4.
Sprachkompetenz
Der theoretische und methodische Rahmen, den sich die amerikanische Linguistik seit BLOOMFIELD gegeben hatte, wurde erst durch Noam CHOMSKY überwunden. Die erste Fassung der generativ-transformationellen Granmatiktheorie, die CHOMSKY 1957 (dt. 1973) in "Syntactic structures" vorgelegt hat, folgt zwar noch ganz der neopositivistischen Wissenschaftstheorie. Die Theorie gründet sich wenigstens ihrem Anspruch nach auf Corpus, Beobachtung und Informantenbefragung. CHOMSKY schreibt, daß "jede Graitinatik ... auf die Sammlung von Sätzen der Sprache" bezogen ist, "die sie beschreibt", und daß man ein "Verhaltenskriterium für Granmatikalität" bereitstellen könne (1973, 15-16). Sie ist in einer formalen Sprache formuliert, die CHOMSKY auf der Grundlage der mathematischen Automatentheorie entwickelt hat und die es gestattet, syntaktische Strukturen exakter, zusammenhängender und angemessener zu beschreiben, als das bisher möglich war (vgl. 2.3.). In diesem Sinne stellt CHOMSKYS erster Ansatz die Vollendung des amerikanischen Deskriptivismus dar. In seinen späteren Publikationen hat CHOMSKY seine Granmatiktheorie - wenn auch in modifizierter Form - beibehalten, ihr aber eine Interpretation gegeben, mit der der Gegenstandsbereich der Linguistik neu bestiirmt wurde.
50
In "Aspects of the theory of syntax" (1965, dt. 1969) charakterisiert CHOMSKY den Gegenstandsbereich der Syntax folgendermaßen: "Die Gramnatik einer Sprache versteht sich als Beschreibung der inmanenten Sprachkcmpetenz des idealen Sprecher-Hörers." (1969, 15) Diese Gegenstandsbestimnung war revolutionär für die amerikanische Linguistik. An die Stelle des beobachtbaren Sprachgebrauchs tritt die m e n s c h l i c h e
Sprachfähigkeit,
die sich unmittelbarer Beobachtung entzieht. K o m p e t e n z
ist für
CHOMSKY eine "mentale Realität" (1969, 14), ein "System von Wissen und Glauben" (1970, 15), ein internalisiertes "Regelsystem" (1969, 14), das dem Sprachgebrauch zugrundeliegt, aus ihm aber nur indirekt erschlossen werden kann, weil der tatsächliche Sprachgebrauch noch von zahlreichen anderen Faktoren mitbestirant wird. Die Untersuchung der P e r f o r m a n z
, wie
CHOMSKY den Sprachgebrauch nennt, ist demgegenüber nur noch von sekundären Interesse, ja sie ist sogar unangemessen, wenn sie - wie bei den Deskriptivisten - ohne Bezug auf die zugrundeliegende Kompetenz vorgenommen wird. Mit der Einführung des Kanpetenzbegriffs hat CHOMSKY die positivistische und enpiristische Grundlage der Linguistik aufgegeben und eine neue Epoche eingeleitet, deren Konsequenzen heute noch nicht voll zu übersehen sind. Diese Wirkung konnte CHOMSKY nur erzielen, weil er seine neue Konzeption nicht einfach der alten gegenübergestellt hat, sondern weil er den Deskriptivismus konsequent zu Ende gedacht und aus seinen Grenzen das Neue entwickelt hat. Es ist darum nicht ohne Interesse, die Entwicklung des Kanpetenzbegriffs hier andeutungsweise zu skizzieren. CHOMSKY hatte sich mit einer "herrschenden Lehre" (MAAS 1973) auseinanderzusetzen, die von dem Optimismus getragen war, daß die Probleme des menschlichen Geistes und des menschlichen Verhaltens grundsätzlich gelöst seien und daß die menschlichen Fähigkeiten sehr bald auch technisch simuliert werden könnten. Behavioristische Psychologie, deskriptivistische Linguistik, mathenatische Informationstheorie und Computertechnik arbeiteten auf dieses Ziel hin zusanmen, das sich vor allem im Projekt der Übersetzungsmaschine konkretisierte. Die Erwartungen, die mit der herrschenden positivistischen Lehre verbunden waren, haben sich nicht erfüllt. Es ist vor allem das Verdienst CHOMSKYS, gezeigt zu haben, "daß das vorgeschlagene System von Begriffen und Prinzipien genau in dem Maße, in dem es präzisiert werden kann, auch als in fundamentaler Hinsicht inadäquat nachgewiesen werden kann" (1970, 14). CHOMSKY führt diesen Beweis auf verschiedenen Ebenen. In "Syntactic structures" (1957, dt. 1973) zeigt er, daß die tur
englischer
Sätze
Struk-
zu kompliziert ist, um von den bisher
51
diskutierten Granmatikmodellen erfaßt werden zu können. Er weist nach, daß das konniunikationstheoretische Modell, nach dem Sätze von Wort zu Wort generiert werden, indem mit dan ersten Wort begonnen und die Übergangswahrscheinlichkeit bis hin zum letzten Wort des Satzes festgestellt wird, bestinmte Strukturen des Englischen überhaupt nicht erfassen kann und darum grundsätzlich inadäquat ist. Auch für die Konstituentenstruktur-Granmatik, die der wichtigsten Methode strukturalistischer Satzanalyse, der Analyse in unmittelbare Konstituenten, zugrundeliegt, weist CHOMSKY nach, daß sie unangemessen kompliziert wird, wenn iran mit ihr alle Strukturen des Englischen beschreiben will. Er erweitert sie darum um einen Transformationsteil, in dem die Strukturen der beobachtbaren Sätze aus abstrakteren zugrundeliegenden Strukturen abgeleitet werden. Die Bedeutung der Analysen CHOMSKYS liegt in dem Nachweis, daß die Sprachstruktur nicht unmittelbar aus dem beobachtbaren Sprachgebrauch mit der Methode des taxonomischen Strukturalismus, d. h. durch Segmentierung und Klassifikation, ermittelt werden kann (vgl. 2.4.), sondern nur unter Zuhilfenahme abstrakterer und nicht mehr unmittelbar beobachtbarer Annahmen erschlossen werden kann. In der Rezension von B. F. SKINNERS "Verbal behavior" (1957) unterzieht CHOMSKY 1959 die b e h a v i o r i s t i s c h e
Psychologie
einer radikalen Kritik. SKINNER gründet seine Sprachtheorie auf die Begriffe Reiz (stimulus), Reaktion (response) und Bekräftigung (reinforcement), die er bei Laborexperimenten mit Ratten gewonnen und dort exakt definiert hatte. Menschliches und tierisches Verhalten besteht für ihn darin, auf Reize der Umwelt so zu reagieren, daß schließlich eine optimale Anpassung an die Umgebung erreicht wird. Reaktionen, die diese Wirkung haben, werden dadurch verstärkt und in ähnlichen Situationen wiederholt, die anderen Reaktionen werden nicht verstärkt und verschwinden wieder. Mit diesen Begriffen will SKINNER alles Verhalten einschließlich des menschlichen Sprachverhaltens kausal erklären, ohne dabei auf Bewußtseinsinhalte Bezug nehmen zu müssen. Sein Ziel ist "die Vorhersage und Kontrolle sprachlichen Verhaltens" (SKINNER 1972, 59). CHOMSKY wendet sich mit Entschiedenheit gegen SKINNERS Anspruch, "gezeigt zu haben, daß der Beitrag des Sprechers ganz trivial und elementar ist und daß die genaue Vorhersage sprachlichen Verhaltens nur eine Feststellung der wenigen äußerlichen Faktoren erfordert, die er experimentell bei niederen Organismsn isoliert hat" (CHOMSKY 1972, 62) . Anhand der von SKINNER gegebenen Beispiele weist er nach, daß die Begriffe Reiz, Reaktion und Bekräftigung bei ihrer Übertragung von den Laborexperimenten auf das Sprachverhalten ihren ursprünglich exakt definierten Sinn verloren haben, nur noch metaphorisch gebraucht werden und darum keinen größeren Erkenntniswert mehr besitzen als
52 die mentalistischen Begriffe. So behauptet SKINNER Z. B., daß etwa die Reaktion niederländisch auf ein Gemälde von "äußerst subtilen Eigenschaften" des Gegenstandes oder Ereignisses "abhängig" sei. Man könnte auf das Gemälde aber auch mit Paßt nicht zur Tapete, hängt schief, schön usw. reagieren und damit, wie SKINNER meint, jeweils auf einen anderen vom Gemälde ausgehenden Reiz reagieren. Nur: "Wir identifizieren den Stimulus, wenn wir die Reaktion vernehmen ... Wir können sprachliches Verhalten nicht in Abhängigkeit von den Stimuli in der Umgebung des Sprechers vorhersagen, da wir nicht wissen, welches augenblicklich der Stimulus ist, bis er reagiert" (CHOMSKY 1972, 65). CHOMSKY folgert daraus, daß die Stimulusabhängigkeit bei SKINNER nur eine "irreführende Umschreibung" (1972, 66) für traditionelle Annahmen wie die ist, daß sprachliche Äußerungen eine Bedeutung haben und etwas bezeichnen können. Der Grund für das Scheitern von SKINNERS Kausalanalyse liegt darin, daß sie keine Annahmen enthält über die "innere Struktur des Organismus und ... [die] Wege, auf denen er Informationseingang verarbeitet und sein eigenes Verhalten organisiert" (1972, 61), d. h. in der behavioristischen Ablehnung von Aussagen über nicht direkt beobachtbare Bewußtseinsinhalte. In der Auseinandersetzung mit SKINNER kehrt CHOMSKY also zu einer schen
P s y c h o l o g i e
m e n t a l i s t i -
zurück.
Auch in seiner Auffassung von S p r a c h e r w e r b
bricht CHOMSKY mit
der herrschenden Lehre, daß Sprache vom Kind gelernt würde durch Einübung von Formen und Mustern und durch ihre Verallgemeinerung und Anwendung auf andere Fälle, wobei richtige Verallgemeinerungen verstärkt und gelernt, falsche Verallgemeinerungen dagegen nicht verstärkt und wieder vergessen würden. Diese Betrachtungsweise steht in Einklang mit dem taxonomischen Strukturalismus, der die Sprache als System auffaßt, dessen Elemente und Strukturen durch Segmentierung und Klassifizierung erfaßt werden können. Die in der generativen Transformationsgranmatik behauptete Sprachstruktur ist im Gegensatz dazu zu kompliziert und zu wenig direkt mit der Erfahrung verbunden, um vcm Kind in kurzer Zeit aus der Umgebung, in der es lebt, erschlossen werden zu können. CHOMSKY stellt darum die Hypothese auf, daß das Kind ein angeborenes Vorwissen über die allgemeine Struktur menschlicher Sprachen besitzt, auf dessen Grundlage es aus den Äußerungen, die es hört, die Granmatik seiner Sprache konstruiert: "Es ist demnach sehr wohl möglich, daß die generellen Merkmale der Sprachstruktur nicht so sehr den Verlauf individueller Erfahrung, sondern vielmehr den allgemeinen Charakter der Fähigkeit, Kenntnisse zu erwerben, spiegeln - also im traditionellen Verständnis die angeborenen Ideen und Prinzipien" (1969, 83) . Eine vordringliche Aufgabe der Sprachwissenschaft besteht
53 darum für CHOMSKY darin, die universellen Prinzipien herauszuarbeiten, die zur angeborenen menschlichen Grundausstattung gehören und allen natürlichen Sprachen zugrundeliegen. Sie hat zum Ziel, Aufschlüsse über die Struktur des menschlichen Geistes zu gewinnen. Mit der Annahme angeborener Ideen und Prinzipien hat CHOMSKY die empiristische Grundhaltung der modernen Wissenschaftstheorie aufgegeben und sich rationalistischen Auffassungen der europäischen Philosophie zugewandt. In "Cartesian linguistics" (1966, dt. 1971a) hat CHOMSKY versucht, den Beitrag von R a t i o n a l i s m u s
und R o m a n t i k
für seine Sprach-
theorie nutzbar zu machen und im Lichte seiner eigenen Forschungen zu interpretieren. Bei DESCARTES und seinen Zeitgenossen fasziniert ihn die Auffassung, daß nur die Tiere Automaten seien, d. h. daß ihr Verhalten mechanisch erklärt werden könne, daß aber den menschlichen Verhalten ein anderes Prinzip jenseits mechanischer Erklärbarkeit zugrundeliege, das vor allem in der Mannigfaltigkeit der Sprache zum Ausdruck von Gedanken deutlich würde. Dieses Prinzip bezeichnet CHOMSKY als "kreatives Prinzip" (1971a, 11), das sich vor allem darin zeige, "daß menschliche Sprache in ihren normalen Gebrauch frei ist von der Kontrolle durch unabhängig identifizierbare externe Reize oder interne Zustände, und nicht beschränkt auf irgendeine praktische katmunikative Funktion ist, im Gegensatz beispielsweise zur Pseudosprache der Tiere", und daß "sie ... daher frei [ist], um als Instrument freien Denkens und des Selbstausdrucks zu dienen." (1971a, 41) Bei Wilhelm von HUMBOLDT glaubt er den Gedanken der K r e a t i v i t ä t
in seinem Sinn gefaßt zu finden. Er
interpretiert die Auffassung HUMBOLDTS, daß Sprache nicht Werk (ergon), sondern Tätigkeit und Erzeugung (energeia) sei, daß ihre Form das Gleichbleibende sei, das in der Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Gedankenaustausch zu befähigen, liege, und daß sie fähig sei, unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln zu machen, im Sinne der generativen Transformationsgraimiatik: "Die Sprache bietet finite Mittel, jedoch infinite Möglichkeiten des Ausdrucks, die nur durch Regeln der Begriffsbildung und Satzbildung beschränkt sind, wobei diese teils speziell und idiosynkratisch, teils jedoch universal sind als allgemeine menschliche Veranlagung." (1971a, 41) CHOMSKY folgt HUMBOLDT allerdings nur insoweit, als er von den allgemeinen Eigenschaften der Sprachen handelt. Seine romantische Auffassung, jede Einzelsprache habe ihre eigene Gedankenwelt, wird von CHOMSKY nicht mehr diskutiert. Für den Behaviorismus ist das Sprachverhalten kausal determiniert und durch geeignet angeordnete äußere Reize manipulierbar; für CHOMSKY ist die Sprache Instrument freien Denkens und des Selbstausdrucks. So wichtig diese
54 Position für die Sprachtheorie auch sein nag, sie weist über sie hinaus. In seinen politischen Schriften übt CHOMSKY scharfe Kritik an der "konterrevolutionären Subordination" (1971b, 7) der amerikanischen Intellektuellen, die - um nur ein Beispiel CHOMSKYS ZU nennen - als Verhaltensforscher in Vietnam "'Experimente mit Methoden zur Kontrolle von Bevölkerung und Ressourcen1 planen und durchführen" (1971b, 9). Seine eigene geistige Unabhängigkeit von den "Reizen" der herrschenden Ideologie hat ihn zu einem der bedeutendsten Kritiker des amerikanischen Imperialismus und des Vietnamkrieges gemacht. Obwohl CHOMSKY Wissenschaft und Politik gewissenhaft auseinanderhält, wird zwischen seinem Insistieren auf der F r e i h e i t der K r e a t i v i t ä t
des
des
Denkens
Sprachgebrauchs
und
einerseits
und seiner Kritik an der intellektuellen Anpassung und an der Mitarbeit bei Manipulations- und Unterdrückungsprojekten andererseits doch ein Zusammenhang sichtbar. Die Erkenntnisse CHOMSKYS über das Wesen der Sprachfähigkeit haben auch Konsequenzen für die linguistische M e t h o d o l o g i e
. Die Deskrip-
tivisten glaubten, aus dem Corpus der Äußerungen direkt auf die Grammatik schließen zu können, und wiesen der Sprachkenntnis, die durch den Informanten repräsentiert wurde, nur eine Hilfsfunktion zu. Für CHOMSKY bilden dagegen die Urteile, die ein Sprecher aufgrund seiner intuitiven Sprachkenntnis abgibt, den wichtigsten Zugang zur Kompetenz. Die intuitive Sprachkenntnis bezieht sich nicht nur auf die beobachtbare Seite des Sprachgebrauchs, sondern schließt Urteile über die Korrektheit von Äußerungen und über ihre Bedeutung, vor allem über Mehrdeutigkeit und Bedeutungsgleichheit, mit ein. Die Grarnnatik hat es also nicht mehr nur mit der Form von Sätzen zu tun, sondern befaßt sich auch mit deren Bedeutungen. Um die erweiterte Aufgabenstellung der Granmatik bewältigen zu können, greift CHOMSKY wieder auf die Tradition zurück. In der Grammatik von Port Royal (Paris 1660) findet er die Bestätigung für seine Unterscheidung zwischen der Oberflächenstruktur, die die lautliche Form des Satzes bestinmt, und der Tiefenstruktur, die seiner Bedeutimg zugrundeliegt. Die Ausarbeitung einer generativen Granmatik beginnt für ihn am günstigsten "mit dem Studium der strukturellen Informationen, wie sie von traditionellen Grammatiken geliefert werden, und mit der Aufarbeitung der sprachlichen Prozesse, wie sie - wenngleich infornal - in diesen Grairmatiken vorgeführt werden (1969, 15) . Mit der Wiederzulassung der Intuition als Erkenntnisquelle hat CHOMSKY auch die ältere, intuitive Sprachforschung wieder in ihr Recht gesetzt. Ihre Ignorierung ist nicht mehr - wie bei den Deskriptivisten theoretisch gerechtfertigt.
55 Die Entwicklung des Kompetenzbegriffs durch CHOMSKY hat eine destruktive und eine konstruktive Seite. D e s t r u k t i v
ist der Nachweis, daß die
deskriptivistische Methodologie der Komplexität der Sprachstruktur nicht gerecht wird, daß eine Kausalanalyse des Sprachverhaltens mit den Begriffen des Behaviorismus zu falschen Ergebnissen führt, daß der Spracherwerb nicht aus äußeren Reizen und deren Bekräftigung erklärt werden kann und daß eine Grammatik nicht durch Segmentierung und Klassifizierung aus dem Corpus ermittelt werden kann. K o n s t r u k t i v
sind die Ausarbeitung der generativ-trans-
formationellen Grairmatiktheorie, die Wiederentdeckung der Rolle des freien und kreativen Geistes beim Sprachgebrauch, die Hypothese von den angeborenen Prinzipien des Spracherwerbs und die Zulassung von Intuition und traditioneller Forschung als Erkenntnisquelle für die Sprachwissenschaft. Mit dem K o m p e t e n z b e g r i f
f ist es CHOMSKY gelungen, das
menschliche Sprachvermögen in Beziehung zu setzen zur Systemhaftigkeit der Sprache und zum tatsächlichen Sprachgebrauch. Der Kompetenzbegriff gibt eine Erklärung für die Komplexität der Sprachstruktur und für das Scheitern deskriptivistischer und behavioristischer Analysen. CHOMSKYS Erkenntnisinteresse richtet sich auf die universelle Grammatik, die Struktur des menschlichen Geistes und die angeborenen Bedingungen des Spracherwerbs. Er siert
ideali-
seinen Gegenstand, indem er von den Bedingungen abstrahiert, die
für dieses Erkenntnisinteresse nicht relevant sind. Ausgeklanmert werden die "granmatisch irrelevanten" Bedingungen wie "begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit und Verwirrung, Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse, Fehler (zufällige oder typische)" (1969, 13), die neben der Sprachkcsmpetenz Einfluß auf die Performanz haben. Zum andern abstrahiert CHOMSKY aber auch von den Unterschieden der Sprachkenntnis bei verschiedenen Individuen und postuliert eine homogene Sprachgemeinschaft. Diese Idealisierung ist notwendig, wenn man zu einer einheitlichen Granmatik können will. CHOMSKY diskutiert aber nicht das Problem, nach welchen Gesichtspunkten die Idealisierung vorzunehmen ist. Er ist offenbar der Ansicht, daß es mit der Berufung auf die Evidenz der sprachlichen Intuition, wie sie in traditionellen Grammatiken zum Ausdruck koirmt, grundsätzlich gelöst und für die Theoriebildung nicht weiter interessant ist (vgl. 1969, 242 Anm. 2). Der Kcnpetenzbegriff CHOMSKYS ist in zwei Richtungen weiterentwickelt worden. Zum einen wurde er in - eher kausal verstandene -
S p r a c h v e r -
h a l t e n s - bzw. P e r f o r m a n z - M o d e l l e
eingebaut und
führte nur zu einer Erweiterung des Reiz-Reaktions-Schemas um ein genaueres Modell vom Beitrag des Organismus, d. h. er wurde in die positivistische
56 Wissenschaft integriert. Zum zweiten wurde er erweitert zur k o m m u n i k a t i v e n
K o m p e t e n z ,
-
die auch die Fähigkeiten umfaßt, die nicht
in der Graintatik beschrieben werden können. Es scheint, daß dieser Weg nicht nur erfolgversprechender ist, sondern auch mehr im Sinne von CHOMSKY selbst ist, der betont, daß die Kompetenz - als internalisierte generative Grannatik verstanden - nur einen von mehreren "fundamentalen Faktoren" der Performanz darstellt (1970, 49). In einer wichtigen Frage bleibt CHOMSKY der positivistischen Tradition verhaftet: in seiner V e r n a c h l ä s s i g u n g A s p e k t s
des
s o z i a l e n
von Sprache. Ein Vergleich der Langue de SAUSSURES mit der
Kompetenz CHOMSKYS macht das deutlich. CHOMSKY sieht den Unterschied nur darin, daß die Langue ein "systematisches Inventar von Einheiten" sei, die Kompetenz dagegen ein "System generativer ('erzeugender') Prozesse" (1969, 14-15). De SAUSSURE bestirrmt die Langue aber auch als soziale Institution, während CHOMSKY die Kompetenz nur als individuelle Fähigkeit sieht, die in ihren Grundzügen auf angeborenen Prinzipien beruht. Was für Konsequenzen die Vernachlässigung des sozialen Aspekts hat, soll uns bei der Diskussion der Sprachnorm im nächsten Abschnitt beschäftigen. Über die Sprachtheorie CHOMSKYS informieren u. a. HEESCHEN 1972, HELBIG 1971a, LYONS 1970 (dt. 1971) und MAAS 1973. Die Darstellung stützt sich auf CHOMSKY 1957 (dt. 1973), 1959 (dt. 1972), 1965 (dt. 1969), 1966 (dt. 1971a) und 1968 (dt. 1970). Zum Kompetenzbegriff und seiner Weiterentwicklung vgl. auch WELTE 1974, 256-261 mit ausführlichen Literaturangaben sowie WUNDERLICH 1970.
3.5.
Sprachnorm und sprachliches Handeln
Generative Graitmatiken benutzen
i n t u i t i v e
U r t e i l e
von
Sprecher-Hörem über Granmatikalität, Bedeutungsgleichheit und Mehrdeutigkeit von Sätzen als Grundlage der Beschreibung. Die intuitiven Urteile verschiedener Sprecher-Hörer sind jedoch nicht imiter gleich. Nehmen wir an, die folgenden Sätze würden den Sprecher-Hörern A und B zur Beurteilung vorgelegt : (1) Hans ist größer wie Karl (2) Hans tötet Karl / Hans bewirkt, daß Karl stirbt (3) Gestern wurde der Brief von meinem Freund verlesen
Nehiren wir weiter an, daß Sprecher-Hörer A Satz (1) für ungranmatisch hält (weil wie nach Komparativ steht), die Sätze (2) für bedeutungsverschieden (weil es Fälle geben könnte, in denen jemand bewirkt, daß ein anderer stirbt, ohne daß man das als töten bezeichnen würde) und den Satz (3) für eindeutig
57 (weil er von meinem Freund im Gegensatz zu meines Freundes nicht als Attribut versteht), während Sprecher-Hörer B Satz (1) als grammatisch, die Sätze (2) als bedeutungsgleich und den Satz (3) als mehrdeutig beurteilt (weil er die Unterschiede nicht macht, die für A wichtig sind). Die Kompetenzen von A und B sind also verschieden. Bei der Erstellung einer generativen Grammatik kann man die Kcnpetenz von A oder die Kompetenz von B als Grundlage wählen. Je nach Wahl wird man entweder eine Gramtatik der Kcnpetenz von A oder der von B erhalten. In diesem Sinne sind generative Granmatiken nichts als Beschreibungen i n d i v i d u e l l e r
K o m p e t e n z e n ,
die aus intuitiven Ur-
teilen von Sprecher-Hörern erschlossen werden. Unser Ziel (und auch das CHOMSKYS) besteht jedoch nicht darin, Beschreibungen der Kcnpetenz beliebiger Individuen anzufertigen. CHOMSKY hat seine Theorie am Englischen entwickelt; uns geht es hier um die Beschreibung des Deutschen. Es stellt sich das Problem, wieso man eine Sprache (etwa das Englische oder Deutsche) beschreiben kann, indem man die Kcnpetenz eines Individuums beschreibt. CHOMSKY hat dieses Problem dadurch gelöst, daß er die Kcnpetenz eines
i d e a l e n
S p r e c h e r - H ö r e r s
zugrunde legt, der in
einer homogenen Sprachgemeinschaft lebt und seine Sprache völlig beherrscht. Die Kompetenz des idealen Sprecher-Hörers ist so ein Beispiel für die aller anderen Sprecher-Hörer: Da alle Sätze und nur die Sätze, die der ideale SprecherHörer bilden und verstehen kann, Sätze der beschriebenen Sprache sind, ist die Kcnpetenzbeschreibung zugleich auch Sprachbeschreibung. Diese Iösung ist jedoch unbefriedigend, weil Sprachgemeinschaften nicht hcnogen und individuelle Kompetenzen voneinander verschieden sind. Sie stellt keinerlei Kriterien dafür bereit, um den idealen Sprecher-Hörer des Deutschen, des Bayerischen, des Englischen, des Chinesischen usw. aus den tatsächlichen Sprechern dieser Sprachen zu erschließen. Die Entscheidung, ob z. B. Sprecher-Hörer A oder Sprecher-Hörer B als idealer Sprecher-Hörer des Deutschen zu beschreiben ist, wird bei der Ausarbeitung der Grarrmatik bereits vorausgesetzt. Sie ist willkürlich, da sie unbegründet bleibt. Man kann die Entscheidung für eine bestimmte als ideal gesetzte Kompetenz auf zwei Wegen begründen: 1. Man zeigt, daß diese Kompetenz die sprachlichen Fähigkeiten umfaßt, die die Sprecher-Hörer einer Sprachgemeinschaft normalerweise haben, d. h. man bildet aus dem, was in der Erfahrung vorfindlich ist, eine statistische Größe des Normalen. Wie man das im einzelnen macht, ist ein Problem der Statistik. In unserem Beispiel könnte man die Entscheidung für den Sprecher-
58 Hörer A etwa damit begründen, daß - sagen wir einmal - 90 v. H. der getesteten Sprecher-Hörer wie A reagiert haben. Der Begriff des 'Normalen1 oder der 'Norm', den man auf diesem Wege erhält, ist ein eher naturwissenschaftlicher Begriff: er beschreibt eirpirisch feststellbare Regelmäßigkeiten scwie deren Häufigkeiten
(deskriptive
Norm) .
2. Man zeigt, daß die in der Grairmatik zu beschreibende Kcnpetenz in einer Sprachgemeinschaft als musterhaft gilt. Der ideale Sprecher-Hörer ist danach aufzufassen als ein Master für die Kcnpetenz, die alle SprecherHörer einer Sprachgemeinschaft haben sollen: Er setzt die Norm für alle anderen. 'Norm' ist in diesem sozialwissenschaftlichen Verständnis das, was in einer sozialen Gruppe als gut und richtig gilt und zur Nachahmung empfohlen wird
(präskriptive
Norm) .
Wir sind der Ansicht, daß die zweite Begründung für die Wahl der zu beschreibenden Kompetenz die angemessenere ist. Zum einen steht sie im Einklang mit der Praxis, wie Grannatiken genacht werden. Grammatiken können schon deswegen nicht im strengen Sinne auf der statistischen Feststellung des Normalen beruhen, weil geeignete statistische Untersuchungen - von Teilbereichen abgesehen - noch nie gemacht worden sind. Für die Feststellung des Musterhaften kann dagegen auf frühere Granmatiken und veröffentlichte Diskus sionsbeiträge zurückgegriffen werden. Zum zweiten steht die zweite Begründung im Einklang mit der Praxis, wie Grairmatiken benutzt werden: man verwendet sie - vor allem in Lehr- und Lernsituationen -, um sich über den richtigen Sprachgebrauch zu informieren. Drittens ist nicht ausgemacht, daß die statistische Feststellung des Normalen zu grundsätzlich anderen Ergebnissen führt als die Feststellung des Musterhaften; man kann oft damit rechnen, daß das Normale auch das Musterhafte ist. Der statistische Aufwand dürfte darum - wieder von Einzelproblemen und Zweifelsfällen abgesehen keine wesentlich neuen Einsichten bringen. Vor allem aber steht der präskriptive Normbegriff im Einklang mit Erkenntnissen, die über den len
Charakter
sozia-
von Sprachen gewonnen wurden.
Schon Hermann PAUL definiert die deutsche Gemeinsprache als präskriptive Norm: "Die Ganeinsprache ist
nichts als eine ideale Norm, die angibt, wie
gesprochen werden soll. Sie verhält sich zu der wirklichen Sprechtätigkeit etwa wie ein Gesetzbuch zu der Gesamtheit des Rechtslebens in dem Gebiete, für welches das Rechtsbuch gilt ..." (1920, 404). Aber erst die P h i l o s o p h i e
der
Alltagssprache,
wie sie vor allem durch WITTGENSTEINS "Philosophische Untersuchungen"
59 (1967, 1. A. 1958), AUSTINS "HOW to do things with words" (1962, dt. 1972) und
SEARLES "Speech acts" (1969, dt. 1971) repräsentiert wird, hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, den sozialen Charakter der Sprache angemessen zu begreifen. Sie hat gezeigt, daß die Menschen in sozialen Gruppen wechselseitig Handlungen vollziehen (interagieren), indem sie miteinander sprechen, und daß diese Handlungen von Regeln geleitet sind, die Teil der Lebensform der sozialen Gruppe sind und die Voraussetzung für wechselseitiges Verstehen bilden. Diese Erkenntnis ermöglicht eine neue Auffassung vom Gegenstandsbereich der Grammatik. Sie führt
'H a n d l u n g
' und
1
R e g e l ' als Grund-
begriffe in die Grammatiktheorie ein, grenzt die Sprachwissenschaft als sozialwissenschaftliche Disziplin eindeutig von den Naturwissenschaften ab und modifiziert den Kompetenzbegriff, wie wir im folgenden erläutern wollen: 1. H a n d l u n g e n
können nur beim Menschen vor. Sie zeichnen sich da-
durch aus, daß sie im allgemeinen absichtlich vorgenommen werden und daß sie verstehbar sind. Der Mensch handelt, wenn er Äpfel pflückt, Bäume fällt, Häuser baut, Fragen stellt, Behauptungen macht, Ronane schreibt usw. Diese Handlungen dienen dazu, bestinmte Zwecke zu erfüllen: sich Nahrung zu verschaffen oder sich vor Regen und Kälte zu schützen, sich Informationen zu verschffen oder sie zu geben, Erfahrungen mitzuteilen usw. In der außermenschlichen Natur gibt es keine Handlungen, sondern nur
Ereignis-
s e : Wenn Steine fallen, Bäume blühen, Zellen sich teilen, kann man nicht nach Zweck und Absicht fragen. Auch unwillkürliche Verhaltensformen des Menschen wie atmen, vor Kälte zittern oder rot werden sind keine Handlungen, sondern Ereignisse. Bei Ereignissen fragt man nach den Ursachen, die sie kausal bewirken. Handlungen werden also von ihrem Zweck her verstanden, Ereignisse kausal erklärt. Es ist allerdings auch möglich, Handlungen als Ereignisse aufzufassen und kausal zu erklären. So kann rran z. B. sagen, daß jemand Äpfel pflückt, weil die optische Wahrnehmung der Äpfel in Verbindimg mit bestinmten physiologischen Zuständen (Hunger) einen bestiirntten Bewegungsmechanisraus (den des Pflückens) in Gang gesetzt hat. Kausalerklärungen von Handlungen haben unter dem Eindruck der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Methodologie viele Anhänger gefunden, z.B. im arrerikanischen Deskriptivismus und der behavioristischen Psychologie (vgl. 3.3. und 3.4.). Umgekehrt kann auch bei Ereignissen Zweck und Absicht unterstellt werden. Man könnte sagen, daß Gott Bäume blühen läßt, damit die Menschen Obst essen können. Solche Erklärungen dürften aber heute kaum noch ernstzunehmende Anhänger haben.
Man v e r s t e h t
Handlungen, wenn man ihre Absicht, ihren Zweck
oder - wie man auch sagen kann - ihren Sinn erkennt. Handlungen bleiben uns gewöhnlich dann unverständlich, wenn sie von Menschen vollzogen werden, die uns sehr fernstehen. Wir haben z. B. Schwierigkeiten, religiöse Rituale exotischer Völker oder die Handlungsweise von Geisteskranken zu verstehen. Das Verstehen hängt davon ab, ob uns der mögliche Sinn von Handlungen durch unser eigenes Handeln bereits vertraut ist. Das ist dann der Fall, wenn wir mit den andern eine gemeinsame Praxis haben, d. h. gleiche oder ähnliche Handlungen vollziehen wie sie. Menschen, die ähnlich oder gleich handeln, verfügen über ähnliche oder gleiche Handlungsmuster. Wir können auch sagen: sie handeln nach ähnlichen oder gleichen Regeln. Die Gemeinsamkeit der Regeln begründet die Lebensform einer sozialen Gruppe und sichert die Verstehbarkeit der Handlungen. Scwohl im menschlichen Handeln wie in der außermenschlichen Natur treten Regelmäßigkeiten
auf. Ereignisse in der Natur werden erst
dadurch als regelmäßig erkannt, daß ein N a t u r g e s e t z
aufge-
stellt ist, das ihren Zusammenhang beschreibt. So wurde die Regelmäßigkeit in den Planetenbewegungen erst durch die Keplerschen Gesetze richtig erkannt und beschrieben. Das einzige Kriterium für die Richtigkeit eines Naturgesetzes besteht in seiner Ubereinstimnung mit den beobachteten Ereignissen in der Natur. Darum muß man davon ausgehen, daß ausnahmslos alle Ereignisse die im Naturgesetz beschriebene Regelmäßigkeit aufweisen. Ließe man Ausnahmen zu, hätte man kein Kriterium mehr für die Richtigkeit von Naturgesetzen: sie wären beliebig und ohne Erkenntniswert. Die Regelmäßigkeiten des Handelns sind dagegen dem Menschen durch seine gemeinsame Praxis mit anderen Menschen bereits vertraut. Die Vertrautheit zeigt sich etwa in der Fähigkeit, Handlungen zu verstehen, Handlungen als gleich zu erkennen und Handlungen zu wiederholen. Der Handelnde beherrscht das Handlungsmuster bzw. die Regel, wenn er handelt. Die Regel ist im Handeln schon enthalten; sie braucht nicht erst aus beobachtbaren Regelmäßigkeiten erschlossen werden. Daß der Mensch die Regeln seines Handelns beherrscht, bedeutet nicht, daß er sich ihrer inner bewußt ist oder daß er sie formulieren kann. Es ist Aufgabe einer Sozialwissenschaft, Regeln menschlichen Handelns bewußt zu machen, indem sie sie formuliert. Eine
Regelformulierung
hat insoweit Ähnlichkeit mit einem Naturgesetz, als sie Regelmäßigkeiten von Handlungen bzw. Ereignissen beschreibt. Die Richtigkeit einer Regelfonnulierung zeigt sich jedoch weniger daran, daß sie beobachtbare Regel-
61
mäßigkeiten in einen Zusanmenhang bringt (otwöhl das auch eine Rolle spielen kann), sondern vor allem in der intuitiven Bewertung von Handlungen durch Menschen mit gemeinsamer Praxis. Da dieses zweite Kriterium zur Verfügung steht, braucht Ausnahmslosigkeit von beobachtbaren Regelmäßigkeiten nicht gefordert zu werden. Tatsächlich ist die Möglichkeit der A b w e i c h u n g
konstitutiv
für den Regelbegriff: keine Regel ohne Ausnahme. Wo es keine Alternativen gibt, braucht man keine Regeln. Regeln (nicht Regelformulierungesn) sind willkürlich, da sie auch anders sein könnten. Die Regeln verschiedener sozialer Gruppen können sehr verschieden voneinander sein. Die Regeln in einer Grippe ändern sich im Lauf der Zeit. Einzelne Mitglieder einer sozialen Gruppe können von den Regeln abweichen, ja sogar neue Regeln einführen und damit eine neue Gruppe mit einer neuen Lebensform konstituieren. Mit Hilfe des Regelbegriffs können Sozial- und Naturwissenschaften unterschieden werden: Die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n
beschrei-
ben Regelmäßigkeiten in der Natur, indem sie Naturgesetze aufstellen. Die S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n
beschreiben die Regeln, auf
denen die Regelmäßigkeiten des menschlichen Handelns beruhen, indem sie Regelformulierungen machen. 3. Wenn Handeln auf sozialen Regeln beruht, dann ist K o m p e t e n z
die
Fähigkeit, nach Regeln zu handeln. CHOMSKYS Kcmpetenzbegriff ist in zweifacher Hinsicht zu modifizieren. Zum einen verlagert sich der Gesichtspunkt, unter dem Kompetenz erforscht wird: Während CHOMSKYS primäres Interesse auf die universellen, weil angeborenen Grundlagen menschlicher Sprachfähigkeit zielt, wird Kompetenz nun als soziale Fähigkeit erforscht, d. h. als Fähigkeit, die der Mensch als Sozialwesen besitzt und deren jeweilige Ausgestaltung von der Gruppe abhängt, in der er lebt. Zum zweiten wird Kompetenz zur H a n d l u n g s k o m p e t e n z
erweitert: Sie ist nicht
mehr bloß die Fähigkeit zum Bilden und Verstehen von Sätzen, während alles andere der 'Perforrranz' zugewiesen wird, sondern die Fähigkeit zum sozialen Handeln überhaupt, von dem das sprachliche Handeln nur ein Teil ist. Nach der hier skizzierten Auffassung vom sprachlichen Handeln hat eine Grartmatik die Aufgabe, die in einer Sprachgemeinschaft möglichen sprachlichen Handlungen zu beschreiben. Mit anderen Worten: Eine Granmatik ist eine Theorie
des
sprachlichen
Handelns.
Welche Kon-
sequenzen diese Gegenstandsbestimmung für unsere Auffassung der generativen Grannatik hat, soll im folgenden erläutert werden:
62 1. Man vollzieht sprachliche Handlungen, indem man Sätze äußert. So äußert itan z. B. jedesmal den Satz Iah möchte zahlen, wenn man im Gasthaus den Kellner zum Kassieren auffordert. Es ist zu unterscheiden zwischen Äußerung und Satz: Ä u ß e r u n g e n Sätze
sind k o n k r e t e
sind H a n d l u n g s m u s t e r .
H a n d l u n g e n ,
Da eine generative
Grairmatik die Sätze einer Sprache generiert, kann man sie als Beschreibung der in einer Sprache möglichen Handlungsmuster interpretieren. Nach dieser Interpretation formulieren die Regeln der TG, die wir in Abschnitt 1.3. eingeführt haben, bestimmte Zusanmenhänge zwischen Handlungsmustern. KS-Regeln wie 'S
> NP + VP' geben an, wie Sätze (als Muster
für vollständige sprachliche Handlungen) sich aus Teilmustern (Wörtgruppen und Vförtern) zusammensetzen. Das Lexikon enthält eine Liste der kleinsten Handlungsmaster, d. h. der Wörter. Transformationsregeln beschreiben den Zusamtienhang zwischen Mustern, die auf verschiedenen Ebenen der Abstraktheit formuliert worden sind. Der Ausdruck 'Regel' ist in diesem Zusaitmenhang allerdings zweideutig: Im Rahmen der TG meint er eine Aussage in der Kunstsprache (vgl. 2.3.); im Rahmen der Handlungstheorie meint. er dagegen ein Muster, nach dem eine soziale Gruppe sprachlich handelt. Das, was in der TG 'Regel' genannt wird, ist nach der hier eingeführten Terminologie eine Regelformulierung. 2. Die Regelformalierungen der TG drücken zwar den Zusamtienhang zwischen Handlungsmustern aus; sie beschreiben aber sprachliche Handlungen noch nicht als
s y m b o l i s c h e
H a n d l u n g e n .
Handlungen wie
'einen Apfel pflücken', 'einen Baum fällen' haben ihren Zweck in sich selbst. Die Äußerung des Satzes Iah möchte zahlen wäre dagegen sinn- und zwecklos, wenn sie nicht für etwas anderes stünde: Sie fordert - in einem Gasthaus an den Kellner gerichtet - diesen zum Kassieren auf. Symbolische Handlungen stehen also für etwas anderes: sie haben Bedeutung. Sätze haben B e d e u t u n g
, weil sie Muster zum Vollzug von symbolischen
Handlungen in bestinmten Kontexten (Kaimunikationssituationen) sind. Die Satzbedeutung zeigt sich im regelhaften Gebrauch der Sätze in der Konmunikation. Im Rahmen der Handlungstheorie werden Bedeutungen darum als des
G e b r a u c h s
Regeln
formuliert. Solche Regelformulierungen geben das
Handlungsmuster an (= X), die Bedingungen, unter denen es verwendet werden kann (seinen möglichen Kontext) (= Z), sowie das, wofür es steht (seine Bedeutung) (= Y). Wir geben zwei alternative Schemata, die sich beide für die Formulierung von B e d e u t u n g s r e g e l n und konkretisieren sie an einem Beispiel:
eignen,
63 (1) X gilt als Y im Kontext Z Der Satz Ich möchte zahlen (= X) gilt als Aufforderung zum Kassieren (= Y), wenn man sich im Gasthaus an den Kellner wendet (= Z). (2) Man y-t im Kontext Z, indem man x-t Man fordert zum Kassieren auf (= Y), wenn man sich im Gasthaus an den Kellner wendet (= Z), indem man Ich möchte zahlen äußert (= X).
Wir können uns hier auf diese sehr allgemeine und grobe Bemerkung über Bedeutungsregeln beschränken. Regelformulierungen nach (1) oder (2) kamen in der generativen Syntax nicht vor. Die Syntax beschreibt zwar Sätze auch im Hinblick auf die Bedeutungen, die durch sie ausgedrückt werden können, beschränkt sich aber auf die Feststellung von Bedeutungsgleichheiten und -unterschieden; Bedeutungen selbst werden nicht mehr formuliert. Die mit der generativen Syntax verbundene semantische Komponente (vgl. 1.3.) beruht auf anderen theoretischen Voraussetzungen. Sie beschreibt Bedeutungen nicht als Regeln des Gebrauchs von Handlungsmustem, sondern als Eigenschaften von Sätzen, die allein nach ihrer Zusammensetzung aus Teilen, aber nicht nach den Möglichkeiten ihres Gebrauchs untersucht werden. Handlungstheoretisch begründete Bedeutungsbeschreibungen können im Rahmen der TG noch nicht gemacht werden (vgl. auch 5.4.). 3. Sprachliche Regeln sind K o n v e n t i o n e n
, die sich in Sprachge-
meinschaften in ganeinsamer Praxis herausbilden und verändern. Die Mitglieder von Sprachgemeinschaften befolgen die Regeln oder versuchen wenigstens, sie zu befolgen, weil sie von den anderen verstanden und akzeptiert werden wollen, und sie erwarten von allen andern, daß sie ebenfalls die Regeln befolgen. Die Tatsache, daß die Regeln in der Praxis gewöhnlich befolgt werden, macht es möglich, sie als das 'Normale' (als deskriptive Norm) im Sprachgebrauch zu fassen. Die Tatsache, daß man ihre Befolgung erwartet, macht die Norm faßbar, die den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft vorschreibt, wie sie sprechen sollen (präskriptive Norm). Gegenstand einer Grammatik, die Regeln sprachlichen Handelns beschreibt, ist somit die S p r a c h n o r m . Der Geltungsbereich von Regeln kann sehr unterschiedlich sein. Manche Regeln haben nur regional und sozial begrenzte Geltung, z. B. die Regeln für Ortsdialekte, Gruppenjargons oder Fachsprachen. Daneben gibt es Regeln mit weiterer Geltung, z. B. die einer überregionalen Umgangssprache. Im deutschen Sprachgebiet erwartet man jedoch von den Sprecher-Hörern, daß sie in allen schriftlichen Äußerungen, aber auch beim Sprechen in der
64 Öffentlichkeit, ein bestiirmtes System von Regeln befolgen: die d a r d s p r a c h e
Stan-
als die allgemein geltende Sprachnorm des Deutschen.
Während man die Regeln mit begrenzter Geltung (z. B. die der Dialekte) gewöhnlich der unbewußten Praxis überläßt, sind die Regeln der Standardsprache darüber hinaus Gegenstand institutionalisierter Bemühungen: Die Standardsprache wird systematisch erforscht und beschrieben; zweifelhafte Regeln werden öffentlich diskutiert; sie wird in den Schulen gelehrt und gelernt. In Grammatiken und Wörterbüchern der Standardsprache wird versucht, die Sprachnorm zu formulieren. Sprachnorm und Sprachkanpetenz sind zwar verschiedene Gegenstandsbereiche: die
S p r a c h n o r m
i n d i v i d u e l l
ist
sozial
, die
S p r a c h k o m p e t e n z
. Sie hängen jedoch eng miteinander zusanmen. Beim
Spracherwerb und bei der Spracherlemung wird ihr Zusanmenhang faßbar: Inden man als Kind seine Muttersprache (z. B. einen Ortsdialekt) erwirbt oder später andere Sprachen (z. B. die Standardsprache oder eine Fremdsprache) erlernt, internalisiert man soziale Regelsysteme. Allerdings deckt sich eine individuelle Kompetenz nie ganz mit der sozialen Norm. Einerseits werden die geltenden Regeln oft nicht so gut gelernt, daß sie völlig beherrscht werden; dies gilt vor allem dann, wenn eine Sprache nicht Muttersprache ist. Zum andern beherrschen viele mehrere Sprachen, z. B. ihren Heimatdialekt, die Standardsprache und eine oder mehrere Fremdsprachen, wobei sich v e r s c h i e d e n e s y s t e m e
R e g e l -
überlagern und vermischen können.
Schöne Beispiele für solche V e r m i s c h u n g e n
finden sich nicht
zuletzt bei Sprachwissenschaftlern, die eine andere Regel formulieren als die, der sie bei der Formulierung folgen. Otto BEHAGHEL, der beste Kenner der historischen Syntax, bezeichnet die Konstruktion, bei der zwischen Artikel und Substantiv umfangreiche Adjektiv- und Partizipialattribute eingeklanmert werden, als "die dem Geist der deutschen Sprache am meisten widersprechende" Konstruktion (1932/32, II, 376). Der Ausdruck dem Geist der deutsahen Sprache am meisten widersprechende ist jedoch genau ein Beispiel für die kritisierte Konstruktion. Leo WEISGERBER, der einflußreichste Sprachwissenschaftler im Nachkriegsdeutschland, charakterisiert die Trennung der beiden Prädikatsteile im Deutschen (Er IST gestern mit seinem ganzen Gepäck nach Berlin ABGEFAHREN) als wichtige "muttersprachliche Verfahrensweise" (1962b, 389), in der ein "starkes gedankliches Umklanmern" (1962b, 384) zum Ausdruck kamve. Er verzichtet jedoch im gleichen Abschnitt selbst auf die "Ausweitung der zusammenfassenden Gedankenfülle" (1962b, 385), wenn er schreibt: "Der Satz wächst heraus aus einheitlicher Wurzel zu einem Gestalters^ichtum, dem kaum
65 mehr Grenzen gesetzt erscheinen." (1962b, 385) In Anwendung seiner eigenen Regelformulierung hätte er eher schreiben müssen: Der Satz WÄCHST aus einheitlicher Wurzel zu einem Gestaltenreichtum HERAUS, dem kaum mehr Grenzen gesetzt erscheinen. Der DUDEN (1973, 545) enpfiehlt, den "oft gerügten Ncminalstil" zu vermeiden, indem er im Ncminalstil schreibt: "Eine Vermeidung zu umfangreicher oder ungebräuchlicher Attribuierungen dieser Art ist deshalb zu empfehlen." In der U n e i n h e i t l i c h k e i t im Hinblick auf eine N o r m eines i d e a l e n
der individuellen Kompetenzen
liegt die Rechtfertigung für die Einführung
S p r e c h e r - H ö r e r s .
Wir bestirrmen als
idealen Sprecher-Hörer einen Sprecher-Hörer, der die syntaktischen Regeln der deutschen Standardsprache vollkommen beherrscht, wie sie uns aufgrund von früheren Formulierungen, aufgrund von als musterhaft erachtetem publizistischem und literarischem Sprachgebrauch und aufgrund der eigenen Kcirpetenz zugänglich sind. In der
Idealisierung
fallen scroit Sprachkcmpe-
tenz und Sprachnorm zusainnen. In ihrem Zusairmenhang mit der Sprachnorm liegt die praktische Bedeutung einer Konpetenztheorie. Sie sagt nicht nur, was ein idealer Sprecher-Hörer kann, der ohne Berücksichtigung der Wechselwirkung von Individuum und Sprachgemeinschaft postuliert wird. Sie sagt auch, was ein Sprecher-Hörer können soll, der einer bestimmten Sprachgemeinschaft angehört und von ihr akzeptiert wird. Sie macht die Regeln bewußt, die ein Kind lernen muß, um erfolgreich mit seiner sozialen Umwelt zu interagieren, und sie nacht sie dadurch leichter lehr- und lernbar. Wenn die Konpetenztheorie auch diesen Aspekt der Sprache mit einbezieht, umfaßt sie im wesentlichen den in traditionellen Grammatiken beschriebenen Gegenstandsbereich. Da sie die Regeln genauer und zusammenhängender formuliert, ist sie - wenn die Formulierungen als angemessen akzeptiert werden - eine geeignetere Grundlage für den Sprachunterricht als die traditionelle Grammatik. Zum Problem der Norm ist PAUL 1920, 404-422, heute noch lesenswert. Einen deskriptiven Normbegriff hat COSERIU 1970b und 1975c in Auseinandersetzung mit de SAUSSUREs Unterscheidung 'langue' - 'parole' entwickelt. Über die jüngere Sprachnormdiskussion informieren WELTE 1974, 416-418, mit ausführlichen Literaturangaben, sowie MOSER (ed.) 1968, MEISEL 1971, von POLENZ 1972 und FUNKKOLLEG 1973, 2/263-294. Zum Handlungsbegriff vgl. HERINGER 1974a, 28-82, zum Regelbegriff und den verwandten Begriffen 'Konvention' und 'Norm' vgl. HERINGER (ed.) 1974b, LEWIS 1975, SEARLE 1971, 38-83 und WEBER 1975.
66 3.6.
Aufgaben
1. Vergleichen Sie die Unterscheidung "langue - parole" bei de Saussure mit der Unterscheidung "Kcnpetenz - Performanz" bei Chcmsky. 2. Zeigen Sie an folgenden Beispielen, daß der "Wert" (3.3.) der sprachlichen Einheit zu nicht auf seinen materiellen Eigenschaften (z. B. seiner lautlichen Realisation) beruht: Die Mauer ist zu hoch Er macht die Tür zu
Er verspricht zu kommen Er fährt zu seinen Eltern
3. Erläutern Sie die Begriffe "Analogie" und "Sprachgebrauch" (3.2.) am Beispiel der folgenden Verbformen; leben - lebte - gelebt beben - bebte - gebebt geben - gab - gegeben
heben - hob - gehoben weben - wob - gewoben weben - webte - gewebt
4. In der gesprochenen Sprache kcrtmen Äußerungen wie die unten angeführten recht häufig vor; für viele Sprecher-Hörer gelten sie als korrekt. Erläutern Sie am Beispiel dieser Äußerungen die Problematik der Begriffe "Kcnpetenz des idealen Sprecher-Hörers" und "Sprachnorm": Hans ist größer wie Karl Er braucht nicht arbeiten Trotzdem es regnete, ging er spazieren 5. Kann bei der Sprachbeschreibung auf das Sprachgefühl verzichtet werden? 6. Geben Sie an, welche Auffassung vcm Gegenstandsbereich der Grammatik in den folgenden Zitaten zum Ausdruck könnt, und ordnen Sie sie einer der in 3.2. bis 3.5. vorgestellten Richtungen zu. Begründen Sie Ihre Entscheidung: (a) Die Gesamtheit der Äußerungen, die in einer Sprachgemeinschaft getan werden können, ist die Sprache dieser Sprachgemeinschaft. (b) Ein Sprachspiel existiert nicht nur in dem Moment, wo es gespielt wird. Es wird definiert durch die Muster, nach denen es gespielt werden kann. Diese Muster wollen wir Regeln nennen. (c) Indem man die Sprache vom Sprechen scheidet, scheidet man zugleich: 1. das Soziale vom Individuellen; 2. das Wesentliche vom Akzessorischen und mehr oder weniger Zufälligen. (d) Der normale Sprachgebrauch ist jedoch nicht nur produktiv und potentiell unendlich in seiner Reichweite, sondern auch frei von einer Regelung durch feststellbare Stimuli, seien diese äußere oder innere. Und nur weil sie frei von einer Regelung durch Stimuli ist, kann die Sprache nicht nur außerordentlich begabten, sondern tatsächlich allen normalen Menschen als ein Instrument des Denkens und des eigenen Ausdrucks dienen.
4.
SATZBAUPLÄNE UND KONSTITUENTENSTRUKTUR
4.1.
Der traditionelle Begriff des Satzbauplans
In den ersten drei Kapiteln haben wir uns mit der Stellung der Syntax in der Granmatik, mit der Art der syntaktischen Theoriebildung und mit dem Gegenstandsbereich von Grairniatiken beschäftigt. Wir haben damit den Rahmen abgesteckt, in dem eine Beschreibung der deutschen Syntax nach den Grundsätzen der TG zu sehen ist. In diesen Kapitel wenden wir uns nun der Beschreibung der syntaktischen Struktur einfacher Sätze zu. Wie in den vorangegangenen Kapiteln gehen wir wieder aus von traditionellen Auffassungen. Zunächst stellen wir dar, nach welchen Gesichtspunkten einfache Sätze definiert, klassifiziert und beschrieben worden sind. Im zvreiten Abschnitt behandeln wir die Methode, mit der einfache Sätze aus komplexen Sätzen isoliert und nach ihrer Zusarrmensetzung aus Teilen analysiert werden. Im dritten Abschnitt führen wir die Begriffe und Beschreibungsmittel ein, die wir für die Beschreibung einfacher Sätze brauchen. Die Beschreibung selbst wird im vierten Abschnitt vorgenommen. Zuletzt systematisieren wir die Ergebnisse zu einer Theorie der Satzbaupläne. Syntaktischen Beschreibungen des Deutschen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß es nur eine begrenzte Zahl von Mustern zur Bildung einfacher Sätze gibt, wie sie z. B. den folgenden Sätzen zugrundeliegen: Die Der Der Die
Sonne scheint Direktor erwartet seine Gäste Lehrer legt das Buch auf den Tisch Rose ist schön
Sätze dieser Art können im allgemeinen nicht weiter vereinfacht werden, ohne daß sie aufhören, korrekte und sinnvolle Sätze des Deutschen zu sein (vgl. *Der Direktor erwartet, *Der Lehrer legt auf den Tisch). Wir bezeichnen sie als
K e r n s ä t z e
S a t z b a u p l ä n e
. Die ihnen zugrundeliegenden Muster wollen wir nennen; gebräuchlich sind aber auch Bezeichnungen
wie 'Grundformen', 'Satzgerüste', 'Satzmuster', 'Satztypen', 'Satzmodelle' u. a. Kernsätze werden selten gebraucht, ihre Satzbaupläne sind aber als Kernbestandteile auch im komplexesten Satz mitenthalten. So erkennen wir z. B. in dem Satz
68 Das Ansinnen der Perser jedoch, aus der Bundesrepublik auch angereichertes Uran, Brennstoff für die KWU-Reaktoren und das Know-how für Technologien zur Anreicherung von Uran zu beziehen, ist für Bonn derzeit heikel (Spiegel)
den Kernbestandteil Das Ansinnen ist heikel, der nach dem selben Muster wie Die Rose ist schön gebildet ist. Die Beschreibung der Satzbaupläne ist ein zentraler Bestandteil der Syntax. Uber ihre genaue Definition besteht jedoch keine Einigkeit. Sie werden definiert (1) auf der Ebene des außersprachlichen (2) auf der Ebene der innersprachlichen der Ebene der äußeren
Form.
S a c h v e r h a l t s
B e d e u t u n g
,
und (3) auf
Die Definitionen nach (1) und (2) beruhen
auf Bedeutungskriterien. Bedeutung wird dabei allerdings nicht verstanden als Regel des Gebrauchs (vgl. 3.5.), sondern als Widerspiegelung der Wirklichkeit im Satz (1) oder als Schema der Wirklichkeitserfassung durch den Satz (2). Da die Gebrauchstheorie der Bedeutung in ihren Konsequenzen für syntaktische Beschreibungen noch nicht erforscht ist, werden wir uns im folgenden nicht auf sie beziehen, wenn wir von 'Bedeutung' sprechen. 1. Die
s a c h b e z o g e n e
Betrachtungsweise, die vor allem von dem
sowjetischen Germanisten ADMONI und in der funktionalen Granmatik der DDR vertreten wird, führt die Satzbaupläne zurück auf "grundlegende objektive Sachverhalte", die sich "aus der Untersuchung der objektiven Realität ergeben" (HELBIG 1971b, 190). Diese Auffassung ist jedoch nicht haltbar, da keine direkte Parallelität zwischen den Strukturen der Wirklichkeit und denen der Sprache besteht. So werden gleiche Sachverhalte durch Sätze verschiedener Struktur und verschiedenartige Sachverhalte durch Sätze gleicher Struktur wiedergegeben. Die Sätze Er hat Hunger Er ist hungrig
beschreiben den gleichen Sachverhalt mittels verschiedener Satzbaupläne, während die Sätze Der Student kauft ein Buch Die Grammatik enthält eine Syntax
trotz gleichen Satzbauplans völlig verschiedene Sachverhalte (menschliche Handlung vs. Teil-Ganzes-Beziehung) bezeichnen. 2. Die
i n h a l t b e z o g e n e
Betrachtungsweise, die die innersprach-
liche Bedeutung zu erfassen sucht, geht vor allem auf WEISGERBER zurück und wird u. a. in den beiden ersten Auflagen der DUDEN-Grammatik (1. A. 1959, 2. A. 1966) vertreten. Der DUDEN erläutert die Satzbaupläne folgendermaßen:
69
"Jede Sprache besitzt eine überschaubare Anzahl syntaktischer Grundformen, nach deren Muster der Sprechends die von ihm wahrgencnmene Wirklichkeit so zu setzen vermag, daß der Hörende die Setzung nachvollziehen kann ... Erst durch die Gestaltung der Aussage schafft sich die Sprache die Möglichkeit, das gesamte Sein und Geschehen unter bestirmtten Sehweisen zu bewältigen. Die Syntax hat es deshalb vornehmlich mit der sprachlichen Prägung dieser Aussagen zu tun."
(1966, 468)
So sieht der
DUDEN Z.
B. in dem Satz-
bauplan, nach dem Sätze wie Der Gärtner bindet die Blumen und Der Direktor erwartet seine Gäste gebildet sind, ein Muster, bei dem "das Subjekt ... der Täter [ist], dessen im Prädikat ausgedrücktes Verhalten sich zielstrebig einem anderen Wesen oder Ding zuwendet."
(1966, 473)
Diese Auffassung ist fragwürdig,
wenn sie einen so konkret aufgefaßten einheitlichen Inhalt der Satzbaipläne annimmt. So ist es z. B. schon problematisch, ob jemand ein Täter ist, der etwas erwartet. Völlig sinnlos ist es, in dem Satz Die Blätter bedecken den Boden die Blätter als Täter zu bezeichnen. Ihre Berechtigung hat die inhaltbezogene Betrachtungsweise jedoch dann, wenn sie auf inhaltiche Interpretationen verzichtet, die wie Beschreibungen von Sachverhalten der Wirklichkeit aussehen, und sich auf die Feststellung beschränkt, ob Satzteile einen gleichen oder verschiedenen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Satzes leisten, und danach Klassen von Satzteilen unterscheidet. Die beiden Sätze Er ißt den ganzen Käse Er ißt den ganzen Tag
sind ihrer äußeren Form nach gleich gebaut. Sie verhalten sich jedoch syntaktisch verschieden, wie man durch Umstellung und Austausch von Satzteilen feststellen kann. Nach dem Satzteil den ganzen Käse kann man fragen mit Was ißt er?. Es kann ausgetauscht werden gegen Ausdrücke wie Käse, das Brotj etwas und als Subjekt des Passivsatzes Der ganze Käse wurde von ihm gegessen auftreten. Nach dem Satzteil den ganzen Tag kann man fragen mit Wielange/Wann ißt er?. Es kann ausgetauscht werden gegen Ausdrücke wie den ganzen Tag lang, während des ganzen Tages, lange, tagsüber usw. und nicht als Subjekt des Passivsatzes auftreten. Darum ist es berechtigt, für den ganzen Tag und den ganzen Käse verschiedene innersprachliche Bedeutungen anzusetzen. Üblicherweise bezeichnet man sie als "Akkusativobjekt" und "Zeitangabe". Umgekehrt kann eine innersprachliche Bedeutung durch verschiedene Formen ausgedrückt werden:
Das Kind sieht
ein daß wie den
Haus j emand kommt jemand kommt Mann kommen
Die in der Klanmer stehenden Ausdrücke ergänzen als "Akkusativobjekte" in gleicher Weise das Verb sehen und leisten damit jeweils den gleichen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Satzes. Von Satzteilen, die gegeneinander ausgetauscht werden können, ohne daß sich die Art ändert, in der sie zur Gesamtbedeutung des Satzes beitragen, sagen wir, daß sie die gleiche F u n k t i o n
haben. Die inhaltbezogene Be-
trachtung hat also die Aufgabe, die Funktionen sprachlicher Ausdrücke zu ermitteln. Diese Funktionen charakterisieren den
'Wert'
(vgl. 3.3.)
von Satzteilen im Beziehungsgefüge des Satzes, d. h. sie geben an, welche bedeutungsrelevanten Eigenschaften Satzteile im Unterschied zu anderen Satzteilen aufweisen. Sie fallen weder mit den sprachlichen Formen noch mit den Sachverhalten der Wirklichkeit zusairmen, auch wenn es hier wie dort Ähnlichkeiten gibt. Traditionelle Termini wie "Subjekt", "Prädikat", "Akkusativobjekt", "Zeitangabe" usw. benennen solche Funktionen. Funktionsbezeichnungen dürfen weder mit Formbezeichnungen noch mit Bezeichnungen für die ausgedrückten Sachverhalte der Wirklichkeit verwechselt werden. So hat z. B. das Akkusativobjekt sehr oft die Form einer Substantivgruppe im Akkusativ (z. B. den ganzen Käse) und ist das Ziel einer Handlung, z. B. der Handlung des Essens. Die Funktion "Akkusativobjekt" braucht aber nicht notwendig durch Substantivgruppen ausgedrückt zu werden (vgl.: Er sieht3 daß jemand kommt) und braucht nicht für das Ziel einer Handlung zu stehen (vgl.: Die Blätter bedecken den Boden). Die
f o r m b e z o g e n e
Betrachtungsweise beschreibt die Satzbaupläne
nach der Form der in ihnen auftretenden Satzteile. Sie hat unter dem Einfluß der strukturellen Linguistik in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Die "Deutsche GrAIRMAtik" von HELBIG/BUSCHA betrachtet Satzbaupläne als Strukturmodelle: "Satzmodelle sind Grundstrukturen des deutschen Satzes. Als Strukturmodelle geben sie keinen direkten Aufschluß über den Inhalt des deutschen Satzes; dieser Inhalt ist vielmehr von der lexikalischen Füllung der Satzmodelle abhängig." (1974, 548) Diese
S t r u k t u r m o d e l l e
werden definiert nach Art und Zahl der in ihnen auftretenden Formen. So werden z. B. die bereits zitierten Sätze Das Kind sieht ein Haus Das Kind sieht, daß/wie jemand kommt Das Kind sieht den Mann kommen
71 nicht zu einem Satzbauplan nach der Funktion "Akkusativobjekt" zusanmengefaßt, sondern nach der Form drei verschiedenen Satzmodellen zugeordnet, die neben einer Substantivgruppe im Nominativ (Das Kind) jeweils eine Substantivgruppe im Akkusativ (ein Haus), einen Nebensatz (daß/wie jemand kommt) bzw. eine Substantivgruppe im Akkusativ (den Mann) und einen Infinitiv (kommen) enthalten. Auch die dritte Auflage des DUDEN (1973) orientiert sich nun stärker an der Form. Sie faßt jetzt Satzbaupläne als Muster auf, nach denen sich alle Sätze der Sprache vollziehen (1973, 478) und will zeigen, "wie sich die einzelnen Sätze durch die Verschiedenheit der Glieder und das Verhältnis der Glieder zueinander unterscheiden. Aus diesen Unterschieden ergeben sich ... die Satzbaupläne unserer Sprache." (1973, 478) In einem ersten Schritt stellt der DUDEN "Satzgerüste" zusaitmen, die sie - wenn auch nicht konsequent nach der Form charakterisiert, z. B.: "Subj. + V + NAkkusativ: Der Gärtner bindet die Blumen" (1973, 479) . In einem zweiten Schritt stellt sie mit der "Ersatzprobe", d. h. durch Austauschen von Satzteilen, fest, welche von ihnen die gleiche Funktion haben, und faßt sie danach zu Ergänzungsklassen zusammen. Die inhaltbezogene Interpretation der älteren Auflagen wird ausdrücklich abgelehnt: Es kann "keine Parallelität zwischen den semantischen und den syntaktischen Strukturen bestehen ... Es müssen sich eben viele semantische Strukturen unter einer syntaktischen Struktur verwirklichen." (1973, 475) Für die Beschreibung der Satzbaupläne in der TG bietet der gene
Ansatz
formbezo-
den geeigneten Ausgangspunkt. Die KS-Regeln der TG geben
nämlich nur an, wie Sätze aus Konstituenten zusairmengesetzt sind und zu welchen Klassen diese Konstituenten gehören, d. h. sie charakterisieren Sätze nach ihrer Form (vgl. 1.3. und 2.3.). Unsere Aufgabe wird darum sein, eine an der Form orientierte Liste der Satzbaupläne aufzustellen und Regeln zu ihrer Ableitung zu formulieren. Erst in einem weiteren Schritt sollen die Funktionen, die die traditionelle Granmatik zu unterscheiden pflegt, im Rahmen der generativen KS-Syntax definiert werden. Am vollständigsten sind die Satzbaupläne unter inhaltbezogenen und funktionalen Gesichtspunkten in der DUDEN-Grammatik von 1966, 468-509 und 1973, 478-528 dargestellt. Eine formbezogene Liste der "Satzmodelle" bieten HELBIG/BUSCHA 1974, 548-558. Kriterien zur Aufstellung von Satzbauplänen bzw. "Satzmodellen" werden diskutiert in ENGEL 1970, HELBIG 1971b und HAPP 1976; dort findet man auch weitere Literatur.
72
4.2.
Die Ermittlung der Kernsätze
Unter K e r n s ä t z e n
verstehen wir einfache, nicht weiter reduzierbare
Aussagesätze. Wir betrachten sie als Realisierungen von Satzbaiplänen. Unser Kemsatzbegriff deckt sich nicht mit dem CHOMSKYS in "Syntactic structures" (1957). CHOMSKY definiert dort die Kernsätze im Rahmen der Theorie als Sätze, die allein mittels KS-Regeln und obligatorischen Transformationen generiert werden, und leitet alle Nicht-Kernsätze durch fakultative Transformationen aus Kemsätzen ab. In "Aspects of the theory of syntax" (1965) gibt er den Kernsatzbegriff wieder auf. Für uns ist 'Kernsatz1 zunächst ein heuristischer Begriff. Wir stellen Kernsätze nur fest, um eine empirische Basis für die Klassifikation der Satzbaupläne zu gewinnen. Die wichtigste Methode zur Feststellung von Kernsätzen bilden die t a k t i s c h e n
T e s t s .
syn-
Sie haben den Zweck, durch Experimentieren
mit Äußerungen und durch den Vergleich von Äußerungen die für die Klassifikation notwendigen Inforrationen zu liefern und die für eine Regelformulierung relevanten Unterschiede herauszuarbeiten. Die Tests wurden im amerikanischen Strukturalismus entwickelt (vgl. 2.4. und 3.3.) und sollten dort einer empirisch exakten Analyse dienen. Nach unserem Verständnis können sie die intuitive Sprachbeherrschung jedoch nicht ersetzen. Sie setzen sie vielmehr voraus und dienen dazu, sie bewußt zu machen. Ihre Anwendung erfolgt darum nicht mechanisch, sondern eher hermeneutisch, d. h. im Gesamtzusairmenhang des vorgängigen Sprachverständnisses. Im folgenden stellen wir fünf Tests zur Identifikation, Analyse und Klassifikation von Kernsätzen vor: 1. Der P e r m u t a t i o n s t e s t
(die ' Verschiebeprobe') stellt fest,
welche Wortfolgen möglich sind und welche nicht. Er dient einmal dazu, die durch die Wortstellung ausgedrückten Unterschiede zwischen den Satzarten zu vereinheitlichen und eine Grundform für die weitere Analyse bereitzustellen. Als Grundform wird im DUDEN wie in der gesamten traditionellen Grairmatik der Aussagesatz mit dem Subjekt am Satzanfang betrachtet. Für Beschreibungen im Rahmen der TG hat sich die Nebensatzwortstellung als zweckmäßig erwiesen. Wendet man den Permutationstest auf die Sätze War Ihr Vater ein Simulant?
(Boll)
Im entscheidenden Moment sah der Beamte nur den Kopf des Gangsters. (Bild-Zeitung) (Bundeskanzler Brandt ist tief besorgt, daß) die Ölkrise zu einer großen Arbeitslosigkeit führt. (Bild-Zeitung)
an, so erhält man folgende Aussagesätze:
73 Ihr Vater war ein Simulant Der Beamte sah im entscheidenden Moment nur den Kopf des Gangsters Die Ölkrise führt zu einer großen
Arbeitslosigkeit
Zum zweiten verwendet man den Permutationstest, um die Satzglieder des deutschen Satzes zu ermitteln. Aufgrund der Varianten des Aussagesatzes In den nächsten Tagen ging es ihm immer schlechter Es ging ihm in den nächsten Tagen immer schlechter Ihm ging es in den nächsten Tagen immer schlechter Immer schlechter ging es ihm in den nächsten Tagen
(Brecht)
werden die Satzteile in den nächsten Tagen, es, ihm, immer schlechter und ging als Satzglieder festgestellt. Der Test beruht darauf, daß im Aussagesatz das Verb (ging) stellungsfest an zweiter Stelle steht und daß im allgemeinen nur Satzglieder als Ganzes, aber nicht Teile von Satzgliedern oder mehrere Satzglieder an der Satzspitze vorkamen können: *In den nächsten ging Tagen es ihm immer schlechter *Ihm immer schlechter ging es in den nächsten Tagen
2. Der D e l e t i o n s t e s t
(die 'Weglaßprobe') stellt fest, welche
Satzteile für einen granmatisch korrekten und sinnvollen Satz notwendig sind und welche nicht. Wenn wir in dem Satz Dafür sehen sie monatlich zwei bis drei umsonst (Bild-Zeitung)
Meisterschaftsspiele
nach Anwendung des Permutationstests die Satzglieder dafür, monatlich und umsonst tilgen, erhalten wir den korrekten und sinnvollen Satz Sie sehen zwei bis drei
Meisterschaftsspiele
Die Satzglieder dafür, monatlich und umsonst sind darum nicht notwendig. Der Deletionstest dient in Verbindung mit dem Substitutionstest dazu, die Satzglieder der Kernsätze von weiteren, nicht notwendigen Satzgliedern zu unterscheiden. 3. Der S u b s t i t u t i o n s t e s t
(Komnutationstest, die 'Ersatz-
probe') stellt fest, welche Satzteile an einer bestimmten Stelle im Satz gegeneinander ausgetauscht werden können, so daß wieder ein korrekter und sinnvoller Satz entsteht. Mit seiner Hilfe stellen wir fest, ob verschiedene Formen gleiche oder verschiedene Funktion haben. In dem Satz Die drei Polizisten warteten im Hauseingang neben der Bank
(Bild-Zeitung)
kann man die Satzglieder die drei Polizisten, warteten und im Hauseingang neben der Bank durch andere Ausdrücke substituieren:
Die drei Polizisten Die Beamten Die, die Dienst hatten, Einige Sie
warteten schliefen saßen lagen standen
im Hauseingang neben der Bank bei der Bank wo die Einbrecher vorbeikommen dort mußten nebenan
Bei der Ermittlung von Kernsätzen dient der Substitutionstest hauptsächlich dazu, kcnplexe Satzglieder (z. B. umfangreiche Substantivgruppen, Nebensätze, Infinitivkonstruktionen) durch einfach Satzglieder gleicher Funktion (z. B. einfache Substantivgruppen, Proncmina, Partikel) zu ersetzen und damit den strukturellen Kern herauszuarbeiten. So kann man z. B. im folgenden Satz durch Substitution den mit wer beginnenden Nebensatz als Subjekt identifiz ieren: Wer in niedriger Höhe über das Land fliegt, wird sehen (Tagblatt) Der Flieger wird Streusiedlungen Er wird Streusiedlungen
Streusiedlungen
sehen
sehen
Im nächsten Satz wird die Satzgliedstruktur deutlich, wenn man alle Satzglieder durch ihre minimale Form ersetzt: Die 26-jährige Jacqueline Thompson hat am Freitag von einem Londoner Gericht ein Schmerzensgeld von 30 OOO Mark zugesprochen bekommen, weil sie nach einem Unfall nicht mehr küssen kann (Bild-Zeitung) Sie erhielt gestern von jemandem deswegen etwas
Auf Substitution beruht auch das in der Schulgranmatik übliche Verfahren, Satzglieder durch Fragen zu ermitteln; dabei wird jedes nicht verbale Satzglied durch das entsprechende Frageproncmen substituiert: Wer hat etwas zugesprochen bekommen? - Die 26-jährige Jacqueline Thompson Wann hat sie etwas zugesprochen bekommen? - Am Freitag Von wem hat sie etwas zugesprochen bekommen? - Von einem Londoner Gericht Was hat sie zugesprochen bekommen? - Ein Schmerzensgeld von 30 OOO Mark Warum hat sie etwas zugesprochen bekommen? - Weil sie nach einem Unfall nicht mehr küssen kann
Der
I n s e r t i o n s t e s t
(die ' Einsetzprobe') stellt fest, welche
Ausdrücke an welchen Stellen in andere Ausdrücke eingesetzt werden können. Er ist dann anzuwenden, wenn Sätze in der Kcmnunikation unvollständig geäußert werden, weil das Fehlende aus dem Zusammenhang bekannt ist, oder wenn z. B. koordinierte Satzteile zu ganzen Sätzen zu ergänzen sind. So könnte man zwar auf die Frage Sahenkt oder verkauft er dir das Buch? mit Er verkauft antworten, weil dir und das Buch bereits vorausgesetzt sind. Bei der Feststellung des Kernsatzes sind diese nicht genannten Teile jedoch zu
75 Er verkauft dir das Buch
Ebenso ist die Koordination in dem folgenden Satz in zwei Sätze aufzulösen; die fehlenden Satzteile sind einzusetzen: Jupp ergriff den Koffer und zerrte mich hinaus (Boll) Jupp ergriff den Koffer Jupp zerrte mich hinaus
5. Der T r a n s f o r m a t i o n s t e s t
(die 'Umformprobe1) stellt fest,
ob verschiedene syntaktische Konstruktionen mit gleichem oder ähnlichem lexikalischem Bestand den gleichen Sachverhalt bezeichnen. Er dient zur Ermittlung der Bedeutungsverwandtschaft zwischen verschiedenen Konstruktionen und bietet die Voraussetzung dafür, Satzteile in Sätze umzuformen oder komplexere Sätze auch dann auf Kernsätze zurückzuführen, wenn eine einfache Deletion oder Substitution nicht möglich ist. Mit dem Transformationstest werden z. B. Passivsätze auf Aktivsätze zurückgeführt: Das Foto wurde seiner Mutter geschickt (Bild-Zeitung) Man schickte das Foto seiner Mutter
Ebenso kann er dazu dienen, Infinitiv- oder Partizipialkonstruktionen in Sätze umzuformen: Er überredete die Westdeutsche Landesbank, über ihre Londoner Filiale eine Rückzahlungsgarantie zu übernehmen. (Spiegel) Er überredete die Westdeutsche Landesbank, daß sie über ihre Londoner Filiale eine Rückzahlungsgarantie übernimmt. Er überredete die Westdeutsche Landesbank dazu: Sie übernimmt über ihre Londoner Filiale eine Rückzahlungsgarantie.
Mit Hilfe dieser Tests kann man grundsätzlich jeden komplexen Satz und jeden Text in eine Reihe von Kernsätzen zerlegen. Als Beispiel analysieren wir folgenden Text: Zu der Zeit des Dreißigjährigen Krieges besaß ein Schweizer Protestant namens Zingli eine große Gerberei mit einer Lederhandlung in der freien Reichsstadt Augsburg am Lech. Er war mit einer Augsburgerin verheiratet und hatte ein Kind mit ihr. Als die Katholischen auf die Stadt zumarschierten, rieten ihm seine Freunde dringend zur Flucht, aber, sei es, daß die kleine Familie ihn hielt, sei es, daß er seine Gerberei nicht im Stich lassen wollte, er konnte sich jedenfalls nicht entschließen, beizeiten wegzureisen. (Brecht: Der Augsburger Kreidekreis)
In einem ersten Schritt lösen wir die zusammengesetzten Sätze auf, indem wir jede Konstruktion mit finitem Verb und jede Infinitiv- und Partizipialkonstruktion als selbständigen Aussagesatz mit dem Subjekt am Satzanfang umformulieren. Bei jedem Satz geben wir an, mit Hilfe welcher Tests er jeweils gewonnen wurde:
76 (1) Ein Schweizer Protestant namens Zingli besaß zu der Zeit des Dreißigjährigen Krieges eine große Gerberei mit einer Lederhandlung in der freien Reichsstadt Augsburg am Lech (Permutation) (2) Er war mit einer Augsburgerin verheiratet (3) Er hatte ein Kind mit ihr (Insertion) (4) Die Katholischen marschierten auf die Stadt zu (Permutation) (5) Seine Freunde rieten ihm da dringend zur Flucht (Permutation; Substitution des Nebensatzes mit als durch da) (6) Die kleine Familie hielt ihn (Permutation) (7) Er wollte seine Gerberei nicht im Stich lassen (Permutation) (8) Er konnte sich jedenfalls nicht dazu entschließen (Permutation; Substitution der Xnfinitivkonstruktion durch dazu) (9) Er reiste beizeiten weg (Transformation der Infinitivkonstruktion) In einen zweiten Schritt tilgen wir mittels Deletionstest die Satzglieder, die für einen korrekten und sinnvollen Satz nicht notwendig sind und substituieren die verbleibenden komplexen Satzglieder durch einfache. Bei Zweifelsfällen sind Satzglieder in Klammern gesetzt: (1') Ein Protestant besaß eine Gerberei (2') Er war (mit einer Augsburgerin) verheiratet (3') Er hatte ein Kind (41) Die Katholischen marschierten (auf die Stadt) zu (5') Seine Freunde rieten ihm zur Flucht (6') Die Familie hielt ihn (7') Er verließ seine Gerberei (Substitution des komplexen Prädikats wollte im Stich lassen durch verließ) (8') Er entschloß sich dazu (9') Er reiste weg Als Ergebnis der Analyse haben wir eine Liste von Kernsätzen erhalten. Solche Kernsätze bilden das empirische Material, auf dessen Grundlage die Satzbaupläne unterschieden und Regeln zu ihrer Bildung formuliert werden. Zu den syntaktischen Tests vgl. auch WEBER 1974, 292-296, vor allem aber die ausführliche Diskussion bei HAPP 1976, 347-428.
4.3.
KS-Regeln und KS-Syntax
In den Abschnitten über den Aufbau der TG (1.3.) und über kunstsprachliche Theorien (2.3.) haben wir die Beschreibungssprache der TG bereits kurz eingeführt. Im folgenden soll nun die
F o r m
der
K S - R e g e l n
präziser
bestirtmt werden, und es soll gezeigt werden, wie die durch die KS-Regeln abge-
77
leiteten Staitmbäume zu interpretieren sind; dabei werden Grundbegriffe der KS-Syntax eingeführt und definiert. Die Beispiele erläutern nur die Form der Hieorie; sie sollten nicht als Beschreibungen des Deutschen gelesen werden. Die KS-Regeln, die wir zur Ableitung von Satzbauplänen verwenden, haben folgende Eigenschaften: 1. KS-Regeln haben die x
— >
Form
Y
und sind zu lesen als 'Gib X durch Y wieder' oder 'Ersetze X durch Y'. 2. 'X' und 'Y' sind Variable für K a t e g o r i e n s y m b o l e ,
z.B.
für die Symbole 'A', 'B', 'C' usw. Kategoriensymbole sind Namen für syntaktische Kategorien, und zwar für die Kategorie 'Satz' und für die Konstituentenklassen, zu denen die Konstituenten der durch die Ableitung erzeugbaren Sätze gehören. Im Gegensatz zu der Theorie, die uns in 2.3. als Beispiel diente, können für 'X' keine Konstituenten, d. h. Einheiten der beschriebenen Sprache stehen. KS-Regeln wie A B
> >
Michael feiert
sind in einer Theorie der Satzbaupläne nicht zulässig. Es sollen nämlich nicht Kernsätze abgeleitet werden, sondern nur Satzbaupläne als deren abstrakte Muster. Sprachliche Einheiten werden im Lexikon aufgezählt und durch die Lexikonregel in Satzbaupläne eingesetzt (vgl. 1.3.) 3. Für 'X' steht inner genau ein Kategoriensymbol, und zwar das Anfangssymbol oder ein Symbol, das in einer anderen Regel rechts vom Pfeil vorkamt. Dadurch wird gesichert, daß die Anwendung der Regeln zu einer menhängenden
Ableitung
zusam-
führt. Für 'Y' steht mindestens
ein Kategoriensymbol; mehrere Symbole werden durch ' + ' miteinander verkettet. Die Ausdrücke (a) sind Beispiele für KS-Regeln, die Ausdrücke (b) Gegenbeispiele, (a) ist zugleich Beispiel für zusanmenhängende Regeln, (c) ein Beispiel für unzusarrmenhängende Regeln: (a) A B C
>B +C >D >E +F +G
(b) *A + B *B + C (c) A B G
>C >C +E
>C +D >E +F >H
Die Regeln (a) hängen zusairmen, vreil 'A' Anfangssymbol ist und 'B' und 'C' in der ersten Regel rechts vcm Pfeil vorkamen. Die Regeln (c) hängen nicht zusammen, weil 'B' und 'G' weder Anfangssymbol sind noch rechts van Pfeil vorkamen. KS-Regeln für Satzbaupläne sind nicht rekursiv. R e k u r s i v e
Regeln
ermöglichen die Ableitung unendlich umfangreicher Strukturen, Satzbarpläne sind jedoch relativ einfache endliche Strukturen.
Rekursivität
liegt vor, wenn das gleiche Kategoriensymbol links und rechts vom Pfeil auftritt z. B.: A
>A +B
Bei jeder Anwendung generiert die Regel das Symbol A, das zugleich die Voraussetzung für die Anwendung ist. Die Ableitung kcnint so zu keinem Ende (Figur 1):
Figur 1 Rekursivität kann auch bei Regelfolgen auftreten, wenn rechts von Pfeil ein Symbol auftritt, das in einer bereits angewandten Regel links van Pfeil stand; die Regelfolge wird dann jeweils ein weiteres Mal durchlaufen. Regelfolgen wie A B
>B +C >A +D
sind also ebenfalls rekursiv (Figur 2):
Figur 2
*
Rekursive KS-Regeln werden zur Beschreibung bestürmter komplexer Satzstrukturen benötigt. Sie ermöglichen die Ableitung potentiell unendlich langer Sätze und damit die Ableitung einer potentiell unendlichen Zahl von Sätzen. Eine potentiell unendliche Länge haben Konstruktionen wie
79 Ich kenne den Mann, der die Frau kennt, die das Kind kennt, das den Lehrer kennt, der ... Der Vergaser des Motors des Autos des Mannes ...
Damit die Ableitung an einem beliebigen Punkt beendet werden kann, muß für die Regel auch eine nicht-rekursive Alternative vorgesehen sein, z. B.: A
> A + B
A
>B
KS-Regeln für Satzbaupläne sind k o n t e x t f r e i ,
d. h. ihre An-
wendung ist nicht durch den Kontext bedingt, in dem das Symbol links vcm Pfeil in einer Ableitung steht. Regeln, deren Anwendbarkeit vom Kontext abhängt, heißen k o n t e x t s e n s i t i v e schränkte A — >
B
oder
kontextbe-
Regeln. Sie haben gewöhnlich folgende Form:
+c /x +
+Y
Der Schrägstrich steht für 'in der Umgebung' oder 'wenn'. Der waagrechte Strich charakterisiert die Stelle, an der die Ersetzung von 'A' durch 'B + C' vorgenommen wird. 'X' und 'Y' sind Variable für Kategoriensymbole, die den Kontext charakterisieren, in den die Ersetzung vorgenommen werden darf. Die Regel ist also zu lesen: 'Ersetze A durch B + C genau dann, wenn es rechts von X und links von Y steht.' Wir können auf kontextsensitive Regeln verzichten, weil Kontextbeschränkungen erst in anderen Teilen der Grammatik (z. B. im Lexikon) formuliert werden. Vfenn mehrere KS-Regeln dasselbe Kategoriensymbol links vom Pfeil aufweisen, dann können sie nach folgenden S c h r e i b k o n v e n t i o n e n
zu
einer einzigen Regel zusammengefaßt werden: Alternative
Ersetzungsmöglichkeiten werden durch Schweifklanmern
bezeichnet. Die Regeln A
>B — > c +D A >E +F +G A
werden folgendermaßen zusammengefaßt: A
|B
I
> I C +D I jE +F +G |
Vfenn in einer von zwei sonst gleichen Regeln ein zusätzliches Kategoriensymbol steht, wird es als f a k u l t a t i v Die Regeln
in runde Klaitmern gesetzt.
80 A
>B
A
>B +C
werden zusammengefaßt zu A
> B + (C)
Komplexere Regel Zusammenfassungen können sowohl runde Klanmem wie Schweifklanmern aufweisen. So werden die Regeln A A A
>B +C >D +E >E
zusammengefaßt zu:
Die KS-Regeln generieren Konstituentenstrukturen, die durch Staitmbäume repräsentiert werden. Nehmen wir an, uns seien die Regeln (1) bis (3) gegeben: (1) A (2) B (3) C
>B +C >D +E >F +B
Wir wenden die Regeln an, indem wir die Symbole links von Pfeil in der nächsten Zeile durch Symbole rechts vcm Pfeil wiedergeben. Die tung
Ablei-
ist beendet, wenn in einer Zeile nur noch Symbole vorkamen, die
in keiner Regel links vom Pfeil stehen. Kamen in einer Zeile mehrere Symbole vor, auf die eine Regel angewandt werden kann, so ist die Reihenfolge ihrer Anwandung beliebig. Im folgenden stehen zwei Ableitungen, die durch (1) bis (3) ermöglicht werden. Die jeweils angewandte Regel ist in Klanmern angegeben; die durch sie abgeleiteten Symbole sind kursiv gesetzt: a (1) B + C (2) D + E + C (3) D + E + F + B (2)D + E + F + D + £
A (1) B (3) B (2) D (2)D
+C +F + B +E + F +B +E +F +D +£
Im strengen Sinne erzeugt die Anwendung der Regeln also keine Stanmbäume, sondern Ketten von Kategoriensymbolen. Es läßt sich jedoch zeigen, daß diese Ketten in Stanmbäume übersetzbar sind. Die Ubersetzung erfolgt dadurch, daß wir das Symbol einer höheren Zeile durch Striche mit dem oder den Symbolen der nächsten Zeile verbinden, durch die das Symbol der höheren Zeile wiedergegeben wird (Figur 3 und 4).
81
(1) (2) (3) (2)
D• 1 D• 1 D
| 1 D 1 1 E
Figur 3
Figur 4
Die Sbamnbäume in Figur 3 und 4 repräsentieren die Reihenfolge der Regelanwendung Da diese Information für die Beschreibung der Konstituentenstruktur irrelevant ist, werden alle Kategoriensymbole, die in verschiedenen Zeilen gleich sind, jeweils nur einmal wiedergegeben. Wir erhalten sowohl aus Figur 3 wie aus Figur 4 den Stamnbaum in Figur 5:
D
E
Figur 5
Da Ableitungen in Form von Ketten aus Kategoriensymbolen oder in Form der Stanmbäume 3 und 4 nur von theoretischem Interesse sind, wollen wir im folgenden nur Repräsentationen wie in Figur 5 verwenden. Wir bleiben darum bei der etwas vereinfachenden Redeweise, daß K S - R e g e l n t u e n t e n s t r u k t u r e n
in
Form
von
Konsti-
S t a m m b ä u m e n
g e n e r i e r e n . Die hier eingeführten KS-Regeln sehen nicht vor, daß den KS-Strukturen Sätze zugeordnet wsrden. Trotzdem werden wir im folgenden allein schon zur Veranschaulichung solche Zuordnungen vornehmen. Sie sind jedoch nicht in der Theorie definiert, sondern erfolgen aufgrund unseres Vorwissens. Wir deuten das dadurch an, daß wir im Stamnbaum Satzteile nur durch punktierte Linien mit Kategoriensymbolen verbinden. Die Zuordnung in der Theorie erfolgt erst durch Lexikon und Lexikonregel. Den durch die Regeln (1) bis (3) generierten KS-Strukturen könnten Sätze wie Der Gärtner bindet die Blumen, Die Studentin liest ein Buch, Der Direktor erwartet seine Gäste usw. zugeordnet werden. Der Stanmbaun in Figur 6, in dem der KS-Struktur ein Satz zugeordnet ist, dient als Beispiel für die Standardform, die wir zu Beschreibung von Satzbaiplänen verwenden wollen.
82
Der
Gärtner
bindet
D
E
die
Blumen
Figur 6
Anhand von Stanrnbäumen können G r u n d b e g r i f f e t u e n t e n s t r u k t u r s y n t a x
der K o n s t i -
definiert wsrden; dabei spielt es
keine Rolle, ob die Stamtibäume durch KS-Regeln generiert oder auf induktivem Wege, z. B. mittels der IC-Analyse (vgl. 2.4.) gewonnen wurden: 1. Alle Satzteile, die im Stammbaum von einen einzigen Knoten dominiert werden, sind K o n s t i t u e n t e n
des Satzes. Konstituenten sind z. B.
bindet die Blumen (daniniert von C), bindet (daainiert von F), die Blumen (dominiert von B). Keine Konstituenten sind z. B. Gärtner bindet oder bindet die, weil es keinen Knoten gibt, der genau diese Satzteile dominiert. Jeder Knoten im Staitmbaum definiert also einen Teil des beschriebenen Satzes als Konstituente. Der ganze Satz ist keine Konstituente (Figur 7).
Figur 7
K
K
2. Die Satzteile, die im Stanmbaum von einem Knoten unmittelbar dominiert werden, sind u n m i t t e l b a r e
K o n s t i t u e n t e n
der durch
diesen Knoten charakterisierten Einheit. So sind der Gärtner und bindet die Blumen unmittelbare Konstituenten des Satzes; die und Blumen sind unmittelbare Konstituenten der Konstituente die Blumen. 3. Die unmittelbaren Konstituenten des Satzes oder einer zusammengesetzten Konstituente bilden eine K o n s t r u k t i o n
. Konstruktionen bilden
also die Konstituenten der Gärtner und bindet die Blumen, der und Gärtner, bindet und die Blumen usw., aber nicht Gärtner bindet oder bindet die. Im Stanmbaum lassen sich Konstruktionen daran erkennen, daß ihre Konstituenten vom gleichen Knoten dominiert werden:
83
s
KONSTR=Konstruktion
K
K
KONSTR
KONSTR
/\
K K KONSTR Figur 8
4. Die Beziehung zwischen einer Konstituente und der größeren Konstituente bzw. dem Satz, von dem sie ein Teil ist, wird als F u n k t i o n
be-
zeichnet. So besteht eine Funktion zwischen der Konstituente der Gärtner und dem Satz oder zwischen der Konstituente die Blumen und der größeren Konstituente bindet die Blumen: S
F=Funktion
Figur 9
Mit Hilfe dieser Funktionen können traditionelle Funktionsbegriffe wie Subjekt, Prädikat, Objekt im Rahmen der KS-Syntax definiert werden. So definiert z. B. die Beziehung zwischen der Gärtner und dem Satz das Subjekt oder die Beziehung zwischen die Blumen und bindet die Blumen das Objekt. 5. Die K a t e g o r i e n s y m b o 1 e
'A', 'B', 'C' usw. geben an, wie
der beschriebene Satz und seine Konstituenten zu klassifizieren sind. Aus dem Stamribaum kann abgelesen werden, daß Der Gärtner bindet die Blumen ein A ist, daß der Gärtner und die Blumen B sind, daß Gärtner und Blumen
E sind usw. 6. Nach ihrer Stellung im Stanmbaum können wir drei Arten von Kategoriensymbolen unterscheiden: (a) Das A n f a n g s s y m b o l 'A' bzw. 'S' wird von keinem anderen Symbol dominiert. Es gibt an, daß die beschriebene Einheit zur Klasse der Sätze gehört. (b) Die Z w i s c h e n s y m b o l e 'B' und 'C' werden von anderen Kategoriensymbolen dominiert und dominieren selbst andere Symbole. Sie klassifizieren Konstituenten, die weiter teilbar sind, d. h.
84 sie geben an, welche Konstruktionstypen in einer Sprache vorkommen. Solche Konstruktionstypen sind z. B. Nominalphrasen aus Artikel und Substantiv oder Verbalphrasen aus Verb und Nominalphrase. Wir bezeichnen sie darum auch als Phrasenklassen. (c) Die E n d s y m b o l e 'D', 'E', 'F', die von anderen Kategoriensymbolen dominiert werden, selbst aber keine Kategoriensymbole dominieren. Sie klassifizieren Konstituenten, die in der Syntax nicht weiter geteilt werden, d. h. sie geben an, zu welchen Wortklassen die Wörter des beschriebenen Satzes gehören. ANFANGSSYMBOL
ZWISCHENSYMBOLE
PK=Phrasenklasse WK=Wortklasse PK
ENDSYMBOLE Figur 10 Zur Form der KS-Regeln vgl. BECHERT u. a. 1973, 46-57 und 95-102, zur KS-Syntax vgl. auch WEBER 1974.
4.4.
Die Satzbaupläne des Deutschen
4.4.1. Liste der Kernsätze Wir geben im folgenden eine Liste von Kernsätzen, von der wir annehmen, daß sie die S a t z b a u p l ä n e
des Deutschen repräsentiert. Die Auszeichnung
eines Satzes als Kernsatz beruht inner auf einer Entscheidung, die nicht nur aus den Eigenschaften des Gegenstandes, sondern auch von den Zielen der Beschreibung her begründet ist. Unsere Aufstellung folgt nicht automatisch aus der Anwendung der syntaktischen Tests noch stürmt sie völlig mit anderen Aufstellungen, z. B. der im DUDEN (1973, 488-489) überein. Sie wurde mit dem Ziel konzipiert, eine einfache und systematische Formulierung der KS-Regeln zu ermöglichen, auf deren Basis dann auch die besonderen oder komplexeren Konstruktionen beschrieben werden können. In der Liste sind die Kernsätze nach Zahl und Art der Satzglieder geordnet. Jeder Satz steht als Beispiel für einen Satzbauplan. Die laufenden Nunmem unterscheiden Satzbaupläne, die Kleinbuchstaben Varianten desselben Satzbauplans. Vor jedem Satz ist zur besseren Orientierung der Bestand an Satzgliedern angegeben. Dabei wird unterschieden zwischen nominalen Satzgliedern (NP), verbalen Satzgliedern (V), präpositionalen Satzgliedern (PP) und adjektivischen Satzgliedern (A) . Nominale Satzglieder, die nicht im Nominativ stehen, erhalten Kasus Indizes, und zwar 'a' für den Akkusativ, 'd' für den Dativ und 'g' für den Genitiv. Begründungen für die Klassifikationen werden erst in den folgenden Abschnitten gegeben.
85 la) lb) 2a) 2b) 2c) 2d) 3 ) 4 ) 5a) 5b) 5c) 6 ) 7a) 7b) 7c) 8 ) 9a) 9b) 10a) 10b) IIa)
NP-V NP-V NP-V-NPa NP-V-NPa NP-V-NPa NP-V-NPa
NP-V-NPd NP-V-NPg
NP-V-PP NP-V-PP NP-V-PP NP-V-NP NP-V-A NP-V-A NP-V-A NP-V-NPd-NPa NP-V-NPa-NPg NP-V-NP a -NPg
NP-V-NPa-NPa NP-V-NPa-NPa NP-V-NPa-PP
IIb) NP-V-NPa-PP 11c) NP-V-NPa-PP lld) NP-V-NPa-PP 12 ) 13 ) 14a) 14b) 15 ) 16 ) 17 ) 18 ) 19 ) 20a) 20b) 21 )
NP-V-NPa-PP NP-V-PP-PP NP-V-NPa-A NP-V-NPa-A NP-V-NP (¿-A NP-V-PP-A NP-V-NPa-A NP-V-NPa-A NP-V-NPg-A
NP-V-PP-A NP-V-PP-A NP-V-NPd-NPa-PP
22 ) NP-V-NPa-PP-PP 23 ) NP-V-NPd-NPa-A 24 ) NP-V-NPd-NPa-A 25 ) NP-V-NPd-PP-A
Der Hund bellt , Es regnet Der Gärtner bindet die Blumen Sie hat eine Tochter Es gibt einen Augenzeugen Er freut sich Der Sohn hilft dem Vater Der Verein gedachte seiner Toten Sie zweifelt an seiner Treue Das Buch liegt auf dem Tisch Er gilt als ein Fachmann Der Gärtner ist der Mörder Die Haare werden grau Es ist spät Die Versammlung dauerte lange Der Vater schenkt dem Kind eine Eisenbahn Der Richter beschuldigt den Angeklagten des Diebstahls Der Abgeordnete enthält sich der Stimme Der Lehrer nennt den Schüler einen Faulpelz Sie lehrt die Kinder das Einmaleins Die Regierung beauftragt eine Kommission mit der Untersuchung Ich hänge das Bild an die Wand Man hält ihn für einen Hochstapler Der Student bezeichnet den Professor als einen Fachidioten Seine Freunde rieten ihm zur Flucht Ich wette mit ihm um ein Bier Er macht dich glücklich Er benimmt sich schlecht Die Nachricht erschien den Leuten unglaubwürdig Wir gehen mit dem Porzellan behutsam um Ich bin meinen Husten los Der Sohn ist seinem Vater ähnlich Der Gärtner ist des Mordes schuldig Der Lehrling ist von seinem Meister abhängig Wir sind in einer Kleinstadt ansässig Die Mutter schnallt dem Kind den Ranzen auf den Rücken Der Käufer einigt sich mit der Firma über den Preis Sie hält ihm die Wohnung sauber Wir sind ihnen diese Gefälligkeit schuldig Sie ist ihm an Fleiß überlegen
4.4.2. Satzglieder, Ergänzungen und Angaben Nach traditioneller Auffassung sind Sätze unmittelbar aus dern
S a t z g l i e -
zusamrengesetzt. Als Satzglieder gelten Einheiten, die als ganze im
Satz verschiebbar sind und als ganze gegeneinander ausgetauscht werden können: Der Der Wer Was Wem
Hund bellt / Bellt der Hund? / Wer bellt? / Der Hund beißt Vater schenkt dem Kind eine Eisenbahn schenkt dem Kind eine Eisenbahn? schenkt der Vater dem Kind? schenkt der Vater eine Eisenbahn?
86 Die
t r a d i t i o n e l l e
G r a m m a t i k
charakterisiert Satzglie-
der in erster Linie nach ihrer Funktion, d. h. nach der Art ihres Beitrags zur Gesamtbedeutung des Satzes, wie sich an Bezeichnungen wie 'Subjekt', 'Prädikat', 'Objekt' usw. erkennen läßt (vgl. 4.1.). Die
K S - S y n t a x
beschreibt Sätze dagegen als Hierarchien von Konstituenten, die nach ihrer Form, d. h. nach Wortklassen und Konstruktionen, charakterisiert werden. Funktionen werden nicht nach Bedeutungskriterien definiert, sondern als TeilGanzes-Beziehungen in der KS-Struktur (vgl. 4.3.). Wenn die traditionelle Satzgliederlehre im Rahmen einer generativen KS-Syntax rekonstruiert und präzisiert werden soll, muß zweierlei geleistet werden: Zum einen sind die Satzglieder als Konstituenten zu beschreiben, zum anderen ist ihre Funktion durch Angabe ihrer Stellung in der KS-Struktur zu rekonstruieren. Dabei ist zu zeigen, daß die wesentlichen traditionellen Unterscheidungen im Rahmen der KS-Syntax exakt beschreibbar sind. Die Beschreibung der Satzbaupläne setzt eine Unterscheidung voraus, die nicht unmittelbar in die Theorie eingeht: die Unterscheidung von w e n d i g e n
S a t z g l i e d e r n ,
und frei hinzugefügten A n g a b e n
.
insbesondere
not-
E r g ä n z u n g e n
Notwendig sind alle Satzglieder
der Kernsätze (1) bis (25). Als Ergänzungen bezeichnen wir Satzglieder, die nicht allen Kernsätzen geneinsam sind und in Abhängigkeit vcm Prädikatsverb (V) nach Art und Zahl variieren, d. h. alle Satzglieder, die in 4.4.1. an dritter und weiterer Stelle stehen, z. B. NP die Blumen in (2a), NP den a a Angeklagten und NP^ des Diebstahls in (9a) oder NP^ ihm, PP an Fleiß und A überlegen in (25). Angaben können zu Kernsätzen frei hinzugefügt werden, z. B.: Der Hund bellt Der Sohn hilft
(laut) (am Morgen) (jeden Tag) (mit Begeisterung) seinem Vater
Angaben werden bei der Bildung von Kernsätzen durch den Deletionstest (vgl. 4.2.) getilgt und gehen darum nicht mehr in die Beschreibung ein. Die Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben ist oft nicht ganz einfach. Der Deletionstest ermöglicht zwar eine erste grobe Unterscheidung, ist aber vielfach nicht zuverlässig. Er erfaßt auch Satzglieder, die zwar fehlen können, die aber gleichwohl in ihrem Vorkamen vcm Prädikatsverb abhängig sind. In dem Satz 1
Wir übernehmen hier Termini aus der Valenztheorie, die davon ausgeht, daß ein Satz sich konstruiert aus einem Prädikatsverb und den von ihm.abhängigen Ergänzungen und Angaben. Ergänzungen sind dort Satzglieder, die nach Art und Zahl vom Verb gefordert werden (einschließlich des Subjekts), Angaben Satzglieder, die unabhängig von der Wahl des Verbs frei hinzugefügt werden können. Vgl. HERINGER 1967, HELBIG/SCHENKEL 1973.
,
87 Er wartet
(auf die Straßenbahn)
kann zwar auf die Straßenbahn fehlen, ohne daß der Satz unkorrekt und sinnlos wird. Trotzdem gehört dieses Satzglied nach unserem Sprachgefühl enger zum Verb als die Angabe auf dem Bahnhof, die ebenfalls fehlen kann: Er wartet
(auf dem Bahnhof)
Durch Substitution des Prädikats läßt sich zeigen, daß auf die Straßenbahn durch warten determiniert wird, auf dem Bahnhof aber nicht:
Er
wartete •arbeitete •schlief •las
auf die
Er
wartete arbeitete schlief las
auf dem Bahnhof
Straßenbahn
Es empfiehlt sich daher, zwischen obligatorischen und fakultativen Ergänzungen zu unterscheiden (vgl. HELBIG/SCHENKEL 1973) .
O b l i g a t o r i s c h e
Ergänzungen können in keinem Fall fehlen, ohne daß der Satz ungramnatisch wird: Sie hat eine Tochter / •sie hat Der Abgeordnete enthält sich der Stimme / *Der Abgeordnete enthält
F a k u l t a t i v e
E r g ä n z u n g e n
hängen in ihrem Vorkamen zwar
van Prädikatsverb ab, können aber fehlen: Die Regierung beauftragt eine Kommission mit der Untersuchung (IIa) Die Regierung beauftragt eine Kommission Seine Freunde rieten ihm zur Flucht (12) / Seine Freunde rieten zur Flucht
Treten in einem Kernsatz fakultative Ergänzungen nicht auf, dann liegt ihm ein anderer, einfacherer Satzbauplan zugrunde. So entspricht der verkürzte Kernsatz (11a) dem Kemsatz (2a), der verkürzte Kernsatz (12) dem Kernsatz (5a) Das gleiche Prädikat ermöglicht vielfach mehrere Satzbaupläne. Vielehe das im einzelnen sind, wird beim Verb im Lexikon beschrieben. Eine Sonderstellung nehmen die Satzglieder es und sich in den Sätzen (1b), (2c), (2d) , (7b), (9b), (14b) und (22) ein. Diese Satzglieder sind nicht substituierbar : •Die Wolke regnet •jemand einen Augenzeugen gibt •Er freut seine Tochter
Das Satzglied sich ist darüber hinaus nicht an die Satzspitze pennutierbar:
88 *Sich freut er *Sich benimmt er schlecht
Da es van Verb abhängt, ob es und sich substituierbar sind und damit zur Satzbedeutung beitragen (vgl.: Es könnt / Das Kind kommt; Er wäscht sieh / Er wäscht das Auto) behandeln wir sie ihrer Form nach hier wie normale Satzglieder und beschreiben ihre Besonderheit erst beim Verb im Lexikon.
4.4.3. Die zugrundeliegende Satzgliedfolge In Übereinstimmung mit der Tradition haben wir angenctrmen, daß Kernsätze als minimale Aussagesätze die geeignete Grundlage zur Beschreibung von Satzbauplänen sind. Es ist jedoch mehrfach vorgeschlagen worden (zuerst von BACH 1962, dt. 1970 und BIERWISCH 1963), KS-Regeln auf der Basis der w o r t s t e l l u n g
N e b e n s a t z -
zu formulieren. Die Diskussion darüber, ob die Satz-
gliedstellung des Aussagesatzes oder die des Nebensatzes im Deutschen zugrunde liegt, ist keineswegs abgeschlossen. Es gibt jedoch wichtige Gründe, den Nebensatz zugrunde zu legen: 1. Bei vielen
z u s a m m e n g e s e t z t e n
V e r b e n
werden im Aus-
sagesatz die beiden Teile des Verbs voneinander getrennt. Im Nebensatz bilden sie ein einziges Wort: Die Sonne geht auf / (daß) die Sonne aufgeht Er macht die Tür zu / (daß) er die Tür zumacht Wir gehen mit dem Porzellan behutsam um / (daß) wir mit dem Porzellan behutsam umgehen
Um das Verb im Aussagesatz als einheitliche Konstituente erfassen zu können, müßte man eine fiktive Wortstellung (z. B. Die Sonne aufgeht, Er zumacht die Tür) annehmen; im Nebensatz kann man von einer Wortstellung ausgehen, die tatsächlich realisiert wird. 2 . M e h r g l i e d r i g e
V e r b f o r m e n
bilden im Nebensatz eine
einheitliche Konstituente, wahrend im Aussagesatz die finite Verbform an zweiter Stelle steht und die infiniten Verbformen ans Satzende treten: Der Gärtner hat die Blumen gebunden / (daß) der Gärtner die Blumen gebunden hat Er soll das Buch gekauft haben / (daß) er das Buch gekauft haben
soll
In Kernsätzen kennen zwar noch keine mehrgliedrigen Verbformen vor. Die Regeln für Satzbaupläne sind jedoch so zu formulieren, daß sie leicht zur Beschreibung komplexerer Strukturen erweitert werden können. 3. Wenn man Verben mit ihren Ergänzungen im Infinitiv
z i t i e r t
(z.B.
89
in Wörterbüchern), steht das Verb wie im Nebensatz am Ende: die Blumen binden / *binden die Blumen dem Kind eine Eisenbahn schenken / *schenken
d£m Kind eine Eisenbahn
Das ist ein Argument dafür, daß die Endstellung des Verbs als neutral zu werten ist, während Anfangsstellung im Fragesatz und Zweitstellung im Aussagesatz einen besonderen Beitrag zur Gesamtbedeutung des Satzes leisten, indem sie die Satzarten 'Fragesatz' und 'Aussagesatz' unterscheiden. Die Verbstellung im Aussagesatz ist also Träger einer zusätzlichen Funktion 'Aussage', während Satzbaupläne gegenüber Funktionen wie 'Aussage', 'Frage', 'Aufforderung' neutral sind. 4. Die n o r m a l e
Satzgliedfolge
ist leichter zu beschrei-
ben, wenn man Verbendstellung zugrunde legt. Geht man davon aus, daß die Satzglieder verschieden eng mit dem Verb verbunden sind, so korrespondiert bei Verbendstellung die Satzgliedfolge mit dem inhaltlichen Zusanmenhang. Freie Angaben sind weniger eng mit dem Verb verbunden als Ergänzungen, Präpositionalergänzungen enger als (oft fakultative) Dativergänzungen, Adjektivergänzungen enger als auf das Mjektiv bezogene Präpositionalergänzungen usw. Bei Zweitstellung des Verbs kann dieser Zusanmenhang nicht abgebildet werden: Der Sohn hilft (jeden Tag) (mit Begeisterung) seinem Vater / (daß) der Sohn (jeden Tag) (mit Begeisterung) seinem Vater hilft Seine Freunde rieten ihm zur Flucht / (daß) seine Freunde ihm zur Flucht rieten Der Lehrling ist von seinem Meister abhängig / (daß) der Lehrling von seinem Meister abhängig ist
Beim Nebensatz legt man sentit eine Satzgliedfolge zugrunde, die einerseits tatsächlich realisiert werden kann, andererseits den Zusanmenhang der Satzglieder mit dem Verb als Folgebeziehung repräsentiert. Auf der Basis des Nebensatzes läßt sich eine 'ideale' (vgl. 3.5.) zugrundeliegende Satzgliedfolge zwanglos in folgendem Schema festlegen: NP
i Subjekt
-
X
> i Angaben
- NP, - NP i
d . a
- NP
g. 2
Ergänzungen
- PP - A
i
V
\
i Prädikatsverb
Das Schema legt nur die zugrundeliegende Reihenfolge fest, in der Satzglieder stehen, wenn sie vorkamen. Es sagt nicht, welche Kombinationen möglich sind und welche nicht. Wir formulieren im folgenden KS-Regeln auf der Grundlage der normalen Satzgliedfolge im Nebensatz. Alle anderen Stellungsmöglichkeiten werden durch Transformationen aus der zugrundeliegenden Satzgliedfolge abgeleitet.
90 4.4.4. Subjekt und Prädikat Zwei Satzglieder sind allen Kernsätzen gareinsam: Die Ncminalphrase im Nominativ am Satzanfang und die finite Form des Verbs, die bei Nebensatzwortstellung am Satzende steht: Der Hund bellt (la) Seine Freunde ihm zur Flucht rieten (12) Der Käufer sich mit der Firma über den Preis einigt
Das
finite
Verb
(22)
strukturiert den Satz, indem es seinen Satzbauplan
festlegt. In keinem Fall kann es getilgt werden, ohne daß aus dem Satz eine ungeordnete Reihe sprachlicher Einheiten wird: *Seine Freunde ihm zur Flucht *Der Käufer sich mit der Firma über den Preis
Durch seine Stellung werden die Satzarten 'Aussagesatz', 'Fragesatz' und 'Nebensatz' unterschieden: Seine Freunde rieten ihm zur Flucht (Aussagesatz) Rieten ihm seine Freunde zur Flucht? (Fragesatz) (Man sagt, daß) seine Freunde ihm zur Flucht rieten.
(Nebensatz)
Im Aussagesatz bleibt es stellungsfest an zweiter Position, während alle anderen Satzglieder an die Satzspitze treten können: Ihm rieten seine Freunde zur Flucht Zur Flucht rieten ihm seine Freunde
Wir bezeichnen dieses Satzglied seiner Form nach als Verb (V) und seiner Funktion nach als P r ä d i k a t s v e r b Die N o m i n a l p h r a s e
im
.
N o m i n a t i v
tritt in Kern-
sätzen inner zu sannen mit dem finiten Verb auf. Sie steht auch dann, wenn sie nichts zur Satzbedeutung beiträgt (vgl. es in (1b), (2c), (7b)). Wie das Verb ist sie konstitutiv für den Satz. Allerdings gibt es Sätze, die sie nicht enthalten: Mich friert Dem Vater wird geholfen
Diese Sätze sind jedoch untypisch für die deutsche Syntax und werden darun nicht als Kernsätze beschrieben, sondern durch Transformationen aus Kernsätzen abgeleitet (vgl. Ich friere nach (1a), Jemand hilft dem Vater nach (3)). Die Ncminalphrase determiniert die Form des finiten Verbs nach Person und Nunerus (Kongruenz): Der Hund bellt (la) / Die Hunde bellen Ich helfe dem Vater / Du hilfst dem Vater / Er hilft dem Vater (3)
91
Sie kann getilgt werden, wenn das finite Verb durch seine Infinitiv- oder Partizipialform substituiert wird. Alle andern Satzglieder bleiben erhalten, z. B.: Der Hund bellt (la) /bellen Der Gärtner die Blumen bindet (2a) / die Blumen binden Der Lehrling von seinem Meister abhängig ist (20a) / von seinem Meister abhängig sein
Mit der Tilgung der NP hört die Konstruktion jedoch auf, ein Satz zu sein. Das Satzglied, das zusarmen mit dem Verb den Satz konstituiert, ist seiner Form nach eine Nominalphrase im Nominativ (NP); seiner Funktion nach wird es als S u b j e k t
bezeichnet.
Die Satzglieder, die nicht Subjekt sind, werden zu einer Konstituente zusammengefaßt, die das Verb als notwendigen Bestandteil enthält und nach der Form als V e r b a l p h r a s e 'Prädikat
(VP) bezeichnet wird. Ihre Funktion wird
(im weiteren Sinne) ' oder 'Prädikatsverband1 (DUDEN 1973,
479) genannt. Die Rechtfertigung für die Konstituente VP liegt einmal darin, daß sie nicht nur in Verbindung mit dem Subjekt den Satz konstituiert, sondern auch - als Infinitiv- oder Partizipialkonstruktion - in anderen Konstruktionen vorkonmt, zum andern in der Tatsache, daß das Verb die in der Verbalphrase zusammengefaßten Satzglieder hinsichtlich ihres Vorkommens, ihrer Form und ihrer Funktion determiniert, z. B.: Der Hund bellt *Der Hund eine Kommission mit der Untersuchung bellt Der Abgeordnete sich der Stimme enthält *Der Abgeordnete dem Parlament eine Stimme enthält
Die Teilung des Satzes in NP und VP mit den Funktionen Subjekt und Prädikat wird nicht nur in der generativen KS-Syntax allgemein vorgencnmen, sondern ist charakteristisch für die gesamte traditionelle Granmatik. Im Gegensatz dazu hält es die V a l e n z t h e o r i e
, die im Rahmen einer Dependenz-
syntax entwickelt wurde (vgl. TESNIERE 1965, HERINGER 1967, HELBIG/SCHENKEL 1973) nicht für begründet, daß die Subjekt-NP herausgehoben und der VP gegenübergestellt wird. Sie ninmt an, daß das Verb den Satz konstituiert und alle Satzglieder einschließlich des Subjekts als Ergänzungen von der 'Valenz' des Verbs gefordert und von ihm abhängig sind. Da die KS-Syntax jedoch keine Abhängigkeitsbeziehungen, sondern Teil-Ganzes-Beziehungen beschreibt, ist die Valenztheorie nicht notwendig ein Argument gegen die hier eingeführten Konstituenten NP und VP. Die Zusammensetzung des Satzes aus den Konstituenten NP und VP wird durch folgende KS-Regel beschrieben:
92 (KS-R 1)
S
> NP + VP
Die KS-Regel erzeugt die Konstituentenstruktur von Figur 11. Die Dreiecke deuten an, daß die Konstituenten weiter teilbar sind, die Teilungen aber nicht ausgeführt werden:
Der Hund Es Der Lehrer
bellt (la) einen Augenzeugen den Schüler einen
gibt (2c) Faulpelz nennt
(10a)
Figur 11
Anhand der KS-Struktur können die syntaktischen Funktionen 'Subjekt' und 'Prädikat' als Relationen definiert werden. Das S u b j e k t die unmittelbar von S dominiert wird. Das P r ä d i k a t
ist die NP,
ist die VP, die
unmittelbar von S daniniert wird. In technischer Schreibweise werden diese Funktionen folgendermaßen repräsentiert: (F 1) (F 2)
[NP, S] [VP, S]
Subjekt Prädikat
F=Funktion
4.4.5. Prädikate ohne Ergänzung Die Kernsätze (1a) und (1b) bilden die VP allein aus dem Verb. Sie werden durch die KS-Regel (2a) beschrieben, die die KS-Struktur von Figur 12 ableitet und die Definition der Funktion P r ä d i k a t s v e r b (KS-R 2a)
VP —
(F 3)
Prädikat
VP |/j> V
V
ermöglicht.
Prädikatsverb
t
[V, VP]
bellt regnet
(la) (lb)
Figur 12
4.4.6. Prädikate mit einer Ergänzung In den Kernsätzen (2) bis (7) enthält die VP neben dan Verb ein weiteres Satzglied, das seiner Form nach entweder eine Naninalphrase (NP), eine Präpositionalphrase (PP) oder eine .Adjektivphrase (AP) ist. Die NP unterscheiden sich in ihrem K a s u s
, der van Verb determi-
niert wird. So verlangen die Verben bindet, hat, gibt und freut in (2a-d) einen Akkusativ, hilft in (3) verlangt einen Dativ, gedachte in (4) einen
93 Genitiv und ist in (6) einen Nominativ. Die Kasus sind nicht gegeneinander substituierbar: *Der *Der *Der *Der
Gärtner -den Blumen b i n d e t (Dativ) Sohn den V a t e r hilft (Akkusativ) V e r e i n seine Toten g e d a c h t e (Nominativ) Gärtner d e s M ö r d e r s ist (Genitiv)
Sie leisten keinen Beitrag zur Satzbedeutung, der von dem des Verbs unterscheidbar wäre. Die traditionelle Unterscheidung der Funktionen Akkusativobjekt, Dativobjekt, Genitivobjekt und Prädikatsnomen bzw. Gleichsetzungsncminativ
(DUDEN 1 9 7 3 ,
503)
ist darum für die Beschreibung der Satzbaupläne
nicht unentbehrlich. Kasusunterscheidungen sind in einer KS-Syntax nur schwer und um den Preis großer Kompliziertheit darzustellen. Wir führen sie erst im Lexikon in Verbindung mit dem Verb ein und behandeln alle NP in der VP als eine einheitliche Form mit der Funktion einer zung
N o m i n a l e r g ä n -
des Verbs.
Auch andere Unterschiede zwischen den NP werden in der KS-Syntax noch nicht beschrieben. Nur die NP in (2a) kann als Subjekt eines Passivsatzes auftreten: Die Blumen w e r d e n von dem Gärtner g e b u n d e n *Eine Tochter wird von ihr gehabt *Der Vater wird von dem Sohn g e h o l f e n
Die NP von (2d) ist nicht substituierbar. Die NP in (6) steht wie das Subjekt im Nominativ. Sie kommt im wesentlichen nach den Verben sein, bleiben und werden vor und ist gegen Adjektive, aber nicht - wie das Subjekt - gegen Pronomina substituierbar: Der Gärtner ist m o r d l u s t i g *Der Gärtner ist er Er ist der M ö r d e r Der Gärtner bleibt ein M ö r d e r
Traditionelle Granmatiken sehen in dieser NP vielfach das eigentliche Prädikat, das durch die 'Kopula' sein mit dem Subjekt verbunden ist. Der (1973,
503)
DUDEN
sieht in ihr zwar eine Ergänzung des Prädikats, nirrmt aber an,
daß das Prädikat "inhaltlich neutralisiert" sei. Wir gehen hier davon aus, daß diese vom Verb determinierten Funktionsunterschiede am besten erst im Lexikon beim Verb beschrieben werden. Prädikate mit einer Nominalergänzung werden durch folgende KS-Regel eingeführt: (KS-R 2b)
VP
> NP + V
Sie bildet die KS-Struktur von Figur 13 und erlaubt die Definitionen der Funktion (F 4):
94 VP
Nominalergä
Prädikatsverb
NP
V
die Blumen dem Vater seiner Toten der Mörder Figur (F 4)
bindet hilft gedachte ist
(2a) (3) (4) (6)
13 [NP, V P ]
Nominalergänzung
Die Verbalphrase der Kemsätze (5a) und (5b) enthält die Präpositionalphrasen (PP) an seiner Treue und auf den Tisch. Sie bestehen aus einer Präposition und einer NP, deren Kasus von der Präposition determiniert wird. Die beiden PP sind nicht in gleicher Weise von Verb bestürmt. Die Präposition an in (5a) ist nicht durch andere Präpositionen substituierbar, die Präposition auf in (5b) ist durch Präpositionen substituierbar, die ebenfalls ein räumliches Verhältnis ausdrücken: •sie zweifelt auf seiner Treue *Sie zweifelt neben seiner Treue Das Buch liegt unter d e m Tisch Das Buch liegt neben dem Tisch
Die Substituierbarkeit der Präposition liefert das wichtigste Kriterium dafür, wie der
DUDEN
(1973,
483-84
und
498-506)
Raumergänzungen zu unterscheiden. Bei ten
zwischen Präpositionalobjekten und P r ä p o s i t i o n a l o b j e k -
leistet die Präposition keinen vcn dem des Verbs unterscheidbaren
Beitrag zur Satzbedeutung. Bei
R a u m e r g ä n z u n g e n
differenziert
die Präposition zusätzlich das räumliche Verhältnis. Der Unterschied zwischen beiden PP wird im Lexikon beim Verb beschrieben. Wir nehmen hier eine einheitliche Funktion
1
P r ä p o s i t i o n a l e r g ä n z u n g
1
an.
Die Konstruktion als ein Fachmann in (5c) ist wie eine PP aus dem Wort als und einer NP aufgebaut und wird von Verb gilt determiniert. Der Kasus der NP wird jedoch nicht von als, sondern direkt van Verb bestimmt, wie der Vergleich mit (11d) zeigt: Der Student den Professor als Fachidioten
(Akkusativ)
bezeichnete
Die Graitmatiken sind sich nicht einig, ob sie als als Präposition ohne Kasusforderung (so z. B. HELBIG/BUSCHA 1974, 367) oder als Konjunktion (so DUDEN
95 1973, 320) klassifizieren sollen. Das gleiche gilt für wie, z. B. in Er benimmt sioh wie ein Dummkopf. Um keinen neuen Satzgliedtyp ansetzen zu müssen, klassifizieren wir Konstruktionen mit als und wie als PP. Prädikate mit Präpositionalergänzungen werden durch folgende KS-Regel eingeführt: (KS-R 2c)
VP
> PP + V
Die Regel bildet die KS-Struktur von Figur 14 und erlaubt die Definition der Funktion (F 5) . VP Präpositi ergänzung
an ~s~elner "Treue auf dem Tisch als ein Fachmann Figur (F 5)
zweifelt liegt gilt
(5a) (5b) (5c)
14 [PP, VP]
Prapositionalergänzung
Die Verbalphrasen in den Sätzen (7a) und (7b) enthalten die Adjektive grau und spät. Adjektive treten im wesentlichen bei den Verben sein, werden und bleiben auf und sind durch NP im Ncnunativ substituierbar. Die traditionelle Graimnatik faßt sie als Prädikate (prädikative Adjektive) auf, die durch die 'Kopula' sein auf das Subjekt bezogen sind. Der DUDEN (1973, 505) klassifiziert sie zusanmen mit anderen Konstruktionen (z. B. Er tritt auf wie ein Baron) als 'Artergänzungen'. Wir bezeichnen sie in Analogie zu den Ncminalund Präpositionalergänzungen als
A d j e k t i v e r g ä n z u n g e n
.
Als Adjektivergänzungen klassifizieren wir auch notwendige adjektivische Satzglieder, die sich nicht auf das Subjekt (vgl. die Haare grau sind / die grauen Haare), sondern auf das Prädikatsverb beziehen: Die Versammlung lange dauerte / Die lange Dauer der Versammlung Die Aktien stehen schlecht / Der schlechte Stand der Aktien
Die traditionelle Granmatik unterschied konsequent zwischen prädikativen Adjektiven, die sich auf das Subjekt, und Adverbien, die sich auf das Prädikatsverb beziehen. Anders als im lateinischen. Englischen oder Französischen entspricht diesem Funktionsunterschied jedoch kein Forrnunterschied. Das Mädchen ist schön The girl is beautiful
/ Das Mädchen singt schön / The girl sings beautifully
96
Da der Funktionsunterschied von Verb abhängt, wird er erst im Lexikon beschrieben. Die Form lange (mit -e am Ende) in Die Versammlung dauerte lange ist allerdings ein erstarrtes Relikt eines früher auch im Deutschen vorhandenen Fonnunterschieds. Der DUDEN (1973, 505) faßt NP, PP und Mjektive nach dem bezeichneten Sachverhalt zu einer Funktion "Zeitergänzung" zusanmen (vgl.: Die Versammlung dauerte lange / bis Mitternacht / mehrere Stunden). Diese Klassifikation liegt jedoch quer zu unserer Klassifikation nach der Form und maß hier unberücksichtigt bleiben. In den Kernsätzen (17) bis (20b) und (24) bis (25) treten Satzglieder auf, die nicht vom Verb, sondern van Adjektiv bestinmt werden. Sie werden nicht von einer Substitution des Verbs, sondern nur von einer Substitution des Adjektivs betroffen, z. B.:
I
seinem Vater ähnlich
}
von seinem Vater abhängig l groß j
ist
Diese Adjektive bilden zusanmen mit potentiellen weiteren Satzgliedern eine eigene, als A d j e k t i v p h r a s e
(AP) bezeichnete Konstituente, die
die Funktion einer Adjektivergänzung (im weiteren Sinne) hat. Adjektivergänzungen werden durch folgende KS-Regel eingeführt, die die KS-Struktur in Figur 15 bildet und die Definition der Funktion (F 6) ermöglicht: (KS-R 2d)
VP
> AP + V
VP
V
AP
i i i
grau lange seinem Vater ähnlich des Mordes schuldig
werden dauerte ist ist
(7 a) (7c) (18) (19)
Figur 15
(F 6)
[AP, VP]
Adjektivergänzung
(im weiteren Sinne)
4.4.7. Prädikate mit mehreren Ergänzungen Die Kernsätze (8) bis (16) enthalten zwei vcm Verb determinierte Ergänzungen, die Kernsätze (21) bis (23) deren drei. Es können NP, PP und AP vor; neue Formen treten nicht auf. Die Ergänzungen sind geordnet. Wir gehen von einer "normalen" Satzgliedstellung aus, bei der AP irrmer näher am Verb als NP und PP stehen und PP näher am Verb als NP (vgl. 4.4.3.). Sätze mit anderer
97
Reihenfolge der Satzglieder (z. B. Die Regierung beauftragt mit der Untersuahung eine Kommission, Der Gärtner ist schuldig des Mordes) werden durch Transformationen aus den Kernsätzen abgeleitet. Hinsichtlich der Stellung der Ergänzungen unterscheiden wir von rechts nach links, d. h. vcm Verb ausgehend, eine erste, zweite und dritte P o s i t i o n . Die Kernsätze (8) bis (10b), die in der ersten Position eine NP haben, besitzen auch in der zweiten Position eine NP. Drei Ncminalergänzungen kommen nicht vor. Steht die erste NP im Akkusativ, dann ist die zweite NP in den rreisten Fällen ein Dativ (8). Nur das Verb lehren (10b) hat zwei Akkusativobjekte. Eine erste NP im Genitiv steht neben einer zweiten NP im Akkusativ (9). Die erste NP im Akkusativ in (10a), die neben einer zweiten NP im Akkusativ steht, hat eine ähnliche Funktion wie die Ncminalergänzung im Ncminativ in (6). Sie steht nach dem Verb nennen und einigen anderen Verben ähnlicher Bedeutung, bezieht sich auf das Akkusativobjekt und ist gegen Adjektive, aber nicht gegen Pronomina substituierbar: Der Lehrer den Schüler einen Faulpelz nennt Der Schüler ein Faulpelz ist Der Lehrer den Schüler duiran nennt *Der Lehrer den Schüler ihn nennt
(10a)
Der DUDEN (1973, 514) bezeichnet diese Ergänzung als akkusativ
G l e i c h s e t z u n g s
. Eine ähnliche Funktion haben auch die PP mit für und
als in (11c) und (11d). Prädikate mit zwei Ncminalergänzungen werden durch die KS-Fegel (2e) abgeleitet und haben die KS-Struktur von Figur 16: (KS-R 2e)
VP
> NP + NP + V VP
NP ¿i ^ dem Kind den Angeklagten den Schüler
NP c eine Eisenbahn dés Diebstahls einen Faulpelz
V
I I schenkt beschuldigt nennt
(8) (9a) (10a)
Figur 16
Die Kernsätze (11) bis (13) haben in erster Position eine PP und in zweiter Position einfe NP im Akkusativ (11), eine NP im Dativ (12) oder eine zweite PP (13). Sie werden durch folgende KS-Regeln abgeleitet und bilden die KSStrukturen von Figur 17 und 18:
98 (KS-R 2f) (KS-R 2g)
eine ihm
VP VP
> NP + PP + V > pp + pp + V
mit der Untersuchung zur Flucht
Kommission
beauftragte rieten
(IIa) (12)
Figur 17
um ein Bier
wette
(13)
Figur 18
Die Kernsätze (14) bis (16) haben in der ersten Position eine AP (die nur aus dem Adjektiv besteht) und in der zweiten Position eine NP im Akkusativ (14), eine NP im Dativ (15) oder eine PP (16). Diese Ergänzungen sind vom Verb determiniert und nicht mit denen in (17) bis (20) zu verwechseln, die von Adjektiv bestimmt werden, wie folgende Substitutionen zeigen: Er dich glücklich macht (14a) / *Er dich glücklich ist / Er glücklich ist Er seinem Vater ähnlich ist (18) / *Er seinem Vater ähnlich macht / Er ihn seinem Vater ähnlich macht
Die Ergänzungen werden durch die KS-Regeln (2h-i) abgeleitet und bilden die KS-Strukturen in Figur 19 und 20: (KS-R 2h) (KS-R 21)
Vp
VP
> NP + AP + V > PP + AP + V VP
glücklich seinem Vater ähnlich unglaubwürdig
macht macht erschien
(14a) (15
behutsam
umgehen
(16)
Figur 19
mit dem Porzellan Figur 20
99
Die Kernsätze (21) bis (23) haben drei Ergänzungen. Es treten die Konstituenten (von rechts nach links) PP, NP im Akkusativ, NP im Dativ (21), PP, PP, NP im Akkusativ (22) und AP, NP im Akkusativ und NP im Dativ (23) auf. Prädikate mit drei Ergänzungen sind selten und in ihren Kombinationsmöglichkeiten beschränkt. Die NP im Akkusativ sich in (22) ist nicht substituierbar und bietet keinen selbständigen Beitrag zur Satzbedeutung. Die PP über den Preis ist fakultativ. Die NP im Dativ in (21) dem Kind und in (23) ihm ist eine fakultative Ergänzung. Sie wird nicht allein van Verb, sondern mit von der PP auf den Rücken bzw. der NP die Wohnung determiniert, wie folgende Substitutionen zeigen: Die Mutter dem Kind den Ranzen auf den Rücken schnallt (21) Die Mutter den Ranzen auf den Rücken des Kindes schnallt *Die Mutter dem Fahrrad den Ranzen auf den Gepäckträger schnallt Sie ihm die Wohnung sauber hält (23) Sie seine Wohnung sauber hält *Er dem Gewehr das Pulver trocken hält Er das Pulver des Gewehrs trocken hält
Die NP im Dativ können nur auftreten, wenn sie Lebewesen bezeichnen und wenn die PP (auf den Rücken) oder die NP (die Wohnung) einen Teil dieses Lebewesens oder seiner Umgebung bezeichnen. Sie sind also durch eine Teil-Ganzes-Beziehung zu einem anderen Satzglied determiniert. Andererseits können sie nicht einfach transformationeil aus Genitivattributen wie des Kindes oder Possessivpronatten wie seine abgeleitet werden, weil durch sie zusätzlich mit ausgedrückt wird, daß sich die Handlung oder das Ereignis, die durch das Verb bezeichnet werden, auf dieses Lebewesen richten. Der DUDEN (1973, 521-24) bezeichnet diese NP im Dativ als P e r t i n e n z d a t i v
. Sie setzt be-
sondere Satzbaupläne mit Pertinenzdativ an, die sich allerdings - außer (21) und (23) - ihrer Form nach mit anderen Kernsätzen decken (vgl. Die Hand dem Kind blutet mit (3), Er ihr die Wangen streichelt mit (8), Ich meinem Freund auf die Schulter klopfe mit (12)), so daß sie nicht gesondert aufgeführt zu werden brauchen. Die doppelte Determination kann durch KS-Regeln nicht beschrieben werden. Vfenn wir den Pertinenzdativ als Ncminalergänzung klassifizieren, müssen wir seine Bestiirmung durch ein weiteres Satzglied vernachlässigen. Wegen der Besonderheiten der genannten Konstruktionen könnte man die Auffassung vertreten, daß Prädikate mit drei Ergänzungen in Kernsätzen nicht vorkamen und unsere Beispiele anders zu analysieren sind. Wir schließen uns dieser Auffassung jedoch nicht an und formulieren folgende KS-Regeln:
100 (KS-R 2j) (KS-R 2k) (KS-R 21)
VP VP VP
> NP + NP + PP + V > NP + PP + PP + V > NP + NP + AP + V
Die Regeln leiten die KS-Strukturen in Figur 22 bis 23 ab: VP
L "_-». L i* dem Kind den Ranzen
auf den Rücken
schnallt
(21)
Figur 21
mit der Firma
über den Preis
einigt
(22)
hält
(23)
Figur 22
Figur 23
Nach den in Abschnitt 4.3. vorgestellten Konventionen werden die KS-Regeln (2a-l) zu einer einzigen KS-Regel zusanmengefaßt, die die KS-Strukturen der VP vollständig beschreibt: (NP)
(KS-R 2) VP
— >
NP PP
(
, f (NP) +
NPÌ,
) +V
AP
PP. III
II
Die Regel ist ziemlich kompliziert, weil sie genau die KS-Strukturen generiert, die im Deutschen vorkamen. Eine einfachere Formulierung, z. B. in (KS-R 2'), (KS-R 2')
VP
>
( ( (NP) +
NP PP AP
)
+V
würde zwar auch alle vorkeimenden Strukturen erzeugen. Sie würde aber darüber hinaus Strukturen ableiten, die nicht auftreten (z. B. die Strukturen in Figur 24 bis 26) und wäre darum inadäquat.
101 *VP PP
*VP
NP
V
NP
Figur 24
NP
*VP NP
V
NP
Figur 25
PP
AP
V
Figur 26
Man kann sich das Verständnis der Regel (KS-R 2) erleichtern, wenn man sie von rechts nach links liest: In Position 0 steht notwendig das Verb. Position I kann durch NP, PP oder AP besetzt sein. Die Besetzung der Position II hängt davon ab, wie I besetzt ist. Eine NP in Position I kann nur eine NP in Position II bei sich haben. Eine PP in Position I kann eine NP oder eine PP in Position II und eine weitere NP in Position III neben sich haben. Eine AP kann nur in Position I stehen und nur ein oder zwei NP in Position II und III oder eine PP in Position II neben sich haben. 4.4.8. Die Ergänzungen des Mjektivs Ergänzungen kamen nur bei relativ wenigen Adjektiven vor. In erster Linie treten als Ergänzungen des Mjektivs NP im Dativ (18), NP im Genitiv (19) und PP (20a, 20b) auf, die wie die PP beim Verb nach der Substituierbarkeit der Präposition in Präpositionalobjekte (20a) und Raumergänzungen (20b) unterteilt werden können. Die Satzbaupläne (24) und (25), in denen das Adjektiv als zweite Ergänzung eine NP besitzt, werden sehr selten genutzt. Folgende KS-Regeln führen die Konstituenten der AP ein: (KS-R (KS-R (KS-R (KS-R (KS-R
3a) 3b) 3c) 3d) 3e)
AP AP AP AP AP
> > > > >
A NP PP NP NP
+ + + +
A A NP + A PP + A
Sie werden so zusammengefaßt: (KS-R 3)
AP
( (NP) + ("NP]) + A
(PP/ Die Regel leitet die KS-Strukturen in Figur 27 bis 31 ab: AP
grau glücklich unglaubwürdig behutsam sauber Figur 27
AP
(7a) (14a) (15) (16) (23)
meinen Husten seinem Vater des Mordes
Figur 28
los ähnlich schuldig
(17) (18) (19)
102
abhängig ansässig
von seinem Meister in einet Kleinstadt
(20a) (20b)
Figur 29
AP
ihnen
diese Gefälligkeit
schuldig
(24)
Figur 30 AP
npA
< \ / V l » ihm
^
——A i l i
an Fleiß
überlegen
(25)
Figur 31
Anhand der KS-Strukturen können folgende Funktionen definiert werden: (F 7) (F 8) (F 9)
[A, AP ] [NP, AP] [PP, AP]
Adjektivergänzung im engeren Sinne Nominalergänzung des Adjektivs Präpositionalergänzung des Adjektivs
4.4.9. Die Konstituenten der Nominal- und Präpositionalphrase Mit den KS-Regeln (1) bis (3) sind die Satzbaupläne an sich vollständig beschrieben, da die innere Struktur der NP und PP für ihre Unterscheidung nicht relevant ist. Um die Kernsätze jedoch bis zur Ebene der
W o r t k l a s s e n
analysieren zu können, formulieren wir noch eine KS-Regel für die NP und die PP. Die NP besteht in allen Kemsätzen aus einem Artikelwort und einem Substantiv (der Hund, die Blumen, einen Augenzeugen usw.) oder aus einem Pronomen (er, sie, es usw.). Welche Wörter zur Klasse der Artikelwörter (ART), zur Klasse der Substantive (N) oder zur Klasse der Prancmina (PRO) gehören, wird erst später behandelt. Ebenso werden die artikellosen Substantive aus der Beschreibung noch ausgeklannert. Die KS-Struktur der NP kann scmit durch folgende Regel beschrieben werden:
103 (KS-R 4)
NP
/ART + Nl [PRO J
Sie erzeugt die in Figur 32 und 33 dargestellte KS-Struktur. Die Definition von Funktionen innerhalb der minimalen NP ist zwar möglich, aber nicht üblich. NP ART' l I I der die
"N i i I Hund B1umen Augenzeugen
Figur 32
PRO I l 1 es sie er Figur 33
Die PP besteht aus der Präposition (PRSP) und einer NP {an seiner Treue, auf den Tisch, für einen Hochstapler usw.). Die ganze PP kann aber auch durch ein einzelnes Wort substituiert werden, das wir zur Klasse der Pronominaladverbien (PA) rechnen: Sie an seiner Treue / daran zweifelt Das Buch auf dem Tisch / dort liegt Man ihn für einen Hochstapler / dafür hält Die PP wird durch die KS-Regel (5) beschrieben. Sie erzeugt in Verbindung mit Regel (4) z. B. die KS-Strukturen in Figur 34 und 35. (KS-R 5)
pp
— >
fPRÄP + NPI \PA } PP PA
Treue Tisch Hochstapler Figur 34
daran dort dafür Figur 35
Die Klassifikation der Satzbaupläne orientiert sich in erster Linie an DUDEN 1973, 478-528. Andere, z. T. erheblich abweichende Klassifikationsvorschläge finden sich in ADM0NI 1962 und 1974, BRINKMANN 1958, ERBEN 1972, 257-267, HELBIG/BUSCHA 1974, 548-558. Zur Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben vgl. HELBIG/SCHENKEL 1973, 24-49; weitere Gesichtspunkte im Rahmen der Valenztheorie bieten HERINGER 1967 und ANDRESEN 1973. Zur Klassifikation von Präpositionalergänzungen vgl. HERINGER 1968, zum Pertinenzdativ vgl. ISAÖENKO 1965 und V. POLENZ 1969.
104
4.5.
Theorie der Satzbaupläne
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir zur Ableitung der Satzbaupläne des Deutschen folgende KS-Regeln formuliert: (KS-R 1)
S
NP + VP
>
(KS-R 2) VP
>
(
((NP)
+
(NP)
l't
+
((NP)
+
(NP) V NP {:PP NP PP
(KS-R 3)
AP
>
(KS-R 4)
NP
>
/ART [PRO
(KS-R 5)
PP
>
FPRÄP + NP \PA
+
+ NP ) + PP ) + V ) + AP
) +A
1}
Diese KS-Regeln sind als T h e o r i e
der
S a t z b a u p l ä n e
auf-
zufassen (vgl. 2.3.). Bei ihrer Formulierung haben wir Begriffe der traditionellen Granmatik, Testverfahren des Strukturalismus und Unterscheidungen aus der Valenztheorie mit herangezogen. Sie dienten als heuristische Hilfsmittel, als Methoden zur Aufstellung der Theorie (vgl. 2.4.), sind aber nur zum Teil, oft in modifizierter Form, in die Theorie selbst eingegangen. Nachdem die Theorie vorliegt, können wir eine ganze Reihe von Begriffen, die wir bisher im alltagssprachlichen und (im Verhältnis zur TG) vortheoretisehen Sinne gebraucht haben, nun im Rahmen der Theorie exakt definieren. Die Exaktheit der Definition sagt allerdings noch nichts über ihre Angemessenheit, die sich nur im Vergleich mit anderen Theorien, z. B. der traditionellen, und bei der Praxis der Beschreibung zeigt. Wir glauben allerdings, daß man mit den formulierten KS-Regeln gute Beschreibungen machen kann. 1. Die Theorie geht aus von dem Anfängssymbol 'S' und unterscheidet folgende P h r a s e n k l a s s e n
(PK) (vgl. 4.3.), die durch die in Klammern
angegebenen KS-Regeln hinsichtlich ihrer Form, d. h. ihrer internen Struktur bzw. ihrer Zusanmensetzung aus Wortklassen definiert werden: (PK (PK (PK (PK
1) 2) 3) 4)
Nominalphrasen (NP) Verbalphrasen (VP) Adjektivphrasen (AP) Präpositionalphrasen
(PP)
(KS-R (KS-R (KS-R (KS-R
2. Die Theorie unterscheidet sieben W o r t k l a s s e n
4) 2) 3) 5)
und definiert sie
hinsichtlich ihrer Stellung in der KS-Struktur. Eine Definition hinsichtlich ihrer internen Struktur ist nicht möglich, da Wörter in der Syntax nicht
105
weiter geteilt werden. Eine Definition durch Aufzählung der Elemente der Wortklassen oder durch Beschreibung ihrer Eigenschaften ist Aufgabe des Lexikons der TG. Als Wortklassen werden durch die Theorie definiert: (WK (WK (WK (WK (WK (WK (WK
Pronomina (PRO) Artikel (ART) Substantive (N) Präpositionen (PRÄP) Pronominaladverbien (PA) Adjektive (A) Verben (V)
1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)
(KS-R (KS-R (KS-R (KS-R (KS-R (KS-R (KS-R
4) 4) 4) 5) 5) 3) 2)
Die Theorie unterscheidet aufgrund der Relation von Konstituenten zu anderen Konstituenten mindestens neun F u n k t i o n e n : (F (F (F (F (F (F (F (F (F
1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
[NP, S ] [VP, s ] [V, VP ] [NP, VP] [PP, VP] [AP, VP] [A, AP ] [NP, AP] [PP, AP]
Subjekt Prädikat Prädikatsverb Nominalergänzung Präpositionalergänzung Adjektivergänzung im weiteren Sinne Adjektivergänzung im engeren Sinne Nominalergänzung des Adjektivs Präpositionalergänzung des Adjektivs
Diese Funktionen definieren die zentralen traditionellen Funktionsbegriffe. Der Hauptunterschied besteht darin, daß die Kasus der Ncminalergänzungen nicht erfaßt werden. Wir sehen darin keinen Nachteil, weil die Kasus keine vcm Verb unabhängige Funktion haben und eleganter über das Lexikon eingeführt werden können. Nicht beschrieben werden auch Unterscheidungen, die nicht nach der Form, sondern nur nach dem bezeichneten Sachverhalt definierbar sind, z. B. "Raumergänzung", "Zeitergänzung". Sie sind jedoch problematisch, weil sie nur unter Verzicht auf ein einheitliches Klassifikationskriterium möglich sind. Die Theorie ermöglicht die exakte Definition der Begriffe zung' , 'Ergänzung
des
1
Adjektivs'
Ergänund
'Satz
g 1 ie d ' : (F 3-5)
[
, VP]
Ergänzung
(F 8-9)
fNP]
(F 1, 3-5, 7-9)
[NP, S] oder [
AP] Ergänzung des Adjektivs
, VPj oder [
, AP] Satzglied
Die Definitionen tragen der Tatsache Rechnung, daß diese Begriffe keine Formbegriffe
, sondern F u n k t i o n s b e g r i f f e
sind.
106 Auch der Begriff 'Satzglied' ist also ein Funktionsbegriff. Er kann im Rahmen der Theorie jedoch nicht einheitlich, scxidern nur durch Aufzählung verschiedener Funktionen definiert werden. Als ganze im Satz verschiebbar sind Konstituenten auf unterschiedlichen Ebenen der KS-Struktur. 5. In der Theorie ist der Begriff des
S a t z b a u p l a n s
zu definieren
als eine KS-Struktur, die durch die KS-Regeln (1) bis (3) abgeleitet wird. Satzbaipläne sind z. B. die Strukturen in Figur 36 bis 38, aber nicht in die Figur 39, die durch die KS-Regeln nicht ableitbar ist. s
s NP
I
vp
V
NP
Figur 36 S
V
*S
NP^'"""'
NP AP
PP
PP
Figur 37
VP
/ AP K
V A
PP
Figur 38
I
AP
PP A
V
PP
F i g u r 39
6. Auch der Begriff des
K e r n s a t z e s
kann in der Theorie exakt de-
finiert werden: Kernsätze sind Sätze, deren zugrundeliegende KS-Struktur durch die Regeln (1) bis (5) vollständig abgeleitet wird. Den Satzbauplänen in Figur 36 bis 39 entsprechen z. B. die Kernsätze in Figur 40 bis 42: s
I 1
Es Figur 4 0
s
I i
regnet
I
I i
Seine
I i
Freunde
F i g u r 41
PRO
PA
ihm
dazu
| !
| !
I
I i
rieten
107 s
V
ART
PRÄP
NP ART
Der
Lehrling von seinem
N Meister
abhängig
ist
Figur 42
4.6.
Aufgaben
1. Ermitteln Sie mit Hilfe der Tests (4.2.) die in dem folgenden Text enthaltenen Kernsätze. Stellen Sie sie in einer Liste zusammen und versehen Sie jeden Satz mit der Nunmer, die der nach dem gleichen Satzbauplan gebildete Satz in 4.4.1. hat. Als wir den Eisberg rammten, gab es eine kleine Erschütterung. Die Stewards gingen von Kabine zu Kabine, um die Passagiere an Deck zu rufen. Dies geschah kurz nach 22 Uhr. Wo sich die Passagiere meldeten, wurde ihnen gesagt, sie sollten die Schwimmwesten anlegen. Es wurde kein Alarm gegeben und es entstand auch keine Verwirrung. Alles ging mit großer Ruhe und geräuschlos vor sich. Die Passagiere, die einmal an Deck waren, erhielten keine Erlaubnis, wieder nach unten zu gehen. Ein Teil der Besatzung begann, die Rettungsboote auszuschwenken und sie hinabzufieren. Es war eine schreckliche Menge an Tauen da, die sich verwirrten. (Snyder/Morris (eds.): Hier hielt die Welt den Atem an, München 1962, 79) 2. Zeigen Sie an folgenden Aufgaben, daß sie mit KS-Regeln und KS-Strukturen formal umgehen können: a. Welche der unten angegebenen Regeln und Regelfolgen sind rekursiv? (1) A (2) A (3) A C (4) A C
> > > > > >
B B B D B D
+ + + + + +
(C) (A) C (A) C (B)
b. Wie werden die folgenden Regeln zusammengefaßt? (1) A — > B A > B + C A > D A > D + E + F
(2) K — > L K > L + M K > L + M + N K > L + M + 0
108 c. Vfelche Strukturen können mit folgenden Regeln abgeleitet werden? (1) A — > (2)
B
->
B + c { E
+
; ' }
(3) C — >
G
+
{;}
Vfelche Funktionen können anhand der KS-Strükturen definiert werden? d. Durch welche KS-Regeln können die folgenden KS-Strukturen abgeleitet werden:
Welches sind das Anfangssymbol, die Zwischensymbole und die Endsymbole? 3. Klassifizieren Sie die Satzglieder der folgenden Sätze (außer Subjekt und Prädikat) in obligatorische Ergänzungen, fakultative Ergänzungen und Angaben: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)
Hans wohnt seit einigen Jahren in Tübingen Hans arbeitet seit einigen Jahren in Tübingen Er schwimmt jeden Morgen Er schwimmt im Baggersee Er schwimmt über den Baggersee Er dankte ihm für das Geschenk Er dankte für das Geschenk Er dankte ihm Er dankte ihm schriftlich Er war die ganze Woche krank Die Sonne scheint in dieser Gegend selten Die Urlauber warteten im letzten Jahr wegen des Lotsenstreiks stundenlang auf dem Flugplatz
Zählen Sie die in den Sätzen enthaltenen Kemsätze auf. 4. Leiten Sie die folgenden Sätze mit Hilfe der KS-Regeln (1) bis (5) ab: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
Er ist seinen Eltern dankbar Der Stürmer schoß den Ball ins Tor Man bezeichnete ihn als einen Lügner Ich stimme ihn für deinen Wunsch empfänglich Er schoß seinem Sohn den Apfel vom Kopf Er ist sich der Folgen bewußt Die Kinder spielten damit Viele erinnerten sich daran
5.
DIE EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
5.1.
Fragestellung
Die Satzbaupläne, die im vierten Kapitel beschrieben wurden, sind höchst abstrakte Gebilde, die auf den ersten Blick nichts mehr mit den Sätzen gemeinsam haben, wie sie in Äußerungen deutscher Sprecher vorkamen. tionen
und V e r a l l g e m e i n e r u n g e n
Abstrak-
wurden in mehrfacher
Hinsicht vorgenommen. Zum einen haben wir alle komplexen Sätze vereinfacht und in eine Normalform gebracht, die wir als 'Kernsatz' bezeichnet haben. Zum zweiten haben wir von den sprachlichen Einheiten selbst abgesehen. An die Stelle der Wörter, die nacheinander in der Zeit geäußert oder in linearen Ketten schriftlich festgehalten werden, sind Hierarchien von Kategoriensymbolen getreten, die in Stammbäumen repräsentiert wurden. Drittens haben wir abgesehen von den verschiedenen Möglichkeiten, wie Wörter in Sätzen angeordnet werden. Die Satzbaupläne können nämlich direkt nur auf lineare Ketten von Wörtern abgebildet werden, die eine der Nebensatzwortstellung entsprechende normierte Wortfolge aufweisen. Viertens haben wir die Satzbaupläne so angesetzt, daß aufgrund der Anordnung der Kategoriensynbole Funktionen definiert werden konnten, die auf abstrakte Weise den unterschiedlichen Beitrag von Satzteilen zur Gesamtbedeutung des Satzes charakterisieren. Man kann die Ebene, auf der wir die Satzbaupläne beschrieben haben, als Ebene der T i e f e n s t r u k t u r flächenstruktur
bezeichnen und der Ebene der
Ober-
gegenüberstellen, die die beobachtbare Form
von Äußerungen repräsentiert. 'Tiefenstruktur' ist in diesen Verständnis ein wenig präziser und vielseitig verwendbarer Begriff. Er charakterisiert jede Beschreibungsebene, auf der Abstraktionen und Verallgemeinerungen vorgenommen werden, die sich nicht unmittelbar aus der linearen Anordnung von sprachlichen Einheiten in Äußerungen ergeben und zu Beschreibungen führen, die nicht unmittelbar auf die lineare Anordnung abbildbar sind. In diesem Sinne wurde schon vor CHOMSKY von 'Tiefe' gesprochen. TESNIERE sah 1953 die Aufgabe der strukturellen Syntax darin, die tiefe strukturelle Realität ("la réalité structurale profonde" - 1953, 4) aufzudecken, die sich hinter der linearen Er-
110 scheinungsform der Sprache verbirgt. HOCKETT unterschied 1958 zwischen einer 'surface grairmar' und einer weitgehend unerforschten 'deep granrnar', die mit der Art des Sprechens und Verstehens zu tun habe: "Beneath it [the surface granrnar] lie various layers of deep grammar> which haverauchto do with how we speak and understand but which are still largely unexplored, in any systematic way, by granmarians." (1958, 6. A. 1963, 249). Auch CHOMSKY selbst gebraucht 'deep structure' gelegentlich in diesem weiten Sinn. Er meint damit abstrakte zugrundeliegende Strukturen verschiedener Art, die sich von Oberflächenstrukturen unterscheiden, oder auch Strukturen, die für die von der Theorie postulierte Art der menschlichen Sprachfähigkeit charakteristisch sind (vgl. CHOMSKY 1975, 16f.). In dieser unformalen Verwendungsweise ist 'Tiefenstruktur' inzwischen in die Alltagssprache eingegangen. Von dieser
a l l t a g s s p r a c h l i c h e n
V e r w e n d u n g
ist
der Begriff 'Tiefenstruktur' zu unterscheiden, wie ihn CHOMSKY in "Aspects of the theory of syntax" (1965, dt. 1969) definiert hat. 'Tiefenstruktur' bezeichnet dort eine Strukturbeschreibung, die mit Hilfe der Basiskcnponente (d. h. mit KS-Regeln und den Fegein, die Lexikoneinheiten aus dem Lexikon in KSStrukturen einsetzen) generiert worden ist, auf die aber noch keine Transformationsregeln angewandt worden sind (vgl. 1.3.). Dieser B e g r i f f
t e c h n i s c h e
'Tiefenstruktur' hat seinen genauen Sinn nur im Rahmen der
"Aspects"-Version der TG. Frühere Fassungen der TG, z. B. in "Syntactic structures" (1957), kennen ihn noch nicht. In der durch die "Aspects" angeregten Diskussion ist er vielfach kritisiert und modifiziert worden. Wenn wir uns im folgenden fragen, wie die Ebene der Tiefenstruktur in einer generativen Syntax des Deutschen zu charakterisieren ist, so gehen wir zunächst aus von der alltagssprachlichen Verwendung von 'Tiefenstruktur'. Wir fragen also, wie abstrakt und wie verschieden von der beobachtbaren Oberflächenform die Strukturen anzusetzen sind, die eine zusanmenhängende und möglichst einfache Beschreibung der Sätze des Deutschen ermöglichen. Zunächst geben wir einige Beispiele dafür, daß eine traditionelle Granmatik Sätze auf einer abstrakteren Ebene als der ihrer beobachtbaren Förrien beschreibt. Anschließend skizzieren wir die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man Sätze vollständig an der Oberfläche, d. h. durch Segmentierung und Klassifizierung beobachtbarer Formen (vgl. 2.4. und 3.3.), beschreiben will, und stellen die Lösung vor, die CHOMSKY zunächst vorgeschlagen hat. In weiteren Abschnitten behandeln wir Probleme, die der Begriff 'Tiefenstruktur' in den "Aspects" mit sich bringt, und zwar im Hinblick auf Bedeutungen und auf universelle Eigenschaften der menschlichen Sprachfähigkeit. Als Ergebnis wird festgehalten, daß sich die
111 in den "Aspects" definierte Tiefenstruktur für eine generative Syntax des Deutschen eignet, die die in traditionellen Grammatiken enthaltene Information über den deutschen Satzbau systematisch in der Theorie rekonstruiert. 5.2.
Die Abstraktionsebene der traditionellen Grammatik
Traditionelle Granmatiken geben nicht einfach an, wie Wortformen aneinandergereiht werden, so daß korrekte Sätze entstehen, sondern charakterisieren Sätze auf eine abstraktere, "tiefere" Weise. Wir machen an einigen Beispielen deutlich, wie diese Granmatiken von den beobachtbaren Äußerungen abstrahieren und wie sie Verallgemeinerungen vornehmen. 1. Die traditionellen
S a t z g l i e d b e g r i f f e
sind keine Formbe-
griffe, sondern Funktionsbegriffe (vgl. 4.1. und 4.5.). Sätze, die ihrer Form nach völlig gleich sind, werden verschieden beschrieben, wenn ihre Fönten Träger verschiedener Funktionen sind. Umgekehrt können verschiedene Formen als gleich hinsichtlich der in ihnen auftretenden Funktionen beschrieben werden. Wenn man die Terminologie der DUDEN-Grarmatik zugrunde legt, kann man den Satz (1) Er fragte nach der Kaffeepause
entweder (a) in die Satzglieder Subjekt, Prädikat (im engeren Sinne)^ und Präpositionalobjekt oder (b) in die Satzglieder Subjekt, Prädikat und Zeitangabe analysieren. Die zweifache Analyse trägt der Tatsache Rechnung, daß man man den Satz verstehen kann wie (2) oder wie (3): (2) Er fragte, wann die Kaffeepause sei (3) Er fragte, als die Kaffeepause vorbei war
Satz (2) hat dieselbe Satzgliedanalyse wie (1a), d. h. wann die Kaffeepause sei ist Präpositionalobjekt. Satz (3) hat dieselbe Analyse wie (1b), d. h. als die Kaffeepause vorbei war ist Zeitangabe. Man kann die doppelte Funktion von naah der Kaffeepause auch dadurch zeigen, daß man einen Satz bildet, der nach der Kaffeepause zweimal enthält. Die; Sätze (5) und (6) sind völlig korrekt; sie könnten in einem Text vorkamen, in dem (4) den Sätzen (5) oder (6) vorausgeht: (4) Der Gast war vor der Pause eingeschlafen (5) Er fragte nach der Kaffeepause nach der Kaffeepause (6) Er fragte, als die Kaffeepause vorbei war, wann die Kaffeepause
sei
Satzglieder werden also auf einer abstrakteren Ebene beschrieben, die sich nicht unmittelbar aus der Form der Sätze ergibt: Die Analyse ist für (1a) 1
'Prädikatsverb 1
in der in Kap. 4 oben verwendeten
Terminologie
112
und (1b) verschieden, für (1a) und (2) bzw. für (1b) und (3) aber gleich. 2. Satzglieder werden auch dann angenarmen, wenn sie aus Teilen bestehen, die nicht in linearer Abfolge vorkamen, sondern durch andere Satzglieder voneinander
g e t r e n n t
sind. So bilden in den Sätzen
(7) Er macht die Tür auf (8) Sie hat an seiner Treue gezweifelt (9) Sie soll an seiner Treue gezweifelt
haben
die hervorgehobenen Teile zusanmen das einheitliche Satzglied 'Prädikat (im engeren Sinne)', obwohl seine Teile durch andere Satzglieder (die Tür, an seiner Treue) voneinander getrennt sind. 3. Bei der Definition der
S a t z b a u p l ä n e
wird von der linearen An-
ordnung der Satzglieder im Aussagesatz abstrahiert. Die Sätze (10) Der Vater schenkt dem Kind eine Eisenbahn (11) Dem Kind schenkt der Vater eine Eisenbahn (12) Eine Eisenbahn schenkt der Vater dem Kind
haben den gleichen, durch die Satzglieder Subjekt, Prädikat (im engeren Sinne), Dativobjekt und Akkusativobjekt definierten Satzbauplan. Die Sätze (11) und (12) werden durch eine zusätzliche Vforstellungsregel auf (10) bezogen, die z.B. in der DUDEN-Granniatik - nicht besonders glücklich so formuliert ist: "Im allgemeinen kann man sagen: jedes Satzglied (mit Ausnahme des Prädikats) kann im Vorfeld stehen, wobei diese Satzglieder ihrerseits alle im Mittelfeld stehen können." (1973, 623) 4. Sätze, die nicht Atissagesätze sind, werden nicht unabhängig, sondern nur in ihrer B e z i e h u n g
zu
A u s s a g e s ä t z e n
beschrieben. Frage-,
Aufforderungs- und Nebensätze unterscheiden sich durch die Stellung des Prädikatsverbs; beim Aufforderungssatz kann Subjekttilgung hinzutreten: (13) (14) (15) (16)
Der Sohn hilft dem Vater Hilft der Sohn dem Vater? Hilf dem Vater! (daß) der Sohn dem Vater hilft
Die DUDEN-Graitmatik unterscheidet die
S a t z a r t e n
zunächst ganz
knapp nach ihrer Funktion (1973, 476), bevor sie Satzbaipläne allein für Aussagesätze aufstellt. Erst im Kapitel "Wortstellung" werden die Unterschiede in der Anordnung der Satzglieder angegeben (1973, 619-622). Daß die Sätze (13) bis (16) in einem "tieferen" Sinne gleich sind, wird als so selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Unterschiede der Form zunächst gar nicht explizit gemacht werden.
113
5. P a s s i v s ä t z e
werden nicht als eigene Satzbaupläne eingeführt, son-
dern nur im Hinblick auf die entsprechenden Aktivsätze beschrieben. Die DUDEN-Granmatik erklärt die Beziehung zwischen den Sätzen (17) Der Gärtner bindet die Blumen (18) Die Blumen werden vom Gärtner gebunden
folgendermaßen: "Hier ist eine grarrmatische Umsetzung (Transformation) in der Weise möglich, daß das Objekt des aktivischen Satzes Subjekt des passivischen Satzes wird. Gleichzeitig kann das Subjekt des aktivischen Satzes als Präpositionalgefüge mit 'von' und in bestimmten Fällen auch mit 'durch' als Urheber des Geschehens, als Agens, in Erscheinung treten. Das Prädikat wird mit dem Hilfszeitwort 'werden' und dem 2. Partizip des betreffenden Verbs gebildet." (1973, 92) Auch andere Konstruktionen, z. B. Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen und Naturalisierungen, werden - wenn auch weniger durchgängig und systematisch - auf Sätze bezogen und von daher erklärt. 6. W ö r t e r
werden im Rahmen der Syntax ihrer Form nach nicht weiter ana-
lysiert, sondern stattdessen nach ihrer Funktion im Satz, d. h. auf einer abstrakteren Ebene, charakterisiert. Die Wörter in den Sätzen (19) Ein Mann warf Messer (20) Dieser Tischler lackierte Türen
sind ihrer Oberflächenform nach verschieden zu analysieren (zur Methode vgl. 2.4.). Die Wörter in (19) können nicht weiter segmentiert werden, d. h. sie bestehen aus genau einem Morphem. Die Morpheme des Satzes sind zu klassifizieren als Artikelirorphem (ein), Substantivmorphem (mann, rnesser) und Verbnorphem (warf). Die Wörter in (20) sind dagegen weiter segmentierbar; die Segmente sind zum größten Teil Elemente von Morphemklassen, die in (19) nicht vorkommen. Dieser besteht aus dem Morphem dies- und der Deklinationsendung -er (vgl. jen-er); Tischler besteht aus dem Substantivmorphem tisch und dem Ableitungssuffix -ler; lackierte besteht aus dem Substantivmorphem lack, dem Ableitungssuffix -ier- (vgl. marsch-ier-en) und der Konjugationsendung -te; Türen besteht aus dem Substantivmorphem tür und der Deklinationsendung -en. Obwohl in (19) und (20) Morpheme vorkamen, die weitgehend verschiedenen Morphemklassen angehören, werden die Vförter in beiden Sätzen in syntaktischer Hinsicht als völlig gleich beschrieben. Ein und dieser sind Artikelwörter (der Begriff schließt die Proncmina in Artikelposition ein) im Nominativ Singular Maskulinum. Mann und Tischler sind maskuline Substantive im Ncminativ
114 Singular, warf und lackierte sind Verben in der 3. Person Singular Präteritum Indikativ. Messer und Türen sind Substantive im Akkusativ Plural. Auf syntaktischer Ebene werden Wörter also durch Begriffe wie 'Substantiv', 'Verb', 'Nominativ', 'Singular', '3. Person1 usw. beschrieben. Diese Begriffe charakterisieren W o r t k l a s s e n g r a m m a t i s c h e
K a t e g o r i e n
('Substantiv', 'Verb') und ('Nominativ', 'Singular'
usw.). Sie geben die Funktion der Vförter im Satz an. Graitmatische Kategorien können nicht direkt auf sen
M o r p h e m k l a s -
bezogen werden. Die grairmatischen Kategorien 'Nominativ', 'Singular',
'Maskulinum' bleiben z. B. bei ein unausgedrückt; bei dieser werden sie durch das Morphem -er bezeichnet. Die Kategorien '3. Person', 'Singular', 'Präteritum', 'Indikativ' sind bei warf unauflöslich mit dem Verfcmorphem verbunden, bei lackierte dagegen der Konjugationsendung -te zugeordnet. Die Kategorien 'Akkusativ' und 'Plural' können bei Messer nur aus den Satzzusaimenhang erschlossen werden (werfen fordert ein Akkusativobjekt; Messer kann nur im Plural ohne Artikelmorphem stehen); bei Türen ist wenigstens 'Plural' durch das Morphem -en ausgedrückt. Die Ebene der Wortklassen und grairmatischen Kategorien, auf der die traditionelle Syntax das Wort im Satz behandelt, ist also eine abstrakte, durch Segmentierung und Klassifizierung nicht zu erfassende Beschreibungsebene. Eine formale Theorie, die die in einer traditionellen Syntax dargebotene Information systematisch rekonstruiert, kann also nur eine Syntax sein, die eine abstraktere, tiefere Beschreibungsebene als die der Distribution beobachtbarer Formen annimmt. CHOMSKY selbst hat sich wahrscheinlich bei der Definition der Tiefenstruktur in den "Aspects" auch an der Beschreibungsebene traditioneller englischer Granmatiken orientiert. Nachdan er exemplarisch die Regeln der Basis und eine aus ihnen abgeleitete Strukturbeschreibung vorgestellt hat, trifft er folgende Feststellung: "Wenn die bisher beschriebene Analyse korrekt ist, dann bringt sie mit dem soeben vorgeführten Apparat das zum Ausdruck, was inplizit in den unformalen Aussagen der traditionellen Granmatik ... enthalten ist." (1969, 143) Die Orientierung an der Tradition ist für CHOMSKY allerdings nur eine sekundäre Begründung für die Annahme zugrundeliegender Strukturen. CHOMSKY entdeckte sie zuerst in einem anderen Zusammenhang: in der Auseinandersetzung mit der Sprachtheorie des amerikanischen Deskriptivismus (vgl. auch 3.3. und 3.4.). Vgl. dazu die in Abschnitt 1.2. angegebene allgemeine Literatur. Speziell zur Beschreibung des Wortes vgl. WEBER 1973b und LYONS 1971a, 197-209 und 274-339.
115 5.3. Die
Konstituentenstrukturebene und Transformationsebene I C - A n a l y s e
, die im Rahmen des amerikanischen Deskriptivismus ent-
wickelt wurde, segmentiert und klassifiziert Äußerungen aufgrund der beobachtbaren Distribution der in ihnen vorkommenden Formen (vgl. 2.4.). Die r a t i v e
K S - S y n t a x ,
gene-
die wir bereits vorgestellt haben (vgl.
2.3. und 4.3.), repräsentiert die Form der Grammatiktheorie, die IC-Analysen unausgesprochen zugrunde liegt. Nehmen wir an, die IC-Analyse sei ihrem Gegenstand völlig angemessen. In diesem Fall müßte es auch möglich sein, alle Sätze des Deutschen durch eine generative Syntax abzuleiten, die nur KS-Regeln der Form 'X
> Y 1 verwendet,
'S' als Anfangssymbol setzt, Kategoriensynibole für Konstituentenklassen als Zwischensynibole einführt und die Wörter (oder Morpheme) selbst als Endsymbole benutzt. Diese Syntax würde nämlich genau die Strukturbeschreibungen mit den dazugehörigen Sätzen generieren, die auch durch die IC-Analyse aus dem Corpus der deutschen Äußerungen zu gewinnen wären. Man kann darum die Frage, ob eine Oberflächenanalyse wie die der IC-Analyse ihrem Gegenstand angemessen ist, dadurch beantworten, daß man Leistung und Grenzen einer generativen Syntaxtheorie des skizzierten Typs aufzeigt. CHOMSKY hat diese Untersuchung angestellt und ist zu einem negativen Ergebnis gekcirmen (vgl. vor allem CHOMSKY 1957, dt. 1973). Wir versuchen im folgenden, an einfachen deutschen Beispielen deutlich zu machen, wo die Schwierigkeiten einer reinen KS-Syntax liegen, und begründen von daher die Revision der Theorie, die CHOMSKY mit der Einführung von
Transformationen vorgencamEn hat.
Als Beispiel formulieren wir zunächst eine generative KS-Syntax, die die Sätze (1) Der Jäger schießt den Hasen (2) Ein Wanderer fängt einen Igel
sowie weitere granmatische Sätze wie Der Jäger sahießt einen Igel3 Der Wanderer schießt den Hasen usw., jedoch keine ungrairmatischen Sätze erzeugt (vgl. auch das einfachere Beispiel in 2.3.): (K (K (K (K (K (K (K (K (K
1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
S VP NP NPa Va AKT ARTa N Na
> NP + VP > Va + NPa > ART + N > ARTa + Na > schießt, fängt > der, ein > den, einen > Jäger, Wanderer > Hasen, Igel
116 Der Index 'a' steht für 'Akkusativ' (bei V a für 'fordert Akkusativ'); die Kategoriensymbole 'NP a ', 'ARTa' und 'N a ' charakterisieren Konstituentenklassen, die von den Klassen 'NP', 'ART' und 'N' verschieden sind. Wir haben also nicht zwischen Kasus und Wortklasse unterschieden, um die Regeln nicht weiter zu komplizieren. Die Regeln (K 1) bis (K 9) leiten z. B. folgende KS-Struktur und den dazugehörigen Satz (1) vollständig ab:
ART
Wir versuchen nun, die KS-Syntax so zu ervreitern, daß sie weitere Sätze generiert, und diskutieren die dabei auftretenden Schwierigkeiten. 1. Wir nehmen an, daß auch die Sätze (3) und (4) generiert werden sollen: (3) Der Jäger w i r d d e n H a s e n s c h i e ß e n (4) Der Jäger h a t d e n Hasen g e s c h o s s e n
Als neue Konstituentenklassen treten auf: das Hilfsverb wird Hilfsverb hat (V^), der Infinitiv schießen schossen
(Vw), das
(Vinf) und das Partizip ge-
(Vp a r t ). Diese Sätze können abgeleitet werden, wenn wir folgende
Regeln hinzufügen: (K 2a) (K 2b) (K 10) (Kll) (K 12) (K 13)
VP VP Vw Vh Vinf Vpart
> V„ + N P a + V i n f Vh + NPa + V p a r t > wird > hat > schießen, fangen > geschossen, gefangen
— >
Unter Einbeziehung dieser Regeln kann z. B. Satz (3) folgendermaßen generiert werden:
ART
Der
Jäger
wird
Hasen
schießen
117 Die Regeln (K 2a) und (K 2b) bringen nicht zum Ausdruck, daß
wird
...
schießen und hat ... gefangen zusammengesetzte Verbformen' mit der Funktion 'Futur' bzw. 'Perfekt' sind. Sie sind also nicht imstande, Konstituenten, die nicht nebeneinander stehen, d. h. K o n s t i t u e n t e n
d i s k o n t i n u i e r l i c h e
, als solche zu erfassen. Dies bringt zwei Nach-
teile mit sich: Zum einen wird die Granmatik komplizierter dadurch, daß bei alternativen Ersetzungsmöglichkeiten diskontinuierlicher Konstituenten die dazwischenliegende Konstituente (in unseren Fall NP ) jedesmal wieder a aufgeführt werden muß. Zum zweiten bildet die Grammatik wichtige Eigenschaften der KS-Struktur nicht ab und ist darum weniger angemessen als eine Granmatik, die das kann. 2. Wir nehmen an, daß die Sätze (5) und (6) generiert werden sollen: (5) Schießt der Jäger den Hasen? (6) Einen Igel fängt ein Wanderer
Gegenüber (1) und (2) treten keine neuen Konstituenteriklassen auf; unterschiedlich ist nur die lineare Anordnung der Konstituenten. Folgende Regeln errrßglichen die Ableitung: (K la) (K lb)
S S
> V a + NP + N P a > N P a + V + NP
Unter Verwendung von (K 1a) könnte für (5) folgende KS-Struktur abgeleitet werden:
schießt
der
Jäger
den
Hasen
Figur 3
In den Regeln (K 1a) und (K 1b) kaimt im Gegensatz zu (K 1) das Kategoriensymbol 'VP' nicht mehr vor. Bei (K 1a) liegt das daran, daß die VP schießt ... den Hasen diskontinuierlich und nicht durch KS-Regeln ableitbar ist. Anstelle von (K 1b) könnte man zwar die beiden Regeln (Kl')
s — >
(K 2 1 ) VP
VP + NP > NP + V
formulieren. Da (K 2') aber auch nach (K 1) 'S
> NP + VP' anwendbar wäre,
könnten auch Strukturen abgeleitet werden, in denen 'V' nach NP und NP a ganz rechts steht.
118 Dies wäre in einer Gesarrrtgranmatik zur Ableitung von Nebensätzen zwar erwünscht, ist aber hier unangemessen, weil Ausdrücke wie Ein Wanderer einen Igel fängt als selbständige Sätze ungranmatisch sind. Unsere KS-Syntax müßte also den Sätzen (5) und (6) eine KS-Struktur zuordnen, die sich ganz erheblich von der von Satz (1) und (2) unterscheidet. Sie würde nicht der Intuition deutscher Sprecher-Hörer Rechnung tragen, nach der die Sätze (1) und (5) sowie (2) und (6) eng miteinander verwandt sind. 3. Wir nehmen an, daß auch die Sätze (7) bis (10) generiert werden sollen: (7) (8) (9) (10)
Wird der Jäger den Hasen schießen? Hat ein Wanderer einen Igel gefangen? Den Hasen hat der Jäger geschossen Einen Igel wird der Wanderer fangen
Folgende Pegeln könnten das leisten: (K (K (K (K
lc) ld) le) lf)
S > Vw S — > Vh S > NP a S > NP a
+ + + +
NP NP Vh Vw
+ + + +
NP a NP a NP NP
+ + + +
Vinf Vpart Vpart Vinf
Diese Regeln haben nicht nur den Nachteil, daß sie die diskontinuierlichen Konstituenten VP und V nicht abbilden und die Verwandtschaft dieser Sätze mit (3) und (4) nicht ausdrücken. Als weiterer Nachteil wird jetzt ihre Kompliziertheit offenkundig. 4. Wir fassen nun die Regeln (K 1) und (K 2) zusanmen, die wir zur Ableitung von (1) bis (10) formuliert haben. Die Regeln (K 3) bis (K 13) brauchen nicht nochmals aufgeführt zu werden, da sie unverändert bleiben. (Kl)
f
NP
+
VP V
NP a + S
->
(K 2) VP
(K 3 - K 13)
>
-v +
NP
V„ w +
NP
+ Vinf
NP
+ Vpart
a
>
+
Va
+
NP
+
NP a
V„
+
NP
+
NP a + V i n f
Vh
+
NP
+
NP a a + Vpart
Va
+
NP a
Vw
+
NP a +
Vinf
vh
+
NPa +
vpart
(wie oben)
Die Zusammenfassung zeigt die Nachteile der reinen generativen KS-Syntax nochmals besonders deutlich:
119 (a) Die Regeln sind k o m p l i z i e r t .
Für die Ersetzung von 'S'
sind acht Alternativen vorgesehen, für die Ersetzung von 'VP' deren drei. Zur Beschreibung der zehn Sätze werden in (K 1) und (K 2) dreißig Symbole rechts van Pfeil benötigt. Eine Regelmäßigkeit in ihrer Verteilung ist nur in Ansätzen erkennbar. Die Kompliziertheit kernt daher, daß die Regeln für jeden einzelnen Satz gesondert formuliert sind und praktisch keine Verallgemeinerungen ausdrücken. Allerdings ist Kompliziertheit relativ und kann nur im Vergleich zu alternativen Formulierungen behauptet werden. (b) Die Regeln geben keine angemessenen Rechenschaft über die s t i t u e n t e n s t r u k t u r
Kon-
des Satzes, weil sie diskon-
tinuierliche Konstituenten nicht als zusammengehörig beschreiben können. (c) Die Regeln geben keine Rechenschaft über die schaft
V e r w a n d t -
von Sätzen, wie sie von Sprecher-Hörern des Deutschen
intuitiv erfaßt wird. Eine generative KS-Syntax läßt also wichtige Zusammenhänge und Verallgemeinerungen unanalysiert und ist darum ihrem Gegenstand nicht anganessen. 5. Die hier vorgestellte KS-Syntax weist noch einen weiteren wichtigen Nachteil auf, den wir hier jedoch nur andeuten: Sie läßt die Verwandtschaft zwischen der und den, ein und einen, schießt, schießen und geschossen sowie fängt, fangen und gefangen, d. h. zwischen Deklinations- und Konjugationsformen eines Wortes, unausgedrückt. Der Nachteil könnte z. T. dadurch behoben werden, daß man durch KS-Regeln nicht Wörter, sondern Morphems ableitet, worauf wir hier der Einfachheit halber verzichtet haben. Da bei dieser Lösung jedoch die abstrakte Ebene der Wortklassen und granmatischen Kategorien nicht abgebildet wird (vgl. 5.2.), entstehen Schwierigkeiten, die den oben behandelten analog sind. CHOMSKY hat aus den Problemen, die die Beschreibung der Distribution von Oberflächenformen in beobachtbaren Äußerungen mit sich bringt, folgende Konsequenz gezogen: Er unterscheidet zwischen zwei Ebenen syntaktischer Beschreibung, der Ebene der abstrakten
z u g r u n d e l i e g e n d e n
s t i t u e n t e n s t r u k t u r
, die durch KS-Regeln generiert wird,
und der Ebene der O b e r f l ä c h e n f o r m e n f o r m a t i o n s r e g e l n
Kon-
, die durch
Trans-
aus den zugrundeliegenden Strukturen abge-
leitet wird. Wenn wir CHOMSKYS Unterscheidung auf unser Beispiel anwenden und für die zugrundeliegende Struktur die Nebensatzwortstellung annehmen (vgl. 4.4.3.), so erhalten wir folgende Beschreibung:
120 1. Konstituentenstrukturebene (K (K (K (K (K
S VP NP
l) 2) 3) 4) 14)
NPa V
> NP + VP > > ART + N — > ART, +
(K 5 - K 13)
>
va
Vinf + V w Vpart + V h (wie oben)
2. Transformationsebene (T 1)
(obligatorisch) NP + X + V f i n
rin
(T 2)
N P
+ V fin + X V f i n + NP + X
(fakultativ) NP + V f i n + N P a + X ===*> N P a + V f i n + NP + X
wobei: X = beliebige, auch leere Folgen von Kategoriensymbolen; V f i n = die finiten Verbformen V a , V w , Vh
Die KS-Regeln oben vermeiden die Nachteile der reinen KS-Syntax. Sie sind relativ einfach; für 'S' und 'VP' gibt es nur eine Ersetzungsmöglichkeit, für 'V' nur deren drei. Insgesamt weisen (K 1), (K 2) und (K 14) nur neun Kategoriensymbole rechts vom Pfeil auf, d. h. weniger als ein Drittel gegenüber der vorher diskutierten Alternative. Der Grad der Verallgemeinerung ist also wesentlich größer. Die Konstituentenstruktur des Satzes kann nun abgebildet werden, weil diskontinuierliche Konstituenten in der zugrundeliegenden Struktur nicht mehr auftreten. Die Transformationsregeln werden auf die KS-Strukturen angewandt, die durch die KS-Regeln generiert Warden sind. Die KS-Regeln generieren z. B. für die Sätze (3) Der Jäger wird den Hasen schießen (4) Wird der Jäger den Hasen schießen? (11) Den Hasen wird der Jäger schießen
folgende zugrundeliegende Struktur:
AR!
Der
Jäger NP
Figur 4
den
Hasen
schießen
iwird Vfin
121
Da diese Strukturbeschreibung als Folge von 'NP', 'X' und 'Vfin' analysierbar ist (vgl. Figur 4), muß die obligatorische Regel (T 1), die links vom Pfeil diese Folge als Bedingung ihrer Anwendung definiert, angewandt werden. (T 1) weist zwei Alternativen auf, so daß aus der zugrundeliegenden Struktur von Figur 4 zwei abgeleitete Strukturen gewonnen werden können (Figur 5 und 6):
AR
inf
Der
Jäger
wird
(a)
NP
V
fin
(b)
NP
V
fin
den
Hasen
schießen
NP
Figur 5
inf
wird ART + N' sich in Gramratiken aller Sprachen wiederfinden könnten.
Daß es formale und substantielle Universalien gibt, kann zwar aus CHOMSKYS Auffassung von der Kompetenz als einer internalisierten TG und von seinem Verständnis des Spracherwerbs her gefolgert werden. Empirische Anhaltspunkte für die Hypothese, die einigermaßen gesichert sind, wurden jedoch allenfalls bezüglich der Lautstruktur von Sprachen gewonnen. Hinsichtlich der Tiefenstruktur ist ein Vergleich verschiedener Sprachen nach CHOMSKYS Auffassung noch nicht möglich: "Es gibt zu wenig generative Gramratiken." (1969, 151). CHOMSKY beruft sich nur auf die traditionelle Universalgranmatik und darauf, daß die beobacht-
133 baren Unterschiede der Einzelsprachen nichts gegen die Hypothese einer universellen Tiefenstruktur bewiesen, da "die Tiefenstrukturen, für die Universalität in Anspruch genanten worden ist, ganz verschieden von den aktuell in Erscheinung tretenden Oberflächenstrukturen sein können" (1969, 153). Trotz ihres mehr progranmatischen Charakters ist versucht worden, die U n i v e r s a l i e n h y p o t h e s e
unmittelbar in die Forschung ein zu-
beziehen . In generativ-transformationellen Arbeiten zum Deutschen besteht die Tendenz, abstrakte zugrundeliegende Strukturen, wie sie in der angelsächsischen Forschung für das Englische formuliert wurden, ohne nähere Nachprüfung auf das Deutsche zu übertragen. Es gibt sogar Untersuchungen zur deutschen Syntax, die nur angelsächsische Literatur verwenden und nicht einmal traditionelle deutsche Standardgranmatiken zur Kenntnis nehmen. Dieses methodische Vorgehen wäre dann legitim, wenn die Annahme universeller Eigenschaften von Tiefenstrukturen gesichert wäre. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Man macht das mögliche Ergebnis zukünftiger Forschung zur Voraussetzung der Forschung. Ein solches Vorgehen muß nicht unbedingt zu völlig falschen Ergebnissen führen, weil Englisch und Deutsch nahe verwandte Sprachen sind. Es entwertet aber Beschreibungen, wenn sie nicht auf gründlicher Analyse deutscher Sätze oder auf einer Auseinandersetzung mit traditionellen Beschreibungen aufgebaut sind. Die Universalienhypothese kann nur dann überprüft werden, wenn generative Granmatiken für mehrere Sprachen zur Verfügung stehen, die unabhängig voneinander formuliert wurden. Bei unmittelbarer Übertragung englischer Ergebnisse auf das Deutsche erhält man jedoch nichts weiter als die "Universalität" der Arbeitsweise von TG-Anhängern. Eine andere Interpretation der Universalienhypothese hat ebenfalls eine gewisse Verbreitung gefunden. Sie geht aus von der Tatsache, daß Äußerungen in einer Sprache verschieden p a r a p h r a s i e r t Sprache ü b e r s e t z t
und in jede andere
werden können. Als das Universelle wird das auf-
gefaßt, was gleich bleibt, wenn die sprachliche Form sich ändert. Wenn es gelingt, das, was gleich bleibt, auf einer abstrakten Ebene zu charakterisieren, hat man die universelle Tiefenstruktur gefunden. Nach Auskunft von Wörterbüchern sind die folgenden Sätze (bzw. Äußerungen, unter Vernachlässigung der Unterscheidung) Paraphrasen voneinander: (1) Ich friere (2) I am cold (3) J'ai froid
Paraphrasen sind auch Sätze wie Mich friert, Mir ist kalt, I feel oold u. a., die wir hier nicht behandeln wollen. Auf der Abstraktionsebene der syntaktischen
134
Tiefenstruktur der "Aspects", die wir auch für die Satzbaupläne zugrunde gelegt haben (vgl. 4.5.), könnte den Sätzen folgende Beschreibung ihrer KSStruktur zugeordnet werden:
NP
VP
A V
I Ich
friere
froid
Figur 8
Figur 10
Die KS-Strukturen zeigen nicht, daß die Sätze (1) bis (3) Gleiches zum Ausdruck bringen, nämlich 'daß der Sprecher Kälte empfindet' (was wiederum eine wenn auch weniger gebräuchliche - Paraphrase von (1) - (3) wäre) . Die Strukturen der VP sind ganz verschieden. Die VP besteht in (1) nur aus dan Verb friert, in (2) aus dem Hilfsverb be ('sein') und don Adjektiv aold ('kalt') und in (3) aus dem Hilfsverb avoir ('haben') und dem Substantiv froid ('Kälte'). Die Tiefenstruktur der "Aspects" kann also nicht universell im oben skizzierten Sinne sein. Auf einer a b s t r a k t e r e n
Ebene
können jedoch (1) bis (3)
als gleich charakterisiert werden. Die Ausdrücke iah, I, je referieren auf den, der den Satz äußert, d. h. auf den Sprecher. Sie sind - vereinfacht gesagt Referenzausdrücke und haben mit Eigennamen die Funktion gemeinsam, Gegenstände in der Wirklichkeit zu identifizieren. Die Ausdrücke friere, am aold, ai froid sind dagegen - wieder etwas vereinfacht - Prädikate, die dem Gegenstand, auf den referiert wird, eine Eigenschaft zuordnen, in diesem Fall eine Kälteempfindung. Gegenüber dieser gemeinsamen Funktion ist die Unterscheidung von Verb, Adjektiv und Substantiv sekundär. Man kann für (1) bis (3) eine Struktur definieren, die erfaßt, daß sie Paraphrasen voneinander sind, 'x' steht dabei für den Referenzausdruck, 'PRÄD' für das Prädikat:
i i Ich I J'
PRSD I
I t
friere am cold ai froid
Figur 11
Die Struktur von Figur 11 kann unmittelbar in die Schreibweise der formalen
135
Logik übersetzt werden, die Kombinationen von Prädikaten (f) und Variablen für Referenzausdrücke (x) notiert als 'f(x)'. Das, was den Sätzen (1) bis (3) geneinsam ist, ist also ihre l o g i s c h e
Struktur.
Es ist jedoch problematisch, ob logische Strukturen überhaupt Strukturen sind, die menschlichen Sprachen zugrundeliegen. Die Logik ist eine künstliche Sprache, die für einen begrenzten Zweck geschaffen wurde. Sie ist Mittel des richtigen Denkens und folgerichtigen Schließens und dient dazu, Wahres und Falsches zu unterscheiden. Die natürlichen Sprachen sind dagegen nicht nur Ausdruck richtigen Denkens, sondern Mittel für alle möglichen Kaimunikationen. Die Logik beschreibt nur einen Aspekt der Sprache, von dem nicht einmal sicher ist, daß er der wichtigste ist. In Bezug auf unser Beispiel ist zu beachten, daß die Logik den Unterschied zwischen Äußerung und Satz nicht erfaßt. Es bleibt deswegen offen, ob die Gleichheit von (1) bis (3) sich auf Äußerungen oder Sätze bezieht. Bezieht sie sich auf Äußerungen, besteht die Gleichheit allein darin, daß der gleiche Ausschnitt aus der Wirklichkeit bezeichnet wird. Bezieht sie sich auf Sätze, wird auch die Art der Wirklichkeitserfassung, wie sie in den Sätzen vorgenorrren wird, als gleich charakterisiert. Bei Ubersetzungen, von denen wir ausgegangen sind, kcnmt es nur darauf an, daß die gleiche Wirklichkeit bezeichnet wird. Interessant im Hinblick auf CHOMSKYS Universalienhypothese ist jedoch nur die Gleichheit der Art der Wirklichkeitserfassung durch Sprache. Grarmatiken mit einer logischen Tiefenstruktur, wie sie als Alternativen zur Tiefenstruktur der "Aspects" vorgeschlagen worden sind, bieten darum keine schlüssige Bestätigung für die Universalienhypothese. Sie sind außerdem für praktische Zwecke, z. B. für die Beschreibung des Deutschen, ungeeignet, weil sie kaum konkrete Vorschläge enthalten, wie man mittels Transformationen Oberflächenstrukturen einer bestinniten Sprache aus logischen Tiefenstrukturen ableiten kann. Angesichts der Forschungslage ist es mindestens verfrüht, von Tiefenstrukturen, wie sie in einer TG des Deutschen vorkommen könnten, in irgendeinem Sinne Universalität zu behaupten. Die Ebene der Tiefenstruktur ist für jede einzelne Sprache zu definieren nach Kriterien, wie wir sie in den Abschnitten 5.3. und 5.4. diskutiert haben. Die Frage nach allgemeineren oder gar universellen Eigenschaften der Tiefenstruktur kann mit Aussicht auf Erfolg erst dann aufgeworfen werden, wenn einzelsprachliche Granmatiken - mindestens in relevanten Teilen - formuliert sind. Zum Problem der sprachlichen Universalien vgl. CHOMSKY 1965, dt. 1969, 43-47, KATZ 1966, dt. 1969, 217-253 und - einführend - BACH 1974, 253-280 und WELTE 1974, 697-700, mit ausführlichen Literaturangaben. Zur Kritik an der Praxis, Tiefenstrukturen des Englischen wie universelle zu behandeln, vgl. WEBER 1973a. Zum Verhältnis von Tiefenstruktur und Übersetzung vgl. COSERIU 1975, 54-58.
136
5.6.
Die Ebene der Tiefenstruktur in einer TG des Deutsahen
Die Darstellung hat gezeigt, daß der Begriff 'Tiefenstruktur' ein sehr komplexer, schwieriger und uneinheitlich gebrauchter Begriff ist, wenn man ihn nicht im rein technischen Sinne der "Aspects" versteht. Er kann jede Beschreibungsebene bezeichnen, die abstrakter ist als die Ebene, auf der die Anordnung der Konstituenten in beobachtbaren Äußerungen beschrieben wird. CHOMSKYS Vorschlag in den "Aspects" markiert nur eine Position in seiner eigenen wissenschaftlichen Entwicklung und in der Diskussion, die im Rahmen der TG geführt wurde. Das Problem, eine g e e i g n e t e
A b s t r a k t i o n s e b e n e
für
die Beschreibung der syntaktischen Struktur einer Sprache zu finden, gehört zu den nie endgültig gelösten Grundfragen der Syntaxtheorie. Wir sind der Auffassung, daß die Ebene der Tiefenstruktur, wie sie in den "Aspects" definiert ist, eine Reihe von Vorzügen für eine zusammenhängende Beschreibung des Deutschen bietet. Ihr Hauptvorteil dürfte darin liegen, daß sie eine S y n t h e s e
darstellt zwischen verschiedenartigen Ansprüchen, welche
an eine angemessene Grammatiktheorie zu richten sind: Sie bietet eine Lösung der Schwierigkeiten, die eine rein formbezogene Analyse aufwirft, ohne die Form aus den Augen zu verlieren (vgl. 5.3.); sie greift Unterscheidungen wieder auf, die in traditionellen Grammatiken implizit irritier schon gemacht wurden (vgl. 5.2.); sie erlaubt schließlich die Einbeziehung der Bedeutungsaspekte, deren Erforschung am weitesten fortgeschritten ist (vgl. 5.4.). Schließlich eröffnet sie eine Perspektive, nach universellen Eigenschaften menschlicher Sprachen zu forschen (vgl. 5.5.). Andere abstraktere Beschreibungsebenen, die vorgeschlagen worden sind, laufen dagegen Gefahr, einen Gesichtspunkt zu verabsolutieren und so wichtige Eigenschaften von Sprachen zu vernachlässigen. Im einzelnen nehmen wir an, daß die Ebene der syntaktischen Tiefenstruktur in einer TG des Deutschen für folgende Probleme angemessene Lösungen bieten kann: 1. Sie repräsentiert in systematischer und zusanmenhängender Weise die taktische
Struktur
V e r w a n d t s c h a f t
eines
zwischen
Satzes Sätzen,
syn-
und die Art der wie sie in
traditionellen Grairmatiken zwar bereits erkannt, aber kaum zusammenhängend beschrieben war. Die Theorie der Satzbaupläne in Abschnitt 4.5. ist ein Beispiel für eine solche Systematisierung. 2. Sie repräsentiert Unterschiede und Gleichheiten in der lichen
B e d e u t u n g
von
Sätzen,
begriff-
scweit sie von ihren
Konstituenten und den Beziehungen zwischen ihnen abhängen. Sie systematisiert damit den Bedeutungsaspekt, der in traditionellen Grairmatiken und Wörterbüchern im Vordergrund steht.
137 3. Sie ist die Ebene, auf der die W ö r t e r
hinsichtlich ihrer syntaktisch
relevanten abstrakteren Eigenschaften repräsentiert werden können, d. h. die traditionelle Wartlehre systematisch darstellbar ist. Die Beschreibung des Wortes hat die Aufgabe, den Zusanmenhang zwischen der Rolle des Wortes im Satz und seinen abstrakteren Eigenschaften wie Wortklasse, lexikalische Bedeutung und grammatische Kategorien zu erfassen. Man hat gerade von der Tiefenstrukturebene erwartet, daß sie neue Einsichten über das Wesen der menschlichen Sprache, über die Organisation des menschlichen Geistes und die Natur des Spracherwerbs vermittelt. Gegenüber diesen Erwartungen, deren Berechtigung hier nicht zur Diskussion steht, nirmit sich unser angestrebtes Ziel bescheiden aus: Es besteht in nichts weiter als einer gegenüber früheren Versuchen verbesserten systematischen und zusammenhängenden Beschreibung der syntaktischen Struktur des Deutschen. Man darf jedoch nicht vergessen, daß das Ziel einer gernenistischen Sprachwissenschaft veniger darin besteht, allgemeine Theorien zu diskutieren, als darin, die deutsche Sprache auf allen Ebenen, von denen die syntaktische nicht die unwichtigste ist, angemessen zu beschreiben. Angemessenen Beschreibungen aber sind für die Praxis, d. h. für das Lehren und Lernen von Sprachen, wichtiger als allgemeine Theorien. 5.7.
Aufgaben
1. Stellen Sie die Argumente zusanmen, die für die Annahme einer abstrakteren i syntaktischen Beschreibungsebene sprechen. 2. Zeigen Sie anhand der folgenden Beispiele die Schwierigkeiten auf, die bei einer Beschreibung auf der Ebene der beobachtbaren Anordnung der Konstituenten entstehen: (a) Das Mädchen macht das Fenster auf (daß) das Mädchen das Fenster aufmacht (b) Der Student kauft ein Buch Der Student wird ein Buch kaufen (c) Die Sonne scheint Scheint die Sonne? (d) Er ißt den ganzen Tag Er ißt den ganzen Käse (e) Im Seminar wurden Referate von Arbeitsgruppen
verlesen
3. Leiten Sie die folgenden Sätze mit Hilfe der in 5.3. angegebenen KS—Hegeln und Transfornationsregeln vollständig ab: (a) (b) (c) (d)
Den Igel fängt ein Jäger Schießt der Wanderer einen Igel? Der Wanderer hat einen Hasen gefangen Einen Hasen wird der Jäger schießen
138 4. Untersuchen Sie, welche der folgenden Sätze nach den in Abschnitt 5.4. angegebenen Kriterien auf eine gemeinsame Tiefenstruktur zurückzuführen sind: (a) Dieser Lehrer ist Junggeselle Dieser Lehrer ist unverheiratet (b) Das Mädchen liest das Buch Das Buch wird von dem Mädchen gelesen (c) Er behauptet, daß er krank ist Er behauptet, krank zu sein (d) Der Polizist tötet den Gangster Der Polizist bewirkt, daß der Gangster stirbt (e) Der ¿-geordnete enthält sich der Stimme Enthält sich der Abgeordnete der Stimme? 5. Zeigen Sie durch Vergleich mit anderen Sätzen, daß die folgenden Sätze mehrdeutig sind. Untersuchen Sie, für welche Sätze nach den Kriterien in 5.4. mehrere Tiefenstrukturen anzunehmen sind: (a) (b) (c) (d)
Er beobachtete die Frau auf dem Balkon Die Soldaten scheiterten an der Brücke Er liebt seine Großmutter Die Pistole ist geladen
6. Vielehe Argumente lassen sich für und gegen die Annahme anführen, daß das Englische und das Deutsche auf der Ebene der Tiefenstruktur gleich sind?
LÖSUNGSHINWEISE ZU DEN AUFGABEN
1.4.1. (a) Syntax als Satzlehre: Der Verfasser geht vom Satz aus und gliedert seine Darstellung nach inhaltlich (logisch) definierten Beziehungen zwischen Satzgliedern (BECKER 1835). (b) Mischsyntax: Kap. I-VI behandeln Wortklassen und Wortformen, Kap. VII-XI beziehen sich auf den ganzen Satz oder Wortgruppen (DAL 1962). (c) Generativ-transformationelle Syntax, für die die Unterscheidung von KS-Regeln und T-Regeln charakteristisch ist (MÖTSCH 1964). 1.4.2. Verben (a) und Substantive (b) werden rein inhaltlich, Adjektive (c) (Stellungnahme des Sprechers) und Präpositionen (e) (Verhältnisse zwischen Dingen und Geschehen, Dingen oder Stellungnahmen) teilweise inhaltlich definiert. Artikel (d) und Konjunktionen (f) werden rein syntaktisch, d. h. nach ihrer Stellung im Satz definiert; bei Adjektiven (c) und Präpositionen (e) kommt implizit ein syntaktisches Kriterium hinzu: Bezug auf Substantiv oder Verb bzw. Beziehung zwischen Substantiv und Substantiv, Verb oder Adjektiv. Die Wortartendefinition (g) bezieht sich auf den Inhalt (Weise der Teilnahme an der sprachlichen Erschließung der Welt) und auf die morphologische Form (Vorhandensein oder Fehlen einer Formenwelt); das syntaktische Kriterium bleibt unerwähnt. Es liegt Mischklassifikation vor, weil heterogene Kriterien unsystematisch angewandt werden. 1.4.3. Die Lösung besteht in einer übersichtlichen Zusammenstellung der in Kap. 1 genannten Gesichtspunkte. 1.4.4. 1. Schritt: Ableitung der KS-Struktur mittels KS-Regeln; es ist von der Tiefenstrukturwortstellung das Glück dem Tüchtigen hilft auszugehen. Vgl. Figur 2 in Kap. 1. 2. Schritt: Lexikoneinträge GLÜCK [N, abstr] TÜCHTIG- [N, konkr, belebt, menschl] HELF[V, D-Obj] (der Tüchtige wird wie ein Substantiv behandelt, da die Substantivierung von Adjektiven hier noch nicht beschrieben werden kann) 3. Schritt: Anwendung der Lexikonregel. Vgl. Figur 4 in Kap. 1 4. Schritt: Anwendung von T-R 1. Vgl. Figur 5 in Kap. 1 5. Schritt: Anwendung von T-R 2. Vgl. Figur 6 in Kap. 1
140 2.4.1. Vgl. die in Kap. 2.2. und 2.3. genannten Gesichtspunkte 2.4.2. In der Gegenüberstellung "Form - Bedeutung" bezieht sich "Form" auf die beschriebene Sprache, in der Gegenüberstellung "formale Theorie - alltagssprachliche Theorie" bezieht sich "formal" auf die Beschreibungssprache. Der Begriff "formale Syntax" ist zweideutig, weil er (1) eine Syntax bezeichnen kann, die sich nur auf den formalen Aspekt der Sprache beschränkt und den Bedeutungsaspekt ausklammert und (2) eine Syntax bezeichnen kann, der eine formale Theorie zugrundeliegt. 2.4.3. Die Wortartdefinitionen sind nicht geeignet, die Wörter einer Wortart eindeutig von den Wörtern anderer Wortarten abzugrenzen. Aus Platzgründen sei hier nur ein Beispiel gegeben: In den Sätzen Heute ereignete sich ein schrecklicher Unfall und Morgen ist ein Fest geben die Wörter Unfall und Fest an, was sich ereignet oder was ist. Sie genügen also der inhaltlichen Definition für Verben, aber nicht der für Substantive, obwohl es sich syntaktisch und morphologisch eindeutig um Substantive handelt. Die Definitionsprobleme haben einmal ihre Ursache in der beschriebenen Sprache selbst, in der es vielfach keine scharfen Grenzen, sondern fließende Übergänge zwischen den Wortklassen gibt, zum andern in einer uneinheitlichen Begriffsbildung, die auf der Vermischung heterogener Klassifikationskriterien beruht. 2.4.4. Traditionelle Beschreibung: Es handelt sich um zwei Wortverbindungen, die jeweils aus drei Wörtern bestehen. Inge und Beate sind Substantive, ist und war sind Formen des Verbs sein und traurig und lustig sind Adjektive. Beide Wortverbindungen sind Sätze, die aus Subjekt (Inge, Beate) und Prädikat (ist lustig, war traurig) bestehen. Formale Beschreibung: (1) (2) (3) (4) (5) (6)
S NP VP N V A
— -> — -> -- -> — -> - -> >
Ableitungsbeispiel:
NP + VP N V + A Inge, Beate ist, war traurig, lustig
Außerdem ableitbare Sätze: Inge ist traurig, Inge war lustig, Inge ist lustig, Beate war lustig, Beate ist traurig, Beate war traurig 2.4.5. 1. Schritt: Segmentierung durch Minimalpaaranalyse { d a s } kindschläft ein einkind -schläft, schrie
-
das
es -schlief, schrie
madchen
} schläft
-jemand, es
schrie
Bemerkung: Das vorliegende Material erlaubt keine Segmentierung von schläft in schlaf- und -t.
141 2. Schritt: Klassifikation durch Substitutionsanalyse I fdas | [ein/
B /kind 1 [Mädchen/
¡
schläft 1 schlief ^ schrie J
fes 1 jemand J 3. Schritt: IC-Analyse Nach den Kriterien (a) und (d): das Kind / schläft, das mädchen / schläft, es / schrie, jemand / schrie usw. Als einzige verbleibende Möglichkeit: das / kind, ein / mädchen usw. Unmittelbare Konstituenten des Satzes sind E (aus A + B oder D) und C. 4. Schritt: Strukturelle Grammatik 1. Morpheminventar A: das, ein B: kind, mädchen C: schläft, schlief, schrie D: es, jemand
Distribution der Morpheme F
oder
F E I
©
@ 3.6.1. Den Begriffen 'Langue1 und 'Kompetenz' ist gemeinsam, daß sie sich auf etwas Abstraktes beziehen, welches das aktuelle Sprechen ermöglicht und organisiert. Sie unterscheiden sich in folgenden Aspekten: (a) Die Langue ist eine soziale Institution, die Kompetenz eine individuelle, in den Grundzügen angeborene Fähigkeit. (b) Die Langue ist als ein systematisches Inventar von Zeichen statisch aufgefaßt, die Kompetenz ist als internalisiertes Regelsystem dynamisch aufgefaßt. (c) Die Langue ist ein einzelsprachliches System von Werten, die sich gegenseitig abgrenzen und bedingen; die Kompetenz beruht auf angeborenen und universellen Eigenschaften des menschlichen Geistes. 'Parole' und 'Performanz' bezeichnen das aktuelle Sprechen. 3.6.2. Die lautliche Realisation der sprachlichen Einheit zu ist in den Beispielen jeweils gleich. Ihr 'Wert' wird bestimmt durch die Beziehungen, in denen sie zu anderen Einheiten steht; er ist jeweils verschieden: (a) zu ist verbunden mit dem Adjektiv hoch und ersetzbar durch andere Gradadverbien wie sehr, besonders u. a. (b) zu ist trennbares Präfix des Verbs zumachen und ersetzbar durch andere Präfixe, z. B. auf. (c) zu kennzeichnet die Infinitivkonstruktion in Objektfunktion zu kommen und ist nicht durch andere Einheiten ersetzbar. (d) zu ist Präposition der Substantivgruppe seinen Eltern und durch andere Präpositionen ersetzbar. Die unterschiedliche Stellung von zu in der Satzstruktur und im Sprachsystem bedingt seinen jeweils verschiedenen 'Wert'.
142 3.6.3. Analogie liegt vor, wenn verschiedene sprachliche Einheiten in bestimmter Hinsicht (z. B. Konjugation) sich gleich verhalten: (a) schwache Konjugation: leben, beben und weben bilden das Präteritum durch die Endung -te und das Partizip Präteritum durch das Präfix ge- und die Endung -t. (b) starke Konjugation: geben, heben und weben bilden Präteritum und Partizip Präteritum durch Ablaut (e-a-e bei geben, e-o-o bei heben und weben und ge- beim Partizip Präteritum. Der Sprachgebrauch legt fest, ob sich eine sprachliche Einheit nach einem vorgegebenen Muster (einer Analogie) richtet oder nicht; er erlaubt bei weben beide angegebenen Analogien. Mit Hilfe der Begriffe 'Analogie' und 'Sprachgebrauch' erklärt die traditionelle Grammatik Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Sprache. 3.6.4. Nach DUDEN (1973, 261/533/322) sind die in den Beispielen vorkommenden Konstruktionen in der gesprochenen Sprache weitgehend üblich. Sie weichen jedoch von einer eng gefaßten hochdeutschen Sprachnorm ab, nach der wie nicht beim Komparativ steht, brauchen auch in modaler Verwendung den Infinitiv mit zu fordert und trotzdem nicht als unterordnende Konjunktion zulässig ist. Zu den Problemen, die solche Konstruktionen bei der Festlegung von 'Kompetenz des idealen Sprecher-Hörers' und 'Sprachnorm' aufwerfen, vgl. die in Kap. 3.5. genannten Gesichtspunkte. 3.6.5. Vgl. die in Kap. 3.3. und 3.4. genannten Gesichtspunkte. 3.6.6. (a) Amerikanischer Strukturalismus: Gegenstand der Sprachwissenschaft sind sprachliche Äußerungen, die beobachtbar und analysierbar sind. (BLOOMFIELD 1926, zitiert nach MAAS 1973, 98) (b) Theorie des sprachlichen Handelns. Der auf WITTGENSTEIN (1967, 24) zurückgehende Begriff des Sprachspiels charakterisiert das Sprechen einer Sprache als Teil einer Tätigkeit und als Lebensform. Die Handlungstheorie beschreibt die Regeln (Handlungsmuster), nach denen die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sprachlich handeln. (HERINGER 1974a, 20-21) (c) Europäischer Strukturalismus. Einführung und Erläuterung der Unterscheidung 'Langue' - 'Parole', (de SAUSSURE 1967, 16) (d) Generativ-transformationelle Sprachtheorie: Ablehnung der behavioristischen Sprachauffassung; Hervorhebung der Kreativität des Sprachgebrauchs. (CHOMSKY 1970, 27-28) 4.6.1. (1) NP - V: Keine Verwirrung entstand Dies geschah : (2) NP - V - NPaa : Wir rammten den Eisberg Es gab eine Erschütterung Die Passagiere meldeten sich
Sie Man Die Man Man Sie
legten die Schwimmwesten an gab keinen Alarm Passagiere erhielten keine Erlaubnis schwenkte die Rettungsboote aus fierte sie hinab verwirrten sich
143 (5) NP - V - PP: Die Stewards gingen zu den Kabinen Alles ging vor sich Die Passagiere waren an Deck Sie gingen hinunter
Ein Teil begann damit Eine Menge war da (8) NP - V - NPd - NPa Man sagte ihnen etwas (11) NP - V - NPa - PP Sie riefen die Passagiere an Deck
4.6.2. (a) Rekursiv sind nur (2) und (3), vgl.:
> ¡B + (C) 1 [D + (E + F)J
Außerdem wie oben, nur mit I statt H unter dem Knoten C. Funktionen: [b, A] [D, B] [G, C] (d) A B D C F
—
[C, ä] [F, B] [H, C]
[E, B] [I, C]
> B +
Anfangssymbol: A
>E >M >K
Zwischensymbole: B, C, D, F
>
+ +
Endsymbole: E, G, H, I, K, L, M
+
H +
§
4.6.3. Obligatorische Ergänzungen sind kursiv geschrieben. Fakultative Ergänzungen sind kursiv und eingeklammert. Angaben stehen in eckigen Klammern. Die Kernsätze stehen rechts neben den Sätzen. (1) Hans wohnt [seit einigen Jahren] in
Hans wohnt in Tübingen
Tübingen
(2) Hans arbeitet [seit einigen Jahren] [in Tübingen] (3) Er schwimmt [jeden Morgen] (4) Er schwimmt [im Baggersee] (5) Er schwimmt (üier den Baggersee) (6) Er dankte (ihm) (für das Geschenk) (7) Er dankte (für das Geschenk)
(8) Er dankte (ihm) (9) Er dankte (ihm) [schriftlich] (10) Er war [die ganze Woche] krank (11) Die Sonne scheint [in dieser Gegend] [selten]
Hans arbeitet Er schwimmt Er schwimmt Er schwimmt über den Baggersee Er dankte ihm für das Geschenk Er dankte für das Geschenk Er dankte ihm Er dankte ihm Er war krank Die Sonne scheint
144
(12) Die Urlauber warteten [im letzten Jahr] [wegen des Lotsenstreiks] [stundenlang] [auf dem Flugplatz]
Die Urlauber warteten
145
5.7.1. Vgl. die in Kap. 5 genannten Gesichtspunkte. 5.7.2. Folgende Probleme treten auf: (a) aufmacht bildet im Nebensatz die Konstituente V, ist aber im Aussagesatz diskontinuierlich, so daß zwei verschiedene Konstituenten, nämlich macht (V) und auf (Verbpräfix) angesetzt werden müßten.
146 (b) Das mehrteilige Prädikatsverb wird ... kaufen (Futur) ist im Aussagesatz diskontinuierlich und kann, im Gegensatz zum Prädikatsverb kauft, nicht als einheitliche Konstituente beschrieben werden. Die syntaktische Verwandtschaft zwischen kauft und wird kaufen kommt nicht zum Ausdruck. (c) Aussage- und Fragesatz sind syntaktisch miteinander verwandt. Sie müßten jedoch durch verschiedene KS-Regeln abgeleitet werden. (d) den ganzen Tag und den ganzen Käse sind ihrer Form nach gleich. Erst auf einer abstrakteren Ebene kann der Funktionsunterschied (akkusativische Angabe der Zeit bzw. Akkusativergänzung) beschrieben werden. (e) Die PP von Arbeitsgruppen ist konstruktioneil mehrdeutig. Sie kann sich als Attribut auf Referate oder als Satzglied auf wurde verlesen beziehen. Der Unterschied kann zwar in der KS-Struktur ausgedrückt werden, vgl.:
Referate
von Arbeitsgruppen
von Arbeitsgruppen verlesen
Die tiefere syntaktische Verwandtschaft mit Sätzen wie Referate von Arbeitsgruppen wurden im Seminar verlesen. Man verlas im Seminar Referate von Arbeitsgruppen bzw. Referate wurden im Seminar von Arbeitsgruppen verlesen, Arbeitsgruppen verlasen im Seminar Referate entzieht sich jedoch einer Beschreibung. 5.7.3. 1. Schritt: Ableitung der zugrundeliegenden Struktur (a)
S
ein
Jäger
den
Igel
fängt
(b) analog zu (a) (c) analog zu Figur 4 in Kap. 5.3. (d) analog zu Figur 4 in Kap. 5.3. 2. Schritt: Anwendung der Transformationsregeln und Bildung der abgeleiteten Struktur (a) Anwendung von (T 1), obere Alternative, und (T 2): S
ART
den
Wanderer
147
(c) Anwendung von (T 1), obere Alternative: Vgl. Figur 5 in Kap. 5.3. (d) Anwendung von (T 1) , obere Alternative, und (T 2): Vgl. Figur 7 in Kap. 5.3. 5.7.4. Auf eine gemeinsame Tiefenstruktur sind (b), (c) und (e) zurückzuführen. Die Sätze in (b) und (c) sind äquivalent und enthalten die gleichen lexikalischen Einheiten. Aktiv und Passiv bzw. daß-Satz und Infinitivkonstruktion sind syntaktisch miteinander verwandt. Die Sätze in (c) enthalten die gleichen Lexikoneinheiten und drücken die gleiche Proposition aus; sie unterscheiden sich nur in ihrer kommunikativen Funktion (Frage bzw. Aussage), die in der Tiefenstruktur nicht repräsentiert wird. Die Sätze (a) und (d) haben keine gemeinsame Tiefenstruktur. Das Substantiv Junggeselle und das Adjektiv unverheiratet werden als verschiedene Lexikoneinheiten repräsentiert. Die Ausdrücke jem. töten und bewirken, daß jem. stirbt sind nicht nur lexikalisch verschieden, sondern auch syntaktisch nicht aufeinander zu beziehen. 5.7.5. Die Sätze (a) und (b) sind mehrdeutig; es sind jeweils zwei verschiedene Tiefenstrukturen anzusetzen: (a) Die PP auf dem Balkon ist entweder Präpositionalattribut zu die Frau und wird als Konstituente von NP repräsentiert oder ist präpositionale Angabe zum Prädikatsverb und wird als Konstituente von VP repräsentiert. Vgl.: Die Frau auf dem Balkon beobachtete er Er beobachtete die Frau, die auf dem Balkon war Auf dem Balkon beobachtete er die Frau Er beobachtete die Frau, als er auf dem Balkon war (b) Die PP an der Brücke hat entweder die Funktion einer Präpositionalergänzung oder die einer präpositionalen Angabe des Ortes. Beide Funktionen sind in der Tiefenstruktur unterschiedlich zu repräsentieren. Vgl.: die Soldaten scheiterten
an der Brücke an der feindlichen Übermacht daran
die Soldaten scheiterten
an der Brücke im Tal dort
Die Soldaten scheiterten im Tal an der feindlichen Übermacht Die Sätze (c) und (d) werden nur durch eine Tiefenstruktur repräsentiert:
148 (c) Großmutter bildet eine einheitliche lexikalische Einheit; die folgenden Paraphrasemöglichkeiten bleiben darum unberücksichtigt: Er liebt die Mutter seiner Mutter Er liebt die Mutter seines Vaters (d) Der Satz kann als Mitteilung, als Warnung, als Drohung usw. verwendet werden. Kommunikative Funktionen werden in der Tiefenstruktur jedoch nicht unterschieden. 5.7.6. Vgl. die in Kap. 5.5. und 5.6. genannten Gesichtspunkte.
LITERATURVERZEICHNIS
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PERSONENREGISTER
Abraham 131 Adelung 42f. Admoni 8, 20, 33f., 38, 41, 44, 68, 103 Andresen 103 Apresjan 38 Austin 59 Bach 88, 135 Bartsch 21, 32 Bechert 18, 20, 84 Becker 6 Behaghel 64 Bierwisch 18, 88, 123 Binnick 131 Bloomfield 34, 46f., 49 Brinkmann 8, 20, 41, 103 Buhr 32, 38 Bünting 38 Buscha 70f., 94, 103 Carnap 46 Chomsky 8ff., 15, 17f., 32, 38, 41, 44, 49ff., 61, 72, 109f., 114f., 119, 122ff., 131ff. Coseriu 49, 65, 131, 135 Dal 5 Descartes 53 Duden 3ff., 43, 65, 68ff., 84, 91ff., 103, llf., 124
Immler 131 Isacenko 103 Jellinek 43 Katz 18, 124f., 131, 135 Klaus 32, 38 Kürschner 131 Kutschera 131 Leech 131 Lewis 65 Lyons 56, 114, 123 Maas 49, 56 Meisel 65 Morris 24 Moser 5, 65 Nida 38, 47 Palmer 38 Paprotte 38 Paul 5, 46, 49, 58, 65 Polenz 65, 103 Ries 1, 5ff., 10, 17, 22, 32
Engel 71 Erben 3, 8, 20, 41, 44, 103
Saussure 44, 46, 49, 56, 65 Schenkel 86f., 91, 103 Schmidt 8 Schnelle 32 Schröbler 5 Searle 59, 65 Skinner 51f.
Fodor 18, 124, 131 Frege 24
Tesnidre 91, 109 Thomas 123
Gleason 38 Glinz 8
Ungeheuer 131
Halle 18 Happ 71, 76 Harris 38 Härtung 123 Heeschen 49, 56 Heibig 38, 49, 56, 68, 70f., 86f., 91, 94, 103, 123 Heringer 18, 32, 65, 86, 91, 103, 131 Hockett 38, 110 Humboldt 53 Hundsnurscher 8, 131
Vennemann 21, 32 Watson 46 Weisgerber 20, 41, 64, 68 Weiss 46 Wells 38 Welte 18, 32, 56, 65, 135 Weydt 131 Wittgenstein 23, 46, 58 Wunderlich 56 Wurzel 18
SACHREGISTER
Ableitung 8, 12f., 27, 29f., Iii., 80f. Abstraktion 109 Abstraktionsebene lllff., 136 Abweichung 61 Adjektiv 95f., 101f., 105 - ergänzung 95f., 101f., 105 - phrase 96, 98, 101 f., 104 Adverb 95 Aktivsatz 130 Alltagssprache 21ff., 25, 28f., 58f., llO Analogie 42f. Analysemethoden 34ff., 47ff. Anfangssymbol 26, 83 Angabe 86f. Angemessenheit der Theorie 31f. Anwendung der Theorie 32 Äquivalenz 128f. Artikel 9, 102f., 105 Artergänzung 95 Aufbau der traditionellen Grammatik 3ff., 17 - der TG 8ff. Äußerung 34, 47ff., 62, 127 Aussage 125ff. - der Theorie 21ff., 26 Aussagesatz 90, 112 Basis der TG 11, 15, 132 Bedeutung 7, 10, 47, 62f., 68f., 123ff. -, begriffliche 126ff., 136 Bedeutungsgleichheit lOf., 54, 127ff. - lehre 2, 7 - regel 62 Begriff 125 - der Theorie 28f. Behaviorismus 46f., 51f., 59 Beschreibung, alltagssprachliche 25 kunstsprachliche 25ff. Corpus 34, 47f. Deletionstest 73, 86 Dependenzsyntax 91 Deskriptivismus 34, 46, 115 Distribution 35ff., 48 Distributionalismus 46
Einfachheit der Beschreibung 123 Einsetzprobe 74 Endsymbol 26, 84 Ereignis 59 Ergänzung 86f. -, fakultative 87 -, obligatorische 87 - des Adjektivs lolf., 105 Ersatzprobe 73 Ersetzungssystem 27 Erzeugung 27 Familienähnlichkeit 23 Form lO, 45, 68, 70f., 105 - der Theorie 28 Formenlehre 7 Fragesatz 90 Funktion 2, 9, 13, 70, 83, 86ff., 105, 111 Ganzheit 41 Gebrauchstheorie der Bedeutung 62f.,
68, 126 Generierung 27, 29 Gleichsetzungsakkusativ 97 Grammatik, generative 8ff., 24ff., 76ff., 115ff. strukturelle 33ff., 44ff. -, traditionelle 3ff., 20ff., 41ff., 67ff., lllff. Grammatiktheorie 20ff. Grundformen 67 Handlung 59f., 62 Handlungskompetenz 61 - muster 60, 62 - theorie 61 f., 131 Idealisierung 55, 65 IC-Analyse 36f., 82, 115 Informantenbefragung 48 Inhalt 68f. Insertionstest 74 Intuition 34, 56, 72, 123 Junggrammatiker 46 Kasus 92f. Kategorien, grammatische 114
155 Kategoriensymbole 77, 80f., 83 Kausalanalyse 52 Kernsatz 67, 72, 75f., 84f., 106 Klassifikation 4f., 35, 51f., 55 Kommutationstest 73 Kompetenz 49ff., 57, 61, 64f. - , kommunikative 56 Konstituente 9, 11, 35, 82, 86 - , diskontinuierliche 117f. - , unmittelbare 36, 82 Konstituentenklasse 9, 11, 35, 116 Konstituentenstruktur llff., 35, 81ff., 115ff. - ebene 115ff. - grammatik 27, 37 - regeln llf., 76ff., 115ff. - syntax 27, 37, 51, 76ff., 115ff. Konstruktion 82 Kontextfreiheit 79 Konvention 63 Kreativität 53f. Kunstsprache 24ff. Langage 44f. Langue 44f., 56 Lautlehre 7 Lesart 124f. Lexikon 11, 13f., 18, 93, 124f. - eintrag 13f., 124f., 128f., 130f. - regel 13f. Logik 24, 135 Mehrdeutigkeit 54, 129ff. Merkmal 13f., 124f. Methode 33ff., 54 Minimalpaaranalyse 35 Mischklassifikation 4f. Mischsyntax 5 Morphem 8, 35, 113f. Naturgesetz 46, 60 Naturwissenschaft 31, 61 Nebensatz 90 Nebensatzwortstellung 12, 88f., 128 Neopositivismus 24, 46 Nominalergänzung 93f., 102, 105 Nominalphrase 12, 102f., 104 Norm, deskriptive 58, 63 - , präskriptive 58, 63 Oberflächenstruktur 11, 15ff., 54, 109f., 119 Paraphrase 127, 133f. Parole 45 Passivsatz 113, 130 Performanz 50, 55 Permutationstest 72f. Pertinenzdativ 99
Phonologie 10 Phrasenklasse 84, 104 Phrasenstrukturgrammatik 27 Position 97, lOOf. Prädikat 9, 13, 9off., 105 Prädikatsverb 9, 13, 90, 92, 105 Prädikatsverband 91 Präposition 94f., 103, 105 Präpositionalergänzung 94f., 102, 105 - Objekt 94 - phrase 94, 102f., 104 Pronomen 102f., 105 Pronominaladverb 103, 105 Proposition 126, 128 Rationalismus 53 Raumergänzung 94 Regel 42, 59f., 62ff. - formulierung 60f-, 62 - , kontextsensitive 79 Rekursivität 78f. Sachverhalt 68, 126 Satz 3, 21ff., 62, 127 - art 112 - bauplan 4, 67ff., 84f., 104ff., 112ff. - bedeutung 69f., 124 - definitionen 2 - gerüst 67 - glied 4, 73, 85f., 105, lllf. - gliedfolge 88f. - modell 67 - muster 67 - lehre 4f., 11 - typ 67, 90 Schreibkonventionen 79f. Schulgrammatik 6 Segmentierung 35, 51 f., 55 Semantik 10, 123ff. - , generative 125, 129 - , interpretative 125 - theorie 124ff. Sozialwissenschaft 61 Spracherwerb 52f., 55, 64, 132 - fähigkeit 50, 131ff. - gebrauch 43f., 48 - kenntnis 48 - norm 56ff. - richtigkeit 42f. - system 44f. - theorie 132 - Unterricht 32 - vermögen 42 Sprechen 42, 45 Sprecher-Hörer, idealer 50, 57, 65 Stammbaum 12f., 26, 80ff. Standardsprache 64 Stimulusabhängigkeit 52
156 Strukturalismus 34ff., 44ff., 50f., 72 Strukturmodell 70 Subjekt 9, 12f., 22, 90ff., 105 Subkategorisierungsregel 15 Substantiv 9, 13, 102f., 105 Substanz 45 Substitutionsanalyse 35f. - test 73f. Syntax als Satzlehre 6 - der Wortklassen und -formen 5f. - , Fragestellung lff. - , generative 8ff., 24ff., 76ff., 115ff. traditionelle 3ff., 21ff., 67ff., lllff. Tests, syntaktische 72ff. Theorie 20f. - , alltagssprachliche 21ff., 30f., 33f. formale 24ff., 38 - der Satzbaupläne 104ff. Tiefenstruktur llff., 54, 109ff. Transformation 15f., 31, 89f., 119ff. Transformationsebene 115ff. - regeln 8, 15ff., 119ff. - test 75
Umformprobe 75 Universalien 131ff. formale 132 - , substantielle 132 Valenztheorie 86, 91 Verallgemeinerung 30, 109 Verb 9, 12, 90, 105, 116 Verschiebeprobe 72f. Verstehen 60 Verwandtschaft von Sätzen 119, 136 Weglaßprobe 73 Wert 44f., 70 Wort 3, 9, 21f., 113f., 137 - bedeutung 124f. - klassen 3f., 102, 104f., 114 - lehre 2, 3f., 11 Zeichen 125 Zusammenhang der Konstituenten 119, 123 - der KS-Regeln 77f. - der Theorie 17f., 29ff. Zwischensymbol 83