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German Pages 322 Year 2021
Oliver Victor Kierkegaard und Nietzsche
Kierkegaard Studies
Edited on the behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šajda
Monograph Series 42 Edited by Heiko Schulz
Oliver Victor
Kierkegaard und Nietzsche Initialfiguren und Hauptmotive der Existenzphilosophie
Wir danken der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e.V. für die finanzielle Förderung dieser Publikation.
ISBN 978-3-11-071756-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071902-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071934-5 ISSN 1434-2952 Library of Congress Control Number: 2021931833 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort | VII 1
Einleitung: Systematische und historische Konturen der Existenzphilosophie | 1 1.1 Einheitlichkeit und Disparatheit | 1 1.2 Geschichte und Vorgeschichte | 9 1.3 Aufgabenstellung und Herangehensweise der Untersuchung | 24 2 Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne | 30 2.1 Idealismus- und Systemkritik: Abstraktion als Negation der Existenz | 30 2.2 Die Wahrheit ist die Subjektivität – die Wende hin zum Einzelnen | 66 2.3 Mensch ohne Wesen? – eine Revision klassischer Anthropologie | 91 2.4 Das Ethische als Selbstadresse | 111 2.5 Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 126 3 Nietzsche: Leben und Lebensentwurf | 163 3.1 Metaphysikkritik, Erkenntniskritik, Nihilismus | 163 3.2 Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 192 3.3 Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen | 216 3.4 Philosophie und Leben. Experimentalphilosophie als Methode | 237 4 Fazit und Ausblick: Positionen und Perspektiven | 261 4.1 Kierkegaard und Nietzsche im wirkungsgeschichtlichen Kontext | 261 4.2 Was bleibt? Typologie und Prospektion | 273 Literatur- und Siglenverzeichnis | 283 Personenregister | 305 Sachregister | 310
Vorwort Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2020 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommenen Dissertation. Mein erster und besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Kann. Er hat mein Studium der Philosophie und meinen akademischen Werdegang von Beginn an maßgeblich geprägt und mir stets die Möglichkeit und den nötigen Freiraum gegeben, meinen Forschungsinteressen in einem idealen Umfeld nachzugehen. Mein ausdrücklicher Dank gilt auch Prof. Dr. Markus Schrenk, der freundlicherweise das Zweitgutachten übernommen, meine Arbeit begleitet und mir in zahlreichen Gesprächen wertvolle Hinweise gegeben hat. Den Herausgebern der Kierkegaard Studies. Monograph Series Prof. Dr. Heiko Schulz, Prof. Dr. Jon Stewart und Prof. Dr. Karl Verstrynge danke ich herzlich für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe sowie für wertvolle Hinweise zur Bearbeitung der Druckfassung. Dr. Albrecht Döhnert und Katrin Mittmann vom de Gruyter Verlag gilt mein Dank für die erstklassige und unkomplizierte Betreuung. Der Anton-Betz-Stiftung bin ich für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses sehr verbunden. Danken möchte ich insbesondere meinem Düsseldorfer Kollegen Dr. Dennis Sölch, der nicht nur die Arbeit als Ganze gelesen, sondern mir darüber hinaus in zahllosen gemeinsamen Gesprächen, Seminaren und Projekten wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben hat. Für unzählige Stunden des sorgfältigen Korrekturlesens danke ich Matthias Ernst Bähr. Von ganzem Herzen möchte ich schließlich meinen Eltern danken, die mir während des gesamten Studiums sowie der Promotionsphase stets die notwendige mentale Unterstützung gegeben haben. Ohne ihre Ermutigungen wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ihnen sei deshalb dieses Buch gewidmet. Düsseldorf, im Oktober 2020 Oliver Victor
https://doi.org/10.1515/9783110719024-202
1 Einleitung: Systematische und historische Konturen der Existenzphilosophie Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt darauf an, sie zu verändern.1
1.1 Einheitlichkeit und Disparatheit Die vorliegende Untersuchung widmet sich den philosophiehistorischen Prämissen und der Genese der Existenzphilosophie, wobei Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche als ihre Initialfiguren exponiert werden sollen. Dabei handelt es sich nicht um ein rein philosophiegeschichtliches Interesse, vielmehr trägt die Analyse der Entstehung einer philosophischen Strömung zu einer Verdeutlichung ihrer Konturen und Inhalte bei. Eine solche Präzisierung scheint mit Blick auf die Existenzphilosophie besonders geboten. Die Existenzphilosophie bzw. der Existenzialismus2 bildet keine homogene, klar umrissene und von anderen Strömungen abgegrenzte philosophische Traditionslinie. So verurteilt schon Jean-Paul Sartre selbst den Versuch, den Existenzialismus zu definieren, zum Scheitern: „Ich spreche nicht gern über den Existenzialismus, denn es gehört ja gerade zum Wesen eines philosophischen Bemühens, daß es sich einer genauen Bestimmung entzieht. Es benennen oder
|| 1 Marx zitiert in Engels 1978, S. 78. 2 Die Wortschöpfung ‚Existenzialismus‘ beruht auf einer Besonderheit des Französischen, da dort ein Pendant zum Deutschen ‚Existenzphilosophie‘ nicht analog gebildet werden kann. Die Bezeichnungen ‚philosophie existentielle‘ und ‚philosophie de lʼexistence‘ sind gegenüber dem Wort ‚existentialisme‘ eher unüblich. Darauf macht schon Lotz 1965, S. 22 aufmerksam. Das gilt zumindest seit dem 29. Oktober 1945, dem Tag, an dem Sartre seinen berühmten Vortrag „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“ hielt, und veranlasst Huisman 2005, S. 7 von einem „acte de naissance et le certificat de baptême du mot existentialisme“ zu sprechen. Mit diesem Auftritt Sartres wurde der Existenzialismus zumindest zu einem öffentlichen Ereignis, wenngleich, wie Roland Galle bemerkt, die jener Strömung im Nachhinein zugeordneten Hauptwerke allesamt vorher erschienen sind. Vgl. dazu Galle 1994, S. 9. Zur Schilderung des Ablaufs der Ereignisse rund um Sartres Vortrag siehe Cohen-Solals Erläuterungen unter der sprechenden Überschrift „Der Existenzialismus ist gekommen“. Vgl. Cohen-Solal 1991, S. 390–395. Der Terminus ‚Existenzialismus‘ wird häufig dem französischen Zweig der Existenzphilosophie vorbehalten. In dieser Untersuchung möchte ich die Bezeichnungen ‚Existenzphilosophie‘ und ‚Existenzialismus‘ als Synonyme verstanden wissen. https://doi.org/10.1515/9783110719024-001
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definieren wollen, hieße, es zum Stagnieren bringen.“3 Hinter dieser Aussage verbirgt sich bereits ein bestimmtes Verständnis von Philosophie, das richtungsweisend für diese Strömung ist und zumindest der Auffassung von Philosophie als reiner Begriffsanalyse und Begriffsbestimmung entgegensteht. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Existenzphilosophie als Produkt einer nur unklar umrissenen Gruppe von Philosophen und Literaten, die sich selbst mehrheitlich von der Typisierung ‚Existenzphilosoph‘ distanzieren. Für Walter Kaufmann ist der Existenzialismus sogar sicherlich „not a school of thought nor reducible to any set of tenets.“4 So stellt auch Franz Zimmermann in seiner Einführung in die Existenzphilosophie gleich zu Beginn klar, so etwas wie die Existenzphilosophie gebe es nicht, verstehe man darunter ein Denken, „das an eine bestimmte Methode gebunden ist und einen durch sie explizierbaren, einheitlichen Gegenstand besitzt.“5 Und – um ein weiteres Beispiel anzuführen – Jacques Colette stellt die Einleitung seines Buches zum Existenzialismus unter die Überschrift: „Lʼexistentialisme nʼest pas une doctrine“.6 Um den Unterschied zu einer Schulphilosophie deutlich zu markieren, ist auch die Rede vom Existenzialismus als einer philosophischen Haltung7 bzw. einem geistesgeschichtlichen Klima. Die Existenzphilosophie wird demnach zuweilen explizit nicht als eine Schulphilosophie verstanden, da durch sie gerade die Unmöglichkeit einer solchen Art zu philosophieren offenbar wurde.8 Dennoch ist eine Vielzahl an Werken zur Existenzphilosophie erschienen, in denen zumindest Namen wie Kierkegaard, Jaspers, Heidegger, Sartre, de Beauvoir und Camus nahezu immer als Konstanten in der Diskussion erscheinen. Es hat mitunter den Anschein, als sei es leichter, für die Existenzphilosophie relevante Denker zu nennen, anstatt eine einzelne These dezidiert dieser Strömung
|| 3 Sartre 1967, S. 867. Vgl. hierzu Solomon 1987, S. 244 sowie Solomon 2005, S. xix. 4 Kaufmann 1989, S. 11. Rainer Thurnher und Wolfgang Röd sprechen deshalb von einem „existenzorientierten Denken“ und nicht von „Existenzphilosophie“, da nach ihnen „zwar alle diese Denker von der Existenz des Menschen ausgehen, dabei aber durchaus eigenständige und heterogene philosophische Zielsetzungen verfolgen.“ Diese Denker bildeten jedoch keine philosophische Schule mit einer einheitlichen philosophischen Intention, so Thurnher und Röd 2002, S. 164. 5 Zimmermann 1977, S. 1. 6 Colette 2018, S. 5. „[E]xistentialism is not a dead doctrine to be bottled and labeled“, heißt es auch bei Solomon 2005, S. xix. 7 So zum Beispiel bei Huisman 2005, S. 6: „Cʼest beaucoup plus une ,attitude philosophique‘ quʼont adoptée certains penseurs à un moment historique particulier, qui visaient la réalité concrète plus quʼune vérité théorétique.“ 8 So bei Seibert 1997, S. X.
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zuzuordnen.9 Aus systematischer Sicht erschwert dies eine Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie ungemein, da wir eher mit diversen Existenzphilosophinnen und -philosophen konfrontiert sind als mit einer einheitlichen Denktradition.10 Als ein gemeinsames Moment wird zwar stets der Bezug zu Kierkegaard – gemeinhin als ‚Vater‘ der Existenzphilosophie apostrophiert – und zu seinem Verständnis von Existenz angeführt. Nicht selten erfolgt dabei jedoch eine einseitige Festlegung auf Kierkegaard als die historische Referenzfigur, wobei jemand wie Nietzsche, der in dieser Arbeit einen zentralen Status einnehmen wird, oft nur am Rande Erwähnung findet. Ein vollständiger Katalog mit essentiellen Charakteristika der Existenzphilosophie ist ebenso schwerlich anzulegen, das zeigt sich bereits an der Unterschiedlichkeit und Disparatheit der Versuche solcher Auflistungen in diversen Überblicksdarstellungen. Für manche Interpreten ist dieser Tatbestand keineswegs überraschend, da zum Beispiel nach Robert C. Solomon dem Existenzialismus nichts ferner liege als Versuche, ihn zu definieren. Allerhöchstens könne lediglich wiederum über ebendiese Versuche debattiert werden.11 Schauen wir uns zunächst exemplarisch einige einschlägige Definitions- und Konturierungsversuche aus der Forschungsliteratur an. Das Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie kristallisiert so vier Säulen heraus, die allen existenzphilosophischen Ansätzen gemeinsam seien: Es werden Kierkegaard als gemeinsame Referenzfigur, die Konzentration auf den von ihm definierten Begriff der Existenz, die Abwendung von der traditionellen Metaphysik im Sinne der Wesensphilosophie – hier wird auch häufig von der Existenzphilosophie als einem postmetaphysischen Denken gesprochen12 – und die Fokussierung auf das Individuum, den Einzelnen, aufgelistet.13 Auf diese Weise wird zwar grob umrissen, wo sich existenzphilosophisches Denken situieren lässt, letztlich bleibt eine solche Typisierung jedoch aufgrund ihrer Allgemeinheit recht vage und ist nicht einschlägig sowie trennscharf genug. Dem Ansatz, die Existenzphilosophie über ein Spektrum von Topoi und Anliegen zu charakterisieren, folgen zahlreiche Interpreten. Kevin Aho stellt so in seinem Buch Existentialism. An Introduction immerhin sieben gemeinsame Motive heraus, die es erlauben sollen, einige Denker ausgehend von ihrer gemein-
|| 9 Vgl. hierzu Stewart 2012, S. 165. 10 Vgl. hierzu Seibert 1997, S. IX. 11 Vgl. Solomon 2005, S. xx. 12 Vgl. Janke 1982, S. 6. 13 Vgl. Thurnherr 2007, S. 12f.
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samen Sorge „for the human situation as it is lived“,14 die nicht durch ein abstraktes System erschlossen werden könne, unter die Überschrift ,Existenzialismus‘ zu subsumieren. Genannt werden: „,Existence precedes Essence‘, ,The Self as a Tension‘, ,The Anguish of Freedom‘, ,The Insider’s Perspective‘, ,Moods as Disclosive‘, ,The Possibility for Authenticity‘, ,Ethics and Responsibility‘.“15 Die Herausgeber des Continuum Companion to Existentialism wiederum, um ein weiteres Beispiel zu nennen, verzeichnen gleich acht „major overlapping thematic concerns“16 und versuchen, den Existenzialismus unter Rekurs auf Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit zu explizieren. Resümierend lassen sich jene acht Motive wie folgt aufzählen: die Fokussierung auf das konkrete Erleben in Abgrenzung zur akademischen Abstraktion; Freiheit; Tod, Endlichkeit und Sterblichkeit; ein Interesse an den Erfahrungen und Stimmungen der ersten Person; die Betonung der Verantwortung und Authentizität; die These, dass der Einzelne in der Menge untergeht bzw. verschwindet; die Zurückweisung jeglicher externen Begründungen von Moral oder Werten; der Bezug zur Phänomenologie.17 Ebenso stützt Thomas R. Flynn sich auf das Prinzip der Familienähnlichkeit und rekonstruiert davon ausgehend folgende fünf Zentralthemen des Existenzialismus: Primat der Existenz vor der Essenz, Zeit, Humanismus, Freiheit und Verantwortung sowie eine Konzentration auf ethische Fragestellungen.18 Markus Wild bezeichnet seinerseits das Interagieren und Zusammenkommen von Philosophie, Literatur, Engagement und Existenz, welches er als „existenzialistisches Quartett“19 typisiert, als charakteristisch für die Existenzphilosophie. In einer Studie aus den 1990er Jahren gruppiert Thomas Seibert unterschiedliche Denker der Existenz (u.a. Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Foucault) unter die gemeinsamen Motive Geschichtlichkeit, Nihilismus und Autonomie. Die Disparatheit wird auch dort deutlich und durch den im Untertitel angemerkten Plural „Philosophie(n) der Existenz“20 markiert.
|| 14 Aho 2014, S. x. Namentlich listet er vor allem Kierkegaard und Nietzsche als Wegbereiter sowie de Beauvoir, Sartre, Marcel, Heidegger, Camus und Merleau-Ponty als Vertreter auf. Siehe ibid., S. ix. 15 Ibid., S. xif. 16 Joseph, Reynolds und Woodward 2011, S. 3. Reynolds erweitert hier die Liste aus einer früheren Studie von ihm. Für Letztere siehe Reynolds 2006. 17 Vgl. Joseph, Reynolds und Woodward 2011, S. 3f. 18 Vgl. Flynn 2008, S. 23. 19 Wild 2014, S. 34. 20 Vgl. Seibert, 1996 (meine Hervorh.).
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Fritz Heinemann, der die Einführung des Begriffs ,Existenzphilosophie‘ für sich reklamiert und in seinem Buch Neue Wege der Philosophie von 1929 die Lage der Philosophie seiner Zeit zu rekonstruieren versucht, führt die Existenzphilosophie auf folgende Grundthese zurück: „Der in Resonanz mit Menschen, All und Gott stehende Mensch ist der Schlüssel des Verständnisses der Menschenwelt, der Geschichte und des Alls selbst.“21 Hier deutet sich bereits an, dass die Genese der Existenzphilosophie mit einer Wende zum Menschen als einzelnem Subjekt und zwar in einem bestimmten Sinne, nämlich als Existierender in der Welt, der sich zu sich selbst, zu anderen und seiner Umwelt verhält, verknüpft ist. Nach den großen ‚Wenden zum Subjekt‘ in der Philosophiegeschichte (Sophistik, Augustinus, Descartes) tritt eine Philosophie in Erscheinung, die den Menschen erneut zum ‚Maß aller Dinge‘ erklärt und erhebt, ohne hier freilich die Problematik des protagoreischen homo-mensura-Satzes aufwerfen zu wollen. Somit reiht sie sich in die Reihe der Subjektivitätsphilosophien ein, wenn auch sicherlich nicht in die der rationalistischen Ausrichtung im Fahrwasser eines Descartes. Peter Wust stellt ein wesentliches Paradigma der Existenzphilosophie heraus, wenn er ihren Leitgedanken wie folgt formuliert: „Man wähle, so sage ich, den Menschen als Ausgangspunkt der Philosophie.“22 Diese eminente Fokussierung auf den Menschen als Instanz von Subjektivität impliziert tiefgreifende metaphysische, erkenntnistheoretische, anthropologische und ethische Kehrtwenden, die uns vor allem bei Kierkegaard und seiner Anbindung der Wahrheit an die Sphäre der Subjektivität begegnen werden. Dem Menschen wird somit wahrhaft eine metaphysische Bedeutung zugesprochen, da er in der Philosophie des Dänen zum Maßstab von Sein, Wahrheit und Stifter von Sinn wird;23 der Mensch wird zum ‚Schlüssel‘, um Heinemanns Formulierung wieder aufzugreifen. Dieses Kierkegaardsche Wahrheitsverständnis ist auch schon für Karl Jaspers ein Grundzug, der allen Existenzialisten gemeinsam sei und „die Rückkehr aus einer Wahrheit, die nur gedacht wird als das andere, dem gegenüber ich selbst gleichgültig bin, zur Wahrheit, die gelebt wird, zum Ernst, der im Menschsein liegt, das frei ist und über sich selbst zu entscheiden hat“,24 darstelle. Jonathan Webber verfolgt in seinem 2018 erschienenen Buch mit dem programmatischen Titel Rethinking Existentialism den Anspruch, unter Rekurs auf de Beauvoir und Sartre ein neues Konzept existenzialistischen Denkens zu entwerfen. Der ,klassische‘ Existenzialismus seinerseits sei mit de Beauvoir und
|| 21 Heinemann 1929, S. XXI. 22 Wust 1965, S. 21. 23 Vgl. Anz 1956, S. 74. 24 Jaspers 1968, S. 499.
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Sartre auf zwei zentrale Punkte zu bringen: den Grundsatz der Vorrangigkeit der Existenz vor der Essenz sowie die daraus resultierende Ethik, die zugleich an einem „moral imperative and strong eudaimonist reasons to respect human freedom“25 festhalte. Diese wenigen Beispiele offenbaren, dass die Versuche, die Existenzphilosophie zu definieren und zu typisieren, unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern, selbst wenn einige Sujets und Leitmotive wiederholt auftauchen. So zum Beispiel der von Sartre zum Grundsatz des Existenzialismus auserkorene Primat der Existenz vor der Essenz, den Steven Crowell als das Merkmal der Existenzphilosophie schlechthin beschreibt,26 und der Sartres Vortrag, „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“, quasi zu einem ,Manifest‘ des Existenzialismus erhebt. Die Sartre-Biographin Annie Cohen-Solal spricht gar von einer „existentialistische[n] Bibel“.27 Von einem allgemein anerkannten Katalog grundlegender Merkmale der Existenzphilosophie ist die Forschung jedoch weit entfernt. Angesichts der Tatsache, dass sich die Existenzphilosophie somit einer klassischen lexikalischen Definition zu entziehen scheint, intendieren beispielsweise die Herausgeber des Sammelbandes Situating Existentialism. Key Texts in Context eher eine „description“ als eine „definition“28 des Existenzialismus. Die skizzierten Charakterisierungsbestrebungen scheinen zudem nicht spezifisch genug zu sein, da sie ebenso auf andere philosophische Strömungen zutreffen könnten und somit keine identitätsstiftenden Alleinstellungsmerkmale der Existenzphilosophie herausstellen. Nach Robert C. Solomon treffen die meisten jener Merkmale ebenso auf die amerikanischen Pragmatisten zu, „who hold the ,livability‘ of a philosophy to be as crucial as would any existentialist.“29 So scheint es, dass jemand wie David E. Cooper, dessen Buch Existentialism. A Reconstruction eine mittlerweile klassische Einführung in den Existenzialismus zumindest im anglo-amerikanischen Raum ist, beinahe allein mit seiner These dasteht, der Existenzialismus sei eine ebenso kohärente, definierbare und homogene Philosophie wie andere Traditionslinien, zum Beispiel der Logische Positivismus oder der Pragmatismus. Der Existenzialismus sei eine Philosophie, die
|| 25 Webber 2018, S. 2. 26 Vgl. Crowell 2020, https://plato.stanford.edu/entries/existentialism/. „Sartre’s slogan – ,existence precedes essence‘ – may serve to introduce what is most distinctive of existentialism“ (ibid.). 27 Cohen-Solal 1991, S. 444. 28 Judaken 2012, S. 2. 29 Solomon 1985, S. 2.
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sich genauso gut oder ebenso schlecht definieren lasse wie andere philosophische Strömungen.30 Cooper konzipiert seine Einführung in die Existenzphilosophie als eine „journey of thought undertaken by the Existentialist.“31 Ein Existenzialist ist für ihn jemand, der sich den Existenzialismus zu eigen macht. Diese prima facie redundante Typisierung wird durch folgende neun für Cooper zentrale Topoi des Existenzialismus erhellt, nach denen er auch die Hauptkapitel seines Buches gliedert: Entfremdung; die Phänomenologie als Vorläufer; das ‚Inder-Welt-Sein‘; die Auflösung von Dualismen (Subjekt/Objekt; Geist/Körper; Vernunft/Leidenschaft; Tatsache/Wert); das Selbst und die anderen; Weisen der Selbstentfremdung; Angst, Tod und Absurdität; Freiheit; Ethik.32 Die zentralen systematischen Koordinaten und Merkmale der Existenzphilosophie aus der einschlägigsten Forschungsliteratur seien der Übersicht halber in tabellarischer Form dargelegt (s. S. 8). Eine einheitliche und von einem Großteil der Interpreten anerkannte Liste mit Koordinaten der Existenzphilosophie ist nicht zu erkennen. Ob dieser Ausgangsbefund nun der Tatsache geschuldet ist, dass die bis dato vorliegenden Merkmalkataloge und Definitionen defizitär bzw. unvollständig sind, oder vielmehr dem Umstand, dass, wie es schon Jaspers in Erwägung zieht,33 die Grundpositionen der unter dem Begriff ,Existenzphilosophie‘ versammelten Philosophen zu heterogen sind, ist zunächst von sekundärer Bedeutung. Es erscheint vielmehr aufgrund der skizzierten Disparatheit der Charakteristika umso notwendiger, erneut nach den philosophiehistorischen Prämissen der Existenzphilosophie zu fragen und im Anschluss daran zu versuchen, davon ausgehend eventuelle einheitsstiftende Momente herauszuarbeiten. Wie erwähnt, wird zudem Kierkegaard bei den historischen Referenzfiguren nahezu immer als Konstante genannt, jemand wie Nietzsche jedoch oft nur en passant thematisiert. Das Ungenügen der definitorischen und kriteriologischen Ansätze bestärkt das Bestreben, die historischen Voraussetzungen zu beleuchten. Kann gerade hier eine philosophiegeschichtliche Arbeit die rein systematischen Untersuchungen entscheidend ergänzen?
|| 30 Vgl. Cooper 2008, S. 6. 31 Ibid., S. 10. 32 Vgl. ibid., S. 10f. 33 Vgl. hierzu Jaspers 1968, S. 499.
Freiheit
Zeit
Abgrenzung zur Abstraktion
Primat der Existenz vor der Essenz
Primat der Existenz vor der Essenz
Philosophie
The Continuum Companion to Existentialism
Existenzialismus. Eine kurze Einführung
Stanford Encyclopaedia
„Badly wrong“ – Der Existenzialismus und J. M. Coetzees The Lives of Animals
being-in-theworld
philosophy of radical philosophy of individual freedom responsibility
alienation
Historical Dictionary of Existentialism
Existentialism. A Reconstruction
phenomenology
philosophy of social commitment
moral imperative
existence precedes essence
Rethinking Existentialism
respects human freedom
Negation d. gesellSelbstsetzung u. schaftlich Eingeübten Authentizitätsund Tradierten suche
Autonomie
Emphase der Vereinzelung
Nihilismus
Engagement
Humanismus
Tod, Endlichkeit und Sterblichkeit
the anguish of freedom
Fokus auf den Einzelnen
Existentialismus
Geschichtlichkeit, Nihi- Geschichtlichkeit lismus, Autonomie. Philosophie(n) der Existenz
the self as a tension
existence precedes essence
Existentialism. An Introduction
Literatur
Distanz zur Wesensphilosophie
Kierkegaards Existenzbegriff
Systematische Koordinaten der Existenzphilosophie
Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie
Werke
dualisms dissolved
Existenz
Freiheit und Verantwortung
Erfahrungen und Stimmungen der ersten Person
the insider’s perspective
Tab. 1: Zentrale systematische Koordinaten der Existenzphilosophie – ein Überblick
possibility for authenticity
self and others
Ethik-Fokus
modes of selfestrangement
VerantworDer Einzelne geht tung und in der Menge Authentizität unter
moods as disclosive
Angst, death, absurdity
Zurückweisung externer Begründungen von Moral oder Werten
ethics and responsibility
freedom
Bezug zur Phänomenologie
ethics
8 | Einleitung: Systematische und historische Konturen der Existenzphilosophie
Geschichte und Vorgeschichte | 9
1.2 Geschichte und Vorgeschichte Woher stammt überhaupt die angesprochene Fokussierung auf die Existenz des Menschen? Wie lässt sich ihre Genese philosophiegeschichtlich nachvollziehen? Inwiefern kann mitunter sogar von einer ,Existenzvergessenheit‘34 in der Zeit vor der Existenzphilosophie die Rede sein? So unterschiedlich die diversen Ansätze einzelner Existenzphilosophen auch sein mögen, so lassen sie sich dennoch allesamt ausgehend von einer Kritik an einer bestimmten Art von Philosophie begreifen: „The refusal to belong to any school of thought, the repudiation of the adequacy of any body of beliefs whatever, and especially of systems, and a marked dissatisfaction with traditional philosophy as superficial, academic, and remote from life – that is the heart of existentialism.“35 Demnach versteht sich die Existenzphilosophie seit Kierkegaard als eine Gegenbewegung oder zumindest Reaktion zur bzw. auf die Philosophie des Deutschen Idealismus – man denke hierbei insbesondere an Kierkegaards Systemkritik,36 die Hegel zu ihrem Feindbild hochstilisiert. Dieser Tatbestand ist gewissermaßen zu einem Gemeinplatz innerhalb der Forschungsliteratur geworden. So ließe sich die Einheit der Existenzphilosophie gewissermaßen ex negativo aus ihrer Distanzierung zur Systemphilosophie des Deutschen Idealismus herleiten. Zumindest ist es eine der grundlegenden Konturen der Existenzphilosophie, tradierte Denkmuster zu hinterfragen und somit als ein „Instrument der Regulierung von Philosophie, das dann zum Einsatz kommt, wenn diese sich in ihrer eigenen Systematik zu verlieren droht“,37 zu fungieren. Für Richard Rorty ist der Existenzialismus letztlich eine Philosophie, die als eine reaktive Denkweise allein durch ihre bewusste Entgegenstellung zur Tradition ihren Sinn erhalte.38 Als ein Aufbegehren gegen ein solches systematisierendes Philosophieren kann die Existenzphilosophie in den zunächst paradox anmutenden Worten Hannah Arendts als eine Rebellion des
|| 34 Philosophie, der es an existenzieller Relevanz mangelt, zeichnet sich aus der Perspektive von Existenzphilosophen dadurch aus, dass die Natur des Menschen in einer allgemeinen Definition und seine Erfahrungen „in einem Begriff abstrahierender Erkenntnis fixiert werden“, so Möbuß 2015, S. 12. 35 Kaufmann 1989, S. 12. 36 System wird hierbei in der Traditionslinie Kants als die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee verstanden. Vgl. Kant KrV, A833/B861. Genau mit der Kritik eines solchen Systembegriffs setzt die Existenzphilosophie ein. Dem wird in Kapitel 2.1 dieser Arbeit ausführlicher nachgegangen. 37 Möbuß 2015, S. 12. 38 Vgl. Rorty 2017, S. 397.
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Philosophen gegen die Philosophie selbst bezeichnet werden.39 Der Existenzialismus ist in dieser Hinsicht auch als eine ,Frucht vom Baume des Idealismus‘ betitelt worden.40 In polemischer Abgrenzung zur Philosophie als reiner Theorie verschiebt und reduziert die Philosophie als Anthropologie in der Traditionslinie Kierkegaards und Nietzsches ihren Blickwinkel von der „universal-ontologischen Frage nach dem Sein überhaupt auf die nach dem menschlichen Dasein insbesondere.“41 Philosophie scheint sich nun vorrangig mit anthropologischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Nach Kant und Hegel setze eine anthropologische Reduktion der Philosophie ein, die sich bei Kierkegaard in existenziellen Dimensionen äußere und bei Marx durch politische und soziologische Aspekte ergänzt werde, so Bense.42 Die genuin menschliche Lebenswirklichkeit rückt in den Mittelpunkt, womit sich Kierkegaard, der damit die ethisch-religiöse Wirklichkeit meint, Marx, welcher die gesellschaftlich-ökonomische Dimension hervorhebt, und Feuerbach, der die natürlich-sinnliche Sphäre akzentuiert, gegen das Hegelianische Zeitalter der Reflexion richten.43 Insofern sich die Existenzphilosophie als eine Reaktion auf tradierte Denkmuster auffassen lässt, wird jedoch ebenso deutlich, dass sie nicht mit der traditionellen Philosophie überhaupt bricht – wie oft behauptet –, sondern mehr oder weniger ein Überdenken, Weiterdenken und Neubedenken dieser darstellt.44 In diesem Sinne betont schon Heinrich Barth, dass zuallererst die großen Systementwürfe von Platon bis hin zu Hegel denjenigen Horizont eröffnet haben, der uns erlaubt, die philosophische Frage nach der Existenz in ihrer ganzen Tiefe zu erblicken. Einzig und allein an ihnen lasse sich die adäquate Dimension der Grundfrage der Existenz ermessen.45
|| 39 Vgl. Arendt 1994a, S. 12. 40 Vgl. Gabriel 1968, S. 9. Ebenso weist Müller-Schwefe 1961, S. 26 darauf hin, dass man in Bezug auf Kierkegaard, Nietzsche oder auch Marx nicht sagen könne, sie hätten etwas vollkommen Neues angefangen. Vielmehr stünden sie „in der Tradition des Idealismus, in der Erbfolge, die mit Descartes beginnt.“ Zwar sind Bekundungen eines radikalen, voraussetzungslosen Neuanfangs innerhalb der Philosophiegeschichte immer skeptisch zu betrachten, bezüglich der Existenzphilosophie lässt sich dies jedoch noch zuspitzen, da sie sich als eine Gegenbewegung zum Deutschen Idealismus zuallererst konstituiert. „[T]he history of existentialism is always and inevitably a history of idealism also“, so Schulz 2020, S. 170. 41 Löwith 1990a, S. 2. Emmanuel Mounier beschreibt so den Existenzialismus als eine „réaction de la philosophie de l’homme contre l’excès de la philosophie des idées et de la philosophie des choses.“ (Mounier 1962, S. 8f.). 42 Vgl. Bense 1948, S. 8. 43 Vgl. Schulz 2014, S. 150. 44 Vgl. hierzu auch Solomon 1985, S. 2. 45 Vgl. Barth 1967, S. 113.
Geschichte und Vorgeschichte | 11
Hier zeigt sich bereits, dass es einer Hinführung zu den Konturen der Existenzphilosophie nicht an einleitenden Erläuterungen zu ihrer Geschichte und Vorgeschichte mangeln darf. Die Vorgeschichte und die philosophiehistorischen Prämissen der Existenzphilosophie werden im Laufe dieser Arbeit en détail anhand der Ansatzpunkte der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches besprochen. An dieser Stelle soll eine rhapsodische Skizze erfolgen, die einer grundlegenden Hinführung zu den geschichtlichen Konturen dient. Worin besteht im Kern die Kritik, die letztlich u.a. Kierkegaard und Nietzsche dazu veranlasst, eine radikale Kehrtwende innerhalb der Philosophie vorzunehmen? Wie lassen sich diesbezüglich Idealismus-, Intellektualismus- und Systemkritik philosophiehistorisch verstehen und evaluieren? Die berühmte elfte Marxsche Feuerbachthese, „[d]ie Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt darauf an, sie zu verändern“,46 weist bereits auf einen wesentlichen und zugleich existenziellen Impetus hin. Natürlich schlagen Marx und Kierkegaard unterschiedliche Wege ein, und ein Vergleich beider ist nicht beabsichtigt.47 Jedoch hält auch Kierkegaard, der teilweise ebenfalls den Linkshegelianern zugeordnet wird,48 Hegel unzählige Male vor, sein Systembau habe überhaupt nichts mit der Wirklichkeit, geschweige denn mit der Existenz des einzelnen Menschen in der Welt zu tun – doch gerade darauf kommt es Kierkegaard an. Hier greift der Vorwurf der Existenzvergessenheit, welcher der Idealistischen Philosophie immer wieder unterstellt wurde. Wer waren gegebenenfalls die Übergangsfiguren und Vorbereiter? Schon Karl Löwith konstatiert, dass „[m]it Schelling somit noch innerhalb des deutschen Idealismus jene Wendung zu einer ir-rationalen Existenzphilosophie ein[setzt], welche dann am entschiedensten Kierkegaard vollzogen hat.“49 Was an der Existenzphilosophie das Irrationale sein soll, müsste separat geprüft wer-
|| 46 Marx zitiert in Engels 1978, S. 78. 47 Eine nähere Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kierkegaard und Marx in diesem Kontext findet sich bei Löwith 1995, S. 153–191. 48 So in der Studie von Löwith 1995. 49 Löwith 1990a, S. 3. Bei Jaspers heißt es: „Schelling hat in seiner späteren Philosophie Wege beschritten, auf denen er den deutschen Idealismus existenziell durchbrach.“ (Jaspers 1979, S. 149). Auch Hannah Arendt lässt die Existenzphilosophie bei Schelling beginnen. Vgl. dazu Arendt 1990, S. 5. Peter Wust spricht seinerseits von einem Schatten des Irrationalismus, der über der Existenzphilosophie liege und den ihr schon Kierkegaard durch seinen Irrationalismus und Vernunftpessimismus vererbt habe. Siehe hierzu Wust 1965, S. 320f.
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den, jedoch zeigt sich, dass Kierkegaards Kritik nicht ohne Voraussetzungen zustande kommt. Die Bedingungen, die das Aufkommen einer solchen Philosophie zuallererst ermöglicht haben, sollen primär untersucht werden. Hierfür wird insbesondere zunächst Kierkegaards Idealismuskritik herangezogen, die auch immer eine Intellektualismus- und eine System- sowie Metaphysikkritik darstellt. In dieser Hinsicht kann bereits die Spätphilosophie Schellings mit Rückgriff auf den Lebensbegriff, der nicht nur für die sich später entwickelnde Lebensphilosophie von eminenter Bedeutung war, als wegweisend angesehen werden.
Kierkegaard und Schelling In den einleitenden Bemerkungen zur Vorgeschichte und Geschichte der Existenzphilosophie darf somit bereits jetzt ein Verweis auf Schelling nicht fehlen, der in mancherlei Hinsicht als eine Übergangsfigur vom Deutschen Idealismus zum Existenzialismus bezeichnet werden kann. Unter diesem Motiv eines Übergangs vom Idealismus zum Existenzialismus wird in der Forschungsliteratur insbesondere seine Spätphilosophie als richtungsweisend beschrieben.50 Hierbei spielt Schellings Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie eine zentrale Rolle, die er vor allem in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung darlegt. Der negativen Philosophie, verstanden als reine Vernunftwissenschaft, geht es dabei um das systematische allumfassende Begreifen alles Seienden durch die Leistung der reinen Ratio, wohingegen sich die positive Philosophie dem Bereich des Wirklichen, der Erfahrung und dem wirklichen Existieren widmet. Dort stößt die reine Vernunft an ihre Grenzen. Das Voranschreiten zur positiven Philosophie ist für Schelling notwendig, um das ,Dass‘ des durch die Vernunft erfassten ,Was‘ zu erschließen.51 Gegenstand der negativen Philosophie ist das quid der Dinge, Gegenstand der positiven Philosophie das quod. Zur Erläuterung genügen für unsere Belange folgende zwei Schelling-Zitate: (1) „[S]ie [die rationale Philosophie] ist so unabhängig von der Existenz, daß sie, wie wir
|| 50 So zum Beispiel bei Schmidinger 1983, S. 370–383; Schmied-Kowarzik 2015, S. 282–334 und Vető 2019, S. 960–998. Siehe auch Gyenge, 2020. Schmied-Kowarzik 2015 leuchtet zudem in seiner umfangreichen Monographie die gesamte Philosophie Schellings unter Rekurs auf das Motiv ,Existenz denken‘ aus und sieht in ihm unter Berücksichtigung seines Übergangs von einer negativen zu einer positiven Philosophie einen Vorläufer einer zumindest weitgefassten Existenzphilosophie. 51 Vgl. hierzu Schmidinger 1983, S. 371. „Um Zugang zum Realen zu erhalten, braucht es eine andere Wissenschaft, die positive Philosophie, die ihre Schritte ausgehend vom ursprünglichen und unbestreitbaren Faktum der Existenz unternimmt“, so Vető 2019, S. 960.
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früher sagten, wahr seyn würde, auch wenn nichts existirte.“52 (2) „[A]lles, was auf Existenz sich bezieht, ist mehr, als sich aus der bloßen Natur und also auch mit reiner Vernunft einsehen läßt.“53 Auf weitere Ausführungen Schellings, die sich vor allem in seiner Spätphilosophie finden, kann hier nicht weiter detailliert eingegangen werden.54 Erwähnt sei jedoch seine nachweisbare Wirkung auf Kierkegaard, der im Winter 1841/42 eigens nach Berlin reiste, um dort Schellings Vorlesungen zur Philosophie der Offenbarung zu hören. Die Mitschriften von jenen Vorlesungen sind erhalten geblieben und liegen uns vor.55 Die Konstellation ,Schelling-Kierkegaard‘ ist für unsere Untersuchung zur Genese der Existenzphilosophie relevant. Die ursprüngliche Euphorie und Begeisterung Kierkegaards für Schellings Kritik an Hegel und den damit verbundenen Überlegungen zur sogenannten positiven Philosophie schlugen allerdings rasch in herbe Enttäuschung um. Für Vető wird Kierkegaard somit zu einem „entrüstete[n] Zeuge[n]“56 des Idealismus. Kierkegaard erkenne zwar Schellings Versuch, seine Philosophie wirklichkeitsrelevant zu gestalten bzw. umzugestalten, würdigend an,57 stellt jedoch für sich zugleich enttäuscht fest, dass es bei einem bloßen Versuch geblieben ist. So schreibt Kierkegaard an seinen Bruder Peter Christian: Schelling salbadert ganz unerträglich…In Berlin habe ich mithin nichts mehr zu schaffen. Meine Zeit gestattet mir nicht, tropfenweise einzunehmen, wo ich schwerlich den Mund aufmachen würde, um alles auf einmal zu schlucken. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten. Seine ganze Potenzenlehre bekundet die höchste Impotenz.58
Auch wenn Schelling die von Kierkegaard in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte, so war gerade diese Enttäuschung ein Schlüsselerlebnis für Kierkegaards Philosophieren und letztlich eines für die Philosophiegeschichte insgesamt. Schelling hat Kierkegaard zumindest, wie auch Heinrich Schmidinger
|| 52 Schelling 1858, S. 128. 53 Ibid., S. 172. 54 Hierzu sei auf Schmied-Kowarzik 2015 verwiesen, der das Spätwerk Schellings auf die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie rekurrierend untersucht. Vgl. ibid., S. 282– 334. Für eine resümierende Darstellung dieser zwei Wege siehe ibid., S. 306–308 im Besonderen. Siehe auch Vető 2019, S. 963. 55 Siehe hierzu SKS 19, 305–367, NB11:1–NB11:40 / DSKE 3, 331–405. 56 Vető 2019, S. 503. 57 Vgl. Schmidinger 1983, S. 375. 58 SKS 28, 18, Brev 4 / B, 104f.
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treffend registriert, die für dessen weiteres Denken so grundlegende Differenzierung von Denken und Sein verdeutlicht.59 Zeugnis hierfür ist nicht zuletzt seine ursprüngliche Begeisterung für Schellings Vorlesungen, die er in seinem Tagebuch wie folgt festhielt: „Ich bin so froh darüber, Schellings 2. Stunde gehört zu haben – unbeschreiblich. So habe ich doch lange genug geseufzt und die Gedanken haben in mir geseufzt; als er das Wort: »Wirklichkeit« sagte, über das Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit“.60 Wie sich zeigen wird, sollte nicht zuletzt die unterschiedliche Auffassung des Begriffs ‚Wirklichkeit‘ dafür sorgen, dass Kierkegaard sich schließlich enttäuscht von Schelling abwandte. Kierkegaard spitzte sein Denken in der Folge immer mehr auf die konkrete Existenz des einzelnen Menschen zu, und die Systementwürfe des Deutschen Idealismus dienten ihm stets als Kontrastfolie. Das kommt bereits in seinem ersten schriftstellerischen Werk Entweder/Oder zum Ausdruck, an dem er parallel während seiner Berlin-Reise arbeitete, und das er an deren Ende fertiggestellt hatte. Wie sich in den Ausführungen zu Kierkegaard noch zeigen wird, spiegelt das im Titel zum Ausdruck kommende ‚Entweder-Oder‘ schließlich den Inbegriff seiner handlungsorientierten Philosophie der Existenz wider. Auch Martin Heidegger sieht hinsichtlich des in der Existenzphilosophie zentral werdenden Begriffs der Existenz in Schelling eine Übergangsfigur: „Schellings Existenzbegriff nimmt, geschichtlich verglichen, eine Zwischenstellung ein zwischen dem überkommenen Begriff existentia und dem eingeschränkten Existenzbegriff Kierkegaards und der ,Existenzphilosophie‘.“61 Diese Einordnung schließt an die in Schellings positiver Philosophie stärker ins Zentrum rückenden Überlegungen zur Wirklichkeit und der Bedeutung der Wirklichkeit für die Philosophie an. Gleichzeitig nimmt Schelling mit seinem Begriff der Existenz ,nur‘ eine Zwischenstellung ein, da, wie ebenfalls Heidegger treffend bemerkt, sein Existenzbegriff noch nicht auf den Menschen limitiert ist, wie dies später in der Existenzphilosophie Kierkegaards der Fall sein wird.62 Anhand dieser kurzen Skizze der Beziehung ,Kierkegaard-Schelling‘ zeigt sich schon, dass Kierkegaards Verhältnis zum Deutschen Idealismus von Grund auf ein dialektisches ist. Zum einen ist es durch eine radikale Opposition geprägt, zum anderen erwächst seine Philosophie aus den Problemstellungen und Formulierungen des Idealismus.63 Ohne Zweifel wurzelt
|| 59 Vgl. Schmidinger 1983, S. 375. 60 SKS 19, 235, NB8:33 / DSKE 3, 252. 61 Heidegger 1991, S. 75. Vgl. hierzu Thonhauser 2011, S. 67. 62 Vgl. Heidegger 1991, S. 75. 63 Vgl. Schmidinger 1983, S. 393.
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Kierkegaards Idealismuskritik in seiner zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung oszillierenden Beschäftigung mit Schelling. In den Ausführungen zu seiner Idealismus- und Systemkritik werden wir noch sehen, wie entschieden er mit jener Philosophie ins Gericht geht. Kommen wir noch einmal kurz auf den Existenzbegriff zu sprechen. Der Terminus ‚Existenz‘ wird durch den Existenzialismus zwar keineswegs neu in die philosophische Fachterminologie eingeführt, er erfährt aber eine wesentliche Bedeutungsverschiebung. Rasch zeigt sich, dass die scholastische Differenzierung von essentia und existentia nicht ausreicht, um den existenzphilosophischen Existenzbegriff hinreichend zu erschließen. Gemeint ist nicht mehr das bloße Dass-Sein im Unterschied zum Was-Sein, sondern etwas, das der Existenzphilosoph Peter Wust wie folgt auf den Punkt bringt: „Als Dasein oder als Existenz unterscheidet man den Menschen von allem übrigen Seienden, weil er nicht schlechthin ist, was er ist, sondern um sein Sein ringen muß, sei es nun im Wissen um sich selbst oder im Gestalten seiner selbst.“64 Die spezifische Seinsweise des Menschen ist eben nicht nur im Sinne eines ,An-sich‘, sondern auch eines ,Für-sich‘ zu bestimmen, wodurch in für den Sartreschen Existenzialismus klassischer Diktion die anthropologische Grundsituation der Ausrichtung auf die Zukunft auf den Begriff gebracht wird. Hier klingt die Bestimmung des Menschen als ein Wesen, das sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwirft, an. Dieses Menschenbild wurde zur vorherrschenden Überzeugung innerhalb der existenzialistischen Anthropologie. Es folgt dem Grundsatz Sartres des Primats der Existenz vor der Essenz, wonach der Mensch immer nur das ist, was er aus sich selbst macht: „Er ist nicht schlechthin, sondern er wird zu dem, was er ist, indem er in Erinnerung und Vorsorge sowohl hinter sich her als auch sich vorweg ist.“65 Damit wird eine Formulierung Martin Heideggers aufgegriffen, nach welcher der Mensch sich selbst vorweg ist, und zwar in dem Sinne, dass er sich auf zukünftige
|| 64 Wust 1965, S. 315. So besteht auch für Möbuß 2015, S. 17 die Modifizierung des Bedeutungsspektrums des Existenzbegriffs darin, dass ‚Existenz‘ nun nicht mehr ‚Sein‘ bedeutet, sondern „‚in bestimmter Weise sein‘. Deren Gestaltung hängt vom existierenden Individuum ab, das in jeder Entscheidung oder Handlung, in jedem Wunsch oder jeder Wahl, in jeder Empfindung und in jedem Gedanken selbst seine Existenz prägt.“ Der terminologische Wandel bestehe darin, dass aus dem ontologischen Begriff des Seins ein individualpsychologischer der Existenz werde (vgl. ibid., S. 13). Zum Bedeutungswandel des Existenzbegriffs durch die Existenzphilosophie siehe auch Thonhauser 2011, S. 64–74. Dort wird dieser insbesondere unter Rekurs auf Kierkegaard und Heidegger erörtert und ebenso vom scholastischen Begriff der existentia unterschieden. 65 Wust 1965, S. 315.
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Möglichkeiten hin entwirft. So viel sei bereits gesagt: Wenn Heidegger vom Dasein, Kierkegaard oder Jaspers von der Existenz oder Sartre vom Für-sich sprechen, zielen sie letztlich auf dasselbe Sujet ab, nämlich auf die konkrete Existenz des Einzelnen, die immer nur subjektiv zugänglich ist und sich einer rein begrifflich-rationalen Analyse in letzter Konsequenz entzieht.66 Der Terminus ,Existenz‘ ist innerhalb der Existenzphilosophie der spezifischen Seinsweise des einzelnen Menschen vorbehalten.67 Dies zeigt sich spätestens bei Heidegger in aller Deutlichkeit, der expressis verbis betont, dass nur der Mensch existiert, andere Dinge sind hingegen bloß vorhanden – hierin manifestiert sich einmal mehr die Bedeutungsveränderung im Vergleich zum scholastischen Begriff der existentia als bloßes Dass-Sein. „Existenz ist der Titel für die Seinsart des Seienden, das wir je selbst sind, das menschliche Dasein. Eine Katze existiert nicht, sondern lebt, ein Stein existiert nicht und lebt nicht, sondern ist vorhanden“,68 so Heidegger. Diese menschliche Existenz zeichnet sich im Sartreschen Sinne nicht nur dadurch aus, dass sie der Essenz vorausgeht, sondern nach Odo Marquard geht sie ihr in der Weise voraus, „dass es dieser Existenz um diese Existenz geht“.69 Dies ist ein Spezifikum des existenzphilosophischen Existenzbegriffs, durch das Marquard zu den oben genannten Überlegungen von Wust in Verbindung gesetzt werden kann. Bereits bei Kierkegaard intendiert der Existenzbegriff eine gewisse Selbstbezüglichkeit, so weist beispielsweise Gerhard Thonhauser darauf hin, dass Kierkegaard das dänische Wort Tilværelse als eine Bezeichnung für Seiendes verwendet, das schon semantisch eine Form von Selbstbezüglichkeit aufweist.70 Diesem Motiv werden wir in den Kapiteln zu Kierkegaard noch verstärkt begegnen. Erst durch diesen von Kierkegaard angestoßenen Bedeutungswandel des Existenzbegriffs konnte die Existenz des einzelnen Menschen wieder zum zentralen Gegenstand der Philosophie werden.71 Nach existenzphilosophischem Verständnis ist menschliche Existenz zudem immer schon eingebettet, geworfen, in einen gewissen Kontext u.a. gesellschaftlicher und historischer Natur: „In the distinctive idiom of existentialist philosophers, existence is simultaneously being-for-self, being-with-others, and being-
|| 66 Vgl. dazu Lohner 2014, S. 42. 67 Darauf weist auch Webber 2018, S. 16 hin und erkennt darin ebenfalls einen gemeinsamen Nenner von Kierkegaard, Heidegger und Jaspers. 68 Heidegger 2007b, S. 159. Siehe auch Heidegger 2012, S. 84. Vgl. hierzu Thonhauser 2011, S. 60 und S. 65. 69 Marquard 2013, S. 36. 70 Vgl. Thonhauser 2011, S. 74. 71 Vgl. Thonhauser 2016, S. 286f.
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in-the-world“72 – dem werden wir noch häufiger begegnen. Eine Natur oder ein Wesen des Menschen ist aufgrund der metaphysikkritischen und anti-essentialistischen73 Prämissen, die nicht zuletzt durch Nietzsche bestärkt werden, nicht gegeben. Demnach nimmt nicht nur Kierkegaard als Initialfigur eine wegweisende Rolle ein, sondern, wie gezeigt werden soll, auch Friedrich Nietzsche – dessen Wirkungsgeschichte ansonsten häufig zu engführend im Kontext lebensphilosophischer Entwicklungslinien thematisiert wird74 – leistet einen nicht geringen Beitrag zu dem sich entwickelnden Existenzialismus, vor allem zu seinen sogenannten atheistischen Ausprägungsformen.75 Es wird sich gar zeigen, dass er durchaus gleichberechtigt neben Kierkegaard als Initialfigur der Existenzphilosophie bezeichnet werden kann. In dieser Hinsicht erweist sich Nietzsche neben Kierkegaard als eine geistesgeschichtliche Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts. Den Existenzialismus zumindest wegweisend mit vorbereitet zu haben, zählt für den Dichter Gottfried Benn zu einer der wesentlichen Einflüsse, die Friedrich Nietzsche auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeübt hat.76 Der deutschamerikanische Philosoph Walter Kaufmann fasst seinerseits zusammen: „Existentialism without Nietzsche would be almost like Thomism without Aristotle; but to call Nietzsche an existentialist is a little like calling Aristotle a Thomist.“77
|| 72 Michelman 2008, S. 2. Ergänzend heißt es: „[H]uman existence must be described in terms of an essential concern with itself, the world, and others“ (ibid., S. 133). 73 Was für eine Art Anti-Essentialismus der Grundsatz, die Existenz gehe der Essenz voraus, genau anvisiert, wird gerade mit Bezug auf Kierkegaard, teilweise dabei mit Rekurs auf Sartre, im Laufe der Arbeit zu klären sein. 74 Aho 2014, S. xiii stellt demnach fest: „In some introductions [to existentialism], the influence of Nietzscheʼs philosophy is minimized because he rejects one of the central tenets of existentialism, namently that human beings are radically free and, therefore, morally responsible for their actions.“ 75 Die anzweifelbare, jedoch üblich gewordene Unterteilung in atheistische und religiöse Formen der Existenzphilosophie geht auf Jean-Paul Sartre zurück. Vgl. hierzu Sartre 1966, S. 9f. 76 Vgl. Benn 1965, S. 482. 77 Kaufmann 1989, S. 22. Galle 2009, S. 8f. sieht in der Proklamation des Todes Gottes eine wegweisende Rolle Nietzsches, insbesondere für den sich entwickelnden Existenzialismus atheistischer Natur, ebenso Huisman 2005, S. 22. Vgl. ferner Stewart 2012, S. 181. Darüber hinaus lässt sich jedoch anmerken, dass die These vom Tod Gottes als eine Metaphysikkritik überhaupt ausgelegt werden kann und somit für den Existenzialismus im Allgemeinen bedeutend war. Vgl. u.a. Braver 2017, S. 67, der Nietzsches These als Negation versteht, „überhaupt die Möglichkeit einer transzendenten, objektiven Sicht auf die Wirklichkeit, die jenseits unserer menschlich-all-zu-menschlichen Perspektiven liegt“, einnehmen zu können. Ebenso macht schon Hannah Arendt 1994b, S. 131 deutlich, dass Nietzsche ‚Gott‘ in seinen poetischen und me-
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Ob Nietzsche eher als Wegbereiter gelten muss oder eigens der Existenzphilosophie zuzuordnen ist, wäre gesondert zu thematisieren. Im Laufe der vorliegenden Arbeit soll seine maßgebende Rolle für die sich konstituierende Existenzphilosophie exponiert werden. Es ist nicht mit endgültiger Sicherheit geklärt, ob Nietzsche eine direkte Kenntnis von Kierkegaards Schriften hatte, dass er ihm zumindest namentlich und indirekt bekannt war und er sich ihm sogar intensiver widmen wollte, geht jedoch gesichert aus einem Briefwechsel mit Georg Brandes aus dem Jahr 1888 hervor.78 Zudem sind trotz aller Differenzen – auf der einen Seite der ,Christ‘ Kierkegaard, auf der anderen der ,Anti-Christ‘ Nietzsche – grundlegende Gemeinsamkeiten erkennbar: „There exist many striking similarities between Nietzsche and Kierkegaard. They were both critics of rationality, idealism, and the building of philosophical systems. Instead, their approach was more existential and psychological, and they both strongly emphasized the central position of the individual, the personality, and subjectivity“,79 so Brobjer. Zudem teilen Kierkegaard und Nietzsche sogar eine gemeinsame Kritik an dem institutionalisierten Christentum ihrer Zeit, das für beide eine Verkehrung der ursprünglichen christlichen Botschaft darstellt.80 Kierkegaards Methode der ,indirekten Mitteilung‘ und Nietzsches ,Experimentalphilosophie‘ sowie sein erkenntnistheoretischer Perspektivismus erweisen sich als Gegenentwürfe zu abgeschlossenen philosophischen Systembauten
|| taphorischen Verkündigungen dessen Todes in Also sprach Zarathustra lediglich als „ein Symbol für den übersinnlichen Bereich, wie ihn die Metaphysik verstand“, gebraucht. Auch Heidegger 1977, S. 216 hebt hervor, „daß die Namen Gott und christlicher Gott im Denken Nietzsches zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden. Gott ist der Name für den Bereich der Ideen und Ideale.“ Siehe jüngst auch Brock 2015, S. 266–273 sowie Wotling 2017, S. 11. 78 So schreibt Nietzsche an Brandes in einem Brief vom 19.2.1888: „Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen“ (Nietzsche KSB 8, S. 259). Zuvor schrieb Brandes an Nietzsche: „Es giebt ein [sic!] nordischer Schriftsteller, dessen Werke Sie interessiren würden, wenn Sie nur übersetzt wären, S ö r e n K i e r k e g a a r d “ (in Nietzsche KGW III, 6 – 1888, 512, S. 143). Siehe hierzu u.a. Brobjer 2003, S. 251f. Die Angabe der Nietzsche-Zitate erfolgt anhand von Siglen. Für diese und die entsprechenden Ausgaben siehe Literatur- und Siglenverzeichnis. Der Forschungskontroverse rund um einen möglichen Einfluss Kierkegaards auf Nietzsche wollen wir in den Kapiteln 3.1 und 3.3 zumindest in Teilen nachgehen. 79 Brobjer 2008, S. 74. 80 Vgl. Miles 2007, S. 448.
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im Stile Hegels, Fichtes und Schellings.81 Gilles Deleuze setzt gerade hinsichtlich der Art und Weise, Philosophie zu betreiben, Kierkegaard und Nietzsche in Beziehung zueinander: „Kierkegaard und Nietzsche gehören zu denjenigen, die die Philosophie um neue Ausdrucksmittel bereichern. Mit Blick auf sie spricht man gerne von einer Überschreitung der Philosophie.“82 Somit begegnet uns bei ihnen ebenfalls auf der Ebene der Form philosophischer Texte eine Distanzierung zu tradierten Mustern. Stellt Charles Guignon, wenn auch nur beiläufig, in seiner Einleitung fest, dass mit Kierkegaard und Nietzsche zwei wesentliche Voraussetzungen des Existenzialismus geschaffen werden, so bietet das die Gelegenheit, diesen beiden Ansatzpunkten nun detaillierter nachzugehen. „Nietzscheʼs suggestion that the belief in ,Absolutes‘ is no longer tenable, together with Kierkegaardʼs claim that it is up to each individual to decide where he or she stands in defining his or her life, are two of the core assumptions of existentialist philosophy“.83 Die Rehabilitierung der Kategorie des Einzelnen geht Hand in Hand mit der Loslösung von Idealen jeglicher Art. Hierin kann bereits ein erstes methodologisches Problem der Existenzphilosophie gesehen werden: Der Philosophie, der Wissenschaft und dem Denken überhaupt geht es um Abstrakta. Wir Menschen können nur Allgemeines denken, nicht Konkretes. Nun werden aber in der Existenzphilosophie Kierkegaards die konkrete Existenz und bei Nietzsche das konkrete Leben des einzelnen Menschen zum Gegenstand des Philosophierens.84 Die Existenzphilosophie sieht sich vor die Herausforderung gestellt, einen Stil zu entwickeln und ihre Texte derart zu gestalten, dass diesem Gegenstand Rechnung getragen wird. Dabei kommt es vermehrt zu „Ausbildungen unkonventioneller Terminologie“, wie Möbuß betont, die „den Makel der Unwissenschaftlichkeit – wenn es denn ein solcher ist – niemals abzustreifen vermag. Stilistische Anleihen in den Sprachen
|| 81 Vgl. Schwab 2012 im Ganzen, Schwab 2014a, S. 93 sowie Schwab 2015, S. 228–232. Kierkegaards indirekte Mitteilung ebenso wie Nietzsches Experimentalphilosophie werden wir in eigenen Kapiteln ausführlich thematisieren. Siehe dazu Kapitel 2.5 und 3.4 der vorliegenden Arbeit. 82 Deleuze 1992, S. 24. 83 Guignon 2004, S. 2. 84 Vgl. hierzu Gamm 2009, S. 27–30 sowie Joseph, Reynolds und Woodward 2011, S. 8. Schwab 2014a, S. 99 hält hierzu fest: „Der zentrale ,Gegenstand‘ von Kierkegaards Philosophie – der Einzelne in der Wirklichkeit seines konkreten Selbstvollzugs – ist demnach in seiner Singularität von keiner Wissenschaft, die notwendig im idealen Modus des Allgemeinen handelt, zur Darstellung zu bringen“. Kierkegaard selbst ist sich dessen bewusst: „Aber Existieren bedeutet vor allem ein Einzelner zu sein, und daher kommt es, daß das Denken von der Existenz absehen muß, weil das Einzelne sich nicht denken läßt, sondern nur das Allgemeine.“ (SKS 7, 298 / AUN2, 29).
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von Mythos, Dichtung und Mystik nicht scheuend, provozieren manche Denker der Existenz die Frage, ob ihre Lehren überhaupt noch geeignet sind, in philosophische Diskussionen einzugreifen“.85 Wie soll eine Aussage über die Existenz getroffen werden und dabei zugleich ihre Singularität und Konkretheit mitberücksichtigt bleiben? Solche Fragen stellen sich in letzter Konsequenz die Existenzialisten selbst, und zwar dort, wo sie über die Form ihrer Texte reflektieren. Dabei wächst dem literarischen Genus innerhalb dieser Strömung eine besondere Valenz zu. Diese Tatsache wird mithin teils explizit, teils implizit unsere Analysen begleiten. Wozu die ,Welt‘ da ist, wozu die ,Menschheit‘ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern…; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu‘ vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu‘,86
so Nietzsche. Dies liest sich beinahe wie eine Ergänzung zu Passagen aus Kierkegaards Opus, wie zum Beispiel zu: „Das Ethische ergreift den Einzelnen und fordert von ihm, daß er sich alles Betrachtens enthalte, besonders der Welt und der Menschen; denn das Ethische als das Innere läßt sich überhaupt nicht von jemand, der draußen steht, betrachten, es läßt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren“.87 Die Existenzphilosophie entwickelt sich zu einem anthropozentrischen Denken,88 das seinen Ausgangspunkt beim einzelnen Individuum nimmt. Allein dadurch ist für Odo Marquard die Existenzphilosophie aktuell, da sie mit dem Einzelnen ein Thema in die Philosophie zurückhole, welches jener zu entgleiten drohte89 und womöglich wieder droht. Zudem orientieren sich Nietzsche und Kierkegaard an dem Ideal des antiken griechischen Philosophen, vornehmlich Sokrates, der zugleich immer auch ein leidenschaftlich Existierender gewesen sei, so Kierkegaard.90 Wie es gelingen kann, das höchst eigene Leben
|| 85 Möbuß 2015, S. 13f. 86 Nietzsche UB II, 9, KSA 1, S. 319 (meine Hervorh.). 87 SKS 7, 292 / AUN2, 22 (meine Hervorh.). 88 So resümiert Ludwig Marcuse: „Die wesentliche, moderne, das heißt: nachhegelsche Philosophie ist nicht mehr theozentrisch, sondern anthropozentrisch; das heißt: der Philosoph philosophiert um seines Lebens willen, nicht um eines, für ein göttliches Auge bestimmten BegriffsBaus willen.“ (Marcuse 1923, S. 215). 89 Vgl. Marquard 2013, S. 12. 90 Vgl. SKS 7, 280 / AUN2, 8f. Bei Solomon 1985, S. 3 heißt es: „[T]he recurrent existentialist hero is Socrates. Existentialism is, to a large extent, an attempt to return philosophy to its historical foundations.“
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des Einzelnen ins Zentrum philosophischer Reflexion zu rücken, wird zu untersuchen sein. Die Begriffe ,Existenz‘ (Kierkegaard) und ,Leben‘ (Nietzsche) werden dabei zentral und weisen nicht nur unter dem Aspekt eines ständigen Werdens und einer prozessual begriffenen Wirklichkeit Gemeinsamkeiten auf.91
Existenzialismus zwischen den Kriegen Gerade im Zeitgeist der sogenannten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts,92 des Ersten Weltkriegs, sowie des sich anbahnenden Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen, zeichnet sich in der Philosophie eine Fokussierung auf die Kategorie der Existenz ab. War Kierkegaard wie Nietzsche zu seiner Zeit noch ein „einsamer Rufer“, so kam seine Stunde, „als in der Welt der Philosophie die Verlegenheiten des idealistischen Ansatzes eklatant wurden und als in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges sich realisierte, daß der Mensch des Systems die Wirklichkeit nicht bewältigen kann. Damals nahm die Philosophie den Ruf Kierkegaards auf“.93 Ebenso konstatiert Alois Dempf schon 1956, dass Kierkegaards Stunde erst nach der durch den Ersten Weltkrieg initiierten geistigen Krise schlug.94 Es ist also kein Zufall, dass die Zeit einer sich in zwei Phasen vollziehenden Kierkegaard-Renaissance an die Zeit der beiden Kriege gebunden ist.95 Gerade in Zeiten des Gewissheits-, Orientierungs- und Sinnschwundes finden seine Schriften Gehör. Versteht man den Ersten Weltkrieg und die damit einhergehenden radikalen Umbrüche und Erschütterungen als Erfahrungen einer irrationalen Wirklichkeit, so rückt die wirkungsmächtige Rezeptionsgeschichte Kierkegaards in einen größeren Kontext: Der Existenzialismus ließe sich als eine Reaktion auf den Zerfall
|| 91 Die Affinitäten zwischen diesen beiden Begriffen werden in Kapitel 3.1 begriffsanalytisch herausgearbeitet. 92 Eine auf den Historiker George F. Kennan zurückgehende Bezeichnung. Siehe dazu Kennan 1981, S. 11f. 93 Müller-Schwefe 1961, S. 24. Siehe auch Stewart 2012, S. 167: „[T]he rapid changes in human life since the nineteenth century, accompanied by the violent upheavals above all in the twentieth century, have made the need to return to these [existential] questions much more urgent.“ 94 Vgl. Dempf 1956, S. 151. Anhand der Entwicklung des bei Kierkegaard zentral gewordenen Angstbegriffs wird dort festgestellt: „Sein Begriff der Angst als Heilssorge ist im ‚Jahrhundert ohne Gott‘ zur Existenzangst der Geworfenheit in das Nichts umgebildet worden, zum Herausgesetztsein aus einem ganz anderen irrationalen Seinsgrund.“ (ibid., S. 159). So wird bei Sartre die Angst zu einem dezisiven Moment bei der reflektierenden Durchdringung und dem Bewusstwerden der eigenen Freiheit. Vgl. hierzu Galle 1994, S. 12. 95 Diese Renaissance vollzieht sich in zwei Phasen etwa in der Zeit von 1910 bis 1945. Vgl. hierzu Schulz 2011, S. 22.
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und die Zerwürfnisse der Wirklichkeit, die u.a. in seinen Texten eine angemessene Darstellungsform gefunden hat, erklären.96 Ernst Bloch, dessen Arbeit an seinem Werk Geist der Utopie bis in das Jahr 1915 zurückreicht, sieht in Kierkegaard sogar den David Hume seiner Generation, der, ähnlich wie Letzterer damals Kant, seine Zeit aus dem dogmatischen Schlummer erweckt habe. Dort heißt es: „Einer vor allem hat hier das bloß Äußere hinter sich gelassen, denkt in das hinein, was uns angeht. Kierkegaard allein hat hier das letzthin Fremde hinter sich gelassen, ist der uns zugeborene Hume, wie er ungleich anders, bedeutungsvoller als dieser aus dem dogmatischen Schlummer erweckt.“97 Es ist kein Zufall, dass auch in der Literatur dieser Zeit eine verstärkte Kierkegaard-Rezeption einsetzt. Christian Wiebe hebt dies am Beispiel der deutschsprachigen Kierkegaard-Rezeption in der Literatur hervor und verweist dabei u.a. auf den existenziellen Ernst der Kierkegaardschen Schriften, welcher die Autoren jener Epoche besonders interessierte.98 Der Schriftsteller Theodor Tagger, alias Ferdinand Bruckner, spricht sogar davon, dass der Krieg seine Generation in Kierkegaard gefördert habe.99 In einem durch Kriege bisher unbekannten Ausmaßes an Zerstörung geprägten Europa sind existenzielle Erfahrungen keine abstrakten philosophischen Reflexionen mehr: „Zu den zentralen Themenkreisen des Existentialismus gehören klassische philosophische Gegenstände, die vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel nun eine spezielle Realisation erfahren hatten und der Interpretation bedurften: das menschliche Sein, Angst, Freiheit, Absurdität, Revolte, Ekel“,100 so Reichenbach-Klinke. Ein Gespür dafür, dass die Erlebnisse des Krieges überdies auch nicht ohne Folgen für die Philosophie und die Aufgabe des Philosophen bleiben dürfen, hat seinerzeit schon Martin Heidegger entwickelt. In einem Brief vom März 1916 – inmitten des Ersten Weltkriegs also – schreibt er seiner Frau Elfride, dass die Philosophie den wieder heimkehrenden Soldaten keine toten Kategorien und „blutleere[n] Schubfächer um das rationalistisch zerriebene Leben fein säuberlich darin aufzubewahren u. vermodern zu lassen“101 präsentieren dürfe. Vielmehr sei er sich nun bewusst geworden, dass die Philosophie wieder lebendig werden || 96 Vgl. dazu Mayer 2019, S. 255. 97 Bloch 1985, S. 249. Vgl. hierzu Oehm 1993, S. 19. 98 Vgl. hierzu Wiebe 2012, S. 304–314. 99 Vgl. ibid., S. 306f. 100 Reichenbach-Klinke 2014, S. 56. Der Existenzialismus wird hier wenn auch nicht als die einzig mögliche, so doch als eine plausible Antwort auf den Krieg verstanden. 101 Heidegger 2007a, S. 37.
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darf. Das Problem, das sich ihm nun stellt, ist, wie Philosophie als „lebendige Wahrheit“ und als „Schöpfung der Persönlichkeit“102 umgesetzt werden kann. Die These, die Popularität des Existenzialismus in der Nachkriegszeit ergebe sich daraus, dass man ihn als eine Antwort auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu verstehen hat, ist ebenfalls häufig vertreten worden: Eine ganze Epoche erkennt sich im Existenzialismus insofern wieder, als sie ihre Verzweiflung, ihre Ängste, ihre Hoffnungen und ihren Stolz authentisch im Existenzialismus gebrochen und gespiegelt sieht. Die Spuren der Vernichtung und die mit ihr verknüpfte Erfahrung einer vollkommenen Sinn-Auflösung greifen im Existenzialismus zusammen mit dem Pathos einer doch möglichen Hoffnung, die sich aus der Neubegründung des Menschen speist,103
so Roland Galle. Die Verknüpfung von Kierkegaard mit Nietzsche erweist sich unter diesem Aspekt für eine Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie als notwendig: „Mithilfe ihres Denkens kann die Herausforderung der Selbstgestaltung begriffsfähig gemacht werden. Ihr Vokabular bietet jene Kategorien, mit denen wir unsere Situation der Zeit verstehen können, ohne dabei der Verzweiflung oder der Entmutigung anheim fallen zu müssen.“104 Relativierend muss meines Erachtens jedoch hinzugefügt werden, dass jene Zeitgeschehnisse zwar entscheidenden Anteil vor allem an der großen Popularität des Existenzialismus als Lebensform und Lebenshaltung bzw. Lebenseinstellung hatten und ihn sogar zu einer Art ,Mode‘ werden ließen, sie allein können seine Entstehung jedoch nicht erklären. Zu eng ist die Genese der Existenzphilosophie, wie sich zeigen wird, gekoppelt an das sogenannte postmetaphysische Zeitalter, das sich direkt aus dem Geiste Kierkegaards und Nietzsches entwickelt. Dennoch ist wohl kaum eine philosophische Denkbewegung derart an die historischen Ereignisse ihrer Zeit gebunden wie die Existenzphilosophie. Die methodologischen Überlegungen HansGeorg Gadamers, nach denen der Sinn einer Aussage immer auch unter Berücksichtigung seiner „Motivationsgeschichte“105 zu betrachten sei, gelten demnach besonders für Studien zur Existenzphilosophie. Den Existenzialismus einzig und allein als ein gesellschaftlich-kulturelles Phänomen eines begrenzten historischen Rahmens zu verstehen und aus ihm heraus zu erklären, würde jedoch zu kurz greifen und seine dezidiert philosophische Bedeutung unberechtigterweise
|| 102 Ibid. 103 Galle 2009, S. 11. 104 Gantschow 2011, S. 89. 105 Gadamer 1987, S. 468.
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schmälern.106 Dabei würde man Gefahr laufen, die Existenzphilosophie zu engführend auf ihre Ausprägungen als eine gesamtgesellschaftliche Bewegung und ,Modeerscheinung‘ zu reduzieren, die nicht immer zu ihrem Vorteil waren. Dass der Existenzialismus sich einem breiten Publikum bewusst geöffnet hat und Bestrebungen der Popularisierung von Philosophie offen gegenüberstand, soll nicht bestritten werden. Hannah Arendt beschreibt diese Dimension des Existenzialismus in ihrem Artikel „French Existentialism“ eindrucksvoll: A lecture on philosophy provokes a riot, with hundreds crowding in and thousands turned away. Books on philosophical problems…sell like detective stories…Philosophers become newspapermen, playwrights, novelists. They are not members of university faculties but ,bohemians‘ who stay at hotels and live in the cafe – leading a public life to the point of renouncing privacy…This is what is happening, from all reports, in Paris.107
Insbesondere mit Blick auf den französischen Existenzialismus stellt sich jedoch zugleich heraus, dass beides – die einschneidenden geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts und die ‚rein‘ philosophiehistorischen Wendungen – einen maßgeblichen Anteil an der Art und Weise der Entwicklung dieser Philosophie hatte.
1.3 Aufgabenstellung und Herangehensweise der Untersuchung Allein die systematische und historische Disparatheit der Existenzphilosophie stellt eine Auseinandersetzung mit ihr vor eine Vielzahl an Herausforderungen und verlangt ab initio eine Schwerpunktsetzung und Eingrenzung. Ziel unserer Studie ist es, sowohl einen historischen als auch ein systematischen Zugang zu der Genese, den Hauptmotiven und den Perspektiven der Existenzphilosophie zu entwickeln. Historisch sollen die Voraussetzungen, Abgrenzungspunkte zu anderen kontemporären Strömungen sowie Schlüsselfiguren untersucht und systematisch Begriffe wie der der Existenz, des Lebens(-entwurfes) und der Existenzphilosophie selbst einer Analyse unterzogen werden.
|| 106 Siehe hierzu auch Flynn 2008, S. 7. So hält auch Cooper 2008, S. 13 fest: „It is quite wrong …to regard existentialism as the expression of post-war ,dishevelment‘, despair or malaise. To do so rather obviously confuses existentialism as a philosophy and existentialism as a vogue.“ 107 Arendt 1946, S. 226. Für Jeff Malpas steht der Existenzialismus mit dieser Art des außerakademischen Philosophierens in der Tradition der französischen Philosophie seit der Zeit der Aufklärung. Vgl. dazu Malpas 2012, S. 294f.
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Dem Begriff ,Existenzphilosophie‘ soll keine historische Dimension in dem Sinne zugeschrieben werden, Existenzphilosophisches überhaupt in den verschiedensten Epochen der Philosophiegeschichte aufzuspüren.108 Vielmehr soll jene Typisierung an die übliche historische Kontextualisierung gebunden bleiben – demnach wird die Existenzphilosophie als eine Bewegung des 19. bzw. 20. Jahrhunderts aufgefasst, die bei Kierkegaard ihren Anfang nimmt und mit de Beauvoir, Camus und Sartre im französischen Existenzialismus wohl ihren Höhepunkt erreicht. Existenzbezogenes Philosophieren allgemein lässt sich sicherlich bis in die Antike und in die Wiege der Philosophie hinein zurückverfolgen, jedoch konnte, wie Schmied-Kowarzik u.a. herausstellt, erst nachdem Hegel mit dem philosophischen Anspruch angetreten ist, in einem absolut idealistischen System buchstäblich alles der Vernunfterkenntnis einzuverleiben und nichts außer ihr gelten zu lassen,…die Existenzphilosophie entschieden die Grenzen einer solchen Philosophie absoluter Vernunfterkenntnis aufdecken und sich begründet gegen sie positionieren.109
Sich auf die Existenzphilosophie als eine bestimmte historische Zeitspanne zu fokussieren, ist damit inhaltlich begründet und auch für die systematischen Erörterungen vorteilhaft. Freilich wird damit zugleich ein gewisses intuitives Vorverständnis, welche Ansätze unter ‚Existenzphilosophie‘ subsumierbar sein könnten, vorausgesetzt. Die historische Begrenzung auf eine bestimmte Epoche
|| 108 Dies hat jüngst Susanne Möbuß geleistet, indem sie existenzphilosophische Topoi bis zu Augustinus hin zurückverfolgt hat. Vgl. dazu Möbuß 2015. Volker Gerhardt vertritt in einem gleichnamigen Aufsatz sogar die These, alle Philosophie sei Existenzphilosophie, wobei sich seine Überlegungen „auf die Gemeinsamkeit im Ausgangspunkt alles philosophischen Denkens beim selbstbewussten Individuum“ stützen und somit recht allgemein verbleiben. Siehe dazu Gerhardt 2014, S. 2. In einer älteren Studie ist Knittermeyer 1952 der Philosophie der Existenz von der Renaissance bis in die Gegenwart auf den Grund gegangen. Auch Mounier 1962, S. 12 zeichnet einen Stammbaum existenzialistischer Philosophie nach, dessen Wurzeln bis zu Sokrates zurückragen. Flynn 2008, S. 13 reiht im Kontext der Geschichte der abendländischen Philosophie den Existenzialismus in die sokratische Tradition einer Philosophie als Sorge um das Selbst ein. Eine solche genealogische Herangehensweise verfolgt auch Huisman 2005, der die Ursprünge ausgehend von Sokrates über Descartes und Pascal bis hin zu Nietzsche beleuchtet. 109 Schmied-Kowarzik 2014, S. 30. So hält auch Colette 2018, S. 8 fest: „Mais si lʼon entend prendre en considération les enjeux philosophiques dʼune problématique cohérente quant à lʼâge et aux connotations des concepts, il convient, sʼagissant dʼexistentialisme, de sʼen tenir à la pensée moderne et contemporaine dite post-idéaliste, à lʼépoque qui a succédé à la construction des grands systèmes allemands et de lʼidéalisme spéculatif.“
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ist dabei allerdings inhaltlich recht allgemein gehalten und setzt noch kein spezifisches inhaltlich-systematisches Vorverständnis dessen voraus, was ‚Existenzphilosophie‘ ist. Außerdem ist es ein methodologisches Problem historisch-rezeptionsgeschichtlicher Ansätze allgemein, bereits über einen bestimmten Begriff desjenigen verfügen zu müssen, dessen Spuren historisch zurückverfolgt werden sollen, und zugleich historische Leitlinien zu zeichnen, die ebendiesen Begriff zuallererst konstituieren.110 Bei den Denkern, die für gewöhnlich dem Existenzialismus zugeordnet werden, begegnet man häufig dem Dementi, sie seien keine Existenzphilosophen.111 Dies ist mittels der im Ausgang von Kierkegaard und Nietzsche gewonnenen einheitsstiftenden Momente existenzialistischen Philosophierens zu evaluieren. Gelingt es, durch die philosophiehistorischen sowie systematischen Überlegungen der Existenzphilosophie den Status einer philosophischen Traditionslinie zu attestieren, oder erweist sich die Bezeichnung aufgrund der Diversität der unter ihr versammelten Philosophien als obsolet und hinfällig? Das Hauptaugenmerk der Arbeit liegt auf der Genese und Entstehungsphase der Existenzphilosophie, die anhand der zwei Hauptkapitel zu Kierkegaard (Kapitel 2) und Nietzsche (Kapitel 3) untersucht werden sollen. Jenseits der Debatte um einen möglichen direkten Einfluss Kierkegaards auf Nietzsche verfolgt die Arbeit das Ziel, die These zu bestärken, dass das gemeinsame Wirken Kierkegaards und Nietzsches auf den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts entschieden zur Entstehung der Existenzphilosophie beigetragen hat. Kierkegaard und Nietzsche sollen als Initialfiguren der Existenzphilosophie betrachtet werden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Auswirkungen der Synergieeffekte beider Philosophien. Die Tatsache, dass die Nachfolger Kierkegaards und Nietzsches die Œuvres beider Philosophen zusammengenommen betrachtet haben, wird sich als wegweisend für die Existenzphilosophie erweisen. Karl Jaspers war einer der Ersten, der dieser These nachging,112 wenngleich seine Kierkegaard-Auslegungen sehr stark unter dem Einfluss seiner NietzscheLektüre stehen. Er konstatiert dabei: „Was Kierkegaard und Nietzsche bedeuten, wird erst kund durch das, was aus ihnen in der Folge wird. Die Wirkung beider
|| 110 Vgl. Schulz 2020, S. 174f., der dies ebenfalls am Beispiel der Existenzphilosophie erläutert. 111 Bei Camus 1965, S. 1424 heißt es so zum Beispiel: „Nein, ich bin kein Existenzialist.“ (meine Übers.). 112 Michelman 2008, S. 7 bemerkt folgerichtig: „Jaspers was the first in the existentialist tradition to posit Kierkegaard and Nietzsche as forebears of 20th-century existentialism.“
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ist unabsehbar groß – größer noch im allgemeinen Denken als im Fach der Philosophie –, aber unendlich zweideutig.“113 Die Wirkungsgeschichte beider wird in den Positionen, die weitaus mehr als eine bloße Rezeptionsgeschichte der beiden Initialfiguren sind, und gerade in den Perspektiven der Existenzphilosophie ersichtlich. So wird sich zeigen, dass mittels einer solchen Kontextualisierung ihrer Wirkungsgeschichte auch das Verständnis für die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches selbst geschärft wird. Darin zeichnet sich ein weiterer Mehrwert der hier zugrunde gelegten philosophiehistorischen Herangehensweise ab. Thematisch nimmt die Arbeit dabei eine Schwerpunktsetzung auf die Gebiete der Metaphysik bzw. Metaphysikkritik, Anthropologie, Ethik sowie Fragen der Methode und Darstellungsformen von Philosophie vor. Im abschließenden Teil der Arbeit werden im Rahmen eines Fazits und Ausblicks der wirkungsgeschichtliche Kontext Kierkegaards und Nietzsches zusammengefasst sowie eine Typologie der und Prospektion auf die Existenzphilosophie angestrebt (Kapitel 4). Die Analysen der Entstehungsgeschichte der Existenzphilosophie aus dem Geiste Kierkegaards und Nietzsches schaffen hierfür den notwendigen Hintergrund und die Voraussetzungen. Die Wirkungsgeschichte soll unter den schon in den vorherigen Abschnitten zentralen systematischen Schwerpunkten der Metaphysik, Anthropologie, Ethik und Darstellungsformen von Philosophie rekapituliert werden. Vor allem mit Blick auf anthropologische und ethische Fragestellungen wird immer wieder auf zentrale Vertreterinnen und Vertreter existenzialistischer Philosophie wie etwa Karl Jaspers, Jean-Paul Sartre, aber auch Albert Camus und Simone de Beauvoir im Laufe der Untersuchung eingegangen werden. Freilich ist mit den eben genannten Protagonisten die Liste der Existenzphilosophinnen und -philosophen nicht vollständig. Eine umfassende Darstellung würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch bei Weitem sprengen und ist nicht beabsichtigt. Die Auswahl beruht auf dem Vorhaben, die Genese, die Initialfiguren und die Hauptmotive der Existenzphilosophie zu untersuchen. Die Fokussierung auf die Initialphase schließt naturgemäß eine ohnehin schwer zu leistende umfassende Behandlung aller prominenten Vertreterinnen und Vertreter aus. Es mag mitunter dennoch verwundern, dass Martin Heidegger hier – entgegen einiger anderer philosophiehistorischer Werke zur Existenzphilosophie –
|| 113 Jaspers 1960, S. 35. Diese Ambivalenz der Wirkungsgeschichte, die Kierkegaard und Nietzsche miteinander in Verbindung setzt, deutet Jaspers auch in seinem kleinen Aufsatz „Was ist Existentialismus?“ an: „Er [Kierkegaard], der Christ, wurde mit Nietzsche, dem Zermalmer, zusammengebracht. Beide wurden als die Propheten und zugleich Opfer unseres Zeitalters, als die Ausnahmen, denen niemand, der sie verstand, folgen durfte, zu den großen Philosophen, an denen unsere Zeit sich orientieren sollte.“ (Jaspers 1968, S. 498).
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kein eigenes Kapitel gewidmet wird. Damit soll keineswegs sein Einfluss auf die bzw. seine Rolle innerhalb der Existenzphilosophie geschmälert, gar geleugnet oder zurückgewiesen werden. Zentrale Topoi seiner Philosophie werden uns vielmehr immer wieder begegnen und Berücksichtigung finden. Letztlich wird hier sein Denken jedoch als ein eher eigenständiges Gebilde angesehen, das insbesondere aufgrund seiner kryptischen Terminologie gesondert zu behandeln wäre. Zu unterschiedlich erscheinen die diversen Typisierungen Heideggers als Phänomenologe114 in der Nachfolge Edmund Husserls, als Existenzialhermeneutiker oder als Metaphysiker, der aus einer ursprünglich metaphysikkritischen Ausrichtung einen neuen metaphysischen bzw. ontologischen Ansatz erarbeitet, dem er nicht zuletzt selbst mit dem Etikett ,Fundamentalontologie‘ eigenständige Konturen verleiht. Nicht von ungefähr wird Heidegger gegenwärtig sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eher als Denker sui generis denn als Existenzialist thematisiert.115 Die philosophiehistorischen Kontextualisierungen bilden die unerlässlichen Grundlagen für eine Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie aus heutiger Sicht. In Anlehnung an den Titel eines schon in den 1950er Jahren verfassten Buches von Fritz Heinemann lässt sich erneut die Frage stellen: Existenzphilosophie heute: lebendig oder tot?116 Ad hoc könnte sie aufgrund ihrer weitgehenden Nicht-Präsenz in aktuellen Debatten als überholt und hinfällig gelten. Dies muss jedoch differenzierter analysiert werden: Was bleibt von der Existenzphilosophie heute übrig? Erodiert sie, wird sie von anderen Strömungen absorbiert oder kann sie vielmehr gerade heute eine Alternative oder Ergänzung zu der oft als obsolet geltenden klassischen Anthropologie darstellen? Ist die gegenwärtig eher marginale Rolle der Existenzphilosophie gerechtfertigt oder schlummert in ihr weiterhin ein unerkanntes Potenzial? Winfried Weier fällt angesichts des Verblassens der Existenzphilosophie Mitte der sechziger Jahre – u.a. durch Strömungen wie der Analytischen Philosophie – folgendes Urteil: „Die Existenzphilosophie wurde…aus dem Mittelpunkt philosophischer Fragestellung verdrängt und in ein Außenseiter- und Randdasein verbannt: nicht zum Besten der Philosophie. Denn ihre fundamentale Fragestellung wie ihre weitertragenden Impulse gerieten
|| 114 Vgl. Stewart 2012, S. 165. 115 Vgl. Michelman 2008, S. 20f. 116 Vgl. Heinemann 1963.
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mehr und mehr in Vergessenheit, um schließlich ganz verlorenzugehen.“117 Wie ist das zu bewerten? Die Tatsache, dass eine Vielzahl der Standardwerke zur Existenzphilosophie aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren stammen und seither die einschlägige Rezeption in den Hintergrund getreten ist, ermuntert verstärkt, sich dieser Strömung heute erneut anzunehmen. Die Feststellung, dass bis heute keine zufriedenstellende Definition oder Typologie vorzuliegen scheint, forciert dieses Anliegen zusätzlich. Lässt die Zuspitzung auf den Einzelnen und das Individuum die Existenzphilosophie weiterhin interessant u.a. für die Ethik erscheinen oder disqualifiziert sie sich gerade dadurch? Derartige facettenreiche und diachrone Fragestellungen werden im Laufe der Arbeit immer wieder über die üblichen historischen Überlegungen hinaus verweisen und sind zu thematisieren, soll die Problematik, ob es sich bei der Existenzphilosophie um eine längst überholte oder hingegen für gegenwärtige Debatten immer noch nützliche Strömung handelt, adäquat evaluiert werden. Zuletzt stellt sich die Frage, ob sich anhand der historischen und systematischen Untersuchungen ein Kriterienkatalog erstellen lässt, der zumindest grundlegende, einheitsstiftende Charakteristika des Existenzialismus versammelt. Eine solche Typologie soll abschließend im Fazit vorgenommen werden. Somit wird ein Bogen von der Genese und den Initialfiguren der Existenzphilosophie bis hin zu ihren aktuellen Perspektiven gespannt.
|| 117 Weier 1977, S. 273. Dass die Analytische Philosophie nach eigenem Verständnis ein ganz anderes Ziel verfolgt als zum Beispiel die Existenzphilosophie, bringt Peter Strawson zum Ausdruck, wenn er das Vorhaben eines analytischen Philosophen skizziert: „Es gibt eine Art von Philosophie, die immer noch blüht und zweifellos immer blühen wird, solange Menschen über ihre moralische Natur und Situation nachdenken. Ich meine die Art mehr oder weniger systematischer Reflexion über die Situation des Menschen, die man etwa bei Heidegger, Sartre und Nietzsche findet, und die ihr Werk ja weitgehend bestimmt – eine Reflexion, die manchmal neue Perspektiven des menschlichen Lebens und Erlebens aufzeigt. Der analytische Philosoph hingegen – zumindest wie ich ihn verstehe – verspricht keine dergestalt neue und offenbarende Vision. Er verfolgt ein ganz anderes Ziel. Was also ist denn sein Ziel? Womit beschäftigt er sich? Nun, selbstverständlich mit Ideen und Begriffen. Denn der selbstverliehene Titel ‚analytischer Philosoph‘ deutet schon an, daß die beste Beschreibung seiner Hauptbeschäftigung ‚Begriffsanalyse‘ ist“ (Strawson 1994, S. 12).
2 Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne 2.1 Idealismus- und Systemkritik: Abstraktion als Negation der Existenz Mein Hauptgedanke war, daß man in unserer Zeit vermittels des vielen Wissens vergessen habe, was es heiße, zu e x i s t i e r e n , und was I n n e r l i c h k e i t zu bedeuten habe.1
Die Kapitel zur Philosophie Søren Kierkegaards konzentrieren sich primär auf die Topoi seines Denkens, welche maßgeblich zur Entstehung der Existenzphilosophie beigetragen haben und ihn als eine Initialfigur jener Strömung erscheinen lassen. Demzufolge richtet sich mein Blick auf folgende zentrale Motive: seine Idealismus- und Systemkritik (Kapitel 2.1), seine Wende hin zum Einzelnen (Kapitel 2.2), seine Revision klassischer Anthropologie (Kapitel 2.3), seine Ethik (Kapitel 2.4) und schließlich seine Methode der indirekten Mitteilung (Kapitel 2.5). Seit Kierkegaard versteht sich die Existenzphilosophie als eine Gegenbewegung oder zumindest Reaktion zur bzw. auf die Philosophie des Deutschen Idealismus und bewegt sich somit im Fahrwasser systemkritischen Philosophierens, das insbesondere bei Kierkegaard Hegel zu seinem Feindbild hochstilisiert. Die Abgrenzung zum Deutschen Idealismus wird konstitutiv für das Selbstverständnis der Existenzphilosophie, sodass es mit Schmied-Kowarzik nicht überspitzt erscheint festzuhalten, dass „ohne kritische Durchdringung und Überwindung des Idealismus…alles existentielle Denken zu bloßer Standpunktbehauptung“2 zerrinnt. Das Denken unseres dänischen Philosophen und Theologen lässt sich überhaupt nur ausgehend von jener Kritik her adäquat nachvollziehen. Seine Philosophie ist ab initio eine Replik und eine direkte Antwort auf eine zu seiner Zeit vorherrschende Denkbewegung: „Le premier mouvement de Kierkegaard au moment où il constitue sa philosophie est un mouvement de refus, de négation vis-à-vis du romantisme et du rationalisme.“3 Wilhelm Anz, der eine ganze Vorlesungsreihe mit gleichnamigem Titel der Thematik Kierkegaard und der Deutsche Idealismus4 gewidmet hat, sieht die These bekräftigt, wonach Kierkegaards
|| 1 SKS 7, 226 / AUN1, 242. 2 Schmied-Kowarzik 2014, S. 31f. 3 Wahl 1967, S. 112f. 4 Vgl. Anz 1956. Einen neueren Überblick zu dieser Thematik bieten auch Hühn und Schwab 2015. https://doi.org/10.1515/9783110719024-002
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Existenzdenken sich in der Kritik Idealistischer Geschichtsphilosophie entfaltet. Insofern ist Kierkegaards Verhältnis zum Deutschen Idealismus von Grund auf ein wahrlich dialektisches,5 da sich sein Denken durch eine radikale Opposition ihm gegenüber auszeichnet, sich die Probleme seiner Philosophie jedoch zuallererst durch ihn ergeben. Hegel ist dabei für Kierkegaard quasi die Klassische Deutsche Philosophie in persona. Ungeachtet der Tatsache, wie detailliert Kierkegaard Hegel selbst im Original gelesen und studiert hat oder ob ihm der Großteil seines Werkes eher vermittels der großen dänischen Hegelianer der damaligen Zeit6 wie Heiberg, Mynster oder Martensen bekannt war, ist Hegels Denken für das Verständnis von Kierkegaards Werk von einer derartigen Relevanz, dass keine gehaltvolle Kierkegaard-Interpretation das Verhältnis ,Kierkegaard-Hegel‘ unerwähnt lassen kann, so Heinrich Schmidinger.7 Dass Kierkegaards Hegel-Kritik jedoch im Kern eher die dänischen Hegelianer seiner Zeit als Hegel selbst trifft, wird für Jon Stewart nicht zuletzt durch den polemischen bis hin zu satirischen Ton sichtbar, wie er in seiner umfassenden Studie zum dänischen Hegelianismus im sogenannten ,Goldenen Zeitalter‘ betont.8 Kierkegaards Idealismuskritik, die im Kern eine Kritik der Systemphilosophie ist, mündet hierbei oft in einen polemisch zugespitzten Duktus, wenn es etwa in Die Krankheit zum Tode heißt: Ein Denker führt ein ungeheures Bauwerk auf, ein System, ein das gesamte Dasein und die ganze Weltgeschichte usw. umfassendes System – und betrachtet man sein persönliches Leben, so entdeckt man zu seinem Erstaunen das Entsetzliche und Lächerliche, daß er diesen ungeheuren, hoch sich wölbenden Palast nicht persönlich bewohnt, sondern einen Schuppen daneben, oder eine Hundehütte oder zuhöchst das Pförtnerstübchen.9
|| 5 Vgl. Schmidinger 1983, S. 393. 6 Hegel wurde damals in der dänischen Philosophie intensiver rezipiert als Kant, Fichte oder Schelling. Zur Geschichte des Hegelianismus im Dänemark des sogenannten ‚Goldenen Zeitalters‘ siehe Stewart 2007. 7 Vgl. Schmidinger 1983, S. 357. 8 Vgl. Stewart 2007. 9 SKS 11, 158f. / KT, 41. Ähnlich notiert Kierkegaard in sein Tagebuch: „Es geht den meisten Systematikern im Verhältnis zu ihren Systemen, wie wenn jemand ein ungeheures Schloss baut und selbst daneben in einer Scheune wohnt: sie leben nicht selbst in ihm, dem ungeheuren systematischen Gebäude. Aber in Geistes-Verhältnissen ist und bleibt dies ein entscheidender Einwand. Geistig verstanden müssen die Gedanken eines Menschen das Gebäude sein, in dem er wohnt – sonst stimmt etwas nicht.“ (SKS 18, 303, JJ:490 / DSKE 2, 314).
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Wenn im Folgenden von Idealismus- und Systemkritik die Rede ist, so zielt beides auf einen gemeinsamen Aspekt ab und fällt zusammen. Kierkegaards Systemkritik wendet sich explizit gegen den Systemgedanken des Deutschen Idealismus, der wiederum unter einem System – in Anlehnung an die Philosophie Kants – die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee versteht.10 Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Festzuhalten ist bereits, dass Kierkegaards Kritik in diesem Sinne zu begreifen ist, und er sich somit gegen die Auffassung wendet, der Mensch könne ein System erschließen, welches das Weltganze umfasst, durchdringt und zugänglich macht. Er ist ein Anti-Systematiker, da er die Auffassung eines Systems als ein „sich entwickelndes, einheitliches und Vollständigkeit intendierendes Theorieganzes“11 kritisiert. In dieser Hinsicht ist Systemkritik bei Kierkegaard auch immer eine Kritik an der Philosophie der Deutschen Idealisten im Allgemeinen und wird stets ein Referenzpunkt für spätere Existenzialisten sein. Dies lässt Mathias Mayer sogar von Kierkegaard als einem „antihegelianischen Anti-Systematiker“12 sprechen, womit die Etikettierung ,Anti-Systematiker‘ eindeutig in Beziehung zum Systembegriff der Klassischen Deutschen Philosophie gesetzt wird. Ähnliches gilt für den Vernunftbegriff, gegen den Kierkegaard und die Existenzphilosophie überhaupt wettern. Ihre Kritik betrifft dabei hauptsächlich den Vernunftbegriff in der Tradition der nachkantischen Philosophie und möchte nicht die Vernunft als solche aus der Philosophie verbannen13 – dies würde sie mit einem reinen Irrationalismus gleichsetzen. Kierkegaard setzt die Hegelianisch dominierte Philosophie seiner Zeit teils derart mit der Philosophie als Ganzer gleich, dass er sich von der Bezeichnung ‚Philosoph‘ abgrenzt. Dies ist jedoch somit als eine Distanzierung zur Systemphilosophie zu verstehen und nicht zur Philosophie überhaupt: Verfasser vorliegender Schrift ist keineswegs ein Philosoph, er hat das System nicht verstanden, ob es da ist, ob es fertig ist, er hat bei seinem schwachen Kopf schon genug an dem Gedanken, was für einen ungeheuerlichen Kopf heutzutage jeder haben muß, da jeder solch einen ungeheuerlichen Gedanken hat...Verfasser vorliegender Schrift ist keineswegs ein Philosoph, er ist, poetisch und elegant gesagt, ein Extraschreiber, der weder das System schreibt noch V e r s p r e c h u n g e n des Systems, der sich weder b e i m System noch d e m System verschreibt,14
|| 10 Vgl. Kant KrV, A833/B861. 11 Theunissen und Greve 2016, S. 24. 12 Mayer 2010, S. 91. 13 Vgl. Solomon 1985, S. 2. 14 SKS 4, 103 / FZ, 5.
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wie das Pseudonym Johannes de Silentio im Vorwort zu Furcht und Zittern bekräftigt. Der Verfasser ist demnach kein Philosoph im Sinne eines Systemphilosophen des Deutschen Idealismus. Die Überlegungen dieses Abschnitts sollen sich nun darauf konzentrieren, Kierkegaards Systemkritik unter dem Gesichtspunkt der Genese der Existenzphilosophie auszuleuchten. Somit muss darauf hingewiesen werden, dass es uns um den Kierkegaard geht, dessen Denken die Philosophie der nach ihm folgenden Generation von Existenzialisten geprägt hat. Die Kierkegaard-Kapitel der vorliegenden Arbeit beschränken sich zwangsläufig auf jene Topoi seines Denkens und können somit nicht der umfassenden und beinahe unendlichen Pluralität und Polyphonie seines Gesamtwerkes gerecht werden. Ist von ,Kierkegaard‘ die Rede, so ist damit jene Figur gemeint, deren Philosophie die Existenzphilosophie und den Existenzialismus maßgeblich beeinflusst hat, wohlwissend, dass es den einen Kierkegaard – gerade unter Berücksichtigung der Vielzahl seiner pseudonym publizierten Werke – nicht gibt. Demnach werden die hier herausgearbeiteten Motive als sein Gesamtœuvre umspannende Topoi verstanden. So kann auf diese mit ,Kierkegaard‘ und nicht nur mittels der Pseudonyme rekurriert werden.15 Kierkegaard entfaltet seine für unsere Belange zentrale System- und Idealismuskritik am ausführlichsten in seiner Schrift Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken,16 die unter dem Pseudonym Johannes Climacus verfasst wurde, und orientiert sich dabei abgrenzend an der Philosophie Hegels. Die vorliegenden Analysen konzentrieren sich demnach vorwiegend auf die Nachschrift. Zudem kann die Nachschrift vorrangig als Kierkegaards Versuch betrachtet werden, die Existenz zu begreifen.17 In einem Abschnitt aus dem ersten Teil mit der bezeichnenden Überschrift „Ein System des Daseins kann es nicht geben“, wobei Dasein im Sinne von Existenz zu verstehen ist, lesen wir Folgendes: Ein System des Daseins kann nicht gegeben werden. Also gibt es ein solches nicht? Keineswegs. Das liegt auch nicht in dem Gesagten. Das Dasein selbst ist ein System – für Gott; aber es kann es nicht sein für irgendeinen existierenden Geist. System und Abgeschlossenheit entsprechen einander; Dasein aber ist gerade das Entgegengesetzte. Abstrakt gesehen lassen sich System und Dasein nicht zusammendenken, weil der systematische Gedanke, um
|| 15 Dass eine solche Methodik auch für die Kierkegaard-Forschung nicht unüblich ist, zeigt u.a. Becker-Lindenthal 2015 anhand ihrer Studie zu einer Wiederholung der Philosophie bei Kierkegaard. 16 Wie in der Literatur üblich wird im Folgenden im Fließtext abkürzend von der Nachschrift gesprochen. 17 Vgl. Grøn 2012, S. 88.
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das Dasein zu denken, es als aufgehoben, also nicht als daseiend denken muß. Dasein ist das Spatiierende, das auseinanderhält; das Systematische ist die Abgeschlossenheit, die zusammenschließt.18
,Systemʻ scheint hier in zweierlei Bedeutungen verwendet zu werden: Wenn Kierkegaard davon spricht, dass das Dasein für einen existierenden Menschen kein System darstellen kann, so scheint er damit den oben genannten System- und Erkenntnisanspruch des Deutschen Idealismus zu kritisieren und zielt somit auf eine (1) epistemische Ebene ab. Wenn es jedoch heißt, das Dasein könne ein System für Gott sein, so verbirgt sich hierhinter eine (2) metaphysisch-ontologische Aussage. Für Gott ist das Dasein ein System – hier sind Denken und Sein identisch – und zwar eines, das nach seinen Prinzipien angeordnet ist. Diese sind dem Menschen jedoch epistemisch, sprich aus erkenntnistheoretischer Perspektive unzugänglich. Dadurch, dass der einzelne Mensch immer auch ein Existierender ist, und somit zumindest ein Teil seiner selbst der Zeitlichkeit verhaftet bleibt, ist es nach Kierkegaard für den Menschen ganz und gar unmöglich, absolute Wahrheiten bzgl. der Existenz – wozu die Erkenntnis eines Systems des Daseins zählen würde – zu erkennen. Ein System des Daseins kann es nur für jemanden geben, „der selbst außerhalb des Daseins und doch im Dasein ist, der in seiner Ewigkeit auf immer und ewig abgeschlossen ist und doch das Dasein in sich schließt – es ist Gott.“19 Das Dilemma besteht darin, dass der Existierende in der Zeitlichkeit situiert ist und die Existenz als Ganze in der Zeitlichkeit unverständlich bleiben muss.20 Hierzu führt er aus: Was kann es nützen, zu erklären, wie die ewige Wahrheit ewig zu verstehen ist, wenn der, der die Erklärung gebrauchen soll, verhindert ist, sie in der Weise zu verstehen, nämlich dadurch, daß er existierend ist…, selbst in der Zeit ist, was ja der wohlgeborene Professor selbst zugibt, wenn nicht anders, so doch jedesmal wenn er jedes Quartal sein Gehalt abhebt.21
|| 18 SKS 7, 115 / AUN1, 111 (meine Hervorh.). Vgl. hierzu auch Höffding 1922, S. 69–72. 19 SKS 7, 115 / AUN1, 111. 20 Vgl. SKS 18, 194, JJ:167 / DSKE 2, 200. In SKS 18, 223, JJ:261 / DSKE 2, 230 heißt es: „Solange ich in der Zeit lebe, ist das Identitäts-Prinz. nur eine Abstraktion.“ Es markiere die Grenze für das menschliche Denken. ‚In der Zeit zu leben‘ ist hier im Sinne von ‚existieren‘ zu verstehen. 21 SKS 7, 176 / AUN1, 183. Ähnlich heißt es an anderer Stelle: „[D]enn ich bin nur ein armer existierender Mensch, der das Ewige weder ewig noch göttlich noch theozentrisch betrachten kann, sondern der sich damit begnügen muß, zu existieren.“ (SKS 7, 195 / AUN1, 204). Grøn 2001, S. 131 interpretiert den Begriff der Zeitlichkeit bei Kierkegaard ebenfalls in dieser Hinsicht: „As humans, we cannot place ourselves in a world of eternity – or rather, we can only relate to the question of eternity in time.“ Bei Grøn 2000, S. 203 heißt es: „Temporality is not
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„[L]a temporalité suffit pour démontrer lʼimpossibilité du Système“,22 genauer gesagt offenbart die Zeitlichkeit die Unmöglichkeit für den Menschen, ein solches System zu erkennen. Kierkegaard rekurriert in der Nachschrift in diesem Kontext auf Lessings berühmten Ausspruch, dass wenn Gott ihn vor die Wahl stellen würde zwischen der rechten Hand, in der er alle Wahrheit hält, und der linken Hand, in der er das stetige Streben nach Wahrheit hält, zu wählen, er die linke wählen würde, da die ewige Wahrheit nichts für ein endliches Wesen sei.23 Ebenso anschaulich bringt Kierkegaard dies an einer weiteren Stelle mittels der Theater-Analogie und unter Rekurs auf die Kategorien des Zuschauers und des Schauspielers zum Ausdruck: Die Weltgeschichte dagegen ist die königliche Schaubühne für Gott, wo er nicht zufällig, sondern wesentlich der einzige Zuschauer ist, weil er der einzige ist, der es sein k a n n . Zu diesem Theater steht einem existierenden Geist der Zugang nicht offen. Bildet er sich ein, da Zuschauer zu sein, so vergißt er bloß, daß er ja selbst Schauspieler auf dem kleinen Theater sein muß, indem er es jenem königlichen Zuschauer und Dichter überläßt, wie dieser ihn in dem königlichen Drama, dem Schauspiel der Schauspiele (Drama Dramatum) benutzen will.24
Kierkegaard behauptet nicht, dass es kein System des Daseins gibt, sondern dass ein solches nur für Gott, nicht aber für den existierenden Menschen erfassbar bzw. einsichtig sein kann. Es mag zwar ein System des Daseins geben, dieses entzieht sich jedoch dem menschlichen Erkenntnisvermögen. Insofern formuliert Kierkegaard noch keine umfassende Metaphysikkritik, die ein System des Daseins als solches gänzlich zurückweist, wie wir ihr zuweilen noch bei Nietzsche begegnen werden. Dennoch wird ersichtlich, warum Kierkegaard die System-
|| simply an element in the composite, but rather time defines human existence. The existing person is extended in time. Human existence depends upon finitude.“ Nach Angier 2006, S. 85 ist demnach eine der Grundfragen der Nachschrift: „[H]ow…is it possible for individuals to trascend their own particular, epistemically circumscribed perspectives, in order to attain that absolute perspective supposedly enjoyed by the Hegelian systematiser?“ 22 Wahl 1967, S. 117. Ein die Realität umfassendes metaphysisches System zu erkennen, muss für den existierenden Menschen eine Illusion bleiben. Vgl. Swenson 1983, S. 143. So resümiert auch Rudd 2015, S. 487: „For Kierkegaard, it is our finitude that prevents us from seeing things as an infinite intellect (God’s) would see them.“ 23 Vgl. SKS 7, 103 / AUN1, 98f. Siehe dazu Lessing 1856, S. 53: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ 24 SKS 7, 146 / AUN1, 148. Vgl. hierzu auch SKS 7, 116f. / AUN1, 114.
36 | Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne
philosophie ablehnt: Wenn für den Menschen ein System des Daseins von vorneherein unzugänglich und unerkennbar ist, dann ist es für die konkrete Existenz des Menschen bedeutungslos. Es kann dem einzelnen existierenden Menschen keinen Maßstab und keine Orientierungshilfe für sein Handeln geben. So wie Nietzsche, der betont, dass zwar die Möglichkeit einer metaphysischen Welt nie ganz widerlegt und bekämpft werden kann, dass man aber mit einer solchen, reinen Möglichkeit jedoch „gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte.“25 Kierkegaards Kritik, dass System und Dasein, d.h. Existenz, einander ausschließen, erinnert en passant an den lebensphilosophischen Gegensatz von Denken und Leben. Der Begriff des Lebens betont dabei stets die Lebendigkeit alles Seienden im Gegensatz zum ,starren‘ Denken.26 Der Gegenwartsphilosoph und Existenzphilosophie-Interpret Odo Marquard sieht in diesem Punkt insbesondere mit Blick auf den späten Schelling – der, wie gesehen, oft als Übergangsfigur zwischen Idealismus und Existenzialismus tituliert wird – eine enge Verbundenheit von Lebens- und Existenzphilosophie. Rationale Objektivierung töte die Wirklichkeit, da diese an sich, d.h. als nicht objektivierbare Natur, irrationale Lebendigkeit sei.27 Bei Nietzsche, der, wie sich herausstellen wird, gerade in Verbindung mit Kierkegaard eine eminente Wirkung auf den Existenzialismus hatte, begegnen wir ebendiesem Gedanken: Das G r u n d v o r u r t h e i l ist aber: daß die Ordnung, Übersichtlichkeit, das Systematische dem w a h r e n S e i n der Dinge anhaften müsse, umgekehrt die Unordnung, das Chaotische, Unberechenbare nur in einer falschen oder unvollständig erkannten Welt zum Vorschein komme…Nun ist es aber ganz unbeweisbar, daß das An-sich der Dinge nach diesem Recepte eines Muster-Beamten sich verhält.28
Ein An-sich der Dinge ist auch für Kierkegaard nicht erkennbar, was jedoch für ihn nicht eo ipso bedeutet, dass es ein solches prinzipiell nicht gibt. Es bleibt dem Menschen nun, die Sphäre der konkreten Existenz auszuloten, die, wie das Leben für Nietzsche, einem ständigen Prozess des Werdens unterliegt.
|| 25 Nietzsche MA I, 9, KSA 2, S. 29. 26 Parallelen zwischen den Begriffen ‚Leben‘ und ‚Existenz‘ werden wir in Kapitel 3.1 dieser Arbeit ausführlicher nachgehen. 27 Vgl. Marquard 2013, S. 27. 28 Nietzsche NF-1885, 40[9], KSA 11, S. 632.
Idealismus- und Systemkritik: Abstraktion als Negation der Existenz | 37
Wie gesehen, bedeutet System für Kierkegaard im Sinne des Deutschen Idealismus und damit in der Traditionslinie Kants Abgeschlossenheit; „das Systematische ist die Abgeschlossenheit“,29 so lesen wir in der Nachschrift. Tatsächlich versteht Kant in der Kritik der reinen Vernunft „unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“30 Nach Kant ist die menschliche Vernunft ihrer Natur nach architektonisch und sieht alle Erkenntnisse als zugehörig zu einem möglichen System an.31 Kierkegaards Kritik am Systemdenken erklärt sich wesentlich dadurch, dass er System mit Abgeschlossenheit gleichsetzt.32 Demnach ist das System per definitionem der Existenz entgegengesetzt, da diese von Natur aus unabgeschlossen, unvollendet ist und sich in einem ständigen Werden befindet. Die menschliche Praxis entzieht sich der Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit, und somit kann es in diesen Fragen kein System geben, „denn ein System kann man nicht leben“,33 wie Georg Lukács in Bezug auf Kierkegaard resümiert. Die konkrete Existenz des einzelnen Menschen – das zentrale Thema von Kierkegaards Philosophie und des Existenzialismus im Allgemeinen – entzieht sich somit dem Systemdenken, ist durch und für ein solches nicht greifbar.34 „Es liegt im Wesen eines Systems, dass es den Individuen keinen Spielraum zur Entfaltung ihrer jeweiligen Besonderheit und Einzigartigkeit gibt. Entsprechend richtet sich Kierkegaards Kritik an Hegels Systemdenken vor allem gegen das Verschwinden des Einzelnen im Weltgeist.“35 Jenes Argument ist es auch, || 29 SKS 7, 114 / AUN1, 111. Vgl. auch SKS 7, 104 / AUN1, 100. 30 Kant KrV, A833/B861. 31 Vgl. ibid., A474/B502. Es ist dieser Systembegriff Kants, der von da an maßgebend für die Philosophie geworden ist. Vgl. hierzu Borsche 1992, S. 48f. 32 Zu dieser Kritik am Systemdenken vgl. u.a. Fujino 1994, S. 127–131. 33 Lukács 2011, S. 60. 34 Siehe Gantschow 2011, S. 86: „In Fragen der Lebensführung gibt es weder einen absoluten Anfang, noch einen Blick von Außen, der uns eine endgültige Fundierung unseres Daseins im Absoluten ermöglichen würde. Ein philosophisches System des Daseins ist ein philosophisches Ding der Unmöglichkeit.“ 35 Pieper 2011, S. 463. „Kierkegaards Tat besteht darin, dass er für alle Zeiten die Illusion des Systems zunichte machte, und nicht nur in der Hegelschen Form, sondern jedes Systems, das die Kollektivität zum Primären machen und sie über den Einzelnen stellen will.“ (Hohlenberg 2011, S. 410). Dietz 1993, S. 4 weist darauf hin, dass Kierkegaards Einspruch gegen das System auch als ein Einspruch der Freiheit zu begreifen ist, „die sich leidenschaftlich als das begreift, was in ihrem Vollzug jede in sich geschlossene (und in diesem Sinn absolute) Darstellung transzendiert. So bringt er sein Freiheitskonzept polemisch gegen das System, genauer: gegen eine bestimmte Gestalt des (abgeschlossenen) Systems zur Geltung.“ Vgl. auch Deuser 1985, S. 28, der darauf hinweist, dass Abgeschlossenheit und Existieren sich wie Feuer und Wasser zueinander verhalten.
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das Kierkegaard gegen Hegels Geschichtsphilosophie zum Tragen bringt, wie bereits Jean Wahl bemerkt: „L’histoire ne peut atteindre l’essentiel. Elle voit la masse, elle ne voit pas lʼéthique, lʼindividu…[P]our Hegel la philosophie est lʼexpression conceptuelle du stade évolutif quʼa atteint lʼépoque; pour Kierkegaard, elle est lʼexpression, sous forme personnelle, de lʼopposition à lʼesprit de lʼépoque.“36 In Hohlenbergs Kierkegaard-Biographie wird dessen Auflehnung gegen jede Art von System zum Ariadnefaden der Untersuchung37 – und, so ließe sich hinzufügen, somit auch des Kierkegaardschen Œuvres selbst. Zum einen ist ein System des Weltganzen für den Menschen als zeitliches Wesen nicht einsehbar und erkennbar. Zum anderen kann die Existenz des einzelnen Menschen nicht in einem und durch ein System erschlossen werden, da sie stets einem Werden unterliegt. Das Kernproblem besteht nach Kierkegaard darin, dass sobald das Denken versucht, die Wirklichkeit bzw. die Existenz38 zu erfassen, diese zwangsläufig aufheben muss: „Vom Denken aufs Dasein zu schließen, ist also ein Widerspruch; denn das Denken nimmt gerade umgekehrt vom Wirklichen das Dasein fort und denkt es, indem es das Wirkliche aufhebt, indem es das Wirkliche in die Möglichkeit übersetzt“.39 Die Abstraktion steht im Widerspruch zu ihrem eigenen Anspruch. Sie möchte etwas über die Wirklichkeit aussagen, sie erklären; dieser Versuch mündet jedoch in das Dilemma, dass sie das, was sie zu erklären versucht, die Wirklichkeit, zum Verschwinden bringt, nämlich dadurch, dass sie von ihr abstrahiert.40 Kierkegaard entlarvt somit den Erklärungsanspruch der Abstraktion, des reinen Denkens, in Bezug auf die Wirklichkeit als bloße Schimäre: „Die Mißlichkeit der Abstraktion zeigt sich eben in bezug auf alle Existenzfragen, wo die Abstraktion die Schwierigkeit dadurch entfernt, daß sie sie ausläßt, und dann sich damit brüstet, alles zu erklären.“41 Da jedes Wissen für Kierkegaard ein
|| 36 Wahl 1967, S. 123. 37 Vgl. Pieper 2011, S. 462 sowie Hohlenberg 2011. 38 Kierkegaard fasst hier Wirklichkeit als Existieren auf. Der Übersetzer der Nachschrift Hans Martin Junghans merkt hierzu an: „W i r k l i c h k e i t , D a s e i n , E x i s t e n z : es ist hierbei immer daran zu denken, daß Cl.-Kierkegaard bei diesen Ausdrücken vorzüglich die menschliche Wirklichkeit und menschliches Dasein, die Existenzwirklichkeit, die Wirklichkeit des Einzelnen meint.“ (in AUN1, 320). 39 SKS 7, 289 / AUN2, 18. 40 Vgl. Hüsch 2014, S. 202. 41 SKS 7, 275 / AUN2, 2. An anderer Stelle der Nachschrift heißt es dazu passend: „Das einzige An-sich, das sich nicht denken läßt, ist das Existieren, mit dem das Denken gar nichts zu tun hat…[W]ovon aber abstrahiert das reine Denken? Von der Existenz, und also von dem, was es erklären sollte.“ (SKS 7, 300 / AUN2, 31).
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Übersetzen in die Möglichkeit, die Abstraktheit ist, ist auch jedes Wissen um die Wirklichkeit nur Möglichkeit und kommt somit nie an die konkrete Wirklichkeit im Sinne des faktischen Seins, der Existenz, heran.42 Die Identität von Denken und Sein kann dort, wo es um das faktische Sein geht, nicht erreicht werden: „This is a very key aspect of Kierkegaard’s account on the relations between being and thought, since the act of thinking changes the modality, which necessarily leaves out the fundamental feature of being qua actual.“43 Dass die Wirklichkeit qua Wirklichkeit nicht erfassbar, im Sinne von begrifflich nicht fassbar, ist, stellt eine der leitenden Thesen der Nachschrift dar.44 Entscheidend ist dabei, wie auch Schmidinger konstatiert, dass Kierkegaards Wirklichkeitsverständnis von demjenigen Hegels und des Deutschen Idealismus insgesamt grundlegend verschieden ist: Hegel geht vom Standpunkt des absoluten Geistes aus, somit kann er für sich beanspruchen, das Wirklichkeitsgeschehen darstellen und begreifen zu wollen. Der Philosoph ist Zuschauer und Betrachter. Der Begriff ‚Wirklichkeit‘ umfasst das Weltganze. Ebenso ist es auch noch beim späten Schelling, der zwar im Rahmen seiner positiven Philosophie die Philosophie und die Wirklichkeit wieder in Beziehung zueinander setzen möchte, der Begriff ‚Wirklichkeit‘ bleibt jedoch auf die Existenz aller empirischen Dinge bezogen. Erst Kierkegaard versteht unter ‚Wirklichkeit‘ vorbehaltlich und exklusiv die Existenz des einzelnen konkreten Menschen, die spezifisch menschliche Seinsweise, und gemäß dieser Auffassung von Wirklichkeit sind bei ihm Wirklichkeit und Existenz gleichzusetzen. Bereits Heidegger betont schon zu seiner Zeit mehrfach ebenjenen Unterschied zwischen Schelling und Kierkegaard. Für Schelling gelte: „Alles Sein ist Existieren: Existenz“; für Kierkegaard hingegen sei Existenz „eingeschränkt auf den Menschen, nur er existiert“.45 Kierkegaard geht vom Standpunkt der Existenz des einzelnen Menschen aus, von wo aus die Wirklichkeit nicht dargestellt, sondern zuallererst zustande gebracht werden kann. Kierkegaard zufolge stößt die Philosophie nur dann zur Wirklichkeit hindurch, wenn sie sich bewusst ist, dass „der Mensch nicht im hegelschen Sinne ,Geist‘ ist, d.h. ,Geist‘ als Ort des Sich-selbst-Konstituierens des absoluten Geistes
|| 42 Vgl. SKS 7, 288 / AUN2, 17. 43 Da Silva 2015, S. 15. Ebenso heißt es dort: „[T]he act of thinking must change it to a possible object, such as a representation or a concept.“ 44 Vgl. ibid., S. 16. 45 Heidegger 1997b, S. 435f.
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Gottes, sondern Geist als Weise des Selbstvollzugs einer endlichen Subjektivität.“46 Hier zeigt sich, dass sich Kierkegaards philosophische Sorge um die endliche Existenz des Menschen dreht: „Die Zeitlichkeit, die Endlichkeit ist es, um die sich alles dreht.“47 Diese Wirklichkeit liegt nicht schon vollkommen da, sie ist vielmehr noch zu konstituieren. Die Existenz muss aus der Zeitlichkeit und dem Werden herausgelöst werden, um sie in die Sphäre der Abstraktion, der Ewigkeit, der Möglichkeit und somit in das Terrain des Denkens zu transferieren. Dadurch wird aber gerade von der Existenz abstrahiert, die wesentlich durch Zeitlichkeit bestimmt ist: „Aber Existieren bedeutet vor allem ein Einzelner zu sein, und daher kommt es, daß das Denken von der Existenz absehen muß, weil das Einzelne sich nicht denken läßt, sondern nur das Allgemeine.“48 Die Undenkbarkeit, ja Unaussprechlichkeit und Unsagbarkeit des Einzelnen, des Konkreten, kommen hier zum Ausdruck. Die Sprache als Medium unseres Denkens spielt eine zentrale Rolle bei der sich für Kierkegaard offenbarenden und unüberbrückbaren Kluft zwischen Denken und Sein. Immer dann, wenn wir versuchen, etwas sprachlich zu fassen, abstrahieren wir, und somit ist Realität nicht mehr Realität, sondern wird zur Idealität, wie auch Climacus festhält: „Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität, das Bewußtsein ist der Widerspruch. In dem Augenblick, da ich die Realität aussage, ist der Widerspruch da; denn was ich sage, ist die Idealität.“49 Sprache ist das Medium der Abstraktion, des Denkens, und kann die Wirklichkeit nie in ihrer Singularität und Einzigartigkeit, sondern immer nur in ihrer Allgemeinheit und damit nur unzureichend wiedergeben.50 Die Sprache ist als Mittlerin der Idee geistig bestimmt. Wirklichkeit lässt sich nicht konzeptualisieren, ohne in Möglichkeit verwandelt und mithin in der Sphäre der Abstraktion aufgehoben zu werden. Kierkegaard fasst dies in einer Journalnotiz von 1850 zusammen und rekurriert dabei auf das Pseudonym der Nachschrift, Johannes Climacus: „‚Wirklichkeit‘ läßt sich nicht begreifen. Das hat schon Joh. Climacus richtig gezeigt, und zwar ganz einfach. Begreifen heißt, Wirklichkeit in Möglichkeit auflösen – aber dann ist es ja unmöglich, sie zu begreifen, denn sie begreifen heißt, sie in Möglichkeit verwandeln, also sie nicht als Wirklichkeit festhalten.“51 || 46 Schmidinger 1983, S. 362. Vgl. auch ibid., S. 389f. 47 SKS 4, 143 / FZ, 51. 48 SKS 7, 289 / AUN2, 29. 49 SKS 15, 55 / JC 155. Vgl. hierzu Hüsch 2014, S. 200f. An anderer Stelle heißt es in den Philosophischen Brocken: „Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas entdecken wollen, das es selbst nicht denken kann.“ (SKS 4, 243 / PB, 35). 50 Vgl. Hügli 1973, S. 75. 51 SKS 23, 72, NB15:103 / T 4, 106. Zu dieser Notiz vgl. auch da Silva 2015, S. 15.
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In diesem Punkt scheinen Hegel und Kierkegaard sogar noch übereinzustimmen. So lesen wir in Hegels Phänomenologie des Geistes: Sie sprechen von dem Dasein äußerer Gegenstände, welche, noch genauer, als wirkliche, absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge, deren jedes seines absolut gleichen nicht mehr hat, bestimmt werden können; dies Dasein habe absolute Gewißheit und Wahrheit. Sie meinen dieses Stück Papier, worauf ich dies schreibe oder vielmehr geschrieben habe; aber was sie meinen, sagen sie nicht. Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, unerreichbar ist.52
Das erinnert an Kierkegaards These, „[j]edes individuelle Leben ist inkommensurabel für den Begriff“.53 Jener Topos wird uns noch wiederbegegnen, wenn es um die Form der Kierkegaardschen Texte geht, da sich für Kierkegaard daraus Konsequenzen in Bezug auf die Darstellung seiner Philosophie ergeben.54 Doch er und Hegel ziehen entgegengesetzte Schlüsse aus dieser Tatsache. „Genauer bezeichnet, als dieses Stück Papier, so ist alles und jedes Papier ein dieses Stück Papier, und ich habe nur immer das Allgemeine gesagt“,55 so Hegel. Für ihn gilt, dass das Einzelne das Allgemeine ist.56 In Hegels Philosophie ist dasjenige, was das Unaussprechliche genannt wird, das Einzelne, das Unwahre und Unvernünftige. Im Denken Kierkegaards hingegen wird das Allgemeine erst durch das Einzelne gesetzt – dies wird bei ihm vor allem anhand der Thematik des Selbst verhandelt.57 Für Kierkegaard kommt es gerade auf jenes Einzelne an, mit ihm kann man sagen, es sei das einzig Wahre, mithin Reale. Hier scheint erneut das unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis von Hegel und Kierkegaard durch, welches sich auch in der Andersartigkeit ihrer Methoden manifestiert. Zwar ist bei beiden eine enge Verknüpfung von Form und Inhalt zu diagnostizieren – in Bezug auf Kierkegaard werden wir dem in Kapitel 2.5 noch ausführlich nachgehen –, bei Hegel ist aber im Unterschied zu Kierkegaard die Methode mit der Sache iden-
|| Siehe hierzu ferner SKS 22, 434f., NB14:150 / DSKE 6, 502: „Aber der Begriff Existenz ist eine Idealität, und die Schwierigkeit ist gerade, ob Existenz i[m] Begriff aufgeht.“ Der Begriff als Idealität ist von der Realität der Existenz zu unterscheiden. 52 Hegel 1986a, S. 91f. 53 SKS 27, 296, Papir 277:2 / T 1, 354. 54 Siehe hierzu Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 55 Hegel 1986a, S. 92. 56 Vgl. hierzu und mit Blick auf den damit einhergehenden Unterschied zu Kierkegaard Anz 1980, S. 58. 57 Vgl. SKS 4, 381 / BA, 79.
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tisch. Kierkegaards Methode hingegen ist nicht das „innerliche Selbstoffenbarungsmedium“58 der Sache: „Daher will sie auch wirklich Weg sein, nicht Weg, der im Grunde schon eins ist mit dem Ziel. Sie will mit einem Wort erst zur Wirklichkeit hinführen, nicht schon diese sein.“59 Dies lässt sich nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ,Wirklichkeit‘ bei Kierkegaard etwas ist, das durch den einzelnen existierenden Menschen zuallererst konstituiert werden muss. Das individuelle Leben, das für den allgemeinen Begriff inkommensurabel bleibt, wie es oben hieß, ist das, was für Kierkegaard die Existenz ist,60 mithin dasjenige, für das er innerhalb der Philosophie seiner Zeit wieder ein Sensorium etablieren möchte. Im Begriff Angst trifft Kierkegaard eine interessante Feststellung, indem er auf das Einzelne und dessen sich jeder Wissenschaft zwangsläufig entziehenden Charakter eingeht: „Erst, wenn der Begriff des Einzelnen gegeben ist, erst dann ist vom Selbstischen die Rede, aber dem zum Trotz, daß unzählige Millionen von solchen Selbsten gelebt haben, vermag keine Wissenschaft zu sagen, was das Selbst ist, ohne es wieder ganz allgemein zu sagen.“61 Ein Mensch, der darauf Acht gibt, wird nach Kierkegaard einsehen, dass nur er selbst weiß, was keine Wissenschaft je wissen kann, nämlich wer er selbst ist.62 Kierkegaard wird demnach, wie wir noch sehen werden, mittels seiner Methode der ,indirekten Mitteilung‘ versuchen, gerade auf das nicht einzuholende Einzelne hinzusprechen und es zu umschreiben.63 Da sprachliche Aussagen kategoriale Bestimmungen vornehmen, verbleiben sie zwangsläufig abstrakt und stoßen dort an ihre Grenzen, wo es um Existenzielles und somit Singuläres geht. Denn dort geht es um etwas, was sich strenggenommen nicht verbalisieren lässt.64 Es scheint sich hierbei um nicht-propositionale Formen philosophischen Wissens zu handeln, für deren Diskussion, das sei nur angemerkt, Kierkegaards Erörterungen nicht unwesentlich geblieben sind.65
|| 58 Schmidinger 1983, S. 395. 59 Ibid. 60 Vgl. Schwab 2013, S. 18. 61 SKS 4, 381 / BA, 79. Hierzu Schwab 2013, S. 21: „Die Existenz des Einzelnen entzieht sich der Darstellung im Begriff (dem Allgemeinen); wird die singuläre Existenz im Modus des Wissenschaftlichen behandelt, so ist sie eo ipso verfälscht.“ Vgl. dazu auch Anz 1980, S. 53. 62 Vgl. SKS 4, 382 / BA, 79. 63 Vgl. Schwab 2012, S. 42. Zur ,indirekten Mitteilung‘ siehe Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 64 Vgl. Anderson 2016a, S. 450. 65 Schildknecht 1990, S. 15 hält in ihrem einschlägigen Werk zu dieser Debatte fest: „Das nichtpropositionale philosophische Wissen läßt sich von daher nicht im Sprachmodus des Sagens, sondern nur in dem des Zeigens, d.h. indirekt mitteilen. Der Begriff der ‚indirekten Mitteilung‘
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Der Mensch habe nun angesichts der Unerkennbarkeit eines Systems des Daseins zwei Möglichkeiten: Entweder zu vergessen, was er ist, nämlich ein Existierender (das ist für Kierkegaard das Komische, das darin besteht, sein zu wollen, was man nicht ist), oder aber all seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass er ein Existierender ist.66 Die moderne Spekulation, damit meint Kierkegaard hier die Hegelsche Philosophie, habe „eine komische Voraussetzung…, die dadurch veranlaßt ist, daß sie in einer Art welthistorischer Distraktion vergessen hat, was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, Mensch überhaupt zu sein…, sondern was es heißt, daß du und ich und er, daß wir jeder für sich Menschen sind.“67 Wenn Kierkegaard der Frage nachgeht, was es heißt, ein Mensch zu sein, so geht es ihm weder darum, die Spezifika der Art ,Mensch‘ zu erfassen, noch darum, den einzelnen Menschen als Exemplar einer Art zu beleuchten, sondern seine Frage ist, wie Günter Figal diagnostiziert und für den Kierkegaard so in besonderer Weise zum Entdecker und Erforscher der Individualität wird, viel radikaler: „[E]s ist die Frage, wie es ist, dieser Mensch, dieser unverwechselbare Einzelne, dieses Individuum zu sein.“68 Das aber, kann nur dieser Einzelne selbst
|| geht dabei auf Kierkegaard zurück, bei dem er auf eine bestimmte Form nicht-propositionalen Wissens, auf den Bereich des Ethischen, eingeschränkt ist.“ Siehe ferner auch Schildknecht 2007, S. 33f. 66 Siehe dazu SKS 7, 115f. / AUN1, 112f.: „Laßt uns also, was die Unmöglichkeit eines Systems des Daseins anbetrifft, ganz einfältig fragen, so wie ein griechischer Jüngling seinen Lehrmeister fragen würde…: Wer soll ein solches System schreiben oder fertig machen? Doch wohl ein Mensch…und zwar doch ein lebender, d.h. ein existierender Mensch…Für den Existierenden gibt es nun überhaupt zwei Wege: er kann entweder alles tun, um zu vergessen, daß er existierend ist, wodurch man erreicht, daß man komisch wird…, weil Existenz die merkwürdige Eigenschaft hat, daß der Existierende existiert, ob er will oder nicht; oder er kann alle seine Aufmerksamkeit auf das Faktum richten, daß er existierend ist.“ Siehe auch SKS 2, 144 / EO1, 155: „[Will] es [das Individuum] in dieser seiner ganzen Bedingtheit (Relativität) das Unbedingte (Absolute) sein, so wird es lächerlich.“ 67 SKS 7, 116 / AUN1, 113. Inhaltlich daran anschließend sowie Hegel und seine Zeitgenossen kritisierend, heißt es an anderer Stelle der Nachschrift: „Alles, alles will mit, welthistorisch will man sich in dem Totalen betören, keiner will ein einzelner existierender Mensch sein.“ (SKS 7, 324 / AUN2, 60). Hinsichtlich des Vorwurfs der Existenzvergessenheit spricht Becker-Lindenthal 2015, S. 3 treffend von einer „existentiellen Amnesie“, die Kierkegaard seinem Zeitalter attestiere. 68 Figal 1994, S. 167. Für Kierkegaard selbst wiederum stellt Sokrates einen Vorläufer neuzeitlicher Philosophie der Subjektivität und Individualität dar, insofern er die Identität des Einzelnen nicht mehr als durch den Kosmos aufoktroyiert, sondern durch sein Verhalten zu sich selbst, zu anderen und seiner Umwelt als Ganzer denkt. Siehe hierzu Pieper 1999, S. 155.
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erfahren, ein Außenstehender wird niemals diese Erfahrung nachempfinden können69 – dies werden wir noch in extenso in Kapitel 2.3 im Rahmen der Kierkegaardschen Anthropologie thematisieren. Es geht um den Einzelnen als Einzelnen. Die Subjektivität, die Innerlichkeit, die Tatsache, dass man ein Existierender ist, aufheben zu wollen, stellt für Kierkegaard eine Selbsttäuschung dar, die wiederum in einer Vielzahl an Textstellen in sarkastisch zugespitzten Kritiken an Hegel ihren Höhepunkt erreicht. So heißt es 1844 etwa in seinen Journalen: „Falls Hegel seine ganze Logik geschrieben und im Vorwort gesagt hätte, dass es nur ein Gedankenexperiment sei, in dem er sich obendrein an vielen Stellen vor etwas gedrückt hätte, so wäre er wohl der größte Denker, der gelebt hat. So ist er komisch“.70 Komisch ist Hegel nach Kierkegaard, da er eben nicht bei der Logik als reiner Vernunftwissenschaft und negativer Philosophie stehengeblieben ist, sondern mit ihr einen Anspruch auf die Erkenntnis des Wirklichen erhoben habe, und somit begehe Hegel eine Sphärenvermischung. Entweder hätte Hegel, wie Kierkegaard offenbar meint, auf seinen Systemanspruch als solchen verzichten müssen oder aber zumindest auf seinen Anspruch, ein System des Daseins (der Existenz) entfalten zu wollen. Dann hätte er es aber in letzter Konsequenz bei einem daseinsunabhängigen logischen System belassen müssen: „Faktisch und inkonsequenterweise aber präsentiert Hegel seine Logik als System des Daseins.“71 Insofern wir in der Logik mit Notwendigem konfrontiert werden, kann sie das Dasein, die Wirklichkeit, nicht assimilieren, da zu dieser das Zufällige wesentlich dazugehört.72 Es ist genau diese Hegel-Kritik, die Kierkegaard von Schellings Berliner Vorlesungen her kannte, die er ja 1841 selbst in Berlin hörte, und von ihm übernahm bzw. an diese anschloss. In seinen Vorlesungsmitschriften lesen wir dazu: „Am || 69 Um dies besonders deutlich hervorzuheben, zieht Figal 1994, S. 166f. eine Parallele zu Thomas Nagels berühmten Aufsatz „What Is It Like to Be a Bat?“ (vgl. Nagel 1974). Für uns ist es trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse unmöglich, zu wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Ebenso unzugänglich bleibt uns die Erfahrung, wie es für einen anderen ist, dieser unverwechselbare Einzelne zu sein. So betont auch Pieper 1999, S. 163, dass der Individuationsprozess „auf die je besondere, unableitbare und durch keinen Stellvertreter zu erbringende Identitätsfindung des Subjekts“ abzielt. 70 SKS 18, 224f., JJ:265 / DSKE 2, 232. 71 Schulz 2011, S. 315. 72 Vgl. SKS 4, 318 / BA, 7. Kierkegaard geht in seiner Einleitung zu Der Begriff Angst (vgl. SKS 4, 317–331 / BA, 6–21) ausführlich auf Hegels Wissenschaft der Logik ein. Kern seiner Kritik ist dabei, dass Hegel die Wirklichkeit im Bereich der Logik thematisiere. Schulz 2020, S. 178 fasst Kierkegaards Logikverständnis wie folgt zusammen: „[L]ogic exclusively operates within the realm of necessity as a pure form of ideality, as opposed to actuality“.
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Anfang hat Hegel selbst eine Ahnung davon gehabt, dass das Logische doch bloß das Negative war, aber später, als der Drang zum Positiven größer wurde, vergaß er dies, und ließ nun das Logische das Wirkliche werden.“73 Somit wurde seine Philosophie zu einem „dogmatischen System“.74 Die 1844 in den Journalen formulierte Kritik an Hegel entspricht derjenigen, welche er während der Vorlesungen 1841 bei Schelling vernahm. Schelling macht seinerseits Hegel das Vermischen der Sphären des bloß Logischen und des Wirklichen zum Vorwurf. Ebendies stellt auch Philipp Schwab heraus: „Gegen Hegel das Eigenrecht einer Sphäre des Wirklichen und der Existenz einzuklagen, die von dem Begriff und dem Logischen nicht erreicht werden kann – darin liegt Kierkegaards Anknüpfungspunkt an Schellings Berliner Vorlesung.“75 Hegel habe vergessen, was es heißt, ein einzelner existierender Mensch zu sein. Für Kierkegaard ist es eine Selbsttäuschung, das Leben sub specie aeternitatis, also vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachten zu wollen, wo man doch qua Existierender zwangsläufig der Zeitlichkeit verhaftet bleibt. Einen sogenannten rein objektiven Standpunkt einnehmen zu können, muss illusorisch bleiben, da jeder Standpunkt zwangsläufig subjektgebunden ist. Zu behaupten, der Mensch könne einen solchen Standpunkt einnehmen – wie Hegel das Kierkegaard zufolge tut –, kommt für ihn einer betrügerischen Position gleich, die er mal als theozentrischen, mal göttlichen, mal objektiven, mal sub specie aeterni oder als Standort außerhalb der Existenz beschreibt.76 „Kierkegaard counters: every standpoint is in fact not neutral but biased, not objective but subjective, not angelic but human and finite.“77 Hegel habe zwar recht, wenn er eine nicht mehr wegzudenkende, absolute Sache fordere, mit der anzufangen sei. Dabei vergesse er aber, dass „dadurch, daß der Einzelne da ist, immer schon angefangen worden ist…Das Dasein drängt sich somit immer schon als das zufällig-notwendige Faktum auf, durch das man bewegt ist und auf das man sich handelnd eigens einlassen muß.“78 Es ist daher
|| 73 SKS 19, 317, NB11:12 / DSKE 3, 348. 74 SKS 19, 315, NB11:11 / DSKE 3, 345. 75 Schwab 2013, S. 17. 76 Vgl. Fujino 1994, S. 108f. 77 Mackey 1971, S. 266. Dem werden wir in Kapitel 3.1 dieser Arbeit wiederbegegnen, wo sich zeigt, dass dieser erkenntnistheoretische Standpunkt ebenso zentral für Nietzsches Metaphysikund Erkenntniskritik ist. 78 Schäfer 1968, S. 111. Schon Höffding 1922, S. 69 hebt dies in seinem Kierkegaard-Buch hervor: „Die spekulative Philosophie, die alles zu erklären wähnte, hat vergessen, daß der Urheber des Systems, so unbedeutend er auch sein mag…, selbst doch auch mit zu dem Dasein gehört, das erklärt werden soll, und daß er ja mit seiner Existenz nie fertig ist.“
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dem Menschen unmöglich, einen objektiven, außerweltlichen und damit gottgleichen Standpunkt einzunehmen – solch eine Behauptung zeugt von Selbstüberschätzung und falscher Anmaßung. Als Existierender bin ich immer schon da und kann somit nicht über mich hinauskommen oder hinter meinen Standpunkt als Existierender zurücktreten, denn das hieße wiederum, mich gleichsam wegzudenken, von meiner Existenz zu abstrahieren. Hierin manifestiert sich die Unhintergehbarkeit der eigenen Subjektivität: „Ich kann mich selbst umsegeln; aber ich kann nicht über mich hinauskommen, den archimedischen Punkt vermag ich nicht zu entdecken.“79 Hier kommt das Dilemma zum Ausdruck, dass es ein System der Existenz erst dann geben kann, wenn die Existenz abgeschlossen ist. Das hieße jedoch, dass der Existierende nicht mehr existiert, da Existieren bedeutet, im Werden und in der Zeit und somit stets unfertig zu sein.80 Kierkegaard stellt in einem resignierend klingenden, aber anerkennenden Ton fest: „[I]ch bin nur ein armer existierender Mensch, der das Ewige weder ewig noch göttlich noch theozentrisch betrachten kann, sondern sich damit begnügen muß, zu existieren.“81 Einmal mehr wendet sich Kierkegaards Ansatz gegen das Hegelsche Philosophieverständnis als solches. Dessen Denken bezeichnet er als „kalte Philosophie“, die das Ganze aus einer „Präexistenz“ heraus erklären möchte und die Existenz nicht als „eine unendliche Lebensmalerei mit ihrem bunten Farbenspiel und ihren unzähligen Nuancierungen“82 anerkennt. Kierkegaards Denken ist eines, das die Existenz zum zentralen Thema macht, und somit kann seine Philosophie niemals abgeschlossen und ‚fertig‘ sein. Hegel hingegen sieht jede Philosophie als „in sich vollendet“ und die „Totalität in sich“83 fassend an. Erneut kann auf Schelling als Vorläufer einer solchen Hegel-Kritik verwiesen werden, insofern auch er exponiert, „dass die Philosophie als Vernunftwissenschaft niemals das Existieren zu erreichen vermag, allein schon deshalb nicht, da sie dieses selbst bereits ,unvordenklich‘ in sich trägt.“84 Daher Schellings Vorhaben, die negative Philosophie als reine Vernunftwissenschaft um eine positive Philosophie zu ergänzen, die sich dem Bereich des Wirklichen annimmt. Die Wirklichkeit umfasst dabei im Schellingschen Sinne jedoch, wie bereits angerissen, die Existenz aller empirischen Dinge. Anzumerken ist aber, dass Kierkegaard im Unterschied
|| 79 SKS 4, 57 / W, 59. 80 Vgl. Höffding 1922, S. 69. 81 SKS 7, 194 / AUN1, 204. 82 SKS 17, 23, AA:12 / DSKE 1, 23. 83 Hegel 1970a, S. 19. Vgl. hierzu auch Vető 2019, S. 13. 84 Schmied-Kowarzik 2014, S. 30.
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zu Schelling den Begriff der Wirklichkeit auf die konkrete, einzelne Existenz des Menschen zuspitzt und jene als Singularität und Interesse bestimmt, wodurch er Schellings Hiatus verschärft. Darin bestehe der wesentliche Grund, warum auf die ursprüngliche Begeisterung für Schelling die absolute Ernüchterung und Enttäuschung folgte, so Schwab.85 Kierkegaard nahm an, dass Schelling den Begriff ,Wirklichkeit‘ in seinem eigenen engen Sinne verstand und musste demnach enttäuscht werden.86 Hier zeigt sich auch, dass Kierkegaard selbst durchaus über weite Strecken in den Begrifflichkeiten des Deutschen Idealismus philosophiert, dabei denselben Begriffen aber ein nahezu konträres Bedeutungsspektrum zuschreibt, was, wie sich zeigt, zu Missverständnissen bei ihm selbst und naturgemäß auch bei seinen Lesern führen kann. An Kierkegaard lässt sich somit durchaus kritisieren, dass es sicherlich vor dem Hintergrund seiner intendierten Wende hin zum Einzelnen förderlicher gewesen wäre, eine neue Terminologie einzuführen und explizit zu machen. Seine spezifisch existenzphilosophische Akzentuierung erhält der Begriff ,Wirklichkeit‘ nämlich erst bei Kierkegaard selbst.87 Nur deshalb kann Kierkegaard in seinen Mitschriften zu den Schelling-Vorlesungen zu dem Schluss kommen: Das Reich der Wirklichkeit sei noch nicht vollendet.88 Vollendet ist es deshalb nicht, weil Kierkegaard den Überlegungen Schellings seinen eigenen Wirklichkeitsbegriff unterschiebt. Das Abstrahieren von der eigenen Existenz, diese, für Kierkegaard, Unmöglichkeit zu vergessen, dass man ein Existierender ist, begegnet uns ihm zufolge auch schon im Cartesischen Cogito. Seine Kritik daran trägt zur Verdeutlichung seines eigenen Ansatzes bei und sei deshalb hier kurz dargelegt. Die Bezugnahme
|| 85 Vgl. Schwab 2013, S. 18. Dass Schelling Kierkegaards Erwartungen letztlich unerfüllt ließ, belegt u.a. die bekannte Stelle aus einem Brief, den Kierkegaard an seinen Bruder schrieb: „Schelling salbadert ganz unerträglich…In Berlin habe ich mithin nichts mehr zu schaffen. Meine Zeit gestattet mir nicht, tropfenweise einzunehmen, wo ich schwerlich den Mund aufmachen würde, um alles auf einmal zu schlucken. Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten. Seine ganze Potenzenlehre bekundet die höchste Impotenz.“ (SKS 28, 18, Brev 4 / B, 104f.). 86 „One can imagine the young Kierkegaard in Berlin, attentively listening to Schelling’s lectures, when he heard the word ,actuality‘ mentioned. It was already a loaded term for him, and he expected Schelling to develop it not in accordance with his own philosophy but in direction of the meaning that Kierkegaard had already established for it. When this did not happen, he was disappointed“, so Stewart 2012, S. 93. 87 Das konstatiert auch Schwab 2014b, S. 97. 88 Vgl. SKS 19, 327, NB11:18 / DSKE 3, 359. Unter diesem Motiv geht Schwab 2014b der Kierkegaardschen Hegel-Kritik im Anschluss an dessen Vorlesungsmitschriften ausführlich nach.
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auf das Cogito ist unverkennbar, wenn es heißt, dass zu seiner Zeit vorschnell und nur auf dem Papier abstrahiert werde, ebensowie man ein für allemal im Druck an allem zweifelt…während es fast niemals jemand einfällt, sich selbst daran zu versuchen, existierend die Forderung, die die Aufgabe stellt, zu realisieren. Auf diese Weise kann man leicht mit allem fertigwerden und dazu kommen, voraussetzungslos anzufangen. Die Voraussetzung zum Beispiel, an allem zu zweifeln, würde ein ganzes Menschenleben in Anspruch nehmen, nun dagegen ist es so schnell getan, wie es gesagt ist.89
Kierkegaards Kritik am Cogito-Argument des Descartes an dieser Stelle der Nachschrift lässt sich kurz folgendermaßen resümieren: Wenn das Cogito die Existenz eines einzelnen, individuellen Menschen beweisen wollte, so beweise dieser Satz nichts. Aber Descartes geht es ja, wie Kierkegaard korrekt bemerkt, nicht um den Beweis der Existenz der Person ,Descartes‘ als historische, kontingente und empirisch belegbare Entität, sondern um die Existenz eines reinen Ich. In diesem Falle wäre der Schluss, so Kierkegaard, jedoch eine Tautologie, da das reine Ich nur eine Gedankenexistenz haben könne.90 „[A]ber warum verwechselte man Gedankenrealität mit Wirklichkeit? Gedankenrealität ist Möglichkeit und das Denken hat nur jede weitere Frage, ob das nun wirklich sei, abzuweisen.“91 Einem reinen Ich kann nur Gedankenrealität, nicht aber Wirklichkeit zukommen. Da das Denken von der Wirklichkeit, im Sinne des Kierkegaardschen Verständnis einer realen und empirisch erfassbaren Wirklichkeit, abstrahiert, ist es für Kierkegaard ein Widerspruch, vom Denken auf die Existenz zu schließen. Kritisch hinterfragen ließe sich jedoch, ob Kierkegaard die Intention des Cartesischen Cogito letztlich in Gänze erfasst hat. Denn zum einen hat für Descartes dieses reine Ich, die res cogitans, keine bloße Gedankenexistenz, sondern ist eine an sich existierende, immaterielle Substanz. Zum anderen versteht Descartes selbst das Cogito nicht als einen logischen Schluss, sondern als eine einfache, selbstevidente Intuition des Geistes.92 Innerhalb des Kierkegaardschen Œuvres ist jedoch deutlich, worauf seine Kritik abzielt und welchen Zweck diese verfolgt. Es geht ihm einmal mehr um die Verdeutlichung des Paradoxes des objektiven Denkens, von der eigenen Existenz abstrahieren zu wollen und somit einen vermeintlich objektiven, voraussetzungsfreien Standpunkt einnehmen zu können.
|| 89 SKS 7, 289 / AUN2, 19. 90 Vgl. SKS 7, 289 / AUN2, 18. 91 SKS 7, 299 / AUN2, 31. 92 Auf die entsprechende Äußerung Descartesʼ macht Perler 2006, S. 140 aufmerksam.
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Als positiver Gegenpol zur neuzeitlichen Philosophie, in der ad hoc auf dem Papier an allem gezweifelt werde, dient ihm erneut die Antike: „In Griechenland war man doch aufmerksam darauf, was existieren heißt. Die skeptische Ataraxie war daher ein Existenzversuch, vom Existieren zu abstrahieren.“93 Hier scheint ihm die Pyrrhonische Skepsis den Hintergrund zu liefern, über deren Vertreter Diogenes Laertius berichtet, sie „bezeichnen die Urteilsenthaltung als das höchste Ziel, dem die Ataraxie wie ein Schatten folge“.94 Erkenntnistheorie und Lebenspraxis sind dort miteinander verwoben. Die Unmöglichkeit, einen solchen objektiven Standpunkt einzunehmen, wird zum Leitmotiv der Existenzphilosophie werden. Ihre Kritik, es sei gänzlich unmöglich, sich auf einen göttlichen Standpunkt zu stellen, trifft dasjenige, was in der Phänomenologie Maurice Merleau-Ponty als „pensée de survol“,95 als wissenschaftliches Denken bzw. ein Denken des Gegenstandes im Allgemeinen bezeichnet. Ähnlich spricht Richard Rorty von einem Streben der traditionellen abendländischen Metaphysiker nach einem „Gipfelblick“,96 der es uns ermöglicht bzw. ermöglichen soll, die Einheit hinter den Erscheinungen zu erfassen. In verblüffender Ähnlichkeit zu Kierkegaard und auch zu Nietzsche wird Peter Wust später die Ansicht vertreten, dass man nicht richtig philosophiert, wenn „man so objektiv und ,voraussetzungsfrei‘ denkt, daß man vor lauter Objektivität übersieht, daß es ein Mensch, ein durch seine Geschichte und Biographie determinierter Mensch ist, welcher philosophiert und nicht ein frei schwebendes ,Bewußtsein überhaupt‘.“97 Für Wust besteht der große Irrtum der neuzeitlichen Philosophie darin, more geometrico zu philosophieren und so alles Menschliche aus der Philosophie qua Abstraktion verbannen zu wollen: „An die Stelle des konkreten Subjekts sollte, so sah es Kant, ein abstraktes Idealsubjekt treten, ein Subjekt als ,Bewußtsein überhaupt‘.“98 Für Wust und die Existenzphilosophie im Allgemeinen gehört der konkrete und lebendige Mensch jedoch zwangsläufig zum Wesen der Philosophie, und das „Kardinalproblem der existentiellen Philosophie“
|| 93 SKS 7, 289 / AUN2, 19. 94 Diogenes Laertius 2004, S. 452 (IX, 107). 95 Siehe Merleau-Ponty 2003, S. 277. Aho 2014, S. 19 setzt Merleau-Ponty und den Existenzialismus diesbezüglich in eine Verbindung zueinander: „One of the enduring contributions of existentialism has been its critique of what Merleau-Ponty called ,high-altitude thinking‘“. Oft wird Merleau-Ponty durch seine Bekanntschaft zu und seinen Austausch mit Sartre mit dem Existenzialismus in Verbindung gebracht. 96 Rorty 1992, S. 162. Siehe hierzu auch Gantschow 2011, S. 102. 97 Lohner 2014, S. 46. 98 Wust 1965, S. 332. Siehe auch ibid., S. 360f.
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kommt in der Problematik zum Ausdruck, „in welchem Sinne der konkrete lebendige Mensch als Funktion der Philosophie zu betrachten ist.“99 So ist für Kierkegaard das ,Wesentliche‘ des Menschseins nicht die objektive Erkenntniswahrheit, sondern die Wahrheit des Existierens, die sich in der Subjektivität und Innerlichkeit konstituiert: Von diesem Standpunkt lehnt er rationalistische Denkströmungen und das Systemdenken im Deutschen Idealismus ab, vor allem die Systemphilosophie Hegels. Diese Strömungen machen den Menschen bloß als Verstandes- und Vernunftwesen zum Gegenstand der philosophischen Reflexion. Der Mensch ist nicht nur ein ,Denker‘, sondern ein ,subjektiv existierender Denker‘.100
Für Kierkegaard ist der Mensch primär ein Existierender – für Hegel hingegen ist der Mensch vor allem ein Denkender und geht letztlich sogar ganz im Denken auf, wie es expressis verbis in der Wissenschaft der Logik heißt: „Die Bestimmung des Menschen ist die denkende Vernunft: Denken überhaupt ist seine einfache Bestimmtheit…; der Mensch selbst ist Denken“.101 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Hegel und Kierkegaard tritt schon in ihrem jeweiligen Verständnis von Philosophie in Erscheinung. Hegel fasst die Philosophie als Wissenschaft auf, welche die absolute, ganze Wirklichkeit unter Kriterien der Objektivität zu erkennen und zu erfassen beansprucht und vom Einzelnen abstrahieren muss. Dies komme der Forderung gleich, so Hegel in der Phänomenologie des Geistes, „die Menschen aus der Versunkenheit ins Sinnliche, Gemeine und Einzelne herauszureißen und ihren Blick zu den Sternen aufzurichten…Wer nur Erbauung sucht,…mag zusehen, wo er diese findet…Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“102 Die Philosophie des Deutschen Idealismus folgt demnach, wie Miklós Vető in Bezug auf Fichte konstatiert, der für die wissenschaftliche Untersuchung traditionell geforderten Objektivität, die eine „Ausklammerung der Person, ja, des Ichs des Forschers“103 verlangt, ist sie doch auf der Suche nach Informationen im Allgemeinen. Ein Philosophieren ohne System ist für Hegel nichts Wissenschaftliches und bloßer Ausdruck einer „subjektive[n] Sinnesart“104 – was bei ihm durchaus abwertend gemeint ist.
|| 99 Ibid., S. 333. 100 Salamun 2012, S. 88. „[T]he reasoning capacity is a necessary, but not a suffient condition of possibly being human“, so Schulz 2020, S. 180. Wie wir noch sehen werden, kritisieren auch Nietzsche und Camus die Systemphilosophie auf eine ähnliche Art und Weise. 101 Hegel 1986b, S. 132. 102 Hegel 1986a, S. 16f. Vgl. dazu auch Banser und Bode 2018, S. 15. 103 Vető 2019, S. 390. Dort wird sich vor allem auf Fichtes Wissenschaftslehre bezogen. 104 Hegel 1970a, S. 60.
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Kierkegaard sieht in dieser Ausklammerung der Person hingegen eine negativ zu bewertende Tendenz seiner Epoche: „Jedoch in unsrer Zeit läßt man alles abstrakt werden und schafft alles Persönliche ab“.105 Er hebt den erbaulichen Charakter gerade als einen zu fördernden hervor. Er verfasst selbst sogenannte Erbauliche Reden wie wir in Kapitel 2.5 unter methodologischen Gesichtspunkten noch sehen werden. Vom Einzelnen soll und kann nicht abstrahiert und der Blick nicht zu den Sternen gerichtet werden, sondern der Einzelne, der Existierende, wird zum zentralen Gegenstand philosophischer Reflexion. Philosophie richtet ihren Blick auf das Hier und Jetzt und nicht zu den Sternen. Das Erbauliche wird zu einer genuin philosophischen Aufgabe.106 Ein Ausnehmen der Person ist somit schlicht nicht möglich – dies wird sich ebenso in der Philosophie Nietzsches als wesentlich herausstellen. Durch das Erbauliche grenzt Kierkegaard sich vom spekulativen und bloß theoretischen Philosophieren ab, dadurch wird sein ganzes Werk in diesem Sinne anti-spekulativ und anti-hegelianisch, d.h. zugleich existenziell und persönlich.107 Interessanterweise bemerkt Kierkegaard selbst Hegels, seiner Meinung nach, verwunderliche Abneigung gegenüber dem Erbaulichen. So notiert er in sein Tagebuch: „Es ist merkwürdig mit dem Haß, den Hegel auf das Erbauliche hat, der überall hervorsticht; aber das Erbauliche ist kein Betäubungsmittel, welches einschläfert, es ist das Amen des endlichen Geistes und ist eine Seite der Erkenntnis, die nicht übersehen werden darf.“108 Bei Kierkegaard findet in umgekehrter Bewegung somit eine Wende zum Subjekt als einzelnem Existierenden statt. Mit Max Bense gesprochen erfährt Hegels Philosophie dort ein existenzielles Korrektiv: „[D]ie Interpretation, die Hegels philosophische Literatur in der Literatur Kierkegaards gewonnen hat, ist die Interpretation in einem existierenden Korrektiv und seiner komplementären Sprache.“109 Aus terminologischen Gesichtspunkten lässt sich hiernach anmerken, dass Kierkegaard gewissermaßen den Begrifflichkeiten Hegels verhaftet bleibt, sie jedoch in eine andere Ausdrucksform transferiert, die der systematisierenden Darstellung entgegensteht. Dass Versuche eines radikalen Neuanfangs in
|| 105 SKS 12, 129 / EC, 125. 106 Zur Funktion des Erbaulichen bei Kierkegaard gerade in Anbetracht zu dessen Unterschied zum Denken Hegels siehe Vergote 1997, insbesondere S. 183–189. 107 Vgl. Harbsmeier 1996, S. 299 für den der Begriff des Erbaulichen dadurch weitaus philosophischer wird und nicht streng theologisch bleibt. 108 SKS 27, 236, Papir 264:6 / T 1, 229f. 109 Bense 1948, S. 8. Ringleben 2017, S. 52 betont, dass sich Kierkegaard allgemein als jemand verstand, der ein „Korrektiv zum Bestehenden“ darstellen wollte. Das Motiv eines existenziellen Korrektivs im Verhältnis zu der vorherrschenden Philosophie der damaligen Zeit findet sich auch in Kierkegaards Äußerungen zur Ethik. Siehe hierzu Kapitel 2.4 dieser Arbeit.
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der Philosophie immer an ein gewisses begriffliches Grundrepertoire gebunden bleiben, bemerkt auch Hannah Arendt in Bezug auf den für uns relevanten Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, wobei sie Marx und Nietzsche in den Mittelpunkt stellt und konstatiert: „Es liegt in der Natur des berühmten Auf-die-FüßeStellens philosophischer Systeme oder gängiger Wertungen, daß der begriffliche Rahmen, in dem sich diese Umwertungen vollziehen, nahezu vollständig intakt bleibt.“110 Die Hauptursache dafür, dass System und Existenz einander ausschließen, liegt darin, dass das Denken stets in der Sprache der Abstraktion gewissermaßen ‚gefangen‘ bleibt. System und Existenz gehören zwei unterschiedlichen, miteinander unvereinbaren Sphären an: Denken und System dem Bereich der Möglichkeit, Existenz und Dasein dem Bereich der Wirklichkeit. Denken und Sein (als faktisches Sein) können nicht in eine Einheit gebracht werden, und ein System des Daseins kann es in diesem Sinne nicht geben, denn Letzteres „has its conditio sine qua non in the possibility of symmetry or full correspondence between those two domains.“111 In der Nachschrift wird demgemäß gefolgert: „a) e i n l o g i s c h e s S y s t em k a n n e s g e b e n ; b) a b er e i n S y s t em d e s D a s e i n s k a n n e s n i c h t g e b e n .“112 Dadurch kann, so Kierkegaards These, die Schwierigkeit der Existenz mittels des reinen Denkens nie erschlossen werden. Da das abstrakte Denken vom Standpunkt der Ewigkeit ausgeht, sieht es vom Konkreten, von der Zeitlichkeit ab. Die Not des Existierenden kann somit nicht erfasst werden.113 Der einzelne Existierende aber ist, so Kierkegaards anthropologischer Standpunkt, zusammengesetzt aus Ewigem und Zeitlichem, in die Existenz hineingestellt bzw. geworfen. Direkt auf der ersten Seite seines anthropologischen Hauptwerks, Die Krankheit zum Tode, findet sich folgende Typisierung des Menschen: „Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis.“114 Simplifizierend ließe sich festhalten, der Mensch ist eine Synthese von Seele und Leib – beide Relata müssen berücksichtig werden. Diese Einheit bildet der Geist, der bei Kierkegaard gerade nicht als dem Leiblichen entgegengesetzt gedacht wird. Vielmehr gehört – was mitunter prima facie paradox klingen mag – die
|| 110 Arendt 2019, S. 27. Die These eines Bruchs im Denken des 19. Jahrhunderts wurde von Karl Löwith prominent vertreten und geht auf ihn zurück. Siehe dazu Löwith 1995. Wir werden auf diese These noch häufiger zu sprechen kommen. 111 Da Silva 2015, S. 20. 112 SKS 7, 105 / AUN1, 101. Vgl. auch SKS 7, 304 / AUN2, 37. 113 Vgl. SKS 7, 274 / AUN2, 1. 114 SKS 11, 129 / KT, 8.
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Leibhaftigkeit unabdingbar zum real existierenden Geist dazu.115 Hier deutet sich schon an, dass Geist bei Kierkegaard nicht synonym zu Seele verwendet wird. Geist konstituiert die Einheit von Seele und Leib und wird als das Selbst des Menschen verstanden, jedoch stets als ein konkretes und nicht als ein abstraktes Selbst oder im Sinne einer Cartesischen res cogitans. Dies wird deutlich werden, sobald wir uns seiner Anthropologie zuwenden.116 Kierkegaard bezieht die endliche Verfasstheit des menschlichen Daseins als eine Bedingung der Möglichkeit des Existierens überhaupt mit ein.117 Ein philosophisches System kann demnach niemals bis zur Existenz vordringen, da sich die Existenz außerhalb des Systems befindet. Kierkegaard selbst weiß, dass „es unmöglich ist, ‚das System‘ von einem Punkte her anzugreifen, der innerhalb des Systems liegt. Aber es gibt nur einen, allerdings samenartigen Punkt außerhalb des Systems: den Einzelnen, sofern man den Ton des Ethischen und Religiösen, des Existentiellen auf ihn legt.“118 Demnach handelt es sich nicht um eine immanente Kritik an der Philosophie Hegels – der vorliegenden Arbeit geht es somit nicht darum, Kierkegaards Hegel-Kritik en détail auf Adäquatheit hin zu überprüfen, sondern darum, ihre Bedeutung für die Entwicklung der Existenzphilosophie aus dem Geiste Kierkegaards zu exponieren. Die Abstraktion lässt das Einzelne, der Zeitlichkeit Verhaftete, das zur Wirklichkeit de facto dazugehört, außen vor. „Die Existenz unter der Form der Ewigkeit…und in der Abstraktion denken, heißt, sie wesentlich aufheben“;119 Existenz lässt sich nicht ohne Bewegung und Bewegung wiederum nicht sub specie aeternitatis denken. Alles Denken ist ewig; denke ich die Existenz, so hebe ich sie auf. „Da könnte es wohl richtig scheinen zu sagen, daß es etwas gibt, was sich nicht denken lässt: das Existieren. Aber da ist die Schwierigkeit wiederum, daß die Existenz es dadurch zusammen setzt, daß der Denkende existiert“,120 so Kierkegaard. Der Herrschaft des Denkens ist nicht durch das Denken selbst zu entkommen. Will man mit Kierkegaard dem allen Denken – nicht im zeitlichen, sondern im logischen Sinne – vorausgehenden ,Dass‘ gerecht werden, so geht das nur durch eine Verabschiedung des Denkens.121 Wie das genau aussehen soll, wird noch unter methodologischen Aspekten in Kapitel 2.5 zu klären sein.
|| 115 Vgl. Dietz 1993, S. 101. 116 Siehe hierzu Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 117 Vgl. Birkenstock 2008, S. 89. 118 SKS 16, 99 / GWS, 113. Vgl. hierzu auch Schwab 2012, S. 41. 119 SKS 7, 281 / AUN2, 9. 120 SKS 7, 281 / AUN2, 9. 121 Vgl. Schmidinger 1983, S. 378.
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Gerhard Gamm konstatiert in diesem Zusammenhang: „Die konkrete Einzelexistenz kann nicht gedacht werden, weil sie sich ständig ändert. Jeder steckt in immer neuen Situationen, in immer anderen Lebensvollzügen; dergestalt ist es für das begriffliche, abstrakte Denken gar nicht möglich, den Fluss, in dem sich die konkrete Existenz bewegt, zu erfassen.“122 Hier zeigt sich meines Erachtens erneut ein gemeinsamer Nenner zwischen Lebens- und Existenzphilosophie. Beide kritisieren, dass das per definitionem abstrakte Denken, das Werden, den Fluss der Dinge – beides Konstituenten der Existenz und des Lebens –, nicht erfassen kann, da es immer nur im Modus des Begrifflichen, des Bleibenden operiert. Abstrahieren meint ja eben genau, vom Singulären und Konkreten abzusehen, um Erkenntnisse über das Allgemeine zu erlangen. Der Mensch ist einerseits ein konkretes und sinnliches Wesen, andererseits operiert er, wenn er denkt, zwangsläufig im Modus der Abstraktion. Hier hinter verbirgt sich die schon erwähnte ‚Bestimmung‘ des Menschen als Synthesis des Zeitlichen und Ewigen. Unter Rekurs auf jenes Motiv gelangt auch Gamm zu der Feststellung: „Dabei liegt das Sein des Existierenden im inter-esse, im Dazwischen-Sein: zwischen Endlichem und Unendlichem, Sinnlichem und Denkendem, dem Willentlichen und dem Getriebenwerden, es ist eine Synthese, die ständig neu hergestellt und ausbalanciert werden muss.“123 Wie sich zeigen wird, kann nur der subjektive Denker dieser Syntheseleistung nachkommen. Dass Kierkegaards Abstraktionskritik zugleich eine Idealismus-, System- und Intellektualismuskritik ist,124 dürfte mittlerweile mehr als deutlich geworden sein. Die Existenz kann durch das reine Denken nicht hinreichend erschlossen werden, da sie gerade durch Letzteres aufgehoben wird. Hier greift seine Kritik am idealistischen Grundsatz der Identität von Denken und Sein. So bemerkt Kierkegaard, dass in Bezug auf die Existenz „gilt wohl umgekehrt [d.h. im Gegensatz zur bloßen Idee-Existenz]: weil ich da bin und denkend bin, deshalb denke ich, daß ich bin. Die Existenz scheidet hier die ideelle Identität von Denken und Sein; ich muß existieren, um denken zu können, und ich muß denken können (z.B. das
|| 122 Gamm 2009, S. 28f. 123 Ibid., S. 30. Oder wie es Müller-Schwefe 1961, S. 22 zusammenfasst: „Der Mensch ist im Inter-esse. Seine Existenz ist die Aufgabe, die Spannungen von Unendlichkeit und Endlichkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit, Freiheit und Notwendigkeit zu konkretisieren. Er steht nicht als das Subjekt darüber; er steht auch nicht als ihr Gegenstand und Objekt darunter. Er steht im Inter-esse.“ 124 Swenson 1983 widmet ein ganzes Kapitel dem Anti-Intellektualismus Kierkegaards. Vgl. hierzu ibid., S. 135–158. Für Swenson ist Kierkegaard sogar der erste Kritiker des Intellektualismus, der alle Brücken hinter sich abbricht und seine Kritik in eine „clear and dialectical formulation“ bringt (ibid., S. 142).
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Gute), um darin zu existieren.“125 „Der philosophische Satz von der Identität von Denken und Sein“, so führt Kierkegaard weiter aus, „ist gerade das Entgegengesetzte von dem, was er zu sein scheint; er ist Ausdruck dafür, daß das Denken ganz und gar die Existenz verlassen hat“.126 Die Tatsache, dass ich von mir selbst abstrahiere und von mir selbst abstrahieren kann, ist für Kierkegaard gerade ein Beleg dafür, dass ich zugleich existiere.127 Existenz ist für Kierkegaard dasjenige, was zu einem nicht mehr zu schließenden Bruch der idealen Identität von Denken und Sein, von Idealität und Realität führt. Das Gedachte trägt immer schon das Siegel eines existierenden Individuums. „Was ist denn die Unmittelbarkeit? Es ist die Realität. Was ist die Mittelbarkeit? Es ist das Wort. Auf welche Weise hebt diese jene auf? Indem sie sie ausspricht; denn das was ausgesprochen wird, ist stets vorausgesetzt. Die Unmittelbarkeit ist die Realität, die Sprache ist die Idealität“.128 Diesen Unterschied nicht zu berücksichtigen, führt zum Vorwurf der ,Existenzvergessenheit‘, den Kierkegaard gegenüber den Philosophen der idealistischen Schulen erhebt. Dass das Gedachte vom denkenden Subjekt nicht zu trennen ist, bezeichnet Nietzsche später als den ‚Lebenskeim‘ einer philosophischen Behauptung: Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist.129
Bei Nietzsche werden wir noch sehen, inwiefern die Philosophie demnach immer die Philosophie einer Person ist. Mit Kierkegaard gesprochen: Das Gedachte trägt immer schon die Züge desjenigen Existierenden, der es denkt. Nahezu ein Jahrhundert später formuliert der französische Existenzialist Albert Camus eine ähnliche Kritik an jenem Grundsatz der Identität von Denken und Sein in Bezug auf Parmenidesʼ Theorie der Einheit alles Seienden in verblüffender Ähnlichkeit zu Kierkegaard: Wenn wir den Abgrund zwischen Begehren und Erfüllung überspringen und mit Parmenides die Wirklichkeit des ,Einen‘…behaupten, dann geraten wir in den lächerlichen Widerspruch eines Geistes, der die totale Einheit behauptet und gerade durch diese Behauptung
|| 125 SKS 7, 301 / AUN2, 33. 126 SKS 7, 302 / AUN2, 34. 127 Vgl. SKS 7, 303 / AUN2, 35. 128 SKS 15, 55 / JC, 155. 129 Nietzsche JGB, 6, KSA 5, S. 19f. Vgl. hierzu King 1986, S. 10.
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sein eigenes Anderssein und die Mannigfaltigkeit beweist, die er angeblich aufgehoben hat.130
Für Camus suggerieren metaphysische Systeme, wie zum Beispiel Parmenidesʼ Theorie der Einheit alles Seienden, eine Konsistenz, die zwar für den Menschen wünschenswert wäre, da sie seine Sehnsucht und sein Verlangen erfüllen würde, aber de facto die Bedingungen der menschlichen Existenz negiert bzw. ignoriert, und somit bleiben diese Systeme ohne Bezug zur Realität, zur Wirklichkeit.131 In Hohlenbergs treffendem Resümee zu Kierkegaards Systemkritik schlägt sich zugleich diese Affinität zu Camusʼ Gedankengang nieder: Aber das System verliert dadurch seine Basis, weil niemand es überschauen und persönlich dafür einstehen kann. Wer von einem ‚System‘ reden will, darf ihm nicht selbst angehören. Aber wenn jeder einzelne Mensch, als einzelner genommen, ausserhalb desselben steht, so ist es kein System. Und wenn der, der sich über das System äussert, selbst ein Teil desselben ist, so kann er nicht wissen, ob es nicht möglicherweise mit zum System gehört, dass er zu dem bestimmten Zeitpunkt dessen Existenz annehmen soll.132
Der Argumentationspfad der Kritik läuft also auf die Selbstaufhebung eines Systems des Daseins hinaus. Verallgemeinernd lässt sich für Hiroshi Fujino Kierkegaards Existenzbegriff gewissermaßen ex negativo über den Parmenideischen Seinsbegriff als sein Gegenteil erläutern: „Da ,Sein‘ ist, d. h. es ist weder geworden noch vergänglich, entzieht es sich jeder Veränderung und schließt jede Bewegung von sich aus…Und dies alles gilt für das Existieren des Menschen nicht.“133 Für Kierkegaard führt der Weg der objektiven Wahrheitssuche zu einer Negation der Existenz, ja sogar zu einer Existenzvergessenheit. Der Grund für dieses Vergessen liegt nach Theunissen und Greve „in einer falschen Identifikation von Denken und Sein, von Ewigem und Zeitlichem; in solcher Identifikation nämlich wird das Sein nur als ,gedachtes Sein‘ aufgefaßt und so dasjenige in die Ewigkeit
|| 130 Camus 2011a, S. 30. 131 Vgl. Pieper 1984, S. 116. Solche Metaphysiker begehen nach Camus geistigen bzw. philosophischen Selbstmord, da sie die Rahmenbedingungen ihrer Existenz schlicht leugnen oder verdrängen. Bei Kierkegaard wiederum klingt das wie folgt: „Jeder, der lebt und nicht völlig gedankenlos und zerstreut ist, muss wählen, aber wählt er das Metaphysische, dann begeht er eigtl., geistig verstanden, Selbstmord.“ (SKS 20, 44, NB:42 / DSKE 4, 47). 132 Hohlenberg 2011, S. 407. Siehe auch ibid., S. 175. 133 Fujino 1994, S. 112.
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hineingeschoben, was ihr als Empirisch-Zeitliches gerade entgegensteht.“134 Existenz zu denken bedeutet, von ihr zu abstrahieren, sie gleichsam aufzuheben, ja um mit Kierkegaard zu sprechen, „das gegenwärtig Seiende mit dem Gedanken der Ewigkeit [zu] töten.“135 Die Identifikation von Denken und Sein ist nur im Hinblick auf gedachtes, ideelles Sein realisierbar, nicht aber in Bezug auf faktisches Sein, d.h. auf Existenz. Es ist für das Verständnis von Kierkegaards Werk zentral, dass er zwischen ideellem Sein und faktischem Sein – im Sinne von Existenz – unterscheidet.136 En passant zeigt sich hier, dass es voreilig wäre, Kierkegaard als radikalen Metaphysikkritiker zu bezeichnen, da er, insofern er über das Verhältnis von Denken und Sein reflektiert137 und den Begriff ,Sein‘ gar einer detailreichen Analyse unterzieht, selbst zum Metaphysiker wird. Seine Kritik an der Metaphysik idealistischer Schulen führt nicht zu einer allumfassenden Metaphysikkritik, wie wir ihr noch zuweilen bei Nietzsche und teils bei späteren Existenzphilosophen begegnen werden. In der Identifikation von Denken und Sein wird ‚Sein‘ eben nur als ideelles Sein berücksichtigt. Kierkegaard interessiert sich jedoch primär für das faktische Sein und so kann er sagen: „J e d o c h s o b a ld i c h i d e e l l v o n S e i n s p r e c h e , s p r e c h e i c h n i c h t m e h r v o n S e i n , s o n d e r n v o m W e s e n .“138 ,Sein‘ wird hier als Existenz, d.h. faktisches Sein, verstanden. Dies ist eben diejenige Dimension des Seins, auf die es Kierkegaard ankommt. Hier gilt: „Sein oder Nichtsein. Das faktische Sein ist gleichgiltig gegen die Unterschiedlichkeit aller Wesensbestimmungen“.139 Zentrales Motiv seines Œuvres ist der Einzelne in seinem konkreten Existenzvollzug, somit bleibt für ihn nur der Weg der Subjektivität, der Innerlichkeit. Entgegen Hegels Versuch, das Besondere im Absoluten aufzuheben, wird bei Kierkegaard die Selbstständigkeit und Singularität des Individuellen akzentuiert.140 Für Wilhelm Anz besteht ebenso der gravierende Unterschied zwischen Hegel
|| 134 Theunissen und Greve 2016, S. 36. Kierkegaards Kritik am philosophischen Satz der Identität von Denken und Sein und den unterschiedlichen Bedeutungen von Sein bei Kierkegaard widmet sich ausführlich da Silva 2015. 135 SKS 15, 36 / JC, 133. 136 Vgl. SKS 4, 246 / PB, 39f. Zu dieser Unterscheidung vgl. da Silva 2015, S. 12–15. Dort wird die Unterscheidung von faktischem und ideellem Sein auf die klassische Unterscheidung von actualitas und realitas zurückgeführt. Im Dänischen ist analog von Virkelighed und Realitet die Rede. 137 „There is no doubt that relations between being and thought underlie the whole domain of metaphysics“, so da Silva 2015, S. 3. 138 SKS 4, 246 / PB, 40. 139 SKS 4, 246 / PB, 40. 140 Vgl. Röd 1996, S. 447.
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und Kierkegaard darin, dass in Hegels Konzept der einzelne Mensch nur Wesen hat, insofern er sich mit dem Allgemeinen identisch weiß, bei Kierkegaard hingegen wird diese Identifizierung verworfen: „Sie kann im Reflexionszeitalter den Einzelnen nicht mehr orientieren. Nur wenn der Einzelne dem Allgemeinen unbedingt überlegen ist, kann er sein wahres Wesen, die Freiheit zur Existenz…erreichen“.141 Kierkegaard setzt nun die subjektive Reflexion der bloß objektiven entgegen. Dabei typisiert er die subjektive Reflexion folgendermaßen: Hier wird nun keinen Augenblick vergessen, daß das Subjekt existierend ist, und daß das Existieren ein Werden ist, und daß daher jene Wahrheit von der Identität von Denken und Sein eine Schimäre der Abstraktion ist und in Wahrheit nur ein sehnsüchtiges Verlangen der Kreatur, nicht weil die Wahrheit dies nicht etwa wäre, sondern weil der Erkennende ein Existierender ist und somit die Wahrheit nicht dies für ihn sein kann, solange er existiert.142
Kierkegaards These, die Behauptung der Identität von Denken und Sein sei auf ein sehnsüchtiges Verlangen des Menschen zurückzuführen, weist auf Nietzsches Ansatz voraus, das Vorhandensein metaphysischer Systeme bzw. das Entstehen von Metaphysik überhaupt psychologisierend zu erklären und zu kritisieren. Darauf deutet ein weiterer Passus hin, in dem Kierkegaard darauf rekurriert, dass jener „Drang, etwas Fertiges zu haben“,143 einen Menschen zur Verzweiflung bringen kann. Das Verlangen nach einem alles erklärenden System scheint im Menschen verankert zu sein, und auch Kierkegaard selbst erkennt an, diese „unwiderstehliche Macht“ gespürt zu haben, gleichwohl aber enttäuscht worden zu sein: „Einen solchen Brennpunkt [ein System] habe ich wohl auch gesucht. Sowohl auf dem bodenlosen Meer der Vergnügungen als auch in den Tiefen der Erkenntnis habe ich vergebens einen Ankerplatz gesucht.“144 Gerade das Verlangen nach einem festen Ort, welcher der eigenen Existenz Halt gibt, auf der einen und das Faktum der Ungeborgenheit auf der anderen Seite werden zum Ausdruck des unüberwindbaren Bruchs zwischen Mensch und Welt, welcher zum zentralen
|| 141 Anz 1956, S. 41. 142 SKS 7, 180 / AUN1, 187 (meine Hervorh.). 143 SKS 7, 85 / AUN1, 78 (meine Hervorh.). 144 SKS 17, 26, AA:12 / DSKE 1, 26. Zu Kierkegaards Wissen um die Versuchung des Idealismus angesichts dieses menschlichen Verlangens siehe Anz 1956, S. 60. Eine verblüffend ähnliche Metaphorik hinsichtlich des Scheiterns des menschlichen Verstandes findet sich beim Mitbegründer des amerikanischen Transzendentalismus, Ralph Waldo Emerson, in seinem Essay „Experience“: „Gladly we would anchor, but the anchorage is quicksand.“ (Emerson 1903, S. 55).
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Thema existenzialistischer Philosophie wird – so etwa bei Camus in der Erfahrung der Absurdität. In Entweder/Oder lesen wir: „[N]icht Endliches, nicht die ganze Welt die Seele eines Menschen zu stillen vermag, die Verlangen nach dem Ewigen empfindet.“145 Schließlich bekennt Kierkegaard jedoch: „Es ist das innere Handeln dieses Menschen, seine Gottes-Seite, auf die es ankommt, nicht auf eine Masse von Erkenntnissen“.146 Zu einem vermeintlichen metaphysischen Standpunkt zurückzukehren, dem Drang nach etwas Bleibendem, diesem so schwer zu widerstehenden Verlangen, das dem Menschen innewohnt, nachzugeben, hieße aus Sicht der radikalen Subjektivität, aus der Bewegung der Existenz herauszutreten, ihr zu entfliehen und jenseits der Existenz Rettung zu suchen,147 woran ein Existierender zwangsläufig scheitern muss. Doch kommen wir nun zu Kierkegaards zunächst etwas irritierend anmutender These, dass die Subjektivität, die Innerlichkeit, die Wahrheit ist, die in diesem Kontext verstanden werden muss.148 Jedes Wissen im Sinne des Zugangs zu einer objektiven Wahrheit entspricht einem Herausfallen aus der Existenz, da es für den Existierenden in Bezug auf seine eigene Existenz keine objektive Wahrheit geben kann, „sondern nur ein Approximieren; denn er ist dadurch verhindert, ganz und gar objektiv zu werden, daß er existiert.“149 Die Gleichsetzung von Subjektivität und Wahrheit besagt nicht, dass alle Meinungen gleichwertig sind und Kierkegaard einem simplen und naiven Relativismus das Wort redet, sondern vielmehr, dass die Wahrheit der Existenz sich immer nur durch den einzelnen Existierenden Ausdruck verleihen kann.150 So konstatiert Schwab richtig, dass „[d]er zentrale Gegenstand von Kierkegaards Philosophie – der Einzelne in der Wirklichkeit seines konkreten Selbstvollzugs – demnach in seiner Singularität von keiner Wissenschaft, die notwendig im idealen Modus des Allgemeinen handelt, zur Darstellung zu bringen [ist].“151 Reicht die Ratio nicht aus, um diesen zentralen Gegenstand seiner Philosophie zu thematisieren, so wird umso mehr die Intellektualismuskritik verständlich, die zugleich in ein Plädoyer für das Miteinbeziehen von Phantasie und Gefühl in die Erkenntnis- und Wissensgenerierung mündet: „In bezug auf die Existenz steht das Denken gar nicht höher als die Phantasie und das Gefühl, sondern ist diesen nebengeordnet…[S]o ist es auch eine gleich schlechte Existenz, || 145 SKS 3, 195 / EO2, 216. 146 SKS 17, 26, AA:12 / DSKE 1, 26. 147 Vgl. Anz 1963, S. 8. 148 Vgl. SKS 7, 173 / AUN1, 179. 149 SKS 7, 204 / AUN1, 215. 150 Vgl. Hohlenberg 2011, S. 177. 151 Schwab 2014a, S. 99.
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wenn ein Denker, der ja zugleich ein Existierender ist, Phantasie und Gefühl verloren hat, was ebenso schlimm ist, wie den Verstand zu verlieren.“152 Hier zeigt sich, dass in dem Bestreben, den Menschen als Existierenden in der Welt zu betrachten, gerade das Miteinbeziehen von Gefühlen und situationsbezogenen Stimmungen essentiell ist, da das rein Abstrakte am Konkreten der Existenz scheitern muss. Kierkegaard etabliert hier keine Hierarchie zwischen der Verstandesebene und der Gefühls- und Empfindungsebene, beide stehen vielmehr gleichrangig nebeneinander, beide sind Teile des Menschen. Die Subjektivität ist die Wahrheit, „denn die objektive Wahrheit ist für einen Existierenden gleichwie die Ewigkeit der Abstraktion“153 – will heißen interesseund bedeutungslos. Das systematische Philosophieren des Deutschen Idealismus, welches objektive Wahrheitssuche zum Ziel hat, ist für Kierkegaard im wahrsten Sinne des Wortes uninteressiert.154 Wir werden in Kapitel 2.5 noch sehen, dass sich die Form der Kierkegaardschen Texte ebenso fernab tradierter Muster der Philosophie bewegt und sich seine Positionen in ihr niederschlagen. So viel sei dennoch vorweggenommen: Erkenntnisse, die die Existenz betreffen, können nicht in Form von Sprache, die immer im Modus des Allgemeinen operiert, direkt ausgesagt oder vermittelt werden. Insofern kann an dieser Stelle schon Hermann Deusers philosophiehistorischer These zugestimmt werden, dass „[e]rst die Krise des wissenschaftlichen Systemdenkens im Nachidealismus des 19. Jahrhunderts…es unwiderruflich gemacht [hat], dass die Vermittlungsleistung der Sprache vom [sic!] dem, was sie vermittelt, nur um den Preis des Verlustes an Einsicht abgetrennt werden kann.“155 Einen solchen Verlust möchte Kierkegaard gerade vermeiden, gleichzeitig weiß er jedoch um die Schwierigkeit, „das faktische Sein zu fassen zu bekommen“,156 wie es in den Philosophischen Brocken entsprechend heißt. Aus Kierkegaards Abstraktionskritik erwachsen, wie angesprochen, methodologische und mitteilungstheoretische Probleme und Implikationen, denen wir uns in Kapitel 2.5 ausführlich widmen werden. Offensichtlich ist jedoch bereits, dass eine Darstellung der Subjektivität, der Existenz des Einzelnen, nicht unmittelbar an dieses faktische Sein in seiner Individualität
|| 152 SKS 7, 317f. / AUN2, 51f. (meine Hervorh.). Analog hierzu findet sich folgende einschlägige Notiz in den Journalen: „Der Verstand verschmäht alles, worauf die Phantasie und das Gefühl kommen. Das ist sehr richtig vom Verstand; aber das Gefühl und die Phantasie tun das Gleiche mit gleichem Recht mit dem Verstand. Oder gehört denn etwa Gefühl und Phantasie nicht ebenso wesentlich dem Menschen an, wie der Verstand?“ (SKS 18, 208, JJ:213 / DSKE 2, 215). 153 SKS 7, 285 / AUN2, 14. 154 „[J]edes systematische Erkennen ist uninteressiert“, so Kierkegaard in SKS 15, 57 / JC, 157. 155 Deuser 2006, S. 197f. 156 SKS 4, 246 / PB, 40.
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herankommen kann und wird. Gleichwohl geht es darum, unterschiedliche Existenzmodi „zur Interpretation und Beurteilung der möglichen Idealität des singulär-faktischen Daseins und seines jeweiligen Existenzstandpunktes bereitzustellen und anzuwenden.“157 Kierkegaards Abstraktionskritik unter Rekurs auf den Existenzbegriff korreliert mit der lebensphilosophischen Kritik an Rationalisierungstendenzen, wonach die rationale Objektivierung die Wirklichkeit negiert, da diese realiter irrationale Lebendigkeit sei. Darauf weist auch Odo Marquard hin, der dazu auf Schelling zurückgreift. So formulierte Schelling schon kritisch gegen Fichte: „Mangel jener Anschauung, dadurch uns die Natur als selbstlebendig erscheint; …dieser Mangel führt früher oder später den völligen, durch keine Künste weiter zu bemäntelnden Geistestod herbei. Es liegt in ihm etwas Unheilbares…; denn alle Heilkraft ist nur in der Natur. Diese allein ist das wahre Gegengift der Abstraktion.“158 Die rationale Erkenntnis der Wirklichkeit als Abstraktion wird dabei, um sich der Terminologie Nietzsches zu bedienen, zu einer Lüge im außermoralischen Sinne. Die beiden Kategorien ‚Existenz‘ und ‚Leben‘ betonen stets den Aspekt des Werdens, dem die Abstraktion, das reine Denken als atemporales Moment, nicht gerecht werden kann. Bei Kierkegaard erfährt die Philosophie infolgedessen eine uneingeschränkte Zuspitzung auf die Existenz: Nur eine Erkenntnis, die eine direkte Beziehung zur Existenz aufweist, ist eine eigentliche, für den Einzelnen bedeutungsvolle, Erkenntnis: Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz, oder: nur das Erkennen, dessen Beziehung zur Existenz wesentlich ist, ist wesentliches Erkennen. Das Erkennen, das nicht nach innen gewandt in der Reflexion der Innerlichkeit die Existenz betrifft, ist wesentlich betrachtet zufälliges Erkennen, sein Grad und Umfang ist wesentlich betrachtet gleichgültig.159
Kierkegaard möchte sich darüber im Klaren sein, was er tun soll, nicht so sehr darüber, was er erkennen soll, „außer sofern ein Erkennen jedem Handeln vorausgehen muss.“160 Ein solches, praxisorientiertes Philosophieverständnis wurde identitätsstiftend für die gesamte Existenzphilosophie. Der Existierende, der subjektive Denker, ist im Gegensatz zum objektiven Denken unendlich interessiert am Existieren. Das objektive Denken ist vielmehr interesselos und gleichgültig gegenüber dem Existieren. Schwab resümiert drei
|| 157 Schulz 2019, S. 105. 158 Schelling 1860, S. 19. Siehe hierzu Marquard 2013, S. 26f. 159 SKS 7, 181 / AUN1, 188. 160 SKS 17, 24, AA:12 / DSKE 1, 23f.
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wesentliche Motive der Kierkegaardschen Systemkritik: „For these three reasons – the aspect of becoming, the aspect of singularity and the aspect of interest – Climacus conceives of systematic thought as inappropriate with respect to existence.“161 Unverkennbar mündet eine so gelagerte Philosophie in den Duktus einer Subjektivitätsphilosophie, wenn auch gewiss nicht in jenen einer rationalistisch ausgerichteten Subjektivitätsphilosophie in der Tradition eines Descartes. Dies zeigt sich anhand des Bedeutungsspektrums, welches dem Begriff ‚Existenz‘ im Binnenbereich der Existenzphilosophie zugeschrieben wird. Wenn Peter Wust erläutert: „Als Dasein oder als Existenz unterscheidet man den Menschen von allem übrigen Seienden, weil er nicht schlechthin ist, was er ist, sondern um sein Sein ringen muß, sei es nun im Wissen um sich selbst oder im Gestalten seiner selbst“,162 wird deutlich, dass sich der Existenzbegriff hier von der scholastischen Differenzierung von essentia und existentia entfernt. Existenz meint nun nicht mehr das bloße Dass-Sein im Unterschied zum Was-Sein, sondern impliziert das Gestalten der eigenen Existenz im Vollzug mit anderen und ihrer Umwelt. Die menschliche Seinsweise ist eben nicht nur im Sinne eines ,An-sich‘, sondern auch eines ,Für-sich‘ zu bestimmen, wodurch in typisch existenzialistischer, sich bei Sartre fortsetzender Diktion die anthropologische Grundsituation der Ausrichtung auf die Zukunft auf den Begriff gebracht wird.163 Der subjektivistische Charakter, welcher für die gesamte Existenzphilosophie kennzeichnend ist, ist verbunden mit einem praxisorientierten Denken, das dem Einzelnen als Orientierungshilfe für sein Handeln dienen soll. Beides ist wiederum schon bei Kierkegaard grundgelegt, der im August 1835 in sein Tagebuch notiert: [E]s gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will. Und was nützte es mir dazu, wenn ich eine so genannte objektive Wahrheit herausfände; wenn ich mich durch die Systeme der Philosophen hindurcharbeitete…, wenn es für mich selbst und mein Leben nicht eine tiefere Bedeutung hätte?164
|| 161 Schwab 2015, S. 228. 162 Wust 1965, S. 315 (meine Hervorh.). Albert Camus bringt dieses Unikum des Menschen zum Ausdruck, wenn es heißt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es ist“ (Camus 2011b, S. 23). 163 Vgl. ferner Kann und Victor 2017, S. 210. 164 SKS 17, 24, AA:12 / DSKE 1, 24. „Alles geistige Streben und Erkennen wird in diesem Credo Kierkegaards an die innere Annahme durch den existenziell Betroffenen zurück gebunden. Allein der Einzelne, der die erblickte Wahrheit in seinem konkreten Leben praktisch werden lässt,
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Hier zeigt sich, dass für einen Existenzphilosophen der Zugang zu objektiven Wahrheiten in Fragen der Existenz nicht nur unmöglich ist, sondern zugleich auch nicht nützlich, da solchen Wahrheiten kein Bezug zur Lebenspraxis zukommt. Demgemäß sind sie im Kierkegaardschen Verständnis ‚interesselos‘. Kierkegaard sucht nach einer Wahrheit, für die er leben und sterben würde: „Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee?“165 Es geht darum, für sich selbst eine Wahrheit zu finden, die das eigene Leben rechtfertigt, und somit wird diese Wahrheit subjektiver Natur sein. Hier zeigt sich ein zentraler Unterschied im Verständnis von Wahrheit zwischen Kierkegaard und Hegel: Für Hegel ist das Wahre das Ganze und so wird nachvollziehbar, warum für Letzteren Wahrheit nur in Gestalt eines wissenschaftlichen Systems zum Vorschein kommen kann. Paul van Tongeren skizziert die Phänomenologie des Geistes als „die Entwicklung des Systems, in dem die Wahrheit sich verwirklicht.“166 Hegel selbst schreibt in der Vorrede zu ebenjenem Buch: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.“167 Sein Ziel sei es, der Philosophie von ihrer Liebe zur und ihrem Streben nach Wahrheit hin zu wirklicher Wahrheit bzw. dem Besitz von wirklichem Wissen zu verhelfen. Der Kierkegaardsche Wahrheitsbegriff der Subjektivität wird in einem solchen das Ganze umfassenden System nicht zum Ausdruck kommen können. Wir werden im kommenden Kapitel ausführlicher auf Kierkegaards Verständnis der Wahrheit als Subjektivität eingehen. So viel aber schon jetzt: Sokrates dient Kierkegaard als Paradebeispiel für ein Verständnis der Wahrheit als Subjektivität. Sokrates trank den Schierlingsbecher und setzte somit sein Leben aufs Spiel, nachdem er die Hypothese erwogen hatte, dass die Seele unsterblich sein könnte.168 Hier zeigt sich die Konformität von Lehre und Leben: „In seiner Kritik des abstrakten Denkens, das die Existenz – das beständige Werden – nicht zum Ausdruck bringen kann,…liegt die Affinität zu einer Gestalt wie Sokrates beschlossen, der in seiner Person für die Wahrheit seines Denkens einsteht.“169 Erneut kann sich Kierkegaard einen Seitenhieb gegen die
|| kann Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit erheben“, so Gantschow 2011, S. 101. Für Höffding 1922, S. 76 steckt hierin der ganze Ernst der Kierkegaardschen Erkenntnistheorie, da sie – nach antikem Vorbild – wieder einen Zusammenhang zwischen dem Denken und dem persönlichen Leben des Denkenden herstellen möchte. 165 SKS 17, 26, AA:12.5 / DSKE 1, 26. 166 Van Tongeren 2012, S. 3. 167 Hegel 1986a, S. 14. 168 Vgl. hierzu auch Flynn 2008, S. 16. 169 Mayer 2010, S. 97.
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Systemphilosophie nicht verkneifen, die sogenannte objektive Wahrheiten ausfindig mache, die für das je eigene Leben keinerlei Bedeutung hätten und die conditio humana nicht beträfen. So mutiert Albert Camus zum Philosophiehistoriker, wenn er, wohlgemerkt etwas polemisch, in sein Tagebuch notiert: „Kierkegaard stieß Hegel gegenüber eine furchtbare Drohung aus: ihm einen jungen Mann zu schicken, der ihn um Ratschläge bittet.“170 In diesem an der eigenen Praxis und Existenz orientierten Wahrheitsverständnis lassen sich Parallelen zum amerikanischen Pragmatismus aufweisen, wie er zum Beispiel von William James vertreten wurde. So betont u.a. Swenson, dass jemand, der Kierkegaard studiere, beeindruckt sei, „that his doctrine and method and spirit are consonant, and may be called genuinely pragmatic in a high and noble sense.“171 Der einzelne Mensch in seiner Existenz, d.h. als Existierender in der Welt, wird zum Gegenstand der Existenzphilosophie. In diesem Sinne kann sie als Subjektivitätsphilosophie gekennzeichnet werden, die sich jedoch entschieden von der neuzeitlichen rationalistischen Subjektivitätsphilosophie unterscheidet. Mit Schmidinger gesprochen markiert sie sogar das Ende Letzterer.172 Die Existenzphilosophie ist eine Subjektivitätsphilosophie, die ihren primären Ausgangsund Bezugspunkt im unhintergehbaren empfindenden und wahrnehmenden Subjekt hat. Hannah Arendt trifft eine Bestandsaufnahme im Hinblick auf die Ausgangslage der Existenzphilosophie, die nahtlos an unsere Überlegungen zu Kierkegaards System-, Idealismus-, Intellektualismus-, Rationalismus- und Abstraktionskritik anknüpft: Mit dieser Position war mit einem Schlage das absolute, von Menschen durch Vernunft erfaßbare Reich der Ideen und allgemeinen Werte geleugnet und der Mensch in die Mitte einer Welt gestellt, in welcher er sich an nichts mehr halten konnte, weder an seine Vernunft, die offenbar zur Erkenntnis des Seins unzulänglich war, noch an die Ideale seiner Vernunft,
|| 170 Camus 1997, S. 274. Camus trifft damit den Kern derjenigen Kritik, die Kierkegaard gegen die Philosophie seiner Zeit hervorbringt, wie sich exemplarisch anhand folgender Stelle aus Entweder/Oder zeigt: „Ich habe an die Philosophie eine giltige Forderung, ebenso wie jedermann diese hat, den die Philosophie nicht wegen völligen Mangels an Begabung abweisen darf. Ich bin Ehemann, ich habe Kinder. Wie, wenn ich nun in deren Namen die Frage stellte, was ein Mensch im Leben zu tun habe. Vielleicht wirst Du lächeln, auf jeden Fall wird die philosophische Jugend lächeln über einen Familienvater, gleichwohl ist es, meine ich, wahrlich eine schreckliche Anklage wider die Philosophie, wenn sie nichts zu antworten weiß.“ (SKS 3, 168 / EO2, 183). 171 Swenson 1983, S. 139. Ein zu Ehren Hermann Deusers herausgegebener Band mit dem Titel Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus befasst sich in einem breiteren Spektrum mit Kierkegaard und dem Pragmatismus. Vgl. hierzu Deuser 2011a. 172 Vgl. Schmidinger 1983, S. 384.
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deren Existenz nicht beweisbar war, noch an das Allgemeine, denn dieses wieder existierte nur als er selbst. Von nun an wird das Wort ,existierend‘ immer wieder im Gegensatz zu dem nur Gedachten, nur Betrachteten gebraucht; als das Konkrete im Gegensatz zum nur Abstrakten; als das Individuelle im Gegensatz zum nur Allgemeinen.173
Eines steht somit schon fest: Kierkegaards Kritik an dem Anspruch des neuzeitlichen Philosophierens, die Metaphysik zu vollenden, war richtungsweisend für die Existenzphilosophie. Das abstrakte Denken führt aus seiner Sicht nur auf Irrund Abwege, da es mit dem Konkreten, Zeitlichen und Fließenden zentrale Merkmale der Existenz negiert und unberücksichtigt lässt. „Denken und Sein können im Idealismus nur zur Deckung gebracht werden, weil von der ,Not des Existierenden‘ kategorial abgesehen wird.“174 Dort wird Denken nur mit ideellem, nicht mit faktischem Sein in Relation gesetzt. Diese Not soll nun wieder zum zentralen Thema der Philosophie erhoben werden. Die Existenzdenker als Denker der Moderne distanzieren sich von diesem Vollendungsanspruch der metaphysischen Tradition, das ist es, worin sie sich wesentlich von Hegel unterscheiden.175 Aus historischer Perspektive lassen sich Kierkegaards Systemkritik – wobei hier, wie erläutert, System immer im Sinne des Systembegriffs der Klassischen Deutschen Philosophie in der Tradition Kants zu verstehen ist – und Intellektualismuskritik als Initialpunkte seiner Existenzphilosophie begreifen. Aus ihnen heraus erschließt sich sein um die Existenz und das Handeln des einzelnen Menschen kreisendes Denken, aus dem sich die weitere Philosophie des Existenzialismus speist. Im Anschluss daran und unter dem Leitmotiv eines auf die Lebenspraxis konzentrierten Philosophierens können hierin auch Parallelen zum amerikanischen Pragmatismus gesehen werden. Dem wäre jedoch in einer gesonderten Studie nachzugehen. Inhaltlich besteht die Kritik in einer Revision der klassischen Metaphysik im Sinne der Wesensphilosophie und wendet sich somit gegen rationalistische und idealistische Ansätze. Auf dem Gebiet der Anthropologie deutet sich bereits eine Fokussierung auf das Individuum, auf den einzelnen Menschen als Existierenden, an, deren Ausgestaltung wir uns in Kapitel 2.3 ausführlich widmen werden. Mit Heiko Schulz und unter Rekurs auf Karl Löwiths berühmte These eines Bruchs im Denken des 19. Jahrhunderts können wir bis hierhin bereits festhalten:
|| 173 Arendt 1990, S. 17. 174 Gantschow 2011, S. 105f. So resümiert auch Anz 1956, S. 39, dass Hegel nur als jemand, der „jenseits der Not der Existenz steht,…den Fortschritt in der Geschichte [hat] wahrnehmen können, der ihn der Vernunft der Geschichte versichere.“ 175 Vgl. Gantschow 2011, S. 241.
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Kierkegaards Protest gegen Hegels System im Namen jenes ,Einzelnen‘, dessen Wirklichkeit sich nur…als genuin und irreduzibel ethische erschließt, führt mit K. Löwith gesprochen jenen ,revolutionären Bruch‘ im Denken des 19. Jahrhunderts mit herbei, der aus dem…Verdacht hervorgeht, Hegel habe die Wirklichkeit des Menschen auf die Seite geschafft.176
Die Betonung des Einzelnen erläutert zugleich den Unterschied zwischen Kierkegaard und Marx. Zwar opponieren beide im Sinne des revolutionären Umbruchs gegen die Abstraktheit der Hegelschen Philosophie, Marx stellt dem jedoch gerade nicht den Einzelnen, sondern die Gesellschaft entgegen: „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.“177 Kierkegaard würde hier wohl sagen, der Mensch, das ist zunächst der Einzelne.
2.2 Die Wahrheit ist die Subjektivität178 – die Wende hin zum Einzelnen Da erscheint die Kategorie ,der Einzelne‘, jene Kategorie, die so sehr mit meinem Namen verknüpft ist, dass ich mir wünschen würde, man schriebe auf mein Grab ,jener Einzelne‘.179
Bis hierher wurde die Genese existenzphilosophischer Topoi bei Kierkegaard primär ausgehend von seiner Kritik an den zu seiner Zeit vorherrschenden Philosophieschulen, vor allem der Systemphilosophie Idealistischer Natur und namentlich Hegel, betrachtet. Nun soll es in erster Linie um seine konstruktiven Gegenentwürfe, Neuansätze und Beiträge gehen. Kierkegaard bleibt natürlich nicht bei seinem rein kritischen, ja beinahe destruktiven Ansatz stehen, vielmehr geht Letzterer oft fließend und nahtlos in seinen eigenen und damit konstruktiven Beitrag über. Somit wären wir bei den beiden für Kierkegaards Philosophie zentralen Kategorien der Existenz und des Einzelnen. „Es sollte keinen allgemeinen Begriff geben, der über alle gestülpt wird, sondern es soll aus der Innenperspektive des Einzelnen, aus der Teilnehmerperspektive dessen, der mit seinem höchst eigenen Leben zurechtkommen muss, gedacht werden“,180 resümiert Gamm. Hier zeigt
|| 176 Schulz 2011, S. 321. Die These eines revolutionären Bruchs im 19. Jahrhundert findet sich bei Löwith 1995. 177 Marx 1961, S. 378. 178 Vgl. SKS 7, 173 / AUN1, 179. 179 SKS 20, 137, NB2:3 / DSKE 4, 151. 180 Gamm 2009, S. 27.
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sich, genau wie in dem bereits angesprochenen Tagebucheintrag von 1835181 (bekannt unter der Überschrift „Reise nach Gilleleie“), dass die Konzentration auf den Einzelnen, mithin die Abkehr von jeder Spekulation, einhergeht mit einem praxisorientierten Philosophieren, dem es um Wahrheiten geht, denen für den je Einzelnen als Existierenden in der Welt eine besondere Valenz zukommt. Kierkegaard richtet sich mit seinen Schriften, wie er selbst in den Erbaulichen Reden bekennt, an „jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dankbarkeit m e i n e n Leser nenne; jenen Einzelnen, welcher mit bereitem Willen langsam liest, aufs neue liest, und welcher laut liest – um seiner selbst willen.“182 Damit wendet er sich als Diagnostiker und Kritiker seiner Zeit mit aller Vehemenz gegen den dominierenden Zeitgeist Hegelianischer Philosophie und wird, mit Nietzsche gesprochen, im wahrsten Sinn des Wortes ,unzeitgemäß‘, wenn er das marginalisierte Ansehen des Einzelnen in seiner Epoche beklagt: „Was ist schon ein einzelner existierender Mensch? Ja, unsere Zeit weiß nur allzu gut, wie wenig er ist…; die unsere Zeit ist vielleicht nicht Lust und Genuß und Sinnlichkeit, wohl aber eine pantheistisch ausschweifende Verachtung für die einzelnen Menschen.“183 Oder wie es an anderer Stelle heißt: „Denn es fehlt unserer Zeit völlig, daß einer sagt: ich.“184 Kierkegaard wirft seiner Gegenwart die Vergessenheit des Einzelnen durch eine nivellierende Reflexion vor und möchte den Einzelnen wieder gegenüber der Gemeinschaft, der Menge, rehabilitieren und sich ihm zuvorderst zuwenden. Diese kulturkritische Facette seines Denkens, welche sich gegen ein nivellierendes Zeitalter der Reflexion wendet, findet auch Einzug in die Schrift Eine literarische Anzeige. Nun gilt es, den Einzelnen der Gemeinschaft gegenüberzustellen185 bzw. zumindest sich zuerst und vorrangig seiner Selbstbestimmung zu widmen. Erneut beweist Kierkegaard eine Sensibilität für den Zeitgeist der heranbrechenden Moderne, in der tradierte Orientierungsmuster brüchig werden und abhandenzukommen drohen: „Unsre Zeit hat alle substantiellen Bestimmungen von Familie, Staat, Sippe verloren; sie muß das einzelne Individuum ganz ihm selber überlassen, dergestalt, daß dieses im strengeren Sinne sein eigener Schöpfer wird“.186 Er erkennt die Zeichen der Zeit und wird gleichsam zum Vordenker der Moderne im
|| 181 Siehe hierzu S. 62. der vorliegenden Arbeit sowie SKS 17, 7–30, AA:1–AA:12 / DSKE 1, 3–31. Siehe hierzu auch die Erläuterungen von Schlette 2017, S. 39f. 182 SKS 8, 121 / ERG, 9. 183 SKS 7, 324 / AUN2, 59. 184 SKS 27, 402, Papir 366:3 / T 2, 127. In SKS 7, 360 / AUN2, 101 heißt es voller Ironie: „[D]och nein, ich vergesse ja die Zeit, in der wir leben, das theozentrische neunzehnte Jahrhundert, wir betrachten ja alle Weltgeschichte – vom Standpunkt Gottes.“ 185 Vgl. Gerdes 1965, S. 81. 186 SKS 2, 148 / EO1, 160.
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Allgemeinen und des Existenzialismus im Speziellen. Dass Hegel seine Epoche der Reflexion wiederum genau konträr deutet und evaluiert, zeigt, wie strikt die Auffassungen dahingehend zwischen den beiden Denkern auseinander gehen. Dies verdeutlich ein Seitenblick in Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Weil übrigens in einer Zeit, worin die Allgemeinheit des Geistes so sehr erstarkt und die Einzelheit, wie sich gebührt, um soviel gleichgültiger geworden ist,…muß dieses [das Individuum], wie die Natur der Wissenschaft schon es mit sich bringt, sich um so mehr vergessen“.187 Kierkegaard möchte seine Leser aus der seiner Meinung nach Hegelschen Existenz- und Selbstvergessenheit hinausführen.188 Der Adressat seiner Schriften ist nicht der intellektuelle Betrachter, sondern der in seine Existenz und eigene Wirklichkeit involvierte Einzelne.189 Kierkegaard geht es in seinen anthropologischen Reflexionen darum, ein Selbst, ein einzelner existierender Mensch zu werden, eine Wahrheit für sich zu finden. Erneut kann auf den eben genannten Tagebucheintrag verwiesen werden, in dem er u.a. weiter ausführt, dass es ihm darauf ankommt, „ein vollkommenes menschliches Leben zu führen, und nicht bloß eins der Erkenntnis,…meine Gedanken-Entwicklungen nicht auf das zu gründen – ja, auf etwas, das man objektiv nennt, – etwas, was doch auf jeden Fall nicht mein eigen ist“.190 Das erinnert an Goethes Bekenntnis: „Übrigens ist mir alles verhaßt was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben“,191 welches im Übrigen Nietzsche in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben später aufgreift.192 Einen möglichen Artbegriff ,Mensch‘ auszudifferenzieren wird für Kierkegaard irrelevant, weil es aus der Sicht seiner existenzphilosophischen Perspektive unerheblich ist, wie ein mögliches Wesen des Menschen typisiert wird, da eine solche Begriffsklärung wiederum nur das Allgemeine und somit nach Ansicht Kierkegaards die Unwahrheit trifft.193 Johannes de Silentio, der pseudonyme Verfasser der Schrift Furcht und Zittern, tut sein Widerstreben gegen den Zeitgeist, dem es an Leidenschaft mangele, im Vorwort zu jener Schrift kund, wenn er über das Los des Verfassers beklagt: „Er sieht leicht sein Schicksal voraus in einer Zeit, da man einen Strich durch die Leidenschaft gezogen hat, um der Wis-
|| 187 Hegel 1986a, S. 67. 188 Vgl. Schulz 2011, S. 314. 189 Vgl. Gantschow 2011, S. 102. 190 SKS 17, 25f., AA:12 / DSKE 1, 25f. 191 Goethe 1998, S. 621. 192 Vgl. Nietzsche UB II, „Vorwort“, KSA 1, S. 245. Siehe hierzu ferner Hartog 2012, S. 283. 193 Vgl. Pieper 1999, S. 163.
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senschaft zu dienen, in einer Zeit, da ein Schriftsteller, der Leser haben will, darauf achten muß, so zu schreiben, daß man es leicht überblättern kann während des Mittagschlafes“.194 Kierkegaard entwirft nun kontrastierend zum objektiven Denker, dem er vorwirft, in einer Art Existenzvergessenheit eine vermeintlich reine Gedankenexistenz zu führen, den Typus des subjektiven Denkers, der eben der Existenz des Einzelnen Rechnung tragen soll. Der objektive Denker ist bloßer Betrachter seines eigenen Lebens, der subjektive Denker hingegen aktiver Teilnehmer und stets interessiert an der eigenen Existenz.195 Schwab bemerkt scharfsinnig, dass Climacus, das Pseudonym der Nachschrift, das Objektive als Denken bezeichnet, wobei er das Subjektive hingegen über den existierenden Denker einführt.196 Das objektive Denken ist gegenüber der Existenz gleichgültig, interesselos, wohingegen der subjektive Denker in all dem, was er denkt, immer mitzudenken hat, dass er ein Existierender ist.197 Kierkegaard redet demnach ausdrücklich nicht von einem existenziellen Denken, da es ein solches nicht geben kann, sondern von einem existierenden Denker, „weil es ihm ausschließlich darum geht, daß der Denker nicht nur seine eigene Existenz zum Gegenstand seines Denkens macht, sondern daß er in dem, was er denkt, tatsächlich auch existiert.“198 Erläuternd lässt sich demnach hinzufügen, dass es nach Kierkegaard zumindest kein vom existierenden Denker losgelöstes existenzielles Denken geben kann. Mit Kierkegaard wird deutlich: „Über die Existenz zu denken ist etwas anderes, als in der Existenz zu denken.“199 Oder wie es Annemarie Pieper auf den Punkt bringt: „Die Existenzdialektik verlangt den ,subjektiven Denker‘, der in dem [sic!] was er denkt, zugleich existiert, der sein Denken handelnd und sein Handeln denkend
|| 194 SKS 4, 103 / FZ, 6. Siehe auch SKS 4, 137 / FZ, 43. Auch Kierkegaards Tagebücher legen Zeugnis davon ab, dass er sich von seiner Zeit missverstanden fühlte: „Die Zeitgenossen haben gar keinen Sinn für meine Produktivität.“ (SKS 20, 32, NB:26 / DSKE 4, 32). Siehe auch SKS 27, 128, Papir:121 / T 1, 68: „Die Leute verstehen mich so wenig, daß sie nicht einmal meine Klage darüber verstehen, daß sie mich nicht verstünden.“ Darüber hinaus ahnt er, dass er auch nach seinem Tode nicht angemessen verstanden werden wird: „[A]ch, und ich weiß zugleich, wer mich beerben wird, die Gestalt nämlich, die mir so ungeheuer zuwider ist, er, der doch bisher und in Zukunft alles Bessere geerbt hat und erben wird: der Dozent, der Professor.“ (SKS 25, 79, NB26:76 / T 5, 102). 195 Vgl. Gantschow 2011, S. 103. 196 Vgl. Schwab 2012, S. 92. 197 Vgl. SKS 7, 321 / AUN2, 56. 198 Diem 1956a, S. 14. 199 Gantschow 2011, S. 103.
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interpretiert.“200 Der Begriff ,Existenzdialektik‘ verweist bei Kierkegaard auf die formale bipolare Struktur der menschlichen Existenz.201 Diese besteht, wie bereits erörtert, in einer Synthese von Notwendigkeit und Möglichkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit etc. und weist so einen dialektischen Zusammenhang auf. Der subjektive Denker Kierkegaards versucht nun diesem dialektischen Moment der Existenz gerecht werden und wird insofern auch als „Dialektiker in bezug auf das Existentielle“202 bezeichnet. Ein Kriterium der Existenzdialektik ist somit die Reduplikation von Leben und Lehre.203 Wie sehr der Weg der objektiven Wahrheitssuche den Einzelnen bei seinem Gestalten der Existenz auf Abwege führt, wird im folgenden Abschnitt der Nachschrift deutlich: Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zufälligen und damit die Existenz zu etwas Gleichgültigem, Verschwindendem. Fort vom Subjekt geht der Weg zur objektiven Wahrheit, und während das Subjekt und die Subjektivität gleichgültig werden, wird die Wahrheit es auch, und gerade dies ist ihre objektive Gleichgültigkeit; denn das Interesse ist, ebenso wie die Entscheidung, die Subjektivität. Der Weg der objektiven Reflexion führt nun zu abstraktem Denken, zu Mathematik, zu historischem Wissen verschiedener Art; er führt beständig fort vom Subjekt, dessen Dasein oder Nicht-Dasein, objektiv ganz richtig, unendlich gleichgültig wird.204
Eine solche objektive Wahrheit ist in dem Sinne ‚gleichgültig‘, als dass sie für alle allgemeinverbindlich und allgemeingültig, mithin für den einzelnen Existierenden interesselos ist. Objektive Wahrheiten und Sachwissen sind unabhängig vom Wissenden und von kontingenten Faktoren; subjektive, existenzielle Wahrheit
|| 200 Pieper 1971, S. 192. Kierkegaard notiert: „Die Dialektik in Büchern ist nur die des Denkens, aber die Reduplikation dieses Denkens ist Handlung im Leben.“ (SKS 20, 119, NB:201 / DSKE 4, 132). 201 Vgl. SKS 7, 282 / AUN2, 10 sowie SKS 7, 304 / AUN2, 36. Die Bedeutung von ‚Existenzdialektik‘ fasst Pieper wie folgt zusammen: „Diesen gesamten Prozeß des in sich reflektierten Werdens der Existenz faßt Kierkegaard im Begriff der Existenzdialektik.“ (Pieper 1971, S. 192). Siehe dazu auch Fahrenbach 2016, S. 222. Zur Bipolarität der menschlichen Existenz siehe Gantschow 2011, S. 139. 202 SKS 7, 320 / AUN2, 54. 203 Vgl. Deuser 2011b, S. 18. 204 SKS 7, 177 / AUN1, 184. An anderer Stelle lesen wir: „Für einen mathematischen Satz z.B. ist die Objektivität gegeben, aber deshalb ist seine Wahrheit auch eine gleichgültige Wahrheit.“ (SKS 7, 186f. / AUN1, 195). Oder wie es in SKS 7, 523 / AUN2, 287f. heißt: „Der Forscher lebt ruhig dahin; in seinem subjektiven Sein und Existieren ist ihm das, was ihn objektiv und wissenschaftlich beschäftigt, ohne Bedeutung.“ Siehe ferner auch SKS 7, 182 / AUN1, 190.
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hingegen bemisst sich allein an der Authentizität der eigenen Lebensführung,205 jene wird dort zum Kriterium für Wahrheit. Bei objektiven Wahrheiten, wie zum Beispiel dem mathematischen Lehrsatz des Pythagoras, ist es gleichgültig, von wem diese geäußert werden, der Inhalt ist davon unabhängig und nicht betroffen. Um dies richtig einordnen zu können, scheint es hilfreich, auf Kierkegaards Wissenschaftsbegriff zu rekurrieren, den Jann Holl untersucht und dabei treffend feststellt, dass sich Kierkegaards Wissenschaftsbegriff nicht am Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften orientiert. Hier liegt vielmehr ein anderer Dualismus zugrunde, nämlich derjenige von wissenschaftlicher Theorie und Praxis der Existenz: „Ein wissenschaftliches Verhalten ist jedes, das sich gleich-gültig auf Gegenstände, Tiere, Menschen und Gott richtet“,206 d.h. bloße Reflexion ist. Dies ändert sich jedoch im Bereich subjektiver Wahrheit, in dem die Wahrheit gelebte Wahrheit ist und somit den sich Äußernden zutiefst einbindet, involviert und mithin nicht unpersönlich bleibt.207 Dadurch wird auch verständlich, warum die Formulierungen „die Wahrheit ist die Subjektivität“208 und „[d]ie Subjektivität ist die Wahrheit“209 – beide werden nahezu abwechselnd von Kierkegaard verwendet – quasi austausch- und umkehrbar sind, da dort, wo der Einzelne die Wahrheit wirklich ist, „gilt: Subjektsein = Wahrsein, also Wahrsein = Subjektsein.“210 Nur dasjenige kann Wahrheit sein, was mit Leidenschaft gelebt wird, das Wie der Wahrheit hat Vorrang vor dem Was der Wahrheit.211 Wir haben es hier nicht mit einer klassischen Definition wie im Bereich objektiver Wahrheiten zu tun, sondern mit einer existenziellen Gleichung, die die jeweilige Subjektivität in höchste Spannung versetzt; sie muss sich an dieser messen lassen. Den Kontrast zur objektiven Sphäre bringt Schmid pointiert, wenn auch etwas dramaturgisch, zum Ausdruck: Während der Gang über die Brücke der Kopula bei einer klassischen Definition wohltuend ist, da man in der Vorschau das gleiche Bild vor sich sieht wie im Rückblick, so ist hier die
|| 205 Vgl. Gantschow 2011, S. 136. 206 Holl 1972, S. 29f. 207 Vgl. Hagemann 2001, S. 36. 208 SKS 7, 173 / AUN1, 179. 209 SKS 7, 191 / AUN1, 200. 210 Pieper 1968, S. 121. 211 Vgl. Höffding 1922, S. 74. „Die wesenhafte Bedeutung Kierkegaards für unsere Situation liegt darin begründet, daß er nach einer nicht nur Jahrhunderte, sondern Jahrtausende alten andersartigen Tradition das Wie der menschlichen Existenz zum Thema der philosophischen Besinnung gemacht hat.“ (Brecht 1931, S. 5).
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Kopula ein schwankender Steg, über den aber der Existierende ohne Gnade hinüber und herüber gejagt wird, um auf jeder Seite bei jedem Gang Neues anzutreffen.212
Genau das entspricht der Maxime des Einklangs von Leben und Lehre, von Mensch-Sein und Denker-Sein. „Objektives Denken ist also da am Platze, wo es Resultate geben kann, im reinen Denken, so etwa in der Mathematik.“213 In Bezug auf die Wirklichkeit, das Existieren, kann es jedoch nichts aussagen, da dieses dem Werden unterliegt und Resultate dort zwangsläufig ausbleiben müssen. Die Wahrheit verstanden als Subjektivität wird bei Kierkegaard als Kontrastpunkt zur objektiven Wahrheit gedacht und entworfen – genau wie analog betrachtet der subjektive Denker im Gegensatz zum objektiven Denken. Dies wird einmal mehr in der Nachschrift deutlich, wenn Kierkegaard expliziert, die Wahrheit als Subjektivität müsse zugleich einen Ausdruck für ihren Gegensatz, die Objektivität, in sich enthalten und dies zuspitzt auf die Formulierung: „D i e o b j ek t i v e U n g e w i ß h e i t , i n d e r A n e i g n u n g d er l e id e n s c h a f t l i c h s t e n I n n e r l i c h k ei t f e s t g e h a lt e n , i s t d i e W a h r h ei t , und zwar die höchste Wahrheit, die es für einen E x i s t i e r e n d e n gibt.“214 Die objektive Unsicherheit betrifft die Fragen der Existenz, da es dort eben keine Resultate und letzte Gewissheiten geben kann. Dies anzuerkennen und sich die eigene Existenz in der Innerlichkeit anzueignen, ist der Weg des subjektiven Denkers. Diese Ungewissheit ist seine einzige objektive ‚Gewissheit‘ – vergleichbar mit dem sokratischen Nicht-Wissen. Kierkegaard geht es darum, den Menschen in die Existenz zu führen, in welcher „man die Wahrheit nicht denken oder haben, sondern nur selbst sein
|| 212 Schmid 1966, S. 134. 213 Hüsch 2014, S. 202. Kierkegaard führt die Mathematik häufiger als Beispiel für objektive Wahrheiten an, da das Mathematische „gar kein Verhältnis zum Dasein“ habe (SKS 7, 107 / AUN1, 103). Hügli 1982, S. 82 merkt an, dass die Unterscheidung zwischen dem interessierten Denken, das seinen Resultaten gegenüber nicht gleichgültig ist, und dem uninteressierten Denken der Mathematik und Ontologie schon bei Kierkegaards Lehrer Poul Martin Møller, der dessen HegelVerständnis im Allgemeinen maßgeblich geprägt hat, zu finden ist. Heiko Schulz übersetzt und zitiert hierauf rekurrierend Møller: „Sie [die Ontologie] gibt eine apriorische Entwicklung all derjenigen Prädikate, die von allem ausgesagt werden müssen, was existieren können soll.“ (in Schulz 2019, S. 103). 214 SKS 7, 186 / AUN1, 194. Zur Thematik der Subjektivität als Wahrheit bei Kierkegaard vgl. Grøn 2006. Zu dieser Stelle im Besonderen siehe ibid., S. 17: „Die Ungewissheit ist objektiv, indem die Wahrheit sich letzten Endes entzieht. Dies ist aber die Wahrheit der Existenz, die es anzueignen gilt.“
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kann.“215 Seine unter dem Leitmotiv ,die Subjektivität ist die Wahrheit‘ vollzogene Wende zum Subjekt als dem Einzelnen versteht Heidegger anerkennend als den Versuch, innerhalb der abendländischen neuzeitlichen Metaphysik das Selbstsein des Menschen ausgehend von der Subjektivität her zu begreifen.216 „Soll es überhaupt einen Unterschied zwischen Denken und Handeln geben, so kann er nur dadurch festgehalten werden, daß man dem Denken die Möglichkeit, die Interesselosigkeit, die Objektivität zuweist – und der Handlung die Subjektivität.“217 Wie Lotz mit Blick auf Jaspers konstatiert – Selbiges ließe sich auf Kierkegaard übertragen –, kommt es im Bereich der Existenz auf den Einzelnen an, dessen Wahrheit lebt, indem er sie je und je in seinem freien Aufschwung vollzieht. Da sich aber die konkrete Situation jedes Einzelnen von der aller anderen unterscheidet, gilt seine…absolute oder unbedingte Wahrheit nicht für die anderen, ist sie nicht Wahrheit für alle oder allgemeingültig und daher nicht jedem zugänglich.218
Die Kategorie der Existenz entfaltet erst in Bezug auf die Subjektivität, die Innerlichkeit, ihr ganzes Gewicht. „Erst in der Krise einer Hamlet-Situation“, so Wolfgang Janke, „entweder zu sein und zu leben in einer aus den Fugen geratenen Welt oder nicht zu sein und sich mit dem Dolch aus dem Meer der Plagen (des Bewußtseins) zu erlösen, läßt die Kategorie des Daseins ihr ganzes Gewicht fühlen“.219 Mit Camus ließe sich diese Intention zuspitzen, der in Der Mythos des Sisyphos die Frage, ob die Erde sich um die Sonne oder die Sonne um die Erde dreht, als nichtig bezeichnet,220 und zwar in der Hinsicht, dass sie für den Existierenden belanglos bzw. gleichgültig ist. Sie ist es demnach nicht wert, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Um indes Kierkegaards prima facie irritierend anmutende These, die Subjektivität sei die Wahrheit, nicht missverstehend zu deuten, ist es wichtig zu betonen, dass damit keineswegs das Bemühen um objektive Erkenntnis als solches ad acta gelegt wird:
|| 215 Diem 1956a, S. 11. 216 Vgl. Heidegger 2014, S. 215. 217 SKS 7, 309f. / AUN2, 42. „Subjektivität dagegen bedeutet Interesse an mir selbst. Climacus bezeichnet daher die ‚Wirksamkeit des Erkennens‘ folgerichtig als interesselos, als objektiv“, so Hügli 1973, S. 77. 218 Lotz 1965, S. 48. 219 Janke 1992, S. 205. Kierkegaard bezieht sich selbst en passant auf die Dialektik Hamlets in den Philosophischen Brocken. Vgl. hierzu SKS 4, 246 / PB, 40. 220 Vgl. Camus 2011a, S. 15.
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Die Feststellungen objektiver, allgemeingültiger Erkenntnisse bleiben bei allen temporalen oder ewigen, historischen, mathematischen, metaphysischen Wahrheiten in Kraft. Der existierende Geist stellt zusätzlich eine weitere Nachprüfung an: Ist diese wissenschaftlich vergewisserte Wahrheit für mein Dasein von Interesse, oder bleibt sie gleichgültig, betrifft sie mein Existieren, oder ist sie existenzial indifferent.221
Objektives Wissen wird nicht als solches von Kierkegaard negiert oder zurückgewiesen, sondern als belanglos und unzureichend für seinen zentralen Untersuchungsgegenstand – die Existenz des Einzelnen – herausgestellt. Dort, wo es um objektivierbare, logisch konstituierte Gegenstände geht, behält objektive Erkenntnis ihre Gültigkeit und Legitimität. Wo es jedoch nicht darum geht, eine Wahrheit zu erfassen, sondern eine Wahrheit zu sein, haben wir es mit einem Gegenstand, nämlich der Existenz, zu tun, der sich im Werden befindet und sich somit rein objektiver, begrifflicher Erkenntnis entzieht.222 Kierkegaard weicht bewusst vom Weg des objektiven Wissens ab und fragt nach dem ,Richtigen‘ für unser Existieren:223 „Daß das objektive Denken seine Realität hat, leugne ich nicht, aber bei allem Denken, bei dem gerade die Subjektivität akzentuiert werden muß, ist es ein Mißverständnis.“224 Wie schon bemerkt, führt Kierkegaard die subjektive Wahrheit über ihr Gegenstück und Pendant, die objektive Wahrheit, ein. In der Nachschrift wird dazu angemerkt, dass der Leser darauf Acht geben möge, dass wenn von der subjektiven Wahrheit die Rede sei, von derjenigen gesprochen werde, die sich wesentlich zur Existenz verhalte, und dass „hier gerade der Gegensatz aufgezeigt wird, um sie als die Innerlichkeit oder als die Subjektivität klarzumachen.“225 Die Wahrheit verstanden als Subjektivität mündet also keinesfalls in eine Art Willkür, ganz im Gegenteil. Dass die Subjektivität die Wahrheit ist, besagt, „dass nur das – im existentiellen Sinn – wahr genannt zu werden verdient, was den Menschen in Wahrheit zum Subjekt macht.“226 Das mag
|| 221 Janke 2014, S. 22 (meine Hervorh.). 222 Vgl. Pieper 1968, S. 117 sowie ibid., S. 134: Es muss demnach nach Climacus eingesehen werden, dass „gerade der Begriff hinter der Wirklichkeit der in der Existenz entstandenen Wahrheit notwendig zurückbleibt und sie nur approximativ zu erfassen vermag.“ 223 Vgl. Decher und Hennigfeld 1992, S. 19. 224 SKS 7, 92 / AUN1, 85. Siehe dazu auch SKS 7, 174 / AUN1, 180: „[S]o ist die Wahrheit selbst in ein desideratur verwandelt und alles in das Werden gesetzt, weil der empirische Gegenstand nicht fertig ist und der existierende erkennende Geist ja selbst im Werden ist, und solchermaßen die Wahrheit ein Approximieren, dessen Anfang nicht absolut gesetzt werden kann, eben weil kein Abschluß da ist, was rückwirkende Kraft hat.“ 225 SKS 7, 182 / AUN1, 190. 226 Dalferth 2006, S. 245.
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zwar dem objektiven, wissenschaftlichen Wahrheitsverständnis nicht entsprechen, ist aber mit einem tiefen Ernst verbunden, insofern die eigene Existenz des einzelnen Menschen mit auf dem Spiel steht. In diesem Sinne lassen sich der Wissenschaft, der Metaphysik, der Ästhetik und dem Rationalismus Prädikate wie ,abstrakt‘ oder ,phantastisch‘ zuschreiben, da sie alle die Gemeinsamkeit haben, an der Existenz des jeweils einzelnen Menschen ohne Interesse zu sein.227 Um Kierkegaard keine Unwissenschaftlichkeit oder gar einen willkürlichen Irrationalismus unterstellen zu können, ist es erneut wichtig hervorzuheben, in welchem Sinne er also von einer Gleichgültigkeit objektiver Wahrheiten für den Einzelnen spricht: „Ob etwas so und so heißt, so und so beschaffen ist, ist für das jeweilige Individuum gleichgültig, solange dieses Etwas nicht selbst eine Bedeutung für das Individuum hat, d.h. solange das Verhältnis zum Gegenstand der Reflexion für das Individuum keine Konsequenzen hat.“228 Objektives Denken betrifft die Bereiche der diskursiven Vernunft, der Wissenschaft und Logik. Der subjektive Denker zeichnet sich hingegen durch Innerlichkeit und Leidenschaft aus.229 Kierkegaard hält demnach durchaus an der Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität fest und stellt diese selbst nicht infrage. Anders verhält es sich bei Nietzsche, dessen Systemkritik teils radikaler ausfällt, wie wir noch sehen werden. Gräb-Schmidt stellt pointiert heraus, dass es Kierkegaard um eine metaphysische Metaphysikkritik geht: Kierkegaard hält weiterhin am Begriff der Wahrheit fest. Was allerdings in der Moderne darunter zu verstehen ist, sei gänzlich neu zu bestimmen. Dabei werde die Existenz zum Kriterium der Wirklichkeitserschließung und die Wahrheit eine für das jeweilige Subjekt verbindliche.230 Es ist hilfreich, hier die Unterscheidung zwischen objektiver Reflexion (objektiver Wahrheit) und subjektivem Denken (Wahrheit als Subjektivität) analog zu derjenigen zwischen epistemischer und existenzieller Wahrheit zu betrachten. Epistemische Wahrheit konstituiert sich qua einer Übereinstimmung von Denken und Sein, von ,Was‘ und ,Dass‘; existenzielle Wahrheit durch eine Übereinstimmung „von dem, der lebt, mit dem, wie er lebt“,231 von ,Wer‘ und ,Wie‘. Dort, wo die Subjektivität die Wahrheit ist, kann es kein objektives Kriterium für Wahrheit mehr geben, da der Gegenstand der Reflexion nicht außerhalb des Menschen
|| 227 Vgl. Schmidinger 1983, S. 287f. 228 Glöckner 1998, S. 176. So weist auch Schmidinger 1983, S. 257 darauf hin, dass man Kierkegaard keinen „Willkür-Subjektivismus“ unterstellen kann. 229 Vgl. Stewart 2012, S. 95. 230 Vgl. Gräb-Schmidt 2017, S. 193f. 231 Dalferth 2006, S. 245f.
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liegt. Es kann nicht nach Wahrheit im Sinne einer adaequatio rei et intellectus gesucht werden, wie das zum Beispiel in der klassischen Adäquationstheorie der Wahrheit der Fall ist. In der subjektiven Reflexion ist die Frage nach der Wahrheit daraufhin ausgerichtet, ob der Einzelne selbst in der Wahrheit ist, das ,Wie‘ der Wahrheit ist entscheidend.232 Im Bereich subjektiver Wahrheiten kommt eine andere Bewertungsskala zum Tragen, dort bemisst sich der Wahrheitswert nicht anhand der Werte ‚wahr‘ und ‚falsch‘, wie es auf der Urteilsebene der Fall ist, sondern mittels der Kriterien ‚kontingierend‘ und ‚indifferent‘. Kontingierend sind solche Erkenntnisse, die wesentlich von Belang für meine Existenz sind, die mich im strikten Sinne des Wortes etwas angehen, mich berühren und mich tangieren. Indifferent hingegen sind solche, die ohne Auswirkung für meine konkrete Existenz bleiben und in diesem Sinne gleichgültig sind.233 Philosophiegeschichtlich interessant ist, dass schon Blaise Pascal in einem Kierkegaard verwandten Duktus das abstrakte bzw. naturwissenschaftliche Wissen zumindest als nicht alle Wissensbereiche abdeckend und somit defizitär herausstellt. Gerade in Bezug auf Fragen der Sinnhaftigkeit der Existenz könne naturwissenschaftliches Wissen als kontingentes Wissen kein Fundament legen:234 Ich hatte lange Zeit mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften verbracht, und der geringe Austausch, den man dabei mit anderen haben kann, hatte es mir leider verleidet. Als ich das Studium des Menschen begonnen habe, erkannte ich, daß diese abstrakten Wissenschaften nicht dem Menschen angemessen sind und daß ich von meiner Lage weiter abirrte, wenn ich mich in sie vertiefte.235
Geht es um den Menschen, und zwar um den Menschen als Existierenden wie sich im Sinne Kierkegaards ergänzen ließe, sind die abstrakten Wissenschaften, das objektive Denken, nicht geeignet, adäquate Antworten zu geben. Heinrich Barth verweist in seiner umfassenden Abhandlung Existenzphilosophie und neutestamentliche Hermeneutik in einem kleinen philosophiegeschichtlichen Abriss ebenfalls auf Pascals Gespür für existenzielle Fragen, das gerade im Umfeld des und in Abgrenzung zum Cartesischen Rationalismus zustande komme: „Diese Besinnung auf die Lebenslage ist aber um so weniger Sache einer beschaulichen Spekulation, als es in ihr nicht um irgend etwas, sondern um ,mich selbst‘ geht,
|| 232 Vgl. hierzu Glöckner 1998, S. 176f. 233 Vgl. zu den Wahrheitskriterien ‚kontingierend‘ vs. ‚indifferent‘ Janke 1992, S. 212. 234 Vgl. Hüsch 2007, S. 130. 235 Pascal 2012, S. 84.
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um meine Ewigkeit, um mein ganzes Sein, um ,mich selbst‘, der ich eben in meinem Selbst der Sicht der reinen Verstandeswissenschaft nicht zugänglich werden kann.“236 Bevor wir unsere Überlegungen zur Rolle des subjektiven Denkers fortführen, sei mir noch eine Nachbemerkung zum Verständnis der verschiedenen Wissenschaften bei Kierkegaard gestattet. Nun wird sich ein weiteres Mal zeigen, dass Irrationalismus- und Unwissenschaftlichkeitsavancen gegen Kierkegaard fehl am Platze sind. Heiko Schulz hat jüngst in seinem Aufsatz „Von der Existenzwissenschaft zur christlichen Redekunst“237 einen hilfreichen Hinweis auf eine Notiz aus Kierkegaards Journalen samt einer umfassenden Analyse geliefert. Ende 1842 hält Kierkegaard fest: „[D]ie unterschiedlichen Wissenschaften sollten gemäß der unterschiedlichen Weise, in der sie Sein akzentuieren, geordnet werden…Ontologie Mathematik. Ihnen kommt absolute Gewissheit zu – hier sind Denken und Sein eins, aber im Gegenzug sind diese Wissenschaften Hypothesen. Existenz-Wissenschaft.“238 Blicken wir für unsere Belange auf die grobkörnige Unterscheidung zwischen Wissenschaften, die von einer Einheit von Denken und Sein ausgehen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Indem Kierkegaard zwischen diesen beiden Wissenschaftstypen unterscheidet, tritt er sogar als Wissenschaftstheoretiker in einem weiten Sinne des Wortes in Erscheinung. Die abstrakten Wissenschaften wie Logik, Mathematik oder Ontologie sind nach Kierkegaard nicht von der Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit betroffen. Als reine Apriori-Wissenschaften gehen sie von der Identität von Denken und Sein aus. Sätzen der Mathematik kommt demnach auch im Denken Kierkegaards objektive Gültigkeit und Wahrheit zu.239 Die Mathematik gehört jenem Wissenschaftstypus an, in dem der Subjektivität als menschlichem Erkennen und Urteilen keine tragende Rolle zukommt. Dies liegt an der Tatsache, dass es in den
|| 236 Barth 1967, S. 36. So wurde, wie in der Einleitung (Kapitel 1.1) erwähnt, Blaise Pascal gelegentlich als ein Vorbereiter des existenziellen Philosophierens angesehen. 237 Vgl. Schulz 2019, insbesondere S. 99–107. Dort wird eine detailliertere Analyse der Kierkegaardschen Wissenschaftstypologie geboten als dies in unserem Rahmen möglich und nötig ist. 238 SKS 27, 271, Papir:281 (zitiert nach der Übersetzung von Schulz 2019, S. 99). Hierbei handelt es sich um eine bisher noch nicht in deutscher Übersetzung edierte Notiz. Daher halte ich mich hier an die Übersetzung von Schulz. Zu dieser Notiz vgl. ferner da Silva 2015, S. 4f. 239 Was Flynn 2008, S. 24 in Bezug auf die Existenzialisten insgesamt anmerkt, gilt hier demnach für Kierkegaard im Besonderen: „Die Existenzialisten sind keine Irrationalisten in dem Sinne, dass sie die Gültigkeit logischer Argumente und des wissenschaftlichen Denkens verleugnen würden. Sie stellen schlicht die Fähigkeit eines solchen Denkens in Frage, zu den tiefen persönlichen Überzeugungen, die unser Leben anleiten, vordringen zu können.“
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abstrakten Wissenschaften nicht „um das problematische Werden des Einzelnen, sondern um die logische Notwendigkeit von Wesensbeziehungen innerhalb eines Seienden“240 geht. Dort kann von einer Identität von Denken und Sein gesprochen werden, da hier ‚Sein‘ ideelles Sein bezeichnet. Demgegenüber steht die ‚Existenz-Wissenschaft‘, wie Kierkegaard sie in der zitierten Journalnotiz nennt, der Schulz in seinem angesprochenen Aufsatz detailliert nachgeht. Im Bereich der Existenzwissenschaft spielt das Subjektivitätsprinzip hingegen eine wesentliche Rolle, insofern „der behauptete Sachverhalt einen Widerspruch oder zumindest eine Spannung zwischen Idealität und Faktizität impliziert“.241 Untersuchungsgegenstand ist das faktische Sein, die Wirklichkeit, und dieses kann niemals eine Einheit mit dem Denken bilden. Hier geht es um Fragen der konkreten Gestaltung der einzelnen Existenz. Die Existenzwissenschaft scheint eine Wissenschaft von der menschlichen Existenz und mithin eine Art anthropologische Kontemplation242 zu sein. Der subjektive Denker tritt auf den Plan, das Handeln, mithin die Subjektivität, wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Der subjektive Denker als Wissenschaftler der Existenz, als „Existenzwissenschaftler“243 mit Schulz gesprochen, vergisst keinen Augenblick sein Interesse an sich selbst und der Wahrheit der eigenen Existenz, die somit nur eine subjektive sein kann. Von der Philosophie als Wissenschaft kann bei Kierkegaard nur im Sinne der Philosophie als Existenzwissenschaft gesprochen werden, wobei ein solches Verständnis mit einer Hegelschen Auffassung der Philosophie als Wissenschaft naturgemäß nichts mehr gemein hat. So rekapituliert Heiko Schulz treffend: „Wissenschaft in dem für Kierkegaard einzig akzeptablen Sinne wäre die Philosophie allenfalls in dem Bewusstsein, das den Philosophierenden in jedem Augenblick mit der Aufgabe konfrontiert, sich selber als Wissenschaftler den Abschied zu geben, um das Erkannte in Existenz auszudrücken und d.h.: als Existenzwissenschaft.“244 Der Philosoph sieht sich sowohl mit einem epistemologischen Problem (der erkenntnistheoretischen Schwierigkeit, die Existenz als etwas sich im Werden Befindendes zu erfassen) als auch mit einem methodologischen Problem (der Herausforderung der Mitteilung des über die Existenz Erfassten) konfrontiert. Da Silva weist zurecht darauf hin, dass sich nun die || 240 Schulz 2019, S. 102f. 241 Ibid., S. 100. Da Silva 2015, S. 12 resümiert: „([A]ctual) existence prohibits the identity of being (qua actual) and thought.“ 242 Vgl. Hügli 1973, S. 76. 243 Schulz 2019, S. 106. 244 Ibid., S. 106f. Kierkegaards Existenzwissenschaft stellt in dieser Hinsicht ein Gegenstück zur klassischen Metaphysik und seine christlichen Reden stellen einen Gegenpart zur Dogmatik dar. Vgl. dazu Kleinert 2019, S. 16f.
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Frage stellt, wie jemand Existenzwissenschaft betreiben kann, und verweist folgerichtig auf die Aufgabe des subjektiven Denkers.245 Der subjektive Denker Kierkegaards zeichnet sich demnach dadurch aus, dass er nicht Wissenschaftler – als jemand, der sich mit den abstrakten Wissenschaften beschäftigt –, sondern vielmehr als Existenzwissenschaftler Künstler ist: „Existieren ist eine Kunst. Der subjektive Denker ist ästhetisch genug, damit sein Leben ästhetischen Inhalt bekommt, ethisch genug, um es zu regulieren, und dialektisch genug, um es denkend zu beherrschen. Die Aufgabe des subjektiven Denkers besteht darin, s i c h s e l b s t i n E x i s t en z z u v er s t e h e n .“246 Existieren ist eine Kunst – eine Formulierung, die zum Leitmotiv späterer Existenzphilosophen werden sollte und wiederum auf Camus vorausweist, der den Künstler als den absurden Menschen par excellence beschreibt. Hier orientiert sich Kierkegaard am Ideal der Philosophen der griechischen Antike, nach welchem der Denker stets auch immer ein leidenschaftlich Existierender247 bzw. ein existierendes Kunstwerk gewesen sei: „Das Philosophieren war in Griechenland eine Handlung, der Philosoph daher ein Existierender“.248 Fasst man mit Kierkegaard die Existenz als ein Kunstwerk auf, so ist hinzuzufügen, dass ‚Kunst‘ hier gerade nicht als reines Betrachten zu verstehen ist. In der Nachschrift wird angemerkt, dass die Betrachtung von Kunst wiederum interesselos sei.249 ,Interesselos‘ und ,uninteressiert‘ bedeuten bei Kierkegaard, wie bereits gesehen, dass etwas ohne persönliche (An-)Teilnahme ist bzw. den einzelnen Existierenden nicht direkt angeht, betrifft und involviert: „Interesselosigkeit ist der Ausdruck für Gleichgültigkeit gegen die Wirklichkeit.“250 Wirklichkeit ist hier wieder im Sinne von Existenz zu verstehen. Das bloße Betrachten von Kunst, die bloße Freude über das Schöne ist interesselos, da in der reinen Kontemplation der Betrachter als „Existierender außer sich selbst ist.“251 Es geht nicht darum, als
|| 245 Vgl. da Silva 2015, S. 20. 246 SKS 7, 321 / AUN2, 55. 247 „Der griechische Philosoph war ein Existierender, und das vergaß er nicht“, so Kierkegaard in SKS 7, 281 / AUN2, 9. Miles 2013b, S. 439 konstatiert: „Indeed, as its name implies, philosophy is a passion (the love of wisdom). Kierkegaard found that the systematic philosophy of his day lacked this passion.“ Das antike Philosophieverständnis hingegen inkludiert diese Leidenschaft. 248 SKS 7, 302 / AUN2, 34. Siehe auch SKS 4, 503 / V, 212: „Dies hat die schöne griechische Wissenschaft verstanden, und darum ist es so wohltuend, sich mit ihr zu beschäftigen, weil sie die Menschen nicht verließ mit der Absicht wie eine Stimme aus den Wolken zu tönen, sondern auf der Erde blieb, auf dem Markte, beim Tun und Treiben der Menschen.“ 249 Vgl. SKS 7, 285 / AUN2, 13f. 250 SKS 7, 290 / AUN2, 19. 251 SKS 7, 285 / AUN2, 14.
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Außenstehender ein Kunstwerk zu betrachten, sondern sich selbst zu einem Kunstwerk zu machen. So bemerkt Kierkegaard schon in seiner Magister-Dissertation Über den Begriff der Ironie, in der Sokrates ausführlich behandelt wird, dass es auch dem Dichter nicht um das Poetische als Selbstzweck gehen darf, sondern es auf ein poetisches Leben ankommt.252 Kierkegaard sensibilisiert die Philosophie mittels des Interesses am individuellen Existieren und des Abschieds von abstrahierender und leidenschaftsloser Philosophie wieder für die Themen der Antike.253 Eine Besonderheit Kierkegaards besteht gerade darin, moderne Erfahrungen seines Zeitalters mit antiken Einsichten zu verbinden.254 So stellt er in einer der Nachschrift nachgestellten Erklärung klar, dass die Bedeutung der Pseudonyme darin liege, „die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen zu wollen.“255 Sich das Tradierte anzueignen, d.h. in Innerlichkeit noch einmal zu studieren, darin kann das Neue bestehen. Es darf keinen Hiatus zwischen dem Denker-Sein und dem Mensch-Sein geben, vielmehr müssen die eigenen Lehrinhalte stets mit der eigenen Lebensform bzw. Lebensweise konform gehen. „[D]aß die eigene Existenz des Denkers seinem Denken widerspricht, zeigt, daß man bloß doziert“,256 heißt es in Anlehnung an den bei Seneca anzutreffenden, stoischen Grundsatz, nicht in Worten, sondern in Taten bestehe die Philosophie.257 Bemerkenswert ist, dass für Kierkegaard in Bezug auf die Konformität von Denker-Sein und Mensch-Sein (Existenz) nicht Sokrates den Wendepunkt in der antiken Philosophie markiert – der allgemein mit der Epochenzäsur der Vorsokratik intendiert wird –, sondern Platon, da erst mit ihm die Spekulation in die Philosophie Einzug erhalten habe: Dieser Satz [alles Erkennen ist ein Erinnern] ist ein Anzeichen der beginnenden Spekulation, daher verfolgte ihn Sokrates auch nicht weiter, er wurde im wesentlichen ein Platonischer Satz. Hier geschieht es, daß der Weg abbiegt: Sokrates akzentuiert wesentlich das
|| 252 Vgl. SKS 1, 353f. / BI, 329f. Vgl. dazu Heymel 1988, S. 37. Die Dissertationsschrift Kierkegaards trägt den entsprechenden Untertitel „Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“. 253 Vgl. Birkenstock 2008, S. 89. 254 Vgl. Gantschow 2011, S. 154. 255 SKS 7, 573 / AUN2, 344. Kierkegaards Methode der Wiederholung sei hierfür wesentlich: „Die ‚Wieder-Holung‘ schafft etwas Neues, indem sie das Überlieferte, das vermeintlich Überholte, auf den jeweiligen historischen und kulturellen Kontext bezieht und es ‚noch einmal‘ existentiell liest“, so Becker-Lindenthal 2015, S. 4. 256 SKS 7, 276 / AUN2, 4. 257 Vgl. Seneca epist. mor. II, 16, 3.
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Existieren, während Plato, dies vergessend, sich in Spekulation verliert. Sokratesʼ unendliches Verdienst ist es gerade, ein e x i s t i e r e n d e r Denker zu sein, nicht ein Spekulant, der vergißt, was das Existieren ist.258
Kierkegaard verwendet einen zugespitzten Spekulationsbegriff, wie exemplarisch an dieser Stelle deutlich wird. Er setzt spekulatives Denken mit idealistischer Philosophie gleich, das zeigt sich hier anhand seines Rekurses auf die Anamnesis-Lehre. Letztlich ist für ihn spekulatives Philosophieren vor allem ein abstraktes, willkürliches und wirklichkeitsfernes Konstruieren, das er vor allem im Hegelschen System zu sehen meint.259 Es entspricht jenem abstrakten Philosophieren, welches glaubt, einen theozentrischen Standpunkt sub specie aeternitatis einnehmen zu können. So setzt Kierkegaard Spekulation und Theorie gleich: „Theozentrisch aber ist ja die Spekulation, und theozentrisch ist der Spekulant und theozentrisch ist die Theorie.“260 Kierkegaard würdigt hingegen stets die sokratische Ironie, das sokratische Verfahren der Negativität und Sokratesʼ Betonung des Nicht-Wissens. Mit der von Platon diesem Denken hinzugefügten Ideenlehre erhält für ihn die Spekulation Eintritt in die Philosophie. Nicht selten wurden in dieser Platon-Kritik Kierkegaards die Wurzeln seiner Kritik am idealistischen Denken gesehen,261 die somit bereits in seiner Schrift Über den Begriff der Ironie grundgelegt ist und in den späteren Schriften in seiner Hegel-Kritik ihren Höhepunkt erreicht. „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres, in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten iden-
|| 258 SKS 7, 188 / AUN1, 196. Delecroix 2006, S. 77 weist ebenfalls auf diese philosophiehistorische These Kierkegaards hin, wenn er konstatiert: „Si Socrate, le Socrate ,historique‘, selon Kierkegaard, a finalement eu la probité de rester fidèle à la tâche originelle qui a marqué son entrée en philosophie, il n’en a pas été de même de Platon qui a inauguré un principe de fuite dont, pour Kierkegaard, le ,Système‘, la philosophie hégélienne, nʼest que lʼachèvement grandiose – et ridicule.“ Siehe dazu auch Hagemann 2001, S. 37. Ebenso finden sich bei Nietzsche Hinweise darauf, Platon als die eigentliche ‚Schwellenfigur‘ in der antiken Philosophie zu skizzieren. Vgl. dazu Rapp 2011, dessen Aufsatz den programmatischen Titel „Friedrich Nietzsche and Pre-Platonic Philosophy“ (meine Hervorh.) trägt. Siehe hierzu Victor 2017, S. 303. 259 Zum Spekulationsbegriff bei Kierkegaard siehe Richter 1964, S. 190. 260 SKS 6, 159 / SLW, 178. 261 Vgl. hierzu u.a. Fujino 1994, S. 94.
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tifiziert, um darin zu exstistieren. Das ist die Handlung.“262 Sich mit dem Gedachten zu identifizieren, es in Existenz zu verwandeln und aktiv in die eigene Lebensweise einzubinden, das ist es, worauf es Kierkegaard ankommt und wovon sein Philosophie- und Wahrheitsverständnis geprägt ist. Alles ist angelegt auf ein Eins-Werden mit dem Gedachten in der Handlung, wodurch der Einzelne sein Selbst hervorbringt und bestimmt.263 Solange Wirklichkeit und Wahrheit, genauer gesagt das Verhältnis der beiden, nur im Allgemeinen, sei es logischer, metaphysischer oder dogmatischer Natur, behandelt werden, werden sie nach Kierkegaards Auffassung prinzipiell verfehlt.264 Das reine Denken,265 die Spekulation wie es heißt, stellt für ihn sogar eine ,psychologische Merkwürdigkeit‘ dar, was daher zu kommen scheint, dass Letztere quasi einen Teil des Menschen negiert, nämlich seine Leiblichkeit. „Der Spekulant…will ein Existierender sein, und doch wiederum ein Existierender, der nicht subjektiv existiert, der nicht in Leidenschaft ist, ja sub specie aeterni existiert – kurzum er ist distrait.“266 Der Spekulant, der objektive Denker, ist ,distrait‘, mithin im wahrsten Sinne des Wortes selbstvergessen, da er vergisst, wer er ist, nämlich ein in der Zeit existierender Mensch. Er bleibt von den erkannten Wahrheiten buchstäblich unberührt und führt nach Kierkegaard eine existenzvergessene reine Gedankenexistenz. Um sich von Philosophen wie Hegel abzugrenzen, nimmt sich Kierkegaard zum Beispiel Lichtenberg zum Vorbild: „Danke Lichtenberg, danke! denn Du sagst: dass es nichts Kraftloseres gibt als mit einem sogenannten Literator in der Wissenschaft zu sprechen, der selbst nicht denkt, aber 1000 historisch-literarische Umstände kennt. ,Es ist fast wie die Vorlesung aus einem Kochbuch, wenn man hungert‘.“267 Um den Unterschied zwischen reinem, objektivem Denken und subjektivem Denker
|| 262 SKS 7, 310 / AUN2, 42. Ähnlich heißt es in SKS 7, 156 / AUN1, 160: „[D]enn gerade darin liegt die Entwicklung der Subjektivität, daß der Mensch handelnd in seinem Denken über seine eigene Existenz sich selbst durcharbeitet; daß er also wirklich das Gedachte denkt, indem er es verwirklicht“. Zum Handlungsbegriff bei Kierkegaard insbesondere in der Nachschrift siehe Engmann 2017, S. 177–198. 263 Siehe hierzu auch Guardini 1971, S. 76: „Wahrheit bedeutet,…daß ich in der Bewegung mit Etwas mich richtig einsetze und darin mich realisiere, Selbst werde. Der Wahrheitsbegriff ist also überhaupt nicht vom Gegenstand her zu definieren, sondern vom Subjekt.“ Dieses ‚Sich-Einsetzen für etwas‘ ist Kierkegaards Leidenschaft des Denkens, sein Denken in Existenz. 264 Vgl. Deuser 2011c, S. 29. 265 „Hegels reines Denken ist insofern nur denkend und ohne Leidenschaft, als es von der existentiellen Erfahrung, die dem Denkenden widerfährt und diesen selbst betrifft, abstrahiert“, so Wesche 2013, S. 155. 266 SKS 7, 207 / AUN1, 218. 267 SKS 17, 231, DD:29 / DSKE 1, 195. Auf diesen Einfluss weist Schildknecht 1990, S. 138 hin.
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stärker zu akzentuieren, merkt Kierkegaard an eben genannter Stelle noch an, dies unterscheide Don Juan von Leporello: Während Ersterer genieße und verführe, notiere Letzterer „Zeit, Ort und Signalement des Mädchens.“268 Das reine Denken könnte jedoch nur von einem gottgleichen Wesen eingenommen werden, da es einen rein objektiven, göttlichen Standpunkt fordert, der von einem Existierenden niemals eingenommen werden kann.269 Kierkegaard dagegen plädiert somit für eine Leidenschaft des Denkens, die er durch sein ‚Denken in Existenz‘ Hegels reinem Denken gegenüberstellt. Ebenso setzt er, wie bereits in Furcht und Zittern gesehen, Leidenschaft und Wissenschaft einander entgegen. „Das Kierkegaardsche ,Denken in Existenz‘ geht aus sich selbst, d.h. aus Vernunftgründen über sich hinaus, und zwar in existentielle Praxis, die dagegen vom reinen Denken marginalisiert wird.“270 Hierzu gibt die Leidenschaft den entscheidenden Impuls und Anstoß.271 Sein Existenzdenken zielt auf Innerlichkeit und Subjektivität, wobei diesen beiden Termini ein sich von den idealistischen Vorgängern abgrenzendes Bedeutungsspektrum zugeschrieben wird, wie Kierkegaard selbst expliziert: Es ist nun in neuerer Zeit genug von der Wahrheit die Rede gewesen; jetzt ist es an der Zeit, daß die Gewißheit, die Innerlichkeit geltend gemacht werde, nicht im abstrakten Sinn, in dem Fichte dies Wort nahm, sondern durchaus konkret. Die Gewißheit, die Innerlichkeit, die allein handelnd erlangt wird und allein in der Handlung ist, entscheidet, ob das Individuum dämonisch ist oder nicht.272
Kierkegaards Verständnis von Innerlichkeit wird hier explizit deutlich: Innerlichkeit bedeutet Aneignung273 und ein Sich-Einverleiben im Konkreten im Gegensatz zur bloß abstrakten Innerlichkeit. Die Wahrheit wird erst in der in concreto vollzogenen Handlung manifest. Die Frage ist eben, ob ein Mensch „in tiefstem Sinne die Wahrheit erkennen…, sein ganzes Wesen von ihr durchdringen lassen…, alle ihre Folgen annehmen und nicht für den Notfall ein Schlupfloch für sich selbst“274
|| 268 SKS 17, 231, DD:29.a / DSKE 1, 195. 269 Siehe hierzu auch Diem 1956a, S. 20: „Das Subjekt dieses ‚reinen Denkens‘ könnte nur ein göttliches Wesen sein, dem die ganze Welt- und Menschheitsgeschichte abgeschlossen vorliegt, aber nicht ein in dieser Geschichte lebender und ein über sein eigenes Leben in dieser Geschichte nachdenkender Mensch. Hegel kann darum nicht zeigen, wie der empirische Denker sich in dieses Subjekt des reinen Denkens verwandeln und auf diese Weise theozentrisch werden soll.“ 270 Wesche 2013, S. 155. 271 Vgl. Miles 2013b, S. 441. 272 SKS 4, 439 / BA, 144. 273 Zum Motiv der Aneignung siehe Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 274 SKS 4, 439 / BA, 144.
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finden will. Die Kierkegaardsche Konstituierung der Innerlichkeit, der Subjektivität, die Selbstwerdung zielt somit auf Aneignung und Realisierung im Konkreten ab und unterscheidet sich darin von Fichte, wie auch Swenson konstatiert: „This self is not, however, a transcendental ego serving as a starting-point for metaphysical speculation, as in Fichte; it is, very simply, the concrete personality that constitutes for each one his appropriate ethical task.“275 In diesem Sinne gilt es, ein Selbst zu werden, wie sich im folgenden Kapitel (2.3) noch zeigen wird. Angemerkt sei in diesem Kontext noch einmal, dass es als ein Charakteristikum der Kierkegaardschen Philosophie gelten kann, Termini Idealistischer Systemphilosophie ein existenzielles Bedeutungsspektrum zu verleihen, was die Interpretation vor eine besondere Herausforderung stellt, da ohne jene existenzielle Deutung, die Texte Kierkegaards wie Bausteine einer Idealistischen Philosophie erscheinen – und das nicht zuletzt deshalb, weil er aufgrund seiner philosophischen Vorbildung de facto auf die Begriffe des Deutschen Idealismus rekurriert.276 Nicht immer grenzt er sich dabei, wie in der eben zitierten Passage, expressis verbis von seinen Vorgängern ab. Dieses Einverleiben und Verkörpern einer Wahrheit durch einen Menschen als Ganzen impliziert ein Philosophieverständnis, das zum Leitmotiv des Existenzialismus werden sollte, ob bei Camus, de Beauvoir oder auch bei Sartre – Letzterer bringt es seinerseits wie folgt auf den Punkt: „Wenn die existentialistische Philosophie tatsächlich vor allem eine Philosophie ist, die sagt: die Existenz geht der Essenz voraus, so muß sie, um wirklich aufrichtig zu sein, gelebt werden.“277 Wieder einmal kommt hier das Merkmal der Authentizität und Aufrichtigkeit zum Vorschein, das zum Wahrheitskriterium wird. Eine bereits in der Einleitung zitierte Stelle aus Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen erscheint einmal mehr als ein Kommentar zu Kierkegaards Programmatik und illustriert gleichsam sein eigenes Unterfangen: Wozu die ,Welt‘ da ist, wozu die ,Menschheit‘ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern…; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu‘ vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu‘.278
|| 275 Swenson 1983, S. 145. 276 Das merkt auch Schupp 2003, S. 466 an. 277 Sartre 1966, S. 37 (meine Hervorh.). Einen Überblick zum Philosophiebegriff/-verständnis des Existenzialismus verschafft Hügli 2007b, S. 205–210. 278 Nietzsche UB II, 9, KSA 1, S. 319 (meine Hervorh.).
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Dies liest sich beinahe wie eine Ergänzung zu folgender Passage aus Kierkegaards Nachschrift: „Das Ethische ergreift den Einzelnen und fordert von ihm, daß er sich alles Betrachtens enthalte, besonders der Welt und der Menschen; denn das Ethische als das Innere läßt sich überhaupt nicht von jemand, der draußen steht, betrachten, es läßt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren“.279 Der subjektive Denker ist nicht reiner Betrachter des Weltgeschehens. Fragen wie, warum die Welt als Ganze existiert, oder eine Betrachtung der allumfassenden Wirklichkeit im Hegelschen Sinne, sind nicht sein Ziel. Eine tiefere Einsicht in die Strukturen des Weltganzen ist dem Menschen als zeitlichem Wesen prinzipiell verwehrt. Der subjektive Denker erkennt das an und versucht fortan, seine eigene einzelne Existenz, genauer gesagt das Gestalten ebendieser, in den Mittelpunkt zu rücken und zu seiner Aufgabe zu erheben. Insofern kann der Begriff des Ethischen bei Kierkegaard im Sinne der „Existenzwirklichkeit des Einzelnen“280 überhaupt verstanden werden. Dies ist eine Bedeutung des Ethischen, wie sie vor allem in der Nachschrift Verwendung findet. Diese relativ weitgefasste Auslegung wird demnach in der vorliegenden Arbeit dominieren. Demgemäß steht überwiegend auch die Nachschrift im Zentrum. Die Notwendigkeit, den Einzelnen zum zentralen Gegenstand des Philosophierens zu machen, manifestiert sich am eindrucksvollsten anhand des so einschneidenden Phänomens des Todes. Der Tod gehört zu den Grundbedingungen des menschlichen Daseins und ist somit auch Grundbestand existenzphilosophischer Topoi. Der Tod hebt den Wert der Kategorie des Einzelnen geradezu hervor, da der Tod ‚vereinzelt‘ und jeden Menschen auf sich selbst zurückverweist. Kierkegaard hat sich in extenso mit dem Tod und der Verhaltensweise angesichts dieses Faktums in seiner Rede „An einem Grabe“ aus den Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten beschäftigt.281 Für uns ist hier wichtig, dass er die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem je eigenen Tod betont. So vermag uns die Endlichkeit der eigenen Existenz nach Kierkegaard gerade zu lehren, „daß der Ernst im Inneren liegt, im Gedanken, zu lehren, daß es lediglich ein Sinnentrug ist, wenn man…auf das Äußerliche sieht, oder wenn der Betrachter über dem Gedanken
|| 279 SKS 7, 292 / AUN2, 22 (meine Hervorh.). 280 Schwab 2013, S. 18. Dieser Gebrauch unterscheidet sich damit von der spezifischeren Verwendung aus Entweder/Oder, wo das Ethische eine bestimmte Lebensweise bezeichnet. Siehe hierzu auch Schwab 2014b, S. 77f. 281 Vgl. SKS 5, 442–469 / DRG, 173–205.
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des Todes tiefsinnig vergißt, seines eigenen Todes zu gedenken, ihn zu bedenken.“282 Gleichzeitig weist Kierkegaard richtig daraufhin, dass wir den Tod als Zustand betreffend auf keinerlei Erfahrung zurückgreifen können. Es ist uns lediglich möglich, den Tod der anderen zu betrachten und uns somit mit dem Tod als einem Ereignis auseinanderzusetzen, das anderen widerfährt. Dies bedeutet für Kierkegaard jedoch, einen bloß äußeren Standpunkt einzunehmen, was für ihn lediglich eine Stimmung (Scherz) darstellt, der es an jeglichem existenziellen Ernst mangelt.283 Mittels des Begriffspaars ,Innerlich-Äußerlich‘ richtet Kierkegaard wiederholt den Blick auf die subjektive und innerliche Perspektive und hebt hervor, dass sich gerade beim Phänomen des Todes die Relevanz ebendieser Perspektive zeigt: „Ist der Tod immer ungewiß und bin ich sterblich, so bedeutet das, daß sich diese Ungewißheit unmöglich im allgemeinen verstehen läßt, falls ich nicht auch so ein Mensch im allgemeinen bin…Aber das, daß i c h sterbe, ist für mich gar nicht so etwas im allgemeinen; für andere ist das, daß ich sterbe, so etwas.“284 Die Fokussierung auf die Kategorie des Einzelnen angesichts der eigenen Sterblichkeit wurde charakteristisch für den Existenzialismus. Dort hilft die reine Betrachtung des Todes der anderen nicht weiter. So betont etwa Camus seinerseits: „Der Mensch ist nicht nur das Soziale. Sein Tod wenigstens gehört ihm. Wir sind dazu geschaffen, mit den anderen zu leben. Aber man stirbt wirklich nur für sich.“285 Dem klassischen zoon politikon-Motiv des Aristoteles wird hier nicht widersprochen, sondern es wird um die Tatsache der existenziellen Vereinzelung des Menschen angesichts des Todes ergänzt.286 Es bleibt festzuhalten: Alle Menschen sind als sterbliche Wesen zum Tode verurteilt, aber jeder muss seinen je eigenen Tod sterben, und somit offenbart die Faktizität des Todes die Bedeutsamkeit des subjektiven Denkers. Der Kierkegaard- und Existenzphilosophie-Interpret Wolfgang Janke konstatiert treffend: „Der Tod macht einsam, die Menge der Toten bildet keine Gesellschaft. Und der Tod vereinzelt, seine ungewisse Gewißheit läßt jeden Einzelnen an seinen je eigenen Tod denken.“287 Anhand einer so für das konkrete Leben relevanten The-
|| 282 SKS 5, 444 / DRG, 175. 283 Vgl. SKS 5, 444 / DRG, 175f. 284 SKS 7, 154f. / AUN1, 157f. 285 Camus 2011c, S. 324 (meine Hervorh.). 286 Vgl. Kann und Victor 2017, S. 216. 287 Janke 1982, S. 14.
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matik zeigt sich also der Stellenwert eines auf den Einzelnen in je konkreten Lebenssituationen bezogenen Denkens der Existenzphilosophie. „[D]as einzig Ernste ist, dass ich sterben…muss“,288 notiert Kierkegaard. Zudem ist von Bedeutung, dass der subjektive Denker Kierkegaards nicht als Lehrer in dem Sinne auftreten kann, dass er eine ,fertige‘ und für alle Menschen adäquate und anderen vorzuziehende Lebensweise ,doziert‘ oder gar Autoritätsund Orientierungsansprüche erhebt: Anders mit mir; wenn all die Millionen, welche leben, mir im Verein mit der größten Bereitschaft entgegenkämen und sagten: Was willst du nun das wir sollen, sollen wir handeln wie du – so müßte ich antworten: nein; es lebt kein einziger Mensch, der die Aufgabe mit mir gemeinsam hat; und unter den Millionen gibt es wiederum – nach meiner Idee – keinen einzigen, der die Aufgabe gemeinsam mit einem anderen hat – und eben dies ist es, was ich verkündigen soll. Der Unterschied gleicht dem zwischen Sammeln und Zerstreuen; alle Verkündigung geschieht sonst in Richtung auf das Sammeln von Menschen, meine in Richtung auf ihre Zerstreuung, sie zu Einzelnen zu machen.289
Kierkegaard sieht seine Aufgabe darin, die Menschen zu zerstreuen, sie zu Einzelnen zu machen – für ihn eine durchaus positiv konnotierte Rolle. In der Menge sieht Kierkegaard hingegen eine Gefahr, da in ihr der Einzelne unterzugehen drohe. Dies könne wiederum zu einer Hegelschen Existenzvergessenheit führen. In der Gegenüberstellung von Menge und Einzelner spiegelt sich diejenige von Objektivität und Subjektivität wider: „Le lieu de l’objectivité, c’est une collectivité indistincte, la ,masse‘; le lieu de la subjectivité, c’est l’individu dans son parcours singulier.“290 In Fragen der Existenz gilt somit: Ist der Einzelne die Wahrheit, so ist die Menge die Unwahrheit,291 denn nur im Herausgetreten-Sein aus der Menge befindet sich der Einzelne konfrontiert mit seinem Tod, Gewissen und Gericht.292 Die Frage nach einer bestimmten Pflicht, die in der Formulierung ,Was
|| 288 SKS 21, 332, NB10:152 / DSKE 5, 391. 289 SKS 26, 188, NB32:102 / T 5, 287. Vgl. hierzu auch Hohlenberg 2011, S. 398. Analog dazu heißt es im Vorwort zu den Philosophischen Brocken: „Wollte hingegen jemand so höflich sein anzunehmen, ich hätte eine Meinung, triebe er gar die Liebenswürdigkeit so weit, diese Meinung anzunehmen, weil sie die meine sei, so tut es mir leid für seine Höflichkeit, daß sie einem Unwürdigen zuteil wird, und für seine Meinung, wenn anders er keine andre hat als die meine; mein Leben kann ich aufs Spiel setzen, mein Leben kann ich allen Ernstes zum Scherze machen – das eines andern nicht. Dies vermag ich, als das einzige, das ich für den Gedanken tun kann, ich der ich keine Gelehrsamkeit habe sie anzubieten“ (SKS 4, 217 / PB, 5f.). 290 Schulthess 2014, S. 124. 291 Vgl. SKS 16, 86 / GWS, 99 sowie SKS 20, 126–129, NB:215 / DSKE 4, 140–143. 292 Vgl. Janke 2014, S. 20.
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sollen wir tun?‘ durchscheint, kann nicht für alle auf gleiche Art und Weise beantwortet werden, vielmehr kann und muss sie jeder nur für sich selbst beantworten. Jedem Menschen wächst seine Aufgabe zu, worin diese Bestand hat, muss jeder Einzelne für sich bestimmen, darin manifestiert sich sein Akt der Freiheit.293 Dieser Aspekt wird uns in Kierkegaards Auffassung der Ethik als Selbstadresse in Kapitel 2.4 wiederbegegnen. Darüber hinaus findet sich in dem oben genannten Zitat erneut eine verblüffende Parallele zu Nietzsche, dessen Zarathustra verkündet, dass ein guter Lehrer seinen Schülern lehre, sich von ihm loszusagen. Für Kierkegaard fungiert hier Sokrates einmal mehr als methodisches Vorbild: „Sieh, Sokrates war ein Lehrer im Ethischen, aber er war darauf aufmerksam, daß es kein direktes Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem Lernenden gibt, weil die Innerlichkeit die Wahrheit ist, und weil die Innerlichkeit in jedem der beiden gerade der Weg ist, der sie fort voneinander führt.“294 Ihre Wege müssen sich zwangsläufig trennen, da jeder Einzelne für sich seinen Pfad der Existenz beschreiten und gestalten muss. In Fragen der Existenz ist die Innerlichkeit, die Subjektivität die Wahrheit. Diese Wahrheit kann weder gelehrt noch gelernt werden.295 Jene Wahrheit ist für das jeweilige Subjekt verbindlich und darf nicht mit einem allgemeingültigen Ideal und das Subjekt nicht mit einem Idol verwechselt werden.296 Dies führt notwendigerweise dazu, dass die Pfade des Schülers und des Lehrers sich separieren müssen, da Innerlichkeit Aneignung impliziert, die immer nur von dem jeweiligen betroffenen Subjekt selbst vollzogen werden kann. Am Beginn des Selbstwerdungsprozesses steht also ein ,Nein‘, ein Sich-Distanzieren und Sich-Lossagen von der Menge und/oder seinem Lehrer, um ein eigentliches Selbst zu entwickeln und nicht Gefahr zu laufen, nur Teil eines Ensembles gesellschaftlicher Umstände zu werden und sich auf diesen auszuruhen.297
|| 293 Vgl. hierzu auch Fonnegra 2017, S. 239. 294 SKS 7, 225 / AUN1, 240. Hadot 2005, S. 140 merkt bzgl. dieser Stelle an, dass Kierkegaard in der sokratischen Methode eine Methode der indirekten Kommunikation sah. Wir werden in Kapitel 2.5 dieser Arbeit ausführlich thematisieren, dass Kierkegaard selbst nach einer angemessenen Mitteilungsform suchte, und eine solche für sich in derjenigen der indirekten Mitteilung fand. 295 In den Philosophischen Brocken wird zu Anfang die Frage gestellt, inwiefern die Wahrheit gelernt werden könne (vgl. SKS 4, 218 / PB, 7). Der Übersetzer Emanuel Hirsch verweist interessanterweise auf die im Dänischen angelegte Doppeldeutigkeit: Es wäre sprachlich möglich, laeres auch mit ‚gelehrt‘ zu übersetzen. Siehe dazu PB, 168. 296 Vgl. auch Schlette 2017, S. 54. 297 Vgl. Glöckner 1998, S. 182.
Die Wahrheit ist die Subjektivität – die Wende hin zum Einzelnen | 89
Kierkegaard merkt weiterhin in ironisch-sarkastischer Manier, wie sie für ihn charakteristisch ist, an, dass Sokrates gerade deshalb über sein unvorteilhaftes Äußeres froh gewesen sei, da es dazu beigetragen habe, die nötige Distanz zu seinen Schülern zu wahren: Warum war nun wohl jener alte Lehrer [Sokrates] über sein vorteilhaftes Äußere so froh, wenn nicht aus dem Grunde, weil er einsah, daß es dazu beitragen würde, den Lernenden zu entfernen, so daß dieser nicht in einem direkten Verhältnis zum Lehrer hängenbliebe, ihn vielleicht bewunderte, seine Kleider vielleicht auf dieselbe Weise machen ließe, sondern durch das Abstoßen des Gegensatzes begreifen würde, was wieder auf höherer Ebene seine Ironie war, daß der Lernende wesentlich mit sich selbst zu tun habe und daß die Innerlichkeit der Wahrheit nicht die kameradschaftliche Innerlichkeit ist, mit der zwei Busenfreunde miteinander Arm in Arm gehen, sondern die Getrenntheit, in der jeder für sich selbst im Wahren existiert.298
Dem dargestellten Lehrer-Schüler-Verhältnis wohnt ein quasi dialektisches Moment inne, da der Lehrer eine abstoßende Wirkung auf den Lernenden ausüben sollte, damit dieser sich nicht mit der reinen Nachahmung begnügt, sondern sich zu einem einzelnen existierenden Menschen entwickelt. Kierkegaard selbst bemühte sich eindrucksvoll darum, nicht zu einem Objekt der Bewunderung oder der reinen Nachahmung zu werden – beides ist bei ihm stets negativ konnotiert. Bei Hagemann findet sich der Bericht einer Anekdote, wonach Kierkegaard durch Schmausen im Restaurant brave Vertreter der Geistlichkeit davon abgehalten habe, in ihm ein Vorbild zu sehen.299 „Man muß annehmen“, so Kierkegaard, „daß jeder Mensch wesentlich im Besitz dessen ist, was wesentlich dazu gehört, Mensch zu sein. Die Aufgabe des subjektiven Denkers ist, sich selbst in ein Instrument zu verwandeln, das deutlich und bestimmt das Menschliche in Existenz ausdrückt.“300 Damit dürfte das Aufgabenspektrum des subjektiven Denkers für unseren Rahmen hinlänglich erfasst sein. Es gilt, sich selbst in ein Beispiel eines einzelnen, existierenden Menschen zu verwandeln. In diesem Sinne dürfte es Kierkegaard auch nicht widersprechen, als Exempel zu fungieren, da jeder subjektive
|| 298 SKS 7, 226 / AUN1, 241. 299 Vgl. Hagemann 2001, S. 50. Die abstoßende Wirkung des Lehrers auf den Schüler hebt Pieper 1999, S. 152 als Charakteristikum des Mäeutikers hervor, das auf Sokrates und Kierkegaard gleichermaßen zutreffe: „Es ist klar, daß der Maieutiker sich dabei selbst als Person zurücknehmen muß, um sein Gegenüber nicht zu indoktrinieren, ja daß er es geradezu von sich abstoßen muß, um es nicht dazu zu verleiten, den Lehrer als Autorität oder bewundertes Vorbild zu imitieren.“ 300 SKS 7, 325 / AUN2, 60.
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Denker den anderen als ein formales Vorbild dienen kann, wenngleich jeder Einzelne seine Existenz im Sinne eines Kunstwerks selbst gestalten muss: Während das objektive Denken alles aufs Resultat abstellt und der ganzen Menschheit zum Betrügen durch Abschreiben und Hersagen des Resultats und des Fazits verhilft, stellt das subjektive Denken alles auf das Werden ab und läßt das Resultat aus, teils weil es eben dem Denker gehört, da er den Weg hat, teils weil er als Existierender ständig im Werden ist.301
Es ist richtig, zu konstatieren, dass Climacus hier mit zwei Formen des Resultats operiert: Im Unterschied zum objektiven Denken ist das Resultat des subjektiven Denkers „erstens stets auf den Einzelnen bezogen und zweitens als Resultat eines Existierenden immer in die Vorläufigkeit des Werdens hineingehalten. Innerhalb des Werdens der Existenz kann sich wohl so etwas wie ein ,Resultatʻ zeigen – niemals aber schließt dieses ,existenzielle Resultatʻ das Werden ab.“302 Wer meint, zu einem solchen Abschluss gelangen zu können, unterliegt einer Selbsttäuschung, da er den prozessualen Charakter der eigenen Existenz verkennt: „[D]enn wenn man glaubt, man könne…in strengerem Sinne das persönliche Leben zum Halten bringen und unterbrechen, so ist man im Irrtum.“303 Somit kann der subjektive Denker nie zu etwas Fertigem gelangen, Existenz bedeutet per se Unabgeschlossenheit, und so versteht sich auch, warum er niemals als Lehrer abgeschlossener, objektiv gültiger Lehren auftreten kann. Dass der subjektive Denker sein Vorhaben nicht durch einen Systembau realisieren kann, versteht sich sonach von selbst. Wie sich noch zeigen wird, entwirft Kierkegaard seine eigene Methode, die sich gerade durch ihre Ambivalenz, Vieldeutigkeit und Unabgeschlossenheit gegen philosophische Systeme richtet, deren Inhalte dadurch gleichwohl schwieriger zu fassen werden.304 Welche Implikationen hat diese vollzogene Wende hin zum Einzelnen auf das Menschenbild Kierkegaards? Lässt sich unter dem Aspekt des Werdens seine Anthropologie auf die Formel ‚Mensch ohne Wesen‘ zuspitzen und typisiert sie damit das Menschsein zugleich als ein ständiges Unterwegssein, das nicht auf ein a priori fixiertes Telos hinausläuft? Dieser Frage soll nun in einigen Bemerkungen zu seiner Anthropologie nachgegangen werden.
|| 301 SKS 7, 73 / AUN1, 65. 302 Schwab 2012, S. 94. 303 SKS 3, 161 / EO2, 175. 304 Siehe hierzu Kapitel 2.5 dieser Arbeit.
Mensch ohne Wesen? – eine Revision klassischer Anthropologie | 91
2.3 Mensch ohne Wesen? – eine Revision klassischer Anthropologie Das Metaphysische ist die Abstraktion, und es gibt keinen Menschen, der metaphysisch existiert.305
Das ‚In-der-Welt-Sein‘ des Menschen, ein von Heidegger geprägter Terminus, ist zentraler Untersuchungsgegenstand der Existenzphilosophie. Zu versuchen, die Situation des Menschen als Existierender in der Welt zu beschreiben, hat Kierkegaard in mannigfaltiger Art und Weise geleistet. Ihm wohnt dabei ein tiefenpsychologisches Feingefühl ebenso inne wie Nietzsche; beständig ist er auf der Suche nach Orientierung und Sinnstiftung und wird dabei stets mit der faktischen Ungeborgenheit der menschlichen Existenz konfrontiert. In Die Wiederholung wird die Situation des Menschen in der Welt besonders anschaulich und eindrucksvoll skizziert: Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum hat man mich nicht erst bekannt gemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingestukt in Reih und Glied als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt?306
Der Mensch, so Kierkegaard, wurde in die Welt hineingeboren, ohne vorher gefragt zu werden. Er findet sich nun in einer Welt wieder, die ihm unerklärlich erscheint, seine Fragen nach Sinn und Orientierung nicht beantwortet, die, wie Camus später sagt, vernunftlos schweigt,307 ihn alleine dastehen lässt und ihn somit auf sich selbst zurückverweist. Diese Situation des In-der-Welt-Seins versetzt den Existierenden in eine Art (Er-)Staunen, wie es Kierkegaards ausdruckvolle Schilderung nahelegt.308 Der Mensch ist in eine Welt hineingeworfen, deren Sinn
|| 305 SKS 6, 439 / SLW, 507. 306 SKS 4, 68 / W, 70f. 307 Vgl. Camus 2011a, S. 40. 308 An Aristotelesʼ Behauptung, das Staunen sei der Beginn der Philosophie, anknüpfend formuliert Foulquié 1947, S. 45: „L’existentialisme, pourrait-on dire, commence par l’étonnement d’exister.“
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sich ihm nicht erschließt. Alles erscheint ihm bedeutungslos und leer. Sein Dasein ekelt ihn an.309 Gamm stellt in Bezug auf Heidegger fest: „Wir sind in unserem Dasein, ohne gefragt zu werden: geworfen, gestoßen, gedrängt, gepresst usw., sodass der Mensch da ist: verloren und fremd, unumstößlich und zufällig, jeder für sich.“310 Dieser Aspekt ließe sich meines Erachtens problemlos auf Kierkegaard übertragen. Die Geworfenheit des Menschen verweist ihn zugleich auf sich selbst zurück, da sich seine Umgebung ihm als etwas ihm Fremdes präsentiert, und er sich somit dieser allein gegenübergestellt sieht. Einmal mehr wird hier der Einzelne zum Hauptgegenstand des Philosophierens. Das Dasein des Menschen wird schon bei Kierkegaard durch diverse Existenzialien wie das Inder-Welt-Sein, die Angst und die Sorge etc. grundlegend beschrieben. Existenzialien sind solche Begriffe, „in denen die ,Stimmung‘ des situationsverhafteten Denkenden mit einfließt.“311 Jene werden bei Heidegger zum Gegenstand einer spezifischen Analytik, der Fundamentalanalyse. So war es nach Rüdiger Safranski „der Geniestreich Martin Heideggers, die Sorge als das diensthabende Organ für die Erfahrung von Zeit identifiziert zu haben.“312 Vor allem die Angst nimmt im Kontext des existenzphilosophischen Freiheitsbegriffs und den damit einhergehenden ethischen Konsequenzen eine zentrale Rolle ein. Der Mensch findet sich in eine Welt hineingeworfen, ihr und dem Tod, der seine Existenz zeitlich begrenzt, kann er nicht entfliehen.313 Jener Handlungsrahmen ist die Notwendigkeit, die Endlichkeit (d.h. die realen Gegebenheiten, die sich den menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten entziehen: geschichtliche Lage, Neigungen, Geschlecht etc.),314 derer er sich nicht entziehen kann. Innerhalb dieses Rahmens jedoch kann er frei handeln und sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwerfen. Gerade im Hinblick auf den Tod, der die menschliche Existenz unausweichlich zeitlich begrenzt, bringt Kierkegaard das zum Ausdruck: „[W]enn der Tod die Nacht sei, so sei das Leben der Tag, und könne man
|| 309 Vgl. SKS 4, 68 / W, 70. Eine Formulierung, die Sartre später aufgreifen wird, wenn er seinem Roman Der Ekel exakt diesen Titel gibt. 310 Gamm 2009, S. 42. 311 Gantschow 2011, S. 139. 312 Safranski 2018, S. 65. 313 Natürlich könnte der Mensch der Welt durch Suizid ‚entfliehen‘. Die hier thematisierten Existenzphilosophien lehnen jedoch den Selbstmord als eine Art ‚Flucht‘ bzw. ‚Ausweichen‘ vor der Existenz ab. 314 „Diese Vorbestimmungen legen den Spielraum der Existenz fest und dieser Rahmen des Spielfeldes lässt sich durch den Einzelnen nicht verschieben“, so Gantschow 2011, S. 109.
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des Nachts nicht wirken, so könne man wirken des Tages“.315 Diese Handlungsfreiheit nennt Kierkegaard Unendlichkeit, wobei Unendlichkeit hier zunächst nicht mehr meint „als die nicht-endliche, d.h. die durch die realen Gegebenheiten nicht bestimmte Seinsmöglichkeit der menschlichen Existenz.“316 Der Mensch ist Freiheit im Sinne seiner Wahlfreiheit, seiner Einstellungs- und Haltungsfreiheit gegenüber gewissen Möglichkeiten. Notwendigkeit ist er zugleich, da jene Möglichkeiten sich durch gewisse, nicht in seiner Macht liegende, Rahmenbedingungen konstituieren.317 So lässt sich auch die Charakterisierung des Menschen als eines geworfenen Entwurfs – um die Terminologie Heideggers noch einmal aufzugreifen – verstehen. Der Mensch ist eben nicht nur Schöpfer, sondern – um in der christlichen Terminologie Kierkegaards zu sprechen – auch Geschöpf und somit ein in die Welt Geworfener: „Wir stehen unter den Bedingungen der gegensätzlichen Daseinsmomente. Dieses macht unsere conditio humana aus. Uns ist es versagt, aus dieser Grundgegebenheit des Menschseins herauszuspringen.“318 Zumindest könnten wir nur aus dieser herausspringen, indem wir zugleich uns und unsere Existenz mit aufheben würden. Kierkegaard beschreibt die Situation des Menschen als ein ständiges Oszillieren zwischen den Polen von Freiheit und Notwendigkeit, Zeitlichem und Ewigem, Unendlichem und Endlichem: „Was aber ist Existenz? Das ist jenes Kind, das vom Unendlichen und Endlichen, vom Ewigen und Zeitlichen erzeugt und daher beständig strebend ist…Nur Systematiker und die Objektiven haben aufgehört, Menschen zu sein, und sind die Spekulation geworden, die im reinen Sein zu Hause ist.“319 Der Existierende als ein Strebender, die Existenz als etwas, das in jedem Moment neu zu gelingen hat, dies reiht sich in den Gestus der bisherigen Kierkegaard-Darstellungen ein. Existieren ist für Kierkegaard durch Werden und Streben charakterisiert, was für den Menschen bedeutet, immer unterwegs zu sein.320 Das Oxymoron ,beständig strebend‘ meint dabei zwar, dass der Existierende sich dauerhaft im Werden befindet, zugleich jedoch, dass er in diesem Streben selbst Bestand hat, insofern es für ihn kennzeichnend ist.321 Im Kontext der Existenz als
|| 315 SKS 5, 452f. / DRG, 185. 316 Fahrenbach 1970, S. 16. 317 Vgl. hierzu auch Anz 1956, S. 58f. 318 Gantschow 2011, S. 113. Die Freiheit in Bezug auf das Selbstwerden wird bei Kierkegaard als einem christlichen Denker relativiert, insofern die Selbstschöpfung des einzelnen Menschen immer eine „bedingte Kreation des Geschöpfes Mensch“ (ibid.) bleibt. 319 SKS 7, 91 / AUN1, 85 (meine Hervorh.). 320 Vgl. Purkarthofer 2005, S. 59. 321 Vgl. ibid., S. 59f.
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etwas sich im Prozess Befindendes und stets Unabgeschlossenes wird das Leben des Einzelnen zum Fragment und Aphorismus, ein Gleichnis, das in Entweder/ Oder vorkommt und in seiner Charakteristik bereits an Nietzsche denken lässt, bei dem uns diese Metaphorik wiederbegegnen wird:322 „[W]ir, die wir nicht aphoristisch denken und sprechen, sondern aphoristisch leben...als Aphorismen im Leben stehen, ohne Gemeinschaft mit den Menschen,...einsame Vögel in der Stille der Nacht“.323 Die Existenzphilosophie ist uns bis dato als eine metaphysikkritische Strömung begegnet, die mit einer Abkehr von der Wesensphilosophie einhergeht und in dem für sie klassisch gewordenen Paradigma des Primats der Existenz vor der Essenz kulminiert. Wenn nun bei Søren Kierkegaard als einem Begründer der Existenzphilosophie, der ebenso stets betont, der Existierende befinde sich ständig im Werden, folgende Aussage auftaucht, mag das zunächst irritieren: „Man muß annehmen, daß jeder Mensch wesentlich im Besitz dessen ist, was wesentlich dazu gehört, Mensch zu sein. Die Aufgabe des subjektiven Denkers ist, sich selbst in ein Instrument zu verwandeln, das deutlich und bestimmt das Menschliche in Existenz ausdrückt.“324 Auch Kierkegaard scheint nicht zu leugnen, dass es etwas gibt, das allen Menschen wesentlich ist. In dem eben zitierten Satz rekurriert er gleich zweimal auf das Adjektiv ‚wesentlich‘. Fällt er hier etwa in einen Essentialismus zurück? Ganz so vereinfachend lässt sich das nicht darstellen. Zwar liefert Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode, seinem anthropologischen Hauptwerk, eine regelrechte Wesensdefinition des Menschen: Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält…; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis.325
Es wäre voreilig zu behaupten, Kierkegaard werde dadurch seinem eigenen Plädoyer für den subjektiven Denker untreu. Denn zum einen wird, wie Jochem Hennigfeld konstatiert, „die abstrakte Wesensbestimmung in vielfältigen Analysen…konkretisiert; zum anderen ist zu beachten, daß die eigentliche Konkre-
|| 322 Nietzsche spricht vom ‚Aphorismus-Menschen‘. Siehe hierzu Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit. 323 SKS 2, 214 / EO1, 234. 324 SKS 7, 325 / AUN2, 60 (meine Hervorh.). 325 SKS 11, 129 / KT, 8.
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tisierung nur vom Einzelnen in bezug auf seine eigene individuelle Existenz vollzogen werden kann.“326 So weist auch Walter Dietz darauf hin, dass zu der Bestimmung des Menschen als Geist eine Spezifizierung des Geistes als Selbst hinzukommt, wie auch dem eben genannten Zitat zu entnehmen ist. Darin manifestiert sich erneut Kierkegaards Wende hin zum Einzelnen und Konkreten: „Der Geist ist wesentlich er selbst, d.h. er ist nicht Geist schlechthin in der Allgemeinheit des res cogitans esse, sondern Geist in der Besonderheit individueller Existenz, die ihre Wesensbestimmung gerade darin hat, sie selbst zu sein bzw. zu werden, also nicht Mensch ,an sich‘ oder in abstracto.“327 Menschsein als Geistsein wird bei Kierkegaard näher hin als Selbstsein eines bestimmten Einzelnen gedacht, und somit kann Geist hier nicht als etwas Überindividuelles verstanden werden.328 Hier kommt auch die Distanz zu Hegels Konzept eines absoluten Geistes zum Ausdruck. Hinzu kommt: Da das Selbst als ein Verhältnis gedacht wird, das sich zu sich selbst verhält, wird es prozessual verstanden. Somit ist das Selbst nie, sondern wird329 und muss auch über das Werden ,bestimmt‘, im Sinne von ,ausgestaltet‘, werden. Dies schließt eine wesensspezifische Festlegung, ein objektives An-sich aus. Menschsein ist zwar aus formaler Perspektive wesentlich Selbstsein, dieses ist jedoch als ein Selbst-Werden zu verstehen: Der Mensch sei zwar als Selbst bestimmt, er kann aber niemals sein, sondern nur werden, so auch Banser und Bode.330 Um es mit den Worten des Johannes de Silentio, dem Pseudonym von Furcht und Zittern, zu sagen: „,Man muß weitergehen; man muß weitergehen‘.“331
|| 326 Hennigfeld 1998, S. 95. 327 Dietz 1993, S. 102f. sowie ibid., S. 106: „Das Selbst ist in seinem Kern nichts unmittelbar Vorhandenes oder Gegebenes. Deshalb fällt der Rückgriff flach; bleibt nur der Vorgriff...Nirgendwo in der Vergangenheit oder in aufweisbarer Gegenwart liegt das Selbst als ganzes schon beschlossen. Gerade darin zeigt sich die strukturelle Offenheit des Selbst.“ Anz 1956, S. 62 betont ebenso: „Geist ist also kein unser begrenztes Dasein übergreifendes allgemeines Leben, sondern Geist sind wir, je ich selbst, die absolut aus sich her beginnende Freiheit, sich zu verstehen und zu verhalten.“ In gleicher Weise argumentiert Ringleben 1995, S. 51: „Geist ist nicht etwas überindividuell Allgemeines, woran der einzelne Mensch bloß teilhat…, sondern Geist ist (jedenfalls im Falle des Menschseins) nur selbsthaft da. Geist ist das Selbstsein des je einzelnen Menschen. Was es mit dem Geistsein des Menschen auf sich hat, das läßt sich nur vom menschlichen Selbstsein her ausmachen und erfahren; denn beim Menschen gibt es ,den‘ Geist nur als verselbsteten, selbsthaften.“ 328 Vgl. hierzu auch Thonhauser 2011, S. 57. 329 Vgl. Hüsch 2014, S. 153. 330 Vgl. Banser und Bode 2018, S. 102. 331 SKS 4, 210 / FZ, 141.
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Das beschriebene Selbstverhältnis ist immer als ein konkretes Sich-zu-sichselbst-Verhalten des Menschen in spezifischen Situationen zu verstehen, und dieses Verhalten ist dadurch ein „je faktisches“332 Verhalten. Dass eine formale Grundstruktur vorhanden ist, die allerdings lediglich die Voraussetzung für die entscheidende Ausgestaltung durch den Einzelnen schafft, zeigt auch folgende Passage aus Die Krankheit zum Tode: „Ein jeder Mensch ist nämlich mit Ursprünglichkeit angelegt als ein Selbst, dazu bestimmt er selbst zu werden“.333 Der Mensch als Geist existiert immer als ein bestimmtes Selbst, und als ein solches existiert er als ein Einzelner. Kierkegaard geht es um das konkrete Selbst, das im Austausch mit seiner Umwelt steht und somit in konkrete Lebensumstände, historische und soziale Gegebenheiten involviert ist: „[D]ies Selbst, welches das Ziel ist, ist kein abstraktes Selbst, dass überall hinpaßt und daher nirgends, sondern ein konkretes Selbst, das in lebendiger Wechselwirkung steht mit diesen konkreten Umgebungen, diesen Lebensverhältnissen, dieser Ordnung der Dinge.“334 Dieses Selbst wird nicht als schlechthin gegeben aufgefasst, vielmehr obliegt es dem einzelnen Menschen, sein Selbst je individuell zu wählen bzw. zu entwerfen: „Damit verortet der dänische Denker den Grund des Personseins in den Vollzug der Selbstgestaltung.“335 Zugleich zeigt sich, dass Kierkegaard den Einzelnen nicht als einen von der Gesellschaft Isolierten betrachtet: Die subjektive Selbstwahl ist keine von der Welt und Umwelt – in einem weiten Sinne verstanden – losgelöste, sondern eine grundlegende Wahl in Kontinuität mit der Welt.336 Dieser Topos wird noch in Kierkegaards Ethik (Kapitel 2.4) von Bedeutung sein. Gerade auf diese erwähnte Konkretisierung kommt es an, in ihr geht der Mensch als ein sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwerfendes Wesen auf. Kierkegaard selbst formuliert, sich von der Aristotelischen Anthropologie distanzierend: „Das Metaphysische ist die Abstraktion, und es gibt keinen Menschen, der metaphysisch existiert. Das Metaphysische, das Ontologische i s t , aber es i s t nicht d a “.337 Was prima facie den Anschein einer Wesensbestimmung des Menschen im Sinne einer klassischen Substanzmetaphysik zu haben schien, entpuppt sich gerade als ihr Gegenteil. Kierkegaard bleibt in dieser Hinsicht seinem metaphysikkritischen Gestus treu und grenzt sich in seiner Anthropologie gerade || 332 Anz 1980, S. 54. 333 SKS 11, 149 / KT, 30 (meine Hervorh.). 334 SKS 3, 250 / EO2, 280. Siehe auch SKS 3, 206f. / EO2, 229. 335 Gantschow 2011, S. 107. 336 Vgl. Fonnegra 2017, S. 231. 337 SKS 6, 439 / SLW, 507. In SKS 7, 301 / AUN2, 33 heißt es: „Die Existenz ist beständig das Einzelne, das Abstrakte e x i s t i e r t nicht.“
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von einem Aristotelischen oder Cartesischen Ansatz ab. Der Mensch wird primär als Subjekt, d.h. als ein Handelnder, ein Akteur und nicht als Substanz verstanden, der bestimmte ihr wesentliche Attribute immer schon zukommen.338 Der Mensch wird nicht substanziell gedacht, sondern „relational als de[r], der in steter Auseinandersetzung mit sich selbst im unendlichen Prozeß des Werdens steht. Der Mensch wird Mensch, so müssen wir mit Kierkegaard sagen, erst indem er sich verhält zu seinem eigenen Inhalt.“339 Der Mensch bringt sein Selbst durch einen stetigen Selbstbezug bzw. -vollzug zuallererst aktiv hervor340 und konkretisiert es dadurch. In diesem Selbstvollzug als Selbstwahl kann es nicht abstrakt bleiben: „Indem Du nun Dich selbst absolut wählst, entdeckst Du leicht, daß dies Selbst keine Abstraktion…ist…Dies Selbst enthält in sich ein reiches konkretes Sein, eine Vielfalt von Bestimmtheiten, von Eigenschaften“.341 Dennoch muss relativierend angemerkt werden, dass, so revolutionär der Umkehrsatz vom Vorrang der Existenz vor der Essenz auch klingen mag, damit nicht das Ende jeglicher metaphysisch-essentialistischen Tradition eingeläutet wird. Denn es ist vollkommen zutreffend, wie Heidegger später in einer Replik auf Sartre kritisch anmerkt, dass die Umkehrung eines metaphysischen Satzes durchaus ein metaphysischer Satz bleibt.342 Ist von einem Anti-Essentialismus bei Kierkegaard die Rede, so stellt sich die Frage, um was für eine Art Anti-Essentialismus es sich handelt. Es erscheint angemessener, eher von einer Gewichtskorrektur als von einer totalen Zurückweisung von Essenz zu sprechen. Die Substanzphilosophie weist der Wesensfrage aus Sicht der Existenzphilosophie eben zu viel Gewicht zu. Die Formel, die Existenz gehe der Essenz voraus, bringt gerade jene Gewichtsverlagerung zum Ausdruck. Fujino spricht, sich auf den Unterschied zwischen Hegel und Kierkegaard beziehend, von einer Akzentverschiebung, die sich darin manifestiere, dass bei Hegel der Akzent auf dem Allgemeinen (Wesen) liegt, wohingegen es Kierkegaard auf die konkrete Gestalt (Existenz) ankommt.343 Als Existenzwissenschaftler – im in Kapitel 2.2 skizzierten Sinne – geht es Kierkegaard um ebendiese Existenz, dort sind abstrakte, wissenschaftliche Wesensbestimmungen fehl am Platze.344 Aufschlussreich sind diesbezüglich auch die Ausführungen von Jonathan Webber, der in Sartres Grundsatz ,Essenz‘ im Sinne der Aristotelischen Auffassung der Essenz eines Individuums || 338 Vgl. Dietz 1993, S. 102. 339 Fonk 1990, S. 184. 340 Vgl. Banser und Bode 2018, S. 29. 341 SKS 3, 213 / EO2, 236f. 342 Vgl. Heidegger 2004, S. 328 sowie dazu Janke 2014, S. 12. 343 Vgl. Fujino 1994, S. 114. 344 Vgl. hierzu SKS 7, 317 / AUN2, 51.
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versteht. Demnach sei die Kernaussage des Satzes, die Existenz gehe der Essenz voraus: „[E]ssence is formed through the sedimentation of their [human] projects chosen in their specific social environment“.345 Erneut erweist sich die Konkretisierung und Realisierung als entscheidend, genau wie dies schon beim Kierkegaardschen Verständnis des Geistes als Selbst deutlich wurde. Bollnows Erläuterungen zu Heideggers Existenzbegriff tragen hier auch in Bezug auf Kierkegaard zur Verdeutlichung bei. Er hält fest, die Existenz beim Menschen bedeute nicht das Wirklichsein eines Wesens, das diesem Wesen selbst äußerlich bliebe, sondern bedeutet das Wesen des Menschen selbst. Und umgekehrt bedeutet diese Aussage, daß das Wesen des Menschen in seiner Existenz bestehe, daß sich dieses Wesen nicht in bestimmten Inhalten aussprechen läßt, sondern als das ,nackte‘ Daß des Existierens die Ebene aller inhaltlichen Bestimmungen durchbricht.346
Das ,Dass‘, auf dem der Fokus der erwähnten Gewichtungskorrektur liegt, kommt auch in Kierkegaards pointierter anthropologischer Formel aus Die Krankheit zum Tode selbst zum Ausdruck: „[Das Selbst] ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“.347 Fahrenbach betont ebenfalls, dass wir bei Kierkegaard nicht mit einem anthropologischen Essentialismus, einer anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen im klassischen Sinne, konfrontiert werden, da die Grundsituation und Aufgabe der Existenz vielmehr „das Schema des Existierens als des Selbst-Werdens“348 formuliere und damit einen Prozess skizziere. Als Skizze eines Schemas verbleibt sie somit formal und enthält sich einer inhaltlichen, wesensmäßigen Bestimmung des Selbst,349 wodurch einmal mehr die substanzielle Offenheit der Kierkegaardschen Anthropologie zum Ausdruck kommt. Die Bedeutung des ‚Dass‘ in den Formulierungen Kierkegaards ist nicht zu unterschätzen. Das Selbst ist gerade nicht das Verhältnis, sondern die Tatsache, dass dieses Verhältnis sich zu sich selbst verhält. Die Gewichtung liegt somit auf der aktualen Entscheidung, und dieser Akt, die Selbstwahl, kann nie ein für alle Mal abgeschlossen sein. Die Selbstwahl ist als ein Selbstwerden zu verstehen, „dieser Akt bedarf im faktischen Vollzug der Existenz der je neuen und konkreten Realisierung.“350 Das Selbst bezeichnet lediglich
|| 345 Webber 2018, S. 11. 346 Bollnow 1984, S. 33. 347 SKS 11, 129 / KT, 8 (meine Hervorh.). Vgl. hierzu auch Banser und Bode 2018, S. 27. 348 Fahrenbach 1980, S. 158. 349 Siehe auch Banser und Bode 2018, S. 29. 350 Fahrenbach 2016, S. 224.
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den prozessualen Aspekt, die „Vollzugshaftigkeit dieses Vollzuges“351 und damit nichts Substanzielles. Die Gewichtsverlagerung im Verhältnis von Essenz und Existenz ist freilich nicht so zu verstehen, als sei der Mensch in jeglicher Hinsicht gänzlich und vollkommen unbestimmt. Eine gewisse biologisch grundgelegte gemeinsame Disposition, die uns einen einzelnen Menschen als Menschen der Art ‚Mensch‘ zuordnen lässt, wird und soll nicht geleugnet werden. Karl Löwith bringt dies in seinem Aufsatz „Natur und Humanität des Menschen“ in existenzphilosophischen Termini auf den Punkt: „Der Mensch lebt als Lebewesen zwar auch nach natürlichen Regeln...Aber zugleich existiert er in einer Weise, die weitgehend unfestgelegt und offen für unabgeschlossene Möglichkeiten ist.“352 Darin zeigt sich auch, worum es der philosophisch-existenzialistischen Anthropologie geht, nämlich um die Betrachtung des Menschen in Hinblick auf seine nicht-vorherbestimmten Möglichkeiten, die jeden Einzelnen erst zu einem Einzelnen werden lassen. Unter der oben genannten formalen Bestimmung des Menschen als einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, lässt sich ein Selbstverhältnis verstehen, das Tilo Wesche unter den Slogan der „Lebensverständigung“353 subsumiert. Lebensverständigung zielt dabei nicht auf die Erkenntnis eines bestimmten Gehalts, der ein gelingendes Leben präfiguriert, ab, sondern vielmehr auf die Evidenz der Frage, was Leben sei. „Kierkegaard legt damit menschliches Leben nicht auf mehr als dessen Fragecharakter fest: Ein Gelingen stellt sich da ein, wo dem Einzelnen sein Leben als ein solches zu begegnen vermag, das gedeutet sein will“354 – alles andere würde auch seinen metaphysischen Prämissen widersprechen. Heidegger bringt später in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Metaphysik jenen Fragecharakter, der die Existenz des Menschen auszeichnet, kurz und bündig auf den Punkt: „Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentlich Frage.“355 Der Werde-Charakter der Existenz lässt jene letztlich offen und unbestimmbar werden. Diese Negativität im Unterschied zu einer positiven Bestimmung des Menschen gilt es im Duktus einer negativen Anthropologie, zu berücksichtigen: „Gerade weil das Negative im Dasein vorhanden ist und überall vorhanden ist (denn Dasein, Existenz ist beständig im Werden), darum kommt es darauf an, als einzige Rettung davor, beständig darauf || 351 Thonhauser 2011, S. 58. 352 Löwith 1990b, S. 183. 353 Wesche 2013, S. 87f. 354 Ibid., S. 91. 355 Heidegger 1983, S. 152. Dazu passend formuliert Bloch 1985, S. 249: „Aus diesem Grund steht letzthin allein dieses zur genauen ontischen Diskussion: die Frage nach uns zu fassen, rein als Frage, nicht als konstruierten Hinweis auf eine verfügbare Lösung“.
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aufmerksam zu sein. Dadurch daß das Subjekt positiv sicher gemacht wird, ist es gerade angeführt.“356 Den Topos einer Anthropologie der Negativität werden wir bei Nietzsche erneut aufgreifen, und dieses Motiv wird sich als ein Kernmerkmal existenzphilosophischer Anthropologie insgesamt erweisen. Es gibt kein objektiv einsehbares Ideal gelingenden Lebens. Jeder Einzelne muss sein je eigenes Leben deuten, ihm Gestalt verleihen. Lebensverständigung adressiert sich an den Einzelnen in Existenz – in der reflexiven Struktur manifestiert sich eine Selbsttätigkeit – und entzieht sich somit zwangsläufig einer allgemeinen Bestimmung. Als negative Anthropologie bestimmbar, die keine Lebensverständigung proklamiert, die eine gewisse objektiv gültige Lebensbestimmung verkörpert, erkennt sie die irreduzible Vielheit an Gestaltungsmöglichkeiten an, die ein menschliches Leben annehmen kann:357 „Glaubt ein Mensch nämlich, daß das Allgemein-Menschliche außerhalb seiner liege, daß es ihm von außen her entgegenkommen solle, so ist er im Irrtum…Allein in sich selbst kann ein Mensch über sich selbst Aufklärung erhalten.“358 Ebenso sieht Kierkegaard sich selbst nicht als einen prototypischen Menschen an, vielmehr versteht er seine eigene Existenz als ein Leben auf den Versuch hin, eben lediglich als eine mögliche Weise zu sein: „Jedoch im Sinne des Humanen kann niemand sich nach mir bilden, und noch weniger bin ich in historischem Sinne für irgend einen Menschen Prototyp. Ich bin eher so wie man etwa in einer Krisis einen Menschen nötig hätte, ein Probestück, welches vom Dasein gebraucht wird, um sich vorzufühlen.“359 Kierkegaard ist auf der Suche nach seinem eigenen Gesetz für seine Existenz, für das es keinerlei objektive inhaltliche Kriterien gibt.360 Generell gilt, dass niemand einem anderen Menschen als Prototyp, d.h. gewissermaßen als Vorlage oder Muster, dienen kann. Dies
|| 356 SKS 7, 81 / AUN1, 73. Hierzu Rasmussen 2004, S. 259: „In this quotation negativity is presented as a structural determination of human existence.“ Negativität ist eine strukturelle Bestimmung menschlicher Existenz, da sich die Existenz durch eine „insufficiency“ (ibid., S. 260) auszeichnet. 357 Vgl. Wesche 2013, S. 156. „Das Recht, sie als eine Anthropologie des Negativen zu apostrophieren, beruht auf dem Verfahren, Lebensverständigung im Ausgang des diagnostizierten Misslingens zu suchen“ (ibid., S. 139f.). 358 SKS 3, 247 / EO2, 276. Siehe hierzu auch folgende Passage aus Der Liebe Tun: „Und nun der Unterschied zwischen Mensch und Mensch! Wie unendlich! Wofern das nicht der Fall wäre, so wäre der Mensch entwürdigt; denn des Menschen Vorzug vor dem Tiere ist nicht bloß, was man meistens nennt, das Allgemein-Menschliche, sondern zugleich, was man meistens vergißt, die Tatsache, daß jeder einzelne innerhalb des Geschlechts das wesentlich Verschiedenartige oder Eigentümliche ist.“ (SKS 9, 231 / LT, 255). 359 SKS 6, 339 / SLW, 388. Siehe hierzu auch Diem 1956a, S. 14. 360 Vgl. Schlette 2017, S. 40.
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scheint ein Ariadnefaden des Kierkegaardschen Gesamtœuvres zu sein: „Was auch ein Geschlecht lernen möge vom anderen, das eigentlich Humane lernt kein Geschlecht von dem vorausgehenden. Was das Humane angeht, so fängt jedes Geschlecht ganz von neuem an“.361 Nach typisch existenzialistischer Auffassung ist der Mensch dasjenige Wesen, welches sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwirft. Darin manifestiert sich seine Freiheit: „Das Mögliche entspricht ganz und gar dem Zukünftigen. Das Mögliche ist für die Freiheit das Zukünftige, und das Zukünftige ist für die Zeit das Mögliche.“362 Als Existierender befindet sich der Mensch in einem ständigen Werden und ist somit zugleich ein Strebender, insofern er sich immer wieder von Neuem auf zukünftige Möglichkeiten hin entwerfen muss. Dieses Entwerfen und Gestalten der eigenen Existenz ist Ausdruck seiner Freiheit. Das Mögliche als das Zukünftige ist der Ermöglichungsgrund der Freiheit des Menschen.363 Der Mensch ist immer nur das, was er aus sich selber macht – er erschafft gewissermaßen sein ,Wesen‘ selbst. Nichts anderes besagt die Formel, die Existenz gehe der Essenz voraus. Ebenso schafft sich der Mensch nach Kierkegaard qua seiner Freiheit der Wahl selbst: Wer dagegen sich ethisch wählt, der wählt sich konkret als dies bestimmte Individuum… Der einzelne Mensch wird sich also seiner bewußt als dies bestimmte Individuum mit diesen Fähigkeiten, diesen Neigungen, diesen Trieben, diesen Leidenschaften, als beeinflußt von dieser bestimmten Umwelt, als dies bestimmte Produkt einer bestimmten Umwelt. Indem er aber auf diese Art sich seiner bewußt wird, übernimmt er für alles miteinander die Verantwortung…[D]enn er wählt sich selber als Produkt; und diese Wahl ist der Freiheit Wahl, in dem Sinne, daß man von ihm, indem er sich selbst als Produkt wählt, ebenso gut sagen kann, er produziere, erzeuge sich selbst…Er hat seinen Platz in der Welt, in der Freiheit wählt er seinen Platz selber, d.h. er wählt den gleichen Platz. Er ist ein bestimmtes Individuum, in der Wahl macht er sich selbst zu einem bestimmten Individuum, zu dem gleichen nämlich; denn er wählt sich selbst.364
Durch die Wahl, die sich im konkreten Existenzvollzug vollzieht, erhält das Freiheitsproblem eine zutiefst praktische Dimension: „In der Konkretion der Wahl ist
|| 361 SKS 4, 208 / FZ, 139. 362 SKS 4, 394 / BA, 93. 363 Vgl. hierzu auch Banser und Bode 2018, S. 36. 364 SKS 3, 239f. / EO2, 267f. (meine Hervorh.). An anderer Stelle heißt es sinnverwandt: „Wer ethisch sich selbst gewählt und gefunden hat, hat sich bestimmt in seinem ganzen konkreten Sein. Er besitzt sich also als dies Individuum, welches diese Fähigkeiten, diese Leidenschaften, diese Neigungen, diese Gewohnheiten hat, welches unter diesen äußeren Einflüssen steht, welches in der einen Richtung diese, in der anderen jene Einwirkung erfährt.“ (SKS 3, 249f. / EO2, 279; meine Hervorh.).
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der Mensch frei, dort wo sein Selbst, seine Persönlichkeit ihr Dasein gewinnt.“365 Dieser Gestaltungsprozess und die mit ihm verbundenen Wahlmöglichkeiten offenbaren zweierlei: (1) die Freiheit der Wahl, die Freiheit des Menschen und zugleich (2) seine Pflicht und Verantwortung für diese Wahl. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich selbst zu wählen, zugleich soll und vielmehr muss er eine Wahl treffen, um ein Selbst zu werden. Es stellt eine positive Aufgabe (qua Gestaltungsfreiheit) und Pflicht gleichermaßen dar. Kierkegaard selbst spricht in seinen Tagebüchern dahingehend vom ethischen Können als einem „Könnensollen.“366 Prägnanter kann die der Wahl zugrunde liegende Dialektik nicht zum Ausdruck gebracht werden. Existieren impliziert eine Wahl. Eine Wahl beinhaltet per definitionem eine Möglichkeit, eine Freiheit. Zugleich zeichnet sich Existenz zumindest formal durch diese Wahl aus, wodurch diese zur Aufgabe und Pflicht gleichermaßen wird. Die Existenz wird für den Menschen demzufolge zu einem KönnenSollen: „Es zeigt sich, daß man wählen kann, und zugleich, daß man wählen soll“367 und wählen muss. Hier klingt schon Sartres Ausruf des zur Freiheit verdammten Menschen an. Die Freiheit selbst, der Akt der Wahl, steht nicht zur Disposition. So kann später Simone de Beauvoir sagen, „daß der Mensch nicht positiv wählen kann, ob er seine Freiheit leugnen oder annehmen will, denn sobald er wählt, nimmt er sie an.“368 Indem der Mensch sich selbst wählt, bzw. wählen muss, und sich in diesem Sinne als ein Produkt selbst hervorbringt, kann er auch die Verantwortung für diesen Produktentwurf auf keinen anderen als ihn selbst mehr abwälzen – die Freiheit der Wahl wird fortan zur größten Bürde des Menschen. Auf diesen Aspekt wird insbesondere in Bezug auf ethische Fragestellungen und Implikationen zurückzukommen sein.369 Das Hervorheben der Freiheit des Gestaltungsprozesses bringt einmal mehr die Absage an objektiv gültige und zu erlangende Lebensideale zum Ausdruck. Mit Blick auf den Ironiker – eine mögliche Form von Existenz370 – heißt es:
|| 365 Barth 1926, S. 201. Bei Kierkegaard heißt es dazu passend: „Nunmehr hat er also sich selbst zu eigen als durch sich selbst gesetzt, das will heißen als gewählt von sich selbst, als frei“ (SKS 3, 214 / EO2, 237). 366 SKS 27, 409, Papir 368:4 / T 2, 113. 367 Grøn 1999, S. 81. 368 De Beauvoir 2007, S. 98. 369 Aufgrund der strukturellen Veranlagung ist menschliches Selbstwerden bei Kierkegaard als Möglichkeit, aber auch als Last sowie Bürde zugleich zu betrachten. Vgl. hierzu auch Banser und Bode 2018, S. 37–39. 370 Zur Ironie als Daseinsform bei Kierkegaard vgl. Pivčević 1960.
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„Ebenso wenig aber wie Dutzendmenschen irgend ein ,An-sich‘ besitzen, sondern alles Beliebige werden können, ebenso wenig hat auch der Ironiker solch ,Ansich‘.“371 Im Kontext von Kierkegaards sogenannter ,Stadienlehre‘ werden wir die Absage an ein teleologisch zu erreichendes Lebensideal unter Rekurs auf die damit einhergehende Forschungskontroverse noch ausführlicher thematisieren.372 Trotzdem und zugleich kommt die uneinholbare Prägung des Einzelnen durch die ihn umgebende Umwelt zum Ausdruck. Der einzelne Mensch ist immer schon ein Kind seiner Zeit, geprägt durch gewisse historische, soziale und somit vorbestimmte Faktoren, die außerhalb seiner Macht liegen. Der Existierende ist zwar in einer Hinsicht frei, zugleich ist seine Freiheit jedoch immer durch etwas anderes, sich seiner direkten Verfügungsgewalt Entziehendes, bedingt.373 Die Rahmenbedingungen, in die er hineingeboren wurde, in die er eingebettet ist, seine Umwelt und Mitmenschen mit denen er zwangsläufig immer schon interagiert, sind der Kontext, innerhalb dessen, und der Hintergrund, vor dem der Einzelne sich qua seiner Freiheit der Wahl selbst bestimmt, produziert und hervorbringt als dies bestimmte Individuum: Darin nämlich liegt eines jeden Menschen ewige Würde, daß er eine Geschichte bekommen kann, darin liegt das Göttliche an ihm, daß er selbst, so er will, dieser Geschichte Zusammenhang verleihen kann; denn diesen gewinnt sie erst, wenn sie nicht bloß der Inbegriff des mir Geschehenen oder Widerfahrenen ist, sondern meine eigene Tat, dergestalt, daß sogar das mir Widerfahrene durch mich von Notwendigkeit in Freiheit gewandelt und übergeführt worden ist.374
Das Selbst, das der Einzelne durch seinen Akt der Wahl gestaltet, wird bei Kierkegaard geschichtlich verstanden, im Sinne der Geschichte der eigenen Persönlichkeit des Einzelnen.375
|| 371 SKS 1, 317 / BI, 287 (meine Hervorh.). 372 Siehe hierzu Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 373 Insbesondere geht mit einem solchen Freiheitsbegriff eine gewisse Ambivalenz einher. So drängt sich die Frage auf, wie viel Freiheit und Handlungsmöglichkeit dem Einzelnen in diesem Menschenbild de facto bleiben. Nach Demmerling 2013, S. 35 haben wir es bei Kierkegaard demnach mit einem bedingten Freiheitsverständnis zu tun. 374 SKS 3, 239 / EO2, 267. 375 „Er entdeckt nun, daß das Selbst, welches er wählt, eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich trägt, sofern es eine Geschichte hat, eine Geschichte, in der er sich zu der Identität mit sich selbst bekennt.“ (SKS 3, 207 / EO2, 229). Vgl. hierzu auch Miles 2013a, S. 230. Der Geschichtlichkeit des Selbst werden wir auch bei Nietzsche begegnen. Siehe hierzu Kapitel 3.2 dieser Arbeit.
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Im Bestimmtsein durch gewisse Umstände und der zugleich ,totalen‘ Freiheit innerhalb dieser Umstände manifestieren sich einmal mehr Parallelen zu Nietzsche, für den der Mensch ebenso durch die Faktoren seiner Epoche geprägt ist, wobei es stets gilt, auf diese Epoche einen distanzierten Blick im Sinne der Unzeitgemäßheit einzunehmen. Das dialektische Moment des Individuumseins bzw. -werdens ist entscheidend und sei an dieser Stelle noch einmal zusammengefasst: Der Einzelne produziert sich selbst durch die Freiheit der Wahl und wählt somit sein konkretes bestimmtes Selbst, das wiederum immer schon durch seine Umwelt und gewisse Situationen, die gleichsam die Rahmenbedingungen seiner Wahlmöglichkeiten bilden, bestimmt ist.376 Die Ambiguität der Existenz drückt sich in der unaufhebbaren Dialektik zwischen der absoluten Freiheit auf der einen und der unhintergehbaren Gebundenheit an bestimmte kontingente Situationen auf der anderen Seite aus.377 Dadurch, dass die Existenz jedoch als ein Prozess begriffen wird, hat das Leben des Existierenden in jedem Augenblick neu zu gelingen – ein Stillstand oder eine Vollendung im strikten Sinne werden nicht erreicht. „Existentiell gesehen befindet sich der Einzelne immer in einer besonderen Situation. Hier sieht er sich oft alternativen Handlungsabläufen gegenüber, ist immer im Werden, bewegt sich vorwärts in der Zeit und tritt in gewissem Sinne jeden Augenblick ins Dasein.“378 Die zeitliche Struktur der conditio humana impliziert, wie in den vorherigen Kapiteln gesehen, dass der Mensch bzgl. seiner Existenz niemals zu einer objektiven Wahrheit gelangen kann, da er sich als Existierender immer in der Zeit befindet. Somit ist seine Existenz stets dynamisch, offen, unvollendet und kann niemals statisch bzw. abgeschlossen sein.379 Existenz im existenzphilosophischen Sinne entzieht sich somit auch jeglicher inhaltlichen Wesensbestimmung, die aus ihr ein starres Gebilde entstehen ließe. Mit Kurt Weisshaupt lässt sich dies auf die prägnante Formulierung bringen: „Nur im Werden ist das Selbst es selbst.“380 Die Existenz zeichnet sich durch das Wie ihres Vollzugs aus, wie auch das Was-Sein des Menschen nur durch seine möglichen Weisen zu sein.381 Einmal
|| 376 Dazu fasst Fahrenbach 2016, S. 229f. zusammen: „Das konkrete Selbst bezeichnet nicht nur die individuelle Bestimmtheit eines jeden Menschen, sondern seine Daseinssituation im ganzen, d. h. zugleich den Weltbezug, in dem er jeweils steht.“ 377 Vgl. Luckner und Ostritsch 2018, S. 146. 378 Anderson 2016b, S. 438. 379 Vgl. Flynn 2008, S. 44. 380 Weisshaupt 1973, S. 113. „Das eigentlich zu Erstrebende ist nicht das inhaltlich feststehende Objektive, sondern das Streben selbst: das Streben wird sich selbst zum Inhalt der menschlichen Existenz, der als solcher von ihr und durch sie anzueignen ist“, so Schulz 1971, S. 314. 381 Vgl. Zimmermann 1977, S. 16.
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mehr verbirgt sich hierhinter eine Abkehr von der traditionellen Metaphysik im Sinne der Wesensphilosophie und der idealistischen Schulen, womit Kierkegaard der existenzphilosophischen Anthropologie im Allgemeinen ihre Konturen verleiht. Damit stehen seine und die existenzialistische Anthropologie überhaupt in einem grundlegenden Gegensatz zu derjenigen Hegels. Bei Hegel geht vielmehr das Wesen der Existenz voraus: „Das Wesen ist in die Existenz übergegangen, insofern das Wesen als Grund sich von sich als dem Begründeten nicht mehr unterscheidet oder jener Grund sich aufgehoben hat“,382 so Hegel in der Wissenschaft der Logik. Hermann Deuser fasst diese grundlegende Umkehr der ontologischen Vorrangigkeit zwischen Wesen und Existenz, welche die Existenzphilosophie innerhalb der Philosophiegeschichte vollzieht, wie folgt zusammen: „Nicht mehr tritt die Existenz aus ihrer vorrangigen Wesensbestimmung bloß hervor – wie die philosophische Tradition bis zu Hegel es aufgefaßt hatte –, sondern umgekehrt ist das faktische Existieren und mein Interesse zwischen Denken und Sein, Denken und Handeln dem Erkenntnisakt gegenüber ontologisch vorausliegend.“383 Damit wird freilich der Grundstein für Sartres Primat der Existenz vor der Essenz gelegt, der zugleich das Spezifikum und die Sonderstellung des Menschen exponiert, da dieser das einzige Wesen ist, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht.384 Hinsichtlich der Distanzierung von der Wesensphilosophie erscheint auch Kierkegaards Variation der delphischen Tempelinschrift von ‚Erkenne dich selbstʻ zu ‚Wähle dich selbstʻ aufschlussreich. Die Aufforderung ‚Erkenne dich selbst‘, so Kierkegaard, ist oft genug wiederholt worden, und man hat darin das Ziel für das gesamte menschliche Streben erblickt. Das ist auch durchaus richtig, es ist jedoch ebenso gewiß, daß dies nicht das Ziel zu sein vermag, wenn es nicht zugleich der Anfang ist. Das ethische Individuum erkennt sich selbst, aber dies Erkennen ist keine bloße Kontemplation, denn damit ist das Individuum bestimmt nach seiner Notwendigkeit, es ist eine Besinnung auf sich selbst, die selber eine Handlung ist, und darum habe ich statt des Ausdrucks ,sich selbst erkennen‘ mit Fleiß den Ausdruck ,sich selbst wählen‘ gebraucht. Indem also ein Mensch sich selbst
|| 382 Hegel 1969, S. 128. An anderer Stelle heißt es: „Die zur Unmittelbarkeit fortgegangene Wesenheit ist zunächst Existenz und Existierendes oder Ding“ (ibid., S. 124). 383 Deuser 1985, S. 111. Vgl. auch Fujino 1994, S. 115, bei dem von einer philosophiegeschichtlichen Zäsur hinsichtlich des von Kierkegaard ausbuchstabierten Existenzbegriffs die Rede ist. 384 Löwith 1990b, S. 183 stellt in seinem Aufsatz „Natur und Humanität des Menschen“ in existenzphilosophischer Terminologie dieses Alleinstellungsmerkmal des Menschen pointiert dar: „Der Mensch lebt als Lebewesen zwar auch nach natürlichen Regeln...Aber zugleich existiert er in einer Weise, die weitgehend unfestgelegt und offen für unabgeschlossene Möglichkeiten ist.“
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erkennt, ist er nicht am Ende, vielmehr ist dies Erkennen in hohem Maße fruchtbar, und aus diesem Erkennen geht er nach seiner wahren Individualität hervor.385
Die Umformung des ,Erkenne dich selbstʻ zu ,Wähle dich selbstʻ bringt das Charakteristische, mithin Prozesshafte der Kierkegaardschen Anthropologie zum Vorschein: Die Inschrift des Tempels von Delphi verweist auf einen bloßen Akt der Kontemplation, welcher bereits ein Selbst im metaphysisch-ontologischen Sinne voraussetzt, da es sonst nicht erkannt bzw. erinnert werden könnte. Demgegenüber intendiert der Imperativ ,Wähle dich selbst‘ einen Akt, aus dem heraus sich das Selbst als ein bestimmtes, konkretes Selbst zuallererst hervorbringt und konstituiert, was erneut auf den prozessualen Charakter der Existenz verweist und die „Dekonstruktion der Idee eines stabilen Selbstseins“386 zum Ausdruck bringt. Dementsprechend heißt es bei Kierkegaard in Anlehnung an die Hebammenkunst-Metaphorik Platons: „Durch den Umgang des Individuums mit sich selbst wird das Individuum mit sich selbst geschwängert und gebiert sich selbst.“387 Ebenso bemerkt auch Vincent Delecroix, dass diese Umformung des Imperativs geradezu den performativen Aspekt des philosophischen Bemühens ausdrückt: „L’existence est le milieu dans lequel la subjectivité s’interprète activement, dans lequel elle tâche de se saisir, alors que la pensée pure est le milieu dans lequel le sujet se connaît théoriquement (et donc ne se comprend pas).“388 In der Schrift Der Begriff Angst zeigt sich, dass Kierkegaard den ursprünglichen sokratischen Appell zur Selbsterkenntnis schon in dem durch ihn umformulierten Sinne versteht. Das Tiefsinnige des griechischen Satzes ,Erkenne dich selbst‘ liege gerade in seinem Bezug zum Einzelnen und erst das Missverständnis, ihn auf Deutsch zu verstehen, habe dazu geführt, „von dem reinen Selbstbewußtsein, dem Luftgebilde des Idealismus“,389 zu sprechen. Hinter der Anspielung einer Fehlinterpretation des Satzes in der deutschen Sprache steckt offensichtlich eine polemische Pointe Kierkegaards gegenüber Hegel und dem Deutschen Idealismus. Bemerkenswerterweise findet sich bei Hegel in der Enzyklopädie der phi-
|| 385 SKS 3, 246 / EO2, 275f. 386 Theunissen 1993, S. 54. 387 SKS 3, 246 / EO2, 276. Folgende Stelle greift auf die Geburts-Metapher ebenso zurück: „In dem ersten Augenblick der Wahl tritt daher die Persönlichkeit scheinbar ebenso nackt zutage wie das Kind aus seiner Mutter Leib, im nächsten Augenblicke schon ist es in sich selbst konkret“ (SKS 3, 213 / EO2, 237). 388 Delecroix 2006, S. 78f. 389 SKS 4, 382 / BA, 80.
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losophischen Wissenschaften im Grundrisse eine Stelle, an welcher er die delphische Tempelinschrift gerade in einem der Kierkegaardschen Interpretation konträren Sinne deutet: Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes.390
Die Erkenntnis des Geistes an und für sich korrespondiert hier einem rein begrifflichen, ideellen Erfassen des Geistes, einer Wesenserkenntnis, und kommt für Kierkegaard dem eben genannten ‚Luftgebilde‘ Idealistischer Philosophie gleich. Existenz und Lebensvollzug/-gestaltung realisieren sich, wie erläutert, durch Zukunftsprojektionen: Der Mensch entwirft sich auf zukünftige Möglichkeiten hin. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass der Grundstein für einen möglichen, erst retrospektiv erkennbaren Sinn im Hier und Jetzt zu legen ist.391 Konkret bedeutet das, ob eine Handlung sich als sinnvoll, angemessen oder kohärent herausstellt, können wir erst in der Rückschau beurteilen. Der Blick des Menschen kann nicht ausschließlich auf die Zukunft ausgerichtet sein, ein rein prospektiver Lebensstil ist gleichwie ein rein retrospektiver nolens volens zum Scheitern verurteilt. Das führt Kierkegaard zu seiner allseits bekannten Feststellung: Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss. Welcher Satz bei genauerem Durchdenken gerade damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, eben weil ich in keinem Augenblick vollkommene Ruhe finden kann, um die Stellung: rückwärts einzunehmen.392
Das Leben muss zwangsläufig vorwärts gelebt, es kann jedoch erst aus der Retrospektive verstanden und beurteilt werden. Der Versuch, das Leben als Ganzes, als integralen Sinnzusammenhang durch die Antizipation seines Endes konzeptionell zu erfassen, läuft de facto ins Leere, während uns jedoch lebensgeschichtlich die retrospektive Überwindung der uns unzugänglichen Zukunft möglich
|| 390 Hegel 1970b, S. 9. Im Zusatz liest man entsprechend noch: „Auch der endliche oder subjektive Geist – nicht bloß der absolute – muß als eine Verwirklichung der Idee gefaßt werden. Die Betrachtung des Geistes ist nur dann in Wahrheit philosophisch, wenn sie den Begriff desselben…erkennt, d.h. eben, wenn sie den Geist als ein Abbild der ewigen Idee begreift.“ (ibid.). 391 Vgl. Kann und Victor 2017, S. 211. 392 SKS 18, 194, JJ:167 / DSKE 2, 200.
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ist.393 Zudem können wir keinen Standpunkt einnehmen, von dem aus das Leben als Ganzes verstanden werden kann, da das wiederum hieße, das Leben sub specie aeternitatis betrachten zu wollen. „Wir denken entweder rückwärts an das, was gewesen ist, oder vorwärts an das, was kommen wird. Gleichzeitigkeit, absolute Einheit des Denkens und des Seins ist für ein existierendes Wesen unmöglich“.394 Kierkegaard zielt folglich auf ein ständiges Ausbalancieren, auf eine synoptische Vor- und Rückschau des eigenen Lebens, das somit je im Moment und immer wieder von Neuem zu gelingen hat: „Leben heißt heute da sein“.395 Gerade das momenthafte Gelingen der Existenz ist es auch, das dazu führt, dass diese sich einer objektiven Reflexion entzieht. Nur im Augenblick der Leidenschaft kann sich so etwas wie Einheit herstellen, und die Leidenschaft ist etwas zutiefst Subjektives und somit an die Innerlichkeit gebunden: „Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über dem Existieren hinausliegt. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft.“396 „Erkenntnis zu suchen inmitten des Fließens der menschlichen Existenz, in welcher die ideale Identität von Denken und Sein aufgelöst ist, bedeutet für Kierkegaard, in Antizipation und Rückbesinnung ,momentweise‘ zu denken.“397 Der Mensch ist eben nicht schlechthin das, was er ist, sondern er wird zu dem, was er ist, indem er, um eine Formulierung Peter Wusts aufzugreifen, „in Erinnerung und Vorsorge sowohl hinter sich her als auch sich vorweg ist.“398 Erst im jeweiligen Moment der Wahl, im Ausbalancieren von Vergangenem und Zukünftigem,
|| 393 Vgl. Kann und Victor 2017, S. 210. 394 Höffding 1922, S. 70. „Die einmalige Ganzheit jedes Lebens ist stets unabgeschlossen und auch im Leben nie abschließend zu gestalten…Erst mit dem Tod wird das Leben eine endgültige Gestalt“, so Rentsch 2015, S. 161. 395 SKS 10, 88 / CR, 83. 396 SKS 7, 180 / AUN1, 187. 397 King 1986, S. 132. Für Deuser 1991, S. 151 wird im Augenblick, im Moment Zeit erfahren „durch das Entscheidungsgewicht des Kommenden, des Zukünftigen; und von daher ist auch die Vergangenheit neu qualifiziert. Was dabei im Augenblick geschieht, ist das zur Wirklichkeit Kommen des Menschen in seinem faktischen Sein.“ Im Augenblick berühren sich Zeit und Ewigkeit, so heißt es in SKS 4, 392 / BA, 90f.: „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und damit ist der Begriff Z e i t l i c h k e i t gesetzt, allwo die Zeit fort und fort die Ewigkeit abriegelt und die Ewigkeit fort und fort die Zeit durchdringt. Erst jetzt erhält jene besprochene Einteilung ihre Bedeutung: die gegenwärtige Zeit, die vergangene Zeit, die zukünftige Zeit.“ „Now being the relation between moments, human existence is a fragile creature since the moments of the synthesis are opposed to each other“, so Rasmussen 2004, S. 261. 398 Wust 1965, S. 315.
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legt sich der Wert der auf uns zukommenden und hinter uns liegenden Möglichkeiten fest.399 Eine absolute Kontinuität kann es für den Existierenden nicht geben, „er denkt momentweise, er denkt im voraus und er denkt hintennach.“400 Abschließend sei auf eine Passage aus Die Wiederholung verwiesen, in der Kierkegaard in eindrucksvoller Metaphorik, die zum Scheitern verurteilten Extreme eines rein retrospektiven sowie eines rein prospektiven Lebensstils aufzeigt: „Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und straff und glänzend, man hat es jedoch niemals angehabt, und weiß darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist.“401 Die Hoffnung als etwas Neues ist, wie die Zukunft, ungewiss. Die Erinnerung und das Vergangene liegen hinter uns und können nicht mehr verändert oder eins zu eins aktualisiert werden. In den anthropologischen Überlegungen Kierkegaards kommt besonders deutlich seine Abkehr von der Philosophie des Deutschen Idealismus zum Tragen. Im Kontext einer Wende weg vom Abstrakten und hin zum Konkreten gelingt es ihm, den Menschen als einzelnen Existierenden, der immer schon in einen bestimmten lebensgeschichtlichen Handlungsrahmen eingebettet ist, zum zentralen Sujet seiner gesamten Philosophie zu erheben und die jeweilige konkrete Lebenssituation und Handlungswirklichkeit zu thematisieren. Es lässt sich zuspitzen und festhalten, dass Kierkegaards philosophisches Bemühen ein primär anthropologisches ist. Gleiches gilt, wie sich noch zeigen wird, für Nietzsches Philosophie. In typisch existenzphilosophischer Manier begreift Kierkegaard den Menschen als ein Wesen, das sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwirft und sich dadurch zuallererst konstituiert, ja sich als ein bestimmtes Individuum selbst hervorbringt. Einer Wesensdefinition des Menschen wird ebenso eine Absage erteilt, wie einem metaphysisch-ontologischen Ideal gelingenden Lebens, das jedem Menschen als Orientierung dienen könnte. Vielmehr erschafft jeder Einzelne durch seine Handlungen gewissermaßen sein ,Wesen‘ selbst, womit der Weg zu Sartres Grundsatz des Existenzialismus, der Mensch sei dasjenige Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgehe, bereitet ist.
|| 399 Vgl. Anz 1956, S. 58. „Die Existenz hingegen ist sich dauernd selbst vorweg, stets zu sich selbst unterwegs und kann daher nie gleichzeitig gedacht werden, sondern höchstens vor dem Sprung der Wahl oder danach“, so Schmidinger 1983, S. 286. Existenz ist somit stets unabgeschlossen, ständig im Werden und in kein System zu inkludieren. 400 SKS 7, 300 / AUN2, 31. 401 SKS 4, 10 / W, 4.
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Analog zu der schier unendlichen Multiplizität an Gestaltungsmöglichkeiten, die eine Existenz annehmen kann, ließe sich zu Kierkegaards Anthropologie festhalten: Es gibt nicht das Wesen des Menschen, sondern vielmehr viele mögliche ,Wesen‘ des Menschen im Sinne verschiedener möglicher Lebensweisen und Existenzmodi, wobei ein solcher Wesensbegriff selbstverständlich fernab gängiger und tradierter Bedeutungsspektren von ,Wesen‘ innerhalb der Philosophiegeschichte anzusiedeln wäre. „Die Substanz des Menschseins wird in der nachidealistischen und nachmetaphysischen Hinsicht in die Praxis der Selbstgestaltung aufgelöst…Nicht mehr die Frage nach dem Was des Menschen, sondern die Frage nach dem Wie des Menschen bildet den letzten Fragehorizont dieses Existenzdenkens.“402 Hinzu kommt die Prozesshaftigkeit der Gestaltung des eigenen Selbst, die aus den Konstituenten der Existenz folgt. Hier tritt Kierkegaard gewissermaßen als Mahner auf: „Überall, wo Besitzstandsdenken ausgreift und die Momente der Bewegung in Vergessenheit geraten, ist Kierkegaard zur Stelle. Humane Existenz ist im Werden. Alles Bestehende ist abhängig von der Praxis der konkreten Menschen. Diese Einsicht hat Kierkegaard unablässig seinen Lesern ins Bewusstsein gehoben.“403 Es liegt daher nahe, sich zumindest vom einem klassischen Wesensbegriff im Kontext der Kierkegaardschen Anthropologie zu verabschieden, oder zumindest dessen Verwendung clare et distincte zu erläutern, um Missverständnissen vorzubeugen. Im folgenden Kapitel widmen wir uns nun der Kierkegaardschen Ethik. Da Kierkegaards Anthropologie um Begriffe wie Existenz, Handlung und Praxis kreist, ist es naheliegend, im Anschluss an seine Anthropologie nun einen Blick in seine Betrachtungen des Ethischen zu werfen.
|| 402 Gantschow 2011, S. 108. Kierkegaards Frage ist nicht mehr die klassische anthropologische Fragestellung ‚Was ist der Mensch?‘, sondern wie auch Gamm 2011, S. 29 festhält: „[W]as bedeutet es, Mensch zu sein, was heißt es, als Einzelner in der Welt zu sein, d.h. zu existieren.“ 403 Gantschow 2011, S. 157.
Das Ethische als Selbstadresse | 111
2.4 Das Ethische als Selbstadresse [D]as Ethische als das Innere läßt sich überhaupt nicht von jemand, der draußen steht, betrachten, es läßt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren.404
Bevor wir zur Methode der Kierkegaardschen Philosophie (Kapitel 2.5) übergehen, soll nun ein Blick auf die ethischen Implikationen geworfen werden, die aus einer so strikt auf die Existenz des Einzelnen fokussierten Philosophie und Anthropologie, wie sie von Kierkegaard anvisiert werden, zu folgen ,drohen‘. In Kierkegaards Philosophie sind Anthropologie und Ethik auf das Engste miteinander verschränkt und aufeinander bezogen. Letztlich münden die Analysen aus diesen beiden philosophischen Teildisziplinen in seine mitteilungstheoretischen und somit methodologischen Reflexionen, die Kierkegaard mit einem zentralen Problem seines Denkens konfrontieren: Wie lässt sich die einzelne Existenz mitteilen bzw. zum Gegenstand des Philosophierens machen? Eines ist bereits sicher: Die „Verschränkung von anthropologischem und ethischem Aspekt ist konstitutiv für die existenzdialektische ,Anthropologie‘ und Ethik in ihrer gemeinsamen Funktion für eine Existenzauslegung, die ihren Sinn in möglicher ,Existenzmitteilung‘ an den Einzelnen hat.“405 Das Existenzdialektische bezeichnet hierbei das Sich-Verstehen-in-Existenz des subjektiven Denkers, welcher versucht, Denken und Handeln in Einklang zu bringen.406 Aus Kierkegaards Ablehnung objektiver Wahrheiten als irrelevant für die eigene Existenz, samt seiner Hinwendung zum Einzelnen folgt just auch eine Ablehnung einer im Modus des Allgemeinen formulierten Ethik: „Das ethische Sollen richtet sich nicht an die Allgemeinheit: Es ist zwar allgemein verpflichtend, aber seine Verbindlichkeit findet einzig in mir seine Adresse. Es ist schamlos, einem anderen ethische Vorwürfe zu machen. Jede Adresse, die die Ethik entwickelt, ist vor allem eine Selbstadresse“,407 so Gerhard Gamm. Das Ethische,408 das geradezu die Subjektivität und Innerlichkeit verkörpert, kann immer nur aus der || 404 SKS 7, 292 / AUN2, 22. 405 Fahrenbach 2016, S. 227. 406 Zum Begriff ,Existenzdialektik‘ vgl. die kurzen Erläuterungen dazu auf S. 70 dieser Arbeit. Zur existenzdialektischen Ethik bei Kierkegaard im Allgemeinen siehe Fahrenbach 2016. 407 Gamm 2009, S. 33. Ähnlich Schupp 2003, S. 467: „Was allerdings Gut und Böse ist, kann und will Kierkegaard nicht sagen, denn dies wäre schon wieder eine Verobjektivierung.“ 408 Das Ethische sei im Folgenden weiterhin als die Existenzwirklichkeit des Einzelnen und nicht als die spezifische Lebensanschauung von ‚B‘ aus Entweder/Oder verstanden. Siehe hierzu wie schon in Kapitel 2.2 Schwab 2014b, S. 77f.
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eigenen Teilnehmerperspektive des Einzelnen verstanden werden. Diese Sichtweise des Ethischen folgt aus Kierkegaards Ausführungen zum subjektiven Denker, dessen Aufgabe es ist zu verstehen, was es heißt, in der Wahrheit zu existieren. Dieses Durchdringen der eigenen Existenz ist nur qua Innerlichkeit möglich, wodurch die Kategorie des Ethischen als Kategorie des Handelns und mithin des Existierens zum Anspruch an das eigene Selbst wird. „Ein Urteil über den Anderen steht uns nicht zu. Warum nicht? Der äußere Grund besteht darin, dass das individuelle Selbst der anderen gar nicht zu erreichen ist.“409 Hierin besteht der unendliche Unterschied zwischen Mensch und Mensch als zwischen zwei Subjektivitäten, da mir die Innerlichkeit des Anderen nie unmittelbar zugänglich ist. Demnach kann es hier kein direktes Verhältnis geben, „weil die Innerlichkeit die Wahrheit ist, und weil die Innerlichkeit in jedem der beiden gerade der Weg ist, der sie fort voneinander führt.“410 Im Bereich des Ethischen im Besonderen gilt für Kierkegaard, dass die Subjektivität die Wahrheit ist. Dort geht es also nicht um die reine Vermittlung objektiven Wissens, sondern darum, ethisch zu existieren, will heißen, handelnd zu sich selbst zu kommen, was der Einzelne nur durch sich selbst in konkreten Situationen zu leisten vermag. Hier kommt bei Kierkegaard der ursprüngliche etymologische Sinn des Lateinischen exsistere zum Vorschein: ‚Existieren‘ bezeichnet demnach ein Heraustreten. So bemerkt der Philosoph Heinrich Barth scharfsinnig: „Heraustreten aus der falschen Solidarität eines auch auf die Andern abgelagerten Pflichtbewußtseins, heraustreten aus der absoluten Bindung durch einen Begriff, der dir und mir die einzelne Handlung für die einzelne Gelegenheit schlechthin vorzeichnen will.“411 Kierkegaards Perspektive auf das Ethische, das an den Bereich der Subjektivität gekoppelt ist, macht deutlich, dass ethische Fragestellungen und Antworten für ihn aus dem Bereich objektiver Wahrheiten herausfallen und sich somit in keinem philosophischen System angemessen thematisieren lassen: „Kierkegaard’s ,existential‘ view of ethics precludes reducing it to a scientific explanation or grounding it in rationality.“412 Nun wird auch verständlich, inwiefern Kierkegaard in der Nachschrift davon sprechen kann, Hegels Philosophie habe keine Ethik aufzuweisen oder kenne keine Ethik bzw. ignoriere qua Systemphilosophie das Ethische.413 Wenn die Rede davon ist, dass es dem || 409 Gamm 2009, S. 33. 410 SKS 7, 225 / AUN1, 240. 411 Barth 1926, S. 206. 412 Stewart 2012, S. 85. 413 Vgl. SKS 7, 115–116 / AUN1, 112–114 sowie SKS 7, 282 / AUN2, 10. Eine Auflistung von Stellen auch aus anderen Schriften, wo dieser Vorwurf gegen Hegel erhoben wird, findet sich bei Stewart 2012, S. 83–85.
Das Ethische als Selbstadresse | 113
Hegelschen System an einer Ethik mangelt, so ist damit nicht gemeint, dass Hegel die Ethik nicht thematisiert oder sich gar für ethische Probleme nicht interessiert. Das könnte Kierkegaard, der Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts gut kannte, niemals behaupten, ohne den zentralen Platz, den die Ethik dort einnimmt, schlichtweg zu leugnen. Vielmehr möchte Kierkegaard hervorheben, dass Hegel in seiner Systemphilosophie das Ethische, in seinem Sinne verstanden, niemals adäquat problematisieren kann. Da für Kierkegaard ein System den Charakter des Letztgültigen und Abgeschlossenen trägt, kann eine Systemphilosophie – wie die Hegelsche eine ist – die Dimension des Ethischen nie angemessen thematisieren, da das Ethische für ihn zutiefst an die Subjektivität und Innerlichkeit gebunden ist, die sich aufgrund ihrer Einzigartigkeit einer allgemeinen, systematischen Darstellung entziehen. Für Anton Hügli fasst der Vorwurf, Hegels Philosophie kenne keine Ethik, die ganze Hegel-Kritik Kierkegaards zusammen.414 Kierkegaard und Hegel vertreten des Weiteren unterschiedliche metaethische Standpunkte.415 Kierkegaard geht es um die konkrete situationsbezogene Realisierung des Ethischen und nicht wie der Moralphilosophie des Deutschen Idealismus um die Aufstellung abstrakter Moralprinzipien: „Thus, when Climacus says that Hegel has no ethics, he is not denying that Hegel had a theory of ethics in the Philosophy of Right, but complaining that Hegel did not give an account of the individual, qua individual, in that person’s self-relation or existence.“416 So wie Hegels und Kierkegaards Auffassung von Wirklichkeit sich unterscheiden, so auch ihr Ethikverständnis. Eine Theorie der Ethik, der Versuch, sie in ein System zu inkludieren,417 dürfte für Kierkegaard vielmehr eine contradictio in adiecto sein, insofern sich das Ethische auf der Ebene der Abstraktion, der reinen Theorie, nicht angemessen erörtern lässt. Das Ethische kann nicht durch ein Lehrbuch, eine Auflistung objektiven Wissens, erlernt oder gelehrt werden, es kann lediglich in der eigenen Subjektivität und Innerlichkeit studiert und realisiert werden.418 Wir haben es bei Kierkegaard – darin wird eine weitere Gemeinsamkeit mit Nietzsche bestehen – mit einer Ethik des Individuellen zu tun. Durch die enge
|| 414 Siehe Hügli 1973, S. 113–115. „With this claim, Kierkegaard implies that the Hegelian system lacks an ethics, in the sense that it leaves no room for subjective freedom and individual selfconduct“, so Hartog 2012, S. 286. 415 Vgl. dazu Stewart 2012, S. 85–87. 416 Ibid., S. 86. 417 „To include ethics in the system is to make ethics into something that it is not and to confuse the spheres of the subjective and the objective“, so ibid. 418 Vgl. SKS 7, 132 / AUN1, 131.
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Bindung des Ethischen an die Subjektivität wird das Ethische bei Kierkegaard gerade zu einem Einspruch und einem Einwand gegen eine rein objektive Betrachtung der Dinge419 und Handlungen. Der Sphäre des Ethischen kann man so zum Beispiel einzig und allein in der Subjektivität gerecht werden und nur dort kann sie zur Entfaltung gelangen. Hegel begeht aus der Sicht Kierkegaards und dessen metaethischen Standpunkt also eine Sphärenverwechselung bzw. eine unzulässige Sphärenvermischung. Das Ethische als Ausdruck individueller Selbstwahl zählt zum Bereich des subjektiven Denkers, und nicht zum Repertoire des objektiven Denkens, das sich mit abstrakten Wissenschaften auseinandersetzt. Die Anwendung der Kriterien des objektiven Denkens auf die Ethik schlägt demnach zwangsläufig fehl. Damit distanziert sich Kierkegaard deutlich von Kant, für den das Wesen des Ethischen gerade in der Formulierung allgemeingültiger und allgemeinverpflichtender Prinzipien und Handlungsmaximen besteht.420 Eine Kritik an den abstrakten Pflichtenlehren findet sich schon in Kierkegaards schriftstellerischem Debüt Entweder/Oder. Er assoziiert mit diesen Lehren die Moralphilosophie Kants, welche die Ethik als etwas dem Individuum Äußerliches betrachte.421 Die von mir aufgestellten Maximen und Leitsätze können jedoch einzig in mir ihre Adresse finden, haben Gültigkeit nur für mich und können keinen Anspruch auf Objektivität und Allgemeingültigkeit stellen. Kierkegaard betont unmissverständlich: „Ich sage nie von einem Menschen, daß er die Pflicht tue oder die Pflichten, sondern ich sage, er tue s e i n e Pflicht; ich sage: ‚ich tue m e i n e Pflicht, tu d u die d e i n e .‘ Dies zeigt, daß das Individuum zugleich das Allgemeine und das Einzelne ist.“422 Für Kant hat das Wesen des Ethischen darin Bestand, dass seine Prinzipien eine allgemeine und kategorische Geltung haben. Kierkegaard kehrt dies nun um, insofern für ihn das Ethische das zutiefst Einzelne ist. „Kierkegaard entdeckt, daß die wirklichen Probleme im Leben aber immer von der Art der sogenannten ‚praktischen Einzelfragen‘ sind. Die Frage ist nicht: Soll man dies oder jenes tun? sondern: Soll ich, dieser bestimmte Mensch in dieser augenblicklichen bestimmten Lage, dies oder jenes tun?“423 Solche Probleme sind existenzieller Natur. Im Bereich des Ethischen findet zumindest in zweifacher Hinsicht eine Konkretisierung statt, die eine Verallgemeinerbarkeit von Handlungsanweisungen ausschließt:
|| 419 Vgl. Heinrich 2018, S. 10. 420 Zum Verhältnis der Kierkegaardschen Ethik zur Kantischen Moralphilosophie sowie zur Moralphilosophie des Deutschen Idealismus im Allgemeinen vgl. Fahrenbach 2016. 421 Vgl. zu dieser Kritik Fonnegra 2017, insbesondere S. 235–238. 422 SKS 3, 251 / EO2, 281. 423 Störig 1993, S. 525.
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(1) Der Mensch, welcher handelt, ist immer ein Einzelner und (2) er befindet sich immer in jeweils konkreten, mithin niemals identischen, Situationen. Angesichts dieser doppelten Singularität und Konkretheit muss eine Wahl getroffen werden. Hermann Deuser sieht die Pointe des Kierkegaardschen Denkens „dort, wo Kant seine Ethik hat fernhalten wollen: Nicht im Gesetz, sondern im konkreten Selbstwerden, nicht in der bloßen Forderung, sondern in deren lebendiger ,Wiederholung‘, worin Christentum praktisch wird und den Menschen vom Zwang des Gesetzes ,erlöst‘.“424 Die ethische Dimension des Problems der Wiederholung kommt bei Kierkegaard in der Schrift Die Wiederholung zum Tragen.425 Dort spricht er am Anfang von dem Mut zu verstehen, „daß das Leben eine Wiederholung ist, und [man] Lust hat sich an ihr zu freuen.“426 Wer die Wiederholung wolle, sei im existenziellen Ernst gereift.427 „Um das Ethische zu studieren“, so Kierkegaard, „ist jeder Mensch auf sich selbst verwiesen. Er selbst ist sich in dieser Hinsicht mehr als genug, ja er ist der einzige Ort, wo e r es mit Sicherheit studieren kann.“428 Kierkegaard kann es nicht um die Ausformulierung eines allgemeinen Sollens im Duktus des kategorischen Imperativs Kants bestellt sein. In Bezug auf das Ethische spricht Kierkegaard auch nicht von einem Sollen, sondern von einem „Können“ bzw. „Könnensollen“,429 da der Gegenstand kein generell festgelegter, sondern ein von Situation zu Situation je verschiedener ist. Jeder Einzelne selbst ist gefragt und dieser kann lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, sich zu dieser Situation zu verhalten – konkrete Handlungsanweisungen können ihm nicht gegeben werden. Diese Zurückweisung abstrakter Prinzipien von Moral wird ebenfalls wegweisend für den Existenzialismus sein. So heißt es später in Sartres ,Manifest‘ des Existenzialismus, Ist der Existenzialismus ein Humanismus?: „Der Inhalt ist immer konkret und daher unvoraussehbar“.430 Da der Inhalt stets konkret ist, ist er immer an das Individuum und dessen Aneignung gebunden und findet einzig im Einzelnen seinen Adressaten. Kierkegaard führt weiter aus: „Zwar will ich nicht leugnen, dass ich noch einen Imperativ des Erkennens annehme…, aber dann muss er lebendig
|| 424 Deuser 1985, S. 138. Oder wie Gantschow 2011, S. 153 festhält: „Ethik als Erörterung des guten Lebens ist für ihn ein konkretes Vorhaben und lässt sich niemals im abstrakten Reich des Sollens betreiben.“ 425 In Kapitel 3.3 werden wir hierauf im Hinblick auf Parallelen zu Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen noch einmal detaillierter eingehen. 426 SKS 4, 10 / W, 4. 427 Vgl. SKS 4, 11 / W, 5. 428 SKS 7, 132 / AUN1, 131. 429 SKS 27, 409, Papir 368:4 / T 2, 113. 430 Sartre 1966, S. 33.
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in mir aufgenommen werden und das ist es, was ich jetzt als die Hauptsache anerkenne.“431 Der Übergang von Kant zu Kierkegaard auf dem Gebiet der Ethik ist wesentlich geprägt von der Gegenüberstellung abstrakter Prinzipien der Moral (Kant) und der konkreten Realisierung des Ethischen (Kierkegaard), wodurch der Antagonismus ,abstrakt versus konkret‘ wie schon auf den Gebieten der Metaphysik und Anthropologie hier wiederholt zum Vorschein kommt. Bei Kant geht es um die Idealität des Ethischen, dafür muss von allen empirischen Gegebenheiten abstrahiert werden.432 Das kann Kierkegaard gerade nicht, da es ihm auf die Realität des Ethischen ankommt. Ihm bieten sich keine ethischen Allgemeinbegriffe mehr an, welche „die Kraft hätten, den ethischen Einzelfall durch Subsumtion schlechthin zu bestimmen.“433 Was Kierkegaard von Kant trennt, ist die Ablehnung universell gültiger moralischer Gesetze und der Verzicht auf moralisches Herrschaftswissen. Was er jedoch auf der anderen Seite mit ihm teilt, ist die Annahme der autonomen Wahl und Entscheidung des Handlungssubjekts, wie auch Stewart betont.434 Für Johannes Heinrich besteht der Unterschied zwischen der Kantischen und Kierkegaardschen Ethik ebenfalls darin, dass bei Kant ethisches Handeln an festgegebene Prinzipien gebunden ist und von ihnen aus abgeleitet wird, wohingegen sich beim Dänen das handelnde Subjekt erst durch die Realisierung des Ethischen transformiert und konstituiert.435 Sowohl das Subjekt als auch die Kategorie des Ethischen selbst unterliegen einem Werden. Die Aufgabe des Ethischen ist wie die Gestaltung des Selbst kontinuierlich und in diesem Leben niemals vollend- und abschließbar. Die Kantische Moral, welche nach einem rationalen Prinzip Ausschau hält, das wir unter allen Umständen als Handlungsmaßstab anwenden können, lehnt Kierkegaard aus folgendem Grund ab: „[H]e finds ,acting on principle‘ to be one more way that people flee into abstraction, thereby abdicating their existential responsibility as individuals.“436 Kierkegaards Betrachtung der Ethik kann wiederum als eine allgemeine Distanzierung von der Philosophie des Deutschen Idealismus interpretiert werden, insofern er sich kritisch von der Kantisch-Idealistischen Moralphilosophie löst. Helmut Fahrenbach bezeichnet Kierkegaards ethische Existenzanalyse gar als
|| 431 SKS 17, 24f., AA:12 / DSKE 1, 24. 432 Vgl. Fahrenbach 1970, S. 8f. 433 Barth 1926, S. 206. 434 Vgl. Stewart 2012, S. 168. 435 Vgl. Heinrich 2018, S. 11. 436 Miles 2013b, S. 444f.
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„Korrektiv“437 ebendieser moralphilosophischen Traditionslinie. Inwiefern könnte Kierkegaards Analyse als Korrektiv agieren? Die Unterschiede lassen sich dabei nicht nur anhand von Kierkegaards Absage an allgemeingültige und allgemeinverbindliche Handlungsmaximen illustrieren, vielmehr ist bereits die Zielsetzung seiner ethischen Reflexionen eine grundlegend verschiedene. Kierkegaard möchte ethisches ‚Wissen‘ nicht objektiv begründen. Das kann er ohnehin nicht, da das Ethische bei ihm schließlich in jenen Bereich fällt, in dem die Subjektivität die Wahrheit ist. Somit haben wir es hier gar nicht mit einem Wissen im engen Wortsinne zu tun. Wir bewegen uns hier nicht auf dem Terrain des objektiv Wiss- und Einsehbaren der abstrakten Wissenschaften. „Soweit man vom Ethischen sagen könnte, es enthalte ein Wissen, ist dies ,Selbsterkenntnis‘, aber das ist im uneigentlichen Sinne ein Wissen.“438 Für Kierkegaard handelt es sich bei der Selbsterkenntnis nicht um objektives und damit nicht um direkt mitteilbares Wissen.439 Selbsterkenntnis fällt in den Bereich des subjektiven Denkers. Der subjektive Denker kann nur die Aufmerksamkeit des Einzelnen wecken, ihn auf die einzig durch ihn selbst zu vollziehende Aufgabe des Selbstwerdens hinweisen. Die Kantisch-Idealistische Moralphilosophie hingegen führt „vom Existenzproblem weg, sofern sie primär auf die philosophische Begründung und Sicherung der ,Voraussetzung‘ des sittlichen Bewusstseins gerichtet“440 ist. Danach fragt Kierkegaard aber gerade nicht; er macht dies nicht zum Gegenstand seiner Betrachtungen und schließt in dieser Hinsicht wieder an den grundlegenden Duktus seiner Philosophie als einer Wende hin zum einzelnen existierenden Menschen an. Seine existenzdialektische Ethik lasse sich am ehesten als ein Korrektiv der Idealistischen Moralphilosophie verstehen und beruhe auf einem Rücktransfer der abstrakt bestimmten ethischen Idealität in die Existenz und Realität als Aufgabe eines jeden einzelnen existierenden Menschen, so Fahrenbach.441 Der Mensch erobert sich gewissermaßen seine Handlungswirklichkeit, die Sphäre des Ethischen, zurück. Man ahnt bereits, inwiefern das auf Nietzsches Formulierung, der Weltverlorene gewinne nun seine Welt wieder, vorausweist.442 || 437 Fahrenbach 2016, S. 237. Ebenso spricht Hartog 2012, S. 271 und S. 299 von einem Korrektiv der Moralphilosophie Kants und Hegels durch Kierkegaard. Er sieht darin zudem eine Gemeinsamkeit zwischen Kierkegaard und Nietzsche. 438 SKS 27, 414, Papir 368:13.b / T 2, 115. 439 Zur Problematik der Mitteilbarkeit siehe Kapitel 2.5 dieser Arbeit. 440 Fahrenbach 2016, S. 235f. 441 Vgl. ibid., S. 237. 442 Vgl. Nietzsche Za I, „Von den drei Verwandlungen“, KSA 4, S. 31.
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Demnach kann von einem existenziellen Korrektiv gesprochen werden, das Kierkegaard im Bereich der Ethik umsetzt und sich selbst expressiv verbis zur Aufgabe macht. Im Rahmen des für sein Selbstverständnis als Schriftsteller so zentralen und einschneidenden Erlebnis, welches als ‚Corsarenstreit‘ in die dänische Geistesgeschichte einging, notiert er: [I]ch habe nur…etwas gegeben, was man ein Existential-Korrektiv des Bestehenden in Richtung auf Verinnerlichung in ,dem Einzelnen‘ nennen könnte…gegen die Lehre und Einrichtungen des Bestehenden habe ich gewiß niemals ein Wort eingewendet, aber ich habe dafür gearbeitet, daß diese Lehre in ,dem Einzelnen‘ mehr und mehr Wahrheit werde.443
Die Verinnerlichung und Verwirklichung der ‚Lehre‘ im und durch den Einzelnen, das ist mit einer Korrektur hinsichtlich des Existenziellen bei Kierkegaard gemeint. Einzig darin kann für ihn der Wert des Ethischen bestehen, was folgende Stelle ergänzend erläutert: „Das Gewissen und eine Gewissenssache – das ist ewig gewiß und liegt in der Sache selbst, denn Gewissen ist keine zahlenmäßige Bestimmung – kann nur von einem einzelnen Mann vertreten werden, und zwar in persönlichem Ernst, durch Handlung“.444 Der Einzelne und die Handlung sind die beiden entscheidenden Kategorien. Indem der Bereich des Ethischen aufs Engste an die Topoi der Selbstwerdung und Verinnerlichung geknüpft ist, zeigt sich auch der Unterschied zwischen einer Kierkegaardschen Verantwortungsethik und einer Kantischen Gesinnungsethik.445 Da bei Kierkegaard Verinnerlichung immer Aneignung im Konkreten bedeutet, ist die Tat ebenso von zentraler Bedeutung. Ist bei Kierkegaard der Vollzug der Handlung durch den Einzelnen, für dessen Folgen dieser die ganze Verantwortung trägt, entscheidend, so kann ein „allgemeines Vernunftprinzip, das mit der wirklichen Welt gesinnungsethisch nichts zu tun haben will, um allgemeingültig sein zu können“,446 aus seiner Sicht die Selbstwerdung nur verfehlen. Ein solches Verfahren führe letztlich zu einer „abstrakte[n] Vernichtung des ursprünglichen Selbst.“447 In diesem Sinne lässt sich das durch Kierkegaard angestoßene Korrektiv im Bereich des
|| 443 SKS 14, 114 / CS, 50. 444 SKS 14, 115 / CS, 52 (meine Hervorh.). 445 Zu diesem Unterschied siehe Fonnegra 2017, S. 237: „Während von dem Individuum gesinnungsethisch gefordert wird, dass es immer nach einem allgemeinen Vernunftprinzip handelt, ohne Konsequenzen seines Handelns zu berücksichtigen, weil das Wichtigste das Befolgen des allgemeingültigen Mandats ist, wird von dem Individuum verantwortungsethisch gefordert, seine Pflicht so zu erfüllen, dass es in seinem inneren Verhältnis den Ursprung seines Handelns entdeckt, für das es unbedingt Verantwortung zu tragen hat.“ 446 Ibid. 447 SKS 3, 247 / EO2, 276.
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Ethischen ebenso wie ein Großteil seines gesamten Denkens als eine Kritik seines Zeitgeistes deuten. Die Konkretisierung des Ethischen wird für ihn zu einem „Korrektiv gegenüber den negativen Tendenzen“448 der damaligen Zeit, die für ihn, wie bereits gesehen, einen Hang zur Nivellierung des Einzelnen aufweist und vergessen hat, was es bedeutet, als ein einzelner Mensch zu existieren. Das auf allgemeinen Prinzipien basierende Handeln verfehlt die Übernahme der Verantwortung für die eigene Handlung. Es flüchtet in Abstrakta und verhindert somit individuelles Selbstwerden.449 Das Handeln nach einem Prinzip, nach einer Idee, ist für Kierkegaard ohne Leidenschaft, da die Innerlichkeit fehlt, und korrespondiert der kritischen Diagnose seiner Epoche. Ein Handeln nach allgemeingültigen Prinzipien ist leidenschaftslos, somit ohne Verantwortung, und so konkludiert Kierkegaard: „Um des Prinzips willen kann man alles tun“.450 „Wofern man mit unbedingter Wahrheit über jeden Menschen urteilen könnte nach einem allgemein gegebenen Maßstab, so wäre das Gottesverhältnis wesentlich abgeschafft“,451 so Kierkegaard in Der Liebe Tun. Ohne en détail in die Überlegungen zum Mensch-Gott-Verhältnis bei Kierkegaard einsteigen zu wollen, da diese religionsphilosophischen sowie theologischen Reflexionen unseren Rahmen bei Weitem sprengen würden, sei angemerkt, dass er dieses Verhältnis als das eines Einzelnen vor Gott versteht. Zudem begreift er die Sphäre des Religiösen als an die des Ethischen gebunden. Wenn nun auf der Grundlage allgemeiner Maßstäbe Urteile über jeden Menschen getroffen werden und dadurch das Gottesverhältnis außer Acht gelassen wird, so zeigt sich erneut, wie sehr Kierkegaard daran gelegen ist, den Einzelnen wieder in den Fokus des Interesses der Ethik zu rücken. Der Rücktransfer des Ethischen in die Aufgabe der Selbstrealisierung eines jeden Einzelnen wird ausgehend von Kierkegaard zu einem Selbstverständnis existenzphilosophischen Denkens, das auch Solomon in dieser Hinsicht der Kantischen Moralphilosophie entgegenstellt. Kants Ethik scheitert aus der Perspektive eines Existenzphilosophen an der konkreten Situation des Einzelnen, die nicht verallgemeinerbar ist, und in der somit allgemeingültige Prinzipien nie als Handlungsmaßstäbe fungieren können. Die Unhintergehbarkeit der Singularität einer konkreten Situation lässt die objektive Bewertung einer moralischen Handlung nicht zu: „We look to Kant and try to act in a way that would universalize
|| 448 Fonnegra 2017, S. 244. 449 Vgl. Miles 2013b, S. 445. 450 SKS 8, 96 / LA, 108. „One manifestation of ,leveling‘ is what Kierkegaard calls ,acting on principle‘“, so Miles 2013b, S. 444. 451 SKS 9, 232 / LT, 255.
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our principles of action for everyone. But that supposes that we can identify those features of our own action which would be so universalizable. And then, already caught in the existential attitude, each of us realize that she is always an exception.“452 Sartre gibt später das Beispiel eines jungen Mannes, der vor der Wahl steht, entweder sich den Streitkräften der französischen Widerstandsbewegung anzuschließen und seine Mutter zu verlassen, oder aber bei seiner Mutter zu bleiben, um sie zu pflegen. Sartre legt dar, wie keine allgemeine Moral dem jungen Mann in dieser Situation weiterhelfen kann. Sollte dieser ihn um Rat bitten, so müsste er ihm antworten: „Sie sind frei, wählen Sie, das heißt erfinden Sie. Keine allgemeine Moral kann Ihnen angeben, was Sie zu tun haben. Es gibt keine Zeichen in der Welt.“453 Kierkegaard bildet so den Ausgangspunkt für eine Ethik, die ihre Funktion in der reflexiven Erschließung eines gelebten Lebens eines einzelnen Menschen sieht und gerade nicht darin, einen für alle verpflichtenden normativen Entwurf zu konzipieren.454 Insbesondere die Relevanz der konkreten zeitlichen Situation für die Beurteilung einer Handlung stellt diesen Ansatz in Kontrast zu universalistischen Positionen, welche ebendiese Faktoren als ethisch irrelevant bezeichnen.455 Zugleich ist zu betonen, dass eine große Last auf dem Einzelnen liegt, der sich an keinerlei objektiven Kriterien orientieren und damit auch die Verantwortung an keine wie auch immer geartete Allgemeinheit abtreten kann.456
Der Einzelne und die Gemeinschaft Kierkegaard selbst sieht sich seinerzeit mit einem Einwand konfrontiert, welcher in der Folge zu einem Kritikpunkt an der Existenzphilosophie überhaupt werden sollte. Es handelt sich um den Vorwurf, sein auf den Einzelnen fokussiertes Philosophieren kenne keine Gemeinschaft, entwickele kein gemeinschaftsorientiertes Denken und somit auch keine Ethik. Diese stark auf den Einzelnen konzentrierte existenzorientierte Philosophie vernachlässige den Menschen als zoon politikon. Erhob Kierkegaard den Vorwurf, die Deutschen Idealisten würden einseitig die geistige Dimension und das Denken betonen, wodurch der Einzelne || 452 Solomon 2005, S. xviii. Stewart 2012, S. 86 hält dazu fest: „[N]o degree of objective knowledge can determine the morally correct response to a given situation.“ 453 Sartre 1966, S. 19. 454 Vgl. dazu Dalferth 2002, S. VI. 455 Vgl. Miles 2013a, S. 257. 456 Dazu hält Barth 1926, S. 206 fest: „Es gibt keine soziale Allgemeinheit, die für das Individuum in die Schranken träte, um ihm die Last der Existenz abzunehmen.“
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und das Konkrete in Vergessenheit geraten, so wird ihm im Gegenzug vorgeworfen, nun seinerseits einer Überakzentuierung des einzelnen Menschen zu erliegen und darüber dessen gesellschaftliche wie soziale Seite zu vernachlässigen. Diese Kritik mag auf den ersten Blick überraschen, erhob Kierkegaard doch selbst gegen Hegel den Einwand, dieser ignoriere bzw. verkenne das der Ethik Wesentliche. Kierkegaard hat selbst schon diese Kritik an seiner Philosophie vernommen, davon legt folgender Tagebucheintrag Zeugnis ab: Trotz allem, was die Menschen über meine mäeutische Vorsichtigkeit gelernt haben sollten, durch langsames Vorgehen und den beständigen Anschein, ich wüsste nicht mehr, nicht das Nächste – wird man jetzt vermutl. anlässlich meiner neuen Erbaulichen Reden aufschreien, dass ich das Nächste nicht weiß, nichts von der Sozialität weiß. Die Toren! Doch andererseits bin ich es mir selbst schuldig, vor Gott zu gestehen, dass daran in einem gewissen Sinne etwas Wahres ist, nur nicht wie die Menschen es verstehen, dass sich nämlich immer dann, wenn ich die eine Seite erst recht deutlich und scharf hervorgezogen habe: die andere umso stärker geltend macht. Jetzt habe ich mein Thema für das nächste Buch. Es soll heißen: Die Taten der Liebe.457
Die zweiteilige Redesammlung, die Kierkegaard 1847 unter eigenem Namen und unter dem Titel Der Liebe Tun458 publiziert, kann somit in gewisser Weise als ein Bestreben angesehen werden, sein Werk in das rechte Licht zu rücken und Missdeutungen sowie Missverständnissen entgegenzuwirken. Nach Dalferth handelt es sich bei diesem Werk um die soziale Komponente der Kierkegaardschen Ethik.459 Wir können hier naturgemäß keine Detailstudie dieser umfangreichen Redesammlung anstreben.460 Richten wir unser Augenmerk nun darauf darzulegen, dass schon beim Vater der Existenzphilosophie der Andere, mithin auch die Gemeinschaft und Sozialität, in der Ethik stets Berücksichtigung findet. Kierkegaard ,konzipiert‘ eine Ethik auf der Grundlage der Liebe, die sich als ein tragfähiges Fundament erweist, insofern ihr ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis inhärent ist: „Die Allgemeinheit, die von der Liebe verwirklicht wird, bildet sich aus der Anerkennung des Anderen, kantisch gesprochen, als Selbstzweck…Die Anerkennung des Anderen wird umgesetzt, indem von dessen
|| 457 SKS 20, 86, NB:118 / DSKE 4, 95f. 458 Der Titel wird im Deutschen sowohl mit Der Liebe Tun als auch mit Die Taten der Liebe wiedergegeben. 459 Vgl. Dalferth 2002, S. V. 460 Ein von Ingolf Dalferth herausgegebener Sammelband mit dem Titel Ethik der Liebe versammelt mehrere Aufsätze zu Der Liebe Tun. Siehe hierzu Dalferth 2002.
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Liebe ausgegangen wird.“461 Schon in seiner Anthropologie kam zum Ausdruck, dass das Selbst immer ein konkretes Selbst ist, das in einen bestimmten historischen und sozialen Rahmen eingebettet ist. Das Selbst steht immer schon in einem, wie es heißt, „Verhältnis zu andern Individuen des Geschlechts und zum ganzen Geschlecht“.462 Kierkegaard erhebt geradezu den Anspruch, aus seiner vom einzelnen Subjekt ausgehenden Philosophie ein den Anderen miteinbeziehendes Denken zu entwickeln. Dadurch, dass das Selbst immer als ein konkretes Selbst verstanden wird, übernimmt der Einzelne eine Verpflichtung und Verantwortung gegenüber seiner bestimmten Umgebung und somit auch gegenüber seinen Mitmenschen und der Gesellschaft.463 So versteht sich die Folgerung aus Entweder/Oder: „Das Selbst, welches das Ziel ist, ist nicht bloß ein persönliches Selbst, sondern ein soziales, ein bürgerliches Selbst.“464 Entscheidend bleibt jedoch, dass sich der ursprüngliche Akt der Wahl in der Subjektivität und Innerlichkeit vollzieht. Das Primat liegt also durchaus auf der Sphäre der Innerlichkeit, die Selbstgestaltung obliegt dem je Einzelnen, und eine gehaltvolle Ausbildung der eigenen Subjektivität vermag dann die Voraussetzung für ein den Anderen miteinbeziehendes Handeln zu sein. Daraus einen Solipsismus oder gar einen Quietismus zu folgern,465 würde dem Kierkegaardschen Selbstverständnis entschieden widersprechen und nicht gerecht werden. Die Selbstwahl des Einzelnen ist Fundament und Ausgangspunkt für ein den Gegenüber mitberücksichtigendes Handeln. Die Entscheidung fällt beim Einzelnen, in der Subjektivität und Innerlichkeit, aber im Hinblick auf die Gemeinschaft,466 in die er immer schon eingebunden ist. Die Wahl des Selbst als Ausdruck seiner Freiheit ängstigt den Einzelnen nicht zuletzt gerade deshalb, weil aus dem Akt der Wahl, der aus der tiefsten Innerlichkeit hervorgeht, eine Verantwortung für die ganze Menschheit – Kierkegaard
|| 461 Wesche 2013, S. 134. „Aber was ist nun Liebe? Liebe heißt, Liebe voraussetzen; Liebe haben heißt, bei anderen Liebe voraussetzen, liebevoll sein heißt voraussetzen, daß andere liebevoll sind“, so Kierkegaard (SKS 9, 225 / LT, 247). 462 SKS 3, 207 / EO2, 229. 463 Zur gesellschaftlichen Dimension des Ethischen bei Kierkegaard vgl. Hügli 1973, S. 180f. 464 SKS 3, 250 / EO2, 280. Siehe dazu auch SKS 3, 239f. / EO2, 267f. sowie S. 96 der vorliegenden Arbeit. Barth 1926, S. 208f. konstatiert zu der zitierten Stelle aus Entweder/Oder: „Wir können ihr entnehmen, daß das Subjekt nicht in dem Sinne isoliert ist, daß es aus seinen Gemeinschaftsbeziehungen willkürlich herausgelöst würde. Diese Beziehungen sind vielmehr vorausgesetzt“. 465 Dies ist ein Vorwurf, dem sich wiederum auch die späteren Existenzialistinnen und Existenzialisten ausgesetzt sahen. Simone de Beauvoir wehrt sich explizit gegen den SolipsismusVorwurf. Siehe dazu de Beauvoir 2007, S. 126. 466 Vgl. auch Barth 1926, S. 209.
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spricht vom Geschlecht bzw. Menschengeschlecht – erwächst. Die Angst wird, um sich einer Formulierung aus Der Begriff Angst zu bedienen, zum Schwindel der Freiheit.467 Bei der Lektüre folgender Passage aus Entweder/Oder könnte man beinahe den Eindruck gewinnen, es handele sich bereits um einen Text aus der Feder Jean-Paul Sartres: „Darum gehört Mut dazu, sich selbst zu wählen; denn in eben der Stunde, da es scheint, daß er sich am allermeisten isoliere, in eben ihr senkt er sich am allertiefsten in die Wurzel, durch die er mit dem Ganzen zusammenhängt. Das ängstigt ihn“.468 Der Einzelne steht immer in einem Bezug zu anderen Einzelnen und zur gesamten Menschheit, wodurch er an der „Geschichte aller anderen Individuen so wesentlich beteiligt [ist] wie an seiner eigenen.“469 Die Ausbildung und Gestaltung des eigenen Selbst geht gewissermaßen direkt über in ein Sich-in-ein-Verhältnis-Setzen zu anderen. So kann Pia Søltoft zugestimmt werden, wenn sie resümiert: „Daß man die Innerlichkeit der Subjektivität in sich selbst gewonnen hat, besagt, daß diese Innerlichkeit sich existentiell im Verhältnis zum anderen fortsetzt.“470 Selbsterkenntnis bzw. Selbstwerden, um in Kierkegaardscher Terminologie zu bleiben, ist Voraussetzung für das (An-)Erkennen des Anderen. Indem Kierkegaard die unendliche Differenz zwischen den einzelnen Menschen anerkennt und zur Grundlage seiner Anthropologie und Ethik macht, kann er diesen Unterschied auch im Verhältnis des Einzelnen zum Anderen aufrechterhalten. Das Ethische im Kierkegaardschen Sinne braucht die Unterschiede zwischen Mensch und Mensch nicht zu nivellieren, im Gegenteil gestattet ihm der Unterschied zwischen zwei Menschen, „mit dem Gedanken von der Einzigartigkeit des einzelnen Menschen zu operieren, was bedeutet, daß in ethischer Hinsicht der eine sich zwar an die Stelle des anderen setzen kann, aber niemals dessen Platz einnehmen kann.“471 Den Standpunkt des Anderen wird
|| 467 In SKS 4, 365 / BA, 60f. heißt es: „Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigne Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten.“ 468 SKS 3, 207 / EO2, 229f. (meine Hervorh.). Bei Sartre in Das Sein und das Nichts lesen wir: „Wer in der Angst seine Lage realisiert, in eine Verantwortlichkeit geworfen zu sein…, kennt weder Gewissensbisse noch Bedauern, noch Entschuldigungen mehr“ (Sartre 2012, S. 955). Vereinfachend formuliert er an anderer Stelle, die Angst erkläre sich „durch eine unmittelbare Verantwortlichkeit den anderen Menschen gegenüber“ (Sartre 1966, S. 15). 469 Barth 1926, S. 216. 470 Søltoft 2002, S. 89. 471 Ibid., S. 93. „Den Anderen in seiner Andersheit zu belassen und diese nicht auf Identität zurückführen zu müssen,…drückt das Grundprinzip des Existentialismus aus, die Differenz nicht, wie im hegelschen System aufzuheben, sondern sie als Grundzug der Existenz (an) zu erkennen“, so Moser 2004, S. 92.
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man nie einnehmen können, da jeder Einzelne eine Welt für sich ist, die sein Allerheiligstes ist, „wo keine fremde Hand eindringen kann.“472 Eine grundlegende Gemeinsamkeit wird freilich nicht bestritten, sie ist jedoch lediglich rein formaler Natur, d.h. bar jeder inhaltlichen Bestimmung – das haben wir in Kapitel 2.3 zu Kierkegaards Anthropologie bereits erläutert. Ohne eine solche Gleichheit zwischen den Menschen einzuräumen, könnte ich mein Gegenüber allerdings wohl kaum als Menschen wahrnehmen und anerkennen. Im Geist, verstanden als ein Selbst, das sich dann allerdings in concreto realisieren muss, besteht diese Gleichheit. Synthetisierend finden seine existenzdialektische Anthropologie und Ethik pointiert Ausdruck in folgender Passage aus Der Liebe Tun: Jeder von uns ist Mensch und ist dann wieder das Unterschiedliche, das er im besonderen ist; aber das Menschsein ist die Grundbestimmung. Niemand darf sich in dem Maße an der Verschiedenheit versehen, daß er feige oder übermütig, vergißt, daß er Mensch ist; kein Mensch ist durch seine besondere Unterschiedlichkeit eine Ausnahme vom Menschsein, sondern er ist Mensch und alsdann das, was er im besonderen ist.473
Kierkegaard verbindet die Förderung und Herausbildung von Subjektivität mit der Annahme einer darunterliegenden strukturellen Gleichheit, welche die Grundlage für eine Ethik der Liebe bildet. Denn Liebe heißt, wie Kierkegaard sagte, Liebe im Anderen voraussetzen. „Dadurch wird die Möglichkeit einer gegenseitigen Liebesgesellschaft zwischen Mensch und Mensch eröffnet“,474 so Søltoft. Dass der Einzelne die Basis für eine Ethik bilden kann, zeigt sich ebenso bei späteren Vertretern der Existenzphilosophie. Dies heißt auch bei ihnen nicht, dass der Einzelne keinerlei Pflichten gegenüber dem Anderen und der Gemeinschaft hat – im Gegenteil. Vielmehr bindet der individuelle Akt, zu dem der Einzelne qua zur Freiheit Verdammter gezwungen ist, die ganze Menschheit, wie sich u.a. bei Camus und Sartre zeigen wird. Bei Sartre heißt es etwa: „So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild des Menschen, den ich wähle; indem ich mich wähle, wähle ich den Menschen…Aber in Wahrheit muß man sich immer fragen, was würde geschehen, wenn wirklich alle Welt ebenso handeln würde?“475 Gerade die Erkenntnis, dass der Mensch ein Wesen ist, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht und er sich somit durch Freiheit auszeichnet, lässt uns gleichzeitig erkennen, dass wir auch
|| 472 SKS 27, 126, Papir 115:1 / T 1, 67. 473 SKS 9, 143 / LT, 157. 474 Søltoft 2002, S. 108. 475 Sartre 1966, S. 13.
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für den Anderen nur Freiheit wollen können. Die Freiheit der Wahl wird fortan zur größten Bürde des Menschen, da er, auf sich selbst zurückverwiesen, niemand anderen für sein Handeln verantwortlich machen kann: „I exist, that is, I am already choosing a particular kind of life and carrying the burden of responsibility in becoming the person that I am.“476 Hier zeigt sich die enge Verbundenheit von Anthropologie und Ethik in der Philosophie des Existenzialismus allgemein und derjenigen Kierkegaards im Besonderen. Die existenzdialektische Anthropologie Kierkegaards impliziert eine ethische Dimension. Seine ,Bestimmung‘ der menschlichen Existenz als ein ständiges Selbstwerden enthält eine „ethisch-prozessuale Bestimmung des Menschen, der im Sich-Verhalten in und zu seiner faktischen Existenz über sich selbst entscheidet.“477 Das Sich-Verhalten zu sich selbst und zu seiner (Um-)Welt bildet das Fundament für eine Ethik des Individuellen. Für seine Entscheidungen und Handlungen ist der Einzelne qua seiner Freiheit allein verantwortlich und so manifestiert sich, dass Kierkegaards existenzdialektische, anti-essentialistische und prozessuale Anthropologie eine ethische Dimension, die den Einzelnen herausfordert, intendiert. Nach Helmut Fahrenbach bildet so die ethische Dimension des Denkens Kierkegaards mit seinen anthropologischen Reflexionen eine „strukturelle-dialektische Einheit“.478 Nicht nur Anthropologie und Ethik sind eng miteinander verflochten, Kierkegaards Grundgedanken – somit auch seine ethischen Reflexionen – schlagen sich in der Form, Komposition, Gestaltung und Ästhetik seines Gesamtwerkes nieder. Kierkegaards Ethik kann als eine literarische Ethik interpretiert werden, die sich durch Reflexion sowie das Fehlen oberster Werte auszeichnet, wobei sie sich diesem Fehlen verpflichtet weiß und sich dazu bekennt. Seine pseudonyme und fiktionale Schriftstellerei kennt keinen moralisch geschlossenen, sondern nur noch einen offenen Horizont.479 Insofern das Ethische zutiefst an die Innerlichkeit und Subjektivität gebunden ist und es dort seinen Ursprung hat und nimmt, kann es für Kierkegaard keine Theorie wie auch kein System der Ethik geben. Das Ethische entzieht sich einer solchen abgeschlossenen und direkten Form mitteilbaren Wissens. Unmissverständlich notiert Kierkegaard: „Daß das Ethische nicht doziert werden kann; denn es dozieren heißt, es unethisch mitteilen.“480 So ist Christiane Schildknecht zuzustimmen, die zu Kierkegaard festhält,
|| 476 Aho 2014, S. 25. 477 Fahrenbach 1980, S. 158. 478 Ibid. 479 Vgl. Mayer 2019, S. 260. 480 SKS 27, 410, Papir 368:7 / T 2, 114. Vgl. hierzu Greve 1990, S. 17.
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dass insofern ethische Erkenntnis als eine Haltung und Lebenseinstellung aufgefasst wird, eine „unauflösbare Gebundenheit ethischer Erkenntnis an den subjektiv-existentiellen Standpunkt zum Tragen [kommt], der durch die direkte Mitteilung in objektiv-behauptender Form ausgelöscht würde.“481 Im Bereich des Ethischen bewegen wir uns demnach per definitionem im Bereich indirekter Mitteilung; eine ethische Mitteilung ist im strengsten Sinne eine indirekte Mitteilung. Mit Letzterer werden wir uns nun im folgenden Kapitel eingehender beschäftigen.
2.5 Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode Überall, wo in der Erkenntnis das Subjektive von Wichtigkeit ist, wo also die Aneignung die Hauptsache ist, da ist die Mitteilung ein Kunstwerk.482
Stil und Form erweisen sich in den Kierkegaardschen Schriften keinesfalls als bloßer Dekor oder ästhetisches Beiwerk, sie sind vielmehr konstitutiv für den philosophischen Gehalt selbst: „Die Reduplikation des Inhalts in der Form ist das Künstlerische, und besonders kommt es darauf an, sich aller Äußerungen über dasselbe in einer unadäquaten Form zu enthalten.“483 In Bezug auf die Existenz bedeutet das, dass sie in einer ihr angemessenen Form zum Ausdruck gebracht werden muss, „und diese ist im Hinblick auf das trugvolle Wesen der Existenz die indirekte Form, nämlich daß es kein System gibt“.484 Kierkegaard würde sich selbst widersprechen, würde er seine Philosophie der Existenz und des Einzelnen in die Form einer systematischen Abhandlung bringen, weist er jene Art zu philosophieren doch gerade als defizitär, die Existenz in ihrer Mannigfaltigkeit und Konkretheit zu beschreiben, zurück. „Da kommt es darauf an, daß das existierende Subjekt für sein Denken eine Form hat, worin es dies wiedergeben kann.“485 Der subjektive Denker wird sich nicht in philosophischen Systemen mitteilen können, denn das hieße – wie in Kapitel 2.1 erläutert – etwas in ein abstraktes Begriffskorsett zu zwängen, was sich zwangsläufig durch seinen prozesshaften Charakter einem solchen entzieht und durch es nicht zu fassen ist. Die Existenz
|| 481 Schildknecht 2007, S. 33. 482 SKS 7, 79 / AUN1, 71. 483 SKS 7, 304 / AUN2, 36. King 1986, S. 15 bezeichnet die Reduplikation des Inhalts in der Form als Kierkegaards Auffassung einer idealen Art der Kommunikation. 484 SKS 7, 118 / AUN1, 115. 485 SKS 7, 81f. / AUN1, 74.
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 127
des Einzelnen ist stets unabgeschlossen und benötigt eine ihr korrespondierende Denk- sowie Ausdrucksform: „Die Verschiedenheit des subjektiven und des objektiven Denkens muß sich auch in der Form der Mitteilung äußern“.486 Subjektive Erkenntnis bedarf einer eigenen Mitteilungsform, da beim Versuch, sie in sprachlichen Aussagen mitzuteilen, d.h. direkt zu kommunizieren, das Existieren aufgehoben und in Denken verwandelt wird.487 Dies war der Kern der Kierkegaardschen Kritik an der Abstraktion als Negation der Existenz. Direkte Mitteilung scheidet von vornehinein aus, da sie der Gewissheit bedarf, Gewissheit sich jedoch für einen Existierenden, d.h. im Werden Befindenden nicht einstellen kann – Gewissheit fällt in den Bereich objektiven Denkens. Der subjektive Denker „kann aber gerade darum nie eine direkte Form gebrauchen, da die ein Resultat und das Fertigsein voraussetzt.“488 Kierkegaard setzt den Geschlossenheit und Endgültigkeit intendierenden philosophischen Systemen die Unabgeschlossenheit und Offenheit von Lebensentwürfen entgegen.489 Gerhard Gamm bringt dies auf die anschauliche Formulierung, Kierkegaard schreibe „kleine Drehbücher“,490 in denen er mögliche Lebensformen präsentiere, die es dem einzelnen Existierenden ermöglichen, Orientierung in einer Welt voller Unsicherheiten zu finden. Wilhelm Anz hebt Kierkegaards Rolle und Selbstverständnis anhand der Metaphorik des Wegweisers hervor: Ein Weiser helfe dabei, den richtigen Weg zu finden, setze aber zugleich einen Raum voraus, wo es unterschiedliche Richtungen und Möglichkeiten gibt. Letztlich bin ich es, der sich orientieren muss: „Ich beurteile, wo mein Weg abzweigt, wo er hinführt. Genauso ist es bei Kierkegaard.“491 So hat schon allein schon der Titel Philosophische Brocken Programmformelcharakter: Kierkegaards philosophisches Bemühen wird aufgrund seines Gegenstandes, der Existenz des Einzelnen, nie zum Stillstand kommen können und
|| 486 SKS 7, 74 / AUN1, 65. 487 Vgl. hierzu auch Hüsch 2014, S. 204 sowie Hüsch 2011, S. 88–91. 488 SKS 7, 74 / AUN1, 66. 489 Vgl. Salamun 2012, S. 101. „‚Existenz‘, wie Kierkegaard diesen Terminus versteht, ist im Risiko zukünftigen Lebens und Handelns definiert. Deshalb muß hier von einer ‚Zufälligkeit‘ gesprochen werden, die in keinem System ‚vorwegzunehmen‘ ist“, so Deuser 1985, S. 13. Hühn 2009, S. 29 merkt an, dass Kierkegaard gegen die Idealistische Systemphilosophie „eine experimentierende, in perspektivischen Brechungen sich artikulierende Verfahrensweise in die Waagschale wirft.“ Eine solche schließt bewusst nie mit einem affirmativen Bekenntnis. 490 Gamm 2011, S. 29. Ähnlich erläutert Gantschow 2011, S. 231: „Kierkegaard spielt mit den Pseudonymen, um verschiedene Lesarten des Lebens vorzuführen.“ 491 Anz 1956, S. 56 (meine Hervorh.).
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findet somit Ausdruck in Form von Brocken, Aphorismen und Reden etc. Purkarthofer hält zu Stil und Form der Schriften Kierkegaards – von denen eine erhebliche Anzahl unter Pseudonymen publiziert wurde – fest: „Für Kierkegaards Werk insgesamt sind Geradlinigkeit und Zielstrebigkeit nicht bezeichnend. Im Gegenteil, es stellt sich als ‚polyphones Werk‘ dar. Die Stimmen einzelner Schriften, ja sogar einzelner darin vorkommender ,poetischer Individualitäten‘…haben genauso viel Gewicht wie jene des Autors.“492 Kierkegaard zwingt seinen Leser, sich mit den verschiedenen Figuren auseinanderzusetzen, treibt ihn zur Selbstreflexion an, und damit wird die Lektüre seiner Texte zu einer wahren Herausforderung für den Leser.493 In der Polyphonie des Werkes manifestiert sich einmal mehr die Zerrissenheit des Denkers und seiner Existenz selbst, sammelt doch im Stil, wie Kierkegaard betont, der Schriftsteller seine ganze Seele.494 In letzter Konsequenz betrachtet er sein gesamtes Wirken als Schriftsteller als seine „eigene Erziehung und Entwicklung“,495 die keinen Stillstand erreicht, sondern sich stets im Werden befindet. Kierkegaard prozessualisiert Selbstsein zu einem Selbstwerden, wie schon in seiner Anthropologie deutlich wurde. Dies schlägt sich auch in der Form und in dem Anspruch seiner Schriftstellerei nieder.496 So hält auch Hermann Diem zur Pseudonymität der Kierkegaardschen Schriften fest, dass hinter dieser Maske die „mit seinem Herzblut geschriebenen Möglichkeiten seines eigenen Lebens, aus denen er mit diesem Werk in erster Linie sich selbst zurückruft in die Existenz“,497 stecken. Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich Kierkegaards Werk als ein Selbstfindungs-, Selbsterziehungs- bzw. Selbstentwicklungsprozess verstehen. Er wird sich durch sein und in seinem geschriebenen Werk seiner selbst bewusst. Sein Selbst ist Gegenstand seiner Schriften und wird zugleich durch sie geformt und gebildet. Schriftstellerei ist für Kierkegaard ein Ausdruck persönlichen Existierens, der sich in seinem Kriterium von Authentizität zuspitzt. Er widerruft damit die Trennung von Autor und Text.498
|| 492 Purkarthofer 2005, S. 104. 493 Vgl. Kaufmann 2006, S. 186. 494 Vgl. SKS 8, 98 / LA, 110. Baudelaire schreibt: „Um die Seele eines Dichters zu durchleuchten, muß man in seinem Werk diejenigen Worte aufsuchen, die am häufigsten vorkommen.“ (Zitiert in Frank 2003, S. 41). 495 SKS 13, 19 / WS, 10. 496 Schlette 2019, S. 95 sieht darin Kierkegaards Anspruch an Wahrhaftigkeit, d.h. Authentizität, realisiert. 497 Diem 1955, S. 426. „Es gibt kaum ein schriftstellerisches Werk, das in solchem Maße die eigene Lebensgeschichte des Verfassers verarbeiten würde“, so Diem 1956, S. 14. 498 Vgl. hierzu auch Schlette 2019, S. 90.
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 129
In der Schrift mit dem sprechenden Titel Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller499 führt Kierkegaard aus, Schriftsteller zu sein bedeute, ein Handeln und ein persönliches Existieren zu sein.500 Die Tätigkeit der Schriftstellerei involviert den Einzelnen zutiefst; diese Tätigkeit ist vom ausführenden Subjekt nicht zu trennen, vielmehr wird Letzteres durch jene selbst gestaltet. Damit einhergehend kann sich Kierkegaard eine kritische Diagnose seiner Zeit erneut nicht verkneifen: Man habe zu seiner Zeit schlichtweg vergessen, dass Autor, Werk und Mitteilung in einem engen Verhältnis zueinander stehen, da der Schriftsteller ein einzelner Existierender sei. „[I]n unseren Zeiten, in denen…man nicht nach dem Mitteilenden fragen soll, sondern allein nach der Mitteilung, bloß nach dem Was, dem Objektiven – was ist in unsern Zeiten ein Schriftsteller?…ein X, ein unpersönliches Etwas“.501 Die Vergessenheit des Schriftstellers scheint der Existenzvergessenheit zu korrespondieren. Für Kierkegaard kommt es hingegen darauf an, das Verhältnis des Mitteilenden zu seiner Mitteilung genauer zu betrachten, nicht zuletzt unter Kriterien wie Aufrichtigkeit, Redlichkeit und Authentizität. In dieser Hinsicht scheint es plausibel, ihn in die Traditionslinie der Essais eines Michel de Montaigne einzuordnen, dessen Selbstbetrachtungen zugleich ein Selbstgestaltungsprozess sind. Bei Nietzsche werden wir diesem Motiv wiederbegegnen. Folgende Tagebuchnotiz Kierkegaards scheint die Intention einer solchen Interpretation durchaus zu bekräftigen: „Meine Schwermut hat viele Jahre hindurch bewirkt, dass ich es nicht vermochte, im tiefsten Sinne Du zu mir selbst zu sagen. Zwischen meiner Schwermut und meinem Du lag eine ganze Phantasie[-]Welt. Sie ist es, die ich in den Pseudonymen teilweise ausgeschöpft habe.“502 Fredsted zieht sogar in Erwägung, man könne Kierkegaards Werk als „Entwicklungsroman betrachten, in dem er selbst der Autor…, der Hauptdarsteller in verschiedenen Figuren(konstellationen) und sein eigener Rezipient und Interpret ist.“503 In diesem Sinne können seine Schriften als Selbstdialoge interpretiert werden, womit sein schriftstellerisches Wirken einmal mehr als Selbstwerdungsprozess zu charakterisieren wäre. Dies legt Kierkegaards Bekenntnis, „ich
|| 499 In der Folge wird auf diese Schrift wie üblich mit dem Kurztitel Gesichtspunkt hingewiesen. Zur Einordnung dieser Schrift in das Gesamtwerk Kierkegaards siehe im Ganzen den Aufsatz von Schlette 2019. 500 Vgl. SKS 16, 38 / GWS, 51. 501 SKS 16, 38 / GWS, 52. 502 SKS 20, 97, NB:141 / DSKE 4, 107. Vgl. hierzu auch Hadot 2005, S. 140. 503 Fredsted 2012, S. 43. Interpretiere man Kierkegaard zugleich als Verfasser und Leser seiner Schriften, so könne man „von einem Dialog der Sichtweisen sprechen, die Kierkegaard in sich getragen hat und explizierte, um zu einer Lösung zu gelangen“, so Kaufmann 2006, S. 190.
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betrachte mich selbst am liebsten als einen L e s e r meiner Bücher, nicht als den V e r f a s s er “,504 nahe. Hier wird uns der Autor zugleich als der Leser seiner eigenen Schriften präsentiert, der Autor sucht und gestaltet sich in und durch seine Texte. Dadurch gewinnt er eine kritische und distanzierte Perspektive auf das eigene Werk. Insofern rückt Kierkegaards schriftstellerisches Schaffen in die Nähe des sogenannten Bildungsromans und kann nach Joakim Garff aus einer metabiographischen Perspektive als Kierkegaards Tagebuch seines Prozesses zum Selbstsein bzw. Selbstwerden angesehen werden.505 Zugleich sind die pseudonyme Schriftstellerei, die Strategie der Fiktionalisierung und Herausgeberschaft Indizien für einen Verzicht auf moralisches Herrschaftswissen,506 der im vorherigen Kapitel zum Ausdruck kam, sowie auf objektive Gewissheiten im Allgemeinen. Für Mackey bedeutet die Absage an einen vom Menschen einnehmbaren objektiven Standpunkt sowie an die Möglichkeit, „to view reality from the perspective of the angels“, dass „in Kierkegaard philosophy becomes poetry.“507 Für Walter Nigg ist Kierkegaard nicht zuletzt eine wahrlich nordische Gestalt mit unauslotbaren Tiefen und einer der geheimnisvollsten Menschen überhaupt, die je gelebt haben.508 Sein Opus zeugt von einer derartigen Vielschichtigkeit und Facettenreichhaltigkeit, dass hier keine Detailanalyse seiner Gestaltung und Anordnung angestrebt werden kann. Umso erstaunlicher ist es, dass sich – und so viel dürfte auch aus unseren bisherigen Analysen hervorgegangen sein – sein Werk durch eine wesentliche Grundfrage auszeichnet. Mit Johannes Sløk und neuerlich auch Heiko Schulz lässt sich diese wie folgt formulieren: Wie ist es dem Menschen möglich, das ihm gegebene Leben in Aufrichtigkeit zu leben bzw. ist es und falls ja wie möglich, sich selbst zu verwirklichen?509
|| 504 SKS 13, 19 / WS, 10. 505 Garff verfolgt das Ziel, „to demonstrate that Kierkegaard not merely attempts to present an authentic self in his writing, but he himself is also essentially implicated in the very process: In constructing his texts Kierkegaard is likewise constructed by them.“ (Garff 2006b, S. 355). Zum Motiv der Selbstlektüre bei Kierkegaard vgl. ferner Grage 2010. 506 Vgl. Mayer 2010, S. 99 sowie Mayer 2019, S. 250. 507 Mackey 1971, S. 266. Mackey richtet seine gesamte Studie nach der Auffassung aus, „Kierkegaard is not, in the usual acception of these words, a philosopher or a theologian, but a poet“ (ibid., S. ix). 508 Vgl. Nigg 1952, S. 24. 509 Vgl. hierzu Sløk 1954, S. 144 und Schulz 2014, S. 148f.
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 131
Hier soll zum Abschluss der Kapitel über Kierkegaard nun auf seine Methode der indirekten Mitteilung eingegangen werden, die davon zeugt, dass Kierkegaard versucht, den Maßstäben seiner eigenen Kritik auf der Ebene der Form seiner Texte gerecht zu werden. Dazu ein paar kurze klärende Vorbemerkungen: Der Begriff ‚indirekte Mitteilung‘ ist zunächst ein vielseitig verwendeter Begriff mit u.a. alltagssprachlichen Konnotationen. Bei Kierkegaard wird er im Kontext mitteilungstheoretischer Fragestellungen zu einem terminus technicus, der auf eine komplexe methodologische Herangehensweise an das Problem der Existenz verweist und innerhalb der Kierkegaard-Forschung eine umfangreiche kontroverse Debatte nach sich gezogen hat. Vor nicht langer Zeit hat Philipp Schwab mit Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung gesondert zu dieser Thematik eine umfassende und richtungsweisende Monographie vorgelegt.510 Um den Einstieg zu erleichtern, können wir die indirekte Mitteilung zunächst über ihr Pendant und Gegenstück, die direkte Mitteilung, zu fassen versuchen, zumal Kierkegaard selbst diese Gegenüberstellung aufmacht. Direkte Mitteilung hat ihren Anwendungsbereich dort, wo es um objektiv Wissbares geht. Solche reine Wissensmitteilung sagt über einen Gegenstand etwas aus, und das dort Ausgesagte ist unabhängig von demjenigen, der es aussagt.511 Der Charakter der Schrift oder der Mitteilung steht hier in keinerlei innerlichen Beziehung zum Charakter des Schreibers oder des Mitteilenden.512 Im Bereich der Suche nach objektiven Wahrheiten steht die Reflexion auf diesen Gegenstand im Zentrum, und nicht – wie bei der Suche nach subjektiven Wahrheiten – die Reflexion auf das Verhältnis des Einzelnen zu diesem Gegenstand in einer konkreten Situation.513 Wie bereits gesehen, dient hier Kierkegaard die Mathematik häufig als Beispiel. Mathematische Wahrheiten können direkt mitgeteilt werden, da ihr Wahrheitsgehalt unabhängig von demjenigen ist, der sie mitteilt und ausspricht. Dies gilt für die abstrakten Wissenschaften im Allgemeinen, dort geht es um reine Begriffsbestimmung und Begriffsanalyse, und objektive Begriffsbestimmungen sind intersubjektiv direkt mitteilbar.514 Wo jedoch die Subjektivität die Wahrheit ist, d.h. die Wahrheit erst im und durch den Vollzug der Existenz zum Vorschein kommt und wird, dort ist || 510 Vgl. Schwab 2012. 511 Vgl. Nientied 2003, S. 24f. Siehe auch Goodman 1986, S. 341: „An objective truth, like ,the earth is round,‘ is abstract in the sense that it is true no matter who utters it; a subjective truth is concrete in that its truth depends essentially on who utters it and how“. 512 In ihrer vergleichenden Analyse zu Wittgenstein hält Schönbaumsfeld 2010, S. 200 diesen Aspekt fest. 513 Vgl. SKS 7, 182 / AUN1, 190. 514 Vgl. da Silva 2015, S. 13.
132 | Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne
sie zutiefst an den Mitteilenden gebunden, sie ist von ihm abhängig und kann nur durch ihn indirekt zur Darstellung gebracht werden, weil sie dem Werden unterliegt.515 Wie in Kapitel 2.2 erläutert, ist im Bereich der Subjektivität das Wie und nicht das Was Kriterium für Wahrheit, und zwar in dem Maße, dass das, „was Wahrheit ist im Munde von diesem oder jenem Unwahrheit werden kann.“516 Hier zeigt sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mitteilung und Mitteilendem. In Fragen der Existenz wird sich von einem propositionalen Wahrheitsverständnis verabschiedet; hier werden nun Kriterien wie Darstellung und Authentizität von Relevanz. Indirekte Mitteilung hat ihren Anwendungsbereich dort, wo es um Fragen der Existenz geht, diese betreffen die Sphäre der Subjektivität und Innerlichkeit. Es handelt sich nicht um eine Wissens-, sondern um eine Könnens-Mitteilung517 und somit reflektiert sie nicht bloß auf einen Gegenstand, da es in ihrem Anwendungsbereich strenggenommen keinen Gegenstand gibt: „Der Gegenstand ist, wie gezeigt, nicht ein Wissen, sondern eine Kunst, ein Verwirklichen.“518 Damit ist indirekte Mitteilung zutiefst an den Mitteilenden gebunden. Hier sei auf die Erläuterungen zu Kierkegaards Unterscheidung zwischen rein objektiver, wissenschaftlicher Theorie und Praxis der Existenz verwiesen, die wir in Kapitel 2.2 unter Bezug auf Kierkegaards Wissenschaftsbegriff beleuchtet haben.519 Tab. 2: Direkte versus indirekte Mitteilung
Mitteilungsform
Anwendungsbereich
direkte Mitteilung (Wissens-Mitteilung)520
objektiv Wissbares, begriffliches Wissen (z.B. Mathematik)
indirekte Mitteilung (Könnens-Mitteilung)521
die Existenz, Sphäre der Subjektivität (z.B. Fragen der Ethik)
|| 515 Vgl. hierzu die Erläuterungen in Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 516 SKS 7, 185 / AUN1, 193. 517 Vgl. SKS 27, 407, Papir 368:2 / T 2, 113. 518 SKS 27, 396, Papir 365:13 / T 2, 124. 519 Siehe S. 71 dieser Arbeit. Vgl. dazu auch Holl 1972, S. 29f. 520 Vgl. SKS 27, 407, Papir 368:1 / T 2, 113. 521 Vgl. SKS 27, 407, Papir 368:2 / T 2, 113. Hagemann 2001, S. 35 merkt an: „Der Distinktion von direkter und indirekter Mitteilung ist die Disktinktion von Wissens- und Könnens-Mitteilung verwandt“. Helmut Fahrenbach 2016, S. 233 rekurriert hierauf in Bezug auf Kierkegaards Ethik: „Die ethische Mitteilung muß dieses Können-Sollen als solches mitzuteilen suchen. Das aber ist nur ‚indirekt‘
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 133
Hier soll nun anhand ausgewählter Textpassagen und unter Berücksichtigung des thematischen Rahmens der Arbeit versucht werden, grundlegende Charakteristika der Methode der indirekten Mitteilung bei Kierkegaard herauszuarbeiten. Die Wahl der Form philosophischer Texte sollte den Existenzialismus weiterhin beschäftigen, sodass Kierkegaard zusammen mit Nietzsche – dessen Experimentalphilosophie, aphoristischer Stil und Perspektivismus uns ebenfalls als formale Gegenentwürfe zu abgeschlossenen Systemen begegnen werden522 – hier einmal mehr als Vordenker dieser Strömung zu typisieren ist. Flynn beschreibt die indirekte Mitteilung in seiner kurzen Einführung zum Existenzialismus als eine Methode dieser Strömung allgemein: „Die indirekte Art und Weise, die sympathische Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen, um Werte und Gefühle zu vermitteln, die andernfalls vielleicht intellektualisiert oder gar von vorneherein abgelehnt werden. Die Kunst ist besonders wirkungsvoll in dieser Form des ,konkreten‘ Denkens.“523 Insbesondere ist für die französischen Existenzialisten charakteristisch, dass sie ihre philosophischen Gedanken zuhauf in ein literarisches Gewand kleiden. Zunächst jedoch zurück zu Kierkegaard: Fest steht, dass seine Systemkritik unmittelbar die Frage nach sich zieht, welche Form denn nun die adäquateste sei, um nicht gegenüber der Existenz indifferent zu bleiben. Die Frage nach der Form der Darstellung seiner Gedanken sowie die Form, die Kierkegaard letztlich für sich selbst wählt, erwachsen unmittelbar aus dem Gegenstand seiner Philosophie, der Existenz des Einzelnen, selbst. Wiederum beschreibt er es als ein Defizit der Philosophie seiner Zeit, nicht nur ‚existenzvergessen‘, sondern ebenso nicht auf das notwendige Verhältnis von Form und Inhalt aufmerksam zu sein, das eine angemessene Betrachtung der Existenz erfordert. So liege ein Grundirrtum nicht nur darin, vergessen zu haben, dass es etwas gibt, „was Mitteilung eines Könnens heißt, sondern in sinnloser Weise die Mitteilung des Könnens und Könnensollens in die Mitteilung eines Wissens verwandelt zu haben. Das Existentielle ist ausgelöscht.“524 Gelingt es uns nicht, eine entsprechende Form ausfindig zu machen, so scheint daraus zu folgen, wie Schwab in Anlehnung an Wittgensteins Diktum,
|| möglich, denn hier ist ‚gerade die Subjektivität die Sache‘, die in ihr eigenstes Können gebracht werden soll. Dazu muß sie aus dem bloßen Wissensverhältnis herausgeholt werden, um zu sich selbst als Handeln zu kommen.“ 522 Siehe dazu Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 523 Flynn 2008, S. 186. 524 SKS 27, 414, Papir 368:14 / T 2, 115.
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wovon man nicht sprechen könne, darüber solle man schweigen, formuliert, „we would apparently have to simply remain silent about existence at all.“525 Die Form der Mitteilung der Gedanken, wobei Kierkegaard die der indirekten Mitteilung wählt, wird selbst wiederum u.a. im ersten Teil der Nachschrift zum Gegenstand philosophischer Reflexion. Besonders die pseudonymen Schriften reflektieren oft eigens die in ihnen angewandte Mitteilungsform. Hier werden wir als Leser mit „strategisch reflektierte[n] und im Vollzug entsprechend umgesetzte[n] Mitteilungskomplexe[n]“526 konfrontiert. Kierkegaards Problematisierung der Mitteilungsform ist selbst ein Ausdruck seines philosophischen Grundanliegens, die Existenz zu thematisieren.527 Auf der Suche nach einer adäquaten Form der Mitteilung heißt es: „Da das existierende Subjekt eben existierend ist…, so ist es ja im Werden. Wie denn seine Mitteilung in der Form wesentlich mit seiner eigenen Existenz konform sein muß, so muß sein Denken der Form der Existenz entsprechen.“528 Genauso wie Leben und Lehre konform gehen müssen, so auch Form und Inhalt. Wenn von der konkreten Existenz des Einzelnen die Rede sein soll, kann, da diese sich in einem stetigen Prozess des Werdens befindet, kein endgültiges Resultat gegeben werden. Somit ergibt sich die Notwendigkeit der indirekten Mitteilung aus dem Anliegen der Philosophie Kierkegaards – sich mit dem Einzelnen in seinem konkreten Existenzvollzug zu befassen – selbst:529 Das konkrete, einzelne Selbst entgeht stets abstoßend der allgemeinen, objektiven Sphäre des Begriffs und der direkten Darstellung und Mitteilung, es bleibt der direkten, begrifflichen Darstellung inkommensurabel und fordert aus diesem Grund eine Denkform, die sich in der Schwebe gebrochener Perspektiven vollzieht und einer finalen Schließung widersteht.530
|| 525 Schwab 2015, S. 228. Für Swenson 1983, S. 140 ist die indirekte Mitteilung eine „consistent consequence of the thoroughgoing anti-intellectualism which Kierkegaard represents.“ 526 Schulz 2019, S. 97. 527 Vgl. hierzu auch Schmidinger 1983, S. 391. 528 SKS 7, 80 / AUN1, 72. King 1986, S. 20 hält hierzu fest: „In diesen Worten…wird eine doppelte Beziehung angesprochen: die zwischen Gedanke und Existenz und die zwischen der Form dieses Gedankens zu derselben Existenz.“ 529 „Kierkegaardʼs method of indirect communication reflects and directly emerges from his critique of systematic thought insofar as the latter appears inappropriate with respect to concrete existence“, so auch Schwab 2015, S. 232. Liessmann 2013, S. 7 weist auf Ähnliches hin: „Wie kaum ein Philosoph vor oder nach ihm hat Kierkegaard versucht, sich an den Einzelnen zu wenden, in einer Direktheit, die nur die Indirektheit der eigenen Methode gelten lassen konnte“. 530 Schwab 2009, S. 132.
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Die objektive Reflexion, wie sie für das empirisch-analytische und wissenschaftliche Denken charakteristisch ist, kann ihre Inhalte auf direktem Wege mitteilen. Im Unterschied zu begrifflichem und begriffenem Wissen ist eigenes Selbstwerden gerade nicht direkt mitteilbar:531 Die Inhalte der subjektiven Reflexion entziehen sich einer solchen Mitteilungsform, da in der subjektiven Reflexion der Mensch immer „emotional engagiert, subjektiv betroffen und existentiell beteiligt“532 ist. Der Gegenstand der Mitteilung ist hier eben nicht ein Wissen, sondern ein Verwirklichen, eine Kunst im Sinne der Existenz als einem Kunstwerk.533 Hilfreich und anschaulich ist hierzu Kierkegaards Vergleich zwischen einem Städtereisenden und dem eigenen Selbstwerden. Ein Städtereisender kann von den unterschiedlichen Stationen seiner Reise direkt berichten. Selbstwerden als Prozess des sich individuell entwerfenden Geistes – wie gesehen ist der Geist für Kierkegaard wesentlich ein konkretes Selbst – ist jedoch nicht direkt mitteilbar, da die Reise des Geistes eine Veränderung desselben mit sich bringt; der Einzelne als Subjektivität ist zutiefst in einen Gestaltungsprozess mit sich selbst und der ihn umgebenden Umwelt involviert. „[I]n der Welt des Geistes heißt den Ort verändern selbst verändert werden, und daher ist alles direkte Versichern, dort- und dorthin gekommen zu sein, ein Versuch à la Münchhausen.“534 Das eigene Selbstwerden und Verwirklichen von Subjektivität können also immer nur indirekt umschrieben und dargestellt werden. Daher legt die indirekte Mitteilung einen Fokus auf die ethische Betrachtung, da diese vom Selbstwerden in und durch Kommunikation mit anderen handelt.535 Es zeigt sich zweierlei: (1) Das Singuläre, das Einzelne, kann nicht mittels des Begriffs, des Allgemeinen, zur Sprache gebracht werden. Hier scheint das berühmte individuum est ineffabile des Aristoteles durch, und das lässt die indirekte Mitteilung als eine Theorie und Praxis über das Nicht-Sagbare in Erscheinung treten. Kierkegaard selbst spielt darauf an, wenn er in sein Tagebuch notiert: „Doch Existenz gehört zum Einzelnen, der Einzelne, was ja schon Aristoteles lehrt, liegt außerhalb des Begriffs od. geht darin doch nicht auf.“536 Die Existenz
|| 531 Vgl. Deuser 1985, S. 151. 532 Salamun 2012, S. 89. Ebenso betont Kaufmann 2006, S. 186, dass es Kierkegaard nicht um die Vermittlung bloßer Fakten gehe, sondern um existenzielle Wahrheit, die dazu führt, „dass die Leser sich ihrer Existenz bewusst werden und ebenso bewusst entscheiden und handeln.“ 533 Vgl. SKS 27, 396, Papir 365:13 / T 2, 124. 534 SKS 7, 256 / AUN1, 277. 535 Vgl. Fonnegra 2017, S. 238f. 536 SKS 22, 435, NB14:150.a / DSKE 6, 504. Vgl. hierzu Schwab 2015, S. 227. In SKS 27, 269, Papir 277:2 / T 1, 354 heißt es: „Jedes individuelle Leben ist inkommensurabel für den Begriff…Worin geht diese Inkommensurabilität auf? – im Handeln – Das, worin alle Menschen eines sind, ist
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liegt als ein ständig Ausstehendes, sich im Werden Befindendes, immer jenseits des Begriffs und entzieht sich ihm. Dies lasse eben die Philosophie Hegels unberücksichtigt, so Kierkegaard, da sie in der Sphäre der reinen Begriffe verharre, in der die Essenz die Existenz involviert, da dort ,Existenz‘ bloße Begriff-Existenz und somit ideelle Existenz, also nicht wirkliche, d.h. faktische, Existenz ist. Eine solche rein abstrakte Philosophie verkenne die „O h n m a c h t des Begriffs“537 im Verhältnis zur Existenz, so Kierkegaard. Zum anderen rückt (2) Kierkegaards Philosophie damit in die Nähe der Experimentalphilosophie und somit auch in diejenige Nietzsches. Diese Verwandtschaft konstatiert auch Schwab, der mit Kierkegaard und Nietzsche eine gebrochene Denkform assoziiert, die bei Kierkegaard unter dem Schlagwort ‚indirekte Mitteilung‘ und bei Nietzsche unter die Bezeichnungen ,Experimentalphilosophie‘ und ,Perspektivismus‘ zu fassen sei. Diese gebrochene Denkform stehe für eine „unhintergehbare perspektivische Gebundenheit jeglichen Erkennens und für die Offenheit eines prozessualen Denkens, das sich der systematischen Schließung im Gebilde eines Ganzen ebenso widersetzt wie dem definitiven, nicht mehr infrage zu ziehenden Resultat.“538 Bei Nietzsche wird sich noch detailliert zeigen, inwiefern der perspektivische Charakter jedweden Erkennens eine entsprechende Denkform erfordert. „Die F o r m des subjektiven D e n k e r s , die Form seiner Mitteilung, ist sein S t i l . Seine Form muß ebenso mannigfaltig sein, wie die Gegensätze sind, die er zusammenhält. Das systematische eins, zwei, drei ist eine abstrakte Form, die deshalb auch jedesmal in Verlegenheit geraten muß, wenn sie auf das Konkrete angewandt werden soll“,539 heißt es in der Nachschrift. Die Gegensätze, die der Existierende zusammenhält, sind die von Notwendigkeit und Möglichkeit, von Endlichkeit und Ewigkeit. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Mensch als Existierender zwangsläufig, und demnach hält Purkarthofer treffend fest, dass der subjektive Denker „von seinem eigenen Zusammengesetztsein nicht absehen [kann], indem er der Mitteilung, die ihn als Existierenden oder den Empfänger
|| Leidenschaft. Deshalb ist alles Religiöse Leidenschaft, Glaube, Hoffnung und Liebe – das Große ist, sein Leben in dem zu haben, was für alle wesentlich ist, und darin einen Gradunterschied zu haben.“ 537 SKS 11, 230 / KT, 120. 538 Schwab 2014a, S. 93. Vgl. auch Schwab 2012, S. 30–32. 539 SKS 7, 326 / AUN2, 61 (meine Hervorh.). Junghans weist in einer Anmerkung zu seiner Übersetzung darauf hin, dass das „eins, zwei, drei“ hier als eine Anspielung auf den Hegelschen dialektischen Dreischritt von These, Antithese, Synthese zu verstehen ist. Siehe hierzu AUN2, 363.
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als solchen selbst betrifft, eine Form gäbe, die dieses eigene Im-Werden-Sein nicht berücksichtigte.“540 Kierkegaard geht es nicht darum, seinem Leser als Empfänger der Mitteilung ein endgültiges Resultat zu präsentieren – dies ist ihm angesichts seines Untersuchungsgegenstandes, der Existenz des Einzelnen, ab initio ohnehin nicht möglich. Der Leser bzw. Adressat soll und muss vielmehr selbst aktiv werden, und bei diesem Akt kann ihm der Mitteilende gewissermaßen behilflich sein.541 Unverkennbar offenbaren sich hierin Parallelen zum mäeutischen Verfahren des Sokrates, auf das sich Kierkegaard selbst bezieht. In Der Augenblick nennt er selbst sein Vorhaben eine „sokratische Aufgabe“: „[N]ämlich die Bestimmung des Christseins einer Prüfung zu unterziehen; selber nenne ich mich nicht einen Christen…, aber ich kann offenbar machen, daß die andern es noch weniger sind.“542 Die Hebammenkunst und das Nicht-Wissen des Sokrates dienen Kierkegaard hierbei als Vorlage. Diese Geistesverwandtschaft hat Kierkegaard die Beinamen ,moderner Sokrates‘, ,Kopenhagener Sokrates‘ und ,dänischer Sokrates‘ beschert, nicht zuletzt auch deshalb, weil er durch die Straßen Kopenhagens schlenderte543 und mit unterschiedlichsten Leuten debattierte. Dass Kierkegaard
|| 540 Purkarthofer 2005, S. 67. 541 Passend dazu notiert Kierkegaard in sein Journal: „Im Verhältnis dazu, zu existieren, gibt es nur Lernende, denn derjenige, der sich einbildet, dass er derart fertig sei, dass er andere belehren kann und darüber selbst zu existieren und zu lernen vergisst: der ist ein Tor. Im Verhältnis dazu, zu existieren, gibt es für alle Existierenden einen einzigen Lehrmeister: die Existenz selber.“ (SKS 18, 277, JJ:411 / DSKE 2, 287). 542 SKS 13, 405 / A, 329. Ergänzend hierzu folgende Notiz Kierkegaards aus dem Jahre 1849: „Etwas Sokratisches habe ich, das kann man sagen. Indirekte Mitteilung war meine Naturbestimmung.“ (SKS 22, 361, NB14:30 / DSKE 6, 417). Sowie SKS 20, 24, NB:13 / DSKE 4, 23: „Mein Schaffen ist mäeutisch gewesen, meine Existenz ist dadurch unterstützend gewesen, dass sie der Stein des Anstoßes war.“ 543 So nennt Garff 2006a, S. 367 in seiner umfangreichen Kierkegaard-Biographie Kierkegaard einen „Straßenphilosophen“. Kierkegaard sorgte nach eigenem Bekunden dafür, jemand zu sein, „der sozusagen auf der Straße lebt, zu jeglicher Tageszeit zu sehen war, in Gesellschaft von Krethi und Plethi und in den allerzufälligsten Situationen.“ (SKS 16, 39 / GWS, 53). Einer der zahlreichen Kierkegaard-Aufsätze Hermann Diems trägt den bezeichnenden Titel „Sokrates in Dänemark“. Vgl. Diem 1956a. Swenson 1983, S. 34–69 geht dem Motiv ausführlich in einem Kapitel „Søren Kierkegaard – a Danish Socrates“ nach. Jüngst ist ein Sammelband mit dem Titel Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers erschienen. Die dort versammelten Beiträge widmen sich Kierkegaards Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller, dessen historischen Vorbildern sowie seiner Rezeption. Vgl. hierzu Deuser und Kleinert 2019.
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sich seinem Selbstverständnis nach ebenfalls in dieser sokratischen Tradition verortet sah, davon zeugen Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit des sogenannten ,Corsarenstreits‘, der uns viel Auskunft über sein Selbstverständnis als Schriftsteller gibt.544 So notiert er u.a. am siebten September 1846: Es war ironisch richtig von mir, während ich die Pseudonyme schrieb, so viel auf Straßen und Gassen zu leben. Das Ironische lag ganz richtig darin, dass ich, der ich qua Schriftsteller einer ganz anderen Sphäre zugehörte, mich auf Straßen und Märkten aufhielt. Das war die Ironie gegen die intellektuellen verschrobenen hegelianischen Mächte, die wir hierzulande haben, od. hatten.545
Die Ironie diente ihm in diesem Sinne dazu, nicht als Autorität verstanden zu werden, da er als jemand, der sich unter die Menge und das Volk mischt, von den vornehmen Kreisen nicht als eine Autorität betrachtet werden konnte.546 Genau wie Sokrates lediglich als ,Geburtshelfer‘– um in der Metaphorik zu bleiben – bei der Generierung von Wissen agieren kann, ist es dem subjektiven Denker nur möglich, seine Existenzform einem anderen indirekt, d.h. qua Darstellung als einer möglichen Lebensweise, zu vermitteln bzw. zu präsentieren. Das kann durchaus einen performativen Charakter intendieren. „Das Höchste, was er vermochte, war, künstlerisch mäeutisch einem anderen negativ zu demselben zu verhelfen“,547 schreibt Kierkegaard über Sokrates. Dies ließe sich auf seine eigene Methode applizieren. Zur indirekten Methode lässt sich also genauso wie zur Mäeutik des Sokrates festhalten: „The communicator does not simply teach the receiver what he or she should do or how he or she should exist. On the contrary, the ,teacher‘ does not in fact teach anything at all, rather, he initiates
|| Kierkegaard selbst lobt die „schöne griechische Wissenschaft“, die darauf aus war, „auf dem Marktplatz zu philosophieren“, etwas, das besonders „jener Mann verstanden hat, der…darauf anhob in den Werkstätten und auf dem Markte zu philosophieren“ (SKS 4, 503 / V, 212), womit offenkundig Sokrates gemeint ist. 544 Zu diesem Streit und seinen Folgen vgl. Gerdes 1965, S. 77–90 sowie Garff 2006a, insbesondere S. 433–487 und Perkins 1990. 545 SKS 20, 39, NB:36 / DSKE 4, 41. 546 Vgl. SKS 20, 40, NB:36 / DSKE 4, 42. 547 SKS 7, 80 / AUN1, 72.
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appropriation“.548 Kierkegaard selbst setzt in seinen Tagebüchern das „G e b u r t s h e l f er i s c h e “549 unmittelbar in Beziehung zur indirekten Mitteilung und damit diese zum sokratischen Verfahren der Mäeutik. Nicht der Existenzvollzug als solcher soll oder gar kann direkt mitgeteilt, sondern allenfalls qua indirekter Mitteilung evoziert werden550 – die inhaltliche Ausgestaltung bleibt also offen. Es wird lediglich zur Reflexion angeregt, die Wahrheit, bei Kierkegaard verstanden als existenzielle Wahrheit, muss letztlich gemäß sokratischem Paradigma jedoch vom Einzelnen selbst hervorgebracht werden.551 Das Anzueignende bleibt nicht gleich, es wird transformiert, eben sich zu eigen gemacht. Genau dies ist die ursprüngliche Bedeutung des dänischen Wortes für Aneignung: tilegnelse. Insofern eignet sich die sokratische Schwangerschaftsmetaphorik in besonderer Weise, denn das Innerliche und das Eigene sind zugleich ein Neues und ein Anderes.552 Becker-Lindenthal verweist zurecht auf eine – auch in dieser Arbeit bereits implizit thematisierte – zweifache Performanz der Kierkegaardschen Texte: „Zum einen, sofern sie zeigen, was sie sagen (Philosophiekritik, die Unaufhebbarkeit des Besonderen etc.), zum anderen, sofern sie der gezielten Aktivierung des Lesers dienen.“553 Performativ sind demnach zum einen die Reduplikation des Inhalts in der Form und zum anderen der Appell an den Leser. In diesem Kontext ist es aufschlussreich, die namentliche Herkunft des Pseudonyms der Nachschrift, Johannes Climacus, genauer zu betrachten. Kierkegaard spielt hier augenscheinlich auf die historische Person Johannes Klimakos an, einen Asketen aus dem sechsten Jahrhundert, der ein Handbuch, eine Anleitung,
|| 548 Schwab 2015, S. 231. So hält auch Deuser 1985, S. 152 treffend fest: „[D]as Anbieten und Ausmalen überzeugender Lebensformen, ist deshalb das eigentliche Metier indirekter Kommunikation. Hier wird kein bloßes Wissen ausgetauscht, sondern es werden Lebensmöglichkeiten cum ira et studio, sympathetisch erprobt.“ Die sich darin manifestierende Nähe zur sokratischen Methode ist oft hervorgehoben worden. Zum Beispiel bei Anderson 1959, S. 202: „Perhaps the most familiar method of indirect communication is that used by Socrates in the dialogues of Plato…Kierkegaard…borrowed from him many features of his own method of indirect communication.“ Krentz 2000, S. 25 hält ebenfalls fest: „Teachings are meant to be appropriated, made one’s own and taken into one’s life inwardly – a Socratic enterprise“. Für Kierkegaard selbst seien die pseudonymen Schriften ein mäeutisches Unternehmen, das praktische Existenzmöglichkeiten expliziere und somit nicht in abstrakten Begrifflichkeiten verharre, so Schäfer 2004, S. 126f. 549 SKS 27, 397, Papir 365:15 / T 2, 125. 550 Vgl. hierzu auch Pieper 1971, S. 197. 551 Vgl. hierzu auch Banser und Bode 2018, S. 18. 552 Vgl. Nientied 2003, S. 40f. 553 Becker-Lindenthal 2015, S. 162.
140 | Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne
die Scala paradisi (Treppe zum Paradies), zum spirituellen Aufstieg zu Gott verfasst hat. Diese ,Leiter‘ oder ,Treppe zum Paradies‘ ließe sich im Sinne Kierkegaards als eine interpretieren, welche es dem Leser lediglich ermöglichen soll, höher zu steigen, jedoch nicht den Aufstieg zu einem bestimmten, festgelegten Telos vorgibt: „A ladder helps a climber to mount higher, but it is only a means and not to be confused with the end or goal of the climb.“554 Die Leiter übernimmt in diesem Gleichnis die Funktion eines Hilfsmittels, genau jene, die auch das Verfahren des sokratischen Dialogs einnimmt. Ein weiteres passendes Beispiel, das zeigt, dass es Kierkegaard nicht darum geht, seinen Lesern ein endgültiges Resultat zu präsentieren, ist sein Werk Entweder/Oder, in dem der Leser mit zwei diversen Lebensweisen (auch ,Stadien‘ genannt) – der ästhetischen und der ethischen – nacheinander konfrontiert wird, ohne dass dabei eine Bewertung vorgenommen wird. Beide Lebensmodi werden als sich einander gegenseitig ausschließende und zugleich gleichwertige Alternativen präsentiert; „the work does not try to present a result or clear conclusion.“555 Ich schließe mich hier denjenigen Interpreten an, welche die sogenannte ,Stadienlehre‘ Kierkegaards nicht als ein starres und hierarchisches Konzept verstanden wissen möchten.556 In dieser Interpretation werden uns letztlich erneut Parallelen zu Sokrates begegnen. Die Stadienlehre Kierkegaards, die nicht im Zentrum unserer Ausführungen steht, ist des Öfteren als ein Konzept auslegt worden, das drei Existenzstadien (das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse) skizziert, wobei das religiöse Stadium das höchste und letztlich anzustrebende darstelle. Dagegen soll hier dafür argumentiert werden, dass die Entscheidung, welche Lebensart die vermeintlich ‚bessere‘ sei, dem Leser überlassen bleibt. Dieser wird geradezu durch jenes Entweder-Oder aufgefordert, eine Wahl zu treffen, womit ein weiterer Werktitel Kierkegaards wiederum regelrecht zur Programmformel557 wird. Sebastian Hüsch hat neulich überzeugend herausgestellt, dass Entweder/Oder nicht teleologisch als ein auf die Lebensweise ‚B‘ hin ausgerichtetes Werk gedeutet werden muss. Zum Verständnis sei angemerkt, dass die Lebensweise des Ästhetikers mit derjenigen ‚A’s‘ und die des Ethikers mit der ,B’s‘
|| 554 Krentz 2000, S. 25. Siehe hierzu auch Nientied 2003, S. 43, die darin Affinitäten zu Wittgensteins Leitermetapher am Ende des Tractatus erblickt. 555 Stewart 2012, S. 172. 556 Es ist treffend, wenn Hüsch 2014, S. 29 zum Beispiel schlussfolgert, dass bei Kierkegaard mögliche Lebensweisen „miteinander in Kommunikation gesetzt beziehungsweise gegeneinander ‚in Stellung‘ gebracht werden, ohne dass dem Leser verbindlich gesagt werden könnte, was dies letztlich für ihn als diesen konkreten existierenden Einzelnen zu bedeuten hat.“ 557 Darauf macht auch Pieper 1968, S. 82 aufmerksam: „[B]ereits im Titel klingt der Ernst der existentiellen Entscheidungssituation an, die ein striktes Ja oder Nein fordert.“
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 141
bezeichnet wird. Vielmehr werde jene vermeintliche Teleologie auf unterschiedlichen Ebenen unterminiert, und zwar vom fiktiven Herausgeber Victor Eremita selbst teils implizit, teils sogar explizit.558 Explizit ist das der Fall, wenn es im Vorwort des Eremita heißt: Wenn er [der Leser] dann das Buch gelesen hat, kann er vielleicht an den Titel denken. Dieser wird ihn dann von jeder endlichen Frage befreien, ob A nun wirklich überzeugt worden sei und bereut habe, ob B gesiegt habe, oder ob es etwa damit geendet, daß B zu Aʼs Meinung überging. In dieser Hinsicht haben diese Papiere nämlich kein Ende…Ich für mein Teil sehe es für ein Glück an. Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen bestimmte Personen entgegengesetzte Lebensanschauungen vortragen. Das endet dann gerne damit, daß der eine den anderen überzeugt. Anstatt daß also die Anschauung für sich sprechen muß, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, daß der andre überzeugt worden ist. Ich sehe für ein Glück an, daß in solcher Hinsicht diese Papiere eine Aufklärung nicht gewähren.559
Keinesfalls kann als gesichert gelten, dass die Meinung B’s bevorzugt wird und eine definitive Antwort auf das Entweder-Oder der Schrift gibt. Die scheinbare Autorität schreibt sich B selbst zu, sie wird weder vom fiktiven Herausgeber, geschweige denn von Kierkegaard selbst validiert. Hierbei ist zu betonen, dass der Ethiker B nicht als Platzhalter für Kierkegaards eigene Ansichten fungiert, wie dies Interpretationen zum Beispiel von Hirsch oder auch Erne560 nahelegen und somit Entweder/Oder teleologisch deuten. In „Eine erste und letzte Erklärung“ am Ende der Nachschrift hält Kierkegaard unter eigenem Namen fest: „So wenig ich in Entweder/Oder der Verführer oder der Gerichtsrat bin, so wenig bin ich der Herausgeber Victor Eremita, gerade ebensowenig“.561 Wie alle Pseudonyme, sei
|| 558 Vgl. Hüsch 2014, S. 160f. 559 SKS 2, 21 / EO1, 15. 560 Bei Hirsch 1933, S. 618 heißt es: „D i e e t h i s c h - r e l i g i ö s e L e b e n s a n s c h a u u n g v o n B i s t d i e K i e r k e g a a r d s “. Vgl. auch ibid., S. 616. Siehe auch Erne 1994, S. 70, der die These, die Ehe sei die schönere Form der romantischen Liebe, des Ethikers B aus dem zweiten Teil von Entweder/Oder mit Kierkegaard identifiziert und hinzufügt, dass für Kierkegaard wahrhafte Lebenspoesie einer ethisch-religiösen Form bedarf. Er verschreibt sich dabei explizit einer Interpretation, die „auf eine werkgetreue Entfaltung der komplizierten Aufstufungen des Ästhetischen und Ethisch-Religiösen und auf das Einhalten der pseudonymen Perspektiven“ (ibid., S. 64) verzichtet. 561 SKS 7, 570 / AUN2, 340. Vgl. ergänzend zu dieser Passage SKS 7, 569 / AUN2, 339: „Das Geschriebene ist daher zwar das Meine, aber nur insofern, als ich der p r o d u z i e r e n d e n dichterisch-wirklichen Individualität ihre Lebensanschauung mittels der Hörbarkeit der Replik in den Mund gelegt habe.“
142 | Kierkegaard: Die Existenz und der Einzelne
auch das Pseudonym von Entweder/Oder atopisch, und die skizzierten Existenzstadien lassen sich mithin nicht als ein teleologischer Entwicklungsprozess lesen, so Nientied.562 Ähnlich wie Hirsch und Erne argumentiert jedoch auch Greve dafür, die Lebensanschauungen stünden nicht gleichwertig nebeneinander, sondern die Aufeinanderfolge der Pseudonyme intendiere eine Progression innerhalb der Existenzmodi, die pseudonyme Schriftstellerei bringe somit eine progressive Theorie von Daseinsmöglichkeiten hervor.563 Lassen wir Greve selbst zu Wort kommen, um anschließend kurz zu erläutern, warum uns eine solche Auslegung der Stadienlehre und Pseudonyme angesichts des gesamten Kierkegaardschen Werkes nicht überzeugend erscheint. Nach Greve verfolgen die pseudonymen Schriften das Ziel, „eine – vollständige – Theorie der Existenz“ zu skizzieren und damit „eine ,Stadienlehre‘ auf[zu]stellen, die das religiös bestimmte Dasein als höchste erreichbare Daseinsform sucht“.564 Für Edith Düsing sollen die Existenzstadien ebenfalls „von der durchschnittlichen, ethisch verfallenden oder träumenden Lebensform fort und zur höchsten Daseinsmöglichkeit hinaufführen“,565 die in der christlich-religiösen gipfelt. Existenz, so wie wir ihr bei Kierkegaard begegnet sind und wie er selbst nicht müde wird zu betonen, zeichnet sich jedoch durch Werden und Unabgeschlossenheit aus, wodurch sie sich einer starren Begriffsbestimmung geradezu entzieht und sich somit nicht in ein system- und theoriebildendes Philosophieren eingliedern lässt, schon gar nicht in eines, das den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Eine vermeintliche Theorie der Existenz bliebe aufgrund ihres zu untersuchenden Gegenstandes zwangsläufig unvollständig und wäre somit eher eine Erörterung des Problems der Existenz und damit das Entgegengesetzte zu einem System von Existenzkategorien.566 Die Redeweise von einer Theorie der Existenz wäre so gesehen ein Widerspruch in sich. Ähnlich argumentiert auch Anton Hügli, der in der Unabgeschlossenheit der Existenz einen Hauptdifferenzpunkt zu Hegel ausmacht und die Stadien bei Kierkegaard nicht als Momente einer logisch-notwendigen Entwicklung begreift,
|| 562 Vgl. Nientied 2003, S. 45f. 563 Vgl. Greve 1990, S. 23f. 564 Ibid., S. 24 (meine Hervorh.). 565 Düsing 1993, S. 214. Sie spricht ebenfalls von einer teleologischen Anlage der Existenzstadien im Werk Kierkegaards. Vgl. dazu ibid., S. 221. 566 Pieper 1968, S. 133 fasst dies wie folgt zusammen: „Ein System der Existenzkategorien wäre aber prinzipiell unabschließbar im Wissen, weil immer wieder eine neue Freiheitsrealisierung geschehen kann, die eben nicht notwendige Folge aus einem gewußten Grund ist.“
Ein moderner Sokrates? Indirekte Mitteilung als Methode | 143
sondern als Ausdrücke der inneren Freiheit des Menschen.567 Denken wir an die inhaltliche Kritik an der Systemphilosophie aus Kapitel 2.1 zurück, deren Auswirkungen auf der Ebene der Form wir im vorliegenden Kapitel thematisieren, so können Kierkegaards Stadien als Kontrastfolie zu Hegels drei Stufen des Geistes (subjektiver, objektiver und absoluter Geist) interpretiert werden.568 Der sich mit Notwendigkeit aus diesen Stufen entwickelnde absolute Geist Hegels umfasst jedoch die gesamte Wirklichkeit und geht somit über den Einzelnen hinaus: Geht es in der ,Geschichte‘ Hegels um die Selbstverwirklichung des absoluten Geistes im Sinne unendlicher Sozietät und Integration, also um die systematische Vereinbarung der Gegensätze, so geht es im ,Werden‘ Kierkegaards um die Selbstverwirklichung des ,existierenden Geistes‘ den er das ,Selbst‘ nennt im Sinne unendlicher Individuation und Differentation.569
Kierkegaards Stadien stellen somit im Gegensatz zu Hegels Stufen weder einen logisch-notwendigen Entwicklungsprozess hin zu einer religiösen Existenzweise dar, noch zielen sie gar auf die Verwirklichung eines absoluten, die gesamte Wirklichkeit umfassenden Geistes. An die Stelle des absoluten Geistes Hegels tritt bei Kierkegaard der existierende und somit stets individuelle Geist, verstanden als das konkrete Selbst eines einzelnen Menschen. Dieser Unterschied zwischen Hegel und Kierkegaard muss mit Nachdruck hervorgehoben werden, da in ihm auch Kierkegaards Systemkritik durchscheint. Interpretiert man hingegen Kierkegaards Stadien als systematisch zu durchlaufende Geistesstufen, so stellt man ihn selbst als Systemdenker dar, wie es am Beispiel von Dempfs Aufsatz „Kierkegaard hört Schelling“ deutlich wird. So besteht für Dempf der Unterschied zwischen Hegel und Kierkegaard lediglich noch darin, dass Kierkegaard der Hegelschen objektiven Geistesentwicklung eine subjektive entgegenstellt. So gelangt er zu der Conclusio: „Sein System ist nur das subjektivistische Gegenbild…, der ästhetische, ethische und religiöse Persönlichkeitstyp werden in den Übergängen von Ironie und Humor dialektisch übereinander hinausgetrieben, sind der zeitgemäße Weg zum entschiedenen Christsein.“570 Auch
|| 567 Vgl. Hügli 2007a, S. 148f. Bei Hegel 1986a, S. 585 heißt es hingegen: „Ehe der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen“. 568 „An der Stelle, wo das deutlich wird, interpretiert Kierkegaard Hegels drei Stufen des ‚seienden‘ Geistes, also den subjektiven Geist, den objektiven Geist und den absoluten Geist als drei Stadien der werdenden Existenz“, so Bense 1948, S. 50. 569 Ibid. Siehe hierzu im Allgemeinen ibid., S. 47–54 sowie Banser und Bode 2018, S. 61. 570 Dempf 1956, S. 156.
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hier wird also von einem eindeutigen Entwicklungsweg ausgegangen. Eine solche Deutung des Kierkegaardschen Denkens läuft seinem in unseren Auslegungen zugrunde gelegten Philosophieverständnis jedoch zuwider. Mit Pieper, Hüsch oder jüngst auch Schlette und Gräb-Schmidt schließe ich mich derjenigen Auslegung an, die die Stadienlehre nicht als teleologisches Konzept versteht.571 Die Stadien konstituieren nach Gräb-Schmidt gerade kein „evolutiv-hierarchisches“ Schema, sondern sind vielmehr als „gleichzeitige Aspekte des Daseins aufzufassen, die unverzichtbare Elemente enthalten, von denen nicht abstrahiert werden darf.“572 Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass der zweite Teil von Entweder/Oder mit folgender Passage endet, die sich als eine Ergänzung zum oben zitierten Anfangspassus aus dem ersten Teil lesen lässt: „[E]rst die tiefe innere Bewegtheit, erst des Herzens unbeschreibliche Rührung, erst sie macht dich gewiß, daß das, was du erkannt, dein eigen ist, daß keine Gewalt vermag, es dir zu nehmen; denn allein die Wahrheit, die da erbaut, ist für dich Wahrheit.“573 Einmal mehr wird die Offenheit der Schrift deutlich, die Evaluierung der Meinungen von A und B obliegt dem Leser, denn nur eine ihn im Inneren berührende Wahrheit kann eine Wahrheit für ihn sein, ist sein Eigen, welches ihm keine Macht rauben kann, und somit haben eben die Papiere von A und B in dieser Hinsicht kein vorgegebenes Ende.574 Sie stellen kein ideales „Orientierungsmodell der Lebensführung [dar], sondern allenfalls ein Modell der nachträglichen Deutung individueller lebenspraktischer Entwicklungsprozesse und [sind] folglich, wie jedes Modell und jede Deutung, fehlbar und anfechtbar.“575 Entweder/ Oder aporetisch interpretiert wird somit zu einer Ausgestaltung, Realisierung und Konkretion indirekter Mitteilung.576 Zudem wird wiederholt die lebenspraktische Dimension der subjektiven Wahrheit betont, die im wahrsten Sinne des Wortes ,erbaut‘, insofern sie eine tatsächliche Wirkung und Transformation beim Rezipienten initiiert – eine genuin philosophische Aufgabe nach Kierkegaard, so Vergote: „[S]e laisser porter par une parole antécédente jusqu’au point où le locuteur qui reprend cette parole
|| 571 Siehe hierzu Hüsch 2014, S. 161; Schlette 2017, S. 39–55, insbesondere S. 43f.; Gräb-Schmidt 2017, S. 205; Pieper 1999, S. 159 sowie Pieper 2000, S. 32. Nach Pieper sind es weder A noch B, „die die ästhetische und die ethische Lebensform als ihre existentielle Präferenz beschreiben.“ (ibid.). Ergänzend wird noch angemerkt, dass dies auch auf die anderen Pseudonyme und ihre jeweils verkörperten Lebensweisen zutreffe. 572 Gräb-Schmidt 2017, S. 205. 573 SKS 3, 332 / EO2, 377 (meine Hervorh.). 574 Vgl. SKS 2, 21 / EO1, 15. 575 Schlette 2017, S. 43. 576 Vgl. auch Schwab 2012, S. 31.
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antécédente se sent par elle transformé.“577 In diesem Kontext lässt sich auch Kierkegaards Begeisterung für das sokratische Verfahren als ein Argument gegen die Interpretation der Stadien im Sinne einer vorgefertigten und abgeschlossenen Lehre anführen. Die sokratische Ironie wäre mit einer solchen Deutung völlig unvereinbar, zeichnet sie sich doch gerade durch Negativität und Nicht-Wissen aus.578 Kierkegaard attestiert dem Ironiker ein poetisches und dichterisches Leben, ihm gehe es gerade nicht darum, irgendein An-sich zu haben.579 Das sokratische Erkennen dient einer Vervielfachung der Perspektiven, und Kierkegaard spricht der sokratischen Ironie „den Status einer eigenständigen Methode antisystematischen Philosophierens zu, die durch das permanente Hin- und Herkippen der Perspektive echtes Erkennen erst mobilisiert.“580 Dieser Pluralisierung der Perspektiven kommt Kierkegaard mittels der diversen Pseudonyme und der durch sie dargestellten Lebensanschauungen nach. Es handelt sich eben nicht darum, ein vermeintlich ideales und für alle Menschen adäquates Lebenskonzept zu präsentieren – ein solches kann es nämlich nicht geben: „Glaubt ein Mensch nämlich, daß das Allgemein-Menschliche außerhalb seiner liege, daß es ihm von außen her entgegenkommen solle, so ist er im Irrtum…Allein in sich selbst kann ein Mensch über sich selbst Aufklärung erhalten“,581 wie wir bereits sahen. Kierkegaard geht es darum, diverse Lebensweisen als mögliche Gestaltungsformen menschlicher Existenz zu skizzieren und zur Darstellung zu bringen: „Il sait l’art d’imiter en soi toute Stimmung individuelle découverte chez autrui, et de présenter aux autres leur portrait. Plus exactement même, il a donné la parole aux multiples possibilités qui étaient en lui.“582 Eine solche Interpretation kann sich auf Kierkegaard selbst berufen. In der Nachschrift heißt es in einem Kapitel, in dem es um den subjektiven Denker und seinen Darstellungs- und Schriftstil geht: „In der Form der Möglichkeit wird die Darstellung eine Forderung…[D]ann ist es dem Leser so nahe wie möglich gelegt, ob er darin
|| 577 Vergote 1997, S. 187. 578 Vgl. hierzu Fujino 1994, S. 145. 579 Vgl. SKS 1, 317 / BI, 287. 580 Jacobs 2019, S. 226f. Vgl. auch Gantschow 2011, S. 139. 581 SKS 3, 247 / EO2, 276. Salamun 2012, S. 101 weist somit richtig darauf hin, dass Kierkegaard davor warnt, „sich durch Verabsolutierung der Rationalität der Illusion hinzugeben, man könne absolut sichere Lebenskonzepte rational planen. Es gibt kein fertiges und perfektes Lebenskonzept, das man als Lehre oder allgemeines Sinnverwirklichungsideal vertreten und an dem man die Lebensplanung ein für allemal orientieren kann.“ 582 Wahl 1967, S. 50. Es geht Kierkegaard darum, „to provide a conceptual map of landscape of different ways of live available“, so Miles 2013a, S. 5.
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existieren will.“583 Die Entscheidung, einen der dargestellten Existenzmodi anzunehmen oder abzulehnen, obliegt einzig und allein dem Leser selbst. Zugleich wird jedoch die Forderung an Letzteren gestellt, eine Wahl zu treffen. Kierkegaard hat einer Vielzahl seiner Werke Vorreden vorangestellt, welche dieser Funktion ebenso nachkommen. Dort fordert er den Leser auf, selbst über die im Anschluss verhandelten Themen zu reflektieren, Stellung zu beziehen und eine Wahl zu treffen. Nach van Tongeren bringen die Vorreden das Wahrheitsverständnis im Kierkegaardschen Sinne zum Ausdruck: „Die Wahrheit verwirklicht sich nicht im Text, sondern im Leser durch den Text.“584 Dem Adressaten kommt somit keine rein passiv-rezeptive Rolle zu, im Gegenteil, sein aktiver Part ist entscheidend und wird gefordert. Im Gegensatz zum bloßen Dozieren des objektiven Denkens zielt der subjektive Denker mittels der indirekten Mitteilung darauf ab, den Leser auf sich selbst aufmerksam zu machen und zu mehr Existenzinnerlichkeit zu animieren.585 So ist es auch nicht Kierkegaards eigene Absicht, zu lehren, sondern qua dichterischer Stilmittel (Aphorismen, Metaphern etc.) „indirekt auf die existentielle Möglichkeit aufmerksam zu machen, die jeder Einzelne mit der jeweils eigenen, einmaligen und objektiv unvergleichbaren Subjektivität in sich trägt.“586 Der Begriff der indirekten Mitteilung bezeichne „einen rhetorischen Schachzug“, so Flynn, „der die auktoriale Identität des Philosophen verbirgt, um den Lesern vermittels einer Suspendierung ihres Unglaubens die Identifikation mit den Charakteren des Werks zu ermöglichen...Dies ist die Macht der Kunst, eine philosophische Aufforderung als Lebensform zu übermitteln.“587 Die Pseudonyme haben somit regelrecht die Funktion, den Leser aus der vermeintlich rein passiv-aufnehmenden Rolle des Beobachters herauszuführen und ihn zu einem Urteil über den, durch den pseudonymen Verfasser (re)präsentierten, Existenzmodus aufzurufen.588 Der ästhetischen Form der Schriften kommt somit eine dezidiert appellative Funktion zu.589 Aber Existenzwirklichkeit läßt sich nicht mitteilen; und der subjektive Denker hat in seiner eigenen ethischen Existenz seine eigene Wirklichkeit. Wenn Wirklichkeit von einem Dritten verstanden werden soll, muß sie als Möglichkeit verstanden werden, und ein Mitteilender, der sich dessen bewußt ist, wird darauf achten, daß seine Existenzmitteilung, gerade um in
|| 583 SKS 7, 327 / AUN2, 63 (meine Hervorh.). 584 Van Tongeren 2012, S. 5. 585 Vgl. Theunissen und Greve 2016, S. 38f. 586 Salamun 2012, S. 90. 587 Flynn 2008, S. 34. 588 Vgl. Pieper 1971, S. 197. 589 Vgl. Nientied 2003, S. 28.
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Richtung der Existenz zu liegen, in der Form der Möglichkeit sein muß. Eine Darstellung in der Form der Möglichkeit legt es dem Empfänger so nahe, wie es zwischen Mensch und Mensch möglich ist, darin zu existieren.590
Hierhinter verbirgt sich, wie Schwab beobachtet, eine adressatenbezogene Pointe. Dadurch, dass die Mitteilung im Modus der Möglichkeit strukturiert ist, wird deutlich, dass die Existenzwirklichkeit in der Mitteilung noch nicht gegeben ist. Der Empfänger wird zum Handeln aufgerufen, „die Mitteilung ,legt ihm nahe‘, das als Mögliches Mitgeteilte in Wirklichkeit zu überführen – und dies gelingt allein dadurch, dass er es in seine eigene Existenzwirklichkeit verwandelt und sich aneignet.“591 Die Aktivität des Rezipienten wird gefordert – Kierkegaard macht seinerzeit schon auf die Reziprozität und Dialektik zwischen einem Zeichen und dessen Leser aufmerksam, wie es nach ihm die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts tut, so zum Beispiel in Person von Merleau-Ponty.592 Es lässt sich demnach bei der indirekten Mitteilung zwischen einem Aneignungs- und einem Darstellungsaspekt differenzieren. Da die Existenzwirklichkeit immer nur im Einzelnen gegeben sein kann, entzieht sie sich der direkten Mitteilung. Denn das Einzelne, die konkrete Existenz, geht, wie gesehen, nicht im Begriff auf. Mittels der indirekten Methode wird versucht, so paradox dies prima facie klingen mag, dasjenige ,mitzuteilen‘, was sich strenggenommen nicht mitteilen lässt: „[C]ommuniquer que le contenu à communiquer est incommunicable. L’incommunicabilité se déguise en mots pour se communiquer, pour dire que ce qu’il s’agit de dire est indicible.“593 Hierhinter verbirgt sich erneut die Tatsache, dass es sich bei der indirekten Mitteilung um den Versuch handelt, das Nicht-Sagbare zur Darstellung zu bringen, es zu umschreiben und auf es hinzusprechen. „Indirekte Mitteilung heißt“, so Jaspers, „daß bei stärkstem Klarheitsdrange und allem Suchen nach Formen und Formeln kein Ausdruck zureichend ist und der Mensch sich dessen bewusst wird“.594 Hierin manifestiert sich, dass beide Ele-
|| 590 SKS 7, 327 / AUN2, 62. Dem Problem der Mitteilung von Existenz ist sich schon Lichtenberg bewusst, der in seinen Sudelbüchern festhält: „Einen Menschen recht zu verstehen müßte man zuweilen der nämliche Mensch sein, den man verstehen will“ (Lichtenberg 1994, S. 114). Vgl. hierzu Schildknecht 1990, S. 162. 591 Schwab 2012, S. 141. 592 Vgl. hierzu Fredsted 2012, S. 47. 593 Hüsch 2011, S. 90. „Im Versuch, Existenz auf den Begriff zu bringen, geht es darum, menschliches Leben zu verstehen, das eben nicht in einem direkten Griff – aus dem Leben selbst – zu haben ist.“ (Grøn 2012, S. 105). 594 Jaspers 1954, S. 378.
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mente (Aneignungs- und Darstellungsaspekt) der indirekten Methode eng miteinander verzahnt sind. Die indirekte Mitteilung muss die jeweilige Existenzart als eine mögliche darstellen und darf nicht den Anspruch erheben, eine objektiv gültige Existenzweise zu präsentieren. Existenzmitteilung könne nur indirekt erfolgen, da Existenz etwas Individuelles sei, und sich nur Allgemeines direkt mitteilen ließe, so Jaspers weiter.595 Diesen Punkt greift er im Vorwort zu seiner Psychologie der Weltanschauungen auf und schildert sein eigenes Anliegen wie folgt: „Statt einer direkten Mitteilung dessen, worauf es im Leben ankomme, sollen nur Klärungen und Möglichkeiten als Mittel zur Selbstbesinnung gegeben werden“.596 Dies leitet zum Aneignungsaspekt über, der darin besteht, dass in der indirekten Mitteilung der Adressat dazu aufgerufen wird, das Mögliche in Wirklichkeit qua Aneignung zu überführen.597 Die indirekte Mitteilung stellt das Existenzielle, die Botschaft der Mitteilung, in die Möglichkeit und fordert so dazu auf, es in die Wirklichkeit zu transferieren: „Daß die Erkenntnis nicht direkt ausgesagt werden kann, weil das Wesentliche an ihr die Aneignung ist, bewirkt, daß sie für jeden ein Geheimnis bleibt, der nicht auf dieselbe Weise bei sich selbst doppeltreflektiert ist“.598 ,Doppeltreflektiert zu sein‘ bedeutet hierbei, dass der Empfänger zum einen die ideale Forderung begriffen hat (abstrakte bzw. sachlichtheoretische Ebene) und zum anderem die existenzielle Umsetzung dieser durch sich selbst vollzogen hat (konkrete bzw. subjektiv-praktische Ebene).599 „Und wenn etwas, ethisch verstanden, einen Menschen aufzustören und in Schwung zu bringen vermag, so ist es die Möglichkeit, wenn sie, ideal gesehen, sich selbst von einem Menschen fordert“,600 so Kierkegaard weiter. Aneignung meint daher mehr als eine bloße Textexegese seitens des Lesers, sie zielt ferner nicht auf die Beurteilung der Buchstaben, sondern auf eine Beurteilung der Wirklichkeit der eigenen Person.601 Aneignen ist sowohl ein „Sich-Verwirklichen des Subjekts im
|| 595 Vgl. ibid. 596 Ibid., S. VII. 597 Vgl. Schwab 2012, S. 141. 598 SKS 7, 79 / AUN1, 71 (meine Hervorh.). 599 Vgl. Anderson 2016b, S. 446 und Düsing 1993, S. 215. Vgl. auch SKS 27, 397, Papir 365:14 / T 2, 125. 600 SKS 7, 328 / AUN2, 64. 601 Vgl. Wesche 2013, S. 170f. „Beunruhigen und Aufscheuchen, in Stimmungen und existentielle Bewegung versetzen – das ist das selbsterklärte Ziel der Schriften Kierkegaards“, so BeckerLindenthal 2015, S. 257.
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Angeeigneten“ als auch ein „Wirksamwerdenlassen des Angeeigneten“602 im Subjekt selbst. Es handelt sich um die Reduplikation des Mitgeteilten in der Existenz: „Über die ‚Verdoppelung‘. Zu sein, was man lehrt. Das Existentielle.“603 Zusammenfassend lässt sich konstatieren: „Die indirekte Mitteilung greift aus auf die undarstellbare Singularität – und überantwortet sich zugleich der undelegierbaren Aneignung im je individuellen Vollzug der Existenz.“604 Dass sich in der Aneignung etwas Undelegierbares verbirgt, etwas, das sich dem Einfluss des Mitteilenden entzieht, ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Im Gesichtspunkt, in dem Kierkegaard über sein eigenes schriftstellerisches Schaffen reflektiert, weist er explizit darauf hin, dass es nicht in seiner Macht steht, einen anderen Menschen zu einer bestimmten Meinung oder Überzeugung zu zwingen. Hier kommt die Negativität der indirekten Mitteilung zum Ausdruck, denn wie Kierkegaard ebenso im Gesichtspunkt bekennt, steht der Mitteilende hinten, „in negativer Hinsicht helfend – denn ob es ihm gelingt, irgendwem zu helfen, ist ja ein ander Ding.“605 Er sieht seine Möglichkeit lediglich darin, einen Menschen dazu zu bringen, prinzipiell aufmerksam zu werden. „Daß dies eine Wohltat ist, darüber ist kein Zweifel; aber es darf nicht vergessen werden, daß es ein Wagestück ist. Indem ich ihn zwinge aufmerksam zu werden, komme ich dazu, ihn zum Urteil zu zwingen. Nun urteilt er. Aber wie er urteilt, steht nicht in meiner Macht. Vielleicht urteilt er gerade umgekehrt als ich es wünsche.“606 Der Empfänger der Mitteilung kann dazu bewegt werden, dass er urteilt, aber nicht wie er urteilt. Im Hinblick auf das Wie des Urteils bleibt die Mitteilung gewissenmaßen ‚ohne Gewähr‘ und damit offen. Vermittels der Tatsache, dass Kierkegaard im Gesichtspunkt seine eigene Rolle als religiöser Schriftsteller, so sein Selbstverständnis, reflektiert, kommt diesem Text eine gewisse Sonderstellung innerhalb des Kierkegaardschen Œuvres zu, insofern sich sagen ließe, dass er dort Aufschluss über seine eigenen Absichten jenseits aller pseudonymen Verfasserschaft gibt. Allerdings stellt Kierkegaard sich auch dort nicht als Lehrer dar, sondern beschreibt vielmehr seinen individuellen Bildungsweg und Entwicklungsprozess. Somit akzentuiert der Gesichtspunkt einmal mehr die hinter den Pseudonymen stehende Absicht, den Leser zu einer Wahrheit hinzuleiten, die letztlich nur durch ihn selbst realisierbar || 602 Ringleben 1983, S. 99f. In ibid., S. 97–195 findet sich eine umfangreiche Studie zum Begriff der Aneignung bei Kierkegaard. Ringleben hebt dabei u.a. insbesondere die Bedeutung der Aneignung für das Lebendig-Werden des Inhalts im subjektiven Akt hervor. Vgl. dazu ibid., S. 125. 603 SKS 27, 411, Papir 368:8 / T 2, 114. Vgl. dazu Wilde 1969, S. 157. 604 Schwab 2012, S. 30. 605 SKS 16, 38 / GWS, 51. 606 SKS 16, 32 / GWS, 44.
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ist. Mit Magnus Schlette können wir konstatieren: „Die Wahrheit ist, dass jeder diesen Weg, auf dem Kierkegaard sich als zu dem erzogen wusste, der er dann am Ende war, auf seine Weise selbst gehen muss“.607 Die indirekte Mitteilung bringt den Rezipienten in eine Situation, in der er wählen muss. Wie er wählt, obliegt jedoch ihm selbst, darin manifestiert sich seine Wahlfreiheit. Somit wird Kierkegaard einmal mehr zur Initialfigur des Existenzialismus.608 „Die literarische Figurenwelt legt Zeugnis ab von der Vielzahl humaner Existenzmöglichkeiten, ohne darüber jedoch das humane Dasein auf eine Lesart festzuschreiben. Kierkegaard praktiziert Literatur als Lebensform und unterläuft damit die bisherige Tradition des Philosophierens“,609 so Gantschow. Kierkegaards schriftstellerische Tätigkeit spiegelt auf der Formebene seine anthropologische Überzeugung der Absage an allgemeine Wesensdefinitionen des Menschseins wider. Ludwig Wittgenstein hebt diesen Aspekt bei Kierkegaard ebenfalls hervor und wird somit zum Interpreten der indirekten Mitteilung, wenn er festhält: „Zu Kierkegaard: Ich stelle Dir ein Leben dar & nun sieh, wie Du Dich dazu verhältst, ob es Dich reizt (drängt) auch so zu leben, oder welches andere Verhältnis Du dazu gewinnst. Ich möchte gleichsam durch diese Darstellung dein Leben auflockern.“610
Formen indirekter Mitteilung Im Folgenden sollen exemplarisch einige wenige Formen indirekter Mitteilung bei Kierkegaard herausgegriffen und vorgestellt werden. Die folgende Darstellung muss dabei naturgemäß selektiv bleiben:611
|| 607 Schlette 2019, S. 94. 608 Bezüglich der oben zitierten Passage aus der Gesichtspunkt hält auch Fredsted 2012, S. 36 fest: „Hier schreibt Kierkegaard wie ein früher Existenzialist.“ 609 Gantschow 2011, S. 137. In ähnlicher Weise scheint dafür Schlette 2019, S. 95 zu plädieren, wenn er resümiert: „[D]ie Spezifik individueller Gestaltschließung bestätigt immer wieder die bewährungslogische Zukunftsoffenheit der Struktur. Das scheint mir der existenzphilosophische Ertrag von Kierkegaards autobiographischen Schriften zu sein.“ 610 Wittgenstein 1997, S. 43. Parallelen zwischen Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung und Wittgensteins Philosophie – inbesondere mit Blick auf den Tractatus – habe ich an anderer Stelle versucht, herauszukristallisieren. Siehe dazu Victor forthcoming. 611 Hier kann keine ausführliche Darstellung diverser Gestaltungsformen indirekter Mitteilung bei Kierkegaard erfolgen. Philipp Schwab hat sich in seiner bereits erwähnten umfangreichen Monographie u.a. mit der Durchführung und den Gestalten der indirekten Mitteilung befasst. Siehe hierzu Schwab 2012, S. 509–569.
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Zur Konkretion und Veranschaulichung der indirekten Methode kann (1) das Experiment – hier verstanden im Sinne eines Denkens und Lebens auf den Versuch hin – als eine konkrete Gestaltungsform indirekter Mitteilung dienen. Das Experiment ist im Modus der Hypothese formuliert, es beansprucht nicht, seinen Gegenstand gänzlich und abschließend zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Zudem fordert das Experiment, indem es – da stets hypothetisch formuliert – offen lässt, ob sich das Dargestellte de facto so verhält, den Leser bzw. Empfänger der Mitteilung zur Aneignung regelrecht auf.612 So ermöglicht das Experiment als eine Form der indirekten Mitteilung, Existenzformen als hypothetische, d.h. im Modus der Möglichkeit, zur Darstellung zu bringen, und fordert den Adressaten qua Aneignung auf, diese Existenzformen einer Prüfung zu unterziehen: „Die unabgeschlossene Denkform des Indirekten ist ein Denken auf den Versuch hin, das stets die eigene perspektivische Gebundenheit und Vorläufigkeit in seine Formen einschreibt. Keineswegs ist Experimentalphilosophie Resignation des Denkens, sie ist vielmehr seine Affirmation als unabgeschlossenes.“613 Dieses ,Denken auf den Versuch hin‘ lässt sich anhand der Schrift Die Wiederholung exemplifizieren, die einen genuin experimentellen bzw. experimentalphilosophischen Gestus aufweist, der allein durch den Untertitel „Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius“ zum Ausdruck kommt. En passant sei darauf hingewiesen, dass bereits die Auswahl der Werktitel davon zeugt, wie detailaffin Kierkegaard sein Œuvre konzipiert hat. In jener Schrift wird der Frage nachgegangen, ob eine Wiederholung in der Wirklichkeit konkret vollzogen werden kann, und welche eventuelle Bedeutung ihr zukäme. Direkt zu Beginn zeigt sich, dass es um die konkrete Realisierung einer Wiederholung geht: Als ich mich längere Zeit, zum mindesten gelegentlich, mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung sie besitze, ob eine Sache dadurch, daß sie wiederholt wird, gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: ,Du kannst ja nach Berlin fahren, da bist du schon einmal gewesen, und kannst dich alsdann vergewissern, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat‘.614
Es geht dem Pseudonym Constantin Constantius nicht um den Begriff ,Wiederholung‘ oder die Wiederholung als solche, sondern gemäß des Aneignungsaspekts ist auch jener Text auf Aneignung seitens des Lesers hin ausgerichtet.615 Wir
|| 612 Vgl. ibid., S. 30f. 613 Ibid., S. 30. 614 SKS 4, 9 / W, 3. 615 In seinem Kapitel über die Durchführung der indirekten Methode geht Schwab 2012, S. 515 u.a. auf Die Wiederholung ein. Dort wird festgehalten: „Die Wiederholung lässt sich überhaupt
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haben es somit nicht mit einer abstrakten wissenschaftlichen Betrachtung oder Theorie der Wiederholung zu tun. Das stellt Constantius im „Sendbrief an Herrn Professor Heiberg“ klar: „Psychologisch und ästhetisch wollte ich schildern und veranschaulichen, im griechischen Sinne wollte ich den Begriff in der Individualität und der Situation entstehen“616 lassen. Im Experiment als Applizieren indirekter Mitteilung wird einmal mehr das Ziel der Kierkegaardschen Methode ersichtlich. Sie möchte gerade nicht einen Gedanken bloß explizieren, eine Position sichern oder untermauern, sondern den Empfänger zu selbstständiger Tätigkeit antreiben.617 Kierkegaard selbst hält unter dem Pseudonym Climacus im „Anhang“ zum ersten Teil der Nachschrift bzgl. der Schrift Die Wiederholung fest: Denn dadurch, daß die Mitteilung in der Form des Experiments geschieht, formt sie sich selbst einen Widerstand, und das Experiment befestigt eine bodenlose Tiefe zwischen dem Verfasser und dem Leser und setzt die Geschiedenheit der Innerlichkeit zwischen sie,…damit das Verhältnis nicht in das eines Plapperers verwandelt wird, der für Plapperer schreibt.618
Die Literarizität seiner Schriften bietet Kierkegaard die Möglichkeit, den textinternen Wirklichkeitsraum als Laboratorium zur Entfaltung verschiedener Existenzmöglichkeiten zu nutzen, wodurch der Experimentalcharakter seiner Philosophie heraussticht.619 Einmal mehr weist Kierkegaard mit der experimentellen Art seiner Philosophie auf Friedrich Nietzsche voraus, dessen Experimentalphilosophie,620 verstanden als ein Philosophieren, in dem die eigene Existenz den Stoff und Gegenstand bildet, zur philosophischen Methode wird. Wie im vorherigen Kapitel gezeigt, befindet sich der Existierende in einem ständigen Werden. Diese Prozesshaftigkeit, die eine Unabgeschlossenheit impli-
|| nicht als solche darstellen, sie muss übernommen und vollzogen werden…Mithin ist die Wiederholungsanalyse offenbar auf Aneignung ausgerichtet, auf das Tätigwerden des Lesers. Eben deshalb verzichtet sie auf ein einfaches Ergebnis; der Einzelne soll augenscheinlich bloß den Stachel der Anreizung erhalten.“ 616 SKS 15, 68 / TA, 124. Kierkegaard hat vier Entwürfe als Antwort auf die kritische Rezension von Die Wiederholung durch den Hegelianer Heiberg konzipiert. Er hat diese jedoch nicht zum Druck freigegeben. In deutscher Übersetzung finden sich Auszüge davon nicht in den Gesammelten Werken, sondern in dem gesondert erschienenen Band Die Tagebücher. Eine Auswahl von Hayo Gerdes. Siehe hierzu TA, 104–129. Vgl. dazu auch Greve 1990, S. 146f. 617 Vgl. Anderson 2016b, S. 446. 618 SKS 7, 239 / AUN1, 258. 619 Vgl. Hüsch 2014, S. 164f. 620 Siehe hierzu Kapitel 3.4 dieser Arbeit.
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ziert, muss sich in der Form bzw. Gestaltung der Texte widerspiegeln. Eine Tagebuchnotiz von 1847, in der Kierkegaard Vorformulierungen für eine letztlich nie gehaltene Vortragsreihe anfertigt,621 kann als exemplarisch für sein methodisches Vorgehen bzgl. der Form seiner Texte angesehen werden.622 Explizit favorisiert er eine literarische Form, in welcher „jeder Punkt womöglich das Gepräge dessen trägt, was an den anderen Punkten gesagt worden ist – alles, um womöglich unablässig die Gleichzeitigkeit des Gegenwärtigen zustande zu bringen. Nichts wird…als derart vollkommen fertig zu betrachten sein, daß darüber nicht mehr gesprochen oder nicht mehr daran erinnert werden sollte“.623 Ausdrücklich grenzt er sich von der „Gleichmäßigkeit eines strengen Kathedervortrags“ ab, der „einen bestimmten Platz findet, an dem jedes einzelne abgehandelt wird, über welches weder dann vorher noch später gesprochen wird.“624 Kierkegaard hingegen geht es darum, die Existenz, die in einer synoptischen Vor- und Rückschau jeden Moment neu zu gelingen hat, abzubilden bzw. ihrer gerecht zu werden. Zudem reicht es nicht aus, bloß „von einem Katheder herab“625 zu lehren, sondern unter dem Gesichtspunkt der Authentizität, der Konformität von Leben und Lehre, sollte der Lehrer gemäß sokratischem Vorbild das, was er lehrt, selbst sein und zwar „in der Situation der Wirklichkeit.“626 Das Gesetz, das man für die eigene Lebensführung je für sich erschlossen hat, soll verkörpert und so „die Expressivität und die Normativität des Handelns zur Einheit gebracht“627 werden. „Das schriftstellerische Werk muss…nicht nur das Zeugnis der Idee sein, sondern die Existenz des Schriftstellers muss mit der Idee korrespondieren“,628 notiert Kierkegaard unter den Eindrücken des für sein Selbstverständnis als Schriftsteller so wirkungsmächtigen Corsarenstreits. Der Charakter des Unabgeschlossenen lässt wiederum an Kierkegaards Affinität zu Sokrates und an die meist aporetische Form der sokratischen Dialoge zurückdenken. Somit kann (2) die Aporie als eine weitere Gestalt indirekter Mitteilung gelten,629 was schon in Bezug auf das Entweder-Oder der von Victor Eremita
|| 621 Das Vorlesungsmanuskript trägt den Titel „Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung“ (SKS 27, 390, Papir 365:1 / T 2, 111). 622 Vgl. dazu auch King 1986, S. 21. 623 SKS 27, 426, Papir 371:1 / T 2, 120. 624 SKS 27, 426, Papir 371:1 / T 2, 120. 625 SKS 27, 398, Papir 365:19.a / T 2, 126. 626 SKS 27, 398, Papir 365:19.a / T 2, 126. 627 Schlette 2017, S. 40. Siehe auch SKS 27, 411, Papir 368:8 / T 2, 114: „Über die ‚Verdoppelung‘. Zu sein, was man lehrt. Das Existentielle.“ 628 SKS 20, 22, NB:12 / DSKE 4, 20. 629 Vgl. Schwab 2012, S. 31.
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herausgegebenen Papiere von A und B anklang. Die Wahl obliegt dem Leser, es wird kein endgültiges Resultat präsentiert – genau wie Sokrates beim Versuch, definitorisches Wissen zu erlangen, kein Ergebnis vorgibt, sondern vielmehr aporetisch den Dialog enden lässt, um gleichsam den Leser zum Mitdenken anzutreiben.630 Wenn die Innerlichkeit die Wahrheit ist, so sind Resultate nur lärmender Plunder, womit man einander nicht plagen soll, und die Mitteilung von Resultaten ist ein unnatürlicher Verkehr zwischen Mensch und Mensch, insofern als jeder Mensch Geist ist und die Wahrheit gerade die Selbsttätigkeit der Aneignung ist, welche (Selbsttätigkeit) eben ein Resultat verhindert.631
Die Mitteilung von Resultaten, sprich eine direkte Form der Mitteilung, ist zwischen zwei Existierenden ohnehin unmöglich, da der einzelne Existierende seine Subjektivität und Innerlichkeit einem anderen nicht direkt mitteilen kann, ohne sie zugleich aufzuheben. Es kann kein unmittelbares Verhältnis zwischen Subjekt und Subjekt geben632 und damit „muss auch der ,normale‘ Gebrauch von Sprache, das heißt jede direkte Kommunikation, an dem Versuch einer Existenzmitteilung von Subjektivität zu Subjektivität prinzipiell scheitern.“633 Eine subjektive Wahrheit kann nicht in Sprache direkt mitgeteilt werden, da die Sprache als ein Medium die Unmittelbarkeit einer subjektiven Wahrheit gerade zerstört, indem sie versucht, sie in Begriffe zu fassen, sie zu fixieren und abstrakt werden zu lassen.634 Eine Hauptfunktion des sokratischen Gesprächs bestehe sogar darin, diese Grenzen von Sprache aufzuzeigen, d.h. auf die Unmöglichkeit aufmerksam zu machen, existenzielle Erfahrung direkt mitzuteilen, so Pierre Hadot.635 Für Kierkegaard ist es ebenso eine Funktion der Existenzmitteilung und damit der indirekten Mitteilung, diese Grenzen offenzulegen.636 Indirekte Mitteilung ist für
|| 630 Anderson 2016b, S. 440 hält bzgl. der Analogie zu Sokratesʼ Hebammenkunst fest: „Dies genau ist auch Kierkegaards Vorstellung vom Verhältnis zwischen Subjektivität und Mitteilung. Die Aufgabe, Subjektivität ‚hervorzubringen‘, nennt er ‚Erbauung‘, und die Form des öffentlichen Sprechens, welches er für diese Aufgabe benutzt, heißt ‚erbauliche Rede‘.“ 631 SKS 7, 220 / AUN1, 234 (meine Hervorh.). Vgl. hierzu auch: „[D]enn Innerlichkeit ist gerade…schweigende Übereinkunft, derzufolge der Lernende sich das Gelehrte durch sich selbst aneignet, sich vom Lehrer entfernend, weil er sich in sich selbst kehrt.“ (SKS 7, 220 / AUN1, 235). 632 Vgl. SKS 7, 293 / AUN2, 22f. 633 Hüsch 2014, S. 204. 634 Vgl. Hüsch 2011, S. 89. 635 Vgl. Hadot 2005, S. 155. 636 Zum Verhältnis von Existenzmitteilung und Sprache bei Kierkegaard siehe auch Deuser 2006, S. 199f.
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Kierkegaard der Versuch, subjektive Wahrheit zu umschreiben, sich ihr anzunähern, im wahrsten Sinne des Wortes auf sie hinzusprechen: „Kierkegaard essaie d’approcher, de circonscrire cette vérité subjective qui ne peut être fixée puisqu’elle est toujours et inévitablement liée à un seul individu et se soustrait ainsi à l’espace discursif du langage en tant que médium“,637 so Hüsch. Kierkegaard tritt, wie gesehen, auch nicht als Lehrer allgemeingültiger, objektiver Lehren dozierend auf. Entscheidend ist die Selbsttätigkeit der Aneignung seitens des Rezipienten, die den Schüler in persönlichen Kontakt mit dem Inhalt der Mitteilung treten lässt.638 Dies setzt Kierkegaard u.a. in seinen (3) Erbaulichen Reden um, die als eine weitere Gestalt indirekter Mitteilung gelten können. So stellt er in seiner Rede „An einem Grabe“ klar: „Der welcher hier gesprochen hat, er ist ja nicht dein Lehrer, mein Zuhörer, er läßt dich ja nur, ebenso wie er selbst es ist, Zeuge davon sein, auf welche Weise ein Mensch es versucht, etwas von dem Gedanken an den Tod zu lernen“.639 Indirekte Mitteilung ist zugleich Ausdruck einer gewissen Selbstlosigkeit des Lehrers – Letzterer erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit – und einer Freiheit des Schülers, d.h. der persönlichen eigenen Entscheidung, sich die Mitteilung in Innerlichkeit anzueignen oder nicht.640 Überhaupt erhebt die literarische Gattung der Rede für Kierkegaard keinen Anspruch auf Objektivität. Er verfasst bewusst keine Predigten, wie er betont, da er sich dazu nicht bevollmächtigt sieht.641 „Dabei ist für den Leser der Reden deutlich, daß er [Kierkegaard] sich durch diesen Vorbehalt nicht etwa selbst von dem Christentum und dem Christsein distanzierte, sondern nur sagen wollte, daß er kein Recht habe, es von anderen zu fordern.“642 Kierkegaard, selbst ein gläubiger Christ, spricht sich nicht das Recht zu, jenen Glauben von einem Anderen einzufordern. Er kann lediglich versuchen, seinen Glauben als eine
|| 637 Hüsch 2011, S. 90. 638 Wahl 1967, S. 284 konstatiert dazu sehr richtig: „[L]e maître invite celui qui l’écoute à entrer en un contact personnel avec ce qu’il dit. L’ambiguïté même des solutions qu’il présente constituera pour le disciple une épreuve.“ 639 SKS 5, 469 / DRG, 205. 640 Vgl. Paulsen 1955, S. 262. 641 Siehe SKS 5, 113 / 4R43, 3, dort heißt es: „Wiewohl dies kleine Buch (welches deshalb ‚Reden‘ genannt worden ist, nicht Predigten, weil ihr Verfasser keine Vollmacht zu p r e d i g e n hat“. In seinen Journalen heißt es dementsprechend: „Eine Predigt setzt einen Pfarrer (die Ordination) voraus; die christliche Rede kann [von] einem gewöhnl. Menschen sein.“ (SKS 20, 87, NB:120 / DSKE 4, 97). Eine Vollmacht zu predigen, die einer Befugnis der Kirche bedurfte, besaß Kierkegaard tatsächlich nicht. 642 Diem 1956b, S. 189.
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mögliche annehmbare Lebensweise darzustellen. Wie der Hörer der Rede sich anschließend zum Christsein positioniert, obliegt diesem selbst. Im Vorwort zu Vier erbauliche Reden von 1843 heißt es demnach explizit: „,[E]rbauliche‘ Reden, nicht Reden zur Erbauung, weil der Redende keineswegs beansprucht L e h r er zu sein“.643 Unter Rekurs auf Anderson644 macht Hagemann in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass somit Erbauung bei Kierkegaard nicht mit Persuasion, weder im Sinne von Überzeugung noch Überredung, gleichzusetzen ist. Vielmehr habe man es bei Kierkegaard regelrecht mit einer „antipersuasiven Rhetorik“ zu tun, womit er sich vom Aristotelischen und antiken Rhetorikideal distanziere und jenes einer Umkehrung unterziehe.645 Kierkegaard selbst bekennt: „Jemanden überzeugen, das kann also eine Rede, die keine Vollmacht hat, nicht wollen…Darum, mein Zuhörer, soll die Rede dich nicht überlisten“.646 Es gilt, die Souveränität des Hörers zu bewahren, zu respektieren und geradezu zu fördern – können doch die Erbaulichen Reden aus existenzphilosophischer Sicht als Versuch zur Förderung von Subjektivität betrachtet werden.647 Die Kategorie und der Begriff des Erbaulichen haben eine eigene Kontroverse innerhalb der Kierkegaard-Forschung evoziert.648 Insbesondere der für unsere Belange relevante antipersuasive Charakter wird mehrfach herausgearbeitet, so bei Vergote, der festhält: „[U]n homme peut beaucoup pour un autre, mais lui donner la foi, il ne le peut pas. De sorte qu’il me semble qu’il suffit que chacun réapprenne à parler dans le ton qui lui est propre, sans chercher à convertir qui que ce soit.“649 Die adressatenbezogene Pointe, die der indirekten Mitteilung eigentümlich ist – wie bereits u.a. unter Berufung auf die Ausführungen von Schwab gezeigt werden konnte –, kommt somit auch in der literarischen
|| 643 SKS 5, 113 / 4R43, 3. 644 So heißt es bei Anderson 1959, S. 143f.: „[P]ersuasion manipulates the motives of the listener and channels their expression; edification questions their legitimacy and demands their renunciation. Persuasion presupposes a homogeneity between the speaker’s proposal and the motives of the listener; edification presupposes a heterogeneity. Persuasion appeals to motives by offering reasons; edification offers no reasons but demands all for nothing…[E]difying discourse invites the listener to choose in an eminent sense, to will infinitely, not to accomplish something but in order to maintain fidelity in an absolute relationship to an absolute end.“ Lowrie 1955, S. 175 konstatiert, Kierkegaard habe ein „sonderbarer Skrupel“ daran gehindert, zu behaupten, „daß sie [die Reden] herausgegeben wären in Vollmacht ‚zur Erbauung‘“. 645 Vgl. Hagemann 2001, S. 79f. 646 SKS 5, 408 / DRG, 134. 647 Dies unternimmt Anderson 2016a, S. 449–453. 648 Vgl. hierzu Vergote 1997. 649 Ibid., S. 189.
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Form der Reden zum Vorschein. Auf den Punkt wird das bei Hermann Deuser gebracht, der konstatiert: „Was sie [die Rede] ist, das ist sie allein ,für‘ und ,durch‘ ihre Rezeption, Leser und Leserin sind ihr Ziel“.650 Ihre Aufgabe ist erst erfüllt, wenn eine Aneignung, Realisierung und Konkretion des Inhalts seitens des Rezipienten erfolgt ist. Ein bloßes Überzeugen würde den Aneignungsaspekt der indirekten Mitteilung geradezu verfehlen. Ein Glaube, den der Hörer oder Leser sich nicht selbst durch Innerlichkeit angeeignet hat, ist kein eigentlicher bzw. wahrhafter Glaube. „Es ist nicht meine Aufgabe, und es kann ,in der Christenheit‘ nicht wahrhaft die Aufgabe sein, mehr Titularchristen zu schaffen“,651 so Kierkegaard. Dies käme eben einem bloßen Überreden gleich. Zwar ist es durchaus gerechtfertigt zu betonen, dass Kierkegaard neben seiner pseudonymen Schriftstellerei die sogenannten Erbaulichen Reden unter eigenem Namen veröffentlicht hat, verfehlend erscheint mir jedoch die Einschätzung Piepers, Kierkegaard oszilliere somit zwischen Dichtung und Predigt, mithin zwischen indirekter und direkter Mitteilung. In den Reden trete Kierkegaard als Prediger auf, der sich seinem Gegenüber direkt mitteile, wenn auch ohne Anspruch auf höherrangige Kompetenz.652 Aufbauend auf den bisherigen Erläuterungen liegt es jedoch fern, Kierkegaards Erbauliche Reden als Predigten zu typisieren, nennt er sie selbst doch expressis verbis Reden, um sich von der Predigt zu distanzieren. Zudem treten diese Reden als eine weitere Gestalt indirekter Mitteilung hervor, da Kierkegaard auch hier, wo er sich nicht hinter der Maske eines Pseudonyms versteckt, seine Zuhörer gerade nicht überzeugen, belehren oder ihnen gar einen vorgefertigten idealen Lebensstil präsentieren möchte. Passend dazu findet sich eine Tagebuchnotiz aus dem entsprechenden Zeitraum um 1843, die sich nahezu wie ein Bekenntnis zur Nicht-Bevollmächtigung einer Wahrheitsmitteilung liest: „Meine Bestimmung scheint zu sein, die Wahrheit vortragen zu sollen, soweit ich sie entdecke, derart, dass dies gleichzeitig mit der Vernichtung jeder möglichen Vollmacht geschieht.“ Er bringe die Menschen so in einen Widerspruch, „aus dem ihnen nur herausgeholfen werden kann, indem sie sich selbst die Wahrheit aneignen.“653 Sich direkt mitzuteilen ist hier ebenso unmöglich, da, wie deutlich wurde, direkte Mitteilung immer dort an ihre natürlichen
|| 650 Deuser 2006, S. 210. 651 SKS 16, 105 / GWS, 120. 652 Vgl. Pieper 2000, S. 34. 653 SKS 18, 170, JJ:97 / DSKE 2, 175.
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Grenzen stößt, wo es um Fragen der Existenz geht.654 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Pseudonymität kein notwendiges Kriterium der indirekten Mitteilung ist. Ohne darauf an dieser Stelle weiter eingehen zu können, sei dennoch angemerkt, dass in Bezug auf Kierkegaards zweite schriftstellerische Schaffensphase – in der die pseudonyme Schriftstellerei in den Hintergund tritt – auch von einer zweiten Phase indirekter Mitteilung gesprochen wird, wobei nun der Ausdruck der Lehre in der Existenz des Lehrenden in den Mittelpunkt rücke.655 Insofern die indirekte Mitteilung als ein Beitrag zu der Debatte des Nicht-Sagbaren angesehen wird, sind auch die Erbaulichen Reden als Durchführung indirekter Mitteilung um die Vermittlung subjektiver Erkenntnis bemüht und stellen „den Versuch dar, über das zu reden, was eigentlich nicht verbalisiert werden kann.“656 Abschließend kann (4) der Widerspruch als eine weitere Gestaltungsform657 bzw. ein In-Erscheinung-Treten indirekter Mitteilung genannt werden: Ein Widerspruch, einem Menschen unmittelbar gegenübergestellt – und wenn man ihn dann dazu kriegt, darauf hinzusehen: das ist ein Spiegel; indem der Sehende urteilt, muß es offenbar werden, was in ihm wohnt. Es ist ein Rätsel; aber indem er es zu raten sucht, wird es offenbar, was in ihm wohnt, dadurch, worauf er rät. Der Widerspruch stellt ihn vor eine Wahl, und indem er wählt, und zugleich in dem, das er wählt, wird er selber offenbar.658
Der Empfänger der Mitteilung, des Widerspruchs, steht vor einem Rätsel, das er selbst zu lösen hat – ihm wird keine Lösung vorgegeben –, und indem er eine Lösung wählt, wählt er zugleich sich selbst. Dies stellt gleichermaßen den Ver-
|| 654 Dies scheint schon die frühe Rezeption Emanuel Hirschs zu betonen: „Das Erbauliche, das ohne Aneignung schwer verständlich und streng genommen sinnlos ist, sichert auch allem scheinbar noch so unmittelbaren Reden vom Christlichen diejenige Indirektheit der Mitteilung, die der Existenzmitteilung wesentlich ist.“ (Hirsch 1933, S. 834). 655 Zur indirekten Mitteilung der Reden vgl. Hagemann 2001, S. 68–72. Er betont dabei explizit, dass Pseudonymität kein notwendiges Kriterium indirekter Mitteilung ist. Siehe auch Poole 1993, S. 22–24. Poole betont ebenso, dass „pseudonymity was always a surface feature of the indirect communication“ (ibid., S. 24). Vgl. auch Schwab 2012, S. 32. 656 Anderson 2016a, S. 450. 657 Christus zum Beispiel als Zeichen des Widerspruchs sei wesentlich indirekte Mitteilung, siehe dazu Hagemann 2001, S. 75. „Die direkte Mitteilung: Ich und der Vater sind eins. Wird zu einer indirekten durch den, der es zu sagen wagt: ein einzelner Mensch“, so ibid., S. 49. Zum ‚Gott-Menschen‘ als Zeichen des Widerspruchs siehe SKS 12, 128–132 / EC, 125–129. 658 SKS 12, 131 / EC, 129 (meine Hervorh.). Das Wort ‚Einübung‘ im Titel der Schrift Einübung im Christentum ist ein weiteres Indiz für die Bedeutung der Aneignung und des Sich-Einverleibens einer Lehre. Zur Methode der indirekten Mitteilung in der Schrift Einübung im Christentum siehe Hagemann 2001, insbesondere S. 44–50.
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fasser, der sich der Methode der indirekten Mitteilung bedient, vor eine Herausforderung. Für Kierkegaard besteht die Kunst jener Methode gerade darin, „Verteidigung und Angriff derart zur Einheit zu bringen, daß keiner unmittelbar ersehen kann, ob man angreift oder verteidigt, sodaß der eifrigste Anhänger und der ärgste Feind der Sache, beide einen Verbündeten in einem vermuten können“.659 Der Mitteilende muss sich derart zurücknehmen, dass er quasi abwesend ist. Die philosophiegeschichtliche Relevanz der Kierkegaardschen Methode, die hier nur vereinfachend angerissen werden konnte, hat neulich Philipp Schwab umfassend exponiert. Die indirekte Mitteilung, so ist festzuhalten, meint nicht bloß eine rein äußerliche Form mäeutischer und existenzieller Kommunikation, sie ist vielmehr zugleich eine Theorie über die Grenzen von Sprache und Begriff. Darüber hinaus ist die perspektivisch gebrochene, experimentalphilosophische Methode ein Gegenentwurf zur geschlossenen Form des Systems. Hier zeigt sich Kierkegaards geschichtliche Zwischenstellung in der Umbruchskonstellation, die das Zeitalter des Idealismus beendet und der Lebens- und Existenzphilosophie den Weg geebnet hat. Kierkegaard stößt sich im Ganzen vom Systemdenken Fichtes, Hegels und Schellings ab und weist auf die Experimentalphilosophie Nietzsches voraus.660 Berücksichtigt man die performative Dimension der Kierkegaardschen Schriften und deutet diese als ein Sich-Absetzen von Hegel, so würdigt man sein Werk als eine Etappe des postromantischen Moderneprozesses.661 „Diese Aufgabenstellung, den humanen Existenzverhältnissen endlich wieder gerecht zu werden, zwingt zur Sprachtheorie und Sprachpraxis, macht Kierkegaard zum Schriftsteller – und damit zum Analytiker der Moderne.“662 Somit kann er auch als ein moderner Sokrates charakterisiert werden. Kierkegaards indirekte Mitteilung ist zugleich eine Theorie und Praxis der Grenzen des Sagbaren. Wenn Alexander Lohner, um Peter Wust als einen Existenzphilosophen zu charakterisieren, festhält: „Nicht was einer sagt, macht ihn zum Existenzphilosophen, sondern wie er es sagt. Nicht die Ergebnisse des Denkens sind hier ausschlaggebend, sondern vielmehr der Ansatz, mit welchem der Denker zu fragen beginnt“,663 zeigt sich, dass Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung – das Wie – zumindest zu einem grundlegenden Charakteristikum der Existenzphilosophie wurde, denn auch bei ihrem Begründer liegt die Wahrheit in einem Wie || 659 SKS 12, 137 / EC, 136. 660 Vgl. hierzu Schwab 2012, S. 38–51. 661 So wird die Kierkegaard-Deutung von Georg Lukács bei Jacobs 2019, S. 223 gewürdigt. 662 Deuser und Purkarthofer 2005, S. xi. Auch für Jacobs 2019, S. 244 wird Kierkegaard zum Wegbereiter moderner Philosophie und Poetologie, insofern er nicht mehr von einer autonomen Erhabenheitskonzeption Idealistischer Philosophie her schreibt. 663 Lohner 2014, S. 61.
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und nicht in einem Was664 und damit in der Subjektivität. Bei Kierkegaard lässt sich die Gegenüberstellung von Was und Wie analog zu den Abgrenzungen von Wissen und Können, d.h. von System und Existenz lesen.665 Kritisch hinterfragen ließe sich nun abschließend, ob und inwiefern nicht der Anti-Systematiker Kierkegaard gerade mit seiner Form der pseudonymen Schriftstellerei selbst zum ‚Systembauer‘ mutiert. Darauf weisen Theunissen und Greve hin, indem sie festhalten: „Im Blick auf die Unabgeschlossenheit des Daseins behauptet Climacus, ein System des Daseins könne es nicht geben; aber es zeigte sich, daß er selbst mit der Stadienlehre ein philosophisches System der Daseinsmöglichkeiten vollendet, dessen Entwicklung den Inhalt der ganzen pseudonymen Schriftstellerei ausmacht.“666 Selbst wenn Kierkegaard vermittels seiner Stadienlehre ein vollendetes System der Daseinsmöglichkeiten entworfen haben sollte – eine solche Interpretation wurde meinerseits bereits zurückgewiesen –, so scheint das meines Erachtens seiner Systemkritik nicht zu widersprechen, vergegenwärtigt man sich erneut, welchen Systembegriff Kierkegaard kritisiert. So bestreitet er, dass es dem Menschen möglich ist, ein System des Daseins zu erkennen. Wenn Kierkegaard nun verschiedene Existenztypen in seiner Stadienlehre unter drei wesentliche Formen (das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse) subsumiert, so scheint dies etwas grundlegend anderes zu sein, als „ein das gesamte Dasein und die ganze Weltgeschichte usw. umfassendes System“667 zu entwickeln. Für Kierkegaard impliziert System, wie gesehen, Abgeschlossenheit, Notwendigkeit, Einheit und Unfreiheit. Ziel seiner pseudonymen Schriftstellerei hingegen ist es explizit nicht, Einheit zu stiften, sondern die Subjektivität mithin die Pluralität und Vielfalt von Lebensentwürfen zu fördern. Kierkegaard sieht in seiner Verwendung von Pseudonymen gerade eine Möglichkeit, gegen die Systemphilosophie vorzugehen und ihr eine andere Art philosophischer Schriftstellerei entgegenzustellen.668 In der mit seinem eigenen Namen unterzeichneten „Eine erste und letzte Erklärung“ am Ende der Nachschrift hält er fest: „Meine Pseudonymität oder Polyonymität hat nicht einen z u f ä l l i g e n Grund gehabt in meiner P e r s o n …, sondern einen w e s e n t l i c h e n in dem G e s a m t w er k selbst,
|| 664 Vgl. Hohlenberg 2011, S. 177. „Gerade das Wie der Wahrheit ist die Wahrheit“, so Kierkegaard (zitiert in ibid.). 665 Vgl. Deuser 1985, S. 79. 666 Theunissen und Greve 2016, S. 37. 667 SKS 11, 158 / KT, 41. 668 Im Gesichtspunkt lesen wir dazu passend: „Mit der Kategorie ‚der Einzelne‘ nahmen die Pseudonyme zu ihrer Zeit, da alles hierzuland System und System war, das System aufs Korn“ (SKS 16, 98f. / GWS, 113).
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das um der Replik, um der psychologisch variierten Individualitätsverschiedenheit willen dichterisch die Rücksichtslosigkeit…forderte“.669 Die Pseudonyme gestatten ihm, hinter die skizzierten Existenzmodi im wahrsten Sinne des Wortes zurückzutreten, sich durch die Verwendung eines Pseudonyms zu verbergen, um nicht mit der geschilderten Lebensweise identifiziert und gleichgesetzt zu werden. Kierkegaard übernimmt für keine der durch seine Pseudonyme dargestellten Existenzweisen die Verantwortung, er lässt den Leser mit diesen auf sich allein gestellt zurück. Werner Stegmaier weist darauf hin, dass Kierkegaard sich hier der sokratischen Ironie bedient, insofern sich die dargestellten Existenzmodi dem eindeutigen Wissen entziehen, was gerade dadurch zum Kennzeichen der Ironie wird, da „man an keiner Stelle weiß, ob es sich nun um Ironie handelt oder nicht.“670 Interessanterweise erläutert Heidegger, sich dabei auf Kierkegaard beziehend, die Funktion eines Pseudonyms bestehe darin, den Verfasser zu verbergen und demnach bedeute ,Pseudonym‘ nicht falscher, sondern „verbergender Name.“671 Kierkegaard selbst sieht sein Verdienst darin, ,Iche‘ in die Mitte des Lebens gestellt zu haben, diese „sind nun freilich nur dichterische ,Iche‘, aber das ist doch immer etwas.“672 Man beachte hier die Verwendung des Plurals. Seine Texte sind ausdrücklich ambivalent und mehrdeutig, damit „sich die Subjektivität des Lesers einschreiben kann, die, anders gesagt, den Raum für eine subjektive Aneignung des Inhalts lässt.“673 Darüber hinaus muss die Stadienlehre – wie erläutert – nicht zwangsläufig als ein starres Konzept ausgelegt werden, in dem eine – im Falle Kierkegaards die religiöse – Existenzform als die höchste anzusehen ist. Wie gesehen, weisen gerade neuere Interpretationen in diese Richtung, so zum Beispiel bei Sebastian Hüsch, der anmerkt, dass insbesondere unter Berücksichtigung der Literarizität der Schriften Kierkegaards eine Deutung der Stadienlehre als teleologisches Konzept zurückzuweisen ist. Zudem werde verhindert, dass der Leser über die literarische Ausgestaltung als bloßes Akzidenz des Inhalts hinwegsieht, um aus den Texten „wie aus einem Lehrbuch jene vermeintliche ,Lehre Kierkegaards‘ heraus-
|| 669 SKS 7, 569 / AUN2, 339. 670 Stegmaier 2000b, S. 306. 671 Heidegger 1997a, S. 135. 672 SKS 27, 402, Papir 366:3 / T 2, 127 (meine Hervorh.). 673 Hüsch 2007, S. 135.
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zulesen, nach der der Mensch vom Ästhetischen über das Ethische zum Religiösen gelangen müsse“.674 Dies dürfte dem Kierkegaardschen Œuvre als Ganzem widerstreben,675 da Lebensanschauungen im Gestus seines Philosophieren nicht abstrakt gegeneinander ausgespielt werden können, denn dabei ginge die Aneignungsdimension verloren.676 Wie deutlich wurde, zeichnet Kierkegaard mit den Stadien verschiedene mögliche Existenzformen nach, wobei sich der Leser qua Aneignung selbst vergewissern muss, welche für ihn mitunter infrage käme. Zu guter Letzt kommen, wie gesehen, neben den drei genannten Stadien noch weitere mögliche Existenzmodi und Lebensweisen bei Kierkegaard zur Sprache. Die von vielen Interpreten angeführte triadische Struktur der Stadienlehre ist also keinesfalls allumfassend und stellt somit schon gar kein System von Existenzstadien dar – man denke exemplarisch nur an die Sphären Humor und Ironie. Die Überlegungen zu den Stadien erweisen sich bei näherer Betrachtung als viel komplexer und entziehen sich allein auf dieser Ebene schon einer systematischen Theorie.677 Fragen, inwiefern Kierkegaard seiner Systemkritik auf der Ebene der Form seiner Schriften gerecht wird, stellen sich wohl eher dort, wo Kierkegaard selbst beginnt, über seine Methode der indirekten Mitteilung zu reflektieren und sich damit auf die Ebene theoretischer und methodologischer Betrachtungen begibt und Gefahr läuft, indirekte Mitteilung direkt mitteilen zu wollen. Dies tut er, wie geschildert, vor allem im ersten Teil der Nachschrift. Ohne darauf näher eingehen zu wollen, da dies in eine tiefere und rein Kierkegaard-immanente Debatte führen würde, sei abschließend bemerkt, dass Lore Hühn genau auf diesen Aspekt hinweist: „Ungeschützte Anweisungen, wie ein Buch, auch und zumal das eigene zu lesen sei, zeugen bei einem methodisch…für die literarischen Darstellungsformen äußerst sensibilisierten Autor wie Kierkegaard“ eher davon, dass er „das Maß an Reflektiertheit unterbietet, das er sich selber anderenorts abverlangt“.678 Wir möchten an dieser Stelle die Analysen zur Philosophie Kierkegaards zunächst beschließen und uns nun den philosophiehistorischen Prämissen der Existenzphilosophie im Denken Friedrich Nietzsches widmen.
|| 674 Ibid. 675 Hühn 2009, S. 30 betont einmal mehr, dass sich die Texte Kierkegaards nicht als rein philosophische betrachten lassen, „ohne dass man zugleich die literarische Darstellungsform mit bedenkt, in der dieser Text vor seinen Leser tritt und sich an den Rezipienten…wendet.“ 676 Vgl. Schlette 2017, S. 45f. 677 Vgl. Fujino 1994, S. 145. 678 Hühn 2009, S. 29. Vgl. auch Hüsch 2014, S. 206.
3 Nietzsche: Leben und Lebensentwurf Wenn kein Ziel in der ganzen Geschichte der menschlichen Geschicke liegt, so müssen wir eins hineinstecken.1
3.1 Metaphysikkritik, Erkenntniskritik, Nihilismus Alles aber ist geworden; es giebt k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n : so wie es keine absoluten Wahrheiten giebt.2
Nietzsche zählt zweifellos zu den bedeutendsten Denkern des 19. Jahrhunderts. Sein radikaler Bruch mit unterschiedlichsten philosophischen Strömungen, insbesondere jedoch mit idealistischen und rationalistischen Tendenzen, erwies sich als wegweisend für spätere Traditionslinien. Nietzsche „gehört, allerdings in extrem deutscher Gestalt, einer allgemein abendländischen Bewegung an, die Namen wie Kierkegaard, Bergson und viele andere zu den ihren zählt und eine geistesgeschichtliche Revolte ist gegen den klassischen Vernunftglauben des 18. und 19. Jahrhunderts“,3 resümiert Thomas Mann. Dieses Aufbegehren gegen die Vorherrschaft der Vernunft wird nicht zuletzt durch das einschlägige und bahnbrechende Werk Karl Löwiths, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, mit Nietzsche assoziiert.4 Mit Löwiths Analyse erhielt die Redewendung eines Umbruchs in Denken des 19. Jahrhunderts Eingang in die Philosophiegeschichte und wurde zu einer geläufigen These. Wo Löwith nun seine Untersuchung abschließt, nämlich beim Denken Nietzsches als Resultat ebendieses Umbruches, möchte ich ansetzen und den Weg von Nietzsche zur Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts unter den genannten thematischen und systematischen Schwerpunkten der vorliegenden Untersuchung nachzeichnen und analysieren. Ziel ist es, zentrale Thesen seiner Philosophie als Voraussetzungen der sich konstituierenden Existenzphilosophie zu exponieren. Wird die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Nietzsches in der Forschungsliteratur thematisiert und diskutiert, so steht dabei meist sein Einfluss auf die Lebensphilosophie im Zentrum des Interesses. Diesen zu marginalisieren, ist keineswegs beabsichtigt, hier soll es jedoch vor allem um seine Bedeutung für die || 1 Nietzsche NF-1886, 6[9], KSA 12, S. 236. 2 Nietzsche MA I, 2, KSA 2, S. 25. 3 Mann 2005, S. 39f. 4 Vgl. Löwith 1995. https://doi.org/10.1515/9783110719024-003
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Entwicklung der Existenzphilosophie gehen, für die er mehr als ‚nur‘ eine Referenzfigur unter vielen war. Wie sich zeigen wird, war seine Wirkung auf den Existenzialismus kaum geringer als diejenige Kierkegaards. Eine Ausnahme in der Forschungsliteratur stellt u.a. die bereits aus dem Jahr 1950 stammende Untersuchung von Ludwig Giesz dar, die Nietzsche in Verbindung mit der Philosophie des Existenzialismus bringt, wobei er sich allerdings auf das Motiv des ,Willens zur Macht‘ beschränkt. Für Giesz ist Nietzsches Philosophie in zweifacher Hinsicht existenzialistisch: „[I]hr Gegenstand ist der als mögliche Existenz begriffene Mensch; die Philosophie Nietzsches ist aber als sein Philosophieren gleichzeitig Ausdruck seines eigenen Selbstverständnisses und als ,Existenzmitteilung‘ (Kierkegaard) möglicher Spiegel des als Existenz aufgerufenen Lesers.“5 Aus systematischer Perspektive fasst Giesz die Gemeinsamkeiten also unter die Domäne Anthropologie und Mitteilungs- bzw. Darstellungsformen von Philosophie. Ich möchte im Folgenden (d.h. in den Kapiteln 3.1 bis 3.4) Nietzsches Werk aus vier systematischen Blickwinkeln als einen Vorläufer der Existenzphilosophie darstellen: (1) Metaphysik- und Erkenntniskritik, (2) Anthropologie, (3) Ethik, (4) Methode und Darstellungsformen von Philosophie. Die zwei von Giesz thematisierten Bereiche werden dadurch um diejenigen der Metaphysik- und Erkenntniskritik sowie der Ethik erweitert. Im vorliegenden Kapitel geht es zunächst um den ersten Punkt, sprich darum, Nietzsches Metaphysik- und Erkenntniskritik sowie die sich daraus ergebende Erkenntnis des Nihilismus im Hinblick auf die Genese der Existenzphilosophie zu beleuchten. Einen Anspruch auf Vollständigkeit samt der Berücksichtigung der ganzen Bandbreite der dazugehörigen Nietzsche-Interpretationen kann ein solche Fokussierung dabei, ähnlich wie bei Kierkegaard, naturgemäß nicht anstreben. Nietzsche unter Rekurs auf seine Metaphysikkritik als Existenzphilosophen zu skizzieren, hat jüngst Vinod Acharya im Kontext seiner Untersuchung, die Nietzsches Philosophie unter dem Motiv eines latent vorhandenen ‚meta-existentialism‘ auszuleuchten sucht, unternommen. Sein Anliegen beschreibt er dabei wie folgt: „Against the current grain, I want to reclaim Nietzsche as an existential philosopher. However, my use of the term ,existentialism‘ is significantly different from that of the earlier interprets. In my inquiry, I seek to understand Nietzscheʼs existentialism from the point of view of his critique of metaphysics.“6 Wie Acharya so gehe auch ich in den folgenden Überlegungen davon aus, dass eine Klärung von Nietzsches Positionierung zur Metaphysik erforder-
|| 5 Giesz 1950, S. IXf. 6 Acharya 2014, S. 18.
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lich ist, um seinem existenzialistischen Ansatz beikommen und diesen herausdestillieren zu können. In den Kapiteln 3.2 bis 3.4 dieser Arbeit sollen jene Topoi anschließend mit Nietzsches Menschenbild, seinem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen sowie seinem Verständnis der Philosophie als einer Lebensform im Stile seiner Experimentalphilosophie verknüpft und er selbst als ein Wegbereiter der Existenzphilosophie skizziert werden.
Nietzsche – ein Leser Kierkegaards? Wie bereits in Kapitel 1.2 einleitend angerissen wurde, ist nicht abschließend geklärt, ob Nietzsche eine direkte Kenntnis der Schriften Kierkegaards hatte bzw. ob und gegebenenfalls inwieweit er letztlich von ihm in seinem Denken beeinflusst war. Sicher ist aber, dass Kierkegaard Nietzsche zumindest dem Namen nach bekannt war; davon zeugt u.a. ein Briefwechsel mit Georg Brandes, einem dänischen Schriftsteller und Philosophen, aus den Anfängen des Jahres 1888. Dort macht Brandes Nietzsche auf Kierkegaard aufmerksam.7 Brandes verfasste 1877 eine Biographie über den von ihm hochgeschätzten Kierkegaard, die 1879 auch in deutscher Sprache erschien und mit der gewissermaßen die KierkegaardRezeption im deutschsprachigen Raum8 überhaupt erst ihren Anfang nahm. Auf dieses Buch, Søren Kierkegaard. Eine kritische Darstellung, weist Brandes Nietzsche selbst hin und fügt erläuternd hinzu: „Es giebt ein [sic!] nordischer Schriftsteller, dessen Werke Sie interessieren würden, wenn Sie nur übersetzt wären, S ö r e n K i er k e g a a r d ; er lebte 1813–1855 und ist meiner Ansicht nach einer der tiefsten Psychologen, die es überhaupt giebt.“9 Des Weiteren hat Nietzsche Teile von Brandesʼ umfangreichem mehrbändigen Werk Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gelesen, in dem Kierkegaard relativ ausführlich besprochen wird.10 Dennoch besteht innerhalb der Forschungsliteratur ein weitestgehender Konsens darüber, dass Kierkegaard keine große Wirkung in Nietzsches Schriften hinterließ, da Nietzsche Kierkegaard selbst wahrscheinlich nie
|| 7 Siehe Nietzsche KGW III, 6-1888, 512, S. 143f. sowie Nietzsche KSB 6, S. 259. 8 Zum Beginn der deutschsprachigen Kierkegaard-Rezeption vgl. u.a. Jacobs 2019, S. 218–223. Zur deutschsprachigen Kierkegaard-Rezeption im Allgemeinen siehe Wiebe 2012 sowie Kaminski, Schreiber und Schulz 2016. Vgl. auch Thonhauser 2016. Dort findet sich zudem ein eigener Part zu Heideggers Kierkegaard-Rezeption. 9 Nietzsche KGW III, 6-1888, 512, S. 143f. 10 Vgl. Brobjer 2003, S. 253–255 sowie Miles 2007, S. 445f.
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aus erster Hand gelesen hat.11 Wie jedoch aus dem eben genannten Briefwechsel hervorgeht, nahm Nietzsche sich zumindest vor, sich mit dem „psychologischen Problem Kierkegaard“12 zu beschäftigen. Dies blieb ihm leider aufgrund seiner kurz darauf eintretenden Geisteskrankheit verwehrt. Es ist aber plausibel – obwohl Nietzsche ansonsten religiösen Denkern eher skeptisch wenn nicht sogar feindselig gegenüberstand –, dass „had Nietzsche read Kierkegaard, or had he had a closer knowledge of the thinking of Kierkegaard than he did, one cannot exclude the possibility that he would have held him in higher regard and treated him with more respect and interest due to Kierkegaardʼs profound psychological insights.“13 Zudem zeugen manche Formulierungen und Denkmotive, wie sich zeigen wird, von einer verblüffenden Ähnlichkeit und Verwandtschaft, sodass man sich davor in Acht nehmen sollte, ein voreiliges Urteil zu fällen. Des Weiteren sind noch die Autoren Harald Höffding und Hans Lassen Martensen zu nennen, vermittels deren Werke Nietzsche indirekt mit Kierkegaard in Berührung kam. Vor allem Martensens Buch Die christliche Ethik, das Nietzsche 1880 gelesen hat und das eine Vielzahl an Kierkegaard-Zitaten aufweist, ist hier zu erwähnen.14 Höffdings Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung zählt zum Bestand von Nietzsches Bibliothek, und zahlreiche Lesespuren (Notizen, Unterstreichungen etc.) deuten auf eine detaillierte Lektüre hin.15 Eine Passage, in der Höffding auf Kierkegaards Analyse des Phänomens der Wiederholung eingeht, hob Nietzsche besonders hervor.16 Hierauf werden wir im Abschnitt 3.3 noch näher eingehen. An dieser Stelle soll keine Detailanalyse einer möglichen Kierkegaard-Kenntnis seitens Nietzsches erfolgen.17 Es gilt vielmehr zu zeigen, dass es sich losgelöst
|| 11 „[I]t is generally assumed that Nietzsche, apart from the name, had no knowledge of Kierkegaardʼs thinking“, so Brobjer 2003, S. 251. Vgl. auch Brobjer 2008, S. 74f. In eine ähnliche Stoßrichtung gehen u.a. Kaufmann 1976, S. 31; Janz 1981, S. 266 sowie Kellenberger 1997, S. 116. 12 Nietzsche KSB 6, S. 259. 13 Brobjer 2003, S. 262. 14 Vgl. Acharya 2014, S. 35. Vgl. auch Brobjer 2008, S. 74 und Miles 2007, S. 447–449. 15 Vgl. Campioni et. al. 2003, S. 300f. 16 Vgl. Brobjer 2008, S. 75 und S. 152 sowie Brobjer 2003, S. 259f. 17 Eine solche ausführliche Studie bietet zum Beispiel Brobjer 2003. Dort wird eine Reihe von Büchern und Autoren aufgelistet, die Nietzsche zu seiner Zeit gelesen hat und in denen Kierkegaard thematisiert und/oder zitiert wird. Neben Brandes, Martensen und Höffding werden dort noch Lou Salomé und Henrik Ibsen genannt. Vgl. hierzu insbesondere ibid., S. 253–261. Des Weiteren siehe Miles 2007. Heidemarie Oehm weist noch auf den Briefwechsel Nietzsches mit August Strindberg hin, den wiederum eine enge Freundschaft mit Kierkegaard verband. Auf Strindberg wurde Nietzsche ebenfalls durch Brandes aufmerksam gemacht. Vgl. hierzu Oehm 1993, S. 13.
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von jener Debatte lohnt, beide Denker im Hinblick auf die Genese existenzphilosophischer Topoi miteinander verknüpfend und vergleichend zu untersuchen. Die zentrale These der vorliegenden Untersuchung, dass Kierkegaard und Nietzsche die beiden Initialfiguren der Existenzphilosophie sind, ist von deren genealogischem Zusammenhang vielmehr unabhängig, nicht zuletzt dadurch, dass morphologische Gemeinsamkeiten umso ersichtlicher sind.18 Insbesondere für Karl Jaspers ist es charakteristisch, dass er sein Kierkegaard-Verständnis eng mit Nietzsche in Verbindung setzt. Eine gewisse Vorsicht und Distanz sind jedoch geboten, insofern seine Interpretation Kierkegaards durch die Brille einer Nietzsche-Lektüre zu verstehen ist, die vor allem darauf aus ist, Parallelen zwischen beiden Denkern zu betonen, wobei durchaus bestehende Differenzen zu verblassen drohen. Gerade in der Vernetzung von Kierkegaard und Nietzsche sah Jaspers eine wegweisende Rolle für die Entwicklung der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Beim Gang in die neue Welt sehen wir Kierkegaard und Nietzsche wie Sturmvögel vor einer Wetterkatastrophe: sie zeigen die Unruhe, die Hast, – dann die Kraft und Klarheit eines augenblicklichen hohen Flugs, und wieder etwas Kreisen und Taumeln und Absturz. Sie selber wissen sich als Seezeichen; an ihnen ist Orientierung möglich – aber indem man sich in Distanz von ihnen hält. Ihnen zu folgen, wird von ihnen selber verwehrt. Sie wollen wirken, aber in der Weise, daß sie den Anderen zu sich selbst bringen, alles Entscheidende von ihm erwarten, es ihm nicht geben.19
Beide stoßen Gedanken an, die zwar zu ihrer Zeit noch unzeitgemäß schienen, aber gerade im Kontext des sogenannten postmetaphysischen Zeitalters des 20. Jahrhunderts immer mehr an Relevanz gewonnen haben und prägend wurden. Wie gesehen, wusste Kierkegaard um den unzeitgemäßen, dem Zeitgeist widerstrebenden, Charakter seines Denkens. Nietzsches Beklagen darüber, von seinen Zeitgenossen nicht verstanden worden zu sein, ist hinlänglich bekannt und verbindet sich bei ihm zeitweilen mit einem prophetischen bis hin zur Selbstüberschätzung tendierenden Duktus. Um Nietzsches Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen, sei hier nur exemplarisch aus einem Brief an seinen Verleger Fritzsch zitiert: „Meine Schriften stellen eine f o r t l a u f e n d e E n t w i c k lu n g dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebniß und Schicksal sein wird: — ich bin
|| 18 Thomas Miles, der die Beziehung ‚Kierkegaard-Nietzsche‘ sowohl auf eine mögliche Kierkegaard-Lektüre seitens Nietzsche als auch auf Parallelen und Unterschiede in Bezug auf ihre philosophischen Motive untersucht, scheint diese Annahme zu teilen. So hält er fest: „[I]t should be said that important philosophical connections between their ideas can be drawn regardless of this historical connection.“ (Miles 2007, S. 450). 19 Jaspers 1951, S. 130.
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nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben.“20 Insbesondere Also sprach Zarathustra verleiht Nietzsche immer wieder eine prophetische Dimension. Karl Jaspers sieht nun in der Unzeitgemäßheit auf der einen Seite und der posthumen Wirkung auf der anderen ein weiteres verbindendes Element zwischen Kierkegaard und Nietzsche, wobei er noch Karl Marx als Dritten in diese Reihe integriert. Nietzsche sei somit einer dieser Dreien, die im 19. Jahrhundert gelebt haben, aber deren Werk erst im 20. Jahrhundert seine ganze Geltung und Anerkennung erfahren habe.21 Mit Blick auf Kierkegaards und Nietzsches Rolle in und für die Moderne hebt Gantschow drei gemeinsame Topoi hervor, die zwar recht allgemein erscheinen, unsere Ausgangsüberlegungen aber durchaus stützen können: Kierkegaard und Nietzsche deuten (1) die Moderne als eine Zeit der Krise, betrachten (2) den Menschen als ein zukunftsgestaltendes sowie wesensoffenes Geschöpf und sehen sich (3) einem Philosophieverständnis als Lebensform und Lebenspraxis verpflichtet.22 Wie bei Kierkegaard gerät auch bei Nietzsche die Philosophie des Deutschen Idealismus immer wieder ins Visier der Kritik. Bei ihm zeichnet sich jedoch noch deutlicher eine Kritik an der Metaphysik überhaupt ab, die sogar in eine regelrechte Bloßstellung der gesamten abendländischen Philosophietradition seit Platon mündet. Sie bildet gleichsam den Kern seiner Erkenntniskritik. „Sie [die Philosophen] glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni, ― wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen.“23 Nietzsche kritisiert, ähnlich wie vor ihm Kierkegaard an Hegel, dass die Philosophen die Welt vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachten und demnach nichts Lebendiges behandeln können. Einen solchen rein objektiven Standpunkt einnehmen zu können, entlarvt er in wiederum verwandter Manier zu Kierkegaard als eine Illusion und Selbsttäuschung. Dabei weitet Nietzsche jedoch im Unterschied zu Kierkegaard seine Kritik auf den Großteil der gesamten Philosophiegeschichte aus, beschränkt sich nicht auf die Philosophie des Deutschen Idealismus und nimmt idealistisches Philosophieren als solches hinzu:
|| 20 Nietzsche KSB 7, S. 225. 21 Vgl. Jaspers 1980, S. 55. 22 Vgl. Gantschow 2011, S. 234. 23 Nietzsche GD, „Die ,Vernunft‘ in der Philosophie“ 1, KSA 6, S. 74.
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Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objectivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, dass es auf sein Subject gar keine Wirkung thut:…[E]in Aberglaube jedoch ist es, dass das Bild, welches die Dinge in einem solchermaassen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Thätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographiren?24
Bei Nietzsche erfährt die Kritik an der Erkennbarkeit objektiver, ewiger Wahrheiten noch einmal eine Zuspitzung, Verschärfung und Radikalisierung. Kevin Aho formuliert das wie folgt: This idea, that the ,highest truths‘ emerge out of the situated concerns of the individual, is further developed by Nietzsche, who radicalizes Kierkegaard by rejecting the notion of objective truth altogether and suggesting that all we have access to is our own finite and limited ,perspective‘, and there is no way to detach or to step outside of it.25
Die Existenz kann nicht sub specie aeternitatis begriffen werden, da sie gerade in der Zeit situiert ist und sich in ihr vollzieht. Bis hierhin steht Nietzsche noch auf einer Stufe mit Kierkegaard. Gemeinsam mit Letzterem geht Nietzsche damit d’accord, dass er keinen rein objektiven Standpunkt einnehmen kann, da er qua Existierender ein lebendiges Wesen und kein bloßer Betrachter der Dinge oder reiner Geist ist: „[I]ch [bin] glücklicher Weise ein lebendiges Wesen und nicht bloß eine Analysirmaschine und ein Objektivations-Apparat“,26 schreibt er an seinen Freund Franz Overbeck. Nietzsche verschärft jedoch insofern Kierkegaards Position, als dass er objektive Wahrheiten überhaupt infrage stellt.27 Somit geht er einen wesentlichen
|| 24 Nietzsche UB II, 6, KSA 1, S. 289f. Vgl. hierzu Janke 1992, S. 206, der diese Stelle in direkten Bezug zur Hegel-Kritik Kierkegaards setzt. 25 Aho 2014, S. 25. 26 Nietzsche KSB 7, S. 282. Passend dazu heißt es in Abschnitt drei der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft: „Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, ― wir müssen beständig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben.“ (Nietzsche FW, „Vorrede“ 3, KSA 3, S. 349). 27 In dieser Hinsicht kann darauf verwiesen werden, dass Nietzsche auch das Denken der Aufklärung des 18. Jahrhunderts radikalisiert, insofern er den Ideologieverdacht auf Haltungen und Institutionen ausweitet, und das ebenso in Bezug auf die Moral. Dass die Moral selbst vorgegeben sei, zogen die Denker der historischen Epoche der Aufklärung nicht in Zweifel. Bei Nietzsche
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und entscheidenden Schritt über Kierkegaard hinaus: „The most important innovation…is his tacit but consistent refusal to recognize anything like a ,pure objectivity‘ or ,metaphysics‘ or ,speculative thought‘ that stand in opposition to existential thinking.“28 Wie gesehen, weist Kierkegaard hingegen lediglich die Geltung objektiver Wahrheiten für den Bereich der Existenz zurück. Er verfolgt keine umfassende Metaphysik- und Erkenntniskritik, insofern er lediglich die Irrelevanz metaphysischer Fragestellungen für den Bereich des Existierens und der Subjektivität nachdrücklich betont.29 Im Unterschied zu Nietzsche stellt er jedoch nicht die Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität als solche infrage, sondern nimmt Letztere gewissermaßen noch als gegeben hin. Hier lässt sich erneut darauf hinweisen, dass Kierkegaard der Terminologie Hegels durchaus verhaftet bleibt, wenngleich die Termini bei ihm natürlich die bereits skizzierte Akzentverschiebung erfahren. Er erkennt die objektive Systemphilosophie Hegels zunächst an und stellt ihr anschließend, mitunter polemisierend, seine subjektive Existenzphilosophie entgegen,30 die erst in dieser Gegenüberstellung ihren Stellenwert und ihre Berechtigung erfährt. Entscheidend für die hiesigen Überlegungen zur Genese der Existenzphilosophie, in denen insbesondere die gemeinsame Wirkung Kierkegaards und Nietzsches hervorgehoben werden soll, ist, dass sich meines Erachtens die These bekräftigen lässt, dass Nietzsche durch seine Metaphysikkritik die Gedanken Kierkegaards, speziell die des Climacus aus der Nachschrift, erweitert und zuspitzt. Nietzsche nimmt die Kategorien des Objektiven und Subjektiven nicht mehr als gegeben hin, sondern hinterfragt diese selbst. Wie auch Acharya detailliert herausgearbeitet hat, geht Nietzsche gemäß seines erkenntnistheoretischen Perspektivismus nicht mehr von den festen Polen Objektivität und Subjektivität
|| wird indes auch diese Voraussetzung fraglich. Erkenntnis und Moral verlieren somit gleichermaßen ihre Garanten. Vgl. hierzu Salaquarda 1997, S. 174f. und S. 180. Ein aufklärerischer Anspruch im weiten Sinne des Wortes ‚Aufklärung‘ liegt Nietzsches gesamtem Denken ohnehin zugrunde. Man denke nur an das Bestreben, die alten Wahrheiten als Scheinwahrheiten zu entlarven. Gentili 2010, S. 130 exponiert insbesondere Menschliches, Allzumenschliches im Sinne seines Entlarvungscharakters als ein Aufklärungswerk. 28 Acharya 2014, S. 37. Nach Tom Angier vertritt Nietzsche die Position eines Perspektivismus, der sich in einer derart zugespitzten Form bei Kierkegaard nicht finden lässt. In seiner Studie nimmt er dies u.a. zum Anlass, um Nietzsche Kierkegaard entgegenzustellen und die Position des Letzteren als in sich konsistenter darzustellen. Siehe dazu Angier 2006, vor allem S. 75–102. 29 Hierzu stellt Acharya 2014, S. 37 richtig fest: „It is not enough to say that Climacus never wanted to confront metaphysics, but rather he just intended to call metaphysics itself into question as something irrelevant for an individual’s religious or ethical concerns.“ 30 Vgl. ibid., S. 46.
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aus.31 Diese Setzung kommt für Nietzsche vielmehr einer bloßen und damit willkürlichen Setzung, einer Interpretation, gleich, die lediglich eine unter vielen – mitunter unendlich vielen – möglichen Interpretationen ist. „,Es ist alles subjektiv‘ sagt ihr: aber schon das ist A u s l e g u n g , das ,Subjekt‘ ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes.“32 Andersherum fragt Nietzsche zugleich: „Umgekehrt: der anscheinende o b j e k t i v e Charakter der Dinge: könnte er nicht bloß auf eine G r a d d i f f e r e n z innerhalb des Subjektiven hinauslaufen?“33 Indem Nietzsche die Möglichkeit in Betracht zieht, das Objektive könne lediglich eine Gradvariation innerhalb des Subjektiven sein, zweifelt er sogar an der Differenzierung von Objektivität und Subjektivität als solcher, die Kierkegaard noch unhinterfragt und als gegeben hinzunehmen scheint. Um Nietzsches Metaphysik- und Erkenntniskritik ein Stück weit nachzugehen und ihr Konturen zu verleihen, widmen wir uns exemplarisch dem Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Dieser kurze Text des jungen Nietzsche – die Schrift stammt aus dem Jahre 1873, wurde jedoch erst posthum veröffentlicht, – verfolgt zusammenfassend gesagt das Ziel, den anthropomorphen Charakter jedweden Erkennens und Denkens aufzuzeigen und mithin die zentrale und eingreifende, konstituierende sowie mitgestaltende Funktion des menschlichen Intellekts innerhalb des Erkenntnisprozesses herauszuarbeiten: „Alle Gesetzmässigkeit, die uns…so imponirt, fällt im Grund mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir damit uns selber imponiren.“34 Nietzsche als jemand, der sich ansonsten in einer bestimmten Dimension kritisch mit dem Historismus und den geschichtsorientierten Disziplinen seiner Zeit auseinandersetzte,35 historisiert in jenem Text selbst den Begriff, d.h. er rekurriert auf die Bildung, auf das Entstehen und damit auf die Geschichte von Begriffen.
|| 31 Vgl. Acharya 2014, S. 42. Zu Nietzsches Ausweitung der Kritik auf die Kategorien des Objektiven und Subjektiven als solche im Unterschied zu Kierkegaard vgl. ibid., S. 35–42. 32 Nietzsche NF-1886, 7[60], KSA 12, S. 315. 33 Nietzsche NF-1887, 9[40], KSA 12, S. 353. 34 Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 886. 35 So zum Beispiel in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, wo Nietzsche die Vorund Nachteile der Geschichte beleuchtet. En gros kritisiert er die Historie der Historiker, die Geschichte nur um ihrer selbst willen als reine Theorie betrieben, und stellt dem die Genealogie als ein historisierendes Verfahren gegenüber, das nützlich sei, um Vorurteile aus dem Weg zu räumen. Als ‚nützlich‘ bezeichnet Nietzsche dasjenige, was dem Leben dienlich ist. Der Genealogie bedient er sich somit, um die oben genannten Vorurteile der Philosophen zu enttarnen. Nietzsches Blick auf die Geschichte ist grundlegend von dieser Ambivalenz geprägt.
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In dem zu Beginn des vorliegenden Kapitels zitierten Passus aus der Götzen-Dämmerung heißt es, indem die Philosophen eine Sache enthistorisieren, sie vom Standpunkt der Ewigkeit aus betrachten, entstünden sogenannte Begriffsmumien, die nichts mit der Wirklichkeit gemeinsam hätten. Durch den Versuch, die Entstehung von Begriffen zu erklären, historisiert Nietzsche diese, setzt sie somit in das Werden hinein und zeigt gleichsam auf, dass Singuläres im Begriff niemals aufgehen kann. An dieser Stelle liefert Nietzsche eine Begründung für die Tatsache, warum das Singuläre, mithin die Existenz als Inkommensurables im Allgemeinen, d.h. im Begriff, niemals aufgehen kann: Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.36
Mehrere Einzelerlebnisse, die für sich genommen jeweils individuelle sind und somit nie vollkommen miteinander identisch sein können, werden unter einen Begriff subsumiert, der fortan so Verwendung findet, als seien ebendiese Einzelerlebnisse gleichzusetzen bzw. als könnten diese gleichgesetzt werden. Daraus ergibt sich Nietzsches Conclusio, dass sich jeder Begriff durch ein Gleichsetzen des Nicht-Gleichen konstituiert. „Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubriciren immer zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.“37 Das begriffliche Denken rubriziert, wohingegen die ersten, anschaulichen Eindrücke, die Anschauungsmetaphern,38 wie Nietzsche sie nennt, immer individuell sind und sich somit nicht rubrizieren lassen bzw. nur in dem Sinne, dass sie aufhören, individuelle Eindrücke zu sein. Dies erinnert an Kierkegaard, für den sich die Existenz als das Einzelne nicht denken lässt, ohne dabei durch Abstraktion aufgehoben zu werden. Mehr noch: Nietzsche ergänzt dadurch gewissermaßen indirekt die Überlegungen Kierkegaards. Während Kierkegaard letztlich keine befriedigende und
|| 36 Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 879f. 37 Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 882 (meine Hervorh.). 38 Inwiefern es im Sinne Nietzsches nachvollziehbar ist, bereits in diesem frühen Stadium des Erkenntnisprozesses von ‚Anschauungsmetaphern‘ zu sprechen, wird am Beispiel der Entstehung von Sprache im Folgenden noch kurz skizziert werden. Siehe S. 174f. dieser Arbeit.
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tiefergehende Erklärung dafür gibt, warum das Singuläre im Allgemeinen niemals aufgehen kann, historisiert Nietzsche hingegen den Begriff, lässt ihn „aus der produktiven Reduktion der vielgestaltigen und unbeständigen Wirklichkeit hervorgehen…, welcher Umschaffungsakt allerdings hernach vergessen worden sei.“39 Bei seiner kritischen Analyse von Begriffen hebt Nietzsche deren Entstandensein hervor, transferiert sie somit von der Sphäre des Seins in die Sphäre des Werdens und zeigt gleichsam auf, dass Singuläres im Begriff niemals aufgehen und durch einen solchen nicht erfasst werden kann. Auch den Begriffen kommt somit eine Geschichte zu, und definierbar, d.h. verallgemeinerbar, ist nach Nietzsche nur das, was keine Geschichte hat.40 Der ‚Umschaffungsakt‘, durch den der Mensch die Diversität, Komplexität und Singularität der Realität in der Allgemeinheit der Begriffe aufhebt, ist hierbei entscheidend. Dieses Aufheben ist hier durchaus negativ behaftet, da es der Vielgestaltigkeit des Lebens eben nicht entspricht, ihr nicht gerecht wird und diese nicht widerspiegeln kann: „Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff, wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.“41 Jenes ,X‘ ist das Individuelle, das einzigartige Urerlebnis, das Einzelne und mithin für Nietzsche das einzig Reale.42 Kierkegaards These, dass die Existenz als etwas Einzelnes sich nicht denken lässt, klingt hier an. Die Existenz ist dem Denken unzugänglich, da sie sich nicht rubrizieren lässt, ohne gleichsam verallgemeinert, mithin ihrer Singularität beraubt und somit aufgehoben zu werden. Oder wie Ralf Becker es ausdrückt: Sieht man den Begriff als das Wesen der Sache an, so vertauscht man das Resultat der Abstraktion mit ihrem Substrat, nämlich den Einzeldingen, deren Unterschiede die abstrahierende Begriffsbildung gerade ignoriert. Aufgrund dieser Verwechslung des Begriffs mit dem Ding nennt Nietzsche Begriffe nach einem anderen rhetorischen Stilmittel Metonymien.43
Nietzsche verdeutlicht, wie vor ihm Kierkegaard, dass durch den Versuch, sich das Einzelne begrifflich zugänglich zu machen, dieses in die Sphäre des Denkens
|| 39 Schwab 2012, S. 46f. 40 Vgl. Nietzsche GM II, 13, KSA 5, S. 317. 41 Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 880 (meine Hervorh.). 42 So ist auch Mihailo Djurić davon überzeugt, dass für Nietzsche das Individuelle, das niemals mit etwas anderem gleich sein kann, also das Nichtidentische, nicht nur das ist, „was allein wert ist, erkannt zu werden, sondern auch dasjenige, was einzig wahrhaft wirklich ist.“ (Djurić 1985, S. 79). 43 Becker 2011, S. 199.
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transferiert und somit verallgemeinert und aufgehoben wird. Mit allem Bewusstmachen, mit aller Verallgemeinerung, geht jedoch eine „gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation“44 einher. Nietzsche zeigt auf, warum die begriffliche Sprache die Wirklichkeit nicht adäquat widerspiegeln kann, und opponiert somit gegen eine Isomorphie von Sprache und Welt: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“45 Nietzsche spricht von Anschauungsmetaphern, da Wahrnehmung für ihn vermittels Nervenreizen geschieht, die Sinneseindrücke bzw. Bilder evozieren. Wir sind somit von Anfang an mit Bildern und Metaphern und nicht mit den Gegenständen selbst konfrontiert – und das bereits ab diesem frühen Stadium des Erkenntnisprozesses. Dahinter können wir nicht zurück. Bereits auf dieser frühen Stufe des Erkennens entfernen wir uns von dem ursprünglichen Urerlebnis ‚X‘, an welches wir nie in seiner Singularität und Einzigartigkeit heranzukommen vermögen. Sprache ist wiederum immer nur das (Ab-)Bild desjenigen Bildes, das über Nervenreize durch Sinneseindrücke ausgelöst und produziert wurde.46 „Der Reiz wird in das Bild und das Bild in das Wort übertragen, übersetzt“,47 so Becker. Wir sind also in unserer Erkenntnis mit lauter Metaphern, Metaphern von Metaphern und so weiter konfrontiert. Es kann jedoch keine Metapher ohne eine qualitative Beraubung geben, denn „um übertragen zu können, muss man…die Grenzen der Individualität besiegt haben“,48 wobei ,Sieg‘ hier als ein Verlust im Sinne einer Aufhebung zu verstehen ist, da für Nietzsche das Einzelne das einzig Reale ist. Auf der Stufe des Begriffs, dort, wo wir am weitesten von dem eigentlich zu erfassenden ‚X‘ entfernt sind, postulieren nach Nietzsche die Philosophen die Wahrheit, das An-sich der Dinge, als den eigentlichen Wesenskern. Letztlich sind für Nietzsche Wahrheiten somit bekanntermaßen nichts anderes als Metaphern, von denen wir vergessen haben, dass sie solche sind.49 Solange der Mensch an die Begriffe als ewige Wahrheiten glaubte, meinte er, in der Sprache einen Zugang zur Erkenntnis der Welt gefunden zu haben. Für Nietzsche hingegen ist die
|| 44 Nietzsche FW, 354, KSA 3, S. 593. 45 Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 879. 46 Vgl. Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 882. 47 Becker 2011, S. 204. 48 Kofman 2014, S. 27. 49 Vgl. Nietzsche WL, 1, KSA 1, S. 880f.
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Sprache kein adäquates Mittel, um Erkenntnisse über die Wirklichkeit hervorzubringen. Sie ist für ihn kein probates Werkzeug und Mittel der Wissenschaft, da sie nun als vom Menschen gemacht enttarnt wurde.50 Die Sprache ermöglicht somit für Nietzsche keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit im Sinne des faktischen Seins. Durch unseren Trieb zur Wahrheit wurde der in uns immer schon vorhandene Trieb zur Metaphernbildung gewissermaßen ein zweites Mal verdrängt, indem ebenjene Metaphern als Wahrheiten betrachtet wurden: „Der immer schon ,vergessene‘ Trieb zur Metaphernbildung ist sekundär verdrängt durch eine vorsätzliche Preisgabe zugunsten des Begriffs, der Logik und der Wissenschaft.“51
Ⅹ→ Nervenreiz – Bild – Laut – Wort – Begriff Abb. 1: Der Erkenntnisprozess als Metaphernbildung52
En passant sei auf die Besonderheit des Metaphernbegriffs bei Nietzsche hingewiesen, der in seiner Metaphysik- und Erkenntniskritik über die klassische Bedeutung eines rhetorischen Stilmittels weit hinausgeht.53 Erwin Schlimgen bemerkt dazu: „Der philosophische Metaphernbegriff bei N[ietzsche] bezeichnet keine rhetorische Stilform, sondern einen ,Fundamentaltrieb‘…, [der] die Anthropomorphisierung der Welt, die Möglichkeit ihrer (sprachvermittelten) interpretatorischen Aneignung leistet.“54 Jenen Fundamentaltrieb des Menschen entlarvt Nietzsche, wie wir nun sehen werden, als Grund für das Vorhandensein metaphysischer Systeme und das Betreiben von Metaphysik überhaupt. Schließlich führt ihn diese Enttarnung zur Diagnose eines sich anbahnenden Nihilismus. Anzumerken ist noch, dass nach Nietzsche die grammatikalischen Strukturen von Sprache erheblich zum Glauben an die metaphysischen Wahrheiten beigetragen
|| 50 Vgl. Nietzsche MA I, 11, KSA 2, S. 30f. 51 Kofman 2014, S. 68. 52 „Unsre Sinne ahmen die Natur nach, indem sie immer mehr dieselbe abkonterfeien. Das Nachahmen setzt voraus ein Aufnehmen und dann ein fortgesetztes Übertragen des aufgenommenen Bildes in tausend Metaphern, alle wirkend.“ (Nietzsche NF-1872, 19[226], KSA 7, S. 490). 53 Zur Verwendung und Bedeutung von Metaphern in Nietzsches gesamtem Werk vgl. Georg 2018b sowie Kofman 2014. Zum Begriff der Metapher im Kontext seiner Erkenntniskritik im Besonderen vgl. ibid., S. 14–28. 54 Schlimgen 2000, S. 280.
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haben.55 Zu nennen ist exemplarisch die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache, die sich in der Metaphysik auf der Substanz-Akzidenz-Ebene widerspiegle. Erinnert sei an Nietzsches allseits bekannten Ausruf: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“.56 Nietzsches Kritik an der Systemphilosophie geht, ähnlich wie bei Kierkegaard, damit einher, nach einem Grund für das Zutage-Treten philosophischer Systementwürfe zu fragen. Verbleiben Kierkegaards Anmerkungen hierzu größtenteils rhapsodisch, vertieft auch hier Nietzsche die psychologisierende Argumentation bzw. bedient er sich verstärkt der Psychologie zur Erklärung und tritt hier als radikaler Kritiker der Metaphysik und eines objektiven Erkenntnisanspruches in Erscheinung: Es giebt schematische Köpfe, solche, welche einen Gedankencomplex dann für w a h r e r halten, wenn er sich in vorher entworfene Schemata oder Kategorien-Tafeln einzeichnen läßt. Der Selbst-Täuschungen auf diesem Gebiete giebt es unzählige: fast alle großen ‚Systemeʻ gehören hierhin. Das G r u n d v o r u r t h e i l ist aber: daß die Ordnung, Übersichtlichkeit, das Systematische dem w a h r e n S e i n der Dinge anhaften müsse, umgekehrt die Unordnung, das Chaotische, Unberechenbare nur in einer falschen oder unvollständig erkannten Welt zum Vorschein komme…Nun ist es aber ganz unbeweisbar, daß das An-sich der Dinge nach diesem Recepte eines Muster-Beamten sich verhält.57
Wenn Nietzsche hier von der Selbsttäuschung solcher ‚schematischen Köpfe‘ spricht, so scheint es, als würde er damit aufgreifen, was schon Kierkegaard in seiner Abstraktionskritik intendiert hatte. Die Selbsttäuschung besteht in der Überzeugung, man könne einen rein objektiven Standpunkt einnehmen, von dem aus sich die im Werden befindende Wirklichkeit unter etwas Bleibendes subsumieren ließe. Für einen Denker wie Nietzsche kommt dies einer Illusion gleich, die sich aus dem menschlichen Verlangen nach etwas Bleibendem, Festem und Unveränderbarem speist. Das Vorhandensein metaphysischer Systeme und die Auseinandersetzung mit Metaphysik insgesamt seit Beginn der Philosophiegeschichte werden bei Nietzsche psychologisierend erklärt – in ähnlicher Form ist uns das bei Kierkegaard begegnet.58 Die Höherstufung des Bleibenden und Geordneten sowie das Assoziieren des Wahren mit selbigen Attributen sind der
|| 55 Hierzu konstatiert Hüsch 2014, S. 30: „Nietzsche zufolge spielt mithin die Sprache eine ganz fundamentale Rolle bei der Schaffung jener Hinterwelten, die er zum Einsturz bringen will. Letztlich ist Sprache, wenn sie unreflektiert verwendet wird, die beste Verbündete der traditionellen platonisch-christlichen Ideenwelt.“ 56 Nietzsche GD, „Die ,Vernunft‘ in der Philosophie“ 5, KSA 6, S. 78. 57 Nietzsche NF-1885, 40[9], KSA 11, S. 632. 58 Siehe S. 58f. der vorliegenden Arbeit.
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Grund für das Vorhandensein metaphysischer Systeme und für deren Wertschätzung. Dafür, dass ebendiese Attribute höhergestuft werden als andere, gibt es jedoch nach Nietzsche keinerlei Legitimation oder triftigen Grund. Der Umstand resultiert für ihn vielmehr aus der bloßen physiologischen Beschaffenheit des Menschen, die gewisse psychische Bedürfnisse hervorbringt. Wir können uns kein Urteil über ein mögliches An-sich der Dinge anmaßen bzw. die Wahrheit oder Falschheit solcher Urteile bemessen. Es ist vielmehr der Glaube an ihre Wahrheit als psychisches Verlangen nötig, wie Nietzsche formuliert,59 der wiederum aus den physiologischen Anlagen des Menschen resultiert. Helmut Heit hält in diesem Zusammenhang fest, dass Nietzsche der Kantischen Erkenntnistheorie eine „psycho-physiologische Erkenntnistheorie“60 gegenüberstellt. Die Erkenntnisse der Metaphysik beruhen „auf dem Glauben an das Beharrende“,61 so Nietzsche. Dass wir die Dinge, denen Eigenschaften wie fest, bleibend und unveränderbar zukommen, einer höheren Seinsstufe zuordnen, liegt einzig und allein daran, dass wir als Menschen Dinge mit solchen Eigenschaften nötig haben, um uns in der Welt zu orientieren und heimisch zu fühlen. Den Glauben an diese Wahrheit haben wir nötig, um zu leben, wie Nietzsche in aller Deutlichkeit formuliert; wir haben demnach strenggenommen die (außermoralische) Lüge im Sinne der Selbsttäuschung nötig.62 Nietzsche wendet sich gegen die Apriori-Philosophie reiner Geistigkeit, indem er jene Philosophie als ein Ergebnis physiologischer Anlagen und daraus resultierender psychischer Bedürfnisse des Menschen ansieht: „Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt die allgemeine Starrheit zu beweisen, Dank seiner Abkunft aus B i l d er n .“63 Die Philosophen hätten so getan, als ob ihnen allein der Geist die Probleme der Erkenntnis und Metaphysik darbiete und diese lösen lasse, wogegen er, so Nietzsche, seine „P s y c h o l o g i e d e r P h i l o s o p h e n “ richte. Letztlich sei die Geistigkeit der Philosophen „nur der letzte blasseste Abdruck einer physiologischen Thatsache“.64 Nietzsches Kritik und Destruktion verfährt in allen drei wesentlichen Bereichen (Metaphysik, Moral und Religion) nach gleichem Muster, indem sie auf die Physiologie und Psychologie rekurriert. Hierin kann, wie gesehen, eine Weiterführung bzw. Zuspitzung der Gedanken Kierkegaards gesehen werden, gleichwohl aber auch
|| 59 Vgl. Nietzsche JGB, 11, KSA 5, S. 26. 60 Heit 2014, S. 40. 61 Nietzsche NF-1881, 11[156], KSA 9, S. 501 (meine Hervorh.). 62 Vgl. Nietzsche NF-1887, 11[415], KSA 13, S. 193. 63 Nietzsche NF-1881, 11[153], KSA 9, S. 500. 64 Nietzsche NF-1888, 14[107], KSA 13, S. 285. Vgl. hierzu Neymeyr 2012, S. 89.
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eine, welche die Differenzen zwischen beiden hervorhebt, wie Raphael Rauh in Bezug auf die Moralkritik anmerkt. Dabei verweist er auf eine Journalnotiz Kierkegaards, in der dieser seine Bedenken äußert, dass die Physiologie die Ethik nivellieren könnte.65 Metaphysische Erkenntnisse werden bei Nietzsche psychologisierend als Scheinwahrheiten und letztlich als bloße Konstrukte des menschlichen Geistes gedeutet und entlarvt. Jede Erkenntnis ist anthropomorph, wir können nicht hinter unseren menschlichen Standpunkt zurück. Sub specie aeternitatis auf die Welt zu blicken, bleibt uns verwehrt. Dies gilt nicht nur für das Erschließen und Erfassen der menschlichen Existenz, sondern für alle Bereiche der Erkenntnis und ist insofern wiederum eine Zuspitzung des Kierkegaardschen Standpunktes. Was unter ,Wahrheit‘ zu verstehen ist, erfährt nun einen fundamentalen Umbruch: „Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht“.66 Diese Formulierung legt nahe, dass hier Hegels Wahrheitsverständnis Nietzsche als Kontrastfolie dient, worin wiederum eine Parallele zu Kierkegaard besteht. Spricht Hegel doch in seiner „Einleitung“ zur Wissenschaft der Logik von der Wahrheit, „wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist.“ Diese Wahrheit sei, so Hegel weiter, die Darstellung Gottes, „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“67 Hegel hält somit an einem Standpunkt sub specie aeternitatis fest. Er geht sogar noch darüber hinaus, insofern er beansprucht, Gott selbst zu durchdringen.68 Nietzsche vertritt dagegen nun einen erkenntnistheoretischen Perspektivismus und wird nicht müde zu betonen, dass wir immer als Menschen auf die Welt schauen und weder hinter diese Perspektive zurück noch von ihr absehen können: „Wir
|| 65 Vgl. hierzu weiter Rauh 2016, S. 90f. Bei Kierkegaard heißt es: „Die Physiologie wird zuletzt so um sich greifen, dass sie die Ethik einstreicht. Es gibt ja bereits Spuren genug von einem neuen Streben: die Ethik als Physik zu behandeln, womit dann das ganze Ethische Illusion wird, und das Ethische im [Menschen-]Geschlecht statistisch auf Durchschnittszahlen hin zu behandeln, od. zu berechnen, gleichwie man Oszillationen in Naturgesetzen berechnet.“ (SKS 20, 59f., NB:70 / DSKE 4, 65). 66 Nietzsche FW, „Vorrede“ 4, KSA 3, S. 352. 67 Hegel 1986b, S. 44. 68 Für Kaufmann 2016, S. 90 ist es ebenfalls naheliegend, dass Nietzsche hier Hegel vor Augen hatte: „Hegel stellt sich damit allerdings nicht nur auf eine Stufe mit Gott, er klettert vielmehr noch höher: Er beansprucht nämlich keineswegs bloß, wie Gott die ‚nackte Wahrheit‘ vor sich selbst zu haben und sie ganz zu ,durchdringen‘, sondern darüber hinaus sogar den nackten, völlig transparenten Gott selbst“.
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sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden“.69 Jenem Moment der Bewusstwerdung, in dem zutage tritt wird, dass die bisher für wahr gehaltenen Werte und Ideale nur aufgrund der physio-psychologischen Anlagen des Menschen als wahr angesehen wurden, kommt nun bei Nietzsche eine Schlüsselrolle zu: Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt [wahre Welt] gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den U n g l a u b e n a n e i n e m e t a p h y s i s c h e W e l t i n s i c h s c h l i e ß t , – welche sich den Glauben an eine w a h r e Welt verbietet.70
In dem Moment, in dem die wahre Welt zur Fabel wird,71 erkennt der Mensch, dass jene scheinbar ,wahre‘ Welt der Metaphysik nur aus seinem wesensmäßigen Verlangen nach etwas Bleibendem entstanden ist und somit auf einer Selbsttäuschung basiert. Dem Menschen wohnt immer schon ein metaphysisches Bedürfnis bzw. ein Verlangen nach einer wohlgeordneten, d.h. einer gemäß seinen Maßstäben eingerichteten, Welt inne. Dem Schopenhauer-Leser Nietzsche dürfte die These eines metaphysischen Bedürfnisses des Menschen und die Bezeichnung des Menschen als ein animal metaphysicum aus Die Welt als Wille und Vorstellung bekannt gewesen sein.72 „Die Wahrheiten der ,wahren Welt‘ entfallen mit dieser; sie stammen, psychologisch nachgerechnet, aus dem Verlangen nach einer Welt des Bleibenden und Festgestellten und entspringen der Flucht vor der Ungewißheit eines ewigen Werdens.“73 Genau vor dieser Ungewissheit des Werdens, vor diesem Abenteuer der Existenz und des Lebens, will Nietzsche nicht die Flucht ergreifen. „Für Nietzsche ist dieser – in metaphysischen Kategorien denkende – Mensch ein existenzieller Flüchtling“, so Gantschow, „der sich mit dem || 69 Nietzsche MA I, 9, KSA 2, S. 29. Die Unhintergehbarkeit der menschlichen Perspektive und Optik wird u.a. auch im Nachlass Nietzsches deutlich. Siehe Nietzsche NF-1880, 6[433], KSA 9, S. 309. Zur Position des Perspektivismus und zum Anthropomorphismus bei Nietzsche vgl. Becker 2011. 70 Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 48 (meine Hervorh.). Im Nachlass spricht Nietzsche auch von der „F i k t i o n e i n e r W e l t , welche unseren Wünschen entspricht, psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser w a h r e n W e l t zu verknüpfen.“ (Nietzsche NF-1887, 9[60], KSA 12, S. 366). 71 Nietzsche geht darauf näher in dem Aphorismus mit dem programmatischen Titel „Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde“ aus der Götzen-Dämmerung ein. Vgl. Nietzsche GD, KSA 6, S. 80f. 72 Zum Bedürfnis nach einer Metaphysik beim Menschen siehe Schopenhauer 1977, S. 186–219. Das Kapitel trägt den sprechenden Titel „Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen“. 73 Janke 1992, S. 196.
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Werden des Lebens und der Unbeständigkeit der Welt nicht abfinden kann und will.“74 Genauer gesagt ist er ein Flüchtling vor der Existenz. Systemdenker sind für Nietzsche genau solche Flüchtlinge, die sich nicht eingestehen möchten, dass auch sie leben.75 Für diesen Menschentypus wird Metaphysik zu einem ,Schutzort‘, welcher den Erfahrungen wie Abgründigkeit und Bodenlosigkeit scheinbares Asyl gewährt.76 Dieses Refugium des Metaphysikers bleibt aber im Nietzscheschen Sinne stets brüchig, da sein Schutz nur ein illusionärer ist. Aus diesen Illusionen möchte er die Menschen beharrlich herausführen – darin besteht für ihn eine wesentliche Aufgabe seiner Philosophentätigkeit.77 Nietzsche, so ließe sich formulieren, unterliegt nicht dem Verlangen nach etwas Bleibendem, er entwirft kein einheitliches Weltbild, kein metaphysisches System, in dem der Mensch seinen vermeintlich festen Platz besitzt. Er stellt der abstrakten Wissenschaft der „gleichgesetzten Fälle und Subjekte eine ,individuelle Wissenschaft‘“78 entgegen. Dabei gesteht Nietzsche sich auch selbst ein, dass er nicht von Beginn seines Werkes an jenem Verlangen Widerstand leisten konnte – auch er musste eine geistige Entwicklung durchlaufen.79 So notiert er in der einige Jahre später verfassten Vorrede zu seinem ersten Werk Die Geburt der Tragödie mit dem sprechenden Titel „Versuch einer Selbstkritik“, dass er in dem besagten Werk selbst einer „metaphysische[n] Trösterei“ im Sinne eines „Narkotikum[s]“80 erlegen gewesen sei. Ebenso berichtet die Figur Zarathustra, sie sei einst aus Müdigkeit, „die mit Einem Sprunge zum Letzten will“,81 ein Hinterweltler, d.h. ein Metaphysiker, gewesen. Einmal zur Freiheit der Vernunft gelangt, sprich wenn sich die alten Wahrheiten als Scheinwahrheiten herausgestellt haben, stellt sich die Situation jedoch
|| 74 Gantschow 2011, S. 160. 75 Siehe Nietzsche NF-1887, 9[181], KSA 12, S. 445: „[E]in S y s t e m a t i k e r , ein Philosoph, der seinem Geiste nicht länger mehr zugestehen will, daß er l e b t , daß er wie ein Baum mächtig in Breite und unersättlich um sich greift, der schlechterdings keine Ruhe kennt, bis er aus ihm etwas Lebloses, etwas Hölzernes, eine viereckige Dürrheit, ein ,System‘ herausgeschnitzt hat —“. 76 Vgl. Gantschow 2011, S. 160. 77 So heißt es in Nietzsche NF-1881, 13[12], KSA 9, S. 620: „Meine Philosophie — den Menschen aus dem S c h e i n herauszuziehen auf j e d e Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens!“ 78 Maurer 1984, S. 24. 79 Diesem Motiv werden wir in Bezug auf Nietzsches Vorreden von 1886 und seiner Experimentalphilosophie in Kapitel 3.4 dieser Arbeit weiter nachgehen. 80 Nietzsche GT, „Versuch einer Selbstkritik“ 7, KSA 1, S. 21f. 81 Nietzsche Za I, „Von den Hinterweltlern“, KSA 4, S. 36. „Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern.“ (Nietzsche Za I, „Von den Hinterweltlern“, KSA 4, S. 35). Zu diesem Selbstbekenntnis vgl. auch Kast 2019, S. 136.
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ganz anders dar. So wird in polemischer Replik auf den Deutschen Idealismus, dessen Vertretern Nietzsche eine solche Flucht vor der Existenz zum Vorwurf macht, in einem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel „Der Freigeist“ aus den Fragmenten des Herbsts 1884 deutlich: Daß Gott erbarmʼ! D e r meint, ich sehnte mich zurück In’s deutsche Warm In’s dumpfe deutsche Stuben-Glück!82
Für den freien Geist, d.h. denjenigen, welcher sich einmal den illusionären Charakter der alten Wahrheiten vergegenwärtigt hat, gibt es im Sinne Nietzsches kein Zurück mehr in die alten metaphysischen Systeme, in jene Orte, die scheinbare Zuflucht vor den Herausforderungen der Existenz gewähren. Der freie Geist empfindet die große Loslösung von den Ketten der alten Werte als eine Befreiung.83 In dieses ,deutsche Warm‘ und ,deutsche Stuben-Glück‘ – augenscheinlich Anspielungen an die Systeme der Deutschen Idealisten – sehnt er sich nicht zurück. So stark das Verlangen nach solchen Rückzugsorten auch gewesen sein mag, diesem muss nun widerstanden werden, da es schlussendlich nur in ein Scheitern münden kann und zudem nun einer bewussten Selbsttäuschung gleichkäme. Die Wirklichkeit vom Menschen her zu denken und sich über jedes Ausweichmanöver vor den Herausforderungen des Lebens und der Existenz Rechenschaft abzulegen, kommt für Gantschow einer Nietzscheanischen Lesart der Existenzphilosophie gleich.84 Dass es dabei auf Aufrichtigkeit und Redlichkeit ankommt, bringt Nietzsche selbst am prägnantesten auf den Punkt: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“85 Wie bei Kierkegaard so ist auch bei Nietzsche zu betonen, dass mit seiner Kritik an der Systemphilosophie keinesfalls ein willkürlicher Irrationalismus oder ein Preisgeben jeglicher Logik und jeglichem verstandesorientierten Denken einhergeht. Ganz im Gegenteil kommt es für ihn einer intellektuellen Unredlichkeit
|| 82 Nietzsche NF-1884, 28[64], KSA 11, S. 330. 83 Passend dazu heißt es in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches: „Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus ‚freier Geist‘ einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer g r o s s e n L o s l ö s u n g gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien.“ (Nietzsche MA I, „Vorrede“ 3, KSA 2, S. 16). 84 Vgl. Gantschow 2011, S. 183. 85 Nietzsche GD, „Sprüche und Pfeile“ 26, KSA 6, S. 63.
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gleich, an Vorstellungen festzuhalten, die bar der Gewissheit individueller Einsichten sind.86 Das ist ein Motiv, das zum Beispiel der französische Existenzialist Albert Camus später aufgreifen wird, wenn er die emphatische Forderung an den absurden Menschen stellt, „nur mit dem zu leben, was er weiß, sich nur mit dem einzurichten, was ist, und nichts einzuschalten, was nicht gewiss ist.“87 In Jenseits von Gut und Böse äußert sich Nietzsche zuversichtlich, dass nun bald die Zeit einer Philosophie der Zukunft gekommen sei, welche die alten Dogmen, die philosophischen Systembauten, hinter sich lasse und erkannt habe, dass diese nur auf einem Aberglauben oder „eine[r] Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine[r] verwegene[n] Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen“88 beruhen. Der Nietzsche-Biograph Curt Paul Janz hebt die mutige und wegweisende philosophische Leistung Nietzsches unter Rekurs auf Kierkegaard wie folgt hervor: „Ähnlich wie…Kierkegaard…zerrt er den Menschen, menschliche Existenz ins Zentrum der Philosophie, was bisher die eigentliche Domäne der Kunst, ganz besonders der dramatischen Kunst war.“89 Nietzsche geht es nicht darum, Wissenschaftskathedralen aufzubauen oder zu erneuern, wie es Anspruch scholastischer Philosophie war, sondern er widmet sich der naheliegenden Selbst- und Weltgestaltung.90 „Thus, the system is suspected of being a ,schematic‘ reduction or simplification and, at the same time, a distortion of the chaotic, unpredictable and polymorphic actuality or ,world‘.“91 Bei Nietzsche rückt nun der Begriff des Lebens in den Mittelpunkt, für ihn stellt das Systemdenken qua einer Priorisierung der Vernunft eine abstrahierende Vereinfachung der Wirklichkeit dar, weil es einen essentiellen Teil ihrer negiert – nämlich das Werden. „Unser Intellekt ist nicht zum
|| 86 Vgl. hierzu Gerhardt 2006, S. 16f. „Nietzsche selbst kritisiert den Anspruch der abendländischen Philosophie aus dem Geist der Logik heraus; es sind falsche Kausalitäten und widersprüchliche Voraussetzungen, die er ihr anlastet, was nichts anderes bedeutet, als dass in seinem Denken die abendländische Widersprüchlichkeit überwunden und sein überlegener Standpunkt selbst ein Produkt des logischen Zu-Ende-Denkens sein soll.“ (Kast 2019, S. 35). 87 Camus 2011a, S. 66. 88 Nietzsche JGB, „Vorrede“, KSA 5, S. 11. 89 Janz 1981, S. 266 (meine Hervorh.). 90 Vgl. Gantschow 2011, S. 87. 91 Schwab 2015, S. 235. „Um überhaupt Ordnung, Einklang, Folgerichtigkeit herstellen zu können, muß die Vernunft zur Vereinfachung greifen, sie muß Unterschiede überspringen“, so Djurić 1985, S. 79.
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Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt, die allgemeine Starrheit zu beweisen“,92 so Nietzsche. Bezeichnenderweise typisiert Nietzsche das menschliche Erkenntnisvermögen als einen „Abstraktions- und Simplifikations-Apparat“.93 Somit verfehlt das systematisierende Denken gar seinen eigenen Anspruch, nämlich die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit in einem Theorieganzen zu erfassen und zu erschließen. Nietzsche scheint hier seinem Idol Michel de Montaigne94 zu folgen, der in seinen Essais in einer Art und Weise, wie sie eigentlich erst für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts charakteristisch ist, schlussfolgert: „Da sowohl der urteilende Mensch als auch die beurteilte Außenwelt ewig unsicher und veränderlich sind, kann über beide nichts Sicheres ausgesagt werden.“95 Wir werden darauf im Kapitel 3.4 zu Nietzsches Experimentalphilosophie zurückkommen. Schon Zeitgenossen Nietzsches erkennen, dass es ihm nun nicht darum bestellt ist, ein neues philosophisches System zu begründen und der bisherigen philosophischen Tradition entgegenzustellen. Seine Systemkritik ist weitaus umfassender und derart grundlegend, dass sie philosophische Systeme als solche ablehnt. Eine zu Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft erschienene Rezension von Ernst Wagner aus dem Jahre 1882 legt davon bereits Zeugnis ab. So sieht Wagner Nietzsche in die Fußstapfen Voltaires treten, der schon an der Befreiung des Geistes aus den Fesseln der Tradition gearbeitet habe. Die Absicht Nietzsches sei es nicht, „ein neues philosophisches System zu begründen, vielmehr betrachtet er es als seine Aufgabe, der Philosophie der Aufklärung…neues Leben und neue Wirksamkeit zu verleihen.“96 Systemkritik wird in ihrer umfassenden Gänze zu einer aufklärerischen Philosophie, die jedoch, so kann ergänzt werden, in ihrem Anspruch und ihrer Radikalität über die Ziele der philosophiehistorischen Epoche der Aufklärung hinausgeht.97
|| 92 Nietzsche NF-1881, 11[153], KSA 9, S. 500. 93 Nietzsche NF-1884, 26[61], KSA 11, S. 164. 94 Nietzsche hält über sein Idol Montaigne fest: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, dass ich sagen muss, was er von Plutarch sagt: ‚kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oder ein Flügel gewachsen‘. Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen. —“ (Nietzsche UB III, 2, KSA 1, S. 348). 95 De Montaigne 2016, S. 232. 96 Zitiert in Reich 2013, S. 579. 97 Zu Nietzsches aufklärerischem Projekt und dessen Radikalisierung im Vergleich zur Epoche der deutschen, französischen und englischen Aufklärung siehe Salaquarda 1997, S. 173–180. Im Hinblick auf eine Überbietung des Bestrebens der klassischen Aufklärung ist Barbara Neymeyrs
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Die Begriffe ,Existenz‘ und ,Leben‘ Kierkegaard kritisiert, wie skizziert wurde, dass die Art des systematischen Philosophierens die Existenz des Einzelnen niemals in toto erfassen kann, da die Existenz sich aus seiner Sicht gerade aus Zeitlichkeit und Ewigkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit, konstituiert und sich somit dem rein objektiven Denken entzieht und nicht auf die Allgemeinheit eines Begriffs zu bringen ist. Hierzu ist aus begriffsanalytischer Sicht nun darauf hinzuweisen, dass bei Kierkegaard der Existenzbegriff im Zentrum steht, Nietzsche hingegen rekurriert – wie wir nun sehen werden – häufiger auf den Begriff ‚Leben‘. Den Begriffen ‚Existenz‘ und ‚Dasein‘ begegnet man in seinen Schriften jedoch ebenso. Für unsere Untersuchungen ist es wichtig anzumerken, dass an den meisten und für unsere Belange relevanten Stellen, an denen Nietzsche den Lebensbegriff verwendet, dieser mit dem Kierkegaardschen Begriff der Existenz austauschbar wäre. Wie ist das zu verstehen? ,Existenz‘ und ,Dasein‘ decken bei Nietzsche ein breiteres und umfassenderes Bedeutungsspektrum ab, insofern sie sowohl die organische als auch die anorganische Welt bezeichnen; ,Leben‘ hingegen in einem etwas engeren Sinne nur die organische Sphäre. Im Rahmen unserer Untersuchungen teilen wir die folgende Einschätzung Acharyas, ohne hier freilich die ganze Komplexität des Nietzscheschen Lebensbegriffs auch nur in Umrissen diskutieren zu können oder verschweigen zu wollen: „Generally, the word ,life‘ has the same methodological implications as ,existence,‘ and they can be used interchangeably, except when it is necessary to emphasize the limited scope of ,life‘.“98 Um die Parallelen mit Kierkegaards Existenzbegriff und auch mit demjenigen der Existenzphilosophie
|| Hinweis auf Nietzsches Projekt einer neuen Aufklärung, das er in Abgrenzung zur alten Aufklärung in seinem Nachlass entwirft, hilfreich. Vgl. hierzu Neymeyr 2012, S. 76f. 98 Acharya 2014, S. 44. Brecht 1931, S. 5 konstatiert eine enge Verwandtschaft zwischen Kierkegaards Begriff der Existenz und Nietzsches Lebensbegriff: Kierkegaard „ist es ja gewesen, durch den auch das Wort ‚Existenz‘ im Sinne der Tiefe und Wirklichkeit des Menschseins jenen geheimnisvollen und fordernden Klang zugleich erhielt, mit dem dann der ihm zutiefst verwandte Nietzsche das Wort ,Leben‘ in einem nicht ganz unverwandten Sinne begabt und geweiht hat.“ Zum Begriff des Lebens bei Kierkegaard wiederum siehe Grøn 2012. Einen detaillierten Überblick über den Lebensbegriff bei Nietzsche verschafft Meyer 1991. Vgl. dort insbesondere S. 109–170. Die Komplexität des Nietzscheschen Lebensbegriffs basiert nach Meyer auf der Tatsache, dass Nietzsche gar keine einheitliche Definition von Leben hat. Dies wird wiederum auf die Wesensmerkmale des Lebens selbst bei Nietzsche zurückgeführt. Das Leben zeichnet sich durch Unfassbarkeit und Unendlichkeit aus. Die das Leben konstituierenden Phänomene seien das Dionysische, der Wille zur Macht, das Werden, der Perspektivismus und der Schein. Vgl. hierzu Meyer 1991, S. 115.
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zu exponieren, wird ohnehin meist der enggefasste Lebensbegriff Nietzsches, der sich auf die organische Sphäre limitiert, im Zentrum stehen. Gerechtfertigt erscheint dies allein dadurch, dass in der Existenzphilosophie ‚Existenz‘ der spezifisch menschlichen Seinsweise vorbehalten ist und somit die rein anorganische Welt ebenso ausklammert. Extensional weisen also der Nietzschesche Lebensbegriff und der Existenzbegriff der Existenzphilosophie Überschneidungen auf: Der Existenzbegriff trifft auf die Menge der Menschen zu. Der enggefasste Lebensbegriff umfasst die Sphäre des Organischen und damit auch die Menschen. Intensional weisen beide Begriffe ebenso eine Schnittmenge auf: ,Leben‘ zeichnet sich für Nietzsche – wie bei Kierkegaard die Existenz – hauptsächlich durch Aneignung aus: „Leben selbst ist w e s e n t l i c h Aneignung,…Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung“.99 Diese gestalterische Dimension des Lebens wird sich als grundlegend für Nietzsches Bild vom Menschen herausstellen und so werden bei Nietzsche, wie auch im Rahmen unserer Thematisierung Kierkegaards, die anthropologischen Reflexionen einen großen Platz einnehmen. Insofern die Aneignung wesentlich durch ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten bestimmt ist, offenbaren sich die Gemeinsamkeiten zum Kierkegaardschen Begriff ‚Existenz‘, dessen Gehalt sich durch ein Selbst- und Weltverhältnis sowie das Verhältnis zu anderen Mitmenschen auszeichnet. Arne Grøn reformuliert Kierkegaards Motiv folgendermaßen: „Es geht darum, zu sich zu stehen, indem man sich sein Leben aneignet. Ein Leben zu führen läuft auch auf die Frage hinaus, wie wir mit dem leben, was wir tun, um das Leben zu gestalten.“100 Damit soll selbstverständlich nicht suggeriert werden, dass der enggefasste Lebensbegriff Nietzsches gänzlich mit dem existenzphilosophischen Begriff der Existenz gleichzusetzen wäre – weder extensional noch intensional. Zum einen umfasst dieser Begriff ‚Leben‘ die ganze organische Welt, und insofern inkludiert er mehrere Arten von Lebewesen und nicht nur den Menschen. Zum anderen bezieht er sich nicht ausschließlich auf die spezifischen Merkmale der menschlichen Seinsweise, die sich nicht allein durch Aneignung, sondern durch die Trias des Verhaltens zu sich selbst, zur Welt und zu anderen Menschen auszeichnet. So deckt der Lebensbegriff sowohl extensional als auch intensional ein breiteres Spektrum ab.
|| 99 Nietzsche JGB, 259, KSA 5, S. 207. 100 Grøn 2012, S. 105 (meine Hervorh.).
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Nihilismus als psychologischer Zustand Nietzsches radikale Metaphysik- und Erkenntniskritik führt unmittelbar zum Verlust tradierter Sinn- und Orientierungsmuster, die bislang den Menschen die Grundlage und Maßstäbe für ein strukturiertes und vermeintlich sinnvolles Leben gegeben haben. Hier deutet sich die Gefahr eines sich ankündigenden Nihilismus als Folge der Überzeugung und Bewusstwerdung, dass es keine absoluten Wahrheiten und obersten Werte oder Ideale gibt, an: „D e r r a d i k a l e N i h i l i s m u s ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, ‹handelt›, hinzugerechnet die E i n s i c h t , daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das ,göttlich‘, das leibhafte Moral sei.“101 Erneut kommen auch die drei Gebiete Metaphysik, Religion und Moral zum Vorschein. Nietzsche selbst entwickelt für diese Bedrohung bereits ein Sensorium, letztlich beginnt für ihn erst just mit der Entwertung der alten Werte die genuin philosophische Aufgabe, wie sich noch zeigen wird: „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?…Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“,102 fragt Nietzsche somit in Die fröhliche Wissenschaft. Mahnend und kritisch wirft er in jenem berühmten Aphorismus 125 weiter die Frage auf, ob nicht die Tat des Todes Gottes zu groß für die Menschen gewesen sei.103 Genau wie Kierkegaard so ist auch Nietzsche ständig auf der Suche nach Sinn und Orientierung. Nietzsche sieht sich nun vor die Aufgabe gestellt, auf die Auflösung der alten Werte zu reagieren, um nicht in der Sackgasse des Nihilismus zu verharren. Dies gestaltet sich bei ihm insofern noch problematischer und herausfordernder als bei Kierkegaard, da seine Kritik, wie gesehen, umfassender ausfällt. Kierkegaard diffamierte die großen philosophischen Systeme als untauglich, die Existenz des einzelnen Menschen zu erschließen, und suchte fortan nach einer angemessenen Methode, um die Problemfelder des Existierens adäquat erfassen und behandeln zu können. Nietzsche hingegen verwirft die hochgesteckten Ziele der Systemphilosophie als solche und nicht mehr ‚nur‘ in Bezug auf die Sphäre der Existenz. Er weist Objektivitätsansprüche gänzlich zurück. Dass seine
|| 101 Nietzsche NF-1887, 10[192], KSA 12, S. 571. 102 Nietzsche FW, 125, KSA 3, S. 481. 103 Vgl. Nietzsche FW, 125, KSA 3, S. 481.
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teils radikale Metaphysikkritik den Nihilismus als einen psychologischen Zustand zuerst einmal impliziert, dessen ist sich Nietzsche durchaus bewusst. Psychologisch meint hier zunächst den Umstand, dass das Faktum des Nihilismus einem Menschen ins Bewusstsein getreten ist. Anhand eines nachgelassenen Fragmentes aus dem Winter 1887 möchte ich exemplarisch aufzeigen, wie aus Nietzsches Metaphysik- und Erkenntniskritik zunächst ein Nihilismus folgt, auf den es anschließend freilich zu reagieren und den es zu überwinden gilt. Hierbei kann naturgemäß ebenso wenig eine umfassende Darstellung des Nihilismus bei Nietzsche erfolgen104 wie zuvor bei seiner Metaphysikkritik. Die Aufmerksamkeit soll nun auf dem Nihilismus als psychologischem Zustand liegen. In dem angesprochenen Fragment geht das Bewusstsein für den Nihilismus einher mit dem Abhandenkommen der drei Kategorien Zweck, Einheit und Sein. Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt ein, so Nietzsche: (1) Wenn „die Enttäuschung über einen angeblichen Z w e c k d e s W er d e n s “105 sich ausgebreitet hat. (2) Wenn man zuvor eine Einheit, „eine G a n z h e i t , eine S y s t e m a t i s i r u n g , selbst eine O r g a n i s ir u n g in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat“,106 die sich nun als bloßer Glaube und reine Illusion entpuppen. (3) Wenn sich schließlich der Unglaube an eine metaphysische Welt verfestigt und die Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt als solche gleichsam obsolet geworden ist.107 Das ist der Punkt, an dem Nietzsche gewissermaßen über Kierkegaard hinausgeht. Als Conclusio führt Nietzsche an: „Kurz: die Kategorien ,Zweck‘, ,Einheit‘, ,Sein‘, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns h e r a u s g e z o g e n — und nun sieht die Welt w e r t h l o s aus…“.108 Hier wird deutlich, inwiefern Nietzsches psychologisierende Metaphysikkritik ein ‚geistiges Klima‘ des Nihilismus mit sich bringt. Der Mensch selbst war es, der die oben genannten Kategorien in die Welt hineingelegt, mithin Werte in sie hineinprojiziert hat. Dieser Eingriff in die Welt geriet in Vergessenheit, und die genannten Kategorien wurden als der Welt inhärente betrachtet. Dies zeigte sich bereits anhand von Nietzsches Beschreibung des Erkenntnisprozesses als ein Bilden von Meta|| 104 Eine umfassende Studie zu Nietzsche und dem Nihilismus, seinen Prämissen, seiner Rezeption und seiner Aktualität findet sich u.a. bei Brock 2015. 105 Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 47. 106 Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 47. 107 Vgl. Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 48. 108 Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 48. Siehe hierzu Nietzsche GD, „Die vier grossen Irrthümer“ 3, KSA 6, S. 91: „Was Wunder, dass er [der Mensch] später in den Dingen immer nur wiederfand, w a s e r i n s i e g e s t e c k t h a t t e ? “
188 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
phern. Sich dieser Umstände nun bewusst bzw. wieder bewusst geworden, erscheint dem Menschen die Welt sinn-, zweck- und wertlos. Sie entzieht sich seinem Zugang mit den Mitteln der reinen Ratio und wird ihm dadurch fremd. Es war der Glaube an die Leistungsfähigkeit der Vernunft, uns die Welt mittels Kategorien verständlich machen zu können, der zum Nihilismus geführt hat, da dem Menschen bewusst wurde, dass er den Wert der Welt an Kategorien gemessen hat, „w e l c h e s i c h a u f e i n e r e i n f i n g i r t e W e l t b e z i e h e n .“109 So führt, mit Nietzsche gesprochen, die Psychologie den Menschen wieder zu den Grundproblemen zurück.110 An ebendieser Stelle aus Jenseits von Gut und Böse erhebt Nietzsche sogar die Psychologie zur „Herrin der Wissenschaften“.111 Insofern die Metaphysik wesentlich unter Rekurs auf die Psychologie ihres Wahrheitsanspruches enthoben wird, kommt der Psychologie im Denken Nietzsches, wie nun deutlich geworden sein dürfte, eine Schlüsselfunktion zu. Als illustrierende Anekdote kann angeführt werden, dass für die schwerpunktmäßig metaphysikkritische Schrift Götzen-Dämmerung der Untertitel „Oder: wie ein Psycholog Fragen stellt“112 in Erwägung gezogen wurde. Unser Wille zur Wahrheit ist uns als Problem zu Bewusstsein gekommen, so ähnlich drückt es Nietzsche in Zur Genealogie der Moral aus.113 Zugespitzt formuliert: Es ist der in uns als Menschen dominierende Trieb zur Wahrheit, unser Verlangen nach etwas Festem, Bleibendem und Höherem, unser metaphysisches Bedürfnis, der bzw. das uns eine Welt hat erschaffen lassen, die sich nun als bloßer Schein entpuppt, in dem Moment, in dem wir uns dessen bewusst werden. Werner Stegmaier resümiert: „[D]ie ,wahre Welt‘ hat sich der Mensch geschaffen und verdinglicht aus dem Bedürfnis heraus, in seinem Leben Halt zu gewinnen.“114 Hierin zeigt sich aus der Perspektive des heutigen Interpreten die enge Verzahnung von Anthropologie und Erkenntnistheorie bzw. Epistemologie im Denken Nietzsches.115
|| 109 Nietzsche NF-1887, 11[99], KSA 13, S. 49. 110 Vgl. Nietzsche JGB, 23, KSA 5, S. 39. Vgl. hierzu Wotling 1997 sowie Neymeyr 2012. 111 Nietzsche JGB, 23, KSA 5, S. 39. 112 Nietzsche NF-1888, 22[6], KSA 13, S. 586. Darauf verweist auch Neymeyr 2012, S. 88. 113 Vgl. Nietzsche GM III, 27, KSA 5, S. 410. 114 Stegmaier 1985, S. 77. Im Nachlass Nietzsches heißt es: „Ich betrachte alle metaphysischen und religiösen Denkweisen als Folge einer Unzufriedenheit a m M e n s c h e n eines Triebes nach einer höheren, übermenschlichen Zukunft“ (Nietzsche NF-1884, 27[74], KSA 11, S. 293). 115 Exemplarisch zeigt Heit 2014, S. 42 die Verschränktheit von Anthropologie und Epistemologie anhand von Nietzsche JGB, 22, KSA 5, S. 37 auf. Dort führt Nietzsche die Möglichkeit an, dass die Rede von Naturgesetzen nur Ausdruck schlechter Interpretationskunst des Menschen ist.
Metaphysikkritik, Erkenntniskritik, Nihilismus | 189
Die Möglichkeit einer unbedingten, vom Menschen unabhängigen Wahrheit ist mit dieser Erkenntnis obsolet geworden. Wahrheit kann nun nicht mehr als systematische Deduktion aus einem obersten Prinzip heraus gedacht werden, wie dies noch in den großen Systementwürfen des Deutschen Idealismus der Fall war. Nietzsche selbst weiß, welche gefahrbringenden Konsequenzen dies nach sich ziehen kann. Der Nihilismus als psychologischer Zustand, wie oben dargestellt, droht als ausweglos zu erscheinen: Man ist unbillig gegen Descartes, wenn man seine Berufung auf Gottes Glaubwürdigkeit leichtfertig nennt. In der That, nur bei der Annahme eines moralisch uns gleichartigen Gottes ist von vornherein die ‚Wahrheit‘ und das Suchen der Wahrheit etwas, was Erfolg verspricht und Sinn hat. Diesen Gott bei Seite gelassen, ist die Frage erlaubt, ob betrogen zu werden nicht zu den Bedingungen des Lebens gehört.116
Wahrheit ist nicht mehr etwas, das durch reine Kontemplation oder rationale, intellektuelle Einsicht erkennbar wäre, sondern etwas, das zu erschaffen ist. Wahrheit wird von einem Gegenstand objektiver Erkenntnis zu einem durch das einzelne Subjekt hervorzubringenden Wert: ,Wahrheit‘ ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t und das den Namen für einen P r o z e ß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, e i n a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, ,an sich‘ fest und bestimmt wäre.117
Die Distanzierung von einer durch die Leistung der reinen Vernunft erkannten objektiven und bereits vorhandenen Wahrheit, zum Beispiel im Sinne einer platonischen Ideenschau, ist offensichtlich. Für das Philosophieren der freien Geister ist der Diskurs über die Wahrheit nicht mehr losgelöst von einem Diskurs über das Leben zu führen, da Wahrheit nicht mehr länger Gegenstand einer reinen Lehre oder Wissenschaft ist, sondern vielmehr zum Charakteristikum einer Lebensform wird, in der Denken und Leben als Einheit betrachtet werden müssen.118 So gesehen nimmt Nietzsche eine Neubestimmung der Wahrheit119 vor, die bereits andeutet, dass ein aktiver Part des Menschen zwangsläufig erforderlich ist. An einer anderen Stelle spricht Nietzsche von einem neuen Mut, dessen es
|| 116 Nietzsche NF-1885, 36[30], KSA 11, S. 563. 117 Nietzsche NF-1887, 9[91], KSA 12, S. 385. 118 Siehe hierzu Lemm 2014, S. 209: „[T]ruth is no longer the object of a doctrine or a science, but of a form of life in which thought and life (zoe) must be considered in their unity.“ 119 Diesem Motiv geht Werner Stegmaier eigens ausführlich nach. Vgl. dazu Stegmaier 1985.
190 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
nun bedürfe, da es keine Apriori-Wahrheiten mehr gebe.120 ,Wahr‘ ist nun das, was für die Existenz des Menschen förderlich und von Interesse, mit Nietzsche gesprochen, dem Leben dienlich ist: „W a h r heißt ,f ü r d i e E x i s t e n z d e s M e n s c h e n z w e c k m ä ß i g ‘.“121 Das ist ein genuin existenzphilosophischer Topos. ‚Existenz‘ ist hier durchaus im Sinne des enggefassten Lebensbegriffs zu verstehen, und so ist eine Parallele zu Kierkegaards Bestimmung der subjektiven Wahrheit als diejenige, die für die Existenz von Relevanz ist, offenkundig. Spricht Nietzsche von einem neuen Mut, dessen es nach der Entlarvung der alten Werte als Scheinwahrheiten bedarf, so zeigt sich, dass mit dem Tod Gottes – der hier sowohl für den Gott der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion, aber noch vielmehr und weitreichender für die obersten Ideale der abendländischen Metaphysiktradition im Allgemeinen steht122 – keineswegs eo ipso eine neue Leichtigkeit und Leichtlebigkeit einhergeht. Die eigentliche philosophische Aufgabe und Leistung hat nach Nietzsche mit der bloßen Feststellung des Todes Gottes noch gar nicht begonnen, sie hat vielmehr erst jetzt zu erfolgen. Der aktive Part des Menschen ist nun gefordert, damit der Mensch nicht im Status eines psychologischen Nihilismus, wie oben beschrieben, verharrt. Der Nihilismus soll nicht zu einer Sackgasse werden, er soll nach Möglichkeit überwunden werden. Letztlich legt er sogar erst das Fundament für einen sich dem Menschen nun eröffnenden neuen Möglichkeitshorizont. ‚Wahrheit‘ wird nun zu einer Kategorie, die unmittelbar an das einzelne Individuum gebunden ist. Den Ansatz einer Neubestimmung der Wahrheit interpretiert Stegmaier wiederum anschaulich: „Sie muß von der Haltung der Wahrhaftigkeit her, die als Boden des Wahrheitens allein noch bleibt, aus der geschichtlichen Überwindung ihrer metaphysischen Festlegung neu bestimmt werden.“123 Erneut wird deutlich, dass Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit über Kierkegaards Unterscheidung von objektiver und subjektiver Wahrheit hinausgeht, da mit seiner Neubestimmung die von Kierkegaard aufrechterhaltene Differenzierung gleichsam hinfällig wird. Dem werden wir nun im Hinblick auf seine anthropologischen Überlegungen nachgehen, in denen sich einmal mehr seine wegweisende Rolle für die Existenzphilosophie zeigen wird. Insofern erscheint es nach unseren bisherigen Ausführungen kaum nachvollziehbar, warum Stegmaier die These aufstellt, Nietzsches Neubestimmung
|| 120 Vgl. Nietzsche NF-1884, 25[211], KSA 11, S. 69. 121 Nietzsche NF-1880, 6[421], KSA 9, S. 306. 122 Vgl. hierzu Brock 2015, S. 266–273. Dort ist dementsprechend vom Tod zweier Götter die Rede. 123 Stegmaier 1985, S. 77.
Metaphysikkritik, Erkenntniskritik, Nihilismus | 191
der Wahrheit habe kaum Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehabt, wobei er auch ausdrücklich die Existenzphilosophie nennt.124 Zumindest für die Existenzphilosophie mit ihren eindeutig erkennbaren metaphysikkritischen Zügen erscheint dies mehr als fragwürdig. Es wurde bereits angedeutet, dass Nietzsches Denken nicht beim Nihilismus als (psychologischem) Zustand, der die Folge der Destruktion und Entwertung der alten Werte und Ideale ist, stehen bleibt, sondern vielmehr nach einer Überwindung dieses Zustandes sucht und darin letztlich die wahrliche und eigentliche Aufgabe des Philosophen sieht. In diesem Sinne ist Nietzsche kein Vertreter eines passiven Nihilismus – Letzterer würde resignativ bei der bloßen Konstatierung einer sinn- und werteentleerten Welt stehen bleiben –, sondern eines aktiven Nihilismus, der nach Möglichkeiten einer Überwindung Ausschau hält und dabei den Menschen als zentralen Akteur zutiefst in die Pflicht nimmt. Dort kann der Existenzialismus ansetzen und Nietzsches Denken selbst mutet hier schon stark existenzphilosophisch an. Nun gilt es, neue Werte zu erschaffen und diese der ursprünglichen ,wahren‘ Welt der Metaphysik entgegenzusetzen: „Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte ,W i r k l i c h k e i t ‘, zu v e r n i c h t e n ! Nur als Schaffende können wir vernichten!“125 Anhand einer Darstellung von Nietzsches Menschenbild unter dem Motiv einer negativen Anthropologie soll im folgenden Kapitel Nietzsches Umgang mit dem Nihilismus exemplifiziert werden. Vermittels des Motivs des Menschen als einem Wanderer ohne Ziel werden, so meine These, die Potenziale einer negativen Anthropologie Nietzschescher Prägung zum Vorschein kommen. Die Ausführungen nun auf Nietzsches Menschenbild, in dem der konkrete einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, zu fokussieren, erscheint nicht nur aus der Perspektive einer Untersuchung zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Existenzphilosophie plausibel. Zuletzt wird sich zeigen, dass es auch für den Nihilismus keine allgemeine, sondern nur eine je individuelle Lösung gibt. Auf diesen Zustand kann jeder Mensch nur durch ein singuläres Lebensexperiment je für sich reagieren.126 Demnach betrachtet Nietzsche die Überwindung des Nihilismus primär als eine dem Einzelnen zukommende Aufgabe und erwartet sie nicht von der
|| 124 Vgl. ibid., S. 69. 125 Nietzsche FW, 58, KSA 3, S. 422. 126 Darauf weist auch van Tongeren 2012, S. 14 hin.
192 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Gesellschaft.127 Relativierend ließe sich anmerken, dass diese Aufgabe zumindest beim Einzelnen ihren Ausgangs- und Anfangspunkt nehmen muss.
3.2 Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie128 ,Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!‘ — So wolltest du’s! Vom Pfade wich dein Wille! Nun, Wandrer, gilt’s! Nun blicke kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du — an Gefahr.129
Nietzsches Erkenntnis- und Metaphysikkritik130 samt seiner Entwertung der obersten Werte auf den Gebieten der Metaphysik, Religion und Moral haben direkte Implikationen für seine anthropologischen Reflexionen. Auch dort manifestiert sich für ihn die Notwendigkeit eines historischen Philosophierens, d.h. das Aufmerksam-Machen auf und das Sensibilisieren für das Gewordensein aller Dinge und somit auch des Menschen selbst. Zudem besteht in der psychologisierenden Entlarvung der diversen Vorurteile der Philosophen, wie Nietzsche sie nennt,131 eine enge Verbindung zwischen seiner Erkenntniskritik und seiner Anthropologie.132 Insofern als Grund für das Vorhandensein metaphysischer Systeme und für das Betreiben von Metaphysik insgesamt der menschliche Erkenntnistrieb, sein Trieb zur Wahrheit, ausgemacht wurde, erwächst aus einer Erkenntnis über die physio-psychologischen Dispositionen des Menschen – verallgemeinert gesagt also aus einer Erkenntnis über den Menschen – Nietzsches Metaphysik- und Erkenntniskritik. So ist auch Barbara Neymeyrs These zuzustimmen, dass hier philosophische Vorurteilskritik mit einer Entlarvungspsychologie konvergiert.133 Kenntnisse der Physiologie und Psychologie bringen Nietzsche Aufschlüsse über die Philosophie, insofern Letztere lediglich Auslegung des
|| 127 Vgl. hierzu auch Salaquarda 1997, S. 173. 128 In diesem Kapitel führe ich Überlegungen aus einem früheren Aufsatz von mir fort. Siehe dazu Victor 2020. 129 Nietzsche FW, 27, KSA 3, S. 359. 130 Siehe hierzu Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit. 131 So handelt das gesamte erste Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse von den „Vorurtheilen der Philosophen“. Siehe Nietzsche JGB, 1–23, KSA 5, S. 15–39. 132 Vgl. Heit 2014, der sich dieser Verknüpfung exemplarisch anhand des Werkes Jenseits von Gut und Böse unter dem sprechenden Titel „Erkenntniskritik und experimentelle Anthropologie“ zuwendet. 133 Vgl. Neymeyr 2012, S. 74f.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 193
Leibes sei: „Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit…Hinter den höchsten Werthurtheilen…liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen“.134 Die Vorstellung, es gebe so etwas wie den Menschen, ist letztlich nur eine Metapher, von der wir vergessen haben, dass sie eine ist, und sie nun als Wahrheit postulieren. Mittels des historischen Philosophierens gelingt es, diese Scheinwahrheit zu entlarven und den Werde-Charakter der Welt hervorzuheben. Insofern Nietzsche anhand des historischen Philosophierens das Entstandensein dieser Vorstellung aufdeckt, lässt seine Anthropologie eine genealogische Methode erkennen.135 In einer Welt, in der alles dem Werden und der Bewegung unterliegt, wird Festgestelltes, wozu Wesensdefinitionen gehören, zur Illusion – auch in Bezug auf den Menschen. Diese Tatsache haben die Philosophen bisher verkannt, so Nietzsche.136 Der Mangel an historischem Sinn, den Nietzsche den Philosophen zum Vorwurf macht, hat nun auch Auswirkungen auf den Bereich der Anthropologie137 – dem gilt es sich zu stellen. Alles andere würde bedeuten, reine Abstrakta, ja Phantome zu konstruieren und käme einer Flucht vor der Ungewissheit des Werdens, vor dem Abenteuer der Existenz und des Lebens gleich. Dies habe bis dato die Wissenschaft aber getan: „Im Grunde ist die Wissenschaft darauf aus, festzustellen, w i e d er M e n s c h — nicht das Individuum — [ist]…D. h. ein Phantom wird c o n s t r u i r t “138 und eine „r e g u l a t i v e F i k t i o n “139 in die Welt des Werdens hineinprojiziert. Ein Begriff des Menschen wird vorausgesetzt, und dadurch werden die Individuen ihres Individuumseins beraubt; das Individuelle, für Nietzsche das einzig Reale, wird nivelliert. Wie bereits erörtert, enttarnt Nietzsche die Genese der Begriffe als ein Gleichsetzen des Nicht-Gleichen: Das Individuelle wird abgelegt,140 der Begriff, das Allgemeine, als Wahrheit postuliert. Das gilt folgerichtig auch für den Begriff ‚Mensch‘. So lesen wir schon in den frühen Fragmenten des Jahres 1872,
|| 134 Nietzsche FW, „Vorrede“ 2, KSA 3, S. 348. 135 Vgl. Choulet 1999, S. 61. 136 „Unwillkürlich schwebt ihnen [den Philosophen] ‚der Mensch‘ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor…Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen…Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnisvermögen geworden ist“ (Nietzsche MA I, 2, KSA 2, S. 24). 137 Vgl. Neymeyr 2012, S. 79. 138 Nietzsche NF-1881, 11[156], KSA 9, S. 500. 139 Nietzsche NF-1885, 35[35], KSA 11, S. 526. 140 „[K]ann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle a b s t r e i f t “ (Nietzsche NF-1880, 6[158], KSA 9, S. 237).
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dass wir so tun, als ob der „Begriff ,Mensch‘ etwas Tathsächliches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist.“141 Metaphysik wird zu einem vermeintlichen Schutzort und einer Flucht vor der Abgründigkeit und Bodenlosigkeit der Existenz. Nietzsche dagegen, so lässt sich formulieren, unterliegt nicht dem Verlangen nach etwas Bleibendem, er entwirft kein einheitliches und Vollständigkeit intendierendes Theorieganzes, in welchem der Mensch seinen scheinbaren festen Platz besitzt. So stark dieses metaphysische Bedürfnis auch sein mag, es wird nicht zu stillen sein, und Nietzsches Philosophie verlangt, die Wirklichkeit konsequent vom Menschen als einem erlebenden Individuum her zu denken. Für Gantschow entspricht dies expressis verbis einer Existenzphilosophie in „nietzscheanischer Lesart“.142 Wie Curt-Paul Janz in seiner monumentalen Nietzsche-Biographie resümiert, besteht Nietzsches ungeheure und gewagte philosophische Leistung darin, wie Kierkegaard, den Menschen, die menschliche Existenz, und somit das, was bisher die eigentliche Domäne der Kunst war, in das Zentrum der Philosophie gerückt zu haben.143 Diese strikte Abkehr von Transzendenzprojektionen jeglicher Art geht mit einem radikalen Immanentismus einher, der eine Fokussierung auf den Mensch als einzelnen Existierenden in der Welt sowie ein Abrücken von den Systemansprüchen im Sinne des Deutschen Idealismus impliziert, wobei Nietzsche wie Kierkegaard den Systembegriff Kants im Hinterkopf hat. Der Einzelne rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung, und das bereits in dem frühen Text Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874 verfasst), welcher der ersten Werkperiode Nietzsches zuzuordnen ist. Auch in den Notizen aus dem frühen Nachlass finden sich Formulierungen wie: „Die K e n n t n i s s d e s M e n s c h e n vorwärts zu bringen!“144 Oder: „Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an MenschenKenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse.“145 Versteht man dies als ein Anliegen, die Kenntnisse über den Menschen und vom Menschen zu erweitern und voranzubringen – was wesentliches Ziel der Disziplin der Anthropologie ist –, so zeigt sich, dass Nietzsches Werken schon vor der zweiten Schaffensperiode zumindest ein grundlegendes anthropologisches Interesse inhärent ist.146 Es erscheint demnach keineswegs überspitzt, Nietzsches philosophisches Anliegen || 141 Nietzsche NF-1872, 19[236], KSA 7, S. 493. 142 Gantschow 2011, S. 183. 143 Vgl. Janz 1981, S. 266. 144 Nietzsche NF-1875, 5[20], KSA 8, S. 45. 145 Nietzsche NF-1877, 22[107], KSA 8, S. 399. 146 Nach Fink 1986, S. 44 hingegen kristallisiert sich Nietzsches Philosophie erst in der zweiten Schaffensperiode als ein primär anthropologisches Denken heraus. Dort wird eine Unterteilung des Gesamtwerkes von Nietzsche in drei Perioden zugrunde gelegt. Der Vollständigkeit halber
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 195
insgesamt primär als Anthropologie zu kennzeichnen147 – eine weitere Parallele zu Kierkegaard. Wozu die ,Welt‘ da ist, wozu die ,Menschheit‘ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern…; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein ,Dazu‘ vorsetzest, ein hohes und edles ,Dazu‘.148
Die großen Fragen der Metaphysik laufen ins Leere, sind von unserem zutiefst menschlichen Standpunkt und Blickwinkel auf die Welt aus nicht zu lösen, und somit lautet die Devise: Nicht zu fragen, wozu und warum die Welt als Ganze existiert etc., sondern wozu und warum ich als dieser konkret existierende einzelne Mensch da bin. Es trifft daher zu, wenn Richard Rorty Nietzsche gemeinsam mit Proust als einen paradigmatischen Nicht-Metaphysiker bezeichnet, da er sich primär um sich selbst und nicht um das Universum kümmere.149 So erscheint Nietzsche einmal mehr als Wegbereiter der Existenzphilosophie, die mit Odo Marquard gesprochen danach fragt: „Existenz – wozu?“150 Die Redeweise vom Einzelnen erweist sich an dieser Stelle der Unzeitgemäßen Betrachtungen als genuin existenzphilosophisch, insofern der Existierende hinsichtlich seines Selbstund Weltverhältnisses angesprochen wird.151 Die Situation des Einzelnen in der Welt wird in Nietzsches metaphorischer Sprache treffend vergleichbar mit der eines Wanderers ohne ein vorherbestimmtes und endgültig zu erreichendes Ziel: „Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, — wenn auch nicht als Reisender n a c h einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht.“152 Der Mensch wird zu einem Wanderer ohne Ziel, der sich und || sei darauf hingewiesen, dass teils in der Forschung auch nur zwei Phasen unterschieden werden, so etwa bei Gerhardt 2016, S. 159. Für uns ist das nicht allzu problematisch, da es uns hier auf die Kontinuität einer Fokussierung auf den Menschen im Denken Nietzsches ankommt. Auch Neymeyr 2012, S. 78f. weist darauf hin, dass die Anthropologie von den frühen Schriften an als programmatische Absicht von Nietzsches Philosophie gelten kann. 147 Vgl. Würger-Donitza 2010, S. 90. Angier 2006, S. 75 merkt dies ebenfalls an und sieht darin eine Gemeinsamkeit mit Kierkegaard: „I think it fair to say that, as in the case of Kierkegaard, the kind of truth that most deeply concerns Nietzsche lies within philosophical anthropology.“ 148 Nietzsche UB II, 9, KSA 1, S. 319 (meine Hervorh.). 149 Vgl. Rorty 1992, S. 165. Nietzsche formuliert in UB III, 6, KSA 1, S. 384: „Denn die Frage lautet doch so: wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung?“ 150 Marquard 2013, S. 45. 151 Ähnlich argumentiert Gantschow 2011, S. 173. 152 Nietzsche MA I, 638, KSA 2, S. 362f.
196 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
sein Leben weder auf ein allen Menschen gemeinsames Wesen stützen noch auf ein objektiv zu erreichendes Telos, das dem Leben einen universellen Sinn verleihen würde, hin ausrichten kann. Einmal zur Freiheit der Vernunft gelangt, d.h. sich der Entwertung der alten Werte bewusst geworden, ist dem Menschen kein universeller Sinn als Orientierungspunkt für sein Leben und Handeln mehr gegeben. Was jedoch bleibt, ist sein Verlangen nach einem solchen Sinn, das einst den Glauben an diesen zuallererst evozierte. Bereits in den frühen Schriften Nietzsches findet sich die Analogie der menschlichen Existenz zu einer auf terra incognita verlaufenden Wanderschaft unter dem Vorzeichen von ständiger Ungewissheit: „So ist unser Strebe‹n› eine Wanderung ins Unbekannte, mit der unsteten Hoffnung, einmal ein Ziel zu finden, wo man ausruhen kann.“153 Dieses Streben scheint jenes menschliche Verlangen nach etwas Bleibendem zu sein, das sich im vorherigen Abschnitt psychologisierend als Grund für das Vorhandensein metaphysischer Systeme erwiesen hat. Es wird als anthropologische Konstante, als eine Art Grundverlangen des Menschen, beschreibbar. Es ist der Gestaltungswille, das Bestreben, die Welt auf eine Art und Weise umzuformen, die es dem Menschen ermöglicht, es in ihr auszuhalten.154 Dieser Wille bleibt auch nach der Entlarvung der wahren Welt als Fabel durchaus bestehen. Mit jenem Phänomen geht, wie Nietzsche betont, geradezu „ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft“155 einher. Sowohl beim frühen als auch beim späten Nietzsche führt die Wahrheitssuche zum Verlust metaphysischer, religiöser und moralischer Bindungen und damit in eine heimatlose und einsame Wandererexistenz, die mit dem Einzelgängertum des Philosophen auf das Engste verbunden ist.156 So lesen wir schon in der in jungen Jahren verfassten Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: „Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen.“157 Nicht nur das Ineinandergreifen von Philosophen-Existenz, Wanderschaft und Einsamkeit in Bezug auf das griechische Ideal des Philosophen, sondern auch das Wanderer-Motiv als solches, das in der griechischen Dichtung und Mythologie fest verankert ist, dürfte dem Altphilologen Nietzsche naturgemäß bekannt gewesen sein.
|| 153 Nietzsche BAW 3, S. 336. Vgl. hierzu Zittel 1996, S. 203f. 154 „Die Umformung der Welt, u m e s i n i h r a u s h a l t e n z u k ö n n e n ― ist das Treibende“, so Nietzsche NF-1884, 25[94], KSA 11, S. 33. 155 Nietzsche MA I, „Vorrede“ 3, KSA 2, S. 16. 156 Vgl. Zittel 2011, S. 218. 157 Nietzsche PhtZ, 8, KSA 1, S. 833.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 197
Die Wanderer-Metapher zieht sich wie ein Ariadnefaden von den frühen Schriften bis in die Fragmente späterer Jahre durch Nietzsches Œuvre hindurch158 und zählt zu seinen markantesten Figuren. Das gesamte Bedeutungsspektrum dieses Motivs zu skizzieren, kann und soll hier nicht geleistet werden. Wenden wir uns exemplarisch dem Gedicht „Es geht ein Wanderer durch die Nacht“ zu, das sich in einer ersten Fassung in einem Brief Nietzsches an Erwin Rohde aus dem Jahre 1876 und in einer späteren, leicht veränderten Version in der Fragmentgruppe aus dem Herbst des Jahres 1884 findet. Keineswegs kann und soll eine Detailanalyse des Gedichts erfolgen,159 sondern vielmehr soll hier die Wanderer-Metapher als Ausdruck von Nietzsches metaphysikkritischer und existenzialistischer Anthropologie dargestellt werden. Im Gedicht spricht der Vogel zum Wanderer: ,Nein, Wandrer, nein! Dich grüß ich nicht Mit dem Getön! Ich singe, weil die Nacht so schön: Doch Du sollst immer weiter gehn Und nimmermehr mein Lied verstehn! Geh nur von dannʼ ―160
Ein Dialog, eine Kommunikation zwischen dem Vogel und dem „arme[n] Wandersmann“,161 kommt nicht zustande. Versteht man den scheiternden Dialog zwischen beiden sinnbildlich als das Scheitern des Menschen, die Natur und die Welt in ihrer Gesamtheit zu begreifen und ihren Sinn zu erschließen, so verbirgt sich in diesem Gedicht eine der Kernbotschaften Nietzschescher Philosophie im Besonderen und des Existenzialismus im Allgemeinen. Das Lied des Vogels ist dem Wandersmann unverständlich, so wie dem Menschen tiefergehende Einsichten in die Strukturen des Weltganzen verwehrt sind. Im schweigenden Sprechen des Vogels wird die Kritik Nietzsches an metaphysisch fundierter Erkenntnis im Paradoxalen visualisiert162 und seine Metaphysikkritik somit anschaulich gemacht. So liegt es nahe, dass Torsten Voß das Gedicht als ästhetischen Perspektivismus typisiert, der „von den provokanten philosophischen Anliegen, die zwei Jahre später in Menschliches, Allzumenschliches…aphoristisch kondensiert
|| 158 Vgl. Meyer 2011, S. 412. Dort findet sich u.a. eine Auflistung der einschlägigsten Stellen. 159 Für eine detaillierte Analyse zur Entstehung, Form und zum Inhalt des Gedichts vgl. Zittel 1996; Voß 2017 und Hörisch 1982. 160 Nietzsche KSB 5, S. 177. Für die spätere Fassung des Gedichts siehe Nietzsche NF-1884, 28[58], KSA 11, S. 322f. 161 Nietzsche KSB 5, S. 177. 162 Vgl. Voß 2017, S. 95.
198 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
vorgetragen werden, nicht zu trennen“163 sei. Der Mensch wird auf seine Vagabunden-Existenz verwiesen: „Geh nur von dannʼ ―“,164 rät ihm der Vogel. Er soll keine vergeblichen Mühen in die Interpretation des Gesangs stecken, sondern vielmehr seinen unbekannten und ungewissen Weg weiter beschreiten und – wie sich zeigen wird – selbst ausgestalten. Zugleich kommt die dramatische Dimension der menschlichen Existenz zum Ausdruck, da das Gedicht mit einem „Leb wohl, Du armer Wandersmann!“165 endet – womöglich eine Anspielung auf die Gefahren des Nihilismus. Schon jetzt deutet sich also die Ambivalenz an, die mit Nietzsches Zurückweisung der alten Werte auf den Gebieten der Metaphysik, Moral und Religion einhergeht. Zum einen ist der Mensch befreit, sprich zur Freiheit der Vernunft gelangt, zum anderen wird er durch diese Freiheit konsequent und unhintergehbar auf sich selbst zurückverwiesen – es gibt keine objektiven Ideale mehr, an denen er sein Leben ausrichten und orientieren könnte. Es wird nun zu seiner Aufgabe und Pflicht, sich selbst Maßstäbe zu setzen. So lässt sich mit Claus Zittel festhalten, „daß der Wanderer meist durch den Verlust der mythischen bzw. religiösen Bindungen zu seiner Wanderschaft gezwungen wird“;166 die eigentliche Herausforderung beginnt nun zuallererst. Die Freiheit der Vernunft wird zur Pflicht des Einzelnen, und so scheint hier bereits Sartres Beschreibung des Menschen als einem zur Freiheit Verdammten durch, welche die ganze Ambivalenz und Tragik der menschlichen Existenz zum Ausdruck bringt. In Die fröhliche Wissenschaft deuten sich durch das und in dem Motiv des Wanderers die Chancen und Gefahren gleichermaßen an, die eine solche Existenz verbirgt.167 Es sind die Potenziale und Risiken eines Lebens, das sich einmal des Nihilismus, der Entwertung der alten Werte, bewusst geworden ist – jetzt beginnt für Nietzsche die Aufgabe des eigentlichen Philosophierens, das auf einen unbekannten Weg hindeutet. Nicht ohne Grund spricht er in der Folge von dem Wagnis des Erkennenden: ,Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!‘ — So wolltest du’s! Vom Pfade wich dein Wille! Nun, Wandrer, gilt’s! Nun blicke kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du — an Gefahr.168
|| 163 Ibid., S. 99. 164 Nietzsche KSB 5, S. 177. 165 Nietzsche KSB 5, S. 177. 166 Zittel 1996, S. 203. 167 Vgl. auch Gantschow 2011, S. 186. 168 Nietzsche FW, „,Scherz, List und Rache.‘ Vorspiel in deutschen Reimen“ 27, KSA 3, S. 359.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 199
In dieser unter dem Titel „Der Wanderer“ aus Die fröhliche Wissenschaft verfassten Prosa deuten sich die Gefahren der Wanderschaft an: Der Pfad bzw. der Weg ist nicht mehr vorgezeichnet, das Gleichnis des Wanderers, der nicht weiß, „wohin sein Weg noch will“,169 findet hier seine Fortsetzung. Der Nihilismus kommt einem blinden Umherirren eines Wanderers in der Nacht gleich und bildet die Folie für das Wanderer-Gedicht aus den jungen Jahren Nietzsches.170 In einem weiteren Gedicht aus den Fragmenten des Jahres 1884 heißt es in Bezug auf den Typus des Freigeistes, d.h. ebenjenen, der zur Freiheit der Vernunft gelangt ist, „[w]er Das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.“171 Mit dem ,Das‘ spielt Nietzsche hier auf eine metaphysische inhaltliche Wesensbestimmung des Menschen an, die dem freien Geist nicht mehr gegeben ist, da er sich ihrer Illusion bewusst geworden ist. In gleicher Manier und Intention bedient sich Nietzsche analog zur GebirgsMetapher des Wanderers und Wanderns auch der Meer-Schifffahrt-Metaphorik.172 Durch seine Unbestimmtheit zeichnet sich das Menschsein geradezu als ein ständiges Unterwegssein aus, der Mensch wird zum „Columbus novus“.173 Es gibt keinen festen Boden mehr, das Wagnis des Erkennenden beginnt, der Mensch wird zum Abenteurer und Weltumsegler, sein Leben liegt, einem offenen Meer gleich, vor ihm.174 Dieses Gleichnis findet ebenso in poetischer Form Ausdruck, u.a. in den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ aus der Fröhlichen Wissenschaft, zu denen das Gedicht mit dem sprechenden Titel „Nach neuen Meeren“ zählt.175 Die bisherigen Darstellungen lassen sich unter die berühmte Formulierung aus Jenseits von Gut und Böse,176 der Mensch sei das „n o c h n i c h t f e s t g es t e l l t e
|| 169 Nietzsche KSB 5, S. 177. 170 Vgl. hierzu Wenzel 2018, S. 217f. 171 Nietzsche NF-1884, 28[64], KSA 11, S. 329. Vgl. zu diesem Vers auch Benn 1965, S. 492. 172 An mancher Stelle verbindet er sogar beide Metaphern miteinander, so zum Beispiel in Nietzsche NF-1880, 7[165], KSA 9, S. 351: „Ich will keine Erkenntniß mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden!“ Meer und Gebirge – beide topographischen Metaphern stehen für das Abenteuer des Erkennenden, des zur Freiheit der Vernunft gelangten Menschen. 173 Nietzsche NF-1882, 1[101], KSA 10, S. 34. 174 Vgl. Nietzsche MA I, „Vorrede“ 7, KSA 2, S. 21. 175 Vgl. hierzu Wokalek 2017, die sich des Gedichts unter der Perspektive eines Aufbruchs ins Unbestimmte annimmt. 176 En passant sei angemerkt, dass das Motiv der Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen eines ist, das sich wie ein roter Faden durch Nietzsches Werk zieht. Jenseits von Gut und Böse erschien rund acht Jahre nach Menschliches, Allzumenschliches. Zudem findet sich eine Vorformulierung in den Fragmenten des Nachlasses aus dem Jahre 1885. Vgl. hierzu Nietzsche NF1885, 2[13], KSA 12, S. 72.
200 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
T h i e r “,177 subsumieren. Die Sinnsuche des Menschen verlagert sich radikal in die Sphäre der Subjektivität und Immanenz. Es sind solche Ausdrücke, die zumindest offenlegen, wie Nietzsche den Menschen nicht denkt, ihn gewissermaßen ex negativo zu fassen bzw. sich ihm anzunähern versucht, und die auf dessen Möglichkeiten, aber auch Gefahren hinweisen. Da der Mensch nicht festgestellt ist, eröffnen sich ihm neue Perspektiven, ja ein nahezu grenzenloses Spektrum an Gestaltungsmöglichkeiten, sobald er sich dieser Tatsache bewusst geworden ist. Kann der Mensch im Zuge eines Anti-Essentialismus nicht positiv unter Rekurs auf eine klassische Wesensdefinition typisiert werden, so liegt es nahe, ihm mit Rückgriff auf die Negativität zumindest gewisse Konturen zu verleihen. Welche Konsequenzen zieht Nietzsche aus der prinzipiellen Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen? Wohin führt dieser Weg des Wanderers ohne Ziel? Mit Volkmann-Schluck gesprochen, haben wir bis hierhin von Nietzsche Folgendes erfahren: „Leben aber ist Wandel, ist Bewegung. Ohne ein Wozu ist Leben Bewegung ohne Weg, weil ohne Ziel. Ziel ist immer das, was im vorhinein ins Auge gefaßt wird und das die Richtung weist. Es gibt keine Ziele an sich, sondern zum Ziel gehört es, als das Richtungsweisende ins Auge gefaßt zu sein.“178 Nietzsche bewegt sich hier ganz im Duktus der bei Kierkegaard sich entfaltenden existenzialistischen Anthropologie, der wir bereits in Kapitel 2.3 nachgegangen sind. Bevor wir die Frage weiterverfolgen, wohin dieser Weg des Menschen führt, ist aus philosophiegeschichtlicher Sicht die Anmerkung angebracht, dass sich das Motiv des ‚Nicht-Festgestellt-Seins‘ des Menschen bereits im Denken des christlichen Renaissancehumanismus findet. So weist Reinhard Heil auf Pico della Mirandolas Schrift Über die Würde des Menschen hin. In Abgrenzung zu anderen Geschöpfen habe Gott dem Menschen keinen bestimmten Platz in der Welt zugewiesen. Wir lesen dort: „[D]amit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst.“179 Wurzeln der Vorstellung des Menschen als ein nicht
|| 177 Nietzsche JGB, 62, KSA 5, S. 81. 178 Volkmann-Schluck 1991, S. 147. 179 Pico della Mirandola 1949, S. 52. Vgl. hierzu Heil 2009, S. 184f. Der der Lebensphilosophie nahestehende spanische Philosoph Ortega y Gasset weist in seinen Überlegungen zur menschlichen Freiheit auf den spätmittelalterlichen Denker Nicolaus Cusanus hin, der den Menschen einen deus occasionatus nenne, „weil, wie er sagt, der Mensch, da er frei ist, ein Schöpfer ist wie Gott, das heißt, er ist ein schöpferisches Wesen seiner eigenen Wesenheit. Aber im Gegensatz zu Gott ist seine Schöpfung nicht absolut, sondern durch die Gelegenheit beschränkt. Also buchstäblich das, was ich zu behaupten wage: daß der Mensch sich selbst schafft im Hinblick auf die Umwelt, daß er ein Gott der Gelegenheit ist.“ (Ortega y Gasset 1952, S. 58).
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 201
festgestelltes Wesen im Zeitalter der Renaissance aufzudecken, ist gerade in Bezug auf Nietzsche interessant, da seine Begeisterung für jene Epoche bekannt ist, mit der er als Schüler Jacob Burckhardts mehr als vertraut war.180 „Wenn kein Ziel in der ganzen Geschichte der menschlichen Geschicke liegt, so müssen wir eins hineinstecken“.181 Ist kein von Natur aus vorherbestimmtes Telos zu erkennen, so liegt es an uns, uns selbst ein Ziel zu setzen, unserem Leben eine Richtung zu weisen und es im Sinne eines Experiments und Selbstentwurfs zu gestalten. Diese Aufgabe resultiert aus dem Umstand, dass wir solche Ziele nötig haben, wie Nietzsche formuliert.182 Dieses Bedürfnis scheint aus dem schon thematisierten Sinn- und Orientierungsstreben des Menschen hervorzugehen. Es gilt, sich selbst ein ,Ideal‘ zu geben,183 sein eigenes Leben als ein Experiment und einen Selbstversuch aufzufassen, das Wagnis des Wanderers an- und auf sich zu nehmen. In diesem Duktus liest sich der Appell aus der Morgenröthe: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“184 Es handelt sich dabei um das, was Rüdiger Safranski treffend „Essayismus als Lebensform“185 nennt. Der zur Freiheit der Vernunft gelangte Mensch muss sich dieser Freiheit bedienen, sein eigener Regent werden, sein Leben zu kleinen „V e r s u c h s s t a a t e n “186 formen. Wir haben es mit einem Leben auf den Versuch hin zu tun. Lebensvollzug wird bei Nietzsche zu einem Erproben neuer Daseinsmöglichkeiten, dabei wird die eigene Existenz stets mit aufs Spiel gesetzt. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes Stoff und Gegenstand des Experiments.187 Nietzsche bewegt sich damit ganz im Duktus der Kierkegaardschen Philosophie und formuliert mit ihr gemeinsam die Prämissen einer existenzialistischen Philosophie als Lebensform.
|| 180 Für einen Überblick zum Thema ,Nietzsche und die Renaissance‘ vgl. Bouriau 2015. 181 Nietzsche NF-1886, 6[9], KSA 12, S. 236. Siehe auch Nietzsche NF-1882, 4[137], KSA 10, S. 154: „Alle Z i e l e sind vernichtet. Die Menschen müssen sich eins g e b e n . Es war ein Irrthum, daß sie eins h ä t t e n : sie haben sie sich Alle gegeben. Aber die V o r a u s s e t z u n g e n für alle früheren Ziele sind vernichtet.“ 182 Vgl. Nietzsche NF-1886, 6[9], KSA 12, S. 236. 183 Ein solches Ideal ist natürlich kein objektiv einsehbares, sondern ein zutiefst subjektives: „Man soll s e i n Ideal v o m M e n s c h e n durchsetzen…und also schöpferisch wirken!“ (Nietzsche KSB 6, S. 404). 184 Nietzsche M, 453, KSA 3, S. 274. 185 Safranski 2013, S. 17. 186 Nietzsche M, 453, KSA 3, S. 274. 187 Vgl. Meyer 1991, S. 249. Das eigene Leben zum Stoff und Gegenstand des Philosophierens zu machen, ist ein wesentliches Charakteristikum von Nietzsches Experimentalphilosophie. Siehe hierzu Kapitel 3.4 der vorliegenden Arbeit.
202 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Im Rahmen der Philosophie Nietzsches, die grundlegend durch eine Distanz zur Wesensphilosophie geprägt ist bzw. zumindest die Erkennbarkeit einer sogenannten ‚wahren Welt‘ der Metaphysik leugnet, wird die Frage nach einem Wesen des Menschen obsolet. Der Mensch sieht sich mit einer im Werden befindenden Wirklichkeit konfrontiert, sein Verlangen nach Idealen und festen Orientierungspunkten bleibt ungestillt. Ebenso muss er in Bezug auf sich selbst anerkennen, dass er dieser prozessualen Welt angehört, ein Teil von ihr ist und keinen Standpunkt außerhalb ihrer einnehmen kann. Es gibt nicht den Menschen, nicht das Ich, kein gleichbleibendes Selbst oder einen unveränderlichen Wesenskern. Der Mensch wird in das Werden hineinversetzt. Ein einheitliches Bild des Lebens kann nicht gezeichnet werden, sondern immer nur mehrere, einzelne und damit per definitionem niemals gleiche Bilder aus einem Leben, denn im „Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein ,Das‘ spiegeln.“188 Erneut wird die Unmöglichkeit, ein einheitliches Bild des Lebens oder des Menschen zu zeichnen, betont. Dies käme dem Versuch eines Systementwurfs gleich und wäre, mit Nietzsche gesprochen, eine Flucht vor der eigentlichen Aufgabe des Lebens- und Selbstentwurfs. Nietzsche selbst lebt eine offene Abenteurerexistenz und jeder Ansatz, sein Denken rückblickend in ein System zu inkludieren, muss zwangsläufig scheitern. Der Nietzsche-Interpret wird, wie Meyer betont, zum Löwenbändiger, der bestimmte Grundtopoi herausarbeiten muss, ohne dabei die Mobilität von Nietzsches Denken vernachlässigen zu dürfen.189 Da sich das Leben als Ganzes sowie die Existenz des einzelnen Menschen im Werden befinden, ist es ebenso unmöglich, ein einheitliches Bild eines individuellen Lebens zu malen oder zu skizzieren. Dies führt zu der prima facie paradox anmutenden Feststellung, dass es strenggenommen auch kein Individuum gibt. Jeder Mensch ist einem ständigen Wandel ausgesetzt, dem er sich nicht entziehen kann. Er selbst ist in jedem Augenblick jemand anderes und ein Individuum – im etymologischen Sinne eines Unteilbaren, eines atomos – kann er allenfalls momenthaft sein. Letztlich sind „seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen“.190 Es gibt kein Selbst, das Einheit und Beständigkeit impliziert, vielmehr müsste von einer Vielzahl an ,Selbsten‘ und ,Ichen‘ die Rede sein, die ein Leben formen, das sich selbst wiederum als Ganzes einer finalen Schließung und Auslegung während der Dauer seiner Existenz entzieht. Insofern kann Nietzsche zu der zunächst – im Kontext seiner Philosophie – widersprüchlich anmutenden
|| 188 Nietzsche MA II, 1, 19, KSA 2, S. 387. 189 Vgl. Meyer 1991, S. 250. 190 Nietzsche NF-1881, 11[156], KSA 9, S. 500f.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 203
These gelangen: „Der Begriff ,Individuum‘ ist falsch.“191 Der Mensch erscheint als ein stets unfertiges Wesen, das seiner Existenz in jedem Augenblick neu ein Ziel, einen Sinn, eine Gestalt geben muss. All das erinnert stark an Kierkegaard. Nietzsche selbst bezeichnet sich in einem Brief an Köselitz als „Aphorismusmensch“.192 In diesem Kontext erscheint Safranskis Umschreibung des Menschen als Dividuum in Abgrenzung zu Individuum gehaltvoll, zumal er darin perspektivisch ein bestimmtes Potenzial einer Nietzscheanischen Anthropologie andeutet: „Der Mensch – das Dividuum – kann und muß sich zu sich selbst verhalten. Er ist kein einstimmiges, sondern ein mehrstimmiges Wesen, das dazu verurteilt ist und zugleich die Chance hat, mit sich selbst Versuche anzustellen.“193 Die hier hervorgehobene Dialektik von Verurteilung und Potenzial bzw. Freiheit des Menschen, die sich aus seiner wiedererlangten Freiheit der Vernunft ergibt, spielt in Sartres oder auch Camusʼ Philosophie eine zentrale Rolle. Sie kündet – gemeinsam mit Kierkegaards Überlegungen – bereits Sartres schon angesprochene Typisierung des zur Freiheit verdammten Menschen an. Im Nachlass findet sich die dazu passende Formulierung, das Ich enthalte eine Mehrzahl von Wesen,194 in der freilich der tradierte Wesensbegriff unterminiert und letztlich ad absurdum geführt wird. Es gibt nicht das Selbst des Menschen, sondern eine Vielzahl an ,Selbsten‘ im Sinne einer Pluralität individueller, durch Selbstauslegung geprägter Lebensweisen.195 So sprach auch schon Kierkegaard von zahllosen Millionen solcher verschiedener ,Selbste‘.196 Nietzsche betont die „Selbstzertheilung des Menschen“ in der Moral unter Rekurs auf den Antagonismus von „dividuum“ und „individuum“.197 Die prinzipielle Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen, sein ,NichtFestgestellt-Sein‘, das paradigmatisch in dem zitierten Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse Ausdruck findet, wirkt zunächst gefahrbringend und nimmt
|| 191 Nietzsche NF-1885, 34[123], KSA 11, S. 462. 192 Nietzsche KSB 6, S. 122. Dazu Meyer 1991, S. 178: „Dabei ist das Aphoristische bei Nietzsche nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein existentielles Problem. Nietzsche lebt eine gleichsam aphoristische Existenz, eine Daseinsform in Bruchstücken und Zuspitzungen.“ Der Mensch ist „das unfertige Wesen, das sich über die eigene Lebensführung gestaltet und darüber die Fülle seines Daseins erfährt“, so Gantschow 2011, S. 203. In einem Brief an Otto Eiser berichtet Nietzsche von seiner „Spaziergehe-Existenz“ (Nietzsche KSB 6, S. 4). 193 Safranski 1997, S. 15. Siehe auch Safranski 2013, S. 15. 194 Vgl. Nietzsche NF-1882, 4[189], KSA 10, S. 165. 195 „Das Selbst ist in dieser Lesart eine Vielzahl“, so Gantschow 2011, S. 178. 196 Vgl. SKS 4, 381 / BA, 79. 197 Nietzsche MA I, 57, KSA 2, S. 76.
204 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
beinahe destruktive Züge an. Dies ergibt sich aus dem heraufziehenden nihilistischen Zeitalter, das mit der Entwertung der alten Werte – zu denen auch das Postulat einer Idee vom Menschen zählt – einhergeht. In Nietzsches Philosophie gehen Destruktion und (Re-)Konstruktion generell Hand in Hand, das wurde uns bereits in seiner Metaphysikkritik und seiner Antwort auf den Nihilismus deutlich. Auf dem Gebiet der Anthropologie begnügt er sich ebenfalls nicht mit einer kritischen Entlarvung tradierter Wesensdefinitionen, sondern entwickelt darauf aufbauend und daraus resultierend einen konstruktiven Ansatz der Selbstgestaltung. Für Peinzger stellt die Figur des freien Geistes die eher kritisch-destruktive Seite der Selbstgestaltung dar, während der Gestalt des Künstlers hingegen der konstruktiv-gestalterische Part und Impuls zukomme.198 Schnell offenbaren sich jedoch neue Perspektiven und Freiheiten, die gerade aus jener prinzipiellen Unbestimmtheit eines Wesens des Menschen resultieren. Es eröffnen sich neue Möglichkeitshorizonte, die bereits die Potenziale einer negativen und existenzphilosophischen Anthropologie andeuten. Georg-Lauer weist darauf hin: „Als das nicht ,festgestellte Tier‘ hat der…Mensch Potenzen, die in seinem metaphysischen Korsett nicht ausgeschöpft werden konnten und verkümmert sind, deshalb ist der Mensch für zukünftige Entwicklungen offen und hat eine unbestimmte Anzahl von Entwicklungsperspektiven.“199 Nun soll unter dem Leitmotiv einer negativen Anthropologie dargelegt werden, inwiefern diese Situation des Menschen als Chance verstanden werden kann. Dass Nietzsches anti-essentialistischer Ansatz an aktuelle Diskurse anschlussfähig ist, zeigt sich allein darin, dass Gerhard Gamm die Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen zum Signum der späten Moderne erhoben hat.200 Der zur Freiheit der Vernunft gelangte Mensch ist vom metaphysischen Korsett befreit, hat sich der alten Werte und Ideale entledigt. Jenes Korsett, das der Mensch zuvor selbst in die Welt hineinprojiziert und sich auferlegt hatte, ist wieder als Illusion entlarvt, und die Welt offenbart sich ihm als ein neues Spektrum an Möglichkeiten ohne präfixierte Ziele und Ideale. In Anlehnung an die drei Verwandlungen des Geistes aus Also sprach Zarathustra ließe sich formulieren, der Weltverlorene gewinnt nun seine Welt wieder.201 Mensch und Dinge sind wieder von der „Knechtschaft unter dem Zwecke“202 erlöst. „Nietzsches Anliegen besteht darin, dem Menschen die Welt zurückzugeben, die er selbstverschuldet an einen
|| 198 Vgl. Peinzger 2018, S. 65. 199 Georg-Lauer 2009, S. 172. 200 Vgl. Gamm 2004, S. 11. 201 Vgl. Nietzsche Za I, „Von den drei Verwandlungen“, KSA 4, S. 31. 202 Nietzsche Za III, „Vor Sonnen-Aufgang“, KSA 4, S. 209.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 205
göttlichen Schöpfer verloren hatte“.203 Die Welt, die der Mensch zuvor durch seinen Glauben an metaphysische Wahrheiten eigens aus der Hand gegeben hat, erobert er sich nun im Zuge einer Emanzipierung der Vernunft von ebenjenen ‚Wahrheiten‘ zurück. Daraus eröffnen sich neue Möglichkeitshorizonte für den einzelnen Existierenden, der nun sein eigenes Leben in der Form eines Kunstwerks selbst gestalten muss. Die Beziehung des Menschen zu seinem höchst eigenen Leben wird vergleichbar mit der eines Künstlers zu seinem Kunstwerk, sein Leben wird zu einer „Experimentalexistenz“.204 Das individuelle Leben als Kunstwerk zu verstehen, lässt Nietzsche in der Gegenwart nicht nur in das Interesse der Existenzphilosophinnen und -philosophen, sondern auch von Denkern wie Foucault rücken. In einem Gespräch mit Dreyfus und Rabinow wirft Foucault folgende Frage auf und verortet sich dabei ganz im Duktus der Philosophie Nietzsches: „[K]önnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein?“205 Die Vorstellung eines Selbst, das sich zuallererst im prozesshaften Lebensvollzug selbst erschafft, wird besonders anschaulich in Nietzsches Variation der delphischen Tempelinschrift ‚Erkenne dich selbst‘ zu ‚Wolle ein Selbst‘, die uns selbstverständlich unmittelbar an Kierkegaards Selbstwahl in Abgrenzung zur Selbsterkenntnis zurückdenken lässt. Dort war, ebenfalls vor dem Hintergrund einer Absage an eine Wesensdefinition des Menschen, in Entweder/Oder von einem ,Sich-selbst-Wählen‘ anstatt eines ,Sich-selbst-Erkennens‘ die Rede.206 Bei Nietzsche heißt es rund 36 Jahre später: „,Wolle ein Selbst.‘ ― Die thätigen erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche ,kenne dich selbst‘, sondern…: wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst.“207 Jene sich selbst Schaffenden sind die Philosophen der Zukunft und die freien Geister. Mit der Formel ,Wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst‘ vermeidet Nietzsche einen Rückgriff auf metaphysische Verankerungen des Selbst und verlagert das ,Wesen‘ des Menschen gänzlich in die Sphäre der individuellen Selbstgestal-
|| 203 Peinzger 2018, S. 62. 204 Meyer 1991, S. 246. Vgl. auch Safranski 1997, S. 18. 205 Foucault 2007, S. 201. Vgl. weiter dazu ibid., S. 202. Nach Schmid 1992, S. 57 zielt Nietzsches Denken unter dem Leitmotiv einer Philosophie als Lebenskunst auf eine Ästhetik der Existenz ab. 206 Vgl. hierzu Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 207 Nietzsche MA II, 1, 366, KSA 2, S. 524. Vgl. hierzu Gantschow 2011, S. 218 sowie Peinzger 2018, S. 60.
206 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
tung, versetzt es in das Werden hinein, und damit erhält das Selbst eine historische Dimension, eine Geschichte208 – genau wie bei Kierkegaard. Was Menschsein bedeutet, ist nicht festgelegt, sondern wird im Werden und Gestalten des eigenen Selbst zuallererst erfahren. Das sokratische ‚Erkenne dich selbst‘ verweist hingegen auf einen reinen Akt der Kontemplation, der ein prädisponiertes Selbst im metaphysischen Sinne lediglich erschließt bzw. erinnert und zudem voraussetzt. Diesen zentralen Unterschied zwischen Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung vermerkt Nietzsche selbst in einem Nachlassfragment: „Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden…[S]ondern u n s s e l b e r m a c h en , aus allen Elementen eine Form g e s t a l t e n — ist die Aufgabe!…Nicht durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir s e l b e r ! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels!“209 Auch bei Nietzsche ist das Selbst kein Abstraktum, sondern ein Konkretum, eingebettet in einen zeitlichen Handlungsrahmen.210 Zum einen werden hier Gedanken Søren Kierkegaards fortgeführt, zum anderen ist zu bemerken, dass Nietzsche auch in seinen anthropologischen Reflexionen Kierkegaards Philosophie radikalisiert und zuspitzt – wie dies schon in seiner Metaphysikkritik der Fall war. Dies hebt Johannes Heinrich am Rande hervor, der in einer umfassenden Studie zu Nietzsches Verständnis der Subjektivität u.a. der Dekonstruktion des historisch tradierten Subjektbegriffs durch Kierkegaard und Nietzsche nachgeht. Bei Kierkegaard, welcher der Terminologie des Deutschen Idealismus verhaftet bleibt, ist des Öfteren noch die Rede von ‚Ichheit‘, ‚Selbstbewusstsein‘ und ‚Reflexion‘. Diese Termini tragen noch Züge des traditionellen Subjektbegriffs, während sie bei Nietzsche nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, insofern er sie als bloße Funktionen des Leibes betrachtet und das Subjekt somit noch einmal verstärkt in ein Werden hineinversetzt.211
|| 208 Insofern das Selbst geschichtlich ist, entzieht es sich jeder Definition: „[D]efinirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“, so Nietzsche in GM II, 13, KSA 5, S. 317. „Kurz: der Mensch ist nicht Natur, sondern er hat…Geschichte“, so Ortega y Gasset 1952, S. 71. 209 Nietzsche NF-1880, 7[213], KSA 9, S. 361. Zu diesem Fragment hält Schmid 1992, S. 53 treffend fest: „Statt sein Selbst zu suchen oder es den Praktiken der Normierung zu überlassen, kommt es darauf an, es selbst erst herzustellen.“ 210 So hält Miles 2013a, S. 237 fest: „[F]or Nietzsche…a self is not the disconnected, disembodied subject of Enlightenment thought but is rather the embodiment of everything that established it.“ 211 Vgl. hierzu Heinrich 2018, S. 11. Dieses Festhalten an der Terminologie der Deutschen Idealisten durch Kierkegaard, das mehrfach in Kapitel 2.1 angesprochen wurde, merkt auch Tugendhat 1993, S. 158 an. Miles 2007, S. 463 betont, dass sich Kierkegaards und Nietzsches Selbstbegriff von den tradierten Selbstkonzepten der westlichen Philosophietradition absetzt.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 207
Wenn es einer Anthropologie aber nicht mehr darum geht, ein Wesen des Menschen zu ergründen, welche Funktion kann und soll ihr dann noch zukommen? Kann überhaupt von einer gehaltvollen Anthropologie bei Nietzsche die Rede sein? Letztlich geht es ihr darum, diverse Typen des Menschen bzw. der Existenzund Lebensweisen zu thematisieren, zu skizzieren und zu exemplifizieren. Hier möchte ich an Bertinos und Stegmaiers Verständnis der Anthropologie als einer Typologie212 anknüpfen und es um den Gedanken einer negativen Anthropologie, die die Unbestimmbarkeit eines menschlichen Wesens mit Nachdruck betont und ins Zentrum rückt, anreichern. Bertino und Stegmaier verstehen unter Typologien „unterschiedlichen Erfahrungen abgewonnene versuchsweise ,Feststellungen‘; sie können jederzeit revidiert werden.“213 Nietzsche versucht nicht, den Menschen erneut ,festzustellen‘, die alten objektiven Ideale und Definitionen lediglich durch neue zu ersetzen. Die Existenz des Einzelnen hat, da sie einem ständigen Werden unterliegt, jeden Augenblick neu zu gelingen. Dem zur Freiheit der Vernunft gelangten Menschen wächst die Aufgabe zu, sein Leben immer wieder neu zu gestalten und zu entwerfen. Sein Leben wird zum Kunstwerk und er wiederum zum Gestalter seines eigenen unverwechselbaren Selbst. Dem Philosophen kann es einzig darum bestellt sein, unterschiedliche Lebensweisen zur Schau zu stellen und eine Typologie möglicher menschlicher Seinsweisen zu präsentieren, wobei eine solche naturgemäß nie abgeschlossen sein und Vollständigkeit beanspruchen kann. Diverse mögliche Lebensmodi werden so in ihrem Prozess beschrieben.214 „Meine Richtung der K u n s t : nicht dort weiter dichten, wo die G r e n z e n sind! sondern die Z u k u n f t des Menschen! Viele B i l d e r müssen da sein, nach denen g e l e b t werden kann!“,215 lesen wir in Nietzsches Nachlass aus der Entstehungszeit von Also sprach Zarathustra. Kein neues Telos oder neues Ideal wird dem Menschen vorgegeben, sondern mehrere mögliche, egalitäre Ziele werden angeführt. Zarathustra antwortet denen, die ihn nach dem Wege fragen: „,Das ― ist nun m e i n Weg, — wo ist der eure?‘…D e n Weg nämlich — den giebt es nicht!“216 Das erinnert an Kierkegaards Antwort auf die Frage, ob man so leben solle wie er.217 Die Verwandlungen des Geistes aus Also sprach Zarathustra sowie die vermeintlichen Konzepte von ,freier Geist‘ und ,Übermensch‘ || 212 Vgl. Bertino und Stegmaier 2018, S. 262f. 213 Ibid., S. 262. 214 „Il s’agit d’esquisser une forme-figure, en montrant comment elle se fait“, so Choulet 1999, S. 70. Vgl. auch ibid., S. 74. 215 Nietzsche NF-1882, 4[265], KSA 10, S. 183. 216 Nietzsche Za III, „Vom Geist der Schwere“ 2, KSA 4, S. 245. 217 Siehe hierzu S. 87f. der vorliegenden Arbeit.
208 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
sind so als diverse Typen möglicher Existenz ausdeutbar und nicht als neue Ideale des Menschseins zu verstehen – sie können sogar als deren Gegenteil und ein Konterkarieren fester Musterbilder interpretiert werden.218 „Was mich angeht, das ist das…Problem der Rangordnung zwischen menschlichen Typen“,219 so Nietzsche.
Der ‚Übermensch‘ als ‚Anti-Lehre‘ Die sogenannten ,Lehren‘ Zarathustras (vom Tod Gottes, vom Übermenschen, vom Schaffen, vom Willen zur Macht, von der ewigen Wiederkunft des Gleichen) haben innerhalb der Nietzsche-Forschung eine breite Debatte evoziert und unterschiedlichste Interpretationen nach sich gezogen. Mitunter wurden sie als ,AntiLehren‘ gedeutet; diese Position vertritt Werner Stegmaier, der unter einer ,AntiLehre‘ eine Lehre gegen das Lehren überhaupt versteht, d.h. es handelt sich um „Lehren, die die Unmöglichkeit des Lehrens über die Distanz im Verstehen hinweg deutlich machen.“220 Wir möchten uns der Anti-Lehren-Interpretation im Hinblick auf den Übermenschen für unsere Überlegungen zur Anthropologie Nietzsches bedienen. So soll dafür plädiert und argumentiert werden, dass Nietzsche gerade nicht beabsichtigt, neue Idealtypen des Menschseins zu fixieren oder als objektiv und ein für alle anzustrebendes Ziel zu konzipieren. Um diese Auslegung zu untermauern, sei exemplarisch ein Exkurs im Rahmen der hiesigen Überlegungen zu Nietzsches Konzept des Übermenschen gestattet, das prima facie einer solchen Nietzsche-Deutung entgegenzulaufen und -zustehen scheint. Mit Werner Stegmaier221 schließe ich mich der Auslegung der sogenannten ,Lehre‘ vom Übermenschen, verstanden als eine Anti-Lehre im Sinne eines Einwandes gegen einen Begriff vom Menschen überhaupt, an. Zugestandenermaßen liegt eine solche Lesart der Übermenschenkonzeption nicht unmittelbar auf der Hand. Sicherlich ist es angemessen, den Übermenschen in Also sprach Zarathustra als eine Art Antwort auf den Nihilismus zu verstehen. „T o d t s i n d a l l e G ö t t er : n u n w o l l e n w i r ,
|| 218 Vgl. hierzu Georg 2018a, S. 96. Sie verknüpft die Vorstellungen ‚freier Geist‘ und ‚Übermensch‘ mit dem Motiv der Wanderung. 219 Nietzsche NF-1888, 15[120], KSA 13, S. 481. 220 Stegmaier 2000a, S. 194. Zur Auslegung der ,Lehren‘ Zarathustras als ,Anti-Lehren‘ vgl. ibid., S. 191–224 sowie Stegmaier 2013, S. 160f. 221 Vgl. Stegmaier 2000a, S. 209–211. Vgl. auch Nietzsche Za II, „Von der Selbst-Ueberwindung“, KSA 4, S. 146–149.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 209
d a s s d e r Ü b e r m e n s c h l e b e “222 oder: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“,223 heißt es dort. All dies sind Äußerungen, die den Übermenschen zum einen als einen neuen Orientierungspunkt nach dem Tode Gottes – Sinnbild für den Nihilismus – erscheinen lassen. Zum anderen legt der Begriff ‚Übermensch‘ als solcher nahe, ihn als einen neuen, allgemeinen Begriff vom Menschen zu verstehen, der über den alten hinausweist und gewissermaßen als neues Ideal die Stelle und Funktion des alten Gottes einnimmt. Entwirft Nietzsche etwa doch ein neues Idealbild des Menschen? Dass dem nicht so ist, legt eine Bemerkung von Nietzsche selbst nahe. Er registrierte schon zu seinen Lebzeiten, dass sein Konzept des Übermenschen fälschlicherweise im Sinne eines neuen Menschentypus verstanden wurde. So wurde seine Lehre vom Übermenschen biologisch-darwinistisch gedeutet. Gegen diese Interpretation wandte sich allerdings schon Nietzsche selbst in aller Deutlichkeit: Das Wort ,Übermensch‘ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu ,modernen‘ Menschen, zu ,guten‘ Menschen, zu Christen und andren Nihilisten — ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird, ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werthe verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustra’s zur Erscheinung gebracht worden ist, will sagen als ,idealistischer‘ Typus einer höheren Art Mensch, halb ,Heiliger‘, halb ,Genie‘…Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt.224
Nietzsche schwebt keine Züchtung einer neuen Art Mensch vor. Im Gesamtkontext seiner Philosophie, die mit Nachdruck einen metaphysikkritischen Anti-Essentialismus sowie einen Anti-Dogmatismus225 vertritt, ist eine Deutung der Übermenschenkonzeption als Anti-Lehre umso plausibler. Spricht Nietzsche von einer Überwindung des Menschen, so handelt es sich dabei vielmehr um eine Überwindung und ein Hinter-sich-Lassen eines allgemeinen Begriffs des Menschen:
|| 222 Nietzsche Za I, „Von der schenkenden Tugend“ 3, KSA 4, S. 102. 223 Nietzsche Za I, „Vorrede“ 3, KSA 4, S. 14. 224 Nietzsche EH, „Warum ich so gute Bücher schreibe“ 1, KSA 6, S. 300. Vgl. ferner Nietzsche NF-1888, 15[120], KSA 13, S. 481. 225 Auch für Schacht 2006, S. 121 gilt für Nietzsches Anthropologie wie für sein Denken im Allgemeinen, dass sie sich gerade durch ihre Offenheit und ihren nicht-dogmatischen Charakter auszeichnen.
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[W]enn also ‚der Mensch‘ ,überwunden werden soll‘, müssen solche Begriffe, solche Lehren vom Menschen überwunden werden. Als Anti-Lehre verstanden ist der Gedanke des Übermenschen die Überwindung des Begriffs des Menschen überhaupt...Der Gedanke des Übermenschen…wäre der Gedanke von Menschen über alle Normierung hinaus.226
Das Präfix ‚Über‘ ließe sich zudem als ständige Selbstüberwindung des einzelnen Menschen begreifen, der – ganz im Sinne unserer Überlegungen zu einer negativen Anthropologie bei Nietzsche – sich in jedem Moment neu erschafft und sich selbst ein Ziel geben muss. Der einzelne Mensch bewegt sich eben vor dem Hintergrund der metaphysikkritischen Prämissen Nietzsches jenseits jeder Normierung und Feststellung. Vor allem hierin besteht die zentrale und philosophiegeschichtlich wegweisende Dimension seines Gedankens vom Übermenschen. Der Mensch muss ständig über sich selbst hinausgehen. Gerade darin schlummern die Potenziale dieser negativen Anthropologie, wie wir nun sehen werden.227 Diese Potenziale verfestigen sich im existenzialistischen Menschenbild eines Camus oder Sartre. Im Zuge einer Philosophie als Lebensform möchte Nietzsche die Menschen zu einem Individuum-Werden animieren. Vor dem Hintergrund der Förderung von Individualität und Subjektivität ist, ähnlich wie bei Kierkegaard, Nietzsches Kritik an der Menge zu verstehen. Er möchte den Menschen geradezu ihren allgemeinen Charakter nehmen. Wäre der Übermensch ein neuer Allgemeinbegriff, ein neuer Zweck oder ein neues Ziel für den Menschen, würde das dem Anspruch, die Menschen in ihrer Ausbildung von Individualität und Einzigartigkeit zu bestärken, zuwiderlaufen: „[D]en Zweck des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, a l l g e m e i n zu werden.“228 Wir werden hier nicht mit einem neuen Artbegriff konfrontiert, sondern vielmehr mit einer Befreiung der Individuen.229 Wie Kierkegaard vor ihm, so geht es auch Nietzsche darum, die Menschen zu Einzelnen zu machen und sie dazu zu bringen, sich von der Menge loszulösen. Zarathustra deutet seine Aufgabe demnach wie folgt: „Viele wegzulocken von der Heerde ― dazu kam ich.“230
|| 226 Stegmaier 2000a, S. 211. 227 Nietzsche geht es nicht um ein darwinistisches Modell, sondern „um den Appell an jeden Einzelnen, sich selber im permanenten Bemühen um Lebenssteigerung durch Kultivierung der nicht-rationalen Antriebe und durch das Ausschöpfen aller individueller kreativen Potentiale zu verwirklichen“, so Salamun 2012, S. 74. Auch Brock 2018, S. 192 macht darauf aufmerksam, dass die Vorsilbe ‚Über‘ auf eine ständige Selbstüberwindung des Einzelnen hinweist, die kein Ende kennt. 228 Nietzsche NF-1880, 6[158], KSA 9, S. 237. 229 Vgl. Bertino und Stegmaier 2018, S. 250. 230 Nietzsche Za I, „Vorrede“ 9, KSA 4, S. 25.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 211
Würde es trotz alldem darauf ankommen, ein Ziel zu formulieren, so könnte ein solches nur in der rein formalen Aufforderung Nietzsches nach einer „fortgesetzte[n] ,Selbst-Überwindung des Menschen‘“231 liegen, die nur in einer rastlosen Wanderschaft ihre Erfüllung finden kann. Oliver Immel plädiert ebenfalls dafür, die Selbstüberwindung lediglich als formale anthropologische Struktur zu begreifen, die sich bewusst von jeder inhaltlichen Bestimmung distanziert.232 Diese Interpretation kann ebenso durch Nietzsches Diktum, nach welchem die Form an die Stelle des Inhalts treten soll, gestützt werden und zwar nicht zuletzt dadurch, dass er diesen Anspruch selbst auf die Existenz bezieht, worauf Wilhelm Schmid aufmerksam gemacht hat.233 Zudem lässt Nietzsche seinen Zarathustra sagen: „Und diess Geheimniss redete das Leben zu mir. ,Siehe, sprach es, ich bin das, w a s s i c h i m m er s e l b e r ü b er w i n d e n m u s s .“234 Die Lehre vom Übermenschen tritt als eine Lehre des immer wieder Über-sich-Hinauswachsens in Erscheinung und verkörpert geradezu die grundlegende These einer negativen Anthropologie, nämlich das NichtFestgestellt-Sein des Menschen. Rückblickend auf die eben zitierte Passage aus Also sprach Zarathustra, in der der Übermensch als neuer Sinn der Erde ausgerufen wird, lässt sich festhalten: „Ist der Übermensch der ,Sinn der Erde‘, wie Nietzsches Zarathustra behauptet, so vermag nur das Streben über sich selbst hinaus Sinn zu generieren.“235 Jemand, der wie der Übermensch immer wieder über sich hinaus wachsen und streben soll, darf erst gar nicht nach einem Ziel, verstanden als ein Endziel, Ausschau halten, da dies Stillstand implizieren würde.236 Ein Streben über sich selbst hinaus, das eben jeder Einzelne für sich zu realisieren hat und nicht die Art Mensch als solche. Mit dem Konzept des Übermenschen richtet Nietzsche eine Forderung an den Einzelnen.237 Der durch den Übermenschen postulierte Sinn der Erde kann nur ein subjektiver Sinn sein, verkörpert durch die Ideale und Ziele, die sich das jeweilige Subjekt selbst gesetzt hat. Somit steht – im Übrigen ganz im Einklang mit Nietzsches erkenntnistheoretischem Perspektivismus – dieser neue Sinn im Plural. Es gibt schier unendlich viele mögliche Ziele und Lebensmodi, deren Gültigkeit fernab
|| 231 Nietzsche JGB, 257, KSA 5, S. 205. 232 Vgl. Immel 2004, S. 331. 233 Vgl. Schmid 1992, S. 53. Siehe dazu Nietzsche NF-1887, 11[3], KSA 13, S. 9f. 234 Nietzsche Za II, „Von der Selbst-Ueberwindung“, KSA 4, S. 148. 235 Immel 2004, S. 333. 236 Vgl. Brock 2015, S. 286. Stillstand wird dort als der Tod des Übermenschen bezeichnet. 237 Vgl. auch Joisten 2002, S. 35 und S. 37.
212 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
des Objektiven liegt.238 Nietzsches Plädoyer ist eines für einen Menschen, der keinen allgemeingültigen Anspruch auf Wahrheit mehr erhebt, sondern nach persönlichen Wahrheiten trachtet, die er je für sich zu konkretisieren und umzusetzen hat. Die Lücke objektiver Wahrheiten wird gefüllt durch eigene, neu zu erschaffende subjektive Werte.239 In diesem Sinne lassen sich auch die freien Geister Nietzsches interpretieren, deren nie zu einem Ende kommender Erkenntnisprozess zu einer psychologischen Entdeckungsreise wird – um in der Abenteurer-Metaphorik Nietzsches zu bleiben. Der Mensch ist bereit für eine ständige Selbsttranszendierung.240 Einmal mehr zeigt sich, inwiefern Nietzsche zum Vorreiter existenzialistischer Anthropologie wurde. So kommt es dem Existenzialismus Sartrescher Ausbuchstabierung im Besonderen darauf an, sich „die Konzeption der Existenz als einer ständigen Selbst-Übersteigung und Überbietung des je Gegebenen“241 zu erschließen. Diese Erläuterungen dürften genügen, um nahezulegen, dass auch die Lehre vom Übermenschen einer Redeweise von einer negativen Anthropologie bei Nietzsche, die gerade ein Gegenentwurf zu positiv bestimmbaren Idealbildern des Menschseins ist, nicht zuwiderläuft. In diesem Sinne haben wir es bei ihm mit einer anti-essentialistischen Lehre vom Menschen zu tun – wie schon bei Kierkegaard. Der Mensch wird im Verständnis Nietzsches buchstäblich erlöst vom angesprochenen metaphysischen Korsett, nun ist es ihm möglich, ein einzelner existierender Mensch zu werden. Inwiefern kann nun Nietzsches negative Anthropologie als Chance begriffen werden? Nietzsches anthropologische Betrachtungen kommen mit zwei minimalen Grundannahmen242 bzw. Prämissen aus und stechen damit durch eine gewisse metaphysische Schlichtheit hervor, die gerade im Kontext des sogenannten postmetaphysischen Zeitalters auf breite Zustimmung stoßen durfte und weiterhin darf. Zum einen ist der Mensch das „n o c h n i c h t f e s t g es t e l l t e T h i er “243 und zum anderen „d a s kranke Thier“.244 In beiden Fällen wird der Mensch über das
|| 238 Vgl. Würger-Donitza 2010, S. 95. 239 Vgl. Pieper 2014, S. 24. 240 Vgl. Neymeyr 2012, S. 78. 241 Galle 1994, S. 11. 242 Vgl. Bertino und Stegmaier 2018, S. 254. Vgl. Nietzsche AC, 14, KSA 6, S. 180f. 243 Nietzsche JGB, 62, KSA 5, S. 81. 244 Nietzsche GM III, 13, KSA 5, S. 367.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 213
und in Abgrenzung zum Tier gewissermaßen ,bestimmt‘,245 wobei ,bestimmen‘ hier eher im Sinne von umschreiben als fixieren zu verstehen ist. Der Mensch ist nicht festgestellt, insofern er als Kulturschaffender die Möglichkeit hat, sich selbst zumindest momentweise ‚festzustellen‘ und ein Selbst hervorzubringen. Noch nicht festgestellt ist er, da seine Zukunft offen ist, vielleicht wird er es einmal sein, vielleicht auch nicht. Diese Frage muss für die Dauer seiner Existenz unbeantwortet bleiben, da der Mensch dem Werden unterliegt. Das ,Noch‘ verweist somit auf die Radikalität der Offenheit und der Nicht-Festgelegtheit des Menschen selbst, insofern diese soweit reicht, dass noch nicht einmal die Unfestgestelltheit selbst festgelegt ist.246 Der Mensch ist das kranke Tier, d.h. nicht gesund, da er durch sein NichtFestgestellt-Sein im Unterschied zum Tier in seiner Instinktfähigkeit anfällig ist.247 Dies scheint prima facie ein Mangel und aus biologischer Sicht mitunter sogar eine Krankheit oder ein Defizit zu sein. Aus philosophischer Perspektive können jedoch beide Grundannahmen, die sich gegenseitig bedingen, als Potenziale gedeutet werden: Sein Nicht-Festgestellt-Sein bietet dem Menschen gerade die Chance zur kulturellen Selbstschöpfung, zur individuellen Selbstbestimmung und -entwicklung, ja zu einem kreativen Leben.248 Letztlich wird er durch und in seiner Unbestimmtheit gerade zu einem freien Wesen. Eine klassische Wesensdefinition würde den Menschen hingegen in diesen Möglichkeiten und Freiheiten der Selbstgestaltung massiv beschränken und eingrenzen. Des Weiteren sind beide Prämissen ex negativo formuliert: Der Mensch ist nicht festgestellt und krank, d.h. nicht gesund. Zudem handelt es sich um keine Bestimmungen des Seins, sondern des Werdens, sie implizieren einmal mehr die Notwendigkeit des historischen Philosophierens, das zeigt, dass auch der Mensch geworden und es lediglich eine Selbsttäuschung bzw. ein Selbstbetrug des Großteils der abendländischen Philosophie ist, von dem Menschen als einer „aeterna veritas“249 zu sprechen. Expressis verbis setzt Nietzsche das historische Philosophieren der metaphysischen Philosophie entgegen. Nietzsches Reflexionen über den Menschen geben uns keinen Aufschluss darüber, was der Mensch ist, sie können uns höchstens darlegen, was er nicht ist
|| 245 Dem Versuch einer Bestimmung des Menschen im Vergleich zum Tier geht Geisenhanslüke 1999 in Bezug auf die Texte Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne nach. 246 Darauf weist auch Brock 2015, S. 317 en passant hin. 247 Vgl. Bertino und Stegmaier 2018, S. 254. 248 Vgl. ibid., S. 256f. 249 Nietzsche MA I, 2, KSA 2, S. 24.
214 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
und andeuten, was er sein könnte. Diese ex-negativo-,Bestimmungen‘ bzw. Umschreibungen des Menschen lassen Nietzsche als einen Vertreter einer negativen Anthropologie im weiten Sinne, d.h. der Auffassung des Menschen als ein Möglichkeitswesen, das sich jeder inhaltlichen Wesensbestimmung entzieht,250 dastehen. Gerade in der Existenzphilosophie wurde die Bezeichnung des Menschen als ein Wesen, das sich auf zukünftige Möglichkeiten hin entwirft, zum anthropologischen Leitmotiv. Als jemand, der die prinzipielle Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen wiederholt akzentuiert, hebt Nietzsche die Chancen einer solchen Anthropologie hervor. Der Einzelne hat eine offene Zukunft, einen Spielraum der eigenen kreativen und schöpferischen Selbstbestimmung, die schier unendliche Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens eröffnet ihm unvorhersehbare Möglichkeiten und ungeahnte Potenziale. Die Entwertung der alten Werte birgt für den Menschen zwar Gefahren, aber aus der Sicht Nietzsches umso mehr neue Chancen. In beinahe poetischer Sprache wird gegen Ende des ersten Teils von Menschliches, Allzumenschliches das Entgelt des Wanderers beschrieben: „[D]ie wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht“.251 Nietzsches anthropologischen Ansatz als eine Anthropologie des Negativen zu charakterisieren, scheint vor allem geeignet, um dessen Potenzialität und Aktualität zu exponieren. Des Weiteren kann durchaus von einer anspruchsvollen sowie gehaltvollen Anthropologie bei Nietzsche gesprochen werden – entgegen anderer Ausführungen, die von der Unmöglichkeit einer Anthropologie bei Nietzsche ausgehen, wobei diese jedoch ,Anthropologie‘ eher als eine allgemeingültige, positive Bestimmungen treffende Lehre vom Menschen verstehen.252 Am Exempel Nietzsches zeigt sich geradezu, dass eine Anthropologie keine positive
|| 250 Zu diesem Verständnis einer negativen Anthropologie vgl. Würger-Donitza 2003, S. 12f. 251 Nietzsche MA I, 638, KSA 2, S. 363. „Als Resultat des wissenschaftlich-aufklärerischen Bildungsprogramms von MA stellt sich N[ietzsche] am Ende des Werkes selbst als W[anderer] in der Wüste der Erkenntnis dar“, so Meyer 2011, S. 412. 252 Bertino und Stegmaier 2018, S. 254 sprechen so eher von einer Anthropologiekritik als von einer Anthropologie bei Nietzsche: „[U]nd eben das macht eine Anthropologie, eine allgemeingültige Lehre vom Menschen, problematisch, wenn nicht unmöglich. Anthropologie ist dann immer zugleich Anthropologiekritik.“ Diese Argumentation wird unter dem Leitfaden ‚Anthropologiekritik (fast) ohne Anthropologie‘ entwickelt, wobei erneut schnell deutlich wird, dass beide ‚Anthropologie‘ dabei als eine positive Wesensbestimmungen des Menschen vornehmende Lehre verstehen. Vgl. dazu ibid., S. 252.
Der Mensch, ein Wanderer ohne Ziel – eine negative Anthropologie | 215
und allgemeingültige Definition des Menschen formulieren muss, um einen gehaltvollen Beitrag zum Rätsel253 ,Mensch‘ beizusteuern. So wird Nietzsches Anthropologie zu einer „anthropologie sans ,homme‘, où l’,homme‘ est remplacé par la contingence de l’invention des formes.“254 Nietzsche stößt auf dem Gebiet der Anthropologie Gedanken an, die – und das ist für ihn charakteristisch – zwar zu seiner Zeit noch unzeitgemäß schienen, aber gerade im postmetaphysischen Zeitalter des 20. Jahrhunderts immer mehr an Relevanz gewannen und prägend wurden. Sie beeinflussten die Vorstellung vom Menschen als einem zukunfts- sowie wesensoffenen Geschöpf. Diese Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen wurde zum Zeichen der Moderne,255 das vielleicht in Sartres Existenzialismus mit seiner bekannten anthropologischen These des Primats der Existenz vor der Essenz eine seiner radikalsten Ausformulierungen fand. Die Grundzüge der Betrachtungen Nietzsches über den Menschen – seine Absage an Letztbegründungen jeglicher Art, die kennzeichnend für seinen metaphysikkritischen Anti-Essentialismus ist und in seiner Anthropologie besondere Valenz erfährt; die Fokussierung auf den einzelnen sich im Werden befindenden Menschen; die Metapher des Wanderers ohne Ziel; das Leben als Experiment und Kunstwerk; das Selbst als Vielzahl – rücken ihn letztlich in die Nähe und lassen ihn in dieser Hinsicht zum Vorläufer existenzialistischer Anthropologie werden. Wird Nietzsches Übermensch gerade als eine Überwindung des Seins im Hinblick auf den Menschen interpretiert, so nimmt er einen entscheidenden Gedanken des Existenzialismus vorweg: „Anticipant le thème existentialiste de la sortie de soi-même de l’être humain, Nietzsche réalise par avance le vœu de Francis Ponge – dont Sartre a maintes fois fait l’éloge –, selon lequel, l’homme est l’avenir de l’homme.“256 Insbesondere das Motiv, dass der Mensch nicht festgestellt ist, dass kein vorab gegebenes Resultat als seine Essenz angesehen wird, sondern seine ,Essenz‘ letztlich das Ergebnis seiner Freiheit ist, lässt Nietzsche zum Vordenker existenzialistischer Anthropologie werden. Die Wanderer-Metapher als Ausdruck eines ästhetisch-existenziellen Perspektivismus verweist zudem auf die Vielfalt an Existenzmodi und Lebensweisen, die in der existenzialistischen Literatur u.a. anhand von Romanfiguren bebildert wird. Nietzsches Topos des Unterwegsseins erfährt bei Sartre Widerhall, der in einem
|| 253 In einer sich im Werden befindenden Wirklichkeit ist auch der Mensch kein Fixpunkt mehr, er wird immer mehr zu einem Rätsel denn zu einer Lösung. Vgl. hierzu Choulet 1999, S. 70. 254 Choulet 1999, S. 68. „Mit dieser Negativ-Bestimmung des Menschen legt er [Nietzsche] den Finger auf die prinzipielle Formbarkeit und hohe Fluidität des Menschen“, so Brock 2018, S. 190. 255 Vgl. Gamm 2004, S. 11. 256 Huisman 2005, S. 23.
216 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Interview von 1945 zur Position des Existenzialismus erläutert: „Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, der den Menschen zu seinem Heil führt. Er muss sich seinen Weg ständig selbst erfinden.“257 Interessanterweise greift der spanische Denker Ortega y Gasset, der sowohl der Lebens- als auch der Existenzphilosophie nahesteht, die Chance einer solchen Anthropologie ebenso unter dem Motiv des Wanderers auf: Der Mensch als Pilgrim des Seins, er ist substantiell ein Wanderer. Deshalb hat es keinen Sinn, dem, was der Mensch zu sein in der Lage ist, Grenzen zu setzen. In dieser prinzipiellen Unbeschränktheit seiner Möglichkeiten, die dem eigen ist, der keine Natur hat, gibt es nur eine feste Linie, die von vornherein festgelegt und gegeben ist und die uns orientieren kann: die Vergangenheit.258
Wie schon bei Kierkegaard deuten auch bei Nietzsche die anthropologischen Aussagen auf eine ethische Dimension hin. Im Kontext von Nietzsches Auffassung der Existenz als Kunstwerk zeigt sich, dass sein Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen insbesondere im Rahmen ethischer Fragestellung für die Existenzphilosophie bedeutend war. Diesem Aspekt möchten wir nun weiter nachgehen.
3.3 Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen Du sollst Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden.259
Die ewige Wiederkunft des Gleichen gehört zu den wohl umstrittensten und meist diskutierten ‚Lehren‘ der Nietzsche-Forschung. Im veröffentlichten Werk findet sich der Gedanke zum ersten Mal in der Fröhlichen Wissenschaft und dort am eindrucksvollsten im berühmten Aphorismus 341,260 der gleichsam den Zarathustra ankündigt und somit den Gedanken auch in eine direkte Beziehung zu diesem
|| 257 Sartre 1991, S. 1913 (meine Übers.). 258 Ortega y Gasset 1952, S. 70. 259 Nietzsche MA I, „Vorrede“ 6, KSA 2, S. 20. 260 Der Wiederkunftgedanke findet sich auch schon an einer etwas früheren Stelle der Fröhlichen Wissenschaft. Siehe hierzu Nietzsche FW, 285, KSA 3, S. 527. In der Literatur wird häufig auch von ‚Wiederkehr‘ statt ‚Wiederkunft‘ gesprochen. Da Nietzsche selbst jedoch an den meisten und einschlägigsten Stellen von einer ‚Wiederkunft‘ spricht, wird hier ausschließlich das Wort ‚Wiederkunft‘ verwendet.
Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen | 217
prosaischen Werk setzt. An dieser Stelle der Arbeit kann naturgemäß keine Detailstudie zur werkimmanenten Entstehung des Gedankens bei Nietzsche erfolgen. Allerdings ist zu betonen, dass auch wenn jenes Motiv verstärkt erst in Die fröhliche Wissenschaft und Also sprach Zarathustra prominent wird, es sich bereits in unterschiedlichen Nuancierungen zumindest in den Fragmenten früherer Jahre findet. An gegebener Stelle werden wir auf solche zurückkommen. Wie üblich und aufgrund seiner herausragenden Bedeutung sei nun zunächst ein etwas längerer Auszug aus dem oben genannten Aphorismus zitiert, eine Interpretation im Rahmen unseres Vorhabens wird im Anschluss daran erfolgen. D a s g r ö s s t e S c h w e r g e w i c h t . — Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge…‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem ,willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts m e h r z u v e r l a n g e n , als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? —261
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen hat im Wesentlichen vier verschiedene Interpretationen bzw. Lesarten nach sich gezogen.262 Er ist mal als metaphysisch-kosmologisches Welterklärungsprinzip, mal politisch, mal als eine Anti-Lehre und schließlich aus der Perspektive einer ethischen Lesart ausgelegt worden. Als prominente Vertreter, die eine metaphysisch-kosmologische Dimension stark machen, können u.a. Karl Löwith und Martin Heidegger263 genannt werden. Das Naheliegende dieses Ansatzes bedarf zunächst keiner weiteren Erläuterungen. Meistens stützen sich die Interpreten dabei auf die im Nachlass enthaltenen Versuche, die Lehre im Nachhinein durch naturwissenschaftliche Theorien zu untermauern.264 Dem politischen Aspekt der ewigen Wiederkunft ist u.a.
|| 261 Nietzsche FW, 341, KSA 3, S. 570. 262 Einen Überblick zur Entstehungsgeschichte, zur Entwicklung und auch zu den diversen Interpretationen der ewigen Wiederkunft bietet Skirl 2011. Vgl. des Weiteren Niemeyer 2011, S. 105–109 und Nehamas 2012, S. 199–236, der vor allem die kosmologische Deutung ausführlich behandelt. Die Interpretation im Sinne einer Anti-Lehre wird bei den genannten Interpreten jedoch nicht diskutiert. Hierzu siehe Stegmaier 2013, S. 164–167. 263 Vgl. Löwith 1986. Heidegger geht dem in seinen Vorlesungen Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen nach. 264 Das wohl bekannteste Beispiel dafür findet sich in Nietzsche NF-1885, 38[12], KSA 11, S. 610f.
218 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Pierre Klossowski265 nachgegangen. Politische Ausdeutungen sehen in der Lehre eine Selektionsdoktrin zur Züchtung einer neuen Kaste von Menschen. Dem Konzept der Anti-Lehre sind wir im vorherigen Kapitel bereits anhand von Nietzsches Vorstellung des Übermenschen begegnet.266 Wie dort vertritt Stegmaier auch mit Blick auf die ewige Wiederkunft eine solche Interpretation. Die ewige Wiederkunft wird so zu einer Lehre gegen substanztheoretische Metaphysikkonzepte, die von einer Beständigkeit und Unveränderlichkeit grundlegender Seinsstrukturen ausgehen. Wir wollen unser Hauptaugenmerk auf die ethische Lesart richten, da eine solche, wie wir nun sehen werden, im Kontext einer existenzialistischen Auslegung von Nietzsches Schriften von zentraler Bedeutung ist. Keinesfalls sollen dadurch die anderen Interpretationen gänzlich zurückgewiesen werden. Meine These ist jedoch, dass zum einen für die Lesart eines ‚existenziellen‘ Nietzsche und zum anderen für die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Nietzsches auf die und in der Existenzphilosophie eine auf die ethischen Aspekte des Gedankens fokussierte Auslegung die naheliegendste und ergiebigste zu sein scheint. Hinzu kommt, dass eine metaphysisch-kosmologische Interpretation den gewichtigen anti-essentialistischen Zügen der Nietzscheschen Philosophie zuwiderlaufen würde.267 Demnach ist zu klären, (1) was unter einer ethischen Lesart der ewigen Wiederkunft zu verstehen ist, und (2) inwiefern eine solche die Charakterisierung Nietzsches als Initialfigur des Existenzialismus bestärkt. Dafür werden wir uns primär auf zwei Aphorismen aus der Fröhlichen Wissenschaft, zum einen auf den bekannten Aphorismus 341 und zum anderen auf den Aphorismus 335 sowie auf die Passage „Vom Gesicht und Räthsel“ aus der Zarathustra-Dichtung beziehen. Ergänzend werden Stellen aus dem Nachlass des Jahres 1881 hinzugezogen – ebenjenem Jahr der Konzeption und Entstehung der Fröhlichen Wissenschaft und der Figur des Zarathustra: „Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundconception des Werks, der E w i g e - W i e d er k u n f t s -G e d a n k e , diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann —, gehört in den August des Jahres 1881: Er ist auf ein Blatt hingeworfen“.268 Hier kommen sowohl die Plötzlichkeit eines Heureka-Gedankens als auch die Kopplung des Ge|| 265 Vgl. Klossowski 1986. 266 Siehe in Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit den Abschnitt zum Übermenschen und der Anti-Lehre. 267 Unterstützend und ergänzend kann zur Zurückweisung einer metaphysisch-kosmologischen Deutung auch die Interpretation der ewigen Wiederkunft als einer Anti-Lehre herangezogen werden. Nach dieser ist die Lehre eine gegen „feste, zeitlose und damit metaphysische Begriffe überhaupt.“ (Stegmaier 2013, S. 164f.). 268 Nietzsche EH, „Also sprach Zarathustra“ 1, KSA 6, S. 335.
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dankens an das eigene Erleben und die eigene Person zum Ausdruck. So berichtet Nietzsche weiter, dass ihn dieser Gedanke bei einem Spaziergang wahrlich überfallen habe. Kommen wir zur ethischen Tragweite des Wiederkunftgedankens. Nietzsche notiert sich 1873 folgende Frage David Humes, die zugleich als eine Aufforderung verstanden werden kann: „Fragen Sie sich selbst, sagt Hume, oder jeden ihrer Bekannten, ob sie die letzten zehn oder 20 Jahre ihres Lebens noch einmal zu durchleben wünschten.“269 Den Gedanken, dass unser Leben, so wie wir es jetzt leben und gelebt haben, noch unzählige Male wiederkehren wird und von uns selber durchlebt werden muss, bezeichnet Nietzsche im zitierten Aphorismus 341 als das größte Schwergewicht. Inwieweit darin eine ethische Intention erblickt werden kann, zeigt sich vor allem gegen Ende des Aphorismus. Dort heißt es, die Vorstellung des Wiederkunftgedankens liege fortan wie das größte Schwergewicht auf unserem Handeln. Zudem wird dem Gedanken, insofern er bei jedem Handeln die Frage aufwirft, ,Willst du dies noch einmal und unzählige Male?‘, ein charakter- und persönlichkeitsveränderndes Potenzial attestiert: „Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen“.270 Wie er den Einzelnen verwandeln wird, ob bestärkend oder vielmehr niederschmetternd und zermalmend, wird sich zeigen. Fest steht jedoch, dass er ihn verwandeln wird. „Mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft formuliert der nachidealistische Denker eine Idee, die als Leitbild eine lebenspraktische Wirkung entfalten kann.“271 Die Frage, die sich jeder Einzelne vor seinem Handeln in jedem Augenblick neu zu stellen hat, lässt sich wie folgt reformulieren: Handele ich so, dass ich wollen kann, dass diese meine Handlung ewig wiederkehrt? Der Aspekt des Handelns sowie seine Bezogenheit auf den Einzelnen sind hervorzuheben. So wird der Wiederkunftgedanke mit Gantschow gesprochen zu einem Lackmustest der Existenz.272 Der Gedanke der ewigen Wiederkunft lastet als größtes Schwergewicht auf meinem Handeln, so dass er mir erlaubt, zu hinterfragen, ob ich dieses Handeln ewig wollen kann. Demnach wird er gewissermaßen zum Probierstein einer gelungenen Existenz. Der Fragesatz lässt sich leicht in einen den Einzelnen auffordernden Imperativ umformulieren, der da hieße: Handele immer so, dass Du wollen kannst, dass Deine Handlung sich ewig wiederholt. Unverkennbar gelangen wir hier in die Nähe des Kantischen ka-
|| 269 Nietzsche NF-1873, 29[86], KSA 7, S. 667. 270 Nietzsche FW, 341, KSA 3, S. 570. 271 Gantschow 2011, S. 196. 272 Vgl. ibid., S. 194–198.
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tegorischen Imperativs, und so ist in der Nietzsche-Forschung von einem existenziellen Imperativ273 die Rede gewesen. Inwiefern es sich hierbei um einen existenziellen Imperativ handeln könnte, wird uns nun noch eingehender beschäftigen. Hannah Arendt spricht sogar in ihrem Denktagebuch ausdrücklich von einem kategorischen Imperativ Nietzsches und der Frage, ob alles, was ich will, so ist, dass ich es unzählige Male tun will.274 Im Folgenden möchte ich mich für die Interpretation eines existenziellen Imperativs des Wiederkunftgedankens stark machen. Diese Deutung geht in der Nietzsche-Forschung insbesondere auf Bernd Magnus zurück, der unter dem sprechenden Titel Nietzsches Existential Imperative275 eine ganze Monographie diesem Motiv gewidmet hat. In ähnlicher Manier schließen daran jüngere Untersuchungen etwa von Alexander Gantschow oder Eike Brock an.276 Jedoch wird sich gleichfalls zeigen, dass Nietzsches Imperativ keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchende Handlungsmaxime darstellt, weshalb sich Hannah Arendts Redeweise von einem Nietzscheschen kategorischen Imperativ als zumindest irreführend und fragwürdig erweisen wird. Die ewige Wiederkunft tritt in Aphorismus 341 als eine Art Gedankenexperiment eines Existierenden auf, das „auf die Erhellung des eigenen Weltaufenthalts zielt.“277 Es handelt sich nicht um eine in apodiktischer Form präsentierte Lehre. Hierfür spricht zweierlei: (1) Erstens wird das größte Schwergewicht uns von einem Dämon mitgeteilt. Dies geschieht zwar im Indikativ, es erhält aber durch die Umrahmung des konditionalen Irrealis einen hypothetischen Charakter und wird zu einem Gedankenexperiment.278 Die erste Annahme des Experiments ist: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte“.279 En passant lässt sich hierzu noch anmerken, dass dadurch auch eine metaphysisch-kosmologische Deutung als eher unwahrscheinlich erscheint. Die Vorstellung der Wiederkunft wird zu einem Gleichnis, zu einer Anzeige.280 Nietzsche scheint die
|| 273 Vgl. Magnus 1978. Er spricht von einem „Existential Imperative“. Siehe dazu vor allem ibid., S. 140–146. 274 Vgl. Arendt 2002, S. 142f. 275 Vgl. Magnus 1978. 276 Vgl. Gantschow 2011 und Brock 2015. 277 Gantschow 2011, S. 194. 278 Vgl. Brock 2015, S. 371. Von der ewigen Wiederkunft als einem Gedankenexperiment im Hinblick auf FW, 341, KSA 3, S. 570 spricht auch Figal 2014, S. 261–267. 279 Nietzsche FW, 341, KSA 3, S. 570 (meine Hervorh.). 280 Es geht vor allem um das, „was mit der Vorstellung gemeint ist, und weniger um das Vorgestellte“ selbst, so Figal 2014, S. 267. „Live in such a way that you must wish to live again, he tells us simply“, so Magnus 1978, S. 143.
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Funktion des Gedankens als Hypothese wichtiger zu sein als sein Inhalt281 oder gar dessen intensionaler Wahrheitsstatus. Magnus, der Nietzsches Wiederkunftgedanken als einen existenziellen Imperativ auslegt, sieht diese Interpretation so als „utterly indifferent to the truth-value of the doctrine.“282 Dies ist insofern ein Plädoyer für die hier vertretene Deutung, da der Nietzsche-Interpret so der metaphysischen Schlichtheit, die Nietzsche sich selbst auferlegt und abverlangt, ebenso gerecht wird. Dem Leser wird durch die Äußerungen des Dämons ein Gedankenexperiment präsentiert, er wird aufgefordert, sich mit dem Szenario einer potenziellen ewigen Wiederkunft des eigenen Lebens im Kleinen wie im Großen auseinanderzusetzen. Anders formuliert: Angenommen, du würdest dein Leben so wie du es gelebt hast und jetzt lebst, noch unzählige Male leben müssen – was würde dieser Gedanke in dir und mit dir bewirken? Zwei mögliche Alternativen liefert der Dämon gleich mit: „Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ,du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘“283 Das Hypothetische beinhaltet zugleich (2) ein experimentelles Moment, indem an den Leser appelliert wird, zu dem Gedanken Stellung zu beziehen und die möglichen daraus folgenden Konsequenzen für sein Leben zu betrachten und zu bewerten. Dem Gedankenexperiment kommt ein existenzieller Ernst – durchaus im Kierkegaardschen Sinne – zu, der in gesteigerter Form in Nietzsches Experimentalphilosophie Ausdruck findet, wie sich im folgenden Kapitel 3.4 noch zeigen wird. Mit der Setzung in den Konditional sollte jedoch keine Relativierung oder Schmälerung der Lehre assoziiert werden, das stellt Eike Brock prägnant heraus: „Innerhalb des Experiments gibt es keine Relativierungen. Damit es seine existenzielle Wirkung entfalten kann, muss das Mögliche als Wirkliches genommen werden.“284 Direkt fühlen wir uns an Kierkegaard zurückerinnert, für den es in Fragen der Existenz gerade um ein Verwirklichen des Möglichen geht, und umgekehrt die reine Möglichkeit gerade von der Existenz interesselos absieht. Der tiefe Ernst des Gedankens besteht darin, sich zu fragen, ob wir angesichts dieser
|| 281 Vgl. Salaquarda 1997, S. 183. 282 Magnus 1978, S. 142. 283 Nietzsche FW, 341, KSA 3, S. 570. 284 Brock 2015, S. 371f.
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Umstände resignieren oder dem Leben ,gut‘ werden und nach Nichts mehr verlangen „als nach dieser letzten ewigen Bestätigung“.285 Wird das Gedankenexperiment bis zuletzt ernst genommen, und das Potenzielle als Aktualität und Realität angenommen, entfaltet es seine vollständige und intendierte Wirkung. Nietzsche selbst bemerkt in einem Fragment aus dem Jahr 1881, dass auch der Gedanke einer Möglichkeit uns zu erschüttern und verwandeln vermag.286 Gemäß Georg Simmel, der den Wiederkunftgedanken im Fahrwasser des Neukantianismus vorwiegend als Wiederkunftsmoral versteht, entwickle die Lehre einzig und allein in Form eines Gedankens, d.h. einer Möglichkeit, ihre ethisch-psychologische Relevanz.287 Es mag vielleicht prima facie paradox klingen, aber vor allem der hypothetische Gehalt bringt die Lebenspraxis ins Spiel. Durch die indikativische Rede des Dämons wird der Leser direkt angesprochen und gezwungen, Stellung zu seinem eigenen Leben zu nehmen, deshalb präsentiere der Dämon die Lehre als eine Tatsache, so Brock.288 Eine ethisch-imperativische Deutung des Wiederkunftgedankens ermöglicht, die lebenspraktische Bedeutung desselben hervorzuheben, die durch die von Nietzsche verwendeten Begriffe wie ,verwandeln‘, ,Handeln‘ und ,Leben‘ verstärkt betont wird. „Der Imperativ der höheren Moral lautet: Handle immer so, dass du die Wiederkehr deiner Handlungen und die Wiederkehr der Konsequenzen, die mit ihnen verbunden sind, wollen kannst.“289 Dadurch, dass nicht nur die Handlung als solche, sondern ebenso ihre Konsequenzen ewig zu wollen sind, steigern sich die existenzielle Dimension und Verantwortung beinahe ins Unermessliche. Die direkte Anrede ,Du‘ durch den Dämon wirkt dabei unterstützend und zwingt den Leser, das Gedankenexperiment als Wirkliches anzusehen und stellt ihn vor die Alternative: entweder Resignation oder Bekenntnis und Erstarken.290 Eine Entscheidung ist unumgänglich, da reine Passivität, sprich achselzuckend keine der
|| 285 Nietzsche FW, 341, KSA 3, S. 570. 286 Vgl. Nietzsche NF-1881, 11[203], KSA 9, S. 523f. 287 Vgl. Simmel 1995, S. 399 sowie dazu Skirl 2011, S. 226f. Brusotti 1997, S. 595 hebt die Kraft des hypothetischen Charakters ebenso hervor: „Der Gedanke hat von Anfang an die nötige Kraft, selbst wenn er latent bleibt, bis er schließlich heraufbeschworen wird.“ 288 Vgl. Brock 2015, S. 372f. 289 Georg-Lauer 2009, S. 174. 290 „Dabei bedeutet die Mitteilung des Dämons eine Zäsur im Leben des einzelnen Menschen (zumal Nietzsche in seinem Gedankenexperiment scheinbar nur zwei Reaktionsweisen auf den Wiederkunftsgedanken zulässt: Entweder man zerbricht oder erstarkt daran, keineswegs aber lässt er sich mittels eines gleichgültigen Achselzuckens einfach abtun)“, so Brock 2015, S. 373. Auf den Umstand, dass die Hypothese kein Ausweichen zulässt und man auf das Entweder-Oder antworten muss, verweist auch Salaquarda 1997, S. 183.
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beiden Alternativen wählen zu wollen, selbst schon einer Resignation gleichkäme und ebenfalls eine Wahl wäre. Der Leser des Gedankenexperiments, welchen der Dämon direkt anredet, wird zu einer Stellungnahme gezwungen, er soll sein Selbst- und Weltverhältnis hinterfragen. Die bloße Faktizität einer Wirkung ist sicher, jedoch worin diese Wirkung bestehen wird, welche Haltung zum Gedanken der Adressat einnehmen wird, muss offen bleiben. Hier klingt das Freiheitsverständnis des Existenzialismus an. Die Wahl selbst als Ausdruck von Freiheit kann nicht zurückgewiesen werden, der Mensch kann nicht nicht wählen wollen. Insofern das Gedankenexperiment zudem zur Erhellung des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen beitragen soll, leistet es einen Beitrag zu einer wesentlich existenzphilosophischen Thematik. Ein Blick in die Komposition und den Aufbau der Fröhlichen Wissenschaft zeigt, dass Aphorismus 341 durch zwei Aphorismen eingerahmt ist, die jeweils eine der beiden Wahlmöglichkeiten skizzieren.291 Der achtsame Nietzsche-Leser hat die Architektonik des Werkes stets mitzuberücksichtigen. Hier offenbart sich, dass Nietzsches Opponieren gegen die Systemphilosophie natürlich nicht jeder Systematik und Strategie entbehrt. Auf diesen Aspekt werden wir im folgenden Kapitel zur Methode und Form seiner Schriften noch zu sprechen kommen. Aphorismus 340 dreht sich um die Geschichte des sterbenden Sokrates, Aphorismus 342 hingegen kündigt Zarathustra als den neuen Lehrer der Menschen an. Anhand der Geschichte des sterbenden Sokrates stellt Nietzsche diesen als einen Pessimisten dar, der am Leben gelitten habe und zieht daraus die Konsequenz: „Wir müssen auch die Griechen überwinden!“292 Demgegenüber steht das „Incipit tragoedia“293 des Zarathustra, das zugleich das gleichnamige Werk ankündigt. Es wird dem Leser ein dreißigjähriger Zarathustra geschildert, der angesichts einer neuen Morgenröte, voller Tatendrang und verwandelt aus seiner Einsamkeit heraustreten möchte, um seine Weisheit mit den Menschen zu teilen. Zugespitzt formuliert: Auf der einen Seite der sterbende und lebensverneinende Sokrates und auf der anderen Seite der vor Tatendrang strotzende und lebensbejahende Zarathustra. Auf beide wird der Gedanke eine einschneidende, mithin existenzielle Wirkung haben. Er wird sie verwandeln und dazu bewegen, eine Haltung zu dem || 291 Auf diese Anordnung der Aphorismen weisen auch Figal 2014, S. 260 und Brock 2015, S. 373f. hin. 292 Nietzsche FW, 340, KSA 3, S. 570. Das Sokrates-Bild in Nietzsches Texten weist eine gewisse Ambivalenz auf. Die Haltung des sterbenden Sokrates dient ihm hier als Beispiel einer lebensverneinenden Position. Oft genug rekurriert Nietzsche jedoch ebenso auf Sokrates als ein Vorbild für Philosophen. Zum ambivalenten Sokrates-Bild bei Nietzsche siehe auch Kapitel 3.4 dieser Arbeit. 293 Nietzsche FW, 342, KSA 3, S. 571.
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durch den Dämon geschilderten Charakter des Lebens einzunehmen. Den Lebensverneinenden – hier durch Sokrates repräsentiert – wird die Nachricht des Dämons zermalmen und angesichts des Lebens resignieren lassen. Den Lebensbejahenden hingegen wird sie zu einer bekennenden Annahme des Lebens und einer Begeisterung führen. Das Incipit des Zarathustra steht am Ende des vierten Buches der Gaya Scienza und weist auf das Prosawerk voraus. Das Leben ist zudem für Nietzsche das Einzige, welchem wir einen, wenn vielleicht auch nur relativen, Wert beimessen dürfen. Dies kommt in seiner immanenzorientierten Philosophie ebenso wie in seiner Bewertung der Bedeutung einer Erkenntnis nach ihrer Nützlichkeit und Dienlichkeit für das Leben, wie gesehen, zum Ausdruck. Bis dato können wir festhalten, dass die ewige Wiederkunft als „Probierstein, vermöge dessen der einzelne Mensch Klarheit über sein Selbst- und Weltverhältnis gewinnt und sodann als Orientierungshilfe und Maßstab für eine gute, den Nihilismus zurückweisende Lebensführung“294 fungiert. Präfixierte Ideale eines gelingenden Lebens oder ein für alle erstrebenswertes Telos gibt es für Nietzsche nicht, das kam im Rahmen seines als eine Anthropologie der Negativität typisierten Menschenbildes zum Vorschein. Der einzelne Mensch muss jeweils für sich stets neue Ziele setzen und diese realisieren. Nun können wir die Brücke zwischen Nietzsches Anthropologie und dem Gedanken der ewigen Wiederkunft schlagen: „Kann ich mein Leben so, wie ich es gelebt habe – mit allen existenziellen Höhen und Tiefen –, nicht als ein zu wiederholendes bejahen, muss ich mir eingestehen, meinen Weltaufenthalt verfehlt zu haben.“295 Ich muss mein Leben als Ganzes annehmen können – im Kontext des Gedankenexperiments bedeutet das, ich muss wollen können, es als Ganzes ewig wiederkehrend zu leben.296 Indem hier die Ewigkeit zudem an das Diesseits gebunden wird, repräsentiert die ewige Wiederkunft eine Absage an Jenseitsprojektionen jeglicher Art auf dem Gebiet der Moral. „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!“, so Nietzsche. „Dieser Gedanke enthält mehr als alle
|| 294 Brock 2015, S. 375. Vgl. auch Salaquarda 1997, S. 173. 295 Gantschow 2011, S. 195. 296 Im Nachlass findet sich folgende Formulierung: „Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat!“ (Nietzsche NF-1881, 11[165], KSA 9, S. 505).
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Religionen, welche dies Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten.“297 Der Gedanke wird auf das Hier und Jetzt und, wie sich nun zeigen wird, auf den Einzelnen bezogen: „D i e s s L e b e n — d e i n e w i g e s L eb e n ! “298 Es geht darum, sich selbst und seinem eigenen Leben gegenüber ,gut‘ zu werden. Die Immanenz und der Einzelne rücken in den Mittelpunkt – beides zutiefst existenzialistische Kategorien. Inwiefern die ewige Wiederkunft ethisch gedeutet werden und in einem Imperativ ihre Ausformulierung finden kann, dürfte inzwischen deutlich geworden sein. Wichtig ist nun, dass ein solcher Imperativ als ein existenzieller zu verstehen ist und sich somit gerade vom kategorischen Imperativ Kants distanziert und unterscheidet, weshalb die bereits angesprochene Redeweise von einem kategorischen Imperativ Nietzsches durch Hannah Arendt irreführend zu sein scheint. Dafür lässt sich u.a. mittels des Aphorismus 335 der Fröhlichen Wissenschaft argumentieren, der meines Erachtens in aller Deutlichkeit hervorhebt, an wen Nietzsche sich wendet: nämlich an jenen Einzelnen, den schon Kierkegaard mit Freude und Dankbarkeit seinen Leser nannte.299 Die Aufforderung, handele so, dass du wollen kannst, dass deine Handlung mit all ihren Folgen ewig wiederkehrt, darf nicht als eine allgemeingültige Handlungsmaxime missverstanden werden. Zum einen enthält sie offensichtlich keinerlei inhaltliche Bestimmungen, worin denn nun dieses Leben bestehen soll, das man ewig wiederkehrend wollen können soll. Indem sie keine objektiven inhaltlichen Anweisungen formuliert, bleibt sie ein normativ neutrales Modell.300 Zum anderen, und das scheint noch wichtiger zu sein, hat die Aufforderung nur gegenüber einer individuellen und autonomen Selbstgesetzgebung ihren Anspruch und ihre Geltung.301 Zu Beginn des Aphorismus 335 tritt Nietzsche erneut als Diagnostiker seiner Zeit in Erscheinung. Die meisten Menschen seien vollkommen ungeübt in der Beobachtung und insbesondere in der Selbstbeobachtung: „D a s s es aber so verzweifelt mit der Selbstbeobachtung steht, dafür zeugt Nichts mehr, als die Art, wie über das Wesen einer moralischen Handlung f a s t v o n J ed e r ma n n gesprochen wird“.302 Nietzsches Darstellung des Zeitgeistes
|| 297 Nietzsche NF-1881, 11[159], KSA 9, S. 503. Ergänzend dazu Nietzsche NF-1881, 11[161], KSA 9, S. 503: „Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und S e g n u n g e n und B e g n a d i g u n g e n ausschauen, sondern so leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit s o leben wollen! — Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran.“ 298 Nietzsche NF-1881, 11[183], KSA 9, S. 513. 299 Siehe hierzu S. 67 dieser Arbeit. 300 Vgl. dazu auch Stewart 2012, S. 180. 301 Vgl. Georg-Lauer 2009, S. 174. 302 Nietzsche FW, 335, KSA 3, S. 560.
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des 19. Jahrhunderts scheint derjenigen Kierkegaards, über aller Allgemeinheit den Einzelnen zu vergessen, zu ähneln. Wie Kierkegaard reagiert auch Nietzsche darauf, indem er den Einzelnen wieder stärker in den Mittelpunkt stellt.303 Unhinterfragt und ganz selbstverständlich werde über die Handlungen von anderen geurteilt. Für Nietzsche ist das Ausdruck einer Selbstüberschätzung und Selbstsucht, die wiederum aus einer mangelnden Selbsterkenntnis resultieren, wodurch auch die verbreitete Bewunderung des kategorischen Imperativs zustande käme: „Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese ,Festigkeit‘ deines sogenannten moralischen Urtheils? Diese ‚Unbedingtheit‘ des Gefühls ,so wie ich, müssen hierin Alle urtheilen‘? Bewundere vielmehr deine S e l b s t s u c h t darin!…Selbstsucht nämlich ist es, sein Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden“.304 Aus dem eigenen Urteil eine für alle Menschen gültige Gesetzgebung und Handlungsmaxime zu folgern, kommt für Nietzsche einer reinen Selbstüberschätzung gleich. Er belässt es jedoch nicht bei dieser etwas oberflächigen Kritik, sondern liefert prompt eine Begründung, warum man das eigene Urteil niemals zum Bewertungsmaßstab der Handlungen anderer erheben kann. Der Psychologe Nietzsche diagnostiziert bei jenen Menschen einen Mangel an Selbsterkenntnis: „Wer noch urtheilt ,so müsse in diesem Falle Jeder handeln‘, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntnis gegangen: sonst würde er wissen, dass es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, — dass jede Handlung…auf eine ganz einzige…Art gethan wurde“.305 Hier kommen Motive, denen wir im Rahmen von Nietzsches Erkenntnis- und Metaphysikkritik begegnet sind, indirekt zum Ausdruck. Das Einzelne, so Nietzsches und auch Kierkegaards These, kann niemals in seiner Einzigartigkeit und Singularität erfasst werden. Das Urerlebnis ‚X‘ geht niemals in der Allgemeinheit der Begriffe auf. Genauso können einzelne Handlungen, die, indem sie eben jeweils einzelne sind, niemals gleiche Handlungen sein und demzufolge auch nicht gleich beurteilt werden. Die Formulierung, dass in jenem Falle jeder Mensch so handeln müsse, verkennt die Tatsache, dass es niemals weder solche gleichen Fälle noch solche gleichen
|| 303 Für Brock stellt die dritte Unzeitgemäße Betrachtung, „Schopenhauer als Erzieher“, in dieser Hinsicht eine Kulturkritik dar, die anprangert, inwiefern der Zeitgeist den Einzelnen durch Nivellierung mundtot mache. Vgl. hierzu Brock 2018, S. 188. 304 Nietzsche FW, 335, KSA 3, S. 562. 305 Nietzsche FW, 335, KSA 3, S. 562f.
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Handlungen geben kann. Die Singularität der Erlebnisse und Handlungen ist unhintergehbar.306 Die Selbstsucht ist eine falsche Anmaßung, die auf einem Erkenntnisirrtum beruht. Nietzsche formuliert in seinem späten Werk Der Antichrist polemisch gegen Kant: Ein Wort noch gegen Kant als M o r a l i s t . Eine Tugend muss u n s r e Erfindung sein…Die ‚Tugend‘, die ‚Pflicht‘, das ‚Gute an sich‘, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit — Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das Königsberger Chinesenthum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachsthums-Gesetzen geboten: dass Jeder sich s e i n e Tugend, s e i n e n kategorischen Imperativ erfinde…Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede ‚unpersönliche‘ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. — Dass man den kategorischen Imperativ Kant’s nicht als l e b e n s g e f ä h r l i c h empfunden hat!307
Genauso wie es keinen Menschen an sich und kein Ding an sich gibt, kann es auch keine Tugend an sich oder eine Pflicht an sich mit einem allgemeinverbindlichen Charakter geben. Der einzelne Mensch muss sich seine eigenen Ideale erschaffen; dieser Topos kommt nun in der Ethik zum Tragen. Ich kann nur gegenüber mir selbst Handlungsmaximen ausformulieren, eine Allgemeingültigkeit für andere kann ich für sie nicht beanspruchen oder aus ihnen ableiten. Allgemeinverpflichtende Tugenden, Pflichten an sich, aufzustellen, wäre demnach gegenüber der Existenz des Einzelnen gleichgültig, das verbirgt sich hinter dem Vorwurf der Unpersönlichkeit solcher Pflichten. Sie richten sich eben nicht an den Einzelnen. Eine Abstraktion auf dem Gebiet der Moral erweist sich somit für Nietzsche als lebensfeindlich, genau wie sie für Kierkegaard einer Negation der Existenz gleichkommt. Hier zeigt sich erneut en passant, dass Nietzsches Lebensbegriff – wie in Kapitel 3.1 erörtert – häufig mit Kierkegaards Existenzbegriff Bedeutungsüberschneidungen aufweist. Ähnlich wie in Bezug auf das Ethische bei Kierkegaard können wir auch in Nietzsches Denken eine Ethik der Selbstadresse diagnostizieren und mit Gerhard Gamm wiederholt festhalten: „Das ethische Sollen richtet sich nicht an die Allgemeinheit: Es ist zwar allgemein verpflichtend, aber seine Verbindlichkeit findet einzig in mir seine Adresse. Es ist schamlos, einem anderen ethische Vorwürfe zu machen. Jede Adresse, die die Ethik entwickelt, ist vor allem eine Selbstadresse“.308 Handlungs- und Orientierungsmaßstäbe kann ich nur mir selbst gegenüber formulieren und mir selbst verpflichtend auferlegen. Der einzelne Mensch ist hier sein eigener Adressat. In Bezug auf ihn || 306 Auf die Singularität der persönlichen Erfahrungen werden wir im Kapitel 3.4 zur Experimentalphilosophie noch eingehen. 307 Nietzsche AC, 11, KSA 6, S. 177. 308 Gamm 2009, S. 33.
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selbst sind sie jedoch zutiefst verpflichtend und an einen existenziellen Ernst gebunden. Die Persönlichkeit309 wird hier im Duktus der Existenz als Selbstexperiment und Selbstversuch mit aufs Spiel gesetzt. Nietzsches Gedanke hat einen existenziellen und experimentell-hypothetischen Charakter, der keiner allgemeinen Begründbarkeit bedarf.310 Nach den Untersuchungen zu Nietzsches Anthropologie im vorangegangenen Kapitel sind die Schlussfolgerungen, die nun im Aphorismus 335 der Fröhlichen Wissenschaft gezogen werden, selbsterklärend: „B e s c h r ä n k e n wir uns also auf die…S c h ö p f u n g n e u e r e ig e n e r G ü t er t a f e l n :…W i r a b e r w o l l e n D i e w er d e n , d i e w i r s i n d , — die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selberSchaffenden!“311 Im Zuge der individuellen Selbstwerdung muss sich jeder seine eigenen Tugenden erschaffen. Aus dem Nachlass Nietzsches geht hervor, dass aus dieser starken Verpflichtung sich selbst gegenüber eine Toleranz für den Anderen hervorgeht: „W a s auch jeder Einzelne d a f ü r erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht“.312 Bezogen auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft heißt das: Es kommt auf das Selbstverhältnis und das eigene Verhältnis zur Welt angesichts des größten Schwergewichts an. Wir werden hier mit einer „individuelle[n] Ethik des Sichgut-Werdens“313 konfrontiert: Sich selbst und dem eigenen Leben gegenüber ,gut‘ werden, und ob dies gelingt, dafür kann der Wiederkunftgedanke als Prüfstein und existenzieller ethischer Imperativ herangezogen werden. Diese auf den Einzelnen fokussierte Lesart der Wiederkunft kann durch einen Blick in ein nachgelassenes Fragment aus dem Jahr 1881 gestützt werden. Dort lesen wir: „Meine Lehre“, so Nietzsche, „sagt: s o leben, daß du w ü n s c h e n mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe…! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche.“314 Hier zeigt sich, dass die Lehre Nietzsches zum Test einer gelungenen individuellen Ausgestaltung des Lebens wird. Sie
|| 309 Auf die enge Verbindung von Person und Werk bei Nietzsche werden wir im folgenden Kapitel 3.4 näher eingehen. 310 Vgl. hierzu auch Gerhardt 2006, S. 203. 311 Nietzsche FW, 335, KSA 3, S. 563. 312 Nietzsche NF-1881, 11[183], KSA 9, S. 512. 313 Brock 2015, S. 375. Dazu führt ibid. weiter aus: „Bei seiner Aufgabe, derart gut zu leben, ist er [der einzelne Mensch] außerdem gefordert, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und daraufhin zu prüfen, was das für ihn persönlich Gute ist“ (meine Hervorh.). So werde die ewige Wiederkunft zu einem „Experiment der Existenz“, so Schmid 1992, S. 61. 314 Nietzsche NF-1881, 11[163], KSA 9, S. 505.
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richtet sich zum einen an den Einzelnen selbst und nicht an alle Menschen – wir können nur über uns selbst, nicht über andere urteilen – und zum anderen impliziert sie keinerlei inhaltliche Festlegungen, sondern zielt auf die Förderung der Persönlichkeit und die Entwicklung der individuellen Dispositionen. Ziel ist eine individuelle Moral, die eigene Werte und Ideale erschafft.315 Im Unterschied zu Kant geht es Nietzsche wie Kierkegaard nicht darum, ein allgemeines rationales Gesetz als Handlungsgrundlage auszuformulieren. Nie kann ich zum Richter über andere werden. Um diesen Gegensatz zu untermauern, schließe ich mich der folgenden Interpretation von Bernd Magnus an: „Here, perhaps, the strongest divergence from Kant’s categorical imperative surfaces…[A] central point of the Kantian thrust is to subsume judgments about individual behavior under rational law. The moral law speaks no private language. Yet Nietzsche’s existential imperative is deliberately pluralistic“.316 So lässt auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft eine Pluralität von Lebensweisen zu, hier spiegelt sich Nietzsches erkenntnistheoretischer Perspektivismus in Fragen der Moral wider. Dementsprechend heißt es später in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches, man solle Herr über seine eigenen Tugenden werden und dadurch „das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“.317 Deshalb kann auch Nietzsches Appell an den Leser nur darin bestehen, dass er sich darüber bewusst werde und Stellung zum Gedankenexperiment beziehe: „The important thing is to become aware of what is worthy of infinity in our lives. And about these things we surely will differ. We are different, after all“,318 so Magnus. Blicken wir noch auf das Werk Also sprach Zarathustra, dessen Grundgedanke nach Nietzsches eigenem Bekenntnis, wie gesehen, die ewige Wiederkunft des Gleichen ist. Schauen wir in den Abschnitt „Vom Gesicht und Räthsel“ aus dem dritten Teil des Buches. Dieser erweist sich gerade im Hinblick auf die ethisch-existenzphilosophische Tragweite des Gedankens als aufschlussreich und das insbesondere unter Aspekten der Darstellungsform.319 Hier ist kein Platz,
|| 315 Nietzsche selbst hält dazu fest: „Die individuelle Moral: unsere Triebe nach u n s e r e m Ideal formirt“ (NF-1880, 8[2], KSA 9, S. 384). 316 Magnus 1978, S. 143. 317 Nietzsche MA I, „Vorrede“ 6, KSA 2, S. 20. Hierin sieht Safranski 1997, S. 18 die Ausformulierung des moralischen Imperativs des Nietzsche der späteren Jahre (Nietzsche verfasste diese Vorrede 1886). 318 Magnus 1978, S. 143. 319 Darauf weist auch Brock 2015, S. 361f. hin, der zudem ausführlich auf die Form und die Rahmenhandlung des Abschnitts eingeht. Siehe hierzu ibid., S. 361–370.
230 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
um auf die Rahmenhandlung des Abschnitts en détail einzugehen. Dies erscheint auch nicht notwendig, denn es sollen lediglich zwei Faktoren exponiert werden, die ihrerseits zeigen, dass sich der Wiederkunftgedanke an den einzelnen Existierenden und nicht an die Allgemeinheit der Menschen adressiert. Dabei handelt es sich um einen (1) formalen und einen (2) inhaltlichen Aspekt. (1) Der Gedanke wird hier in Form eines Rätsels präsentiert: „So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten!“320 Ein Rätsel beinhaltet etwas, das es zu lösen gilt. Insofern hier etwas im Verborgenen bleibt, haben wir es nicht mit einer direkten Form der Mitteilung zu tun, sondern mit etwas, das in die Nähe der indirekten Methode Kierkegaards rückt. Im Kontext von Kierkegaards Erörterungen zum Widerspruch als einer indirekten Mitteilungsform zeigte sich, dass Kierkegaard das Rätsel als etwas typisiert, das durch den Rezipienten eigens zu lösen ist und somit Aneignung, und mit Nietzsche gesprochen, Einverleibung erfordert. So endet auch die Schilderung des Rätsels bei Nietzsche mit dem Appell an die Leser: „So rathet mir doch das Räthsel“.321 Eine Lösung ex post erhalten wir nicht. Das hier präsentierte literarische Gewand des Gedankens der ewigen Wiederkunft liest sich unter Berücksichtigung des philosophiehistorischen Kontextes als ein Seitenhieb gegen tradierte philosophische Schreibmuster. Daran anknüpfend ist Brocks Deutung zuzustimmen, dass diese Darstellungsform „implizit auf die existenzielle Bedeutung der ewigen Wiederkunft hindeutet – wer diesem Gedanken wirklich gerecht werden will, muss darauf als ganzer Mensch gleichsam mit Herz und Verstand reagieren.“322 Die ewige Wiederkunft ist keine ,blutleere‘ Lehre, die Zarathustra direkt kommunizieren könnte, sie scheint vielmehr eine Existenz- und Lebensweise zu sein, die es zu verkörpern, mit Nietzsche gesprochen, sich einzuverleiben gilt.323 Die Darstellung des größten Schwergewichts in Form eines Rätsels
|| Georg 2018a, S. 81 konstatiert: „Nietzsches Freigeist hatte mit dem wandernden Zarathustra, der zunächst ins Gebirge geht und existentielle Wandlungen durchläuft, den Botschafter des Übermenschen und den der ewigen Wiederkehr des Gleichen erschaffen. Damit ist auch die ethische Dimension dieses Gedankens angestimmt, stets so zu leben, dass die Wiederkehr dessen, was man ins Werk setzt, wünschbar ist und bleiben kann.“ 320 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 202. 321 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 202. 322 Brock 2015, S. 362. Zur Zarathustra-Dichtung insgesamt bemerkt er weiter: „Insbesondere im Zarathustra versucht sich Nietzsche an einer neuen, literarisch-poetischen Form von Philosophie. Und diese Form ist einem Gedanken wie der ewigen Wiederkunft, sofern es um dessen existenzielle und nicht etwa um dessen im Übrigen eher unwesentliche kosmologische Bedeutung und Begründung geht…, eben angemessener.“ (ibid.). 323 Vgl. Eriksen 2000, S. 148.
Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen | 231
zeigt, worauf dieser Gedanke anzuwenden ist: auf die Sphäre der Existenz und des Lebens. In Bezug auf diese ist nur, und das hat schon Kierkegaard deutlich gemacht, eine indirekte Kommunikation möglich.324 Damit kommen wir zum inhaltlichen Gesichtspunkt dieses Abschnitts, der erneut auf die existenzielle Dimension des Wiederkunftgedankens verweist und den einzelnen Menschen als Ganzen herausfordert. (2) Gegen Ende des Abschnitts wird uns folgendes Szenario zwischen einem Hirten und einer Schlange geschildert, das zu einem Gleichnis für die Heraufkunft des Nihilismus und zugleich für dessen Überwindung wird: „Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng…Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund — da biss sie sich fest.“325 Aus dem Gesamtkontext des Werkes lässt sich erschließen, dass die Schlange als Symbol für den Nihilismus fungiert, der dem Hirten zu Bewusstsein gekommen ist. Weiterhin steht die Schlange in Anbetracht der Rahmenhandlung – der Präsentation der ewigen Wiederkunft in Form eines Rätsels – für die ewige Wiederkunft selbst, die als extreme Bewusstwerdung des Nihilismus und zugleich als dessen (Selbst-)Überwindung im Zarathustra in Erscheinung tritt.326 Im Verlauf des Textes wird berichtet, wie Zarathustra versucht, dem Hirten die Schlange aus dem Munde zu reißen, dieser Versuch schlägt jedoch fehl. Daraufhin schreit er dem Hirten entgegen: „Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!“327 Der Hirte kommt der Aufforderung Zarathustras nach: „[E]r biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange—: und sprang empor.—“ Und nun war er ein „Verwandelter“.328 Worin besteht nun das existenzielle Moment dieses Bildnisses? Entscheidend ist der Umstand, dass der Hirte nicht durch die Hilfe Zarathustras von der Schlange befreit werden kann, sondern sich einzig und allein selbst von dem quälenden Gedanken, der hier durch die Schlage symbolisiert wird, befreien und somit Gewalt und Herrschaft über ihn erlangen kann. Der Gedanke, dass alles ewig wiederkehren wird, kann zur äußersten Form des Nihilismus wer-
|| 324 So bemerkt auch Acharya 2014, S. 43 in Bezug auf Nietzsches Darstellungsform: „[I]f existence can be explicated at all, it is only indirectly through various ,perspectival‘ (perspectivische) points“. 325 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 201. 326 Skirl 2011, S. 225 verweist so auf die sowohl katastrophische als auch kathartische Wirkung, welche die Wiederkunft in Also sprach Zarathustra entfacht. 327 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 201. 328 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 202.
232 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
den. Dort jedoch, wo er im Augenblick bejaht wird und es zu einer selbstständigen Einverleibung des Gedankens kommt, kann in ihm zugleich eine Überwindung des Nihilismus gesehen werden, wodurch die eigene Lebensweise einer schonungslosen Hinterfragung unterzogen wird. Doch dazu bedarf es Mut und einer ungeheuren Kraftanstrengung, welche den Menschen als Ganzen herausfordert: „Muth aber ist der beste Todtschläger, Muth, der angreift: der schlägt noch den Tod todt, denn er spricht: ‚War d a s das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!‘“329 Aktive Annahme statt resignierender Passivität scheint das probate Mittel zu sein, um die transformative Wirkung des Wiederkunftgedankens zur Entfaltung zu bringen. Hierfür kommt es jedoch auf den Einzelnen an. Um im Gleichnis zu bleiben, heißt das: Der Hirte muss und kann sich nur selbst helfen, niemand anders wird ihn von der Schlange befreien können. In den Nachlassnotizen zur ewigen Wiederkunft des Gleichen findet sich dazu eine erläuternde Bemerkung: „Wenn du dir den Gedanken der Gedanken einverleibst, so wird er dich verwandeln. Die Frage bei allem, was du thun willst: ,ist es so, daß ich es unzählige Male thun will?‘ ist das g r ö ßt e Schwergewicht.“330 Der Einzelne, der sich den Gedanken einverleibt, sich zu eigen macht und sich dadurch zu sich selbst, zur Welt und zum Leben in ein Verhältnis setzt, den wird dieser Gedanke verwandeln. Dieser Einzelne wird, wie wir lesen können, „ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte!“331 In dem Motiv des Lachens kann freilich eine Replik auf die bereits thematisierte fröhliche Wissenschaft, die Heiterkeit der freien Geister und Philosophen der Zukunft gesehen werden. Das Lachen ist ein Zeichen für die Erlösung vom Geist der Schwere.332 Diese Motive gehen einher mit der Vorstellung einer Philosophie als Lebensform und Selbstexperiment. So ist auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen kein Anbefehlen allgemeinverbindlicher Handlungsmaximen, sondern er wird zur Angelegenheit, Herausforderung und zum Prüfstein eines jeden Einzelnen, der seine Existenz dabei unweigerlich mit aufs Spiel setzt. Da die konkrete Situation eines Einzelnen niemals mit der eines Anderen identisch sein kann, entfaltet gerade die Kategorie des Einzelnen ihr ganzes Gewicht in Fragen der Existenz. So stellt uns auch Nietzsche, wie
|| 329 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 1, KSA 4, S. 199. 330 Nietzsche NF-1881, 11[143], KSA 9, S. 496. Dazu ergänzend siehe Nietzsche NF-1881, 11[141], KSA 9, S. 494: „Wir l e h r e n d i e L e h r e — es ist das stärkste Mittel, sie uns selber e i n z u v e r l e i b e n .“ Zur Situation des Hirten schreibt Brock 2015, S. 368f.: „Tatsächlich kann in dieser Situation einzig und allein der Hirte sich selber helfen. Es ist die Aufgabe eines jeden Einzelnen, der würgenden Schlange des Werdens den Biss zu nehmen.“ 331 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 2, KSA 4, S. 202. 332 Vgl. Brusotti 1997, S. 607.
Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen | 233
vor ihm Kierkegaard und nach ihm die gesamte Existenzphilosophie, die existenziell pointierte Hamlet-Frage: Sein oder nicht sein?333
Die ewige Wiederkunft und Kierkegaards Wiederholung In Anbetracht der Zielsetzung dieser Arbeit, die gemeinsame Wirkung der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches auf den Existenzialismus hervorzuheben, soll zum Abschluss des vorliegenden Kapitels die Debatte um Nietzsches Kierkegaard-Kenntnis nochmals angerissen werden. So lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen und Kierkegaards Überlegungen zur Möglichkeit einer Wiederholung herausarbeiten, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch Nietzsche selbst nicht verborgen geblieben sind. In diesen kommt zudem die ethisch-existenzielle Lesart der Wiederkunft verstärkt zum Tragen. Wie wir in dem kurzen Abschnitt zu ,Nietzsche – ein Leser Kierkegaards?‘ gesehen haben, kann zumindest von einer indirekten Kierkegaard-Kenntnis seitens Nietzsche ausgegangen werden.334 Hans Lassen Martensen, ein Landsmann und Zeitgenosse Kierkegaards, verfasste mit Die christliche Ethik ein Standardwerk seiner Zeit. Der erste Band dieses Werkes zählte zum Bestand von Nietzsches eigener Bibliothek und Nietzsche hat ihn auch gelesen. In seinem Buch rekurriert Martensen des Öfteren auf Kierkegaard und kennzeichnet Letzteren als einen ethischen Individualisten.335 Die Lektüre von Martensens Buch hat nachweislich Einfluss auf Nietzsches Morgenröthe ausgeübt,336 welche den sprechenden Untertitel „Gedanken über die moralischen Vorurtheile“ trägt. Inwiefern Kierkegaard und Nietzsche eine Ethik des Individuellen und des Einzelnen proklamieren, dürfte mittlerweile mehr als deutlich geworden sein. Thomas Brobjer verweist zudem auf den Aphorismus neun aus der Morgenröthe, in dem Nietzsche offensichtlich Sympathie für die moralischen Individualisten sokratischer Tradition zeige, die jedoch stets eine Ausnahme in der Philosophiegeschichte darstellten.337 Es sei nicht abwegig, dass Nietzsche in die „Nachfolger der s o k r a t i s c h e n Fusstapfen“338 Kierkegaard eingruppieren würde.339 || 333 Die Parallele zu Hamlet zieht auch Brock 2015, S. 375f. In Bezug zu Kierkegaard war bei Janke 1992, S. 205 davon die Rede. Siehe dazu auch Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 334 Siehe hierzu Kapitel 3.1 dieser Arbeit. 335 Vgl. Brobjer 2008, S. 74f. 336 Vgl. Orsucci 1996, S. 174–177. 337 Siehe hierzu Nietzsche M, 9, KSA 3, S. 23. 338 Nietzsche M, 9, KSA 3, S. 23. 339 Vgl. Brobjer 2003, S. 258.
234 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Während des Herbstes 1887 liest Nietzsche die Übersetzung des Buches Psychologie in Umrissen auf der Grundlage der Erfahrung des dänischen Psychologen Harald Höffding. Das Exemplar aus Nietzsches Bibliothek zeugt u.a. anhand von Anstreichungen und Bemerkungen von einer intensiven Arbeitslektüre. Höffding geht an einer Stelle ausführlicher auf Kierkegaard und das Problem der Wiederholung ein. Das weckt Nietzsches Interesse an Kierkegaard, den er dort, vermittelt durch Höffding, als „proclaimer and psychologist of ,repetitions‘ and ,returns‘“340 kennenlernt, so Brobjer. Höffding diskutiert das Problem der Wiederholung bei Kierkegaard und stellt es als zentral für dessen ethische Lebensanschauung heraus.341 Nietzsche notiert am Seitenrand zu ebendieser Passage: „Deshalb ist für S. Kierkegaard die Möglichkeit der Wiederholung das ethische Grundproblem.“342 Höffding zitiert nun auf dieser Seite in einer Fußnote eine Stelle aus Kierkegaards Schrift Die Wiederholung. Diese sei hier kurz wiedergegeben, um anschließend darzulegen, warum wir diesen Exkurs in jene Feinheiten der Nietzsche-Lektüren unternehmen. „Wer nichts als hoffen will, ist feige; wer nichts als sich erinnern will, ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der ist ein Mann…Wenn man das Dasein umschifft hat, so wird es sich zeigen, ob man Mut hat zu verstehen, daß das Leben eine Wiederholung ist, und Lust hat sich an ihr zu freuen.“343 Es wäre doch sehr verwunderlich, wenn Nietzsche sich beim Lesen dieses Kierkegaard-Zitats nicht an seinen eigenen Gedanken der ewigen Wiederkunft erinnert gefühlt hat. Unter der Prämisse einer ethischen Lesart sind die Ähnlichkeiten verblüffend, und so ist Brobjer beizupflichten, wenn er festhält: „Nietzsche will have associated this with his own hypothesis of ,eternal recurrence‘.“344 In der zitierten Anfangspassage aus Die Wiederholung spricht Kierkegaard vom Mut zu verstehen, dass das Leben eine Wiederholung ist und sich zugleich
|| 340 Ibid., S. 259. Brobjer geht Nietzsches Kierkegaard-Kenntnis mittels der Lektüre von Höffding ausführlich nach. Siehe dazu ibid., S. 259f. sowie Brobjer 2008, S. 74f. 341 Vgl. Höffding 1901, S. 381. Dort heißt es u.a.: „Für Kierkegaard war nun das Problem, wie ein Übergang aus dem einen Stadium ins andere möglich sei, – wie es möglich sei, ,die Wiederholung zu wollen‘.“ 342 Zitiert in Brobjer 2003, S. 259 (Unterstreichung im Original). 343 SKS 4, 10 / W, 4. Ich zitiere hier die Passage aus der von uns zugrunde gelegten deutschen Kierkegaard-Ausgabe. Für die leicht abweichende Übersetzung, die bei Höffding auftaucht, siehe Höffding 1901, S. 381. 344 Brobjer 2003, S. 260. So resümiert Miles 2007, S. 445 ebenfalls: „In any case, Nietzsche’s demonstrated interest in this idea suggest that he may have recognized an affinity between Kierkegaard’s work and his own.“
Ethisch-existenzphilosophische Dimension der ewigen Wiederkunft des Gleichen | 235
an dieser Tatsache zu erfreuen. Sich das Leben zumindest als eine ewige Wiederkunft des Gleichen vorzustellen, diesem Aspekt widmet sich Nietzsche ausführlich. Seinen Zarathustra lässt er, wie gesehen, u.a. dazu bekennen: „Muth, der angreift…, denn er spricht: ‚War d a s das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!‘“345 Den angesprochenen erbaulichen und verwandelnden Charakter eines sich in Wiederholungen vollziehenden Lebens dürfte Nietzsches Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Nietzsche machte sich einen hervorhebenden Vermerk zu dieser Kierkegaard-Stelle in seiner Höffding-Ausgabe.346 Interessanterweise spricht Höffding in der Folge von einem „psychologischen Naturgesetz“, auf welches die ethische Forderung sich stützen könne, „wie denn überhaupt die Ethik, wenn sie nicht in der Luft schweben oder unablässig an das Übernatürliche appellieren soll, auf das psychologisch Mögliche bauen muss.“347 Demnach muss die Ethik sich der Möglichkeit bedienen, um eine Veränderung in der Wirklichkeit zu erzielen. Das dürfte ganz im Sinne Nietzsches sein, der das verändernde Potenzial des Gedankens einer Möglichkeit im Kontext des Wiederkunftgedankens betont. Dieser Punkt hat sich wiederum als wichtig in Bezug auf die Wiederkunft als Gedankenexperiment und ethisch-existenziellen Prüfstein erwiesen. Höffding hat sich zudem in einem gesonderten Buch eigens der Philosophie Kierkegaards gewidmet. Auf sein Werk Sören Kierkegaard als Philosoph348 verweist er explizit auf der besagten Seite aus Psychologie in Umrissen auf der Grundlage der Erfahrung, wo er auf Kierkegaards Problem der Wiederholung eingeht. Gut möglich also, dass Nietzsche dieser Spur ebenso nachgegangen ist. Fest steht also, dass Nietzsche vermittelt durch Höffding auf den Gedanken der Wiederholung bei Kierkegaard aufmerksam wurde. Natürlich ist dadurch weder belegt, dass Nietzsche für seinen Gedanken der ewigen Wiederkunft Inspiration und direkte Anleihe bei Kierkegaard fand, noch dass er gar eine ethische Akzentuierung des Gedankens dadurch beabsichtigte. Die Lektüreaufzeichnungen zu Höffding fallen zudem, wie beschrieben, in das Jahr 1887. Der Wiederkunftgedanke taucht jedoch bei Nietzsche bereits viel früher auf, selbst wenn man ihn im Wesentlichen erst mit der Fröhlichen Wissenschaft (1882 erschienen) beginnen lässt. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass Höffding seine Erläuterungen zu Kierkegaards Wiederholungsbegriff bereits in zwei Aufsätzen aus den Jahren
|| 345 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 1, KSA 4, S. 199. 346 Vgl. Brobjer 2003, S. 260. 347 Höffding 1901, S. 382. 348 Siehe Höffding 1922.
236 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
1883 und 1884 vorgebracht hat349 – diese fallen dann zumindest in die Phase der Zarathustra-Dichtung. Inwiefern erweist sich dieser Exkurs in Nietzsches eigene Lektüren als hilfreich, um dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen eine ethisch-existenzphilosophische Note zu verleihen, und somit Nietzsche einmal mehr als Initialfigur des Existenzialismus einzuordnen? Inhaltliche Gemeinsamkeiten zu Kierkegaards Problem der Wiederholung liegen offen zutage. Der existenziellen Tragweite dieses Problems sind wir am Beispiel des Experiments als einer Realisierung indirekter Mitteilung nachgegangen.350 Insbesondere anhand des Untertitels der Schrift „Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie“ konnte gezeigt werden, inwiefern auch Kierkegaard auf die Wirkung des Gedankens im Hinblick auf die Handlung des Einzelnen abhob. Zudem hat zumindest Nietzsches indirekte Bekanntschaft mit Kierkegaard sein Interesse für diesen Denker und dessen Problem der Wiederholung geweckt, und das zu guter Letzt unter ethischen Gesichtspunkten. Nietzsche und Kierkegaard geht es nicht um allgemeingültige Prinzipien der Moral, sondern um die Förderung der Subjektivität auch und vor allem auf dem Gebiet der Moral. Der ethisch-existenzialistische Imperativ der Wiederkunft, ‚Handele so, dass Du wollen kannst, dass Deine Handlung samt ihrer Folgen ewig wiederkehrt‘, bewegt sich fernab jeglicher inhaltlichen Bestimmung einer Handlungsmaxime. Er ist vielmehr ein rein formaler Prüfstein für zutiefst individuelle Handlungen, an dem jeder Einzelne jeweils für sich prüfen kann, ob er diese Handlungen immer wieder wollen kann. Nur dieser Einzelne selbst kann darüber ein Urteil fällen und niemand sonst. Nietzsches Umwertung klassischer Moralkonzepte blieb, wie schon Jaspers konstatiert, nicht ohne Wirkung: „Seine Zertrümmerung der ,Moral‘ in der Gestalt, wie sie gang und gäbe war, war großartig und von der Situation gefordert; sie m a c h t e d e n W eg w i e d e r f r e i für Existenzphilosophie.“351 Wenn Jaspers davon spricht, dass dieser Ansatz von der Situation gefordert gewesen ist, so gilt es mitunter zu relativieren, dass zumindest Nietzsches eigene Zeit noch nicht dafür empfänglich war. Im 20. Jahrhundert traf der Ansatz dann allerdings den Nerv der Zeit. So ist den klassischen Vertretern des Existenzialismus diese Ethik des Individuellen freilich nicht verborgen geblieben und hat bei ihnen eine teils zugespitzte Anwendung erfahren. Es sei nur auf Sartres Opponieren gegen abstrakte Moralprinzipien in Ist der Existenzialismus ein Humanismus? oder auf
|| 349 Vgl. hierzu Brobjer 2003, S. 260, der daraus schließt: „It is thus possible that Nietzsche read this text already before 1887.“ 350 Siehe hierzu Kapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit. 351 Jaspers 1950, S. 442.
Philosophie und Leben. Experimentalphilosophie als Methode | 237
Camusʼ Sisyphos-Mythos hingewiesen, in dem nicht zuletzt das Bildnis der ewigen Wiederkunft Widerhall erfährt.352 Es ist wiederum Camus, der in einer Tagebuchnotiz letztlich festhält: „Die abgenutzte Moral der abstrakten Gerechtigkeit abschaffen.“353 Um die Untersuchungen zu Nietzsche als Initialfigur der Existenzphilosophie abzuschließen, sollen nun, wie bei Kierkegaard, Aspekte der Methode und Darstellungsform seiner Philosophie im Vordergrund stehen. Form und Inhalt werden sich dabei als ebenso wenig voneinander zu trennen erweisen wie die Philosophie vom Philosophierenden selbst.
3.4 Philosophie und Leben. Experimentalphilosophie als Methode Aus seinem Leben selbst ein Experiment machen ― das erst ist F r e i h e i t des Geistes, das wurde mir später zur Philosophie…354
In Kapitel 2.5 standen die indirekte Mitteilung Kierkegaards und mit ihr unterschiedliche Darstellungsformen seiner Philosophie im Zentrum. In Bezug auf Nietzsche sollen nun anhand seiner sogenannten Experimentalphilosophie Methode, Stil und Form seiner Philosophie skizziert werden. Es liegen eigene Studien zu den Begriffen bzw. Konzepten ,Experimentalphilosophie‘, ,Experiment‘ und ,Experimentalexistenz‘ bei Nietzsche vor.355 Im Allgemeinen versteht Nietzsche jedoch darunter, die eigene Existenz zutiefst in das Philosophieren zu involvieren, d.h. in und mit Bezug auf sie zu denken. Indem die Experimentalphilosophie dabei wesentlich auf konkrete Augenblicke und Momente des immanenten Daseins und Daseinsvollzugs rekurriert und – im Falle Nietzsches – sich nicht auf eine Sphäre der Transzendenz bezieht, wird sich diese Methode als eine in die Tat umgesetzte Existenzphilosophie atheistischer Form erweisen.356
|| 352 „Kein Mythos vermag die ewige Wiederkunft mit seinem zwanghaften Charakter besser zu veranschaulichen als die scheinbar tragische Figur des Sisyphos“, so Oei 2008, S. 167. Siehe hierzu auch Kapitel 4.1 der vorliegenden Arbeit. 353 Camus 1997, S. 280. 354 Nietzsche NF-1888, 24[1], KSA 13, S. 618. 355 Siehe hierzu u.a. die immer noch wegweisende Studie von Kaulbach 1980. Einen kürzeren Überblick bietet u.a. Gerhardt 1986. Siehe ferner auch Meyer 1993, S. 58–68 und Maurer 1984. 356 Gerhardt 1986, S. 56 bezeichnet die Experimentalphilosophie Nietzsches expressis verbis als Existenzphilosophie.
238 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Bei Nietzsche selbst findet sich der Begriff ‚Experimentalphilosophie‘ nur an einer einzigen Stelle aus dem Nachlass, an der er ihn mit dem Gedanken des Nihilismus verbindet. Dort wird jedoch deutlich, was er unter ihm versteht. Dass mit dieser Methode nicht diejenige einer experimentellen, an den Methoden der empirischen Natur- und Sozialwissenschaften orientierten Philosophie, wie sie neuerdings verstärkt auftritt, gemeint ist, erklärt sich dabei von selbst: Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch — bis zu einem d i o n y s i s c h e n J a s a g e n zur Welt.357
Der Begriff ‚Experiment‘, an welchen jener der ‚Experimentalphilosophie‘ naturgemäß angelehnt ist, findet sich bei Nietzsche deutlich häufiger. Dieser ist zwar ein den Naturwissenschaften entlehnter Begriff, wie Nietzsche ihn aber für sein Denken verstanden wissen will, scheint in folgender Bemerkung durch: „Unser l e h r r e i c h s t es Experiment, eine Vivisektion am Leben selbst…“.358 Er rekurriert als Metapher auf diesen Begriff, um die Radikalität seines neuen Denkens, der Philosophie der Zukunft, nachdrücklich zu bebildern.359 Der Ausdruck ,Vivisektion am Leben‘ – wobei hier ,Leben‘ durchaus im Sinne von Kierkegaards ,Existenz‘ verstanden werden kann – spricht für sich. Mit den Naturwissenschaften und experimenteller Naturforschung als solcher hat seine an der Existenz des Einzelnen orientierte Experimentalphilosophie jedoch nichts zu tun.360 „Das Muster für dieses Experimentieren mit sich ist also weniger das naturwissenschaftliche Experiment…als vielmehr der künstlerische Schaffensprozeß“,361 so auch Reinhart Maurer. Die Forschungsliteratur zur Thematik der Relation von Form und Inhalt bei Nietzsche geht schier ins Unendliche, und so erheben die nachfolgenden Ausführungen bei Weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir möchten seine Experimentalphilosophie anhand eines Beispiels, nämlich der Vorreden von 1886, als ein Ineinandergreifen von Philosophie und Leben auslegen, das durch seine spezifische Art wegweisend für die Existenzphilosophie wurde. || 357 Nietzsche NF-1888, 16[32], KSA 13, S. 492. 358 Nietzsche NF-1888, 25[7], KSA 13, S. 641. 359 Vgl. hierzu Georg 2018b, S. 86. 360 Vgl. Kuhlen und Schneider 1972, S. 874. Zu den unterschiedlichen Verwendungen und Bedeutungen des Begriffs ‚Experimentalphilosophie‘ in der Philosophiegeschichte insgesamt vgl. ibid. 361 Maurer 1984, S. 22.
Philosophie und Leben. Experimentalphilosophie als Methode | 239
Bereits in den Überlegungen zu Nietzsches negativer Anthropologie wurde deutlich, was er unter Existenz- und Lebensgestaltung versteht. Mit Rüdiger Safranski gesprochen, wird Nietzsche zum Vertreter eines „Essayismus als Lebensform“,362 die eigene Existenz und das eigene Leben werden gleichermaßen zum Stoff und Gegenstand des Experiments und werden mit aufs Spiel gesetzt: „Dein Leben ein Versuch und Denkmal deines Versuchs.“363 Theo Meyer sieht in Nietzsches Experimentalexistenz ein rastloses Sich-Erproben, das einer essayistischen Existenz im ursprünglichen etymologischen Sinne des Wortes gleichkäme.364 Nietzsche begnügt sich keinesfalls damit, über sein Leben bloß zu reflektieren, vielmehr möchte er sein „Leben so führen, daß er etwas daran zu denken bekommt.“365 Der zentrale Fokus seiner Experimentalphilosophie sei, so Barbara Neymeyr, „eine psychologisch akzentuierte philosophische Anthropologie.“366 So betont auch Volker Gerhardt, dass sich anhand von Nietzsche Kants Diktum, die drei Grundfragen der Philosophie ließen sich letztlich allesamt auf die Frage ,Was ist der Mensch?‘ zurückführen, bestätigt und insbesondere seine Experimentalphilosophie eine Anthropologie ist.367 Wie sich schon Metaphysikkritik, Erkenntniskritik und Anthropologie sowie Anthropologie und Ethik als eng miteinander verflochten erwiesen haben, so sind auch Anthropologie und Darstellungsformen von Philosophie bei Nietzsche in einem reziproken Verhältnis zueinander zu betrachten. Gleichermaßen gehen auch Erkenntnistheorie und Experimentalphilosophie bei ihm Hand in Hand.368 Die Parallelen zum subjektiven Denker Kierkegaards sind offensichtlich und müssen nicht erneut eigens hervorgehoben werden. Wie Kierkegaard sieht sich Nietzsche dem Authentizitätskriterium verpflichtet. Dies bedeutet zum einen, die Form der Darstellung an den Inhalt und den Gegenstand der Philosophie adäquat anzupassen, und zum anderen, den eigenen philosophischen Überzeugungen gemäß zu leben und sie nicht bloß dozierend, auf der Ebene der Theorie verbleibend, vorzutragen. Philosophie und Leben, Philosophie als Leben und Leben als Philosophie versucht Nietzsche in seiner Experimentalphilosophie zum Ausdruck, zur Darstellung und zur Einheit zu bringen, wobei sich Biographie und
|| 362 Safranski 2013, S. 17. 363 Nietzsche NF-1882, 4[266], KSA 10, S. 183. 364 Vgl. Meyer 1993, S. 61. 365 Safranski 1997, S. 19. 366 Neymeyr 2012, S. 78. 367 Vgl. Gerhardt 1986, S. 55f. 368 So bezeichnet Gantschow 2011, S. 180 im Anschluss an diese Feststellung Nietzsches Philosophie als eine „perspektivische Entdeckungsreise“.
240 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Philosophie, Autor und Werk, als nicht voneinander zu trennen erweisen. Philosophie und Leben sind bei Nietzsche so eng miteinander verwoben, dass das Philosophieren für ihn letztlich zu einem Experiment mit dem eigenen Leben und im Leben wird. „Das Product des Philosophen ist sein L e b e n “,369 wie Nietzsche bereits 1873 festhält. Einmal zur Freiheit der Vernunft gelangt, darf das Leben wieder ein Experiment des Erkennenden sein.370 Das ,Dürfen‘ ist hierbei hervorzuheben, da es nun keine objektiv-verbindlichen Handlungs- und Orientierungsmaßstäbe mehr gibt. Das spiegelt die Freiheit des freien Geistes wider und mag an Heideggers Ausspruch, dass die Philosophie nun wieder lebendig sein dürfe, erinnern, den er im Kontext des Ersten Weltkrieges und damit in einer Zeit der Auflösung von Sinn- und Wertestrukturen äußert.371 Philosophieren und Erkennen sind somit unmittelbar an Leidenschaft gebunden. Die Leidenschaft im Prozess des Erkennens hebt der Nietzsche-Biograph Curt Paul Janz wie folgt hervor: „[E]r [Nietzsche] denkt die Probleme nicht einfach durch, Philosophieren ist ihm nicht nur ein Denkprozeß, er erlebt, das heißt erleidet die Probleme, und daraus erwächst die einmalige Brisanz seines Beitrages zur Philosophie.“372 Volker Gerhardt sieht in Nietzsche einen Erneuerer des sokratischen Philosophierens, insofern man dieses als ein lebendiges Denken versteht, und sieht in ihm einen modernen Sokrates, der zwar nicht mehr auf dem Marktplatz, aber im Medium der Schrift sich fragend und provozierend an andere wendet373 – freilich eine Parallele zum ,dänischen Sokrates der Moderne‘, Søren Kierkegaard. Insofern Leidenschaft lebenspraktisches Interesse und Interessengebundenheit inkludiert,
|| 369 Nietzsche NF-1873, 29[205], KSA 7, S. 712. Siehe auch Nietzsche NF-1874, 34[37], KSA 7, S. 804. 370 „[V]on jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei!“, so Nietzsche in FW, 324, KSA 3, S. 552. 371 Vgl. hierzu Heidegger 2007a, S. 37 sowie S. 22f. der vorliegenden Arbeit. 372 Janz 1981, S. 46. 373 Vgl. Gerhardt 2011, S. 225. Es sei zugleich jedoch darauf hingewiesen, dass sich bei Nietzsche kein einheitliches Sokrates-Bild findet. Mal dient er ihm als Vorbild, mal stilisiert er ihn zu seinem Feindbild hoch. Wir erinnern uns an den Aphorismus 340 aus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem er den sterbenden Sokrates als einen lebensverneinenden Menschen skizziert. Dennoch finden sich beim frühen Nietzsche, wie bei Kierkegaard, Stellen, an denen er betont, Platon und nicht Sokrates markiere die eigentliche Zäsur im antiken Denken. Gleichermaßen wird dort auf den Idealismus Platons verwiesen, der dort als Abgrenzungsmotiv zum Praxisbezug eines Sokrates fungiert. Siehe hierzu auch S. 80f. der vorliegenden Arbeit.
Philosophie und Leben. Experimentalphilosophie als Methode | 241
zählt sie auch für Jutta Georg zu den zentralen Merkmalen von Nietzsches alternativem Erkenntnisbegriff.374 Ein der breiten Philosophietradition entgegengesetzter Erkenntnisbegriff findet sich im Ansatz schon in der frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: Soll nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtet, würde sich selbst mit vernichtet haben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eigenen Fortexistenz hat.375
Nur dasjenige Erkennen, das in einem direkten Bezug zum Leben und zur Existenz steht, ist wesentliches Erkennen. Die zitierte Passage könnte ebenso gut aus der Feder Kierkegaards stammen. „‚Philosophie‘ hat für ihn [Nietzsche] nur Wert, wenn sie ‚gelebt‘ wird. In diesem Sinne ist Nietzsches Philosophie Existenz-Philosophie“,376 so Theo Meyer. Dass so ein solches Philosophieverständnis an Grenzen der Mitteilbarkeit – zumindest im Sinne der klassischen Textformen – stößt, registriert Nietzsche selbst in einem Brief an Franz Overbeck: „[M]eine ,Philosophie‘, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist n i c h t m e h r mittheilbar, zum Mindesten nicht durch Druck.“377 In diesem Abschnitt soll das Motiv und Anliegen einer Philosophie als Lebensform und Experiment anhand der Vorreden Nietzsches aus dem Jahre 1886 exemplarisch nachgezeichnet werden.378 Warum sind gerade in diesem Kontext die Vorreden von 1886 von Interesse? Um diese Textauswahl zu plausibilisieren, muss ein kurzer Blick in die Entstehungsgeschichte jener Vorreden geworfen werden.
|| 374 Vgl. Georg 2018b, S. 24. 375 Nietzsche UB II, 10, KSA 1, S. 330f. 376 Meyer 1993, S. 64. 377 Nietzsche KSB 7, S. 62. 378 Allein Martine Béland lädt mit dem sprechenden Titel ihres Aufsatzes „Les préfaces de Nietzsche: Invitation à la philosophie comme expérience“ zu einer solchen Analyse ein. Vgl. Béland 2014.
242 | Nietzsche: Leben und Lebensentwurf
Die Vorreden von 1886379 Vorreden im Allgemeinen nehmen meist einen besonderen Stellenwert, Status und eine spezifische Funktion in der Welt der Literatur ein. Üblicherweise dienen sie dem Verfasser eines Buches dazu, dem Leser den Zugang zu seinem Text zu erleichtern, was nicht zuletzt durch eine Art von Kontextualisierung erfolgen kann. Somit weckt jenes Textgenre die Aufmerksamkeit eines achtsamen Lesers und Interpreten, insofern Vorreden meist das Zeugnis einer Selbstpositionierung des Autors zum eigenen Text darstellen. Anhand von ihnen können mitunter die Absichten, die der Verfasser mit seinem Text verfolgt, offengelegt und seine Selbsteinschätzung einer kritischen Analyse unterzogen werden. Dies scheint von umso größerem Interesse bei Autoren, welche ihr Werk als eng verbunden mit ihrem Leben und ihren Erlebnissen ansehen. Es ist demnach kaum verwunderlich, dass auch Nietzsche eine Vielzahl an Vorreden zu seinen Texten verfasst hat.380 Die Vorreden des Jahres 1886 nehmen dabei eine Schlüsselrolle in der Komposition und dem Selbstverständnis seines Gesamtwerkes ein. 1886 ist für Nietzsche ein Jahr der Bilanzierung und retrospektiven Betrachtung des bis dahin eigenen literarischen und philosophischen Schaffens.381 In Vorbereitung dazu fasst er im Herbst 1885 den Entschluss, seine bisherigen Schriften neu aufzulegen und ihnen bei dieser Gelegenheit Vorreden voranzustellen und hinzuzufügen. Im Kern handelt es sich um die Bücher Die Geburt der Tragödie, Menschliches, Allzumenschliches I, Menschliches, Allzumenschliches II, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft. Nietzsche selbst sieht die genannten Schriften als seine bedeutsamsten an, und mit der Fertigstellung des Buches der
|| 379 Unter dem Titel Friedrich Nietzsche. Ecce auctor. Die Vorreden von 1886 hat Claus-Artur Scheier diese Texte in einer gesonderten Ausgabe eigens herausgegeben und mit einer Einleitung versehen. Siehe hierzu Scheier 1990. 380 Im Laufe seines Lebens hat Nietzsche 26 Vorreden verfasst, wovon fünf die sogenannten Vorreden des Jahres 1886 bilden. Bemerkenswert ist, dass den Vorreden Nietzsches bislang insgesamt wenig Aufmerksamkeit in der Forschung geschenkt wurde. Jüngste positive Ausnahmen sind Béland 2014 (für die französischsprachige Rezeption) sowie van Tongeren 2012 und Pichler 2016 (für die deutschsprachige Rezeption). Im Kontext einer Studie zur zweiten Auflage von Die fröhliche Wissenschaft befasste sich auch schon Groddeck mit der dazugehörigen Vorrede. Siehe dazu Groddeck 1997. Eine vollständige Auflistung aller Vorreden findet sich bei Béland 2014, S. 502. Die geringe Beachtung der Vorreden in der Forschung ist umso erstaunlicher als Nietzsche sie in einem Brief an seinen Freund Franz Overbeck als „vielleicht meine beste Prosa, die ich bisher geschrieben habe“ (Nietzsche KSB 7, S. 282) bezeichnet. 381 Vgl. Denat 2016, S. 201.
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Fröhlichen Wissenschaft wird in der Forschung üblicherweise der Abschluss seiner ersten bzw. zweiten Schaffensperiode382 assoziiert. Die Besonderheit der Vorreden von 1886 besteht u.a. darin, dass sie einige Jahre nach den jeweils dazugehörigen Werken verfasst und publiziert wurden. So liegen zum Beispiel zwischen der ersten Auflage von Menschliches, Allzumenschliches I (1878) und seiner zweiten, durch eine achtteilige Vorrede angereicherten, Neuauflage (1886) circa neun Jahre. Vom Standpunkt dieser großen zeitlichen Distanz her könnte man sagen, es handele sich strenggenommen eher um Nach- als um Vorreden. Wie sich zeigen wird, eignen sich die Vorreden dazu, den zeitlich zuvor verfassten Text zu interpretieren, zu kontextualisieren und zugleich den Werdegang und Entwicklungsprozess des Philosophen Nietzsche bis zum jeweiligen Zeitpunkt nachzuzeichnen und nachzuvollziehen; sie werden zum Zeugnis einer individuellen geistigen Entwicklungsgeschichte. Zur Typisierung dieser Vorreden als einer Entwicklungsgeschichte gibt uns Nietzsche selbst Anlass, der in einem Brief an Meta von Salis vom 14. September 1887 schreibt: „Damit ist nunmehr alles Wesentliche angedeutet, was zur vorläufigen Orientierung über mich dienen kann: von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letzt genannten Buchs — das giebt eine Art ,Entwicklungsgeschichte‘.“383 Mit dem letztgenannten Buch ist hier Zur Genealogie der Moral gemeint. Die Entwicklungsgeschichte verbindet Nietzsche in dem Brief zudem mit dem Motiv einer Selbstkommentierung, wodurch die Vorreden zu einem kritischen, zeitlich distanzierten Selbstkommentar der eigenen Schriften werden und eine geistige Entwicklung zum Ausdruck bringen.384 Die Vorrede zu seiner ersten veröffentlichten Schrift, Die Geburt der Tragödie, trägt den sprechenden Titel „Versuch einer Selbstkritik“.385
|| 382 Dies hängt, wie schon erwähnt, davon ab, ob Nietzsches Werk in zwei oder drei Zyklen gegliedert wird. 383 Nietzsche KSB 8, S. 151. 384 Einer solchen Interpretation folgt auch Scheier 1990, S. VIII. Siehe ebenfalls Schmidt 2012, S. 3. In seiner nicht nur für die französische Nietzsche-Rezeption bahnbrechenden Nietzsche-Biographie sieht Charles Andler in diesen Vorreden eine Interpretation der eigenen Vergangenheit durch Nietzsche. Vgl. Andler 1928, S. 464. Dies entspricht dem Vorhaben Nietzsches von 1886, eine Bilanz seines Schaffens zu ziehen. Dehrmann 2014, S. 279 interpretiert die Vorreden als einen retrospektiven Kommentar, der das bisherige Werk mit der Logik einer Entwicklung versehe. 385 Zu dieser Vorrede schreibt Nietzsche an Fritzsch: „Dieser ‚Versuch‘, zusammengehalten mit der ‚Vorrede von Menschl. Allzumenschliches‘, ergiebt eine wahre A u f k l ä r u n g über mich — und die allerbeste Vorbereitung für meinen verwegenen S o h n Zarathustra.“ (Nietzsche KSB 7, S. 237).
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Nietzsche selbst schreibt zu seinem Vorhaben an seinen Verleger Fritzsch: „Nehmen wir an, daß bis zum Frühjahr meine ganze Litteratur, so weit sie in Ihren Händen ist, zum neuen Fluge fertig und neu ‚beflügelt‘ ist. Denn diese ‚Vorreden‘ sollen Flügel sein!“386 In einem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Heinrich Köselitz beschreibt Nietzsche das Ziel der Neuauflagen als den Versuch, „die alten Bücher in ihren neuen sauberen Kleidern“387 zu zeigen. Es scheint, als sollten die Vorreden jenen Büchern neue Flügel in zweifacher Hinsicht verleihen: Zum einen verbirgt sich hinter dem Bestreben das simple finanzielle Anliegen, die Aufmerksamkeit auf die Werke zu erhöhen und dadurch die Zahl der verkauften Exemplare zu steigern – hierzu muss man wissen, dass sich beinahe alle Werke Nietzsches zu seinen Lebzeiten nur sehr schlecht verkauften. Zum anderen und dem aus der Perspektive eines Interpreten allemal gehaltvolleren Aspekt scheint es Nietzsche darum zu gehen, die alten Texte in einem neuen Licht, in sauberen Kleidern wie er sagt, erscheinen zu lassen. Was kann damit gemeint sein? Eine Notiz mit dem bezeichnenden Titel „V o r r ed e n u n d N a c h r e d e n “ aus dem Nachlass, die zudem auf das Jahr 1886 datiert ist, gibt hierüber Aufschluss. Dort lesen wir: Meine Schriften reden nur von meinen eigenen Erlebnissen ― glücklicherweise habe ich Viel erlebt ―: ich bin darin, mit Leib und Seele ― wozu es verhehlen?, ego ipsissimus, und wenn es hoch kommt, ego ipsissimu m . Aber es bedurfte bei mir immer erst einiger Jahre Distanz, um jene gebieterische Lust und Kraft zu verspüren, welche jedes solches Erlebniß, jeden solchen ü b e r l e b t e n Zustand darstellen heißt.388
Zum einen bezieht Nietzsche seine Texte unverhohlen auf die eigenen Erlebnisse zurück und lässt sie zum Dokument einer persönlichen Geschichte werden – dem werden wir anhand der Fröhlichen Wissenschaft detaillierter nachgehen –, zum anderen scheint Nietzsche hier zum Leser seiner eigenen Schriften zu werden. Mehr noch: Er scheint nun nach einigen Jahren des Abstands seine eigenen Texte erst angemessen einordnen zu können. Im Laufe der Re-Lektüre seiner Bücher eignet er sich die Inhalte dieser an, erkennt sich in ihnen wieder, und zugleich sind es diese Bücher selbst, die die Person ‚Nietzsche‘ (neu) bilden. Die Vorreden zeigen, wie Nietzsche sich selbst durch die erneute Lektüre in einem neuen Licht entdeckt. Er selbst versteht nun seine eigenen Texte auf eine andere, seiner Selbsteinschätzung nach adäquatere, Weise und verspürt damit einhergehend
|| 386 Nietzsche KSB 7, S. 238. 387 Nietzsche KSB 7, S. 274. 388 Nietzsche NF-1886, 6[4], KSA 12, S. 232.
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die Notwendigkeit, seinen Lesern diese neue Sicht auf die Texte mitzuteilen und sie zu den Texten hinzuführen. Die Vorreden sieht Nietzsche als eine Art Lesehilfe an, die den Leser durch sein Werk führen und ihn auf den Weg der zentralen Botschaft seiner Schriften bringen soll.389 Die Stimme eines autodiegetischen Erzählers rekonstruiert aus einer zeitlichen Distanz heraus die Entstehungsbedingungen der Bücher, der Erzähler wird zugleich die Hauptfigur, er legt quasi seine eigene Geschichte dar.390 Eine solche Hinführung zu seinen Schriften bedurfte einiger Jahre der Distanz. Nietzsche musste sich nach eigenem Bekunden selbst erst über den Wert und die Bedeutung der in diesen Schriften vollzogenen philosophischen Erfahrung und Entwicklung bewusst werden. So teilt er seinem Verleger Fritzsch schließlich im August 1886 seine Überlegung mit, seinen Schriften Vorreden beizufügen und sie neu herauszugeben: Sie werden bemerken, daß Menschl‹iches› Allzum‹enschliches› die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede e r m a n g e l n : es hatte gute Gründe, daß ich damals als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte – ich stand noch zu nahe, noch zu sehr ,drin‘ und wußte kaum, was mit mir geschehn war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche an diesen Werken ist…würde ich mich zu solchen z u r ü c k b l i c k e n d e n und nachträglichen Vorreden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine f o r t l a u f e n d e E n t w i c k l u n g dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebniß und Schicksal sein wird.391
Mit Paul van Tongeren können wir die Vorreden als Zeugnis dafür ansehen, wie Nietzsche sich seine eigenen Texte angeeignet hat: Nietzsche zeigt uns, wie wir seine Texte zu lesen haben, indem er beschreibt, wie er sie selbst (erneut) gelesen hat.392 Die Vorreden enthalten Wesentliches zum Verständnis seiner Bücher und „der ihnen zu Grunde liegenden s c h w e r v er s t ä n d l i c h e n Selbstentwicklung.“393 Nietzsche skizziert, wie er sie selbst (wieder)gelesen und sich darin (wieder)gefunden hat. Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette sieht eine Schlüsselfunktion des literarischen Genus der Vorreden insgesamt darin, dass sie eine Art ,Schwelle‘ zwischen dem Autor und seinem Text bilden394 – dies gilt insbesondere für auktoriale, d.h. durch den Autor selbst verfasste, Vorreden. Sie erfüllen unter diesem Gesichtspunkt eine Zubringerfunktion, da die zwei zentralen Funktionstypen einer Vorrede sind: (1) den Leser bei der Stange zu halten und (2)
|| 389 Vgl. auch Kast 2019, S. 35. 390 Vgl. Pichler 2016, S. 51. 391 Nietzsche KSB 7, S. 225. 392 Vgl. van Tongeren 2012, S. 12. 393 Nietzsche KSB 7, S. 228. 394 Vgl. Genette 2019, S. 10.
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ihn zu führen. Diese Funktionen erfüllt eine Vorrede, indem sie dem Leser vermittelt, warum und wie er den Text lesen soll.395 Der Interpret wird mit einem komplexen Autor-Werk-Verhältnis konfrontiert. Wie gesehen, ist im Falle Nietzsches – wie auch bei Kierkegaard, der sich selbst lieber als Leser denn als Verfasser seiner Schriften verstand – das Werk zum Großteil Dokument einer persönlichen geistigen Entwicklungsgeschichte, andererseits konstituiert sich das Selbst des Verfassers zu einem Teil erst durch das Schreiben ebendieser Texte. Nun kommt mit der distanzierten Re-Lektüre der eigenen Texte eine dritte Dimension hinzu. Der Autor sieht sich aus einer anderen Perspektive, entdeckt seine Texte und sich selbst neu. Er nimmt sein alter ego aus einem zeitlichen Abstand heraus anders wahr. Dieser dritten, hinzukommenden Dimension kann dadurch ein epistemischer Gehalt und Mehrwert attestiert werden, da durch sie die Selbstwahrnehmung um eine weitere Perspektive bereichert wird. Dies geschieht ganz im Sinne des von Nietzsche vertretenen erkenntnistheoretischen Perspektivismus.396 Während der Jahre der Bilanzierung von 1885/86 bekommt das Denken Nietzsches immer stärkere autoreferentielle und existenzielle Züge. Die Vorreden nehmen die Form einer Autobiographie an.397 Sein Leben wird zu einem wahren Experiment, der Philosoph zum eigentlichen Gegenstand der eigenen Philosophie. Schon in der ersten Ausgabe von Die fröhliche Wissenschaft formuliert Nietzsche folgende, für das Denken eines freien Geistes zentrale, Frage: „Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? — das ist die Frage, das ist das Experiment.“398 In diesem Sinne kann bei Nietzsche, wie bei Kierkegaard, von einer Subjektivitätsphilosophie gesprochen werden. Nietzsche sieht nach eigenem Bekunden die Schriften seiner mittleren Schaffensphase – wozu die Gaya Scienza zählt – als seine persönlichsten an. „Schon in diesen Texten war Nietzsche unterwegs zu einer sehr persönlichen, seine Grundstimmung literarisch gestaltenden Mitteilungsform“,399 so Salaquarda.
|| 395 Vgl. ibid., S. 229. Im Fazit seiner zum Standardwerk gewordenen Studie, Paratexte, hält Genette somit fest: „Das hauptsächliche Anliegen des Paratextes…besteht nicht darin, im Umfeld des Textes ‚hübsch zu wirken‘, sondern ihm ein Los zu sichern, das sich mit dem Vorhaben des Autors deckt.“ (ibid., S. 388). 396 Zur Position des Perspektivismus bezogen auf die Existenz des Menschen schreibt zum Beispiel Gantschow 2011, S. 188: „Jede Horizonterweiterung führt zu einem aufgeklärteren und kundigeren Umgang mit der Vielfalt im weltlichen Bewährungsraum der Existenz.“ 397 Vgl. van Tongeren 1994, S. 104. 398 Nietzsche FW, 110, KSA 3, S. 471. 399 Salaquarda 1997, S. 168. Vgl. ferner ibid., S. 172f.
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Im Laufe der Lektüre der Vorreden von 1886 wird dann deutlich, dass diese Bücher Teil und Ausdruck einer Verkörperung und Einverleibung einer bestimmten Philosophie sind. Nach van Tongeren gewähren uns die Vorreden somit einen Einblick in die eigentliche Philosophie Nietzsches, welche wiederum selbst als eine Vorrede zu einer bestimmten Lebensweise, zu einem Experiment im und mit dem Leben betrachtet werden könne.400 Es handelt sich um einen Aufruf zu einer Philosophie als Experiment. Nietzsches Auffassung von Philosophie als Lebensform wird in den späten Schriften immer deutlicher, wobei insbesondere in folgender Passage aus Jenseits von Gut und Böse die enge Verbindung von persönlichem Erleben und Philosophie hervorsticht: „Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muss es ,wissen‘, aus Erfahrung, — oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen.“401 Wie bei Kierkegaard so ist auch bei Nietzsche Philosophie – insofern sie sich mit Fragen der Existenz und des Lebens beschäftigt – weder direkt lehrbar noch erlernbar. Schauen wir uns exemplarisch die Vorrede zur neuen Auflage der Fröhlichen Wissenschaft an, so scheint es nicht überspitzt, die Vorreden als die persönlichsten Schriften Nietzsches zu typisieren. Mittels der Vorreden verbindet Nietzsche seine Schriften mit der Person ‚Nietzsche‘. Die fröhliche Wissenschaft als Ganze nimmt eine zentrale Stellung im Gesamtwerk Nietzsches ein, dort ist sein Denken zur Philosophie eines freien Geistes geworden, d.h. zu Nietzsches eigener, konstruktiver Philosophie, die auf die Phase der Destruktion und Entwertung der alten Werte folgt.402 Legt Nietzsche nun in der im Nachhinein dazu verfassten Vorrede Zeugnis von diesem Entwicklungsprozess ab, erweckt sie im besonderen Maße die Neugierde des aufmerksamen Lesers. Sind die Vorreden Bindeglieder zwischen Autor und Text, so wird die Vorrede im Falle der Fröhlichen Wissenschaft zu einem verbindenden Element zwischen dem Buch und der Person ‚Nietzsche‘ als einem freien Geist. Es lässt sich eine Übereinkunft zwischen dem Zustand des freien Geistes und dem des Autors als Erzähler der Geschichte konstatieren.403 Dort erhalten wir Einblick in die Entwicklungsgeschichte Nietzsches hin zu einem freien Geist, zu jemandem, der zur Freiheit der Vernunft gelangt ist und sich von den alten Werten emanzipiert hat. Der Briefwechsel mit seinem Verleger Fritzsch aus den Jahren, in denen er diese Vorreden verfasst hat, stützt eine || 400 Vgl. van Tongeren 2012, S. 16. 401 Nietzsche JGB, 213, KSA 5, S. 147. 402 Dass der Fröhlichen Wissenschaft ein besonderer Status zukommt, wird heute kaum mehr bestritten. Jüngst betonen Benne und Georg 2015, S. 5, dass mit ihr der „Auftakt zu seiner [Nietzsches] eigenen, neuartigen Philosophie und deren ebenso neuartigen Form der Darstellung“ beginnt. 403 Vgl. Weijers 1994, S. 49.
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solche Interpretation: „[S]ie [die Vorreden] deuten den Weg an, den ich gegangen bin“,404 schreibt Nietzsche dort. Folgt man dieser Selbstinterpretation, so eignen sich die Vorreden dazu, den geistigen Entwicklungsweg Nietzsches bis zu jenem Moment der Entstehung des Buches mit- und nachzuvollziehen. Martine Béland bemerkt, dass somit in diesen Texten nicht mehr zwischen dem Autor und seinem Werk unterschieden werden kann.405 So scheint es durchaus erlaubt, die Vorreden als die persönlichsten Schriften Nietzsches zu bezeichnen. Es ist demnach Wolfram Groddeck zuzustimmen, dass für eine gewissenhafte Nietzsche-Interpretation nicht nur darauf Acht gegeben werden muss, was Nietzsche sagt und wie er es sagt, sondern auch, wo er es sagt.406 Die Topologie und Struktur des Gesamtœuvres müssen mitberücksichtigt werden – zumindest in dieser Hinsicht entbehrt natürlich auch Nietzsches Werk nicht jeglicher Systematik, wobei hier Letztere gerade zu einem Gegenentwurf gegen abschließende Systeme idealistischer Weltausdeutung407 wird. Nietzsches Texten liege eine „architektonische[.] Rationalität“ zugrunde, und er selbst habe sich mehrfach zur „Kompositionslogik“408 seiner Schriften geäußert, so Groddeck. Das Philosophieren in Aphorismen ist bei Nietzsche, so lässt sich sagen, Ausdruck einer systematischen Kritik an der Systemphilosophie. Dies kommt gerade durch den Charakter des Aphorismus, der sich nicht als Moment eines vernünftigen Ganzen begreift, zum Vorschein.409
|| 404 Nietzsche KSB 7, S. 243. 405 Vgl. Béland 2014, S. 509. Zur Aufhebung dieser Trennung merkt Weijers 1994, S. 51 etwas allgemeiner an: „Sowohl das Vorwort als auch die Biographie sind Gattungen, in denen der Name des Autors kein Tabu ist. Der allgemein anerkannte Unterschied zwischen Erzähler und Autor muß hier aufgegeben werden, weil derjenige, der erzählt, mit dem Autor, so wie er sich in seinem Werk präsentiert, zusammenfällt.“ 406 Vgl. Groddeck 1997, S. 184. Nietzsche spricht u.a. von einer notwendigen Aufeinanderfolge der vor Also sprach Zarathustra entstandenen Schriften, um den Zarathustra verstehen zu können. Siehe hierzu Nietzsche KSB 7, S. 237. Pichler 2016, S. 72 hält dazu fest: „Ein solches Denken ist unmittelbar an den Erzähler des Textes und das ihm wiederfahrende Geschehen gebunden und kann daher nicht – wie traditionellere Philosopheme – ohne Bedeutungsverluste aus diesem narrativen Rahmen extrapoliert werden.“ 407 Vgl. Gantschow 2011, S. 229. 408 Groddeck 1997, S. 184. Löwith 1986, S. 15–24 sieht bei Nietzsche ein System in Aphorismen. Zur aphoristischen Gestalt seines Werkes insbesondere in Abgrenzung zur Hegelschen Philosophie siehe Borsche 1992. Zur Anordnung der Aphorismen heißt es ibid., S. 61: „Beide, sowohl der einzelne Aphorismus wie auch das Gebinde vieler zu einem Buch, haben in der Regel eine innere, verborgene Ordnung.“ 409 Vgl. Borsche 1992, S. 57.
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Vertraut man Nietzsches Selbsteinschätzungen, so werden die Vorreden zum Zeugnis einer großen persönlichen Krise, die Nietzsche durchlebt und nun – zum Zeitpunkt der Redaktion der Vorreden – überwunden hat. Die Vorreden verbinden die in den ursprünglichen Texten dokumentierte Krise bzw. Krankheit mit der Überwindung bzw. dem Status der Genesung zum Zeitpunkt der Verfasserschaft der Vorreden. Es handelt sich dabei, wie wir nun am Beispiel der Fröhlichen Wissenschaft sehen werden, um das Verhältnis von Nihilismus und Überwindung des Nihilismus. Die Vorreden können in dieser Hinsicht als Paratexte klassifiziert werden. Wir haben es mit einem Spannungsverhältnis zwischen „Text und Paratext, auf der Schwelle zwischen Werk und Person Nietzsche, zwischen alten Schriften und ,freie[m] Geist‘“410 zu tun. Tab. 3: Das Spannungsverhältnis von Text und Vorrede bei Nietzsche
ursprünglicher Text Werk alte Schriften
Paratext (Vorreden) Person ,Nietzsche‘ ,freier Geist‘
Dass die Distanz zwischen Autor und Text, Nietzsche und seinem Werk, in den Vorreden nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, zeigt ein erneuter Blick in den Briefwechsel zwischen Fritzsch und Nietzsche. Mit dem Abschluss der Vorreden sei ein Wesentliches getan, „um das Verständniß meiner ganzen Litteratur (und Person) zu erleichtern“,411 so Nietzsche. Durch den Zusatz ‚und Person‘ verbindet Nietzsche explizit sein Werk mit seinem eigenen Leben und seinen Erlebnissen, seine Philosophie wird zu seinem Leben und sein Leben zu seiner Philosophie. Nietzsche macht kein Geheimnis daraus, dass seine Bücher Dokumente eines persönlichen Erlebnisses sind, einer durchlebten Krise, welche er nun überwunden hat. Das Verhältnis von Werk und eigenem Erleben ist derart grundlegend, dass Nietzsche sogar in der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft den Verdacht äußert, „ob Jemand ohne etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem Erlebnisse dieses Buchs durch Vorreden näher gebracht werden kann.“412 Nietzsches Werk und
|| 410 Groddeck 1997, S. 190. 411 Nietzsche KSB 7, S. 296. 412 Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 345. Vgl. hierzu ergänzend Nietzsche NF-1885, 40[66], KSA 11, S. 666.
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sein ganzes literarisches Schaffen erweisen sich dort als unmittelbar und untrennbar verbunden mit seiner Person: La fonction de la préface nietzschéenne est ainsi performative. En effaçant les limites généralement perçues entre l’auteur, l’œuvre et le lecteur, Nietzsche montre l’imbrication de la production et de la réception dans une œuvre ouverte à la participation du lecteur. Ses préfaces mettent en scène l’exercice de la philosophie de manière à inciter le lecteur à faire par lui-même une ,expérience vécue‘ analogue à celle de l’auteur. La rédaction de préfaces est donc une tâche philosophique.413
Martine Bélands Analyse der Vorreden erweist sich als wegweisend für unsere Interpretation der Experimentalphilosophie Nietzsches im Kontext der Entstehung der Existenzphilosophie. Nietzsche verweist auf persönliche Erlebnisse, die seiner Philosophie zugrunde liegen, wodurch Letztere eine zutiefst subjektive und persönliche Dimension erhält – letztlich derart zugespitzt, dass ihm Zweifel aufkommen, ob jemand überhaupt seine Bücher verstehen könne, der nicht Ähnliches er- und durchlebt habe. Vor dem Hintergrund von Nietzsches praxisorientiertem Philosophieverständnis ist Béland zuzustimmen, die in diesem Zweifel aus der Vorrede eine performative und appellative Funktion erblickt. Nietzsche appelliert an die Partizipation des Lesers, fordert ihn gewissermaßen zu einem eigenen Experiment und Philosophieren auf. Insofern Nietzsche, wie vor ihm Kierkegaard, auf den aktiven Part des Lesers aus ist, erfüllen die Vorreden eine zentrale Funktion der Tätigkeit eines Philosophen. Im Kontext einer Subjektivitätsphilosophie, die das einzelne Subjekt, seine Erfahrungen, Empfindungen und Erlebnisse zum Ausgangspunkt des Philosophierens macht, wird deutlich, dass Vorreden eine gewichtige Rolle zuwächst, sofern sie als Vermittlungsinstanzen zwischen Autor und Werk fungieren. Wie bei Kierkegaard so ist auch bei Nietzsche die Philosophie nicht vom Philosophen als Existierendem zu trennen. Nietzsche wendet sich hier gleichermaßen gegen das Philosophieverständnis des Deutschen Idealismus. Exemplarisch zeigt sich das an der unterschiedlichen Bedeutung, die Hegel und Nietzsche dem Genre der Vorreden für die Philosophie beimessen. Hegel schreibt in seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: Eine Erklärung, wie sie einer Schrift in einer Vorrede nach Gewohnheit vorausgeschickt wird – über den Zweck, den der Verfasser sich in ihr vorgesetzt, sowie über die Veranlassungen und das Verhältnis, worin er sie zu anderen früheren oder gleichzeitigen Behandlungen desselben Gegenstandes zu stehen glaubt –, scheint bei einer philosophischen Schrift nicht nur überflüssig, sondern um der Natur der Sache willen sogar unpassend und
|| 413 Béland 2014, S. 496.
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zweckwidrig zu sein. Denn wie und was von Philosophie in einer Vorrede zu sagen schicklich wäre – etwa eine historische Angabe der Tendenz und des Standpunkts…–, kann nicht für die Art und Weise gelten, in der die philosophische Wahrheit darzustellen sei.414
Wiederholt manifestiert sich hier die verschiedenartige Auffassung von Wahrheit zwischen Hegel und Denkern wie Kierkegaard und Nietzsche. Für Hegel muss die Philosophie unabhängig vom Philosophen als einzelnem Individuum sein, der Wahrheitsgehalt bestimmt sich gerade losgelöst vom einzelnen philosophierenden Subjekt. Philosophische Abhandlungen seien nicht auf Vorreden angewiesen, ja solche seien vielmehr dort fehl am Platze, da Umstände, wie zum Beispiel ein bestimmter historischer Entstehungskontext oder persönliche Erlebnisse, welche zum Repertoire von Vorreden gehören, keine Relevanz für den Gehalt und Wert einer Philosophie haben, so Hegel. Für ihn verträgt die Philosophie nur eine objektive, wissenschaftliche Abhandlung und eine Vorrede sei demgegenüber eben der Abhandlung rein äußerlich und subjektiv.415 Für einen Denker wie Nietzsche jedoch, der um die enge Bindung des Werkes an den Autor als Person weiß, der sein Philosophieren als Ausdruck und Deutung seiner persönlichen Entwicklungsgeschichte begreift, versteht es sich von selbst, dass er nicht um eine Kontextualisierung und ein In-Bezug-Setzen der Philosophie zu dem jeweiligen Philosophen herumkommt. Ansonsten käme dies, wie in Kapitel 3.1 gesehen, der Überzeugung gleich, dass sich die Dinge auf einem reinen Passivum abzeichnen.416 Kierkegaard weist dem Vorwort einen ähnlichen zentralen Stellenwert zu und lastet Hegel an, dem Vorwort innerhalb der Philosophie einen Todesstoß erteilt zu haben.417 Einem Vorwort geht es nicht um die bloße Darstellung der Sache des Buches, sondern um die „Darstellung des Verhältnisses der Sache zum Leser“418 und zum Autor. Die fröhliche Wissenschaft, die anhand der Erläuterungen der Vorrede als Prozess einer persönlichen Genesung gelesen werden kann, zeigt dies in aller Deutlichkeit. An Hippolyte Taine schreibt Nietzsche im Juli 1887: Das Buch Die fröhliche Wissenschaft „verdanke ich den ersten Sonnenblicken der wiederkehrenden Gesundheit: es entstand ein Jahr später (1882), ebenfalls in Genua, in ein paar sublimklaren und sonnigen Januarwochen.“419 In der Vorrede greift Nietzsche in reicher Metaphorik das Genesungsmotiv auf, es ist von einer „Sprache des
|| 414 Hegel 1986a, S. 11. 415 Vgl. Hegel 1986c, S. 28. 416 Vgl. Nietzsche UB II, 6, KSA 1, S. 289f. 417 Vgl. SKS 4, 468 / V, 174. 418 Krenzke 2002, S. 31. 419 Nietzsche KSB 8, S. 107.
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Thauwinds“ die Rede, in der das Buch geschrieben sei, sowie von der „Dankbarkeit eines Genesenden“. Letztlich sei das Buch einem Geist entsprungen, „der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat“ und nun „von der Hoffnung auf Gesundheit“420 befallen ist. Eindrucksvoller können das eigene Erleben und Leben wohl kaum in Bezug zum Werk gesetzt werden. Bereits in den einleitenden Bemerkungen zu der engen Bindung der Existenzphilosophie an die Geschehnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs (Kapitel 1.2) hat sich die In-Bezug-Setzung eines Werkes zu seinem jeweiligen historischen Kontext als charakteristisch für den Existenzialismus erwiesen. Die von Groddeck erwähnte Trias des Was, Wie und Wo,421 die bei einer Interpretation von Nietzsches Texten mitzuberücksichtigen ist, ließe sich meines Erachtens so um ein Wann bzgl. des zeitlichen Kontextes ergänzen. Auch die Texte des Existenzialismus sind oft Ausdruck einer persönlich durchlebten Krise des Autors. Bei Albert Camus, der unter Tuberkulose litt, begegnen dem Leser teils Handlungsanweisungen des Autors an sich selbst, die einen wahrlich therapeutischen Tenor annehmen und an eine Philosophie als Therapie im stoischen Sinne anknüpfen. Er lässt den Leser Anteil an der eigenen Krankheits- und Genesungsgeschichte haben.422 Um nun abschließend zu plausibilisieren, dass die Vorreden von 1886 exemplarische Belege einer Experimentalphilosophie sind, die das eigene Leben und die eigene Existenz des Philosophen zum Stoff und Gegenstand des Philosophierens selbst werden lassen, wodurch dieses zu einem Gefahren und Risiken bergenden Experiment wird, soll nun skizziert werden, von welcher Krankheit und welcher Genesung Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft und der ihr korrespondierenden Vorrede spricht. Reiht man Die fröhliche Wissenschaft wie üblich in Nietzsches Phase des freien Geistes, sprich des zur Freiheit der Vernunft gelangten Menschen, der somit, wie in Kapitel 3.2 festgestellt, zum Wanderer ohne Ziel wird, ein, so liegt es auf der Hand, dass die Krankheit, von welcher Nietzsche nun genesen ist, diejenige des Nihilismus – der Tatsache, dass sich die alten Werte entwertet haben – ist. „,Fröhliche Wissenschaft‘: das bedeutet die
|| 420 Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 345. Dehrmann 2014, S. 282 rekapituliert dementsprechend bzgl. der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft: „Aus der Position der Gesundheit heraus reflektiert der Vorredner, welche Rolle die Krankheit in diesem Prozess spielte.“ 421 Siehe S. 248 der vorliegenden Arbeit. 422 Siehe exemplarisch Camusʼ Tagebucheintrag „Etappen einer Heilung“. Hierzu vgl. Camus 1997, S. 279–281.
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Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat“.423 Die retrospektive Typisierung der Gaya Scienza als das ausgelassene Fest eines freien Geistes korreliert mit den idiomatischen Redewendungen, die im Werk selbst Verwendung finden. Erinnern wir uns zurück an die Metaphern der bevorstehenden Abenteuer oder der nun vor uns liegenden offenen Meere und Horizonte.424 Sie wurden zu Signa neuer Möglichkeitsspektren für denjenigen Menschen, der sich der alten Werte und Ideale entledigt hat. Die direkte Anbindung des Buches an das eigene Erleben und die eigene Person erfolgt sogleich durch das Bekenntnis: „Und was lag nunmehr Alles hinter mir!“425 Der experimentalphilosophische Charakter wird durch die Bedeutung verstärkt, die Nietzsche den Erlebnissen zuschreibt. Der zu Beginn der Vorrede gehegte Zweifel, ob jemand, der nicht etwas Ähnliches durchlebt habe, sein Buch überhaupt verstehen könne, steigert diese Bedeutung beinahe ins Unermessliche. In dem ersten Abschnitt der Vorrede liegt der Akzent auf den eigenen Erlebnissen, die Schilderungen dokumentieren einen Genesungsweg. Nietzsches philosophisches Fragen wird in jener Phase immer deckungsgleicher mit seinem persönlichen Fragen, es wird zum Ausdruck der existenziellen Haltung eines freien Geistes,426 das „eigentliche Fragezeichen“ wird nun erst gesetzt, wie es im Aphorismus mit dem bezeichnenden Titel „D i e g r o s s e G e s u n d h e i t “427 aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, das wie die Vorrede erst der Neuauflage hinzugefügt wurde, heißt. So kann van Tongeren auch mit Blick auf die Vorrede von Menschliches, Allzumenschliches II, in der Nietzsche davon spricht, dass seine Schriften nur von seinen Überwindungen sprechen, resümieren: „Nietzsche entdeckt sich selber, d.h. den Prozess der Erkrankung und Genesung, der er ist oder für den er sich hält, als das, worum es in seiner Philosophie geht“.428
|| 423 Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 345. 424 In der Vorrede greift Nietzsche diese wieder auf: „Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren“ (Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 346). Insbesondere motivisch korreliert der erste Abschnitt der Vorrede mit dem, ebenfalls der Neuauflage erst hinzugefügten, fünften Teil des Buches. Vor allem zur Metaphorik der offenen Meere siehe Nietzsche FW, 343, KSA 3, S. 574. Vgl. dazu Pichler 2016, S. 50. 425 Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 346 (meine Hervorh.). 426 Vgl. van Tongeren 2012, S. 12. 427 Nietzsche FW, 382, KSA 3, S. 637. 428 Van Tongeren 2012, S. 14. Bei Nietzsche MA II, „Vorrede“ 1, KSA 2, S. 369 heißt es: „Meine Schriften reden n u r von meinen Ueberwindungen; ‚ich‘ bin darin, mit Allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissim u m .“
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Es mag nun zunächst verwundern, dass der zweite Abschnitt der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft mit den folgenden Worten beginnt: „― Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde?“429 Einerseits handelt es sich hierbei natürlich um ein ,rein‘ rhetorisches Stilmittel, das eine gewisse Distanz zwischen Autor und Text suggerieren soll – hier sogar in doppelter Weise, da sich die Äußerung in der Vorrede findet, die selbst wiederum schon eine zeitliche Distanz zum Buch aufweist. Meines Erachtens kann hierin jedoch darüber hinaus ein philosophischer Gehalt von zentraler Bedeutung für Nietzsches Experimentalphilosophie gesehen werden. Es soll in den Vorreden nicht um ‚Herrn Nietzsche‘ im Sinne der historischen, kontingenten Einzelperson ‚Friedrich Nietzsche‘ in ihrer Partikularität gehen. Diese zufällige Person hätte ihre Erlebnisse äußern oder auch nicht äußern können. Das ,ich‘ der Vorreden steht vielmehr für einen individuellen Prozess in seiner Singularität.430 Dieses ,ich‘ könnte auch jemand anders sein, vorausgesetzt, ein anderes Selbst durchlebt eine ähnliche – wohlgemerkt niemals gleiche bzw. identische – Entwicklungsgeschichte, indem dieses seinen eigenen Weg auf eine ebenso einsame Art und Weise beschreitet.431 Hier kommt ein zentrales Motiv der Nietzscheschen Experimentalphilosophie zum Ausdruck. Es handelt sich um eine Methode, die sich an selbstständige, emanzipierte Leser richtet. Der Leser muss selbst ein Abenteurer sein bzw. werden, seinen eigenen Weg der Genesung gehen und ein freier Geist werden. Diesen Weg kann kein Anderer an seiner Stelle beschreiten, er muss von jedem Einzelnen selbst vollzogen werden und wird daher immer auch ein einsamer Weg sein: „La voie du convalescent invite à un processus solitaire“.432 Nietzsches Schriftstellerei wendet sich an autonome Leser, welche die Kraft und den Willen mitbringen, sich von seinen Texten zu emanzipieren. Der Leser wird sozusagen ‚zurückgestoßen‘, es handelt sich um eine Methode des Rückstoßes, die uns unmittelbar an Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung erinnert, welche ebenso den Leser zu einer eigenen Aneignung auffordert. In dieser zunächst paradox anmutenden Anfangspassage des zweiten Teils der Vorrede spiegelt sich letztlich eine Kernbotschaft der Experimentalphilosophie wider. Wie vor ihm bei Kierkegaard, so wächst auch Nietzsches Texten ein appellativer Gestus zu, der seine Leser auffordert, selbst aktiv zu werden und sie damit auf die
|| 429 Nietzsche FW, „Vorrede“ 2, KSA 3, S. 347. 430 Hier schließe ich mich der Interpretation van Tongerens an, der den Unterschied zwischen Partikularität und Singularität aufmacht. Vgl. hierzu van Tongeren 2012, S. 14. 431 Vgl. Béland 2014, S. 508. 432 Ibid., S. 509.
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Notwendigkeit hinweist, dass jeder sein eigenes Leben zum Experiment machen muss. Jeder Einzelne muss selbst den Nihilismus – als psychologischen Zustand, wie in Kapitel 3.1 beschrieben, – durch- und erlebt haben, um die durch die Genesung wiedergewonnene und individuelle Freiheit erfahren zu können. Kein Anderer kann ihm diese Aufgabe abnehmen: „,Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache“.433 In Gedichtform lesen wir dementsprechend in „Scherz, List und Rache“ in der Fröhlichen Wissenschaft: Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgest mir, du gehst mir nach? Geh nur dir selber treulich nach: ― So folgst du mir ― gemach! gemach!434
Getreu seinem Motto, ein guter Lehrer lehre seinen Schülern, sich von ihm loszusagen, möchte Nietzsche ebenso wenig wie Kierkegaard seinen Lesern eine fertige ,Lehre‘ präsentieren oder gar dozieren. Er will keine Nachahmer. Diese Absichtsbekundung und diese Aufgabe schreibt Nietzsche dezidiert seinen Vorreden zu. So notiert er im Nachlass: „Man muß eine Vorrede schreiben, nicht nur um einzuladen, sondern um fortzuscheuchen.“435 Zwar können sich hinter dem Gedanken, den Leser fortzuscheuchen, mehrere Zielsetzungen verbergen, für die hiesigen Überlegungen erscheint mir aber vor allem von Bedeutung, dass Nietzsche damit den Leser zum selbstständigen Philosophieren anregen möchte. Der Gedanke ist ein Aufruf dazu, das eigene Leben zu einem Experiment zu machen – wie auch er es zu seinem Experiment hat werden lassen. Das ist Nietzsches neue philosophische Praxis: Der Nietzsche-Leser wird, mit Urs Sommer gesprochen, „zu einer eigenen philosophischen Praxis gezwungen, zu einer Praxis, die eine spezifische Reaktion auf das Gelesene ist.“436 Von methodologischen Gesichtspunkten aus liegen die Parallelen zu Kierkegaard nun offen zutage: Der Leser muss seine eigenen Erlebnisse durchleben. Durch die bloße Lektüre der Schriften kann den Lesern das Selbstexperiment
|| 433 Nietzsche FW, 255, KSA 3, S. 516. Vgl. hierzu Gantschow 2011, S. 227: „Nietzsche regt seine Leser in den existenziellen Entdeckungsreisen zum nachahmungsresistenten Selbstdenken an. In der eigenen Aneignung geistiger Inhalte sollen wir uns etwas vormachen.“ In einem Brief an Carl Fuchs schreibt Nietzsche: „Es ist durchaus n i c h t nöthig, nicht einmal e r w ü n s c h t , Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstande, schiene mir eine unvergleichlich i n t e l l i g e n t e r e Stellung zu mir. — Verzeihung!“ (Nietzsche KSB 8, S. 375f.). 434 Nietzsche FW, „,Schwerz, List und Rache.‘ Vorspiel in deutschen Reimen“ 7, KSA 3, S. 354. 435 Nietzsche NF-1885, 40[66], KSA 11, S. 667. Vgl. hierzu van Tongeren 2012, S. 10. 436 Sommer 2018, S. 44f.
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nicht abgenommen werden, Letztere sollen vielmehr dazu animiert werden, ihr eigenes Leben zu einem (Selbst-)Experiment zu machen. „So erinnert er seine Leser daran, daß das, was sie lesen, immer Nietzsches eigene Interpretation vom Leben und von der Welt ist.“437 Nun wird verständlich, warum er am Anfang der Vorrede vom Zweifel sprach, von jemandem verstanden werden zu können, der nicht Ähnliches durchlebt habe. Meines Erachtens kann Nietzsches Experimentalphilosophie, wie der Philosophie Kierkegaards, in gewisser Weise eine Methode indirekter Mitteilung attestiert werden. Die Vorreden Nietzsches können gleichsam der Erbaulichen Reden Kierkegaards als Förderung der und hin zur Subjektivität betrachtet werden. Das Problem des Nihilismus ist dabei keineswegs eines, das nur die Einzelperson ‚Friedrich Nietzsche‘ betrifft. Es ist ein allgemeines Problem, insofern es prinzipiell jedem Menschen zu Bewusstsein kommen kann. Die Lösung dieses Problems kann jedoch nie allgemeiner Natur sein, sie kann nur in einem singulären Lebensexperiment als Versuch bestehen.438 Das Erlebnis Nietzsches, von dem in der bzw. den Vorreden die Rede ist, ist sein Erlebnis, aber es ist zugleich nicht nur seins. Einzig in dieser Hinsicht ergibt es letztlich überhaupt Sinn, sich im Duktus einer solchen Experimentalphilosophie an den Leser zu wenden. Würde Nietzsche das Problem ,nur‘ als Problem des ,Herrn Nietzsche‘ erachten, so würde er lediglich für sich selbst schreiben und es würde keine Notwendigkeit bestehen, seinen Büchern nun Jahre später Vorreden hinzuzufügen, die sich an eine Leserschaft wenden, und neue Auflagen drucken zu lassen: ― Sollte mein Erlebniss ― die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus ― nur mein persönliches Erlebniss gewesen sein?…[I]ch möchte heute das Umgekehrte glauben…Darf ich nunmehr, nach sechs Jahren wachsender Zuversicht, sie [die Bücher von Menschliches, Allzumenschliches] von Neuem zu einem Versuche auf die Reise schicken?439
Diese Reise wird zu einem Experiment eines jeden Einzelnen, ein Resultat oder ein ‚Rezept‘ kann Nietzsche seinen Lesern nicht an die Hand geben. Die Intention besteht vielmehr darin, den Leser qua Lektüre darin einzuüben, auf einen finalen
|| 437 Nehamas 2012, S. 66. Pichler 2016, S. 65 weist darauf hin, dass Nietzsche seine Leser direkt anspricht. „One of the most noteworthy aspects of Nietzsche’s philosophy is its existentialism and his ability to speak directly to his readers“, so Brobjer 2008, S. 74. 438 Vgl. van Tongeren 2012, S. 14. 439 Nietzsche MA II, „Vorrede“ 6, KSA 2, S. 376.
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Halt, ein letztes Telos, verzichten zu lernen.440 In dieser Hinsicht bleibt das Erlebnis das eines jeden Einzelnen. In diesem Sinne zielt, wie auch Volker Gerhardt konstatiert, die Experimentalphilosophie auf das Einzigartige ab.441 Nietzsche spricht seine Leser in den Vorreden direkt an, die Voraussetzung, sich selbst zu den Genesenden zählen zu können, ist jedoch, dass man den beschriebenen Prozess selbst mitvollzogen442 und in singulärer – mithin niemals identischer – Form durchlebt hat. Die Verbundenheit von Philosophie und Person bleibt bestehen; so versteht sich auch der Satz aus der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft, man habe auch immer die Philosophie seiner Person.443 Im fünften Buch derselben Schrift kritisiert Nietzsche gleichermaßen den Mangel an Person und Persönlichkeit innerhalb der Philosophie, dort exemplarisch an dem Problem der Moral: „Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber ,unpersönlich‘: nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht.“444 Gesetzt Letzteres sei der Fall, so komme nichts Gehaltvolles dabei heraus. Der Mensch ist eben kein, wie wir an anderer Stelle bereits sahen, kalter Objektivier-Apparat. Einen Mangel an Persönlichkeit in Fragen der Moral attestiert Nietzsche sowohl seiner zeitgenössischen Philosophie als auch dem platonischen und christlichen Denken.445 Nietzsches Verständnis einer Philosophie als Lebensform kommt hier zum Ausdruck. Die Philosophie wird zu einem Experiment und als solche zu einem Experiment mit sich selbst. Der Philosoph als Person wird zum Objekt des Philosophierens, wodurch seine Philosophie eine zutiefst subjektive Dimension erhält. Hier gilt, dass in Bezug auf die Existenz der Mensch nicht mehr Objekt, sondern selbst zum Subjekt des Experiments wird.446
|| 440 Vgl. Pichler 2016, S. 71. 441 Vgl. Gerhardt 1986, S. 57. Dass der Leser kein Resultat erwarten dürfe, hebt auch van Tongeren 2012, S. 11 hervor. 442 Vgl. Pichler 2016, S. 65. 443 Vgl. Nietzsche FW, „Vorrede“ 2, KSA 3, S. 347. In Abgrenzung zum wissenschaftlichen Gelehrten heißt es zum Philosophen bei Nietzsche in JGB, 6, KSA 5, S. 20: „Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches“. In den Absichten eines Philosophen sieht Nietzsche den eigentlichen Lebenskeim von dessen Philosophie. Vgl. dazu JGB, 6, KSA 5, S. 19f. 444 Nietzsche FW, 345, KSA 3, S. 577. 445 „Nietzsche finds the depersonalization and universalism of modern philosophical ethics to represent the same ascetic self-denial and world renunciation that he finds throughout the history of Platonism and Christianity“, so Miles 2013a, S. 226. 446 Vgl. Meyer 1993, S. 59.
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Damit ist ein wesentliches Charakteristikum der Existenzphilosophie und ihrer Werke vorgezeichnet. Die Gebundenheit der Philosophie an die Persönlichkeit des Philosophierenden und seine eigenen persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse und subjektiven Leidenschaften haben zahlreiche Existenzialisten nachdrücklich betont. Exemplarisch sei an dieser Stelle erneut auf Albert Camus verwiesen, der im Rahmen eines Vorwortes zu einer Neuauflage der Essaysammlung Licht und Schatten bekennt, „daß es hier eben um die Dinge geht, die mir am meisten am Herzen liegen und…, daß dieses Büchlein für mich einen bedeutenden Wert als Zeugnis besitzt. Ich sage ausdrücklich für mich, denn mir selbst gegenüber legt es Zeugnis ab, von mir verlangt es eine Treue, deren Ausmaß und Schwierigkeiten ich allein kenne.“447 En passant sei darauf hingewiesen, dass Nietzsche, wie Kierkegaard, den Menschen als Ganzen in dieses Experiment involviert wissen will. Das bedeutet, sowohl die leibliche als auch die geistige Seite der Person sind Gegenstand des Selbstexperiments: „[S]o ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit“.448 Es versteht sich von selbst, dass Nietzsches experimentelles Denken damit Gefahren in sich birgt. Das eigene Leben bzw. die eigene Existenz wird aufs Spiel gesetzt. Ohnehin opponiert Nietzsche gegen die klassische Hierarchie von Seele und Leib, wonach die Seele zumindest über weite Strecken der Philosophiegeschichte höhergestuft wurde. Die Zurückweisung dieser Rangordnung ist Teil des Genesungsprozesses, der Entwertung der alten Werte, selbst. So lesen wir in der Vorrede: „Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen“.449 Nietzsche plädiert für eine im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftliche Philosophie, die den Philosophierenden als Ganzen in Anspruch nimmt. Andernfalls würde eine Seite menschlicher Existenz negiert, denn die Menschen sind „keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden“, und Leben bedeutet für Nietzsche, „[a]lles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln“.450 Nietzsche beschreibt, dass er als Genesender aus einem solchen Experiment, zu welchem Abgründe und Gefahren wesentlich dazugehören, durchaus gestärkt und neugeboren hervorging. Wie schon gesehen, ist ihm der Weg zurück in die Metaphysik als einer Art Zufluchtsort nun versperrt. Er kann und möchte nicht
|| 447 Camus 1973, S. 8f. 448 Nietzsche FW, „Vorrede“ 2, KSA 3, S. 347. 449 Nietzsche FW, „Vorrede“ 3, KSA 3, S. 349. 450 Nietzsche FW, „Vorrede“ 3, KSA 3, S. 349f.
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dahin zurückkehren: „Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.“451 Man beachte, dass es das Leben, das Er- und Durchleben eines Ereignisses war, das diesen Glauben zerstört hat – und gerade nicht eine rein geistige Tätigkeit oder intellektuelle Einsicht. Wie schon in seinen anthropologischen Reflexionen deutlich wurde, kann die Existenz des Einzelnen nie zu einer Abgeschlossenheit oder zu einem Stillstand gelangen, da Existenz immer an ein Werden gebunden ist. Diese Offenheit und Unabgeschlossenheit findet – freilich in kritischer Replik auf die in sich geschlossene Systemphilosophie des Deutschen Idealismus – Ausdruck in der Experimentalphilosophie als Methode und Form der Nietzscheschen Philosophie. In der zu Beginn der Vorrede geäußerten Vermutung, dass diesem Buch, d.h. der Fröhlichen Wissenschaft, vielleicht nicht bloß eine Vorrede Genüge tue,452 spiegelt sich, mit Martine Béland gesprochen, die Offenheit des Gesamtwerkes wider, das aufgrund seines Gegenstandes, der Existenz des Einzelnen, nie zu einem Ende gelangen kann.453 So bleibt auch die Vorrede lediglich ein Kondensat der Aufgabe des Philosophen. Resümierend können wir festhalten, dass Nietzsche anhand seiner Vorreden den Leser an seinem eigenen geistigen Entwicklungsprozess teilhaben lässt und ihn zugleich durch einen methodischen Rückstoß auf sich selbst zurückverweist und ihn damit zum eigenen Selbstexperiment auffordert. So konstatiert Béland: „Donner une préface à un ouvrage philosophique, c’est participer à l’expérience qui lui a donné lieu en lui ajoutant une couche de sens.“454 Doch welche zusätzliche Bedeutungsebene wächst den Büchern Nietzsches durch das nachträgliche Hinzufügen der Vorreden zu? Es wird der Weg hin zum Buch beschrieben, die Vorreden lesen sich somit auch als eine Art Motivationsgeschichte, die dem Verfassen der Schriften zugrunde liegt. Nietzsche berichtet von seinem Erlebnis der Krankheit sowie seiner Genesung als einem durchlaufenen Prozess. Es handelt sich dabei um ein einzigartiges Erlebnis, da es ein individuelles und singuläres, wenn auch kein partikuläres, ist. Zum einen sind diese Dokumente der persönlichen Entwicklungsgeschichte für eine dem Gesamtwerk gerecht werdende Inter-
|| 451 Nietzsche FW, „Vorrede“ 4, KSA 3, S. 352. 452 Vgl. Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 345. 453 Vgl. Béland 2014, S. 511. Acharya verweist, wie gesehen, auf die Notwendigkeit einer indirekten Mitteilungsform bei Nietzsche, insofern der Gegenstand seiner Philosophie die Existenz sei: „[I]f existence can be explicated at all, it is only indirectly through various ,perspectival‘ (perspectivische) points“ (Acharya 2014, S. 43). 454 Béland 2014, S. 511.
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pretation unerlässlich und müssen mitberücksichtigt werden – zu dieser Annahme geben uns Nietzsches Selbstauskünfte sowie die Analyse der Texte selbst, wie gesehen, genügend Anlass. Zum anderen motivieren die Vorreden gemäß inhaltlicher Gesichtspunkte – insbesondere hier am Beispiel der Fröhlichen Wissenschaft skizziert – den Leser, selbst ein Abenteurer-Philosoph zu werden, der seinen eigenen Weg zur Überwindung des Nihilismus gehen muss. Sie fordern somit zur An- und Übernahme einer philosophischen Tätigkeit auf. Die Experimentalphilosophie als eine Methode des Philosophierens zeigt am Beispiel der Vorreden von 1886, dass Nietzsche selbst diese Methode verkörpert, indem er sein eigenes Leben zum philosophischen Experiment hat werden lassen. Die Notwendigkeit dazu sah er bereits in der Fröhlichen Wissenschaft, wenn er davon spricht, es sei nötig, seinem Charakter Stil zu geben.455 Zudem möchte Nietzsche seine Leser selbst zu dieser Methode anregen. Dies sind zwei zentrale Topoi der Experimentalphilosophie. Wie zu Kierkegaard, so lässt sich auch zu Nietzsche festhalten, dass er den Rezipienten nur zu einem ‚Dass‘ und nicht zu einem bestimmten ‚Was‘ einer Handlung auffordern kann. Dies scheint in der zu Beginn formulierten rhetorischen Frage, „und zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem E r l e b n i s s e dieses Buches durch Vorreden näher gebracht werden kann“,456 zum Ausdruck zu kommen, die damit mehr als eine rein rhetorische Frage wäre.
|| 455 Vgl. Nietzsche FW, 290, KSA 3, S. 530. 456 Nietzsche FW, „Vorrede“ 1, KSA 3, S. 345.
4 Fazit und Ausblick: Positionen und Perspektiven 4.1 Kierkegaard und Nietzsche im wirkungsgeschichtlichen Kontext Neuansätze und Umbrüche innerhalb der Philosophiegeschichte, mögen sie auch noch so radikal formuliert sein, erfolgen meist nicht ohne bestimmte Voraussetzungen. Es ist durchaus gerechtfertigt, Denkern, die mit dem Anspruch auftreten, tabula rasa zu machen, mit einer angemessenen Skepsis zu begegnen. Prominentestes Beispiel ist hierfür sicherlich Descartesʼ Cogito, das letztlich Parallelen zu Augustinus nur schwerlich in Abrede stellen kann.1 Kierkegaard und Nietzsche warten zwar nicht mit dem Anspruch eines radikalen Neuanfangs auf, dennoch möchten beide die Philosophie ihrer Zeit, d.h. des mittleren und ausgehenden 19. Jahrhunderts, einem grundlegenden Umbruch und einer Neuorientierung unterziehen, die sich in einer Verschiebung des eigentlichen Gegenstandes von Philosophie äußern. Im Laufe der vorliegenden Untersuchung wurde das Ziel verfolgt, die Genese der Existenzphilosophie zu rekonstruieren und dadurch ihre philosophiehistorischen Prämissen herauszukristallisieren. Der von Karl Löwith diagnostizierte Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts erwies sich dabei als anschlussfähige Ausgangsthese, um die Entstehungsbedingungen der Existenzphilosophie auszuleuchten. Keineswegs soll dadurch eine Exklusivität auf diese These in dem Sinne beansprucht werden, dass dieser Bruch einzig und allein zur Entwicklung der Existenzphilosophie geführt habe. Gleichermaßen hat er zum Aufkommen so unterschiedlicher Strömungen wie der Lebensphilosophie, des Marxismus, der Philosophischen Anthropologie2 oder auch der Phänomenologie beigetragen. Inhaltlich teilen sie alle jedoch im Kern die wesentliche Stoßrichtung dieses Umbruchs, der sich hauptsächlich in Abgrenzung zur Hegelschen Philosophie vollzieht, nämlich als Abkehr von einem den absoluten Geist erfassenden System hin zu einer auf die Lebenswirklichkeit des Menschen fokussierten Philosophie. Löwith selbst fasst sein Thema im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches Von Hegel zu Nietzsche prägnant zusammen: Ziel sei es, „die Umbildung und Verkehrung der Hegelschen Philosophie des absoluten Geistes
|| 1 Vgl. u.a. Augustinus Ciu. XI, 26. 2 Hier im Sinne der philosophischen Traditionslinie, wie sie namentlich vor allem durch Plessner, Scheler und Gehlen vertreten wurde, und nicht der philosophischen Teildisziplin verstanden. https://doi.org/10.1515/9783110719024-004
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durch Marx und Kierkegaard in Marxismus und Existenzialismus“3 herauszuarbeiten. Ausgehend von kurzen Einblicken in seine Spätphilosophie konnte Schelling als Übergangsfigur und ein Denker zwischen den Welten des Idealismus und des Existenzialismus typisiert werden. Seine sogenannte positive Philosophie erwies sich als ein Versuch, die abstrakten Systembauten des Deutschen Idealismus wirklichkeitsrelevant umzugestalten und zu erweitern. Es hat sich gezeigt, dass dieser Ansatz die Aufmerksamkeit des jungen Kierkegaard geweckt hat, der nicht zuletzt Schellings Vorlesungen in Berlin zunächst mit großem Enthusiasmus, dann mit herber Ernüchterung und Enttäuschung verfolgte. Schelling ging Kierkegaard nicht weit genug. Zwar erkannte er würdigend an, dass Schelling den Begriff ‚Wirklichkeit‘ wieder verstärkt ins Zentrum der Philosophie gerückt hat, er wollte diesen Terminus jedoch noch einmal enger einzig und allein auf die Existenz des einzelnen Menschen anwenden. Hier zeigt sich, dass Kierkegaards Denken nicht voraussetzungslos ansetzt. Sein anvisierter Umbruch, die Philosophie wieder aus der Existenzvergessenheit Hegelscher Absolutheitsansprüche herauszuführen, erscheint vielmehr als eine Fortsetzung und Zuspitzung einer durch Schelling initiierten Bewegung. Mehr noch: Kierkegaards Philosophie lässt sich überhaupt nicht losgelöst vom Deutschen Idealismus, insbesondere von Hegel, denken. Ohne die Klassische Deutsche Philosophie wäre es womöglich gar nicht zu einem Umdenken, wie wir es bei Kierkegaard vorfinden, gekommen. Die Philosophie unseres dänischen Philosophen lässt sich einzig und allein als eine Reaktion auf die und eine Abgrenzung von der Hegelschen Philosophie adäquat nachvollziehen. Insofern sich Kierkegaard als eine der beiden Initialfiguren der Existenzphilosophie erweist, kann diese Strömung berechtigterweise als eine Frucht vom Baume des Idealismus4 bezeichnet werden. Die zweite, neben Kierkegaard ebenso wegweisende, Initialfigur des Existenzialismus ist Friedrich Nietzsche. Wie aufgezeigt werden konnte, wird ihm meist zu Unrecht keine Schlüsselrolle in Hinblick auf die Genese jener Strömung zugesprochen und falls doch, so wird die Relevanz Kierkegaards als dem Vater der Existenzphilosophie weitaus höher bewertet. Dies beruht für gewöhnlich darauf, dass bei Nietzsche der Begriff ‚Leben‘ im Mittelpunkt steht – wodurch er tendenziell verstärkt der Lebensphilosophie zugeordnet wird – während bei Kierkegaard explizit der Existenzbegriff stark gemacht wird. Dem entgegen konnte hier
|| 3 Löwith 1995, S. 10. Demgegenüber schien „Hegels allumfassender Weltgeist…das Individuum, seine Persönlichkeit und sein Selbstsein völlig zu verschlingen“, so Heinemann 1963, S. 21. 4 Vgl. Gabriel 1968, S. 9 sowie Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit.
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deutlich herausgearbeitet werden, dass zumindest der enggefasste Nietzschesche Lebensbegriff derart gewichtige Affinitäten und Überschneidungen mit Kierkegaards Existenzbegriff und demjenigen der späteren Existenzphilosophie insgesamt aufweist, dass die beiden Termini durchaus synonym verwendet werden dürfen. Die systematischen Schwerpunkte der Arbeit lagen auf der Metaphysik, Anthropologie, Ethik und den Darstellungs- bzw. Mitteilungsformen von Philosophie. Sie ermöglichten eine Analyse der inhaltlichen Umbrüche, die Kierkegaard und Nietzsche im Denken des 19. Jahrhunderts vollzogen und welche somit die Voraussetzungen für die Existenzphilosophie und den Existenzialismus im 20. Jahrhundert bildeten. Unabhängig voneinander – gesichert kann lediglich von einer indirekten Kenntnisnahme der Kierkegaardschen Philosophie durch den späten Nietzsche ausgegangen werden – formulieren beide in ständiger Distanzierung von der und abgrenzender Bezugnahme auf die Systemphilosophie des Deutschen Idealismus ein auf die konkrete Existenz des einzelnen Menschen zentriertes Denken. Im Bereich der Metaphysik spiegelt sich das in einer Kritik objektiver Systeme mit dem Anspruch, ein die gesamte Wirklichkeit erklärendes Theorieganzes zu entwerfen, wider. Bei Nietzsche erfährt diese Metaphysikkritik nochmals eine Radikalisierung, insofern er objektive Wahrheiten als solche infrage stellt. Kierkegaard hingegen begrenzt seine Kritik auf die Irrelevanz und Gleichgültigkeit solcher Wahrheiten für die Fragen der Existenz des Einzelnen. Gerade weil er im Hegelschen System eine unzulässige Abstraktion und Negation der Existenz sieht, begreift er die Notwendigkeit, die Philosophie wieder für die Lebensprobleme zu sensibilisieren. Kierkegaard und Nietzsche sind Vertreter eines Anti-Essentialismus, der sich in aller Entschiedenheit von der klassischen Wesensphilosophie abzugrenzen sucht. Diese Abgrenzung findet in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts ihre Fortsetzung, insbesondere in den an der Immanenz orientierten Ansätzen, wie wir ihnen beispielhaft bei Camus und Sartre begegnen, und schließt so unmittelbar vor allem an Nietzsche an. Diese metaphysikkritischen Prämissen setzen sich entschlossen in den anthropologischen Reflexionen beider Denker fort. Im Duktus einer Revision klassischer Anthropologie, welche noch nach einem Wesen des Menschen überhaupt Ausschau hielt, konnte Kierkegaards anti-essentialistische Anthropologie als ein Entwurf dargestellt werden, der einer klassischen Wesensdefinition des Menschen ebenso eine Absage erteilt wie einem metaphysisch-ontologischen Ideal gelingenden Lebens, das jedem Menschen als Orientierung dienen könnte. Die Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Individuen werden nachdrücklich betont, wodurch der Grundstein für Sartres Primat der Existenz vor der
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Essenz gelegt und zugleich das teils radikale Freiheitsverständnis des Existenzialismus vorbereitet wird. Kierkegaards Anthropologie erweist sich als ein Aufzeigen der Pluralität von Existenzmodi, das letztlich einer Förderung von Subjektivität und Innerlichkeit dient. Nietzsches Menschenbild, das als eine negative Anthropologie charakterisiert werden konnte, schärft die Grundlagen der anthropologischen Reflexionen des Existenzialismus, vor allem in seinen atheistischen Ausprägungsformen. Das ,Ereignis‘ des Todes Gottes ist wohl in kaum einer anderen Strömung so konsequent weitergedacht und der Erfahrung des Menschen eingeprägt worden wie im Existenzialismus.5 Einem Wesenskern und objektiv normierenden und präfixierten Menschenbildern erteilt Nietzsche ebenso eine dezidierte Absage. Das Leben des Einzelnen wird bei ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Wanderschaft ohne Ziel, das eigene Leben zum Experiment und Abenteuer. Die individuelle Selbstsetzung birgt zwar Gefahren, eröffnet zugleich jedoch einen schier unendlichen Spielraum und Möglichkeitshorizont für die eigene Selbstgestaltung. Insofern die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches eine Anthropologie des Individuellen repräsentieren, bilden sie das Fundament für eine zwischen grenzenloser Freiheit und grenzenloser Verantwortung oszillierenden existenzialistischen Anthropologie. Sartre bringt diese Aufgabe des Existenzialismus wie folgt zum Ausdruck: „Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen.“6 Ausgehend von der Philosophie des 19. Jahrhunderts – hier anhand von Kierkegaard und Nietzsche exemplifiziert – rückt in der Existenzphilosophie die Anthropologie wieder verstärkt in den Fokus der Philosophie und prägt diese bis in unsere Gegenwart hinein. Es ist die besagte Wende hin zum Menschen, welche im Existenzialismus als eine Wendung hin zum einzelnen Existierenden zugespitzt wird: Nach der philosophischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts zu fragen, bedeutet nicht nur, einem Interesse der Philosophiehistorie nachzukommen. Die entschiedene Hinwendung des Denkens zum Menschen ist kein bloßer Paradigmenwechsel…Vielmehr ist auch das gegenwärtige Denken davon betroffen…so, daß es der Gegenwart nur dann verstehend gewachsen ist, wenn es sich fragend dieser Vergangenheit stellt.7
Wie in kaum einer anderen philosophischen Traditionslinie stehen in der Existenzphilosophie anthropologische und ethische Reflexionen in einem direkten Wirkungsverhältnis zueinander und lassen sich kaum getrennt thematisieren.
|| 5 Vgl. Galle 2009, S. 8f. 6 Sartre 1966, S. 12. 7 Decher und Hennigfeld 1992, S. 19.
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Ausgehend von Kierkegaard und Nietzsche kann und muss die Philosophie, insofern sie als Lebensform verstanden wird, alle Gegenstandsbereiche, welche die Probleme der Existenz sowie des Lebens tangieren, fragend mitberücksichtigen. Es versteht sich dabei von selbst, dass ein sich von der traditionellen Wesensphilosophie verabschiedendes Denken ebenso keine allgemein und objektiv gültigen abstrakten Moralprinzipien ausformulieren kann, ohne dabei hinter seinen eigenen Anspruch zurückzufallen. Im Bereich der Ethik kommt erneut und in aller Prägnanz die Distanzierung zum Deutschen Idealismus zum Ausdruck. Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche grenzen sich kritisch von der Kantisch-Idealistischen Moralphilosophie ab. Für Kant und seine Nachfolger besteht das Wesen des Ethischen darin, dass seine Prinzipien allgemeine und objektive Geltung haben; man denke an den kategorischen Imperativ. Kierkegaard kehrt das nun um: Für ihn ist das Ethische das Einzelne und in einer jeweils konkreten Situation sich Manifestierende. In ähnlicher Manier adressiert auch Nietzsche den Einzelnen, der sich seine eigenen Werte in jeweils bestimmten Situationen erschaffen und selbst setzen muss. Der Gegensatz ‚abstrakt versus konkret‘ erreicht in Fragen der Ethik seinen Höhepunkt: abstrakte Prinzipien der Moral auf der einen Seite (Kant und der Deutsche Idealismus) und die konkrete Realisierung des Ethischen auf der anderen (Kierkegaard und Nietzsche). „Really, though, neither Kierkegaard nor Nietzsche sees morality as separated from a fully lived life. However, for each, the morality that fits a fully lived life is not conventional morality“.8 Als Ethiken des Individuellen charakterisiert, werden die Kierkegaardsche und Nietzschesche Philosophie zu Wegweisern einer existenzialistischen Ethik, die beim einzelnen Subjekt ihren Ausgangspunkt nimmt und es zugleich zu einer sich selbst Werte setzenden und diese evaluierenden Instanz werden lässt. Jeder muss sich seine eigenen Maßstäbe schaffen, diese haben nur für ihn normierenden Charakter – das ethische Sollen richtet sich nur an den Einzelnen selbst. Dieser kann und darf im Kontext einer Ethik als Selbstadresse keine Urteile über andere fällen. Handlungsanweisungen, die ich mir selbst vorgebe, finden einzig in mir ihren Adressaten, da sich die eigenen individuellen Existenzbestimmungen
|| 8 Kellenberger 1997, S. 119. Im Kontext einer Ethik des Individuellen geht es Kierkegaard und Nietzsche um die konkrete und authentische Umsetzung moralischer Überzeugungen: „They are interested in how an agent’s fundamental stance manifests itself in actuality, in the lived experience of the agent adopting this stance“, so Miles 2007, S. 467. Eine ausführliche vergleichende Studie zur Ethik Kierkegaards und Nietzsches findet sich bei Miles 2013a.
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nicht verallgemeinern lassen. Für die existenzialistische Ethik gilt, dass der Einzelne von seinen Pflichten selbst zutiefst überzeugt sein muss, um seine Lebensführung authentisch an diese anzupassen. Das vermag in der Tat kein abstraktes Moralsystem zu leisten, denn, wie Luckner und Ostritsch richtig betonen, bedeutet das, „dass man selbst davon überzeugt sein muss, dass das kantische Sittengesetz gilt oder das utilitaristische Prinzip des größten Nutzens, um sich auch de facto danach zu richten.“9 Zugleich wird in der Nachfolge Kierkegaards und Nietzsches die Abwälzbarkeit der Verantwortung für die eigenen Handlungen auf übergeordnete Instanzen strikt zurückgewiesen. Dadurch wird explizit: Die Freiheit des Einzelnen ist keine simple und Leichtlebigkeit suggerierende Befreiung, vielmehr behalten die damit einhergehenden Kategorien von Angst (Kierkegaard) und Gefahr/Experiment (Nietzsche) auch im Erbe der beiden Initialfiguren ihr Gewicht. Zu Sartre stellt Wolfgang Janke treffend fest: „Existierend nehmen wir die volle Verantwortlichkeit…auf unsere Schultern, ohne durch göttliche Gebote oder moralische Imperative angewiesen und entlastet zu sein und ohne, dass die grenzenlose Freiheit äußere Beschränkungen zuließe, die uns zur Entschuldigung dienen.“10 Kierkegaard, bei dem der Andere in seinem Konzept der Liebe verstärkt in den Blick gerät, weist zudem auf die gemeinschaftsbezogene Dimension existenzialistischer Philosophie voraus, wie wir sie vor allem im französischen Existenzialismus bei Camus, de Beauvoir und Sartre vorfinden. Dieser Aspekt wurde erstaunlicherweise in der Rezeption oft verkannt oder vernachlässigt. Simone de Beauvoir entwickelt in ihrem Essay Für eine Moral der Doppelsinnigkeit Selbstentwürfe, deren Telos in einem Liebesverhältnis zu anderen Menschen liegt. Etwas verallgemeinernd bringt sie das auf die Formel: „Machen, daß das Sein ist, bedeutet, durch das Sein zu anderen Menschen in Verbindung treten.“11 Nietzsche erscheint eher prädestiniert, den späteren Existenzphilosophen die Grundlage für einen Ansatz, der den Einzelnen und sein eigenes Leben zum Probierstein ei-
|| 9 Luckner und Ostritsch 2018, S. 147. 10 Janke 2014, S. 12f. Auch bei Camus kommt diese enge Verzahnung von Freiheit und Verantwortung in aller Eindringlichkeit zum Ausdruck: „Es gibt ein einziges Verhängnis, nämlich den Tod, und darüber hinaus gibt es keines mehr. In dem Zeitraum, der von der Geburt zum Tod reicht, ist nichts festgelegt: man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt gebieten und sogar Frieden erhalten, wenn man es inständig, stark und lange genug will.“ (Camus 2011c, S. 135). 11 De Beauvoir 2007, S. 126. Vgl. dazu u.a. Luckner und Ostritsch 2018, S. 165 sowie S. 173–175. Für de Beauvoir ist zudem der Existenzialismus die einzige Philosophie, bei der eine Ethik ihren gerechtfertigten Platz hat. Siehe de Beauvoir 2007, S. 98.
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ner gelungenen Existenz werden lässt, zu bieten. Die Ausformulierung eines existenziellen Imperativs akzentuiert dabei sowohl die Freiheit als auch die Verantwortung des Individuums für sich selbst und erweist sich gleichsam durch die Orientierung an der Immanenz als anschlussfähig für die atheistische Existenzphilosophie. Die Kategorien des Anderen und des Gegenübers erhalten bei Nietzsche noch keine so große Aufmerksamkeit. Die Abkehr von jeder Art von Systemphilosophie – Kierkegaard konzentriert seine Kritik auf Hegel, wobei Nietzsche seine System- und Idealismuskritik auf ein Gros der Philosophiegeschichte ausweitet – schlägt sich in der Form und Gestaltung der Werke nieder. Kierkegaard und Nietzsche beschäftigen sich selbst mit mitteilungstheoretischen Fragestellungen und versuchen daran anknüpfend, den spezifischen Gegenstand ihrer Philosophie, die Existenz des Einzelnen, in einer adäquaten Ausdrucksweise zu thematisieren. Insbesondere Kierkegaard wird hier, durch Sokrates inspiriert, zum Pionier indirekter Mitteilungsverfahren, welche die Moderne maßgeblich geprägt haben. Beispielhaft sind so seine Vielzahl an pseudonym verfassten Schriften Ausdruck eines Verzichts auf moralisches Herrschaftswissen. In seinem durch und durch polyphonen Werk werden diverse Existenzmodi veranschaulicht und durchexerziert, wobei die Bewertung stets dem Leser obliegt. Gleichermaßen opponiert Nietzsche mit seiner unkonventionellen Experimentalphilosophie, die in Aphorismen, Prosawerken und Gedichten hervorscheint, gegen die Abgeschlossenheit der Systemphilosophien. Grundlegende Topoi wie die Absage an metaphysische Wahrheiten, ein auf die einzelne Existenz fokussiertes Denken sowie eine Anthropologie und Ethik des Individuellen erhalten somit in der Form der Texte ihr Pendant. Kierkegaard und Nietzsche tragen so ihrem Autoritätsverzicht Rechnung. Die beiden Initialfiguren der Existenzphilosophie legen damit den Grundstein für die Methode und Form dieser Strömung. Bekanntermaßen verfassen auch die Existenzialistinnen und Existenzialisten des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich und nur mit erheblichen Einschränkungen und Ergänzungen klassische Abhandlungen, Systementwürfe oder Traktate, sondern bedienen sich darüber hinaus häufig oben genannter vielfältiger literarischer Genera12 und künstlerischer Ausdrucksformen. Aufgrund ihres Inhalts lässt sich die Existenzphilosophie nicht allein in konventionelle philosophische Textformen fassen. Allein durch den Stil werden philosophische Topoi und
|| 12 Für Malpas 2012, S. 295 ist der Existenzialismus somit nicht nur eine philosophische Haltung, sondern ebenso ein literarischer Stil.
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Thesen transportiert und anschaulich gemacht. Bei Sartre findet sich so zum Beispiel die freie Bewegung des schöpferischen Subjekts im Stil reproduziert.13 Die Darstellungsformen werden selbst zum Ausdruck einer philosophischen Haltung, und so können wir hier mit Susanne Möbuß rekapitulieren: „Von Anfang an positioniert sich das Neue Denken [die Existenzphilosophie] damit in einer intellektuellen Haltung der Destruktion des verbindlich Geglaubten, wie es sich im Wissenschaftsbild der jeweiligen Epoche präsentiert, dem sich auch die Philosophie unterstellt.“14 Besonders bei de Beauvoir, Camus oder auch Sartre werden Themen existenzialistischer Philosophie sogar primär in Romanen und literarischen Werken behandelt und problematisiert. Protagonisten und Romanfiguren werden mitunter zu Projektionsflächen diverser Existenzmodi und Verhaltensweisen. Der Existenzialismus möchte den Sinn innerhalb der Existenz ausloten und somit ermögliche nur der Roman, „das Ursprüngliche der Existenz in seiner vollständigen, einmaligen und zeitlichen Wahrheit zu evozieren“,15 so Simone de Beauvoir. Mit Milan Kundera gesprochen wird der Romancier so zum Erforscher der Existenz16 und der Roman selbst, so ließe sich ergänzen, zum Experimentierraum und Laboratorium, in dem vornehmlich moralische Haltungen in einem fiktionalen Rahmen durchexerziert werden können. Subjektive, individuelle und zeitliche Erfahrungen lassen sich nicht in zeitlose Systeme integrieren, und demnach gilt es für die Existenzphilosophinnen und -philosophen, – ganz im Duktus Kierkegaards und Nietzsches – die Methode sowie die Form an den Gegenstand anzupassen.17 Erinnern wir uns zurück an die polemischen Worte Kierkegaards, der Hegel und sein System mit einem Schloss und seinem Besitzer vergleicht. Hegel sei jemand, der den großen Palast selbst nicht bewohne, sondern allerhöchstens die Pförtnerstube davor. Ungefähr 100 Jahre später beschreibt de Beauvoir ihre Beschäftigung mit Hegel in verblüffend ähnlichen Worten: [I]ch erinnere mich, daß ein tiefer Frieden sich in mir ausbreitete, als ich…im unpersönlichen Rahmen der Pariser Nationalbibliothek die Schriften Hegels las. Aber sobald ich wieder auf der Straße stand, wieder mein Leben zu leben hatte, außerhalb des Systems unter
|| 13 Vgl. dazu Marcuse 1967, S. 80. 14 Möbuß 2015, S. 228. 15 De Beauvoir 1992, S. 95. 16 Vgl. Kundera 1987, S. 53. 17 Zu seinem Roman Der Fall bemerkt Camus 1965, S. 1927: „Ich habe die Form dem Gegenstand angepasst, das ist alles.“ (meine Übers.).
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einem wirklichen Himmel war, nützte mir das System nichts mehr: im Gewande des Unendlichen hatte mir Hegel die Tröstungen des Todes geboten, aber ich wollte noch leben, leben inmitten lebendiger Menschen.18
Kierkegaard und Nietzsche vereint über all das hinaus ein gemeinsames Schicksal. Beide erfuhren zu ihren Lebzeiten nur marginale bis nahezu keine Beachtung und schon gar keine weitreichende Wertschätzung. Ihre Schriften verkauften sich weitestgehend schlecht, und so blieb ihnen eine Anerkennung durch Fachgenossen verwehrt. Dies war natürlich nicht zuletzt ihrem gegen den Zeitgeist ankämpfenden Philosophieren selbst geschuldet. Sowohl Kierkegaard als auch Nietzsche waren im wahrsten Sinne des Wortes unzeitgemäß. Ihre existenzphilosophischen Ansätze und ihre ,Unzeitgemäßheit‘ gehen Hand in Hand: „Nietzsche and Kierkegaard were untimely men, who were primarily concerned with a new beginning for the individual and for philosophy after the devouring machinery of speculative philosophy and Hegelianism has swallowed them both.“19 In einem für ihn nicht unüblichen Maß an Selbstüberschätzung machte Nietzsche selbst daraus zu seiner Zeit schon eine Art Kult und prophezeite, dass die Zeit für seine Philosophie noch kommen werde. Doch auch Kierkegaard schrieb sich, wie gesehen, in einem gewissen Umfang eine zukunftsweisende Funktion zu. Bleiben beide Denker zu ihren Lebzeiten eher ohne großen Einfluss, so waren ihre spätere Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte umso bedeutungsvoller. Im 20. Jahrhundert entfaltet ihr Denken sein ganzes wirkungsgeschichtliches Potenzial, das vor allem in der Existenzphilosophie seinesgleichen sucht und beide zu ihren zentralen Initialfiguren werden lässt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts werden Kierkegaard und Nietzsche somit letztlich zu Zeitgemäßen.
Der ‚Fall‘ Camus Gerade der gemeinschaftliche Einfluss der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches ist bei dem französischen Existenzialisten Albert Camus besonders spürbar. Bemerkenswerterweise verortet Camus selbst in einem Interview en passant die Prämissen des Existenzialismus u.a. bei Kierkegaard und Nietzsche: „Wenn sich die Prämissen des Existenzialismus, wie ich glaube, bei Pascal, Nietzsche, Kierkegaard oder Schestow finden, dann bin ich mit diesen einverstanden. Wenn seine Schlussfolgerungen diejenigen unserer Existenzialisten sind, bin ich nicht || 18 De Beauvoir 2007, S. 192. Für die genannte Kierkegaard-Passage siehe SKS 11, 158f. / KT, 41 sowie S. 31 der vorliegenden Arbeit. 19 Acharya 2014, S. 21.
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einverstanden, da sie im Widerspruch zu den Prämissen stehen.“20 Perspektivisch lässt sich die gemeinsame Wirkungsgeschichte Kierkegaards und Nietzsches auf Camus anhand des berühmten Sisyphos-Mythos ausleuchten. Dieses Gleichnis wird in Camusʼ Auslegung zum Sinnbild des Absurden und der von ihm angesichts dieses Faktums präferierten Existenzform. Camus philosophiert im Duktus der Metaphysik- und Systemkritik Kierkegaards und Nietzsches. Seine Philosophie strikter Immanenz, seine Absage an Transzendenzprojektionen jeglicher Art, verkörpert eine radikalere Metaphysikkritik als diejenige Kierkegaards, sie tritt dabei jedoch nicht so umfassend und zugespitzt auf wie teilweise die Erkenntniskritik Nietzsches. Er bewegt sich hier gewissermaßen zwischen zwei Extremen. Fragen der Metaphysik sind für ihn in der Hinsicht nicht von Relevanz, dass sie nicht zur Erhellung der conditio humana beitragen. Was Camus einzig und allein interessiert, ist zu wissen, wie er sich verhalten, d.h. wie er handeln und leben soll.21 Ein solches auf die konkrete Handlungswirklichkeit und Lebenspraxis sowie auf die eigene Existenz zentriertes Philosophieren hat seine Vorfahren in Kierkegaard und Nietzsche. In der antiken mythologischen Gestalt des Sisyphos, der für Camus sinnbildlich den Kampf des Menschen in einer sinnentleerten Welt antritt und meistert, kommen wesentliche Züge ihrer Philosophien zum Ausdruck. Da ist zum einen die im Sinne Kierkegaards angestrebte Befreiung des Menschen aus den Zwängen des Systemdenkens: Wie Sisyphos hat Kierkegaard die Perspektive gewechselt und das Individuum ins Blickfeld gerückt, das zuvor vom System verschlungen wurde und das selbst erst wieder sichtbar wird, nachdem es dem System den Kampf angesagt hat. Während Sisyphos seine Autonomie erlangte, indem er das System der Götter insgesamt aus seiner Welt verbannte, emanzipierte sich Kierkegaard vom System eines durch kirchliche Autorität repräsentierten Christentums, das die Identität stiftenden Leistungen seiner Mitglieder an Unterwerfungs-
|| 20 Camus 1965, S. 1926f. (meine Übers.). Zugleich kommt hier Camusʼ ambivalente Positionierung zum Existenzialismus zum Vorschein. Er selbst verstand sich nicht als Existenzialisten, was aber letztlich eher dem späteren Streit mit Sartre geschuldet ist. In den philosophischen Essays Der Mythos des Sisyphos und Der Mensch in der Revolte ist der Einfluss Kierkegaards und Nietzsches besonders deutlich und explizit. Vor allem seine Begeisterung für Nietzsche hat er nie verschwiegen und bekennt: „Ich verdanke Nietzsche einen Teil dessen, was ich bin“ (Camus 1965, S. 1487f.; meine Übers.). 21 Camus bekennt so in einem weiteren Interview: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben. Was mich interessiert, das ist zu wissen, wie man sich verhalten soll.“ (Camus 1965, S. 1427; meine Übers. und Hervorh.). Seine Behauptung, kein Philosoph zu sein, muss hier in dem Sinne verstanden werden, dass Camus sich nicht als Systemphilosoph begreift.
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ritualen festmacht, die dem Gehorsam gegenüber den Vertretern der Staatskirche geschuldet sind, und das die unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse für bedeutungslos erklärt.22
Camus möchte so die individuellen Lebensmöglichkeiten angesichts der Erfahrung von Absurdität zum Thema machen. Dort ist keine systematische Abhandlung möglich, es gehe vielmehr, wie es heißt, darum, die verschiedenen Figuren eines so subtilen Tanzes anschaulich zu machen und selbst zu erleben.23 Der Topos des Absurden ist ebenfalls dem Denken Kierkegaards entlehnt, findet aber zugleich eine Umdeutung, insofern er bei Camus strikt an die Sphäre der Immanenz gebunden und dadurch aus dem Rahmen theologischer und glaubenstheoretischer Reflexionen eines Kierkegaard herausgelöst wird. Auf der Hand liegen ebenso Parallelen zwischen dem ewig neu hinauf zu rollendem Stein des Sisyphos und dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen von Nietzsche. Camusʼ Deutung des Sisyphos-Mythos steht, ebenso wie der Wiederkunftgedanke, für eine Absage an zeitlose Begriffe und Ideale der Metaphysik überhaupt und nimmt die Impulse einer Anthropologie und Ethik des Individuellen auf, die er gleichermaßen als Chance begreift. Es liege einzig und allein in der Hand von Sisyphos selbst, ob sein Schicksal eine Bestrafung und unendliches Leid ist – wie ursprünglich von den Göttern beabsichtigt – oder aber, ob er sich das ihm auferlegte Fatum aneignet, zu seiner eigenen Aufgabe und Selbstverwirklichung transformiert und somit der Kampf gegen den Gipfel sein Menschenherz auszufüllen vermag.24 Im letzteren Falle wird Camusʼ Sisyphos seinen Stein mit dem Ausruf Zarathustras, „War d a s das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!“,25 wieder den Berg hinaufrollen.26 Kein Mythos vermag das Bildnis Nietzsches „mit seinem zwanghaften Charakter besser zu veranschaulichen als die scheinbar tragische Figur des Sisyphos“,27 so Bernd Oei. Zwang besteht, da der Handlungsrahmen, in den Sisyphos geworfen ist, durch die von den Göttern verordnete Strafe fixiert ist. Dennoch ist Sisyphos nur eine scheinbar tragische Figur, weil er innerhalb dieser
|| 22 Pieper 2011, S. 462. Siehe auch Salamun 2012, S. 148. 23 Vgl. Camus 2011a, S. 22. 24 Angelehnt an das berühmte Ende des Buches: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (ibid., S. 145). 25 Nietzsche Za III, „Vom Gesicht und Räthsel“ 1, KSA 4, S. 199. 26 Das findet bei Camus Widerhall in dem von ihm aufgegriffenen Wort des Ödipus, ‚Ich finde, dass alles gut ist‘. Siehe Camus 2011a, S. 144. Luckner und Ostritsch 2018, S. 162 sehen darin Camusʼ Variante von Zarathustras „existenziellem Schlachtruf“. 27 Oei 2008, S. 167 (meine Hervorh.). Schon Herbert Marcuse betont, dass Camusʼ Sisyphos das Klima der Philosophie Nietzsches wiederaufgreift. Vgl. dazu Marcuse 1967, S. 50.
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Situation frei wählen kann: Entweder resignieren oder sich das Schicksal anerkennend aneignen. Auch bei Camus werden wir mit einem existenziellen Entweder-Oder einer Hamlet-Situation konfrontiert. Camus ist von Kierkegaard und Nietzsche gleichermaßen beeinflusst, wie schon exemplarisch aus dieser kurzen Interpretation des Sisyphos-Mythos ersichtlich wird. Zudem greift er keineswegs ihre Gedanken unkritisch und unhinterfragt auf, sondern verbindet sie miteinander und transformiert bzw. überführt sie in sein eigenes Philosophieren. Dass er sich letztlich von seinen ,Lehrern‘ emanzipiert, zeigt sich beispielhaft daran, dass in seinem späteren Denken der Revolte die Nietzschesche individuelle Lebensbejahung in eine gemeinschaftsbezogene Dimension übergeht, die sich an einem Humanismus und der Solidarität mit anderen Menschen orientiert.28 Die Revolte nimmt beim Einzelnen ihren Anfang, dieser transzendiert sich jedoch in ihr hin zum Anderen, wodurch sich menschliche Solidarität konstituiert.29 Der Einzelne wird sich bewusst, ein grundlegendes Schicksal, die nihilistische Erfahrung angesichts einer sinnentleerten Welt, mit der Gemeinschaft der Menschen zu teilen. Diese Loslösung von den eigenen Bezugsgrößen geschieht wiederum in Übereinstimmung mit der Intention Kierkegaards und Nietzsches selbst – wollten doch beide ihre Leser zu einem eigenen Philosophieren anregen und diese in diesem Sinne ,zurückstoßen‘. Karl Jaspers resümiert gegen Ende seiner groß angelegten Nietzsche-Studie, dass wir uns anhand der Gedanken Nietzsches selbst erziehen müssen. So wird das Philosophieren mit Nietzsche und, so ließe sich problemlos ergänzen, mit Kierkegaard zu einem ständigen sich gegen sie Behaupten im Sinne der eigenen Selbstgestaltung und Aneignung.30 Sich mit den Œuvres Kierkegaards und Nietzsches zu beschäftigen, ermöglicht, die Entstehung und Entwicklung einer philosophischen Strömung zu erkunden, die im Kontext des sogenannten Bruchs im Denken des 19. Jahrhunderts entstanden ist: die Existenzphilosophie bzw. der Existenzialismus. Darüber hinaus erlangt man dadurch zugleich ein tieferes Verständnis für die Philosophien Kierkegaards und Nietzsches selbst, die in ihren Grundpositionen teilweise schon
|| 28 Vgl. Bidmon 2016, S. 233. In der Camus-Forschung ist so zuweilen von einem Übergang von einem ‚Ich‘ zu einem ‚Wir‘ die Rede. Siehe dazu Lauda 2011. Nietzsche hingegen „remains in exile, far from the kingdom of the human community“, so Duvall 1999, S. 43. 29 Zu diesem Aspekt der Revolte vgl. Wernicke 2016, S. 109. Hier ließen sich Parallelen zu Sartres Motiv des Engagements herstellen. Sartre typisiert den Existenzialismus als eine Philosophie, die gelebt werden will und somit ein Engagement sein muss. Dadurch grenzt sie sich gerade von einem Quietismus ab. Zum Begriff ‚Engagement‘ im Existenzialismus siehe Großheim 2007. 30 Vgl. Jaspers 1950, S. 454 und S. 460.
Was bleibt? Typologie und Prospektion | 273
derart existenzphilosophisch anmuten, dass sie selbst größtenteils der Existenzphilosophie zugeordnet werden können.
4.2 Was bleibt? Typologie und Prospektion Versuchen wir abschließend, anhand von historischen sowie systematischen Koordinaten eine Typologie der Existenzphilosophie in Form eines Merkmalkatalogs zu konzipieren. Im Anschluss an die Philosophien der Initialfiguren Kierkegaard und Nietzsche soll eine nicht zu eng- aber auch nicht zu weitgefasste Liste an Kriterien entworfen werden. Das gestattet zum einen, möglichst viele klassische Vertreter der Existenzphilosophie darunter zu fassen, zugleich jedoch die Anwendung des Begriffs ‚Existenzphilosophie‘ auf die übliche Zeitspanne des 19. und 20. Jahrhunderts zu beschränken. Dadurch lässt sich die Existenzphilosophie in ihrer Spezifizität vom viel weiter gefassten Ansatz existenzorientierten bzw. existenziellen Philosophierens abgrenzen: Nicht jede existenzielle Philosophie ist Existenzphilosophie.31 Wie in Kapitel 1.1 erläutert, eruieren die meisten Überblicksdarstellungen zum Existenzialismus vorwiegend lediglich systematische Kriterien. Hier soll nun ein sowohl historischer als auch systematischer Koordinatenkatalog aufgestellt werden, der es erlaubt, der Existenzphilosophie weiterhin den Status einer philosophischen Traditionslinie zu attestieren. Dass eine solche Liste an Merkmalen allein aufgrund der Schwerpunktsetzungen der Arbeit teils selektiv bleiben muss und keinen Anspruch auf letzte Vollständigkeit erhebt, ist dabei wohl zu berücksichtigen. Hieran könnte eine eigene Untersuchung zu den Positionen der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts anschließen und mitunter eine Ergänzung darstellen. Nichtsdestotrotz sollte der Katalog umfassend genug sein, um prägnante Topoi herauszustellen und einzelne Denker dezidiert dieser Strömung zuordnen zu können. Die Auflistung der historischen und systematischen Merkmale soll des Überblicks halber in tabellarischer Form erfolgen (s.S. 276). Ein paar ergänzende Erläuterungen seien hier noch vorangeschickt, wobei für eine angemessene Einordnung der tabellarischen Darstellung die Lektüre der vorangegangenen Kapitel der Arbeit naturgemäß die Voraussetzungen schafft. Aus historischer Perspektive lassen sich sechs Kernmerkmale herausstellen. (1) Die Initialfiguren und ‚Gründungsväter‘ der Existenzphilosophie sind Kierkegaard und Nietzsche, wobei insbesondere die gemeinsame und die Philoso-
|| 31 „[T]he fact that existential concerns figure in a work cannot be sufficient for that work to be viewed as existentialist“, so auch Malpas 2012, S. 316.
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phien beider aufeinander beziehende Rezeption dieser Denker charakteristisch ist. Zudem lässt sich (2) die Spätphilosophie Schellings als eine Philosophie des Übergangs vom Idealismus zum Existenzialismus typisieren, die somit einen zentralen Beitrag zur Genese der Existenzphilosophie leistet. (3) Die Abgrenzung zum Deutschen Idealismus, namentlich vor allem zu Hegel und Fichte, ist derart grundlegend, dass sich die Existenzphilosophie ausgehend von ihren Initialfiguren bis hin zu ihren Positionen im 20. Jahrhundert als eine Reaktion auf diese Philosophie deuten lässt – ohne den Deutschen Idealismus kein Existenzialismus, so ließe sich zugespitzt formulieren. (4) Im Laufe der Arbeit wurden am Rande immer wieder Bezüge zu und inhaltliche Überschneidungen mit anderen kontemporären Traditionslinien deutlich. Vor allem sind hier die Lebensphilosophie, der Marxismus und die Phänomenologie zu nennen, die allesamt ebenso dem revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts entspringen. Bei Sartre lassen sich zum Beispiel Parallelen zur Methode der Phänomenologie aufweisen;32 andersherum steht der Phänomenologe Merleau-Ponty dem Existenzialismus nahe. Als eine weitere historische Koordinate lässt sich (5) die Orientierung am Ideal des Philosophieverständnisses der griechischen Antike nennen. Sokrates und die Stoa dienten unter Aspekten der Konformität von Leben und Lehre hier zahlreichen Existenzphilosophinnen und -philosophen als Vorbild. Schließlich kann (6) ein facettenreicher Sokrates-Bezug genannt werden. Sokrates dient der Existenzphilosophie vor allem als Bezugsgröße für ein praxisorientiertes Philosophieren, dessen Realisierung komplexer Mitteilungsverfahren bedarf – man denke an die Mäeutik. Systematisch lassen sich folgende zwölf Kriterien auflisten, die zusammengenommen und gemeinsam mit den historischen Merkmalen die Konturen der Existenzphilosophie als philosophischer Strömung festigen. Einschlägigstes Merkmal ist sicherlich (1) der spezifische Existenzbegriff. Im Ausgang von Kierkegaard und in der Folge durch Philosophen wie Heidegger und Sartre geschärft, bezeichnet ,Existenz‘ ausschließlich die Seinsweise des Menschen, die sich wiederum durch ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, Sich-zu-anderen-Verhalten und ein Verhalten zur Welt auszeichnet. (2) Das Primat der Existenz vor der Essenz ist unmittelbar an diesen Existenzbegriff gebunden – das gilt sowohl für die sogenannten atheistischen als auch religiösen Ausprägungsformen der Existenzphilosophie – und in ihm tritt die weitgreifende Freiheit des Menschen unmissverständlich in Erscheinung. (3) Eine kritisch-ablehnende Haltung gegenüber großen Systementwürfen und idealistischer Philosophie im Allgemeinen – hier nicht
|| 32 Dies macht allein schon der Untertitel „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“, den Sartre seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts gibt, deutlich.
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nur im Sinne des Deutschen Idealismus – ist ebenso kennzeichnend wie (4) ein dezidiert metaphysikkritischer Gestus, der besonders prägnant in der Distanzierung zu Ansätzen der klassischen Wesensphilosophie zum Ausdruck kommt – und dies nicht nur in den atheistischen Existenzphilosophien. Aus dieser Metaphysikkritik resultiert (5) ein latenter Anti-Essentialismus, der im Besonderen in den anthropologischen Reflexionen zum Tragen kommt. (6) Als eine Philosophie, die den Menschen als Ganzen zum Ausgangspunkt und Schlüssel des Zugangs zur Welt und zum Selbst erklärt, steht sie für einen Anthropozentrismus, der (7) eine Philosophie der Subjektivität auf den Plan ruft, die sich von anderen Subjektivitätsphilosophien, wie etwa einer rationalistischen, unterscheidet. Der Einzelne und das Individuum rücken in den Mittelpunkt, und so kann das Menschenbild des Existenzialismus (8) als eine Anthropologie des Individuellen und der Negativität (im Sinne der Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen) typisiert werden, die (9) mit einer Ethik des Individuellen Hand in Hand geht. (10) Die Existenzphilosophen verkennen dabei keinesfalls die soziale Komponente der menschlichen Existenz; ein gemeinschaftsbezogenes Denken spiegelt sich so im Solidaritätsgedanken und im Humanismus wider. (11) In der Existenzphilosophie ist nicht das Verständnis der Philosophie als Wissenschaft maßgebend, sondern vielmehr das einer Philosophie als Lebensform und Lebenspraxis, welche die Persönlichkeit des Philosophierenden zutiefst in den Prozess des Philosophierens miteinbezieht. Zu guter Letzt finden all diese bisherigen systematischen Charakteristika ihre Entsprechung in (12) der Darstellungsform der philosophischen Gedanken. In bewusster Abgrenzung und Ergänzung zu gängigen philosophischen Schreibstilen (Abhandlungen, Traktate etc.) greift der Existenzialismus zusätzlich auf literarische und andere künstlerische Darstellungsformen zurück. Klassische philosophische Methoden werden so um Ausdrucksformen der Kunst und Literatur ergänzt, um der Existenz als zentralem Gegenstand des Philosophierens gerecht zu werden. Die historischen Merkmale dienen vor allem dazu, der Existenzphilosophie als philosophischer Strömung Konturen zu geben, welche es ermöglichen, sie trennscharf von anderen Traditionslinien der Philosophiegeschichte zu unterscheiden. Hierzu sind alle der genannten historischen Merkmale zusammengenommen erforderlich. Der Nutzen der systematischen Kriterien besteht primär darin, einzelne Philosophinnen und Philosophen als Existenzphilosophen typisieren zu können. Die Liste der Kriterien dafür erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ließe sich mit Blick auf hieran anschließende Untersuchungen mitunter noch ergänzen. Dennoch sind die hier aufgelisteten systematischen Kriterien allesamt notwendig, um einen Denker eindeutig als Existenzialisten zu
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bezeichnen: Jedes einzelne Merkmal ist notwendig; alle zusammen sind hinreichend. Tab. 4: Historische und systematische Merkmale der Existenzphilosophie
Merkmale der Existenzphilosophie historisch
systematisch
Initialfiguren: Kierkegaard und Nietzsche
,Existenz‘ als spezifische Seinsweise des Menschen
Spätphilosophie Schellings als Übergang
Primat der Existenz vor der Essenz
Abgrenzung zum Deutschen Idealismus Hegels und Fichtes
System- und Idealismuskritik
Bezüge zu Lebensphilosophie, Phänomenologie und Marxismus
Metaphysikkritik
Philosophieverständnis der griechischen Antike
Anti-Essentialismus
Sokrates-Bezug
Anthropozentrismus Subjektivitätsphilosophie Anthropologie des Individuellen (negative Anthropologie) Ethik des Individuellen Orientierung an der Gemeinschaft und Solidarität Philosophie als Lebensform Literarisch-künstlerische Darstellungsformen
Existenzphilosophie: lebendig oder tot? Am Anfang der Arbeit war die Rede davon, dass wir uns gegen Ende der Untersuchung noch einmal die Frage zu stellen haben, der sich Fritz Heinemann bereits
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1954 annahm: Ist die Existenzphilosophie lebendig oder tot?33 Heinemanns ernüchterndes Fazit lautete damals: „Die Existenzphilosophie ist insofern tot, als das Existenzprinzip als Grundprinzip einer umfassenden Philosophie nicht ausreicht“.34 Im Kern beinhaltet seine Conclusio zwei Aspekte: (1) Die Existenz kann nicht als Grundprinzip fungieren, da sie nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit, nämlich den Menschen als Instanz von Subjektivität, zum Gegenstand hat. Zudem ist es (2) als solches problematisch, die Existenz zum Prinzip einer Philosophie zu ernennen, da die Thematisierung der Existenz unlösbare Probleme mit sich bringt.35 Existenz als Kategorie des Lebens und Erlebens lässt sich nicht systematisieren und in Gänze begrifflich erfassen. Am Ende unserer Überlegungen können wir dem jedoch entgegnen, dass daraus noch keineswegs der Existenzialismus für tot erklärt werden kann. Insbesondere deshalb nicht, weil die Existenzphilosophie und ihre Vertreterinnen und Vertreter nie den Anspruch erhoben haben, eine umfassende Philosophie zu entwerfen. Ein existenzialistisches System zu konzipieren, ist den Existenzialisten seit ihren Gründungsvätern (Kierkegaard und Nietzsche) fremd. Ein existenzphilosophisches System, so lässt sich festhalten, ist eine contradictio in adiecto. Ob Camus, de Beauvoir, Jaspers oder Sartre, alle schließen sie an die Systemkritik beider Initialfiguren an. Geht es ihnen darum, die Existenz zu thematisieren, greifen sie primär auf unkonventionelle Darstellungsformen zurück, gerade weil sie sich bewusst sind, dass sich die Existenz jeder Systematisierung verweigert. Des Weiteren erscheint es im Kontext der Existenzphilosophie nicht angemessen, ‚Existenz‘ als ein (Grund-)Prinzip zu bezeichnen. Bei ihren Vertretern wird vielmehr die Abkehr von jeder Prinzipientheorie eklatant,36 gerade in der Distanzierung zum Deutschen Idealismus. Ausgehend von Kierkegaard und Nietzsche wird die Verlässlichkeit menschlicher Erkenntnis schonungslos hinterfragt, die Geschichtlichkeit des Menschen hervorgehoben und die Unmöglichkeit eines absoluten Anfangs betont. Seit Kierkegaard bezeichnet ‚Existenz‘ vielmehr die spezifische Weise des In-der-Welt-Seins des Menschen, die eben nicht durch ein Prinzip und System erfasst oder definiert werden kann. Da die Existenzphilosophie nicht mit dem Anspruch auftritt, allumfassend zu sein, und die Existenz nicht zu einem principium erklärt, können ihre Obsoleszenz oder ihre Aktualität daran nicht gemessen werden.
|| 33 Vgl. Heinemann 1963. 34 Ibid., S. 189 (meine Hervorh.). 35 Vgl. ibid., S. 181–183. 36 Vgl. Holzhey 2020, DOI: 10.24894/HWPh.5366.
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Abschließend hält Heinemann noch fest, dass „existentielles Philosophieren“37 hingegen keineswegs tot sei, insofern existenzielle Fragestellungen und Probleme immer von großer Bedeutung für die Philosophie bleiben. Damit ist wiederum wenig über die Existenzphilosophie selbst gesagt, da sich ein solches Verständnis existenziellen Philosophierens wohl auf einen Großteil der Philosophien anwenden ließe und somit vage bleibt. Kann anhand der Konturen, die im Rahmen der hiesigen philosophiehistorischen Untersuchung gewonnen wurden, die Frage nach der Aktualität oder Hinfälligkeit der Existenzphilosophie beantwortet werden? Eine umfassende Antwort würde sicherlich zusätzlich eine detaillierte Studie der Ansätze der einzelnen Existenzphilosophinnen und -philosophen des 20. Jahrhunderts erfordern. Solch eine Analyse könnte unter diesem Gesichtspunkt wiederum an die vorliegende Arbeit anknüpfen. Dennoch wollen wir zum Abschluss eine prospektive Einschätzung vornehmen. Gerade im Rahmen der in dieser Arbeit vorgenommenen systematischen Schwerpunktsetzungen – Metaphysik(-kritik), Anthropologie, Ethik, Philosophie und ihre Form – wurde immer wieder auf die Potenziale existenzialistischer Philosophie auf diesen Gebieten prospektiv verwiesen. Es zeigt sich, dass sie dadurch weiterhin anschlussfähig für aktuelle philosophische Diskurse bleibt. Ausgehend von der Kennzeichnung des 20. Jahrhunderts als einem postmetaphysischen Zeitalter herrscht auch in der Gegenwart nach wie vor zumindest eine grundlegende Skepsis gegenüber großen und umfassenden metaphysischen Theorieentwürfen. Wie immer man dies im Einzelnen auch bewerten mag, so lässt allein die Tatsache, dass die Initialfiguren der Existenzphilosophie wesentlich zu dieser Skepsis beigetragen haben, die sich fortan im Denken der Existenzialisten fortsetzt und teilweise zuspitzt, die Existenzphilosophie weiterhin aktuell erscheinen. Zeigt sich die Moderne wesentlich durch Enttraditionalisierung, Individualisierung der Lebensformen und zugleich durch eine Pluralisierung der Werte geprägt,38 so liegt die Aktualität der existenzphilosophischen Ansätze auf der Hand. In Opposition zur klassischen Anthropologie besticht die existenzialistische Anthropologie qua ihres negativistischen Ansatzes durch eine gewisse metaphysische Schlichtheit.39 Sie kommt mit wenigen Annahmen aus, die sich zudem auf
|| 37 Heinemann 1963, S. 189. 38 Dieses Bild der Moderne zeichnet Gantschow 2011, S. 258. 39 So haben Kierkegaard und Nietzsche lediglich „,thin‘ conceptions of human nature“ (Miles 2013a, S. 241), was hier im Sinne der wenigen metaphysischen Prämissen positiv zu verstehen ist.
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rein formale Strukturen menschlicher Seinsweise beschränken und fernab objektiv-inhaltlicher Festlegungen bleiben. Als negative Anthropologie kategorisierbar, betont und legt sie den Akzent auf die höchst individuelle Selbstbestimmung des Menschen. Sie verabschiedet sich von inhaltlichen Wesensbestimmungen und verpflichtet den Einzelnen zu einer prozessualen Selbstwerdung. Diese Negativität geht mit einem Individualismus einher, denn die Unbestimmbarkeit eines Wesens des Menschen40 eröffnet dem Einzelnen einen schier unendlichen Möglichkeitshorizont für dessen individuelle Selbstgestaltung. Somit haben wir es mit einer Anthropologie des Individuellen zu tun, die als ein Korrektiv zu Positionen überakzentuierter Gemeinschaftsbezogenheit fungieren kann. Im Anschluss an Odo Marquard hat für Franz Josef Wetz die Gegenwärtigkeit der Existenzphilosophie solange Bestand, insoweit die Wahrheit über die Existenz des Einzelnen darin mündet, dass der Einzelne in Fragen der Lebensführung auf sich allein gestellt ist, solange kein höherer Sinn oder Zweck postuliert wird41 – etwas abgeschwächter ließe sich formulieren, dass der Einzelne in solchen Dingen primär und zuerst auf sich allein gestellt ist. Eine solche Philosophie der Selbstgestaltung bietet wiederum Anknüpfungspunkte an Foucaults späte Ästhetik der Existenz einer lebenspraktischen Sorge um sich, welche wiederum in sokratischer Tradition steht und fragt, ob nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein könnte.42 Die anthropozentrischen Ansätze der Existenzphilosophie mögen vielleicht für eine umfassende Philosophie nicht geeignet sein, sie ermöglichen aber, indem sie den Menschen als Ganzen, d.h. als Geist- und Sinnenwesen, in den Blick nehmen, eine wahrhafte philosophische Anthropologie. Diese unterscheidet sich von den immer stärker werdenden Spezialisierungstendenzen der anthropologischen Einzelwissenschaften.43 Ein solches Anthropologieverständnis dreht sich um das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen und so überrascht es kaum, dass ein
|| 40 Wie gesehen bezeichnet Gamm diese als Signum der späten Moderne. Vgl. dazu Gamm 2004, S. 11. 41 Vgl. Wetz 2013, S. 245f. Marquard selbst formuliert: „Aktuell ist oder wird die Existenzphilosophie…, weil sie ein Thema der Philosophie bewahrt oder wiederbringt, das gegenwärtig…der Philosophie verhängnisvoll zu entgleiten droht: das Thema des Einzelnen, wobei ich unterstellt habe: die Unvermeidlichkeit für den Menschen, ein Einzelner zu sein.“ (Marquard 2013, S. 16). 42 Vgl. Foucault 2007, S. 201. 43 „In unserer sogenannten Wissensgesellschaft stellt sich die Frage nach dem ganzen Menschen noch einmal besonders drängend, da die humanwissenschaftlich-anthropologischen Einzeldisziplinen sich zunehmend spezialisieren und den ganzen Menschen dabei leicht aus dem Blick verlieren.“ Das konstatiert Roebel 2014, S. 85 mit Blick auf den Existenzphilosophen Peter Wust.
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weiteres Potenzial in dem Ineinandergreifen von Anthropologie und Ethik besteht, welches in der Existenzphilosophie in besonderer Prägnanz zum Vorschein kommt. Die Freiheit als conditio der prozessualen Selbstwerdung und gewissermaßen ,Platzhalter‘ eines klassischen Wesensbegriffs verweist auf die Verantwortung des Einzelnen und deutet die ethische Dimension an, die in der Anthropologie des Existenzialismus verankert ist.44 Analog zur Anthropologie des Individuellen lässt sich eine Ethik des Individuellen formulieren. Ihre Attraktivität und Aktualität besteht dabei gerade darin, dass sie Raum für die individuelle Lebensgestaltung lässt, ohne dabei zu einem Solipsismus zu tendieren, sondern vielmehr gleichzeitig den Anderen und die Gemeinschaft der Menschen in ihrem Denken und Handeln wesentlich mitberücksichtigt. Entgegen vieler Einwände ist der Existenzphilosophie eine gemeinschaftsbezogene Dimension inhärent, insofern der Mensch sich durch ein Selbst- und Weltverhältnis auszeichnet.45 Jenseits abstrakter und verallgemeinerbarer Moralprinzipien richten sich existenzphilosophische Ansätze an einzelne Menschen in konkreten Handlungssituationen und intendieren beim Adressaten ein reflexives Sich-zu-sich-selbst-Verhalten sowie Sich-zu-anderen-Verhalten. Damit erweisen sie sich als anschlussfähig an die mit der Moderne einhergehende Individualisierung von Lebensformen bei zeitgleicher Pluralisierung von Werten. Sie konfrontieren uns nicht mit dogmatischen Antworten oder einem objektiven, universalistischen Standpunkt, sondern vielmehr mit einem offenen Dialog verschiedener Standpunkte, der zudem einen individuellen Zugang zu ethischen Fragen ermöglicht. Wie auf dem Gebiet der Anthropologie kann auch eine existenzialistische Ethik des Individuellen als ein Korrektiv zu stark gemeinschaftsbezogenen Ansätzen agieren. Thomas Miles sieht darin das Potenzial, mit Rückgriff auf Kierkegaard und Nietzsche die gegenwärtigen ethischen Positionen um einen individuellen Zugang entscheidend zu ergänzen: „I believe that adding the ethical project we find in Kierkegaard and Nietzsche to the curriculum of projects we currently pursue in contemporary
|| 44 In der ethisch-prozessualen Bestimmung des Menschen, „der im Sich-Verhalten in und zu seiner faktischen Existenz über sich selbst entscheidet“, sieht Helmut Fahrenbach „die ethische Dimension der menschlichen Existenz in die anthropologischen Grundlagen selbst verlegt.“ (Fahrenbach 1980, S. 158). Diesen von Fahrenbach in Bezug auf Kierkegaard getroffenen Befund können wir problemlos auf die Existenzphilosophie als Ganze ausweiten. 45 Siehe gegen diese Einwände u.a. Aho 2014, S. xii: „[T]o this end, existentialism offers a clear vision of what a valuable or praiseworthy way of life is. It is a life that faces up to the inescapable freedom and vulnerability of the human situation, and takes responsibility for the fact that our actions have consequences and impact the lives of others.“
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ethics [Utilitarismus und Deontologie] will allow us to gain a deeper, more comprehensive, and more individual approach to ethics.“46 Jürgen Habermas formuliert in seinem jüngst erschienenen Alterswerk, Auch eine Geschichte der Philosophie, angesichts der ebenfalls in der Philosophie verstärkt anzutreffenden Spezialisierungstendenzen mit einer gewissen Sorge die Frage, was von der Philosophie übrig bliebe, „wenn sie nicht nach wie vor versuchte, zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverhältnisses beizutragen“, da es auch Anspruch der Philosophie sei, zu erklären, „was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen.“47 Insofern Existenzphilosophie zur Klärung des Selbst- und Weltverhältnisses beiträgt und Erkenntnisse im Hinblick auf ihre Relevanz für die conditio humana evaluiert, wäre jedenfalls eine Untersuchung, welche die Leistungsfähigkeit des Existenzialismus in Bezug auf die Erhellung unseres gegenwärtigen Selbst- und Weltverhältnisses analysiert, hoch aktuell und vielversprechend. Im letzten systematischen Schwerpunkt kann man ebenfalls eine Gegenwärtigkeit der Existenzphilosophie erblicken. Insofern sich die Philosophie auch mit Fragen menschlicher Existenz beschäftigt, sollte sie ihre Form an ihren Gegenstand anpassen. Vorteile der literarischen Ausdrucksformen existenzialistischer Philosophie bestehen darin:48 (1) das Konkrete zu veranschaulichen. So können zum Beispiel Handlungen in bestimmten Situationen in literarischen Texten durchgespielt werden. Letztere werden zu einer Art Gedankenexperiment, das zumindest im fiktionalen Rahmen konkretisiert werden kann.49 (2) Der Perspektivenwechsel von der abstrakten Ebene der Systematisierung hin zur konkreten Sphäre der Versinnbildlichung ermöglicht ein adäquateres Umschreiben des Phänomens und der Probleme der Existenz und des Lebens. Dadurch wird versucht, sich dem methodologischen Problem, Konkretes zum Gegenstand des Philosophierens werden zu lassen, anzunehmen. (3) Damit eng verbunden ist die Möglichkeit, den Menschen als Sinnenwesen stärker zu berücksichtigen. Gefühle
|| 46 Miles 2007, S. 469. Dem Wert und der Bedeutung der Methode Kierkegaards und Nietzsches für gegenwärtige Debatten in der Ethik geht Miles 2013a, S. 250–269 ausführlich nach. Die gemeinsame ethische Methode Kierkegaards und Nietzsches fasst Miles wie folgt zusammen: „Simply stated, this is the method of illustrating, analyzing, and evaluating different ways of life.“ (ibid., S. 234). 47 Habermas 2019, S. 12. 48 Die hier aufgelisteten Punkte (1) und (3) finden sich auch bei Joseph, Reynolds und Woodward 2011, S. 8. 49 Die Literatur des Existenzialismus beschreibt Davis 2011, S. 148 als eine „Ethical Investigation“.
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und Emotionen können in literarischen Texten eher zum Ausdruck kommen als in einer theoretischen, intellektualistischen Abhandlung. (4) Diese literarische Form des Philosophierens ermöglicht eine direkte Anbindung des Lesers an den Text. Der Philosoph, sofern er seine Aufgabe darin sieht, seine Adressaten zu selbstständigem Denken zu animieren, hat die Möglichkeit, seine Leser direkt anzusprechen und gleichzeitig mit offenen Darstellungsmustern zu arbeiten, um keine ,fertigen‘ Lehren zu präsentieren. Sicherlich ist es kein Alleinstellungsmerkmal der Existenzialistinnen und Existenzialisten, sich des literarischen Genus bedient zu haben, insofern sie dies jedoch zur Erörterung der Existenzprobleme tun, bieten sie gehaltvolle Vorlagen und Inspirationsquellen, um sich ebendiesen Problemen aus heutiger Sicht erneut zu widmen. Jenseits eines philosophiehistorischen Interesses, sich der Existenzphilosophie heute wiederholt anzunehmen, das u.a. in der Abnahme einer einschlägigen Rezeption dieser Strömung begründet liegt, bieten die unter ihr subsumierten Philosophien auch unter systematischen Gesichtspunkten weiterhin gehaltvolle Anknüpfungspunkte. Zugleich werden dadurch die Gedanken der beiden Initialfiguren der Existenzphilosophie selbst wiederum aktuell. Aus der bloßen Tatsache, dass die hier verhandelten Autoren nicht gerade den gegenwärtigen akademischen philosophischen Diskurs bestimmen, kann jedenfalls nicht gefolgert werden, ihr Denken sei obsolet oder gar ,tot‘. Ebenso wenig wie es eine klare, abgrenzbare Geburtsstunde der Existenzphilosophie gibt, lässt sich ein absolutes Ende dieser benennen. Vielleicht sollte Nietzsche recht behalten, als er schrieb: „Es will immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein n o t h w e n d i g er Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute im Widerspruch befunden hat und befinden m u s s t e : sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute.“50 In dieser Auffassung wiederum erweisen sich Kierkegaard und Nietzsche als Brüder im Geiste. Kierkegaard, der sich selbst als religiöser Schriftsteller verstand, notiert im Gesichtspunkt: „Ein triumphierender religiöser Schriftsteller, der in der Mode ist, ist eben damit nicht r e l i g i ö s e r Schriftsteller. Der wesentlich religiöse Schriftsteller ist jederzeit polemisch und dazu unter dem Widerstande leidend oder den Widerstand erleidend, der dem gemäß ist, was zu seiner Zeit dafür gelten muß, das spezifische Böse zu sein.“51
|| 50 Nietzsche JGB, 212, KSA 5, S. 145. 51 SKS 16, 47f. / GWS, 62f.
Literatur- und Siglenverzeichnis Søren Aabye Kierkegaard Die Werke Søren Aabye Kierkegaards werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Dänische Ausgabe: Søren Kierkegaard Skrifter, Bd. 1–28, K1–K28, hg. v. Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Jette Knudsen, Johnny Kondrup, Alastair McKinnon und Finn Hauberg Mortensen. Kopenhagen: Gads Forlag, 1997–2013. Deutsche Ausgaben: Gesammelte Werke, übers. und hg. v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans, 36 Abtlg. in 26 Bdn. und Registerbd. Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs, 1950–69. Die Tagebücher, übers. und hg. v. Hayo Gerdes, Bd. 1–5. Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs, 1962–74. Die Tagebücher. Eine Auswahl, übers. und hg. v. Hayo Gerdes. Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs, 1980. Deutsche Søren Kierkegaard Edition, hg. v. Heinrich Anz (bis Bd. 2), Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser, Joachim Grage (ab Bd. 3) und Heiko Schulz, Bd. 1–11. Berlin, New York und Boston: de Gruyter, 2005ff. Verwendet werden folgende Siglen: A Der Augenblick AUN1 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Erster Teil AUN2 Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Zweiter Teil B Briefe BA Der Begriff Angst BI Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates CR Christliche Reden 1848 CS Der Corsarenstreit DRG Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845 DSKE Deutsche Søren Kierkegaard Edition EC Einübung im Christentum EO1 Entweder/Oder. Erster Teil EO2 Entweder/Oder. Zweiter Teil ERG Erbauliche Reden in verschiedenem Geist 1847 FZ Furcht und Zittern GWS Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller JC Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est KT Die Krankheit zum Tode LA Eine literarische Anzeige
https://doi.org/10.1515/9783110719024-005
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LT PB 4R43 SKS SLW T TA V W WS
Der Liebe Tun Philosophische Brocken Vier erbauliche Reden 1843 Søren Kierkegaard Skrifter Stadien auf des Lebens Weg Die Tagebücher Die Tagebücher. Eine Auswahl Vorworte Die Wiederholung Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller
Friedrich Nietzsche Die Werke Friedrich Nietzsches werden nach folgenden Ausgaben zitiert: Frühe Schriften 1854–1869 in 5 Bdn., hg. v. Karl Schlechta. München: dtv, 1994. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn., hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv, 1999. Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bdn., hg. v. Giorgio Colli. München: dtv, 2003. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin und New York: de Gruyter, 1975–2004. Verwendet werden folgende Siglen: AC Der Antichrist. Fluch auf das Christentum BAW Frühe Schriften 1854–1869 EH Ecce Homo. Wie man wird, was man ist FW Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) GD Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt GM Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift GT Die Geburt der Tragödie JGB Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft KGW Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe KSA Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe KSB Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe M Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile MA Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. I und II NF Nachgelassene Fragmente PhtZ Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen UB Unzeitgemässe Betrachtungen WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Za Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen
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Personenregister Acharya, Vinod 164, 166, 170f., 184, 231, 259, 269 Aho, Kevin 3f., 17, 49, 125, 169, 280 Anderson, Raymond E. 42, 104, 139, 148, 152, 154, 156, 158 Andler, Charles 243 Andreas-Salomé, Lou 166 Angier, Tom P.S. 35, 170, 195 Anz, Wilhelm 5, 30, 41f., 57–59, 65, 93, 95f., 109, 127 Arendt, Hannah 9–11, 17, 24, 52, 64f., 220, 225 Aristoteles 17, 86, 91, 135 Augustinus, Aurelius 5, 25, 261 Banser, Ann-Kathrin 50, 95, 97f., 101f., 139, 143 Barth, Heinrich 10, 76f., 102, 112, 116, 120, 122f. Baudelaire, Charles-Pierre 128 Becker, Ralf 33, 43, 80, 173f., 179 Becker-Lindenthal, Hjördis 33, 43, 80, 139, 148 Béland, Martine 241f., 248, 250, 254, 259 Benn, Gottfried 17, 199 Benne, Christian 247 Bense, Max 10, 51, 143 Bertino, Andrea Christian 207, 210, 212– 214 Bidmon, Agnes 272 Birkenstock, Eva 53, 80 Bloch, Ernst 22, 99 Bode, Philipp 50, 95, 97f., 101f., 139, 143 Bollnow, Otto Friedrich 98 Borsche, Tilman 37, 248 Brandes, Georg 18, 165f. Braver, Lee 17 Brecht, Franz Josef 71, 184 Brobjer, Thomas H. 18, 165f., 233–236, 256 Brock, Eike 18, 187, 190, 210f., 213, 215, 220–224, 226, 228–230, 232f. Bruckner, Ferdinand (Tagger, Theodor) 22 Brusotti, Marco 222, 232 Burckhardt, Jacob 201
https://doi.org/10.1515/9783110719024-006
Campioni, Giuliano 166 Camus, Albert 2, 4, 25–27, 50, 55f., 59, 62, 64, 73, 79, 84, 86, 91, 124, 182, 203, 210, 237, 252, 258, 263, 266, 268–272, 277 Choulet, Philippe 193, 207, 215 Cohen-Solal, Annie 1, 6 Colette, Jacques 2, 25 Cooper, David E. 6f., 24 Crowell, Steven 6 Cusanus, Nicolaus 200 Da Silva, Gabriel Ferreira 39f., 52, 57, 77– 79, 131 Dalferth, Ingolf U. 74f., 120f. Davis, Colin 281 De Beauvoir, Simone 2, 4f., 25, 27, 84, 102, 122, 266, 268f., 277 De Montaigne, Michel 129, 183 Decher, Friedhelm 74, 264 Dehrmann, Mark-Georg 243, 252 Delecroix, Vincent 81, 106 Deleuze, Gilles 19 Demmerling, Christoph 103 Dempf, Alois 21, 143 Denat, Céline 242 Descartes, René 5, 10, 25, 48, 62, 189, 261 Deuser, Hermann 37, 60, 64, 70, 82, 105, 108, 115, 127, 135, 137, 139, 154, 157, 159f. Diem, Hermann 69, 73, 83, 100, 128, 137, 155 Dietz, Walter R. 37, 53, 95, 97 Diogenes Laertios 49 Djurić, Mihailo 173, 182 Dreyfus, Hubert L. 205 Duvall, William E. 272 Düsing, Edith 142, 148 Eiser, Otto Heinrich 203 Emerson, Ralph Waldo 58 Engels, Friedrich 1, 11 Engmann, Matthias 82 Eriksen, Niels Nymann 230 Erne, Paul Thomas 141f.
306 | Personenregister
Fahrenbach, Helmut 70, 93, 98, 104, 111, 114, 116f., 125, 132, 280 Feuerbach, Ludwig Andreas 10 Fichte, Johann Gottlieb 19, 31, 50, 61, 83f., 159, 274, 276 Figal, Günter 43f., 220, 223 Fink, Eugen 194 Fonnegra, Sergio Muñoz 88, 96, 114, 118f., 135 Foucault, Michel 4, 205, 279 Foulquié, Paul 91 Frank, Horst Joachim 128 Fredsted, Elin 129, 147, 150 Fritzsch, Ernst Wilhelm 167, 243–245, 247, 249 Fuchs, Carl Dorius Johannes 255 Fujino, Hiroshi 37, 45, 56, 81, 97, 105, 145, 162 Gabriel, Leo 10, 262 Gadamer, Hans-Georg 23 Galle, Roland 1, 17, 21, 23, 212, 264 Gamm, Gerhard 19, 54, 66, 92, 110– 112, 127, 204, 215, 227, 279 Gantschow, Alexander 23, 37, 49, 63, 65, 68–71, 80, 92f., 96, 110, 115, 127, 145, 150, 168, 179, 180–182, 194f., 198, 203, 205, 219f., 224, 239, 246, 248, 255, 278 Garff, Joakim 130, 137, 138 Geisenhanslüke, Achim 213 Genette, Gérard 245f. Gentili, Carlo 170 Georg(-Lauer), Jutta 175, 204, 208, 222, 225, 230, 238, 241, 247 Gerhardt, Volker 25, 182, 195, 228, 237, 239f., 257 Giesz, Ludwig 164 Glöckner, Dorothea 75f., 88 Goethe, Johann Wolfgang 68 Goodman, Russell B. 131 Grage, Joachim 130 Gräb-Schmidt, Elisabeth 75, 144 Greve, Wilfried 32, 56f., 125, 142, 146, 152, 160 Groddeck, Wolfram 242, 248f., 252 Großheim, Michael 272 Grøn, Arne 33f., 72, 102, 147, 184f.
Guardini, Romano 82 Guignon, Charles 19 Gyenge, Zoltán 12 Habermas, Jürgen 281 Hadot, Pierre 88, 129, 154 Hagemann, Tim 71, 81, 89, 132, 156, 158 Harbsmeier, Eberhard 51 Hartog, Wolter 68, 113, 117 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9–11, 13, 19, 25, 30f., 33, 37–39, 41, 43–47, 50f., 53, 57f., 63–66, 68, 72, 81–83, 95, 97, 105–107, 112–114, 117, 121, 136, 142f., 159, 163, 168–170, 178, 250f., 261f., 267f., 274, 276 Heiberg, Johan Ludvig 31, 152 Heidegger, Elfride 22 Heidegger, Martin 2, 4, 14–16, 18, 22, 27–29, 39, 73, 91–93, 97–99, 161, 165, 217, 240, 274 Heil, Reinhard 200 Heinemann, Fritz 5, 28, 262, 276–278 Heinrich, Johannes 114, 116, 206 Heit, Helmut 177, 188, 192 Hennigfeld, Jochem 74, 94f., 264 Heymel, Michael 80 Hirsch, Emanuel 88, 141f., 158 Hohlenberg, Johannes 37f., 56, 59, 87, 160 Holl, Jann 71, 132 Holzhey, Helmut 277 Höffding, Harald 34, 45f., 63, 71, 108, 166, 234f. Hörisch, Jochen 197 Huisman, Denis 1f., 17, 25, 215 Hume, David 22, 219 Husserl, Edmund Gustav Albrecht 28 Hügli, Anton 40, 72f., 78, 84, 113, 122, 142f. Hühn, Lore 30, 127, 162 Hüsch, Sebastian 38, 40, 72, 76, 95, 127, 140f., 144, 147, 152, 154f., 161f., 176 Ibsen, Henrik 166 Immel, Oliver 211 Jacobs, Angelika 145, 159, 165 James, William 64 Janke, Wolfgang 3, 73f., 76, 86f., 97, 169, 179, 233, 266
Personenregister | 307
Janz, Curt Paul 166, 182, 194, 240 Jaspers, Karl Theodor 2, 5, 7, 11, 16, 26f., 73, 147, 167f., 236, 272, 277 Joisten, Karen 211 Joseph, Felicity 4, 19, 281 Judaken, Jonathan 6 Kaminski, Eva 165 Kann, Christoph 62, 86, 107f. Kant, Immanuel 9f., 22, 31f., 37, 49, 65, 114–117, 119, 194, 225, 227, 229, 239, 265 Kast, Christina 180, 182, 245 Kaufmann, Kirstin 128f., 135 Kaufmann, Sebastian 178 Kaufmann, Walter 2, 9, 17, 166 Kaulbach, Friedrich 237 Kellenberger, James 166, 265 Kennan, George F. 21 Kierkegaard, Peter Christian 13 King, G. Heath 55, 108, 126, 134, 153 Kleinert, Markus 78, 137 Klossowski, Pierre 218 Knittermeyer, Hinrich 25 Kofman, Sarah 174f. Köselitz, Johann Heinrich 203, 244 Krentz, Arthur A. 139f. Krenzke, Hans-Joachim 251 Kuhlen, Rainer 238 Kundera, Milan 268 Lauda, Karl Heinz 272 Lemm, Vanessa 189 Lessing, Gotthold Ephraim 35 Lichtenberg, Georg Christoph 82, 147 Liessmann, Konrad Paul 134 Lohner, Alexander 16, 49, 159 Lotz, Johannes B. 1, 73 Lowrie, Walter 156 Löwith, Karl 10f., 52, 65f., 99, 105, 163, 217, 248, 261f. Luckner, Andreas 104, 266, 271 Lukács, Georg 37, 159 Mackey, Louis 45, 130 Magnus, Bernd 220f., 229 Malpas, Jeff 24, 267, 273 Mann, Paul Thomas 163 Marcel, Gabriel 4 Marcuse, Herbert 268, 271
Marcuse, Ludwig 20 Marquard, Odo 16, 20, 36, 61, 195, 279 Martensen, Hans Lassen 31, 166, 233 Marx, Karl 1, 10f., 52, 66, 168, 262 Maurer, Reinhart 180, 237f. Mayer, Mathias 22, 32, 63, 125, 130 Merleau-Ponty, Maurice 4, 49, 147, 274 Meyer, Metthew 197, 214 Meyer, Theo 184, 201–203, 205, 237, 239, 241, 257 Michelman, Stephen 17, 26, 28 Miles, Thomas P. 18, 79, 83, 103, 116, 119f., 145, 165–167, 206, 234, 257, 265, 278, 280f. Moser, Susanne 123 Mounier, Emmanuel 10, 25 Möbuß, Susanne 9, 15, 19f., 25, 268 Møller, Poul Martin 72 Müller-Schwefe, Hans-Rudolf 10, 21, 54 Mynster, Jacob Peter 31 Nagel, Thomas 44 Nehamas, Alexander 217, 256 Neymeyr, Barbara 177, 183f., 188, 192f., 195, 212, 239 Niemeyer, Christian 217 Nientied, Mariele 131, 139f., 142, 146 Nigg, Walter 130 Oehm, Heidemarie 22, 166 Oei, Bernd 237, 271 Orsucci, Andrea 233 Ortega y Gasset, José 200, 206, 216 Ostritsch, Sebastian 104, 266, 271 Overbeck, Franz Camille 169, 241f. Parmenides 55f. Pascal, Blaise 25, 76f., 269 Paulsen, Anna 155 Peinzger, Peter 204f. Perkins, Robert L. 138 Perler, Dominik 48 Pichler, Axel 242, 245, 248, 253, 256f. Pico della Mirandola, Giovanni 200 Pieper, Annemarie 37f., 43f., 56, 68–71, 74, 89, 139f., 142, 144, 146, 157, 212, 271 Pivčević, Edo 102 Platon 10, 80f., 106, 139, 168, 240
308 | Personenregister
Proust, Valentin Louis Georges Eugène Marcel 195 Purkarthofer, Richard 93, 128, 136f., 159 Pythagoras 71 Rabinow, Paul 205 Rapp, Christof 81 Rasmussen, Anders Moe 100, 108 Rauh, Raphael Benjamin 178 Reich, Haucke 183 Reichenbach-Klinke, Stephanie 22 Rentsch, Thomas 108 Reynolds, Jack 4, 19, 281 Richter, Liselotte 81 Ringleben, Joachim 51, 95, 149 Roebel, Marc 279 Rorty, Richard McKay 9, 49, 195 Röd, Wolfgang 2, 57 Rudd, Anthony 35 Safranski, Rüdiger 92, 201, 203, 205, 229, 239 Salamun, Kurt 50, 127, 135, 145f., 210, 271 Salaquarda, Jörg 170, 183, 192, 221f., 224, 246 Sartre, Jean-Paul 1f., 4–6, 15–17, 21, 25, 27, 29, 49, 62, 84, 92, 97, 102, 105, 109, 115, 120, 123f., 198, 203, 210, 215f., 236, 263f., 266, 268, 270, 272, 274, 277 Schacht, Richard 209 Schäfer, Alfred 139 Schäfer, Klaus 45 Scheier, Claus-Artur 242f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11– 15, 19, 31, 36, 39, 44–47, 61, 143, 159, 262, 274, 276 Schildknecht, Christiane 42f., 82, 125f., 147 Schlette, Magnus 67, 88, 100, 128f., 144, 150, 153, 162 Schlimgen, Erwin 175 Schmid, Heini 71f. Schmid, Wilhelm 205f., 211, 228 Schmidinger, Heinrich M. 12–14, 31, 39f., 42, 53, 64, 75, 109, 134 Schmidt, Jochen 243
Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 12f., 25, 30, 46 Schneider, Ute 238 Schopenhauer, Arthur 179 Schönbaumsfeld, Genia 131 Schreiber, Gerhard 165 Schulthess, Daniel 87 Schulz, Heiko 10, 21, 26, 44, 50, 61, 65f., 68, 72, 77f., 130, 134, 165 Schulz, Walter 104 Schupp, Franz 84, 111 Schwab, Philipp 19, 30, 42, 45, 47, 53, 59, 61f., 69, 85, 90, 111, 131, 133– 136, 139, 144, 147–151, 153, 156, 158f., 173, 182 Seibert, Thomas 2–4 Seneca, Annaeus L. 80 Simmel, Georg 222 Skirl, Miguel 217, 222, 231 Sløk, Johannes 130 Sokrates 20, 25, 43, 63, 80f., 88f., 137– 140, 153f., 159, 223f., 240, 267, 274, 276 Solomon, Robert C. 2f., 6, 10, 20, 32, 119f. Sommer, Andreas Urs 255 Søltoft, Pia 123f. Stegmaier, Werner 161, 188–190, 207f., 210, 212–214, 217f. Stewart, Jon 3, 17, 21, 28, 31, 47, 75, 112f., 116, 120, 140, 225 Störig, Hans Joachim 114 Strawson, Peter F. 29 Strindberg, Johan August 166 Swenson, David F. 35, 54, 64, 84, 134, 137 Theunissen, Michael 32, 56f., 106, 146, 160 Thonhauser, Gerhard 14–16, 95, 99, 165 Thurnher, Rainer 2 Thurnherr, Urs 3 Tugendhat, Ernst 206 van Tongeren, Paul 63, 146, 191, 242, 245–247, 253–257 Vergote, Henri-Bernard 51, 144f., 156 Vető, Miklós 12f., 46, 50 Victor, Oliver 62, 81, 86, 107f., 150, 192
Personenregister | 309
Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 200 von Salis, Meta 243 Voß, Torsten 197 Wagner, Ernst 183 Wahl, Jean 30, 35, 38, 145 Webber, Jonathan 5f., 16, 97f. Weier, Winfried 28f. Weijers, Els 247f. Weisshaupt, Kurt 104 Wenzel, Eugen 199 Wernicke, Horst 272 Wesche, Tilo 82f., 99f., 122, 148 Wetz, Franz Josef 279
Wiebe, Christian 22, 165 Wild, Markus 4 Wilde, Frank-Eberhard 149 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 4, 131, 133, 140, 150 Wokalek, Marie 199 Woodward, Ashley 4, 19, 281 Wotling, Patrick 18, 188 Wust, Peter 5, 11, 15f., 49, 62, 108, 159, 279 Würger-Donitza, Wolfgang 195, 212, 214 Zimmermann, Franz 2, 104 Zittel, Claus 196–198
Sachregister Abstraktion 4, 8, 34, 38, 40, 49, 52–54, 58, 60f., 91, 96f., 113, 127, 172f., 227, 263 Absurdes 270f. Absurdität 7, 22, 59, 271 Aneignung (vgl. Einverleibung, Einverleiben) 72, 83f., 88, 115, 118, 126, 139, 148f., 151f., 154f., 157f., 161f., 175, 185, 230, 254f., 272 Angst 7f., 21f., 92, 123, 266 Anthropologie 10, 15, 27f., 30, 44, 53, 65, 90, 96, 98–100, 105f., 110f., 116, 122–125, 128, 164, 188, 192–195, 197, 200, 203f., 207–209, 212, 214– 216, 224, 228, 239, 263f., 267, 271, 275f., 278–280 Anthropologie, negative 99f., 191, 204, 207, 210–212, 214, 224, 239, 264, 275f., 279 Anthropozentrismus, anthropozentrisch 20, 275f., 279 Anti-Essentialismus, anti-essentialistisch 17, 97, 125, 200, 204, 209, 212, 215, 218, 263, 275f. Anti-Lehre 208–210, 217f. Aufrichtigkeit (vgl. Redlichkeit) 84, 129f., 181 Authentizität (vgl. Redlichkeit) 4, 8, 71, 84, 128f., 132, 153 Corsarenstreit 118, 138, 153 Dasein 10, 15f., 20, 31, 33–38, 41, 43–45, 52f., 56, 61f., 70, 72–74, 84f., 91f., 95, 99f., 102, 104, 142, 144, 150, 160, 184, 186, 195, 203, 234, 237 Einverleibung, Einverleiben (vgl. Aneignung) 83f., 158, 185, 230, 232, 246f. Einzelner (vgl. Existierender) 3f., 8, 16, 19–21, 29f., 37f., 40, 42–45, 47, 50f., 53, 57–62, 66–71, 73–76, 78, 82, 84–88, 90, 92, 94–96, 99f., 103f., 106, 109–112, 115, 117–120, 122–127, 129, 131, 133–135, 137, 139f., 143, 146f., 152, 160, 184, 191f., 194f., 198,
https://doi.org/10.1515/9783110719024-007
207, 210f., 214, 219, 225–229, 232f., 236, 238, 254–257, 259, 263–267, 272, 275, 279f. Endlichkeit 4, 8, 40, 52, 54, 70, 85, 92, 94, 108, 123, 136 Engagement 4, 8, 272 Entwicklungsgeschichte 243, 246f., 251, 254, 259 Entwicklungsprozess 142, 144, 149, 243, 247, 259 Entwurf, geworfener (vgl. Geworfenheit; Lebensentwurf) 93 Erkenntniskritik (vgl. Intellektualismuskritik) 45, 164, 168, 170f., 175, 186f., 192, 226, 239, 270 Ernst 5, 22, 63, 75, 85–87, 115, 118, 140, 221, 228 Essentialismus (vgl. Wesensphilosophie) 94, 98 Essenz, essentia 4, 6, 8, 15–17, 62, 84, 94, 97–99, 101, 105, 109, 124, 136, 215, 264, 274, 276 Ethik 6f., 27, 29f., 51, 88, 96, 110–121, 123–125, 132, 164, 178, 227f., 233, 235f., 239, 263, 265–267, 271, 275f., 278, 280f. Ethisches 20, 43, 53, 85, 88, 110–119, 122f., 125f., 140, 160, 162, 178, 227, 265 Ewige Wiederkunft, Ewige Wiederkehr 115, 165, 208, 216–221, 224f., 228– 237, 271 Ewigkeit 34, 40, 45, 52f., 56f., 60, 77, 108, 136, 168, 172, 184, 224f. Existenz, existentia 2–4, 6, 8f., 11–17, 19– 21, 24, 33f., 36–48, 52–66, 68–80, 82–85, 87–102, 104–112, 116f., 120, 123–128, 131–137, 142f., 145–149, 152f., 158, 160, 164, 169f., 172f., 178–182, 184–186, 190, 193–196, 198, 201–203, 205, 207f., 211–213, 215f., 219, 221, 227–232, 237–239, 241, 246f., 252, 257–259, 262–265, 267f., 270, 273–277, 279–281
Sachregister | 311
Existenzdialektik 69f., 111 Existenzialien 92 Existenzialismus, existentialism, existentialisme (vgl. Existenzphilosophie) 1–10, 12, 15, 17, 19–26, 29, 33, 36f., 49, 65, 68, 84, 86, 91, 109, 115, 123, 125, 133, 150, 164, 191, 197, 212, 215f., 218, 223, 233, 236, 252, 256, 262–264, 266–270, 272–275, 277, 280f. Existenzieller Imperativ 220f., 225, 228f., 236 Existenzphilosophie (vgl. Existenzialismus, existentialism, existentialisme) 1–20, 23–30, 32f., 36, 49, 53f., 61f., 64f., 79, 86f., 91, 94, 97, 105, 120f., 124, 159, 162–165, 167, 170, 181, 184f., 190f., 194f., 214, 216, 218, 233, 236–238, 241, 250, 252, 258, 261–264, 267, 269–282 Existenzvergessenheit 9, 11, 43, 55f., 69, 87, 129, 262 Existenzwissenschaft 77–79 Existierender (vgl. Einzelner) 5, 20, 34, 43–47, 50–52, 54f., 58–61, 64f., 67, 69f., 72f., 76, 79, 82f., 90f., 93f., 101, 103f., 109, 127, 129, 136f., 152, 154, 169, 194f., 205, 220, 230, 250, 264 Experiment 151f., 201, 215, 220f., 228, 236–241, 246f., 250, 252, 255–258, 260, 264, 266 Experimentalphilosophie 18f., 133, 136, 151f., 159, 165, 180, 183, 201, 221, 227, 237–239, 250, 252, 254, 256f., 259f., 267 Freiheit 4, 7f., 21f., 37, 52, 54, 58, 88, 93– 95, 101–104, 122–125, 143, 155, 180, 195f., 198–201, 203f., 207, 213, 215, 223, 237, 240, 247, 252, 255, 263f., 266f., 274, 280 Gefühl 59f., 133, 282 Geist 7, 33, 35, 39f., 48, 51–53, 55, 68, 74, 94–96, 98, 107, 123f., 135, 143, 154, 169, 177f., 180f., 183, 204, 207, 237, 253, 261 Geist, freier 181, 189, 199, 204f., 207f., 212, 232, 240, 246f., 249, 252–254
Gemeinschaft (vgl. Solidarität) 67, 94, 120–122, 124, 272, 276, 280 Genealogie, genealogisch 25, 167, 171, 193 Geworfenheit (vgl. Entwurf, geworfener) 21, 92 Handlung 15, 70, 73, 79, 81–83, 105, 107, 109f., 112, 114, 118–120, 125, 219, 222, 225–227, 236, 260, 266, 281 Hegelianismus, Hegelianisch 10, 31f., 67, 138, 269 Historismus 171 Humanismus 4, 272, 275 Idealismus 10, 13, 58, 65, 106, 240 Idealismus, Deutscher 9–12, 14, 30–34, 37, 39, 47, 50, 60, 84, 106, 109, 113f., 116, 168, 181, 189, 194, 206, 250, 259, 262f., 265, 274–277 Idealismuskritik (vgl. Systemkritik) 11f., 15, 30–33, 54, 64, 267, 276 Idealität 40f., 55, 61, 78, 116f. Immanenz 200, 225, 263, 267, 270f. Indirekte Mitteilung 18f., 30, 42, 88, 126, 131–139, 144, 146–159, 162, 236f., 254, 256 Individuum 3, 15, 20, 25, 29, 37, 43, 55, 65, 67f., 75, 81, 83, 97, 101, 103, 105–109, 114f., 118, 120, 122f., 135, 190, 193f., 202f., 205, 251, 262f., 267, 270, 275, 279 Innerlichkeit 30, 44, 50, 57, 59, 61, 72– 75, 80, 83f., 88f., 108, 111–113, 119, 122f., 125, 132, 152, 154f., 157, 264 Intellektualismuskritik (vgl. Erkenntniskritik) 11f., 54, 59, 64f. Interesse, inter-esse 4, 47, 54, 70, 73–75, 78, 105, 190, 240f. Interesselosigkeit, interesselos 60f., 63, 69f., 73, 79, 221 Irrationalismus 11, 32, 75, 77, 181 Kommunikation 88, 126, 135, 139f., 154, 159, 197, 231 Kontemplation 78f., 105f., 189, 206 Kunstwerk 79f., 90, 126, 135, 205, 207, 215f., 224, 279 Künstler 79, 204f.
312 | Sachregister
Leben 19–22, 24, 29, 31, 36, 41f., 45, 54, 61–64, 66, 68–70, 72f., 77, 79f., 83, 86f., 90, 92, 94f., 99f., 104, 107–109, 114–116, 120, 127f., 130, 134–136, 145, 147f., 150f., 153, 161, 171, 173, 179–182, 184–186, 188–190, 193, 195f., 198–202, 205, 207, 211, 213– 215, 217, 219, 221–225, 227f., 231f., 234f., 237–242, 246f., 249, 252, 255f., 258–260, 262–266, 268, 271, 274, 277, 279, 281 Lebensentwurf (vgl. Entwurf, geworfener) 24, 127, 160, 163, 202 Lebensform 23, 80, 127, 139, 142, 144, 146, 150, 165, 168, 189, 201, 210, 232, 239, 241, 247, 257, 265, 275f., 278, 280 Lebenskunst 205 Lebensphilosophie 12, 36, 54, 159, 163, 200, 216, 261f., 274, 276 Leidenschaft 7, 68, 71, 75, 79, 82f., 101, 108, 119, 136, 169, 240, 258 Logik 44, 75, 77, 172, 175, 181f., 243 Marxismus 261f., 274, 276 Mäeutik 138f., 274 Metaphysik 3, 18, 27, 45, 57f., 65, 73, 75, 78, 105, 116, 164, 168, 171, 175–177, 179f., 186, 188, 191f., 194f., 198, 202, 258, 263, 270f. Metaphysikkritik (vgl. Postmetaphysisches Zeitalter) 12, 17, 27, 35, 57, 75, 164, 170f., 175, 186f., 192, 197, 204, 206, 226, 239, 263, 270, 275f. Möglichkeit 15f., 38–40, 48, 52, 54, 70, 73, 77, 81, 92f., 96, 99, 101f., 105, 107, 109, 123, 127f., 136, 145–148, 151, 184, 200, 204, 213f., 216, 221f., 235 Negativität 81, 99f., 145, 149, 200, 224, 275, 279 Nihilismus 4, 8, 164, 175, 179, 186–191, 198f., 204, 208f., 224, 231f., 238, 249, 252, 255f., 260 Notwendigkeit 52, 54, 70, 78, 92–94, 103, 105, 136, 143, 160, 184 Objektivität (vgl. Sub specie aeternitatis) 49f., 70, 72f., 75, 87, 114, 155, 170f.
Perspektivismus 18, 133, 136, 170, 178f., 184, 197, 211, 215, 229, 246 Phantasie 59f., 129 Phänomenologie 4, 7f., 49, 147, 261, 274, 276 Polyphonie (vgl. Pseudonymität) 33, 128 Postmetaphysisches Zeitalter (vgl. Metaphysikkritik) 23, 167, 212, 215, 278 Pragmatismus 6, 64f. Praxis 37, 64, 71, 83, 110, 132, 135, 159, 255 Predigt 155, 157 Prozess, prozessual 21, 36, 90, 94f., 98f., 104, 106, 125, 130, 134–136, 202, 207, 240, 251–254, 257, 259, 275, 279, 280 Pseudonyme 33, 40, 69, 80, 95, 127–129, 138f., 141f., 144–146, 149, 151f., 157, 160f. Pseudonymität (vgl. Polyphonie) 128, 158, 160 Psychologie 176f., 188, 192 Quietismus 122, 272 Rationalismus 75f. Realität 35, 40f., 55f., 74, 116f., 173, 222 Rede(n) 78, 85, 121, 128, 154–158, 222 Redlichkeit (vgl. Aufrichtigkeit; Authentizität) 129, 181 Relativismus 59 Rhetorik 156 Schriftsteller 69, 118, 128f., 137f., 149, 153, 159, 282 Schriftstellerei 125, 128–130, 142, 157f., 160, 254 Sein 5, 10, 14f., 22, 34, 36, 39f., 52, 54– 58, 60, 62, 64f., 70, 75, 77f., 93, 97, 101, 105, 108, 173, 175f., 187, 213, 215f., 233 Selbst 7, 25, 41f., 53, 68, 77, 82, 84, 88, 94–98, 102–104, 106, 110, 112, 116, 118, 122–124, 128, 134f., 143, 202f., 205–207, 213, 215, 246, 254, 275 Selbstüberwindung 210f., 231 Selbstwerdung 84, 118, 228, 279f. Singularität 19f., 40, 47, 57, 59, 115, 119, 149, 173f., 226f., 254
Sachregister | 313
Situation 29, 54, 73, 91, 93, 96, 104, 112, 115, 119f., 131, 150, 152f., 195, 232, 265, 272, 281 Solidarität (vgl. Gemeinschaft) 112, 272, 276 Sophistik 5 Sorge 4, 25, 40, 92, 279 Spekulation 43, 67, 76, 80–82, 93 Stadien, der Existenz 140, 142–145, 162 Stadienlehre 103, 140, 142, 144, 160–162 Stimmung 4, 8, 60, 86, 92, 145, 148 Sub specie aeternitatis (vgl. Objektivität) 45, 53, 81f., 108, 168f., 178 Subjekt 5, 7, 20, 44, 49, 51, 54f., 58, 64, 70, 73–75, 82f., 85, 88, 97, 100, 111, 116, 122, 126, 129, 134, 148f., 154, 171, 180, 189, 206, 211, 250f., 257, 265, 268 Subjektivität 5, 40, 43f., 46, 50, 57, 59, 60, 63, 70–75, 77f., 82–84, 87f., 111– 114, 117, 122–125, 131–133, 135, 146, 154, 156, 160f., 170f., 200, 206, 210, 236, 256, 264, 275, 277 Subjektivitätsphilosophie 5, 62, 64, 246, 250, 275f. Substanz 48, 97, 110 System 4, 9, 21, 25, 31–38, 43–46, 50, 52f., 56, 58, 62f., 65f., 81, 90, 109, 112f., 123, 125–127, 133, 142f., 159f., 162, 175–177, 180f., 183, 186, 192, 196, 202, 248, 261, 263, 268–270, 277 Systemkritik (vgl. Idealismuskritik) 9, 11f., 15, 30, 32f., 54, 56, 62, 64f., 75, 133, 143, 160, 162, 183, 267, 270, 276f. Systemphilosophie 9, 31f., 35, 50, 64, 66, 84, 112f., 127, 143, 160, 170, 176, 181, 186, 223, 248, 259, 263, 267 Teleologie, telelogisch 103, 140–142, 144, 161 Theorie 10, 71, 81, 113, 125, 132, 135, 142, 152, 159, 162, 171, 239 Tod 4, 7f., 85–87, 92, 108, 155, 232, 266, 269 Tod Gottes 17f., 186, 190, 208f., 264 Transzendenz 237
Übermensch 207–212, 215, 218, 230 Verantwortung 4, 8, 101f., 118–120, 122, 161, 222, 264, 266f., 280 Vernunft 7, 12f., 32, 37, 50, 64f., 75, 163, 180, 182, 188f., 195f., 198f., 201, 203–205, 207, 240, 247, 252, 270 Verstand 58, 60, 230 Vorrede, Vorwort 180, 238, 241–260 Wahrheit 5, 23, 34f., 41, 50, 58–60, 62– 64, 67f., 70–78, 82–84, 87–89, 104, 111f., 117–119, 131f., 135, 139, 144, 146, 149, 154f., 157, 159f., 163, 169f., 174f., 177–181, 186, 188–193, 205, 212, 246, 251, 259, 263, 267f., 279 Wanderer 191, 195, 197–201, 214–216, 252 Wanderschaft 196, 198f., 211, 264 Werden 21, 36–38, 40, 46, 54, 58, 61, 63, 70, 72, 74, 78, 90, 93–95, 97, 99, 101, 104, 109f., 116, 127f., 132, 134, 136, 142f., 152, 172f., 176f., 179f., 182–184, 187, 193, 202, 206f., 213, 215, 232, 259 Wesen 1, 15, 17, 35, 37f., 49, 54, 57f., 66, 68, 83, 85f., 90, 96–99, 101, 105, 107–110, 114, 124, 126, 169, 173, 178, 196, 199–205, 207, 213–215, 225, 241, 263, 265, 275, 279 Wesensphilosophie (vgl. Essentialismus) 3, 8, 65, 94, 105, 202, 263, 265, 275 Wiederholung 80, 115, 151f., 166, 233– 236 Wirklichkeit 10f., 14, 17, 19, 21f., 36, 38– 40, 42, 44, 46–48, 50, 52–56, 59, 61, 66, 68, 72, 74, 77–79, 81f., 85, 91, 108, 113, 143, 146–148, 151, 153, 172–176, 181–184, 191, 194, 202, 215, 235, 262f., 277 Wissen 30, 38f., 42f., 59, 63, 70, 74, 76, 112f., 117, 125, 132f., 135, 138f., 142, 154, 160f. Wissenschaft 12, 19, 42, 50, 59, 68f., 75– 79, 82f., 114, 117, 131, 138, 175, 180, 188f., 193, 232, 241, 252, 275 Zeit 4, 8, 34, 46, 82, 92, 101, 104, 108, 169 Zeitlichkeit 34f., 40, 45, 52f., 107f., 184