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German Pages 268 Year 2018
Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Mende (Hg.) Klang und Semantik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts
Musik und Klangkultur | Band 18
Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Mende (Hg.)
Klang und Semantik in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts
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Inhalt
Perspektiven
Jörn Peter Hiekel / Wolfgang Mende | 7 Am Ausgang des Tunnels ins Unbekannte spekulierend
Überlegungen zum Wechselspiel zwischen Klang und Semantik in der Musik seit 1950 Jörn Peter Hiekel | 13 Vom Sinn des Klangs
Ein Vortrag aus posthermeneutischer Perspektive Nikolaus Urbanek | 47 Das klangsemantische Netz in Arnold Schönbergs Die glückliche Hand
Wolfgang Mende | 71 Filmmusik ohne Film?
Charles Koechlins The Seven Stars’ Symphony Tobias Janz | 97 Klang und Kritik in der Musik der 1920er Jahre
Friedrich Geiger | 117 Peitsche, Glocke, Holz
Semantische Aspekte des Orchesterklangs beim späten Schostakowitsch Stefan Weiss | 133 The Sound of Gender
Überlegungen zur klangsemantischen Konstruktion von Geschlecht im Musiktheater des 20. Jahrhunderts Nina Noeske | 155
Klangsemantik bei Pierre Schaeffer im Kontext der 1950er/60er Jahre
Martin Kaltenecker | 171 Schwarzweiß- und Farbfernhören
Klang und Semantik bei Maurico Kagel und in der African Art Music Tobias Robert Klein | 187 Klangsemantik in angewandter Neuer Musik
Überlegungen zu Film- und Bühnenmusiken von Wolfgang Rihm und Pierre Boulez Martin Zenck | 213 „Es geht nicht um den Klang an sich… als Fetisch“
Notizen zu Klang und Semantik in Konzeptmusik, Diesseitigkeit und Non-cochlear Sonic Art Oliver Wiener | 237
Autorinnen und Autoren | 261
Perspektiven J ÖRN P ETER H IEKEL , W OLFGANG M ENDE
Musikalischer Klang evoziert semantische Assoziationen – das dürfte eine anthropologische Universalie sein, die für die kulturelle Bedeutung jeglicher Musik elementar ist. Das Zusammenspiel von Klang und Semantik ist deshalb grundsätzlich reichhaltig und bedeutsam zu denken. Überraschenderweise ist aber genau dieses Zusammenspiel für die westliche Kunstmusik bislang wenig aufgearbeitet. Die diskursive Engführung der beiden Kategorien, die der Titel dieses Bandes scheinbar so selbstverständlich in den Raum stellt, eröffnet eine in vieler Hinsicht neuartige Perspektive – und dies gerade auch für die westliche Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts, die eine nie dagewesene Differenzierung und Emanzipation des Klangs erlebt hat bzw. immer noch erlebt. Dass die Aspekte der Klangsemantik in der Vergangenheit vielfach ignoriert oder marginalisiert wurden, lässt sich auf die Dominanz bestimmter konzeptioneller und struktureller Paradigmen vor allem beim Reden und Schreiben über Musik zurückführen. Entweder wurde das Klangliche aus dem „inneren“ Bezirk der Sinnproduktion ausgegrenzt. Oder es wurde – unter umgekehrten Vorzeichen – als Refugium einer nicht von Sinn und Semantik „gegängelten“ ästhetischen Erfahrung fokussiert. So ist die jüngste Konjunktur des Begriffs „Klang“ in musikästhetischen Debatten, die sich mit einem umfassenderen sonic turn in den Kultur- und Geschichtswissenschaften berührt, wesentlich von dem gewiss hilfreichen Impuls getragen, die Betrachtung von Musik aus einer logozentrischen Einengung oder gar Fesselung zu befreien. Zugänge dekonstruktivistischer, posthermeneutischer und präsenzästhetischer Provenienz fokussieren in einem neuen Maße Aspekte des Sensuellen, der Körperlichkeit und der Performativität. Die Kategorie des Klangs, die bei aller definitorischen Unschärfe doch zumeist eine Orientierung auf die sinnliche Wahrnehmung einschließt, bildet dabei das Antidot nicht nur gegenüber
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einer Überbetonung des Strukturellen, sondern auch gegenüber einer lange gängigen einseitigen Fokussierung auf eine zu konstruierende „Bedeutung“ des musikalischen Textes. Im mühsam „befreiten“ musikalischen Klang nun doch wieder nach Spuren des Semantischen zu fahnden, scheint dieser emanzipatorischen Tendenz auf den ersten Blick zuwiderzulaufen. Doch ist diesem Einwand Verschiedenes entgegenzusetzen. Erstens belegen wahrnehmungspsychologische Studien, dass auditive Stimuli beim Menschen schon in den frühen kognitiven Verarbeitungsstufen auf internalisierte Erfahrungsinventare bezogen werden, dass es also ein assoziationsfreies, „akusmatisches“ Hören von Klängen in der Regel nicht gibt.1 Und zweitens lässt sich in historischer Perspektive zeigen, dass die Ebene des Klangs zu den semantisch weniger fixierten Aspekten der Musik gehört. Eine posthermeneutische Umfokussierung bedeutet in diesem Bereich somit nicht unbedingt einen kategorischen Paradigmenwechsel. In älteren Konzepten, die dem Semantischen ganz dezidiert einen zentralen Stellenwert beimaßen, war das Klangliche nämlich aus dem Dispositiv musikalischer Bedeutungskonstitution geradezu ausgegrenzt. Unter der Ägide einer idealistischen Musikästhetik etwa galt die klangliche „Einkleidung“ oftmals nur als sinnliche Außenseite des musikalischen Kunstwerks, dessen ästhetische Substanz in den Tonrelationen verortet wurde. Klangfarbe wurde allenfalls eingeschränkt als „geistfähiges Material“ verstanden. Erkennbar ist dies etwa daran, dass diese Ära zwar eine blühende Leitmotivexegetik hervorgebracht hat, aber keine vergleichbare Praxis einer Klanghermeneutik – und dies, obwohl Instrumente und Klangfarben ganz offensichtlich nach Maßgabe semantischer Codes eingesetzt worden und obwohl diese Codes in Instrumentationslehren wie der von Berlioz oder Gevaert sogar ausgiebig verbalisiert wurden. In der Neuen Musik, ausgehend von Debussy, Varèse und anderen Komponisten, zugespitzt dann seit den 1950er Jahren in der Klangkomposition und in verschiedenen Konzepten elektroakustischer Musik, hat „Klang“ als kompositionsästhetische Kategorie eine ungekannte Emanzipation erfahren. Ermöglicht wurde dies durch seine Entbindung aus einer lediglich funktionalen Rolle innerhalb des Strukturparadigmas tonaler Syntax.2 Wie sich aber das Verhältnis zwischen der
1
Vgl. Helmut Rösing, „Klangfarbe in der Musik – rezeptionspsychologisch betrachtet“, in: August Schmidhofer/Stefan Jena (Hg.), Klangfarbe. Vergleichend-systematische und musikhistorische Perspektiven (= Vergleichende Musikwissenschaft 6), Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 136–139.
2
Vgl. Christian Utz, „Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation“, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel 2016, S. 35–53, bes. S. 41 f.
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strukturell und ästhetisch aufgewerteten Kategorie des Klangs und seinen grundsätzlich anzunehmenden semantischen Implikationen in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt, ist noch weitgehend unerforscht. Und gerade dies markiert einen der Ausgangspunkte der vorliegenden Publikation. Bevor dies anhand eines ersten Überblicks über die in ihr versammelten Beiträge weiter erläutert wird, sei noch einmal kurz auf die schwierige Rezeption des vorliegenden Themas zurückgekommen, zumal diese bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hineinragt und damit zu tun hat, dass das Schrifttum zur neueren Musik jahrzehntelang von groben Vereinfachungen geprägt war. Dass die Frage nach dem Verhältnis von Klang und Semantik bislang kaum gestellt wurde, dürfte unter anderem auch auf eine zeitgeschichtlich bedingte Dialektik zurückzuführen sein. Nach dem Ersten Weltkrieg ist hier die Aversion gegen die Weltanschauungsmusik der vorangegangenen Spätromantik mit ihrem oftmals hypertrophen Anspruch an semantische Fasslichkeit zu nennen; in der westlichen Avantgarde nach 1945 dann zumindest punktuell auch eine Abgrenzung gegenüber der auf „Inhaltlichkeit“ verpflichteten Kunst des Sozialistischen Realismus. Symptomatisch für eine noch tief ins 20. Jahrhundert hinein anzutreffende Skepsis gegenüber einer zu markant auftrumpfenden Semantik ist das auf den Umfang einer Druckseite beschränkte Unterkapitel „Instrument als Symbolträger“ in dem 1985 erschienenen Kompendium Instrumentation in der Musik des 20. Jahrhunderts. Fixe Korrelationen zwischen Instrument und Sinngehalt wie beispielsweise zwischen Xylophon und dem Makabren bei Mahler seien „längst überholt“, heißt es in diesem Buch. Und als einziges jüngeres Beispiel für eine solche Praxis wird Sergej Prokofjews musikalisches Märchen Peter und der Wolf vorgestellt.3 Die semantische Motivierung von Instrumentation wird damit als infantile Praxis hingestellt, ohne zu registrieren, welche Kontinuitäten und Profilierungen semantischer Elemente es auch in der westlichen Avantgardemusik gab. Denn gewiss sind im 20. und 21. Jahrhundert die semantischen Kodierungen von Klängen und Instrumenten aus dem kulturellen Gedächtnis keineswegs getilgt worden. Ihre semiotischen Zuordnungen werden nicht nur durch das Konzert- und Musiktheaterrepertoire lebendig gehalten, sondern viel weitreichender noch durch ein massenmediales Phänomen wie die Filmmusik. Und auch die Neue Musik hat im großen Stil auf das klassische Orchesterinstrumentarium sowie auf symbolische, auratische und semantische Dimensionen der Instrumente zurückgegriffen.
3
Walter Gieseler/Luca Lombardi/Rolf-Dieter Weyer, Instrumentation in der Musik des 20. Jahrhunderts. Akustik, Instrumente, Zusammenwirken, Celle 1985, S. 233–235.
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Selbst Neukreationen wie die elektronischen Instrumente haben mit ihren vielfältigen Assoziationstangenten keinen asemiotischen Raum eröffnet. Eine tabula rasa der Klangsemantik hat es zu keiner Zeit gegeben. Welche Rolle spielen diese ererbten Kodierungen in den einzelnen Werken dieses weit gestaffelten Bereichs? Fungieren diese Kodierungen als assoziative Reste, als Fundus der Parodie oder als Folien der Abgrenzung und Negation? Und welche neuen Formen semantischer Bezugnahme hat die Musikkultur seit dem frühen 20. Jahrhundert hervorgebracht? Fragen wie diesen, die sicherlich kaum generalisierend zu beantworten sind, sondern ein erhebliches Maß an Differenzierung erfordern, suchen sich die Beiträge dieses Bandes in einem multiperspektivischen, bewusst nicht von Kohärenzachsen vorgeordneten Zugriff zu nähern. Den Radius neuer Perspektiven stecken gleich die beiden eröffnenden Beiträge ab. Jörn Peter Hiekel deckt unterschiedlichste Figurationen des Semantischen bei einer Reihe wichtiger Komponisten der letzten Jahrzehnte auf, auch bei solchen wie etwa Pierre Boulez, denen der Ruf strenger semantischer Abstinenz anhaftet. Voraussetzung dafür ist eine von Albrecht Wellmers Versuch über Musik und Sprache ausgehende Differenzierung des musikalischen Sprachcharakters, die auch Formen einer zwischen Konkretion und Abstraktion changierenden, individualisierten, die festen Codes der Tradition transzendierenden Semantizität einschließt. In einer eher komplementär als konträr zu nennenden Gegenperspektive lotet Nikolaus Urbanek im Anschluss an Dieter Merschs Konzept der Posthermeneutik aus, inwieweit in der Medialität, Performativität und Materialität musikalischen Klangs Spuren eines Unbestimmbaren, Widerständigen greifbar werden, die sich einer sinngenerierenden Explikation im Sinne herkömmlicher Hermeneutik entziehen. Die folgende Sequenz von Beiträgen fragt nach dem Umgang mit den klangsemantischen Codes des 19. Jahrhunderts in Werken von Komponisten, die dieser Tradition in der einen oder anderen Weise noch unmittelbar verbunden waren. So demonstriert Wolfgang Mende, dass in Arnold Schönbergs Die glückliche Hand trotz der postulierten Abkehr von aller Symbolik und Logik die Instrumentation zumindest partiell ein kohärentes klangsemantisches Netz ausbildet. Tobias Janz zeigt, wie in Charles Koechlins Seven Stars’ Symphony (1933), einer Meta-Filmmusik, die nur lose mit konkreten Filmdramaturgien assoziiert ist, die Tendenz zu äußerster klanglicher Subtilität und ästhetischer Autonomie damit einhergeht, auf konventionalisierte Klangtopoi nur noch in stark abstrahierter und sublimierter Form zurückzugreifen. Wie orchestrale Klangtypen der Spätromantik und des Impressionismus in parodistischer Transformation zum Gegenstand eines kritischen
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Humors werden können, belegt Friedrich Geiger an wenig bekannten bzw. erst kürzlich rekonstruierten Werken von Erwin Schulhoff und Paul Hindemith. Einen semantikfixierten Musikdiskurs, der dem klassisch-romantischen Kanon ganz unkritisch gegenüberstand und dezidiert auch die Bedeutungshaltigkeit klanglicher Intonationen einschloss, brachte die Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus hervor. Stefan Weiss legt dar, wie innerhalb dieses semiotischen Raums im Spätwerk Dmitri Schostakowitschs ausgefallene Idiophone wie Peitsche, Röhrenglocken und Holzbock symbolisch auf zerstörerische Gewalt, mahnendes Gedenken und Vergänglichkeit verweisen – und damit auf das MetaThema des Todes anstelle der gewünschten affirmativen Botschaften. Zwei weitere Beiträge beleuchten den Aspekt der Klangsemantik im Horizont größerer kultureller Bezugssysteme. Nina Noeske untersucht an Musiktheaterkompositionen von Paul Dessau, György Ligeti und Bernd Alois Zimmermann das Nachwirken und die Modifikationen der aus dem 19. Jahrhundert ererbten genderkonnotierten Klangfarbentopoi. Tobias Robert Klein analysiert die Frage der Klangsemantik aus postkolonialer Perspektive anhand von Kompositionen, die Elemente europäischer und afrikanischer Musik entweder mit kritischer Intention kombinieren (wie bei Mauricio Kagel) oder in kulturamalgamierender Absicht (wie bei den Vertretern der African Art Music Ayo Bankole und Solomon Mbabi-Katana). Sein Befund deckt auf, dass bei aller Heterogenität beide Zugänge die ethnisch-kulturell begründete Semantik von Instrumenten auch nach über einem Jahrhundert Dekolonialisierung letztlich zementieren. Drei abschließende Beiträge widmen sich spezielleren Phänomen der Neuen Musik nach 1945. Martin Kaltenecker reflektiert kritisch das in Pierre Schaeffers Traité des objets musicaux (1966) entworfene Projekt einer Semiotik rein formal begründeter „Sinn-Werte“ von Klangobjekten, die ein akusmatisches Hören jenseits der kulturell codierten Semantik der Klangquellen ermöglichen und zugleich die Dimension eines sinnlich-haptischen Klangerlebens von mystischer Qualität eröffnen soll. Martin Zenck untersucht die syntaktischen Bedingungen von Klangsemantik in angewandter Neuer Musik am Beispiel von Wolfgang Rihms Bild (eine Chiffre) zu Luis Buñuels Film Un chien andalou sowie Pierre Boulez’ Musiken zu Jean Mitrys Film Symphonie mécanique und Jean-Louis Barraults Inszenierung der Orestie. Dabei erweisen sich Denkformen einer Asynchronität, die hier bewusst angewendet werden und vor dem Hintergrund alternativer, nichteuklidischer Raumvorstellungen zu sehen sind, auch für die autonom konzipierten Werke der Komponisten als relevant. Das mehrfach gebrochene Verhältnis zwischen Klang und Semantik in neuesten Ansätzen von Konzeptmusik, Diesseitigkeit und Non-cochlear Sonic Art reflektiert Oliver Wiener im letzten Beitrag des Bandes. Eine besondere Spannung erzeugt hier einerseits die Orientierung an der
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postmodernen Dekonstruktion von Werk, Identität und Sinn und andererseits ein Streben nach offensiver Zuwendung zur modernen Lebenswirklichkeit im Kontext von Überlegungen zu einer neuen Gehaltsästhetik. Die Beiträge gehen auf ein am 19. und 20. September 2013 von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und der Technischen Universität Dresden veranstaltetes Symposium im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung zurück. Außer allen Autorinnen und Autoren ist an dieser Stelle beiden Hochschulen zu danken – sowohl für die Unterstützung des Symposiums als auch für jene der Drucklegung dieses Bandes. Man kann die Frage stellen, ob ein stummes Medium wie das Buch überhaupt geeignet ist, eine Reflexion über Klang adäquat zu fassen. Es zwängt schließlich alles Transsemantische in die Form des verbalen Diskurses. Um dieses Defizit etwas abzumildern, sind in den Beiträgen Audiospots und in einigen Fällen auch Videospots mit dem Symbol gekennzeichnet. Sie verweisen auf Klangbeispiele, die auf der Website des transcript Verlags unter der Adresse www. transcriptverlag.de/978-3-8376-3522-5 abgerufen werden können. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der dafür verwendeten Aufnahmen. Klangforschung ist ein vitales Wissenschaftsfeld, das nach interdisziplinärer Behandlung drängt. Die jüngste Reflexion über Klang als das transhermeneutische „Andere“ hat der Musikwissenschaft bereits wichtige Impulse gebracht. Mit diesem Band verbinden wir die Hoffnung, dass eine differenzierte Sicht auf dessen semantische Dimension ähnlich fruchtbare Debatten anregt.
Am Ausgang des Tunnels ins Unbekannte spekulierend Überlegungen zum Wechselspiel zwischen Klang und Semantik in der Musik seit 1950 J ÖRN P ETER H IEKEL
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VIELFÄLTIGE I NTERESSE AM
K LANG
Es gibt im Reden und Schreiben über das Komponieren der letzten Jahrzehnte einige erhebliche Defizite und Einseitigkeiten, bei denen man vermuten kann, dass sie mit jener Tendenz zur linearen Erzählung der Musikgeschichte zusammenhängen, die in der Musikwissenschaft lange bestimmend war. Eines von ihnen besteht darin, dass das für die Musik des 20./21. Jahrhunderts so wichtige Thema „Klang“ eine Zeitlang viel zu wenig Beachtung fand. Vergleichbares gilt jedoch auch für jenes Zusammenspiel von Klang und Semantik, das im Vorliegenden beleuchtet werden soll. Gemeint sind damit semantische Akzentuierungen, die sich aus klanglichen bzw. klangfarblichen Setzungen ergeben und gerade im Rahmen der neueren und neuesten Musik sowohl das klassische Instrumentarium als auch andere Klangquellen betreffen. Dies geschieht zum Teil mit bewährten Strategien, die an die bereits im 19. Jahrhundert geläufigen Codierungen erinnern und an geläufige Topoi oder Formeln anknüpfen. Aber in wachsendem Maße kommen dabei auch kompositorische Ansätze zum Zuge, aus denen andere Mischverhältnisse bzw. Präsenzgrade von strukturellen Gegebenheiten einerseits und klanglichen Akzentuierungen andererseits resultieren und in denen semantische Besetzungen und Akzente sich erheblich anders darbieten als in Musik früherer Zeiten. Gemessen an den zuweilen recht einfachen Realisierungen des Zusammenspiels von
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Klang und Semantik in vieler Musik früherer Zeiten kann man von einer erheblich gewachsenen Vielfalt und zugleich Komplexität in diesem Felde sprechen. Wenn solche Einsichten, die im vorliegenden Beitrag anhand von einigen wichtigen Beispielen spezifiziert werden sollen, bislang zu wenig berücksichtigt wurden, so verweist dies auf die im Schreiben über Neue Musik lange gültige Bevorzugung struktureller Belange. Das hieß zuweilen sogar, dass ein weitgehender Verzicht auf Semantik als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wurde. Ganz besonders betrifft dies den Umgang mit der seriellen Musik, die oft auf einen rigorosen Konstruktivismus verkürzt wurde. Und manchmal wurde die serielle Musik gerade an diesem Punkt sogar als Pars pro toto genommen, also als typisch für die Neue Musik seit 1950 insgesamt. Grob gesagt, sah das allzu schablonenhafte Reden zuweilen so aus: erst kamen die Serialisten, die alles platt machten und so etwas wie Bedeutungsbildungen oder auch die Entfaltung von Klängen und deren Farben ganz eliminierten, dann kam John Cage mit seiner alles auflösenden Aleatorik und seinem fröhlich-dadaistischen Sinnlosigkeitsgehabe. Dann kam das Feld der „Klangkomposition“, die zwar nicht Sinn, aber Klang-Sinnlichkeit ins Spiel brachte. Und schließlich war man schon fast in der Postmoderne, in der das Rad irgendwie wieder zurückgedreht und Anschluss an die gute, alte Zeit der klanglichen Sinnfälligkeiten, tönend bewegten Formen und klar definierten semantischen Akzentuierungen gefunden wurde. Natürlich ist das hier Skizzierte ein wenig zugespitzt. Doch wird man leicht fündig, wenn man sich auf die Suche nach Äußerungen begibt, in denen Relevanz und Präsenz des Semantischen für die neuere Musik weithin in Abrede gestellt werden. Und das gilt gewiss auch für Stellungnahmen, die über das eben vorgestellte simple Beschreibungsschema deutlich hinausgehen. Als prominenter Vertreter des Faches sei hier Carl Dahlhaus erwähnt – und als Beispiel sein Text „Über Sinn und Sinnlosigkeit in der Musik“ herausgegriffen, der auf einem Vortrag im Jahre 1971 basiert.1 Die im Titel dieses Vortrags genannte „Sinnlosigkeit“ diagnostiziert Dahlhaus darin gleichermaßen bei John Cage, dessen Ansatz er als „verspätete[n] musikalische[n] Dadaismus“2 bezeichnet, sowie ausdrücklich auch im Bereich der „Klangkomposition“. Die Neue Musik befindet sich nach seiner Darstellung in der gefährlichen Situation zwischen
1
Carl Dahlhaus, „Über Sinn und Sinnlosigkeit in der Musik“, in: Die Musik der sechziger Jahre. Zwölf Versuche, hg. von Rudolf Stephan, Mainz 1972 (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 12), S. 90–99.
2
Ebd., S. 94.
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der Scylla der totalen Sinnauflösung und der Charybdis der vordergründigen Verpflichtung auf einen bestimmten engen Sinnhorizont – mit Letzterem meint Dahlhaus musikalische Sinnbildungen, die eine Tendenz zu politischen Akzentuierungen und nach Meinung des Autors damit eine „Rückwendung zur Funktionalität“3 aufweisen. Die Position, von der aus hier und in ähnlichen Stellungnahmen manche Entwicklungen der Neuen Musik als Sinnverlust charakterisiert werden, erscheint aus heutiger Sicht von einem recht engen Horizont bestimmt. Dazu passt es, dass unter dem Primat eines teleologischen Denkens die Verschiedenartigkeit der damals schon koexistierenden Ansätze weitgehend übersehen und manchen Komponisten, die bewusst andere Wege gingen, eine bloße Außenseiterrolle zugewiesen wurde. Diese Position ignoriert etwa jenen Aspekt einer „Sprache des Körpers“, der erst in den letzten Jahren innerhalb der Musikwissenschaft zu einem wichtigen Teilaspekt geworden ist, dabei exemplarisch für die Entfernung von begrifflichen Fixierungen und die Erschließung mancher posthermeneutischer Zugangsweisen steht.4 Aber sie ignoriert besonders auch die enorme Vielfalt an klanglichen Differenzierungen, die sich mit den neuen kompositorischen Möglichkeiten ergab, in durchaus erheblichem Maße mit neuen Akzentuierungen von Semantik einherging – und viel weniger mit der Idee einer „absoluten“ Musik in Konvergenz zu bringen ist als dies oft behauptet wurde. Man sollte bei alledem nicht außer Acht lassen, dass „eine bedeutende Leistung der musikalischen Avantgarde der zweiten Jahrhunderthälfte […] im Abbau jener Hierarchien [bestand], die der kompositorischen Arbeit seit der Etablierung des tonalen Systems zugrunde lagen“.5 Entsprechend dieser Einschätzung lässt sich konstatieren, dass das oft als bloßer Verzicht Beschriebene angemessener als
3
Ebd., S. 97.
4
Vgl. dazu die Beiträge in dem Band Verkörperungen der Musik. Interdisziplinäre Betrachtungen, hg. von Jörn Peter Hiekel und Wolfgang Lessing, Bielefeld 2014, den Band Klang (ohne) Körper. Spuren und Potenziale des Körpers in der elektronischen Musik, hg. von Michael Harenberg und Daniel Weissberg, Bielefeld 2010, ferner Christa Brüstle, Art. „Körper“, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel 2016, S. 352–354, sowie neuerdings Martin Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde, Paderborn 2017, vor allem das Kapitel „Körperlichkeit“ (S. 407–592).
5
Gianmario Borio, „Vom Ende des Exotismus, oder: Der Einbruch des Anderen in die westliche Musik des 20. Jahrhunderts“, in: Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik, hg. von Andreas Meyer, Mainz 2011, S. 114–134, hier S. 128.
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Erforschung und Realisierung neuer Gestaltungen – und nicht zuletzt ungewöhnlicher klanglicher Differenzierungen – akzentuiert werden kann. Es gibt im Feld der Musik seit 1950 nicht wenige bedeutende Persönlichkeiten, deren künstlerisches Hauptinteresse gerade in der Entwicklung spezifischer Klangmöglichkeiten lag bzw. liegt. Oft geht dies mit der Idee einher, wesentliche andere Dimensionen aus diesen Klangmöglichkeiten abzuleiten – für Letzteres ist die als „spektrales Komponieren“ bezeichnete Richtung französischer Provenienz das bekannteste Beispiel. Wie aber, so lautet die im Vorliegenden leitende Frage, sind wesentliche Tendenzen des facettenreichen Zusammenspiels von Klang und Semantik in der Musik nach 1950 zu fassen? Bevor gerade dieser Frage anhand von einigen signifikanten Werken nachgegangen wird, sowohl geläufigen als auch weniger geläufigen, ist zu betonen, dass an diesem Punkte kein einheitliches Bild zu zeichnen ist, sondern eines, das in eine Vielfalt von Teilaspekten aufzufächern ist. Zu denken ist bei diesem Aspekt, bei dem die ungewöhnlich schattierte klangliche Seite stets mit der Option spezifischer semantischer Akzentuierungen einhergeht, zumindest an sechs verschiedene Ausprägungen: erstens an die schier unendliche Fülle der Integration und Verarbeitung von Natur-, Alltags- oder Umweltklängen, die bei unterschiedlichsten Konzepten ins Spiel geraten, zweitens an die unterschiedlichsten Einsatzmöglichkeiten von ungewöhnlichen Klangfarben bzw. Klangfarbenkombinationen, die mit altehrwürdigen oder mit neu konzipierten Instrumenten oder aber mit einer enormen Fülle an elektronischen Klangerzeugern hergestellt werden. Zu denken ist drittens aber auch an unterschiedlichste Hervorbringungen mit der Stimme bzw. mit dem gesamten Körper, viertens an die vielfältigen Soundscape-Projekte, die gemeinhin dem Bereich der „Klangkunst“ zugeordnet werden, fünftens an die damit zuweilen verschränkten konzeptuellen Ansätze von Musik, die in englischsprachigen Diskussionen mitunter als „Non-cochlear Sonic Art“ rubriziert werden,6 sechstens schließlich an die Integration und Rezeption spezifischer Sounds populärer Musikformen. Zumindest ein Teil dieser Facetten, die für die Perspektiverweiterung heutigen Komponierens stehen, wird im vorliegenden Beitrag diskutiert. Dies geschieht besonders anhand von Werken, die in ihrer grundsätzlichen Disposition als Instrumentalwerke oder Musiktheaterstücke an klassische musikalische Kontexte und Erfahrungsmöglichkeiten anknüpfen, punktuell und gleich zu Beginn aber auch mit Ansätzen, die von diesen in signifikanter Weise oder sogar grundsätzlich abweichen.
6
Seth Kim-Cohen, In the Blink of an Ear. Toward a Non-cochlear Sonic Art, New York/London 2009. Vgl. zu diesem Teilbereich der heutigen musikalischen Gesamtkultur den Beitrag von Oliver Wiener im vorliegenden Band.
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Dass nicht jeder klanglichen Setzung konkrete semantische Bezüge zuzuordnen sind, die auf geläufige Topoi verweisen, versteht sich von selbst. Andererseits gehört es zu den Grundeinsichten des Umgangs mit neuerer Musik, dass der eben genannte Abbau der Hierarchien eben auch für das Generieren bzw. Aufrufen von Semantik völlig neue Ideen hervorbrachte – oder genauer gesagt: subtilere und differenziertere Möglichkeiten der Akzentuierung von Bedeutung. Zu bedenken ist mit Blick auf die unterschiedlichsten Mischverhältnisse überdies, dass in manchen Musikwerken, in denen der Abbau der Hierarchien und dabei namentlich der Verzicht auf motivisch-thematisches Denken besonders weit getrieben sind, selbst kleine, punktuelle Akzentuierungen dazu angetan sein können, Momente von Bedeutung in ganz spezifischer und manchmal plötzlicher Weise aufblitzen bzw. anklingen zu lassen – über die Suggestion einer Geschlossenheit oder gar Stabilität der semantischen Seite hinaus. Dabei lassen sich, ähnlich wie in manchen Spielarten etwa des postdramatischen Theaters, vielfältige Ansätze finden, die gerade nicht auf eine Einheitlichkeit und Stimmigkeit nach Maßgabe der Kriterien früherer Zeiten zielen, sondern eine Tendenz zu ambivalenten, überraschenden oder bewusst offenen semantischen Konstellationen verraten.
E RKENNTNISTHEORETISCHER W ITZ UND DIE F RAGE DES REINEN K LANGS : J OHN C AGE UND A LVIN L UCIER Signifikant ist in dieser Hinsicht die auch von Carl Dahlhaus als Reflexionsanlass gewählte Musik von John Cage, die ja einen besonders oft diskutierten Extrempunkt der neueren Musikgeschichte markiert. Die zu dieser Musik gehörende Vielfalt an klanglichen Differenzierungen – am berühmtesten sind das präparierte Klavier sowie der Einsatz von Alltagsklängen – ist mittlerweile so geläufig, dass sie kaum weiterer Betonung bedarf. Aber wie steht es hier oder bei den von Cage beeinflussten Konzepten mit den Möglichkeiten bzw. Erfahrungsräumen des Semantischen? Kennt man die jahrzehntelange musikwissenschaftliche Distanz gerade gegenüber Cage, überrascht der auf diesen Komponisten bezogene Teil der eben zitierten Dahlhaus-Diagnose kaum, der zufolge Sinn nicht konstituiert, sondern eliminiert werde. Im Falle von Cage, dem es um eine Abwehr gegen die Vereidigung der Musik auf bestimmte – traditionsgesättigte – Bedeutungen ging, mag man sich an den oft zitierten Satz von Roland Barthes erinnert fühlen, nach dem der Sinn schelmisch ist und dann, wenn man ihn aus dem Haus jagt, zum Fenster wieder
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einsteigt.7 Doch wer bei Cage Semantisches nach Maßgabe jener rhetorischen Tradition sucht, die er gerade hinter sich lassen wollte (und in seinem mehrteiligen Musiktheaterwerk Europeras wohl auch karikierte), würde an den Grundbedingungen wie auch an der Freiheit seines Komponierens erheblich vorbeigehen. Gewiss finden sich bei Cage bemerkenswerte Strategien des Umgangs mit Semantik, die einen Prozess der Öffnung darstellen und als „Oszillieren zwischen reiner Klangwahrnehmung und Bedeutungszuschreibung“8 beschrieben werden können. Und selbst in seinen Zufallskompositionen kommt es vor, dass „ein semantisches Feld durch Titelgebung, Spielanweisung und spezifische Eigenart des Herstellungsprozesses als ein substantieller Bestandteil des Werkes zu gelten hat“.9 Doch noch mehr gilt gerade mit Blick auf Cage das, was der Kulturwissenschaftler Karlheinz Bohrer bereits um 1980 mit Blick auf Marcel Duchamp äußerte: „Wir haben bis heute die Tiefen-Dimension der Avantgarde [...] nicht erforscht, weil sie viel zu früh formalistisch als Anti-Kunst klassifiziert [...] wurde. [... Der] erkenntnistheoretische Witz [...] Duchamps [...] muß überhaupt noch realisiert werden im Kopfe der Wissenschaft, im Kopfe von uns allen.“10
Mit dem „erkenntnistheoretischen Witz“ hat Bohrer etwas benannt, das auch heute noch viel zu wenig im Bewusstsein vieler über Musik Schreibenden angekommen ist. Dabei weist dies auf Dimensionen von Kunst, die einen Modus des Verstehens intendieren, der jenseits von klaren semantischen Distinktionen liegt und Ambivalentes und Inkohärentes akzeptiert, ohne deswegen ins Nebulöse und Unbelegbare führen zu müssen. Immerhin ist zu beobachten, dass sich das Reden über Ansätze wie die von Cage oder Duchamp mittlerweile etwas gewandelt hat. Inzwischen wurde von verschiedensten Seiten deutlich herausgearbeitet, dass für das Schaffen und Denken von Cage eine stark vom Buddhismus geprägte existentielle oder spirituelle Seite
7
Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 193.
8
Marion Saxer, „Sternen-,Cartograph‘. Zur Rolle der Semantik in John Cages Etudes Australes“, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 46 (Februar 2001), S. 11– 14, hier S. 15.
9
Ebd.
10 Karl Heinz Bohrer, „Die Furcht vor dem Unbekannten. Zur Vermittlungs-Struktur von Tradition und Moderne“, in: ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, S. 68–86, hier S. 77.
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wesentlich ist, eine Dimension, die früher oft (und etwa auch im zitierten Beitrag von Dahlhaus) schlicht als „Mystizisms“ abgetan wurde. Und in den letzten Jahrzehnten haben sich sehr viele unterschiedliche Positionen herauskristallisiert, die zwar im Rahmen der von Cage wesentlich geprägten „experimentellen“ USamerikanischen Tradition stehen oder zumindest von ihr inspiriert wurden, aber doch auch bewusst andere Akzente setzen als Cage. Ein Beispiel dafür ist Alvin Lucier, der in seinen Arbeiten oft von spezifischen Versuchsanordnungen ausgeht, die körperliche und/oder physikalische Phänomene erfahrbar zu machen suchen. Für Lucier selbst bedeutet dies, wie er 2004 in einer Positionsbestimmung formulierte, „die Suche [...] nach einer neutralen, nicht kulturell geprägten Musik ohne Sprache, aus reinem Klang“.11 Folgt man dieser Sicht, markiert gerade der Verzicht auf vielerlei mögliche Bezüge und semantische Assoziationen einen Prozess der Öffnung. Aber, und das ist entscheidend, dieser Verzicht geht in Luciers Musik, über das in den Worten des Komponisten Gesagte hinaus, mit einer entschiedenen Tendenz zur Sensibilisierung für feinste Klangnuancierungen einher, bei denen Alltags- bzw. Körperbezüge im Spiel sind. Dies kulminiert in dem Stück Music for solo performer (1965), das auf der Verstärkung von Gehirnwellen basiert – und die Frage beleuchtet, inwieweit Gedanken auf Klänge wirken können. Gerade die Schwelle zwischen Klang und (sprachlichem) Sinn wird, wie an diesem Beispiel erfahrbar ist, von Lucier oft zum zentralen Gegenstand der Reflexion erhoben.12 Auch I am sitting in a room (1969), Lucier berühmtestes Stück, ist dafür ein gutes Beispiel, wird hier doch mit beträchtlichem erkenntnistheoretischem Witz die Frage der Verwandlung und Auflösbarkeit von Semantik in reinen Klang durchgespielt.
11 Alvin Lucier, „Öffnen statt Schließen. Die Zukunft unserer Musik“, in: MusikTexte, Heft 102 (August 2004), S. 39. 12 Johannes Kreidler schrieb im Jahre 2010 eine ironisch akzentuierte Bearbeitung des Stückes mit dem Titel Music for a solo Western Man für Performer, Moderator, LiveElektronik, Video, Klavier, Altsaxofon/Bassklarinette, Kontrabass und Schlagzeug, die diese Übergängigkeit herausarbeitet, wenn sie auch die semantische Seite bewusst ganz anders akzentuiert: nämlich so, dass der Ausführende mit konkreten Erfahrungen konfrontiert wird und die Frage nach deren Einfluss auf seine Gehirnwellen ins Blickfeld rückt.
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V ERLUST
UND
G EWINN : B OULEZ
ALS
B EISPIEL
Wenn Dahlhaus in dem zitierten Beitrag auch an der so genannten „Klang-Komposition“ – die nach einem älteren musikwissenschaftlichen Verständnis so unterschiedliche Ansätze wie die von Krzysztof Penderecki, György Ligeti, Helmut Lachenmann und Gérard Grisey umfasst – wenig Gutes erkennen kann und dieses vergleichsweise breite Feld unterschiedlicher Ansätze pauschal als „Regression“ bezeichnet,13 so folgt er damit konsequent seiner eigenen Favorisierung der Idee der absoluten Musik und der in seinem Beitrag definierten Gleichsetzung von „Sinn“ und „Stimmigkeit“, ausgehend von einem Zeichencharakter, der referentiell ist und überdies Referenz garantiert. Für Dahlhaus ist Klangkomposition, da er deren semantische Signifikanzen nicht spürt, daher nicht mehr als eine „Lust an der unersättlichen Häufung ungewohnter Töne und Geräusche, die auf verfremdeten Musikinstrumenten oder anderen Geräten hervorgebracht werden“.14 Diese Behauptung wird begründet durch den „Verlust des Sprachcharakters musikalischer Gebilde“. Das von Dahlhaus ins Spiel gebrachte Stichwort „Verlust des Sprachcharakters“ ist für das in Rede stehende Themenfeld Klang und Semantik durchaus von erheblicher Relevanz. Doch gerade an diesem Punkt liegt immer wieder die Frage nahe, welchen Gewinn dieser Verlust bedeutete. Und hier ist eine erhebliche Schieflage festzustellen: zwischen den Intentionen und Motivationen von Komponistinnen und Komponisten auf der einen Seite und andererseits dem, was im Bereich der Musikjournalistik und Musikwissenschaft darüber lange Zeit geschrieben wurde. Ein wesentlicher Faktor ist dabei jene Entschiedenheit, mit der man sich in der Zeit des musikalischen Aufbruchs in den 1950er Jahren – namentlich bei den Darmstädter Ferienkursen – in Diskussionen und Vorträgen zu Wort meldete und mit der die radikal seriellen Werke dieser Zeit danach trachteten, eine nichtkorrumpierbare Musik zu schaffen, die sich von der zuvor – und zum Teil noch zeitgleich15 – in totalitären Regimen propagierten denkbar weit unterschied. Das betraf alle Dimensionen von Musik, ganz besonders aber das Zusammenspiel von
13 Vgl. Dahlhaus, „Über Sinn und Sinnlosigkeit“, S. 99. 14 Ebd., S. 97. Dort auch das Folgende. 15 Dass die Neue Musik dieser Zeit in gewisser Weise auch als Beitrag zur kulturpolitischen Gesamtsituation und damit zum Kalten Krieg verstanden werden kann, liegt seit Langem auf der Hand – sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, sie habe in die-
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Klang und Semantik. Dass hierbei oft eine tiefe Skepsis gegenüber auftrumpfend einfachen Ausprägungen dieses Zusammenspiels mitschwang, ist wohl leicht einsehbar. Hat diese doch erstens mit jenen Banalitäten zu tun, die aus propagandatauglichen Musikwerken namentlich in der NS-Zeit geläufig waren, aber verweist sie doch zugleich auf ein Signum der Moderne. Stets mitzudenken ist jedoch in diesem Feld die prinzipielle Distanz gegenüber den Gewohnheiten der Sinnbildung und Klangentfaltung, gegenüber allen rhetorischen Traditionen sowie allen geläufigen Formen des Ausdrucks mitsamt der symbolischen oder auratischen Bezüge von Instrumenten und den aus ihnen resultierenden semantischen Zuschreibungen. Dass solche Zusammenhänge innerhalb des Musikbetriebs wie auch in manchen akademischen Kreisen hartnäckig übersehen wurden, führte dazu, dass man den Gehalt der Musik der 1950er Jahre oft schlichtweg für inexistent hielt oder die Hinweise auf diesen Gehalt als Provokation missverstand – Friedrich Blumes Stockhausen-Invektive, in der er dessen Musik als „Blasphemie“ apostrophierte,16 ist dafür ein bekanntes Beispiel. Um die Entschiedenheit dieses Neuanfangs angemessen zu beurteilen, kann jedoch betont werden, dass es nur sehr wenige Stücke gab, die wirklich gar nichts mehr mit rhetorischen und affektiven Gewohnheiten sowie klangfarblichen Akzentuierungen früherer Zeiten zu tun hatten und ein darauf zielendes Miterleben weitgehend zu unterbinden suchten. Im Jahre 2009 sprach einer der Protagonisten dieser Zeit, nämlich Pierre Boulez, rückblickend davon, dass die serielle Musik ein „Tunnel von zwei Jahren“ gewesen sei, durch den man hatte hindurchgehen müssen.17 Diese Äußerung mag auf den ersten Blick wie eine Selbstverleugnung erscheinen. Doch nimmt man diese Tunnel-Metapher ernst, so mag sich daran die Frage anschließen, in welcher Weise es denn durch diese seriellen Konzepte und im Anschluss an sie – also sozusagen am Ausgang dieses Tunnels – ganz andere Lösungen gab, die substanzielle Ergebnisse brachten. Und dies gilt gleichermaßen für Werke mit klassischen Instrumenten wie für elektroakustische Kompositionen.
sem Kontext absichtlich eine Funktion übernommen: einen bewussten Beitrag zum Beweis einer (vermeintlichen oder tatsächlichen) „Höherwertigkeit“ der westlichen Kultur leistete gewiss keiner der damals in Europa prägenden Komponisten. 16 Vgl. Friedrich Blume, „Was ist Musik?“, in: Melos 26 (1959), S. 65–90. 17 Vgl. „‚Die serielle Musik war ein Tunnel von zwei Jahren‘. Über Außenseiter, Professionalität und subtile Wagner-Einflüsse. Schlussdiskussion mit Pierre Boulez“, in: Das Gedächtnis der Struktur. Der Komponist Pierre Boulez, hg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz 2010, S. 117–123.
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Dabei liegt es auf der Hand, dass gerade Boulez (und zwar ausschließlich im zuerst genannten Bereich) verschiedenste Lösungen erprobt hat, den eigenen Strukturalismus in ein Gefüge von klanglichen und semantischen Konstellationen zu bringen, die gleichsam gegen ihn opponieren. Ein besonders plastisches Beispiel ist das berühmte Werk Le Marteau sans maître (1953/55), das nicht zufällig von Igor Strawinsky gelobt wurde und Ligeti von einer „bunt-sinnliche[n] Katzenwelt“18 sprechen ließ. Denn in diesem Werk gibt es außer einer Fülle wild wuchernder semantischer Setzungen, die der surrealistischen Dichtung von René Char folgen, auch eine faszinierende Fülle von schillernden Klangfarben. Wichtig für das Schaffen von Boulez und der zum Inhalt seiner Musik werdenden Belebung der Klänge19 sind immer wieder die Übergänge von abstrakten zu atmosphärischen oder konkreten Momenten. Die neuere Boulez-Forschung weist mit guten Gründen gerade auf die faszinierende Vielfalt des Klanglichen in seinem Schaffen und zugleich auch auf die erheblichen Einflüsse von Künstlern wie etwa Antonin Artaud oder Paul Klee hin.20 Möchte man diese beiden Seiten plausibel zusammenbringen, so geht dies kaum ohne den Hinweis darauf, dass die „expression plurivalente“, von der Boulez selbst sprach,21 als eine „Störung des bloß logischen und nützlichen Funktionierens der Kommunikation“22 gemeint sein dürfte. Eine Störung allerdings ist, was oft vergessen wird, nach einem solchen Selbstverständnis keine Unterbindung von Kommunikation, sondern deren Verlagerung oder Auffächerung auf unterschiedlichste Erfahrungsebenen – und damit etwas für das Verständnis eines nicht unerheblichen Teils der neueren Musik sehr Wesentliches. Im selben Zusammenhang stehen im Falle von Boulez die in neuerer Zeit häufiger thematisierten Anspielungen auf außereuropäische Klangwelten, die insgesamt
18 György Ligeti, „Pierre Boulez. Entscheidung und Automatik in der Structure Ia“ [1958], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 413–446, hier S. 446. 19 Vgl. zu diesem Aspekt und zu Boulez insgesamt: Thomas Bösche, „Zwischen Opazität und Klarheit. Einige abschweifende Bemerkungen zu ‚Dérive 1‘“, in: Pierre Boulez (= Musik-Konzepte 96), hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1997, S. 62–92. 20 Vgl. hierzu insbesondere Zenck, Pierre Boulez. 21 Pierre Boulez, „Existe-t-il un conflit entre la pensée européenne et non-européene?“, in: Forum musicologicum (= Basler Beiträge zur Musikgeschichte IV), hg. von Hans Oesch, Winterthur 1984, S. 141 f. 22 Bösche, „Zwischen Opazität und Klarheit“, S. 92.
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eher als vorsichtig tastend denn als klar konturiert oder gar auftrumpfend zu bezeichnen sind. Aber sie sind auch nicht bloß homöopathisch dosiert. Sie sind gewiss keineswegs von einer klar konturierten Semantik, aber ihnen eignet doch oft eine besondere Nachdrücklichkeit, zu der es gehört, an gewisse Erfahrungshorizonte zumindest zu erinnern. Ob diese Andeutungen interkultureller Perspektiven substanziell oder eher oberflächlich sind, wird zuweilen kontrovers diskutiert. Doch darf man wohl behaupten, dass das bloße Andeuten gerade den Verzicht aufs äußerlich Illustrative meint und eher wie das kurze, aber intensive Aufflackern eines „Anderen“ erscheint, wie man es in vergleichbarer Weise auch bei jenen Werken anderer Kunstbereiche erleben kann, die Boulez damals besonders wichtig waren. Zugleich wird an diesem Punkte eine Korrespondenz zu einigen jener Strategien des postdramatischen Theaters kenntlich, die als Realisierung einer „auditive[n] Semiotik“23 bezeichnet werden können. Diese Strategien deuten ihrerseits auf eine „Musikalisierung“24 des Theaters und zielen auf eine Form interkulturellen Agierens, die auf allen Ebenen als Prozess der gewachsenen Offenheit kenntlich wird. „Im Zeichen aufgelöster Kohärenz kommt es zur musikalischen Überdetermination der Schauspielerrede durch ihre ethnischen und kulturellen Besonderheiten“,25 schreibt Hans-Thies Lehmann zu Tendenzen der klanglichen Schattierung im neueren Theater, die offenkundig verwandt sind mit dem, was auch Boulez vorschwebte. Und die Diagnose „Was zunächst als Provokation oder als ein Bruch erscheint: das Auftauchen von unverständlichen, fremden Sprachlauten, gewinnt jenseits des unmittelbaren Niveaus der sprachlichen Semantik eine eigene Qualität als musikalischer Reichtum und als Entdeckung unbekannter Klangkombinationen“26 gilt sicher auch umgekehrt.
23 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 22001, S. 155. 24 Vgl. ebd. (S. 155–158) den Abschnitt „Musikalisierung“ mit einigen Seitenblicken etwa auf die Musik von Cage, Stockhausen sowie auf das Schaffen von Heiner Goebbels. 25 Ebd., S. 156. 26 Ebd., mit einem Zitat von Helene Varopoulou.
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„N ÖTIGUNG
ZUR EIGENEN
S PRACHE “
Der Ausgangspunkt der an solche Einsichten anknüpfenden nachfolgenden Überlegungen liegt in der Einsicht, dass das Herauskommen aus dem „Tunnel von zwei Jahren“ über den Einzelfall Boulez hinaus jenen musikgeschichtlich so bedeutsamen Punkt markiert, an dem die Diagnose einer neuen, eigenen „Sprache“ Berechtigung besitzt – zumal auch klar wird, was in einem Werk wie Le Marteau sans maître auch aufseiten der Wortsprache wesentlich ist: dass Semantik nicht immer in eine Konstellation voller Kohärenzen eingebunden sein muss. Korrekter ist allerdings von einem Gefüge unterschiedlicher Sprachen zu sprechen, deren wesentliches Gemeinsames erstens in der Distanz gegenüber jenem vererbten Sprachcharakter liegt, den auch Dahlhaus erwähnte, aber zweitens auch in dem Ansinnen, keinen abstrakten Strukturalismus zu liefern, sondern Musikwerke von ungewöhnlicher Klanglichkeit, die auch semiotische und semantische Akzentuierungen aufweisen – in punktueller oder umfassender Weise, deutlich markiert oder aber ambivalent. Inwieweit in den 1950er Jahren ein rigides Strukturdenken tatsächlich, wie oft behauptet, rückhaltlos dem Selbstverständnis einiger der damaligen Komponisten entsprach, kann man gewiss nur jeweils in Einzelfällen untersuchen. Aber es zeichnet sich in jüngster Zeit immer mehr ab, dass dieses Selbstverständnis erstens nur einen vergleichsweise kleinen Teil der vielgestaltigen Avantgarde betraf und dass es zweitens nicht unverrückbar gleich blieb, sondern sich bereits im Laufe von sehr wenigen Jahren wandelte und andere Akzente zuließ. Aufschlussreich ist angesichts solcher Einsichten – die in Albrecht Wellmers Versuch über Musik und Sprache27 weithin zu fehlen scheinen – ein in den 1980er Jahren formulierter Rückblick von Hans Zender, bezogen auf die eigene Situation in den 1950er Jahren und gemünzt auf die wichtige Frage nach der auratischen Seite von Instrumentationen: „Als Student – und Strukturalist, der man damals war – lächelte ich über die vermeintliche Naivität, mit der etwa in der Berlioz-Straussschen Instrumentationslehre den einzelnen Instrumenten bestimmte Affekte zudiktiert wurden. Heute sehe ich dies mit neuen Augen: unmöglich, das ‚religiöse Gefühl‘ von der Orgel zu trennen, das heißt in diesem Fall, von einem bestimmten Stadium, das zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert liegt. Ein Horn bleibt mit Jagd und Wald verbunden, und eine Trommel wird für uns etwas Militärisches
27 Vgl. Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009.
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behalten, wenn wir ihre Einsätze auch noch so streng seriell ordnen. [...] Seelische Schichten werden aktiviert, welche Sedimente unserer geschichtlichen Entwicklung sind. Mit diesen Verbindungen bewusst umzugehen, ist vom Komponieren wohl nicht mehr zu trennen.“28
Zenders Stellungnahme lässt eine Entwicklung des eigenen musikalischen Denkens aufscheinen – und bis heute kreisen sowohl seine Werke als auch seine Schriften häufig um die Frage, auf welchen Wegen Musik sprachlich zu wirken vermag, ohne bloß auf geläufige rhetorische Gesten zurückzugreifen bzw. das zu übernehmen oder zu verstärken, was auch die Wortsprache zu sagen vermag (ein Beispiel dafür ist der Zyklus Hölderlin lesen, in dem der im Titel benannte Lektürevorgang gerade einen Verzicht auf Verdopplung und Illustration meint). Aber diese Stellungnahme enthält mit dem Hinweis auf die Möglichkeit semantischer Zuschreibung selbst in streng seriellen Werken eine Einschätzung, deren Relevanz über die Deutung von Zenders eigenem Komponieren erheblich hinausreicht. Wellmer hat, wie einst schon Boulez, mit Blick auf die serielle Musik von einer „Nötigung zur eigenen Sprache“29 gesprochen und damit einen Gedanken aufgegriffen, den im Felde der Literatur einst Arthur Rimbaud prägte – Wellmer selbst nennt dies „‚Ausdehnung‘ des Sprachtopos“30. An diesem Punkte besteht schon bei Boulez (und später auch in der Auffassung von Dieter Schnebel) eine Differenz zum Denken etwa von Theodor W. Adorno. Hatte doch Adorno primär den Sprachzerfall und nicht das Neukonstituieren einer Sprachfähigkeit diagnostiziert. Man kann wohl davon ausgehen, dass auch Dahlhaus von dieser in der Musikwissenschaft wirkungsmächtigen Einschätzung Adornos geprägt wurde. Wellmer akzentuiert, dass diese „neue Sprache“ keineswegs eine Allgemeinverbindlichkeit hervorgebracht habe, sondern eher den Prozess einer Individualisierung, was ja – zumindest wenn man auf der Suche nach einer umfassenden Hörund Verstehenskultur ist – wie eine Paradoxie anmutet. Dennoch (oder gerade deswegen) ist diese eigene Sprache, zumindest im Sinne der Idee der Ausweitung des Sprachtopos, gleichermaßen als „Freiheit von“ wie als „Freiheit zu“ beschreibbar. Was aber heißt dies für semantische Akzentuierungen in Musik, die nicht mit Hilfe von Texten, sondern mit Hilfe von Klängen bzw. Klangfarben ins Spiel geraten? Es heißt wohl vor allem eine große Distanz gegenüber jener eindimensionalen Handhabung von Hermeneutik, die (deutlich abweichend von dem, was
28 Hans Zender in: „Notizen zu Stephen Climax (1979–85)“, in: Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975–2003, hg. von Jörn Peter Hiekel, Wiesbaden 2004, S. 271. 29 Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 49. 30 Ebd., S. 50.
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etwa Hans-Georg Gadamer forderte) davon ausgehen möchte, dass in Musik stets eindeutige und linear entwickelte Bedeutungssetzungen zu haben sind. Dabei mag man bei der hier virulenten Frage nach der gestalterischen Freiheit im Umgang mit Semantik wie auch mit Semiotik (verstanden als stimmige Setzung von Zeichen und im weiteren Sinne auch von Strukturen) an einen Aspekt aus Strawinskys Musikalischer Poetik denken: „Wer mich eines Widerstandes beraubt, beraubt mich einer Kraft“31 heißt es da, und weiter: „Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“ Es spricht viel dafür, dass die Musik der Nachkriegszeit zumindest in ihrer radikalsten Phase einer Abwendung von Gewohnheiten der Klangsetzung und Bedeutungskonstituierung nicht zuletzt auf diese Qualität von „Befreiung“ zielte – so dass also mit den „Ketten“, die den Geist fesseln können, ganz besonders die Klischees der musikalischen Klang- und Sinnsetzung gemeint waren, im Wissen natürlich um die Funktionalisierung des Sinns, die in der Zeit zuvor unter prekären politischen Vorzeichen dominant wurde. Man kann nicht bloß anhand der seriellen Musik, sondern auch an Strawinskys eigenem Schaffen studieren, dass dort der selbstauferlegte Zwang jeweils keineswegs mit einem Verzicht auf Gehalt einhergeht – und man sollte auch an diesem Punkte genügend deutlich berücksichtigen, wie wichtig gerade für Komponisten wie Messiaen und Boulez der Einfluss Strawinskys war.
S TRATEGIEN
SEMANTISCHER A UFLADUNG UND KLANGLICHER A SSOZIATIONEN : S TOCKHAUSEN ,
X ENAKIS , L IGETI
UND
Z IMMERMANN
In entsprechender Weise kann – um den eben anhand des Schaffens von Boulez begonnenen Gedankengang aufzunehmen – selbst in den als richtungsweisend geltenden Werken der 1950er Jahre keineswegs davon die Rede sein, dass semantische Momente, die auf bestimmten Klangsetzungen basieren, eliminiert würden. Beispielhaft erwähnt seien hier zunächst die elektronischen Klänge von Karlheinz Stockhausens Komposition Gesang der Jünglinge (1955), die dem religiösen Ge-
31 Igor Strawinsky, Musikalische Poetik (Poétique musicale), aus dem Französischen übertragen von Heinrich Strobel, in: ders., Schriften und Gespräche, Mainz 22009, S. 173–256, hier S. 212 f.
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halt des Werkes nicht zuletzt dadurch gerecht werden, dass sie immer wieder zumindest von Fern an bestimmte Orgelregister erinnern. Hinzu kommen das ganz traditionelle Timbre der Knabenstimme, welches Unbekümmertheit ausstrahlt, sowie die Tatsache, dass das Stück einzelne illustrative Momente enthält – ein Beispiel sind die „klirrend“ wirkenden Klänge zur Textpassage „Kälte und starrer Winter“ (06:05–06:28, Audiospot 132). Den auf den geistlichen Kontext verweisenden wie den illustrativ gesetzten Klängen wird man jedoch nur dann gerecht, wenn man zugleich jene enorme Energie und Vielfalt der elektronischen Klänge berücksichtigt, die von konkreten Bezugsmomenten wegführen, also zentrifugale Kräfte entfalten. Ein Pendeln zwischen Konkretion und Abstraktion gehört, wie oft in Neuer Musik, zur Grundtendenz des Stückes. Deutlich sind überdies in dessen Grundgestus, passend zum Text, auch Momente der Freude und sogar des Jubels eingelassen, so dass die klangliche Dimension nicht ohne die gestische zu denken ist. Alles dies ist Teil einer Gesamtkonzeption, in der in mustergültiger Weise das Moment des Übergangs zwischen Greifbarem und Ungreifbarem zum entscheidenden Faktor wird – aber in der eben auch ganz traditionelle Prägungen aufscheinen.33 Eine wichtige, das Spektrum des Klanglichen vergrößernde Tendenz der Neuen Musik bereits seit den 1950er Jahren sind geräuschhafte Instrumentalklänge. Und mit gewisser Selbstverständlichkeit zielte das Geräuschhafte auf eine Expressivität, die auch gegenüber einem erheblichen Teil der seriellen Musik eine deutliche Erweiterung markiert. Dabei gibt es nicht wenige Werke mit vergleichsweise konkreten Assoziationsmöglichkeiten. Ein berühmtes frühes Beispiel ist das Orchesterwerk Metastaseis (1953/54) von Iannis Xenakis, das nach Aussage des Komponisten von der Erfahrung antifaschistischer Demonstrationen in Griechenland inspiriert ist.34 Diese Äußerung ist verstehbar als Reaktion auf die oft zu bemerkende Überbetonung der Strukturelemente dieses Stückes. Zumindest die markant hervortretenden Glissandi, Ton-
32 Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5. 33 Werner Klüppelholz schreibt u. a. mit Blick auf dieses Werk daher zu Recht: „Das Kontinuum von Wort und Klang birgt nicht nur musikalisch perzipierbare Übergänge, sondern auch massive dramatische Wirkungen. Diese stellen sich ein, wenn aus den Klängen Bedeutungen hervorgehen.“ – Werner Klüppelholz, Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G. Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti, Saarbrücken 21995, S. 105. 34 Vgl. Bálint András Varga, Gespräche mit Iannis Xenakis, Zürich 1995, S. 54.
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wolken und Cluster dieser Musik setzen Akzente, die sogar von einer Semantisierung zu sprechen erlauben. Zumal man bei diesem Werk einer Verklammerung von individuellen und kollektiven Klangäußerungen gewahr wird und letztere auch drastische Akzente enthalten, die an die Sphäre von Gewalt oder Militär erinnern. Eine durchaus vergleichbare Integration semantischer Akzente enthält ein berühmtes anderes Orchesterwerk, das sieben Jahre später entstand und ebenfalls eine Abkehr vom parametrischen Denken bedeutet, nämlich Ligetis Atmosphères (1961). Denn ergänzend zu dessen gängiger Rubrizierung als „Klangflächenkomposition“ hat der Komponist selbst die Requiem-Dimension hervorgehoben und diese durch die Widmung an Mátyás Seiber kenntlich gemacht.35 Vor allem die berühmte Absturz-Stelle des Werkes, in denen der Klang abrupt von den höchsten Höhen der Violinen und Piccoloflöten in die tiefsten Klangregionen wechselt (T. 39/40; Audiospot 2), wurde immer wieder – und zeitweilig auch vom Komponisten selbst – mit dieser Dimension in Zusammenhang gebracht, zuweilen sogar als „Höllensturz“ beschrieben.36 Der Musikwissenschaftler Harald Kaufmann hat in seiner Beschreibung des Stückes, die offenbar in engem Kontakt mit dem Komponisten selbst entstand, überdies auf die Assoziationen der Posaunen des Jüngsten Gerichts hingewiesen.37
35 Vgl. hierzu György Ligeti, „Über Atmosphères“ [1962], in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. von Monika Lichtenfeld, Mainz 2007, S. 181–184, und vgl. generell auch seinen Beitrag „Komposition mit Klangfarben“ [1962–64], ebd., Bd. 1, S. 157–169. 36 Rudolf Frisius, „Personalstil und Musiksprache. Anmerkungen zur Positionsbestimmung György Ligetis“, in: Otto Kolleritsch (Hg.), György Ligeti. Personalstil, Avantgardismus, Popularität (= Studien zur Wertungsforschung 19), Wien 1987, S. 179–203, hier S. 186. Vgl. hierzu auch die kritische Entgegnung in: Constantin Floros, György Ligeti. Jenseits von Avantgarde und Postmoderne (= Österreichische Musikzeitedition 26), Wien 1996, S. 100. Und zu dieser Kontroverse sowie zu Fragen der Deutung des semantischen bzw. bildlichen Gehalts in diesem Werk insgesamt vgl. Julia Heimerdinger, Sprechen über Neue Musik: Eine Analyse der Sekundärliteratur und Komponistenkommentare zu Pierre Boulez’ „Le Marteau sans mâitre“, Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ und György Ligetis „Atmosphères“, Berlin 2014, S. 169–171. 37 „Nach Durchschreiten der engen Pforte, nach einer kurzen, scheinbaren Ruhepause, erklingt die Tuba mirum spargens sonum, die Posaune, die einen wundersamen Klang erklingen lässt. Diese Assoziation entsteht aus der Zusammenballung aller Blechbläser. Besonders düster und unheilvoll […] ist die Klangmischung von vier Trompeten in tiefster Lage. […] Bald darauf […] verdünnt sich in der Textur der chromatische Cluster
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Man muss (und sollte) das Stück auf solche Bezüge keineswegs verengen. Aber selbst dann, wenn Ligeti von solchen Deutungen später wieder abrückte,38 lässt sich konstatieren, dass mit diesen Assoziationsmöglichkeiten, die natürlich auch auf die Entfaltung des Eigenwerts des Erhabenen39 bezogen werden kann, Wesentliches seiner Konzeption benannt ist. Insofern lässt sich auch dieses Werk plausibel als Oszillieren zwischen assoziativen und abstrakten Momenten beschreiben. Der gleich beim ersten Hören deutlich hervortretende Materialaspekt der Klangarchitektur ist, anders formuliert, zumindest mit Andeutungen von Semantik versehen. Ligeti selbst, damals besonders auf das Akzentuieren der eigenen historischen Position bedacht, empfand die klangfarblichen Akzente in seinem eigenen Schaffen sowie in dem verschiedener Komponistenkollegen gewiss gleichzeitig als Erweiterung der Möglichkeiten gegenüber der Musik der ersten Hälfte der 1950er Jahre (wobei er seltsamerweise Metastaseis unerwähnt ließ) wie als Anknüpfung an Früheres. Dafür steht die folgende Überlegung seines aus Darmstädter Seminaren hervorgegangenen Textes „Komposition mit Klangfarben“: „Der Primat der Klangfarbe als kompositorisches Mittel, der sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre etablierte, etwa 1958–59 in meinen Apparitions, dann ab 1960 in Anaklasis, Threnos und Dimensionen der Zeit und der Stille von Krzysztof Penderecki, in den Mouvements von Friedrich Cerha, in meinen Atmosphères und Volumina, um hier nur die ersten Werke der sogenannten ‚Klangfarbenkomposition‘ zu nennen – dieser Primat also ist keine
zum diatonischen Cluster. Es ist dies der Materialaspekt des Versöhnlichen nach dem Schrecken: Agnus Dei, dona eis requiem.“ – Harald Kaufmann, „Strukturen im Strukturlosen. Über György Ligetis Atmosphères“, in: ders., Spurlinien: analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien 1969, S. 107–117, auch in: Werner Grünzweig/Gottfried Krieger (Hg.), Harald Kaufmann. Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik, Hofheim 1993. 38 Vgl. Floros, Ligeti, S. 100. 39 Vgl. hierzu Harry Lehmann, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016. Lehmann allerdings konzentriert sich in seiner Beschäftigung mit diesem Stück (S. 156–161) ganz auf die schlüssig als „Eigenwert“ bezeichnete Dimension des Erhabenen, mit plausiblen Bezugnahmen auf die Erfahrung von Naturgewalten und auf die Idee der Überwältigung der Sinne, aber ohne die Requiem-Assoziationen.
30 | J ÖRN P ETER H IEKEL voraussetzungslose Neuerung. Bei näherer Kenntnis der historischen Vor- und Zwischenstufen zeigt sich, daß die scheinbar unverhofften revolutionären Umwälzungen durchaus in der Tradition verankert sind.“40
Mit den Requiem- und dabei vor allem Dies irae-Assoziationen ist eines der Elemente benannt, die im Felde neuerer Orchestermusik häufiger vorkommen. Und dabei gehört es gerade zum besonderen Reiz bestimmter Werke, dass ein Abstand zu plakativer Anschaulichkeit und Eindeutigkeit gewahrt bleibt. In nicht wenigen Fällen eröffnet dieser Verzicht auf klare Konturierung auch den Ausführenden besondere Gestaltungsräume. Gemäß Hans Zenders eben zitierter Einschätzung lässt sich jedoch konstatieren, dass dann, wenn in der Musik der europäischen Tradition markante Blechbläserklänge zum Zuge kommen, der Gedanke an die Posaunen des Jüngsten Gerichts zumeist nicht mehr weit ist. Sind statt der Posaune vor allem Trompeten und Hörner im Spiel, geht es wohl mehr um die Assoziation von Pomp, Gewalt oder Militär. Ist dann sogar noch, wie im Falle
40 Ligeti, „Komposition mit Klangfarben“, S. 163. Noch präziser stellte der Komponist das Neuartige seines Umgangs mit Klangfarben in einer Einführung zu Atmosphères heraus: „Durch die Verschleierung von Harmonik und Rhythmik treten zwei andere Elemente in den Vordergrund, und zwar Klangfarbe und Dynamik. Vor allem was die Klangfarbe betrifft, gibt es in Atmosphères Ansätze zur Erschließung neuer kompositorischer Bereiche. Dabei zeigt sich zugleich, daß die landläufige Bezeichnung ‚Klangfarbe‘ nicht differenziert genug ist. Üblicherweise versteht man unter ‚Klangfarbe‘ das sinnlich wahrnehmbare Ergebnis der Lautstärkeproportionen der Teiltöne eines Klangs – in ihrem Einschwingen beziehungsweise in ihrer stationären Phase. Diese Definition reicht aus, solange es sich um einfachere Klänge handelt, deren spektrale Proportionen signifikant sind und deren ‚Färbung‘ daher spezifisch ist. Die klanglichen Gebilde in Atmosphères sind jedoch allzu komplex: Die sie konstituierenden Instrumentalklänge, deren jeder aus einer Anzahl von Teiltönen besteht, erhalten selbst die Funktion von ‚Teiltönen‘, genauer gesagt von ‚Teilklängen‘, die in dem übergeordneten klanglichen Gebilde völlig aufgehen, wobei sie ihre individuellen Klangfarben fast gänzlich einbüßen. Die einzelnen harmonischen Spektren der Instrumentalklänge, in nichtharmonischer Weise übereinandergelagert und ineinandergeschoben, lassen durch die Interferenz zahlreicher spektraler Komponenten ein Gewirr aus Schwebungen entstehen. Diese Schwebungen führen ihrerseits nicht nur zu einer Trübung des Gesamtklangs, sondern auch zu einem Fluktuieren der Färbung, einem fortwährenden Irisieren – einer Erscheinung, die mit den bisherigen Möglichkeiten der Klangfarbenmischung nicht hätte erzielt werden können.“ – Ligeti, „Über Atmosphères“, S. 182.
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etwa von Olivier Messiaens Couleurs de la Cité céleste (1964), der thematische Horizont im Apokalyptischen gelegen, scheinen solche Topoi bzw. semantischen Zuschreibungen bestimmter Elemente der Instrumentation sogar geradezu selbstverständlich zu sein. Vergleichbares gilt für eine ganze Reihe von Instrumentalwerken von Bernd Alois Zimmermann – auch er ist einer der bedeutenden Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für die erstens das Agieren mit einer Fülle von unterschiedlichen Klangfarben von erheblicher Wichtigkeit war41 und die zweitens dazu tendierten, eine Spannung zwischen strengen seriellen Strukturen einerseits und Klangfarben-Entfaltungen ins Werk zu setzen. Ohne hier auf die dabei immer wieder aufblitzenden semantischen Bezüge ausführlich eingehen zu können (vor allem Dies irae-Bezüge sind oft mit Händen zu greifen), sei wenigstens auf eine Konstellation hingewiesen, die eine große Rolle innerhalb von Zimmermanns Schaffen spielt und dabei im Kontext der Musik nach 1950 durchaus ungewöhnlich ist: die Auffassung von bestimmten Instrumenten als „Vox humana“. Grundsätzlich kommt dieses Element wohl aus der Orgelmusik: ein so bezeichnetes Register, das einen an die singende menschliche Stimme erinnert, ist in diesem Feld recht geläufig. Doch hat Zimmermann immer wieder in seinen Werken das Violoncello so eingesetzt, dass diese semantische Zuschreibung Relevanz besitzt – und Teile des sonstigen Klanggeschehens als Kontrast dazu verstanden werden können. Diese Deutung basiert auf der Einschätzung, dass die Bezeichnung „Vox humana“ in verschiedenen Werken für Zimmermann nicht bloß ein Synonym für eine quasi vokale Handhabung eines Instruments, sondern für eine spezifische Eindringlichkeit, Unverwechselbarkeit und Unverfügbarkeit der menschlichen Stimme und damit auch – im Sinne von Emmanuel Lévinas und dessen Humanismus des Anderen gesprochen42 – für ihre Andersheit. Folgt man dieser Spur, so ist auch dieses stark auratische Element ein Indiz dafür, dass Teile
41 Um dies zu unterstreichen, sei kurz aus einem Brief an Hans Zender zitiert: „ich [wäre] Dir vor allem dafür dankbar, wenn Du das ganze Stück absolut unter den Gesichtspunkt der Farbe, Klangfarbe, stellst: Farbpunkte, Farbfäden, Farbklänge, Farbschichten, ja, sogar Farblinien.“ (Brief Zimmermanns an Hans Zender vom 13. September 1966, vollständig abgedruckt in: Heribert Henrich [Hg.], Bernd Alois Zimmermann Werkverzeichnis, Mainz 2013, S. 142 f.) 42 Vgl. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, hg. von Wolfgang Nikolaus Krewani, Studienausgabe, Freiburg/Br. 41999.
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von Zimmermanns Instrumentalmusik eine existentielle Dimension erhalten. Zimmermann hat dazu passend sein erstes Cellokonzert Canto di speranza (1952/53) überschrieben und diese „Instrumentalkantate“43 so gestaltet, dass dieser „Gesang“ (wiederum in Sinne von Lévinas gesagt) als „Antlitz“ eines Anderen gegenüber der seriellen Struktur und deren Ausdruck von Verfügbarkeit und Strenge kenntlich wird. Dies ist typisch für die Ästhetik eines Komponisten, der stets darauf aus war, auf allen Ebenen – geläufigen wie neuartigen – die Sprachkraft der Musik zum Zuge kommen zu lassen, im Widerspruch zur Tradition der absoluten Musik, oder genauer gesagt: durch deren Erweiterung zu imaginären und stark semantisch grundierten Situationen.
„M USIK
MIT
B ILDERN “: H ELMUT L ACHENMANN
Der mit dem weitgehenden Verzicht auf die Tonalität und andere Hierarchiebildungen einhergehende Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten führt in der Musik der letzten Jahrzehnte oft zu sparsameren Dosierungen jener klanglichen Setzungen, die semantische Zuschreibungen nach sich ziehen. Solche Sparsamkeit ist, neben der schon angedeuteten Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der politischen Funktionalisierbarkeit, gewiss auch durch eine Reserviertheit gegenüber jener Deutlichkeit motiviert, die in illustrativen Strategien wie dem Mickey-Mousing zum Zuge kommt und damit nolens volens ein Signum der auf Eingängigkeit gerichteten Konsumgesellschaft ist. Seit dem 20. Jahrhundert sind diese pleonastischen Strategien vor allem durch bestimmte Filmmusik gewiss von weitaus größerer Präsenz als in früheren Zeiten. Doch sollte auch die Reserviertheit ihnen gegenüber, selbst wenn sie zuweilen Züge des Kritischen oder Widerständigen aufweist, nicht mit einem Verzicht auf Semantik verwechselt werden. Kann sie doch den Impuls dazu geben, dass gerade die Akzentuierung bzw. Wahrnehmung der oft fließenden Übergänge von Abstraktion und semantischer Zuschreibungsmöglichkeit zu einem wesentlichen Aspekt von Musikwerken oder sogar selbst thematisch wird. Die für die Musik der letzten Jahrzehnte so charakteristische Vielfalt des Umgangs mit Wechselwirkung zwischen Klanglichem einerseits und Semantischem und Bildlichem andererseits kommt genau an jenem Punkt zum Zuge, an dem die Überwindung des bloß Illustrativen einsetzt.
43 Bernd Alois Zimmermann, „Canto di speranza“, in: Intervall und Zeit. Aufsätze und Schriften zum Werk, hg. von Christof Bitter, Mainz 1974, S. 88–90, hier S. 89.
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Besonders wichtig ist diese Erkenntnis für einen adäquaten Umgang mit einigen Werken von Helmut Lachenmann. Denn erstens hat Lachenmann in besonderer Weise die Spannung zwischen der Auflösung von Klischees einerseits und dem vielfältig aufgefächerten Umgang mit auratischen und assoziativen Dimensionen von Klang-Setzungen andererseits immer wieder zu einem wesentlichen kompositorischen Thema erhoben. Und zweitens stützt er sich dabei auf eine außerordentliche Fülle von klanglichen Schattierungen. Wenn Lachenmann in den letzten beiden Jahrzehnten – weit jenseits der früher mit seiner Musik zuweilen assoziierten Begriffe der „musica negativa“ oder „Verweigerung“44 – vor allem als Komponist vielfältigster klanglicher Erfahrungen und Entfaltungen entdeckt wurde, so geht dies in gewachsenem Maße mit der Einsicht einher, dass seiner Musik, vor allem den Werken seit Ende der 1970er Jahre, Topoi und Bilder eingeschrieben sind, die mit unterschiedlichen Graden von Deutlichkeit hörend erschlossen werden können (und sollen). Lachenmanns Musiktheaterwerk Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1990–96) trägt, um dies zu fundieren und das auf eine unmittelbare Klang-Erfahrung zielende Konzept gleichzeitig einen Schritt weiter zu führen, den sinnfälligen Untertitel „Musik mit Bildern“. Dieser ist zum einen im Kontext jener schon jahrzehntelangen Tradition seines eigenen Komponierens zu sehen, die auf eine Suspendierung oder zumindest Überschreitung expressiver Muster zielt. Zum anderen aber lenkt er den Blick darauf, dass es beim Erleben fortwährend um eine Beobachtung jener konkreten Assoziationen gehen kann, die sich durch Instrumentalklänge erwecken lassen – und die damit einen Dialog zu jenem Märchen von Hans-Christian Andersen ermöglichen, auf das dieses Stück bezogen ist. Mit Blick auf den zuerst genannten Aspekt und auf die Frage nach Lachenmanns ganz eigenem kompositorischen Ansatz ist zunächst daran zu erinnern, dass er in seinen Reflexionen zu Stockhausens Gruppen gerade die Anklänge an
44 Deutlich abweichend von dem oft vordergründigen, vor allem gesellschaftskritisch grundierten Gerede, das sich im Laufe der Jahrzehnte in der Sekundärliteratur an diesen Begriff klammerte, gibt es im Umgang mit dem Klanglichen auch eine Plausibilität. Diese wird etwa dann deutlich, wenn Lachenmann selbst zu seiner Komposition Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) schreibt, dieses gehöre „zu einer Reihe von Werken, deren Klangvorstellungen sich orientieren an der Dialektik von ‚Verweigerung‘ und ‚Angebot‘ [...]. Denn die beschworene Aura soll wohl gebrochen, nicht aber vergessen oder ignoriert werden.“ – Helmut Lachenmann, „Klangschatten – mein Saitenspiel (1972)“, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 22005, S. 387.
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Militärmusik herausarbeitete, die durch die Kombination Trompete und Trommel gegeben seien,45 im selben Zusammenhang jedoch diagnostizierte, dass „die seriellen Komponisten“ sich „über die Aura der benutzten Mittel rücksichtslos hinwegsetzten“, um in einigen Werken „einen regelrechten Trümmerhaufen“ zu schaffen.46 „Was“, so fragte Lachenmann zur Begründung dieser Diagnose, „hat die Kuhglocke, mit deren Hilfe noch Mahler Höhenluft fernab vom Weltengetümmel beschwor: Was hat dieses Gerät aus dem ländlichen Alltag in Stockhausens Gruppen zwischen dem Salonspielzeug Celesta und dem ehrwürdigen, so kriegerischen wie frommen Instrument des Jüngsten Tages, der Posaune, zu suchen?“47 Ob Lachenmanns Einschätzung – die er mit einer eigentümlichen dialektischen Volte freilich nicht als Makel von Stockhausens Stück, sondern als deren Qualität kenntlich zu machen suchte – ganz zutreffend ist, mag man bezweifeln. Eher ein bewusstes Spiel mit Facetten semantischer Konkretionen ist hier anzunehmen. Doch unabhängig von der Beantwortung dieser Frage dürfte die folgende grundsätzliche Feststellung den Kern der klangsemantischen Elemente bei Stockhausen – wie auch in Lachenmanns eigener Instrumentalmusik – treffen: „Der Aspekt der Aura scheint mir die entscheidende Ergänzung und das wichtigste Korrektiv zum Autonomie-Anspruch des Strukturdenkens zu sein.“48 Lachenmanns Schwefelhölzer-Musik mit ihren ungewöhnlichen Klängen repräsentiert insofern dann ein tatsächlich neues Stadium seines eigenen Komponierens, als sie fortwährend und sogar ohne Scheu gegenüber einzelnen illustrativ erscheinenden Momenten nach der Möglichkeit semantischer Zuschreibungen und konkreten Klangbildern zu forschen scheint, eine diesbezügliche Suchbewegung ist ihr Grundzustand. Die oft beschriebenen Möglichkeiten der konkreten Zuschreibung – vor allem unterschiedlichste Darstellungen von Kälte sowie von einer Erwartung von Heimeligkeit und Freude – kristallisieren sich heraus oder blitzen auf. Dies geschieht im Dialog mit einzelnen Elementen des Märchentextes, bei Aufführungen zudem auch im Dialog mit szenischen Angeboten. Zum Zuge kommen dabei außer geläufigen Elementen (auf die noch einzugehen sein wird) auch ganz unerwartete Elemente. Ein Beispiel bietet der vorletzte Teil des Werkes, der „Sho“ überschrieben ist und die große Tradition dieses japanischen Klangerzeugers gleichsam zum Mitschwingen bringt. Das hier zum Einsatz gelangende Instrument verweist auf die rituelle Gagaku-Musik, zu seiner Aura gehört etwas
45 Vgl. Helmut Lachenmann „Vier Grundbestimmungen des Musikhörens“, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, S. 54–62, hier S. 60. 46 Ebd., S. 61. 47 Ebd. 48 Ebd.
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stark Rituelles sowie der Eindruck von Gelassenheit, wie man ihn gerade mit der altjapanischen – buddhistischen – Tradition assoziiert. Zentral bleibt etwas, was sich – entsprechend dem zum Begriff der Aura bereits Angemerkten – auch schon lange zuvor in Lachenmanns Musik findet: Der Komponist setzt Instrumente immer wieder so ein, dass sie bestimmte Assoziationen und auratische Momente aufrufen, auf die dann die Musik auf anderen Ebenen zu reagieren oder gegen die sie sogar zu rebellieren scheint. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Werk Salut für Caudwell. Musik für zwei Gitarristen (1977), zu dessen Konzept der Komponist selbst in erhellender Weise äußerte: „Die typische Aura, wie sie an die Gitarre als Volks- und Kunstinstrument gebunden ist, schließt Primitives ebenso ein wie höchst Sensibles, Intimes und Kollektives, enthält auch Momente, die historisch, geographisch und soziologisch genau beschreibbar sind. Für einen Komponisten geht es nun nicht darum, sich dieses vorweg schon gegebenen Ausdruckspotentials schlau zu bedienen oder gar sich seiner verzweifelt zu erwehren, sondern die vorhin genannten Elemente als Teile der gewählten musikalischen Mittel zu durchdringen und sich gleichzeitig von ihnen durchdringen zu lassen.“49
Lachenmanns dialektisches Denken erstreckt sich entsprechend dem in diesen Sätzen Formulierten in besonderem Maße auf Momente der Instrumentation. Und gewiss kann das hier Aufscheinende für die Interpretation auch größer besetzter Werke nutzbar gemacht werden. So ist – um nur ein Beispiel zu nennen – die Verwendung der Gitarre im Ensemblewerk „... Zwei Gefühle ...“ Musik mit Leonardo (1991/92) auf jenen Eindruck des Heimeligen, Vertrauten, Gemeinschaftlichen zu beziehen, der bereits in Salut für Caudwell ausgespielt und kontrapunktiert wird. Und man kann diesen Eindruck ohne Mühe in Relation zu dem setzen, was hier auf der Basis des Textes von Leonardo da Vinci und unter Zuhilfenahme einer Fülle von ungewöhnlichen Klängen im Kern passiert: die Vergegenwärtigung einer Neugierde, die als Mut zum Unbekannten kenntlich gemacht wird. Dass Lachenmann, der für einen nicht unwichtigen Teilbereich seines Komponierens den Begriff der musique concrète instrumentale verwendete, mit seinem in Das Mädchen mit den Schwefelhölzern realisierten Konzept einer „Musik mit Bildern“ einen neuen Grad an Konkretheit erreicht, wird auch auf vokaler Ebene erfahrbar. Gibt er hier doch einen deutlichen Anklang an die schon in der Barockzeit üblichen Cold songs, wenn die Kälte durch abgehackte Repetitionen als Bibbern erfahrbar gemacht wird. Doch die Vergegenwärtigung von Kälte – die für die
49 Helmut Lachenmann, „Salut für Caudwell. Musik für zwei Gitarristen“, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, S. 390.
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Grundstimmung des Ganzen bestimmend ist – wird vor allem durch etliche ungewöhnliche klangfarbliche Schattierungen auf instrumentaler Ebene getragen: so etwa durch tonlose Blasgeräusche, scharrende Klänge im Schlagzeug, verschiedenste Flageolette bei den Streichern, aber auch unübliche Klangerzeuger wie etwa Styroporplatten.50 Eher als von Klangsemantik könnte man hier insgesamt von Klangbildern sprechen – was insbesondere auch für jene in der Partitur jeweils mit der Überschrift „Ritsch“ versehenen Veranschaulichungen des Anzündens eines Streichhölzchens (also von entstehender Wärme) gilt, die an mehreren Stellen vorkommen. Wichtig dabei ist, dass hier „ein außermusikalischer Vorgang nicht einfach illustriert [wird], sondern [...] bereits in der Musik durch konkrete Spielweisen präsent ist“51 – auch das ist mit der Idee der musique concréte instrumentale gewiss gemeint. Lachenmann hat einem der nachfolgenden Instrumentalwerke den Titel Schreiben gegeben, was als Indiz dafür erscheint, dass es auch hier – nun jenseits jeder textlichen Bezugnahme – um die Frage geht, ob und inwieweit Musik sich „sprachlich“ artikuliert. Was es heißt, dass bei Lachenmanns Musik das Klangliche gewissermaßen im Zentrum der Konzeption steht, lässt sich anhand des oft zitierten Aufsatzes „Klangtypen der Neuen Musik“ verdeutlichen, der wohl nicht zufällig in Lachenmanns Schriftenband Musik als existentielle Erfahrung zu Beginn steht – und der mit dem Hinweis auf die große Bedeutung der „Emanzipation des akustisch vorgestellten Klangs aus seiner vergleichsweise untergeordneten Funktion“52 einsetzt.
50 Bei Letzteren mag man fragen, ob ihnen ihrerseits – bewusst oder unbewusst – eine symbolische Seite eigen ist, etwa daran anknüpfend, dass Styropor als Baustoff in Häusern geläufig ist und mithin als Indikator der Wärme-Erzeugung verstanden werden kann. Doch würde eine solche Deutung, die gelegentlich versucht wurde (vgl. etwa Christian Grüny, „,Zustände, die sich verändern‘. Helmut Lachenmanns Musik mit Bildern – und anderem“, in: Matteo Nanni/Matthias Schmidt [Hg.], Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern?, München 2013, S. 39–68), wohl zu weit führen. 51 Rainer Nonnenmann, „,Musik mit Bildern‘. Die Entwicklung von Helmut Lachenmanns Klangkomponieren zwischen Konkretion und Transzendenz“, in: Jörn Peter Hiekel/Siegfried Mauser (Hg.), Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, Saarbrücken 2005, S. 38. 52 Helmut Lachenmann, „Klangtypen der Neuen Musik“, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, S. 1–20, hier S. 1. Gegenüber manchen Ideen Ligetis und Pendereckis äußert sich Lachenmann in diesem Beispiel durchaus kritisch, weil er darin einen „Pauschal-
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In diesem Beitrag geht es ja nicht bloß darum, die eigenen Ansätze sowie jene von Nono, Ligeti und Stockhausen zu systematisieren (dies mit hochinteressanten Rückgriffen auch auf Klanggestaltungen in Werken von Beethoven, Bruckner, Chopin, Debussy und Berg), sondern besonders um die Beschreibung von Gestaltungsmöglichkeiten, die aus den Klängen ableitbar sind. Klang, verstanden als Zustand oder aber als Prozess, wird hier, zunächst jenseits aller semantischen Akzentuierungsmöglichkeiten, zu einem wesentlichen Strukturfaktor. Zu dem, was er selbst „Strukturklang“ bzw. „Klang-Struktur“ nannte, schrieb Lachenmann: „Klanglicher und formaler Aspekt gehen [...] ineinander auf.“53 Gewiss lassen sich die angesprochenen semantischen Akzente hiermit in Einklang bringen. Dennoch erscheint für seinen eigenen, eine gewisse plakative Grenze bewusst nicht überschreitenden Ansatz insgesamt entscheidend, was Lachenmann im Jahre 1988 mit Blick auf seinen zeitweiligen Lehrer Luigi Nono formulierte: „Die Blech- und Paukensignale in Nonos Canti di vita e d’amore bis hin zu den Glocken im letzten Teil bewahren noch die Erinnerung an vertraute Fanfaren-, Appell- und bis hart an klerikale Riten streifende Feiertagsklänge beziehungsweise an deren Rolle als Topoi in symphonischer Musik. Aber es ist ein radikal davon abgewandter Geist, der nun in solchen Mitteln regiert: Als Cluster gebündelt werden die Glocken ganz von selbst zu dem, was sie doch sind, Metallröhren, klirrende Industrieprodukte, als solche sind sie Partikel von rhythmisch organisierten Strukturen und treten so gleichermaßen in Verbindung mit anderen Geräuschen wie mit den Singstimmen. [...] Es ist umständlich und auch nicht ungefährlich, den neuen Funktionsraum zu benennen, in dem die alten Suggestionen aufgehoben, zerstört, bewahrt, durchschaut und die so gebrochenen Mittel mit Expressivität nicht beladen, sondern geladen werden.“54
Und im selben Zusammenhang heißt es, die ganz persönliche, auf die nicht bloß funktionalen Kräfte von Musik bedachte Sicht der Dinge unterstreichend, weiter:
Eindruck“ registriert (ebd., S. 17). Vgl. zu diesem Aspekt und zur vorliegenden Thematik insgesamt auch: Christian Utz, „Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation“, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel 2016, S. 35–53. 53 Ebd., S. 17. 54 Helmut Lachenmann, „Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger“, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, S. 191–204, hier S. 192.
38 | J ÖRN P ETER H IEKEL „An den [...] Glocken im Schlußteil von Canti di vita e d’amore berührt mich weder die empfundene Feiertagsidylle noch die sich über den Bruch ergebende Metallwaren-Aura allein, sondern das Moment der Umdeutung und die kreative Kraft, die in solchem Vorgang wirkt, als einem Vorgang in der Musik und in mir selbst.“55
S EMANTICAL I NVESTIGATIONS : C LEMENS G ADENSTÄTTER Lachenmanns Konzept, das immer wieder mit Optionen oder sogar Konkretisationen der Sinn-Setzung aufwartet, erweist sich nicht zuletzt darin als perspektivenreich, dass es von vielen Komponistinnen und Komponisten der nachfolgenden Generationen aufgegriffen, spezifiziert und dabei auch verändert wird. In besonderer Weise gilt dies für Clemens Gadenstätter, in dessen Werken es oft darum geht, anhand von konkreten semantischen Spuren bestimmte Anziehungs- und Abstoßungsbewegungen – also Verdichtungen wie Überreizungen – zu komponieren. Einen programmatischen Text hierzu hat Gadenstätter „Semantical Investigations“ überschrieben.56 Dieser handelt von einem kompositorischen „Forschungsgebiet“57, das sich auf einen ebenso kreativen wie kritischen Umgang mit der Wirklichkeit richtet. Das, was Wellmer in seinem Versuch über Musik und Sprache mit Blick auf Lachenmanns Konzept herausarbeitete, nämlich der Grundgedanke, „neue musikalische Kontinente zu entdecken, neue expressive und semantische Potentiale der Musik freizusetzen und das musikalische Hören von [...] Blockierungen zu befreien“,58 ist dabei als eine entscheidende Voraussetzung und als Ausgangspunkt dieses Ansatzes zu bezeichnen. Doch dezidierter und umfassender als bei Lachenmann zielen zumindest einige von Gadenstätters Kompositionen auf die „Arbeit mit Klangobjekten, die als ,Signale‘ im akustischen Bereich gelten können: von Warnsignalen (Martinshörnern etc.), akustischen Befehlsgebern (Weckerklingeln etc.) bis zu sozialen Signalen, Anzeigern bestimmter, stark kodifizierter sozialer Situationen (Klangobjekte rund um ,Kirche‘, ‚Natur‘ etc.)
55 Ebd., S. 193. 56 Clemens Gadenstätter, „Semantical Investigations. Vom akustischen Signal zum musikalischen Ereignis. Skizzen zu einer kompositorischen Poetik“, in: Marion Demuth/ Jörn Peter Hiekel (Hg.), Freiräume und Spannungsfelder. Reflexionen zur Musik heute, Mainz 2009, S. 89–103. 57 Ebd., S. 97. 58 Vgl. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 272.
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und formalisierten Gesten.“59 Eine kritische Tendenz ist dabei, ebenfalls deutlicher als im Falle der Musik Lachenmanns, intendiert. Diese ist an eine kompositorische Idee geknüpft, die jede Form von Eindimensionalität zu überschreiten sucht: „Die Besetztheit solcher Klänge fordert kompositorische Techniken, die diese Kodifizierung des Hörens durchbrechen. Musik soll gleichzeitig den Code offenlegen, der damit auch wirksam bleibt, ihn aber auch aufheben [...]. Ich forme Klangobjekte mit hinweisendem bzw. signalhaftem Charakter zu ‚Material‘, indem ich es ‚musikalisiere‘. [...] Semantische Aspekte, Aspekte des Verweisens, Bedeutens, Anzeigens sind in dieser Arbeitsweise nicht mehr einfach mitgelieferte Qualitäten. Ich suche sie vielmehr bewusst auf, strapaziere sie. [...] Wesentlich dabei ist, dass der Aspekt des Verweisens nicht nur einer ist, der das Verstehen betrifft, sondern auch die ‚emphatische’ Energie von Klanggeschehen wesentlich bestimmt.“60
Und in einem anderen Kontext äußerte der Komponist: „musik, wie ich sie mir vorstelle, versucht in jedem augenblick, die bedeutungshorizonte, die sich mit den klängen auftun, gleichzeitig bewusst zu machen und neu zu bestimmen.“61
In seinem 2002/03 entstandenen Klavierkonzert Comic Sense heißt dieses Neubestimmen, dass dem großen Konzertflügel banalere und phasenweise verblüffende Geschwister an die Seite gestellt werden. Ein zweites Kraftzentrum wird durch einen vielfältig verwandelbaren Midi-Flügel gebildet, der mit artifiziellen elektronischen Mischungen vielerlei heiter-parodistische, betörend-rätselhafte oder aber ungemütlich-bedrohliche Kontraste liefert. Punktuell gerät die Musik in die Sphäre eines „Honkey Tonk Pianos“, das in der Partitur als „Western-Klavier“ ausgewiesen wird (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 3). Andere Klänge erinnern an die seltsam zwischen Innovation und Altertümlichkeit changierenden elektronischen Instrumente Theremin oder Ondes Martenot. Gerade die für das Stück zentrale Idee der Kombination von Konzertflügel und verwandelbarem Midi-Klavier führt zu einer unauflöslichen Verschränkung von Erhabenem und grotesk Konnotiertem. Diese Seite wird in dieser musikalischen Komödie – als die man dieses Stück ganz im Sinne seines Titels bezeichnen kann – weidlich ausgekostet und
59 Gadenstätter, „Semantical Investigations“, S. 89. 60 Ebd., S. 89 f. 61 Clemens Gadenstätter & Lisa Spalt, TagDay. Schreibspiel, Graz/Wien 2000, S. 12.
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Notenbeispiel 1: Clemens Gadenstätter, Comic Sense, Staffel 1: Grand Scherzo Concertant, T. 228–235: Einsatz des Honkey-Tonk Pianos; © 2003, Wien: Ariadne Verlag
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verhilft ihr zu einer durchaus komplexen Prägung, in der Alltägliches und die Tradition der europäischen Musik fortwährend in neue Dialogsituationen geraten. Diese Dialoge entfalten sich auf der Klangebene, gehen in semantischer Hinsicht von der Möglichkeit aus, Klanggeber als Repräsentanten bestimmter alltäglicher Sphären aufzufassen, und führen auf beiden Ebenen über einen schematischen Wechsel deutlich hinaus. Erst so wird beim Miterleben dieses Stückes hinreichend deutlich kenntlich, was der Komponist als Maxime formulierte: dass nämlich „die ‚polydimensionale‘ Erlebbarkeit jedes Klanges, jeder Klangstruktur etc. im Zentrum dieser Kompositionstechnik steht.“62
K LANG -R OADMOVIES : M ARK A NDRE Für ein enorm facetten- und nuancenreiches Spiel mit der Aura von Klängen steht seit einigen Jahren besonders das Schaffen von Mark Andre. Zu den zentralen Gedanken des Komponisten gehört dabei die Idee des permanent Übergängigen. Und diese fokussiert einerseits die Frage der Greifbarkeit von Klang-Spuren und deren Verschwinden, aber dabei oft auch Spuren des Semantischen. Diese scheinen immer wieder auf und geben der Klangerfahrung einen bestimmten Horizont. Dabei geraten andere semantische Zuschreibungsmöglichkeiten und zugleich andere Wege der Akzentuierung ins Blickfeld als in den bisher genannten Beispielen. Denn erstens haben diese semantischen Setzungen oft mit der Erfahrung des Glaubens zu tun und zweitens liegt ihnen die Einsicht zugrunde, dass von dieser Erfahrung in einem Musikwerk nicht plakativ und auftrumpfend, sondern mit größter Subtilität und wohl am ehesten im Zwischenraum von Abstraktion und Konkretion zu künden ist. In seinem Musiktheaterwerk wunderzaichen (2008–14), das der Komponist zuweilen ebenfalls als „Musik mit Bildern“ bezeichnet, kommen zur Fundierung dieser Bezugsrichtung konkrete akustische Klangspuren bestimmter Orte zum Zuge. Entfaltet wird ein umfassendes Spiel mit der magischen Seite von Topographien, das auf Orte in Israel bezogen ist. Der Komponist ist, um diese Seite zu kreieren, mehrfach in dieses Land gereist, um dort (zum Teil gemeinsam mit dem Elektronik-Spezialisten Joachim Haas) an verschiedenen Orten, an denen der historische Jesus gelebt hat, Aufnahmen zu machen. Es ging ihm darum, etwas von dieser historischen Figur in das Stück zu implantieren. „Akustische Fotografien“,
62 Gadenstätter, „Semantical Investigations“, S. 98.
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„Klangfotografien“ oder auch „Echographien“ nannte Andre das und sprach selbst auch von einem „metaphysischen Roadtrip“ bzw. von einem „Klang-Roadmovie“.63 Konkret heißt dies, dass elektronische Klangmittel, die auf dem Prinzip der Faltung64 basieren, nicht nur die Atmosphäre stark prägen, sondern auch bestimmte Assoziationen und Deutungsmöglichkeiten aufrufen. Beides ist etwa am Schluss des 3. Teils erfahrbar, wo man sehr deutlich hört, wie eine Tür zugeschlagen wird – ein markanter Moment, der beim Hören des Werkes eine Ahnung davon erzeugt, dass hier eine ortsspezifische Dimension ins Spiel gerät. Dass dieses Ortsspezifische eine semantische Anreicherung des Ganzen darstellt, erschließt sich durch das Wissen um die Produktionsbedingung, aber auch durch den Blick in die Partitur (S. 57), wo es heißt: „Übergangsfile 3. St. Anna-Tür + Akustik Jerusalem (... cross...) Wind in der Wüste“. Gemeint ist erstens die Jerusalemer Kirche St. Anna, in der die Geburtsstätte Marias, der Mutter Jesu von Nazareth, liegen soll, aber zweitens auch der ebenfalls stark auratisch wirkende Wüstenwind, der womöglich eine Ahnung des Heiligen Geistes zu vermitteln vermag. Mark Andre, der aus musikalischen Gründen gerade auf die Aufnahmen in St. Anna mehrfach in diesem Werk zurückgriff, hat dieses „Übergangsfile“ (der Name deutet auf die Situation des Übergangs zum nächsten Teil, aber zugleich auf das Inhaltliche) ebenso wie die zahlreichen anderen Einspielungen jeweils in minutiöser kompositorischer Arbeit zusammengefügt und im Studio gemischt; dies gilt auch für die zahlreichen Einspielungen im Schlussteil von wunderzaichen. Jeweils ist durch den Blick in die Partitur zu erschließen, an welchen Orten die Aufnahmen, die zugrunde liegen, entstanden. Außer St. Anna und der Wüste sind dies die Grabeskirche, Kapernaum (am See Genezareth) und Emmaus. An einzelnen Stellen sind freilich auch geflüsterte oder gesprochene Passagen enthalten.65 Immer wieder in diesem Stück gibt es auf der Basis solcher klanglicher „Beschriftungen“ und deren Verarbeitung ein kunstvolles Ineinander von konkreten und dekonkretisierten Elementen. Die Übergängigkeit zwischen beiden ist für
63 Mark Andre im Gespräch mit dem Verf. im Jahr 2014. 64 Zur Bedeutung dieses Prinzips für sein Komponieren vgl. Mark Andre, „Die Schwelle als mögliches Gestaltungsmittel beim Komponieren“, in: Jörn Peter Hiekel (Hg.), Sinnbildungen. Spiritualität in der Musik heute (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 48), Mainz 2008, S. 107–123. 65 Um ein Beispiel zu nennen: im 1. Teil des Werkes ist in der Partitur (S. 6) der Name „Robert Wieler” vermerkt – als Hinweis darauf, dass hier ein File verwendet wird, dem eine Aufnahme zugrunde liegt, auf der dieser seinen Namen geflüstert hatte.
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Mark Andre, der sehr häufig von der Idee der „Schwelle“ spricht und diese nicht selten auch im Zusammenhang mit metaphysischen Erwägungen sieht, von besonderer Wichtigkeit. „Die instabile Morphologie einer Schwelle als mögliches Übertragungsmittel besitzt nach meiner Einschätzung ein großes kompositorisches Potenzial und eine besondere Aktualität“,66 lautet ein lange vor der Fertigstellung dieses Werkes formulierter Satz des Komponisten, der als programmatisch gerade auch für wunderzaichen angesehen werden kann. Ausgeführt hatte Mark Andre ähnliche kompositorische Verfahren zuvor bereits im Werk üg (2007/08) für Ensemble und Elektronik, das im Wesentlichen in Istanbul entstand und darauf zielt, konkrete Klangspuren der Stadt zu integrieren und zu semantischen Konstellationen zu verdichten. Wichtig für die Konzeption des Werkes erscheint es, dass diese Spuren mit dem „forschenden“ Gestus der Musik aufs engste verwoben sind und insofern keineswegs äußerlich wirken. Die an Istanbuler Orten entstandenen „akustischen Fotografien“, die Eingang in üg fanden, stammen einerseits von bestimmten Räumen, andererseits von (überwiegend alten oder kranken) Menschen, die ihren Namen jeweils in ihrer Muttersprache flüsterten. Die Klangreise dieses Stückes sucht – das ist wohl entscheidend – auratische und konkrete Klänge nicht nur verschiedener Orte, sondern auch verschiedener Zeiten miteinander zu verschränken und die Übergänge zwischen ihnen auf allen Ebenen erahnbar zu machen. Das Flüchtige, bloß Andeutende, ist dabei für den Komponisten besonders wichtig, bezeichnenderweise spricht er selbst gern von „Klangschatten“. Das Denken, das dahinter steht, geht davon aus, dass latente, schattenartige existentielle Spuren eine starke Präsenz und womöglich sogar eine messbare Ausstrahlung haben können, selbst wenn sie hörend nur schwach identifizierbar sind – man mag hier, sucht man nach Parallelen bei anderen Komponisten, wohl am ehesten an die „schwache messianische Kraft“ denken, die Luigi Nono, auf Walter Benjamins Geschichtsauffassung rekurrierend, für seine Komposition Prometeo (1984) so wichtig war. Es geht Mark Andre allerdings noch konsequenter als Nono um eine Form des permanenten Übergangs zwischen unterschiedlichen Graden der Präsenz und um eine Verknüpfung von Räumen mitsamt deren historischer
66 Andre, „Die Schwelle als mögliches Gestaltungsmittel beim Komponieren“, S. 112. Zu wunderzaichen vgl. auch meinen ausführlicheren Beitrag „Resonanzen des Nichtevidenten. Mark Andres Musiktheaterwerk wunderzaichen“, in: Mark Andre (= MusikKonzepte 167), hg. von Ulrich Tadday, München 2015, S. 15–39. Und vgl. ebd., S. 66– 77, auch den Beitrag von Lydia Jeschke „Gedehnter Raum, gefrorene Zeit, unendliches Dazwischen. Werke mit Elektronik von Mark Andre“.
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Aufladung – so spekulativ diese vielleicht auch erscheinen mag. Aber es geht zugleich auch um jene Form des „Einschreibens“ von Bedeutungen und von Körpern, wie sie etwa von Jean-Luc Nancy zur Darstellung gebracht wurde, jenem Philosophen also, der an der Entstehung von wunderzaichen beteiligt war. Weit über dieses Stück hinaus liegt einer der Kernaspekte von Mark Andres Komponieren, das stets von Neuem auf außerordentlich gründlichen Prozessen der Klangforschung basiert, im Aufscheinen und vor allem im Verschwinden von Momenten der Präsenz – wobei diese Präsenz unverkennbar eine semantische Grundierung und eine Bezogenheit auf das „unfassbare“ Ereignis von Christi Auferstehung meint. Mit Blick auf diese stark religiös motivierte Intention, ein eschatologisches Erleben erfahrbar zu machen, spricht Mark Andre dementsprechend vom „zentralen, inhaltlichen Anliegen meiner Musik“.67 Doch ist dieser inhaltliche Bezug wohl nichts, was sich nur tiefgläubigen Hörern erschließt. Dazu passt es, dass der Bezug zum genannten „unfassbaren“ Ereignis weit davon entfernt ist, laut ausposaunt zu werden. Er wird, ganz im Gegensatz zu manchen geläufigen, durchaus plakativen kirchenmusikalischen Traditionen, sozusagen in die subtilsten Klangprozesse und deren Deutungsräume verlegt. Zu letzteren gehört die grundlegende Erfahrung, dass Verstehen und Nichtverstehen unauflöslich verbunden sind. Es geht ihm, äußert der Komponist dementsprechend zu seinem Umgang mit bedeutungsgeladenen Zeichen und den Prozessen, in die diese eingebunden sind, um die „zerbrechlichsten, fragilsten, fluktuierendsten Situationen des Komponierens in der Auseinandersetzung zwischen Präsenz und Absenz.“ „Die Enthüllungskraft der kompositorischen Zwischenräume lässt“, so Mark Andre im selben Zusammenhang, „die intimste, fragilste Kraft der Musik erleben.“68 Und es überrascht insofern auch nicht, dass seine Musik, die sich vom geläufigen Habitus eingängiger Gemeinschaftserlebnisse und von der Fundierung durch jahrhundertelang vorgeprägte klangsemantische Setzungen gerade fernhält, längst auch (oder sogar vor allem) außerhalb dezidiert religiös gestimmter Kreise große Resonanz besitzt. Insgesamt rückt gerade in der Musik von Mark Andre mit besonderem Nachdruck jenes von Paul Valéry in die Diskussion gebrachte „Zögern an der Schwelle
67 Ebd. 68 Mark Andre, Vortrag „Kompositorische Zwischenräume als eschalogische Räume des Entschwindens“ in der Bamberger Villa Concordia am 24. Januar 2017, unveröffentlichtes Manuskript.
A M A USGANG DES T UNNELS INS U NBEKANNTE SPEKULIEREND | 45
zwischen Klang und Sinn“69 ins Bewusstsein, das nicht nur für Lyrik, sondern auch für das Erleben von neuerer Musik so essentiell wie hilfreich sein kann.70 Das ist weit entfernt von der Tendenz zur Vermeidung semantischer Assoziationen, die es bei Mark Andres einstigem Lehrer Gérard Grisey zumindest zeitweise gab,71 und lässt zugleich, was die Wahrnehmungsmöglichkeiten angeht, an jene feine Nuancierung zwischen „entendre“ und „écouter“ denken, die sich in den Schriften von Jean-Luc Nancy findet. Dabei deutet Letzteres auf eine sich von allzu einfachen Lösungen wegbewegende Art der Öffnung der Hörenden gegenüber Weltbezügen. In den Worten Nancys meint es: „ganz Ohr sein, auf Empfang sein, so wie man sagt‚ auf der Welt sein“ – gerichtet auf einen „möglichen Sinn, der folglich nicht unmittelbar zugänglich ist,“72 der aber, so ist zu ergänzen, beim Hören erahnbar und sogar dechiffrierbar ist. Gewiss ist Mark Andres kompositorische Strategie in ihrem spezifischen Umgang mit semantischen Präsenzgraden, die auch religiöse Erfahrungen einschließen, kaum mit den meisten anderen Konzepten der Gegenwartsmusik vergleichbar. Zugleich aber weiß sie sich in einer Tradition der Sprach-Findung und SinnVerdichtung, die durch die zuvor skizzierten Ansätze gegeben ist und mehr und mehr auch die Erforschung neuer Konstellationen im Spannungsfeld von klanglichen und semantischen Akzenten einschließt. Wie diese ist sie dazu angetan, Übergänge oder Mischverhältnisse zwischen gewohnten und ungewohnten semantischen Setzungen bzw. Erfahrungen zu akzentuieren. Damit lädt sie zu einer Aufmerksamkeit gegenüber ihren Resonanzen ein, die sich auf Deutliches wie bloß Angedeutetes gleichermaßen richtet – und dafür steht, dass Musik gerade hinsichtlich des Wechselspiels von Klang und Bedeutung immer wieder von Neuem gleichsam ins Unbekannte spekuliert.
69 Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Frankfurt am Main 1959, S. 58. 70 Diese Dimension hat auch Wellmer in seinem Versuch über Musik und Sprache zu einem der Leitmotive erhoben. Vgl. ebd., S. 127 oder S. 135. 71 Vgl. Lukas Haselböck, „Saturn dröhnt auf dem Grunde von Zeus: Klang und Sinn in der französischen Musik und Philosophie nach 1945“, in: Neue Zeitschrift für Musik 173 (2012), H. 3, S. 36–39. 72 Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, dt. Ausgabe, Zürich/Berlin 2010, S. 11 bzw. 13.
Vom Sinn des Klangs Ein Vortrag aus posthermeneutischer Perspektive1 N IKOLAUS U RBANEK
Klang hat Konjunktur.2 Diesen erstaunt-beschwörenden Befund liest man in letzter Zeit durchaus häufiger – wäre man des permanenten Paradigmen-Wechselns nicht schon rechtschaffen müde, dürfte man angesichts der Vielzahl einschlägiger
1
Der vorliegende Text folgt dem Vortragsmanuskript vom September 2013. Einige der im Folgenden notierten Überlegungen habe ich bereits an anderen Stellen weiter ausgeführt und diskutiert, vgl. Nikolaus Urbanek, „Spur des Klangs. Eine posthermeneutische Skizze zum Eigensinn der Musik (nicht nur) in der Wiener Schule“, in: Christian Utz (Hg.), Organized Sound. Klang und Wahrnehmung in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts (= musik.theorien der gegenwart 6), Saarbrücken 2013, S. 113–136; Nikolaus Urbanek, „Vom Zögern der Wiener Schule zwischen Klang und Sinn“, in: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 26/1 (2011): „Klang“, hg. von Tobias Janz, S. 55–68; Nikolaus Urbanek, „Fortsetzungen der Klangfarbenserialität? Sieben kurze Bemerkungen zur kompositorischen Webernrezeption“, in: Pietro Cavallotti/Rainer Schmusch (Hg.), Anton Webern und das Komponieren im 20. Jahrhundert. Neue Perspektiven (i. Dr.).
2
Eine Liste der einschlägigen Buchtitel würde den Rahmen einer Fußnote sprengen und hätte also solche nur geringfügige Aussagekraft. Bemerkenswert erscheint mir jedoch, dass sogar eine großangelegte ‚Philosophie der Musik‘, wie sie Gunnar Hindrichs kürzlich veröffentlichte und deren Ziel es ist, eine Musikphilosophie aus ‚ästhetischer Vernunft‘ über den Weg einer ‚Ontologie des musikalischen Kunstwerks‘ zu entwickeln, im Obertitel ausgerechnet den Begriff des Klangs bemüht, vgl. Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014.
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Publikationen und Projekte wohl gar von einem acoustic turn oder einem sonic turn reden,3 in dessen Bugwelle die gerne so genannten sound studies4 zu einer innovativen Leitdisziplin der Kunst- und Kulturwissenschaften avancieren könnten. Dass allerdings in der interdisziplinären Vermessung der Klang-Welt nicht selten ein eklatantes Fehlen musikalischer Expertise zu beklagen ist, erweist sich dabei aus musikwissenschaftlicher Perspektive als bitterer Wermutstropfen und gibt dem Ganzen einen etwas schalen Beigeschmack. Der Musikwissenschaft erwächst an dieser Stelle nunmehr eine doppelte Aufgabe – denn dass der Klangdiskurs mitunter auf die Musikwissenschaft vergisst, findet sein Pendant in dem erstaunlichen Umstand, dass die Musikwissenschaft traditionellerweise dem Klang als Thema eigenen Rechts mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber tritt: Einerseits wären Relevanz und Adäquanz der Argumentationsfiguren, die in dem Diskurs über Klang derzeit so überaus en vogue sind, für die Musikwissenschaft zu überprüfen. Andererseits wäre Klang (auch) als musikalisches Phänomen ernst zu nehmen und aus einer musikwissenschaftlichen ‚Spezifik‘5 heraus ein adäquates Vokabular zu entwickeln. Es ist also – pointiert gesprochen – zu klären, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir über Klang reden. Und in dieser Frage könnte uns, so hoffe ich jedenfalls, eine Perspektive weiterhelfen, die als posthermeneutische ich im Folgenden entfalten möchte.6 Einen Vortrag in der eröffnenden Sektion „Grundsätzliches“ eines Symposiums über Klang und Semantik in der Musik des 20./21. Jahrhunderts halten zu dürfen, verführt naturgemäß dazu, sich mit ungebremster Leidenschaft dem nebulosen Sinnieren über ‚grundsätzliche‘ Allgemeinheiten und Abstrakta hinzugeben.
3
Vgl. Petra Maria Meyer (Hg.), Acoustic turn, München 2008.
4
Vgl. beispielswese Holger Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008; Trevor Pinch und Karin Bijsterveld (Hg.), Oxford Handbook of Sound Studies, New York 2011; Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader, London 2012; das Sonderheft „Situation und Klang“ der Zeitschrift für Semiotik 34 (2012, Heft 1–2), etc. etc.
5
Vgl. Hermann Danuser, „Die Kunst der Kontextualisierung. Über Spezifik in der Musik in der Musikwissenschaft“, in: Tobias Bleek/Camilla Bork (Hg.), Musikalische Analyse und kulturgeschichtliche Kontextualisierung. Für Reinhold Brinkmann, Stuttgart 2010, S. 41–63.
6
Damit schließe ich in erster Linie an die große Studie von Dieter Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010 an.
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Und die Nebulosität meines vor vielen Monaten fixierten Titels7 lässt wahrlich nicht auf eine sonderlich ausgeprägte Widerstandskraft des Vortragenden ebendiesen Verlockungen gegenüber hoffen. Um dieser drohenden Gefahr wenigstens einige wenige Minuten zu trotzen, rekurriere ich eingangs auf ein konkretes Klangbeispiel8. Anhand dieses Beispiels möchte ich zunächst einige Voraussetzungen meines Themas rekapitulieren, um klären zu können, in welchem theoretischen Verweisungszusammenhang Klang und Sinn in (respektive: aus) posthermeneutischer Perspektive zu lokalisieren sind. Hierbei geht es mir in einem ersten Schritt um eine kurze Analyse dessen, was man üblicherweise mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung bezeichnet.9 Und dies impliziert bereits eine These, die selbstverständlich scheint, aber von fundamentaler Relevanz ist: Für jede musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen des Klangs, so möchte ich behaupten, ist der Rekurs auf die ästhetische Erfahrung von Musik schlechterdings unhintergehbar, denn zu einem großen Teil sprechen wir, wenn wir über Klang reden, über relationale Eigenschaften von Musik,10 Eigenschaften also, die plausibel nur im Wechselspiel von Wahrnehmungsobjekten und wahrnehmenden Subjekten zu erläutern sind.11
7
Der Titel des Vortrages lautete ursprünglich „Klang, Sinn und Bedeutung in posthermeneutischer Perspektive“, der nunmehrige Titel steht ihm in Bezug auf seine Nebulosität freilich in nichts nach.
8
Die mit dem Symbol
markierten Audiospots, die einen wesentlichen Bestandteil des
Argumentationsganges darstellen, sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/ 9783-8376-3522-5. 9
Vgl. zu einer philosophischen Perspektive auf die ästhetische Erfahrung neuerdings Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel (Hg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013.
10 Vgl. dazu – um musikologisch und philosophisch weiterzuverweisen – beispielsweise Tobias Janz, „Qualia, Sound, Ereignis. Musiktheoretische Herausforderungen in phänomenologischer Perspektive“, in: Tobias Janz/Jan Philipp Sprick (Hg.), Musiktheorie/Musikwissenschaft. Geschichte – Methoden – Perspektiven (= Sonderband der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie), Hildesheim 2010, S. 217–239 und Matthias Vogel, „Ästhetisches Erfahren – ein Phantom?“, in: Deines/Liptow/Seel (Hg.), Kunst und Erfahrung, S. 91–119. 11 Vgl. dazu, und auch zu einer an Roger Scruton (The Aesthetics of Music, Oxford 1997) geschulten Differenzierung in primäre, sekundäre, tertiäre und quartäre Eigenschaften Vogel, „Ästhetisches Erfahren – ein Phantom?“, S. 94 ff.
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ZU
EINIGEN
M OMENTEN
DER ÄSTHETISCHEN
E RFAHRUNG
Audiospot 1 Wahrzunehmen ist beim Hören von Audiospot 1 ein plötzlich erscheinender Klang, der langsam leiser wird, bis er schließlich (fast) nicht mehr zu hören ist. Es handelt sich – wie man in Spektogrammen und anderen Ergebnissen bildgebender Diagnostik ganz genau sehen könnte – um einen obertonreichen Klang mit charakteristisch kurzem Einschwing-, ausgeprägtem Ausschwingvorgang und einer Dauer von ziemlich genau 5,57 Sekunden. Graphische Analysen des Klangs, die uns gewissermaßen in das Innere des Tons leiten, mithin also Phänomene visualisieren, die unserer Wahrnehmung ansonsten verborgen geblieben wären, weil sie gleichsam unter oder hinter der sinnlich gegebenen Oberfläche liegen, sind freilich nicht die einzigen Bilder, die wir uns vor Augen führen könnten. Auch sprachliche Bilder stehen uns zur Verfügung: So können wir uns vermutlich schnell darauf einigen, dass es sich um einen Klang handelt, der von einem metallischen Aufschlag-Idiophon herrühren dürfte, und dann den Klangerzeuger als Glocke bezeichnen. Doch auch bei einer solchen Benennung bleiben wir keinesfalls stehen: In unserer Wahrnehmung assoziieren wir ‚Bedeutungen‘, die wir dann auch diskursiv fassen können; wir denken bei unserem Glockenschlag je nach Sozialisationshintergrund und momentaner Befindlichkeit an das Signal zur Kaffeepause, an den Beginn eines Initiationsrituals, den Vollzug der Wandlung in der katholischen Messe, das Ende der Besuchszeit in der Dresdner Gemäldegalerie, an Begräbnisoder an Hochzeitsglocken. Die suggestive Bilderflut sogleich wieder stoppend, können wir ein erstes Ergebnis für unsere Diskussion bereits an dieser Stelle festhalten: „Wahrnehmung erfaßt immer Bedeutung“12, heißt es bei Hans-Georg Gadamer, und aus der Erfahrungswelt Martin Heideggers lesen wir in Sein und Zeit: „Auch das Horchen hat die Seinsart des verstehenden Hörens. ‚Zunächst‘ hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. Man hört die Kolonne auf dem Marsch, den Nordwind, den klopfenden Specht, das knisternde Feuer.“13
12 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke I), Tübingen 61990, S. 97. 13 Marin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 171993, S. 163.
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Keineswegs nehmen wir – und darüber lässt sich Übereinkunft in erstaunlich vielen philosophisch-ästhetischen Lagern erzielen14 – also das akustische Ereignis bloß als reines Sinnes-Datum wahr; es gibt keine Erfahrung, die nicht Erfahrung von Sinn implizierte.15 Stets hören wir den Klang als etwas; wir hören ihn als Pausengong, als Hochzeitsglocke, als Signal. Hier nun wäre auf zwei entscheidende Momente hinzuweisen. Zum ersten gilt uns das Wahrgenommene als Zeichen für etwas anderes16 – aliquid stat pro aliquo, um das Paradigma der klassischen Zeichenlehre zu zitieren. Dieses Moment der Signifikation impliziert notwendigerweise eine Differenz-Setzung, die das Reale vom Idealen, ein Diesseits von einem Jenseits trennt. Zum zweiten ist vor diesem Hintergrund von einer Unausweichlichkeit der Be-Deutung beziehungsweise einer Totalität des Symbolischen auszugehen, wie Roland Barthes in einer treffenden Bemerkung formuliert:
14 … Carolyn Abbate übrigens nicht, vgl. Carolyn Abbate, „Music – Drastic or Gnostic?“, in: Critical Enquiry 30 (2004), S. 505–536. Und an genau dieser Stelle setzt dann auch die Kritik von Karol Berger an, vgl. Karol Berger, „Musicology According to Don Giovanni, or: Should We Get Drastic?“, in: The Journal of Musicology 22 (2005), S. 490– 501. 15 Daran hält sogar der Dekonstruktivist par excellence fest: „Jede Erfahrung ist eine Erfahrung des Sinns.“ (Jacques Derrida, „Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva“, in: ders., Positionen, hg. von Peter Engelmann, Wien 1986, S. 72.) Vgl. auch ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 71997, S. 385 und dazu des Weiteren Christoph Menke, „Absolute Interrogation – Metaphysikkritik und Sinnsubversion bei Jacques Derrida“, in: Philosophisches Jahrbuch 97 (1990), S. 351–366. 16 Wir befinden uns, woran Tobias Janz in seinem zentralen Aufsatz über „Qualia, Sound und Ereignis“ erinnert, in einem „Verweisungszusammenhang der Repräsentation“. „Einen Klang als etwas zu hören, bedeutet, das Phänomen in den Verweisungszusammenhang der Repräsentation zu stellen. Höre ich den Klang als Klarinettenklang, als Sextakkord, als Motiv x, als Topos y, stelle ich einen Bezug zu einem sprachlich fassbaren gedanklichen Inhalt her, der das Individuelle der konkreten Erscheinungsweise des Klangs als Akzidenz von den begrifflich repräsentierbaren Aspekten trennt. Das begriffliche Hören führt so zu einer Reduktion der phänomenalen Fülle auf Identisches, Wiederholbares, Identifizierbares. Die Wahrnehmung des Konkreten, je Einzelnen würde demgegenüber auf einen Anteil des Nicht-Sprachlichen, Nicht-Begrifflichen an der Musik verweisen, auf etwas an der Musik, das sich der Logik der Repräsentation entzieht.“ (Janz, „Qualia, Sound, Ereignis“, S. 223.)
52 | N IKOLAUS U RBANEK „Der Sinn klebt am Menschen: Selbst wenn er Unsinniges oder Außersinniges schaffen will, bringt er schließlich den Sinn des Unsinnigen oder des Außersinnigen hervor.“17
Audiospot 2 Bedeutung messen wir freilich nicht nur dem Klang der Glocke alleine, sondern auch dem formalen Geschehen bei; hier nun handelt es sich um die schlichte Struktur der Wiederholung: Unsere Aufmerksamkeit gilt auch und im Besonderen der spezifischen Serialität der Klänge, es ist also – diese Bedeutung könnten wir dem Gehörten beispielsweise zuschreiben – „vier Uhr“. Nicht nur der Klang allein, sondern auch formale Momente künstlerischer Gestaltung sind im Rahmen der ästhetischen Erfahrung für Fragen der Bedeutung und des Sinns also von zentraler Relevanz.18 Nicht umsonst kann man von einem musikalischen Sinn sprechen und meint damit dann eben auch formale und strukturelle Gegebenheiten,19 – ihr Nachvollzug stellt ein irreduzibles Moment der ästhetischen Erfahrung dar, ist aber keineswegs absolut zu setzen und unabhängig von Vollzügen des Bedeutens zu denken. (Die Deutung „vier Uhr“ setzt beispielsweise die Deutung „Kirchenglocken“ voraus.) Audiospot 3
17 Roland Barthes, „Weisheit der Kunst“, in: Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 187–203, hier S. 193. 18 Um der definitorischen Präzision willen könnte man – in lockerer Wiederaufnahme Frege’scher Überlegungen (vgl. Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik N.F. 100 [1892], S. 25–50) – „Sinn“ und „Bedeutung“ dahingehend zu unterscheiden versuchen, dass man „Sinn“ eher auf Außermusikalisches, „Bedeutung“ eher im Sinn musikalischer Funktionalität auf Innermusikalisches bezieht. Dies überzeugt mich aber nicht restlos, weil damit erstens die Dichotomie von innen/außen einzementiert wird und angesichts der vielfältigen und uneinheitlichen Zeugnisse der musikästhetischen Vergangenheit zweitens kaum sinnvoll damit terminologisch zu arbeiten wäre. 19 Man könnte nun natürlich einwenden, strukturelle und formale Gegebenheiten seien der ästhetischen Erfahrung gar nicht als ‚Gegenstände‘ gegeben, aber: „Ästhetische Erfahrungen schließen Akte eines Verstehens ein, die nicht im Erfassen der Bedeutung des Gegenstandes der Erfahrung bestehen, sondern im Strukturieren sinnlicher Wahrnehmungen“ (Vogel, „Ästhetisches Erfahren – ein Phantom?“, S. 106).
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In dem plötzlichen Erklingen des Gitarrenklangs erweist sich nun zuallererst ein negatives Moment der Be-Deutung; zahlreiche der genannten Deutungen des Klangs werden abrupt durch ebendieses Ereignis aufgehoben: Es handelt sich also nicht um das erhoffte Signal zur Kaffeepause und auch nicht um das traute Läuten der Hochzeitsglocken. In dem Klang der Gitarre liegt – situationsbedingt – demnach ein Moment der Irritation, mithin ein Moment des Nichtverstehens. Freilich mischt sich in dieses Nichtverstehen auch sogleich wieder ein neues Verstehen: Wir verstehen den Klang als den Klang einer elektrisch verstärkten und verzerrten Gitarre und können – ein gewisses Maß an musikalischer Erfahrung und/oder Toleranz vorausgesetzt – das Wahrgenommene auch als Musik deuten. Im „Nachvollzug“20 der kunstvoll komponierten Wiederholungs- und Aufbaustruktur manifestiert sich zugleich eine spezifische Konzentration auf das Wie des Gehörten,21 das Wahrgenommene erweist sich als ein intentional Gemachtes, das – mit Friedrich Schlegel zu reden – sich in seiner Darstellung selbst mit darstellt.22 Und natürlich wird manch einer dies auch erkennen, weil er sich erinnern kann, diese bestimmte Musik schon einmal gehört zu haben: Fußballfans vielleicht bei Heimspielen des FC St. Pauli; Boxfans bei einem fight von Vitali Klitschko. Denn: Erkennen ist stets ein Wiedererkennen. Und Rockmusikforscherinnen und Hard & Heavy-Fans schließlich wissen: Es handelt sich um den Song „Hells Bells“, der
20 Vgl. dazu Matthias Vogel, „Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns“, in: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2007, S. 314–368. 21 Vgl. Noël Carroll, „Neuere Theorien ästhetischer Erfahrung“, in: Deines/Liptow/Seel (Hg.), Kunst und Erfahrung, S. 61–90, hier besonders S. 83. 22 „So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellt, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltenen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen, und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen, und in jeder ihrer Darstellung sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“ (Friedrich Schlegel, 238. Athenäums-Fragment, in: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden, hg. von Ernst Behler und Hans Eichner, Bd. 2: Kritische Schriften und Fragmente [1798–1801], Paderborn u. a. 1988, S. 127).
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die überaus erfolgreiche Platte Back in Black der australischen Band AC/DC eröffnet. ‚Wahrnehmen‘, ‚Nachvollziehen‘, ‚Erkennen‘, ‚Wissen‘ – all diese Momente spielen in der ästhetischen Erfahrung eine irreduzible Rolle und sie spielen diese – ganz entgegen meiner sukzessiv-aufzählenden Beschreibung – alle zugleich und auch ziemlich durcheinander: Keineswegs nehmen wir zuerst den Klang wahr, schreiben ihm dann eine Bedeutung zu, entwickeln danach eine sprachlich-diskursive Interpretation und erkennen zuguterletzt den Song.23 Auf zwei Aspekte möchte ich an dieser Stelle mit Blick auf unsere Fragestellung hinweisen: Zum ersten ist zu konstatieren, dass wir es im Rahmen der ästhetischen Erfahrung immer mit ganz unterschiedlichen aisthetischen und diskursiven Vollzügen zu tun haben. „Die ‚rein‘ ästhetische Erfahrung“, konstatiert Carl Dahlhaus in seiner Musikästhetik, „ist eine dünne Abstraktion“.24 Ruth Sonderegger hat dies in ihrer Ästhetik des Spiels einleuchtend als einen „Polylog“ beschrieben;25 die ästhetische Erfahrung sei dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihr formale, strukturelle und hermeneutische Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzüge ergänzen, widerstreiten und beständig durchkreuzen. Zum zweiten ist festzuhalten, dass die ästhetische Erfahrung wesentlich vollzugsorientiert ist. Hierin unterscheidet sie sich von der erkenntnis- respektive ergebnisorientierten Alltagserfahrung und erweist sich – erinnern wir uns des Kant’schen Begriffs der reflektierenden Urteilskraft26 – als ein freies, unbeendbares und auf keinen Zweck abgestelltes
23 Über die erstaunliche Diversität aktueller philosophischer Beschreibungen der ästhetischen Erfahrung informiert der bereits mehrfach zitierte, jüngst erschienene Sammelband über Kunst und Erfahrung. 24 Carl Dahlhaus, Musikästhetik (= Theoretica 8), Köln 1967, S. 109. „Pure Unmittelbarkeit reicht zur ästhetischen Erfahrung nicht aus“, heißt es bei Theodor W. Adorno (Ästhetische Theorie [= Gesammelte Schriften 7], Frankfurt am Main 1970, S. 109). 25 Vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt am Main 2000, vgl. dazu auch Nikolaus Urbanek, „Vom Spiel des musikalischen Sinns – Produktion. Rezeption. Reproduktion“, in: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 23/3 (2008), S. 223–232. 26 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, mit Einleitungen und Bibliographie, hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg 2006, passim; besonders deutlich beispielsweise in der „Ersten Einleitung“, hier S. 503 ff.
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Spiel unserer sinnlichen und begrifflichen Erkenntnisvermögen.27 Die Geschichte der ästhetischen Theorie kennt für diesen Umstand mannigfaltige Formulierungen, besonders glücklich scheint mir vor dem Hintergrund unserer Fragestellung die Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung als ein ausgehaltenes „Zögern auf der Schwelle zwischen Klang und Sinn“, die Paul Valéry in seinen Windstrichen notiert.28
P ERSPEKTIVEN Hieran anknüpfend möchte ich nun in einem zweiten Schritt mit einigen groben Strichen drei theoretische Modelle skizzieren, in denen auch eine musikwissenschaftliche Debatte um Klang und Sinn zu situieren wäre. Beginnen könnte diese Skizze mit einem Modell, das man als hermeneutisches bezeichnen kann und dem in den Geisteswissenschaften bekanntlich größte Wirkungsmacht beigemessen werden darf. Zugrunde liegt dieser Perspektive die Annahme einer Einheit von „Lautgestaltung und Bedeutung“29, wie es Hans-Georg Gadamer formelhaft ausdrückt, wobei der Bereich der „Lautgestaltung“ nicht nur auf den Bereich der „Bedeutung“ im Modus der Repräsentation verweist, sondern diesem auch stets untergeordnet wird. Wir haben es hier also – um einen treffenden Begriff von Sybille Krämer zu entlehnen – mit einem Zwei-Welten-Modell zu tun,30 mit dem letztlich sämtliche Bedeutungstheorien und hermeneutische Interpretationsmodelle umrisshaft zu beschreiben sind:31 Stets geht es um den Geist, der hinter den Buchstaben liegt. Um nun zur ‚eigentlichen‘ Welt der Ideen, der Bedeutungen, des Sinns zu gelangen, ist es notwendig, die sinnlich gegebene
27 Insbesondere durch das Manifest von Rüdiger Bubner wurde diese Überlegung wieder in der ästhetischen Diskussion der letzten Jahrzehnte implementiert, vgl. Rüdiger Bubner, „Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik“, in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 9–51, hier besonders S. 34 ff. 28 „Das Gedicht – dieses ausgehaltene Zögern zwischen Klang und Sinn.“ (Paul Valéry, Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen, Frankfurt am Main 1959, S. 58.) 29 Hans-Georg Gadamer, „Dichten und Deuten“, in: ders., Gesammelte Werke 8: Ästhetik und Poetik I, S. 18–24, hier S. 21. 30 Vgl. Sybille Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 323–346. 31 Vgl. auch Mersch, Posthermeneutik, S. 12.
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Oberfläche zu durchbrechen und zu überschreiten. Das subordinierte Sinnliche interessiert in diesem transgressiven Schritt nicht in der Präsenz ihres Eigenen, sondern als Repräsentation eines Anderen. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun einen weitausgreifenden Begriff des Hermeneutischen in Anschlag bringen,32 der nicht durch seinen Gegenstandsbereich, sondern durch die „zentrale und exklusive Praxis“33 der Interpretation, als einem Akt der Zuschreibung von Sinn gekennzeichnet ist. Und ein weiterer Punkt ist an dieser theoretischen Stelle bedenkenswert: Diese Zuschreibung manifestiert sich immer im Rahmen der Sprache; eine Vorentscheidung für den diskursiven Rahmen ist damit also bereits gefallen: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“34 – so ein vieldiskutierter Satz Gadamers mit weitreichenden Konsequenzen auch und gerade für unsere Fragestellung. Auf der Suche nach musikwissenschaftlichen Beispielen einer solchen ZweiWelten-Ontologie muss unser Blick gar nicht unbedingt in die historische oder geographische Ferne schweifen, um sich beispielsweise an den phantasievollen Erzählungen musikalischer Hermeneutik à la Schering und Kretzschmar oder an der allzu forcierten Suche nach einem ‚meaning‘ in der New Musicology zu delektieren.35 Denn das Modell des Hermeneutischen und das Schema der Interpretation sind in zahlreichen Teilgebieten der Musikwissenschaft epistemologisch fest verankert, insbesondere dann, wenn sie – denken wir durchaus auch an des hermeneutischen Tiefsinns eher unverdächtige Bereiche wie Analyse, Theorie oder Philologie – in einer Privilegierung des Textes als dem vermeintlich eigentlichen Ort
32 Vgl. zu einem umfassenderen Begriff des Hermeneutischen auch die Überlegungen von Martin Seel, „Ästhetik und Hermeneutik. Gegen eine voreilige Verabschiedung“, in: Martin Seel, Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik, Frankfurt am Main 2007, S. 27–38. 33 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004, S. 17 und 99. 34 Gadamer, Wahrheit und Methode, I/478. 35 Vgl, dazu auch Michele Calella, „Das Neue von gestern und was übrig bleibt: New Musicologies“, in: Michele Calella/Nikolaus Urbanek (Hg.), Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, Stuttgart 2013, S. 82–110, besonders S. 98 f.
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der Musik vorrangig als Partiturwissenschaft agiert. Wie Frank Hentschel eindrücklich aufgezeigt hat,36 stellte die grundlegende Skepsis gegenüber dem Klanglich-Sinnlichen eine zentrale und wirkungsmächtige Facette einer intendierten „Aufwertung der Musik zum Bildungsgut“ in der bürgerlichen Musikgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar, die sich in der besonderen Fokussierung auf intellektuelle Qualitäten, welche im Zuge dessen der Musik selbst zugeschrieben wurden, gerne einer philosophischen Begrifflichkeit bediente und im Zuge dessen die Rede über „geistige“ Momente entscheidend privilegierte. Davon zeugt unter anderem die omnipräsente Rede über musikalische Logik, musikalische Rationalität oder musikalische Wahrheit zuungunsten von Thematisierungen der sinnlichen Oberfläche, des Klangs oder generell von Phänomenen, die sich lediglich der so schlecht kontrollierbaren, diskursiv kaum fassbaren widerständigen ästhetischen Erfahrung offenbaren.37 Das Sinnliche der Kunst ist – so viel lässt sich in gebotener Kürze für die Historische Musikwissenschaft als einer idealistisch geprägten Geisteswissenschaft cum grano salis festhalten – in diesem Diskurs nicht in seiner Ipseität, nicht in seiner Eigen-Sinnigkeit von Interesse, vielmehr – so lesen wir diskursstiftend in Hegels Ästhetik – „ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint.“38 Diese Stelle mag dem Philosophen vielleicht gar nicht so problematisch erscheinen, prekär werden die Konsequenzen für eine (musikologische) Auseinandersetzung mit der Tonkunst allerdings genau dann, wenn beispielsweise Adolf Bernhard Marx in seiner Denkschrift über Organisation des Musikwesens im preussischen Staate betont, dass das „Geistige – und zwar das Sittlich-Geistige in freiester Bedeutung des Wortes – vor dem Sinnlichen vorwalte“.39 Die Privilegierung des Geistigen und der Primat
36 Vgl. hierzu auch die Studie von Bernd Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. Untersuchungen zur Dichotomie von „hoher“ und „niederer“ Musik im musikästhetischen Denken zwischen Kant und Hanslick (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 30), Kassel 1987. 37 Vgl. diesbezüglich Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung 1776–1871 Frankfurt am Main/New York 2006, besonders S. 120–140. 38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (= Werke 13 auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe), Frankfurt am Main 1970, S. 61. 39 Adolf Bernhard Marx, „Denkschrift über Organisation des Musikwesens im preussischen Staate“, in: Neue Berliner Musikzeitung 2 (1848), S. 241–247 und 249–256, hier S. 243, vgl. dazu auch Frank Hentschel, „Unfeine Unterschiede. Musikkultur(en) und
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der diskursiven Interpretation als zentraler Praxis der Geisteswissenschaften besitzen also in einer Skepsis gegenüber dem Sinnlichen und damit in einer veritablen Klangvergessenheit ihre Kehrseite. Zum zweiten wäre von einer antihermeneutischen Perspektive zu sprechen: Diese spielte in der Geschichte der Ästhetik immer schon eine untergründige, mitunter subversive Rolle, oftmals genau dann, wenn von Lug und Trug in der Kunst die Rede war und dergestalt Sein und ästhetischer Schein gegeneinander ausgespielt wurden. Ich überspringe eine erschöpfende Auflistung aller einschlägigen Fußnoten zu Platons grundlegender Skepsis gegenüber der Kunst; charakteristisch für eine antihermeneutische Spielart ästhetischer Theorie – und damit gerade für unsere Diskussion natürlich äußerst bedenkenswert – ist das besondere Bewusstsein für eine gewisse Eigenständigkeit des Materialen, Buchstäblichen, Sinnlichen, wodurch letztlich die Möglichkeit ins Spiel gebracht wird, dass das Sinnliche den Sinn auch unterlaufen, verweigern oder gar subvertieren könnte. Greifbar wird dieses Moment an diversen Stellen der ästhetischen Theoriebildung: Als ein Bespiel unter vielen sei auf Theodor W. Adorno verwiesen und hier nicht – naheliegenderweise – auf die Thematisierung des konstitutiven Rätselcharakters der Kunst, sondern auch auf ganz andere Stellen seiner ästhetischen Theorie. In einem Auseinanderklaffen von Buchstabe und Bedeutung, von Klang und Sinn werde, so lesen wir – und ebendies wäre vor unserem Hintergrund zu durchdenken – in einem kleinen Essay über Franz Kafka, jede Form hermeneutischer „Horizontverschmelzung“ (Gadamer) schlichtweg verweigert: „Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander […] Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“40
Musikwissenschaft“, in: Calella/Urbanek (Hg.), Historische Musikwissenschaft, S. 255–265, hier 256 f. 40 Theodor W. Adorno, „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 2003, S. 255.
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Eine dezidiert antihermeneutische Perspektive wurde in den letzten Jahren in Rekurs auf die Musikphilosophie des französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch stark gemacht41 – von Richard Taruskin auf dem Buchcover eher werbetechnisch einprägsam denn philosophisch sonderlich plausibel emphatisch als „AntiAdorno“ willkommen geheißen. Es war insbesondere Carolyn Abbate, die mit ihrem berühmten Plädoyer für einen ‚drastischen Umgang mit Musik‘, der das sinnliche Erlebnis ins Zentrum der hörenden Aufmerksamkeit stellen sollte,42 eine hitzig geführte musikwissenschaftliche Debatte über diese Thematik entfacht hat.43 Es wäre eingehend darüber zu diskutieren, ob Jankélévitch tatsächlich ausschließlich auf eine antihermeneutische ästhetische Theorie zu verpflichten ist – das kann ich hier nicht leisten. Nichtsdestotrotz darf man festhalten, dass es sich vor allem in seinem Essay La Musique et l’Ineffable um ein fulminantes, von einem äußerst kritischen Blick auf die bedeutungsschwangere Tradition der deutschen Musik44 geschärftes Plädoyer dafür handelt, eben diejenigen Bereiche stärker in das Blickfeld zu rücken, die in dem klang- und ereignisvergessenen Diskurs über Musik traditionellerweise eklatant vernachlässigt wurden. Und hier sind es vor allem drei Momente, die für unsere Diskussion von besonderem Interesse sein könnten: Musik sei genau das, als was es erscheine – ohne geheime Intentionen und Hintergedanken.45 Musik sei als Phänomen der Oberfläche kein System von Ideen, das gleichsam Schicht für Schicht diskursiv zu erklären sei.46 Musik, so
41 Die Überlegungen Jankélévitchs erfuhren in weiterer Folge von Abbates Übersetzung und ihrem Aufsatz eine intensive Rezeption, so widmete zuletzt das Journal of the American Musicological Society (65/1 [2012], S. 215–256) seiner Musikphilosophie ein umfangreiches ‚Colloquy‘ mit Beiträgen von Michel Gallope, James Hepokoski, Steven Rings und Judy Lochhead. 42 Abbate, „Music – Drastic or Gnostic?“, S. 512. 43 Vgl, dazu auch Calella, „Das neue von gestern und was übrig bleibt: New Musicologies“, S. 98 f. 44 Vgl. Vladimir Jankélévitch, Music and the Ineffable, translated by Carolyn Abbate, Princeton 2003, S. 77. 45 „Composing music, playing it, and singing it; or even hearing it in recreating it – are these not three modes of doing, three attitudes that are drastic, not gnostic, not of the hermeneutic order of knowledge?“ (Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 77). 46 „Music, from this standpoint, is exactly what it appears to be, without secret intentions or ulterior motives. […] As the pure sensation that is present in all performances, music does not say what it says, or better, does not ‚say‘ anything, to the extent that to say
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ließe sich schließlich pointieren, sage nichts, wenn ‚sagen‘ vorrangig als Kommunikation von Sinn zu verstehen sei. Aber, so richtig und so bedenkenswert eine antihermeneutische Perspektive in ihrem insistierenden Hinweis auf das, was die hermeneutische Perspektive ausblendet, auch sein mag, als harsche Absage an den Sinn schlechthin, als Feier des absoluten Nicht-Verstehens, als fundamentale Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften greift sie schlechterdings zu kurz. Denn – so Jankélévitchs Klavierpartner Roland Barthes –: „der Sinn ist schelmisch: Jagen Sie ihn aus dem Haus, er steigt zum Fenster wieder ein.“47
Um also mutig der Situation ins Auge zu blicken, in die wir uns so leichtsinnig hineinmanövriert haben: Gegen ein hermeneutisches Modell spricht zum ersten die prekäre Verkürzung des Gegenstandsbereichs insbesondere in Hinblick auf Fragen des Klanglich-Sinnlichen, zum zweiten die exklusive Vorentscheidung für das diskursive Modell der Interpretation48 und zum dritten der Umstand, dass das differenz-setzende Zwei-Welten-Modell den Grundzügen unserer ästhetischen Erfahrung schlichtweg nicht gerecht wird – weder in Hinblick auf ihre Unabschließbarkeit, noch in Hinblick auf ihre ‚polylogische‘ Struktur: Wir haben es in der ästhetischen Erfahrung nun einmal gerade nicht mit einem stufenweisen hermeneutischen Erkenntnisprozess zu tun; semantische Deutungen gehen als Teilmomente in die ästhetische Erfahrung ein, niemals können sie jedoch den Status einer abschließenden Zeichen-Deutung erlangen. Gegen ein antihermeneutisches Modell spricht neben der grundlegenden Universalität und Unhintergehbarkeit des Bedeutens vor allem auch der Umstand, dass wir es, wenn wir über den Klang der Musik nachdenken, letztlich mit kompositorisch Gestaltetem zu tun haben. Darüber hinaus ist eine Absage an das Diskursive schlechthin vermutlich auch nicht unbedingt die beste epistemologische Grundlage: Als Wissenschaft ist auch die
means to communicate a meaning. […] Music as a phenomenon of surfaces is nonetheless not alien to all forms of depth, although depth in this event would have no didactic or dialectic character. Music is certainly no system of ideas to be developed discursively, no truth that one must advance toward degree by degree, or whose implications must be explained, or whose import extracted, or whose far-reaching consequences must be made explicit.“ (Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 68 f.) 47 Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 211. 48 Mersch, Posthemeneutik, S. 319.
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Wissenschaft von der Musik an Sprache als dem Mittel der epistemischen Kommunikation gebunden. Die Alternative zwischen Hermeneutik und Anti-Hermeneutik erweist sich vor diesem Hintergrund somit als wenig zukunftsträchtig; die Frage Drastic or Gnostic? entpuppt sich als schlichtweg falsch gestellt. Tertium datur. „Hermeneutik und Nicht-Hermeneutik gehören […] untrennbar zusammen“,49, so Dieter Mersch in seiner Studie über Posthermeneutik. Davon ausgehend, dass Sinn und Sinnlichkeit gleichermaßen unausweichlich wie unhintergehbar sind, zielt die Perspektive der Posthermeneutik darauf,50 „das miteinzubeziehen, was nicht Verstehen ist, aber ins Verstehen eingeht, was nicht Zeichen ist, aber notwendige Voraussetzung aller Zeichenprozesse bleibt, was nicht Sinn ist, aber die Bedeutungen stört, was nicht Medium ist, aber alle Medialität mitprägt.“51
In einer gesteigerten Aufmerksamkeit für das, was der hermeneutischen Ästhetik als Unabgegoltenes, Widerständiges, Rätselhaftes oder Undarstellbares im Vollzug der Signifikation entgeht,52 gilt das Interesse der Posthermeneutik der „Spur eines Unbestimmten oder sogar Unverfügbaren im Zeichen, das seiner Signifikanz, seiner Schrift oder Strukturalität anhaftet, und das dennoch in der Geschichte seiner Betrachtung verdeckt oder vernachlässigt worden ist, indem diese sich einzig auf das, was es zu sagen oder darzustellen und auszudrücken meint, kapriziert hat.“53
49 Ebd., S. 16. 50 Was meint das? Es meint „nicht ein kontingentes ‚Anderes‘ im Sinne eines Außerhalb oder der Natur, sondern lediglich dasjenige, was nicht schon in Begriffen der Signifikation und Mediation aufgeht oder der Form des Symbolischen genügt, und doch ihnen selbst angehört. […] Sofern Zeichen, Symbole, Medien selbst etwas sind, haftet an ihnen ein ebenso Unbestimmtes wie Unbestimmbares, durch das diese ebenso erscheinen, wie es sie übersteigt und in ihnen ein gleichermaßen Rückständiges wie Überschüssiges markiert.“ (Mersch, Posthermeneutik, S. 322). 51 Mersch, Posthermeneutik, Klappentext. 52 Vgl. ebd., S. 13. 53 Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 13.
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K ONSTELLATIONEN Nimmt man nun die in der posthermeneutischen Kritik gewonnenen Einsichten über die Unverneinbarkeit und Unhintergehbarkeit des Sinnlichen und des Sinns und die von Mersch aufgeworfene Frage nach dem, was sich zeigt, ernst,54 wäre also das Bewusstsein für die Phänomene der „sinnlichen Oberfläche der Musik“ zu schärfen, ohne damit jedoch zugleich eine Absage an sämtliche Bedeutungen zu implizieren. Um die derzeit in den Klang-Debatten so vieldiskutierten Begriffe der ‚Medialität‘, ‚Performativität‘ und ‚Körperlichkeit‘ ein kleines Stück weit musikalisch zu konkretisieren, möchte ich nun abschließend drei musikalische Konstellationen beleuchten. Dabei gehe ich ganz bewusst nicht von Extrempositionen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts aus. Denn natürlich könnte man beispielsweise an Klangkompositionen der 1960er Jahre viel über klanglich-mediale Möglichkeiten des musikalischen Materials lernen, natürlich erführen wir in der Annäherung an Cage & Co viel über die auratische Ereignishaftigkeit musikalischer Ereignisse, natürlich lernten wir von zahllosen musikalischen Performances so manches über die spezifische Körperlichkeit von Musik. Aber meines Erachtens wird die Posthermeneutik für die Musikwissenschaft erst in genau dem Moment so richtig interessant, wenn ihre Denkfiguren in Bezug auf alle Musik plausibel gemacht werden können – die Posthermeneutik müsste also, um dies zu pointieren, die Hermeneutik auch bezüglich ihres ‚Universalitätsanspruchs‘ beerben können.
54 „In den stummen Prozeduren, der ‚lautlosen‘ Materialität der Medien, in denen unsere Sprachlichkeit sich vollzieht, ist eine Eigensinnigkeit am Werk, die nicht nach dem Modell vereinbarter Zeichenbedeutungen, sondern nach dem Vorbild der unbeabsichtigten Spur zu denken ist; Spuren werden nicht gemacht, sondern werden hinterlassen. Das Medium ist zwar nicht die Botschaft, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums. Medien sind an der Entstehung von Sinn und Bedeutung also auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist und als eine nicht-diskursive Macht sich ‚im Rücken der Kommunizierenden‘ zur Geltung bringt“ (Krämer, „Sprache – Stimme – Schrift“, S. 332).
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V OM O SZILLIEREN ZWISCHEN G EDANKE UND D ARSTELLUNG (M EDIALITÄT ) Gewissermaßen in Verlängerung der wirkungsmächtigen hegelsch-hegelianischen Gegenüberstellung von Geistigem und Sinnlichem kennt die Rede über Musik traditionellerweise einige prägende Dichotomisierungen, die ihrerseits eine Innen-Außen-Perspektive zugrunde legen: Gerne werden beispielsweise Struktur und Klang, Satz und Farbe, Komposition und Instrumentation, Konstruktion und Ausdruck, Gedanke und Darstellung einander gegenübergestellt. Wenn nun aber die vom medial turn inspirierte Beobachtung richtig ist, dass Medien nicht nur etwas repräsentieren, sondern sich darin auch immer ein Stück weit selbst präsentieren, ihre Medialität also von einem widerständigen Rest geprägt ist, der nicht in ihrer Zeichenhaftigkeit aufgeht, so wäre nun freilich zu fragen, was dies für unsere musikalischen Gegensatzpaare bedeutet. Diesbezüglich stellt die Wiener Schule einen lehrreichen Knotenpunkt der Musikgeschichte dar: Zum einen existiert ein gut dokumentierter theoretischer Diskurs über kompositorische Grundlagen,55 zum anderen liegen erstaunlich viele musikalische Werke gleichsam in ‚pluraler Textgestalt‘ vor: Bearbeitungen, Fassungen und Um-Instrumentationen erlauben vor diesem Hintergrund einen guten Einblick in die Wiener Werkstätten des musikalischen Klangs.56 Das Denken der Wiener Schule ist geprägt von einer grundlegenden Ambivalenz: Während das „wirklich Gedachte“, der „musikalische Gedanke“ in dem „Verhältnis der Tonhöhe zur Zeitteilung“ beheimatet sei, stelle hingegen der Klang, wie Arnold Schönberg in seinem Aufsatz über „Mechanische Musikinstrumente“ schreibt, nur ein Mittel des Vortrags dar, sei also dem Bereich der Darstellung zuzuordnen.57 Klang scheint hierbei dem musikalischen Gedanken so weit
55 Zu denken wäre hier an die Schriften Schönbergs, an die publizierten Vorträge Weberns sowie an zahlreiche Lehrbücher und Lehrschriften von Schülern und Schülerschülern. 56 Diesen Themenkreis habe ich in den in der Anmerkung 1 genannten Publikationen weiter ausgeführt; dort finden sich auch eine Einbettung der Beispiele in einen größeren musikhistorischen wie -ästhetischen Kontext wie auch weitergehende bibliographische Hinweise. 57 „Denn das wirklich Gedachte, der musikalische Gedanke, das Unveränderliche, ist in dem Verhältnis der Tonhöhen zur Zeitteilung festgelegt. Alles andere hingegen: Dynamik, Tempo, Klang und was daraus entsteht: Charakter, Deutlichkeit, Wirkung etc. ist eigentlich nur Mittel des Vortrages, dient dazu, die Gedanken verständlich zu machen und läßt Veränderungen zu.“ (Arnold Schönberg, „Mechanische Musikinstrumente“,
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untergeordnet, dass Schönberg und Alban Berg in Hinblick auf die Kammermusikfassungen ursprünglich groß besetzter Orchesterwerke immerhin davon ausgehen konnten, dass es mit diesen reduzierten Instrumentationen tatsächlich möglich sei, „moderne Orchesterwerke – aller Klangwirkungen […] und aller sinnlichen Hilfsmittel entkleidet – hören und beurteilen zu können.“58 Doch so sicher war man sich dieser Sache dann doch auch wieder nicht: In seinem musiktheoretischen Fragment über Zusammenhang, Kontrapunkt, Instrumentation und Formenlehre aus dem Jahr 1917, geht Schönberg nicht nur – wie zu erwarten – von der klassischen Innen-/Außen-Perspektive aus und diskutiert, welche Anforderungen der Satz an den Klang stelle, sondern erwägt erstaunlicherweise auch die dem entgegengesetzte Frage, welche Anforderungen, welche Bedingungen der Klang umgekehrt an den Satz, mithin also die Darstellung an den musikalischen Gedanken stelle.59 Exemplarisch greifbar wird die grundlegende Ambivalenz im Inneren des Verhältnisses von musikalischem Gedanken und Darstellung beispielsweise in dem höchst seltsamen Moment, in dem Schönberg seinem Berliner Tagebuch anvertraut, er könne in den Proben der achthändigen Klavierfassung seiner eigenen Orchesterstücke op. 16 den Sinn gar nicht mehr erfassen, weil ihm zum formalen Nachvollzug die Klänge fehlten.60 Eine ähnliche Ambivalenz zwischen Innen und Außen, zwischen Sinn und Nicht-Sinn erweist sich beispielsweise auch dann, wenn Anton Webern in einem Brief an Berg über die klangliche Gestaltung seiner Bagatellen für Streichquartett op. 9 schreibt:
in: ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 215–218, hier S. 215). 58 Prospekt des Vereins für musikalische Privataufführungen vom Februar 1919 (verfasst von Alban Berg), hier zitiert nach Willi Reich, Alban Berg, Wien 1937, S. 140. 59 Vgl. Arnold Schönberg, Zusammenhang, Kontrapunkt, Instrumentation und Formenlehre, S. 80. (Manuskript-Konvolute T37.03 und T37.17–19 im Archiv des Arnold Schönberg Center Wien, ich zitiere nach der Publikation Arnold Schoenberg, Coherence, Counterpoint, Instrumentation, Instruction in Form, hg. von Severine Neff, übersetzt von Charlotte M. Cross und Severine Neff, Lincoln/London 1994, die auch eine Transkription des deutschen Textes greifbar macht.) 60 Arnold Schönberg, Berliner Tagebuch, hg. von Josef Rufer, Berlin 1974, S. 12: „Es macht mir wirklich oft Schwierigkeiten zu sagen, ob es beisammen war. Erst wenn’s anfängt klarer zu werden, unterscheide ich genau. Mir fehlen eben die Klänge!“
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„Du mußt auf die Instrumentation sehen, natürlich, ich meine damit nichts äußerliches, sekundäres. Ich will nur sagen, Du mußt Dir diese Mischungen und Wechsel der verschiedenen Strichmöglichkeiten (col legno, Steg, naturale, usw.) recht genau vorstellen. Oder ist das doch alles Blödsinn?“61
Die Liste der Beispiele wäre zu verlängern. Was eine posthermeneutische Musikästhetik in ihrem besonderen Interesse für die Medialität der klanglichen Medien bei einem Besuch in der Wiener Schule jedenfalls lernen könnte, ist, dass der musikalische Gedanke und seine Darstellung, Struktur und Klang, Satz und Setzweise nicht nur aufeinander angewiesen sind, sondern dass ihr Verhältnis letztlich von einer irreduziblen Ambivalenz geprägt ist, die man mit Hans-Ulrich Gumbrecht als ein permanentes Oszillieren zwischen Sinn- und Präsenzeffekten62 beschreiben könnte.
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DES
E REIGNISSES (P ERFORMATIVITÄT )
Ästhetische Überlegungen zu Fragen der musikalischen Performanz wurden vom sogenannten performative turn – der mit der Ästhetik des Performativen eine theoretische Perspektive ebenso einbegreift, wie er in der Verschiebung vom Werk zum Ereignis in den Künsten des 20. Jahrhunderts einen wichtigen artistischen Bezugspunkt besitzt63 – natürlich entscheidend beflügelt. So darf es nicht erstaunen, dass die Annäherung an die Musik via Aufführungserlebnissen einen zentralen Bereich des drastischen Wissens um klanglich-sinnliche Phänomene der Musik ausmacht; auch Carolyn Abbate stützt ganz wesentliche Momente ihrer Ausführungen auf persönliche Aufführungserlebnisse.64 Von Aufführungserlebnissen anderer zu lesen, ist freilich so, wie mit knurrendem Magen Kochbücher zu studieren, deswegen an dieser Stelle doch ein weiteres Klangbeispiel: Audiospot 4
61 Brief von Anton Webern an Alban Berg vom 23. Mai 1913, hier zit. nach Ursula von Rauchhaupt, Schoenberg Berg Webern. Die Streichquartette der Wiener Schule. Eine Dokumentation, München [o.J.], S. 124. 62 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, bspw. S. 98 ff. 63 Vgl. dazu Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, besonders S. 157 ff. 64 Vgl. bspw. Abbate, „Music – Drastic or Gnostic“, S. 510 ff.
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Die Berliner Live-Aufnahme einer kurzen Passage aus Mahlers Auferstehungssymphonie mit den Berliner Philharmonikern und Sir Simon Rattle vermag vielleicht einen – wenn auch blassen – Eindruck des außerordentlich beeindruckenden Ereignisses der Aufführungen im Wiener Konzerthaus im Juni 2012 zu vermitteln. Es war, um dies wenigstens kurz zu notieren, einer der seltenen Augenblicke in musikalischen Live-Aufführungen, in denen das gesamte Publikum sichtlich den Atem anhält, um nur keinen Moment dessen zu verpassen, was sich da ereignet. Wenn man nun mit Mersch davon ausgeht, dass „Performativität und Präsenz zusammengehören“65 und mit Gumbrecht ergänzt, dass Präsenzerfahrungen stets körperliche Erfahrungen darstellen,66 dann wird vielleicht plausibel, warum Albrecht Wellmer in seinem Versuch über Musik und Sprache in Hinblick auf die ästhetische Erfahrung von Musik auch von einer „multisensualen Involviertheit des gesamten Körpers“67 spricht. Auch wenn nun schnell Einigkeit darüber zu erzielen sein dürfte, dass Bereiche der Atmosphäre, des Erscheinens, der körperlichen Involviertheit etc. für die ästhetische Erfahrung und damit für unsere Klangdebatte von zentraler Bedeutung sind, ist zu konstatieren, dass uns an dieser Stelle das musikwissenschaftliche Analyse-Instrumentarium schlichtweg noch fehlt. Und das hat natürlich seinen wissenschaftshistorischen Grund: Es fehlt, weil es schlichtweg dem Schema der sprachlichen Interpretation sich entzieht. Man darf hoffen, dass sich im interdisziplinären Gespräch von empirischer Ästhetik, Philosophie, Psychoakustik, Historischer Musikwissenschaft, Musikpsychologie etc. ein adäquates Vokabular diesseits des Hermeneutischen entwickeln lässt. Aber nicht ausschließlich um multisensuale erotische Verwicklungen soll es hier gehen, sondern uns als Musikwissenschaftler interessiert ja doch auch die Frage, was denn musikalisch hier vor sich geht. Um der Drastik des Vergleiches willen greife ich zu einem anderen Extrembeispiel: Audiospot 5
65 Mersch, Posthermeneutik, S. 26. 66 Vgl. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 98 ff. 67 „Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das Einschießen […] aussermusikalischer Gehalte in die Musik sicherlich durch den synästhetischen Charakter der gewöhnlichen Erfahrung erklären: Ich bin in jeder Wahrnehmung mit meinem Körper als einem multisensual zugleich rezeptiven und aktiven Körper involviert, und das bedeutet, dass dem akustischen Material der Musik ein Bezug auf die übrigen Sinne und daher ein latenter Weltbezug immer schon anhaftet.“ (Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 18).
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Der Unterschied ist so deutlich wie eingreifend: Während Otto Klemperer und das Concertgebouw Orchester diese Passage im Jahre 1951 abkadenzierend gleichsam als Überleitung musizieren, inszenierte Rattle – der hiermit natürlich auch an eine wirkungsmächtige Aufführungstradition anknüpfen konnte – gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern mit allen zur Verfügung stehenden klanglichen und musikalischen Mitteln einen apotheotischen Höhepunkt des gesamten Satzes, dessen Wirkung zwischen Schluss und Durchbruch seltsam changiert. Die klangliche Gestaltung selbst wird auf diese Art und Weise zu einem wesentlichen Moment des formalen Geschehens – kurzgefasst: Klang schlägt um in Form. Auch wenn man natürlich trefflich darüber streiten könnte, inwieweit der Begriff des ‚Durchbruchs‘ hier angemessen ist, greife ich ganz bewusst auf diese Kategorie aus Adornos materialer Formenlehre zurück.68 Denn besondere Plausibilität gewönne die Idee einer materialen Formenlehre, deren Potential meines Erachtens noch keineswegs ausgereizt ist, wenn man sie unter den Auspizien einer posthermeneutischen Perspektive als Klangphysiognomie diskutierte, könnte man doch dergestalt deutlich machen, dass Klang und Struktur stets in einem oszillierenden Wechselverhältnis zueinander stehen und in welcher Weise der immaterielle Sinn in der Materialität des Sinnlichen seine irreduzible Verankerung findet.
V OM K ÖRPER
DER
S TIMME (M ATERIALITÄT )
Mit einem dritten und letzten Fokus kehren wir noch einmal zu unserem Ausgangsbeispiel zurück: Audiospot 6 Unsere Aufmerksamkeit gilt dem Ereignis der Gesangsstimme. Ihr Einsatz ist irritierend. Formal und strukturell: Die Stimme schleicht sich in einem musikalisch eher unerwarteten Moment ein und erfährt ebendadurch eine besondere Präsenz. Sie erscheint. Und irritierend ist der spezifische Klang der Stimme, die Materialität der gepressten Kopfstimme; ihre androgyne Körperlichkeit, über die allein bereits viel nachzudenken wäre. Denn natürlich hat diese spezifische Materialität der Stimme ihren Sinn. Die Stimme sagt ja etwas, sie repräsentiert einen Text, der
68 Vgl. hierzu zusammenfassend: Hermann Danuser, „‚Materiale Formenlehre‘ – ein Beitrag Adornos zur Theorie der Musik“, in: Adolf Nowak/Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 33), Schneider 2007, S. 19–49.
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einen konkreten Inhalt besitzt und dessen Bedeutung damit greifbar wird: Der Sänger erzählt von sich als dem donnerrollenden Satan, der mit den Höllenglocken läutet. Aber die spezifische Materialität der Stimme hat auch ihren Sinn; über das Sagen hinaus zeigt sie auch noch etwas: Sie zeigt sich selbst. Und auch das hat seinen Hintergrund: Es handelt sich bekanntermaßen um den Eröffnungssong des ersten Albums, das die Band AC/DC nach dem tragischen Tod ihres Sängers Bon Scott aufgenommen hatte. Der Einsatz der bis dato unerhörten neuen Gesangsstimme ist also ein mit Spannung erwarteter und mit Bedacht vorbereiteter Augenblick, es geht mindestens um Alles: Brian Johnson, der neue Sänger, muss in diesem Augenblick einen Text repräsentieren, der mit semantischen Bezügen in Hinblick auf den Tod seines Vorgängers vielfältig aufgeladen ist, gleichzeitig muss er jedoch auch sich und seine Stimme selbst präsentieren. In ihrem vielbezüglichen Oszillieren zwischen Klang, Sinn und Bedeutung wird also die Sinnlichkeit der Stimme selbst zum eigen-sinnigen Thema. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Bezug auf die Musik plausibel machen, wovon Sybille Krämer und Doris Kolesch aus philosophischer respektive theaterwissenschaftlicher Perspektive sprechen: „Die Stimme ist […] nicht einfach Körper oder Geist, Sinnliches oder Sinn, Affekt oder Intellekt, […] sondern sie verkörpert stets beides.“69 Zentrale Momente einer posthermeneutischen Perspektive wären hier zu verdeutlichen: Zum ersten ist auf die Ereignishaftigkeit der Stimme und damit auf ihren Aufführungscharakter aufmerksam zu machen, in der sich ihre Präsenz manifestiert. Zum zweiten ist auf den Verkörperungscharakter der Stimme zu verweisen, dergestalt, dass jede Stimme die „Spur“70 eines individuellen und sozialen Körpers darstellt. Hierin erweist sich nicht nur die material-körperliche Dimension der Stimme, die an Knochen, Muskeln, Sehnen, mithin an den menschlichen Leib gebunden ist, sondern hier erweist sich in einer inhärenten Intersubjektivität auch ein ethisches Moment: Die Stimme fungiert in Bezug auf den Anderen als Anruf, Anspruch, Appell. Und zuletzt ist ein spezifisches Subversionspotenzial der Stimme hervorzuheben: Der Stimme wohnt stets ein eigensinnlicher Eigen-Sinn inne. Und hier sind wir an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ich möchte das mit einem ganz einfachen Beispiel noch einmal klar herausstellen: Wir alle kennen das verräterische Zittern und Beben der lügenden Stimme: Der Klang der Stimme entbirgt, was die diskursive Rede eigentlich verbergen möchte; die Stimme zeigt
69 Doris Kolesch/Sybille Krämer, „Stimmen im Konzert der Disziplinen. zur Einführung in diesen Band“, in: Kolesch/Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt am Main 2006, S. 12. 70 Vgl. zum Begriff der „Spur“: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007.
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etwas anderes, als sie sagt; das Sinnliche der Stimme präsentiert ein Eigenes und subvertiert damit die bloße Repräsentation des Sinns. Und genau dieser Moment ist es, der den theoretischen Nukleus einer posthermeneutischen Musikästhetik ausmachen könnte: Es müsste gehen um das aller Musik eigene Moment des unfüglichen, widerständigen, verräterischen Bebens, in dem sich die Materialität, die Performativität, die Medialität des musikalischen Klangs selbst offenbart. Ich bezweifle nun, dass es sich hier um Phänomene handelt, denen in einem hermeneutischen Deutungsprozess adäquat zu begegnen ist. Anzusiedeln wäre eine Auseinandersetzung mit dem Klang vielmehr ‚diesseits‘ und ‚jenseits‘ des Hermeneutischen, denn es reicht auch nicht hin, mit Hans Ulrich Gumbrecht das ästhetische Geschehen als ein Oszillieren zwischen Sinn- und Präsenzeffekten zu beschreiben, sondern wir müssen noch einen Schritt weiter gehen, weil wir ja wissen wollen, was, wie und warum in diesem Oszillieren, in diesem Zögern zwischen Klang und Sinn eigentlich musikalisch sich ereignet.
Das klangsemantische Netz in Arnold Schönbergs Die glückliche Hand W OLFGANG M ENDE
Ein Leser der frisch fertiggestellten Partitur der Glücklichen Hand im Jahr 1913 oder ein Ohrenzeuge der Uraufführung 1924 in Wien hätten es wohl kaum für denkbar gehalten, dass dieses Stück Musik in einem musikwissenschaftlichen Symposium jemals als Exempel für signifikanten Traditionsbezug figurieren könnte. Nicht nur die synästhetische bühnentheatralische Konzeption und der exzessive Dissonanzgebrauch musste sich den Zeitgenossen als radikal innovativ darstellen, sondern in gleichem Maße auch die Orchesterbehandlung.1 Der satte, organisch textierte, in ausbalancierten Farbmischungen leuchtende Klang des spätromantischen Orchesters ist in der Glücklichen Hand durch eine sperrige polyphone, schnell fluktuierende Instrumentation ersetzt, die sich nicht ohne Weiteres zu einem kohärenten Klangbild fügt. Der Orchestersatz verzichtet über weite Strecken auf Stimmverdoppelungen und harmonische Grundierungen. Stattdessen konstituiert er sich aus expressiven Einzelgesten und motivischen Kurzimpulsen, passagenweise auch aus Ostinati und imitativen Schichtungen. Die Dominanz von Hauptstimmen ist oftmals nicht aus der Faktur des Orchestersatzes abzulesen, sondern nur aus der Disposition der Dynamik und den von Schönberg eingeführten
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Der Kritiker Max Graf empfand das mit über 10 Jahren Verspätung uraufgeführte Werk „mit seiner Neuheit allem weit voraus, was an moderner Musik geschrieben wurde“ (Vossische Zeitung vom 18.10.1924; zit. nach: Arnold Schönberg, Bühnenwerke I. Die glückliche Hand op. 18: Kritischer Bericht, Skizzen, Textgenese und Textvergleich, Entstehungs- und Werkgeschichte, Dokumente [= Arnold Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 6/3], hg. von Ullrich Scheideler, Mainz/Wien 2005, S. 316).
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Symbolen zur Markierung von Haupt- und Nebenstimmen. Wegen der „kaum zuvor dagewesenen Vielstimmigkeit und Selbständigkeit der einzelnen Stimmen“ musste Fritz Stiedry vor der Uraufführung an der Wiener Volksoper Einzelproben aller Instrumentengruppen abhalten, sogar getrennt nach einzelnen Holzblasinstrumenten.2 Ein skeptischer Kritiker beschrieb Schönbergs dissoziierten Orchestersatz wie folgt: „[…] das Orchester fabriziert unter höllischem Aufpassenmüssen der Musiker Läuferchen, Trillerchen, Tonbröckchen, Fagottgeheul, Pikkolopfiffe, Harfenglitzern, Klarinettengegurgel, Polytonik und Polyrhythmik“.3 Ein wenig relativiert sich dieser Befund durch die Beobachtung, dass die Dissoziation des Orchestersatzes in der Glücklichen Hand nicht mehr ganz so konsequent gehandhabt ist wie in dem musiktheatralischen Vorgängerwerk Erwartung (1909). Adorno wies 1955 auf die stellenweise vorkommenden „einheitlichen Komplexe“ in der Instrumentation der Glücklichen Hand hin, die im Gegensatz zur „völligen Aufgelöstheit der Klangfarbenmelodie“ in der Erwartung stünden. Dies entspreche einer generellen Tendenz zu architektonischen Prinzipien „inmitten einer Sprache von Phantasie“.4 Die Forschung hat sich dieser Sichtweise weitgehend angeschlossen5 und in einer beträchtlichen Zahl von Studien die form- und zusammenhangstiftenden Prinzipien des Werks minutiös untersucht. Ausfindig gemacht wurden eine symmetrisch konstruierte Formdramaturgie, die sich zu einer „ewigen Wiederkehr“ im Sinne Nietzsches weiterdenken lässt,6 synästhetische Korrespondenzen zwischen Farbregie und Instrumentation in der berühmten
2
[Redaktionell], „Arnold Schönberg: Ein Probenrevolutionär. Die Vorbereitungen zur ‚Glücklichen Hand‘“, in: Neues Wiener Journal vom 25.9.1924, S. 11.
3
Ernst Decsey, „Die glückliche Hand“, in: Neues Wiener Tagblatt vom 15.10.1924, S. 2 f.
4
Theodor W. Adorno, „Die Musik zur ‚Glücklichen Hand‘“ [1955], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Klaus Schultz, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1984, S. 408–410, Zitate S. 410.
5
Nach Ethan Haimo vollzog Schönberg während des dreijährigen Arbeitsprozesses (1910–1913) an der Glücklichen Hand nach und nach eine Abkehr von der vorher praktizierten Ästhetik des „radikalen Athematismus“ und Intuivismus. Vgl. Ethan Haimo, „The Rise and Fall of Radical Athematicism“, in: Jennifer Shaw/Joseph Auner (Hg.), The Cambridge Companion to Schoenberg, Cambridge u. a. 2010, S. 105 f.
6
Vgl. John Crawford, „Die glückliche Hand: Schoenberg’s Gesamtkunstwerk“, in: The Musical Quarterly 60 (1974), S. 583–601, hier S. 585 f.
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Licht-Sturm-Szene,7 grundierende, meist ostinatoartige Klangkomplexe,8 motivische Keimzellen, die entwickelnd variiert werden9 und mitunter sogar semantische Bestimmungen zulassen,10 eine (freilich kaum wahrnehmbare) Materialorganisation auf der Basis konstanter pitch class sets11 oder die wiederentdeckte formbildende Funktion des imitativen Kontrapunkts.12 Als weiteren zusammenhangstiftenden Faktor hat bereits 1974 John Crawford die Verwendung von Leitmotiven identifiziert. Seiner Auffassung nach prägen sie sich mehr noch als in melodischen Gestalten in charakteristischen Klangfarben aus. Er verweist auf die Assoziation des „Manns“ mit dem Violoncello sowie des „Weibs“ mit der Solo-Violine und einem glitzernden Klangfarbenkomplex aus Flöten, Celesta und Harfe im hohen und mittleren Register.13 Spätere Analysen gehen kaum über diese Beobachtungen hinaus.14 Wie weit die form- und sinnkonstituierende Wirkung dieser klangfarblichen Leitmotivik reicht, ist bislang ungeklärt. Um das klangsemantische Konzept der Glücklichen Hand in seinem historischen Kontext zu verorten und die eingangs angedeutete Hypothese zu prüfen,
7
Ebd., S. 586–592.
8
Siegfried Mauser, Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule. Stilistische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zu Arnold Schönbergs „Erwartung“ op. 17, „Die glückliche Hand“ op. 18 und Alban Bergs „Wozzeck“ op. 7 (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik München 3), Regensburg 1982, S. 103 f.
9
Crawford, „Die glückliche Hand“, S. 591 f., in Bezug auf das Licht-Sturm-Crescendo.
10 Mauser, Das expressionistische Musiktheater, S. 105–114. Mauser verfolgt die semantischen Bestimmungen dreier Gestaltmodelle („flehentlicher Appell“ zur Ruhe – „getriebene Ruhelosigkeit“ – „Starrheit des immer Gleichen“) nicht über die eröffnende Chorszene hinaus. 11 Michael Mäckelmann, „‚Die glückliche Hand‘. Eine Studie zu Musik und Inhalt von Arnold Schönbergs ‚Drama mit Musik‘“, in: Constantin Floros/Hans Joachim Marx/Peter Petersen (Hg.), Musiktheater im 20. Jahrhundert (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19), Laaber 1988, S. 7–36, hier S. 10–14; Joseph Auner, „In Schoenberg’s Workshop: Aggregates and Referential Collections in ‚Die glückliche Hand‘“, in: Music Theory Spectrum 18 (1996), S. 77–105. 12 Joseph Auner, „Die glückliche Hand, Drama mit Musik op. 18“, in: Gerold W. Gruber (Hg.), Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, Laaber 2002, S. 249– 268, hier: S. 256–258. 13 Crawford, „Die glückliche Hand“, S. 593–596. 14 Vgl. etwa Mauser, Das expressionistische Musiktheater, S. 115–118.
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dass Schönberg in diesem Aspekt der Tradition eng verbunden blieb, ist zunächst einmal auszuloten, was zu Beginn der 1910er Jahre diesbezüglich überhaupt als „Tradition“ aufzufassen war, welche also die Standards semantischen Klangfarbengebrauchs in größeren Orchesterwerken waren. Repräsentative Deskriptionen – mit gleichzeitig normierender Wirkung – geben die Instrumentationslehren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Beginnend mit Berlioz‘ Traktat aus dem Jahr 1844 wurden jedem Instrument spezifische Ausdrucksmöglichkeiten und semantische Topoi zugeordnet, differenziert nach Registerlagen und Spielweisen. Spätere Autoren wie Lobe (1855), Gevaert (1864) oder Jadassohn (1889) beriefen sich explizit auf Berlioz, und noch die um die Jahrhundertwende entstandenen Lehrwerke von Widor (1904) und Strauss (1905) verstanden sich lediglich als aktualisierende Ergänzungen oder Postskripten zu Berlioz’ epochemachendem Werk. Der semiotische Status der klangsemantischen Zuschreibungen bei Berlioz und seinen Adepten ist bei näherer Betrachtung uneinheitlich. Wenn in Alfred Dörffels deutscher Übersetzung des Berlioz’schen Traktats der Klang der Trompete mit der Metapher „glänzend“ beschrieben wird,15 ist damit eine ikonische, auf Ähnlichkeit basierende Relation aufgerufen. Wenn Richard Strauss ergänzt, dass sordinierte Trompeten „zauberhafte Wirkungen“ hervorrufen,16 impliziert er eine indexikalische Zeichenrelation, die einen unwillkürlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang voraussetzt. Wenn es weiter heißt, der Klang der Trompete „eigne“ sich zum „Ausdruck kriegerischen Gepränges“ und zu „Triumphgesängen“,17 deutet das Verb „sich eignen“ eine pragmatische Fixierung der Semantik durch akzeptierten Gebrauch an. Gleichzeitig schimmert an dieser Stelle eine symbolische, also auf willkürlicher Zuordnung fußende Relation hindurch, hinter der in diesem Fall das kulturelle Wissen um die traditionelle Verwendung der Trompete als Militär- und höfisches Repräsentationsinstrument steht. Die semiotische Heterogenität der semantischen Zuschreibungen wird in den Instrumentationslehren nicht problematisiert. Insbesondere wird die aus moderner
15 Instrumentationslehre von Hector Berlioz. Autorisirte deutsche Ausgabe von Alfred Dörffel, Leipzig 1864, S. 141. In Berlioz’ originaler Fassung steht an dieser Stelle das Adjektiv „éclatant“, das eher eine dynamische Qualität („durchdringend“, „schmetternd“) als einen klangfarblichen Valeur bezeichnet (Hector Berlioz, Grand Traité d’Instrumentation et d’Orchestration modernes, Paris [1844], S. 192). Strauss behält Dörffels Übersetzung „glänzend“ bei (vgl. Instrumentationslehre von Hector Berlioz. Ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Leipzig [1905], Teil 1, S. 304). 16 Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, S. 307. 17 Ebd., S. 307.
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konstruktivistischer Perspektive naheliegende Frage nicht gestellt, inwieweit klangsemantische Zuschreibungen auf mehr oder weniger zufälligen kulturellen Praktiken und Konventionen basieren. Stattdessen wird stillschweigend vorausgesetzt, dass sämtliche phänomenologischen Qualitäten, semantischen Topoi und Gebrauchspraktiken auf den naturgegebenen „Klangcharakter“ des jeweiligen Instruments zurückzuführen sind. Explizit greifbar wird solcher semiotischer Essentialismus etwa in Strauss’ Vorwurf, dass Verdi in seinem Spätwerk die Trompeten „ohne das richtige Gefühl für die Seele und den wahren Klangcharakter“ dieser Instrumente verwende.18 Die solcherart stabilisierten klangsemantischen Topoi finden sich in Partituren um die Jahrhundertwende unzählige Male aktualisiert – individuelle Modifikationen eingeschlossen. Wenig erforscht ist, in welchem Ausmaß diese semantische Schicht das gesamte Bedeutungsgefüge komplexer Werke prägt, insbesondere in Werken mit dichterer Bindung an Sprachtexte.19 Instrumentale Klangfarben können hier, wenn sie in signifikanter Weise an bestimmte semantische Felder gekoppelt auftreten, werkspezifische Bedeutungen annehmen. Der Nachvollzug solcher semantischen Verknüpfungen entzieht sich in der Regel unmittelbarer Evidenz, sondern setzt komplexere analytische und hermeneutische Leistungen voraus. Grundsätzlich sind die semantischen Einsatzmöglichkeiten von instrumentalen Klängen denjenigen von Leitmotiven zu vergleichen. Wie bei Leitmotiven kann man auch bei „Leitklängen“ annehmen, dass sich ihr semantisches Profil innerhalb eines Werks aufgrund ihrer Position im Gesamtsystem verwendeter Klangtypen schärfen kann, etwa durch bevorzugte Nähe zu anderen Klängen oder durch systematische Abgrenzungen und Oppositionsbildungen. Auch Mischklangbildungen können in vielen Fällen semantisch erklärt werden.20 Bedeutungsvoll können
18 Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, S. 307. 19 Musikwissenschaftliche Studien zur Instrumentationspraxis beziehen sich überwiegend auf satzstrukturelle Aspekte oder neuerdings auch auf die (nicht unmittelbar semantisch aufzufassende) Klangdramaturgie (vgl. Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“ [= Wagner in der Diskussion 2], Würzburg 2006). Werden semantische Aspekte herausgearbeitet, werden diese in der Regel nicht im komplexen Systemzusammenhang untersucht, sondern auf hervorstechende Einsätze bestimmter Instrumente bezogen, so etwa in Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 24), Regensburg 1970. 20 Zu einem Versuch einer systemhaften klangsemantischen Analyse, die nicht nur exponierte Einsätze, sondern auch Klangmischungen einbezieht, vgl. Wolfgang Mende,
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auch Auslassungen von Instrumenten in Kontexten sein, wo sie eigentlich zu erwarten wären. So wird beispielsweise in Strauss’ Salome dem Tetrarchen Herodes der Trompetenklang fast durchgehend verweigert, obwohl ihm als Herrscher das Privileg dieses Instruments eigentlich zustehen müsste. Umso bezeichnender ist es dann, wenn Strauss schon dem ersten Erklingen des Salome-Motivs einen – instrumentationstechnisch und klangsymbolisch eher ungewöhnlichen – gedämpften Trompetenakkord unterlegt. Sehr subtil wird auf diese Weise bereits in den ersten Takten auf die Umkehrung der Machtverhältnisse hingedeutet, die den Handlungsverlauf dann bis zu Herodes’ abruptem, dramaturgisch-psychologisch kaum motiviertem Tötungsbefehl in den Schlusstakten beherrschen. Schönberg waren die zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten klangsemantischen Konventionen selbstverständlich vertraut. Allein die Partituren der GurreLieder oder von Pelleas und Melisande legen davon ein überdeutliches Zeugnis ab.21 Weniger offensichtlich ist, was aus dieser Praxis in Schönbergs weiterer künstlerischer Entwicklung geworden ist – über den Intuitivismus der expressionistischen Phase bis zur Ausformung einer Ästhetik des „musikalischen Gedankens“ im Kontext der Dodekaphonie. Schönberg hat zwar keine zusammenhängende Theorie der Instrumentation hinterlassen, verfolgte aber seit 1911 bis in
„Das klangsemantische System im Lohengrin-Orchester – ein Seitenweg zum musikdramatischen Komponieren“, in: Ortrun Landmann/Wolfgang Mende/Hans-Günter Ottenberg, Richard Wagner – Kgl. Kapellmeister in Dresden, Hildesheim u. a. 2016 (= Dresdner Beiträge zur Musikforschung 4), S. 239–262; dort auch weiterführende Literatur. 21 Giselher Schubert ignoriert in seiner Studie Schönbergs frühe Instrumentation. Untersuchungen zu den Gurreliedern, zu op. 5 und op. 8 (Baden-Baden 1975) die semantische Dimension weitgehend und konzentriert sich auf strukturelle Aspekte. Er folgt damit der semantisch-hermeneutischen Abstinenz, die sich Alban Berg in seinen Analysen der Gurre-Lieder (1913 und 1914) und von Pelleas und Melisande (1920) auferlegt hat. Berg macht zur motivischen Arbeit, Harmonik und Kontrapunktik differenzierteste Angaben, weiß zu den Prinzipien der Instrumentation aber nichts Vergleichbares mitzuteilen. Das kann daher rühren, dass die Instrumentation in beiden Werken vornehmlich semantisch motiviert und somit für Bergs Analyseschema unergiebig ist. Denkbar ist aber auch, dass ihm für eine immanent-strukturelle Instrumentationsanalyse kein adäquates theoretisches und terminologisches Instrumentarium zur Verfügung stand.
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seine letzten Lebensjahre hinein das Projekt einer groß angelegten Instrumentationslehre.22 Verdichtungspunkte dieses Vorhabens mit hinterlassenem Skizzenmaterial lassen sich für die Jahre 1911/12, 1917, 1920, 1931 und 1949 nachweisen. Darüber hinaus finden sich instrumentations- und klangtheoretische Aussagen verstreut in Artikeln, etwa den Aufsätzen „Die Zukunft der Orchesterinstrumente“ (1924) und „Mechanische Musikinstrumente“ (1926). Innovativ ist Schönbergs in einer Skizze von 1912 bereits angedeuteter und 1917 dann weiter ausgeführter Ansatz, die Instrumentation als „Setzkunst“ in engster Verzahnung mit der „Satzkunst“ zu behandeln.23 Seine Instrumentationslehre sollte in ihrem Kern nicht – wie seit Berlioz gängig – eine InstrumentenLehre sein, sondern eine Orchestersatz-Lehre. Als vorrangigen Zweck des Einsatzes verschiedener Instrumentalfarben stellte Schönberg vor allem in den 1920er Jahren die Verdeutlichung des musikalischen Satzes bzw. die Fasslich-Machung des „musikalischen Gedankens“ heraus.24 Aus dieser Zeit stammen auch Schönbergs radikalste Aussagen hinsichtlich einer ästhetischen Degradierung des Klanglichen. In einer vielzitierten Passage aus dem Artikel „Mechanische Musikinstrumente“ von 1926 lokalisiert er die Substanz des „musikalischen Gedankens“ allein in dem „Verhältnis der Tonhöhen“. Der Klang sei, genau wie Dynamik und Tempo, lediglich ein akzidentielles „Mittel des Vortrags“, das den Gedanken verständlich machen soll, nicht aber zu dessen unveränderlicher Substanz gehöre.25 Noch drastischer (und mit Kulturchauvinismen untersetzt) distanzierte sich Schönberg in einem Theoriefragment aus dem Jahr 1931 von der ästhetischen Substanzialität des Klanglichen. Nicht zu übersehen ist darin die idiosynkratische Abgrenzung gegenüber dem alten Topos des Koloristischen als eines lediglich äußerlichen, sinnlichen Effekts: „Sofern die Farbigkeit keinen tiefern Sinn hätte, als den einer plumpen naive[n] Farbenfreudigkeit, stünde sie auf einem sehr ärmlichen niedrigen Niveau: etwa dem eines Kindes, das
22 Vgl. den quellenreichen Überblick in Andreas Jacob, „Verdeutlichung des Gedankens als Ziel der Darstellung (Zur Instrumentationslehre)“, in: ders., Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs (= Folkwang Studien 1/1), Hildesheim u. a. 2005, Bd. 1, S. 521–550, Bd. 2, S. 935–969. 23 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 535. 24 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 524, 526. 25 Arnold Schönberg, „Mechanische Musikinstrumente“ [1926], in: ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt a. M. 1976, S. 215–218, hier: S. 215.
78 | W OLFGANG M ENDE sich am Anzünden von Zündhölzern erfreut[,] oder der primitiven Freude unkultivierter Völker und Völkerschichten am Knaller-Schießen […].“26
Eine dermaßen klangskeptische Haltung zieht sich keineswegs durch alle Äußerungen Schönbergs.27 Gerade in der Entstehungszeit der Glücklichen Hand finden sich dezidiert gegenteilige Aussagen. In einem Brief an Emil Hertzka vom Juli 1912 insistierte Schönberg auf einen P a r t i t u r druck seiner Orchesterlieder op. 8, weil in ihnen „die Farbe alles bedeute“ und sie in reduzierter Wiedergabe „begraben“ seien.28 Noch weiter geht der im visionären Schlusspassus der Harmonielehre von 1911 formulierte Gedanke, dass „Klangfarbe“ nach zwei Dimensionen hin vermessen werden könne: nach der Dimension der Klanghöhe und nach der Dimension der Farbe im engeren Sinne.29 Der Parameter Tonhöhe (in dem Schönberg später allein die Substanz des „musikalischen Gedankens“ lokalisierte) erscheint in dieser Perspektive lediglich als eine Facette der Klangfarbe. Im Kontext dieser ästhetischen Aufwertung der Klangfarbe steht auch die berühmte Zukunftsphantasie der „Klangfarbenmelodie“, für die sich Schönberg eine immanent-strukturelle Logik vorstellte, wie es sie für die Sukzession der Tonhöhen schon seit Langem gab.30 Mit der Einschätzung der ästhetischen Wertigkeit der Klangfarbe ist auch die Bewertung von deren semantischem und expressivem Potenzial verquickt. Zur Zeit der größten Klangskepsis, in der Mitte der 1920er Jahre, vertrat Schönberg den Standpunkt, dass „Farbe“ nicht bloß durch die „vielen Instrumente“ und durch
26 Arnold Schönberg, „Instrumentation“, Fragment vom 23.11.1931; zit. nach: Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie, Bd. 2, S. 939–946, hier: S. 943. 27 Vgl. die vor der Folie posthermeneutischer Ansätze diskutierte Ambivalenz zwischen Klangskepsis und Klangbetonung bei Schönberg in: Nikolaus Urbanek, „Über das Zögern der Wiener Schule zwischen Klang und Sinn“, in: Musiktheorie 26 (2011), Nr. 1, S. 55–68. 28 Brief Arnold Schönbergs an Emil Hertzka vom 5. Juli 1912, zit. nach: ebd., S. 58. 29 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Leipzig/Wien 1911; S. 471. Dieser Gedanke berührt sich eng mit der postulierten Untrennbarkeit von „Satz- und Setzkunst“. 30 Dass Schönberg diese Vision noch 1951 für uneingelöst hielt, auch im Hinblick auf sein (unverständlicherweise) in diesem Zusammenhang regelmäßig diskutiertes Orchesterstück „Farben“ (op. 16/3), belegt überzeugend: Christian Martin Schmidt, „Für Schönberg sind Klangfarbenmelodien immer eine Zukunftsmusik geblieben“, in: Rudolf Stephan/Sigrid Wiesmann (Hg.), Arnold Schönberg – Neuerer der Musik. Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, Wien 1996, S. 108–113.
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„Setzkunst“ entstehe, sondern vor allem durch „Satzkunst“.31 Das Orchester sei mit viel zu vielen Instrumenten überfrachtet, die wenig flexibel und leistungsfähig seien und nur wegen ihrer „interessanten Farbe“ beibehalten würden.32 Die mit bestimmten Instrumentalfarben assoziierten Charakteristika hielt Schönberg für substituierbar. Dabei rückte er die traditionelle Bindung einzelner Instrumente an bestimmte semantische Topoi in ein ironisches Licht: „Wird ein Orchester, dem die luftige Flöte, die keusche Oboe, der komische Fagott (immer komisch?), das klagende Englischhorn, die schmetternde Trompete, die feierliche Posaune fehlen, wird ein solches Orchester weniger luftig, keusch, komisch, klagend, schmetternd und feierlich klingen? Ein Genie kann, falls das wirklich nötig ist, ein Gebet oder ein Schlachtengetöse auf einer Mundharmonika zum Ausdruck bringen.“33
In dem Entwurf einer Instrumentationslehre von 1917 findet sich dagegen in der Gliederung des zweiten Teils („Setzkunst“) unter den Gründen für die Wahl der Besetzung ganz selbstverständlich der Punkt „Einfluss des Charakters und Ausdrucks“.34 Im dritten, „praktischen“ Teil des Entwurfs folgt die Frage: „Für welche Arten solistischen Ausdrucks wurde das Instrument in der Literatur verwendet? Ist es an diese Verwendung gebunden? (begrenzt)“. Hier wird zwar die konventionelle Beschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten von Instrumenten kritisch hinterfragt, ein spezifisches expressives Spektrum der einzelnen Instrumentalklänge offensichtlich aber doch vorausgesetzt.35 In Schönbergs gesamtem Schrifttum konnte ich keine Aussage entdecken, in der er die Instrumentationsprinzipien seiner eigenen Werke auf semantische Kriterien zurückgeführt hätte. In diese Leerstelle tritt die (Utopie gebliebene) Idee
31 Arnold Schönberg, „Die Zukunft der Orchesterinstrumente“ [1924], in: ders., Stil und Gedanke, S. 193–196, Zitat: S. 194. 32 Ebd., S. 195. 33 Ebd., S. 194. 34 Arnold Schönberg, Zusammenhang, Kontrapunkt, Formenlehre und Instrumentation [1917]; zit. nach: Arnold Schoenberg, Coherence, Counterpoint, Instrumentation, Instruction in Form, hg. von Severine Neff, Lincoln/London 1994, S. 80. 35 Ebd., S. 92. Die Entwürfe von Übungsmaterialien zu der Instrumentationslehre aus dem Jahr 1949 enthielten u. a. längere Listen von „characters“ und „moods“. Andreas Jacob sieht darin ein Indiz dafür, dass bei Schönberg „ab den späten 30er Jahren die ‚subjektiven‘ Ausdrucksqualitäten von Musik wieder zunehmende Beachtung fanden“ (Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie, Bd. 1, S. 546, Bd. 2. S. 962).
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einer autonomen Instrumentationsgrammatik als Basis einer emanzipierten Klangfarbenmelodik bzw. die (analytisch verifizierbare) Auffassung, die Instrumentation müssen sich funktional den strukturellen Anforderungen des Satzes unterordnen, etwa um dessen Polyphonie durchhörbar zu machen. Es stellt sich die Frage, warum Schönberg die – in seinen Werken evidente – semantische (Mit-)Motivation der Instrumentation aus seinen musiktheoretischen Paratexten ausgeklammert hat. Ein Grund könnte sein, dass das traditionelle kunstmusikalische Instrumentarium, an dem Schönberg im Wesentlichen festhielt, ein geringeres Variationsspektrum an Neukombinationen zuließ als etwa die Formebenen Melodik und Harmonik. Bei Letzteren ermöglichte der Bruch mit der harmonischen Tonalität die Bildung von Gestalten, die einerseits radikal neuartig waren, andererseits aber gestisch-expressiv mit dem Ausdrucksfundus der Tradition in Kontakt blieben und so ein Mindestmaß an Verständlichkeit gewährleisteten. Bei der Instrumentation war aber wegen ihrer viel grobkörnigeren und unflexibleren Struktur ein vergleichbarer Systembruch nicht möglich – sofern nicht völlige Unverständlichkeit in Kauf genommen werden sollte. Folglich war es in diesem Bereich viel schwerer, sich von den Konventionen eines tradierten „Stils“ zu lösen und radikal originelle „Gedanken“ zu formulieren. Bei Schönbergs rigorosem Originalitätsanspruch lässt sich leicht vorstellen, dass er den Blick ungern auf Residuen der Konvention lenkte, wie sie im Bereich der Instrumentation kaum zu vermeiden waren. Theoretische Aussagen eines Komponisten sind für die Analyse von heuristischem Wert. Bindend oder limitierend sind sie selbstverständlich nicht. Dies gilt für Schönbergs klangästhetische Aussagen in gleichem Maße wie für seine Andeutungen zur semiotischen Konzeption. Ließe man sich von diesen leiten, stünden die Aussichten für eine klangsemantische Analyse der Glücklichen Hand schlecht. In einem berühmten Brief an Ferruccio Busoni vom 13. August 1909 – im Vorfeld der Arbeit an der Erwartung – kündigte Schönberg eine „vollständige Befreiung von allen […] Symbolen des Zusammenhangs und der Logik“ an.36 Im Oktober 1910 vertraute er Alma Mahler an – nun schon mit Blick auf die Glückliche Hand –, dass dort nichts „symbolisch gemeint“ sei, sondern alles „nur geschaut, empfunden. Gar nicht gedacht.“ „Farben, Geräusche, Lichter, Klänge, Bewegungen Blicke, Gesten“ seien lediglich „in bunter Weise aneinandergereiht“, hätten keinen „dem Verstand erkennbaren Sinn“. Gleichzeitig deutet er aber an, dass die verschiedenen Elemente des Stücks, als er sie niederschrieb, für sein „Gefühl“ durchaus „etwas zu bedeuten“ hatten. Es wäre ihm „furchtbar“, wenn man
36 Jutta Theurich, „Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Ferruccio Busoni 1903– 1919 (1927)“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 19 (1977), S. 171.
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ihn durchschauen könnte, und er hoffe deshalb, dass man das von ihm Ausgedrückte „missverstehen“ werde. Aus diesem Grund sage er über seine Sachen „am liebsten Technisches; oder Aesthetisches; oder Philosophisches“.37 Semiotisch gesehen besagen die letztgenannten Aussagen, dass in dem Werk durchaus Bedeutung codiert ist. Wenn diese „missverstanden“ werden kann, muss sie sich im Umkehrschluss auch „verstehen“ lassen. Zugleich behauptet Schönberg, dass diese Codierung auf reiner Indexikalität beruht, unter Verzicht auf alle arbiträren Symbole, die an konventionelles Wissen gebunden sind. Demzufolge ergeben sich alle musikalischen Gestalten über eine instinktvermittelte Kausalbeziehung unmittelbar aus den auszudrückenden inneren Empfindungen. Selbst wenn man annähme, dass Schönberg tatsächlich alle bewusste Symbolik gemieden habe und konsequent dieser expressionistischen Produktionsästhetik gefolgt sei, wäre es keineswegs aussichtslos, nach einer systemhaften Vernetzung semantischer Relationen zu fahnden. Denn gerade eine instinktgeleitete Schaffensweise, die einem unbewussten Kausalprinzip folgt, müsste eigentlich konstante Relationen zwischen musikalischen Merkmalen und gedanklich-emotiven Komplexen hervorbringen, eben einer Expressions l o g i k entsprechend. Dem Rezipienten können sich die Produkte solchen Schaffens durchaus als analysierbare semiotische Systeme darstellen, auch wenn er nicht davon ausgehen kann, über das gleiche instinktive Empfinden wie der Urheber zu verfügen. Zudem schließt eine instinktgeleitete Schaffensweise keineswegs aus, dass sie unbewusst auf Assoziationen zurückgreift, denen semantische Konventionen zugrundeliegen. Die strukturellen Voraussetzungen für eine klangsemantische Analyse sind in der Partitur der Glücklichen Hand ausgesprochen günstig, weil Schönberg mittels eines speziellen Bezeichnungssystems eine punktgenaue Verknüpfung zwischen musikalischen Gestalten und den anderen Ebenen des Bühnengeschehens hergestellt hat. Die offensichtlichste Verknüpfung von Instrumentalklängen und Handlungselementen ist die schon von Crawford herausgestellte Spiegelung der Interaktion zwischen „Mann“ und „Weib“ im Wechselspiel von Violoncelli und SoloVioline. Der Partie des „Manns“ sind mehrere exponierte Cellopartien zugeordnet, die in der Art einer musikalischen Pantomime dessen minutiös beschriebene Be-
37 Brief Arnold Schönbergs an Alma Mahler vom 7.10.1910, zit. nach: Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 6/3, S. 263.
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wegungen und Affektgesten nachbilden. Ihre Bewegungstendenz ist fast durchgängig steil nach oben gerichtet.38 Das „Weib“ ist durch die Solo-Violine repräsentiert, mit meist abwärts gerichteten Figuren, die als freie Spiegelungen des „Mann“-Motivs aufgefasst werden können (T. 36 f.; ➜ Notenbsp. 1, Audiospot 1).39 Diese Konstellation ließe sich gender-kritisch natürlich weitreichend deuten, was hier nicht weiter verfolgt werden soll.40 In jedem Fall sind die verwendeten gestischen Topoi wie auch die Instrumentenwahl ausgesprochen konventionell und damit leicht einprägsam. Die exponierte Rolle der Celli und der Solo-Violine als instrumentale Protagonisten der im 2. Bild einsetzenden Pantomime wird auch dadurch unterstrichen, dass dies innerhalb der Partitur die ersten Streichereinsätze überhaupt ohne Dämpfer und sonstige spieltechnische Verzerrungen sind. Die semantische Rolle von Celli und Solo-Violine wird in der beschriebenen Szene also ziemlich plakativ fixiert. Es scheint daher gerechtfertigt, ihre Spur auch in Bereiche der Partitur von geringerer semantischer Salienz zu verfolgen. Gleich in den ersten Takten des eröffnenden Chorbilds findet sich das Wechselspiel von Cello und Violine wieder, allerdings in einer stark verzerrten Variante (T. 5 f.; ➜ Notenbsp. 2, Audiospot 2). Der Cellopart ist hier auf die gedämpfte Stimme eines Solo-Cellos reduziert,41 für die Solo-Violine ist die extremste Form klangli-
38 Besonders markant: T. 28 f. und T. 37–41; im 2. Bild auch T. 56 f., 59–62, 73, 78 f., 80 f., 85 f.; im 3. Bild: T. 89–93, 102–105, später beim Wiedererscheinen des „Weibs“: T. 153–162, 174 ff., 180 f., 181–183, 187–191. Diese und alle folgenden Partiturangaben nach: Die glückliche Hand. Drama mit Musik von Arnold Schönberg, Wien [1917]. 39 Vgl. Mauser, Das expressionistische Musiktheater, S. 115 f. Weitere pantomimisch bzw. affektiv auf das „Weib“ beziehbare Einsätze der Solo-Violine bzw. der 1. Violinen im 2. Bild: T. 37, 47–49, 54–56, 59–63, 64–66, 75–77, 81–83; im 3. Bild: T. 153–163, 181–183, 190–199. 40 Vgl. in diesem Band den Beitrag von Nina Noeske „The Sound of Gender. Überlegungen zur klangsemantischen Konstruktion von Geschlecht im Musiktheater des 20. Jahrhunderts“. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch das bereits von Crawford angeführte Faktum, dass Schönberg selbst Cello spielte (Crawford, „Die glückliche Hand“, S. 593). Es dient als Indiz für die immer wieder diskutierten autobiographischen Bezüge zu der desaströsen Affäre zwischen Schönbergs Frau und dem Maler Richard Gerstl. Zur begrenzten Tragfähigkeit dieser autobiographischen Lesart vgl. Auner, „Die glückliche Hand“, S. 252. 41 Ab dem 2. Bild sind die Celli zwar verschiedentlich geteilt, das Solo-Violoncello hat aber keinen eigenen Part mehr – im Gegensatz zur Solo-Violine, die ihre Solistenrolle überwiegend beibehält.
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Notenbeispiel 1: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 2. Bild, T. 34–39: Auftritt des „Weibs“; © [1917], Wien: Universal Edition
licher Deformation der gesamten Partitur vorgeschrieben: col legno am Steg tremoliert, und – wie sämtliche Streicherpartien des 1. Bilds (mit Ausnahme des pizzicato des Solo-Kontrabass in T. 6 f.) – mit Dämpfer. In diesem (trotz Hauptstimmenmarkierung kaum durchhörbaren) Detail einen vorgreifenden Reflex der Begegnung zwischen „Mann“ und „Weib“ im 2. Bild zu sehen, ist zunächst nur eine vage Assoziation. Ihre Plausibilität erhöht sich aber durch mehrere Umstände. Das Werk als Ganzes ist zirkulär konzipiert, was sich vor allem in der symmetrischen Rahmung durch den Anfangs- und Schlusschor und in den Klagen des Chors über die ewige Wiederholung des Geschehens42 manifestiert. Die dargestellten Handlungselemente und Bewusstseinsinhalte sind damit der zwingenden Sukzession von Vergangenheit und Gegenwart entzogen. Die in der ersten Chorszene ausgesprochene Ermahnung, nicht immer wieder in den gleichen Fehler zu verfallen und die Sehnsucht an das Irdische zu heften, kann somit antizipatorisch auf das in den folgenden beiden Bildern dargestellte Erlebnis mit dem „Weib“ bezogen werden. Und genauso legitim ist es somit auch, die musikalischen Elemente des ersten Chorbilds auf diejenigen der späteren Bilder zu beziehen.
42 Vgl. am Beginn des 1. Bilds: „So oft schon! Und immer wieder?“ (T. 6 f.) bzw. am Beginn des 4. Bilds: „Mußtest du’s wieder erleben, was du so oft erlebt?“ (T. 214 ff.)
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Notenbeispiel 2: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 1. Bild, T. 5–7: Instrumentale Antizipation der „Mann“-„Weib“-Szene im Eröffnungschor; © [1917], Wien: Universal Edition
Der zwölfstimmige Chor, von dem nur die grün beleuchteten Augen deutlich erkennbar sein sollen, kann – in Anlehnung an den Chor der altgriechischen Tragödie – als der „kritische Intellekt“43 des „Manns“ gedeutet werden. Er reflektiert über das in den Mittelbildern dargestellte Erlebnis, dessen nüchterne Realität andere Bewusstseinsschichten des „Manns“ offenbar verdrängen wollen. Als schemenhafter Reflex dieser anderen Bewusstseinsschichten (das Unbewusste eingeschlossen) lässt sich – nun in Anlehnung an das Wagnersche Musikdrama – der flankierende Orchestersatz deuten. Dafür spricht allein die Tatsache, dass der Orchestersatz weitgehend unabhängig von den Chorstimmen ist. Mehr noch drängt sich diese Lesart wegen der vielen spieltechnischen Verzerrungen und der durchgehenden Verwendung von Dämpfern bei den Streichern und Blechbläsern auf. Fasst man das Wechselspiel von Solo-Violoncello und Solo-Violine in T. 5 f. als vorgreifende Reminiszenz an die Szene zwischen „Mann“ und „Weib“ im 2. und 3. Bild auf, rücken die spieltechnischen Vorschriften diesen Bewusstseinsinhalt in eine spezielle Perspektive. Die Sordinierung bringt semantisch ein Moment von
43 Vgl. Mauser, Das expressionistische Musiktheater, S. 26.
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Ferne und Undeutlichkeit ein, das Tremolo eines von Erregung und Furcht, das Spiel „col legno am Steg“ eines von Verzerrung bis zur Unkenntlichkeit. Der instrumentalsymbolisch angedeutete Gedanke an das Erlebnis mit dem „Weib“ lässt sich in dieser artikulatorischen Einkleidung als etwas auffassen, das angstbesetzt ist und bei dem sich Bewusstsein gegen eine klare und deutliche Re- bzw. PräImagination sträubt.44 Zwischen dem ersten Chorbild und den Szenen mit dem „Weib“ lassen sich noch weitere instrumentatorische Korrespondenzen finden. Im Eingangschor gibt es drei Hauptstimmeneinsätze der (1.) Oboe und einen motivisch verwandten des Englisch Horn. Sie sind alle mit dem Begriffsfeld der „Sehnsucht“ verknüpft (T. 8–11: „Immer wieder hängst du deine Sehnsucht ans Unerfüllbare“, T. 19: „[…] sehnst dich nach dem Überirdischen“). Wie der Chortext klarstellt, ist diese Sehnsucht eine problematische, weil nämlich fehlorientierte. Sie verfällt den „Lockungen der Sinne“ und heftet sich an „irdische“, die innere metaphysische Orientierung nicht befriedigende Dinge. Das gleiche Stichwort „Sehnsucht“ provoziert dann im 2. Bild einen der wenigen markanten Oboeneinsätze (T. 34: „[Das Blühen; o Sehn-]sucht!“; ➜ Notenbsp. 1, Audiospot 1). Diesem Oboeneinsatz geht die zum mystischen Halbdunkel des Chorbilds kontrastierende Exposition einer sonnendurchfluteten Szenerie voraus, die durch Licht- und Farbwirkungen und glitzernde Orchesterfarben angedeutet wird (T. 31–33). Die „sehnsüchtige“ Oboenfigur mündet in den ersten Auftritt des „Weibs“, der von den gleichen glitzernden Farben umspielt ist, nun allerdings in einem stärker tänzerischen Duktus (T. 35 ff.). Das „Weib“ erscheint in dieser Konstellation als eine Projektion der Sehnsucht des „Manns“. Allerdings bestätigt der folgende Handlungsverlauf genau das, was der Chor mahnend prophezeit hat: dass diese Projektion fehlorientiert ist, weil sie sich an irdische Sinneslockungen heftet – hier eben an das „Weib“, das als dramatis persona nicht viel mehr ist als ein choreographisch animiertes Weiningersches Philosophem.
44 Sowohl das Moment der Angst als auch das des Halb- oder Unbewussten gehören für Gevaert zum typischen Ausdrucksbereich der Streicher-Sordinierung. Er ordnet ihr zwei semantische Felder zu: zum einen „Nachtscenen, Träume und Visionen, Eingreifen verborgener Mächte und einer Wunderwelt angehörender Wesen“ (wegen des „Geheimnisvollen“ des Klangs), zum anderen die Darstellung „physischer oder moralischer Niedergeschlagenheit, krankhafter Mattigkeit, Angst und Furcht bis zu völliger Erschlaffung“ (wegen der „Gedrücktheit der Töne“). Vgl. François-Auguste Gevaert, Neue Instrumenten-Lehre. Ins Deutsche übersetzt von Dr. Hugo Riemann, Paris und Brüssel/Leipzig 1887, S. 39 f.
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Die Verknüpfung der Oboe mit der Vorstellung von Sehnsucht (oder präzsier: auf das Irdische beschränkter Sehnsucht) lässt sich kaum mit den gängigen semantischen Zuschreibungen in Deckung bringen. Berlioz betont bei der Oboe die „naive Anmut“ und „unberührte Unschuld“,45 Gevaert schält die „Offenherzigkeit“ als „Grundzug ihres Wesens“ heraus.46 Neben der Sphäre pastoraler Idylle wird ihr auch der Ausdruck von Leidenschaften zugeordnet, insbesondere von Klagen und Bitten, wobei Berlioz wegen ihrer „kleinen, herb-lieblichen Stimme“ vor einem allzu heftigen Expressivitätsgrad warnt.47 Von hier aus lässt sich ein Zusammenhang zur Oboensemantik in der Glücklichen Hand herstellen. Die von Berlioz empfohlene Beschränkung des Expressivitätsgrads, hinter der die allgemein beschriebene Beschränktheit des dynamischen und modulatorischen Spektrums der Oboe steht, kann als Korrelat des fehlenden metaphysischen Telos der (defizienten) Sehnsucht des „Manns“ verstanden werden.48 An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine klangsemantische Interpretation keineswegs auf verbale Kongruenzen in kodifizierten Zuschreibungen wie den Instrumentationslehren angewiesen ist. Im Sinne von Nelson Goodmans Kunstsemiotik ist der Blick vielmehr auf sämtliche Eigenschaften der Signifikanten zu richten und zu fragen, welche davon geeignet sind, das Signifikat metaphorisch zu exemplifizieren.49 Damit kehrt sich gewissermaßen die hermeneutische Blickrichtung um. Es wird nicht gefragt, welche absolute Bedeutung (Denotation) ein
45 Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, S. 178. 46 Gevaert, Neue Instrumenten-Lehre, S. 144. 47 Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, S. 178. Gevaert bringt diesen Einwand nicht, hebt stattdessen auf die „ungefälschten Gemüthsbewegungen“ ab (Neue InstrumentenLehre, S. 145). 48 Bemerkenswert ist, dass Schönberg auch in Erwartung das Wort „sehnsüchtig“ mit einem markanten Oboeneinsatz verknüpft (T. 56–58: „Und die Stadt in hellem Nebel… so sehnsüchtig schaute ich hinüber…“). Auch beim einzigen weiteren Auftreten dieses Begriffs erklingt die Oboe, allerdings integriert in einen Mischklang mit 2 Flöten, Englisch Horn, D-Klarinette und gedämpfter Trompete (T. 373 f.: „Mein Lieber… mein einziger Liebling... hast du sie oft geküßt?... während ich vor Sehnsucht verging…“). 49 Vgl. Nelson Goodman, Languages of Arts. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1968, 21976; dt. von Bernd Philippi, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1995. Das Potenzial von Goodmans Theorie für die musikalische Semiotik haben insbesondere Simone Mahrenholz (Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart/Weimar 1998) und – bezogen auf Wagners Leitmotivik – Christian Thorau (Semantisierte Sinnlichkeit.
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künstlerisches Zeichen hat, sondern welche seiner Eigenschaften in Verbindung mit einem Vorstellungsinhalt semiotisch und gleichzeitig emotional-suggestiv wirksam werden. Und im gleichen Sinne kann gefragt werden, welche der gängigen (kontingenten) Zuschreibungen zu Klangfarben im gegebenen Kontext Relevanz erlangen. Wiederholen sich solche Relationen zwischen Klangtpyen und semantischen Kontexten innerhalb eines Werks, gewinnen sie an Signifikanz. Im Folgenden soll der Blick noch auf ein komplexes Klangsymbol gerichtet werden, das nicht nur wegen seiner schillernden Instrumentation Aufmerksamkeit verdient, sondern auch, weil es ausgedehntere Flächen bildet. Es könnten gut diese Stellen gewesen sein, an die Adorno dachte, als er von den „einheitlichen Klangkomplexen“ in der Glücklichen Hand sprach. Das Kerninstrument dieses Klangkomplexes ist die Celesta. Ihr Part ist überraschenderweise fast durchgängig mit dem der Flöten verkoppelt, entweder als direkte Stimmkopplung oder als komplementär ineinandergreifende Figuration. Dazu tritt sehr häufig die Harfe, öfters auch das Xylophon, und vereinzelt Glockenspiel, Triangel oder Tamburin. Die Figurationen dieses Klangkomplexes sind meist sehr kleingliedrig, huschend oder perlend, manchmal auch pulsierend. Unter klangsemantischen Gesichtspunkten ist dieser Komplex vor allem deshalb diskussionswürdig, weil er ein weitreichendes Netz über die Partitur spannt und entsprechend großes Interpretationspotenzial birgt. Zum ersten Mal tritt er in Gestalt der glitzernden Klanglandschaft am Beginn des 2. Bilds deutlich hervor, wie sie im Zusammenhang mit dem „sehnsüchtigen“ Oboensolo bereits erwähnt wurde. Der Celesta-Flöten-Komplex illustriert dort den ersten Auftritt des „Weibs“ und die ihn ankündigende sonnendurchflutete Szenerie (T. 31–37; ➜ Notenbsp. 3, Audiospot 3). Im Folgenden begleitet er kontinuierlich (neben der Solo-Violine) die Szenen mit dem „Weib“50: im 2. Bild, wenn der „Mann“ ihr Lächeln beschreibt (T. 45 f.), wenn sie mit einem „kalten Zug in ihrem Gesichtsausdruck“ von ihm wegläuft (T. 55–57), wenn er (in naiver Verblendung) sein Glück mit ihr besingt (T. 62 f.), wenn sie lächelnd auf den schick gekleideten „Herrn“ zugeht (T. 68–70), wenn der „Mann“ ihre Hand berührt und „selig ergriffen“ übersieht, wie sie verschwindet (T. 81 f.), und wenn er am Schluss der Szene verblendet ausruft „Nun besitze ich dich für immer!“ (T. 88). Im 3. Bild wird der Celesta-Flöten-Komplex beim erneuten Auftritt des „Weibs“ nach dem Lichtsturm wiederaufgegriffen, wenn sie mit „schnellen, leichten Schritten“ halbnackt
Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart 2003 [= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 50]) herausgearbeitet. 50 Auf den leitmotivischen Charakter dieses „complex of light and shimmering tone colors“ hat bereits Crawford hingewiesen (Crawford, „Die glückliche Hand“, S. 593).
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in den Raum „hüpft“ (T. 153, 156), wenn der „Mann“ verzweifelt auf die Knie fällt (T. 164 f.) und wenn das „Weib“ nach dem abgerissenen Kleiderfetzen sucht (T. 181–183). Notenbeispiel 3: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 2. Bild, T. 31–33: Glitzernde Szenerie vor dem Auftritt des „Weibs“; © [1917], Wien: Universal Edition
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Als antizipatorischer Reflex blitzt der Celesta-Flöten-Komplex schon zweimal im Eingangschor auf, und zwar bezeichnenderweise an der Textstelle, wo von den „Lockungen der Sinne“ die Rede ist (T. 13 und 15; ➜ Notenbsp. 4, Audiospot 4). Alle aufgeführten Kontexte lassen sich semantisch mit dem Glitzercharakter des Klangkomplexes dergestalt in Kongruenz bringen, dass die Vorstellung oberflächlichen Glanzes bzw. oberflächlicher Sinnlichkeit in den Fokus rückt. Diesem oberflächlichen Glanz verfällt der „Mann“ immer wieder, und auf ihn reduziert sich auch das, was die Musik von der Figur des „Weibes“ darstellt.51 In dem bereits zitierten Artikel über die „Die Zukunft der Orchesterinstrumente“ bemerkte Schönberg, dass die Celesta „nur für besondere Effekte“ reiche52 – ein zweifellos ziemlich abschätziges Urteil angesichts seines Insistierens auf der Substanzialität musikalischer Gedanken, und ebenso angesichts des in dem Text erhobenen Anspruchs, ein wirklich leistungsfähiges Musikinstrument müsse über ein möglichst unbeschränktes Spektrum des Ausdrucks (und damit auch des semantischen Evokationsvermögens) verfügen. Das 1924 konstatierte Ausdrucksdefizit der Celesta deckt sich mit ihrem Einsatz in der Glücklichen Hand: ihm entspricht das Persönlichkeitsdefizit des als reine Sinnlichkeitsprojektion dargestellten „Weibs“ bzw. das metaphysische Defizit der Wunschprojektion des „Manns“. Ihr grell aufblitzender, schnell verklingender, nicht-kantilener Klang und die damit verbundenen Assoziationen des Künstlichen, Metallischen, Kalten und Seelenlosen exemplifizieren die Vorstellung subtanzloser Sinnlichkeit. Ähnliche Merkmale eignen auch den Akzidenzinstrumenten des Celesta-Flöten-Komplexes: dem Glockenspiel, dem Xylophon und (in geringerem Maße) der Harfe. Bei der Flöte ist es schwieriger zu sagen, welche der ihr zugeschriebenen oder aus ihrer Klangqualität ableitbaren Eigenschaften mit der beschriebenen Handlungskonstellation korrelieren. Einen ersten Ansatzpunkt können einige empirische Beobachtungen geben. Von 23 syntaktisch und motivisch abgrenzbaren Celestaeinsätzen in der Glücklichen Hand sind lediglich 10 nicht mit dem Flötenpart verkoppelt. 11 Celestaeinsätze sind in den Flötenstimmen unmittelbar gedoppelt, weitere 11 mit ihnen figurativ eng verzahnt. Die Kopplung von Celesta und Flöten findet sich interessanterweise auch in anderen Partituren Schönbergs. In den Fünf
51 Die Verknüpfung des Klangkomplexes mit dem „Weib“ wird in Takt 15 des ersten Chorbilds sehr subtil auch dadurch antizipiert, dass zu den Figuren von kleiner Flöte, 1. großer Flöte und Celesta in gleicher absteigender Bewegungsrichtung Läufe von zwei Solo-Violinen hinzutreten. Die 1. Solo-Violine artikuliert wie in T. 6 tremolierend, col legno am Steg und mit Dämpfer, was sich semantisch wie in T. 5 f. auf eine angstbesetzte, tabubelastete Re-Imagination beziehen lässt. 52 Schönberg, „Die Zukunft der Orchesterinstrumente“, S. 195.
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Notenbeispiel 4: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 1. Bild, T. 12–14: Instrumentale Antizipation des „Weibs“ durch Celesta-Flöten-Komplex und Solo-Violinen; © [1917], Wien: Universal Edition
Orchesterstücken op. 16 (1909) sind 9 von 15 Celestaeinsätzen mit den Flötenpartien verknüpft (4 davon Unison- oder Oktavkoppeln),53 in Erwartung (1909) 14 von 28 (6 davon Unison- oder Oktavkoppeln), in den Gurre-Liedern (1910/1154) 6 von 11 (3 davon Unison- oder Oktavkoppeln). Die semantischen Kontexte, in denen der Celesta-Flöten-Komplex in diesen Werken auftritt, überschneiden sich
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– sofern überhaupt konkretisierbar – mit denen der Glücklichen Hand im Bedeutungsfeld von Licht und Helligkeit, haben aber durchaus ihr eigenes, tendenziell positiveres Profil. In Erwartung tritt der Komplex bevorzugt in Verbindung mit den Begriffen Mond, Himmel und Helligkeit auf, in den Gurre-Liedern mit Himmel, Helligkeit und Sonne. Semantisch näher an der Glücklichen Hand liegt die Verwendung in Moses und Aron (1930–1932). Die Kopplung von Celesta und Flöten tritt dort zwar nicht mehr mit der früheren Regelmäßigkeit auf, aber immer noch auffällig häufig und zudem in äußerst markanten, zum Teil ausgedehnteren Passagen, insbesondere in der Orgie um das goldene Kalb, etwa beim Auftritt der „4 nackten Jungfrauen“ (Teil II, T. 752 ff.). Bezeichnend für die symbolische Verwendung des Komplexes ist die Anrufung des Kalb-Götzenbilds durch das „Mädchen“ (eine der 4 nackten Jungfrauen): „Du goldener Gott, wie Lust durchströmt mich dein Glanz! Was glänzt nur, ist gut.“ (T. 759–763). Die Passage ist von Celestagirlanden umrankt, flankiert von Glockenspiel, Klavier, Harfe und Flöten.55 Überraschenderweise verwendet auch Richard Strauss in Elektra (1909), in der Szene zwischen Klytemnästra und ihrer Tochter, einen nahezu identischen Klangkomplex, nämlich Glockenspieltöne mit Arpeggien von 1. Flöte und zwei Harfen, ergänzt durch Streicherpizzicati und grundiert durch gedämpfte Bläserakkorde (Zif. 17756; Audiospot 5). Die geheimnisvoll funkelnde Klangfindung lässt sich dort auf die Edelsteine und Talismane beziehen, mit denen sich die schuldbeladene Königswitwe vergeblich behängt, um ihre Alpträume zu bändigen. Bei einem solch gehäuften Auftreten einer eigenwilligen Klangkombination ist zu vermuten, dass es neben semantischen auch klangstrukturelle Motive gibt. Denkbar ist, dass sowohl Schönberg als auch Strauss nach einer Klangkomponente gesucht haben, die dem schnell verklingenden Ton der Celesta bzw. des Glockenspiels eine Art klanglichen Schatten beigesellt, ohne den glitzrigen Klang mit einem allzu aufdringlichen Eigentimbre bzw. Eigencharakter zu überdecken. Der – zumindest in der tiefen und mittleren Lage – wenig durchdringende Flötenklang scheint für diese Zwecke prädestiniert. Für Berlioz ist die Flöte ein Instrument,
53 Die Celesta ist nur in den Nummern II. „Vergangenes“, III. „Farben“ und V. „Das obligate Rezitativ“ besetzt. 54 Die Celesta wird nur im 3. Teil eingesetzt, der im Wesentlichen in der späten Arbeitsphase in den Jahren 1910/11 instrumentiert wurde. 55 Arnold Schönberg, Moses und Aron. Oper in drei Akten (II), hg. von Christian Martin Schmidt, Mainz/Wien 1978 (= Sämtliche Werke, Reihe A, Bd. 8/2), S. 393 f. 56 Richard Strauss, Elektra. Studien-Partitur, Wien 1996 (= Richard Strauss Edition. Sämtliche Bühnenwerke 4). Ähnlich auch Zif. 181 und 208.
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„das eines besonderen Ausdruckes fast ganz entbehrt“.57 Gevaert attestiert ihr zwar einen „ausgesprochen poetischen Charakter“, merkt aber an, dass ihr „ätherischer Hauch“ „der Wärme und des Lebens“ ermangle.58 In dieser Assoziationstradition steht offenbar auch Schönberg, wenn er in dem oben angeführten Zitat von 1924 die Flöte – halb ironisch – als „luftig“ bezeichnet.59 Die am Flötenklang beschriebenen Merkmale des „Luftigen“ wie auch der fehlenden Charakterprägnanz und Lebenswärme lassen sich semantisch mit dem Einsatz in der Glücklichen Hand verbinden. Der Figur des „Weibes“ eignet eine analoge Charakter- und Substanzlosigkeit, die von den grellen Glitzereffekten der Celesta oder auch von Xylophon, Glockenspiel und Triangel lediglich überblendet wird. Noch weiterreichende Aspekte für die Gesamtinterpretation des Werks ergeben sich, wenn man das semantische Netz, das der Celesta-Flöten-Komplex zusammenknüpft, über die bislang fokussierten Pantomimeszenen zwischen „Mann“, „Weib“ und „Herr“ im 2. und am Ende des 3. Bilds hinaus verfolgt. Der Komplex greift nämlich auch auf das bisher noch gar nicht berücksichtigte Künstlerdrama über. Als der „Mann“ am Beginn des 3. Bilds die Arbeiter in der Goldschmiedewerkstatt „nachdenkend“ betrachtet, soll laut Regieanweisung in ihm „ein Gedanke werden“ (T. 97). Dieser Gedanke ist musikalisch durch ein vielschichtiges Ostinato mit den Instrumenten des bekannten Klangkomplexes dargestellt (T. 97–100; ➜ Notenbsp. 5, Audiospot 6): Flöte, Celesta, Harfe, Xylophon, ergänzt durch Flageoletts und Tremoli der Streicher sowie eine ausgedehnte Klarinetten- und Trompetenkantilene. Bei der Spaltung des Amboss mit dem Hammer und dem anschließenden Emporhalten des per Geniestreich geschaffenen Diadems – gewissermaßen der Einlösung dieses Gedankens60 – tut sich ein neues Klangfeld auf, aus dem wegen der exponierten Lage wiederum die Flöten und die pulsierende Celesta hervorstechen (T. 115–118; Audiospot 7). Selbstverständlich korreliert der Glitzerklang der Celesta in diesem Kontext (wie in der vorher beschriebenen Szene aus Elektra) vordergründig mit dem Phänomenbereich des Schmucks. Die konsequent beibehaltene Kombination mit den Flöten stellt aber auch einen Konnex zu der Figur des „Weibs“ und zu der Mahnung des Chors vor
57 Berlioz/Strauss, Instrumentationslehre, S. 244. 58 Gevaert, Neue Instrumenten-Lehre, S. 124. 59 Schönberg, „Die Zukunft der Orchesterinstrumente“, S. 194. 60 Dass hier der vorher gefasste, aber verbal nicht explizierte Gedanke eingelöst wird, macht nicht zuletzt die Instrumentation deutlich: auch an dieser Stelle sind es Klarinette und Trompete, die sich mit expressiven Gesten über das Klangfeld legen.
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Notenbeispiel 5: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 3. Bild, T. 97 f.: Celesta-Flöten-Komplex als tertium comparationis von „Weib“ und Schmuck; © [1917], Wien: Universal Edition
den irdischen, oberflächlichen Sinneslockungen her. Verdeutlicht wird die Verbindung zu dem „Weib“ zusätzlich durch die expressive Figur der Solo-Violine in den ersten beiden Takten des Klangfelds. Die hier aufgezeigten klangsemiotischen Zusammenhänge lassen weiterreichende Deutungen zu. Zunächst weist die Verwendung des Celesta-Flöten-Komplexes in so unterschiedlichen Kontexten auf einen inneren Zusammenhang oder gar eine latente Identität zwischen dem „Weib“ und dem Diadem bzw. dem Geniestreich. Die klanglich so auratische Stelle, in der der „Mann“ die Schmiedewerkstatt betrachtet, beschriebe also die – eher unbewusst zu denkende – Genese des Gedankens, dass das Schaffen von Schmuck – übertragen gesprochen: von Kunst – eine Kompensation für das erlittene Trauma im Geschlechterkampf sein kann. Diese Denkfigur hatte im frühen 20. Jahrhundert – und zumal in Wien – Konjunktur, seitdem Sigmund Freud den Drang zum Kunstschaffen als Sublimation sexueller Triebenergien gedeutet hatte. Sie wurde schon von den Zeitgenossen auf Schönberg und Die glückliche Hand bezogen, etwa in einer kulturkritisch grundierten Kritik von Emil Petschnig: „Wenn Schönberg auch einen speziellen biographischen Anlaß zu dieser Schöpfung verneint, so ist angesichts des Umstandes, daß in allen seinen Schöpfungen der Schaffende immer und ausschließlich nur sich gibt, geben kann, von der durch Prof. S. Freud in ein geistvolles System gebrachten Wissenschaft der Seelenzergliederung die große grundlegende Zwiespältigkeit nicht zu verkennen, welche in der Brust des ‚Mannes‘, des Helden
94 | W OLFGANG M ENDE der Begebenheit, eines Künstlers – wohlgemerkt! – wohnt, und deren Ursache eine überstarke Sexualität ist, welche sich immer und immer wieder zum Weibe hingezwungen fühlt, während sein idealer Beruf ihn von der Erde, dem Tummelplatz triebhaft sinnlicher Begierden, emporführen möchte in reinere, geistige Sphären. […] Es ist heute bereits eine ausgemachte Sache, daß alles künstlerische Schaffen, sei es nun Dichtung, Malerei und Plastik oder Musik seinen Anstoß von der so und so gearteten Erotik des betreffenden Individuums erhält […].“61
Diese sublimationspsychologische Interpretation ließe sich auch ohne klangsemantische Indizien aus anderen Schichten des Werks gewinnen. Bemerkenswert sind aber die spezifischen Nuancierungen, die die Klangsymbole in den beschriebenen Zusammenhang hineintragen. Der Figur des „Weibs“ schreibt der CelestaFlöten-Komplex (in Verbindung mit der tänzelnden Gestik) die Merkmale substanzloser Sinnlichkeit und Effekthascherei zu, wie es auch die Bühnen- und Regieanweisungen suggerieren. Den gleichen semantischen Schatten legt die Instrumentation aber auch auf die Diademszene und stellt damit die vordergründig inszenierte Genieidee und Kunstmetaphysik in Frage. Hier wird keine „Entrückung“ zur „Luft von anderem Planeten“ mehr vorgeführt, sondern der CelestaFlöten-Komplex färbt auch die Kunstproduktion mit der Semantik von Oberflächlichkeit, Effekthascherei und Irdischheit ein. Die Sehnsucht des „Manns“ nach der künstlerischen Genietat ist somit auch nicht mehr als ein Streben nach dem Irdischen. Eine solch ernüchternde Perspektive hat geradezu etwas Erfrischendes angesichts des mitunter schwerlastigen Symbolismus und Kunstmystizismus des Stücks. Schönberg selbst hat rückblickend, am Schluss seines Vortrags zur Breslauer Inszenierung von 1928, eine solch ernüchternde Quintessenz gezogen: „Es ist ein gewisser Pessimismus, dem ich damals Gestalt zu verleihen gedrängt war: Glückliche Hand, die zu packen sucht, was ihr nur entschlüpfen kann, wenn sies hält. Glückliche Hand, die nicht hält, was sie verspricht!“62 Pessimistisch ist im Übrigen auch der Schluss der Partitur, wenn man ihn im Licht des hier herausgearbeiteten klangsemantischen Netzes betrachtet. Die Klangsymbole der Oberflächlichkeit (Flöten, Celesta, Harfe) behalten das letzte Wort, nochmalig heraufbeschworen vom fehlorientierten Sehnsuchtston der Oboe (T. 253–255; ➜ Notenbsp. 6, Audiospot 8).
61 Emil Petschnig, in: Musikpädagogische Zeitschrift 14 [1924], Nr. 5–7, S. 27 f.; zit. nach: Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 6/3, S. 319 f.). 62 Arnold Schönberg, „Die glückliche Hand“ [24.3.1928], in: ders., Stil und Gedanke, S. 235–239, hier: S. 239.
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Notenbeispiel 6: Arnold Schönberg, Die glückliche Hand, 4. Bild, T. 251–255: Pessimistischer Schluss: klangsemantische Reflexe der Sehnsucht nach dem Irdischen; © [1917], Wien: Universal Edition
*** Eine „vollständige Befreiung von allen […] Symbolen des Zusammenhangs und der Logik“ oder von allem „Symbolischen“ überhaupt, wie sie Schönberg 1909/10 gegenüber Ferruccio Busoni und Alma Mahler angekündigt hatte, ist in der Glücklichen Hand nicht verwirklicht – weder in der Formdramaturgie und den verschiedenen Elementen des musikalischen „Satzes“ und noch weniger im Bereich der „Setzkunst“. Schönberg greift bei der Instrumentation mitunter ziemlich plakativ auf konventionelle Topoi zurück („Mann“: Violoncello; „Weib“: Solo-Violine), breitet diese Rollenmuster weitflächig über die Partien aus, gebraucht sie in den reflektierenden Chorszenen als Chiffren der „Ahnung“ und „Erinnerung“ (Richard Wagner), setzt besondere Spieltechniken (Dämpfer, tremolo, col legno am Steg) zur semantischen Evokation des Unbewussten, Angstbesetzten und Tabuisierten ein. Darüber hianus etabliert er werkspezifische Semantiken bestimmter Instrumente (Oboe – Sehnsucht) und schafft schließlich mit einem Klangkomplex aus Celesta, Flöten sowie (akzidentiell) Harfe, Xylophon und Glockenspiel ein suggestives Symbolnetz, das disparate Momente des Dramas („Weib“ – Diadem/Genietat) zueinander in Beziehung setzt und semantisch profiliert. All dies
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sind Praktiken, die spätestens seit Wagner zum musikdramatischen Gestaltungsrepertoire gehören und zur Entstehungszeit der Glücklichen Hand verbreiteter Standard waren. In diesem Aspekt blieb Schönberg in seinem sonst so experimentellen Bühnenwerk in der Tat stark der Tradition verbunden. Relativierend muss allerdings angemerkt werden, dass die Instrumentation der Glücklichen Hand nicht flächendeckend von solcher semantischen Sinnfälligkeit ist und dass die innovativen Momente der „Satz- und Setzkunst“ durchaus Auswirkungen auf die semiotische Prägnanz haben. Schönberg bedient sich über weite Strecken einer kleingliedrigen Motivik, in deren Mosaik sich die Instrumente sehr schnell und mit hoher Varianz abwechseln. Dies untergräbt die Konstitution klarer klangsemantischer Fokussierungen. Zudem sind die Instrumente aufgrund extremer Lage, exzentrischer Intervallik, hastiger Gestik und exzessiv gebrauchter spieltechnischer Verzerrungen vielfach wenig kantabel eingesetzt. Ihre prototypische Klangaura, an der die semantischen Assoziationen primär haften, kommt nur selten ungebrochen zum Tragen. Nichtsdestoweniger stehen die semantischen Konnotationen der Instrumente im Raum, und Schönberg ließ sich von ihnen bei der Auswahl der Instrumente offensichtlich im größeren Stil leiten. Der radikal-expressionistische Anspruch, vollständig mit der Tradition zu brechen und mit der Fixierung auf das Unbewusste und das Triebleben alle intersubjektive Symbolordnung über Bord zu werfen, ist in der Glücklichen Hand nicht eingelöst – und er ist wohl prinzipiell nicht einlösbar.63 Für Schönberg waren die expressionistischen Postulate seinerzeit notwendig, um seine radikalen Innovationen zu legitimieren. Die diesen Postulaten zugrundeliegenden Annahmen sind aber unhaltbar – zumal aus heutiger kognitiv-informierter Sicht. Dass „unsere Empfindungen“ und „Assoziationen“ grundsätzlich „unlogisch“ seien, wie Schönberg 1909 behauptete,64 ist in erster Linie ein Kunstmythos – ein Kunstmythos freilich, der gewaltige künstlerische Kreativität freigesetzt hat. Kreativ lässt sich aber auch mit der Einsicht umgehen, dass Instrumente und Klangfarben im Bewusstsein europäisch sozialisierter Hörer unlösbar mit bestimmten semantischen Assoziationen verknüpft sind. Anstatt sie als lähmende Erblast zu diskreditieren, lassen sie sich ebensogut als produktive hermeneutische Ressource annehmen.
63 Die Aporie der Avantgarde, dass ein radikaler Traditionsbruch wegen des geschichtlichen Durchtränktseins des Materials grundsätzlich unmöglich ist, schildert kontextreich mit Blick auf Schönberg: Markus Böggemann, Gesichte und Geschichte. Arnold Schönbergs musikalischer Expressionismus zwischen avantgardistischer Kunstprogrammatik und Historismusproblem, Wien 2007, bes. S. 172 und 201. 64 In dem bereits zitierten Brief an Busoni, vgl. Theurich, „Briefwechsel Schönberg/ Busoni“, S. 171.
Filmmusik ohne Film? Charles Koechlins The Seven Stars’ Symphony* T OBIAS J ANZ
Dass in der Filmmusik Klang und Semantik eng zusammengehen, ist allgemein bekannt. Eine ihrer wesentlichen Funktionen besteht darin, die visuellen und sprachlichen Zeichenträger mit musikalischen Klängen zu unterstreichen oder im Sinne einer eigenständigen musikalischen Zeichenebene zu ergänzen und den Zuschauer so mit Informationen über die fiktionale Realität der Filmhandlung zu versorgen. Wie verhält es sich aber bei einem Stück selbständiger Instrumentalmusik über Film im weitesten Sinne? Als mit der Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre die erste Blütephase des neuen Massenmediums zu Ende ging, entstand eine Gruppe von Kompositionen – von einer Gattung zu sprechen ginge zu weit –, die sich in eher lockerer Anbindung an das Medium Film mit dessen ästhetischen und auch semantischen Qualitäten und Ausdrucksmöglichkeiten auseinandersetzten. Dazu gehören die im Auftrag des Heinrichshofen-Verlags 1929/30 komponierte Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 von Arnold Schönberg sowie Franz Schrekers für denselben Anlass geschriebene Vier kleine Stücke für großes Orchester, ebenfalls von 1929/30. Sowohl bei Schönbergs op. 34 als auch bei Schrekers Vier kleinen Stücken kann man von einer Art „Metafilmmusik“1 sprechen, da hier weniger ein existierendes oder nur imaginiertes Filmszenario vertont wird, sondern Musik über archetypische Situationen und af-
*
Ich danke Otfried Nies und Marc Lerique-Koechlin für ihre freundliche Unterstützung bei der Beschaffung der Orchesterpartituren der Seven Stars’ Symphony.
1
Oliver Huck, Das musikalische Drama im ,Stummfilm‘. Oper, Tonbild und Musik im Film d’Art, Olms 2012, S. 269.
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fektive Grundmuster des Mediums Film vorliegt: „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ lauten die Abschnittsbezeichnungen bei Schönberg, „Timoroso“, „Violente“, „Incalzando“ und „Gradevole“ – also „furchtsam“, „gewaltsam“, „gehetzt“ und „gefällig“ die Titel von Schrekers Vier kleinen Stücken. Beide Werke stehen von ihrer Anlage her der Ästhetik des Stummfilms nahe. Die Gliederung nach typischen Situationen, Affekten oder Stimmungen ähnelt der in den einschlägigen Kinotheken und Filmmusikkatalogen der 1920er Jahre, etwa Giuseppe Becces Kinobibliothek, deren taxonomischer Anlage sie folgen, auch wenn sie nicht für den tatsächlichen Einsatz im Kino gedacht waren. (Welche Rolle für ihre Klangsemantik das Visuelle spielt, ist dabei eine komplizierte Frage). Trotz der offensichtlichen Nähe zur Stummfilm-Ära fällt das neue kompositorische Interesse am Film nicht zufällig mit der Einführung des Tonfilms zusammen. Wurden die in den 1920er Jahren entwickelten Techniken der Synchronisation von Film- und Tonaufnahme einerseits als Gefahr für die hoch geschätzte Stummfilmästhetik wahrgenommen, so versprach der Tonfilm gerade für den Einsatz von Musik ganz neue Möglichkeiten. Die Metafilmmusiken Schönbergs und Schrekers gehören insofern auch in den Kontext der Ende der 1920er Jahre beginnenden Diskussionen über den Status der Musik im künftigen Tonfilm. Bereits ein Jahrzehnt später hatten sich dann die Standards des klassischen HollywoodSoundtracks etabliert, an denen sich Filmmusikkomposition seitdem selbst dann noch messen lassen muss, wenn sie bewusst auf Distanz zur Traumfabrik geht. Schönbergs und Schrekers „Metafilmmusiken“ fügen sich also in die Übergangszeit zwischen Stummfilm und Hollywood-Klassik ein. Charles Koechlins intensive kompositorische Auseinandersetzung mit dem Film setzt nur wenige Jahre später an, ist in ihrem Zugriff jedoch bereits ganz anders gelagert. Seine intensive Beschäftigung mit dem Film fällt in die Jahre 1933–38. Aus dieser Schaffensphase stammen drei Vokalzyklen für Lilian Harvey (L’Album de Lilian I & II [1934/35], Sept Chansons pour Gladys [1935]), eine Suite von 89 Skizzen für Klavier zu einem imaginären Filmszenario (Le Portrait de Daisy Hamilton [1934–38]), Musik für ein selbstentworfenes Drehbuch (Die Bekenntnisse eines Klarinettisten [1934]), eine Tanzsuite für Ginger Rodgers (Danses pour Ginger [1937]) und schließlich das Epitaphe de Jean Harlow (1937). Das Hauptwerk der Phase ist aber die Seven Stars’ Symphony von 1933, ein symphonischer Zyklus in sieben Teilen, der nun mehr als einen nur metamusikalischen Bezug zum Film herstellt, da Koechlin sich hier auf konkrete Filme und vor allem auf jene sieben Leinwandgötter bezieht, die der Symphonie ihren Titel gegeben haben. Schon die Bezugnahme auf zeitgenössische Filmstars in den Titelformulierungen scheint einen Bereich musikalischer Semantik greifbar werden zu lassen, der den abstrakteren Metafilmmusiken von Schönberg und Schreker abgeht, denn der Paratext
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von Koechlins filmbezogenen Kompositionen lädt zur assoziativen Verknüpfung der bilderlosen Musik mit der magischen Bilderwelt des Films (oder auch der Fotographie) ein, die Schauspieler im kulturellen Imaginären zu modernen Ikonen macht. Bei den Filmstars der sieben Sätze handelt es sich um Schauspieler, deren Karrieren in der Stummfilmzeit begannen, bei den Filmen, auf die sich Koechlin bezieht, jedoch entweder um frühe Tonfilme oder doch um Filme der Übergangszeit: The Seven Stars’ Symphony „Douglas Fairbanks (en souvenir du Voleur de Bagdad)“ „Lilian Harvey (Menuet fugue)“ „Greta Garbo (Choral païen)“ „Clara Bow et la Joyeuse Californie“ „Hommage à Marlène Dietrich (Variations sur le thème fourni par les lettres de son nom)“ 6. „Emil Jannings (en souvenir de l’Ange bleu)“ 7. „Final: Charlie Chaplin (Variations sur le thème fourni par les lettres de son nom)“ 1. 2. 3. 4. 5.
Dies gilt für Josef von Sternbergs Der blaue Engel (1929/30), der zwar durch seine Musiknummern mit Marlene Dietrich berühmt wurde, in seiner Bildästhetik und Schauspielkunst jedoch noch stark der Stummfilmära verhaftet ist. Der blaue Engel wurde die Vorlage des sechsten Satzes, dessen „Star“ Emil Jannings im Film den Professor Rath spielt. Der Übergangscharakter gilt auch für Charlie Chaplins City Lights (1931), auf den sich Koechlin im siebten Satz bezieht, einen Film, der mit einer berühmten Parodie auf den Tonfilm beginnt und für den Chaplin selbst die Filmmusik komponierte. Und er gilt selbst noch für The Thief of Bagdad mit Douglas Fairbanks, der die Vorlage für den ersten Satz war, einen besonders opulenten Stummfilm aus dem Jahr 1924, der heute durch eine der ersten originalen und durchkomponierten symphonischen Filmmusikpartituren bekannt ist, die der amerikanische Komponist Mortimer Wilson komponiert hatte.2 Dass die Musik in diesen drei Filmen eine besondere Rolle spielt, ist für das Verständnis von Koechlins Musik nicht unwichtig, denn aus Äußerungen Koechlins lässt sich schließen,
2
Gillian B. Anderson, „The Thief of Bagdad“, http://www.gilliananderson.it/index. php?option=com_k2&view=item&layout=item&id=35&Itemid=29 (aufgerufen am 24.10.2014).
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dass die in seinen Augen minderwertige Musik und deren untergeordnete Rolle in den Filmen, die er gesehen hatte, ein Auslöser für seine Beschäftigung mit dem Film waren.3 Koechlin schwebte, wie vielen zeitgenössischen Theoretikern der Filmmusik, eine Musik auf Augenhöhe mit der bildlichen Dimension des Films vor und in diesem Sinne kann man dann auch Koechlins Filmkompositionen zur Gruppe der um 1930 entstandenen Metafilmmusiken zählen. Insbesondere in den drei Sätzen mit männlichen Stars werden nun allerdings konkrete Filme greifbar, wodurch sich das Spektrum der Semantisierung von Klang erheblich erweitert. Die Art der Bezugnahme ist dabei grundsätzlich vielschichtig. Neben der Orientierung an den Filmhandlungen gibt es den ganz anders gelagerten Bezug auf den jeweiligen „Star“ als solchen, der im Titel ja stets an erster Stelle steht, sowie eine schwierig zu fassende synästhetische Reaktion auf das filmisch Visuelle im weitesten Sinne. Bei den vier weiblichen Stars tritt dagegen interessanterweise die Referenz auf konkrete Filme fast vollständig in den Hintergrund. Vor allem in diesen Sätzen kommt eine besondere Eigenschaft des Stars zum Tragen. Seine besondere Aura beruht ja auf einer doppelten Wahrnehmbarkeit einerseits als Star, andererseits als Filmfigur, hinter der der Star aber auch in der fiktionalen Wirklichkeit des Films nicht vollkommen verschwindet. Ein Star ist aus denselben Gründen noch mehr als nur ein doppelt codiertes Element im Rahmen des Massenmediums Film, er wird auch in der außerfilmischen Wirklichkeit zu einem symbolisch aufgeladenen, doppelt lesbaren Phänomen, das sich in ganz unterschiedlichen Kontexten instrumentalisieren lässt. Koechlin hat sich in diesem Sinne nicht von einem Filmauftritt, sondern von einer Palmolive-Seifenwerbung mit Lilian Harvey zum hinreißenden Eröffnungslied des ersten Album de Lilian mit dem Titel „Keep that schoolgirl complexion“ inspirieren lassen. In der Symphonie zeichnen sich die vier „weiblichen“ Sätze „Lilian Harvey“, „Greta Garbo“, „Clara Bow“ und „Marlene Dietrich“ durch einen inhaltlich-semantisch eher vagen Zuschnitt aus, d. h. im Paratext keines dieser Sätze wird auf existierende Filme angespielt (Clara Bow und Greta Garbo sollte Koechlin überhaupt erst später in Filmen sehen). Stattdessen scheint hier mehr der Star- und nicht zuletzt auch der Sexappeal der Schauspielerinnen ins Zentrum zu rücken. Bei Greta Garbo sind außerdem offenbar Assoziationen an ihre schwedische Herkunft leitend gewesen, bei Clara Bow „La Joyeuse Californie“, das glückliche Kalifornien, bei Lilian Harvey mit einer neobarock-ironischen Menuett-Fuge möglicherweise
3
Vgl. Robert Orledge, Charles Koechlin (1867–1950). His Life and Works, London u. a. 1989, S. 162; vgl. auch die autobiographische Skizze Étude sur Charles Koechlin par lui-même, engl. Übersetzung in: ebd., S. 312.
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die Intention eines gebrochenen Verweises auf historisierende Operettenfilme wie Der Kongreß tanzt (1931). Die Frage nach dem Verhältnis von Klang und Semantik hat bei der Seven Stars’ Symphonie also von unterschiedlichen Ebenen auszugehen, auf denen eine Semantisierung von Klang stattfinden kann. Aufgrund der damit verbundenen Komplexität werde ich im Folgenden die beiden Sätze in den Fokus rücken, deren semantischer Assoziationsrahmen am ehesten noch mit konkreten, einzelnen Filmen in Verbindung steht: „Douglas Fairbanks“ und Le Vouleur de Bagdad (Der Dieb von Bagdad) sowie „Emil Jannings“ und L’Ange bleue (Der blaue Engel).
„D OUGLAS F AIRBANKS ( EN DE B AGDAD )“
SOUVENIR DU
V OLEUR
Film:
The Thief of Bagdad (1924)
Regie:
Raoul Walsh
Darsteller:
Douglas Fairbanks, Julanne Johnston, Anna May Wong u. a.
Originale Musik:
Mortimer Wilson (Partitur für großes Symphonie–orchester)
Cue Sheet:
James C. Bradford, United Artists Corporation
Der Dieb von Bagdad war eines von Koechlins ersten Kinoerlebnissen,4 und vielleicht aus diesem Grund steht „Douglas Fairbanks“ am Beginn der Seven Stars’ Symphony. Mir ist nicht bekannt, welche Musik Koechlin zu dem Stummfilm gehört haben mag. Mortimer Wilsons symphonische Partitur wohl nicht, denn die Partitur, die aufgrund ihrer Modernität, ihres orientalistischen Kolorits und ihrer offenbar beeindruckenden Synchronisation von Musik und kleinsten visuellen, gestischen Details in der amerikanischen Presse teils gelobt, teils heftig kritisiert wurde, war aufgrund des erforderlichen großen Symphonieorchesters nur in wenigen Filmtheatern und nur zu besonderen Anlässen zu hören.5 (Sie ist übrigens auch auf keiner der heute erhältlichen DVD-Editionen greifbar…).6 Die United Artists Company, die den Film in den USA vertrieb, veröffentlichte zusätzlich ein
4
Ebd., S. 173.
5
Vgl. Anderson, „The Thief of Bagdad“.
6
Eine MIDI-Version der ersten 20 Minuten findet sich allerdings unter http://www. youtube.com/watch?v=nlWfv3GW4oE (aufgerufen am 24.10.2014).
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traditionelles Cue Sheet (➜ Notenbsp. 1), das den Kinomusikern angab, welche präexistente Musik aus den bekannten Katalogen an welcher Stelle einzusetzen war. Notenbeispiel 1: The Thief of Bagdad (1924). Originales Cue Sheet, zusammengestellt von James C. Bradford, vertrieben durch die United Artists Corporation
In diesem Fall zu Beginn also etwa Mendelssohns Sommernachtstraum, dann einen hinduistischen Tanz („Balhama“) von Vitalis, eine Ouvertüre des ungarischen Komponisten Kéler Béla usw. Man muss sich Koechlins Kinobesuch am 30. Juli
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1927, als er in Frankreich den Dieb von Bagdad zum ersten Mal sah,7 wohl am ehesten mit einer Musikbegleitung auf der Grundlage eines solchen Cue Sheets vorstellen. Der Film erzählt eine Abenteuergeschichte auf der Grundlage von Tausendundeine Nacht. Das Ganze ist ein großes Kulissenspektakel, Leistungsschau eines der großen Filmstudios mit damals atemberaubenden special effects. Daneben war der Film ein Vehikel für den Star Fairbanks, der den Film selbst produzierte. Orson Welles charakterisierte den Stil des Films zutreffend als Mischung aus einem illusionistischen Märchen in einem reizvoll fremdländischen Szenario und der Ästhetik der Fashion Magazines,8 mit extravaganten Kostümen und einer ziemlich freizügigen Körperdarstellung, wie sie in der Zeit vor der Einführung des production code im Jahr 1934 noch möglich war. Was beim Hören allein schon des Beginns von „Douglas Fairbanks“ auffallen mag, ist, dass das semantische Netz, in das sich Koechlins Musik einschreibt, eine gewisse Schnittmenge mit dem Cue Sheet zum Film hat. Nicht im Sinne musikalischer Zitate, aber doch im Sinne eines gemeinsamen Referenzrahmens im Bereich des musikalischen Exotismus und Orientalismus. Im Unterschied zum Cue Sheet ist Koechlins Orientalismus allerdings vor allem dem der französischen Jahrhundertwende verpflichtet. Tristan Klingsors Shéhérazade ist der von Koechlin selbst genannte Bezugspunkt für „Douglas Fairbanks“,9 daneben auch eigene orientalistische Kompositionen wie Les Heures Persanes nach Pierre Loti von 1913–16. Koechlin hat sich zur Geschichte und Ästhetik des musikalischen Orientalismus in einigen Schriften ausführlich geäußert, auf die ich an anderer Stelle ausführlicher eingegangen bin.10 Im Folgenden sollen daran anschließend einige Beobachtungen zur Musik von „Douglas Fairbanks“ und zu den klanglichen Besonderheiten von Koechlins musikalischem Orientalismus angestellt werden. Zunächst hört man in „Douglas Fairbanks“ auffallend wenig exotistisches Instrumentarium, abgesehen von einem sehr dezenten Einsatz von Harfe, Schlagzeug und Celesta. Vor allem ist es Koechlins Klang- und Instrumentationskunst,
7
Orledge, Charles Koechlin, S. 173.
8
Orson Welles, „Filmed Introduction“ [o. D.], wiederveröffentlicht unter den „Special Features“ der DVD-Edition Kino on Video, © 2004 Kino Intl. Corp.
9
So im 1934 verfassten Kommentar zur Seven Starsʼ Symphonie, zit. nach dem Booklet zur CD-Einspielung mit James Judd und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, © 1996 BMG Classics, S. 15.
10 Vgl. Tobias Janz, Zur Genealogie der musikalischen Moderne, Paderborn 2014, S. 464– 486.
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die für das exotische Ambiente der Musik sorgt. Am Anfang des Stücks kann man eine versteckte, aber dennoch erkennbare Reverenz vor dem zweiten Satz von Rimsky-Korsakows Shéhérazade hören, eine Reverenz, die Koechlin selbst im Klavierauszug als solche markiert hat.11 Wie in Rimsky-Korsakows symphonischer Suite erklingt bei Koechlin am Anfang eine Solovioline. In Shéhérazade ist sie einer musikalischen idée fixe zugeordnet, die auf die Erzählerin Scheherazade verweist. Das näselnde Fagottsolo, das Koechlin als Idee ebenfalls Rimsky-Korsakows Suite entlehnt hat, ist dort einem orientalischen Basarszenario zugeordnet, das am Beginn des Diebs von Bagdad sein szenisches Pendant besitzt. Koechlin überschreibt das Fagottsolo ironisch selbstreferenziell mit „Aubade du Basson“ (Morgenständchen des Fagotts; ➜ Notenbsp. 2, Audiospot 112). Die von Heinz Holliger an Koechlin gerühmte „Alchemie der Klänge“13 beginnt allerdings erst unterhalb dieser recht deutlich lesbaren Signifikanten. Neben dem hoch gesetzten Fagott, dem instrumentalen „Star“ dieses Stücks, sind es die Streicherschreibweise sowie eine polytonal farbige Harmonik, die dem Satz seine Atmosphäre verleihen. Wie ein helles Licht legen sich die akkordisch gesetzten Quartflageoletts der hohen Streicher immer wieder über den Gesamtklang. Am Anfang und Ende des Stücks lässt Koechlin sie klangfarbenmelodisch raffiniert in den natürlichen Violinton, die Pikkoloflöte und andere hohe Holzbläser übergehen. Zur Episode mit dem Fagottsolo legt er sie als ein harmonisches Pedal auf einen quintlosen c-MollSeptakkord. Dieses Klangband kontrastiert sowohl farblich als auch harmonisch zu den benachbarten Klangkomponenten, zum ostinaten, perkussiv instrumentierten Begleitrhythmus, der in Kleinterzschritten zwischen H-Dur und D-Dur pendelt und zu den arabeskenartigen Fagottlinien, die wie insgesamt die hohen Bläserstimmen chromatisch-atonal gesetzt sind und dabei eine eigene Klangregion besetzen.
11 Orledge, Charles Koechlin, S. 158 und 182. 12 Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5. 13 Vgl. Otfrid Nies, „Charles Koechlin. Der Klangalchimist“, Booklet-Text zur CD Charles Koechlin. La course de printemps. Le buisson ardent, SWR Sinfonieorchester, Heinz Holliger, © hänssler classic 2000, S. 6.
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Notenbeispiel 2: Charles Koechlin, The Seven Stars Symphony, I. Douglas Fairbanks, Partitur, S. 7; © 1969, Paris: Éditions Max Eschig (Leihmaterial)
Die Melodik ist wie die Instrumentation zurückhaltend beim Gebrauch exotistischer Klischees, jener einschlägigen stereotypen Wendungen des musikalischen Orientalismus. Und dasselbe gilt für die Harmonik, die extrem farbenreich und
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differenziert ist, dabei aber nicht auf exotische Skalen zurückgreift, sondern eine auf heptatonisch-diatonischen Skalen basierende Polytonalität entfaltet. Die Quartenakkorde der ersten Takte präsentieren drei heptatonisch-diatonische Klangblöcke (absteigend A-Dur, G-Dur, F-Dur [gleitender Übergang nach Es-Dur]), bevor dann ein komplexer neuntöniger Akkord erklingt, auf dem die Solovioline ihre Arabeske ansetzt (➜ Notenbsp. 3, Audiospot 2). Bei diesem Klang handelt es sich um eine polytonale Mischung aus D-Dur und Es-Dur an den Rändern, ergänzt in der Klangmitte durch einen übermäßigen Dreiklang auf C. Farblich realisiert Koechlin den Akkord als polychrome Spreizung, die die tonale Schichtung akzentuiert. Oben ein Flötenakkord mit der Violine, unten ein Mischklang der Streicher und Hörner, auf dem übermäßigen Dreiklang eine Mischfarbe der Fagotte und Klarinetten, die ebenso wie die tiefe Mischfarbe durch Kombination mit einem gezupften Klang zusätzlich verfremdet wird. Es handelt sich beim Orientalismus von „Douglas Fairbanks“ um einen sublimierten Orientalismus, einen Orientalismus nicht der platten Stereotype, aber doch einen Orientalismus, der sich am Raffinement und dem Reizvoll-Attraktiven des Orientalisch-Anderen berauscht. Die Klangschönheit, die Koechlin mit den Mitteln seiner Musik entfaltet, lässt sich der Schönheit von Licht, Kulissen, Körpern, Kostümen, der Cadrage, kurz der glatten Oberflächenschönheit des Hollywoodfilms gegenüberstellen. Die ästhetische Affinität, die man dabei empfinden kann, beruht wohl weniger darauf, dass Koechlins Musik die bildliche Ästhetik des Films mit musikalischen Mitteln irgendwie imitieren würde. Es wäre eher davon auszugehen, dass Koechlin – ganz im Sinne der romantischen Idee einer gemeinsamen Substanz der Künste – im Bereich von Klang und Zeit etwas Ähnliches macht, wie es der Film im Medium von Licht, Zeit und Bewegung realisiert, wobei die orientalistische Semantik als eine Art Scharnier zwischen zwei unterschiedlichen künstlerischen Medien dient.
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Notenbeispiel 3: Charles Koechlin, The Seven Stars Symphony, I. Douglas Fairbanks, Partitur S. 1–3; © 1969, Paris: Éditions Max Eschig (Leihmaterial)
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Notenbeispiel 3 (Fs.)
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Notenbeispiel 3 (Fs.)
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„E MIL J ANNINGS ( EN
SOUVENIR DE L ’A NGE BLEU )“
Film:
Der blaue Engel (1930)
Regie:
Josef von Sternberg
Darsteller:
Emil Jannings, Marlene Dietrich, Hans Albers u. a.
Originale Musik:
Friedrich Hollaender (Franz Wachsmann, Orchestration)
An Koechlins Musik zum „Blauen Engel“ fällt zunächst ihr Kontrast nicht nur zu „Douglas Fairbanks“, sondern auch zum vorangegangenen Satz „Marlene Dietrich“ auf, den Koechlin selbst als Variationen im Stile Faurés bezeichnet hat.14 Die Komposition bezieht sich diesmal auf eine konkrete Filmszene, nämlich die letzten Minuten des Films, weshalb ich die Situation etwas eingehender schildern möchte. Der blaue Engel ist ein Film, dessen starke Wirkung nicht zuletzt darauf beruht, dass keine seiner Figuren sympathisch ist und zur Identifikation einlädt. Nicht die ebenso autoritäre wie jämmerliche Figur des Prof. Rath, nicht seine mitleidlosen Schüler, am ehesten noch die Varietésängerin Lola Lola. Am Ende erweist auch sie sich aber als kaltblütige Egoistin. Im Finale des Films erfährt Prof. Rath die schlimmstmögliche Demütigung vor dem bürgerlichen Milieu, von dem er in seiner abgebrochenen Berufslaufbahn Geltung als Autorität und Respektsperson verlangte, die ihm allerdings mit dem Rufnamen „Professor Unrat“ gleichzeitig versagt wurde. Auf der Varietébühne muss er sich als Clown Eier auf dem Kopf zerschlagen lassen, während ihn Lola, die er inzwischen geheiratet hat, hinter der Bühne für ihn sichtbar mit einem Gigolo betrügt. Es folgt ein grässlicher, völlig irrer Hahnenschrei von Rath, der dann vor den Augen des geschockten und angewiderten Publikums von der Bühne wankt. Ein Alptraumszenario. Die letzten Momente wechseln zwischen Rath, der sich innerlich und äußerlich vernichtet aus dem Varieté schleicht, und Lola, die mit eiskalter Mine und geöffneten Schenkeln auf dem umgedrehten Stuhl ihr berühmtes Lied „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ singt. Schnitt auf Rath, wie er durch die Kulissen des Varietés taumelt. Erneuter Schnitt auf Lola. Und dann auf den in die Ecke gedrängten Rath. Rath erleidet einen Herzanfall, schleppt sich in die Schule und wird am Ende auf dem Katheder sterben. Die Kamera zieht sich in den letzten Sekunden des Films mit einer Rückwärtsfahrt quasi auf leisen Füßen vom toten Körper zurück. Wie
14 Vgl. das Booklet zur CD-Einspielung mit James Judd und dem Deutschen SymphonieOrchester Berlin, © 1996 BMG Classics, S. 16.
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Siegfried Kracauer bemerkte „zärtlich und sachte wie zu einem letzten Abschied“,15 mit einer respektvollen Geste, die dem ansonsten „sadistischen“16 und zynischen Film einen einigermaßen versöhnlichen Ausklang gibt. Koechlins Musik war ursprünglich als eine choralartige Coda, eine Art Requiem für Prof. Raths einsamen Tod in der Schule geplant.17 Nachdem sein Formgefühl ihm – vor dem Hintergrund seiner Erinnerungen an das Filmerlebnis – allerdings gesagt hatte, dass der Beginn dieses Chorals nicht anders als schrecklich dissonant klingen dürfe,18 entstand eine Musik, die formal deutlich an die letzten Momente des Films angelehnt zu sein scheint (und dies, obwohl Koechlin den Film nur drei Mal sah)19. Eine Musik, die die Transformation und Verlangsamung des Filmschlusses von der grausamen Peripetie bis zum einsamen Ende des Prof. Rath subtil und feinfühlig nachvollzieht, zwar ohne sekundengenau an Schnitten und Gesten entlang zu komponieren, aber doch in groben Schritten ziemlich genau der Schlusssequenz des Films entsprechend. Wie diese gliedert sich der Symphoniesatz in vier Abschnitte: 1. Im Blauen Engel. Lola und Rath, der sich entsetzt abwendet. 2. Rath, der durch die in der Winternacht erstarrte menschenleere Hafenstadt zur Schule taumelt. 3. In der dunklen Schule, Lichtkegel ertasten den Weg zum Klassenraum. 4. Der Hausmeister beim toten Rath, der sich in Totenstarre an den Katheder krallt, Rückwärtsfahrt der Kamera. Die Musik lässt sich den Abschnitten der Filmsequenz aus mehreren Gründen recht eindeutig zuordnen. Einmal bediente sich Koechlin hier wie auch in anderen Sätzen der Symphonie einer Chiffrierungstechnik, die die Namen der Stars alphabetisch buchstabierend den Tönen a bis h zuordnet (die restlichen Buchstaben des Alphabets per Rotation denselben 8 Tönen). Zu Beginn erklingen so die Themen „Marlene Dietrich“ und „Lola“, bei Zif. 2 „Emil Jannings“ usw. Koechlin war froh, auf das Verfahren gekommen zu sein, das ihm thematisches Material lieferte, mit dem er arbeiten konnte, das zudem unvorhergesehene musikalische Qualitäten
15 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt am Main 1984, S. 227. 16 Vgl. Kracauers Kritik in der Neuen Rundschau aus dem Jahr 1930, zit. nach Kracauer, Von Caligari zu Hitler, S. 420. 17 Orledge, Charles Koechlin, S. 158. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 173. Darius Milhaud erinnerte sich daran, wie Koechlin das Kino mit Notizbuch und Stoppuhr besuchte, um Orientierungspunkte für die Komposition zu besitzen (ebd., S. 160 f.). In seiner autobiographischen Skizze schreibt Koechlin selbst, dass seine ‚Filmkompositionen‘ entweder mit Film oder auch anders aufgeführt werden könnten. Vgl. ebd., S. 312.
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mit sich brachte. So endet der Name „Dietrich“ zufällig, aber künstlerisch brauchbar mit dem B-A-C-H-Motiv. Koechlin gliedert den Satz daneben aber auch durch eine große musikalische Transformation in mehreren Schritten, die grob der Abfolge des Filmschlusses korrespondiert. Am Beginn des Satzes bindet Koechlin die diatonischen Themen in einen atonalen Kontrapunkt ein, der sich mit einer kompakten, opaken Instrumentation zu einem grellen und verzerrten musikalischen Höhepunkt beim Erscheinen des Lola-Motivs steigert (➜ Notenbsp. 4, Audiospot 3). Nach den Abschnitten „Dietrich/Lola“ und „Jannings“ folgt eine Passage der Klangtrennung und Ausdünnung bis zur archaischen Zweistimmigkeit, in der die Themen in wechselnden Kombinationen, Umkehrungen und intervallischen Spreizungen auftreten. Dem Ende in der Schule entspricht schließlich ein gänzlich anders gestalteter Epilog, eine Art Threnodie des Streicherchors mit solistischen Bläserfarben, in der die aus den Namen abgeleiteten Themen fehlen und in der die zuvor dominierende Atonalität schließlich einem beruhigenden Schluss in Des-Dur weicht (➜ Notenbsp. 5, Audiospot 4). Koechlin macht an dieser Stelle mit musikalischen Mitteln das, was der Film visuell mit der zärtlichen Kamerafahrt macht. Entspricht dies jener Affinität zwischen Musik und Bild, die sich auch beim Dieb von Bagdad beobachten ließ, so fällt andererseits auf, dass Friedrich Hollaenders Originalmusik für Koechlins Komposition überhaupt keine Rolle spielt. Es gibt keine musikalische Schnittmenge wie bei „Douglas Fairbanks“, dafür aber eine überraschende Kongruenz von Bewegungsbild und Klangverlauf.20
20 Diese erstaunliche Kongruenz wird deutlich, wenn man – im Sinne der Aktualisierung einer damals (und bislang) nicht realisierten Möglichkeit – Musik und Filmspur übereinanderlegt. Für einen Versuch siehe http://www.youtube.com/watch?v=yITcYgqno 0Y (aufgerufen am 24.10.2014).
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Notenbeispiel 4: Charles Koechlin, The Seven Stars Symphony, VI. Emil Jannings, Zif. 1: Lola-Motiv, Partitur, S. 3; © 1969, Paris: Éditions Max Eschig (Leihmaterial)
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Notenbeispiel 5: Charles Koechlin, The Seven Stars Symphony, VI. Emil Jannings, um Zif. 6: Beginn des Des-Dur-Streicherepilogs, Partitur, S. 9 © 1969, Paris: Éditions Max Eschig (Leihmaterial)
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Für die Frage nach dem Verhältnis von Klang und Semantik ist es instruktiv, sich den originalen Soundtrack des Filmschlusses anzusehen. Mit dem Betreten der Schule setzt zum ersten Mal auf der gesamten originalen Tonspur extradiegetische Musik ein, nachdem sich die Musik zuvor auf die diegetische Musik im Varieté oder das Glockenspiel mit dem leitmotivisch eingesetzten Volkslied „Übʼ immer Treu und Redlichkeit“ beschränkte. Nach Lolas Lied sieht man am Ende allerdings zunächst einen Stummfilm, dessen Stille nur durch ferne Sirenenklänge vom Hafen und das Läuten der Türglocke unterbrochen wird. Die extradiegetische Musik setzt dann mit einem simplen orchestralen Spannungsaufbau ein, der aus einem der thematischen Kataloge stammen könnte. Schließlich erklingt eine letzte Reprise des „Übʼ immer Treu und Redlichkeit“ in Glocken, Harfen und Geigen. Der Effekt ist der von bewusst eingesetztem Kitsch. Wo Koechlins Musik sich unverkennbar empathisch zum tragischen Ende des Professors verhält, verbleibt der originale Soundtrack in jener Position zynischer Distanz, die den gesamten Film auszeichnet. Am Schluss läutet nüchtern und unerbittlich die Turmuhr. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Geräusche und die Musik im tatsächlichen Film semantisch lesbar, das heißt relativ eindeutig sind – zu den Harfen- und Glockenklängen von Hollaenders Musik sieht man Prof. Rath gewissermaßen mit Flügeln auf einer Wolke sitzen. Eine derart eindeutige Lesbarkeit ist bei Koechlins Musik nicht ohne weiteres gegeben. Auch Koechlins Musik zu „Emil Jannings“ bedient sich zwar zeichenartiger Elemente, nicht nur bei der Chiffrierung durch Tonbuchstaben. Ähnlich wie bei „Douglas Fairbanks“ handelt es sich jedoch um mehrfach lesbare Signifikanten. Die atonale Schreibweise und Klanglichkeit mag zusammen mit dem kontrapunktischen Satzgefüge nicht nur auf den Filmplot, sondern immanent musikalisch auf deutsche Traditionen (von Bach bis Schönberg) verweisen, ähnlich wie der Orientalismus von „Douglas Fairbanks“ auf die Traditionen des musikalischen Orientalismus verweist. Am Ende konfrontiert Koechlins Musik in ihrer Differenziertheit und Fülle den Hörer aber auch mit dem Klang und der musikalischen Form als solchen. Was die Filmspur und Koechlins Komposition zu Kunst macht, ist nicht allein die Semantik, sondern der Sinn der visuellen bzw. musikalischen Form, die sich aus dem Arrangement von Licht und Schatten bzw. unterschiedlichen Klängen und musikalischen Strukturen ergibt. Koechlins Musik ist im Unterschied zum Soundtrack des Blauen Engel ästhetisch autonom, sie kann ohne Filmbild bestehen. Dass sie sich als autonome dem Bild allerdings gut anpasst, lässt ahnen, was möglich gewesen wäre, wenn Koechlin als
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Komponist direkt an ambitionierten Filmproduktionen wie dem Blauen Engel beteiligt gewesen wäre.21
21 Wie flexibel die musikalische Semantik der Seven Stars’ Symphony ist, unterstrich Koechlin selbst, als er die Symphonie 1947 zu einem Ballett Voyages – film dansé (getanzter Film) umarbeitete, bei dem fünf der vorhandenen Sätze mit neu komponierten atonal-zwölftönigen Interludien versehen wurden. Der Filmbezug blieb hierbei interessanterweise bestehen, die infrage kommende Semantik verschob sich hingegen ins Allgemeine. Aus „Douglas Fairbanks“ wurde der Satz „Islam“, aus „Lilian Harvey“ wurde „Île de France“, aus „Greta Garbo“ wurde „Norvège“. „Emil Jannings“ hat Koechlin dabei weggelassen – möglicherweise (und abgesehen davon, dass die Verneigung vor einem Star des NS-Kinos in Frankreich nach 1945 problematisch geworden war …), weil sich das düstere Szenario des Blauen Engel schlecht in das eher touristische Konzept einer Folge von Reiseimpressionen einfügen ließ, vielleicht aber auch deshalb, weil etwas von der musikalischen Substanz von „Emil Jannings“ und von der Funktion des Stücks innerhalb des symphonischen Zyklus in die neuen atonalen Interludien eingegangen und der Satz dadurch verzichtbar erschien.
Klang und Kritik in der Musik der 1920er Jahre F RIEDRICH G EIGER
Von ‚der‘ Musik der 1920er Jahre zu sprechen, zeugt – wenn man es positiv ausdrücken will – von einem gewissen Mut zur Pauschalisierung. Kaum eine andere Epoche der Musikgeschichte entwickelte international einen derartigen Pluralismus an Stilen, Konzepten und Erscheinungsformen wie die Phase nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der 1930er Jahre.1 Kaum besser konturiert erscheinen die beiden anderen Begriffe im Titel meines Beitrags, nämlich ‚Klang‘ und ‚Kritik‘. Die wissenschaftliche Untersuchung des Parameters ‚Klang‘ gewinnt erst seit einiger Zeit an Fahrt.2 Und die Frage, wie ein kritisches Komponieren oder komponierte Kritik aussehen könnte, wurde zwar aus verschiedenen Perspektiven exemplarisch untersucht, kaum aber in einer Weise beantwortet, die sich über den jeweiligen Einzelfall hinaus verallgemeinern ließe.3
1
Vgl. im Überblick die ersten beiden Bände der Reihe Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, welche die Zeiträume 1900−1925 (Laaber 2005, hg. von Siegfried Mauser und Matthias Schmidt) und von 1925−1945 (Laaber 2006, hg. von Albrecht Riethmüller) abdecken.
2
Vgl. neuerdings etwa Christian Utz, „Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation“, in: Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel 2016, S. 35–53, sowie die dort genannte Literatur.
3
Vgl. beispielsweise die einzelnen Beiträge in dem von Claus-Steffen Mahnkopf edierten Sammelband Critical Composition Today, Hofheim 2006 (= New Music and Aesthetics in the 21st Century, vol. 5), insbesondere den um eine Definition des Begriffs bemühten Aufsatz des Herausgebers „What Does ‚Critical Composition‘ Mean?“ (ebd., S. 75–87).
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Das vermessene Unterfangen, drei so komplexe Felder in einem recht knappen Beitrag zusammenzubringen, lässt sich vielleicht jedoch dadurch rechtfertigen, dass ich mich strikt auf die Schnittmenge dieser Felder beschränke. Die folgenden Beobachtungen erheben also weder den Anspruch, sämtliche Spielarten möglicher komponierter Kritik zu erfassen, noch jenen, für sämtliche Musik der 1920er Jahre zu gelten oder gar eine Typologie von deren Klangwelt zu entwerfen. Stattdessen setzen meine Ausführungen pragmatisch bei dem auffälligen, jedoch bislang eher en passant konstatierten Faktum an, dass die typische „Wendung gegen das 19. Jahrhundert“, die viele junge Komponisten nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen, sich wesentlich auf dem Feld des Klanges4 und wesentlich in einem Modus abspielte, den ich an anderer Stelle als „kritischen Humor“ bezeichnet habe.5 Der Komponist Berthold Goldschmidt, der Anfang der 1920er Jahre in der Berliner Meisterklasse von Franz Schreker studierte, berichtete rund sechzig Jahre später in einem Interview über eine Begebenheit aus dem Unterricht. „Einmal“, so Goldschmidt, zeigte Schreker „auf eine Stelle in einer seiner Partituren und sagte: ‚Hier spielt die Trompete zusammen mit einer Klarinette. Das klingt wunderbar!‘, worauf Jascha Horenstein sagte: ‚Warum soll das nicht wunderbar klingen?‘ Das hatte Schreker gar nicht gern. Es war Stille, und dann sagte er zu Jascha: ‚Gehen Sie an die Tafel!‘“, wo er Horenstein ein kompliziertes Fugenthema entwickeln ließ.6 Die Anekdote illustriert, wie leicht sich der Konflikt der um 1900 geborenen Komponisten mit der älteren Generation am Faktor Klang entzünden konnte. Die Koppelung einer Trompete mit einer Klarinette, für Schreker noch ein exquisiter sensualistischer Kunstgriff, stellte für einen zwanzig Jahre jüngeren Komponisten wie Horenstein längst eine selbstverständliche, wenn nicht sogar abgegriffene Option dar, die zu sarkastischem Kommentar reizte. Musikgeschichtliche Phasen und
4
Für Hindemith etwa zeigt dies Rudolf Stephan, „Komponieren um 1920“, in: Hindemith-Jahrbuch 21, 1992, S. 10–25.
5
Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel [u. a.] 2004, S. 62–72. Unter den Sammelbegriff „kritischer Humor“, so mein Vorschlag dort, seien „sämtliche persiflierenden Kompositionsweisen wie musikalische Satire, Ironie, Groteske oder Parodie zu subsumieren, deren Zweck in der Bloßstellung des Persiflierten liegt“ (ebd., S. 67).
6
Berthold Goldschmidt. Komponist und Dirigent. Ein Musiker-Leben zwischen Hamburg, Berlin und London, hg. von Peter Petersen und der Arbeitsgruppe Exilmusik […], zweite, korr. und erw. Auflage, Hamburg 2003, S. 33.
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bestimmte Œuvres besitzen ihre typischen Klangsignaturen,7 die sie sofort erkennbar machen, aber aus demselben Grund – weil sie sehr deutlich mit Zeit- oder Personalstilen assoziiert werden − auch rascher veralten als Harmonik, Melodik oder Rhythmik. Bemerkenswert ist indessen, dass dieser Wandel der Klangsignaturen sich in der Musikgeschichte bis zum Ersten Weltkrieg im Wesentlichen ganz selbstverständlich ereignete. Doch für die selbstreflexive Tendenz der Musikmoderne in der Zwischenkriegszeit ist es charakteristisch, dass sie die Wendung gegen das 19. Jahrhundert nicht einfach vollzog. Sie machte sie vielmehr oft auf eine ironische, satirische, groteske oder parodistische Weise explizit, die sich mit den überkommenen ästhetischen Autoritäten kritisch auseinandersetzte. Und sie tat das nicht allein verbal, sondern zu einem wesentlichen Teil in der Musik und mit der Musik selbst. Das möchte ich im Folgenden anhand je einer Komposition von Erwin Schulhoff und Paul Hindemith verdeutlichen.
I. Der niederländische Dadaist Theo van Doesburg vertrat 1923 mit Nachdruck die Ansicht, dass das „‚sich-ernst-nehmen‘ der größte Fehler der [letzten] Künstlergeneration ist. Man hat Musik gemacht, bei der man mit dem Kopf in der Hand ‚nachsann‘ über das Leid der Welt […]. Die Musik unserer Zeit ist die der Selbstironie: die Musik, zu der man tanzt und lacht.“8 Die Ästhetik einer „Musik, zu der man tanzt und lacht“, verfolgte am konsequentesten unter den Komponisten Erwin Schulhoff. Während seiner Zeit in Dresden, Saarbrücken und Berlin in den Jahren 1919 bis 1923 schrieb er eine Reihe von Werken, die diese Ästhetik programmatisch ausprägen, darunter auch einen vierhändigen Klavierzyklus namens Ironien.9 Schulhoffs Komponieren verflocht sich mit intensiven Reflexionen, die sich in einer Reihe produktionsästhetischer Texte niedergeschlagen haben. Im Zentrum dieser Texte steht die dezidiert antiromantische Überzeugung, dass Musik – wie Schulhoff Anfang 1920 in unveröffentlichten Aufzeichnungen festhielt – „niemals
7
Vgl. hierzu Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“ (= Wagner in der Diskussion 2), Würzburg 2006, S. 99–106.
8
Zit. nach Jeanpaul Goergen, „Dada. Musik der Ironie und der Provokation“, in: Neue Zeitschrift für Musik 155 (1994), Heft 3, S. 4–13, hier S. 10.
9
Siehe zu diesem Zyklus Gottfried Eberle, Der Vielsprachige: Erwin Schulhoff und seine Klaviermusik, Saarbrücken 2010, S. 104–110.
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Philosophie“ sein könne, sondern „in erster Linie durch Rhythmus körperliches Wohlbehagen, ja sogar Ekstase erzeugen“ solle.10 Während also der Rhythmus in den Vordergrund zu rücken habe, macht Schulhoff die Fixierung auf den Klangreiz als Paradigma einer sterbenden Epoche aus, einer Epoche, die „mit falschem Pathos die Dinge idealisiert“ habe. Die Musik sei gegenüber den anderen Künsten hoffnungslos zurückgeblieben, „weil hier nicht mehr Rhythmus, sondern Klang Mittel zum Zweck wurde“. Dies habe auch zu einer Entfremdung vom Publikum geführt, weil die Musik keine „geil-rhythmisch-aufpeitschende Gewalt mehr besitzt, sondern nur ‚Klangbrei‘ ist bis zur lächerlichsten Decadenz, […] warum wird der Rhythmus gänzlich beiseite geschoben?“11 Schulhoff beklagt die „Verwendung der ‚großen Geste‘ als Betäubungsmittel (Instrumentation, von Berlioz angefangen über Wagner zu Richard Strauß und Epigonen)“.12 Einige Jahre später, Anfang 1924, erläuterte Schulhoff demgegenüber sein Konzept eines Klanges, der durch den Rhythmus vitalisiert wird und auf diese Weise gewissermaßen Körperlichkeit gewinnt. Provokanterweise orientierte sich Schulhoff dabei zum einen am Jazz − zum anderen an der Wirtshausmusik, in der man, so der Komponist, „alle instrumentalen Raffinessen“ finden könne, „den reizvollsten Kammerstil, welcher jedem produktiven Musiker unerschöpfliche Quelle sein kann […]. Was bedeuten da alle durch aufgedonnerte Schönheit gewaltsam herbeigezerrten sentimentalen Anwandlungen gegen diesen rhythmischen Einklang in seiner religiösen Primitivität?! Radau schafft Stimmung, ist gewaltige Lebensintensität.“ Daher spricht sich Schulhoff in einer Passage, die sich wie ein direkter Kommentar zu Schrekers Unterricht liest, auch für möglichst großzügigen Einsatz des Schlagzeugs aus: „Was ist Musik ohne Schlagzeug? Gott schuf zuerst das Schlagzeug und dann die Musik! Jeder durch ein Instrument erzeugte Ton [also die klangliche Dimension, FG] gewinnt durch Schlagzeug an Lebendigkeit (Farbe) und Präzision (Rhythmik). Große Trommel (Baß) und Militärtrommel (Mittellage) sowie Becken (Dämpfung) sind genügend lebensfähige Faktoren, um für zwei hohe Instrumente (Trompete und Klarinette [!]) rhythmische Massenwirkungen zu erzeugen. […] Akademien – schicket doch einmal eure Kompositionsschüler in
10 „Revolution und Musik“ [1920], in: Erwin Schulhoff, Schriften, hg. und komm. von Tobias Widmaier, Hamburg 1995, S. 11–15, hier S. 13 (zur Datierung dieses Textes siehe den Kommentar des Herausgebers, ebd., S. 106). 11 Ebd., S. 12. 12 Ebd., S. 13.
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Vorstadtkneipen, damit diese von volkstümlicher Biermusik lernen, mit einfachen Mittelchen lebendige Ideen klingend zu instrumentieren. Aller Ernst ist Verblödung, Heiterkeit 13
ist aber die Quintessenz des Ernstes“.
Diese Postulate setzte Schulhoff in mehreren Werken um. Unter diesen sticht eine Komposition heraus, die als exaktes Analogon seines produktionsästhetischen Programms im Medium der Musik verblüfft − nämlich das Konzert für Klavier und kleines Orchester op. 43, entstanden im Sommer 1923,14 mithin ein halbes Jahr vor dem soeben zitierten Text. Das rund 20 Minuten lange Werk ist nicht explizit unterteilt,15 doch scheinen erkennbar die traditionellen drei Konzertsätze durch. Vor allem jedoch nimmt man eine Gliederung in insgesamt acht Abschnitte wahr (➜ Tab. 1): Tabelle 1: Erwin Schulhoff, Konzert für Klavier und kleines Orchester op. 43 (1923), Formübersicht ‚Satz‘
Abschnitt
Takt
Geschehen
I
1
1
Klangfläche I (ab T. 25 allmählich überleitend)
2
52
Klangfläche II („Misterioso“)
3
90
„Alla marcia maestoso“
4
1
„Sostenuto“ – Kadenz
5
89
„Molto sostenuto e astrattamente“
6
115
„Allegro alla Jazz“
7
281
„Alla zingaresca“ („Subito sostenuto, ma alla breve“)
8
371
„Tempo I“
II
(Klangfläche plus verhaltenes Schlagzeug) III
13 Erwin Schulhoff, „Manifest zur Wirtshausmusik“ [1924], in: ebd., S. 19 f. 14 Datierung nach Michael Rische, „‚Kunst ist: Kunst nicht zur Kunst zur machen!‘ Anmerkungen zu Erwin Schulhoffs Konzert für Klavier und kleines Orchester“, in: „Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken“. Die Referate des Erwin Schulhoff-Kolloquiums in Düsseldorf im März 1994, hg. von Tobias Widmaier, Hamburg 1996, S. 129–132. 15 Ein Klavierauszug von Michael Rische erschien 1998 bei Schott in Mainz (ED 8876). Die Partitur, aus der hier zitiert wird, ist nur als Leihmaterial erhältlich. Ich danke dem Schott-Verlag herzlich für ein Ansichtsexemplar und die Genehmigung zum Abdruck der Notenbeispiele. – Ob die eigentümliche Taktzählung, die trotz der Einsätzigkeit in Abschnitt 4 wieder mit Takt 1 beginnt, authentisch ist, ließ sich leider nicht ermitteln.
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Der erste Abschnitt breitet zunächst über fast dreißig Takte eine statische Klangfläche aus. Über Quartmixturen des Klaviers und Liegeklänge der tiefen Streicher und Holzbläser legen einzelne Blasinstrumente kurze absteigende Floskeln, die das hauptsächliche Motivreservoir für das Stück bilden (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 116). Notenbeispiel 1: Erwin Schulhoff, Konzert für Klavier und kleines Orchester (1923), I, T. 5–7: Klangfläche I; © [o.J.], Mainz: Schott
Diese Textur geht allmählich in eine zweite Klangfläche über, deren Charakter Schulhoff kurz darauf (T. 61) als „Misterioso“ präzisiert. Dieser körperlose Klang wird durch Arpeggien in der Harfe und der rechten Hand des Klaviers bestimmt, die sich mit Tremoli in den geteilten Violinen und Flageolettklänge in den geteilten Celli mischen. Alle Streicher spielen zudem mit Dämpfer. Darüber erscheinen wieder die absteigenden Floskeln (➜ Notenbsp. 2, Audiospot 2). In die „Misterioso“-Klangfläche schiebt sich dann plötzlich eine Episode hinein, die als „Alla marcia maestoso“ bezeichnet ist und klanglich durch Trompetenfanfaren, entsprechendes Schlagwerk und Holzbläser im sehr hohen Register den Topos der Militärmusik aufruft (➜ Notenbsp. 3, Audiospot 3).
16 Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5.
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Notenbeispiel 2: Erwin Schulhoff, Konzert für Klavier und kleines Orchester (1923), I, T. 52–56: Klangfläche II; © [o.J.], Mainz: Schott
Dieser militärischen Intervention folgt ein verhaltener, „Sostenuto“ überschriebener und im unteren Dynamikbereich gehaltener Abschnitt, der in eine Kadenz des Solisten mündet. Nach dieser Kadenz wird im fünften Abschnitt allmählich, zunächst aber im dreifachen Piano noch undeutlich, Schlagzeug vernehmbar − das Klanggeschehen wird zunehmend rhythmisiert. Im sechsten Abschnitt, der den dritten ‚Satz‘ einleitet, bricht sich schließlich der Rhythmus Bahn: Ein „Allegro alla Jazz“ ertönt, in dem Schulhoff alles aufbietet, was an Perkussionsinstrumenten greifbar ist: Pauken, Triangel, Glockenspiel, Xylophon, tiefe Glocken, Becken, Tamburin, Militärtrommel, Rührtrommel, Japanische Trommel, Große Trommel, Ratsche, Sirene und Amboss, dazu einen Lachteufel und verschiedene Accessoires wie Kuhglocken oder Autohupen.
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Notenbeispiel 3: Erwin Schulhoff, Konzert für Klavier und kleines Orchester (1923), I, T. 89–92; © [o.J.], Mainz: Schott
Zieht man nun die zitierten Äußerungen des Komponisten heran, so lässt die Dramaturgie des Konzerts eine programmatische Absicht erkennen, die geradezu an Louis Spohrs Historische Symphonie op. 116 erinnert. Ganz offenkundig geht es Schulhoff darum, verschiedene musikgeschichtliche Stadien voneinander abzuheben. Denn die ersten beiden Abschnitte breiten prototypisch genau jene impressionistischen, rhythmisch kaum konturierten Klangtexturen aus, gegen die sich Schulhoff in seinen Texten so vehement wendet. Sie sind demnach offenkundig
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nicht ernst gemeint, sondern als Persiflage aufzufassen. Die militärische Musik sodann, die diese Art klangorientierter Komposition unterbricht, dürfte im Jahr 1923 als klingende Chiffre für den Ersten Weltkrieg kaum misszuverstehen gewesen sein − zumal bei einemKomponisten wie Schulhoff, der durch seine traumatische Soldatenzeit zu einem bedingungslosen Pazifisten wurde. Der Militärmarsch markiert demnach zugleich ein konkretes Datum, so dass die klangorientierte Musik davor offenkundig jenen Stil repräsentiert, der vor dem Ersten Weltkrieg dominierte. Zu Schulhoffs weiterem Gedankengang passt ferner genau, dass nach einer kurzen, kraftlosen „Sostenuto“-Episode der Musik durch ein „Allegro alla Jazz“ neues Leben eingehaucht wird. Das motivische Material, das sich zuvor noch im Klang gleichsam auflöste, erscheint nun mit Hilfe des Schlagzeugs rhythmisch vitalisiert − ganz so, wie es Schulhoff für seine Gegenwart und die zukünftige Musik vorschwebte. Somit präsentiert sich das Konzert für Klavier und kleines Orchester als sarkastisch auskomponierte Kritik an einer klangseligen, aus Schulhoffs Sicht überlebten Ästhetik.
II. Als prägnantes Beispiel für die satirische Bezugnahme auf den persönlichen Stil eines bestimmten Komponisten kann ein erst kürzlich rekonstruiertes Werk von Paul Hindemith dienen, das „vermutlich im Sommer 1924“ entstand.17 Den Kollegen, den Hindemith aufs Korn nimmt, nennt er gleich im Titel: Unheimliche Aufforderung. Lied mit grosser Orchesterbegleitung im Stile Richard Strauss’. Text aus einer Imkerzeitung. Der Haupttitel „Unheimliche Aufforderung“ spielt dabei unmissverständlich auf das dritte der Vier Lieder aus Strauss’ op. 27, „Heimliche Aufforderung“ an – allerdings nur auf die Überschrift, denn dabei handelt sich nicht um ein Orchesterlied, sondern ein Klavierlied, das Strauss erst kurz vor seinem Tod, also weit nach Hindemiths Stilkopie, orchestrierte.18 Die „unheimliche Aufforderung“, die der Text von Hindemiths Lied ausspricht, entnahm der Komponist einer Imkerzeitung namens Die Biene und ihre Zucht, die in holprigen Reimen zu einer Fachtagung in die südwestdeutsche Baar-Hochebene einlud:19
17 Rüdiger Jennert im Vorwort zu der von ihm edierten Ausgabe (Schott: Mainz [u. a.] 2012, ED 21283). 18 Daten nach dem Richard-Strauss-Werkverzeichnis von Franz Trenner, 2., überarb. Aufl., Wien 1999. 19 Der Text wird hier nach der genannten Partiturausgabe wiedergegeben.
126 | F RIEDRICH G EIGER Grad just in so schweren Zeiten Wir zur Imkertagung schreiten Und laden alle Imker ein, am Donauquell uns Gast zu sein. Du deutsches Volk bist eingeladen, am Bienenstand dich jung zu baden. Lass das Staatsgefühl der Bienen dir zur Mahnung und Lehre dienen. Seid willkommen in der Baar ein „Grüss Gott“ der Imkerschar.
Bei der Suche nach Referenzpunkten für Hindemiths Anspielungen auf die Strauss’sche Klangwelt braucht man sich nicht auf dessen Orchesterlieder zu beschränken. Zwar bietet sein zeitlich nächstgelegener Zyklus von Liedern mit großem Orchester, die 1921 in Berlin uraufgeführten Drei Hymnen op. 71 auf Gedichte von Friedrich Hölderlin, durchaus Berührungspunkte mit Hindemiths Unheimlicher Aufforderung.20 Doch scheint Hindemith allgemeiner auf den Orchesterstil von Strauss zu verweisen, es sind offenkundig die Opern und Sinfonischen Dichtungen mit gemeint – der Hinweis „im Stile Richard Strauss’“ im Untertitel der Komposition dürfte sich daher grammatikalisch weniger auf das „Lied“ als auf die „grosse Orchesterbegleitung“ beziehen. Denn die Manieren, die Hindemith aufgreift, finden sich auch außerhalb des Strauss’schen Liedschaffens. Gleich der Beginn parodiert Typisches (➜ Notenbsp. 4). Unverkennbar zunächst die über zwei Oktaven stürmisch auffahrende Klanggeste von der Sorte, bei der es – wie Strauss einmal mit Blick auf Don Juan meinte − „auf fünfzig Noten mehr oder weniger“ nicht ankommt.21 Diese Klanggeste mündet in einen dramatisch tremolierenden Akkord, dessen Einsatz wie häufig bei Strauss durch ein Pizzicato in den Bässen geschärft wird. Unter diesen tremolierenden Klängen ertönt in sonorer Tenorlage im Unisono von Violoncello und Viola jener vor allem im Heldenleben prominente Thementypus, der durch raumgreifende Intervallsprünge virile Kraft und Durchsetzungsvermögen zum Ausdruck bringen soll (➜ Notenbsp. 5).
20 Vgl. etwa im zweiten Lied „Rückkehr in die Heimat“ 5 Takte nach Zif. 8 den flirrenden Klang mit Pizzicato-Grundierung im Bass mit Hindemith, T. 2, oder die gedehnte Melodik 5 Takte vor Zif. 22 zu den Worten „Rosenpfad der Liebe“ mit Hindemiths „Staatsgefühl der Bienen“, T. 40 ff. 21 Richard Strauss, Brief an seinen Vater vom 8.11.1889, in: Richard Strauss, Briefe an die Eltern 1802−1906, hg. von Willi Schuh, Zürich 1954, S. 119.
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Notenbeispiel 4: Paul Hindemith, Unheimliche Aufforderung, Erstausgabe, hg. von Rüdiger Jennert (= Edition Schott 21283), T. 1–6; © 2012, Mainz: Schott
Notenbeispiel 5: Richard Strauss, Ein Heldenleben op. 40, T. 15–20, in: Tondichtungen II (= Richard-Strauss-Edition 21), S. 214; © 1999, Wien: Verlag Dr. Richard Strauss
Ironisch gebrochen wird dieser heroische Klangtopos schon allein dadurch, dass sich hier ein Streichquartett zum großen Orchester aufplustert. Hindemith verstärkt diese Brechung zusätzlich durch die Harmonik, indem er die vorgezeichnete Heldentonart Es-Dur nach Moll eintrübt und so einen traurigen Helden vorführt. Auch im weiteren Verlauf des Stückes greift Hindmith zielsicher Merkmale des Strauss’schen Orchestersatzes heraus, beispielsweise das Verfahren, „zwei eigene, vollständige Stimmen sich infolge wiederholter Stimmkreuzungen zu einer dominierenden Gesamtmelodie vereinigen“ zu lassen.22 Hier ein Beispiel aus der
22 Wilfried Gruhn, Die Instrumentation in den Orchesterwerken von Richard Strauss, Mainz 1968, S. 54.
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Alpensinfonie (➜ Notenbsp. 6) und im Vergleich dazu eine von mehreren ähnlichen Stellen bei Hindemith (➜ Notenbsp. 7): Notenbeispiel 6: Richard Strauss, Eine Alpensinfonie op. 64, 3 T. vor Zif. 9, in: Tondichtungen II (= Richard-Strauss-Edition 21), S. 486; © 1999, Wien: Verlag Dr. Richard Strauss
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Notenbeispiel 7: Paul Hindemith, Unheimliche Aufforderung, T. 11–14; © 2012, Mainz: Schott
Ist das klangliche Pathos der Musik schon durch ihre eigenen Mittel bloßgestellt, so wird es mit dem Einsetzen des banalen Textes in Takt 27 vollständig der Lächerlichkeit preisgegeben. Selbstverständlich lässt Hindemith sich auch nicht die Gelegenheit entgehen, die Praxis klangmalerischer Textausdeutung durch das Orchester als einen Strauss’schen Reflex zu karikieren − so etwa, wenn in dem Imkerpoem vom „Donauquell“ die Rede ist (➜ Notenbsp. 8). Notenbeispiel 8: Paul Hindemith, Unheimliche Aufforderung, T. 33–35; © 2012, Mainz: Schott
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Charakteristisch für Strauss’ Orchesterstil ist ferner, dass bei „weitschwingender, blühender Melodik […] vor allem Streicher, Holzbläser und H[ör]n[er] in verschiedenartigen Kombinationen“23 hervortreten und auf diese Weise das Klangbild emotionalisieren. Sarkastisch imitiert Hindemith diese Technik im Streichquartett ausgerechnet bei der Textstelle „Lass das Staatsgefühl der Bienen / dir zur Mahnung und Lehre dienen“ (➜ Notenbsp. 9). Notenbeispiel 9: Paul Hindemith, Unheimliche Aufforderung, T. 40–45; © 2012, Mainz: Schott
23 Ebd., S. 97.
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In Anbetracht des begrenzten Rahmens mögen diese Hinweise genügen, um Hindemiths Verfahren zu illustrieren. Die satirische Absicht wird hier sogleich erkennbar und zudem durch den Paratext herausgestellt. Bei Schulhoffs Konzert hingegen fehlt ein solcher Paratext. Daher blieb nicht nur die zentrale Botschaft des Werkes bislang in der Literatur unbemerkt, sondern es kann aus heutiger Sicht sogar leicht geschehen − wie Kritiken der beiden erhältlichen Einspielungen von 1996 und 2014 zeigen24 −, dass der erste Satz als ernst gemeinte Spätromantik missverstanden und überhört wird, dass sich zu Beginn des Konzerts minutenlang kaum etwas tut außer der Ausbreitung von „Klangbrei“, wie Schulhoff diese Textur nannte. Wenig Unterschied macht es hingegen zwischen den beiden skizzierten Beispielen, dass der eine Komponist auf einen Zeitstil, der andere auf einen Personalstil zielt. Denn erstens klingt das Strauss’sche Idiom auch bei Schulhoff durch (in Klangfläche II, während die erste eher an Debussy orientiert scheint). Und zweitens steht Strauss auch bei Hindemith pars pro toto für eine Epoche, die komponierend als ganze der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Ihre „aufgedonnerte Schönheit“ und das „falsche Pathos“, wie es bei Schulhoff heißt, werden durch kritischen Humor gebrochen und ostentativ verabschiedet.
24 „Schulhoff outet sich im Klavierkonzert als veritabler Impressionist mit träumerischen Klaviergirlanden á la Ravel oder Debussy“ und man höre „die tiefe Erdung auch dieser Komponistengeneration in der deutschen Romantik“, heißt es beispielsweise in einer Rezension, die Rainer Aschemeier über die Aufnahme von 2014 für den Blog The Listener
verfasste
(http://www.incoda.de/listener/artikel/715/die-besondere-cd-erwin-
schulhoff-konzerte, zuletzt abgerufen am 7.10.2016).
Peitsche, Glocke, Holz Semantische Aspekte des Orchesterklangs beim späten Schostakowitsch S TEFAN W EISS
D ER S CHLOSSPLATZ -K OMPLEX : S CHOSTAKOWITSCH UND DIE K LANGFARBEN -I NTONATION Es gibt einige gute Gründe, die für das Fortleben klangsemantischer Traditionen des 19. Jahrhunderts in der Musik von Dmitri Schostakowitsch1 sprechen. Denn schließlich hat der Komponist selbst die Brücken zur Musik der Vergangenheit nie abgebrochen oder gar negiert – seine Poetik knüpft sowohl an die russische Tradition Mussorgskis und Tschaikowskis an als auch an die deutsch-österreichische Sinfonik eines Beethoven oder Mahler. Vor allem aber zeichnet sich seitens der Rezeption eine starke Präferenz dafür ab, Schostakowitschs Schaffen auf eine ähnliche Art mit außermusikalischen Inhalten zu identifizieren wie die Programmmusik der Spätromantik. Dazu hat sowohl der Musikdiskurs des Sozialistischen Realismus mit seinem Primat der Inhaltsbindung beigetragen als auch die vor allem auf westlicher Seite im Gefolge des Kalten Krieges anzutreffende Stilisierung des Komponisten zum Dissidenten im totalitären System, der mit seinen Werken subversive Botschaften aussende. Wer semantisch konnotierten Klängen auf der
1
Russische Eigennamen werden im Fließtext wegen der leichteren Lesbarkeit nach der Duden-Transkription wiedergegeben. Die bibliographischen Angaben in den Fußnoten folgen dagegen der in Bibliothekskatalogen üblichen wissenschaftlichen Transliteration.
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Spur ist, hat also bei Schostakowitsch gute Aussichten, fündig zu werden, muss aber auf einen doppelten Boden gefasst sein: Nicht selten sind für seine Werke zwei oder mehr konkurrierende, bisweilen einander strikt ausschließende Deutungen verbreitet.2 Noch prekärer scheint jede Überlegung über Klangsemantik, wenn man, so wie das im Folgenden geschehen soll, nach werkübergreifenden Konstanten sucht. Denn dass eine Klangidee, die in einem bestimmten Werk semantisch konnotiert ist, bei ihrer Wiederkehr in einer ganz anderen Komposition eine ähnliche oder gar die gleiche Funktion erfüllt, ist ja nicht selbstverständlich. Der Gedanke gewinnt indes an Plausibilität, wenn man den kulturellen Kontext berücksichtigt, in dem Schostakowitsch wirkte. In der sowjetischen Musikanschauung nämlich gehörte diese Vorstellung, die sich in der sogenannten Intonationstheorie kristallisierte, zu den gängigen Konzepten. Im Anschluss an den Musikwissenschaftler Boris Assafjew bezeichnete man als ‚Intonationen‘ bedeutungstragende Einheiten, die, Vokabeln ähnlich, das Verständnis der Musik durch die Rezipienten verbürgen.3 Im russischen und sowjetischen Musikdiskurs hat dieses Konzept deutliche Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in Gestalt einer zuvorderst der Hermeneutik verpflichteten Analysepraxis. Während sich solche Analysen meist auf größere, durch das Zusammenspiel von Melodik und Rhythmik definierte Einheiten wie Thema und Motiv konzentrierten, gestand man auch anderen Parametern, darunter der Klangfarbe, ein Intonationspotential zu. „Da das hauptsächliche Ausdrucksmittel der Musik die Melodik ist,“ schreibt etwa der Musiktheoretiker Arnold Sochor im Artikel „Intonation“ der sowjetischen Musikenzyklopädie, „versteht sich die I[ntonation] größtenteils als kurze einstimmige Tonfolge, als Partikel der Melodie, des Gesangs. In denjenigen Fällen jedoch, in denen bestimmte harmonische, rhythmische und klangfarbliche Elemente verhältnismäßig selbstständige expressive Bedeutung in einem musikalischen Werk erlangen, kann man entsprechend von harmonischen,
2
Vgl. Richard Taruskin, „Public Lies and Unspeakable Truth: Interpreting the Fifth Symphony“, in: ders., Defining Russia Musically. Historical and Hermeneutical Essays, Princeton 1997, S. 511–544.
3
Grundlegend sind Boris Asaf’evs Studien Muzykal’naja forma kak process [Die musikalische Form als Prozess, 1930] und Intonacija [Die Intonation, 1947], in dt. Übersetzung von Ernst Kuhn zugänglich als: Boris Assafjew, Die musikalische Form als Prozess, hg. von Dieter Lehmann und Eberhard Lippold, Berlin [DDR] 1976.
S EMANTISCHE A SPEKTE DES O RCHESTERKLANGS BEIM SPÄTEN S CHOSTAKOWITSCH
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rhythmischen und sogar klangfarblichen Intonationen reden, oder auch von komplexen Intonationen: von melodisch-harmonischen, harmonisch-klangfarblichen usw.“4
Dass es für einen sowjetischen Komponisten wie Schostakowitsch allein aufgrund der vorherrschenden Musikanschauung seines Kulturraums eine naheliegende Möglichkeit war, bestimmte Klänge auch werkübergreifend mit bestimmten Bedeutungen zu identifizieren, ist die theoretische Seite der Medaille. Die dazugehörige praktische ergibt sich aus der näheren analytischen Beschäftigung mit seinem Œuvre und lässt manche offensichtliche klangsemantische Brücke zwischen einzelnen Werken hervortreten. Eine besonders sinnfällige davon sei hier als Beispiel untersucht; sie überspannt zehn Jahre und führt von der 11. Sinfonie (1957) über die Musik zu Lew Arnstams Film Fünf Tage – fünf Nächte (1960) und die Kantate Die Hinrichtung des Stepan Rasin (1964) bis hin zur Musik zu Sofia Perowskaja (1967), einem weiteren Film Arnstams. Alle vier Werke sind durch Überschriften, Bilder oder Texte klar auf fest umrissene historische Situationen bezogen: die Kantate auf die Enthauptung des Rebellenführers Rasin im Moskau des Jahres 1671, der Film Sofia Perowskaja auf den 1881 in St. Petersburg durchgeführten Prozess gegen die Attentäter des Zaren Alexander II., die Sinfonie auf den ‚Petersburger Blutsonntag‘ des Jahres 1905 und der Film Fünf Tage – fünf Nächte auf den Einzug sowjetischer Truppen ins kriegszerstörte Dresden 1945. Was die vier so unterschiedlich historisch konnotierten Werke miteinander verbindet, sind Varianten derselben musikalischen Idee (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 1–3, Videospot 1–2) – eines Klangs, der von leeren Quinten der sordinierten und geteilten Streicher grundiert wird, dynamisch im piano bzw. pianissimo gehalten und über einen Tonraum von mehreren Oktaven gestreckt ist. Darüber entfaltet sich eine Melodik, die bei ruhigem Tempo in Sekundschritten mäandert und dabei die dissonierenden Nachbartöne des grundierenden Quintrahmens betont. Bei einigen Varianten kommen punktuelle Einwürfe der Celesta oder der Harfe hinzu; bisweilen wird ein Pauken- und Trompetensignal als Zäsurelement eingesetzt und der Streicherklang durch Kleinsekundtriller aufgewühlt, ohne dass dabei die piano-Dynamik verlassen würde. Diese Klangidee ist in der 11. Sinfonie, für die sie erfunden wurde, besonders präsent; dort prägt sie den ersten Satz „Der Schlossplatz“ ( Audiospot 1), wird
4
A[rnol’d] N[aumovič] Sochor, Art. „Intonacija“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija, hg. von J[urij] V[sevolodovič] Keldyš, Bd. 2, Moskau 1974, Sp. 550–557, hier Sp. 552.
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Notenbeispiel 1: Dmitri Schostakowitsch, 11. Sinfonie op. 103 „Das Jahr 1905“, 1. Satz, T. 1–7: Der Schlossplatz-Komplex © 1980, Moskau: Muzyka (D[mitrij] Šostakovič, „Simfonija No. 11‚ ‚1905 god‘ soč. 103“, in: ders., Sobranie sočinenij v 42 tomach, Bd. 6, S. 3)
aber auch in den Sätzen 2 und 4 ausgiebig zitiert.5 Dass diese ‚klangfarbliche Intonation‘ als bedeutungstragende Vokabel aufgefasst werden konnte, ist von daher verständlich: Ihre Prägnanz und dramaturgisch wirkungsvolle Verwendung in einer vielbeachteten Sinfonie sicherten ihr einen hohen Wiedererkennungswert; zudem war die semantische Konnotierung durch die Satzüberschrift „Der Schlossplatz“ in einer Sinfonie mit dem Beinamen „Das Jahr 1905“ offensichtlich – jedes Schulkind in der Sowjetunion wusste von dem Gemetzel, das zarentreue Soldaten in jenem Jahr auf dem St. Petersburger Schlossplatz unter demonstrierenden Arbeitern angerichtet hatten. Gleichzeitig aber stellt sich die Frage, wie das Verständnis derselben Vokabel in Werken funktionieren kann, die sich inhaltlich auf andere historische Situationen beziehen. Bei der Erörterung dieser Frage wird die Problematik der Analyse solcher klangsemantischer Brücken deutlich: Im gege-
5
11. Sinfonie, 1. Satz, Anfang sowie Zif. 3, 6, 10, 22 und 25; 2. Satz, Zif. 91; 4. Satz, Zif. 162.
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benen Fall wird sich zeigen, dass – wie im Bereich der Wortsprache – auch klangliche ‚Vokabeln‘ je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen annehmen können, ohne dass deren Verhältnis zueinander gänzlich arbiträr ist. 1960 griff Schostakowitsch diesen Klangzusammenhang, für den sich in der sowjetischen Musikwissenschaft später die Bezeichnung ‚Schlossplatz-Komplex‘ einbürgern sollte,6 erstmals in einem anderen Werk wieder auf. Gleich die Eingangssequenz des Films Fünf Tage – fünf Nächte verwendet eine Variante davon ( Videospot 1), zu Bildern des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadtzentrums von Dresden, während die Stimme des Erzählers aus dem Off über die Vernichtung seines früheren Lebens und die ungewisse Zukunft reflektiert.7 Die Übernahme des Klanges aus der 11. Sinfonie scheint hier, trotz der so unterschiedlichen historischen Situationen, noch durch die Gemeinsamkeit motiviert, dass den Hintergrund der Szenerie in beiden Fällen ein öffentlicher Ort bildet, an dem eine massenhafte Tötung menschlichen Lebens durch eine anonyme Kriegsmaschinerie erfolgt. Doch schon für die nächste Wiederaufnahme der Klangidee, in der Kantate Die Hinrichtung des Stepan Rasin von 1964, erweist sich diese Deutung als zu eng und zu konkret, geht es doch hier um die Vollstreckung eines Todesurteils gegen einen Einzelnen, wenn auch erneut in einem großen städtischen Raum. Mit Varianten des Schlossplatz-Komplexes sind in der Kantate zwei längere deklamierende Passagen des Chores unterlegt: zunächst die Beschreibung der Hinrichtungsstätte, zu der man den Rebellen führt, und schließlich das Entsetzen nach der Enthauptung, als sich komplette Stille über den Roten Platz gesenkt hat, und – wie es im Text heißt – „der Platz etwas verstanden hat, der Platz die Häupter entblößt“ ( Audiospot 2).8 Wenn sich ein tertium comparationis der nunmehr drei Situationen festmachen lässt, dann am ehesten die Stille, die über einem von Unheil befallenen öffentlichen Raum liegt, Symbol einer Fassungslosigkeit, aus der in allen drei Handlungszusammenhängen eine Erkenntnis für die Zukunft erwächst. Marina Sabinina, die in ihrer stark von der Intonationstheorie geprägten
6
Vgl. Levon Akopjan, Dmitrij Šostakovič: opyt fenomenologii tvorčestva [Dmitri Schostakowitsch. Versuch einer Phänomenologie des Werks], St. Petersburg 2004, S. 328.
7
Die bislang unveröffentlichte Partitur zu Fünf Tage – fünf Nächte lag mir nicht vor; die Interpretation konnte sich lediglich auf den Film stützen.
8
D[mitrij] Šostakovič, „Kazn’ Stepana Razina [Die Hinrichtung des Stepan Rasin]“, in: ders., Pesn’ o lesach [und andere Werke] (= Sobranie sočinenij v 42 tomach 29), Moskau 1983, S. 221–346, hier S. 286 ff. (Zif. 33) und 326 ff. (Zif. 52).
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Monographie zu Schostakowitschs Sinfonik bereits 1976 diese drei Beispiele miteinander in Verbindung brachte, fand dafür die Formel der „steinernen Stille“.9 Auf Schostakowitschs letztes Aufgreifen der Klangidee, das sich 1967 in der Filmmusik zu Sofia Perowskaja ereignete, ging Sabinina nicht ein. Wieder steht dort eine Variante des Klangs im Kontext von politisch motivierter Tötung und Hinrichtung, doch diesmal scheinen die Seiten vertauscht. Die Zarenmörder von 1881, zu deren Oberhaupt die Titelheldin des Films avancierte, sind, so sollte man meinen, die positiven Figuren dieses sowjetischen Biopics, und doch erklingt die Musik des Schlossplatz-Komplexes in diesem Film nicht im Umfeld der Hinrichtung der Revolutionäre, sondern unmittelbar nach der Tötung des Zaren: Die zugehörige Einstellung zeigt Sofia, die nach dem Attentat schweigend in die konspirative Wohnung zurückkehrt und sich dort die Hände wäscht ( Videospot 2).10 Diese Tätigkeit war bereits in einer früheren Szene des Films als Leitmotiv herausgestellt worden; dort wäscht sich Sofia die Hände, nachdem sie im Zuge einer karitativen Mission geholfen hatte, in einem abgelegenen Dorf unter erbärmlichen Umständen ein Bauernkind zu entbinden. Bildlich konnotiert das Händewaschen auch im zweiten Fall ihr Bewusstsein, dem Volk gedient zu haben – die vermeintliche Sicherheit aber, das Richtige getan zu haben, wird durch die Musik konterkariert, jedenfalls dann, wenn man die Klangvokabel mit ihren früheren Kontexten in Verbindung bringt. Kann die Tötung eines Menschen – und sei es die des Tyrannen – wirklich der Befreiung des Volkes dienen? Oder bleibt sie nicht eine grauenhafte Tat, selbst wenn sie mit den ‚besten‘ revolutionären Absichten verknüpft ist? Dieser Zwiespalt ist ein Hauptmotiv des Films,11 an dessen künstlerischer Formung auch die Musik an dieser Stelle – im Zusammenspiel mit dem Bild – ihren Anteil hat.
9
Marina Sabinina, Šostakovič – simfonist [Schostakowitsch als Sinfoniker], Moskau 1976, S. 356 (Zitat) und 398.
10 D[mitrij] Šostakovič, „Muzyka k kinofil’mu ‚Sof’ja Perovskaja‘ soč. 132“, in: ders., Muzyka k kinofil’mam (= Sobranie sočinenij v 42 tomach, 42), Moskau 1987, S. 383– 434, hier 433 f. (Nr. 15, ab Zif. 3); die entsprechende Einstellung des Films findet sich etwa bei 1:23:30. 11 So heißt es in dem englischsprachigen Sovexportfilm Catalogue of Soviet Feature Films von 1968 über die Titelheldin: „Her strength lay in the deep consciousness of her duty to the oppressed people. Her weakness was that she did not know and understand the genuine laws of social development, the ways and means of fighting for the happiness of the people.“ Zit. nach John Riley, Dmitri Shostakovich: A Life in Film (= KINOfiles Filmmakers’ Companion 3), London 2005, S. 100 f.
S EMANTISCHE A SPEKTE DES O RCHESTERKLANGS BEIM SPÄTEN S CHOSTAKOWITSCH
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Von einer ‚definitiven‘ Bedeutung der Klangidee auszugehen wäre also verfehlt, vielmehr ergibt sich bei jeder neuen Verwendung eine andere semantische Perspektive auf die ursprünglich so eindeutig scheinende Kontextualisierung. Es erscheint daher für das Verständnis von Schostakowitschs musikalischer Poetik in höchstem Maße lohnend, solchen intertextuellen klangsemantischen Brücken so detailliert und differenziert wie möglich nachzugehen – ein Unterfangen, das allerdings desto schwieriger erscheint, je mehr Varianten des gegebenen Klanges zu berücksichtigen sind. Während der eben beschriebene Klangzusammenhang letztlich auf einer sehr komplexen und wandelbaren Verbindung einzelner Momente beruht, soll daher im Folgenden von viel elementarer strukturierten Klängen ausgegangen werden, im Versuch, die Variablen stark zu reduzieren. Bei den bisher angesprochenen Beispielen machte es die Fülle von Parallelen in den verschiedensten Parametern – in Instrumentarium (Streichergruppe), Dynamik (pianissimo), Melodik (Sekundschritte), Harmonik (Quint-Oktavklang mit exponierten Sekundreibungen zur Melodik) usw. – schwer, deren Zusammengehörigkeit allein auf das Klangliche zurückzuführen. Bei einer solchen – wie Sochor sagen würde – ‚komplexen Intonation‘ sind Zweifel angebracht: Sind es vielleicht doch eher Melodik und Harmonik, die die Intonation semantisch primär profilieren, und nicht der Instrumentalklang? Zwei Fälle aus dem zweiten Satz der 11. Sinfonie (Zif. 69 und 85, Audiospot 3), in denen die beschriebene Klangidee auf die Holzbläser bzw. auf das gesamte Orchester im fortissimo übertragen wird, ohne dass die semantischen Implikationen wesentlich andere zu sein scheinen, sind imstande, diese Zweifel zu nähren.
D ER
NEUE
K LANG
DES
S PÄTWERKS
Aus dieser Skepsis heraus beschränken sich die folgenden Überlegungen auf die deutlich weniger variablen Klänge einiger Schlaginstrumente, die über einen verhältnismäßig engen zeitlichen Zusammenhang hinweg auf ihre semantischen Konnotationen hin untersucht werden sollen. Dass Schostakowitschs Spätwerk, das für die Zwecke dieser Studie als von 1962 bis 1975 reichend begriffen wird, im Kontext seines gesamten Œuvres durch eine erweiterte, veränderte und phantasievolle Verwendung des Schlagzeugs auffällt, hat bisher am ausführlichsten der Komponist und Schostakowitsch-Schüler Edison Denissow beschrieben. Seine 1982 in Moskau erschienene Monographie Die Schlaginstrumente im modernen
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Orchester enthält die bisher einzige, von der Schostakowitsch-Literatur weitgehend unbeachtet gebliebene Auseinandersetzung mit dieser Thematik.12 Denissow, der der Verwendung des Schlagzeugs bei Schostakowitsch ein ganzes Kapitel seines Buches widmet, geht jedoch nur ausnahmsweise und nebenbei auf semantische Fragen ein; sein Hauptinteresse gilt den strukturellen Besonderheiten der Orchestrierung, wobei er die späte Orchestermusik und insbesondere das 2. Violoncellokonzert sowie die beiden letzten Sinfonien hervorhebt. Auch versucht er nicht, die verschiedenen Instrumente für sich zu betrachten, sondern schreitet von Werk zu Werk fort, jeweils den gesamten zum Einsatz kommenden Schlagapparat betrachtend. Dafür, in der vorliegenden Studie nach dem klangsemantischen Potential einzelner Schlaginstrumente in Schostakowitschs Spätwerk zu fragen, sprach neben dem Höreindruck eine statistische Erfassung der Schlagwerkbesetzung sämtlicher in Partitur zugänglicher Orchesterwerke von 1921 bis 1975,13 die zeigte, dass der Komponist in seiner letzten Schaffensphase eine ausgesprochene Vorliebe für drei Instrumente entwickelte, die vorher gar nicht oder lange nicht mehr zum Einsatz gekommen waren. In der Terminologie der Partituren sind dies Frusta, Campane und Legno oder, in deutscher Begrifflichkeit, Peitsche, Röhrenglocken und Holzblock. Tabelle 1 führt alle Orchesterwerke seit 1962 an, in denen mindestens eines dieser drei Schlaginstrumente zur Anwendung kommt – es sind 13 von insgesamt 22 Orchesterpartituren seines Spätwerks. Man könnte über das überraschende und gleichzeitige Aufgreifen der drei Instrumente in der 13. Sinfonie „Babi Jar“ 1962 geradezu den Beginn des Spätwerks definieren. Häufig setzt man die Zäsur ja erst mit den Sieben Gedichten nach Alexander Blok (1967) an,14 u. a. weil dort erstmals
12 Ėdison Denisov, Udarnye instrumenty v sovremennom orkestre [Die Schlaginstrumente im modernen Orchester], Moskau 1982, darin das Kapitel „Udarnye instrumenty v muzyke D. Šostakoviča [Schlaginstrumente in der Musik D. Schostakowitschs]“, S. 153–176. 13 Für Hilfe bei dieser Bestandsaufnahme, der sämtliche Bände der alten Gesamtausgabe (Dmitrij Šostakovič, Sobranie sočinenij v 42 tomach, Moskau 1979–1989) sowie alle bis 2013 vorliegenden Bände der neuen Gesamtausgabe (Dmitrij Šostakovič, Novoe sobranie sočinenij v 150 tomach, Moskau 2000 ff.) zugrundelagen, dankt der Verfasser seiner studentischen Hilfskraft Alana Brandt. 14 Vgl. Sebastian Klemm, Dmitri Schostakowitsch – Das zeitlose Spätwerk (= studia slavica musicologica 20; Schostakowitsch-Studien 4), Berlin 2001, S. 2 f.; Manuel Gervink/Jörn Peter Hiekel (Hg.), Dmitri Schostakowitsch: das Spätwerk und sein zeitgeschichtlicher Kontext, Dresden 2006.
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in Schostakowitschs Œuvre eine Zwölftonfolge thematische Bedeutung erlangt. So überzeugend eine derartige Periodisierung aus Sicht einer Musikgeschichtsschreibung ist, die den Fortschrittsgedanken im Sinne der Wiener Schule zum Wertmaßstab erhebt, so legitim erscheint es, eine Alternative mit klangfarblichen Argumenten zu untermauern. Tabelle 1: Orchesterwerke ab 1962 mit Peitsche, Glocken oder Holzblock Werk
op.
Jahr
P
G
H*
13. Sinfonie „Babi Jar“
113
1962
P
G
H
Katerina Ismailowa
114
1963
–
–
H
Hamlet (Filmmusik)
116
1964
P
–
–
Die Hinrichtung des Stepan Rasin
119
1964
P
G
–
Ein Jahr wie ein Leben (Filmmusik)
120
1965
P
G
–
2. Cellokonzert
126
1966
P
–
H
Sofia Perowskaja (Filmmusik)
132
1967
–
G
–
Boris Tischtschenko: Cellokonzert (Instrumentation)
–
1969
–
G
H
14. Sinfonie
135
1969
P
G
H
Sechs Romanzen (britische Dichter)
140
1971
–
G
–
15. Sinfonie
141
1971
P
–
H
Sechs Gedichte (Marina Zwetajewa)
143a
1974
–
G
–
Michelangelo-Suite
145a
1975
P
G
H
* Die Siglen P, G und H bezeichnen hier und in den folgenden Tabellen das Vorhandensein von Peitsche, Glocken und Holzblock in den jeweiligen Partituren.
Die ‚Neuheit‘ dieser Instrumente für Schostakowitsch ist freilich differenziert zu sehen: Die Peitsche, um damit zu beginnen, verwendet er in der 13. Sinfonie in der Tat zum allerersten Mal. Röhrenglocken fanden bereits zuvor Verwendung, aber nur sehr selten und vor allem mit anderen semantischen Konnotationen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Den Holzblock schließlich hatte er zwar in seinem Frühwerk bis hin zur 4. Sinfonie (1936) recht häufig gebraucht, danach allerdings nur noch in zwei Gelegenheitswerken, der Musik zum Animationsfilm Märchen vom dummen Mäuschen (1939) und der Bühnenmusik zu King Lear
142 | S TEFAN W EISS
(1941), bevor er ihn erst für die 13. Sinfonie wieder hervorholte. Da Schostakowitsch den Holzblock also mehr als zwanzig Jahre nicht eingesetzt hatte, scheint es auch hier gerechtfertigt, von einer ‚neuen‘ Klangfarbe zu sprechen, die er dann, wie Peitsche und Glocke, recht konstant gebraucht. Die Trias zieht sich nämlich in einer vergleichsweise hohen Dichte durch sein orchestrales Spätwerk, wobei, wie aus Tabelle 1 hervorgeht, häufig auch nur eines oder zwei der Instrumente zum Einsatz kommen.15 Die Beobachtung, dass allein zehn der dreizehn in Tabelle 1 genannten Werke außermusikalisch konnotiert sind – entweder als Filmmusik oder als Textvertonungen, zu denen auch die 13. und 14. Sinfonie gehören –, lässt es geboten erscheinen, auch die restlichen späten Orchesterwerke kurz zu streifen, also diejenigen, die ohne Peitsche, Glocke und Holzblock auskommen. Dass es sich hierbei nicht automatisch um die ‚unprogrammatischen‘ handelt, wie man vielleicht vermuten könnte, belegt Tabelle 2, in der ebenfalls die Mehrzahl außermusikalische Konnotationen mitbringt. Tabelle 2: Orchesterwerke ab 1962 ohne Peitsche, Glocke oder Holzblock Werk
op.
Jahr
P
G
H
Mussorgski: Lieder und Tänze des Todes (Instrumen-
–
1962
–
–
–
Ouvertüre auf russische und kirgisische Volksthemen
115
1963
–
–
–
Davidenko: Zwei Chöre (Instrumentation)
124
1963
–
–
–
Schumann: Cellokonzert (Instrumentation)
125
1963
–
–
–
2. Violinkonzert
129
1967
–
–
–
Trauer- und Triumph-Präludium
130
1967
–
–
–
Oktober, Sinfonische Dichtung
131
1967
–
–
–
King Lear (Filmmusik)
137
1970
–
–
–
Marsch der sowjetischen Miliz
139
1970
–
–
–
tation)
15 Wenigstens genannt zu werden verdienen noch zwei andere für Schostakowitsch neue Schlaginstrumente, die ebenfalls zum Klangcharakter des späten Orchesterwerks beitragen, ohne dass sie die Häufigkeit von Peitsche, Glocke und Holz erreichen: Tomtoms und Vibraphon finden sich in jeweils drei bzw. vier Kompositionen dieser Zeit.
S EMANTISCHE A SPEKTE DES O RCHESTERKLANGS BEIM SPÄTEN S CHOSTAKOWITSCH
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An Tabelle 2 fällt zudem auf, dass sie mit Ausnahme des 2. Violinkonzerts und der Filmmusik zu Grigori Kosinzews King Lear keine der sogenannten Hauptwerke der späten Zeit enthält. Drei Kompositionen sind Instrumentationen fremder Werke, die restlichen vier sind Gelegenheitswerke für sozialistische Feierstunden. Auch wenn man diese ‚Patriotica‘, wie Detlef Gojowy derartige Kompositionen nannte,16 nicht in Bausch und Bogen als irrelevant verwerfen sollte, ist auffällig, dass alle diese Gelegenheitswerke auf das neu entdeckte Schlagwerk verzichten. Das mag damit zusammenhängen, dass Schostakowitsch sie pflichtschuldig herunter geschrieben hat, ohne viel Imagination aufzuwenden und auf besondere Präzision der musikalischen Sprache Gewicht zu legen – mit durchschnittlich sechs Minuten Spieldauer bieten die sehr kurzen Stücke zudem dramaturgisch deutlich weniger Platz als die anderen Werke. Entscheidender aber ist vermutlich, dass diese Kompositionen noch für das abgelegenste Provinzorchester der Sowjetunion spielbar sein sollten, wo man mit ausgefallenem Schlagwerk nicht unbedingt rechnen konnte. Selbst in Moskau, so betonte noch 1966 der Schlagzeugsolist des Bolschoi Theaters in der Zeitschrift Sowjetskaja musyka, mussten sich die schlecht ausgestatteten Sinfonieorchester die Röhrenglocken bei Bedarf vom Bolschoi Theater ausleihen.17
T HE F INAL C UT :
DIE
P EITSCHE
IM
S PÄTWERK
Die Peitsche, deren Einsatz in Schostakowitschs Spätwerk aus Tabelle 3 ersichtlich wird, ist ein in ihren Möglichkeiten recht beschränktes Instrument – dynamisch gibt es sie nur im forte oder fortissimo, und auch rhythmisch ist sie aufgrund des verhältnismäßig aufwändigen Bewegungsablaufs nicht eben flexibel. Ebenso eng scheint ihr semantisches Assoziationsfeld: Der deutsche Begriff ‚Peitsche‘ ist die wörtliche Übersetzung der italienischen Bezeichnung ‚frusta‘, die Schostakowitsch ebenso wie die Variante ‚flagello‘ (‚Geißel‘) in seinen Partituren gebraucht. Zur Evokation des Geräuschs dieser Werkzeuge ist das Instrument gebaut: Auch wenn es aus Hartholz besteht, hört man nicht den Klang des Holzblocks, sondern das Knallen der Peitsche – von allen Geräuschen, die mit Gewalt verbunden sind, vielleicht das niederträchtigste. Dass das gehäufte Auftreten des Peitschenklangs beim späten Schostakowitsch in diese Richtung konnotiert zu
16 Detlef Gojowy, Art. „Šostakovič, Dmitrij Dmitrievič“, in: MGG2, Personenteil 15, Kassel u. a. 2006, Sp. 1090–1116, hier Sp. 1108. 17 A[leksej] Ogorodnikov, „Udarnye v sovremennom orkestre [Schlaginstrumente im modernen Orchester]“, in: Sovetskaja muzyka 1966, Heft 6, S. 84–89, hier S. 85, Anm.
144 | S TEFAN W EISS
sein scheint, ist dennoch keine triviale Beobachtung, denn man kann das Instrument auch anders einsetzen. Im Finale von Maurice Ravels G-Dur-Klavierkonzert beispielsweise ruft die Peitsche kaum Assoziationen an Gewalt hervor, weit eher könnte man in diesem heiter bewegten Satz an eine Dressurnummer im Zirkus denken, an einen Peitschenhieb, der nicht das Tier trifft, sondern den Manegenboden, ein Signal aus der Welt des Show Business. Davon ist der späte Schostakowitsch allerdings weit entfernt. Tabelle 3: Orchesterwerke ab 1962 mit Peitsche Werk
op.
Jahr
P
G
H
13. Sinfonie „Babi Jar“
113
1962
P
G
H
Hamlet (Filmmusik)
116
1964
P
–
–
Die Hinrichtung des Stepan Rasin
119
1964
P
G
–
Ein Jahr wie ein Leben (Filmmusik)
120
1965
P
G
–
2. Cellokonzert
126
1966
P
–
H
14. Sinfonie
135
1969
P
G
H
15. Sinfonie
141
1971
P
–
H
Michelangelo-Suite
145a
1975
P
G
H
Nun haben bereits frühere Schostakowitsch-Exegesen die Auseinandersetzung mit bzw. den Protest gegen Gewalt zum dominanten Thema seiner Musik erklärt; erinnert sei nur an das sogenannte ‚Gewaltmotiv‘, das die deutschsprachige Literatur über den Komponisten durchzieht, seitdem Bernd Feuchtner es 1986 in seiner Schostakowitsch-Monographie definiert und zum Leitmotiv für das Gesamtwerk erklärt hat.18 ‚Gewalt‘ ist indes ein weiter Begriff, und wenn es zutreffen sollte, dass er ein allgegenwärtiges Thema in Schostakowitschs Œuvre bezeichnet, dann wäre danach zu fragen, welche Funktion dabei dem Peitschenknallen zukommen könnte, das ja schließlich in den Partituren nicht allgegenwärtig ist. In der Tat legt
18 Bernd Feuchtner, Dimitri Schostakowitsch. „Und Kunst geknebelt von der groben Macht“. Künstlerische Identität und staatliche Repression, Kassel 2002 [erstmals 1986], S. 48 f. sowie 132–147. Während Feuchtners These in der deutschsprachigen Schostakowitsch-Literatur auf Widerhall stieß, spielt sie im internationalen Diskurs so gut wie keine Rolle.
S EMANTISCHE A SPEKTE DES O RCHESTERKLANGS BEIM SPÄTEN S CHOSTAKOWITSCH
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eine Untersuchung aller Peitschen-Stellen des Spätwerks nahe, dem Klang nicht die bloße und etwas allgemeine Konnotation von Gewalt zuzusprechen, sondern diejenige einer zerstörerischen Kraft. Aus instrumentatorischer Perspektive gibt es im Spätwerk zwei Grundformen der Peitschenverwendung. In der einen, in der sie eher eine klangliche Zutat als das Hauptereignis ist, begegnet die Peitsche als Bestandteil einer Reihe von SeccoSchlägen des ganzen Orchesters. Wenn der Rebellenführer Rasin vor seiner Exekution noch erdulden muss, dass der Henkersknecht ihn durch Schläge ins Gesicht demütigt, dann bildet das im Orchesterklang enthaltene Peitschenknallen die im Kantatentext direkt benannte körperliche Gewaltausübung mimetisch ab (➜ Notenbsp. 2, Audiospot 4). Notenbeispiel 2: Dmitri Schostakowitsch, Die Hinrichtung des Stepan Rasin, T. 314–316: Die Peitsche als Bestandteil einer Folge von Orchesterschlägen
Im dritten Satz der 13. Sinfonie dagegen konnotiert dieselbe Klangmischung (vor Zif. 90, Audiospot 5) Gewalt nur in einem übertragenen Sinne. Das in diesem Satz vertonte Gedicht entwirft das Bild der russischen Frauen in ihrer grauen Gegenwart, wie sie beim Einkaufen im Laden geduldig Schlange stehen. Die mit Peitschenklängen versehenen Orchesterschläge reagieren auf das Bild des Verkäufers, der diese Frauen beim Abwiegen betrügt: Schläge ins Gesicht nur als Metapher, eine zerstörerische Kraft, der in diesem Falle das Vertrauen und die Solidarität zwischen den Menschen zum Opfer fallen. Die Peitsche verleiht den Orchesterschlägen, die auch ohne diese Schlagwerkunterstützung von ungeheurer Wucht wären, einen Zug von Niedertracht und Gemeinheit – Sabinina etwa schreibt den Peitschenklängen an dieser Stelle explizit einen „bösen“ Charakter
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zu, der für den harten und grausamen Klang der Passage verantwortlich sei.19 Ganz Ähnliches ließe sich über die Orchesterschläge mit Peitsche am Beginn des Hamlet-Films sagen, die Einstellungen von der Rückkehr des Titelhelden nach Elsinore begleiten: Hamlet hat keine körperliche Gewalt erlitten, doch leitet der Anlass seiner Rückkehr, der Tod des Vaters, einen Erkenntnisprozess ein, der sein bisheriges Weltbild zusammenbrechen lässt. Neben diesen Konstellationen, in denen das Instrument als Teil einer Folge von Orchesterschlägen, als Element einer Klangmischung begegnet, setzt Schostakowitsch den Peitschenknall auch als selbstständiges Ereignis ein, wobei ihm die Konnotation von etwas Finalem, Endgültigem anhaftet. In der 14. Sinfonie beschließt ein einzelner, unvermittelt dem Orchestersatz hinzugefügter Peitschenklang den fünften Satz, „Natscheku“ (deutsch „Auf Wacht Nr. 1“, nach Guillaume Apollinaires Gedicht Les attentives I). Vertont ist die Ansprache einer Frau an einen Soldaten, der am nächsten Morgen in die Schlacht ziehen und darin umkommen wird. Ihre Worte versprechen eine Liebesnacht, doch der Peitschenschlag beendet nicht nur das Lied, sondern gleichsam auch die Nacht und das Leben des Soldaten. Bereits zwischen den zweiten und dritten Satz derselben Sinfonie hatte Schostakowitsch zwei gänzlich unbegleitete Peitschenhiebe als Zäsurelement eingeführt: Wenngleich die beiden Schläge dort, nach ihrer Platzierung in der Partitur zu urteilen, den dritten Satz („Lorelei“) eröffnen, scheinen sie doch weit eher den in diesen attacca übergehenden zweiten („Malagueña“) zu beenden, in dem der Tod als allegorische Figur in der Taverne ein- und ausgeht. In einem scheinbar ‚unprogrammatischen‘ Kontext begegnet diese Art der Peitschenverwendung auch im 2. Violoncellokonzert, wo die Peitsche zweimal ein triviales, aber großspurig auftrumpfendes Thema abzuschneiden versucht. Beim ersten Mal (➜ Notenbsp. 3, Audiospot 6) ist der Peitschenschlag noch nicht endgültig – das Thema beginnt nach Unterbrechung von neuem –, aber der zweite Hieb wenig später sitzt. Nüchtern betrachtet handelt es sich lediglich um Schnitt- oder Montagetechnik, aber durch den Peitschenknall gewinnt das Ganze einen sinistren Charakter. Das an dieser Stelle ebenfalls markant eingesetzte Xylophon, ein etabliertes Symbol des Makabren, tut ein Übriges, ebenso die extrem hoch geführte Piccoloflöte, die andernorts für Sturm, höllisches Lachen usw. steht.
19 Sabinina, Šostakovič – simfonist, S. 377 („pod zlye, chleščuščie udary biča“, „unter den bösen, knallenden Peitschenhieben“).
S EMANTISCHE A SPEKTE DES O RCHESTERKLANGS BEIM SPÄTEN S CHOSTAKOWITSCH
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Notenbeispiel 3: Dmitri Schostakowitsch, 2. Violoncellokonzert, 3. Satz, 3 Takte nach Zif. 100: Die Peitsche als Einzelereignis © 1968, London: Anglo-Soviet Music Press (D. Shostakovich, Cello Concerto No. 2, Opus 126 [Taschenpartitur], S. 111)
148 | S TEFAN W EISS
G EDENKEN UND W AHRHEIT : IM S PÄTWERK
DIE
R ÖHRENGLOCKEN
Tabelle 4: Orchesterwerke ab 1962 mit Röhrenglocken Werk
op.
Jahr
P
G
H
13. Sinfonie „Babi Jar“
113
1962
P
G
H
Die Hinrichtung des Stepan Rasin
119
1964
P
G
–
Ein Jahr wie ein Leben (Filmmusik)
120
1965
P
G
–
Sofia Perowskaja (Filmmusik)
132
1967
–
G
–
Tischtschenko: Cellokonzert (Instrumentation)
–
1969
–
G
H
14. Sinfonie
135
1969
P
G
H
Sechs Romanzen (britische Dichter)
140
1971
–
G
–
Sechs Gedichte (Marina Zwetajewa)
143a
1974
–
G
–
Michelangelo-Suite
145a
1975
P
G
H
Verglichen mit der Peitsche sind die Röhrenglocken in melodischer wie dynamischer Hinsicht wesentlich versatiler, doch bringen sie eine durch die Tradition ähnlich festgefügte Semantik mit. Das bestimmt auch ihre Verwendung in früheren Werken von Schostakowitsch, wo sie meist Religiöses evozieren. Die Musik zum Animationsfilm Das Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda (1934) etwa lässt Glocken nur dann erklingen, wenn die im Film gezeigte Situation solches nahelegt, etwa zum Gottesdienst oder in einer Szene, in der ein Verkäufer auf dem Markt Ikonen anbietet. Auch die Orchesterfassung der Acht Englischen und Amerikanischen Volkslieder (1943), eine der wenigen anderen frühen Partituren, in denen Glocken vorgeschrieben sind, setzt diese nur im letzten Lied ein, „When Johnny Comes Marching Home Again“, und zwar ausschließlich in der zweiten Strophe, in der das Läuten von Kirchenglocken im Text erwähnt wird. In der Coda der 11. Sinfonie (1957) kommt den Glocken schließlich die Funktion eines Alarmgeläuts zu, das mit der dramaturgischen Idee des baldigen Losbrechens der Revolution verbunden ist (ab Zif. 176) – der Finalsatz trägt als Ganzes die Überschrift „Nabat“, „Sturmläuten“. Auch hier evoziert der Klang die reale Kirchenglocke, wenngleich diese sich in den Dienst der Revolution gestellt hat. Im Spätwerk ist die Glocke von illustrativen Funktionen weitgehend befreit und hat dafür symbolische angenommen. Wieder ist es die 13. Sinfonie, die
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Maßstäbe setzt. „Throughout the symphony,“ befand schon 1972 Boris Schwarz in seiner Monographie Music and Musical Life in Soviet Russia 1917–1970, „the chimes play an important, almost symbolic role“.20 Mit dem Glockenton auf dem kleinen b, der am Anfang und am Ende des Werks steht, verknüpft sich dabei offensichtlich die Vorstellung des Memorials, des Gedenkens. „Es steht kein Denkmal über Babij Jar“, lautet die erste Zeile des im Kopfsatz vertonten Gedichts von Jewgeni Jewtuschenko: Die Ermordung von über 33.000 Juden in jener namensgebenden Schlucht bei Kiew war am Anfang der 1960er Jahre noch unerinnert, und es ist Erinnerung und Gedenken, das die Glocke einfordert und gleichzeitig einlöst. Schostakowitschs Biographin Sofia Chentowa vertrat dagegen 1997 in ihrer Studie über die 13. Sinfonie die Auffassung, die Glockenschläge im Kopfsatz stünden für „Totenmesse“ und „grenzenlosen Schmerz“.21 Wiewohl auch diese Deutung affektiv nachvollzogen werden kann, ist sie für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs der Sinfonie wenig hilfreich. Als Leitklang für das Erinnern tritt die Glocke nämlich bereits im ersten Satz auch an anderen Stellen eindrücklich in Erscheinung, besonders vor und nach der Zeile „Ničto vo mne pro ėto ne zabudet!“ („Nichts in mir wird dies jemals vergessen!“, Zif. 26). Aber auch in anderen Sätzen begegnet die Glocke in Memorial-Funktion: im vierten Satz („Ängste“) etwa an einer Stelle, an der an einige ganz konkrete Ängste in der sowjetischen Gesellschaft der Stalinzeit erinnert wird (Zif. 106–112). Im letzten Satz, „Karriere“, kehrt das kleine b der Glocke an der Stelle wieder, an der das Gedicht das Beispiel derjenigen Menschen beschwört, die auf eine herkömmliche Karriere verzichten, aber für ihre Überzeugungen einzustehen und sogar in den Tod zu gehen bereit sind (Zif. 151). Wenn die 13. Sinfonie als Plädoyer für verantwortungsbewusstes, dem eigenen Gewissen verpflichtetes Handeln verstanden werden kann, dann wird mit dem Klang der Glocke sowohl dieses Handeln angemahnt als auch eines tatsächlich in diesem Sinne erfolgten Handelns gedacht. In diesem Gestus zieht sich die Verwendung der Röhrenglocken durch das ganze Spätwerk. Drei Glockenschläge künden in der gleichnamigen Kantate von
20 Boris Schwarz, Music and Musical Life in Soviet Russia 1917–1970, London 1972, S. 367. 21 Sof’ja Chentova, Plamja Bab’ego Jara. Trinadcataja simfonija D. D. Šostakoviča [Die Flamme von Babi Jar. Dmitri Schostakowitschs Dreizehnte Sinfonie], St. Petersburg 1997, S. 64. Chentova scheint dabei eine Beobachtung Sabininas, Šostakovič – simfonist, S. 382, zu erweitern, derzufolge die Glockenschläge die „Atmosphäre einer Totenmesse“ erzeugten.
150 | S TEFAN W EISS
der erfolgten Hinrichtung des Stepan Rasin (Zif. 55), und auch wenn hier die illustrative Funktion der Glocken auf der Hand liegt – der Gesangstext erwähnt ihr dreimaliges Schlagen –, ist das mit dem Klang verbundene aufrüttelnde, mahnende Moment vordringlich: Am abgeschlagenen Kopf des Rebellen lassen sich die Augen nicht schließen, er lacht, für alle sichtbar, über den Zaren und macht damit die historische Richtigkeit seines Tuns sinnfällig. In der Michelangelo-Suite erklingen die Glocken im siebten Satz für den Dichter Dante, dessen ungerechtfertigte Verbannung das Gedicht anklagt, während sie im Schlusssatz dem lyrischen Ich selbst – dem Künstler – „Unsterblichkeit“ künden (Zif. 103, nach den letzten Worten des Zyklus „und des Todes Verwesung rührt mich nicht an“, Audiospot 7). Auch in den Zwetajewa-Liedern erklingen die Glocken im Finale, und wieder gelten sie dem Andenken einer Künstlerin, nämlich demjenigen Anna Achmatowas – wenn es auch hier der Textverweis auf den „kolokol’nyj grad“ (die „Glockenstadt“) gewesen sein mag, der die Auswahl des Instruments beeinflusst hat. Der zweistimmige Satz der Röhrenglocken in dieser Vertonung steht im Spätwerk einzigartig da ( Audiospot 8). Als semantische Kernfunktion der Glocken im Spätwerk kann somit erstens das Gedenken an historische Gestalten und Ereignisse bezeichnet werden, aus denen zweitens Wahrheiten und Lehren für die Gegenwart abzuleiten sind. Glocken setzt Schostakowitsch im Spätwerk aber gelegentlich auch dort ein, wo nur eine dieser beiden Komponenten begegnet. Das Motiv des Totengedenkens führt zum Einsatz der Glocke in den beiden Sätzen „Lorelei“ und „Die Selbstmörderin“ der 14. Sinfonie, übrigens in klarer Analogie zur 13. Sinfonie. So wie es dort zum kleinen b der Glocke hieß, über der Schlucht Babi Jar stehe kein Denkmal, so umrahmen Glockenklänge auf der nämlichen Tonhöhe in der „Selbstmörderin“ Worte, die auf ganz ähnliche Weise die unterbliebene Erinnerung einklagen: „Drei Lilien wachsen auf meinem Grab, auf dem kein Kreuz steht.“ Das andere Einzelmoment, das Benennen von – unterdrückten – Wahrheiten, verbindet sich mit der Glocke in einer späten Instrumentierung des Sonetts 66 von William Shakespeare aus den Sechs Romanzen britischer Dichter. Das bereits 1942 komponierte Sonett beklagt die Falschheit der Welt, die es nach Art einer Litanei Zeile für Zeile bloßlegt. Dass die Kammerorchesterfassung von 1971 jede einzelne dieser Zeilen mit einem Glockenklang einläutet, ist ein spätwerkstypischer Nachgedanke, der weder in der originalen Klavierfassung noch in einer ersten Instrumentation für Sinfonieorchester von 1943 eine Entsprechung hatte. Als unterdrückte Wahrheit mag in sowjetischer Zeit am Schluss des achten Satzes („Das Werk“) der Michelangelo-Suite auch die Erkenntnis verstanden worden sein, dass es ohne göttlichen Beistand schlecht um menschliche Unternehmungen
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| 151
bestellt sei. Die Glockenschläge, die dieser Textpassage folgen, könnten oberflächlich auch bloß als Verweis auf Transzendentes verstanden werden, mithin als ein Rückfall in die eher illustrative Funktion der Glocken in früheren Schaffensperioden. Allein die Vehemenz ihres Erklingens, die an ähnliche Passagen der „Babi Jar“-Sinfonie erinnert, spricht gegen diese bloß auratische Verwendung und legt eine Deutung im Sinne von Mahnung und Wahrheit näher.
U ND EWIG TICKT IM S PÄTWERK
DAS
L EGNO -T RIO :
DER
H OLZBLOCK
Tabelle 5: Orchesterwerke ab 1962 mit Holzblock Werk
op.
Jahr
P
G
H
13. Sinfonie „Babi Jar“
113
1962
P
G
H
Katerina Ismailowa
114
1963
–
–
H
2. Cellokonzert
126
1966
P
–
H
Tischtschenko: Cellokonzert (Instrumentation)
–
1969
–
G
H
14. Sinfonie
135
1969
P
G
H
15. Sinfonie
141
1971
P
–
H
Michelangelo-Suite
145a
1975
P
G
H
Dem Holzblock (➜ Tab. 5) haftet ausdrucksmäßig wiederum wenig oder nichts von jenem Erhabenen an, für das die Glocken sehen: dort tönendes Erz, hier knackender Ast. Es ist, als ob man den Blick wendet von den Großen der Geschichte und ihrem leuchtenden moralischen Vorbild, um unter dem Klang des Holzblocks der armseligen Existenz des Einzelnen in der Gegenwart gewahr zu werden. Entsprechend sind es in der 13. Sinfonie die Frauen im Laden, denen der Holzblock zugeordnet ist – in den anderen vier Sätzen kommt er nicht zum Einsatz. In der Vierzehnten ist er das einzige Schlaginstrument bei der Evokation des Gefangenen im Keller des Pariser Gefängnisses La Santé, der Apollinaire-Vertonung im siebten Satz. „Wie ein Bär trotte ich in dieser Grube hin und her“, heißt es dort, wo Singstimme und Holzblock zusammen klingen ( Audiospot 9). Der Gefangene in der Grube, die Frauen in der Schlange vor der Kasse: Nicht zufällig findet Schostakowitsch für sie den gleichen Instrumentalklang.
152 | S TEFAN W EISS
Der Holzblock prägt im Spätwerk auch einige auffällige Schlussbildungen, als Teil einer Instrumentenkombination, die man als ‚Legno-Trio‘ bezeichnen könnte. Es handelt sich um ein ins Orchester eingebettetes kleines Schlagensemble aus Holzblock und zwei weiteren Instrumenten mit trockenem Klang, deren Stimmen sich zu einer motorischen, prinzipiell als Endlosschleife pulsierenden Struktur verbinden (➜ Notenbsp. 4, Audiospot 10). Das Legno-Trio ist keine Erfindung des Spätwerks, sondern begegnet bereits ein einziges Mal vorher, nämlich in der 4. Sinfonie, in der es den Mittelsatz abschließt. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass die Vierte erst 1961 – ein Jahr vor der Dreizehnten – ihre Uraufführung erlebte, und dass das jahrzehntelang unterdrückte Werk, da die Partitur verschollen war, für diesen Zweck aus den erhaltenen Stimmen rekonstruiert werden musste. Die Neubegegnung mit dieser Komposition nach so vielen Jahren, so ist zu vermuten, hat zu weiteren Einsätzen des Legno-Trios geführt. Im Spätwerk begegnet dieses leise, spielwerkartige Abschnurren eines ostinaten Rhythmus dann noch an drei Stellen: Das 2. Cellokonzert und die 15. Sinfonie klingen mit ihm aus, ferner auch das Scherzo des letztgenannten Werks. Es fällt schwer, bei diesem Klang – gerade wenn er am Schluss eines Werks platziert ist – nicht an das Verstreichen von Zeit zu denken, an ablaufende Uhren und an die ganze Vergänglichkeits-Metaphorik, die sich daran knüpft. Der Holzblock selbst ist in diesem Apparat nur ein Rädchen, und überhaupt ist vielleicht die Bescheidenheit des Instruments das Wesentliche: Am Ende der 15. Sinfonie oder des 2. Cellokonzerts trumpft kein Held auf, es läuten keine Glocken und es schneidet keine Peitsche mit großer Geste den Faden ab; vielmehr spult sich nur noch eine Restbewegung ab, leise tickend und klappernd. Notenbeispiel 4: Dmitri Schostakowitsch, 15. Sinfonie, 4. Satz, 6 T. nach Zif. 151: Das Legno-Trio © 1980, Moskau: Muzyka (D. Šostakovič, Sobranie sočinenij v 42 tomach, Bd. 8, S. 230)
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S CHLUSSSTÜCK Es wäre vermessen, aus diesen Beobachtungen allgemeine Regeln ableiten zu wollen, und entsprechend zielten die vorgestellten Überlegungen weniger auf eine Eindeutigkeit semantischer Zuordnung ab als vielmehr auf die Existenz von Varianten in charakteristischen semantischen Feldern. Insgesamt aber erweist sich das Schlaginstrumentarium, das dem Spätwerk Schostakowitschs gegenüber seinem früheren Schaffen neue Klangfarben verleiht, auch als Trägerin einer neuen Semantik. Wenn es zutrifft, dass der Tod das allgegenwärtige Thema seines Spätwerks ist,22 so trägt das Schlagzeug Wesentliches zur klanglichen Evokation und Differenzierung dieses Themas bei. Selbst Denissow, der sich in seiner Studie einer semantischen Interpretation meist enthält, deutet das Schlagwerk in der 14. Sinfonie als Todessymbol schlechthin: Den Ausschlag hierfür gebe das zunehmende Vorherrschen des trockenen, hohen, scharfen Holztons, während die ‚fluideren‘ Klänge von Tom-tom, Glocken und Vibraphon im Verlauf der Sinfonie nach und nach zurücktreten.23 In der Tat ist es der Holzblock, der im Verbund mit den ebenfalls ‚trockenen‘ Kastagnetten den Klang des Finales dieser Sinfonie prägt, in dem es mit Worten Rainer Maria Rilkes heißt: „Der Tod ist groß […] / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / wagt er zu weinen / mitten in uns.“ Die Zusammenschau semantisch konnotierter Schlagzeugklänge über das ganze Spätwerk hinweg und die Analyse klangsemantischer Brücken zwischen einzelnen Werken machen es dabei möglich, das Verhältnis dieser Klangfarben zu jenem Meta-Thema weiter zu differenzieren. In der Poetik seines Spätwerks scheinen die drei betrachteten Klänge nämlich mit unterschiedlichen Aspekten des ‚Todes‘ zu korrespondieren. Da ist erstens der gewaltsame, verfrühte, wahrhaft furchtbare Tod, nach dem die Peitsche klingt, zweitens der unausweichliche Tod, dem der Mensch in der Tretmühle des Lebens entgegengeht, versinnbildlicht durch den Holzblock und das Legno-Trio. Drittens aber ist da noch jenes, was übrigbleibt nach dem Tod an Gutem und Wahrem – und zu dessen Erinnerung der späte Schostakowitsch sich offenbar berufen fühlte, die Glocke zu schlagen.
22 Vgl. Feuchtner, Schostakowitsch, S. 204 ff.; Klemm, Das zeitlose Spätwerk, S. 301; Jascha Nemtsov, „Um mich kreist der Tod. Šostakovičs Sonate für Violine und Klavier“, in: Osteuropa 56 (2006), Heft 8, S. 93–107; Levon Hakopian, „Zur Symbolik von Zwölftonreihen im Spätwerk Šostakovičs“, in: Gervink/Hiekel (Hg.), Schostakowitsch: das Spätwerk, S. 183–194, insb. 194. 23 Denisov, Udarnye instrumenty, S. 168 f.
The Sound of Gender Überlegungen zur klangsemantischen Konstruktion von Geschlecht im Musiktheater des 20. Jahrhunderts N INA N OESKE
G ENDER
UND
K LANG ( FARBE )?
Ob und inwieweit ästhetische Artikulation mit Gesellschaftlichem korreliert und in welchem Verhältnis beide stehen, ist nach wie vor eine offene Frage; eine Frage, deren Komplexität sich potenziert, wenn berücksichtigt wird, dass Kunst selbst Teil von Gesellschaft ist. Sicher ist, dass die Beziehung zwischen beidem nicht analog ist – wenn, um einen marxistischen Terminus zu verwenden, Widerspiegelung stattfindet, ist diese gebrochen und zugleich meist abstrakter als das ‚reale‘ Vorbild. Gleichzeitig finden in Kunst oftmals Utopien, Gegenentwürfe und Träume Platz, die anders nicht artikuliert werden können; Musik kann überhöhen, kritisieren, parodieren. Hinzu kommt: „[O]hnehin ‚wissen‘ Kunstwerke mehr als ihre Produzenten; oft genug rebellieren sie gegen den Status quo, ohne daß ihre Produzenten je darum wüßten“.1 Anders gesagt: Kunst ist selbst Teil der Wirklichkeit; zugleich steigert sie – auch wenn sie punktuell erhellend wirkt – deren Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Undurchschaubarkeit und wirkt damit auf diese zurück. Im Folgenden sei danach gefragt, auf welche Weise sich Ideen und Konstruktionen der Kategorie Geschlecht im Medium des ‚Klanges‘ – ein Begriff, der
1
Gerd Rienäcker, „Zu einigen Erfahrungsfeldern von Ruth Berghaus“, in: ders., Musiktheater im Experiment. Fünfundzwanzig Aufsätze, Berlin 2004, S. 245–260, hier S. 246.
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streng genommen kaum definierbar ist und zumeist auf die je spezifische Phänomenstruktur von Klangfarben zielt2 – manifestieren. Ausgehend von der Beobachtung, dass Geschlechterrollen und -stereotype insbesondere im 20. Jahrhundert teilweise einem radikalen Wandel unterlagen und notwendigerweise in stetiger Veränderung begriffen waren und sind, liegt zunächst die These nahe, dass sich jener Wandel auch in der Musik, hier: auf dem Gebiet der Klangsemantik bemerkbar macht. Während im Laufe des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa und dessen Einflussbereich die Gender-Stereotype, die sich in vorangegangenen Jahrhunderten herausgebildet haben, verstärkt und gefestigt wurden, findet seit der vorletzten Jahrhundertwende – ungeachtet der zahlreichen, oft erfolgreichen Bemühungen erneuter Restaurationen und Rekonstruktionen von Geschlechterklischees – eine stetige Infragestellung derselben statt: Mit den Rollen wird gespielt, sie werden ironisiert, dekonstruiert, vermischt, ineinander gespiegelt und umgedreht. Dies geschieht auch im Bereich der Künste. Die Probleme, die sich auftun, wenn nach Genderkonstruktionen im Bereich der Instrumentalmusik gefragt wird, sind bekannt:3 Als begriffslose und semantisch offene Kunst ist es beispielsweise problematisch, im Anschluss an Adolph Bernhard Marx vom ‚männlichen‘ oder ‚weiblichen‘ Thema eines Sonatensatzes zu sprechen;4 gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass jene metaphorische Rubrizierung zahlreichen Musikerinnen und Musikern sowie Musikgelehrten männlichen wie weiblichen Geschlechts lange Jahrzehnte, teilweise bis heute, einleuchtete. So unangenehm dies mitunter ist, als so unpassend es angesichts des Bewusstseins der Konstruiertheit solcher Entgegensetzungen heute anmuten mag – Erfahrungsfelder dieser Art sind seitens der Wissenschaft ernst zu nehmen. Diskursanalytisch gefragt: Was wurde von wem, wann, unter welchen Umständen und unter welchen Machtkonstellationen in der Musik als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ klassifiziert? Klang und Klangfarben ‚an sich‘ sind weder männlich noch weiblich; so bleibt uns letztlich nichts anderes übrig, als nach vorhandenen Konstruktionen und Identifikationen und dem Umgang mit diesen zu fragen. Die Beschränkung auf die
2
Der Begriff des „Klangs“ sei im Folgenden im Sinne Tobias Janz’ verwendet; insbesondere die Klangfarbe ist demnach ein wesentlicher Teil desselben. Vgl. ders., Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring des Nibelungen“ (= Wagner in der Diskussion 2), Würzburg 2006.
3
Vgl. hierzu u. a. Kordula Knaus, „Einige Überlegungen zur Geschlechterforschung in der Musikwissenschaft“, in: Archiv für Musikwissenschaft 59/4 (2002), S. 319–329.
4
Adoph Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch – theoretisch, dritter Theil, Leipzig 1845, S. 273.
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sogenannte ‚absolute‘ Instrumentalmusik – auf Musik ohne Programm oder programmatischen Titel, ohne expliziten inhaltlichen Wink seitens des Komponisten oder der Komponistin, ohne Text und ohne flankierenden ästhetischen oder musiktheoretischen Diskurs – würde hierbei keinen Aufschluss über Geschlechterkonstruktionen geben; die Musikforschung würde im Trüben fischen, suchte sie etwa nach den klanglichen Konstruktionen von ‚Geschlecht‘ in den Klaviermusiken Paul-Heinz Dittrichs, in György Ligetis Cembalostück Continuum oder in Reiner Bredemeyers Schlagstück Nr. 5. (Zwar könnte man hier von den semantischen Anhaltspunkten ausgehen, die die Gattung der Sonate, der Titel „Continuum“ oder die Konnotation von „Schlagstück“ liefern, doch jene Hinweise sind letztlich zu dürftig, um sinnvoll nach ‚Gender‘ zu fragen. Einzig sinnvoll wäre hier die Einbeziehung von Rezeptionsdokumenten oder auktorialen Kommentaren.) So erweist sich die Eingrenzung der Fragestellung auf Programmmusik, auf Lieder oder aber auf das Musiktheater als sinnvoll. Im Folgenden sei letzteres aufgegriffen: Hierbei steht, nicht zuletzt des weitgehend einheitlichen Erfahrungsraums in puncto Gender wegen, die Oper in Deutschland nach 1945 im Vordergrund, wobei die wenigen hier diskutierten, immerhin prominenten Beispiele aus Ost- und Westdeutschland nur ein erster Anhaltspunkt für weitere Fragen und Untersuchungen sein können. Im Anschluss an eine kurze Einführung soll, erstens, auf gender-relevante klangsemantische Konventionen des 19. Jahrhunderts eingegangen werden.5 Zweitens wird exemplarisch zu fragen sein, wie die Oper im 20. Jahrhundert mit diesen Konventionen umging.
K LANGFARBE
UND
S EMANTIK
Instrumente, und damit auch Klangfarben, sind mit Blick auf ihre Geschlechterkonnotationen nicht neutral, sondern durch Traditionen und Wahrnehmungsweisen geprägt.6 Dies hat zum einen den sehr banalen Grund, dass hohe Töne aufgrund ihrer Verwandtschaft zur weiblichen Stimme tendenziell als ‚weiblich‘ und
5
Meines Wissens hat eine systematische Beschäftigung mit Gender-Aspekten in den Instrumentationslehren des 19. und 20. Jahrhunderts bislang noch nicht stattgefunden.
6
Werner H. Herkner kam in seiner – methodisch sicherlich heute fragwürdigen – musikpsychologischen Dissertation von 1969 zu dem Schluss, dass der von ihm „experimentell ermittelte Ausdruck der Musikinstrumente [...] mit den musikalischen Ausdrucksformen und -konventionen, wie sie in Instrumentationslehren niedergelegt sind, gut
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tiefe Töne als ‚männlich‘ wahrgenommen werden. Vorsichtshalber sei hinzugefügt, dass hier nur – und dies sehr vorsichtig – von einer Tendenz auszugehen ist, denn in zahlreichen Fällen spielt eine solche Wahrnehmung keine Rolle. Wie alle Gegensätze kann auch die Geschlechterdichotomie überlagert werden von Gegensätzen innerhalb des jeweiligen Geschlechts, etwa: alt und jung, fröhlich und traurig, groß und klein; in diesem Fall können hohe Töne ohne weiteres implizit als männlich, tiefe als weiblich wahrgenommen werden. Zum anderen spielen bei der Zuordnung von bestimmten Instrumenten zu bestimmten – männlichen oder weiblichen, kindlichen oder auch tierischen – Körpern Synästhesien eine entscheidende Rolle: Instrumentenklänge können, wie Körper, als massiv, grotesk, feingliedrig, ätherisch, rauh, glatt, porös, dünn, warm, rund, spitz, weich usw. wahrgenommen werden,7 d. h. sie werden letztlich in einen imaginären Raum projiziert. Häufig ist eine solche, mehr oder weniger ausgeprägte Assoziation zugleich mit zusätzlichen Imaginationen, etwa Charaktereigenschaften oder Gefühlsfärbungen verbunden.8 So können nicht nur Menschen, sondern auch Tiere bzw. deren Bewegungen, deren ‚Ausdruck‘ und vermeintliche Wesenszüge durch einen bestimmten (Instrumental-)Klang charakterisiert werden, wie dies beispielsweise in Camille Saint-Saëns Karneval der Tiere oder Sergej Prokofjews Peter und der Wolf beobachtet werden kann. Doch auch durch bestimmte Gebrauchskonventionen gingen viele Instrumente mit bestimmten sozialen Sphären eine enge, auch künstlerisch-ästhetisch relevante Verbindung ein: Blechbläser etwa stehen für den höfischen Bereich oder für das Militär (d. h., wie man in einem zweiten Schritt anmerken könnte, für genuin ‚männlich‘ geprägte Kontexte), das Horn für Jäger, Wald und Natur, das Akkordeon für Seefahrer oder, allgemeiner, ‚einfache Leute‘, die Harfe für Exklusivität,
überein[stimmt]“. Allerdings wird dieser Aspekt nicht speziell hinsichtlich des Faktors ‚Gender‘ überprüft. Vgl. Werner H. Herkner, Der Ausdruck der Klangfarben von Musikinstrumenten, unveröff. Diss. Wien 1969, S. 139. 7
Vgl. u. a. Hellmut Kühn, „Musik im Raum“, in: Funk-Kolleg Musik 1, hg. von Carl Dahlhaus, Frankfurt am Main 1981, S. 33–54, hier S. 38.
8
Aufschlussreich hierzu Holger Schulze, „Bewegung Berührung Übertragung. Einführung in eine historische Anthropologie des Klangs“, in: ders. (Hg.), Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 143–165. Eine überzeugende, mittlerweile klassische Einführung in das Phänomen der Synästhesie – auch dieses keineswegs frei von Gefühlsfärbungen – gibt Richard E. Cytowic, Farben hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert, München 1996 [amerikan. Original 1993].
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Privatheit, Märchenhaftigkeit, Liebe, Esoterik und Einsamkeit, zugleich aber auch, worauf zurückzukommen sein wird, für die Sphäre des ‚Weiblichen‘. Dass die Harfe zudem lange Zeit, teilweise bis heute, als für Frauen besonders geeignetes Instrument galt, hat u. a. Freia Hoffmann in ihrer Untersuchung Instrument und Körper (1991) gezeigt:9 Klang und Form des Instruments, die von diesem geforderte Körperhaltung, das feingliedrige Fingerspiel, die Leichtigkeit der Arpeggien, die nicht von Ungefähr ausgerechnet der Harfe ihren Namen verdanken – all dies entsprach einem Klischee von Weiblichkeit, das den Vorstellungen insbesondere seit dem frühen 19. Jahrhundert entgegenkam. Onomatopoesien, Synästhesien, räumliche Vorstellungen aller Art10 sowie soziale Konventionen und Stereotype spielen somit allesamt eine Rolle, wenn es gilt, bestimmte gesellschaftliche Sphären konkreten Instrumentalklängen zuzuordnen (und umgekehrt). Hiervon zeugen auch und insbesondere die Instrumentationslehren des 19. Jahrhunderts, die sich hinsichtlich der Gender-Konventionen, ob imoder explizit, oft recht eindeutig festlegen.
G ESCHLECHTERSTEREOTYPE IN I NSTRUMENTATIONSLEHREN DES 19. J AHRHUNDERTS Es waren vor allem die Holzblasinstrumente Oboe, Klarinette und Flöte, aber auch – wie erwähnt – die Harfe, die sich zur Charakterisierung des ‚Weiblichen‘ um 1840 offenbar geradezu aufdrängten. In Hector Berlioz’ ebenso berühmter wie einflussreicher Instrumentationslehre, hier zitiert nach der autorisierten deutschen Übersetzung von 1864, heißt es etwa zur Oboe: „Die Hoboe ist vor allem ein melodisches Instrument“.11 ‚Weiblichkeit‘ und ‚Melodie‘ gingen in dieser Zeit nach
9
Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991.
10 Ausführlich hierzu: Nina Noeske, „Musikwissenschaft“, in: Raumwissenschaften, hg. von Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2009, S. 259–273. 11 Hector Berlioz, Instrumentationslehre. Ein vollständiges Lehrbuch zur Erlangung der Kenntniß aller Instrumente und deren Anwendung, nebst einer Anleitung zur Behandlung und Direction des Orchesters. Autorisierte dt. Ausgabe von Alfred Dörffel, Leipzig 1864, S. 82.
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Meinung vieler eine Allianz ein,12 so dass hier ein erster Hinweis auf das ‚Gendering‘ jenes Instruments gegeben ist. Weiter ist bei Berlioz zur Oboe zu lesen: „[S]ie hat einen ländlichen Character, voll Zärtlichkeit, ich möchte selbst sagen: voll Schüchternheit. Die Treuherzigkeit, die ungekünstelte Anmuth, die stille Freude oder der Schmerz eines zarten Wesens entsprechen den Tönen der Hoboe recht eigentlich und werden durch sie im Cantabile wunderschön zum Ausdruck gebracht.“
13
Ein gewisser Grad an „Gemüthsbewegung“ sei der Oboe, so Berlioz weiter, zwar angemessen, doch müsse sich diese in Maßen halten, da die „herb-liebliche Stimme“ des Instruments sich andernfalls gegen dessen Natur versündige.14 Dies entspricht präzise den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts vom weiblichen Geschlecht, wonach Frauen gewissermaßen Expertinnen für das Gefühl (im Gegensatz zum männlichen Verstand oder zur Vernunft) waren, weibliche Leidenschaftsausbrüche jedoch in der Regel als pathologisch bzw. hysterisch oder wahnsinnig galten, zumindest dann, wenn sie nicht im Kontext einer unglücklichen romantischen Liebe auftraten.15 So ist es, um ein Beispiel von vielen herauszugreifen, sicherlich kein Zufall, dass der Gretchen-Figur aus der 1857 uraufgeführten
12 Vgl. u. a. Carl Seidel, Charinomos. Beiträge zur Theorie und Geschichte der schönen Künste. Neue Ausgabe, Erster Band, Leipzig 1825, S. 42; Marcia Citron, „Männlichkeit, Nationalismus und musikpolitische Diskurse. Die Bedeutung von Gender in der Brahmsrezeption, in: History – Herstory. Alternative Musikgeschichten, hg. von Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben, Köln/Weimar/Wien 209, S. 352–374, hier S. 360; Friedrich Geiger, „‚Innigkeit‘ und ‚Tiefe‘ als komplementäre Kategorien der Bewertung von Musik“, in: Archiv für Musikwissenschaft 60/4 (2003), S. 265–278, hier S. 276. 13 Berlioz, Instrumentationslehre, S. 82 f. 14 „Auch ein gewisser Grad von Gemüthsbewegung ist ihr erreichbar, doch muß man sich hüten, ihn bis zum Schrei der Leidenschaft, bis zum stürmischen Ausbruch des Zornes, der Drohung oder des Heldenmuthes zu steigern; denn ihre kleine herb-liebliche Stimme wird dann machtlos und verfällt vollständig in’s Unnatürliche.“ Ebd., S. 83. 15 Vgl. hierzu u. a. Nina Noeske, „Die Geburt der Virtuosität aus dem Geiste der Hysterie? Zur ‚Lisztomanie‘ als weibliches Phänomen“, in: Die Tonkunst 5/4 (2011), S. 495–506. Zum Denken in Geschlechterdichotomien allgemein vgl. insb. Cornelia Klinger, „Feministische Theorie zwischen Lektüre und Kritik des philosophischen Kanons“, in: Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften.
T HE S OUND OF G ENDER
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Faust-Symphonie von Franz Liszt als erstes Thema ausgerechnet eine Oboenmelodie, laut Spielanweisung „dolce semplice“ vorzutragen, zugeordnet ist; galt Gretchen doch als Inbegriff weiblich-ländlicher Unschuld, vor allem durch Anmut und Schüchternheit charakterisiert. Ungefähr zur selben Zeit attestierte Adolph Bernhard Marx in seiner Kompositionslehre dem Oboenklang „Feinheit und jungfräuliche Sprödigkeit“.16 Ähnlich wie die Oboe ordnete Berlioz auch die Klarinette einem, wie es bei ihm heißt, „weiblichen Klangcharakter“ zu: „Nichts so Jungfräuliches, nichts so Lauteres als die Färbung, die gewissen Melodien durch den Klang einer Clarinette zu Theil wird“17 – dies gelte allerdings, so der Autor, nur für die Mittellage.18 „Demuth und Entsagung“ schließlich, traditionell weibliche Eigenschaften, charakterisieren laut Berlioz den Flötenklang,19 und die Harfe wiederum – um auf dieses Instrument zurückzukommen – gebe insbesondere im hohen Klangregister einen „lieblichen, krystallhellen, wollüstig kühlen Klang, der sie zur Aussprache anmuthiger, zauberischer Ideen, zum Flüstern der zartesten Geheimnisse […] fähig macht“.20 Kühle Wollust, eigentlich ein Widerspruch in sich, lässt an jene Form von entkörperlichter Liebe denken, wie sie als der heiratsfähigen höheren Tochter des vorvergangenen Jahrhunderts angemessen galt. Gottfried Wilhelm Fink notierte 1847 in seiner Kompositionslehre entsprechend, dass die Harfe insbesondere „bei Einführung […] sentimentaler Fräulein, zauberhafter Einsamkeitsschwestern u.s.w.“ am besten wirke.21 Als explizit ‚männlich‘ hingegen wird bei Berlioz allem Anschein nach kein Instrument bezeichnet, jedoch charakterisierte er beispielsweise den Trompetenklang, unter Zuhilfenahme von traditionell ‚männlichen‘ Charaktereigenschaften, als „edel und glänzend; er paßt zum kriegerischen Ausdruck, zum Wuth- und Rachegeschrei ebenso gut wie zu Triumphgesängen“.22 ‚Wut‘ und ‚Triumph‘ liegen
Ein Handbuch, hg. von Hadumod Bußmann und Renate Hof, Stuttgart 2005, S. 329– 364. 16 Adolf [sic] Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition. Praktisch – theoretisch, vierter Teil, neu bearbeitet von Hugo Riemann, Leipzig 51888 [11847], S. 540. 17 Berlioz, Instrumentationslehre, S. 96. 18 Ebd., S. 95. 19 Ebd., S. 106. 20 Ebd., S. 59. 21 Gottfried Wilhelm Fink, Musikalische Kompositionslehre, Leipzig 1847, S. 30. 22 Berlioz, Instrumentationslehre, S. 141.
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eng beieinander, so dass tendenziell negativ konnotierte Eigenschaften sich ins Positive wenden. In diesem Kontext sei auf die bemerkenswerte Überzeugung Marx’ von 1855 hingewiesen, dass die Einführung der Ventile wenige Jahrzehnte zuvor zu beklagen sei, da hiermit eine „Entmannung der Trompete“ stattgefunden habe, die er generell als „heldenthümlich“ charakterisiert.23 Hinsichtlich der Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht sind Irrtümer mithin auch hier so gut wie ausgeschlossen; ‚entmannt‘ werden kann nur ein Mann. Dass Berlioz explizit nur von ‚weiblichen‘, nicht aber von ‚männlichen‘ Instrumenten sprach, entspricht einem alten, seit der Antike überlieferten Denkmodus, dass das Männlich-Allgemeine in der Regel unmarkiert bleibt, da es gewissermaßen den Normalfall darstellt, während das Weibliche – als Sonderfall, als Abweichung von der Norm – stets als solches hervorgehoben werden muss. Wenn, ausgehend von den Instrumentationslehren des 19. Jahrhunderts, ein Geschlechtergegensatz herauspräpariert werden kann, dann besteht dieser somit aus dem idealtypischen Kontrast zwischen Holzblasinstrumenten, Harfe, Liebe und Weiblichkeit auf der einen und Blechbläsern, Schlagzeug, Militär, Krieg, Macht und Männlichkeit auf der anderen Seite. Zahlreiche Komponisten hielten sich in ihren Werken an jene im- oder explizite Vorgabe, die sich in solchem Maße als Norm etabliert hat, dass man die Schriften Berlioz’ und Marx’ nicht kennen musste, um in ihrem Sinne zu orchestrieren und instrumentieren. Werke von Berlioz selbst, von Carl Maria von Weber, von Richard Wagner, Richard Strauss und anderen bieten hierfür reichlich Anschauungsmaterial. Im Folgenden sei jedoch der Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gerichtet, das die diesbezüglichen Konventionen des 19. Jahrhunderts – wie zu zeigen sein wird – keineswegs vergessen hat. Dies gilt auch für den theoretischen Bereich: Strauss etwa widersprach in der von ihm bearbeiteten Fassung der Instrumentationslehre von 1905 Berlioz in den angeführten Punkten zwar nicht, erweiterte dessen Instrumentalsemantik allerdings in einigen wesentlichen Aspekten. Die Klarinette beispielsweise sei, so Strauss, nicht nur zur Darstellung von Jungfräulichkeit, sondern – im Gegenteil – auch und insbesondere von „dämonische[r] Sinnlichkeit“ geeignet (wie etwa im Falle der Kundry aus Wagners Parsifal, der,
23 Adolph Bernhard Marx, Die Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der Musik, Leipzig 1855, S. 125.
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laut Adorno, „Person gewordenen Klarinette“).24 Daran, dass der Klangcharakter der Klarinette genuin ‚weiblich‘ ist, ließ Strauss indes keinen Zweifel; allein die Palette der möglichen Frauentypen ist bei ihm größer.
B EISPIELE : D ESSAU , L IGETI , Z IMMERMANN In der Oper nach 1945, so meine These, lässt sich – grob gesagt – in zwei Fällen von genderspezifischer Instrumentation und Klanggebung sprechen. Zum einen dann, wenn explizit die hier dargelegte Tradition heraufbeschworen wird, wenn also beispielsweise das ‚rein Weibliche‘ in Form der unschuldigen, keusch begehrenden, bürgerlichen höheren Tochter thematisiert wird, und sei es als Parodie, und zum anderen, wenn bestimmte Gefühle, Charaktereigenschaften oder Kontexte auftauchen – Liebe, Bescheidenheit, Demut, Privatheit (Kampf, Leidenschaft, Aggression, Öffentlichkeit) –, die traditionell ‚weiblich‘ (oder ‚männlich‘) konnotiert sind, aber hinsichtlich ihrer Gender-Spezifik potentiell wandlungsfähig sind. Demnach können auch liebende oder schwache, unterlegene oder unschuldige, bevorzugt junge Männer durch entsprechende klangliche Konventionen des 19. Jahrhunderts charakterisiert werden, in eingeschränktem Maße gilt dies auch vice versa für die ‚starke Frau‘. Alles in allem erweist sich die mindestens 200jährige Tradition der genderspezifischen Zuordnung von Instrumentalfarben bis Ende des 20. Jahrhunderts als erstaunlich stabil; in den im Folgenden thematisierten Werken scheint sie – wenn auch nur gewissermaßen als Zitat – zumindest punktuell auf. In Paul Dessaus zusammen mit Bertolt Brecht erarbeiteter, in der DDR massiv kritisierter und schließlich umgeänderter Oper Das Verhör bzw. Die Verurteilung des Lukullus von 1951 ist die überaus gezielt eingesetzte Instrumentation Kennzeichen nicht nur von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, sondern zugleich und in erster
24 Richard Strauss, Instrumentationslehre von Hector Berlioz. Ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Teil 1, Leipzig 1905, S. 225: „So ist dieselbe bei Weber so süß jungfräuliche Klarinette in Wagners Parsifal zur Verkörperung der dämonischen Sinnlichkeit geworden und läßt in den Kundry-Szenen die schauerlich beängstigenden Stimmen der Verführung ertönen, die keiner vergessen wird, dem sie jemals ans Ohr schlugen.“ Vgl. Theodor W. Adorno, „Funktion der Farbe in der Musik“ (1966), in: Musik-Konzepte Sonderband: Darmstadt-Dokumente I, hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1999, S. 263–312, hier S. 303.
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Linie Sinnbild sozialer Verhältnisse: Lukullus, der Feldherr, der am Ende des Stückes nach ausgiebigem Totengericht ins ‚Nichts‘ katapultiert wird, ist stets von „Trompetenschall und Paukendonner“ umgeben, die nicht nur von dessen sozialem Status künden, sondern auch seinen zutiefst brutalen Charakter offenbaren. Wo Lukullus auftaucht, hat nichts anderes mehr Platz, auch und insbesondere akustisch. Der „heldische […] Gestus“ wird bei Dessau und Brecht jedoch zugleich als „hohle Pose“ entlarvt, denn die Dissonanzen sind – für damalige Verhältnisse in der DDR – ungewohnt schroff und der Bläserklang, so Fritz Hennenberg, „quäkig“; es handelt sich also um eine musikalische Karikatur.25 Insbesondere zu Beginn der achten Szene, „Das Verhör“ sind akzentuierte, crescendierende Trompeten- und Posaunenklänge sowie Pauken ebenso dominant, wie es der Feldherr im Leben war. (Nur zur Erinnerung: Berlioz zufolge sei die Trompete insbesondere für „Wuth- und Rachegeschrei“ geeignet.) Das Schöffengericht, von dem Lukullus verhört wird, besteht aus einem Fischweib, einer Kurtisane, einem Lehrer, einem Bäcker und einem Bauern, einfachen und friedlichen, wenn auch in ihrer Haltung und ihrem Erfahrungshorizont durchaus unterschiedliche Menschen, die dem Feldherrn zusammen mit den Zeugen den Spiegel vorhalten; ‚gut‘ und ‚böse‘ sind in Dessaus mahnender Antikriegsoper trotz gelegentlicher Irritationen verhältnismäßig eindeutig verteilt. Die von Lukullus klanglich am weitesten entfernten Sphären werden von der Königin und dem Fischweib bedient: Während die Königin von den Kriegern des Lukullus vergewaltigt wurde, beklagt das Fischweib den Verlust des Sohnes Faber, der mit Lukullus’ Truppen in den Krieg zog und nicht wieder heimkam. Im Gegensatz zur machtvollen instrumentalen Begleitung des Lukullus ist die Instrumentation der Königin in der achten Szene filigran und leicht, Akzente von Harfe (die hier zum ersten Mal in der Oper auftaucht) und Klavier, Cello-Pizzicati, Xylophon und Marimbaphon setzen – ganz im Gegensatz zum Blech des Lukullus – nur Klangtupfer, Flöten leiten den Gesang ein ( Audiospot 126). Im Vordergrund steht die Stimme.27 Später dominieren, neben der Stimme, Melodielinien und Triller der Flöten, die, wie schon Berlioz feststellte, „einem traurigen Gesange den Ausdruck
25 Fritz Hennenberg, Einführungstext zur CD Die Verurteilung des Lukullus, Berlin: Berlin Classics 1993, BC 1073-2, S. 13. 26 Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5. 27 „Die Königin ist eine Person von hohem Stand. Ihre Arie zeigt raffinierte klangliche Zier. Duftige Klangspritzer der Harfe, der Gitarrenklaviere, der Marimbaphone, des Xylophons umstäuben die Melodie.“ Ebd., S. 14.
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der Trostlosigkeit, zugleich aber auch der Demuth und Entsagung […] verleihen“.28 Ähnlich zurückgenommen ist die Instrumentation beim Gesang des Fischweibes in der zehnten Szene, der über weite Strecken ebenfalls allein von (hier: zwei) Flöten begleitet wird. Der mehrmals wiederkehrende, klagende Refrain („Faber, mein Sohn Faber…“) gibt sich durch eine einzige charakteristische absteigende Akkordeon-Linie zu erkennen (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 2) – Sinnbild des sublimierten Leidens des Volkes. Notenbeispiel 1: Paul Dessau/Bertolt Brecht, Die Verurteilung des Lukullus. Oper in 12 Szenen. Partitur, Szene 10: Klage des Fischweibs; © [o.J.]. Mainz: Schott (Leihmaterial)
Die beiden Celli, die im Anschluss eine Art Wiegenlied andeuten („Schlafe, mein Kindlein, schlaf ein“), unterstützen den gleichsam verinnerlichten Nachhall der Klage. Was Adorno 1966 hinsichtlich der „unendlichen Streicherperspektive“ des ‚klassizistischen‘ Orchesters behauptete, nämlich, dass „jeder einzelne Streicherton über sich hinausweist, mehr ist, als er an Ort und Stelle ist, und gewissermaßen den Klangraum in ein Unendliches öffnet“,29 scheint – auch, wenn beides auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun hat – für diese Stelle ebenfalls charakteristisch zu sein. Die ‚transzendierenden‘ Streicher wären damit das genaue Gegenteil der banal-begrenzten, körperlich-unmittelbaren Trompeten- und Posaunenklänge. Auffallend ist, dass am Ende, als das Urteil über Lukullus’ schändliche Taten feststeht, das Blech gewissermaßen die Seiten wechselt: So wird das Fisch-
28 Berlioz, Instrumentationslehre, S. 106. 29 Adorno, „Funktion der Farbe in der Musik“, S. 271.
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weib jetzt ebenfalls von Posaunen und Trompeten begleitet (vgl. Szene 12, Partitur, Z. 200; Audiospot 3); die Schwächeren gehen, so will es die historische Gerechtigkeit, als Sieger hervor. Während Lukullus in den 1950er Jahren noch brutal und auftrumpfend daherkommt, ist König Peter vom Reiche Popo aus Dessaus Spätwerk Leonce und Lena (nach Georg Büchner und auf ein Libretto von Thomas Körner), 1979 in der Inszenierung von Ruth Berghaus posthum uraufgeführt, in seiner Verwirrung vor allem desorientiert und agiert entsprechend wie gelähmt; einen aggressiv-männlichen Habitus nimmt er, immerhin ebenfalls eine Herrschergestalt, im Gegensatz zum römischen Feldherrn nicht ein. Zwar wird auch dieser König durch die Herrschaftsinstrumente Horn, Trompete und Posaune, flankiert durch die ‚militärische‘ Piccoloflöte und Schlagwerk, charakterisiert, doch scheinen ihm diese, während er sich hilflos an sie klammert, gewissermaßen zu entgleiten (➜ Notenbsp. 2, Audiospot 4). Notenbeispiel 2: Paul Dessau/Thomas Körner, Leonce und Lena. Oper nach dem gleichnamigen Lustspiel von Georg Büchner, Akt I, Szene 6, Zif. 73: Auftritt des König Peter; © 1978, Berlin: Edition Peters (Leihmaterial)
Bemerkenswert ist, wie eindringlich hier zugleich der Körper des Königs, über den dieser keine Kontrolle zu haben scheint, gewissermaßen als ‚Klangkörper‘ auskomponiert wird – König Peter erscheint, als in sich bewegter Cluster von Horn- und Posaunenfiguren, kugelförmig und kurzatmig; er scheint eher zu ‚rollen‘ als zu gehen. Auch in dieser Oper sind es, wie in Die Verurteilung des Lukullus, zwei Frauen, denen als einzigen Figuren eine in gewisser Weise ‚authentische‘ – nicht parodistische – Klangsphäre vorbehalten ist: Sowohl Prinzessin Lena als auch das Freudenmädchen Rosetta haben jeweils als einzige Abschnitte zu singen, die voll-
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ständig unbegleitet sind; ohne Instrumente aber sind sie auf sich selbst zurückgeworfen. Lenas Gesangspartien werden zwar an zentralen Stellen durch eine SoloVioline, Sinnbild der Liebe, durch den beseelten Klang einer Solo-Flöte oder durch Holzbläser und Streicher begleitet, doch dies fällt inmitten des ohnehin filigranen Klangbildes kaum auf. Leonces und Lenas Sphären sind klanglich miteinander verwoben, der Geschlechterdualismus ist in einem Land der Desillusion, Langeweile und Depression ebenso wenig von Bedeutung wie alles andere. Dass in Dessaus später Oper der Geschlechtergegensatz tatsächlich keine entscheidende Rolle mehr spielt, verdeutlicht eine Szene aus dem zweiten Akt, in der Leonces Gefährte Valerio alles Geschehen als bloßen „Mechanismus“, als Spiel und Konvention entlarvt. Die Klaviermechanik steht hier somit für eine künstlich-sterile, letztlich geschlechtsneutrale Sphäre (➜ Notenbsp. 3, Audiospot 5). Notenbeispiel 3: Paul Dessau, Leonce und Lena (vgl. Notenbsp. 2), Akt II, Szene 1, Zif. 107
Der Vergleich von Leonce und Lena mit György Ligetis „Anti-Anti-Oper“ Le Grand Macabre (Libretto: Michael Meschke nach Michel de Ghelderode), wenige Jahre zuvor, zwischen 1974 und 1977 komponiert und 1996 überarbeitet, drängt sich geradezu auf: Auch hier gibt es einen machtlos-grotesken Herrscher eines grotesken Phantasielandes, Fürst Gogo, dessen Staatsapparat seine völlige Sinnlosigkeit nicht zu verbergen sucht. Angekündigt wird das erste Auftreten des Fürsten durch eine Art Gongschlag (gespielt von Tam-Tam und Cembalo), hier offenbar als Insignie des (männlichen) Herrschenden eingesetzt, doch weitere klangliche Andeutungen der Machtsphäre sucht man vergeblich. Die anschließende „Reiterstund“ auf dem Schaukelpferd mit dem kindlich-militärischen Tamburin, hinzutretenden Holzbläsern, Streichern und Tasteninstrumenten mutet geradezu wie eine Karikatur des kriegerischen Gestus an – Blechbläser fehlen hier völlig und werden nicht einmal mehr als Mittel zur Persiflage eingesetzt. Der Sopran des Fürsten – zu singen von einem Knaben, einer Frau oder einem hohen Countertenor – tut ein Übriges; seine ‚Unmännlichkeit‘, ‚Impotenz‘ signalisierend, ist bereits durch das Stimmfach markiert (➜ Notenbsp. 4, Audiospot 6).
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Notenbeispiel 4: György Ligeti, Le Grand Macabre. Opera in four scenes, Studienpartitur, rev. version 1996, Bild 3, Zif. 294; © 2003, Mainz u. a.: Schott
Punktuelle Anklänge an traditionelle Klangsemantiken gibt es in Ligetis Oper – ähnlich wie bei Dessau – vor allem in jenen Szenen, die im weitesten Sinne mit ‚Liebe‘ konnotiert sind, so etwa in der ersten Szene des Paars Amanda und Amando, die einzig durchweg positiven Figuren der gesamten Oper, die nicht zufällig von zwei Sopranstimmen – darunter eine Hosenrolle – verkörpert werden: Während des Liebesgeflüsters dominieren Holzbläser mit einer Oboe d’amore sowie Streicher, als von ‚Lust‘ gesungen wird, erscheint ein Harfen-Klangteppich, und als die verrucht-männliche Mescalina später die Venus anruft, setzt wie auf Kommando eine Kantilene der Oboe d’amore ein. Rudimente dieser Konvention sind auch in Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten nach Jakob Michael Reinhold Lenz, 1965 in Köln uraufgeführt, erkennbar; allerdings nur in Verbindung mit der Protagonistin Marie, die – als ‚bürgerliche Tochter‘ des späteren 18. Jahrhunderts – vorwiegend durch Oboe, Harfe, Streicher und, wiederum, Flötentriller charakterisiert wird, wobei diese Klangsphäre teilweise auf die jeweiligen Liebhaber Maries übertragen wird. Wenn auf Maries gegenüber dem Vater geäußertem „Er ist verliebt in mich, das ist wahr“ zwei Takte verschämtes, unkontrolliert anmutendes Holzbläser-Staccato-Kichern zu hören ist, so wirkt dies nahezu wie eine Karikatur ( Audiospot 7).30 Ein ähnliches kokett-verschämtes Sich-Zieren ist später in der Szene Maries mit Desportes herauszuhören, in der dieser ihr den Hof macht – auch hier verdeutlicht durch Flötentriller und gleichsam unkontrollierte Ver-Zierungen.
30 Bernd Alois Zimmermann, Die Soldaten. Oper in vier Akten (1965), Libretto vom Komponisten nach dem gleichnamigen Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz, Studienpartitur, Mainz u. a. 1975, S. 42.
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F AZIT Die klangsemantische Tradition, die, wie gezeigt, den verschiedenen Geschlechtern bestimmte Instrumente, d. h. Klangsphären zuweist, ist auch im Musiktheater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch präsent; vor allem dann, wenn – wie in sämtlichen hier präsentierten Beispielen – eine (männliche) Sphäre der Macht, Brutalität oder Sinnlosigkeit einer (weiblichen) Sphäre des Authentischen bzw. der Liebe gegenübergestellt wird. Dieser Gegensatz ist sublimiert auch in Werken wie etwa Wolfgang Rihms Hamletmaschine (1977), deren zweiter Teil mit „Das Jahrhundert der Frau“ überschrieben ist, oder, für die DDR, in Reiner Bredemeyers Oper Candide (1981/82) zu finden. Mehrere Möglichkeiten des Umgangs mit den genannten klangsemantischen Traditionen sind – ohne aufgrund des bisher gesichteten und untersuchten Materials bereits eine Systematik aufstellen zu wollen – erkennbar: gleichsam eine neutrale, eine negative und eine positive. So können, erstens, instrumentatorische Geschlechter-Klischees gewissermaßen zitiert werden, ohne sie hörbar zu bewerten (wie etwa in Werken wie Hans Werner Henzes Der junge Lord von 1965, wo z. B. die Geige als Instrument der ‚Liebe‘ an den entsprechenden Stellen deutlich im Vordergrund steht). Die Figuren rücken damit gewissermaßen in Distanz, ohne kritisiert oder karikiert zu werden. Zweitens ist, im Gegensatz hierzu, die parodistische Überzeichnung klanglicher Klischees möglich, wovon vor allem die (männliche) Sphäre des Militärs häufig betroffen ist; der Gender-Aspekt ist in den angeführten Beispielen von Dessau und Ligeti nur ein impliziter Nebenaspekt von Macht-Asymmetrien. Die Kritik gilt in erster Linie dem Feldherrn und nicht dem Mann, der Feldherr ist jedoch in aller Regel männlich. Ironie ist auch in Zimmermanns klanglicher Zeichnung der Marie – zumindest in bestimmten Situationen – vorhanden; indem das Klischee (hier: die Schamhaftigkeit der höheren Tochter) deutlich übertrieben wird, wird es als solches entlarvt. Nicht die Figur der Marie selbst ist es hierbei, die karikiert wird, sondern vielmehr der Nimbus des Bürgerlich-Wohlanständigen. Drittens findet, im Gegensatz hierzu, bei Dessau und anderen häufig eine Idealisierung des ‚Weiblichen‘ statt31 – doch auch hier gilt analog: Nicht das weibliche Geschlecht soll rehabilitiert werden, sondern, allgemeiner, die Unterlegenen und Machtlosen, die jedoch in der Regel weiblich sind. Die
31 Aufschlussreich hierzu: Sigrid Neef, „‚Alles was ist, ist um seiner selbst willen da‘. Zum Bild der Frau in Dessaus Opern“, in: Musik und Gesellschaft 39/6 (1989), S. 291– 296.
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klangsemantischen Konventionen als solche werden hier somit nicht in Frage gestellt, sondern es wird auf sie, gewissermaßen dekonstruierend, lediglich zurückgegriffen, um das anzugreifen oder zu verteidigen, wofür sie traditionell stehen. Eine explizite Thematisierung und gleichzeitige ‚Ver-rückung‘ der Geschlechterverhältnisse ist von den hier präsentierten Beispielen nur in Ligetis Le Grand Macabre erkennbar; dabei werden überlieferte klangsemantische Traditionen in dieser Oper gleichsam auf allen Ebenen durcheinandergebracht und damit letztlich neutralisiert. Was männlich ist und was weiblich, ist – auch klanglich – nirgendwo mehr eindeutig erkennbar, die entsprechende Tradition klingt jedoch von ferne auf spielerische Weise an. Diese rudimentären Ausführungen können nur ein erster Anfang sein. Deutlich geworden ist, dass ‚Gender‘ auch bei der Frage nach Klangsemantiken im 20. Jahrhundert nur eine Kategorie von vielen ist, die in concreto – hier: im Musiktheater – nur im Verein mit klassen-, milieu- und altersspezifischen, sozialen, räumlichen, ja sogar moralischen Kontexten auftauchen. Der Gender-Aspekt ist somit schwerlich hiervon zu isolieren. Gleichwohl: Auch wenn mitunter eine andere Kategorie entscheidender zu sein scheint – gänzlich irrelevant ist die Frage nach Gender-Konstruktionen selten, so dass sich ein Zugriff aus der Perspektive der Intersektionalität32 auch in der Musiktheater- und Klangforschung geradezu aufdrängt.
32 Rita Casale und Barbara Rendtorff, „‚Intersectionality‘ – ein neues Paradigma der Geschlechterforschung?“, in: Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, hg. von dens., Bielefeld 2008, S. 33–53. Mit Intersektionalität in der Musikwissenschaft beschäftigt sich u. a. die internationale Arbeitstagung „Grenzgänge. Gender, Ethnizität und Klasse als Wissenskategorien in der Musikwissenschaft“, 3. und 4.10.2014 an der Universität Basel.
Klangsemantik bei Pierre Schaeffer im Kontext der 1950er/60er Jahre M ARTIN K ALTENECKER
1. S EMIOTIK , S EMANTIK , H APTIK Ich möchte vorschlagen, in der europäischen Kunstmusik allgemein drei Ebenen zu unterscheiden, auf denen sich reich artikulierte Werke immer zugleich abspielen.1 Bei dieser idealtypischen Beschreibung unterscheide ich zuerst den strukturellen Aspekt, der weit ausgespannte, komplexe, im Hören kaum erfassbare Formen betrifft. Er verweist auf Struktur und Schema. Es gibt Werke, die diesen Aspekt fast ausschließlich thematisieren, wie das Livre pour quatuor von Pierre Boulez, und sie erfordern vor allem eine Beschäftigung durch Analyse. Der zweite Aspekt betrifft jene Elemente, die unterschwellig mit Bildern und Texten verbunden sind, also mit Figuren und Topoi, Sprachähnlichem, charakteristischen Momenten. Das Hören wird hier hermeneutisch, es fixiert sich auf Elemente, die der Lebenswelt entnommen werden, auf Zitathaftes. Der dritte Satz von Luciano Berios Sinfonia spielt sich fast ausschließlich auf dieser Ebene ab. Der dritte Aspekt umfasst materiale, schwerer schematisierbare Momente, die etwas Augenblickli-
1
Zu dieser Dreiteilung, die sich auf Überlegungen von Nikolaus Forkel, Hugo Riemann, Erwin Ratz, Boris de Schloezer, Albrecht Wellmer und François Delalande stützt, vgl. Martin Kaltenecker, „… ‚flackernde Fackeln‘. Bemerkungen zum hermeneutischen Hören bei Hugo Riemann und Alfred Döblin“, in: Populär vs. elitär? Wertvorstellungen und Popularisierungen der Musik heute, hg. von Jörn Peter Hiekel, Mainz 2013, S. 37– 52.
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ches haben und als „das Andere“ der Struktur fungieren. Sie stehen im Zusammenhang mit Intensitäten, mit der Aura, und sie sind technisch oft mit Repetition und Klangfarbe verbunden. Werke, die fast ausschließlich von diesem Moment zehren, sind z. B. die von Giacinto Scelsi. Diese Aspekte sind jedoch kopräsent und miteinander verwoben. Musik ist immer gescheckt, sie verwebt formale Aspekte, die hervortreten und unterstrichen werden können, bildhafte Elemente, die das musikalische Geschehen in der Welt des Hörers verankern, und materiale, die ein körperliches „Miterleben“2 anvisieren. Zum Beispiel kann der Beginn des „Hostias“ der Grande Messe des Morts von Hector Berlioz zunächst harmonisch analysiert werden (G-Dur, die sehr rasche Modulation zu dem „entfernten“ Fis-Dur, usw.). Der weitgespannte Raum zwischen dem Bass (Posaunen) und den drei oberen Stimmen (Flöten) symbolisiert aber auch die Thematik des Darbietens von Gaben und Bitten, die erhobenen Hände, die unüberwindliche Distanz zu Gott. Und nicht zuletzt beruht der geheimnisvolle Gesamteindruck auf der Materialität eines neuartigen Verschmelzungseffekts (die Töne der hohen Flöten klingen wie die hohen Partialtöne des großen Fis); die Stelle könnte eine von denen sein, die Berlioz’ Kollegen Adolphe Adam zu der Bemerkung verleiteten, dieser stelle „akustische Experimente“ mit dem Hörer an.3 Instrumentierung kann also hinsichtlich der Fasslichkeit und Durchhörbarkeit von Strukturen angelegt werden: Eine solche Deutlichkeit war das Ideal von Gustav Mahler,4 und auch Pierre Boulez spricht zwar von einer „strukturellen Kraft“ der Klangfarbe, folgert aber daraus, dass die „gut definierten Klangfarbenfamilien berücksichtigt“ werden sollten.5 Der Komponist kann andererseits auch mit leicht wiedererkennbaren Formeln arbeiten (Flöte und Klarinette, Flöte und Geigen in parallelen Terzen, Oboe und Trompete), mit semantischen, kulturell kodierten Bedeutungen („Majestät“ der Blechbläser), wie etwa in Boulez’ zweiter „Improvisation sur Mallarmé“ aus Pli selon pli, wo der im Eis gefangene Schwan mit harten
2
Hugo Riemann, Katechismus der Musikästhetik, Leipzig [1890], S. 21.
3
Adolphe Adam, zit. nach Paul Scudo, Critique et littérature musicales, II, Paris 1859, S. 118.
4
„Das worin ich beim Instrumentieren den Komponisten der Gegenwart und Vergangenheit voraus zu sein glaube, könnte man mit dem Wort ‚Deutlichkeit‘ zusammenfassen.“ Zit. nach Peter Fuhrmann, Untersuchungen zur Klangdifferenzierung im modernen Orchester, Regensburg 1966, S. 9.
5
Pierre Boulez, „À la limite du pays fertile”, Relevés d’apprenti, Paris 1966, S. 218.
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und glitzernden Klangfarben abgebildet wird (Vibraphon, Harfe, Crotales, Metallblöcke, Verwendung harter Schlegel, usw.), schließlich auch mit zitathaften Einschlüssen, mit „soundmarks“ (R. Murray Schafer)6 oder „Klangikonen“ (Gerhard Paul)7, die für eine Gemeinschaft eine Bedeutung haben. Und schließlich kann die Instrumentierung mit geheimnisvollen „Durchbrüchen“ (wie sie Adorno bei Mahler hervorhob) arbeiten, mit seltsamen Kombinationen von Klangmaterien (Geige und Pauke)8, mit Fernwirkungen und Tiefenperspektiven, als Arbeit mit Präsenzgraden. Eine analytische Beschreibung eines Stücks sollte immer diesen drei Aspekten Rechnung tragen, wobei keiner der drei Ansätze alles zu erfassen vermag: Schematisierung gerät in Gefahr, nur in einem abstrakten Raum zu stimmen; Hermeneutik kümmert sich um „semantische Enklaven“9; ein energetischer Ansatz beschreibt z. B. Hüllkurven, die auch anders ausgefüllt werden könnten. Musik spielt sich so betrachtet in drei verschiedenen Räumen ab – einem abstrakten, einem sozialen und einem leiblichen Raum –, die sich jedoch nie ganz überlagern. Was Sinn-Strukturen betrifft, so würde ich zunächst, ungeachtet des komplexen Geflechts von Überlegungen, die sich an diesen Terminus knüpfen, hier den Begriff Semiotik verwenden, wenn es um Aspekte struktureller Kohärenz und Stimmigkeit geht, Semantik hingegen, wenn es sich um bildhafte, zitathafte, kulturell kodierte Einschlüsse handelt.10 Sinn, so wie er aus dem dritten Aspekt erwächst – mit Nietzsche gesprochen „das Elementarische in der Musik […] –
6
R. Murray Schafer, The Soundscape of the World, Rochester 1994, S. 9 f.
7
Vgl. Christoph Hilgert, „Bericht zur Sektion ‚Sound History‘ beim 49. Deutschen Historikertag in Mainz”, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte4457.
8
Johann Christian Lobe findet diese Kombination zum ersten Mal in einer Ouvertüre von Friedrich Schneider zu Schillers Braut von Messina von 1817 (Lehrbuch der musikalischen Komposition, Leipzig 1878, Bd. 2, S. 446).
9
Tibor Kneif, zit. nach Vladimir Karbusicky, Grundriss der musikalischen Semantik, Darmstadt 1986, S. 5.
10 Ich folge dabei der Bemerkung von Raymond Monelle, die Semiotik von Jean-Jacques Nattiez und Jean Molino sei ursprünglich der Versuch einer „Verbannung“ der Semantik gewesen“, vgl. The Sense of Music (2000), hier zitiert nach der französischen Übersetzung, Un chant muet, Paris 2016, S. 29.
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Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik“11 – möchte ich zunächst mit dem Begriff Haptik fassen. Mit Hilfe dieser Unterscheidungen soll nun versucht werden, einige Aspekte von Pierre Schaeffers Überlegungen zu Klang und Bedeutung zu beleuchten.
2. S CHAEFFERS K LANGSEMIOTIK In dem Traité des objets musicaux (1966) unterscheidet Schaeffer drei Arten von Musik. Die „A priori-Musik“, deren extremes Beispiel die serielle Musik ist, stellt sich als eine Art „Algebra“ da, die eine „abstrakte Intelligenz“ erfordert, eine „autoritäre“ Haltung gegenüber Interpret und Hörer einnimmt, und sich an ein „theoretisches Ohr, wie wir es nie besitzen werden“, wendet.12 Ein solche Musik ist zentriert auf Partituren, die immer nur ein „Aufriss“ [épure] sein können13 und fast ausschließlich auf Tonhöhen, Dauern und Lautstärken ausgerichtet, welche die „Werte“ [valeurs] darstellen, auf denen sie beruht.14 Es handelt sich also um die Musik der Noten und nicht der Töne, um die Musik des verschriftlichten Klangs. Die musique concrète, die Schaeffer 1948 erfunden hatte, umgeht hingegen die Verschriftlichung, sie geht mehr experimentell als konstruierend vor,15 sie möchte das Konkrete des Klanges „aufnehmen, aufsammeln“ [recueillir].16 Zur Zeit des Traité liegen die Ursprünge dieser Musik jedoch bereits fünfzehn Jahre zurück: Die aktuellen Recherchen nennt Schaeffer „experimentelle Musik“, die z. B. rein elektronische mit konkreten Klängen kombiniert (wie in Luciano Berios Omaggio a Joyce oder Karlheinz Stockhausens Gesang der Jünglinge).17 Seine eigene Etude aux allures (1958) könnte diese Entwicklung, im Vergleich etwa zu den vier Etudes de bruits (1948), veranschaulichen. Schaeffers Fazit ist jedoch, dass auch diese Musik noch keine authentische Kunst hervorzubringen vermochte, da sie nicht auf
11 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, hg. von Peter Pütz, Kap. 8, München 1988, S. 27. 12 Pierre Schaeffer, Traité des objets musicaux, Paris 1966 S. 20–22; vgl. auch S. 288 f. und 292 f. Falls nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen aus dem Französischen vom Autor. 13 Ebd., S. 58. 14 Ebd., S. 165. 15 Ebd., S. 22. 16 Ebd., S. 23. 17 Ebd., S. 25.
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jenen fundamentalen Forschungen beruhte, deren Programm eben der Traité des objets musicaux entwirft. Der Traité liefert nicht die Theorie zur musique concrète, sondern die Theorie zu deren Überwindung. Diese Forschungen sollen in einen neuen solfège einmünden, eine neue musikalische Elementarlehre, die nun nicht nur Töne mit Notennamen, Dauern und dynamischen Zeichen versieht, sondern Klänge benennt, beschreibt und sortiert. Der neue Ansatz besteht darin, aus dem pittoresken Kontinuum der Klänge, ihrer endlosen Varianz – mit Hegel gesprochen, dem „schlechten Unendlichen“ des Klangs – das herauszufiltern, was Schaeffer diskrete „Werte“ nennt. Solche Werte sind Grade von Rauheit, Brillanz, Allüren oder Verlaufsformen der Klänge.18 Der konkrete solfège erfasst also nicht einfach Klänge, sondern „musikalische Objekte“. Diese werden durch eine Dekontextierung aus der Vielfalt der Klänge herausgelöst, welche das Ohr, eine neu zu trainierende Hörhaltung, ein „Neuerlernen des Hörens [entendre]“19 möglich macht. Der neue solfège soll also aus zwei kombinierten Ansätzen gespeist werden: aus einer neu einzuübenden Hörhaltung (dargestellt in Buch II des Traité) sowie physikalischen und/oder psychoakustischen Befunden (deren aktuellen Stand das Buch III zusammenfasst).20 Das objet musical steht also auf der Schnittfläche zwischen einer Akustik und einer „Intentionalität“, für deren Beschreibung Schaeffer auf Passagen von Edmund Husserl zurückgreift.21 Das Klangobjekt ist also nicht die Klangquelle oder der Klangkörper (etwa die Saite), auch nicht das Stückchen Tonband, auf dem eine ganze Anzahl solcher Objekte vorkommen können, aber auch kein „Seelenzustand“.22 Zumal wenn man an diese Erforschung gemeinsam herangeht, wenn man sie kollektiv vornimmt, kann man „gewiss zu einer Objektivität“ gelangen, es werden sich zumindest „intersubjektive Einigungen ergeben“.23 Am Ende der Forschungen soll „nicht das Okjekt an sich stehen, sondern das Objekt einer Kommunikation,
18 Vgl. ebd., Buch V. 19 Ebd., S. 26. 20 Ebd., S. 162. 21 Vgl. Martin Kaltenecker, „L’Ecoute comme exercice collectif“, in: Pierre Schaeffer. Les Constructions impatientes, hg. von Martin Kaltenecker und Karine Le Bail, Paris 2012, S. 190–200, und zuletzt Pauline Nadrigny, Le Concept d’objet sonore, Thèse de doctorat en philosophie, Université Paris 1, 2014. 22 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 95–98. 23 Ebd., S. 118. Vgl. auch S. 125 (ein „kollektives Forschungsprojekt“).
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einer kollektiven Kommunikation“24 – solchen wertvollen und sinnvollen Objekten ist das Hören im Endeffekt auf der Spur. Für Schaeffers Theorie des Hörens ist die Unterscheidung von Paul Valéry zwischen Poesie und Prosa grundlegend. Jene ist „ein in die Länge gezogenes Zögern zwischen Sinn und Klang“, weil der Dichter den materialen Aspekt „bemerken, respektieren lassen und bewahren“25 will. In der Prosa geht es hingegen um die Information, sodass der Klang Nebensache ist und vom Sinn gewissermaßen aufgelöst wird. Schaeffer sagt: „Je besser ich eine Sprache verstehe, desto schlechter vernehme ich sie“.26 Das neue Hören soll nun wieder beides verbinden: Für Schaeffer besteht diese Fähigkeit zum Beispiel darin, mit einem „konkreten Ohr“ dem Palaver der Abgeordneten auf einem internationalen Kongress zuzuhören, um – jenseits (oder diesseits) der Bedeutung der Reden – ihre Sinnlosigkeit, den „total unlogischen Mechanismus“ einer Argumentation herauszuhören.27 Das hierzu geeignete Dispositiv ist das „akusmatische Hören“, bei dem also die Schallquelle (Musiker, Sprecher, Instrumente) unsichtbar sind. So ist etwa das Tonbandgerät „ein Instrument, das das Ohr vorbereitet, ihm einen Schirm [„écran“, auch: eine Projektionsfläche] liefert, es Schocks aussetzt, es ihm ermöglicht, Klänge zu demaskieren“.28 Somit erscheint das intentionale Hören wie die ideelle Entsprechung des akusmatischen Dispositivs: Husserls Reduktion ist „noch strenger“ als die akusmatische Reduktion.29 Das objet musical ist das „Resultat von Synthese-Akten“30 und es schält sich aus Abschattungen heraus, von Schaeffer übersetzt als „Skizzierungen“ [esquisses].31 Diesen „Abschattungen“ können vier Hörhaltungen entsprechen, die wir gegenüber jedem Klangereignis einnehmen können.32 Beim Zuhören [écouter] iso-
24 Ebd., S. 38. 25 Paul Valéry, so zit. in: Pierre Schaeffer, Machines à communiquer 1, Paris 1970, S. 106. 26 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 270. 27 Schaeffer, Machines à communiquer 1, S. 20 und 29. 28 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 34. 29 Ebd., S. 268. 30 Ebd., S. 263. 31 Ebd., S. 341. 32 Man kann dabei die vier Bilder zu Hilfe nehmen, die auf dem Titelblatt des Buches reproduziert sind (➜ Abb. 1): Ein Notensystem mit einem fis als Pizzicato (oben links); die Hand eines Geigers, der diesen Ton spielt (oben rechts); ein Ohr (unten rechts); die Nahaufnahme einer schwingenden Saite mit dem entsprechenden Spektrogramm (unten links). So wie die meisten Schemata, die im Traité vorkommen, muss auch dieses Bild
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Abbildung 1: Pierre Schaeffer, Traité des objets musicaux, Titelbild; © 1966, Paris: Seuil
liere ich das, was mich an einem Klang interessiert, ich höre durch ihn hindurch, ich kümmere mich um die Klangquelle (das Geräusch, das ein Motor macht, zeigt seinen Gang an, dieser oder jener gezupfte Klang eine Harfe oder ein Streichinstrument)33. Ein mehr passives Wahrnehmen dessen, was mir „gegeben ist“34 wird mit Vernehmen [ouïr] bezeichnet, etwa das Auf-Sich-Zukommenlassen von Naturlauten oder Fetzen von Musik. Das Hinhören [entendre] wird von der Etymologie her verstanden als Intention,35 es ist ein intentionales, anpeilendes Hören „…
im Uhrzeigersinn gelesen werden, wobei man oben rechts (bei der Hand) beginnt und oben links (bei dem fis) angelangt. Vgl. Kommentar in: Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 116. 33 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 113, 104 und 106. 34 Ebd., S. 104. 35 Ebd., S. 104 und 113.
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in Bezug auf“, das das „Objekt vertieft“.36 Und schließlich besteht das Verstehen [comprendre, auch mit dem ursprünglichen Sinn eines „Umfassens“] in einer eher abstrakten und reflexiven Entzifferung, die sich auf kulturelle Codes bezieht (ich verstehe z. B. ein gewisses Klang-Amalgam als Dominantseptakkord).37 Das Hinhören bezeichnet den Übergang zu „Qualitäten“ des Klangs – es will „den Klang, so wie er mit akustischen Parametern qualifiziert werden kann“38 – zur wissenschaftlichen Beobachtung und Reduktion. Der Klang wird von gewissen Aspekten „entkleidet“, wird Gegenstand eines Sichtens, Abklärens, Aussortierens, damit nur diejenigen Qualitäten zurückbehalten werden, die es ermöglichen, das Klangobjekt mit anderen in Beziehung zu setzen oder es auf andere Bedeutungssysteme zu beziehen.39 Genau das ist das Herausschälen von Werten, die es ermöglichen, es „zu vergleichen, zu ordnen, zu staffeln, trotz des disparaten Eindrucks der wahrgenommenen Aspekte“.40 Diesen „Sinn-Werten“ widmet sich das Forschungsprojekt, von dem ein großer Teil in den Büchern V und VI des Traité entwickelt wird, der Entwurf einer Typologie und Morphologie, der dann irgendwann eine Charakterologie, eine Analyse und eine Synthese folgen sollte, die den Übergang zur Musik der Zukunft leisten sollen. Dann werden Bausteine zuhanden sein, deren Prägnanz ihnen einen „Wert“ verleiht, der dem von Tonhöhe und -dauer in der „A priori-Musik“ entspricht.41 „Sinn“ wird also „verstanden“, im Bereich des comprendre: Er ist das objektive Residuum einer Systematisierung, die dem „ausgewogenen“ objet musical42
36 Vorlesung am Conservatoire de Paris, 22. Januar 1969. Ein großer Teil der Transkriptionen dieser Vorlesungen befindet sich im Archiv Pierre Schaeffer, IMEC (Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine), Abbaye d’Ardenne (Caen). 37 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 104, vgl. S. 327. 38 Ebd., S. 169. 39 Ebd., S. 119. 40 Ebd., S. 318 („le résidu fort mince des valeurs formelles communes“). 41 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 344. Solche Bausteine werden der Gemeinschaft der Komponisten zur Verfügung gestellt, und eine Vorform wurde auch im Service de la Recherche erarbeitet, in Form von kleinen Schränken, die Lochkarten stecken, auf denen jeweils ein „gutes“ Klangobjekt beschrieben ist. 42 Ebd., Kap. XXV.
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einen quasi-sprachlichen Charakter verleiht: „Auf diesem Niveau versteht der Hörer eine gewisse Sprache der Klänge“, sagt Schaeffer.43 Solche Klangobjekte können dann sowohl mit anderen Klängen als auch mit „außer-klanglichen Elementen“ verbunden werden44 – nicht im Sinne von (lokalen) Assoziationen, sondern von abstrakter Stimmigkeit, wie sie etwa eine Rede, Diskurse, Strukturen allgemein charakterisiert. Sie sind allgemeinverbindlich, da nunmehr, wenn sie so neu gehört (und/oder kompositorisch inszeniert) werden, „endgültig das Ereignis vergessen wird“, also der den normalen Hörer im ersten Moment interessierende Ursprung.45 Schaeffers Semiotik ist also eine Semiotik des Verstehens [comprendre], die mit einer formalistischen Auffassung der Komposition als abstrakter Klangrede einhergeht, in der die Ursprünge der Töne, ihre Ereignishaftigkeit ausgeblendet werden sollen.
3. D ER K ONTEXT
DER STRUKTURALISTISCHEN
L INGUISTIK
Der formalistische Ansatz46 wird bei Schaeffer durch einen Einfluss der strukturalistischen Linguistik gestützt. Der Traité des objets musicaux erscheint 1966, also im „Lichtjahr des Strukturalismus“.47 Es geht ihm ein langer Dialog mit Claude Lévi-Strauss über den Sinn der musique concrète voraus, der am 25. Mai 1952 nach einem Konzert im Saal des Ancien Conservatoire begann, in dem Etüden von Schaeffer, Timbres-durées von Olivier Messiaen und die Symphonie pour un homme seul von Schaeffer und Pierre Henry zu hören waren. In einem Brief vom September 1952 berichtet Lévi-Strauss von seiner Lektüre des eben erschienenen Buchs À la recherche d’une musique concrète von Schaeffer und spielt auf eine „bereits lang zurückliegende Diskussion“ an.48 Er zeigt sich erstaunt darüber, dass Schaeffer Musik und Sprache trennt, denn die Sprache sei ja „wie eine Art
43 Ebd., S. 114. 44 Ebd., S. 116. 45 Ebd., S. 318 (ebenso S. 303). 46 Zu der Tradition des Formalismus seit Eduard Hanslick vgl. Nicholas Cook, „Musikalische Bedeutung und Theorie“, in: Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, hg. von Alexander Becker und Matthias Vogel, Frankfurt am Main 2007, S. 80–128, hier S. 88–94. 47 François Dosse, zit. bei Jean-Jacques Nattiez, Lévi-Strauss musicien, Arles 2008, S. 35. 48 Lettre de Claude Lévi-Strauss à Pierre Schaeffer, Camcabra, Valleraugue (Gard), 1er septembre 1952, Archives François Bayle.
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innere Maschine, die es dem Menschen überhaupt erst erlaubt, alle anderen Maschinen zu konzipieren und zu bauen“. Alle anderen (nach diesem Modell funktionierenden) Sprachen beruhten auf einer kleinen Anzahl von Elementen, und in beiden Fällen (Musik und Sprache) entsteht der Sinn (la valeur significative, also sowohl der „ Bedeutungswert-Wert“, als auch der „ausschlaggebende“ oder „signifikante Wert“) auf der Kombination der Elemente und nicht auf jedem isoliert betrachtet.49 Dieser Gedanke führt Lévi-Strauss schließlich zu seiner bekannten Verurteilung der musique concrète in Le Cru et le Cuit (1964). Er moniert den Überschuss von unartikuliertem Sinn, und hebt das Risiko hervor, dass aus der musique concrète ein „kindliches Brabbeln“ werde; dort, wo sie vermeinte, zu sprechen, würde sie nur neben dem Sinn herumstolpern“.50 Es fehlten ihr objektive, verbindliche Werte, wie Tonhöhen und Tonleitern. Der Anthropologe zieht also ein ähnliches Fazit wie Schaeffer selbst zwei Jahre später, hier, um jenen Neubeginn zu begründen, der in eine Semiotik des comprendre einmünden soll, die die „guten“ Bausteine herauszubilden weiß. Für Schaeffer entspricht dieses Vorgehen auch einem Übergang von Phonetik zu Phonologie.51 Der Sektor des comprendre geht über die endlosen Variationen, um die sich die Phonetik kümmert, hinaus und bildet Phoneme durch Erfassen von ausschlaggebenden Differenzen: „Das Hören von Phonemen […] bestätigt unsere Gleichgültigkeit gegenüber den oft beträchtlichen akustischen Variationen“.52 So stellt der Phonetiker „eine Liste von phonetischen Materialien (Frikative, Dentallaute, usw.) auf, die man mit der Liste der instrumentalen Fakturen (Reiben, Pizzikatos, usw.) vergleichen kann“.53 Das objet sonore entspricht also auch dem Phonem.
49 „La parole elle-même est aussi éloignée de la théorie du langage que la musique de la théorie acoustique. Or l’expérience prouve que toutes les langues, et que toutes les musiques, n’ont jamais fait appel qu’à un très petit nombre d’éléments et que, dans les deux cas, la valeur significative réside dans les combinaisons d’éléments peu nombreux, non dans ces éléments eux-mêmes et pris isolément […]“ (ebd.). 50 Claude Lévi-Strauss, Le Cru et le cuit (1964), Paris 2009, S. 30 f. (dt. Übersetzung von Eva Moldenhauer: Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt am Main 1971, S. 41). 51 Genauer gesagt will Schaeffer versuchen, die Ebene der Bedeutung nicht anzuschneiden, und er hält sich so an die Ebenen von Phonetik und Phonologie, „die allerdings in der Musik sehr viel wesentlicher sind als in den Sprachen“; die anderen Niveaus sind die der Worte (Lexikologie) und der Sätze (Syntax); Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 294 f.). 52 Ebd., S. 288. 53 Ebd., S. 317.
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Einen solchen Umschlag erklärt Schaeffer ebenfalls am Beispiel der Klangfarbenmelodie. Schaeffer stellt sich zuerst eine Folge von objets sonores vor. Wenn sie langsam abläuft, ruft sie eine écoute musicienne hervor, die spontan auf den Klang der einzelnen Glieder merkt; wenn sie schneller abläuft, und so quasi zu einer Melodie wird, dann ruft sie eine écoute musicale hervor, ein Hören, das eine Struktur erfasst, die auf dominierenden Werten beruht – die Struktur gerät in den Vordergrund. Im Fall einer instrumentalen Melodie, bei der jede Note von einem anderen Instrument gespielt würde, treten wiederum die einzelnen Klangobjekte (die Klangfarben) zu stark hervor und die Melodie zerfällt. Im Fall der Klangfarbenmelodie schließlich müssten alle anderen Parameter vollkommen „maskiert“ sein; vor allem sollte nur eine einzige Tonhöhe gespielt werden. Wenn das der Fall ist, hören wir aber wiederum nur die Instrumente (und nicht die Linie, die minimale Melodie); die Klangfarbenmelodie ist also nur eine Instrumentalmelodie. Die Klangfarbenmelodie, ein Beispiel aus dem Bereich der „A-priori-Musik“, ist ebenso unmöglich wie die musique concrète: in dem einen Fall bleibt der Ursprung präsent (wenn wir ein Motorengeräusch hören, denken wir im Endeffekt doch an einen Motor), im anderen lässt sich die Tonhöhe nicht unterkriegen.54 Immerhin verweist das Beispiel darauf, dass „eine Permutation von Werten und Charakteren“ denkbar ist: Was einmal „nur eine Variante war“ (sozusagen im Rahmen einer Klangfarben-Phonologie), kann „den Wert eines Phonems in einem zukünftigen System“ annehmen.55 Man kann im Endeffekt also von Werten, aber „nicht von Zeichen“ sprechen. „Wo aber kann der Sinn der musikalischen Objekte gefunden werden, wenn nicht in ihrem intrinsischen Wert? Wie könnte eine Gesellschaft irgendwelche x-beliebigen Launen fixieren, die vor anderen Ohren wohl kaum länger standhielten? Daher die Sackgasse einer Musik ‚an sich‘, die mit solchen Objekten nur spielen würde, einer „Akulogie“, die so sinnlos wäre wie eine ‚Phonologie‘. Auch die Musik wird selbstverständlich erst auf der höheren Ebene sinnvoll, genau wie die Sprache: Auf der Ebene der Kombination von Wert-Objekten, wenn ich mich so ausdrücken darf. Und genau da liegt die Debatte um den musikalischen Sinn, eine Frage, die sich am reinsten in der reinen Instrumentalmusik stellt. Die Kombination dieser Objekte (von denen in der absoluten Musik nur zwei Werte übrigbehalten werden [Tonhöhe und -dauer]) impliziert ganz offensichtlich ein kollektives musikalisches Bewusstsein. Die mehr oder weniger notwendigen Relationen zwischen den kombinierten Ob-
54 Ebd., S. 301 f. 55 Ebd., S. 303.
182 | M ARTIN K ALTENECKER jekten einerseits und den Merkmalen eines musikalischen Wahrnehmungsfeldes andererseits, so wie es den Menschen charakterisiert, erscheinen uns nunmehr als das wesentliche Problem der Musik.“56
4. S CHAEFFERS K LANGSEMANTIK
UND - HAPTIK
Die Musik der verschriftlichten Töne, die „A-Priori-Musik“, hatte einen Rest vergessen, mit dem die für Schaeffer 1966 bereits überholte musique concrète gearbeitet hatte. Sie war von einer Verwandtschaft elektronischer Klänge mit außereuropäischen Instrumenten ausgegangen, die „gut zueinander passen“,57 von Homologien zwischen dem Klang von Donnerblechen und von Kleiderbügeln,58 von individuellen Varianten und Spielräumen, etwa dem „persönlichen Stil eines Geigers“, so wie er sich in einem Pizzicato ausdrückt,59 von den Variationen eines Klangs, die man mit einem Tonband produzieren kann,60 von der Idee einer individuellen parole, die das System der langue aktualisiert: „So wie die Sprache das, was man die Musikalität der Rede nennt, verworfen hat […], so hat die Musik die Klanglichkeit der Noten und ihr Spiel verworfen. Deshalb wurde das objet sonore vergessen“.61 Dadurch hatte die musique concrète nicht den Weg des Werks, sondern des Materials eingeschlagen,62 was alsbald zu einem Exzess geführt hatte: Ein „excès de timbre“, ein Klangfarben-Überschuss63 all dessen, was die drei Grundwerte der „A-priori-Musik“ – Tonhöhe, Tondauer, Laustärke – hatte in Frage stellen wollen. Dieser Überschuss war aber ein semantischer gewesen: Die musique concrète bestand aus Klängen, die „ihren Ursprung herausschreien“.64 Das „reduzierte“ Hören im Sinne von Husserls épochè, als Ausschaltung des Wissens um – oder der Frage nach – dem Ursprung der Klangobjekte, ist also eine Form von Evakuierung der Semantik zugunsten einer neuen Semiotik. Diese Hal-
56 Ebd., S. 311. 57 Ebd., S. 19. 58 Ebd., S. 62. 59 Ebd., S. 56. 60 Ebd., S. 65. 61 Ebd., S. 310, auch S. 8 f. und 17. 62 Ebd., S. 35. 63 Ebd., S. 66. 64 Ebd., S. 65.
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tung bedarf einer großen Anstrengung, fast einer Askese, da das Ereignis (der Ursprung und die Quelle des Klangs) trotz allem immer „unterschwellig in jedem Klangobjekt“ vernehmbar bleibt.65 Die Utopie, „Geräusche ohne Texte und ohne Kontext“66 wahrzunehmen, ist nicht zu realisieren: Die Semantik lässt sich nicht verdrängen,67 der Ursprung konnotiert den Klang und durchkreuzt oder erschwert die Reduktion. Selbst in Form einer Schleife68 wird das Fragment eines Chansons von Edith Piaf oder das scheppernde Geräusch von Kochtöpfen wie die Metonymie einer Lebenswelt, wie ein Zitat gehört, es funktioniert wie ein Bild. Daher Schaeffers retrospektive Kritik an der Symphonie pour un homme seul, die 1966 von ihm als „ein Zwitter, etwas Hybrides zwischen Musik und Poesie“ bezeichnet wird.69 Die Ablehnung von Hermeneutik passt zu Schaeffers formalistisch-linguistischem Habitus und zu einem Kontext, der vom Strukturalismus geprägt ist, dem “cold war of mimesis and abstraction”, wie es Karol Berger einmal formuliert hat.70 Sie geht einher mit der traditionellen Ablehnung des Literarischen in der Musik. 1978 aber, am Ende auch der „experimentellen“ Epoche, zu einer Zeit, die für Schaeffer von autobiographischen Projekten geprägt ist, wird dasselbe Werk ganz anders gehört. Der Klang ist nun Dokument der Geschichte und Resonanz einer Biographie: „In der Symphonie pour un homme seul (1951) gab es diese fürchterlichen Schritte auf der Treppe, die Schläge an der Tür, die direkt von dem Terror der Gestapo herkamen, so wie auch der Herzschlag; da war der laute Schrei zu Beginn, ‚Ohé‘, der aus einer amerikanischen Platte gestohlen worden war, On a note of triumph; da war das ‚präparierte Klavier‘ von Cage, wunderbar revidiert von Pierre Henry, auch die plärrenden Kinder und umgedrehte Schüsse […], da gab es ein raues Gestöhn, Laute, die die erschöpfte Schlacht der Paare oder
65 Ebd., S. 293. 66 Pierre Schaeffer, À la Recherche d’une musique concrète, Paris 1952, S. 12. 67 Zu dieser Frage, vgl. z. B. William Luke Windsor, A Perceptual Approach to the Description and Analysis of Acousmatic Music, Doctoral Thesis, University of Sheffield (1995) oder Karl Traugott Goldbach, „Akusmatisches und ökologisches Hören in Luc Ferraris Presque rien avec filles“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3/1 (2006), S. 127–137. 68 Zu Schaeffers Techniken vgl. Peter Manning, „La musique et ses appareils“, in: Kaltenecker/Le Bail (Hg.), Pierre Schaeffer, S. 140–151, und zuletzt Tilman Baumgärtel, Schleifen. Zur Geschichte und Ästhetik des Loops, Berlin 2015, S. 53–88. 69 Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 24. 70 Karol Berger, The Theory of Art, Oxford 2002, S. 139.
184 | M ARTIN K ALTENECKER der Armeen abbildeten […] und zum Schluss ein riesiges Gelächter, das zum Schnürboden aufstieg. […] Der Mensch nahm alles, was ihm zur Verfügung stand, um sein eigenes Unglück zu verspotten.“71
Die beiden Ebenen des musikalischen Sinns bei Schaeffer – die objektive Semiotik der kompositorisch verwendbaren Werte und die subjektive Semantik der zentripetalen Assoziationen – entsprechen in etwa dem, was Roman Jakobson „introversive“ und „extroversive“ Semiose genannt hat.72 Hinzu kommt jedoch auch bei Schaeffer, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe,73 eine dritte Schicht, die man mit dem Begriff Haptik bezeichnen könnte. Den anfangs genannten drei Aspekten entsprechen verschiedene Hörhaltungen: Der strukturelle wendet sich an eine ideale oder zukünftige Hörgemeinschaft (das Werk wird so strukturiert, „als ob“ es analytisch von einer solchen durchgehört werden könnte); der bildhafte an eine gegenwärtige, aktuelle Hörgemeinschaft, mit der das Werk dank eines gemeinsamen Fundus von Anspielungen kommuniziert; der dritte wendet sich an den Hörer als Körper, oder an eine Hörgemeinschaft, deren Verhalten eventuell zum Ritual oder zum Mysterium tendiert. Struktur impliziert immer ein konzentriertes, quasianalytisches Verfolgen und Mithören; das „assoziative“ Hören gleicht einem normalen Zuhören, während der dritte Aspekt etwas von einem Lauschen oder Lauern hat, als Gespannt-Sein auf etwas, oder Gepackt-Werden von etwas.74 Bei Schaeffer hat die Faszination für den Klang und dessen Bedeutung auch einen theologischen Hintergrund. Das Motiv einer „Sprache der Dinge“, das seine Texte durchzieht75 und das auch den Titel des ersten Satzes der Symphonie, nämlich „Prosopopée“, erklärt (von prósopon, also „Gesicht“, „Maske“, „Person“ der Dinge, die erklingen), hängt mit einer Art Deismus zusammen, also der Vorstellung eines abwesenden Gottes, der uns die Natur zur Entzifferung zurückgelassen
71 Pierre Schaeffer, Les Antennes de Jéricho, Paris 1978, S. 222. 72 Roman Jakobson, „Le langage en relation avec d’autres systèmes de communication“, in: ders., Essais de linguistique générale, II, Paris 1973, S. 100. 73 Martin Kaltenecker, „Pierre Schaeffers Theologie des Hörens“, in: Musik & Ästhetik 18 (2014), Nr. 71, S. 5–21. 74 Vgl. auch die Resultate eines von François Delalande durchgeführten Hörexperiments, das zu der Unterscheidung eines taxinomischen, eines figurativen und eines empathischen Hörens führte: „Analyse musicale et conduites de réception, ‚Sommeil‘ de Pierre Henry“ (1983), zuletzt in: François Delalande, Analyser la musique, pourquoi, comment?, Paris 2013, S. 35–89. 75 Vgl. z. B. Pierre Schaeffer, Essai sur la Radio et le cinéma [1942], hg. von Sophie Brunet, Paris 2011, S. 49 und 51, sowie Schaeffer, Traité des objets musicaux, S. 659 f.
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hat, mit der alten Idee der Natur als Chiffreschrift. Der Klang ist also auch ein geheimnisvolles bzw. unendliches Objekt und Gegenstand einer quasi religiösen Aufmerksamkeit: Es ist der Rest, das Supplement, das nur für eine mystische Haptik greifbar ist. Schaeffer geht so weit, das Aufnehmen des Klangs mit der Aufnahme der Eucharistie zu vergleichen: „Ein Kind kommuniziert. Es sammelt sich, wird still, es wartet auf etwas, das von ihm oder von dem hohen Besucher kommen wird, etwas, das weder gewöhnlich noch exzessiv ist und das Gefühl gegenseitiger Präsenz verstärkt, von mir zu Ihm, von Ihm zu mir. Zumeist aller Worte entkleidet, besteht die Anbetung, noch bevor sie eine Intention ist, aus Aufmerksamkeit, Mobilisierung des Bewusstseins. […] Ein Hörer hört einen Klang (und nicht etwa eine Rede zum Einschlafen, oder eine Musik zum Träumen, Tanzen, Weinen oder Lachen). Man bietet seinem Hören dieses Stück Klang dar, man wiederholt es für ihn, und er verwendet seine Anstrengung darauf, so wie er ein Licht, eine Türklinke, die Linie des Horizonts fixieren würde. […] Ich will nicht behaupten, dass sich alles gleicht, dass alles äquivalent ist. Aber ich will hoffen, dass man mir notgedrungen darin folgen wird, hier […] ein grundlegendes Phänomen zu entdecken, jene Kommunikation des Objekts mit dem Subjekt, eine implizite und unbenannte…“76
76 „L’Esprit de contradiction“, in: Sophie Brunet, Pierre Schaeffer, Paris 1969,
S. 211 f.
Schwarzweiß- und Farbfernhören Klang und Semantik bei Maurico Kagel und in der African Art Music T OBIAS R OBERT K LEIN
Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ein mühsames Geschäft. Dafür sorgt freilich nicht nur die das Wirken der „Furie des Verschwindens“ erfolgreich durchkreuzende Präsenz von Archiven, Sammlungen und Speichermedien. Im Zeitalter globaler Verflechtungen wird die Arbeit des Historikers zusätzlich noch durch ästhetische Vorurteile erschwert, die trotz sich stetig verändernder kultureller Kontexte ebenso hartnäckig im Souterrain des musikalischen Bewusstseins verweilen: “What sense does it make, after a century and a half of regular, continuous, and imaginative use, to describe the guitar as a ‘foreign’ instrument in Africa, or a church hymn as representing an alien musical language […]. We may, in time, naturalize procedures depending on the meaning they have come to have for us. Otherwise, we would have to insist, every time we hear the Beethoven Violin Concerto, that the violin originated in the Middle East, that strictly speaking, it is not a European instrument, and therefore that all compositions for violin by European are hybrid at the core, always already marked as ‘oriental’“1
Ähnliches gilt auch für die klangliche Semantik der nicht selten mit entsprechenden geographisch-kulturellen Assoziationen belegten Musikinstrumente. Noch zu
1
Kofi Agawu, Representing African Music. Postcolonial Notes, Queries, Positions, New York 2003, S. 148.
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Beginn des sich durch seine wirtschaftliche und kulturelle Vernetzung fundamental von früheren Epochen abhebenden 20. Jahrhunderts2 steht ihre Verwendung bei einem Komponisten wie Franz Schreker in einer exotistisch-kolonialen Tradition. Im zweiten Akt seiner Oper Der ferne Klang erscheint eine „mit der Hand zu schlagende Trommel, wie sie die Negervölker bei ihren Tänzen verwenden“, als Teil einer ebenso wie Csardas, Walzer und Barcarolenklänge die soziale Promiskuität des vor der Küste Venedigs gelegenen Schauplatzes verdeutlichenden akustischen Kulisse.3 Doch beginnt man noch in der Zeit von Schrekers rauschenden Opernerfolgen, den Gebrauch nicht-europäischer Musikinstrumente zugleich ästhetisch und theoretisch zu reflektieren. Der Komponist und Pädagoge Jaap Kool tritt im von Hermann Scherchen begründeten Melos für den Einsatz indonesischer Gongs in rhythmisch akzentuierter Gebrauchsmusik ein: „Zweifellos liegt in unserer fortlaufenden fließenden, von Stimmführung getragenen Musik ein Hinderungsgrund, das Gong sinngemäß in unseren Partituren zu verwenden, jedoch gibt es gerade in der modernen Entwicklung der Musik verschiedene Möglichkeiten, das Gong zu verwenden. Ich denke hier naturgemäß in erster Linie an die zur Zeit am dringendsten gewünschte ‚Gebrauchsmusik‘: Die Musik zum Bühnentanz und zur Tanzpantomime, also ebenfalls eine Musik, die in erster Linie im Dienste einer Zeiteinteilung steht. Daher geben gerade auf diesem Gebiete der Musik die Eigenarten der exotischen Musik uns so viele Anregungen, und deshalb ist es nicht ein rückwärts, sondern vorwärts gerichtetes Interesse, das uns zum Erwähnen der exotischen Musik an dieser Stelle bestimmte.“4
2
Vgl. z. B. Gianmario Borio, „Vom Ende des Exotismus, oder, der Einbruch des Anderen in die westliche Musik des 20. Jahrhunderts“, in: Was bleibt? 100 Jahre Neue Musik, hg. von Andreas Meyer, Mainz 2011, S. 114–133.
3
Vgl. Ulrike Kienzle, Das Trauma hinter dem Traum. Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“, Schliengen 1998, S. 187–207. Die Autorin charakterisiert diese auf den Vergnügungsbezirk „Venedig in Wien“ anspielende Sphäre, die schon in Peter Altenbergs Ashantee (1897) aufscheint, mit dem der Klangsensualistik Schrekers nur partiell angemessenen Begriff der „Montage“. Bezüglich der „afrikanischen Trommel“ verweist sie auf den ursprünglich vorgesehenen Auftritt einer „beleibte[n] Negerin“, die sich zu den Tänzen der „Zigeunerkapelle“ bewegt (S. 188 und 196).
4
Jaap Kool, „Neue Musikinstrumente. Gongspiele – Anklongs“, in: Melos 3 (1922), S. 140–147, hier S. 142 f.
K LANG UND S EMANTIK BEI M AURICO K AGEL UND IN DER A FRICAN A RT M USIC
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Derartige Erwägungen stehen unverkennbar im Kontext der Tendenz, spätromantisch-schwelgerischen Klangwogen eine linear konturierte Ensemblemusik entgegenzustellen,5 welche durch die analytische Auseinandersetzung mit der auf Umspielung, Verlangsamung und Beschleunigung einer (virtuellen) Tonfolge basierenden Gamelan-Musik später noch eine wesentliche Ausdehnung erfährt.6 In Rolf Liebermanns mehr als ein Jahrhundert nach Debussys Pariser Weltausstellungsbesuch7 uraufgeführter Oper Freispruch für Medea (Hamburg 1995) wird jener strukturellen und klanglichen Faszination indessen eine kulturelle Semantik aufgebürdet, die zum historischen Kontext feudaler indonesischer Hofmusik8 in einem auch aus der Perspektive der „Gender-Studies“ beredt verschwiegenen Widerspruch9 steht. „Die ursprüngliche Kultur des Matriarchats findet ihren Raum in einem aus zarten, exotischen und orgiastischen Farben geformten Gamelan-Orchester. Die patriarchalische Kultur des Jason wird dagegen vom klassischen Symphonieorchester verkörpert: dramatische Männermusik mit einem starken Blechbläserapparat, dumpfen und harten Schlagwerk, monotonen und repetitiven Figuren sowie ständigen Stops und Zäsuren.“10
Ein derartige dichotomische „Instrumentalisierung“ der Gamelan-Musik sorgt nicht zuletzt deshalb für Irritationen, weil sie sich der seit Komponisten wie Steve Reich oder György Ligeti weitverbreiteten ethisch-ästhetischen Reflexion des Gebrauchs nicht-europäischer Instrumente verweigert. Ähnliches gilt auch für die bislang nur wenig beachtete klangliche und semantische Integration afrikanischer
5
Vgl. Tomi Mäkelä, Klang und Linie von Pierrot Lunaire zu Ionisation (= Interdisziplinäre Studien zur Musik 3), Frankfurt am Main 2004, S. 64–66 bzw. 78–79.
6
Henry Spiller, Javaphilia: American Engagements with Javanese Music and Dance, Honolulu 2015. Vgl. auch Michael Tenzer, Gamelan Gong Kebyar. The Art of the Twentieth Century Balinese Music, Chicago 2000, S. 433–440.
7
Annegret Fauser, Musical Encounters at the 1889 Paris World’s Fair, Rochester 2005.
8
Vgl. z. B. Mantle Hood, The Evolution of Javanese Gamelan. Book II: The Legacy of the Roaring Sea, Wilhelmshaven 1984 sowie Benjamin Brinner, Music in Central Java. Experiencing Music, Expressing Culture, New York 2008.
9
Corinna Herr, Medeas Zorn. Eine ,starke Frau‘ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts, Herbolzheim 2000, S. 274 f.
10 Klaus Angermann, „Gibt es einen Ausweg? Zu Rolf Liebermanns Oper ,Freispruch für Medea‘ in der Inszenierung von Ruth Berghaus“, in: Auftakt. Das Magazin der Hamburgischen Staatsoper, September 1995, S. 9 f., hier S. 10.
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Musikmodelle bei Mauricio Kagel, die dieser Aufsatz durch ihre Konfrontation mit der vor einem völlig verschiedenen habituellen Hintergrund entstandenen „African Art Music“ in Nigeria, Uganda und Ghana historisch und konzeptuell zu konturieren sucht. In Kagels umfangreichem Schaffen spitzt sich die Auseinandersetzung mit den Topoi Exotismus und Folklore erstmals zu Beginn der 1970er Jahre zu.11 Das hier zunächst zu betrachtende Werk Exotica für außereuropäische Instrumente ist zum einen jener Gruppe von Kompositionen zuzurechnen, deren Zentrum anstelle des in Stücken wie Match oder Staatstheater zelebrierten instrumentalen Theaters12 ein den hör- wie sichtbaren Akt der Klangerzeugung thematisierendes Instrumententheater bildet.13 Auf der anderen Seite korrespondiert das Werk durch die Montage und Verfremdung seiner instrumentalen Ressourcen auch mit Kompositionen wie der Musik für Renaissanceinstrumente oder Kantrimiusik und weist konzeptuell zugleich auf die kritisch verkehrten Kolonisierungsgeschichten in Mare Nostrum14 und Die Eroberung Amerikas voraus.
11 Peter Andraschke, „Exotica aus Deutschland. Soziologisches Fragen in Kompositionen von Mauricio Kagel“, in: Mauricio Kagel (= Musik-Konzepte 124), hg. von Ulrich Tadday, München 2004, S. 51–70, dort (S. 56) auch ein Überblick zu seinen bis zum Beginn der 1980er Jahre „Folklore bzw. Folklorismus [...] zum Zweck der Auseinandersetzung“ mit soziologischen, politischen und historischen Fragen aufgreifenden Kompositionen. Zu Kagels musikalischen Anfängen in Argentinien vgl. jetzt Christina RichterIbáñez, Mauricio Kagels Buenos Aires (1946–1957). Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen, Bielefeld 2014. 12 Matthias Rebstock, Komposition zwischen Musik und Theater. Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel zwischen 1959 und 1965, Hofheim 2007 und Christa Brüstle, Konzert-Szenen. Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000 (= BzAfMw 73), Stuttgart 2013, S. 123– 151. 13 Matthias Kassel, Das Auge hört mit. Mauricio Kagels Instrumententheater von ‚Der Schall‘ (1968) bis ‚Zwei-Mann-Orchester‘ (1971–73), Diss. Humboldt Universität zu Berlin 2014. Kassel rechnet zu dieser Gruppe neben Exotica und dem im Mittelpunkt seiner Darstellung stehenden Zwei-Mann-Orchester auch die Werke Der Schall, Unter Strom (1969), Acustica (1968–1970) sowie die Teile „Repertoire“ und „Spielplan“ aus Staatstheater (1970). 14 Vgl. Anne Kersting, „Entdeckung, Befriedung und Konversion in Mauricio Kagels szenischer Komposition ‚Mare nostrum‘, in: Topographien der Kompositionsgeschichte
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Während in Reichs Drumming der in den ersten Skizzen noch präsente Klang afrikanischer Instrumente gegenüber formalen Konzeptionen mehr und mehr zurücktritt,15 reduzieren Kagels fast gleichzeitig komponierte Exotica umgekehrt die Wahrnehmung außereuropäischer Musik auf ihre klanglichen Qualitäten – in kritischer Absicht, wie apologetisch gestimmte Interpreten nicht müde zu betonen wurden. Die ausführliche Erläuterung zu der im Rahmen des kulturellen Beiprogramms der Münchener Olympiade von 1972 uraufgeführten Komposition beschreibt dabei die grundsätzliche Vorgehensweise: „In diesem Stück wirken 6 Musiker unter einem Dirigenten mit, die eine beliebige Anzahl von außereuropäischen Instrumenten (mindestens 10 pro Musiker) spielen. Es können Klangerzeuger jeder Art – also: Zupf-, Blas-, Streich- und Schlaginstrumente – verwendet werden, die in der europäischen Kunst- und Volksmusik der letzten Jahrhunderte unbekannt blieben. In dieser Komposition wurde weitgehend berücksichtigt, daß die meisten Interpreten die Spielweise des in Frage kommenden Instrumentariums nur bedingt beherrschen. So ist der instrumentale Part hier ausschließlich in Dauerwerten und Lautstärkegraden, als fortlaufende rhythmische Monodie, notiert. Der Ausführende kann den vorgeschriebenen Rhythmus mit Tonhöhen in beliebigen Lagen darbieten.“16
Die Kontrastierung der aus der Unerfahrenheit der Interpreten resultierenden Live-Klänge durch „authentische“ Bandaufnahmen stiftet gewollte Verunsicherung, die zugleich eine sich als friedliche Synthese ausgebende, tatsächlich aber
seit 1950 (= Beiträge zur Musik der Zeit 16), hg. von Tobias Hünerman und Christoph von Blumröder, Köln 2011. 15 Vgl. Tobias Robert Klein, Alexander Zemlinsky – Steve Reich. Afrika in der Kompositionskultur des 20. Jahrhunderts, Köln 2014. Reich zeigt sich besonders vom Klang der im Ewe-Gebiet der Volta-Region verwendeten Atoke-Glocken fasziniert. Auch das in einem ersten rudimentären Versuch im Rahmen der auf zwei Hände verteilten Phasenverschiebung eines einfachen Dreierpatterns skizzierte „Skipping“, wird am 19. August 1970 mit „2 iron bells – may be three (adwuro) – the Ashanti kind that ^ing# out without damping“ assoziiert (S. 134). Später wendet sich Reich von der Verwendung afrikanischer Instrumente ab („No money to buy drums”) und selbst der spätere Titel „Drumming“ entspricht einer Kapitelüberschrift des unmittelbar neben den Skizzen exzerpierten Buchs von Arthur H. Fox-Strangways The Music of Hindostan (S. 141–143). 16 Maurico Kagel, Exotica für außereuropäische Instrumente, London u. a. [1974], o. S. [Erläuterung].
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auf nur wenige Parameter beschränkte Usurpation fremder Musikkulturen problematisiert. Original und Imitation werden durch die Einpassung in teils überdeterminierte, teils aber auch aleatorisch offen gelassene Strukturmuster für das ungeübte Ohr ununterscheidbar. Die solcherart desavouierte Authentizität spitzt sich auf den zum kreativen Scheitern verurteilten Versuch des „Farbfernhörens“ zu: „Das Authentische von Exotica resultiert so vor allem aus einem Mangel in den Vorschriften und Spielaktionen, genauer aus dem Mißverhältnis von präzise Vorgeschriebenem und fehlenden gleich präzisen Ausführungsbestimmungen für das, was sich Notation und Vorschrift entzieht. […] Der wortlose Gesang und mehr noch die exotischen Instrumente werden zu Siglen des Nichtbeherrschten. Was sie als Heimschmuck zweckentfremdet oder als Exponate ihrem Wesen völlig fremd in Museen erleiden, wird gerade durch inadäquaten und inkompetenten Gebrauch erkennbar. Ihre Eigenart reduziert sich auf die Komponente Klangfarbe, dem komplementären (hörbaren) Gegenstück ihres Aussehens.“17
Der performativ unmittelbar erkennbaren „Körperlichkeit, mit der die Instrumentalisten agieren müssen, um diese Musik überhaupt hervorbringen zu können“18 – Kagel spricht an anderer Stelle von „immanentem Theater“19 – stehen strukturell fünf verschiedene Modi der Aneignung und Verfremdung außereuropäischer Musik gegenüber. Ein aus stetig erweiterten und schließlich in absteigende Glissandobewegungen überführten Motivpartikeln bestehender A-Teil, in dem nur Rhythmik und Dynamik festlegt werden, wird durch die miteinander korrespondierenden Abschnitte B-E und C-D ergänzt. Die in B von der Einspielung authentischer Aufnahmen beflügelte Imagination der Interpreten bleibt in Teil E auf sich allein gestellt und führt so notwendig ins Ungefähre. Im Teil D improvisatorisch aus größeren Zusammenhängen herausgelöste Strukturmuster „exotischer Musik“ wie Modalität oder rhythmische Repetition werden zuvor im Teil C eingeführt, wo sich auch ein von Claus Raab als Imitation afrikanischer Musikmodelle charakterisierter Unterabschnitt findet.
17 Claus Raab, „Zum Problem authentischer Musik: Eine Interpretation von Mauricio Kagels Exotica“, in: Reflexionen über Musik heute: Texte und Analysen, hg. von Wilfried Gruhn, Mainz 1981, S. 290–315, hier S. 314. 18 Matthias Rebstock, „Zur Präsenz des Abwesenden im instrumentalen Theater von Mauricio Kagel“, in: Vom instrumentalen zum imaginären Theater. Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel, hg. von Werner Klüppelholz, Hofheim 2008, S.65–83, hier S. 80. 19 Mauricio Kagel, Dialoge/Monologe, hg. von Werner Klüppelholz, Köln 2001, S. 211.
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„Im Abschnitt C5 ist das Allgemeine im Einzelnen, das Gesetzte und Gesetzmäßige, das Modalität verursacht und gewährleistet, noch hinter abgegrenzten, individuellen Gestalten verborgen. Nicht einzelne Elemente (Werte) des Modus werden gereiht und kombiniert, sondern aus Einzelwerten gebildete Modelle; sie lassen eine Modellpolyphonie und -heterophonie entstehen. Man wird an afrikanische Polyrhythmik erinnert, die als Grundlage verschiedener Modelle nur einen einheitlichen gleichbleibenden und qualitätslosen Grundpuls und die exakt festgelegten Einsätze dieser Modelle im Verhältnis zueinander kennt. C5 ist dieser Exotik noch nahe, sie ist in ihm konkret und fühlbar.“20
Der von Instrumenten wie Trommeln oder Xylophonen ausgehende Klangeindruck überwiegt gegenüber strukturellen Wahrnehmungen, die durch die Spielanweisungen des C-Teils (freie Anzahl von Wiederholungen, Beschleunigungen und Verlangsamungen sowie Tonhöhenschwankungen) zudem stets relativ bleiben. Nicht erst Raabs z. T. auf ältere Theorien der additiven Konstruktion afrikanischer Rhythmen rekurrierende Analyse, sondern bereits Kagels „exotistische Kritik“ schlägt sich an dieser Stelle mit ihren eigenen Waffen, indem sie durch die aleatorische Preisgabe fester Konturen den Mythos von einer der Gängelung der Interpreten entgegengesetzten außereuropäisch-prämodernen Freiheit ungeprüft fortschreibt. Kagels angesichts der Geschichte von Chinoiserien oder MinstrelShows wenig reflektiert anmutender „Humor“ reduziert dabei die Eigenheiten der verwendeten Instrumente seinerseits auf eine klangliche Differenz zur europäischen Musikkultur: „Denn was die wesentliche Differenz der Musikkulturen ausmacht – soziokultureller Kontext, idiomatischer Gebrauch von Stimme und Instrumenten, unterschiedliche Musik- und Tonsysteme und Musikpraxis – wird aus Exotica konsequent ausgeschlossen. […] Kagel behandelt die Problematik des Interkulturellen nicht grundsätzlich anders als die des Historischen (etwa in der Musik für Renaissance-Instrumente), des Musikalisch-Populären (etwa in der Kantrimiusik) oder des Institutionellen (wie in Staatstheater.)“21
20 Raab, „Zum Problem authentischer Musik“, S. 301. 21 Christian Utz, Neue Musik und Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun (= BzAfMw 51), Stuttgart 2002, S. 181.
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Schon die in der Literatur verbreitete Bewertung von Exotica als kritischer Rekurs auf die imperialen Klangspiele der Stockhausenschen Telemusik22 erscheint angesichts derartiger Einwände nicht unproblematisch. Über eine ideologische Kritik an Kagels Kölner Antipoden hinaus, der sich zum vom Genius geküsster Herrscher über kulturell entfunktionalisiertes Material erhebt, ist das Stück aber auch als Versuch einer kompositorischen Demaskierung beschrieben worden: Die am Ende des A-Teils durch instrumentale und vokale Mittel vollzogene Nachzeichnung eines charakteristischen Verfahrens der elektroakustischen Musik (die Verlangsamung und klangliche Zerfaserung eines Abschnitts) versteht Knut Holtsträtter als einen Hinweis auf das der Telemusik konzeptuell vorausgehende Stück Kontakte (1960), in dem Stockhausen eine theoretisch proklamierte Zurückführung aller Tonparameter (Farbe, Stärke, Höhe und Dauer) auf die einheitliche Manipulation einer Longitudinalwelle klanglich nur suggeriert, anstatt sie auch technisch auszuführen.23 Sowohl eine solche verdeckt bleibende Allusion als auch die in Raabs Analyse im Zentrum stehende schriftliche Erscheinungsform des Werks treten gegenüber dem semantisch zweifellos wirksameren Klangeindruck der Schallplattenproduktion hingegen zurück. Dieser bestimmt, lange bevor die verstärkte Zugänglichkeit außereuropäischer Kulturen ebenso wie die fortschreitende Vermengung musikalischer Idiome den Rezeptionshorizont des Stückes erneut verändern,24 schon die kritischen Stimmen der Zeitgenossen: „Unser imperiales Verhältnis zu andern Kulturen ist mittlerweile deutlich geworden, und Kagels ‚Exotica‘ schließen sich solchen – längst vergangen geglaubten – Bemühungen getreulich an. Mit der Arroganz dessen, der ES besitzt, der allemal nur der Verfügende ist, wird mit auswechselbaren musikalischen Fragmenten solcher Kulturen Schnickschnack ge-
22 Vgl. bereits Jürg Stenzl, „Orientfahrten“, in: Zwischen den Grenzen. Zum Aspekt des Nationalen in der Neuen Musik (= Veröffentlichungen des Paul Hindemith Instituts 11), hg. von Dieter Rexroth, Mainz 1979, S. 122–128, der Stockhausens kompositorischklangliche Hybris mit dem dürren Eskapismus der gleichzeitig aufkommenden „New Age“-Bewegung vergleicht, sowie Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 137–171. 23 Knut Holtsträtter, Mauricio Kagels musikalisches Werk. Der Komponist als Erzähler, Medienarrangeur und Sammler, Köln 2010, S. 94–107. 24 Vgl. Peter Niklas Wilson, „Welt-Musik-Politik: Das Fremde als Projektion, Imitation, Illusion in Mauricio Kagels Exotica“, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 17 (2000), S. 227–239 sowie allgemein David Toop, Exotica. Fabricated Soundscapes in a Real World, London 1999.
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trieben. [...] Er parodiert eine Rezeptionsgeschichte, die eben erst begonnen hat, und er befummelt mit musikalischen Mitteln eine Musik, deren Perspektivität erst eben sichtbarer wird.“25
Einige der vielfach als Zurücknahme einstiger performativ-satirischer Schärfe (miss)verstandenen späten Werke Kagels setzen solcherart atomisierte Bruchstücke „folkloristischer“ Musik in hörbar anderer Form wieder zusammen. Die klangliche Konstante der zwischen 1988 und 1994 entstandenen Stücke der Windrose bildet ihre Wiedergabe durch die punktuell ergänzten Instrumente eines im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Musik außer Kurs geratenen Salonorchesters. Björn Heile hat in seiner ausführlichen Analyse dieses Zyklus besonders die Produktion apokrypher und originalloser Stilkopien im Sinne der Baudrillardschen „Simulacra“ herausgestellt,26 die mit den bewusst zu überzeichnenden Authentizitätsgraden von Exotica freilich nur noch in loser Beziehung steht.27 Neben symbolischen, gattungsgeschichtlichen, materialen oder auch nur diskursiven Anspielungen kommt es dabei – wie Heile anhand von in der Paul Sacher Stiftung verwahrten Skizzen zeigen konnte – sowohl zu unmittelbaren Zitaten (eine aus Moshe Beregovskys Sammlung Old Jewish Folk Music entnommene Melodie im Stück „Osten“) als auch zu Übernahmen musikalischer Strukturprinzipien. Die Takte 142–169 des Stückes „Westen“ adaptieren, wie ein dort ausgeschriebener Verweis auf ein Buch Gerhard Kubiks belegt, eine harmonische Progression der Wagogo-Musik in Tansania (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 1).28 Dieses an anderer Stelle von Kubik ausführlicher erläuterte Überspringverfahren ordnet einer von der zweisaitigen Fiedel Izeze ausgeführten Oberstimme als vokales Pendant den jeweils übernächsten Ton einer aus dem vierten bis zehnten Partialton der Naturtonreihe abgeleiteten pentatonischen Skala zu. Hieraus ergeben sich verschiedene Terz-, Quart- und Quintintervalle.29
25 Vgl. z. B. Wolfgang Burde, „Mauricio Kagel. Exotica“ in: Neue Zeitschrift für Musik 135/24 (1974), S. 524. 26 Jean Beaudrillard, Simulacres et simulation, Paris 1981. 27 Björn Heile, Transcending Quotation. Cross-cultural Musical Representation in Mauricio Kagel’s Die Stücke der Windrose für Salonorchester, Phil. Diss. University of Southampton 2001 sowie ders., „kopien ohne vorbild. Kagel und die ästhetik des apokryphen“, in: Neue Zeitschrift für Musik 162/6 (2001), S. 10–15. 28 Heile, Transcending Quotation, S. 89 f.; Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5. 29 Gerhard Kubik, Ostafrika (= Musikgeschichte in Bildern 1/10), Leipzig 1982, S. 116 bzw. S. 34 f.
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Notenbeispiel 1: Mauricio Kagel, „Westen“ (aus dem Zyklus Die Stücke der Windrose), Höhepunkt und Auflösung des Wagogo-Schemas in T. 152–155; © 1996, Frankfurt am Main u. a.: C.F. Peters Ltd & Co. KG; Abdruck mit freundlicher Genehmigung
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Durch die gleichförmige Repetition des zunächst von den Streichern eingeführten Modells, denen später das Vibraphon und die Tasteninstrumente Klavier und Harmonium folgen, entsteht eine bis zu ihrem allmählichen Zerfasern in sich ruhende pentatonische Insel. Klanglich erinnert sie zum einen an die analytischen Zwecken dienende Übertragung afrikanischer Strukturmodelle auf vermeintlich neutrale Synthesizer30 sowie zum anderen an ihr von Komponisten wie Justin Tamasuza, Dumisani Maraire oder Kevin Volaans31 vorgenommenes Arrangement für europäische Instrumente. Durch deren Verwendung bleibt in „Westen“ diese formal unmittelbarste, von Kagel indessen außerhalb seiner Skizzen nirgends explizit gemachte Anspielung verdeckt. Für sich semantisch primär über den Klang orientierende Hörer überwiegt nicht nur das unmittelbar in diese Passage einfallende, die großen Tage eines Woody Herman evozierende Klarinetten-Solo, sondern auch das Fehlen der – anders als in vorausgehenden Abschnitten – hier ebenso wie Zanza und Xylophon beredt schweigenden Trommeln. Wird in „Westen“ also eine dezidiert auf afrikanischen Strukturprinzipien beruhende Episode instrumental gleichsam entsemantisiert, so suggeriert das Schwarze Madrigal für gemischten Chor und Kammerensemble (Berlin 2000) durch den spezifischen Einsatz seiner instrumentalen und vokalen Ressourcen umgekehrt eine Relation zu afrikanischen Musikpraktiken, die strukturell über weite Strecken nicht gegeben ist. Kagel selbst hat hierbei besonders die Gestaltung der Chorpartien kommentiert, die den im Titel des Stücks angedeuteten Rekurs auf madrigaleske Kontrapunktik mit der Faszination für den absoluten und somit entsemantisierten Klang afrikanischer Sprachen verbindet. Hierbei tritt zunächst der aus der Frühgeschichte der elektronischen Musik wohlbekannte und somit erneut
30 Vgl. für ein eindrückliches Beispiel dieses seit Simha Aroms Forschungen immer wieder praktizierten Verfahrens: Klaus Peter Brenner, Die kombinatorisch strukturierten Harfen- und Xylophonpattern der Nzakara als klingende Geometrie, Bonn 2004. 31 Kritisch hierzu Gerd Grupe „,Cultural Grey-Out‘ oder ,Many Diverse Musics‘? Musikkulturen der Welt in Zeiten der Globalisierung“, in: Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, hg. von Christian Utz, Saarbrücken 2007, S. 21 f. Vgl. auch Martin Scherzinger, „György Ligeti and the Aka Pygmies Project“, in: Contemporary Music Review 25 (2006), S. 227–262 sowie Geoffrey Poole, „Black – White – Rainbow. A Personal View on What African Music Means to the Contemporary Western Composer“, in: Composing the Music of Africa. Composition, Interpretation and Realisation, hg. von Malcom Floyd, Aldershot 1999, S. 295–334.
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auch das Schaffen Stockhausens berührende Phonetiker Werner Meyer-Eppler ins Blickfeld:32 „In den späten fünfziger Jahren war ich bei Werner Meyer-Eppler an der Bonner Universität eingeschrieben, um Kommunikationstheorie und Linguistik zu studieren. Ich war von den Klick-Lauten fasziniert, die afrikanische Studenten dort demonstrierten. Schon damals hatte ich vor, ein Chorstück mit diesem Material zu schreiben. Aber weder beherrschte ich eine der 650 Bantu-Sprachen und -Dialekte, noch konnte ich verlangen, dass Chorsänger diese Wörter richtig artikulieren. Deshalb habe ich mich für Ortsnamen von Städten, Dörfern und Ansiedlungen aus Afrika entschieden, weil diese Namen auch mit falscher Betonung ausgesprochen werden können. [...] Ich konnte so diese wunderbar klingenden Worte unbelastet verwenden, ohne an eine Übersetzung des Sinnzusammenhanges zu denken. Ich wollte keinen aufbrausenden Exotismus feiern, lediglich schlichte Begeisterung für Worte, die uns sonst nicht geläufig sind.“33
Zunächst kann auch bei dieser sich von einem „aufbrausenden Exotismus“ distanzierenden Aussage über einen gewissen linguistischen Dilettantismus kaum hinweggesehen werden: Denn selbstverständlich sind jene Bantusprachen, in die Schnalz- und Klicklaute aus Khoisan-Sprachen übergegangen sind, deutlich von anderen Untergruppen der großen Niger-Kongo-Familie zu unterscheiden, denen ein erheblicher Teil der von Kagel verwendeten Ortsnamen zuzuordnen ist.34 Vordergründig ergibt sich so eine Parallele zu Exotica, wo für die Ausführung des Vokalparts anstelle eines „festgelegten Textes“ die freie Nachahmung einer „stark nasale[n] und gutturale[n] Intonation“ empfohlen wird. Dies rückt die ExotimusKritik zugleich in die Nähe der in Schnebels Maulwerken, aber auch in Kompositionen Nonos, Ligetis, Berios und Kagels Anagrama (1957/58) vorexerzierten
32 Vgl. z. B. Elena Ungeheuer, Wie die elektronische Musik ,erfunden‘ wurde: Quellenstudie zu Werner Meyer-Epplers musikalischem Entwurf zwischen 1949 und 1953, Mainz 1991 sowie spezifisch für den hier verhandelten Aspekt Georg Heike, „Die Bedeutung der Phonetik in der Vokalkomposition von Stockhausen“, in: Internationales Stockhausen-Symposion 1998 (= Signale aus Köln 4), hg. von Imke Misch und Christoph von Blumröder, Saarbrücken 1999, S. 206–215. 33 „Chaos will organisiert sein“ (Interview von Volker Straebel mit Mauricio Kagel anlässlich der Uraufführung seines Schwarzen Madrigals); http://www.straebel.de/ praxis/index.html?/praxis/text/t-kagel_int.htm>, Abruf am 08.09.2014. 34 Vgl. z. B. Kay Williamson und Roger Blench, „Niger-Congo“, in: African Languages – An Introduction, hg. von Bernd Heine und Derek Nurse, Cambridge 2000, S. 11–42.
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Atomisierung von Sprachlauten.35 Der absolute Klang triumphiert über die verbale Semantik der Städtenamen, die in Afrika wenigstens so erkennbar und verbindlich bleibt wie im Falle von Köln oder Buenos Aires. Solcherart nähert sich das zum 75. Gründungsjubiläum des Berliner Rundfunkchores komponierte Chorwerk jenem vokal-pädagogischen Schaustück, zu dem sich die Tochsche Fuge aus der Geographie erst im Zuge ihrer widersprüchlichen Rezeption entwickelte.36 Ein szenisches Gegengewicht entsteht aus dem Zusammenspiel von Interjektionen („Ja“, „Nein“, „Wohin“) mit der für die Madrigal- und Motettenkomposition charakteristischen Abschnittsbildung. Die „systematische Rhythmisierungen auf der Basis der Silbenzahlen“ als Grundlage der Ableitung „rhythmische[r] Parzellen für das Schlagzeug“37 aufgreifenden Strukturen werden performativ überdeckt. Für das Begleitensemble greift Kagel zwar, sieht man einmal von dem szenisch inspirierten Gag einer als obligates Rhythmusinstrument eingeführten Kokosnuss ab, auf kulturell möglichst neutral bezeichnete Perkussionsinstrumente zurück. Dennoch wird auf diese Besetzung gegen Ende der Komposition ein zentrales Charakteristikum afrikanischer Tonsprachen übertragen, das den Instrumental- und Vokalpart ideell miteinander verbindet. Die große Trommel wird, während der Chor schweigt, zur „talking drum“ umfunktioniert und deutet (klischeehaft) die Wiedergabe sogenannter „Surrogate Languages“ an (➜ Notenbsp. 2, Audiospot 2).38
35 Utz, Neue Musik und Interkulturalität, S. 179. Die genannten Kompositionen und Komponisten bilden den Gegenstand der Dissertation von Kagels Apologeten. Vgl. Werner Klüppelholz, Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G. Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti, Saarbrücken 21995. 36 Carmel Raz, „From Trinidad to Cyberspace: Reconsidering Ernst Toch’s Geographical Fugue“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2 (2012), S. 227–243. 37 Matthias Kassel, „Textgespinste: Zur textlich-musikalischen Verflechtung in einigen Vokalwerken Mauricio Kagels“, in: Vom instrumentalen zum imaginären Theater. Musikästhetische Wandlungen im Werk von Mauricio Kagel, hg. von Werner Klüppelholz, Hofheim 2008, S. 39–53, hier S. 51. 38 Ein Begriff, den für die sogenannte Trommelsprache J. H. Kwabena Nketia in seinem Beitrag „Surrogate languages of Africa“, in: Linguistics in Subsaharan Africa (= Current Trends in Linguistics 7), hg. von Thomas A. Seboek, The Hague 1971, S. 699–732, prägte.
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Notenbeispiel 2: Mauricio Kagel, Schwarzes Madrigal, Einsatz der „Talking Drum“, T. 477–479; © 1999, Frankfurt am Main u. a.: C.F. Peters Ltd & Co. KG; Abdruck mit freundlicher Genehmigung
Die rhythmische Komplexität der Passage entsteht indessen nicht durch die für westafrikanische Perkussionsensembles charakteristische Überlagerung interagierender Timeline-, Supporting und Masterdrum-Pattern, sondern wird durch den
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übergreifenden Wechsel vom 3/8- zum 4/8-Takt begünstigt. Die erste Stimme dieser zwei- bzw. dreiteiligen Struktur markieren die Pedalakzente der Großen Trommel (auf den ersten Zählzeiten) und eine durch die Taktwechsel in unregelmäßigem Abstand von Sechzehntelnoten durchbrochene Achtelfolge. Dazu kommen Agogo-Glocken und Kongas, deren Pattern sich aus drei in jedem Takt neu kombinierten Grundelementen ergeben: a) Zwei auf dem gleichen Instrument gespielte Sechzehntelnoten in verschiede-
nen Tonhöhen. b) Die auf zwei Stimmen verteilte Folge zweier Sechzehntelnoten in verschiede-
nen Tonhöhen. c) Vier Zweiunddreißigstelnoten identischer Tonhöhe innerhalb einer Stimme Gegen Ende des Zwischenspiels verengt sich die rhythmische Vielfalt allmählich auf ein einheitliches Schlagmuster, das mit einem Rallentando und dem Einsatz der Posaune schließlich zum Ende der Episode führt. In der Gestaltung des Vokalteils lässt sich anders als in dieser pseudo-afrikanischen Insel in den Takten 354–397 bzw. 398–476 ein Gegensatz beobachten: Ein für Exotica zentrales Prinzip wird außer Kraft gesetzt, indem statt der Vermengung authentischer und pseudo-exotischer Klänge zwei für das europäische Komponieren paradigmatische Techniken gleichsam schwarz-weiß aufeinanderstoßen. Kagel kontrastiert eine der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts verpflichtete Passage zunächst mit einer Deklamation des Textes etwa im Stile Orffs oder der Stravinskyschen Psalmen-Symphonie, um dabei gleichzeitig auf die nicht mehr an eine spezifische Tonhöhe gebundenen Ausdrucksmittel verschiedener afrikanischer Sprachen anzuspielen (➜ Notenbsp. 3, Audiospot 3). Eine als kompositorische wie ästhetische Standortbestimmung erhellende Konfrontation der von Kagel solcherart kreierten und konturierten Strukturen mit Werken der „African Art Music“ führt zu der durchaus heiklen Frage, in wie weit ein akustisch ähnliches Klangbild vergleichbar auch dann bleibt, wenn ihm konzeptuell völlig verschiedene Voraussetzungen zugrunde liegen. Die (post)koloniale Komposition afrikanischer „Art Music“39 ist dabei sowohl in den größeren Zusammenhang der die musikalische Produktion des Kontinents bestimmenden kulturellen Übersetzungsprozesse gestellt, als auch – im Gegensatz zu den „Popular
39 Kofi Agawu, „The Challenge of African Music“, in: Musiques Contemporaines 21/2 (2011), S. 49–64.
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Notenbeispiel 3: Mauricio Kagel, Schwarzes Madrigal, Auszüge der vokalpolyphonen und deklamatorischen Passagen in T. 439–441; © 1999, Frankfurt am Main u. a.: C.F. Peters Ltd & Co. KG; Abdruck mit freundlicher Genehmigung
Arts“40 – in ihrer Notwendigkeit grundsätzlich in Zweifel gezogen worden: Die mit „Art Music“ gemeinhin assoziierte strukturelle Komplexität oder ästhetische Kontemplation nehmen Autoren wie der nigerianische Literatur- und Kulturtheoretiker Abiola Irele bereits für die im Laufe des 20. Jahrhunderts umfangreichen
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Kanonisierungsprozessen unterliegende traditionelle Musik in Anspruch.41 Ihre fehlende Breitenwirkung drängt „African Art Music“ dementsprechend in eine soziale und ästhetische Nischenexistenz, die auch hier das Hervortreten sogenannter „University Composers“ begünstigt. Der 1935 in Lagos als Sohn eines Organisten geborene Ayo Bankole war ein solcher Komponist. Nach dem ersten Unterricht bei T. E. K. Philipps und Fela Sowande in Nigeria studierte er von 1957 bis 1960 Klavier, Komposition und Orgel an der Londoner Guildhall School of Music sowie am Clare College in Cambridge (1961–1964) und war bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1976 als Senior Music Producer des Nigerianischen Rundfunks und Universitätsdozent in Lagos tätig. Zu seinen Kompositionen zählen neben Klavier- und Orgelmusik (wie der Toccata and Fugue42) zahlreiche Chorkompositionen, darunter ein Requiem, das Christmas Oratorio und die groß besetzte FESTAC-Cantata. Dieses bereits 1974 im Vorgriff auf das panafrikanische Kulturfestival FESTAC (Lagos 1977) komponierte Werk ist einer Zeit zuzurechnen, in der das bevölkerungsreiche Nigeria durch Erdölfunde noch in eine von der alltäglichen Banalität des „postcolonial incredible“43 bald enttäuschte Zukunft44 blickte: Den mit Händen zu greifenden Optimismus eines „Morning yet on creation day“45 suggeriert auch die Textgrundlage der Komposition, eine durch Nacht zum Licht schreitende Auswahl aus ins Yoruba übertragenen Psalmtexten. Bankoles Kantate konfrontiert das europäische Gattungsmodell aus Arien, Chören, Rezitativen und Schlussfuge in zwölf einzelnen Nummern mit afrikanischen Elementen46 und bezieht sich tonal und harmonisch dabei auf eine „juxtaposition of diatonic, tonally conceived, harmonies
40 Vgl. Karin Barber, „Popular Arts in Africa“, in: African Studies Review 30/3 (1987), S. 1–78. 41 Abiola Irele, „Is African Music Possible?“, in: Transition 61 (1993), S. 56–71. 42 Vgl. zu diesem Werk Tobias Robert Klein, „Bach in Afrika. Eine Rezeptionsskizze“, in: Johann Sebastian Bach und die Gegenwart. Beiträge zur Bach-Rezeption 1945– 2005, hg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Köln 2007, S. 19– 34, darin S. 24–28. 43 Tejumola Olayinan, Arrest the Music! Fela and His Rebel Art and Politics, Bloomington 2004, S. 2. 44 Vgl. Wole Soyinka, The Open Sore of a Continent. A Personal Narrative of the Nigerian Crisis, New York/Oxford 1996. 45 Chinua Achebe, Morning Yet on Creation Day, London 1975. 46 Ausführlich dazu Godwin Sadoh, „Ayo Bankole’s FESTAC Cantata. A Paradigm for Intercultural Composition“, in: The Diapason 102/7 (2011), S. 25–27.
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and atonal textures, the use of Yoruba inspired modal […] procedures and harmonic-tonal features which suggest an affinity with Bartok and Debussy“.47 Auch in diesem Werk wird die Präsenz Afrikas semantisch indessen vor allem durch rhythmische Charakteristika unterstrichen.48 Die Kantate hebt nach einer einleitenden Fanfare, mit einem formal dem Ablauf der französischen Ouvertüre folgenden Vorspiel an, in denen einschlägige Assoziationen von Herrschaft, Repräsentation und christlicher Zeremonien durch die Verwendung von Orgel und Trompete entstehen (➜ Notenbsp. 449). Notenbeispiel 4: Ayo Bankole, FESTAC. Cantata No. 4, commisioned by the Nigerian Broadcasting Corporation [1974], handschriftliche Partitur, IwalewaHaus, Universität Bayreuth, Nr. 1, T. 1–14: Orgel und Trompete
Nigerianische Instrumente erscheinen ebenfalls zunächst isoliert in einem orchestralen Zwischenspiel (Nr. 3; ➜ Notenbsp. 5) und werden in einigen weiteren Passagen mit Orgel und Trompete kombiniert. Für ihre klanglich-semantische Konnotationen ist dabei von Bedeutung, dass Bankole im Sinne integrativen „Nation Buildings“ Instrumente aus verschiedenen, noch wenige Jahre zuvor durch den blutigen Biafra-Krieg (1967–70) voneinander getrennten Regionen Nigerias zusammenführt. Neben einer Rassel und Glocken handelt es sich dabei um die
47 Bode Omojola, Nigerian Art Music, Bayreuth/Ibadan 1997, S. 59. 48 Martin Scherzinger, “’Art’ Music in a Cross-Cultural Context: The Case of Africa”, in: The Cambridge History of Twentieth-Century Music, hg. von Nicholas Cook and Anthony Pople, Cambridge 2004, S. 583–613. 49 Von den im Folgenden behandelten afrikanischen Kompositionen liegen keine Aufnahmen vor. Einen ersten Eindruck von kleineren Werken Bankoles sowie der Musizierpraxis von Nana Danso Abiams „Pan African Orchestra“ vermitteln verschiedene auf YouTube abrufbare Videos.
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Yoruba-Dùndún-Trommeln Gudugu und Iya-Ilu, je eine große und kleine IkoroSchlitztrommel aus dem Igbo-Gebiet im Südosten sowie später auch die mit einem Doppelrohrblatt ausgestattete Kegeloboe Algaita aus dem Norden des Landes. Daraus resultiert im untenstehenden Beispiel – wenngleich auch hier das viertaktige Agogo-Pattern keine eigentliche Timeline-Formel bildet und die Hierarchie aus Masterdrum, responsorialen Supporting-Drums sowie zeitgebenden Instrumenten sich nicht voll einstellt – ein Klangbild, das westafrikanischer Perkussionsmusik strukturell dennoch näher steht als die Musik von Kagel oder Reich. Notenbeispiel 5: Ayo Bankole, FESTAC. Cantata No. 4 (vgl. Notenbsp. 4), Nr. 3, T. 204–214: Einsatz der nigerianischen Instrumente
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Die Konfrontation dieses bewusst über-ethnisch konzipierten Klangspektrums mit europäischen Instrumenten erfüllt zudem aber eine über die theatralische Präsenz der (instrumentalen) Musikproduktion, wie sie im Zusammenhang mit Exotica und dem Schwarzen Madrigal gestreift wurde, weit hinausgehende Funktion. Deutlich wird dies bei der Rassel Sekere, die – im Gegensatz zu Kagels obligater Kokosnuss – als Teil einer ritualistischen Anrufung im Rezitativ Nr. 8 fungiert. In der Passage werden im Sopran und Alt der Chorstimmen nur die Gottvertrauen artikulierenden Refrainpartien notiert, in die ein Vorsänger entsprechende Formeln im Stil des Ege-Preisgesangs, der in und um Abeokuta bei Begräbnissen, Hochzeiten und zahlreichen weiteren Anlässen rezitierten Fest- und Preisdichtung,50 frei einzufügen hat (➜ Notenbsp. 6). Notenbeispiel 6: Ayo Bankole, FESTAC. Cantata No. 4 (vgl. Notenbsp. 4), Nr. 8, T. 529–534: Vokalpartie im Stil des Ege-Preisgesangs
Auch im fugierten Schlusschor weist der versierte Kontrapunktiker Bankole einer Dùndún-Masterdrum51 ihre traditionelle improvisierend-variative Funktion ohne konkrete Notation zu: Nicht freilich im Sinne der Aleatorik, wie sie europäische
50 Vgl. zuletzt Simeon Olufunso Sonde, „Artistic Significance of Yoruba Orature: A Study of ‚Ege‘, an Oral Poetry of Egba People“, in: Journal of the Nigeria English Studies Association 14/2 (2011), S. 144–158. 51 Akin Euba, Yoruba Drumming. The Dùndún Tradition, Bayreuth 1990, besonders S. 298–336.
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Partituren der 1960er und noch der 1970er Jahre als schwülstiges Memento an die der Ratio der Werkästhetik vermeintlich geopferte Freiheiten52 zelebrieren, sondern als lebendige kulturelle Praxis, die sich selbstbewusst in das vokale Fugengerüst einklink(g)t (➜ Notenbsp. 7). Notenbeispiel 7: Ayo Bankole, FESTAC. Cantata No. 4 (vgl. Notenbsp. 4), Nr. 12, T. 1075–1080: Schlusschor
Anders als Bankole verwendete der ugandische Komponist Solomon MbabiKatana in seinem Mid-Day Dream (1982) ausschließlich afrikanische Instrumente: Zwei im ersten Satz des Werkes vorgestellte Grundthemen kehren in stets neuen Variationen und Instrumentenkombinationen wieder, bis sie klimaktisch (Xylophon vs. Lamellophon, Flöten und Panpfeifen) aufeinander prallen. Seine
52 Für eine (der transkulturellen Dimension des Problems freilich ausweichende) Gegenposition vgl. Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs, Berlin 2014, S. 21 und 241 f.
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Variationstechnik hat der Komponist in einem Aufsatz erläutert, der zunächst ebenfalls die Instrumente der verschiedenen im über lange Jahre von internen Auseinandersetzungen geprägten Nationalstaat Uganda vertretenen Regionen vorstellt. Aus der historisch nachweisbaren Vermischung verschiedener Musiziertraditionen zieht auch Mbabi-Katana entsprechende Inspirationen und Konsequenzen: „Present day music in Uganda is deeply rooted in the past but it is also expressive of current sentiments and feelings and responds to new trends. One can give several examples of adaptations of musical instruments as well as the borrowing of musical idioms that took place in the course of Uganda’s history […] Although the music of African traditional societies is an integral part of life and does not exist in an abstract form, the modern African composer deliberately manipulates musical form for its own sake, just as his of her European counterpart does when composing music.“53
In Mid-Day Dream sind freilich die Konnotationen mit konkreten Instrumenten soweit als möglich neutralisiert, indem sich der Komponist zumeist auf englische Bezeichnungen beschränkt: Die gilt für ein dreizehn ihrer Größe gemäß von oben nach unten angeordnete Holme umfassendes Xylophon (gegenüber den üblichen zwölf Stäben der bekannten Amadinda54), ebenso wie für ein Modell des in weiten Teilen Ugandas verbreiteten „Thumb Pianos“ mit zwölf Zungen, sowie Musikbogen, Flöten und die im Interlocking gegeneinander gestellten Pan-Pipes. Nur bei der so weit als möglich zu vereinigenden Stimmung treten ethnisch konnotierte Bezeichnungen hervor: In der anhemitonisch pentatonischen Materialleiter der Xylophone erscheint die Bezeichnung Ganda aus dem Gebiet um den Victoriasee, bei den nur vier dieser fünf Töne umfassenden Flöten wird auf die Bakonjo im Gebiet um den Mt. Rwenzori in West-Uganda verwiesen. Völlig neutral bleibt mit Bezeichnungen wie Bell, Wood Block und Big Drum das Ensemble der Perkussionsinstrumente, unter denen (gewissermaßen als Korrelat zu Kagels fragwürdiger Kokusnuss) eine zum „Scrapping“ verwendete Pepsi-Cola-Flasche hervorsticht (➜ Notenbsp. 8).
53 Solomon Mbabi-Katana, „New Intercultural Ugandan Music Within the Context of Historical and Ethnic Considerations“, in: Intercultural Music, Bd. 1, hg. von Cynthia Tse Kimberlin und Akin Euba, Bayreuth 1995, S. 95–105, hier S. 100 f. 54 Vgl. auch Gerhard Kubik, „Die Amadinda Musik von Buganda“, in: Musik in Afrika, hg. von Artur Simon, Berlin 1983, S. 139–165.
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Notenbeispiel 8: Solomon Mbabi-Katana, Mid-Day-Dream for African Orchestra [Makere University, Kampala 1982], handschriftliche Partitur mit Erläuterungen und Spielanweisungen, Iwalewa-Haus, Universität Bayreuth, 3. Satz, T. 56–62
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Mit einem anderen Accessoire, dem als „Signa[l] kultureller Autonomie, des Widerstands, der Herausforderung und sogar der Subversion“ eingesetzten „traditionellen Fliegenwedels anstelle des europäischen Taktstocks“,55 leitet Nana Danso Abiam das 1988 in Accra, der Hauptstadt Ghanas, gegründete Pan-African Orchestra.56 Dieses ausschließlich auf afrikanische Instrumente zurückgreifende Ensemble verstand Abiam nicht nur als postkoloniale Eroberung einer zentralen Bastion europäischer Ästhetik, sondern auch als kulturellen Beitrag zur politisch stets angemahnten „self-reliance“. „The orchestra in 1988 was mainly made of flutes, xylophones, string-instruments, that is the gonje and drums. But then over the years we developed the instrumentation and the initial concept, the prescription of the orchestra is actually made of 108 musicians. […] We have been dealing very closely with instrument-makers, xylophone-makers and we help them to think about the fact that we live in a situation or a period in our history now that has necessitated the bringing together of various instruments. And these instruments that have been brought together need to play in tune with each other.“57
Das Orchester konstituierte sich zunächst aus 24 Spielern verschiedener ghanaischer Instrumente und vergrößerte sich durch den Einbezug global verbreiteter Symbole afrikanischer Musikkultur wie dem zimbabwischen Mbira-Lamellophon oder der Stegharfe Kora auf ca. 40 Musiker. Auch Abiams darüber hinausreichende Ambitionen erforderten eine Vereinheitlichung von Ambitus, Stimmung und Tonsystem der in traditionellen Zusammenhängen nicht miteinander kombinierten Instrumente: „Tuning has been an issue, and is still an issue that we are dealing with. The concept of ,out of tune‘, the discrepancies that exist in our music are also allowed… We think that a certain amount of discrepancies is acceptable to us […] For example, the Western Orchestra: it has
55 Daniel Avorgbedor, „Körperliche und nicht-körperliche Expressivität in der afrikanischen Performance. Theoretische Perspektiven und Feldevidenz in der Erstellung eines interdisziplinären Bezugssystems“, in: Kinästhetik und Kommunikation. Ränder und Interferenzen des Ausdrucks, hg. von Erik Porath und Tobias Robert Klein, Berlin 2013, S. 143. 56 Vgl. auch Tobias Robert Klein, Moderne Traditionen (= Interdisziplinäre Studien zur Musik 4), Frankfurt am Main 2008, S. 106–110. 57 Interview des Verfassers mit Nana Danso Abiam, National Theatre/Accra, 8. August 1997.
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gone through about 400 years of development, with all sorts of innovators and composers coming to think about different aspects of the orchestra. I think, the same thing is going to happen to the ,Pan-African-Orchestra‘. You are going to have all sorts of people coming to develop it. It’s only at its very embryonic stage […] But my dream is to see that Africa has an orchestra that is independent of Europe and the West“58
In seiner musikologischen Würdigung des Pan African Orchestra hat Kofi Agawu betont, dass dessen Darbietungen durch ihre „thorough communality” den Eindruck von “transcriptions or arrangements of traditional music“ wecken, was zugleich zu einer “reexamin[ation] [of] our basic taxonomical categories” zwingt.59 Diese überraschende Parallele zu Kagels Kriterien der Authentizität konterkarierenden Exotica unterstreicht freilich auch die historische Zähigkeit einer klanglich vorgeprägten Semantik. Beide völlig unterschiedlich gelagerten Fälle eint ihre (Ent-)Täuschung von auf dichotomische Schwarz-Weiß-Gegensätze oder exotistische Farben setzenden Modi des Fernhörens, wobei Abiam mit dem Begriff „classical music“60 in einem spezifischen historisch-kulturellen Kontext für sich eben jene ästhetische Autonomie reklamiert, die Kagels Komponieren vorderhand aufkündigt: Musikgeschichte wird auch im mehr denn je von transkulturellen Interdependenzen geprägten 21. Jahrhundert61 ein mühsames Geschäft bleiben.
58 Ebd. 59 Agawu, Representing African Music, S. 20. 60 „Our music [is] […] classical in the sense that the music refers to a period [where] intellectual standards that are used in the society as forms that are transmitted from one generation to the other. So from that perspective I don’t have anything against the expression art music. But it is not Ghanaian art music, it is African art music. The music we play goes beyond using Ghanaian elements and characteristics“ (Interview des Verfassers mit Nana Danso Abiam, National Theatre/Accra, 8. August 1997). 61 Vgl. Tobias Robert Klein, „Grenzen der Menschheit. Marginalien zu Globalisierung und transkultureller Musikgeschichte”, in: Musikhistoriographie(n), hg. von Michele Callela und Nikolaus Urbanek, Wien 2015, S. 35–46.
Klangsemantik in angewandter Neuer Musik Überlegungen zu Film- und Bühnenmusiken von Wolfgang Rihm und Pierre Boulez M ARTIN Z ENCK
E INLEITUNG Es gibt sie durchaus auch in den großen, autonom konzipierten Werken von Wolfgang Rihm und Pierre Boulez: diese unmittelbaren Sinnzuschreibungen von Klangzuständen, Klangverwischungen und extrem ausgesparten Klängen, die mit a-synchronen Zeitkonzepten der jeweiligen Musik zusammenhängen – man denke an die Aposiopese im Schlussteil des „Tombeau“ von Pli selon pli, an die Löschungsvorgänge eines an Alban Bergs Violinkonzert erinnernden „effacements“ in Figures-Doubles-Prismes, weiter an die Formen des Ausschweigens im Schlussteil von Wolfgang Rihms Départ und die schleppende Gangart des hinkenden Ödipus in der gleichnamigen Oper Oedipus. Aber diese expliziten Formen einer Klangsemantik speisen sich aus Erfahrungen, bei denen die unmittelbare Zuschreibung von sinnhafter Narration und suggestiver Bildhaftigkeit gegeben ist und auch gefordert wird – wie dies besonders im Experimentierfeld der angewandten Neuen Musik seit den 1920er Jahren und in deren Konsequenzen in den 1950er und 1960er Jahren der Fall ist, in der Bühnenmusik nicht weniger als in Musik zum Film und in der Hörspielmusik. Zu fragen ist dabei insgesamt mit Blick auch auf den jeweiligen Zeitbegriff nach der Typisierbarkeit der Klänge in „glatte“, „gekerbte“, „pulsierende“ Klänge (temps lisse, strié, pulsé) und nach Zeitblasen (bulles des temps) im Sinne von
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Boulez1 und nach „Struktur“- und „Texturklängen“, wie sie Helmut Lachenmann entwickelt hat.2 Verzichtet werden kann bei der Suche nach Traditionsanbindungen aber auch nicht auf die Diskussion entsprechender Klänge als spektral aufgefächerter Einzel-Ton, als Zusammenklang oder als massierter Akkord in einem umfassenden Konzept von musikalischer Syntax und Grammatik. Dabei ist die Freisetzung des Timbre, das bereits bei Webern eine entscheidende Rolle spielt, dann in der Spektralität, vor allem in der Musik von Gérard Grisey, ganz entscheidend, weil die noch bei Webern akzidentellen Einfärbungen bei Grisey zu Formprinzipien erhoben werden. Was „Klang“ jeweils ist, bleibt dem jeweiligen Text, Kontext und Paratext vorbehalten. Er reicht von dem Vor-Echo, bevor die Musik erklingt, bis zur Resonanz im Echo, wenn sich die Musik langsam in der Ferne verliert; der Klang reicht weiter von seiner Unterbrechung und der Suspension, von der Stille, vom spektral und sphärisch aufgefassten Einzelton und seiner Auffächerung im musikalischen Raum bis hin zum dicht massierten und auch repetierten Akkord und schließlich bis hin zu seiner Entladung in einer Detonation, auf die entweder gar nichts folgt oder die resonanzgesättigte Auswirkungen auf das folgende Klanggeschehen haben kann. Dabei stellt sich die Frage, ob denn alles eben Komposition von Klängen ist, die semantisch unterschiedlich besetzt werden, oder ob es nicht andere ereignishafte Parameter des Davor, Dazwischen und Danach, aber auch a-synchrone Vorgänge gibt oder ob doch schließlich Kategorien der Syntax, Grammatik und des musikalischen Raums einen übergeordneten Bezugsrahmen für die jeweilige Funktion des Klangs darstellen. Diese Fragen könnten nicht nur für die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts gestellt werden, in dem Zusammenklänge, Akkorde, also die Harmonik insgesamt eine bestimmte Bedeutung innerhalb einer noch form-
1
Vgl. zur Typisierung verschiedener Klänge innerhalb der Zeit- und Raumachse bei Pierre Boulez in dessen Vorlesungen am Collège de France über „Mémoire, L’écriture et la forme“, in: Pierre Boulez, Leçons de musique. Points de repère III. Deux décennies d’enseignement au Collège de France (1976-1995), hg. von Jean-Jacques Nattiez, Paris 2005, S. 633.
2
Vgl. Helmut Lachenmann, „Klangtypen der Neuen Musik“, in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 1–20. Lachenmann unterscheidet dort bekanntlich systematisch „Struktur- und Texturklänge“ und unterteilt diese nochmals in „Impuls-, Ausschwingungs- und Fluktuationsklänge.“ Dabei entsprechen die unterschiedlich rauen oder auch glatten Gewebeoberflächen der „Texturklänge“ sehr denjenigen des „Temps lisse“ und des „Temps strié“.
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regulativen Syntax haben, die sie strukturieren oder aus der sie emphatisch heraustreten, sondern auch mit Blick auf das 20. und 21. Jahrhundert, in dem eine vergleichbare generative Syntax und Semantik zu fehlen scheint. Für das 18., 19. und frühe 20. Jahrhundert gilt noch der Sachverhalt, dass der Klang, die Harmonik eine Funktion der musikalischen Syntax, d. h. der Bildung von syntaktischen Einheiten und Perioden, auch noch der „musikalischen Prosa“ ist, während sich mit Weberns Werken um 1910, auch mit Schönbergs Farbenstück aus Opus 16, der Klang von seiner syntaktischen Einbindung zu emanzipieren beginnt. Für die Neue Musik nach 1950 müsste dieser Zusammenhang3 ganz neu bestimmt werden vor dem Hintergrund einer neuen Grammatik und „Sprache“, vor der Folie eines neuen Konzepts vom nicht-euklidischen Raum, der das Paradigma einer musikalischen Sprache4 ablöst, und einer neuen Anmutung der Stille als Musik, wobei eben auf die Studie A l’écoute (Zum Gehör) von Jean-Luc Nancy hinzuweisen wäre, wonach „Stille nicht als eine Privation“ auch von akustisch Klingendem verstanden wird, sondern „als eine Disposition zur Resonanz: ein wenig – sogar genau so […] – wie man in einer vollkommenen Stille seinen eigenen Körper hört, seinen Atem, sein Herz und seine gesamt hallende Höhle.“5
3
Vgl. dazu Gianmario Borio, „Zur Vorgeschichte der Klangkomposition“, in: Klangperspektiven, hg. von Lukas Haselböck, Hofheim 2011, S. 27–43.
4
Vgl. dazu auch das Buch Versuch über Musik und Sprache von Albrecht Wellmer, München 2009. Wellmer ist noch weitgehend der – wenn auch problematisierten – Sprachähnlichkeit von Musik gefolgt, ohne zu sehen, dass sowohl die linguistisch fundierte Morphologie der seriellen Musik der frühen 1950er Jahre als auch die Hinwendung zu einem anderen, heterotopen Raumbegriff bei Foucault, Boulez und Nono ein grundsätzlich anderes Sprechen über Musik erfordert, auf Grund ihres „abjekthaften“ Status für den Hörer, der von der Musik vollkommen umgeben und von ihr haptisch durchdrungen wird. Vgl. dazu meine beiden Studien zu Foucault (Martin Zenck, „Passagen zwischen Wissensformen und Wissensräumen. Überlegungen zu den ‚Orten‘ in der Topik, Heterotopie und Utopie bei Michel Foucault“, in: Räume des Wissens. Grundkonzeptionen in der Geschichte der Philosophie, hg. von Karen Joisten, Bielefeld 2010, S. 177–210) und bei Boulez (ders., „Der Gegen-Raum/Die Heterotopie und der virtuell-mobile/szenografische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den ‚Répons‘ und dem ‚Dialogue de l’ombre double‘ von Pierre Boulez“, in: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, hg. von Ralf Bohn und Heiner Wilharm, Bielefeld 2009, S. 135–155).
5
Jean Luc Nancy, A l’écoute, Paris 2002; dt.: Zum Gehör, aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich/Berlin 2010, S. 30.
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In diesem Beitrag möchte ich mich aber ohne umfassende theoretische Rahmung des Themas zwischen linguistisch und sprachphilosophisch orientierter Syntax, Phonetik und Semantik, innerhalb derer das Verhältnis von Klang, Sinn und hypotaktischem Dispositiv zu bestimmen wäre, diesem direkteren Zusammenhang zwischen der Klang-Semantik und der angewandten Neuen Musik zuwenden: dem Bild (eine Chiffre) zu Luis Buñuels Film Un chien andalou von Wolfgang Rihm, der Musik von Pierre Boulez zum Film Symphonie mécanique von Jean Mitry und Boulez’ Bühnenmusiken zur Orestie. Es wird sich zeigen, dass zwischen der Klangsemantik in den autonomen Werken und den angewandten eine enge Verbindung besteht, so dass die eigenständige und konstitutive Isolierung und Projektion von Klangzuständen ohne die kompositorische Erfahrung von deren Anwendung im Hörspiel, Film und im Theater gar nicht möglich wäre.
I. W OLFGANG R IHMS K OMPOSITION B ILD ( EINE C HIFFRE ) ZU L UIS B UÑUELS F ILM UN CHIEN ANDALOU Rihms Bild (eine Chiffre). Komposition für neun Spieler aus dem Jahre 1984 steht in dreifacher Hinsicht zwischen der Sinn-Besetzung von Klängen in sich selbst begründender und angewandt funktionaler Musik. Sie kann erstens für sich aufgeführt und frei von jeglichen Paratexten gehört und verstanden werden; sie ist also kompositorisch tragfähig genug, um sich mit und in der musikalischen Zeit sinnhaft auszubreiten und diese semantisch zu besetzen. Sie kann zweitens, den Hinweisen des Komponisten zufolge, nach dem legendären und schmerzhaften Rasierschnitt durchs Auge am Beginn des Filmes Un chien andalou von Buñuel einsetzen und dann vor allem in der „Schnitt-Technik“ sowohl parallel als auch asynchron zu Buñuels Film verlaufen, um dann plötzlich neun Minuten vor dem Ende des Films abzubrechen, weil die Komposition zum Zeitpunkt ihrer Uraufführung bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik im Jahre 1984 nicht rechtzeitig fertig wurde. Sie kann drittens, auch dem Intratext Rihms zu seiner Partitur zufolge, zumindest imaginär als eigenständige Klangskulptur derjenigen des Films gegenübertreten, der sowohl als Stummfilm, als auch dann 1936, von Buñuel selbst so eingerichtet, als ein surrealistischer Film mit Ausschnitten aus argentinischen Tangos und dem Liebestod aus Wagners Musikdrama Tristan und Isolde existiert.
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Für die Fragestellung der Klangsemantik in der Neuen Musik ist dieses Modell, wie ich es bereits an anderer Stelle vorgestellt habe,6 insbesondere theoretisch belastbar, weil seine Verschränkung von autonomer, dysfunktionaler und funktionaler Musik jeweils eine ganz spezifische Perspektive auf den Klang, seinen Zustand, seine Skulpturalität, insgesamt auf seine semantische Besetzung freigibt und eröffnet. Konkret heißt die Fragestellung: welche Bedeutung erhalten die einzelnen Klänge, ihre Explosivität und stationäre Zuständlichkeit nur von der Partitur, nur vom Hören und von der Aufführung her betrachtet? Wie verändern diese sich, wenn von einer Gegenüberstellung von Klangskulptur und Film ausgegangen wird? Und wie schließlich ist das Verhältnis beider Medien zu verstehen, wenn die Musik parallel mit dem Film verläuft, selbst wenn die Schnitt-Technik des Films jede nur geradlinig-direktionale Diegese unterläuft und die Musik sich zu ihm auch nach dem Hinweis des Komponisten prinzipiell asynchron verhält? Ohne frühere Ergebnisse einfach zusammenzufassen,7 sei hier ein neuer Zugang gesucht, der die drei möglichen Annährungsweisen aus methodischen Gründen strikt voneinander trennt, um deutlich werden zu lassen, was die Musik nur von ihr aus erstens an semantischen Besetzungen erzeugt, was sich zweitens im Verhältnis zu ihr ändert, wenn sie dem Film objekthaft als Klangskulptur gegenüber gestellt wird und drittens was mit der Musik geschieht, wenn sie weniger als Untermalung, sondern vor allem als Übermalung, also als partielle Überblendung im Sinne von Arnulf Rainer, Heiner Müller oder Francis Bacon aufgefasst wird. Zunächst sei also erst einmal nur die Partitur hörend in Augenschein genommen, allerdings zusammen mit der Aufführung dieses Stücks mit dem Ensemble der musikFabrik unter dem Dirigat von Stefan Asbury.8 Bereits die erste Seite (➜ Notenbsp. 1, Audiospot 19) zeigt die für dieses Stück charakteristische unverfügte Klangbildung: Tremolo-Wirbel im Schlagzeug, wie aus dem Nichts,
6
Vgl. Martin Zenck, „Zur Funktionalität/Dysfunktionalität und Autonomie von Musik im Film“, in: Wechselwirkungen. Neue Musik und Film, hg. von Jörn Peter Hiekel, Hofheim 2012, S. 65–80.
7
Während meiner Gastprofessur an der University of Chicago 2013 habe ich dieses Modell erneut zur Diskussion gestellt.
8
Wolfgang Rihm, Chiffre-Zyklus, Ensemble musikFabrik, Stefan Asbury (Dir.), CD 2, Track 1, cpo 777 169-2, 2006 (➜ Audiospots 1 und 2).
9
Die Audiospots sind abrufbar unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3522-5.
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Notenbeispiel 1: Wolfgang Rihm, Bild (eine Chiffre), erste Partiturseite; © 2008, Wien: Universal Edition
aufgefangen scheinbar von den crescendierenden Blechbläsern, zugespitzt zuvor bereits im sfffz des hohen Klaviertons, der in die anschwellende Dynamik der Blechbläser hinein schnellt. Diese scheinbare Steigerung wird gleich wieder zurückgenommen, ein Nachzittern auf die Detonation des Beginns. Dann eine abrupte und lange Generalpause, in die dann Streicherakkorde eingehängt und auch wieder plötzlich unterbrochen werden. Schließlich im letzten Takt der ersten Partiturseite in die Pause wiederum eingefügt ein zugespitzter Akkord, gegenläufig in der Dynamik: während die Blechbläser subito piano spielen, erklingt in den Streichern ein subito ff. Die Klangereignisse sind also insgesamt nur angerissen, sie sind – mit der Ausnahme des Auffangens ihrer Triebenergie – isoliert, schnittartig aneinander gesetzt oder auch von schroffen Pausen unterbrochen, in die sie wiederum ebenso unerwartet einschlagen. Es sind eher herausgeworfene Klangzustände, die in sich vibrieren und erzittern, als eine nach und nach sich steigernde Entwicklung, die gemäß der Tradition dem Prinzip des Organischen folgen würde. Sie verfolgen ein anderes Prinzip als das des organischen Atmens: das einer muskulären Anstauung und Entladung von Kraft, wie sie in der Biodynamik der 1920er Jahre, insbesondere im Bauhaus, entfaltet wurde. Wenn Rihm zusammen mit Heiner Müllers Bildbeschreibung einmal die Formulierung „beschrieben wird
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nichts“ verwendete, so ist der Titel „Bild“ über dieser Partiturseite auch für die Musik kein Anhaltspunkt zur Illustration, weil die energetischen Klänge ganz sie selbst sind, auf nichts Außermusikalisches verweisen und sich auch nicht auf Paratexte im Sinne von Gerard Genette beziehen. Die Musik ist also ganz bei sich, ist ganz Körper, aufgeladen von seiner muskulären Kraft und sonst nichts. Statt seines ruhig systolisch und diastolisch bewegten Atems, tritt der Körper konvulsivisch mit geballter Kraft nach außen, um ebenso plötzlich sich auch wieder nach innen zu ziehen. Kontraktion und Distraktion stehen in plötzlichem Wechsel. Die Musik könnte so weiter beschrieben und gehört werden – mit dem Unterschied, dass nach und nach dann doch aus solchen plötzlichen und eruptiven Klangereignissen ganze sich auch steigernd entwickelnde Klangzustände und Klangzonen werden, vor allem in den ausgedehnten Repetitionsfeldern der Tremolo-Bewegung des Beginns. Unüberhörbar terminiert das ganze Stück in einem Solopart der hohen Trompete auf dem Spitzenton h bzw. b, unverkennbar ist sein Zusammenhang mit dem dreimal ansetzenden Katastrophenton im Zwölftonklang des Adagio von Mahlers 10. Sinfonie: sich schmerzhaft ziehend und schneidend. Folgt man der Logik der Entwicklung zwischen der beschriebenen ersten Partiturseite, der Ausbreitung der Tremolo-Flächen auf ganze scharf skandierende Repetitionsfelder bis hin zu „Wo die schönen und schrecklichen Trompeten blasen“ (➜ Notenbsp. 2, Audiospot 2), dann kann zum Ende hin wieder eine Verdichtung, eine Kontraktion der oben genannten, schroff artikulierten Klangfelder vernommen Notenbeispiel 2: Wolfgang Rihm, Bild (eine Chiffre), Trompetenszene am Schluss; © 2008, Wien: Universal Edition
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werden, die schließlich zu gefrorenen Klängen erstarren und nur noch einzelne Gesten zulassen. Rihm möchte nun seine Musik nicht als „Untermalung“ zu Buñuels Film, sondern als „Übermalung“, also auch als Verwischung und Löschung der unteren optischen Schicht, verstanden haben. Einzig das Schnittverfahren soll an Buñuels Filmtechnik erinnern, aber die Schnitte des Komponisten sind ganz anders gelegt und zäsuriert, überschneiden sich nicht synchron mit ihnen, sondern zerschneiden den Film nach Maßgabe des kompositorischen Verfahrens und nicht nach derjenigen des Films. Das ist zunächst der singuläre Bezugspunkt im je technischen Verfahren und nicht in der geradlinigen oder auch unterbrochenen Diegese, der die Musik folgen würde. Was hat es aber mit den weiteren Hinweisen des Komponisten auf sich, dass die Musik, wenn sie denn überhaupt zum Film gespielt wird, erst nach dem Augenschnitt und der Übertragung dieses Schnitts auf eine sich zerteilende Wolke einsetzen dürfe? Was hat es weiter mit dem Sachverhalt auf sich, den der Komponist gar nicht erwähnt, dass die Musik gut neun Minuten vor dem Ende des Films plötzlich aufhört? Was wird schließlich aus den Vorschlägen des Komponisten, entweder beide Medien als Skulpturen gegeneinander zu setzen oder zuerst die Musik oder nachher die Musik zu spielen und dann in der Mitte den Film, der „stumm“ gelassen werden soll? Was geschieht möglicherweise im betrachtenden Hörer, wenn all diese Möglichkeiten einkalkuliert werden? Zunächst ist die Wirkung eine sehr direkte, intensive, wie von einem anderen Stern kommend, wenn die Musik nach dem Augenschnitt abrupt einsetzt und neun Minuten vor dem Ende plötzlich aufhört, weil die Beschädigung, die Löschung des Visus sowohl der einsetzenden als auch der ausbleibenden Musik eine besondere Bedeutung verleiht. In beiden Fällen, vor allem im Konzertfilm, wird der Eintritt wie das plötzliche Verlöschen der klingenden Musik zwar erwartet, weil die Spieler gleichsam unmotiviert einsetzen oder aufhören, aber die Erwartung wie das Echo nach dem Ausbleiben der Musik haben eine starke suggestive Wirkung, die womöglich solange noch viel stärker ist, als sie noch nicht oder nicht mehr klingt. Das Vor-Echo und der unhörbare Nachklang spannen eben den Körper der Zuschauer und Zuhörer im Konzertsaal auf die Folter, die Musik bleibt auf der Haut kleben, obwohl sie nicht mehr zu hören ist. Man denkt an Kants Widerspruch, in den er sich verwickelt, weil die Musik eben keinesfalls „nur von transitorischem Eindrucke“ ist, da sie in uns fortdauert, auch wenn sie längst vorüber ist. Kant hat klar erkannt, dass man einem Klavierübenden nicht dadurch entrinnen kann, wenn man das Haus verlässt, weil die Klänge einem ungewollt nachhängen.
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Von dieser Seite aus betrachtet, ist die Musik alles andere als eine „ephemere Kunst“.10 Schwieriger wird aber die Sachlage, wenn die beiden anderen Vorschläge des Komponisten beim Wort genommen werden. Sie beziehen sich indirekt auf meine Überlegung von der nicht gegebenen Ephemerität der Musik. Denn vor dem Film gespielt, vibriert eben die Musik im Betrachter während des Stummfilms noch nach. Wenn die Musik erst nach dem Film gespielt wird, hat sie wohl vergleichbare Rückwirkungen wie sie als Vorwirkungen und Vorerinnerungen beim umgekehrten Fall gegeben wären. Welches könnten nun die Übertragungen sein, obwohl vom Komponisten als unmittelbare Interpretamente des Films durch die Musik abgelehnt, die bei diesen Vorgängen vom Auge auf das Hören bestimmter Klänge übergehen? Für mich am deutlichsten wäre eine Umkehrung der Verlaufsverhältnisse zwischen Film und Musik. Wenn Rihm die Lösung unterbinden möchte, seine Musik von Anbeginn des Films zu spielen, sondern sie erst nach dem eyes-cut einsetzen lassen möchte, so gibt es eben auch zunächst keine Musik zu der Anfangsszene des Films. Aber im Schlussteil, im immer wieder einsetzenden hohen Trompetenton auf h, der eine unerhört schmerzhafte und einschneidende Wirkung hat, kann durchaus von dieser Stelle auf den Beginn des Films geschlossen werden. Weil ich selbst diese Szene nicht ertrage, wenn der mondsüchtige Buñuel der hübschen Dame das Auge zerschneidet, und dieser Vorgang auf den eine Wolke durchziehenden Schnitt übergeht, um schließlich im zerschnittenen Auge des über den Konzertflügel gezogenen toten Esels zu kulminieren, schließe ich direkt an dieser Stelle meine Augen, um eine mimetische Übertragung zu verhindern. Es gibt sie also durchaus, die direkten und zeitlich verdeckten Verbindungen zwischen einer aufgeladenen Klangsemantik und der suggestiven Bildlichkeit des Films, Verbindungen also, von denen ich wenigstens einige weitere erwähnen darf, um den genannten thematischen Zusammenhang zu befestigen. Und dies nicht im Sinne einer Parallelität und Synchronizität der beiden Medien, aber doch als Protention und Retention im Sinne der Zeitphilosophie Edmund Husserls. Die Frage lautet also: was höre ich innerlich mit, wenn die in der Erinnerung verbleibende Musik an bestimmten Stellen des Filmes wachgerufen wird und wie steht es mit diesem Zusammenhang, wenn er dann später nur noch auf die Musik, auf das Lesen und Hören der Partitur bezogen wird?
10 Vgl. Martin Zenck, „Die Musik ist nur von transitorischem Eindrucke (Kant). Zum Verhältnis von Wiederholung und Flüchtigkeit in Mathias Spahlingers ‚éphémère‘ (1977)“, in: Ephemer, hg. von Petra Maria Meyer, Paderborn (im Druck).
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Ich möchte dies in einem kleinen Exkurs anhand einer Erfahrung einer Architektur-Exkursion in St. Petersburg im Jahr 2012 veranschaulichen. Für Kunsthistoriker ist es ganz selbstverständlich, die Historie, die baulichen Maßnahmen, die Proportionen eines Denkmals, eines staatlichen Gebäudes oder eines Museums ante oculos, d. h. unmittelbar den Gegenstand vor den Augen habend, zu diskutieren. Ich habe deswegen vorgeschlagen, dass wir den entsprechenden Platz mit der Aussicht auf das betreffende Gebäude einmal verlassen und nur aus der Vergegenwärtigung des eigentlich unsichtbar gewordenen Gegenstandes die wesentlichen Merkmale dieser Architektur bestimmen. Ich habe da nur Erstaunen und Verwunderung erfahren, weil doch der wirkliche und wahrhafte Gegenstand endlich zum Greifen nahe sei und jede Täuschung in der Interpretation ausschließen könne. Ob das so ist, weiß ich nicht. Jedenfalls macht diese Versuchsanordnung deutlich, dass die direkte Wahrnehmung von derjenigen in der Erinnerung zu unterscheiden ist und dass diejenige im objektlosen Rückblick keinesfalls minderer Natur zu sein braucht. Diese Überlegung möchte ich nun wiederum an Rihms Bild (eine Chiffre) zu Buñuels Film Un chien andalou ausführen, wenn die Musik also entweder vor dem Stummfilm oder nach ihm gespielt wird. Als letzte Möglichkeit schlägt Wolfgang Rihm vor, seine Musik könne auch auseinander geschnitten auf den Film ausgebreitet werden, wobei eben die Filmschnitte und die der Musik nicht ineinander fallen, sich also asynchron zueinander verhalten. Von zwei Kontakten zwischen der Musik und dem Film hatte ich schon gesprochen, aber eben in der Dimension der Ungleichzeitigkeit im Ablauf: von der schneidenden und grellen Trompetenszene am Schluss der Komposition, die in den Beginn des eigentlich stumm bleibenden Films von der Erinnerung zurückgehört werden kann und vom vergleichbaren Schnittverfahren, selbst wenn diese Schnitte nicht synchron zwischen den beiden Medien verlaufen. Was geschieht nun weiter, wenn ich die Komposition Rihms vorher oder nachher höre, was, wenn ich beide Medien einander direkt gegenüberstelle, ohne dabei das eine Medium nur als „Interpretation“ und „Untermalung“ des anderen verstehe? Was passiert mit beiden Medien und ihrem Bezug, wenn die Musik erst später einsetzt und vor allem viel früher aufhört? Insgesamt müsste davon ausgegangen werden, dass sich die Musik oder der Film in unserem Körper zumindest in der Vor- und Nacherinnerung festgesetzt hat, um sich dann entsprechend auf die konkrete Wahrnehmung des Films auswirken zu können. Einige detailliertere Betrachtungen einzelner Klänge, Klangprozesse, Klangstillstände im Sinne eines Instanteismus und Klangabbrüche sind dabei notwendig, um erneut zumindest in der Erinnerung auf den Verlauf des Films bezogen werden zu können.
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Es muss dabei klar sein, dass entsprechende kompositorische Verfahren im gesamten Chiffre-Zyklus entwickelt werden, die ich an anderer Stelle dargestellt habe.11 In dieser spezifischen eingemeißelten Chiffrenschrift, die nach Blaise Pascal sowohl einen eindeutigen als auch einen verborgenen Sinn verzeichnet, sind alle Stücke im Zyklus von Rihm untereinander verbunden. Sie erlauben Überschreibungen sowohl der eigenen Setzart als auch derjenigen anderer Komponisten wie Franz Schubert, von Filmemachern wie Luis Buñuel oder von Schriftstellern wie vor allem Heiner Müller. Dabei spielen die verschiedenen, auch nur angerissenen Klangtypen, die stehenden, die eruptiven, die explosiven, die dissoziativen wie die verhaltenen, wie dargestellt, eine entscheidende Rolle. Ihnen kommt die Funktion zu, eine geradlinige Entwicklung, eine hypotaktische Satzstruktur zugunsten einer freien Fügung von Satzzonen zu unterlaufen. Da der Klang im Sinne von Pascal im Chiffre-Zyklus eine direkte wie verdeckte Bedeutung hat („Figure porte absence et présence, plaisir et déplaisir. Chiffre a double sens: un clair et où il est dit, que le sens est caché.“12), entsteht dazwischen ein Hiatus, um schlaglicht- und schnittartig gleichsam durch einen Sprung die einander entgegengesetzten Klangtypen unverbunden aufeinander prallen zu lassen.
II. D IE M USIK
VON P IERRE B OULEZ ZUM F ILM MÉCANIQUE VON J EAN M ITRY VON 1955
S YMPHONIE
Es mag zunächst überraschen, bei Pierre Boulez Elemente einer angewandten Musik mit denjenigen einer autonomen in eine nähere Verbindung zu bringen. Zu sehr hat sich die Auffassung, die nicht mehr als ein Vorurteil ist, durchgesetzt, dass bei diesem Komponisten rein strukturelle Konzepte auch die Texturen seiner labyrinthisch verzweigten Werkgruppen durchziehen und durchherrschen. Übersehen wird dabei die bereits mit den frühen Werken seit den Orchesterliedern von Le soleil des eaux von 1948 einsetzende Durchdringung autonom fixierter WerkKonzeptionen mit denjenigen des Hörspiels wie in der „dramatique à la Radiodiffusion française“ unter dem Titel Le soleil des eaux nach Gedichten von René Char. Weiter weisen die aufführungsdramaturgische Konzeption von Schönbergs 3 mal 7 Melodramen des Pierrot Lunaire zusammen mit dem Marteau sans maître wiederum nach Gedichten von René Char auf die zumindest gemischte Gattung
11 Vgl. Martin Zenck, „Eingemeißelt. Zur ‚arte cifra‘ in Wolfgang Rihms ‚Chiffre‘-Zyklus“, in: Neue Zeitschrift für Musik 2/2009, S. 26–31. 12 Blaise Pascal, Pensées [1657], hg. von Léon Brunschvicg, Paris 1976, S. 246.
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eines semi-szenischen Bühnenstücks in der Tradition des schwarzen Cabarets (eines „Cabaret noire“ im Sinne André Schaeffners) in den 1920er Jahren. Neben den ausdrücklichen Bühnenmusiken von Boulez und deren Adaption für einschlägige Inszenierungen der Orestie (1955) und Ainsi parlait Zarathoustra (1974) von Jean-Louis Barrault in der Theatertruppe der Compagnie Renaud-Barrault gibt es schließlich in Verbindung mit den beiden unpublizierten Tonbandmusiken Etudes 1+2 de musique concrète von 1952, die erste „sur un son“, die zweite „sur sept sons“, die Musik zum Film Symphonie mécanique von Jean Mitry aus dem Jahre 1955.13 Der Film-Musik zur Symphonie mécanique von Boulez möchte ich mich zunächst zuwenden, bevor ich später einschlägige, auch durch eine spezifische Klangsemantik miteinander verwobene Werk-Komplexe der angewandten wie der autonomen Musik thematisieren werde. Über den frühen Film Symphonie mécanique mit der Musik von Pierre Boulez gibt es neuerdings eine Studie des Musikologen Brice Tissier.14 Sie zeigt, dass Boulez die Film-Musik viel ausgeführter entwickelt hat, als es die nur acht Minuten Musik zum Film vermuten lassen. Es kommt also wohl darauf an, nicht nur Boulez’ vollständige Musik hören zu können, auch seine in der Paul Sacher Stiftung zu Basel aufliegenden Skizzen und Entwürfe zu dieser Musik studieren zu können, sondern den ganzen Film zu sehen, der nach dem Hinweis von Jean Mitry ein „Ballet musical obtenu au moyen de formes mécaniques en mouvements“ darstellt (also ein musikalisches Ballett, das sich mittels der mechanischen, in Bewegung befindlichen Formen präsentiert). Nach den Hinweisen Tissiers gibt es vier verschiedene Film- oder Reproduktionsfassungen der Symphonie mécanique, von der ich hier diejenige der zweiten Fassung für eine einzige Leinwand heranziehe, die über Argos Films distribuiert
13 Am Rande sei vermerkt, dass die Konzentration auf einen einzigen Ton an ein vergleichbares Verfahren in Giacinto Scelsis Quattro pezzi sopra una nota sola (das erste nur über dem Ton h) verweisen könnte, die andere Studie über die Zahl 7 auf eine entsprechende Reduktion auf diese Zahl in Karel Goeyvaerts Sonate für zwei Klaviere von 1951. 14 Brice Tissier, „Symphonie mécanique de Pierre Boulez: étude d’une dérive cinématographique“, in: Revue de musicologie 2/101 (2015), S. 367–406. Brice Tissier verzeichnet in allen vier Film- bzw. Bandfassungen je nach Minuten- und Sekundengabe die jeweiligen Bildinhalte und die jeweilige Tonspur in Form von Geräuschen, von manipulierten Musikbeispielen und die eigene Musik von Boulez aus der „Séquence“ des fünften Formanten seiner Dritten Klaviersonate in ihrer Bedeutung für die Verwendung in seiner Musik zum Film von Jean Mitry.
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wird.15 Es muss dabei klar sein, dass die Beziehung zwischen den Klängen und der Bilderfolge vergleichsweise asyndetisch verläuft wie in der Musik Rihms zu Buñuels Film. Ziel ist eben keineswegs eine synchrone Verlaufsform von Film und Musik, sondern eine prinzipiell aufgesuchte Nichtübereinstimmung beider Medien. Der rhythmisierten und seriellen Warenproduktion von unterschiedlichen Gegenständen im Film entspricht keineswegs eine analog oder homolog jeweils charakterisierende Verlaufsform der Musik von Boulez. Im Sinne von Eislers und Adornos Filmbuch kann die Musik von Boulez als kontrapunktische Bewegung zur gänzlich anders gearteten seriellen Sequenzierung der Abschnitte im Film verstanden werden. Insofern bieten die Bewegungsbilder des Films keinen Anhaltspunkt für eine vergleichsweise suggestive Bildlichkeit der Klänge. Die optische Sequenz der Bilder im Film folgt anderen Gesetzen als die Abfolge von konkreten Geräuschen, elektroakustisch16 manipulierten Klängen und klavieristischen Klangassoziationen. Nur selten gibt es eine Übereinstimmung zwischen dem Tempo der seriellen Warenproduktion im Film von Jean Mitry und den äußerst rasch repetierten Klangereignissen der Musik von Pierre Boulez. Für die Darstellung der Beziehung zwischen Film und Musik könnte eine These sein, dass der Musik im Film die serienmäßige Produktion von verschiedenen Gegenständen in der Fabrik in einer Verlaufsform entspricht, die in wechselnder Weise rasch, langsam oder ruckartig ist. Dabei fokussiert der Film zunächst im Detail auf den Ablauf nur eines einzigen Produktionsvorgangs, um ihn dann mit denjenigen der Herstellung anderer serienmäßig hergestellter Waren zu vergleichen. So wie der Film von Jean Mitry die automatisierte serielle Herstellung auf verschiedene Waren und unterschiedliche Beschleunigungen der Produktion anwendet, so kann mit Bezug auf die Musik aus systematisierender Perspektive gesagt werden, dass Boulez aus einer 12-tönigen Reihe verschiedene Akkord-Aggregate gewinnt und diese auf verschiedene Tempi und Zeitblasen (bulles des temps) projiziert. Dabei ist es entscheidend, dass zwischen den beiden Verlaufs-
15 Berücksichtigt werden könnte auch die erste Fassung von 1956, ebenfalls nur für eine Leinwand auf 35 mm, auf VHS mit einer Dauer von 11’58, wobei bei dieser Version kurze Teile des Films fehlen und vor allem drei Minuten der Musik von Boulez. Die Audiospots 1–5 sind letzterer Version entnommen. 16 Unter elektroakustisch erzeugten Klängen werden solche verstanden, welche von vom Band aufgenommenen Alltagsgeräuschen oder Musikbeispielen ausgehen, diese dann isolieren und manipulieren (Beschleunigen, Verlangsamen, die Bewegungsrichtung Umkehren usw.) wie in der musique concrète, oder synthetisch hergestellte Klänge im elektronischen Studio, die dann dort analog oder digital weiterbearbeitet werden.
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formen von Bild und Musik, von Bewegungsbild und elektroakustisch produzierter Musik, keine prinzipielle Synchronizität gesucht wird, sondern ein Prinzip der grundlegenden Nicht-Übereinstimmung der unterschiedlichen Verlaufsformen von Bewegungsbild und Musik. Um diese Beziehung nicht beliebig, willkürlich und einfach arbiträr geschehen zu lassen, gibt es an entscheidenden Schnittpunkten von Film und Musik drei direkte Übereinstimmungen zwischen der akustischen Klangassoziation, dem Tempo der Warenproduktion und dem Charakter, der Klangfarbe und dem Tempo der Musik: so einmal in der Szene der gereihten und gefüllten Weinflaschen, die durch die Musik wirklich zum Klirren gebracht werden (vermutlich durch das Aufnehmen der geschüttelten Flaschen und durch das Reiben der Ränder von Weingläsern; Videospot 1), zum anderen in der Herstellung der Zigaretten, die in großer Geschwindigkeit automatisch gedreht werden ( Videospot 2). Hier stimmt dieser zeitliche Ablauf ziemlich genau mit dem äußerst raschen und wirbelnden Tempo der Musik überein. Als dritter Schnittpunkt oder besser als dritte Schnittfläche ist das gewaltige Crescendo zu nennen, die weit gezogene Stretta in der Beschleunigung der Bildsequenzen und der durchdynamisierten Wucht der musikalischen Bewegung zum Schluss hin ( Videospot 3). Hier ist eben nicht nur eine momentane Übereinstimmung der beiden Medien gegeben, sondern die Coda ist insgesamt von einem homogenen und sich steigernden Zeitfluss bestimmt, der beide Medien, den Film wie die Musik, ineinander- und auseinander wirbeln lässt. Gegenüber diesen Schnittpunkten der relativen Synchronizität, die einigermaßen singulär sind, um die beiden getrennten Medien doch aufeinander zu beziehen, gibt es aber in der Hauptsache lange Phasen der Nicht-Übereinstimmung zwischen Film und Musik. So die langen Bandschleifen, die schier endlosen Rotationen, die durchgezogene Textur von Klang- und Geräuschflächen, während die serielle Warenproduktion in strikt rhythmisierter und pointiert eckiger Weise die Vorgänge des Stanzens sichtbar macht. Ein Schlüsselbild vielleicht mit Rückblick auf Chaplins Modern Times (1933–36) und Fritz Langs Stummfilm Metropolis (1925/26) mit den großen Maschinenhallen findet sich in der Mitte des Films, in der man durch die Maschinen hindurch in einen großen Fabrikraum sieht und dabei einzelne Menschen erkennt, die das Opfer ihrer eigenen maschinellen und automatisierten Produktion werden. Sie werden dabei selbst zu verdinglichten Gegenständen wie die von den Maschinen hergestellten Objekte. Der Filmemacher Jean Mitry setzt hierbei insbesondere auch Konvexspiegel ein, um nicht nur einfach Lichtdurchlässigkeit und unterschiedliche Farben entstehen zu lassen, sondern wie in der Malerei bei Jan van Eyck und Parmeggianino haben die Konvexspiegel im Bilde selbst die Funktion der Verräumlichung, d. h. dass im Bild selbst ein prismatischer Fokus enthalten ist, der die Perspektiven im Bild selbst nach außen treten lässt, es auch rotierend
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in Bewegung versetzt. Der Betrachter dieser Bilder ist wie derjenige im Film Mitrys plötzlich hineingesogen in das Medium, um in ihm und von ihm aus den ihn umfassenden Raum wahrzunehmen: der Betrachter/Hörer wird in gewissem Sinn selbst zum Gegenstand, zum Ding im Bild und Medium, von dem seine Ekstasen ausgehen. Es ist nun für die Musik zum Film entscheidend, dass neben konkreten maschinellen Geräuschen und flirrenden Klangassoziationen der musique concrète einzelne Klänge und kurze Melodieverläufe eingeblendet werden, die nicht dem Umfeld von Pierre Henry und Pierre Schaeffer und ihrem einschlägigen Film Symphonie pour un home seule (1951) angehören, sondern auf einzelne Werke von Boulez selbst verweisen. Nicht zufällig finden sich deswegen die Notizen zum mechanischen Film der Symphonie mécanique von 1955 im unmittelbaren Entstehungszusammenhang mit Teilen der dritten Klaviersonate (Troisième Sonate pour piano, „Formant I“, „Antifonie“ + „Formant V“, „Séquence“) und diese wiederum im Zusammenhang mit Materialien, Reihentabellen zu einzelnen Teilen der Orestie, zu der Boulez im gleichen Jahr die Bühnenmusik komponierte.17 Es ist damit ein wahres Netzwerk an Beziehungen und Querverbindungen zwischen Werken der verschiedensten Art entstanden, die schließlich bis zur dritten „Improvisation sur Mallarmé“ von Pli selon pli, dort vor allem der Technik der „bulles des temps“ (der Zeitblasen) reichen. Einige dieser Klangausschnitte, die auf einem systematisierten Archiv von Akkorden und Varianten beruhen, seien hier mit Blick und Ohr auf die Musik zum Film der Symphonie mécanique aufgerufen. Ich beziehe mich dabei vor allem auf drei Klangabschnitte, in denen man unschwer neben konkreten Geräuschen aus der Maschinenfabrik Klaviergesten und Klavierklänge hören kann. Wie Brice Tissier überzeugend gezeigt hat, sind es Zitate und Allusionen aus der „Séquence“ des fünften „Formanten“ aus der dritten Klaviersonate von Boulez. Dort gewinnt der Komponist aus der Originalreihe auf e (e-f-h-fis-gis-g-b-c-a-d-cis-es; ➜ Notenbsp. 3) sechs mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnete Akkordkomplexe, die nicht nur die Grundlage für den Teil „Séquence“ des fünften Formanten der
17 Vgl. dazu ausführlich Martin Zenck, „Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault. Zur Bühnenmusik der Orestie (1955)“, in: Theater mit Musik. 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen, hg. von Ursula Kramer, Bielefeld 2014, S. 355–394; vgl. insbesondere zur Orestie die Seiten 378–388 (vgl. dort auch die Hinweise auf weitere Studien vom Verfasser zu dieser Thematik).
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dritten Klaviersonate darstellen, sondern sich auch auf die Szene des Agamemnon18 und die Schluss-Szene der „Euménides“ aus der Orestie19 bezieht, vor allem auf die eigens von Boulez erstellte Akkord-Struktur für seine Musik zum Film Symphonie mécanique.20 Notenbeispiel 3: Pierre Boulez, Tafel mit dem harmonischen Material von „Séquence“ aus dem fünften Formanten der dritten Klaviersonate, verwendet für die Musik zum Film Symphonie mécanique. Skizze in der Sammlung „Pierre Boulez“, Mappe H, Dossier 2f, Paul Sacher Stiftung, Basel. Übertragung des Autors, mit freundlicher Genehmigung der Paul Sacher Stiftung
Entsprechendes Klangmaterial findet sich schließlich in den drei Klangpassagen der Film-Musik: 9’17/7’46 ( Videospot 4), 9’45/8’10 und 10’06/8’31 ( Videospot 5). Im gewissen Sinne lässt sich sagen, dass Boulez neben den aufgefundenen Alltagsgeräuschen und den zitierten der musique concrète Pierre Schaeffers, in dessen Experimentalstudio er gearbeitet hatte, die Materialien seiner eigenen Musik wie objets trouvés benutzt. Da sie sich aber in ihrem Ursprung ganz abstrakten Systematisierungen von Tonhöhenverläufen verdanken, welche zu Akkordmassierungen auseinander gefaltet werden, können sie je nach Kontext ganz verschiedene Charaktere und Einfärbungen annehmen: Sie sind nicht von vorne herein erkennbar, sind weniger abstrakte Zitate als vielmehr zugehörig einer „Partitur von Varianten“, um einen Terminus von Franz Liszt zu bemühen.
18 Vgl. Tissier, „Symphonie mécanique de Pierre Boulez“ (wie Anm. 14), Ex. 10. 19 Vgl. Zenck, „Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault“ (wie Anm. 17). 20 Paul Sacher Stiftung Basel, Sammlung „Pierre Boulez“, Mappe H, Dossier 1.
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Klang-Semantik heißt hier also innerhalb einer durchbrochenen Einheit von Horizontale und Vertikale, dass sich relativ abstrakte und aus Reihen komprimierte Akkord-Komplexe je nach situativem Kontext in ganz verschiedene Charaktere und Texturen verwandeln (vgl. oben die Unterscheidung von „Strukurund Texturklang“), in denen sie ihren je spezifischen Sinn, ihre jeweils temporär gültige Zuschreibung erfahren. Es wurde bereits betont, dass mit der Ausnahme von zwei Schnittstellen und der abschließenden Schnittfläche keine Synchronizität zwischen Film und Musik, kein interpretierender Zusammenhang zwischen den beiden Medien gesucht wird, sondern, und das wäre die Pointe, dass die eigene zitierte Musik aus der „Séquence“ des fünften Formanten der dritten Klaviersonate hier zwar erkennbar ist als Klaviermusik, aber in ihrer Überlagerung, Vervielfachung und Vereinfachung nicht auf ihren Ursprung zurück verweist, sondern wie die sie umgebende musique concrète eher ein Klangarrangement neben anderen aufgesuchten Klängen darstellt. Sie sind vergleichbar mit den durch die Maschinen zugerichteten rastrierten Dingen: sie sind einfach Klangobjekte unterschiedlichen Zuschnitts. Es ist hier daran zu erinnern, dass sich an dieser Stelle die Musik zum Film einem auf ständige Wiederholung ausgerichteten technischen Verfahren der Warenproduktion aussetzt und dass eine entsprechende, auf Repetition hin sich entwickelnde industrielle Verfertigung der Wiederholung unter dem Begriff der seriellen Produktion, d. h. der Serialität firmiert. Diese findet später vor allem bei Andy Warhol und Roy Lichtenstein (auch bei Robert Rauschenberg in Factum I und Factum II) Eingang in die auf Wiederholung21 bezogene Serialität von Kunstprodukten, wie sie vergleichsweise auch von Umberto Eco in seiner Studie über „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“ festgestellt wurde.22 Hier, in der Phase von 1955, wird eine die musique concrète von Pierre Henry und Pierre Schaeffer einbeziehende Musik zum Film von Pierre Boulez in eine äußerste Spannung zur Idee des Seriellen versetzt, die gerade nicht auf Wiederholbarkeit, sondern auf Singularität des musikalischen Artefakts setzt. Es ist bezeichnend und zugleich ein Fragezeichen, dass Boulez seine autonomen Werke, zumindest ihr systematisiertes Material, dieser Repetitivität aussetzt, obwohl sie auf eine einmalige und unhintergehbare Autonomie ausgerichtet sind. Es gibt eine auffallende Parallele zwischen der von Pierre Henry manipulierten Music
21 Vgl. Martin Zenck mit Blick auf Umberto Eco und Robert Rauschenberg’s Factum I und Factum II die Studie: „Wiederholung – Eine grundsätzliche Kategorie nicht nur der Musik“, in: Archiv für Musikwissenschaft 1/70 (2013), S. 66–83. 22 Umberto Eco, „Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien“, in: ders., Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig 1999, S. 301–324.
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for Prepared Piano von John Cage inmitten von Klängen und Geräuschen der Musik im Film Symphonie pour un homme seul von Pierre Schaeffer und Pierre Henry23 von 1951 und den doch hervortretenden Klangmaterialien von Boulez aus der dritten Klaviersonate inmitten der immer wieder aufgerufenen musique concrète der Maschinenmusik und Maschinengeräusche der Symphonie mécanique von Jean Mitry aus dem Jahre 1955, so dass Boulez Skizzen- und Klangmaterial aus seiner dritten Klaviersonate wie objets trouvés behandelt, genau wie Pierre Henry manipulierte Fragmente aus der Klaviermusik von Cage im Film Symphonie pour un homme seul. Dies ist in diesem Kontext kein Zufall, hatte doch Boulez (wie erwähnt) zuvor im Experimentalstudio von Pierre Schaeffer in Paris gearbeitet – wahrscheinlich sind dort im Jahre 1952 die Etudes de musique concrète für Tonband entstanden.24 Zwar bestand zwischen Schaeffer und Boulez nicht immer Einmütigkeit, aber Boulez hat aus der Studio-Erfahrung bei Schaeffer seine Konsequenzen gezogen, solche allerdings, die beide Film-Musiken miteinander in Verbindung bringen lassen.
III. K LANGSZENEN
DER REINEN
ANGEWANDTEN DER
M USIK
B ÜHNENMUSIK
IN DER ZUR
O RESTIE
Die von Boulez für die Musik zum Film verwendeten konkreten und manipulierten Klänge, Klangkombinationen, Geräuschen und Klavierallusionen sind zumindest teilweise aus Materialien anderer Stücke gewonnen worden, etwa der Troisième Sonate pour piano. Das heißt, dass es für die Klang-Konzeption und die Klangsemantik bei Boulez ein fixiertes, aber auch je nach Bestimmung relativ offenes Materialreservoir an „abstrakten Klängen“ gibt, die aus linearen 12-Tonreihen abgeleitet, dann zu vertikalisiert massierten Akkorden umgebildet werden.
23 Vgl. grundsätzlich den publizierten Beitrag von Martin Kaltenecker über Pierre Schaeffer mit dem Titel „Pierre Schaeffers Theologie des Hörens“, in: Musik & Ästhetik 3/18 (2014), S. 5–21 und seinen Beitrag im vorliegenden Band. 24 Pierre Boulez, Etude 1 de musique concrète. Etude sur un son. – Etude 2 de musique concrète. Etude sur sept sons. Das entsprechende Material an Skizzen und Entwürfen und einer Reinschrift liegt nach Robert Piencikowski in der Paul Sacher Stiftung Basel. Von beiden Tonbändern gibt es eine Aufnahme, die unter dem GR Archive, Electroacoustic Music and Electronic Music CDs from Digital Music-Archives heruntergeladen werden können.
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Dieser Vorgang setzt sich nach der hier bereits diskutierten Film-Musik der Symphonie mécanique von 1955 fast gleichzeitig fort im Zusammenhang mit Boulez’ einstündiger Bühnenmusik zur Inszenierung der vier Stunden dauernden Orestie durch Jean-Louis Barrault. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die hier besprochenen Werke autonomer und angewandter Musik nicht in einer äußerlich linear zeitlichen Genealogie verlaufen, sondern dass es sich um nahezu gleichzeitig oder sich auch überlagernde Werk-Komplexe handelt. An der Bühnenmusik25 zur Orestie soll nun gezeigt werden, wie entweder aus dieser Materialien gewonnen werden, die dann Eingang in andere autonome Werke finden, wie umgekehrt aber eben aus diesen bestimmten, seriell verfassten Akkord-Strukturen einzelne Szenen der Orestie, die „Scène de Cassandre“, die „Scène d’Agamemnon“ und das Finale der Bühnenmusik und der ganzen Theateraufführung gewonnen werden. Wir haben oben gesehen, wie eng die Netzwerke zwischen der dritten Klaviersonate, der Musik zum Film von Mitry und zur Orestie gespannt sind. Diesem Wink möchte ich hier weiter nachgehen. Zeigt doch gerade der „Chœur final“ zum letzten Teil der „Euménides“, wie unmittelbar Boulez bestimmte Eigenschaften von aus Zwölftonreihen gewonnenen Akkorden aus der dritten Klaviersonate auf diesen Schluss-Teil seiner Bühnenmusik zur Orestie überträgt, wobei eben die nicht jeweils spezifische Klangfarbe, sondern nur die abstrakte Klangstruktur berücksichtigt wird. Entsprechende strukturelle Zusammenhänge finden wir vor dem Auftritt der Athène, dann im Schlusschor mit dem „cri rituel“ und dann vor allem in der rein orchestralen Coda des gesamten Bühnenstücks wie der Bühnenmusik überhaupt. Von dieser so außergewöhnlichen Coda aus betrachtet, kann auch etwas über die Klangsemantik der scheinbar rein strukturell begründeten Auffächerung der Akkorde gesagt werden. Eben weil sie so rein strukturell ausgerichtet sind und in dieser Weise auch die Texturen der Klänge überziehen, haben diese Passagen einen so besonderen, weil äußerst dichten und intensiven Charakter, bei dem kein Ton zu viel ist und auf jegliches Ornament verzichtet wird. Auf den tragischen Transport der Szene bezogen bedeutet dies soviel wie, dass seine Zwangsläufigkeit, mit der sich hier das unabwendbare Schicksal vollzieht, in der Musik ihre unbedingte Entsprechung findet. Vergleichbares ist in der diesen Schluss vorbereitenden Final-Szene zu beobachten, die von der Ankündigung des Auftritts der Figur der Athène handelt und über den Schlusschor bis in die besprochene Coda reicht. Hier ist alles auf die äußerste Notwendigkeit ausgerichtet, mit der das Geschick seinen unabwendbaren
25 Vgl. zu den Bühnenmusiken von Pierre Boulez insgesamt die entsprechenden Kapitel in: Martin Zenck, Pierre Boulez. Die Partitur der Geste und das Theater der Avantgarde, Paderborn 2017, Kap. I, 6 (S. 273–307), Kap. I, 10 (S. 385–406).
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Lauf nimmt. Dass solches vom Komponisten intendiert ist, zeigen die Skizzen, die frühzeitig schon solche dergestalt charakterisierte Verläufe zwingend vorbereiten, wobei es wichtig ist zu betonen, dass sich die Skizzen zum Film, zur dritten Klaviersonate und zur Orestie in einer Mappe, in einem fortlaufenden, aber strikt zusammengehörigen Konvolut von Aufzeichnungen befinden (➜ vgl. dazu Notenbsp. 3 und 4 sowie die korrespondierenden Erläuterungen im fortlaufenden Text). Es muss bei diesen Zuschreibungen von strukturierten Zwölftonfeldern und Akkorden, die im jeweiligen szenischen Zusammenhang eine bestimmte Bedeutung im Sinne einer Klangsemantik annehmen, hervorgehoben werden, dass solche Sinnzuweisungen sich zu allererst aus den szenisch charakterisierenden Anweisungen ergeben, die der Regisseur Jean-Louis Barrault in das Text- und Regiebuch eingetragen hatte. In gewissem Sinne hatte Boulez als Komponist der Bühnenmusik diesen an den Rand des Schauspieltextes geschriebenen Desideraten von Barrault nach einer bestimmten Musik zu folgen. Auch wenn ich wie im Falle der Orestie nur im Besitz weniger Seiten des Schauspieltextes mit Barraults handschriftlichen Anmerkungen bin, kann ich doch von dem späteren Drehbuch von Ainsi parlait Zarathoustra, einer szenischen Dramatisierung von Nietzsches gleichnamigen Text durch Barrault, Rückschlüsse auch auf die vom Regisseur geforderte musikalische Einrichtung einer bestimmten Szene der Orestie ziehen. Aber diese Anforderungen an die Bühnenmusik betreffen nur den ganz allgemeinen Bewegungs- und Ausdruckscharakter der Musik, nicht ihre spezifische Machart und strukturelle Organisation. Dass aber gerade seriell organisierte Musik besonders dazu angetan ist, das Prinzip der Ananke, eines sich zwangsläufig vollziehenden göttlichen Geschicks, das die Menschen nicht zu verstehen vermögen, durch eine mit der Machart verbundene Notwendigkeit, d. h. einer Konsequenzlogik erfahrbar zu machen, scheint mir hier von besonderer Bedeutung. Die Musik, so scheint es, gerät hier selbst in den Sog einer mythischen Gewalt, der sie so wenig entrinnen kann wie die Heroen der attischen Tragödie, zu dem letztlich auch der Schluss-Chor mit dem „cri rituel“ gehört. Wichtig und zentral ist aber die Tatsache, dass die 1955 uraufgeführte und 1962 wieder aufgenommene Musik zur Trilogie der Orestie weit hinter der Radikalität der von Boulez ursprünglich komponierten Musik zurückblieb. Gerade die Solo-Partien der Sänger und des Chors wurden, da das Anforderungsprofil für Bühnenmusik ohnehin viel zu hoch war, vereinfacht und ihnen dadurch ihr in die Extreme gehender dramaturgischer Stachel gezogen. Gerade aber die ursprünglichen Fassungen und Skizzen zeigen, dass Boulez im Bereich der angewandten Bühnenmusik so kompromisslos war wie in den Werken der autonomen Musik, zumindest jenen der 1950er Jahre.
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IV. Z USAMMENFASSENDE Ü BERLEGUNGEN
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UND WEITERFÜHRENDE
Der Akkord, der Zusammenklang, die Harmonik ist innerhalb einer durch die musikalische Syntax begründeten „Sprachähnlichkeit von Musik“ (Adorno) nur eine Funktion der Lehre von den Sätzen und der „Interpunktionen“ (Nikolaus Forkel). Die Sprachlogik der Musik, ihre auch argumentative Diskursivität (Beethovens Sonaten und Sinfonien), die sich in einer regulativen Syntax ausbreitet und realisiert, ist die Substanz, die sie artikulierende, modellierende und akzentuierende Harmonik lediglich Akzidenz. Die Vergleichbarkeit der Sprache mit der Anordnung von Sätzen in der Musik ist die Bedingung dafür, dass über sie in und vermöge der Sprache überhaupt gedacht, gehandelt und geschrieben werden kann im Sinne einer sprachlichen Logik. Sobald dieses Paradigma nicht mehr gilt wie im späteren 20. und früheren 21. Jahrhundert, wo das Modell der „Stille“ und des nicht-euklidischen Raums das frühere Bezugssystem zur Sprache abgelöst haben, kann nicht mehr wie auf der früheren Ebene über Musik gesprochen werden. Die sprachliche Logik wird ersetzt von der anderen Logik einer intersensoriellen Dynamik der Sinne, die aus der Reduktion oder aus dem Überschuss der Semantik entstanden ist. Deswegen muss ein anderer Zugang über die Wissenschaft gesucht werden: zwar mit Sprache, weil nur über diese der neue Sachverhalt auch verhandelt werden kann, aber mit einer anderen und neuen, die mehr die Unterbrechung, den Aufschub der Semantik in den Mittelpunkt rückt und mit ihr die Freisetzung der Sinne und eine andere, räumlich orientierte Präsenz.26 Präsenz ist im neuen musikalischen Raum eine andere als auf der primären Zeitschiene. Während das traditionelle Hören objekthaft und konfrontativ ist, weil der Klang uns vom Konzertpodium entgegensteht (dies wird auch nicht dadurch grundlegend verändert, wenn ich mit Kopfhörer die Musik wahrnehme, weil die CD wenigstens versuchsweise die Ereignisse des musikalischen Raumes abbildet), verläuft dasjenige Hören im nicht-euklidischen Raum „abjekthaft“ im Sinne von Julia Kristeva.27 In Nonos No hay caminos, hay que caminar per 7 cori umgibt uns die Musik, sie geht über den Transmitter der Luft über unsere Haut durch uns hindurch. Diese Musik verläuft zwar noch auf einer chronometrischen Zeitachse, wird aber primär
26 Vgl. Christian Utz, „Vom adäquaten zum performativen Hören. Diskurse zur musikalischen Wahrnehmung als Präsenzerfahrung im 19. und 20. Jahrhundert und Konsequenzen für die musikalische Analyse“, in: Acta Musicologica 86/1 (2014), S. 101–123. 27 Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essais ur l’abjection, Paris 1980; vgl. insbesondere den ersten Teil „Approche de l’abjection. Ni sujet ni objet“, S. 9–39.
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über und durch den nicht zentralperspektivisch fokussierten, d. h. den nicht-euklidischen Raum wahrgenommen. Obwohl wir von einem fixierten Ort/Platz aus im Raum die Musik vernehmen, führt der nicht objekthaft festgeschriebene Ort der Musik, ihre Bewegung in einem offenen und virtuellen Raum, von dem aus die Musik aus allen möglichen Richtungen erreicht, zu einer Ent-Setzung und EntOrtung unserer selbst. Wir werden bei derlei Erfahrungen selbst zum Teil der Musik: ein Resonanzkörper neben den Instrumenten und Stimmen, zu einer Disposition also, die im Sinne von Jean-Luc Nancy auch in der Wahrnehmung der Stille und der damit verbundenen intensiven Selbstwahrnehmung wirksam wird. Vergleichbare und präzisere Überlegungen28 zu dieser essentiellen Verschiebung von der Wahrnehmung der Musik über die Zeit in die des Raumes haben der KunstTheoretiker Gottfried Boehm, der Musikwissenschaftler Matteo Nanni und der Komponist Helmut Lachenmann mit Bezug auf die „Musik mit Bildern“ in der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern angestellt. Nach der grundsätzlichen, noch in Lessings „Laokoon“ festgehaltenen Unterscheidung zwischen den Zeitund Raumkünsten29 (wobei hervorzuheben wäre, dass Lessing in einer späteren Nachschrift die Beziehung der Musik zu den beiden Kategorien von Zeit und Raum wesentlich differenziert hat), geht Lachenmann von dem Gegensatz einer die Zeiterstreckung umfassenden Gesamtheit in der Wahrnehmung der „tonalen Melodie“ aus, die von „Anfang an in ihrer Gesamtheit auf mich [Lachenmann] wirkt“30 (er führt das Deutschlandlied an), während die Neue Musik nach 1950 im Modell von Boulez’ Structures Ia dem Hörer ein „Abtasten im Dunklen verlange, bei dem die „Klänge als ‚Gedächtnis-Arpeggio‘ eigentlich Ganzheiten sind, die aber in die Zeit projiziert werden und mit Hilfe des Gedächtnisses und mit Hilfe der Wahrnehmungsdisziplin oder der Wahrnehmungslust allmählich zu einem Gesamtbild führen“.31 Wichtig erscheint mir bei diesem Zitat zweierlei: einmal das Bild des „Abtastens im Dunklen“, bei dem der Augensinn vollkommen ausgeschlossen wird; zum anderen, dass dafür der Tastsinn in sein primäres Wahrnehmungsrecht eingesetzt wird (wie bereits bei Herder), der etwas erspürt, was er noch nicht kennt und sich mit dem Tasten einer neuen Wirklichkeit versichert.
28 „Musik als Bildkritik – Gespräch zwischen Gottfried Boehm, Helmut Lachenmann und Matteo Nanni“, in: Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern? (= eikones. NFS Bildkritik. NCCR Iconic Criticism), hg. von Matteo Nanni und Matthias Schmidt, München 2012, S. 237–270. 29 Vgl. dazu Gottfried Boehm im zitierten Gespräch „Musik als Bildkritik“ (ebd., S. 240). 30 Ebd., S. 241. 31 Ebd., S. 242.
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Über die Gedanken von Lachenmann hinaus kann mit Blick auf das neue Paradigma eines nicht-euklidischen Raums in den spiralförmigen Raum-Konzeptionen32 von Boulez’ Poèsie pour pouvoir und in der von der Live-Elektronik33 bestimmten Musik mittels des „Spatialisateurs“ im Ircam und des „Halaphons“ im Studio des SWF in Freiburg (Boulez’ Répons, Dialogue de l’ombre double und Anthèmes II und Nonos Violinstück für Gideon Kremer mit dem Titel La Lontananza nostalgica futura) oder in der entsprechenden Raum-Disposition der Ensembles und des Auditoriums in Nonos No hay caminos, hay que caminar per 7 cori davon gesprochen werden, dass sich die Musik schließlich zu einer reinen Raum-Kunst entwickelt, in der die körperliche Präsenz des Hörers unmittelbar mit der multi-direktionalen Bewegung der Klänge im musikalischen Raum verschmilzt, weil die Klänge den Raum und mit ihm die Haut des Hörers „abtasten“, um im veränderten Bild Lachenmanns zu bleiben. Zu verhandeln ist schließlich der ganz neue Aspekt einer „Klangkunst“ 34 in der Folge und Auseinandersetzung mit der musique concréte, der weiterführenden elektronischen Musik und der Live-Elektronik sowie der Anwendung der historischen musique concrète auf die musique concrète instrumental bei Helmut Lachenmann, bei der im Gegensatz zu Pierre Schaeffer der konkrete Klang/das konkrete Geräusch direkt und unmittelbar aus der Erzeugung am jeweiligen Manual eines Instruments, aus seinem Apparat hervorgeht. Der Ausgangspunkt von Pierre Henry und Pierre Schaeffer für die musique concrète war ein doppelter: einmal sollten im Mittelpunkt Alltagsgeräusche und bereits aufgenommene Musikklänge stehen, die dann einer arrangierenden Manipulation ausgesetzt wurden, wodurch sich im zweifachen Sinn von „con-crescere“ etwas Neues zusammensetzte und zusammenwuchs. Es wurde zunächst der/das aufgenommene Klang/Geräusch isoliert, verändert, d. h. im Ablauf beschleunigt oder verlangsamt oder auch in seinem Bewegungsprozess umgekehrt und wuchs dann mit anderen aufgenommenen und manipulierten Klängen zusammen. Zum anderen sollte tatsächlich der Klang ohne jegliche chiffrierende Notation in der Partitur wahrgenommen werden, also der
32 Vgl. Martin Zenck, „Utopischer/heterotopischer musikalischer Raum in Poésie pour pouvoir (1958) von Pierre Boulez nach einem Gedicht von Henri Michaux“, in: Frank Haase/Till A. Heilmann (Hg.), Interventionen. Festschrift für Georg Christoph Tholen zum 65. Geburtstag, Marburg 2014, S. 351–374. 33 Vgl. dazu grundsätzlich Zenck, Pierre Boulez, Kap. IV, 2 (S. 647–688). 34 Vgl. dazu neuerdings folgende Arbeiten: Makis Solomos, De la musique au son. L’émergence du son dans la musique des XXe-XXIe siècles (= Aesthetica), Rennes 2013; zur „Musique concrète“ von Pierre Schaeffer das Kap. „Phénoménologie de l’écoute. Un traité de l’écoute“, S. 184–202.
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sound in Verbindung mit seinem source (der Klangquelle, die aber nur noch entfernt wahrnehmbar war) und nicht der Rückbezug zur Notation. Dies trifft dann auch unabhängig für die frühen elektronischen Stücke von Stockhausen und Boulez zu, von denen es zwar Skizzen, Notate, Diagramme, also Wissensbilder gibt, die sich aber vollkommen im jeweiligen Stück der elektronischen Musik auflösen, so dass eine Vermittlung des Klangs weder durch eine Partitur noch durch eine Aufführung durch ein Musikensemble stattfindet. In der Live-Elektronik wird schließlich eine Synthese zwischen Notat/Partitur und digital erzeugten Klängen gesucht, wobei sich der dann entstehende Klang durch seine multivektorielle Manipulation im Klangraum sehr weit vom Notierten entfernt und zu einer vollkommen eigenen Existenz führt. Unter „Klangkunst“35 kann weiter und abschließend einmal eine Form verstanden werden, die sich ganz wörtlich an der Zusammensetzung von Klang und Kunst orientiert und dabei, wie in den diskutierten Klanginstallationen eine besondere Allianz und Fusion eingeht, wobei die Qualität der Musik zumeist auf der Strecke bleibt, weil sie mehr der Beschallung des entsprechenden installativen Raums dient als aus ihm spezifische, auch spatial fundierte, auch andere Räume einschließende Klänge abzuleiten. Und schließlich ist hier noch der Band Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik von Gunnar Hindrichs zu erwähnen.36 Die dort aufgesuchte Ontologie, die durch eine entsprechende absolute Selbstbegründung der Musik erfolgt, steht im vollkommenen Widerspruch zu dem hier thematisierten Bedingungsverhältnis von Heteronomie und Autonomie, wie sie die angewandte und autonome Musik von Wolfgang Rihm und Pierre Boulez auszeichnet. Die Selbstbegründung von Neuer Musik erfolgt dort nicht aus einem vorgängig und durchherrschend Seienden des Klangs, nicht aus der Absolutsetzung des „musikalischen Materials“, wie sie der frühen seriellen Musik undifferenziert unterstellt wird, sondern gerade in der Auseinandersetzung mit dem, was außerhalb des Klangs in den anderen Medien geschieht: also der Berührung der Musik mit dem Bild37 (auch der Distanz und grundsätzlichen Differenz), mit der Sprache, der Architektur, dem Film wie der Fotografie.
35 Klangkunst, hg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte, Sonderband, XI/2008), München 2008. 36 Gunnar Hindrichs, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2014. 37 Vgl. dazu den interdisziplinären Forschungsband Intermedialität von Bild und Musik, hg. von Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann, Gregor Wedekind und Martin Zenck, Paderborn 2018, insb. Martin Zenck, „Vom Hören und Sehen. Zur Intermedialität von Bild und Musik – Versuch einer Grundlegung“, S. 13–36.
„Es geht nicht um den Klang an sich… als Fetisch“ Notizen zu Klang und Semantik in Konzeptmusik, Diesseitigkeit und Non-cochlear Sonic Art O LIVER W IENER
1. D AS O HR
RELATIVIEREN
Eine spezifische Herausforderung an die Theoretisierung des Verhältnisses von Klang und Semantik stellen jene ästhetischen Entwürfe dar, die in den letzten zehn Jahren von einer bestimmten Richtung der europäischen Komposition und einer konzeptuellen Spielart der amerikanischen Sonic Arts vorgelegt wurden. Sie scheinen für das musikalisch-kompositorische Diskursfeld bzw. für dasjenige von Klangkunst etwas nachzuholen, was die bildenden Künste unter der Rezeption der postmodernen Philosophie schon länger erreicht haben, die Verabschiedung von einer Einschränkung auf ein herkömmliches Primärmedium als Wert um seiner selbst willen. Verbindend ist den insgesamt doch disparaten Ansätzen die Idee, dass die Hypostasierung des Klangs an sich als zentralem Wahrnehmungsparadigma eine musikalische und nicht zuletzt auch den Großteil einer sonischen Moderne von den anderen Künsten (zumal dem Theater und den Galeriekünsten) abgekoppelt habe. Vor allem die Neue Musik scheint die ästhetischen Kategorienwechsel der Postmoderne verpasst zu haben und befindet sich angeblich noch weitgehend im ‚Betriebszustand‘ der klassischen Moderne mit der zentralen Idee eines Materialfortschritts, wie er in der Musikphilosophie Adornos zur Kernidee der musikalischen Moderne erklärt worden sei. Gegen das Wahrnehmungsparadigma des verabsolutierten Klangs an sich hat sich prominent der Essay des amerikanischen Konzeptkünstlers Seth Kim-Cohen gewandt, der in Rückgriff auf
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Marcel Duchamps Idee einer non-retinalen Kunst Programm und Praxis einer noncochlear sonic art formuliert hat.1 Dem ist die deutsche Spielart, die in der „Konzeptmusik“ einen „Katalysator“ für eine „gehaltsästhetische Wende“ hin zu einer zweiten reflektierten Moderne sucht, insoweit gefolgt, als einer ihrer terminologischen Taktgeber, der Medienphilosoph Harry Lehmann, jüngst die Begriffe „Anästhetik“ und „nicht-myrinxale Musik“2 als wesentliche Teilprogramme der Konzeptmusik benannt hat. Die etwas gezwungen wirkende begriffliche Differenzierung (nicht-myrinxal parallel zu nicht-kochlear) deutet darauf hin, dass die deutsche Variante eine Eigenständigkeit gegenüber dem amerikanischen Entwurf bewahren möchte, kaum aus Gründen einer Urheberschaft an der Idee – Duchamps Begriff einer non-retinalen Kunst gehört zu den Schlüsselbegriffen der Konzeptkunst, es scheint eine Frage der Zeit gewesen zu sein, dass eine Übersetzung ins Auditorische erfolgen würde –, sondern eher, weil zwischen beiden Entwürfen kritische Differenzen (im Background und im Theoriedesign) bestehen,3 auf die das Ende dieses Beitrags hinweist. Die Bewegung in Deutschland lässt sich in zwei Gruppierungen fassen, die sich unter den produktionsästhetischen Schlagwörtern „Diesseitigkeit“ und „Konzeptmusik“ differenzieren. Beide gehen von einer institutionell als unbefriedigend, verkrustet empfundenen Situation des sozialen Systems Neue Musik aus. Dies meint die einschlägige Festivalorganisation, die zu weiten Teilen damit in Verbindung stehende Struktur der Ensembles und Studios, die meist starren Auftragskontexte, die die Kreativität junger Komponisten schon an der Wurzel einschränken, ein Komplex, den der Komponist Johannes Kreidler mit der griffigen
1
Seth Kim-Cohen, In the Blink of an Ear. Toward a Non-cochlear Sonic Art, New York/London 2009. Zum Impact des Buchs vgl. die von Kim-Cohen kuratierte Ausstellung an der New Yorker Diapason Gallery (noncochlearsound.com) und das Motto „Non-cochlear Sound“ der ICMC 2012 in Ljubljana (www.icmc2012.si).
2
Harry Lehmann, Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012, S. 107. Ders., „Konzeptmusik. Katalysator der gehaltsästhetischen Wende in der Neuen Musik“ [I–III], in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/1, S. 22–25, 30–35, 40–43, hier S. 24 f. „Non-kochlear“ bildet m. E. eine einleuchtendere Entsprechung zu „nonretinal“, da in beiden Fällen die reiztransformierenden Rezeptorfelder gemeint sind (während das Trommelfell lediglich Schalldruckwechsel aufnimmt und mechanisch weitergibt). Da es sich bei beiden Begriffen um Metaphern für eine ästhetische (produktive wie rezeptive) Strategie handelt, ist begriffliche Kleinkrämerei aber nebensächlich.
3
Lehmann, „Konzeptmusik“, S. 25 (Anm. 7).
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Formulierung „Institutionen komponieren“ kritisiert hat.4 Direkte Reaktionen auf die institutionelle Verkrustung bestehen darin, dass Komponisten wieder stärker als Performer eigener Werke aktiv werden (wie z. B. Kreidler mit dem digitalen Performance-Environment RAM microsystems), dass Stücke programmatisch für Interpreten komponiert werden, die sich mit ihrer Person und nicht via institutioneller Vermittlung dafür engagieren (z. B. Martin Schüttlers Werkreihe schöner leben), dass eine alternative ökonomisch eigenständig agierende Kollektivorganisation ausprobiert wird, exemplarisch mit „stock 11“, einem „Zusammenschluss von Komponierenden, Interpretierenden und ImprovisationsmusikerInnen aktueller Musik, der es sich zum Ziel gemacht hat, die verschiedenen KünstlerInnen und Künste zu vernetzen und gegen die Vereinzelung vorzugehen“.5 Aus dieser und anderen Selbstbeschreibungen sind verbindende Ideen filterbar: eine Anti-Ausdrucksästhetik, eine politische Haltung, die sich (in je unterschiedlicher Weise) in einer aktionsreichen Institutionen-, System- und Kapitalismuskritik äußert, eine gründliche Skepsis gegenüber akademischem Spezialistentum und dem Bildungskanon. Einigkeit besteht darüber, dass der Materialfortschritt, einst treibende Kraft, in der Neuen Musik eine Ausdifferenzierungsgrenze erreicht habe, sofern Klang den Zweck des kompositorischen Prozesses bilde. Die Behandlung des Klangs unter
4
Johannes Kreidler, „Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik“, in: Musik & Ästhetik 52 (Oktober 2009), S. 24–37; hier zitiert nach dem Wiederabdruck in: ders./Harry Lehmann/Claus-Steffen Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse, [hg. von Peter Mischung], Hofheim 2010, S. 21–36; der Abschnitt „Institutionen komponieren“ S. 25–28.
5
www.stock11.de (Abruf vom 03.05.2014). Zu stock11 gehören Sebastian Berweck, Daniel Gloger, Mark Lorenz Kysela, Michael Maierhof, Maiximian Marcoll, Christoph Ogiermann, Uwe Rasch, Sebastian Schottke, Martin Schüttler, Hannes Seidl und Jennifer Walshe. Als programmatische Formulierung einer (bewusst paradoxen) nichtidentifikatorischen Gruppenbeschreibung vgl. Christoph Ogiermann, „stets noch nicht. Versuch zu einer wir-Konstruktion diesseits der Monumente“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 13–15. Aus diesem Text wird deutlich, dass, wie Gordon Kampe schreibt, „das Schlagwort“ der unten genauer auszuführenden „‚Diesseitigkeit‘ weniger einen fixierten Begriff als vielmehr eine Suchbewegung meint, da es auch von den Protagonisten selbst sehr unterschiedlich mit Inhalten gefüllt wird“: Gordon Kampe, „Die Welt in der Schublade. Labels und Etiketten fördern die Marktgängigkeit, aber auch die Domestizierung von Musik“, in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/6, S. 32–35, hier S. 35.
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der Ägide des Materialstandsgedankens sei „materialistisch“6 geworden, so Kreidler, der hochgezüchtete „Klangfetischismus“7 Neuer Musik repräsentiere die akustische Kehrseite ihrer institutionellen Verkrustung. Schüttler sieht den Materialdiskurs erstarrt in einem „von den Meisterkomponisten überlieferten Materialkanon“.8 „Es geht nicht um den Klang an sich […] als Fetisch“,9 schreibt der Komponist Hannes Seidl, sondern um ein Komponieren von Beobachtungen. Damit ist ein Paradigmenwechsel umrissen, der eine Verschiebung von ästhetischen Wertkategorien hin zur Kategorie des Interesses, vom Blick auf das Werkimmanente, in das eine Außenweltbeziehung nur mehrschrittig per Signaturen eingeschrieben und oft nur schwer wieder dechiffrierbar ist, hin zur Wahrnehmung der äußeren Rahmenbedingungen bezeichnet. Zunächst einmal kann die eingeforderte neue Weltzuwendung als systemintrinsisch motiviert benannt werden, denn die Erfahrung, dass ein Kompositionsstudium in der Regel mit Alltagswelt wenig zu tun hat, dürfte zu den nicht seltenen Fällen gehören.10 Darüber hinaus aber bezeichnet sie nicht nur ein reflexhaftes, sondern ein reflektiertes Gegen- oder Überwindungsprogramm zur sozial isolierten Neuen Musik. Die Neu-Zuwendung zu Welt, „Mehrheitslebenswelt“,11 „Welt,
6
Kreidler, „Zum ‚Materialstand‘“, S. 24.
7
Ebd., S. 25. Zum Argument des Klangfetischismus vgl. auch Michael Rebhahn, „Hiermit trete ich aus der Neuen Musik aus“, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 22, hg. von Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz 2015, S. 25–38. Ferner ders., „No problem! Approaches towards an artistic New Music”. Transcript of a lecture given at the conference New Perspectives for New Music, Harvard University, Department of Music, April 13th 2013: hgnm.org/wordpress/wp-content/uploads/ 2013/05/RebhahnLecture-Harvard.pdf (Abruf vom 10.06.2014). Dort S. 1: „self-referential sonic fetishism“.
8
Martin Schüttler, „Diesseitigkeit“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 6–9, hier S. 6. (Gekürzte Fassung des gleichnamigen Vortrags während der Darmstädter Ferienkurse 2010.)
9
Hannes Seidl, „Beobachtungen komponieren“, in: Positionen 95 (Mai 2013), S. 11–14, hier S. 12.
10 Beispielhaft Orm Finnendahl (Johannes Kreidlers zeitweiliger Lehrer) im Gespräch mit Björn Gottstein: „Dieser Widerspruch hat mich fast zerrissen.“ http://www.nmz. de/media/video/abenteuer-neue-musik-folge-3-der-komponist-orm-finnendahl-im-gespraech. 11 Kreidler, „Zum ‚Materialstand‘“, S. 31.
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wie sie geworden ist“,12 „Alltag“,13 Realität, oder zum „brachialen, grausamen, schönen, verrückten, hässlichen, wilden Leben, das vor meiner Haustür tobt“,14 wie Neele Hülcker schreibt, soll für die Neue Musik eine Öffnung bewirken. Es ist an sie die inverse Hoffnung geknüpft, dass die Welt ihrerseits aufgrund der Öffnung Neuer Musik ihr gegenüber sich auch öffne.15 Erreicht werden soll solche Zuwendung zu Lebenswirklichkeit durch Intervention in alltägliche Kommunikationsgefüge. Realitätsöffnung signalisiert auch die Einarbeitung von Alltagsgeräuschen, Samples, Feldaufnahmen. Dass zur Realität im umfassenden Sinn die virtuelle und maschinelle gehört, bezeugt die programmiertechnische Fertigkeit vieler junger Komponisten, die sich oft auch als Medienkünstler verstehen, und das Verwenden allen Klangs, den die Digitalisierung weitgehend dehierarchisiert zugänglich gemacht hat. Ein zentrales Programm Johannes Kreidlers besteht darin, „Musik mit Musik“ – und nicht „über Musik“ – zu machen.16 Wichtige Kompositionsstrategien, in der kodifizierte Welt zu Musik gelangen kann, finden sich im Mapping und in der Sonifikation. Multimedialität wird als Differenz inszeniert. Die beiden programmatischen Schlagwörter, die die Diskussion dieser Öffnung zu Welt, Gesellschaft und Gegenwart bestimmen, lauten Diesseitigkeit und, als musikphilosophische Prospektion Harry Lehmanns, gehaltsästhetische Wende.17
12 Harry Lehmann, „Avantgarde heute. Ein Theoriemodell der ästhetischen Moderne“, in: Musik & Ästhetik 10 (2006), Heft 38, S. 5–41, hier S. 31. 13 Vgl. Michael Maierhof, „Anker in der Realität. Aktuelle Musik und die Ästhetik des zeitgenössischen Alltags“, in: Positionen 71 (Mai 2007), S. 15. 14 Neele Hülcker, „Meine Unruhen“, in: MusikTexte 138 (August 2013), S. 11–13, hier S. 11. 15 Maximilian Marcoll sagt: „Es geht um eine Öffnung. Und wenn sich die neue Musik für das Außen öffnet, dann öffnet sich vielleicht auch das Außen für die Neue Musik.“ Michael Rebhahn/Maximilian Marcoll/Martin Schüttler/Hannes Seidl, „Diskursgestört. Ein Gespräch über die fehlende Anbindung von neuer Musik an ihre Gegenwart“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 2–5, hier S. 5. 16 Johannes Kreidler, Musik mit Musik, Hofheim 2012. 17 Das in der Polemik vielleicht sich bietende Zerrbild, Neue Musik von der jungen Generation sei frei von Weltbezug, hat natürlich der Relativierung bedurft. Vgl. hierzu Jörn Peter Hiekel, „Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik“, in: ders./Christian Utz (Hg.), Lexikon Neue Musik, Stuttgart/Kassel 2016, S. 54–76.
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2. D IESSEITIGKEIT Was Martin Schüttler mit seiner Emphase für das „Hier und Jetzt“ als produktives Dogma aufgestellt hat, scheint auf den ersten Blick ein produktiver Reflex auf die in den Kulturwissenschaften um 2000 diskutierte „Produktion von Präsenz“.18 Hans Ulrich Gumbrecht hatte im resümierenden Rückblick auf die Bemühungen der Literaturwissenschaft, die disparaten heißen Theorien der 1960er bis 1980er Jahre (die materielle Medientheorie Kittlers, die Diskursanalyse Foucaults, die Dekonstruktion Derridas, die Gesellschaftstheorie Luhmanns) potenziell zusammenzudenken und gegen eine fachliche Verkrustung, die der traditionell hermeneutisch ausgerichteten Literaturwissenschaft, in Anschlag zu bringen, die Produktion von Präsenz als Gegengewicht zur metaphysischen Sinnerschließung akzentuiert. Gumbrechts Diesseits der Hermeneutik, das „eine Nähe-zu-den-Dingen, ein Auf-Reichweite-Sein evozieren“ soll, „wie es vor jeglicher Interpretation gegeben“ ward,19 fokussiert die „möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung „präsenter“ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst und intensiviert wird.“20 Da diese Art der Präsenz materiell gedacht ist, steht eine Objekthaftigkeit im Zentrum von Gumbrechts Präsenztheorie: Die „verfügbaren Objekte“ werden als „Dinge dieser Welt“ bezeichnet.21 So wenig die Präsenztheorie Gumbrechts letztlich als Ersatz der Hermeneutik, sondern als ihr Komplement in der Figur eines von der Literaturwissenschaft vernachlässigten Moments des Erlebens (als Erfahrung von Unmittelbarkeit des Inder-Welt-Seins) angelegt ist, so wenig will sie sich auch als ästhetische bzw. poietische Produktionsanweisung verstanden wissen.22 So ist es recht und billig, dass Teile von Martin Schüttlers „Diesseitigkeits“-Manifestes sich zwar wie eine Translation Gumbrechtscher Grundthesen in eine kompositorische Poietik lesen, der Text jedoch eine potenzielle Rückkopplung mit philosophischer oder kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeit mit Understatement von sich weist. Dass Schüttler für den Begriffsumriss den Duden, Wikipedia und sonst nur Texte ihm
18 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2004. 19 Ebd., S. 10. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd. 22 Ebd.: „Hier wird das Wort Produktion also nicht mit der Herstellung von Artefakten oder Industriegütern in Verbindung gebracht“.
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nahestehender Komponisten zitiert, deren Werke exemplarisch besprochen werden, ist, ohne viel Zweifel aufbringen zu müssen, selbst als Inszenierung von Diesseitigkeit, als Im-Jetzt-Sein des Produzierens lesbar. Die Erfahrung semantisch zersplitterter Gleichzeitigkeit der Dinge, die Schüttler als Signatur der Gegenwart akzentuiert, das gesellschaftliche Rauschen, gehört zu den ästhetischen Grunderfahrungen der Moderne seit Mahler und Ives. Freilich wird diese Erfahrung nicht zu einer musikalischen Weltinterpretation synthetisiert. Die Kontingenz des Gleichzeitigen resultiert aber auch nicht in einer zur Komposition kontingenten Einstellung wie bei Cage. Die Zusammenstellung des Kontingenten sei laut Schüttler vielmehr absichtsvoll,23 enthalte mithin kritisches Potential, das dadurch wirksam gemacht werden könne, dass Musik durch das „Aufeinandertreffen“ und Ausstellen „unterschiedlicher Lesarten von Wirklichkeit“ zum Kommentar „gleichermaßen zur subjektiven Lebenswirklichkeit des Komponisten wie zur Situation der (zeitgenössischen) Musik“24 gerate. Die Inszenierung des Kontrasts in der Herkunft verwendeten Materials ist in Schüttlers Kompositionen als Moment der Heterogenität erfahrbar. Das Material wird nicht geglättet, sondern in seiner genetischen oder medialen Disparatheit ausgestellt. Nicht zuletzt in einer Antihaltung zum Differenzierungsprozess des Materialdiskurses der Neuen Musik spricht Schüttler in diesem Zusammenhang von „Materialvergröberung“.25 Um der Beliebigkeit zu steuern, werden strukturelle/ konzeptionelle Verfahren eingesetzt, nicht als homogenisierende over-all-Strategie, sondern partiell oder regional. In Schüttlers Collagieren von vorgefundenen und sezierten Objekten als strategische Reaktion auf die modern-alltägliche simultanklangliche Realität findet sich die Formulierung einer Ästhetik der semantischen Restspuren: „Ziel ist es, gefundene Klangobjekte so weit zu dekonstruieren, dass Reste einer ursprünglichen Aura noch erkennbar bleiben, sie jedoch nicht mehr als Zeichen funktionieren. Es soll keine semantische Beziehung zwischen Ihnen entstehen.“26 Mit Verweis auf die dehierarchisierenden Objektassemblagen Thomas Hirschhorns postuliert Schüttler, Gewöhnliches solle in einer Weise auf Außergewöhnliches prallen, dass „beides an Brisanz gewinnt“.27 So verführerisch diese Idee eines inszenierten kontrastiven Kommentars der Objekte durch ihre Zusammenstellung scheinen mag, so ist doch zu problematisieren, ob musikalische Objekte in gleicher Weise jene kontrastive Unmittelbarkeit wie visuell-räumliche
23 Schüttler, „Diesseitigkeit“, S. 7. 24 Ebd., S. 9. 25 Ebd., S. 7. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 8.
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Objekte erreichen können. Ging es bei den Klangobjekten Pierre Schaeffers primär um eine Morphologie der singulären Objekte unabhängig von ihrer Quelle, so spielt bei Schüttlers Kompositionen ihre Herkunft eine eminente Rolle. Ich muss sie grob identifizieren oder semantisch indexieren können, um den (z. B. kulturellen High-low-)Kontrast zu erkennen. Ohne Kommentar verschließen sich tragende Sinnschichten, auf die ich als Hörer, dem der Oberflächenkontrast (etwa als generelles Ausdrucksmoment) genügte, sicherlich verzichten könnte. Michael Rebhahns wunderbare Kommentierung von schöner leben 7 – „Äußerlich auf dem Damm, aber verkorkst im Innern“ D.F.W. macht das deutlich.28 Der Titel legt im Zitat von David Foster Wallace eine Spur. Der auf der Inkongruenz zwischen Struktur (einer Popsong-Standardform) und Material angelegte Witz der Komposition erschließt sich jedoch weitgehend erst nach der (durchaus werkgenetischen und hermeneutischen) Kommentierung. Nehmen wir den Begriff der Dekonstruktion in der Formulierung von den „dekonstruierten Klangobjekten“ ernst, oder ist nicht vielmehr Dekontextualisieren und schlicht Zerlegen gemeint? Der Dekonstruktion Jacques Derridas geht es um Objekte ja nur insoweit, als sie ein verobjektiviertes Weltbild aufzulösen trachtet und sich stattdessen mit „Texten“ im poststrukturalistischen Verständnis beschäftigt, seien dies Institutionen, Körper oder ein Tanz. Was Schüttler zur zersplitterten Weltwahrnehmung mitteilt, endet in einem Wahrnehmungsessentialismus: „Was ich tue, ist im Prinzip das näher an mich herzurücken, an das Jetzt, an das Sosein in der Küche hier oder auf der Straße draußen und dann fällt mir da was auf oder im Internet und ich finde etwas. Und dann zerlege ich oder kucke und analysiere“.29
Es wäre allzu billig, aus der Warte von Adorno an Schüttlers Komponieren mit aus seiner Weltwahrnehmung gefilterten Klangobjekt-„Baustoffen“ eine Regression via Verdinglichung zu diagnostizieren. Diese ist ja doch von vornherein bei
28 Rebhahn, „No problem!“, S. 9–11. Vgl. ferner den Kommentar von Gisela Nauck mit Eigenkommentar Schüttlers: „Dekonstruktion und Gegenentwurf. Zum Konzept der Diesseitigkeit in der Musik von Martin Schüttler“, Sendung auf Deutschlandfunk, Atelier Neue Musik, 04.08.2012, Manuskript: www.gisela-nauck.de/texte/2012_Martin Schuettler_Dlf.pdf, S. 9 f. Ferner die Arbeitsjournal-„Offenlegung“ vom Komponisten: Martin Schüttler, „‚Äußerlich auf dem Damm, aber verkorkst im Innern‘“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 37–39. 29 Nauck, „Dekonstruktion und Gegenentwurf“, S. 9.
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Schüttler mit negativen Vorzeichen besetzt, da die Welt, wie sie dem Komponisten begegnet, solche Verdinglichung ohnehin schon vollzogen hat, und die Hoffnung darin besteht, durch weitere Zerlegung der Objekte keine falschen Illusionen in der Zusammenfügung zu einem homogenen Ganzen aufkommen zu lassen, sondern die Position eines kritischen Kommentars und die Möglichkeit einer „akustischen Neujustierung“30 gewinnen zu können. Unter dem Stichwort „Recycling“ hat Barbara Barthelmes versucht, die Aneignung und Transformation von Fremd- bzw. Fundmaterial bei Kreidler, Schüttler, Maierhof und anderen von den intertextuellen Konzepten bisheriger Musik abzugrenzen, indem sie die „entscheidende Differenz“ zum einen darin ausmacht, dass in der aktuellen Musik „die große Emphase, mit der die Klangobjekte des Alltags in den Kunstkontext hereingeholt werden“, fehle. Zum anderen scheine „die Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Klangwelten, die vormals Garant der Provokation war, strikt aufgehoben“.31 Dass etwa die moralisierende Dichotomie, die die Soundscape-Bewegung im Gefolge Murray Schafers zwischen lofi und hi-fi bisweilen installiert hat, aufgegeben wird, dass Trash neben Hochwertigem zunächst einmal (präkompositorisch) gleichrangig steht, mag die Recycling-These stützen. Die ästhetischen Entwürfe der Diesseitigen würden aber kaum eine Aufmerksamkeit erregen, wenn sie nicht auf je irgendeiner Ebene einen emphatischen Bruch mit Wahrnehmungsmodalitäten oder -routinen zum Anlass nehmen bzw. inszenieren würden. Dass die Erzeugung von Differenz (das vielleicht zentrale verbindende Programm)32 durch die Grundlegung einer Indifferenz (etwa gegenüber dem Material) gelingen könnte, scheint abwegig. Schüttlers Rede von der „Brisanz“ in der reziproken Materialkommentierung verdeutlicht dies, und sobald das Klangmaterial solchem „Recycling“ unterworfen wird, ist es nicht mehr indifferent, vielmehr „lädt die Rückbindung“ etwa eines „resynthetisierten Klangs“ an seine ursprüngliche Gestalt, wie Maximilian Marcoll schreibt, diesen „semantisch auf“.33
30 Michael Rebhahn, „Schöner leben. Der Komponist Martin Schüttler“, in: MusikTexte 121 (Mai 2009), S. 4–6, hier S. 4. 31 Barbara Barthelmes, „Recycling. Einige ästhetische Konsequenzen musikalischer Verwertungsprozesse“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 23–25. Die Baustoff- und Rohstoffmetaphern bei Schüttler und Marcoll stützen die Recycling-These. 32 Vgl. Rebhahn, „No problem!“, S. 8. 33 Maximilian Marcoll, „Konkret. Transkription in der aktuellen Musik“, in: MusikTexte 137 (Mai 2013), S. 5–8, hier S. 5.
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Marcoll nimmt Alltagsklang durch das Mikrofon wahr und teilt diese subjektiv erlebte (nicht „empfundene“)34 Wahrnehmung mit, jedoch nicht unmittelbar, sondern mittels eines vielgliedrigen übersetzenden Apparats. Dennoch hat die mediale Seite von Klang ein ästhetisches Pendant in einer Vorstellung von Unmittelbarkeit als etwas, das primär mitgeteilt wird, und sei es etwa die Vorstellung einer erlebbaren Präsenz (wie bei Gumbrecht formuliert). Mit Transkriptionsverfahren von „Klängen jenseits primär musikalischer Herkunft“35 hat sich Marcoll eingehend beschäftigt, und unterscheidet onomatopoetische Musik (z. B. Programmmusik oder Messiaens Vogelstimmen) – man könnte sie auch als repräsentationale oder mimetische Musik bezeichnen – von konkret transkribierender Musik (z. B. Peter Ablingers übersetzende Stücke). Die relevante Differenz besteht darin, dass konkrete Transkriptionen ein Grundmaterial „mit seinen gegebenenfalls profanen Quellen“ mit den instrumentalen „Mitteln der traditionellen Musik“ bzw. der „Hochkulturmusik“36 darreichen. Da diese Übersetzung in ein instrumentales Medium nur selektiv geschehen kann, weist die Transkription auf eine Rasterartigkeit der Wahrnehmung und des gewählten Darstellungsmediums zurück – worin wiederum eine Kritik an den Selbstverständlichkeiten der Erwartung ans instrumentale Medium impliziert sein kann (– sofern das instrumentale Medium eine Art Institution repräsentiert, kann dies als Institutionskritik aufgefasst werden). Wir fassen im Folgenden Medium als Formungsbedingung. In seiner Werkreihe Compounds für Instrumente und Elektronik arbeitet Marcoll mit AlltagsFeldaufnahmen, die er archiviert und zu einem Materialnetzwerk ordnet, über das sich klangliche Familienähnlichkeiten abrufen und sortieren lassen.37 Dann werden sie unter Assistenz eines Klangqualitäten differenzierenden Programms38 vom Komponisten ausgehört, gefiltert und in Notate transkribiert, die durch Instrumentalisten interpretiert werden können. In der Aufführung treffen sich gefilterte Aufnahme und interpretierte Transkription. Bei diesem Prozess sind etliche Formungsbedingungen beteiligt, eine Aufmerksamkeit, die den Komponisten zu einer
34 Schüttler, „Diesseits“, S. 8. 35 Marcoll, „Konkret“, S. 5. 36 Ebd., S. 7. 37 Vgl. zur Begrifflichkeit den klaren Arbeitsbericht von Maximilian Marcoll, „Compounds. Dezentrales Komponieren“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 40–42. 38 Vgl. den überaus anregenden modularen Editor „Quince“ von Marcoll (http://quince. marcoll.de).
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akustisch für ihn interessanten Situation lockt39 und den Entscheidungsprozess, sie könnte musikalisch relevant oder materialfähig sein, triggert; die Mikrofonierung, die Alltagsklang in eine Sounddatei übersetzt, das Tagging, das die einzelnen Dateien in einen Zettelkasten-Bezug bringt,40 die ästhetische Wahrnehmung, die über den Filterprozess aus der rohen Aufnahme entscheidet, das Programm, das die Frequenzen in Notate übersetzt u.s.w. Die Kette der medialen Formungsbedingungen lässt sich (im Falle der apparativen und schriftlichen Medien) mehr oder (im Falle der der subjektiven Selektionen, die hier das Feld der Kreativität markieren) weniger gut beschreiben. Nicht mehr in ein phänomenal fassbares Gebiet fiele die Unmittelbarkeit, die jedoch zum Begriff des Medialen nach Elena Ungeheuer einen notwendigen Gegenpol ausmacht.41 Ungeheuer führt dies zunächst an einer „generativen“ Unmittelbarkeit im Fall der seriell-elektronischen Musik aus, und benennt hier die Idee einer Reinheit der klanglichen Erscheinung.42 Im Falle der postseriellen Klangkompositionen der 1960er Jahre wird als Facette des Unmittelbaren auf eine stilisierte Natürlichkeit verwiesen. Die wesentliche Facette einer Unmittelbarkeit der Akusmatik Pierre Schaeffers wiederum wäre beschreibbar als Paradox einer „medialen Unmittelbarkeit“ im phänomenologischen Hören der klanglichen Gestalt usw. Im Falle des Kompositionsverfahrens von Marcoll wäre eine wesentliche Facette von Unmittelbarkeit in einer Diesseitigkeit ausmachbar. Sie äußert sich in der Rückbindung an die stofflichen Rohzustände des Ausgangsmaterials, mit dem sich die Übersetzung amalgamiert. Der vielfach vermittelte Prozess der Wahrnehmung und Übersetzung verwandelt die Stoffe zu Verbundstoffen, daher der Titel
39 Zum passiven Status des Komponisten siehe Marcoll: „Transkription und Handwerk“, in: Positionen 84 (August 2010), S. 13 f., hier S. 13: „Der konkrete Klang reizte mich schon immer und schliesslich war der Schritt zu einer dem axiomatischen Komponieren entgegengesetzten Arbeitsweise nur logisch: einen Rahmen in den Sand malen und schauen was darin ist – ein formloser Anfang mit einer zunächst passiven Haltung des Autors.“ 40 Marcoll bezieht sich beim Zettelkasten auf Luhmann und Deleuze, vgl. „Compounds“, S. 42. 41 Elena Ungeheuer, „Ist Klang das Medium von Musik?“, in: Holger Schulze (Hg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 51–70. Vgl. S. 60: „Musik läßt sich hinsichtlich medialer Vorgänge analysieren, wenn damit der Diskurs um ihre je spezifische Unmittelbarkeit eröffnet wird. Und dieser entzündet sich meist am expliziten oder impliziten Klangkonzept.“ 42 „Im Medium einer bis aufs Äußerste reduzierten Technik sollte sich die reine Idee beweisen.“ Ungeheuer, „Ist Klang das Medium von Musik?“, S. 62.
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der Werkreihe Compounds. Im Sinne von Barthelmes’ Recycling-These könnte man vielleicht von regenerativer Unmittelbarkeit sprechen. Angesichts dieser sehr allgemeinen Zuschreibung, die das produktionsästhetische Konzept bestätigt, ließe sich fragen, worin die korrespondierende diesseitige Hörhaltung bestünde? Für reines Präsenzhören, für eine nüchterne Aufnahme der stofflichen Klangamalgame ohne Erinnerung und Expektanz hätte es des transformatorischen Aufwands kaum bedurft. Marcolls Stücke adressieren eher ein Differenzhören als Suchbewegung. Die klangliche und zeitliche Struktur der Feldaufnahmen dienen als mediale Blaupause für das sich Verschränken von Modi einer Alltagswahrnehmung mit denen einer Konzertwahrnehmung. Die Wahrnehmung klangcharakteristischer Ähnlichkeitszusammenhänge tritt in ein Spannungsverhältnis zur Frage nach der Kontingenz der zeitlichen und klanglichen Strukturen. Es wird ein doppeltes als-ob in der Hörhaltung evoziert: Musik hören, als ob ich Alltag hören würde und umgekehrt. Marcolls angelockt-werdend beobachtendes und übersetzendes Verfahren setzt produktionsästhetisch voraus, dass beobachtete Welt via Framing objekthaft konzipiert wird. Wenn diese Objekte interessant genug scheinen, um in den Modus einer kunsthaften Beobachtung zu kommen, dann unterstelle ich ihnen doch einen „Gehalt“, auch wenn ich ihn nicht genau benennen kann. Es genügt, wenn Marcoll angesichts der Differenz von Klangherkunft und Bearbeitung von semantischer Aufladung spricht,43 um zu erkennen, dass sehr wohl beim Hören mit dem Decodieren von Verweissystemen gerechnet wird, und sei dies nur, um auf den Kippeffekt zwischen indexikalischem Quellenhören und strukturellem Bezugshören zu verweisen.44 Thematisiert werden die Aufmerksamkeit selbst und die Erfahrungs- resp. Wissensressourcen, auf denen sie basiert.
43 Marcoll, „Konkret“, S. 5. Schüttler, „Diesseitigkeit“, S. 8, verneint dies: „Dies [die Materialkombination bei Marcoll] geschieht nicht auf einer semantischen Ebene. Die Verbindung ist oberflächlich.“ Dies ist Schüttlers programmatischer These von der A-Semantik geschuldet. Ohne semantische Verweisungskontexte wäre jedoch die geforderte Differenz nicht kenntlich; sie spielen selbst dann noch im Hintergrund als ästhetischer Gegenpart mit, wenn das Ausgangsmaterial zur Unkenntlichkeit bearbeitet wurde. Freilich ist es beim Hören auch hier hilfreich, um das kompositorische Verfahren zu wissen. 44 Zu sagen, das Resultat von Marcolls Verfahren sei „autonome […] Musik“ (Gisela Nauck, „Samstag Morgen, Berlin Neukölln… Zum Konzept der Diesseitigkeit in der Musik von Maximilian Marcoll“, Sendung Deutschlandfunk, Atelier Neuer Musik 27. 07.2013, Manuskript: http://www.gisela-nauck.de/texte/2013_MaxMarcoll.pdf, S. 12),
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3. G EHALT Wohnt den gefundenen Klangobjekten, die die Diesseitigen wie die Konzeptmusiker verwenden, bereits Bedeutung inne? Insofern sie bereits als „präkomponiert“ aufgefasst werden, ist die Frage zu bejahen. Johannes Kreidler schreibt in seinem Aufsatz „Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik“ folgendes: „Klang und Semantik sind zwei Seiten derselben Medaille. Klang impliziert schon Inhalte: Viele Klänge sind direkte Links zur Außenwelt, das Mp3 aus dem Kopfhörer, das Autoradio, die Geräusche alltäglicher Gegenstände, Feldaufnahmen. Sie haben, ähnlich den Zitaten älterer Musik, objekthaften Charakter, und tendenziell trifft dies auch auf die traditionellen Instrumente zu, deren Spielweisen mittlerweile diversen Stilen zugeordnet werden können.“45
Semantisierung hat bei Kreidler also wesentlich mit dem objekthaften Abschließen zu tun, das eine Labelung ermöglicht. Und umgekehrt tritt in der Zuweisung von Ausdruckssphären, Stilen, kulturellen Praktiken zu Klangtypen eine Objektivierung in Kraft. Impliziert wird freilich, dass Semantisierung ein gesellschaftlicher Prozess medialer Prägung ist, der sich in „Signaturen“ niederschlägt: „In allen unseren Klängen heutzutage“, sagt Kreidler in anderem Zusammenhang, „stecken Signaturen“. Klang würde „zunehmend semantisch“, was per se durchaus keine „Verbesserung“ darstelle.46 Da Kreidler keine Abhandlung zur Semantik schreibt, sondern poietisch argumentiert, folgt keine Vertiefung dieser Labelungsthese, sondern eine Beschreibung von Strategien, wie mit den klangsemantischen Objekten kritisch vorgegangen werden könne. Er nennt die „Entzauberung des Indifferenten“ (z. B. in der Wiederholungstechnik Bernhard Langs), die „poetische Konstellierung“ von
scheint mir einseitig. Die potentielle Autonomie gehört zum erwähnten Kippmoment beim Hören, ist ein Aspekt, aber kein übergeordneter. 45 Kreidler, „Zum ‚Materialstand‘“, S. 29 f. 46 Vgl. „Darmstädter Ferienkurse 2012: Brian Ferneyhough im Gespräch mit Mark Barden, Johannes Kreidler und Martin Schüttler“, in: MusikTexte 138 (August 2013), S. 23–28, hier S. 28.
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Klängen oder Praktiken aus verschiedenen Kulturkreisen (etwa bei Walter Zimmermann), schließlich eine „provokante Gegenbeschreibung“,47 in der konventionelle musikalische Semantik in Kontrast zur Semantik eines dargestellten oder ausgestellten andersmedialen Inhalts gebracht wird. Kreidler nennt hier auch Stanley Kubricks konterkarierenden Einsatz von Musik im Film (der filmwissenschaftlich unter dem Begriff einer „semantischen Beschriftung“ betrachtet worden ist).48 Sicher entspringt der Witz der Kubrickschen intermedialen Reibung der bewusst verdinglichenden Weise, in der zitiert wird. Doch sind hier mehr semantische Schichten und Deutungsmöglichkeiten, auch Erzeugungsmöglichkeiten von Humor enthalten, als die Vorstellung des bloßen Aufeinandertreffens von zwei getaggten Objekten suggeriert. Man muss verstehen, sie als kulturelle Texte zu lesen. Die Ausführungen zur objekthaften Klangsemantik finden sich in Kreidlers Aufsatz unter der Überschrift „Gehalt“; hier und aus der Kontroverse, die ClausSteffen Mahnkopf, Kreidler und Lehmann, ausgehend von zwei Aufsätzen des letzteren, über Musik, Ästhetik und Digitalisierung geführt haben,49 ist schon 2009/10 deutlich geworden, dass und wie stark sich Kreidler auf Lehmanns systemtheoretisch basierten Neubestimmungsversuch der Avantgarde stützt. Lehmann entwirft ein mehrschrittiges Modell der künstlerischen Moderne, in der die Sub-Epochen klassische Moderne, Avantgarde und Postmoderne anhand der ausdifferenzierenden Entkopplungen der Kategorien Werk, Medium und Reflexion im System Kunst rekonstruiert werden, um abschließend die Prognose zu plausibilisieren, welche Struktur eine zweite Moderne haben solle: Sie müsse Werk, Medium und Reflexion wieder einsetzen, jedoch nicht im Sinne eines festen Gefüges wie im Kunstsystem der Neuzeit, sondern lose gekoppelt, im Sinne differenter, reflexiver Kategorien. Im Gegensatz zu einer in der Ausdifferenzierungsphase der ersten Moderne erreichten „Apräsentation von Welt im Werk“50 sei es die Aufgabe einer zweiten Moderne, eine gehaltsästhetische Wende herbeizuführen.
47 Wie in Bob Ostertags Sooner or later (1991), dem die Aufnahme eines Jungen aus El Salvador zugrundeliegt, der seinen von den Nationalgardisten erschossenen Vater begräbt. 48 Gerrit Bodde, Die Musik in den Filmen von Stanley Kubrick, Osnabrück 2002; Stephan Sperl, Die Semantisierung der Musik im filmischen Werk Stanley Kubricks, Würzburg 2006. 49 Zusammengefasst in Kreidler/Lehmann/Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung. 50 Lehmann, „Avantgarde heute“, S. 28; dort auch: „Abstraktion – von Realität“.
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Es ist zunächst einmal erklärungsbedürftig und zugleich exemplarisch für die eigentümliche Sagazität von Lehmanns Theorieentwurf, wie der Begriff „Gehalt“ (um)besetzt wird. Titelgebend für viele literaturwissenschaftliche Arbeiten der 1920er bis 1960er Jahre, angeregt durch Oskar Walzels Abhandlung Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1924), hat er reichlich spät in der Musikwissenschaft seit den 1970er Jahren in Freiburg unter Eggebrecht reüssiert, und zwar als zentraler Begriff einer hermeneutisch konzipierten historischen Interpretationskultur, deren zirkulare Verstehensbewegung zwischen analytisch eruierter Struktur (Teil) und resynthetisierter Bedeutung (Ganzes) oszilliert.51 Damals stellte der Gehaltbegriff eine Option dar, von positivistischen Analysen (z. B. quantitativen Stilanalysen) wieder zu einer Interpretation von „Sinngefügen“ zu gelangen, die aus dem werkimmanenten Zusammenhang einerseits, einem Feld von zu rekonstruierenden Topoi, Figuren, semantischen Sedimentierungen andererseits gewonnen werden sollten.52 Methodisch bedurfte diese Art der Analyse des impliziten Ideal-Hörers (der freilich als Stellvertreter für das Postulat von historischen Konventionen, oft ist von „Normen“ die Rede, ein methodologisches Problem weckt) und forderte ein „Verstehen von Musik im Sinne des richtigen, des adäquaten, des ‚strukturellen Hörens‘ (Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie; Rowohlt-Ausgabe, S. 15 f.)“53 Die enge Bindung ans Strukturparadigma, Erbe von Adornos spätem Gehaltbegriff,54 ein später Reflex auf Eduard Hanslicks Kontrastierung von Gehalt und (nicht existentem) Inhalt der Musik,55 hat in der
51 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht, „Zur Methode der musikalischen Analyse“, in: Erich Doflein: Festschrift zum 70. Geburtstag, hg. von Lars Ulrich Abraham, Mainz 1972, S. 67–84; wieder abgedruckt und mit analytischen Aufsätzen zu einer Art methodischen Kompendiums befördert in: ders., Sinn und Gehalt. Aufsätze zur musikalischen Analyse, Wilhelmshaven 1979, S. 7–42. 52 Zur Gehaltsanalyse vgl. übersichtlich Markus Bandur, Form und Gehalt in den Streichquartetten Joseph Haydns, Pfaffenweiler 1988, S. 23–27. 53 Eggebrecht, Sinn und Gehalt, S. 20. 54 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 7, Frankfurt am Main 2003, S. 195: „Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Faktur, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches durch ihre Faktur, durch die Konsequenz ihrer Durchbildung.“ Ferner, für Eggebrechts historische Analysemethode prägend, S. 132: „Geschichte darf der Gehalt der Kunstwerke heißen. Kunstwerke analysieren heißt so viel wie der in ihnen aufgespeicherten immanenten Geschichte innezuwerden.“ 55 Eduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen, Leipzig 21858, S. 116.
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Spätzeit des musikwissenschaftlichen Gehaltsparadigmas bei Albrecht von Massow zu einem Zusammenbruch der begrifflichen Spannung in der Formulierung eines „musikalischen Formgehalts“ geführt.56 Ob diese Diskussion um den Begriff Gehalt immer eine „fruchtbare Auseinandersetzung“57 gewesen sein soll, sei dahingestellt. Abgelöst wurde er weitgehend durch die Semantik, die aber, begrifflich nüchterner, nicht imstande war, den nebulösen hohen Erkenntnisanspruch, den der Begriff Gehalt bisweilen suggerierte, zu absorbieren. Seit der Genieästhetik des 18. und dem Idealismus des 19. Jahrhunderts enthielt der Begriff die Vorstellung eines inwendigen höheren (mal stärker moralischen, mal stärker individuellen) Wertes.58 Bei Hegel artikuliert sich die Außenweltverbindung in der Vorstellung, der „Weltzustand“, im Gegensatz zu sich, treibe den „wesentlichen Gehalt“ in den Individuen hervor. Damit werde Gehalt nur durch die Wahrheit des jeweiligen Weltzustandes wahrer Gehalt.59 Georg Lukács hatte daran kritisiert, Hegels „Theorie über die Priorität des Gehalts“ bleibe „bei einer Selbstbespiegelung des absoluten Geistes stehen“ und „dringe nicht zur Widerspiegelung der von unserem Bewußtsein unabhängigen objektiven Wirklichkeit in dem Bewußtsein des sich geschichtlich wandelnden Menschen vor“.60 Vielleicht schließt Lehmann an diesen marxistischen Objektivitätsbegriff von Wirklichkeit an. Sicher war es jedenfalls ein geschickter Schachzug, einen Begriff ins Zentrum zu setzen, der in der aktuellen ästhetischen Debatte sonst keine erhebliche Rolle mehr zu spielen schien,61 und der möglicherweise erst diskursiv – in der gegenseitigen Reflexion von Musik und Philosophie – inhaltliche Aufladung erhalten soll. (Jedenfalls aber gehört er zum deutschen Bestand jener philosophischen Begriffe, deren Übersetzung ins Englische einen hohen Erklärungsbedarf einschließt.)
56 Albrecht von Massow, „Musikalischer Formgehalt“, in: Archiv für Musikwissenschaft 55 (1998), S. 269–288. 57 Kampe, „Eine Musikideologie“, S. 83. 58 Vgl. Hugo Dittberner, Art. „Gehalt“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Stuttgart 1974, Sp. 141–145. 59 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge mit einem Nachwort von Georg Lukács, Berlin 1955, S. 197 und 64. 60 Nachwort: „Hegels Ästhetik“, in: Hegel, Ästhetik (Bassenge), S. 599. 61 Im Begriffsregister des Lexikons Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 7 (Supplemente, Register), Stuttgart u. a. 2005, S. 500 finden sich lediglich zwei Verweise.
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Was Lehmann mit „Gehalt“ meint, ist in der Polemik um 2013 zunächst aus dem Kontext eruierbar gewesen, inzwischen jedoch auch in viel umfassenderer Weise in seinem Buch Gehaltsästhetik beschrieben.62 Gemeint ist einerseits allgemein eine Weltreferenz von Kunst,63 die mit dem Schlagwort einer gehaltsästhetischen Wende eingefordert wird.64 Gehalt kann gefasst werden als Bündel an Reflexionen, die zu einem Kunstwerk führen, durch das Kunstwerk konzeptuell gerahmt und angestoßen werden. Dieser Gehalt geht im Gegensatz zu den idealistischen Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhunderts nicht in einer Idee oder der Formulierung eines absoluten Wertes auf, sondern artikuliert die Mehrschichtigkeit einer Reflexion mit einem „transzendenzosen Zugriff auf große Themen“.65 Ebensowenig meint Gehalt ein Thema oder Sujet im klassischen Sinne, das etwa aus einem bestimmten Gattungssystem, einer Stilistik oder einer übergeordneten Ästhetik heraus formuliert wird.66 Konträr dazu wird die „Ästhetik des Kunstwerks […] selbst“ als „Funktion seines Gehalts“ bestimmt.67 Dies bedingt eine „Singularität“68 des gehaltsästhetischen Kunstwerks, in dem die Wahl der in ihm artikulierten ästhetischen Werte wie auch der jeweiligen Medien aus der Reflexion auf den Gehalt hervorgehen. Nach Lehmann sei es gehaltsästhetisch die Aufgabe von Kunst zweiter Moderne, die Welt, wie sie geworden sei, „präsent werden“ zu lassen, und zwar mit
62 Harry Lehmann, Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016, insb. S. 197– 234. Das auf der Trias Werk/Medium/Reflexion basierte geschichtsphilosophische Argumentationsschema von „Avantgarde heute“ ist dort breit eingebettet in (1) eine Analyse praktischer versus ästhetischer Erfahrung, (2) einer Darstellung ästhetischer Absolut- bzw. „Eigenwerte“ (Schönheit, Erhabenheit, Ereignis, Ambivalenz) einschließlich einer Reflexion auf Mimesis („Übertragungswerte“), um (3) im Hauptteil die „Reflexionswerte“ als Kern der gehaltsästhetisch verfassten Kunst einer zweiten Moderne zu fokussieren. 63 „[N]ormalerweise beschreibt der Begriff des Gehalts die fremdreferenzielle Seite der Kunst, sprich einen Aspekt der Realität“ (Lehmann, Gehaltsästhetik, S. 200). 64 Und zwar mit dem Anspruch eines großen Paradigmenwechsels oder „Turns“, vgl. ebd., S. 178. 65 Ebd., S. 205. 66 Ebd., S. 228. 67 Ebd., S. 206 f. 68 Ebd., S. 227.
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der Funktion einer Provokation neuer Selbstbeschreibungen der Gesellschaft.69 Da die kommende Musik eine gehaltsorientierte, d. h. unter dem skizzierten Gehaltsbegriff eine gegenwarts- und weltorientierte sein soll, installiert der Begriff eine Differenz zwischen dem alten Paradigma einer absoluten Musik, die entweder Welt undeutlich oder gar nicht referenziere oder postmoderne Doppelkodierungen aufweise, und einer neuen „relationalen Musik“, die im digitalen Raum operiere, die sich definiere durch „‚Relationen‘ in einem weiten Sinne als Bezüge der Musik zu etwas, was im klassischen Sinne keine Musik ist: zu Bildern, Handlungen und Worten“, und die als die „avancierte Kunstmusik“ der Zukunft verstanden werden wird.70 Die Digitalisierung, die die Gesellschaft verändert, würde notwendigerweise auch die Musik verändern, die Macht der alten Institutionen relativieren, insbesondere ergäben sich neue Plattformen für Präsentation und Dokumentation, der E-Player (sprich der Komplex aus Komponier-, Editiersoftware und SampleOrchester) würde die herkömmlichen instrumentalen Ensemblepraktiken mit ihren je wieder eigenen Hierarchien ergänzen, wenn nicht er- oder zersetzen. Instrumentale Neue Musik würde zum Fall für das Museum und könne fortan, nach dem Vorbild in den USA, den Titel „Zeitgenössische Klassik“71 tragen u.s.w. Die aus diesen Thesen erwachsende Debatte über die Legitimation ihrer Prognosen, ihre potenzielle Verdinglichungstendenz,72 die Richtigkeit ihrer Einschätzung der künftigen Rolle autonomer Musik,73 die kunsthistorische Genauigkeit von Lehmanns Kurzgeschichte der ästhetischen Moderne,74 den Sinn der begrifflichen La-
69 Lehmann, „Avantgarde heute“, S. 31 und ders., Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, München 2006, S. 81–85. 70 Lehmann, Die digitale Revolution, S. 115. 71 Lehmann, „Konzeptmusik“, S. 43. 72 Claus-Steffen Mahnkopf, „Neue Technikgläubigkeit? Computer und Musik“, in: Kreidler/Lehmann/Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung, S. 37–54, hier S. 46 angesichts der Idee eines „Soundshop“-Programms. 73 Tobias Eduard Schick, „Ästhetischer Gehalt zwischen autonomer Musik und einem neuen Konzeptualismus“, in: Musik & Ästhetik 17, Heft 66 (April 2013), S. 47–65. Dazu die Entgegnung von Lehmann, „Konzeptmusik“, S. 31. 74 Vgl. die Glosse von Frank Hilberg, „Sie spielen doch nur Lego… Beobachtungen zum Konzept-Wahn, einem Medienphänomen“, in: MusikTexte 140 (Februar 2014), S. 3–5. Helga de la Motte, „Endlich auf dem richtigen Weg? Konzeptmusik – ein neues Genre?“, in: MusikTexte 141 (Mai 2014), S. 41–43.
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bels,75 die Art, wie sie sich durchsetzen oder propagiert werden,76 kann nicht Gegenstand dieser Zeilen sein. Vielmehr ist zu fragen, wie und mithilfe welcher Art von Semantik Klang unterm begrifflichen Zeichen des Gehalts begegnet wird. Die zweite kontextuelle Bestimmung erhält der Gehalt künftig avancierter Musik bei Lehmann aus der Bindung an Konzeptkunst. „Der ästhetische Gehalt eines Kunstwerks geht in seiner ästhetischen Erfahrung nicht auf. Doch auch das Musikkonzept ist nicht der Gehalt einer Komposition, sondern es liefert den Spielraum, in dem eine ästhetische Erfahrung ihren Gehalt entfaltet. […] Mit einem Konzept markiert der Komponist sein Interesse an einem Gehalt, den er nur im Medium der Musik zu artikulieren vermag. […] Das Musikkonzept markiert einen Punkt von gesteigertem Weltinteresse.“ Der Komponist möchte via Konzept „sein eigenes Welt- und Selbstverhältnis klären“. Das Konzept, indem es über eine rein ästhetische Wahrnehmung von Musik hinausgehe, ermögliche so „einen sozialen Geltungsanspruch der Neuen Musik“.77 Eine der erfolgreichsten Konzeptkompositionen, die das meiste einlöst, was als kritisch relevant für eine weltbezogene Avantgarde genannt wurde, ist Kreidlers Fremdarbeit von 2009, ein Stück, das die globale ökonomische Ausbeutung im Neoliberalismus nicht ästhetisch thematisiert, sondern zum eigenen Produktionsverfahren macht. Kreidler hat für einen kleinen Bruchteil seiner eigenen Auftragsgage für das Stück einen chinesischen Auftragskomponisten und einen indischen Programmierer beauftragt, Plagiate seiner eigenen Musik für ihn zu komponieren (wodurch zugleich eine Art TuringTest mit geschriebener und algorithmisch erzeugter Musik durchgeführt wird).
75 Kampe, „Die Welt in der Schublade“. 76 Stefan Drees, „Diesseitigkeit im Abseits. Eine Kolumne“, in: Seiltanz 6 (April 2013), S. 51–53. Zu Gisela Naucks Einsatz für die Diesseitigkeit vgl. ders., „Musikjournalismus als Propagandamaschine“, in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/6, S. 25–27. Dazu die Reaktionen von Hannes Seidl, „RE. Musikjournalismus… Zu Stefan Drees’ Vorstellung einer Streitkultur, in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/1, S. 72–74 (in der NZfM leider mit unvollständigen Fußnoten, vollständig unter http://www.stock11.de/medien/ text.html); ferner Maximilian Marcoll, „Danke! Zu Stefan Drees’ Artikel ‚Musikjournalismus als Propagandamaschine‘“, http://www.stock11.de/medien/text.html (letzter Abruf für beide: 01.07.2014). 77 Lehmann, Die digitale Revolution, S. 114.
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Das Verfahren wird zugleich im Stück durch ein Referat des Komponisten offengelegt.78 In provokanter Weise überträgt die Arbeit eine gesellschaftliche (Ausbeutungs-)Praxis aus dem Feld der Ökonomie in die Kunst. In vergleichbarer Weise überträgt Patrick Frank Wertsteigerungsmechanismen des Kunstmarktes in seine Aktion The Law of Quality.79 Er hat für die Aktionsumgebung ein pseudoromantisches Klavierlied, eine Art billiges Imitat geschrieben, für das mit hochironischen Videospots Werbung gemacht wird. Nun ist man als Rezipient („Qualitätsstifter“) eingeladen, den Wert des in Nussbaum gerahmten Werks durch je erhöhte Kaufpreise zu steigern. Künstler erhalten einen Anreiz zur Aufführung, indem sie an den Umsätzen der Aktion beteiligt werden. Seit Sommer 2014 hat das Werk einen Preis von 5056 US-Dollar (und ist damit auf der beigegebenen Werteskala bei der Kategorie „Regionalkunst“ angelangt). Für den Komplex Klang und Semantik bedeutet dies, dass einer kleingliedrigen Semantik im Sinne von Topoi oder von Vokabeln musikalischen Ausdrucks keine zentrale Rolle mehr zukommt (es sei denn, sie werden selbst Teil des Konzepts).80 Der Klang bzw. der klingende Artefakt- oder Aktionsanteil mutiert zu einer Art Superzeichen, zu einem übergeordneten Signifikanten, der aber nicht auf einen hinter ihm liegenden Ausdruck verweist, sondern auf die konzeptuelle Rahmung, die im Mapping-Verfahren soziale Praktiken oder Texte adaptiert und somit kritisiert. Der Gehalt erschließt sich nicht aus dem vormaligen Strukturparadigma Adornos, sondern aus der konzeptuellen Gesamtanlage. Dies heißt nicht, dass der spezifische Klang bedeutungslos wäre. In den beiden genannten Konzeptstücken ist es von Bedeutung, dass die Musik, die Kreidler komponieren lässt, nach Neuer Ensemble-Musik Kreidlers klingt,81 oder dass Franks Musikstück die
78 Kreidler hat dieses Offenlegen des Kommentars im Stück explizit theoretisiert, er spricht von „Textinstallationen“, vgl. „Traktat“ in: Kreidler/Lehmann/Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung, S. 113–133, hier S. 116 f. 79 www.lawofquality.com. 80 Vgl. Kreidlers „rhetorische“ Analyse seines berühmten Video-Konzeptstücks Charts Music (www.youtube.com/watch?v=2-BZfFakpzc) in: „Zweite Antwort auf ClausSteffen Mahnkopf“, in: Kreidler/Lehmann/Mahnkopf, Musik, Ästhetik, Digitalisierung, S. 81–94, hier S. 92 f. Ferner exemplarisch Trauermusik für Boris Becker, in dem die Matchergebnisse Becker/Edberg bei den French Open als Generalbass-Signaturen über einen Lamento-Bass gesetzt werden (www.kreidler-net.de/werke/13konzeptuellestuecke.htm). 81 Zum Interesse des Komponisten am klanglichen Resultat vgl. Carolin Naujocks/Johannes Kreidler, „Fremdarbeit. Kompositionsaktion für Ensemble, Sampler und Moderator – ein Gespräch“, in: Positionen 93 (November 2012), S. 26–29, hier S. 29.
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Signatur des Kitschs transportiert. Verabschiedet oder infragegestellt ist in ihnen das ästhetische Wertesystem, das sich an zentralen, aber gesellschaftlich ramponierten Begriffen wie Schönheit, Originalität oder Kreativität orientiert.
4. N ON - CHOCHLEAR S ONIC A RT Die konzeptuelle Praxis zieht eine Vergröberung des Materials und eine Verallgemeinerung der musikalischen Signifikation nach sich. Sie ist nicht an einer wahrnehmenden Innendifferenzierung innerhalb des Rahmens, den Kunst definiert, interessiert, sondern an einer Umdefinition der Rahmenbedingungen von Wahrnehmen und Verstehen im System Kunst. Dieser grundlegende Unterschied ist in anderem Kontext, in der kritischen Reflexion der amerikanischen Gallery Arts, schon Ende der 1980er Jahre zum Tragen gekommen, wie wir im Buch In the Blink of an Ear – Toward a Non-cochlear Sonic Art des Konzeptkünstlers und Kritikers Seth Kim-Cohen lesen können, und zwar am Umbruch der Kunstkritik von Modernism/Formalism à la Clement Greenberg zu Avantgarde/Postmodernism in der Version von Rosalind Krauss.82 Es findet ein Wechsel der konstitutiven Kategorien statt von Qualität zu Interesse, von Verfeinerung zu Redefinition, vom essentiell verstandenen Medium zur sozialen Wirkung des Werks, eine Aufmerksamkeitsverschiebung von der Substanz zur Bedingung. Kim-Cohens Relektüre setzt dreierlei in Beziehung: Die Verzeitlichung der Skulptur und ihre Extension in ein situatives expanded field bei Robert Morris, die am Umbruch zur Postmoderne vollzogene Reinterpretation der Zwittergestalt von Minimalismus als Vollendung eines Formalism einerseits und als Ablösung von einer essentialistischen Identitätsästhetik andererseits, schließlich die kunstkritische Adoption der dekonstruktivistischen Kritik an der Phänomenologie. Dieser Umbruch ist bei Kim-Cohen wichtiger Teil einer Revision der Geschichte der Gallery Arts (vom abstrakten Expressionismus über den Minimalismus und die Entmaterialisierung) hin zu einer Konzeptkunst, wie sie heute reflexiv weiterbetrieben werden könnte. Der ausschlaggebende Punkt ist hierbei, dass die Infragestellung kommunikativer und sozialer Rahmenbedingungen von Wahrnehmungen nur in der Relativierung von Bedeutungszuweisungen zwischen Subjekt, Objekt und einem dritten Prozessualen, der Situation, geschehen kann – und nicht über den Rückzug auf eine Verobjektivierung.
82 Rosalind Krauss, „Sense and Sensibility: Reflection on Post ‘60s Sculpture“, in: Artforum 12 (1973), S. 43–53. Dazu Kim-Cohen, In the Blink of an Ear, S. 86.
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Was bedeutet das für Klang? Kim-Cohen analysiert die Analogie zwischen der phänomenologischen Augenblicks-Emphatisierung Edmund Husserls und der Verobjektivierung von Klang-an-sich bei Schaeffer, Cage und den frühen Studioaufnahmen von Muddy Waters 1948. Die wesentliche These besagt, dass die Vergötterung des Klangs-an-sich und der Mythos der unmittelbaren Präsenzerfahrung in der noch nicht allzu langen Geschichte der sonic arts ihre Anbindung an Konzeptkunst als Infragestellung der kommunikativen Rahmenbedingungen von Wahrnehmung behindert habe. Um eine konzeptuelle Klangkunst zu erreichen, die nicht in einen Wahrnehmungs-Essentialismus zurückfiele, müssten die Dokumente dieser Kunst im Sinne der Dekonstruktion als Texte gelesen werden, die sich gegenseitig reflektieren. Kim-Cohen setzt dies in einer Weise um, die er „arbitrary confabulation“83 nennt, sie bezeichnet eine Arbeit, die mit Wahrnehmungs-„Fehlern“ oder Zuweisungsunfällen arbeitet, um Einspruch gegen eine gesellschaftliche Kommunikationssituation zu erheben, in der Widersprüchliches durch „autotune“84 geglättet wird. So wird etwa in der Arbeit The bee in bathos equals the pee in pathos (except at the bathhouse) (2013)85 Dan Grahams berühmte Aktion Performer/Audience/Mirror auf die stumm abgespielte Video-Dokumentation des letzten Songs des letzten Auftritts der Sex Pistols, San Francisco 1978, gemapped. Das Video der Pistols, wie sie den Stooges-Song No fun performen, wird an die Wand geworfen, an der rechten Seite der Kadrierung wird weißes Licht auf einen Spiegel projiziert. Vor diesem Spiegel, gedoppelt mit einem Teil des gespiegelten Publikums, appliziert Kim-Cohen die nüchternen Körperbewegungsbeschreibungen aus Grahams San-Francisco-Performance (die Ebene des Bathos) auf die Performance von Johnny Rotten (Signifikant für pathetische Darstellung schlechthin). Was resultiert, ist eine spannende Herausforderung an das Publikum, ihre Einstellung zu den beiden durchaus auch im Modus einer abgründigen Komik in Relation
83 Vgl. „Transmission | An Interview with Seth Kim-Cohen: ‘I move to the left, and back to my right, step behind the amplifier, and I disappear into the darkness’” (5. März 2013), in: Art21, blog.art21.org/2013/03/05/transmission-an-interview-with-seth-kimcohen-i-move-to-the-left-and-back-to-my-right-step-behind-the-amplifier-and-i-disappear-into-the-darkness/#.U9IVqKismYk. 84 Vgl. Seth Kim-Cohen, „Sound Today (is no longer a function of the ear)“, auf: NonCochlear Sound. Diapason Gallery, Texts, http://noncochlearsound.com/?page_id =101. 85 http://www.kim-cohen.com/projects/thebeinbathos.html (letzter Aufruf 10.07.2014).
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gebrachten Medien und ihrer so sehr unterschiedlichen Präsentation und Repräsentation von Körperlichkeit zu prüfen oder auf verschiedenen Ebenen zu decodieren. Inkludiert ist darin auch eine Prüfung des Verhältnisses der eigenen Gegenwart zur Situation der Spät-Siebziger, die hier in der seltsamen Differenz zweier körperlicher Praktiken erinnert wird. Im Gegensatz zur deutschen Konzeptmusik oder der Diesseitigkeit fällt hier auf, dass die (ambivalente) Vorabverurteilung von Popkultur86 im Beobachtungsarrangement fehlt. Es ist wahrscheinlich, dass diese Spielart von konzeptueller nonkochlearer Klangkunst im systemtheoretischen Moderne-Modell Lehmanns wohl noch unter eine postmoderne Praxis fällt, auch weil sie einen dekonstruktiven Wirklichkeitsbegriff entfaltet und keine aktuelle politische Lebenswelt in direkter Weise zu adressieren scheint. Möglich, dass diese Spielart den diesseitsbezogenen Konzept-Komponisten zu sehr versenkt in den Text des Zurückliegenden erscheint, das in der Gegenwart der Performance gespiegelt wird, und in der Indirektheit seiner Aussage zu unpolitisch, als dass sie als Option interessant sein könnte; oder auch nicht, vielleicht wird sie auch integriert.87 Immerhin stellt sie eine plausible Lösung dar, den Fetischcharakter von Klang zu tilgen, indem er als immer schon zu den Bildern imaginierter angenommen wird.88
86 Vgl. etwa Kreidler, „Zweite Antwort“, S. 93: „Pop und Bilanzen, beide sind falsch“; Werkkommentar zu Dekonfabulation: „Absichtlich habe ich hauptsächlich schlechte Popmusik als Material verwendet, die wert ist ‚enteignet‘ zu werden“ (www. kreidler-net.de/werke/dekonfabulation.htm). 87 Kreidler bezieht Seth Kim-Cohen auf jeden Fall in seine Revision konzeptmusikalischer Ansätze ein: „Das Neue an der Konzeptmusik“, in: Neue Zeitschrift für Musik 2014/1, S. 44–49, hier S. 46. Vgl. ferner den Dialog Back in C (Transposition back to C of Seth Kim-Cohen’s Transposition to D [“In D“] of Terry Riley’s piece „In C”), aus: Dreizehn konzeptuelle Stücke (2013), www.kreidler-net.de/werke/13konzeptuellestuecke.htm. 88 Zur auditiven Imagination als Sinn einer non-kochlearen Klangkunst vgl. Marco Ciciliani, „Das Ohr hört nie allein. Musikalisches Erlebnis jenseits des Hörbaren“, in: kunsttexte.de, 2011, Nr. 4, www.kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=38899& ausgabe=38844&zu=907&L=0
Autorinnen und Autoren
Geiger, Friedrich, Studium der Musik, Historischen und Systematischen Musikwissenschaft sowie der Lateinischen Philologie in München und Hamburg. 1997 Promotion mit einer Arbeit über Wladimir Vogel. 2003 Habilitation mit einer Studie über die Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin. Seit 2007 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Musikgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Musik der Antike und Antikenrezeption in der Musik; Musik in Diktaturen; Historiographie der populären Musik; Geographie der Musikgeschichte; Musikästhetik und musikalisches Urteil. Hiekel, Jörn Peter, Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik in Dresden und Leiter des dortigen Instituts für Neue Musik, seit 2009 außerdem Dozent für Musikgeschichte und Musikästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste, stellv. Leiter der Musiksektion der Sächsischen Akademie der Künste und Vorstand des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. 2014 wurde er mit dem erstmals verliehenen Sächsischen Lehrpreis ausgezeichnet. Autor und (Mit-)Herausgeber verschiedener Bücher vor allem zur Musik des 20./21. Jahrhunderts sowie zu interkulturellen Fragestellungen. Janz, Tobias, studierte Klavier, Kammermusik und Musiktheorie an der Musikhochschule Lübeck sowie Musikwissenschaft und Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin. 2005 Promotion mit einer Arbeit über die Dramaturgie des Orchesterklangs in Wagners Ring des Nibelungen. 2013–2017 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit Oktober 2017 Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2018 Mitherausgeber der Zeitschrift Musik & Ästhe-
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tik. Forschungsschwerpunkte: Musik des 17.–21. Jahrhunderts, Musiktheorie (Geschichte und Systematik), Klang, Ästhetik, Musikphilosophie, Moderneforschung und Musikhistorik. Kaltenecker, Martin, Dozent für Musikästhetik und Musik des 20. Jahrhunderts an der Universität Paris Diderot-Paris 7. 1986–1992 Mitherausgeber der Zeitschrift für neue Musik Entretemps (1986–1992). Arbeit als Übersetzer sowie am Rundfunk. 2006/07 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Publikationen (Auswahl): La Rumeur des Batailles (Paris 2000); Avec Helmut Lachenmann (Paris 2001); L’Oreille divisée. Les discours sur l’écoute musicale aux XVIIIe et XIXe siècles (Paris 2011). Mitherausgeber der Bände Penser l’Œuvre musicale au XXe siècle (Paris 2006); Pierre Schaeffer. Les Constructions impatientes (Paris 2012). Herausgeber der Anthologie von Texten zum Hören L’Ecoute (Paris 2018). Klein, Tobias Robert, Studium der Musikwissenschaft, Afrikanistik und Informatik an der Berliner Humboldt-Universität. Danach wissenschaftlicher Mitarbeiter u.a. an der Universität Magdeburg und am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Derzeit Privatdozent an der Humboldt Universität und Forschungsmitarbeiter an der Universität Gießen. Projekte und Publikationen gelten der (west)europäischen und (west)afrikanischen Musik-, Wissens-, Literatur- und Kulturgeschichte, z.B. mit Arbeiten zum Musiktheater, zur postkolonialen Musikgeschichte, zu musikalischen Ausdrucksgebärden und Emotionen sowie Notationssystemen. Mende, Wolfgang, Studium der Slavistik, Indogermanistik und Musikwissenschaft in Regensburg, Marburg, Moskau und Hamburg. Seit 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Musikwissenschaft der TU Dresden. 2005 Promotion (Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln 2009). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Russische/Sowjetische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, Instrumentation als semantisches System, Deutschsprachige Oper nach Wagner, Linke Filmmusik. Mitarbeit in dem DFG-Projekt „Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917–1933. Analyse und Dokumentation“. Noeske, Nina, seit Oktober 2014 Professorin für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Vorherige berufliche Stationen in Salzburg (2012–14), Hannover (2007–12) und Weimar (2006). Forschungsschwerpunkte: Musik- und Kulturgeschichte des 18.–21. Jahrhunderts, (Neue) Musik in der DDR und im geteilten Deutschland, Franz Liszt und die Neudeutsche Schule,
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Genderfragen in der Musikwissenschaft, Musik und Kitsch, Musik und Popularität, Schnittstellen zwischen Musik und (bewegtem) Bild, Filmmusik bzw. Musik im Film u.a. Vgl. http://ninanoeske.de Urbanek, Nikolaus, Professor für Musikwissenschaft, Leiter des Instituts für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und Leiter des Wissenschaftszentrums ‚Arnold Schönberg und die Wiener Schule‘. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Musikästhetik und Musikphilosophie; Musikgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhunderts; Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung; Theorie der musikalischen Schrift. Buchpublikationen (Auswahl): Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos „Philosophie der Musik“ und die Beethoven-Fragmente (Bielefeld 2010); Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektive (Stuttgart 2013); Mitherausgeber u. a. der Bände Musikhistoriographie(n) (Wien 2015); Black Metal. Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikgeschichte (Bielefeld 2018). Weiss, Stefan, Studium der Musikwissenschaft, Englischen und Deutschen Philologie an der Universität zu Köln. Promotion über Die Musik Philipp Jarnachs (Köln 1996). 1997–2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden, seitdem Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Forschungsinteressen: Musik des 20. und 21. Jahrhunderts mit einem regionalen Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa, besonders Russland/Sowjetunion. Wiener, Oliver, seit 2010 Kurator der Studiensammlung Musikinstrumente & Medien an der Universität Würzburg. Dort außerdem Musikwissenschaftliche Lehre im Gebiet des 18. Jahrhunderts und der Musik der Gegenwart. 2002–2004 Teilnahme am Forschungsseminar von Christian Kaden (HU Berlin). 2004 Promotion mit einer Arbeit über die aufgeklärte Musikhistoriographie. 2011–2013 Co-Leiter beim Aufbau des Ateliers Klangforschung am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Zenck, Martin, Professor (em.) an der Universität Würzburg im Institut für Musikforschung mit dem Schwerpunkt „Ästhetik, Medien, Neue Musik". Zu den Hauptakzenten seiner neueren Forschungen gehören die Frage nach Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen der Künste sowie ein Frankreich-Schwerpunkt über Foucault, Deleuze, Barthes und Derrida, innerhalb dessen das Buch Pierre
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Boulez. Die Partitur und das Theater der Avantgarde (Paderborn 2017) erschienen ist. 2013 „Happy New Ears“-Preis für Musikessayistik der Hans- und GertrudZender-Stiftung. 2013 Gastprofessur an der University of Chicago. 2016 Mitkonzeption des Musik-Konzepte-Sonderbands Die Musik – eine Kunst des Imaginären? sowie Co-Leitung der Sektion „Hören serieller und post-serieller Musik“ bei der GfM-Jahrestagung. 2017 Guest Researcher am Getty Research Institute in Los Angeles. Zu den neueren Publikationen zählen Aufsätze über Kafka und die Musik, die Mitherausgeberschaft des Bandes Intermedialität von Bild und Musik sowie Beiträge über David Tudor und Bill Viola. Gegenwärtig leitet er u.a. ein mehrjähriges DFG-Forschungsprojekt über Eduard Steuermann.
Musikwissenschaft Michael Rauhut
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Thomas Phleps (Hg.)
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Lars Oberhaus, Christoph Stange (Hg.)
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Jürgen Manemann, Eike Brock
Philosophie des HipHop Performen, was an der Zeit ist
04/2018, 218 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-4152-3, Open Access
In Gesprächen, mit Texten, Songs, Kommentaren und durch spontane Assoziationen loten Philosoph*innen und Rapper*innen (Megaloh, Sookee, Spax u.a.) miteinander aus, was Philosophie des HipHop heißt. Dabei geht es um lebendiges Philosophieren. Philosophieren im Sinne des HipHop verlangt, sich selbst aktiv einzubringen. Eigene Gedanken blitzen auf in der Konfrontation mit den Gedanken anderer. Authentizität bzw. Realness und Kreativität: das sind die Leitwerte des HipHop. Philosophie des HipHop bedeutet nicht talking philosophy, sondern doing philosophy, und zwar in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart. Philosophie des HipHop heißt: Performen, was an der Zeit ist.