Nietzsche und Frankreich 9783110216905, 9783110193312

Friedrich Nietzsche held France in high esteem throughout his life. France was at the same time the country in which he

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German Pages 490 [492] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Nietzsche ,und‘ Frankreich
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“
„Ich hasse Rousseau …“. Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah
Nietzsche und Strindberg. Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche?
La première réception de Nietzsche en France: Henri Lichtenberger, Charles Andler, Geneviève Bianquis
Man findet bei Nietzsche, was man sucht
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus
Den Minotaurus schreiben: autobiographische Tauromachien bei Leiris und Nietzsche
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie. Überlegungen zu einem „dreieinen“ Begriff der Zeit
„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“ Zur Auseinandersetzung mit der französischen Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift für Sozialforschung
Gottes Sehnsucht. Nietzsche und Bataille
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber. Zur Ethik Nietzsches
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne: Hegel – Hölderlin – Nietzsche
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori. Transzendierung des Historischen oder Historisierung des Transzendentalen?
Skandal und Hygiene
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum
“René Girard and Nietzsche Struggling”
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche
Science du Désastre et Démocratie
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche
Penser par-delà l’homme
Backmatter
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Nietzsche und Frankreich
 9783110216905, 9783110193312

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Nietzsche und Frankreich



Nietzsche und Frankreich Herausgegeben von

Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019331-2 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin Nietzsche ,und‘ Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

A. Nietzsches Frankreich-Rezeption Thomas H. Brobjer Nietzsche, Voltaire and French Philosophy . . . . . . . . . . . . . . .

13

Ivan Broisson Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Tilo Klaiber „Ich hasse Rousseau …“ Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Renate Reschke Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah . . . . . . . . . . . .

63

Tobias Dahlkvist Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

B. Französische Nietzsche-Rezeption Marc Sagnol La première réception de Nietzsche en France: Henri Lichtenberger, Charles Andler, Geneviève Bianquis . . .

105

Angelika Schober Man findet bei Nietzsche, was man sucht . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Anatoly Livry Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra . . . .

135

VI

Inhalt

Miriam Ommeln Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

Christian Benne Den Minotaurus schreiben: autobiographische Tauromachien bei Leiris und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Andreas Spohn Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie. Überlegungen zu einem „dreieinen“ Begriff der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Ernani Chaves „Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“ Zur Auseinandersetzung mit der französischen Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Clemens Pornschlegel Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Slaven Waelti De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

Marc Rölli Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

255

Christine Blättler Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber. Zur Ethik Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Günter Krause Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne: Hegel – Hölderlin – Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Knut Ebeling Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori. Transzendierung des Historischen oder Historisierung des Transzendentalen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Mattia Riccardi Skandal und Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

Inhalt

VII

Philippe Lepers Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum . . . . . . . .

337

Michael Platt “René Girard and Nietzsche Struggling” . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

Isabelle Wienand Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ . . . . . . . . . . . . .

377

C. Interpretationen Catherine Malabou L’Éternel Retour et le fantôme de la différence . . . . . . . . . . . .

391

Georg W. Bertram Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche . . . . . . . .

405

Jean-Marc Hémion Science du Désastre et Démocratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

429

Florian Schneider Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Jean-Clet Martin Penser par-delà l’homme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

Nietzsche ,und‘ Frankreich Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin Auf welchem Territorium begegnen sich ein Denker und eine Nation in ihrem jeweiligen Selbstverständnis und in ihrer gegenseitigen Herausforderung? Wie also läßt sich jenes ,Und‘ vermessen und kartographieren, das zwischen Nietzsche und Frankreich steht oder als Schnittmenge jenen Brückenkopf bildet, von dem aus beide gemeinsam die (philosophische) Welt erobern? „Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks: aber man muss dies ,Frankreich des Geschmacks‘ zu finden wissen“,1 so hebt mit Abschnitt 254 von Jenseits von Gut und Bçse (1886) Friedrich Nietzsches Quintessenz seiner lebenslangen Wertschätzung Frankreichs an. Es war gleichzeitig das Land, in dem er sich am frühesten verstanden zu wissen glauben durfte. Nietzsche und Frankreich umreißt folgerichtig eine Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Begegnungen, die sich jeweils durch ihre Wechselwirkung auszeichnen und in ihrer historischen wie systematischen Tiefendimension bzw. Aktualität ausgelotet werden sollen. Der 200. Jahrestag der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt vom 10. bis 14. Oktober 1806, zu deren Gedenken die Tagung, aus der dieser Sammelband hervorgegangen ist, stattgefunden hat,2 war allerdings gleichzeitig Anlaß zur Frage, inwiefern es sich dabei um eine gegenseitige Überwältigung und Bemächtigung, sei’s in einem kriegerischen, sei’s in einem kämpferischen Sinne, handelt, kurz: um die Handgreiflichkeit einer ,Interpretation‘ im interpretationsbedürftigen

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JGB 254, KSA 5, S. 198 – 200, hier S. 198 (zu den Siglen siehe das Verzeichnis am Ende dieser Einleitung). „Nietzsche und Frankreich“, internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesellschaft e.V. vom 24. bis 26. August 2006 in Naumburg und am 27. August 2006 in Röcken; wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Clemens Pornschlegel und Prof. Dr. Martin Stingelin, Organisation: Ralf Eichberg; mit freundlicher Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt und der Französischen Botschaft in Deutschland.

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Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

Sinne Nietzsches.3 In drei Dimensionen beziehungsweise aus drei Perspektiven, denen wir die Beiträge zugeordnet haben, soll diese Frage hier erörtert werden: A. Nietzsches Frankreich-Rezeption; B. Französische Nietzsche-Rezeption; C. Interpretationen.

A. Nietzsches Frankreich-Rezeption Die Frage, wie ,philologisch‘ Nietzsche im Umgang mit ,französischen‘ Autoren verfährt, stellt sich weniger bei Heinrich Heine, der selbst in vergleichbarer Weise wie Nietzsche einen experimentierenden Grenzgänger verkörpert, als etwa bei August Strindberg, den er als ,Franzosen‘ betrachtet – im Gegensatz zu Émile Zola, den er im gleichen Atemzug kurzerhand zum ,Italiener‘ erklärt. Der Meridian, auf den diese Topographie geeicht ist, durchzieht in demselben Grad ,Cosmopolis‘,4 wie es sich dabei um eine Bücherwelt handelt.5 Daher haben alle Beiträge zur ersten Sektion teil am Projekt, Nietzsches ,ideale Bibliothek‘ zu rekonstruieren, in der sich die bedeutendsten Ereignisse seiner Begegnung mit Frankreich abspielen.

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Der Schauplatz der Begegnung von Nietzsche und Frankreich wäre aus der Perspektive Nietzsches also nicht zuletzt jenes Feld, auf dem „etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä l t i g e n , H e r r w e r d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn‘ und ,Zweck‘ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“ (Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung 12, KSA 5, S. 313 – 316, hier S. 313 – 314). Vgl. Mazzino Montinari, „Nietzsche in Cosmopolis. Französisch-deutsche Wechselbeziehungen in der europäischen Décadence“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 164, 19. Juli 1986, Tiefdruckbeilage, und ders. „Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis und Sara Lennox (Hrsg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, Bern und Stuttgart: Francke Verlag 1988, S. 137 – 148. Vgl. Giuiano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001 (= Perspectives germaniques).

Nietzsche ,und‘ Frankreich

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B. Französische Nietzsche-Rezeption Die französische Nietzsche-Rezeption – insbesondere durch den ,Poststrukturalismus‘6 – hat ihrerseits deutsche Kriegserklärungen provoziert: „Eine andere Reaktion auf den ,Tod Gottes‘ ist die vor allem, aber nicht nur im zeitgenössischen Frankreich anzutreffende, die eher an Nietzsche und den Sozialdarwinismus anknüpft. […] Die neufranzösische Kritik am ,Logozentrismus‘ (wie sie vor allem von Derrida, Deleuze und Lyotard vertreten wird) trifft hier ein merkwürdiges Stelldichein mit Positionen à la Klages (von dem die Schimpfe gegen den ,Logozentrismus‘ herrührt), Spengler, Baeumler, die wir mit Recht als präfaschistisch bezeichnen“.7 Dem gegenüber steht auf französischer Seite schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine vorweggenommene „Wiedergutmachung an Nietzsche“, wie sie etwa durch den Epistemologen Georges Canguilhem verkörpert wird, dessen Versuch, eine Begriffsgeschichte der Biologie mit einer Biologie der Begriffe zu vermählen, sich methodisch durch Nietzsches Philosophie im allgemeinen, seiner Sprachkritik und seiner historischen Kritik im besonderen in einer Art und Weise unterrichten ließ, deren Wirkungsmächtigkeit erst heute langsam zutage tritt.8 Die bedeutendsten Vertreter dieser Bewegung verstanden ihre NietzscheLektüre im Anschluß an Canguilhem denn auch weniger ,kriegerisch‘ als ,kämpferisch‘, das heißt nicht als zerstörerische Überwindung, sondern als schöpferisches Ringen: Michel Foucault und Gilles Deleuze.9 6

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Beispielhaft dokumentiert von Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich. Essays von Mazrice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bvernard Pautrat, Frankfurt am Main und Berlin: Ullstein Verlag 1986. Manfred Frank, „Kleiner (Tübinger) Programmentwurf. Philosophie heute und jetzt – ein paar Überlegungen“, in: Frankfurter Rundschau, 5. März 1988, S. ZB 3 („Feuilleton“). Vgl. das – nicht nur in dieser Hinsicht – sehr instruktive Vorwort von Henning Schmidgen, „Fehlformen des Wissens“, in: Georges Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert (1955, 1977), aus dem Französischen übersetzt und durch ein Vorwort eingeleitet von Henning Schmidgen, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S. VII-LVIII, insbes. S. XLIX-LVIII („Wiedergutmachung an Nietzsche“). Vgl. Martin Stingelin, „Kriegerische und kämpferische Lektüre. Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und Gilles Deleuze“, in: Neue Rundschau 111. Jg. (2000), Heft 1, „…und Nietzsche und…“, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2000, S. 77 – 81.

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Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

In ihren Augen war es ein Akt philosophischer Treue, sich Nietzsches Begriff der ,Interpretation‘ kritisch zu bemächtigen, dem sie als Herausgeber der französischen Übersetzung von Giorgio Collis und Mazzino Montinaris Kritischer Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Nietzsche einen Akt philologischer Treue zur Seite stellten.10 So wirkt Nietzsche in Frankreich nicht zuletzt als „Lehrer“ einer „Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes“, das heißt „des langsamen Lesens“,11 und so ist es durchaus eine nietzschesches Echo, wenn Roland Barthes die Kennzeichnung seines „Lehrstuhls für Literatursemiologie“ am Collge de France doppelt deutet: Die ,Literatur‘ bezeichnet für ihn die Sammlung, den „Kodex von Nuancen“; die „Semiologie“ aber ist jene Disziplin, jene unterweisende Einübung in das „Hören oder Sehen von Nuancen“.12 Damit setzte Barthes jene Form der ,französischen‘ Nietzsche-Lektüre im von Nietzsche selbst inspirierten ,Geist‘ fort, durch dessen esprit er sich am meisten verstanden fühlen durfte: „In Paris selbst ist man erstaunt über ,toutes mes audaces et finesses‘ – der Ausdruck ist von Monsieur Taine –; ich fürchte, bis in die höchsten Formen des Dithyrambus findet man bei mir von jenem Salze beigemischt, das niemals dumm – ,deutsch‘ – wird, esprit… Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.“13

10 Vgl. Claude Jannoud, „Michel Foucault et Gilles Deleuze veulent rendre à Nietzsche son vrai visage“, in: Le Figaro littraire N8 1065, 15 septembre 1966, S. 7, in deutscher Übersetzung wiederabgedruckt in: Michel Foucault, Schriften in vier Bnden / Dits et crits, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Band I: 1954 – 1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, Nr. 41, S. 708 – 712; und Gilles Deleuze und Michel Foucault, „Introduction générale“, in: Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir/Fragments posthumes (1881 – 1882), Paris: Gallimard 1967, S. I-IV, in deutscher Übersetzung wiederabgedruckt in: Foucault, Schriften in vier Bnden / Dits et crits, Band I, Nr. 45, S. 723 – 726. 11 Friedrich Nietzsche, Morgenrçthe, Vorrede 5, KSA 3, S. 17. 12 Roland Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collge de France 1977 – 1978, (2002), herausgegeben von Éric Marty, aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp Velag 2005, S. 40 – 41. Zu Barthes’ Nietzsche-Rezeption vgl. Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München: Wilhelm Fink Verlag 2005 (= Zur Genealogie des Schreibens 4), insbes. S. 177 – 181. 13 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6, S. 301 – 302.

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C. Interpretationen Wie aktuell Nietzsches Denken in Frankreich geblieben ist, verdeutlichen die Beiträge der französischen Philosophen Jean-Clet Martin, Catherine Malabou und Jean-Marc Hémion, die an die „poststrukturalistische“ Nietzsche-Rezeption anknüpfen, insbesondere an Deleuze und Derrida, um sie auf ebenso originelle wie kritische Weise fortzuschreiben. Was die drei Texte, jenseits ihrer unterschiedlichen Themen, Thesen und Denkstile, verbindet, ist der intensive Gegenwarts- und Realitätsbezug des philosophischen Denkens, der sich in der Tat auf Nietzsches Geste des „Unzeitgemäßen“ berufen kann, das heißt eines Denkens in der Zeit gegen die Zeit.14 Es geht ihnen nicht um eine ahistorische, überzeitliche oder ,reflexive‘ Logik (des Sinns, der Kommunikation, der Kunst, der Ideen, des ,reinen‘ Denkens), sondern um ein interessiertes, abschätzendes Begreifen der Gegenwart, das heißt um ein Denken, das aktiv in die Wirklichkeit einzugreifen sucht und sich dabei nie vom Blickwinkel beziehungsweise von der Vielzahl der Blickwinkel trennen läßt, unter dem die Dinge ,erscheinen‘. Die Handhabung des philosophischen Begriffs im Sinn eines intervenierenden Akts gilt für Jean-Clet Martins programmatische Skizze einer ,post-humanistischen‘ Phänomenologie, die ausgeht von einer ,an-organischen‘ Körpererfahrung, ebenso sehr wie für Jean-Marc Hémions Relektüre von Menschliches, Allzumenschliches, die Nietzsches Demokratie- und Sozialismuskritik jenseits der üblichen politischen Denunziationen und Meinungen ernst nimmt – nicht um sie gegen, sondern fr die demokratische Gegenwart fruchtbar zu machen. Und das Verständnis der Philosophie als eines intervenierenden Denkens liegt auch Catherine Malabous Versuch zugrunde, mit Nietzsche – ausgehend von einer kritischen Revision der anti-hegelianischen Differenz-Philosophien Deleuzes und Derridas – die seltsame (Nicht-)Identität geklonter (Lebe)Wesen zu begreifen. „Und wenn alles sich verdoppelte? Wenn alle Seienden sich vervielfältigten, ohne unterschieden und dennoch nicht das Selbe zu sein? Und wenn das zentrale Problem der von Nietzsche präfigurierten Philosophie unserer Epoche das Problem wäre, ein Denken jenseits von Identität und Differenz zu erfinden?“ Cathe14 Vgl. Giogio Agamben, Che cos’ il contemporaneo?, Roma: Nottetempo 2008, S. 8 – 9: „Appartiene veramente al suo tempo, è veramente contemporeaneo colui che non coincide perfettamente con esso né si adégua alle sue pretese ed è perciò, in questo senso, inattuale.“

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rine Malabou begegnet mit der beunruhigenden Frage nach dem ontologischen (Un-)Wesen von Klonen der These Jean-Clet Martins, derzufolge der Körper, so wenig wie das „Ich“, keineswegs als originäre, Welt fundierende Einheit gedacht werden könne. „Der Körper ist in sich selbst bereits der Ort einer prozessualen Vielheit, die keine Einheit der Welt stiftet, vielmehr eine wesentliche Unangepaßtheit erzeugt.“ Daß die Fragestellungen Malabous und Martins die techno-wissenschaftliche Gegenwart und ihre Effekte zu denken versuchen, daß sie jeweils bestrebt sind, jene neuen ,Körper‘ zu begreifen, die in den Maschinenkammern der Kliniken und Labore erzeugt werden, springt in die Augen. „Philosophie“ beschränkt sich nicht auf die Wiederholung ihrer historischen Begriffe und Systeme, und sie ist auch keine nachträgliche Reflexion von ,Gegebenheiten‘ oder die Suche nach allerletzten Gründen. Vielmehr meint sie die begriffliche Anstrengung, das, was sich mit und in der Gegenwart ungedacht ankündigt, wahrnehmbar und denkbar zu machen, das heißt jenes unerhörte Ereignis vernehmbar zu machen, das, einem stummen Gast gleich, bereits da ist, unbemerkt und dennoch alles bestimmend. Vielleicht ist es der „politische“ Text Jean-Marc Hémions, der die – in Deutschland oft mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommene – Affinität der französischen Philosophie zu Nietzsches experimentellem, intervenierendem Denken (und umgekehrt die Affinität Nietzsches zu Frankreich) am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Die Affinität verdankt sich nicht den ideologisch politischen „Positionen“ Nietzsches, wie zweideutig auch immer jene sein mögen, sondern in erster Linie der „Position“ des Philosophen beziehungsweise der in Schule und Universität instituierten Philosophie gegenüber dem Gemeinwesen und seiner „Agora“. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob Philosophie, wie in der deutschen Tradition, in der Hauptsache als säkulare oder säkularisierende Fortsetzung protestantischer Theologie betrieben wird,15 oder ob sie, wie in Frankreich, institutionell je schon eingebettet ist in eine „République“, die sich selbst als Gemeinschaft freier, aufgeklärter und vernünftiger „citoyens“ instituiert und jede Theologie mit ihren normativen Letztbegründungen und Absoluta von vornherein aus 15 Vgl. Jürgen Habermas, „Heidegger – Werk und Weltanschauung“, in: Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus (1987), aus dem Spanischen und Französischen übersetzt von Klaus Laermann, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1989, S. 36. Habermas definiert dort den „Hauptstrom der deutschen philosophischen Überlieferung seit Kant“ als wesentlich „protestantisch“.

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dem Bereich der politischen Öffentlichkeit ausgegrenzt hat. Was mit dieser Ausgrenzung überflüssig wird, ist das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari – unter Berufung auf Nietzsche – einmal als „la rage de fonder“, als „Gründungswut“ der deutschen, philosophischen Tradition, von Kant bis Feuerbach, bezeichnet haben. Sie ist „philosophie française“ in der Tat sehr fremd. „Die französische Philosophie beruft sich auf eine Republik der freien Geister und ein Denkvermögen als der ,chose la mieux partagée‘, die sich schließlich im revolutionären ,cogito‘ ausdrücken wird. […] In Deutschland hört man demgegenüber nicht auf, über die Französischen Revolution zu reflektieren als genau das, was man nicht realisieren kann. Was Deutschland nicht zu realisieren vermag, gibt es sich umso intensiver zu denken auf. […] Wenn die Philosophie sich im modernen Rechtstaat reterritorialisiert, wird der Philosoph zum Philosophieprofessor. In Frankreich ist er es indes aufgrund eines Vertrags, in Deutschland kraft Gründung und Institution.“16

So knapp diese Beschreibung ist, so treffend ist sie. Während die moderne französische Philosophie von vornherein als Teil einer aufgeklärten, revolutionären Republik figuriert und der Philosoph mithin „citoyen“ unter anderen „citoyens“, ist sein deutscher Kollege vor allem damit beschäftigt, die Grundlagen und Voraussetzungen derselben Republik zu bedenken – und zwar als einer Sache, die es noch nicht oder nur idealiter gibt und deren vernünftige Regeln es umso gründlicher zu befestigen gilt. Daß die cartesische „raison“ unter allen Menschen „la chose la mieux partagée“ sei, davon kann im Land der frömmelnden Schwärmer und der „faulen Gemütlichkeit“ (Hugo Ball) niemand ausgehen. Die deutsche Philosophie ist deswegen traditionell mit der schwergewichtigen Aufgabe betraut, die transzendentalen Regeln und Gründe einer vernünftigen Ordnung oder eines „idealen Staates“ zu fixieren, und das heißt, sie kann gerade nicht jener experimentierende, freie Geist sein, der jenseits des sozialen Gehorsams und jenseits der damit verbundenen Verantwortlichkeiten denkt. Unschuld, Wagnis und Verantwortungslosigkeit sind indes genau das, was Nietzsche – dessen außer-universitäre Existenz bekanntlich kein Zufall ist – für das Denken reklamiert, und zwar gegen die Tradition der deutschen Philosophie. In Frankreich kann jenes Wagnis und jene Unverantwortlichkeit umso mehr geschätzt werden, als sie dort nicht als vor16 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu’est que la philosophie ?, Paris: Les Éditions de Minuit 1991, S. 99 – 100 (deutsche Übersetzung von uns, C. P. und M. St.).

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auseilende Destruktion der aufgeklärten Republik rezipiert werden muß, vielmehr als Korrektiv und Kritik der Gesellschaft wirksam werden kann. Die unterschiedlichen historischen Bedingungen des Philosophierens ins Gedächtnis zu rufen, wie verkürzt und rudimentär auch immer,17 erlaubt immerhin, die französischen ,Unbefangenheiten‘ im Umgang mit Nietzsches Vernunft- und Demokratiekritik genauer einzuschätzen und deutsch-französische Konfusionen zu vermeiden.18 Jean-Marc Hémions Lektüre der Demokratie-Kritik Nietzsches steht exemplarisch für den Gewinn ein, den eine Philosophie des Politischen und eine Theorie der Demokratie aus Nietzsches Aphorismen, ja selbst aus den berüchtigten Überlegungen zum Griechischen Staat zu schlagen vermag. „Die Demokratie als Macht der Vielheit, auch als politische Abweichung und Luxus der Dauer, die Demokratie adressiert Nietzsche sich als Selbstkritik, zugleich als Kritik der möglichen Gefälligkeiten der kritischen Autonomie. Die Wissenschaft vom Unheil läßt sich nicht trennen von der ,Grausamkeit‘, durch welche der problematische Charakter der Existenz – die Ungleichhheit jeder Gegenwart mit sich selbst eher noch als die historische Form der Sklaverei – bis zur Erschütterung gedacht wird.“

Was Hémions Lektüre in Nietzsches – alles andere als eindeutigem – Text freizulegen versteht, ist nicht die kleine, ideologische Figur eines zum Neo-Aristokratismus übergelaufenen Kleinbürgers. Das wäre in der Tat weder der Rede noch der Lektüre wert. Es ist vielmehr die Figur einer radikalen Aufklärungskritik, welche die Widersprüche der Moderne – an erster Stelle den Widerpruch zwischen Fabrik-Sklaverei und angeblicher ,Freiheit‘, zwischen ,Menschenwürde‘ und erbärmlicher Existenz – nicht in dialektischem Optimismus und romantischem Eskapismus auflöst, sondern ihnen in einem Theater der Grausamkeit standzuhalten sucht. Nicht als bewußtlose und passive Affirmation dessen, was so grausam ist, sondern als Voraussetzung einer möglichen, neuen Schöpfung, die dem Leiden entrissen wird. „Solange man nicht 17 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Clemens Pornschlegel, „Der Ort der Kritik. Zur Diskussion der Menschenrechte bei Gilles Deleuze und Félix Guattari“, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hrsg.), Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München: Wilhlm Fink 1996, S. 179 – 197. 18 Damit läßt sich womöglich eine neuerliche Wiederholung jener grotesken politischen Mißverständnisse ausschließen, in denen sich ein Großteil der (angeblich) aufgeklärten, deutschen Beobachter der französischen NietzscheRezeption der sechziger und siebziger Jahre gefiel.

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einen ganzen Komplex von Unmöglichkeiten hat, wird man nicht diese Fluchtlinie finden, diesen Ausweg, den die Schöpfung darstellt.“19 Anders gesagt, Nietzsches Tränen, deren Spuren Hémion liest, gehören keiner sentimentalen Vormoderne, sie entsprechen vielmehr den Grausamkeiten der Moderne, die ihre eigene Problematik unter dem Schleier ruchloser Optimismen verbirgt. Und deswegen kann Hémion auch von einer „nietzscheanischen Selbstkritik der Demokratie“ sprechen. Die „nietzscheanische Selbstkritik der Demokratie“ ist nach wie vor ein Gallizismus, ein Syntagma, das im Deutschen bislang nur als Übersetzung aus dem Französischen vernehmbar ist. Vielleicht tragen die in diesem Band versammelten Beiträge zur französischen Rezeptionsgeschichte Nietzsches sowie die Einblicke in die Arbeit französischer Philosophen mit Nietzsche dazu bei, daß der Gallizismus in Vergessenheit gerät und Nietzsches anderes Deutsch, nicht nur auf Französisch, sondern auch auf Deutsch hörbar wird. Ohne die französische Gastfreundschaft – das zeigen alle Beiträge dieses Bandes – hätte Nietzsche die deutsche Geschichte und das deutsche Denken wohl kaum überlebt. Die Aufsätze sind deswegen auch eine Danksagung an alle jene französischen Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, die Nietzsche auf die eine oder andere Weise aufgenommen haben.

*** Der Dank der beiden Herausgeber gilt darüber hinaus der NietzscheGesellschaft, die sie mit der wissenschaftlichen Leitung der Tagung und der Publikation ihrer Forschungsergebnisse beauftragt hat, im allgemeinen, ihrem Geschäftsführer Ralf Eichberg für seine ebenso tatkräftige wie umsichtige Unterstützung im besonderen. Thorben Päthe war den Herausgebern eine unverzichtbare redaktionelle Hilfe. Nietzsches Briefe und Werke werden nach den Siglen der Standardausgaben zitiert, allen voran: KGB = Friedrich Nietzsche, Kritische Gesantausgabe des Briefwechsels, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1975 – 2004. 19 Gilles Deleuze: Unterhandlungen (1972 – 1990) (1990), aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993, S. 194 – 195.

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Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

KGW = Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1967 ff. KSA = Friedrich Nietzsche, Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin und New York: Deutscher Taschenbuch Verlag/Walter de Gruyter 1980, 1988 (2., durchgesehene Auflage). KSB = Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bnden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin und New York: Deutscher Taschenbuch Verlag/Walter de Gruyter 1986.

A. Nietzsches Frankreich-Rezeption

Nietzsche, Voltaire and French Philosophy Thomas H. Brobjer If one were to regard, understand and judge Nietzsche and his philosophy based only on his relation to French philosophers and philosophy (the “French Nietzsche,” but in a different sense than the usual one, which refers to French interpretations of Nietzsche’s thinking), one would get a rather different view of him than the conventional one (the “German Nietzsche”). His two favourite French philosophers, and the ones he read most frequently, were Montaigne and Voltaire – both broadly speaking belonging to the Enlightenment tradition – and his harshest polemics were directed at the “romantic” Rousseau, although he seems to have read very few of his works. He also read and praised Diderot, but he seems never to have felt any deep kinship with him, or any great enthusiasm for his philosophy. A strong influence on especially the middle Nietzsche was the French moralists: La Rochefoucauld, Vauvenargues, Chamfort, Fontenelle and La Bruyère. Several of them lived during the seventeenth century, as did Pascal, to whom Nietzsche had a rather intense and sympathetic but ambivalent relation. Pascal is, in fact, the French philosopher Nietzsche most frequently refers to. Among the important French philosophers, Descartes, Condillac, Saint-Simon and Comte seem to have had little direct impact on him. Among contemporary nineteenth century French philosophers, he especially praised and intensively read H. Taine and denigrated E. Renan, in spite of the fact that they in many respects belong to the same tradition. He also attentively read and valued A. Fouillée and J.M. Guyau, but often disagreed with them. The “French Nietzsche” does not carry the same metaphysical or pseudo-methaphysical burden that the “German Nietzsche” perhaps never fully managed to shake off. The “French Nietzsche” is also less philosophical than the “German” one. The time when Nietzsche began to extensively read French books (from 1883 onwards), and thus be more accessible for direct French influences, is also the time when he essentially stopped reading philosophical books. He certainly continued to read many literary and cultural texts with philosophical relevance, but relatively few primarily philosophical ones. By 1883

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Nietzsche had found most of his own philosophy, and he was less open for new philosophical influences. The mature Nietzsche had a highly positive attitude toward France and French culture. He had a good knowledge of and enthusiasm for French culture generally, French literature, French literary criticism, French writers of memoirs and French history, and he was profoundly influenced by his reading in these fields. It influenced his view of psychology, decadence, style, aesthetics and thinking generally, and made French culture a contemporary counterpoint to German culture in his writings.1 The books he read about French culture and literary criticism often also contained material relevant for his view and knowledge of philosophy, including discussions of Voltaire, Rousseau and others. His knowledge of French philosophy was somewhat more limited, but nonetheless was an important influence on him. His interest in French contemporary politics seems to have been minimal. Nietzsche’s relation to French culture and literature can, broadly speaking, be divided into two periods (which correspond well with his knowledge of the French language). Until about 1878/79 he had no close relation to French culture, and read very few books in French. In fact, for a while during the period 1876 – 80 he was open to reading British and American authors in translation.2 After 1878/79 he became increasingly enthusiastic about French culture and began to read books which were central to it and books about it, both in German translation 1

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Nietzsche had extensive knowledge of French literary (and cultural) criticism. In the 1880 s he read, among others, Sainte-Beuve, Taine, Renan, Brunetière, Bourget, d’Autrevilly, Paul Albert, Lois Desprez, Eugène Fromentin, Bérard Varagnac, Émile Gebhart, Jules Lemaître, Emil Montégut, Edmont Scherer and the brothers Goncourt. Knowledge of this reading is, for example, essential for an understanding of Nietzsche’s concept of dcadence. One recent work that takes this into account but emphasizes the British and biological influences on Nietzsche’s view of decadence is Anette Horn’s Nietzsches Begriff der décadence: Kritik and Analyse der Moderne, Frankfurt, 2000. Mazzino Montinari has attempted to draw attention to Nietzsche’s extensive reading of French literature in his article “Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts,” in Nietzsche heute, edited by Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis and Sara Lennox, 137 – 148. Important is also Giuliano Campioni’s Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris, 2001, and Tobias Dahlkvist’s contribution to this volume. I discuss this extensively in Nietzsche and the ‘English’:The Influence of British and American Thinking on His Philosophy, Prometheus Press, Amherst, N. Y., 2008.

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and in the original French. From 1883 onward he also began to live about a third of each year in France (mostly in Nice).3 Many of the books Nietzsche read in this second period, and especially after 1883, were in French. Before continuing discussing Nietzsche’s relation to French philosophy, let us summarize his knowledge of the French language. Unlike the case with English, Nietzsche studied French at school. He had up to nine years of French at school, but showed no interest in or aptitude for it. He had French for two and a half years at the Weber Institute and then for another three years at the Naumburg Domgymnasium, with average or below-average grades.4 At Schulpforta French was his second or third worst subject (only slightly better than mathematics and on the same level as his Hebrew). It was normally taught in the last three and a half years, and Nietzsche seems to have followed this pattern. In the first semester of French at Pforta, he seems to have been helped by his previous study, but thereafter his grade was, on average, below “satisfactory” [“befriedigend”] and on his graduation certificate his knowledge of French was summarized with the words: “On the whole satisfactory.” With the exception of a brief remark in a letter to his sister he never spoke of his French studies. Nietzsche had several different French teachers, but for the last two years he had Professor Koberstein, whom he liked and respected. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, who was three years behind Nietzsche at Pforta but had the same French teacher, claimed that French instruction there was bad and was regarded as unimportant.5 Nietzsche’s unsatisfactory grasp of French, together with the fact that the teaching of it at Pforta had been philologically oriented – 3 4

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During the years 1880 – 1883 Nietzsche spent a fair amount of time in Italy (especially Venice and Genoa) and French may have been his main language for communicating with people there. At the first term of “Quarta” at the Naumburg Domgymnasium he had a 4 (“wenig befriedigend”) in French, on a scale from 1 to 5, but the following semester it improved to a 3. The teaching at the Domgymnasium was directed at Latin and Greek. They had six hours a week of Latin and Greek, followed by mathematics and history (including geography) with three hours per week and religion, German and French with two (but three in the first year). Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848 – 1914, Leipzig, no publication year but the preface is dated 1928, p. 77 f.

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that is to say, it emphasized reading rather than speaking – made Nietzsche feel a strong urge to improve his spoken French after leaving Schulpforta. In a letter from 3 May 1865 he told his sister and mother of his plans for the coming summer: “before all else, I also want to learn to speak a bit of French.” He seems not to have carried out these plans, or to have done so only to a very limited degree. While he was a student in Leipzig there was a man from France in his eating group, and he hoped that this would help him to improve his French. However, in a letter home he complained that the man spoke so quickly that he could not understand a single word. Two years after he became a professor in Basel he planned to visit Northern Italy and wrote a letter to his mother and sister asking if either of them would like to accompany him – and at the same time mentioning that he did not know Italian but that one could get by with French (of which at least his sister, and perhaps his mother, had a better knowledge than Nietzsche himself). A year later, in February 1872, he intended to visit the French part of Switzerland for the sake of learning and practicing his French, writing: “It seems to me both wise and necessary.”6 However, in the end he did not go there. In October 1872 his Die Geburt der Tragçdie was being translated into both French and Italian, and he wrote to his friend Gersdorff that he hoped to learn or improve his knowledge of both languages from the translations. This was almost certainly a vain hope, although he carefully read the French translations of his own books during the 1870s. In the spring of 1875, in letters to Frau Baumgartner, who was then translating his Schopenhauer als Erzieher into French and had had difficulties with a faulty quotation of Montaigne in the work, he admitted: “my French is far from satisfactory, and before I idealize Montaigne, I should at least understand him correctly.” In the end he recommended that she leave out most of the quotation and the reference to Montaigne altogether for the French version, so that the statement he had attempted to quote instead became his own. Later in 1875, Nietzsche received E. Schuré’s Le drame musical, in two volumes, from the author himself, who, like Nietzsche at this time, was an active Wagnerian. In letters Nietzsche commented on the style and contents of the book and thus must have read it at least in part, but it is likely that the reading was limited and superficial. At this time he still read essentially no French books in the original lan6

Letter to mother and sister, 14 February 1872.

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guage, and when he ordered books by French authors he would always ask for, and if necessary wait for, the German translation.7 Still more indicative of his lack of French at this time is his interest in French literary judgments from 1879 onwards. He asked his sister in a letter dated 17 February 1879 to translate all of Ximénès Doudan’s judgments about literature. He wrote that he had to be able to trust the translations completely. Elisabeth sent the translations to him in instalments. At the same time, in March 1879, he also asked Frau Baumgartner to translate all of Prosper Mérimée’s literary judgments out of Lettres  une inconnue; and Ida Overbeck, his friend’s wife, translated selected parts of Charles-Augustin de Sainte-Beuve’s Causeries du lundi into German, possibly at Nietzsche’s behest, and certainly at least in part for his sake. A year later Nietzsche mentioned in a letter that she also had translated for him a “lengthy French treatise” by P. Albert about French literature with the title “Variétés littéraires.”8 These requests for translations of French texts show Nietzsche’s interest in French literary judgments and thinking, and it was also at this time that he began to improve his French to the extent that he could read it without serious obstacles.9 There are a couple of plausible reasons for this, apart from his increasing interest in French thinking, especially literary thinking: his plans to visit Paris for a longer period of time would make French necessary, and the fact that he left his professorship gave him more time to fulfil his plans than earlier. In a postscript to a letter to Overbeck, 12 August 1879, Nietzsche mentioned that the first book he had started to read was French, Les Moralistes Romans by Martha. That year he also seems to have read Fontenelle’s Dialogues des morts (which he referred to with the French title and which today is found in his library); possibly another work by Fontenelle; Stendhal’s letters; and Les beaux arts  l’exposition universelle, by his acquaintance Gabriel Monod. In 1880 Nietzsche’s reading of French books increased. He referred in a letter from early 1880 to Balzac’s Un prince de la Bohme as if he had 7

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As an example of an indication of Nietzsche’s limited knowledge of French at this time, see Elisabeth’s letter to him from 3 – 4 April 1876: “Do not worry about talking French, famous people are allowed to speak any language they choose.” Nietzsche later bought and read several volumes of P. Albert’s works about French literature in French. However, already in 1876/77 Nietzsche had read La Rochefoucauld and probably also Vauvenargues and Chamfort in the original French.

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read it, he may have read Stendhal’s De l’amour, and he stated explicitly that he was reading George Sand’s Histoire de ma vie. In a letter to Overbeck dated 14 October 1880 Nietzsche asked him to send, as soon as possible, a French-German dictionary. This is probably a reflection of Nietzsche’s first serious French reading – the first reading of French that led to a number of notes in his notebooks – of the Mmoires de Madame de Rmusat (1802 – 1808), 3 vols. (Paris, 1880), which Peter Gast had given him as Christmas gift in December 1879 and January 1880. We have no evidence that he read French books in 1881 or 1882, but in 1883 he seems to have read Stendhal’s De l’amour (a second time) and possibly intended to read A. Blanqui’s L’ternit par les astres (Paris, 1872), which is listed in his notebooks. It is, however, likely that he read some further texts in French as well during these years. In early December 1883 Nietzsche travelled to Nice for the first time and then spent the winter there, until April 1884. At this point his reading of French seems to have become fluent. He spent all of his remaining winters in Nice, except the final one of 1888 – 89. In December 1883 Nietzsche borrowed (probably from the library in Nice) and began to read Paul Bourget’s Essai de psychologie contemporaine (Paris, 1883) and then continued to read it in 1884 with much appreciation. That year he also recommended to Overbeck the Mmoires der Herzogen von Abrates as a supplement to the Mmoires de Rmusat. He also read Balzac’s Correspondance 1819 – 1850 and A. de Custine’s Mmoires. We can thus conclude that Nietzsche probably could read French from the early 1860 s on, but it required such an effort that he read few books in French until 1879/80, and more clearly 1883/84. The change in his reading fluency of French in 1883/84 (associated with his stay in Nice) seems to have been rather dramatic, for in 1884 he read a large number of books in French and he continued to do so until his mental collapse in January 1889. As we have seen, most of the French books he read were not philosophical ones. They constituted a small minority that will be discussed below. Nietzsche’s reading and knowledge of French philosophy can be divided schematically into four fairly distinct periods. The young Nietzsche (until he became professor in Basel in 1869) read little or no French philosophy. He did, however, read at least one work each of Voltaire and Rousseau, Histoire de Charles XII (the early eighteenth-century Swedish king) in 1861 and Emil, in 1862, but these are not primarily philosoph-

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ical texts and he did not read them with a philosophical eye. The anthologies of French literature used at Schulpforta, Leloup’s Franzçsische Lesebuch and Herrig et Burguy’s La France littraire, contain a few selected texts that are philosophically relevant, but we have no knowledge of any interest or response to these texts on Nietzsche’s part.10 In 1863 Nietzsche showed an interest in the history of the French Revolution – a theme that would continue to echo through his mature writings.11 The most important reading relating to French philosophy in these years was probably his reading and extensive excerpting out of the literary historian H. Hettner’s Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts: Theil II. Geschichte des franzçsischen Literatur im XVIII Jahrhundert, in early 1863.12 The chapters he most extensively excerpted were called: Voltaire. 1. Voltaire’s Life and Personality. 2. Voltaire as Philosopher, although he also excerpted a few other chapters from the book. A major theme of Hettner’s discussions of Voltaire (and thus also of Nietzsche’s excerpt) is his relation to and critique of Christianity. It is not impossible that it was this aspect that attracted Nietzsche, for in 1863 he was in the middle of his breach with his faith, and the later Nietzsche’s many references to Voltaire focus on him as a critic of Christianity. Though we have little direct evidence of it, the reading about Voltaire may have helped Nietzsche to liberate himself from Christianity. During his student years, 1864 – 68, Nietzsche seems to have read no French philosophy at all, although he would have gained some knowledge of it through his reading of Schopenhauer, Lange, Überweg and others, and through Schaarschmidt’s course surveying the history of philosophy. This general disinterest in French literature, culture and philosophy continued throughout the early period of the mature Nietzsche (1869 – 76). During the time of the Franco-Prussian War and as long as he remained under Wagner’s influence, he showed little interest and sympa-

10 Nietzsche’s bad French probably contributed to ensure that he profited little in philosophical respects from this reading. 11 For Nietzsche’s discussion of the French Revolution, and revolutions generally, see the excellent study by Urs Marti, “Der Grosse Pçbel- und Sklavenaufstand”: Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokrati, Stuttgart, Weimar, 1993. 12 The handwritten manuscript is located in the Goethe-Schiller Archive in Weimar with the signum Mp V 22 or 71 – 220.

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thy for French culture.13 Until 1873 he even sympathized with German nationalism. Even in the field of aesthetics, a field in which he later would be very open to French influence, he showed no appreciation of French views.14 The only two French philosophers Nietzsche seems to have read in this period are Montaigne and possibly Voltaire. Nietzsche much appreciated, learned from and highly praised both of them throughout his life. Nietzsche received the French sixteenth century humanistic and sceptic philosopher Michel de Montaigne’s Essays from the Wagners

13 Examples of Nietzsche’s negative or sceptical attitude towards French culture and language at this time are: “(Endlich auch bin ich betrübten Muthes, Schweizer zu sein! Es gilt unsrer Kultur! Und da giebt es kein Opfer, das groß genug wäre! Dieser fluchwürdige französische Tiger!)”. Letter to mother, 16 July 1870. “Das Fatalste in den [restaurant] 3 Königen war mir übrigens die durchherrschende französische Gesinnung und Sprache an der großen Tafel.” Letter to mother and sister, 23/24 Oct. 1870. “Ich bin muthiger als je: denn noch nicht Alles ist unter französisch-jüdischer Verflachung und ,Eleganz‘ und unter dem gierigen Treiben der ,Jetztzeit‘ zu Grunde gegangen. Es giebt doch noch Tapferkeit und zwar deutsche Tapferkeit, die etwas innerlich Anderes ist als der elan unserer bedauerungswerthen Nachbarn.” Letter to Gersdorff, 21 Juni 1871. “daß Frau Baumgartner eifrig und glücklich daran übersetzt (bis jetzt bis zu Cap. 5) habe ich Dir wohl erzählt, sie hat viel Übung und Geschmack, aber bei vielen ihrer Sprachbemerkungen danke ich doch dem Himmel ein Deutscher zu sein, ich möchte nichts mit einer so ausgelitzten Sprache wie die französische ist zu thun haben.” Letter to Gersdorff, 24 Dec. 1874. Finally, as an example of negative attitude toward the French expressed by those in Nietzsche’s surroundings we can note Malwida von Meysenbug’s answer to one of Nietzsche’s letters (from the 11 Aug.), 29 Aug. 1875: “dem Optimismus ist, der so tief in der französischen Natur steckt, dass sie keine richtige Auffassung des Lebens haben können. Alle ihre nationalen Fehler scheinen mir darin zu wurzeln. Gebe der Himmel dass er nicht auch in Deutschland mit dem wachsenden Positivismus, überhand nehme.” KGB II.6/1, p. 200 f. 14 See, for example, his two claims: “Für mein Gefühl ist alles Französische zu beredt und, bei Behandlung solcher Dinge wie die Musik, etwas zu lärmend und öffentlich. Aber das ist der Fehler der Sprache, nicht Schure’s”. (Letter to Gersdorff, 21 July 1875. Nietzsche is discussing the French Wagnerian music-critic Schuré and his book Le drama musical which he had sent to Nietzsche.) “Es war so leicht meine Gedanken in einer fremden Sprache noch zu verdunkeln; in der That, ich fürchtete immer etwas die pathetische Rhetorik des modernen Französisch”. (Letter to Marie Baumgartner, 2 Feb. 1877.)

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over Christmas 1870.15 Nietzsche’s library contains two copies of Montaigne’s Essays, one in French, Essais avec des notes de tous les commentateurs (Paris, 1864) in one volume and a three-volume edition in German, Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste, ins Deutsche bersetzt (Leipzig, 1753 – 54), which probably was the edition and copy he received from the Wagners.16 There are no annotations in the French copy, but the German edition is heavily annotated, especially the first volume.17 Nietzsche seems to have read Montaigne thereafter in 1871 (although he made very few references to him then) and in the second section of the third Untimely Meditation, Schopenhauer as Educator (1874) he stated: I know of only one writer whom I would compare with Schopenhauer, indeed set above him, in respect of honesty: Montaigne. That such a man wrote has truly augmented the joy of living on this earth. Since getting to know this freest and mightiest of souls, I at least have come to feel what he felt about Plutarch: “as soon as I glance at him I grow a leg or a wing.” If I were set the task, I could endure to make myself at home in the world with him. Schopenhauer has a second quality in common with Montaigne, as well as honesty: a cheerfulness that really cheers. Aliis laetus, sibi sapiens. [Cheerful for others, wise for himself.]”

This was indeed high praise, but Nietzsche’s most intensive reading of Montaigne was undertaken later, most notably in the late 1870 s and in 1884 – 85. With regard to Voltaire, we have no definite evidence that Nietzsche read him before 1876, but he made a number of allusions and brief references to him, which make some reading likely. However, it is possible that most of these references had their origin in secondary reading. It is likely that he read David Friedrich Strauss’s massive study of Voltaire at this time,18 and certainly he referred several times to Strauss’s appreciative references to Voltaire in his Der alte und der neue Glaube. Nietzsche attempted to defend Voltaire (who “certainly was 15 Letter to Franziska and Elisabeth, 30 December 1870. “At Christmas I received a splendid copy of ‘Beethoven,’ and a grand edition of the complete Montaigne (whom I much respect).” 16 Cosima Wagner never mentioned Montaigne in her diaries, so one cannot use her writings to determine which edition Nietzsche received. 17 The third volume contains no annotations, but many dog-ears. 18 Strauss’s book Voltaire is referred to in sections nine and ten of Nietzsche’s David Strauss, the Confessor and the Writer (1873).

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no Philistine”) against Strauss’s appropriation of him in David Strauss, the Confessor and the Writer (1873) and in contemporary notes. During Nietzsche’s middle period (1875/76 – 1881/82) he began to read much more French philosophy. His reading of Voltaire and Montaigne intensified beginning in 1876, he began to read Pascal in 1878 (and read him more intensively in 1880), and he read several of the French moralists and aphorists: La Rochefoucauld, Vauvenargues, Chamfort and La Bruyère. The best-known and most discussed French philosophical influence on Nietzsche is that of these French moralists (among whom Fontanelle perhaps also can be counted). This group of thinkers has been emphasized as important for his thinking in his middle, sceptical and positivistic period, and for his writing in the form of aphorisms in the middle period.19 There is surely some truth in this, but on the whole I suspect that the importance of the French moralists as an influence has been exaggerated. There are at least three reasons for which they have so often been emphasized as important. First, they offer an explanation for why Nietzsche began to write in the form of “aphorisms” in 1878.20 Second, and most importantly, they provide a possible answer to why he changed his philosophical position at this time. Finally, he praised them in his writings: European books. – When reading Montaigne, Larochefoucauld, La Bruyère, Fontenelle (especially the Dialogues des Morts), Vauvenargues and Chamfort 19 W. D. Williams, Nietzsche and the French: A Study of the Influence of Nietzsche’s French Reading on His Thought and Writing, Oxford, 1952. Brendan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn 1982, reviewed in Nietzsche-Studien 14 (1985), 369 – 373. For more general accounts and discussions of Nietzsche’s relation to France and French thinking and literature, apart from the two titles above, see also: Beatrix Bludau, Frankreich im Werk Nietzsches: Geschichte und Kritik der Einflussthese, Bonn, 1979. Julius Wilhelm, Friedrich Nietzsche und der franzçsische Geist, Hamburg, 1939. See also Charles Andler’s Nietzsche: Sa vie et sa pense, 6 vols., Volume 1: Les prcurseurs de Nietzsche, Paris, 1920. Important are also works by Montinari and Campioni, cited in footnote 1 above. 20 However, Nietzsche read and appreciated aphorisms by, among others, Goethe, Schopenhauer, Lichtenberg and Paul Rée before he read the French moralists in 1876. Rée read La Rochefoucauld and other French moralists with enthusiasm, and it seems likely that he was the main inspiration for Nietzsche to begin reading them.

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we are closer to antiquity than in the case of any other group of six authors of any nation. Through these six the spirit of the final centuries of the old era has risen again – together they constitute an important link in the great, still continuing chain of the Renaissance. Their books are above the changes of national taste and philosophical coloring which as a rule every book nowadays radiates and has to radiate if it is to become famous: they contain more real ideas than all the books of German philosophers put together: ideas of the kind that produces ideas and which – I am at a loss to finish the definition; it is enough that they seem to me authors who have written neither for children nor for dreamers, neither for young ladies nor for Christians, neither for Germans nor for – I am again at a loss to complete my list. – But to state a clear commendation: if they had been written in Greek the Greeks would have understood them. […] On the other hand, what clarity and delicate precision those Frenchmen possess! Even the most acute-eared of the Greeks must have approved of this art, and one thing they would even have admired and adored, the French wittiness of expression: they loved such things very much without themselves being especially gifted in them.21

However, the influence of Paul Rée was earlier and, in regard both to content and style, was probably much more profound and fundamental than that of the French moralists – and, in addition, it was Rée who introduced Nietzsche to the French moralists. Furthermore, Nietzsche’s references to these thinkers are few, and he did not read several of them until long after he had made the transition from the aesthetic-metaphysical views of the early period to the more sceptical-positivistic views of his middle period in 1875/76. It used to be common to date the breach between the early and middle Nietzsche to 1878, the year Human, All Too Human was published, since the breach was not visible in his previous book, Richard Wagner in Bayreuth (1876). However, Richard Wagner in Bayreuth was mostly written in the first half of 1875, and, at least since the appearance of the latest critical edition of Nietzsche’s notes and letters, it is possible to see that the breach at least began to occur earlier, in 1875/76. With the older dating of the breach as occurring in 1878, the importance of the French moralists for Nietzsche and his change was more likely, but with the new dating, their influence as cause for the change becomes unlikely. Nonetheless, the French moralists were undoubtedly important for him, and he was influenced by some of them, but he also used them as signposts to signify his new position and therefore their importance has often been exaggerated. 21 The Wanderer and His Shadow, 214. Published in December 1879, but with the publication year given as 1880.

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As stated above, during the late phase (1883 – 1888) Nietzsche extensively read French texts, including some philosophers. However, at this stage his own philosophy was much more firmly formed and he was less open to new fundamental influences. The French philosopher that probably meant most to Nietzsche was Voltaire. As we have seen above, he may have aided in Nietzsche’s liberation from Christianity (through Hetter). Voltaire is also as likely as the French moralists to have contributed to and reinforced his thinking during the middle phase, and he was at that time, by Nietzsche, regarded as a supreme free spirit. It can even be argued that Voltaire in some ways replaces Schopenhauer (but in a much less personal manner), just as Rée replaces Wagner, as the main influences on his thinking. In April 1876, Nietzsche visited Voltaire’s Fernay with enthusiasm,22 shortly thereafter he read much Voltaire in Sorrento,23 and he dedicated his Menschliches, Allzumenschliches (1878) to the memory of Voltaire – “to offer personal homage at the right moment to one of the greatest liberators of the spirit.”24 Voltaire became one of Nietzsche’s heroes, 22 See letter to Elisabeth Nietzsche, 8 April 1876. “My first respect was for Voltaire, whose house in Fernex [sic] I visited” and letter to Carl von Gersdorff, 15 april 1876. “When we meet again, I will tell you about Ferney, Voltaire’s site (whom I brought my genuine tribute).” 23 Letter to Franz Overbeck, 6 December 1876. “Wir haben viel Voltaire gelesen”. It seems likely that they among others read Goethe’s translation of Voltaire’s Mahomet, for Nietzsche referred to this work in Human, All Too Human (1878) and he recommended it to his sister as suitable for reading in groups, 13 February 1881. 24 On the title page of the first edition of Human, All Too Human from 1878 he wrote: “Dedicated to the memory of Voltaire on the celebration of the anniversary of his death, May 30, 1778.” On the next, otherwise empty, page Nietzsche added: “This monologue of a book, which was written during a winter’s sojourn (1876 to 1877), would not be made public now, if the proximity of May 30, 1878, had not aroused the all-too-keen desire to offer personal homage at the right moment to one of the greatest liberators of the spirit.” In Ecce Homo he wrote: “’Human, All Too Human’ is the memorial of a crisis. It calls itself a book for free spirits: almost every sentence in it is the expression of a victory – with this book I liberated myself from that in my nature which did not belong to me. Idealism does not belong to me […] The expression ’free spirit’ should here be understood in no other sense: a spirit that has become free, that has again seized possession of itself. The tone, the sound of voice has completely changed […] For Voltaire is, in contrast to all who have written after him, above all a grandseigneur of the spirit: precisely what I am too. – The name of Voltaire on a writing by me – that really was progress – toward myself.” Ecce

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a supreme free spirit, a true aristocrat of the spirit, a great stylist, a critic of Christianity and the philosopher Nietzsche praised most of all in his published writings. Nietzsche continued to read and praise him until Ecce Homo (1888). In Human, All Too Human he wrote of him: Voltaire was the last great dramatist to subdue through Greek moderation a soul many-formed and equal to the mightiest thunderstorms of tragedy – he was able to do what no German has yet been able to do because the nature of the Frenchman is much more closely related to the Greek than is the nature of the German – just as he was also the last great writer to possess a Greek ear, Greek artistic conscientiousness, Greek charm and simplicity in the treatment of prose speech; just as he was, indeed, one of the last men able to unite in himself the highest freedom of spirit and an altogether unrevolutionary disposition without being inconsistent and cowardly.25

In Ecce Homo he still saw Voltaire as a great aristocratically minded freethinker with whom he felt a kinship: “For Voltaire was above all, in contrast to all who wrote after him, a grandseigneur of the spirit – like me.”26 At the onset of his mental collapse he even came to identify himself with, among others, Voltaire: “I have been Buddha in India, Dionysos in Greece […] Finally, I was even Voltaire.”27 Considering this high praise of Voltaire, one can perhaps be surprised that Nietzsche did not include Voltaire with those he claimed to converse with in the last section, 408, of Assorted Opinions and Maxims, called “Descent into Hades.”28 However, this section was added

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Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,” 1, Hollingdale’s translation. Menschliches, Allzumenschliches, 221. Ecce Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,” 1. Letter to Cosima Wagner, 3 Jan. 1889. For a discussion of the very late Nietzsche’s relation to Voltaire, see P. D. Volz, “Nietzsche in Ferney: Eine Voltaire-Reminiszenz aus der Wahnsinnszeit,” in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 393 – 399. Note that since several of the authors are among those Nietzsche had not read intensively or extensively at this time (especially Rousseau, Epicurus and Spinoza) and did not philosophically sympathize with (especially Plato, Rousseau and perhaps also Spinoza and Pascal), it is possible that Nietzsche’s statement here is better understood not as primarily referring to those specific eight thinkers, but to four different approaches toward philosophy (compare his use of Rousseau, Goethe and Schopenhauer in Schopenhauer as Educator): an essentially Greekskeptical approach (Epicurus and Montaigne), a pantheistic and nature-oriented one (Spinoza and Goethe), an idealistic-enthusiastic one (Plato and Rousseau) and finally an honest existential one (Pascal and Schopenhauer). Compare Nietzsche Handbuch, ed. H. Ottmann, Stuttgart, Weimar, 2000, p. 103.

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very late – and Nietzsche originally did not intend it to be the last section. That it became the last section of the book, and that it even was included, seems to a large extent have been due to Nietzsche’s publisher, Schmeitzner.29 Before the addition of section 408, Nietzsche had intended to end the book with a reference to Voltaire.30 He sent Schmeitzner an addition to section 407: “Let us at this place yet again mention the name of Voltaire. What will one day be his highest honour, given to him by the most free spirits of future generations? His ‘last honour’.” The implied answer to the question is: rendering himself superfluous. It appears that this addition had to be cut, for the sake of making room for the new last section “Descent into Hades.”31 Nietzsche owned four works by Voltaire, in eight volumes: Geist aus Voltaires Schriften, sein Leben und Wirken (Stuttgart, 1837). This work is no longer in his library. Lettres choisies. Prcdes d’une notice et accompagnes de notes explicatives sur les faites et sur les personnages du temps par Louis Moland. 2 vols. (Paris, 1876), 441 and 406 pages. Both volumes are annotated. Smtliche Schriften, Bd. 1—3. (Berlin, 1786). No annotations in volumes one and two. The third volume is missing from the library.32 Zare. In Nietzsche’s library there are two copies of this work, one in French from 1859 with annotations and a German edition (which does not give the year of publication) which has not been cut opened.

For none of these books do we have any information about when Nietzsche bought and read them, but it seems most probable that he bought and read Zaire (which contains annotations) as part of his school29 See letter to Schmeitzner, early March 1879. 30 The only explicit reference to Voltaire in Assorted Opinions and Maxims is in section 4. In the first volume of Human, All Too Human, Voltaire was discussed in five sections. 31 In a letter, 7 March 1879, Schmeitzner wrote to Nietzsche: “Daß diese Stelle [die ,Hadesfahrt‘] gerade am Schluß des Buches steht, ist herrlich. Schade daß die vorhergehende Nummer infolge dessen wieder gekürzt werden mußte.” 32 These three volumes do not contain the complete works of Voltaire, but an extensive selection of novels, stories and dialogues. The three volumes are of 581, 503 and 518 pages respectively. Volume 1 contains, among others, Die Prinzessin von Babylon, 1 – 152, Zadig, 153 – 286, Der Mann von vierzig Thalern, 287 – 416 and many shorter stories and dialogues. Volume 2 contains, among others, Mikromegas: Eine philosophische Geschichte, 1 – 41, Memnon oder die menschliche Weisheit, 65 – 78, ber Hobbes, Grotius und Montesquieu, 317 – 349, ber die Seele, 349 – 356, ber die Religion, 422 – 434. Volume 3 contains, among others, Candide, 1 – 214, Mark Aurel und ein Franzikaner, 312 – 319, Pythagoras in Indien, 461 – 465, Plato’s Traum, 471 – 476.

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work and likely that he bought at least one or both of the German titles before 1880. It seems likely that Nietzsche bought the collection of Voltaire’s letters in French when he visited Fernay in 1876 (or shortly thereafter). We know that he had read it by 1879, since he used it in The Wanderer and His Shadow. 33 Nietzsche also had read Voltaire’s Histoire de Charles XII (in 1861), Mahomet (in Goethe’s translation, before 1878), Zadig, Catilina, and Candide. 34 It is probable that he read much more than this. Voltaire is also frequently discussed and quoted in other books in Nietzsche’s library and in books he read,35 and he even excerpted statements regarding Voltaire from Doudan, Baudelaire and the brothers Goncourt. As stated above, Nietzsche had some knowledge and interest in Voltaire before 1876, but that year marked the beginning of his period of intensive enthusiasm, which lasted until about 1880. During this period he saw Voltaire as a supreme free spirit, a representative of the Enlightenment, a critic of Christianity, an aristocrat, and a writer with high style. He even regarded Voltaire as in many ways having kinship with the Greeks – which for him always was a supreme compliment.36 Thereafter his interest in and enthusiasm for Voltaire seems to have cooled. He never became hostile toward him, but most of his references to Voltaire became neutral and disengaged, and he criticized him on several occasions. Clearly, Nietzsche’s enthusiasm for the Enlightenment passed, and thus also for Voltaire as a representative of this movement. After having read Galiani’s correspondence (including letters to 33 Nietzsche seems to be quoting from Voltaire’s Lettres choisies (Paris, 1876) in Der Wanderer und sein Schatten, 140, 159 and 237. 34 Nietzsche made a vague reference to Candide in a letter to Elisabeth, 3 November 1886. 35 Voltaire is even mentioned in the titles of three other books in Nietzsche’s library: Josef Popper, Das Recht zu Leben und die Pflicht zu Sterben. Sozial-philosophische Betrachtungen, anknpfend an die Bedeutung Voltaires fr die neuere Zeit. 2. Aufl., Leipzig, 1879. Marquis Luc de Clapiers Vauvenargues, Oeuvres choisies. Avec les notes de Voltaire, Morellet, Suard, Fortia etc. Prcdes d’une notice sur la vie et les ouvrages de Vauvenargues par Suard, Paris, o. J. F. Galiani, Lettres  Madame d’Epinay, Voltaire, Diderot, Grimm, etc. Publies avec notice biographique par Eugene Asse, 2 vols. bound together, Paris, 1882. Voltaire is, for example, extensively discussed in works Nietzsche read by Ferdinand Brunetière, Paul Albert and James Sully. 36 Human, All Too Human, 221.

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Voltaire) in 1885, he referred to Galiani in several notes as more profound than Voltaire. However, in other notes during this same period he praised Voltaire,37 and on several occasions he referred to Schopenhauer’s kinship with Voltaire. Nietzsche continued to feel kinship with Voltaire, especially in relation to his critique of Christianity. After he received the first review of the first book of Also sprach Zarathustra, he was most pleased, and wrote to Overbeck: “Ever since Voltaire there has been no such attack – against Christianity – and, to speak the truth, even Voltaire had no idea that one could attack it in such a way “.38 He also made Voltaire’s motto, “Ecrasez l’infame,” his own. In the autumn of 1887 Nietzsche again revived his enthusiasm for Voltaire, probably inspired by his reading of Ferdinand Brunetière’s tudes critiques sur l’histoire de la littrature franÅaise (Paris, 1887), which contains a chapter entitled “Voltaire et Rousseau,” annotated by Nietzsche in his copy of the book. In a number of notes he discussed Voltaire and Rousseau as representatives of different attitudes, and the relation between them. In these discussions he again praised Voltaire highly: “Voltaire still comprehended umanit in the Renaissance sense; also virt (as ‘high culture’).”39 In a letter to Peter Gast, he made his view explicit: ( Just observe how a man stands toward Voltaire and Rousseau: it makes all the difference in the world whether he says yea to the former or the latter. Voltaire’s enemies, for example, Victor Hugo, all the romantics – even the sophisticated romantics, like the Goncourt brothers – are all gracious toward the masked plebeian Rousseau; I suspect that there is a certain amount of plebeian rancour at the basis of romanticism …) Voltaire is a glorious intelligent canaille; but I share Galiani’s opinion: “un monstre gai vaut mieux – qu’un sentimental ennuyeux”. Voltaire is only possible and sufferable in an aristocratic culture which can afford precisely the luxury of intellectual roguery […] Please, dear friend, keep this task in mind; you cannot get around it. You must, in rebus musicis et musicantibus, restore stricter principles to a position of honour, by deed and word, and seduce the Germans to the paradox which is only paradoxical today: that stricter principles and gay music belong together …40

37 KSA 9, 12[170, 190, 221] and KSA 10, 4[2]. 38 Letter to Overbeck, 26 August 1883. 39 KSA 12, 9[184], from the autumn of 1887 (also published as WM, 100). The whole of this long note is relevant. See also the notes KSA 12, 9[125 and 185] and KSA 12, 10[116 and 176]. 40 Letter to Peter Gast, 24 November 1887.

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He also came to consider Stendhal, another of his favourites, as directly descended from Voltaire.41 Voltaire is often contrasted with Rousseau, and this is also done by Nietzsche, who refers to each of them approximately equally often.42 While we have fairly extensive and reliable information about his relation to Voltaire, much less is known regarding his relation to and reading of Rousseau. We know that, in the summer of 1862, Nietzsche read Emile ou de l’education, probably in German translation,43 and that his library contains Rousseau’s Confessions, in German translation, Bekenntnisse (Leipzig, 1870). It seems likely that Nietzsche read the latter book, as well, though it is not clear when.44 We have no knowledge of any further reading by Nietzsche of Rousseau, and perhaps he read nothing more.45 However, this does not mean that he had no knowledge of Rousseau; for Rousseau was frequently discussed in books he read.46 41 KSA 13, 11[74]: “Beyle stammt von Voltaire.” 42 Surprisingly little has been written about Nietzsche’s relation to both these thinkers, especially Voltaire. One exception is Peter Heller’s chapter “Nietzsche in his relation to Voltaire and Rousseau,” 51 – 88 in Studies on NietzscheI, Bonn, 1980. This text has also been re-published in, O’Flaherty, et al., eds., Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, 1976, pp. 109 – 134. 43 Letter to Raimond Granier, 28 July 1862. Shortly before this, Nietzsche had excerpted Theodor Mundt’s Geschichte der Gesellschaft and then in a paraphrase or discussion of it referred to Rousseau (but misspelled the name). KGW I.2, 12A[6], p. 408 – 409, also in BAW 2, 431 – 435. 44 His copy of Rousseau’s Bekenntnisse contains several dog-ears and two small penciled lines (clearly made by mistake) on the top of page 50 and 51 of the seventh book. In The Joyful Science, 91, Nietzsche criticized, in a general way, the reliability of autobiographies, and used as examples, among others, Rousseau’s Confessions, which might suggest that he had read it before 1882. “Caution. […] I also would not believe a biography of Plato, written by himself – anymore than Rousseau’s or the Vita Nuova of Dante.” 45 However, Professor Trond Berg Eriksen told me that in 1975 he saw a copy of Emile in the original French in a second-hand bookshop in Heidelberg, which was supposed to have belonged to Nietzsche and contained fairly extensive annotations. (The volume later supposedly turned up in K. Jaspers’s library; Jaspers, however, does not refer to it in his Nietzsche book.) If this is correct, it is likely that Nietzsche re-read Emile in the 1880s, for he rarely annotated books in the 1860s (unless the annotations merely were translations of French words). The fact that Nietzsche appears not to have read any of Rousseau’s better-

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Nietzsche seems to have been relatively indifferent toward Rousseau (and read little of his writings) until around 1876 – 78, when he began to become noticeably hostile toward him – a hostility that increased throughout Nietzsche’s life.47 His negative attitude was due to his view of Rousseau as a revolutionary (and as an advocate of equality), an idealist, a Romantic, a decadent (filled with resentment) and a primitivist. Nietzsche used Rousseau to describe a certain character-type in Schopenhauer as Educator, (§ 4), at which point this type was not yet obviously contemptible for him. In 1879, he even put Rousseau on the list of eight thinkers with whom he continually conversed.48 In the 1880 s Nietzsche became extremely hostile toward Rousseau, as can be witnessed in the section devoted to him in Twilight of the Idols,49 as well as in many notes. For example: My five “No’s” […] 4. My struggle against romanticism, in which Christian ideals and the ideals of Rousseau unite, but compounded with a nostalgia for the old days of priestly-aristocratic culture, for virt , for the “strong human being” – something extremely hybrid.50

Most clearly, Nietzsche summarized his view of Rousseau, and compared him to Voltaire, in a letter to Gast, 24 November 1887: The fact that Rousseau was among the first admirers of Gluck makes one think; to me, at least, everything that Rousseau valued is a little questionable, likewise everyone who has valued him (there is a whole Rousseau

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known political tracts, seems to me, just as with Montesquieu, to be an indication of his indifference toward political questions. To take just a few examples, Rousseau is discussed in Henri Joly’s Psychologie des grands homes, Paris, 1883; Ferdinand Brunetière’s tudes critiques sur l’histoire de la littrature franÅaise, Paris, 1887, contains a heavily annotated chapter called “Voltaire et Rousseau”; he is mentioned by Sully; and Paul Albert has several chapters on him in his massive La littrature francaise au 18. sicle, Paris, 1876. H. Taine’s negative views of Rousseau, which Nietzsche encountered in his Geschichte der englischen Literatur in 1879, are likely to have reinforced Nietzsche’s hostility. Assorted Opinions and Maxims, 408. However, even earlier, Nietzsche had ranked Voltaire above Rousseau, as we can see in Human, All Too Human, 463: “It is not Voltaire’s moderate nature, inclined as it was to ordering, purifying and reconstructing, but Rousseau’s passionate follies and half-lies that called forth the optimistic spirit of the Revolution against which I cry: ‘Ecrasez l’infame!’” Twilight of the Idols, “Expeditions of a Untimely Man,” 48. KSA 12, 10[2], also published as WM, 1021. Compare also the long note devoted to Rousseau from the autumn of 1887, KSA 12, 9[184].

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family; Schiller belongs to it, Kant also, to some extent; in France, George Sand, even Sainte-Beuve; in England [George] Eliot and so on). Anyone who needs “moral dignity” faute de mieux has numbered among Rousseau’s admirers, down to our own favorite Dühring, who even has the good taste to present himself in his autobiography as the Rousseau of the nineteenth century.

In the 1880s, especially after 1883, Nietzsche read few French philosophers, apart from re-readings those – such as Montaigne, Voltaire, and Pascal – whom he had already read earlier. This follows a general pattern: after 1883, and more clearly after 1885, Nietzsche read fairly few philosophical works at all, at least partly because he had found his own philosophy.51

51 The few French philosophers he read in the 1880s, such as Taine, Renan, Guyau and a few others, I will discuss in a forthcoming book as part of a discussion of Nietzsche’s reading of contemporary French philosophy, entitled Nietzsche’s Knowledge of Philosophy: A Study and Survey of the Philosophical Influences on Nietzsche.

Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ Ivan Broisson1 In Der Wanderer und sein Schatten schreibt Nietzsche : „Man ist beim Lesen von Montaigne, Larouchefoucauld, Labruyère, Fontenelle […], Vauvenargues, Champfort dem Alterthum näher, als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. […] [Ihre Bücher] enthalten mehr wirkliche Gedanken, als alle Bücher deutscher Philosophen zusammengenommen.“ (WS 214) Diese Aufzählung ist an sich ein großes Lob von Vauvenargues: Kaum ein Historiker der Literatur würde ihn in einem Atemzug mit diesen fünf großen Namen nennen, vielleicht nur Voltaire. Aber der Literat Nietzsche ist auch, und zuerst, ein Philosoph, weshalb er Stilisten schätzt, deren Stil den Ausdruck „wirklicher Gedanken“ ermöglicht, d. h. Gedanken, die nicht von einem abstrakten System deduziert, sondern aus dem Leben, aus der Erfahrung des Denkers geschöpft werden. Dem Urteil Nietzsches über Vauvenargues fehlte es jedoch nicht an Nuancen: Obgleich er ihn unter den „Kunstverwandten von La Rochefoucauld“ (vgl. KSA 14, S. 126) rechnet, bemerkt später der Autor der Frçhlichen Wissenschaft, daß Vauvenargues die „christliche Tendenz zur moralischen Skepsis“ trübe (vgl. FW 122; KSA 14, S. 256), eine Tendenz, die La Rochefoucauld fortgesetzt habe: als wäre Vauvenargues, durch eine gewisse Naivität, dem Altertum näher als Nietzsche selber. Noch 1882 und 1888 übernimmt Nietzsche kritisch die Sentenz von Vauvenargues: „les grandes pensées viennent du cœur“.2 Solche sogenannte „große Gedanken“, schreibt Nietzsche, sind immer „schlecht gedacht“, ebenso schlecht wie diejenigen, die „aus dem

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Ivan Broisson war zur Zeit der Redaktion Forschungsassistent der Nationalstiftung für wissenschaftliche Forschung (Belgien). Luc de Clapiers de Vauvenargues, Rflexions et maximes (1747), in: ders., Œuvres, Bd. 3, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres 1929, 127 (Für die Rflexions et maximes wird nicht die Seitenzahl, sondern die Nummer der Sentenz angegeben).

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Unterleibe“ (Nachlaß 1882, KSA 10, 3 [1], S. 53) 3 oder „aus dem Kopfe“ (Nachlaß 1888, KSA 13, 20 [29]) kommen.4 Wahrscheinlich kommen nach Nietzsche die großen Gedanken nur von einer großen Gesundheit, gegenüber der das „Herz“, wie Vauvenargues es beschreibt, noch als zu naiv erscheint. Diese Nuancen aber sollten uns nicht vergessen lassen, daß sich Nietzsche als ein Erbe des Vauvenargues vorgestellt hat. Welche sind also die Gedanken des französischen Moralisten, die der Philosoph Nietzsche für „wirklich“ gehalten hat? Wir werden nie genau wissen, inwiefern Vauvenargues Nietzsche beeinflußt hat; wir können aber ihre Geistverwandtschaft in einer Skizze andeuten.5 Dazu werden wir vom Begriff „Wille zur Macht“ ausgehen, den wir vorläufig und hypothetisch als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im Werden, Wirken und Schaffen“ verstehen.

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Interessanterweise gehört dieser Aphorismus zu einem kleinen Buch, das Nietzsche nie veröffentlichte, dessen Material aber weitgehend in Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Bçse benutzt wurde. Das Büchlein sollte heißen Auf hoher See oder Schweigsame Reden oder schon Jenseits von Gut und Bçse. Bemerkenswert ist für uns der Untertitel: Ein Sentenzen-Buch von Friedrich Nietzsche. Die Gesamtheit des geplanten Werks wird so in die Tradition der französischen Moralisten gesetzt. Das Wort „Sentenz“ verweist nämlich nach seiner typisch französischen oder zumindest lateinischen Form neben der Kürze auf die Abwesenheit systematischer Ordnung, die den Aphorismen Heraklits oder der deutschen Romantik eignete; die Sentenz zeichnet sich durch ihre Helligkeit, Leichtigkeit und Humor aus: sie ist ein Produkt des „esprit“. Vgl. auch Nachlaß 1888, KSA 13, 15 [95]. Daß wir es nie genau wissen werden, bedeutet nicht, daß wir es nicht mit Recht vermuten können. Es ist die wichtige Aufgabe der Philologie, die Spuren eines möglichen Einflusses aufzusuchen. So hat Thomas Brobjer in seinem Beitrag im Rahmen der Tagung „Nietzsche und Frankreich“ darauf hingewiesen, daß Nietzsche die Schriften Vauvenargues’ zwei Mal gelesen hat: erstens in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches, zweitens einige Jahre später, als er über die Problematik des Machtwillens nachdachte. Obgleich Brobjer erklärte, daß seines Erachtens unter den französischen Philosophen nur Voltaire das Denken Nietzsches substantiell beeinflußt habe, bestätigt obige Bemerkung die These eines Einflusses von Vauvenargues. Auf jeden Fall scheint es uns auch wichtig, unabhängig von der Möglichkeit eines solchen Einflusses, die philosophische Frage zu stellen, inwiefern die Gedanken von Vauvenargues und Nietzsche vom Inhalt her verwandt und vergleichbar sein und einander beleuchten können.

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1. Eine aristokratische Lebensweisheit In mancher Hinsicht bleibt Vauvenargues ein traditioneller Geist. Obschon seine Bücher laut Nietzsche „weder für Jungfrauen noch für Christen“ geschrieben wurden, glaubt er noch an Gott und schreibt Gebete. Noch schlimmer vielleicht nach Nietzsches Bewertung: Er glaubt an „ewige Wahrheiten“6 und zweifelt nicht so gut wie Nietzsche, da er den Wert der Wahrheit und den Zweck der Wahrheitssuche nicht ausdrücklich in Frage stellt. Trotzdem preist er nicht einfach irgendeine „universelle Erkenntnis“: Ganz im Gegenteil bestreitet er das zeitgemäße Ideal des homme d’esprit, welcher von allem etwas, aber nichts zum Leben Nützliches kennt.7 Dies läßt den frühen, unzeitgemäßen Kampf Nietzsches gegen die Philister-Kultur ahnen. Und ähnlich Vauvenargues’ Gedanken, daß in der Geschichte nicht das Werden der Völker und Reicher zähle, sondern nur „die kleine Anzahl von Genies“, welche „die Erde beleuchtet“ haben und die „Meisterwerke der Natur“ seien;8 ähnlich noch der Gedanke, daß diesen Einzelnen, diesen Ausnahmen, welchen die Masse folgen sollte, dieselbe Masse widrig gegenübersteht: „La plupart des grands hommes ont passé la meilleure partie de leur vie avec d’autres hommes qui ne les comprenaient point, ne les aimaient point, et ne les estimaient que médiocrement“.9 Im Allgemeinen kann man feststellen, daß Vauvenargues, den man manchmal etwas zu einfach als einen „neuzeitlichen Stoiker“ vorstellt10, dazu neigt, den Intellekt als ein Instrument der Affekte zu betrachten: „l’esprit est l’œil de l’âme, non sa force“,11 oder: „la raison nous trompe plus souvent que la nature“,12 wo „Natur“ nicht wie im Stoizismus den 6 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Introduction  la connaissance de l’esprit humain, in: ders., Œuvres, Bd. 1, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres 1929, S. 28. 7 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 637 u. 638. 8 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 414. 9 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 655. 10 Vgl. Brendan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn: Bouvier, 1982, S. 102 – 105. Unseres Wissens sind diese Seiten die einzige systematische Behandlung der Beziehung zwischen Nietzsche und Vauvenargues. Es scheint uns, daß der Autor ein zu wenig nuanciertes Porträt von Vauvenargues skizziert, und deshalb dazu neigt, seine Verwandtschaft mit Nietzsche zu unterschätzen. 11 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 149. 12 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 123.

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Weltlogos bedeutet, sondern wie bei Nietzsche die Instinkte des Menschen. Sogar die Sentenz „les grandes pensées viennent du cœur“ weist darauf hin; und, auch wenn Vauvenargues die Affektivität ziemlich naiv versteht, enthält dieser Satz wie manche andere aus seinem Werk eine Bewertung der Leidenschaften, Triebe und Instinkte des Einzelnen, welche Nietzsche nicht verleugnen würde. Solche bejahende Bewertung der individuellen Affektivität gehört übrigens zu einer Lebensweisheit, die man trefflich als „aristokratisch“ bezeichnen kann. Aristokratisch ist bei Vauvenargues zunächst die Bejahung der Sehnsucht nach Ruhm. Das, was in einer asketischen Moral für Laster gehalten würde, gilt bei ihm als eine große Tugend: Die Verachtung des Ruhmes verrate sogar einen Mangel an „Tugend“,13 während die „Inbrunst der Tugend“, so scheint es, von der Sehnsucht nach Ruhm nicht zu trennen sei: „ne nous laissons pas abattre aux sentiments de nos faiblesses jusqu’à perdre le soin irréprochable de la gloire et l’ardeur de la vertu“.14 Weiter trauert er der Zeit nach – höchst wahrscheinlich dem Altertum –, wo diese Sehnsucht als völlig berechtigt erschien, denn es sei der Ursprung allen großzügigen Verhaltens, auch in den Zeiten, wo deren Wert vergessen worden ist: „l’amour de la gloire est encore l’âme invisible de tous ceux qui sont capables de quelque vertu“.15 Wir können bemerken, daß für Vauvenargues Sorge für den eigenen Ruhm und Sehnsucht nach Tugend nicht zu trennen sind: Der Ruhm, der angestrebt wird, ist nicht der Komödianten-Ruhm der „Fliegen des Marktes“, welchen Nietzsche heftig verwirft (vgl. Za, Von den Fliegen des Marktes, KSA 4, S. 65), sondern die gerechtfertigte Achtung derjenigen, die die wahrhafte „Tugend“ zu schätzen wissen. Aristokratisch ist auch Vauvenargues’ Kritik am Egalitarismus, der in seiner Zeit zu blühen anfing.16 Insbesondere wendet er sich gegen den Glauben, daß die Gleichheit ein „Naturgesetz“ wäre: Ganz im Gegenteil sieht er in der Natur nur „Unterordnung und Abhängigkeit“.17 Nicht daß es „Starke“ gäbe, die dadurch gekennzeichnet würden, daß sie zur sozialpolitischen Macht gelangen: Wie Nietzsche vermeidet 13 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 59. 14 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets, in: ders., Œuvres, Bd. 1, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres 1929, S. 96. 15 Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 118. 16 Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 63. 17 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 227.

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Vauvenargues, die Macht auf eine materielle Herrschaft zu reduzieren. Jedoch ist es für ihn so, daß diejenigen, die er „die Schwachen“ nennt, selber eine gewisse Abhängigkeit wollen: „Les faibles veulent dépendre […]“.18 Folglich ist den Schwachen unmöglich, schreibt Vauvenargues „frei und vernünftig“ zu sein.19 Daß sie nicht frei sein können, liegt offensichtlich an der Natur ihrer Schwachheit selbst; daß sie nicht ,vernünftig‘ sein können, kann man auf zwei Weisen verstehen, und in beiden Fällen kann man ein tiefes Einverständnis mit Nietzsche feststellen. „Être raisonnable“ kann einerseits bedeuten: „sich selbst beherrschen“, und wir wissen, daß Selbstbeherrschung nach Nietzsche ein Zug des Starken ist, d. h. des Einzelnen, der allen seinen Trieben eine einzige Richtung gibt, die Richtung eines einzigen Grundwillens: Es ist die Harmonie des „wohlgeratenen“ Einzelnen. „Être raisonnable“ kann andererseits bedeuten: seine intellektuellen Vermögen angemessen zu gebrauchen, und man wird leicht verstehen, daß es Kraft erfordert, denn die Wirklichkeit, die wir zu erkennen haben, kann grausam sein. So schreibt Nietzsche von den Schwachen: „Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen; die décadents haben die Lüge nçthig“ (EH, GT, 2). Kurz, für Vauvenargues wie für Nietzsche ist der Schwache derjenige, der nicht den Mut hat, den Anderen und sich selbst treu zu sein.20 Da die Lebensweisheit Vauvenargues’ aristokratisch ist, sollte uns nicht überraschen, daß sie sich auch als anti-asketisch erweist. „La morale austère“, schreibt er, „anéantit la vigueur de l’esprit“.21 Zu seiner Verteidigung des Lebens gegen eine gewisse asketische Strenge gehört, daß er die Neigung verwirft, im Laufe des Lebens nur an den Tod zu denken: „La pensée de la mort nous trompe, car elle nous fait oublier de vivre“.22 Diese Sentenz ist vielleicht eine direkte Quelle für Nietzsches Aphorismus „Der Gedanke an den Tod“ in der Frçhlichen Wissenschaft: „Es macht mich glücklich, zu sehen, daß die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen“ (FW 278).

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Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 188. Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 20. Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 53. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 166. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 143.

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2. Lebensweisheit und ,Wille zur Macht‘ Auf eine grundsätzlichere Ebene wurzelt die Geistesverwandtschaft von Nietzsche und Vauvenargues in der Umwertung eines gewissen Egoismus. Beide sind Erben von La Rochefoucauld, aber kritische Erben: Beide anerkennen mit ihm, daß der Egoismus (oder eine Form desselben) die Grundkraft aller menschlichen Handlung darstelle; was sie aber ablehnen, ist La Rochefoucaulds negative Bewertung des Egoismus. So kritisiert Nietzsche „die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher [den Egoismus] überall heranzog und damit den Werth der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts Anderes geben kçnnte als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist […]“ (Nachlaß 1886 – 1887, KSA 12, 7 [65]). Zusammen mit dieser Umwertung des Egoismus skizziert Nietzsche eine Unterscheidung zwischen zwei Formen der „Selbstsucht“: einerseits die „allzuarme“ und „kranke“, die Selbstsucht, die „immer stehlen will“; andererseits die „heilige“ Selbstsucht, die „schenkende Liebe“ ist (Za, Von der schenkenden Tugend, KSA 4, S. 98). Eine solche Unterscheidung finden wir auch bei Vauvenargues: „S’il y a un amour de nous-mêmes naturellement officieux et compatissant, et un autre amour-propre sans humanité, sans équité, sans bornes, sans raison, faut-il les confondre ?“23 Der Wortschatz des Vauvenargues ist vielleicht naiver, seine Sentenz hat nicht die fast mystische Tiefe, die man in Nietzsches Abschnitt zur „Schenkenden Tugend“ findet. Aber im Grunde, so scheint es, teilen sie eine gemeinsame Sorge, La Rochefoucauld aufzuheben. Wo Vauvenargues, in seiner Introduction  la connaissance de l’esprit humain, die besagte Unterscheidung herausarbeitet, kritisiert er die „Philosophen“, die alle Zuneigungen und Anhänglichkeiten der Menschen „auf die Eigenliebe [amour-propre] zurückführen“ wollen.24 Es ist höchst wahrscheinlich, daß er hier auf La Rochefoucauld und seine Epigonen zielt: Wenngleich man heute La Rochefoucauld eher zu den Moralisten als zu den Philosophen zählen 23 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 291. 24 Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 40.

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würde, nennt Vauvenargues an einer anderen Stelle den Autor der Maximes einen Philosophen25, und wirft ihm ausdrücklich eine gewisse Heuchelei in seinem moralischen Pessimismus vor.26 Wie Nietzsche also zwischen kranker und gesunder Selbstsucht unterscheidet, so unterscheidet Vauvenargues zwischen Eigenliebe und Liebe seiner selbst: Letztere, wie Nietzsches schenkende Tugend, kann mit einer radikalen Selbstgabe zusammenfallen.27 Wenn wir zum oben angeführten Fragment Nietzsches zurückkehren, sehen wir übrigens, daß er später im Text darauf hinweist, der Egoismus sei nichts anderes als der „Grund des Lebens“ (Nachlaß 1886 – 1887, KSA 12, 7 [65]). Man kann auch vermuten, daß die Selbstsucht, von der Zarathustra redet, sei sie krank oder gesund, nichts anderes ist als die Grundkraft allen menschlichen Lebens, die Zarathustra verkündet, nämlich der „Wille zur Macht“. Jedenfalls scheint die heilige, schenkende Selbstsucht die höchste Blüte des Willens zur Macht darzustellen. In der Tat schreibt Nietzsche im selben Kapitel: „Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, […] da ist der Ursprung eurer Tugend“, und: „Macht ist sie, diese neue Tugend“ (Za, Von der schenkenden Tugend, KSA 4, S. 99). Auch Vauvenargues verwendet den Wortschatz der Macht, der Kraft, der Herrschaft, um das menschliche Leben und dessen „Grund“ zu beschreiben. So zum Beispiel, wenn er vom Ursprung der Leidenschaften handelt: „Nous tirons de l’expérience de notre être une idée de grandeur, de plaisir, de puissance, que nous voudrions toujours augmenter; nous prenons dans l’imperfection de notre être une idée de petitesse, de sujétion, de misère, que nous tâchons d’étouffer; voilà toutes nos passions“.28 Dieses ist umso bedeutsamer, als nach Vauvenargues die Leidenschaften die ganze Wirklichkeit der Subjektivität ausmachen: „Nos passions ne sont pas distinctes de nous-mêmes; il y en a qui sont tout le fondement et toute la substance de notre âme“.29 Auch wenn Vauvenargues seine Einsicht nicht gründlich ausschöpft, auch wenn bei ihm neben der Ahnung des „Willens zur Macht“ hedonistische Themen aus der empiristischen Tradition zu finden sind, bleibt die Verwandtschaft mit Nietzsche ziemlich auffallend. 25 26 27 28 29

Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 337. Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 299. Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 40 – 41. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 38. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 61.

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Außerdem zeigt sich diese Verwandtschaft in der Tatsache, daß, bei Vauvenargues wie bei Nietzsche, eine enge Beziehung zwischen Kraft des Willens und Kraft des Leibes angenommen wird.30 So schreibt der Moralist: „Notre dégoût n’est point un défaut et une insuffisance des objets extérieurs, comme nous aimons à le croire, mais un épuisement de nos propres organes, et un témoignage de notre faiblesse“.31 „Ekel“, „le dégoût“, kann bei unserem Autor seelisch wie leiblich sein; jedenfalls sieht er eine starke Analogie zwischen Ekel des Leibes und Schwäche einer Seele, der es an Leidenschaft mangelt. Vauvenargues hat ein sehr „Nietzschesches“ Wort für diesen Mangel, für diese Abschwächung, einen Terminus aus der Sprache der Physiologie, der lautet: „décadence“. „Ni le dégoût n’est une marque de santé, ni l’appétit n’est une maladie : mais tout au contraire. Ainsi pense-t-on sur le corps. Mais on juge de l’âme sur d’autres principes. On suppose qu’une âme forte est celle qui est exempte de passions. Et comme la jeunesse est plus ardente et plus active que le dernier âge, on la regarde comme un temps de fièvre: et on place la force de l’homme dans sa décadence“.32 Diese bescheidenen Sentenzen des Vauvenargues antizipieren also eine wichtige Diagnose Nietzsches, nämlich daß Ekel für das Leben als ein Zeichen von Schwäche der Instinkte und grundsätzlicher von einem ungesunden „Willen zur Macht“ auszulegen sei.

3. „Wille zur Macht“ und Weltauslegung In Vauvenargues’ Rede vom „Grund“ des menschlichen Lebens nimmt ein weiterer Begriff eine zentrale Stelle ein: der Begriff „action“. Auf französisch kann „agir“ zweierlei bedeuten: „agir“ allein kann man mit „handeln“ wiedergeben; und „agir sur“ mit „wirken auf“. Nun schreibt der Moralist: „[L’homme] ne peut jouir que par l’action, et n’aime qu’elle“. Und an einer anderen Stelle: „la jouissance elle-même est une action, […] on ne saurait jouir qu’autant que l’on agit, et […] notre âme ne se possède véritablement que lorsqu’elle s’exerce tout entière“.33 Der Machtwille also, der unser Handeln begründet, kann nur im Handeln und Wirken selbst befriedigt werden, denn der Genuß des Machtgefühls 30 31 32 33

Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 79. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 197. Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 148. Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 86.

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ist nur im Handeln zu finden; und sogar diese Befriedigung ist laut Vauvenargues noch eine Form des Handelns. „L’action“, das Handeln und Wirken, ist also ein anderer Name für den „Grund“ des Lebens. Dies gilt übrigens nicht nur für die Handlungen, durch die unser Machtgefühl und unser Leben wachsen. Schon nur um weiter zu leben, braucht der Mensch das Handeln: „Il est tellement impossible à l’homme de subsister sans action que, s’il veut s’empêcher d’agir, ce ne peut être que par un acte encore plus laborieux que celui auquel il s’oppose“.34 Anders gesagt: Der Wille zum Nichts ist noch ein Wille. Diese Betrachtungen von Vauvenargues – und hier wird die Verwandschaft mit Nietzsche besonders interessant – betreffen nicht nur den Menschen. Im selben Fragment schreibt er: „On ne peut condamner l’activité sans accuser l’ordre de la nature“.35 Und deutlicher, in den Rflexions et maximes: „Le feu, l’air, l’esprit, tout vit par l’action; de là, la communication et l’alliance de tous les êtres ; de là, l’unité et l’harmonie dans l’univers“.36 Das Handeln und Wirken ist also das, wodurch alles lebt, auch die Wesen die wir gewöhnlich nicht als „lebendig“ oder „handelnd“ und „wirkend“ betrachten. Schließlich zeichnet sich diese Einsicht Vaunenargues’ durch die Tatsache aus, das seines Erachtens Leben, Handeln und Schaffen zusammenfallen. So noch in den Rflexions et maximes: „Qui condamne l’activité condamne la fécondité. Agir n’est autre chose que produire ; chaque action est un nouvel être qui commence, et qui n’était pas. Plus nous produisons, plus nous agissons, plus nous vivons“.37 Kehren wir jetzt zurück zu unserer hypothetischen Definition von Nietzsches Willen zur Macht als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im Werden, Wirken und Schaffen“: Die Ähnlichkeit mit Vauvenargues ist frappant. Nun es gibt Stellen, sogar in Nietzsches veröffentlichten Werken, die unsere Hypothese zu bestätigen scheinen. Z.B. in Zur Genealogie der Moral, wo Nietzsche die „Starken“ als Kraftquanten bezeichnet: „Ein Quantum Kraft ist [ein] Quantum Trieb, Wille, Wirken, – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst. […] Es gibt kein ,Sein‘ hinter dem Thun, Wirken,

34 35 36 37

Vauvenargues, Vauvenargues, Vauvenargues, Vauvenargues,

Rflexions Rflexions Rflexions Rflexions

sur divers sujets (Anm. 14), S. 118. sur divers sujets (Anm. 14), S. 117. et maximes (Anm. 2), 198. et maximes (Anm. 2), 594.

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Werden; der ,Thäter‘ ist zum Thun bloß hinzugedichtet, – das Thun ist Alles“ (GM I, 13).38 Es ist im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich, Nietzsches Hypothese des „Willens zur Macht“ gründlich zu behandeln; wir können aber bemerken, daß die Worte Nietzsches selber auf ein Zusammenfallen von Wollen, Tun (oder Handeln), Wirken und Werden hinweisen. Und daß für Nietzsche Leben zugleich Schaffen ist, werden Nietzsche-Forscher wohl kaum verneinen. Trotzdem können wir nicht ignorieren, daß viele Debatten um den Status und den Umfang der Hypothese des Willens zur Macht die Nietzsche-Forschung gespalten haben. Um diese Debatten einfach, allzu einfach darzustellen, kann man ihre Protagonisten in zwei Lager einteilen: Die einen behaupten, Nietzsches Hypothese betreffe die ganze Wirklichkeit und stelle also eine Fortsetzung der klassischen Metaphysik dar; die anderen verneinen, daß die Rede Nietzsches einen metaphysischen Status habe, und folgern, daß die Hypothese des Willens zur Macht nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur biologische oder menschliche Phänomene umfange. Letzteres Lager besteht aus einem merkwürdigen Bündnis von Dekonstruktionisten und Naturalisten, die ein gemeinsames Mißtrauen gegenüber der Metaphysik teilen. Ihre Argumentation ist oft philologisch: Nietzsche habe schon den Willen zur Macht als die ganze Wirklichkeit des Werdens aufgefaßt, habe aber später diese Auffassung verlassen. Andere weisen darauf hin, daß in bestimmten Abschnitten die fragliche Auffassung nur als Auslegung vorgestellt wird. Solche Argumentation scheint uns philosophisch ziemlich arm. Erstens, weil nach Nietzsche die verschiedenen Auslegungen, die verschiedenen Perspektiven nicht gleichwertig sind, so daß man den Wert verschiedener Weltauslegungen hinterfragen kann bzw. muß. Zweitens weil, wollen wir Nietzsche einigermaßen treu bleiben, unsere Lektüre seines Werks zwar philologisch sein muß, aber auch mehr als philologisch: Wir müssen uns seine Einsichten philosophisch aneignen, und die Tatsache, daß er eine Einsicht, vor allem eine grundsätzliche, irgendwann verlassen hat, darf kein Vorwand sein, um diese Einsicht nicht selber zu bewerten und vielleicht zu vertiefen. Wenn wir also behaupten, der „beste“, der „echte“ Nietzsche sei derjenige, der die 38 Es wäre übrigens interessant, diesen Text mit folgendem Fragment zu vergleichen: Nachlaß 1887, KSA 12, 9 [106].

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Hypothese eines allumfassenden Willens zur Macht aufgibt, dann müssen wir zunächst diesen Gedanken philosophisch behandeln. Dies bedeutet nicht, daß das erste Lager „Recht habe“, sondern daß die Frage vielleicht schlecht gestellt ist: Beide Lager scheinen nämlich vorauszusetzen, daß es keine Hypothese geben kann, die zugleich die ganze Wirklichkeit betrifft und nicht-metaphysisch ist ( jedenfalls nicht „metaphysisch“ im Sinne der klassischen, d. h. parmenidischen und deduktiven Metaphysik). Hier kann der Vergleich mit Vauvenargues von Nutzen für die Nietzsche-Forschung sein. Denn seine Hypothese von der Wirklichkeit als Handeln und Wirken bietet den Lesern Nietzsches einen bemerkenswerten Präzedenzfall. Seine Kennzeichnung des Status seiner eigenen Grundeinsicht, dessen Umfang deutlich das ganze Werden erreicht, enthält eine Paradoxie, aber eine interessante. Erstens ist seine Rede vom Wert des systematischen Denkens offenbar nicht eindeutig. Einerseits schreibt er, daß alle großen Philosophen „ein System haben“.39 Andererseits wird das Genre der Sentenz völlig bewußt gewählt (wie es das Vorwort der Reflexions et maximes andeutet). Die Nuance, die diese Paradoxie enthüllt, erscheint uns deutlicher, wenn wir uns fragen, was „System“ für Vauvenargues bedeutet. In der Tat schreibt er auch den großen Politikern ein „System“ zu und verwendet den Ausdruck „esprit de suite“ gleichwertig mit „System“. Es handelt sich also weniger (oder gar nicht) um ein abstraktes, deduktives System, sondern um eine lebendige Kohärenz des Denkens. Solch eine organische Kohärenz beansprucht auch Nietzsche selber im Vorwort von Zur Genealogie der Moral: Seine Gedanken seien „nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in die Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Grundwille n der Erkenntnis. […] Wir [Philosophen] dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsere Gedanken“ (GM, Vorrede, 2). Die Gedanken Nietzsches werden vielleicht als sehr variierte Einfälle ausgedrückt, aber jeder dieser Gedanken kann den Leser zu allen anderen führen, denn sie sind „in einander gewachsen und verwachsen“ (ebd.): die Kohärenz kommt nicht von irgendeinem „ersten Prinzip“ oder „absolutem Grund“, von irgendeiner Deduktion her, sondern von der Einheitlichkeit der er39 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 407.

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lebten Perspektive: und je breiter und feiner diese Perspektive wird, desto leichter ist es, ihre Kohärenz wahrzunehmen. Bei Nietzsche wie bei Vauvenargues finden wir also den Ausdruck einer Art von Kohärenz, die nicht zur klassischen Metaphysik gehört, die aber ein Merkmal des eigentlichen, im Leben wurzelnden Denkens darstellt. Zweiter Aspekt der Paradoxie bei Vauvenargues: Einerseits schreibt er, die Notwendigkeit des Handelns und Wirkens sei ein „Naturgesetz“ oder ein „Gesetz unseres Daseins“, „une loi de notre être“.40 Andererseits behauptet er daß, da die Welt aus frei wirkenden Einzelnen besteht, sie zu komplex, zu chaotisch, zu reich sei, als daß man ein einziges Naturgesetz identifizieren könnte: „Les êtres physiques ne dépendent pas d’un premier principe et d’une cause universelle, comme on le suppose; car moi, qui suis un être libre, je n’ai qu’à souffler sur de la neige, et voilà que je dérange tout le système de l’univers. Plaisante chimère, de croire que toute la nature se gouverne par la même loi, pendant que la terre est couverte de cent mille millions de petits agents, qui traversent, selon leur caprice, cette autorité!“.41 Wie kann man diese Paradoxie verstehen? Man kann darauf hinweisen, daß Vauvenargues im ersten Fall das Wort „Naturgesetz“ nicht wie z. B. Newton verwendet: Es geht nicht um ein besonderes Prinzip, das zum Dasein hinzukommen würde, sondern um eine Kennzeichnung des Daseins als solchem. Der Ausdruck „loi de notre être“ ist in dieser Hinsicht vielleicht deutlicher. Der fragliche Terminus „Naturgesetz“ würde also einfach auf die Universalität des „Handelns und Wirkens“ als Modus des Werdens verweisen – ein Modus, der immer in einem Einzelnen verkörpert sein muß. So daß Vauvenargues zugleich und ebenso sinnvoll von einem Wirken und von mehreren Wirken sprechen kann. Dieser Aspekt der Paradoxie bei Vauvenargues kann auch den Fall Nietzsches beleuchten. Denn Nietzsche verneint ausdrücklich die ontologische Wirklichkeit von szientistisch begriffenen Naturgesetzen, aber er tut es gerade im Namen einer bestimmten Auslegung der Wirklichkeit, welche für deren Komplexität mehr Raum schafft. Wenn Nietzsche diese Auslegung ausdrückt, spricht er zwar von Chaos, aber auch oft von „dem“ Willen zur Macht. Nun, wenn der Wille zur Macht eine „Kraft“ ist, muß er immer in einzelnen Kraftzentren verkörpert 40 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 198 ; und ders., Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 118. 41 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 595.

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sein: Es gibt also zugleich ein Wille und mehrere Willen. Die Sätze, in welchen Nietzsche vom Willen zur Macht als der Grundnatur der Welt spricht, enthalten notwendig eine gewisse Vereinfachung der überreichen Wirklichkeit; sie haben aber den Verdienst, besser als andere auf die organische Kohärenz seines äußerst reichen Denkens hinzuweisen. Mit Vauvenargues teilt er nicht nur verschiedene psychologische Beobachtungen, sondern auch die Sorge, zugleich den Reichtum und die Kohärenz seines Denkens und der Welt auszudrücken.

„Ich hasse Rousseau …“ Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft Tilo Klaiber 1. Was man haßt, hat man oftmals zuvor geliebt oder, seltener, könnte es auch lieben. Ist es so mit Nietzsches Rousseau-Beziehung? Diese Frage läßt sich leicht beantworten mit einem Gang durch die RousseauPassagen von Nietzsches Werk. Und wir finden unmißverständlich bestätigt, daß der Citoyen de Genève in Nietzsches Denken Gegenstand einer dramatischen Umwertung ist: einer Wertschätzung vom Idol zum Haßobjekt.1 In der „Hadesfahrt“ im zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches zählt Rousseau zu jenen, mit denen, als mit „ewig Lebendigen“, Nietzsche immer wieder in der Unterwelt Zwiesprache zu halten gewillt ist: „Mit diesen [Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer] also muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber einander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage und beschliesse, für mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet.“2 In der dritten Unzeitgemßen Betrachtung entwirft Nietzsche im Zusammenhang einer Zeitkritik, die vornehmlich Wissenschaftsbetrieb und Bildungsfeindlichkeit aufs Korn nimmt, drei Gegenbilder des neuen europäischen Menschen, „aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch 1 2

Nur die Darstellung des Apostels Paulus in Der Antichrist wird vergleichsweise noch mehr Abscheu auf sich ziehen. KSA 2, S. 534. – Nietzsche wird zitiert nach der 2., durchgesehenen Auflage der Kritischen Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York/München: Walter de Gruyter/Deutscher Taschenbuch Verlag 1988 (Orig. 1967 ff.), mit Band- und Seitenzahl.

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für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eigenen Lebens nehmen werden: das ist der Mensch Rousseaus, der Mensch Schopenhauers und endlich der Mensch Goethes.“ Von diesen habe das Bild des rousseauschen Menschen „das größte Feuer“ und sei „der populärsten Wirkung gewiss“.3 Erläutert wird das in einem Passus, der Nietzsches am meisten um Abwägung bemühtes Urteil über Rousseau enthält. Vom ersten Bild des Menschen „ist eine Kraft ausgegangen, welche zu ungestümen Revolutionen drängte und noch drängt; denn bei allen socialistischen Erzitterungen und Erdbeben ist es immer noch der Mensch Rousseaus, welcher sich, wie der alte Typhon unter dem Aetna bewegt. Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmüthige Kasten, erbarmungslosen Reichthum, durch Priester und schlechte Erziehung verderbt und vor sich selbst durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der Mensch in seiner Noth die ,heilige Natur‘ an und fühlt plötzlich, dass sie von ihm so fern ist wie irgendein epikuräischer Gott. Seine Gebete erreichen sie nicht: so tief ist er in das Chaos der Unnatur versunken. Er wirft höhnisch allen Schmuck von sich, welcher ihm kurz vorher gerade sein Menschlichstes schien, seine Künste und Wissenschaften, die Vorzüge seines verfeinerten Lebens, er schlägt mit der Faust wider die Mauern, in deren Dämmerung er so entartet ist, und schreit nach Licht, Sonne, Wald und Fels. Und wenn er ruft: ,nur die Natur ist gut, nur der natürliche Mensch ist menschlich‘, so verachtet er sich und sehnt sich über sich selbst hinaus: eine Stimmung, in welcher die Seele zu furchtbaren Entschlüssen bereit ist, aber auch das Edelste und Seltenste aus ihren Tiefen heraufruft.“4 In dieser metaphorischen Charakterisierung klingen neben der nietzscheanischen Disposition zur Selbstüberwindung schon sämtliche Vorbehalte an, die Nietzsche in allen späteren Bezugnahmen dann ausschließlich und immer schärfer gegen Rousseau herauskehrt: Selbstverachtung, Verachtung der Künste und Wissenschaften sowie die handlungslegitimierende Berufung auf das autoritative Prinzip einer zurückprojizierten Natur. Im dritten Buch der Morgenrçthe wird eine Umwertung deutlich markiert unter dem Titel „Gegen Rousseau“. Daß das Verehrte nun verworfen, die Herme gestürzt wird,5 liegt an einer divergierenden

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KSA 1, S. 369. KSA 1, S. 369. So die Formulierung von Ralph-Rainer Wuthenow, „Die große Inversion. Jean-Jacques Rousseau im Denken Nietzsches“, in: Neue Hefte fr Philosophie 29

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Diagnose im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Zivilisationszustand und Zustand der Moralität: Sollte, mit Rousseau, „diese erbärmliche Civilisation“ Ursache unserer „schlechten Moralität“ sein, oder nicht umgekehrt ein gewisses Moralverständnis Ursache für das Zerbrechen einer „starken Civilisation“ selbständiger, unabhängiger, unbefangener Menschen? 6 Fortan, d. h. bis in die letzten publizierten Schriften und in die Nachlaßaufzeichnungen, bleibt Rousseau (wie Sokrates) eine faszinierende Feindfigur, mit der, als Prinzip und Epochentypus, nahezu alles assoziiert werden kann, was Gegenstand von Nietzsches Demaskierungsanstrengungen ist: eine Moral des Ressentiments, der Geist der europäischen Romantik und der Décadence, der Keim der Revolution und der Demokratie. Heftigste Aversion wie radikale intellektuelle Inversion kulminieren in einem Aphorismus der Gçtzendmmerung, in dem der Haß auf diesen „ersten modernen Menschen“, auf die „Rousseausche Moralität“ und nicht zuletzt auf die Revolution als den „welthistorischen Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und canaille“ kunstvoll inszeniert wird.7

2. Ich möchte mich im folgenden konzentrieren auf Nietzsches ContraPosition, mit dem Fokus auf zwei thematische Punkte, die für Nietzsche wie für Rousseau eng zusammenhängen: einmal die Zivilisationskritik, soweit sie mit dem Begriff der menschlichen Natur operiert und zum andern die Infragestellung einer bestimmten Wertschätzung der Moral, speziell der Tugend der Gerechtigkeit. Dabei zeigt sich, daß Nietzsches Contra im ersten Punkt gar nicht Rousseau betrifft, sondern ein Schlagwort des Rousseauismus. Dies gibt Anlaß zu einer Erinnerung an Nietzsches alternative hermeneutische Verfahren im Umgang auch mit den eigenen philosophischen Idolen. Im konkreten Fall der Rezeption oder besser: der Konstruktion eines rousseauistischen Typus’ werde ich kurz darlegen, welchen Nutzen Nietzsche aus diesem Verfahren zieht, und um welchen Preis.

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(1989), S. 60 – 79; ebd. S. 66. Wenngleich ich nicht alle Beurteilungen teile, verdanke ich diesem Aufsatz viel. KSA 3, S. 146. KSA 6, S. 150.

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Nietzsches Contra im zweiten Punkt, der den eigentlichen Grund für die heftige Aversion abgibt, beruht zwar gleichfalls auf einer kraftvollen Reduktion – Rousseau wird nur im Licht der Französischen Revolution gesehen, als die vor der Revolution „Fleisch und Geist gewordene eigentlich revolutionäre Substanz“ und Robespierre als der von der „Moral-Tarantel Rousseau“ Gebissene8 –; dennoch zielt diese Reduktion auf ein Herzstück der genuin Rousseauschen Moralphilosophie, den Egalitarismus. Bei diesem Punkt werde ich mich etwas aufhalten, erstens um zu klären, was damit impliziert ist, und zweitens um die von Nietzsche nicht vorgenommene Direktkonfrontation nachzuholen. Dies wird skizzenhaft bleiben. Ich hoffe, daß es trotzdem genügt um zu zeigen, daß es, selbst wenn wir Nietzsches ideologiekritische Intention ernst nehmen und zuspitzen, einen Punkt gibt, an dem wir etwas von Rousseaus moralphilosophischen Intentionen nicht aufgeben wollen.

3. Ich komme zum ersten Aspekt. Der enormen Frequenz der RousseauReferenzen in Nietzsches Werk entspricht keine substantielle Auseinandersetzung, denn Nietzsche rezipiert nicht Rousseau, sondern konstruiert den Typus eines bestimmten Rousseauismus,9 einen, wie er selbst einräumt, „mythischen Rousseau“10, was nirgends deutlicher wird als in der Reaktion auf das, was er als durch Rousseau in die Welt gesetzte ebenso naive wie fatale Naturkonzeption des 18. Jahrhunderts 8 KSA 3, S. 14; vgl. KSA 2, S. 299 und S. 654. 9 Es gibt unter Nietzsches gesamten Rousseau-Bezugnahmen keine wörtlichen oder sinngemäßen Zitate aus Rousseaus Werken, die auf eine direkte Auseinandersetzung schließen lassen könnten. Analoges gilt, mit umgekehrten Vorzeichen, auch für die Voltaire-Bezugnahmen. Vgl. dazu Peter Heller, „Nietzsche in His Relation to Voltaire and Rousseau“, in: James C. O’Flaherty et al. (Hrsg.), Studies in Nietzsche an the Classical Tradition, Chapel Hill: University of North Carolina 1979, S. 109 – 133; zu Nietzsches Voltaire-Beziehung insbesondere den Aufsatz von Thomas H. Brobjer im vorliegenden Band. – Mazzino Montinari hat darauf hingewiesen, daß Nietzsches Nachlaßaufzeichnungen über Rousseau (und Voltaire) auf eine Lektüre von Ferdinand Brunetières tudes critiques sur l’histoire de la littrature franÅaise (1887) zurückgehen; Elisabeth Kuhn hat dies verifiziert und in einer schönen Synopsis abgebildet in Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 600 – 626. 10 KSA 2, S. 651.

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versteht. „Rückkehr zur Natur“11 habe Rousseau gewollt, Befreiung vom „bunten Schmucke“ der Künste und Wissenschaften und von den Vorzügen des verfeinerten Lebens,12 Vervollkommnung des Menschen durch Wiederannäherung an die Natur.13 Diese „Mythologie der Natur“14, wie es Nietzsche auch nennt, hat bekanntlich wenig zu tun mit Rousseaus tatsächlicher Doktrin und seinem nicht ganz so simplen Begriff der menschlichen Natur. Der Schlachtruf „Zurück zur Natur“ findet sich bei Rousseau nirgendwo, sehr wohl hingegen die dezidierte Feststellung, daß die menschliche Natur nicht zurückschreite.15 Auch findet sich bei Rousseau die wiederholte Klarstellung, daß ein Goldenes Zeitalter ein dem Menschengeschlecht immer schon fremder Zustand sei,16 und beginnend mit der Vorrede zum Akademiediskurs über die Ungleichheit gibt sich Rousseau alle Mühe herauszustreichen, daß die Suche nach einer ursprünglichen, nicht-depravierten, historisch und sozial nicht-deformierten „constitution humaine“ ein theoretisches Unterfangen ist, allerdings in praktischer Absicht: „Car ce n’est pas une légére entreprise de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la Nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais, et dont il est pourtant necessaire d’avoir des Notions justes pour bien juger de nôtre état présent.“17 Eine autoritative „Stimme der Natur“ gibt es Rousseau zufolge nicht,18 vielmehr ist ein hypothetisch-konjekturales Raisonnement erforderlich, um ein Gegenmodell zu entwerfen zum gesellschaftlich zugerichteten „homme de l’homme“;19 und 11 12 13 14 15

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KSA 6, S. 150 und S. 111. KSA 1, S. 369. KSA 12, S. 447. KSA 8, S. 455. O.C. I, S. 935: „[…] la nature humaine ne rétrograde pas.“ Rousseau wird zitiert nach der Pléiade-Ausgabe, Œuvres compltes, édition publié sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1959 ff., mit (römischer) Band- und Seitenangabe. O.C. III, S. 283. O.C. III, S. 123. „Es ist kein leichtes Unterfangen, zu entwirren, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, und einen Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird, und von dem zutreffende Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen.“ (Übersetzung: T.K.) O.C. III, S. 283. O.C. IV, S. 249 – 253.

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zwar zum Zwecke einer kritischen Beurteilung des gegenwärtigen Seins und Ist-Zustandes. Für Normen moralischen oder rechtlichen Sollens verwirft Rousseau ausdrücklich naturrechtliche Begründungen.20 Die nur naiv klingende Wesensbestimmung der „bonté naturelle“ des Menschen21 wird im Emile psychologisch ausbuchstabiert als „amour de soi“, d. h. als vorsoziale Selbstliebe in Opposition zur gesellschaftlich konstruierten „amour propre“. Und im Akademiediskurs verfolgt Rousseau bei der abstrahierenden Konstruktion der anthropologischen Grundausstattung eine konterkarierende Strategie sowohl gegenüber Hobbes’ Naturzustandsfiktion22 als auch gegenüber dem biblischen Sündenfall-Mythos. Doch wie schaut es aus mit dem „bunten Schmuck“ der Künste und Wissenschaften? Nietzsches PrimitivismusVorbehalt schon in der metaphorischen Rousseau-Charakterisierung der dritten Unzeitgemßen Betrachtung schlägt ja in dieselbe Kerbe wie Voltaire. Auf dessen Spott über ein unterstelltes „Zurück zur Natur“ in Rousseaus Akademiediskurs hat dieser in bestem Sinn dialektisch geantwortet: „Le gout des Lettres et des Arts nait chez un Peuple d’un vice intérieur qu’il augmente; et s’il est vrai que tous les progrès humains sont pernicieux à l’espéce, ceux de l’esprit et des connoissances qui augmentent nôtre orgueil et multiplient nos égaremens, accélerent bientôt nos malheurs. Mais il vient un tems où le mal est tel que les causes mêmes qui l’ont fait naitre sont necessaries pour l’empêcher d’augmenter; c’est le fer qu’il faut laisser dans la playe, de peur que le blessé n’expire en l’arrachant.“23 Der Rekurs auf die homöopathische Figur des Heilmittels im Übel ist keine bloße ad-hoc-Reaktion auf Voltaires bewußtes Mißverstehen. Es handelt sich um eine zentrale

20 O.C. III, S. 281 – 289 und S. 326 – 330. 21 O.C. IV, S. 935 f. 22 Vgl. genauer dazu Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ,Gesellschaftsvertrag‘, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 27 – 31. 23 O.C. III, S. 227. „Das Gefallen an Literatur und Künsten entsteht bei einem Volke aus einem inneren Laster, welches dadurch zunimmt; und wenn es stimmt, daß die Fortschritte des Menschen der Gattung verderblich sind, so beschleunigen diejenigen des Geistes und der Wissenschaften, die unseren Stolz mitsamt unseren Abirrungen vermehren, unser Unglück. Doch es kommt eine Zeit, wo das Übel derart ist, daß gerade die Ursachen, die es hervorgebracht haben, notwendig sind, um zu verhindern, daß es noch weiter zunimmt: man muß das Eisen in der Wunde lassen, aus Sorge, daß der Verwundete beim Herausziehen desselben stürbe.“ (Übersetzung: T.K.)

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Denkfigur von Rousseaus „triste et grand système“24, die sich stützt auf das anthropologische Merkmal der „perfectibilité“25, ein Neologismus, der durch Rousseau terminologisch etabliert und propagiert wird, um die ganze Ambivalenz der menschlichen Fähigkeiten herauszustellen. Wenn Sprache und Abstraktionsvermögen, Wissenschaften und Künste das Potential für Fortschritt wie Sittenverfall bergen, so bieten sie zugleich die einzige Chance, fortgeschrittenen Depravations- und Dekadenztendenzen gegenzusteuern. Deshalb ist diese Denkfigur des Heilmittels im Übel nicht nur geeignet, Rousseaus eigene schriftstellerische Praxis zu legitimieren,26 sie wird ebenso in Anschlag gebracht bei den großen konstruktiven therapeutischen Experimenten27 des Contrat social und des Emile: „efforçons nous de tirer du mal même le reméde qui doit le guérir. Par de nouvelles associations, corrigeons, s’il se peut, le défaut de l’association générale. Que nôtre violent interlocuteur juge lui même du succés. Montrons lui dans l’art perfectionné la réparation des maux que l’art commencé fit à la nature.“28 Diese Hinweise auf das NichtEinfache in Rousseaus Natur-Begriff sollten genügen, um zu sehen, dass Nietzsches Umgang mit Rousseau sich nicht einer Hermeneutik „historischen Philosophierens“29 verpflichtet weiß, sondern einer Strategie der Benutzung und Bekämpfung des Vorgängers, deren Lektüre- und Interpretationspraxis, wie Nietzsche selbst vermerkt, „fast bei allen

24 O.C. III, S. 105; vgl. Jean Starobinski, Le Remde dans le mal. Critique et lgitimit de l’artifice  l’ge des Lumires, Paris: Gallimard 1989; und früher schon: Alexis Philonenko, Jean-Jacques Rousseau et la pense du malheur, Paris: Vrin 1984 (3 vol.). 25 O.C. III, S. 142 und S. 162. 26 Daß die Sprachauffassung des theoretischen wie autobiographischen Autors von dieser Denkfigur imprägniert ist, habe ich zu zeigen versucht in Ce triste Systme. Anthropologischer Entwurf und poetische Suche in Rousseaus autobiographischen Schriften, Tübingen: Narr 2004. 27 Vgl. Amélie Oksenberg Rorty, „Rousseau’s Therapeutic Experiments“, in: Philosophy. The Journal of the Royal Institute of Philosophy 66/258 (1991), Cambridge University Press. 28 O.C. III, 288. „Bemühen wir uns aus dem Übel selbst das Heilmittel zu ziehen. Laßt uns nach Möglichkeit durch neue Vereinigungen die Mängel der allgemeinen Vereinigung berichtigen. Unser Gesprächspartner möge selbst über den Erfolg urteilen. Wir wollen ihm in der vervollkommneten Kunst die Beseitigung der Übel zeigen, welche die einmal begonnene Kunst der Natur zufügte.“ (Übersetzung: T.K.) 29 KSA 2, S. 25.

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Philosophen […] nicht streng, und ungerecht“ ist.30 Der Nutzen einer radikal unphilologischen Aneignung liegt in diesem Fall auf der Hand: die mögliche Selbstinszenierung als Anti-Typus mit dem utopischen Kampfziel einer „entgöttlichten, […] neu gefundenen und neu erlösten, […] uns vernatürlichenden“ Natur.31 Unter dem einschlägigen Titel „Fortschritt in meinem Sinne“ heißt es im prägnantesten Anti-Rousseau-Aphorismus der Gçtzendmmerung: „Auch ich rede von ,Rückkehr zur Natur‘, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf […]“.32 Der Preis dieser antipodischen Selbstinszenierung ist beträchtlich: Nicht nur, daß Affinitäten der augenscheinlichsten und persönlichsten Art ausgeblendet bleiben – ich erinnere nur an die Selbststilisierungen als „Promeneur solitaire“ und die Einsamkeit des „Wanderers“. Es sind Affinitäten der tieferliegenden Art, die Nietzsches „kriegerische“ Hermeneutik übersehen muß, so daß es in der gründlichsten Studie zu diesem Thema heißt, Nietzsche schaffe sich wieder und wieder in Rousseau einen Feind, wo er ihn als Alliierten sehen sollte.33 Ich hebe drei gemeinsame Schnittmengen summarisch hervor: 1.) Frappierend ist die Familienähnlichkeit in den Zeitdiagnosen, wenn man Rousseaus Discours sur les sciences et les arts und Nietzsches Unzeitgemße Betrachtungen gegenliest; denn beide artikulieren aggressiv das ,Unbehagen in der Kultur‘, bekämpfen den „ökonomischen Optimismus“ und stellen den lebensförderlichen Wert vermeintlich höchster Zivilisationsstufen in Frage; Rousseau unter anderem, indem er seine Zeitgenossen als „glückliche Sklaven“34 tituliert, denen Künste und Bildung bloßes Dekor des modernen Lebens seien und deren verweichlichte urbane Sitten nichts als Pseudo-Tugenden und Konformitätszwänge. 2.) Beide nutzen für Zwecke der Diagnose und Demaskierung vorherrschender

30 KSA 8, S. 41. Vgl. Martin Stingelin, „Kriegerische und kämpferische Lektüre. Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und Gilles Deleuze“, in: Neue Rundschau 1/2000, S. 77 – 81. 31 KSA 3, S. 469; KSA 5, S. 169; KSA 12, S. 182 – 184; KSA 1, S. 96. 32 KSA 6, S. 150; vgl. KSA 6, S. 151, die Formulierungen über Goethe. 33 Keith Ansell-Pearson, Nietzsche contra Rousseau. A study of Nietzsche’s moral and political thought, Cambridge UP 1991/1996, S. 31. 34 O.C. III, S. 7.

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Wertschätzungen das Verfahren subversiver Genealogien.35 3.) Beide proklamieren die Notwendigkeit einer Transformation der menschlichen Natur, allerdings, wie schon Karl Löwith festgestellt hat, mit differierenden Methoden und Zielsetzungen. Denn Rousseaus Horizont ist keineswegs eine zurückzuerobernde „natürliche Güte“, und auch nicht, wie andere aus Analogiezwang gemeint haben, eine neue „Unschuld des Werdens“.36

4. Ich komme zum zentralen Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft, das wiederum einer radikalen Reduktion entspringt, diesmal jedoch nicht eine rousseauistische Parole zum Vorwand nimmt, sondern ein Kernstück von Rousseaus Moralphilosophie betrifft. Nochmals will ich den Passus aus der Gçtzendmmerung bemühen, wo es heißt: „Ich hasse Rousseau noch in der Revolution […]: was ich hasse, ist ihre Rousseau’sche Moralität – die sogenannten ,Wahrheiten‘ der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! … Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist … Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.‘“37 Es ist schon hinreichend geschrieben worden über französische Rezeptionsmuster der Revolution im 19. Jahrhundert, die Nietzsches Reduktion beeinflußt haben,38 über seine anti-Kantische Auslegung des poli-

35 Ich verwende den Ausdruck im Sinne von Judith Shklar, Political Thought and Political Thinkers, Chicago UP 1998, S. 132 – 160. 36 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 1995 (Orig. 1941); Keith Ansell-Pearson (Anm. 33), S. 10. 37 KSA 6, S. 150. 38 Zur alten Frage von Rousseaus Einfluß auf die Französische Revolution sind einschlägig: François Furet, Jean-Jacques Rousseau und die Franzçsische Revolution. Jan Patocka-Gedchtnisvorlesung des IWM 1994, Wien: Passagen 1994; François Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire de la Rvolution franÅaise, Paris: Flammarion 1994; Jean Starobinski, „Rousseaus Einfluss auf die Französische Revolution“, in: Sinn und Form 3/2003, S. 379 – 394.

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tischen Ereignisses als eines verführerischen, „überredenden“ Textes39 sowie über seine Subsumtion der Ideen von 1789 als fatale Episode in der christlich-abendländischen Geschichte der Moral des Ressentiments. All dies kann ich hier beiseite lassen, um eine Überlegung vorzubringen, die sich ergibt, wenn man einmal, wie Nietzsches Text das will, die Gerechtigkeitsauffassung als den entscheidenden Grund für die Kontraposition annimmt.40 Was wir auf diesem Weg gewinnen, ist, wenn unsere Überlegung zu überzeugen vermag, eine weitere Einsicht in Voraussetzungen von Nietzsches berüchtigtem Anti-Egalitarismus41. Rousseau gerät also in der Gçtzendmmerung nochmals zum „höheren“, wenngleich mißliebigen „Exemplar“, weil er die säkulare Quelle einer nach wie vor geschichtsmächtigen egalitären Gerechtigkeitsauffassung sei. Nun kennen wir Nietzsches Destruktionsarbeit an der Gleichheitsidee als dem Proprium einer „Heerdenmoral“; im Zarathustra ist es die Lehre der versteckt rachsüchtigen Taranteln.42 Und wir kennen auch die sehr divergenten Varianten seiner Genealogien der Gerechtigkeit: einmal (i) als profitable Erfindung der „Schlechtweggekommenen“43 ; in diesem Sinn höhnt er über Rousseau, nachdem er ihm alle sklavenhaften Fehler und Laster attestiert hat: „Der will Gerechtigkeit lehren!“44. Ein andermal (ii) will die Erzählung vom „Ursprung der Gerechtigkeit“ bei Nietzsche plausibilisieren, daß gerechte Handlungen vergessenen, ursprünglich egoistischen Zwecken gehorchen und Tauschcharakter unter Gleichmächtigen hatten.45 Und noch ein andermal (iii) entsteht Gerechtigkeit, wo eine „stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere […] nach Mitteln sucht, unter 39 KSA 5, S. 56; dazu Urs Marti, „Nietzsches Kritik der Französischen Revolution“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 312 – 326. 40 Ich nehme die Frage auf von Philippa Foot, „Nietzsche’s Immoralism“, in: Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, Berkeley, Los Angeles, London, University of California Press 1994, S. 3 – 14; Keith Ansell-Pearson berührt die Frage auch wiederholt (Anm. 33, S. 226 und S. 229), sein systematisches Interesse gilt aber der Frage der Geschichtlichkeit. 41 Zuletzt Ernst Tugendhat, „Macht und Anti-Egalitarismus bei Nietzsche“, in: ders., Aufstze 1992 – 2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 225 – 261. 42 KSA 4, S. 128. 43 KSA 5, S. 280 – 283; KSA 5, S. 369. 44 KSA 11, S. 48; vgl. KSA 12, S. 421, und KSA 2, S. 349. 45 KSA 2, S. 89, und KSA 5, S. 306; dazu Volker Gerhardt, „,Das Princip des Gleichgewichts‘. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche“, in: ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart: Reclam 1988, S. 98 – 132.

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diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiments ein Ende zu machen.“46 Doch in eben diesen Passagen über den „Ursprung der Gerechtigkeit“ schließt Nietzsche den „anfänglichen Charakter“47 mit einem normativen Anspruch kurz, und die „Art des Werdens“ wird nicht mehr nur als Erklärung für die Entstehung von Gerechtigkeitskonzeptionen verwendet, sondern sie wird unvermittelt zur Grundlage für eine definitorische und axiologische Normierung, kurzum: zur Grundlage für eine Wertfestlegung. „Gerechtigkeit ist also …“ und „Rechtszustände […] dürfen“ nichts anderes sein als das, was sie, gemäß der genealogischen Spekulation, ursprünglich und anfänglich waren. Hier liegen flagrante Fälle von genetischen und naturalistischen Fehlschlüssen vor.48 Die, wie angedeutet, sehr differierenden Gerechtigkeitsgenealogien, um deren Verträglichkeit sich Nietzsche im übrigen nicht kümmert, erlauben dann auch entsprechend differierende Wertsetzungen: Wurde der Tausch-Charakter als „anfänglich“ akzentuiert, wie im Abschnitt „zur Geschichte der moralischen Empfindungen“ im ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches, so wird als Wesenszug der Gerechtigkeit der Tausch gefolgert, unter Voraussetzung ungefährer Machtgleichheit und bei Dominanz des Motivs kluger Selbsterhaltung.49 Wird, wie dann in der Dühring-Polemik der Genealogie der Moral, akzentuiert, daß Gerechtigkeit immer schon die Praxis einer „stärkeren Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere“ sei,50 so wird gefolgert, daß der „Geist der Gerechtigkeit“51 die Stärkeren, Muthigeren, Vornehmeren beflügle, deren Motiv selbstredend riskante Selbststeigerung ist und deren „Gesammtzweck“ der Schaffung „grösserer MachtEinheiten“52 eine Domestikation des Ressentiments voraussetze.53 46 KSA 5, S. 311 f. 47 KSA 2, S. 89. 48 Jean-Claude Wolf formuliert höflicher in „Exposition von These und Gegenthese: Die bisherige ,englische‘ und Nietzsches Genealogie der Moral“, einem Beitrag zum kooperativen Kommentar zur Genealogie der Moral, hrsg. von Otfried Höffe, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 44. 49 Volker Gerhardt (Anm. 45) hat mit viel Wohlwollen versucht, hier soziologische Intuitionen zu attestieren; diese reichen allerdings nicht heran an diejenigen von Thukydides, Hobbes oder Hume. 50 KSA 5, S. 311. 51 KSA 5, S. 310. 52 KSA 5, S. 311. 53 Diese Variante (iii) von Nietzsches Gerechtigkeitsgenealogien liegt offenkundig konträr zur derjenigen (i), die den Ursprung der Gerechtigkeit ins Ressentiment verlegt, wie Dühring.

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Dieser Passus der Genealogie (gegen E. Dühring) stellt, worauf wir am Ende unserer Überlegung nochmals zurückkommen wollen, eine in Nietzsches Werk singuläre, weil relative Wertschätzung des Werts der Gerechtigkeit dar, denn sie scheint nun nicht mehr nur zu den unglaubwürdigen, morschen alten Idealen zu zählen,54 sondern zumindest affirmativer Bestandteil eines „moralischen Interregnums“55 oder gar „neuer Ideale“ (ebd.) zu sein. Zunächst sollten wir allerdings Abstand nehmen und zu einer Gegenfrage ausholen: Natürlich kann man mit guten Gründen über nichtegalitaristische Gerechtigkeitsauffassungen debattieren.56 Doch: Gleichheit als „Gift der Gerechtigkeit“57 (Herv. T.K.), wie es im AntiRousseau-Abschnitt der Gçtzendmmerung heißt? Oder unverfänglicher, sachlicher gefragt: Warum sollten wir, wenn es denn um eine Geltungsprüfung geht, die Gerechtigkeit reduzieren auf die von Nietzsche gewollte aristotelische Formel eines Typs der partikularen Gerechtigkeit, wo das Prinzip geometrischer Proportionalität gelten soll, dem zufolge die Güter gemäß der Würdigkeit bzw. den Verdiensten bzw. dem Machtwillen der Adressaten zu verteilen sind? Bei Nietzsche finden wir keine weitere Begründung dafür.58 Erinnern wir uns hingegen an Rousseaus Position zu diesem Punkt. Rousseau erzählt im zweiten Akademiediskurs eine erklärende Geschichte vom Ursprung moralisch-rechtlicher Ungleichheit, und zwar, um diese als nicht-natürliche, bloß faktisch-kontingente darzustellen und die „anfängliche“ Gerechtigkeitskonzeption als Täuschungsmanöver der Klugen und Reichen zu dekonstruieren – also eine Genealogie analog zu Nietzsches dritter Variante, aber in inverser, nicht-affirmativer Intention.59 Richtig ist, daß Rousseau nicht zuletzt die eigene Lebensgeschichte und den Erziehungsroman benutzt, um die Genese eines ungeteilten und legitimen Gerechtigkeitsverständnisses aus der genuinen 54 KSA 3, S. 16. 55 KSA 3, S. 274. 56 Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 57 KSA 6, S. 150. 58 … außer der quasi-naturalistischen, die sich auf zwei Annahmen stützt: 1. auf die spekulative Generalhypothese vom „Willen zur Macht“, wobei der Zentralbegriff Macht notorisch vage verwendet wird; und 2. auf das Axiom der Kluft der Klasse der Hohen und der Klasse der Niedrigen; ebenso Ernst Tugendhat (Anm. 41) S. 236 – 238 und S. 242 – 246. 59 O.C. III, S. 163.

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Erfahrung von Ungerechtigkeit zu schildern. Doch warum sollten autobiographische Daten nur herabsetzend gewertet werden können, wie Nietzsche das in der Regel tut,60 und nicht umgekehrt beglaubigend, insbesondere, wenn sie, wie in der Darstellung der Rousseauschen Confessions, verzahnt sind mit veritablen soziologischen Deskriptionen und mit generellen Reflexionen darauf, was von politischen Einrichtungen fairerweise zu erwarten wäre? 61 Vor allem: Rousseau argumentiert stets für die Priorität eines institutionalistischen vor einem personalistischen Gerechtigkeitsverständnis, und dafür, daß normative und Legitimitätsansprüche einer gesonderten, starken Rechtfertigung bedürfen. Deshalb wird der „homme naturel“ und seine wie auch immer definierte ursprüngliche Güte nicht zur rechtlich-moralischen Norm erhoben und idealisiert. Im Contrat social wird nicht, wie Nietzsche insinuiert,62 auf Naturrechtsideen rekurriert – „ce prétendu traitté social dicté par la nature est une véritable chimére“63 –, sondern die Akzeptanz einer universellen Gerechtigkeitsaufassung wird geknüpft an wechselseitige Begründbarkeit64 und verlangt die Ersetzung65 instinktiver durch vernünftige kontraktuelle Regulierung. Rousseau preist den glücklichen Augenblick dieser Ersetzung als Selbstüberwindung, ja Selbststeigerung des Menschen66, die allen partizipierenden Individuen im Endeffekt nutze. Möglichkeitsbedingung dieser „Ersetzung“ in der menschlichen Natur ist nochmals das anthropologische Proprium der „perfectibilité“, speziell in der Ausprägung der Institute öffentlicher wie privater Erziehung, die den Gerechtigkeitssinn als Bedürfnis nach dieser „künstlichen“, wie Hume sie nannte, doch deswegen nicht widernatürlichen Tugend entwickeln sollen. Ich möchte schließen mit dem Hinweis darauf, daß wir in der Genealogie der Moral immerhin eine Reflexion über Gerechtigkeit als personale Tugend finden, die vermutlich auch Jean-Jacques’ Gefallen 60 61 62 63 64

Mit einer Ausnahme in KSA 3, S. 276. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971, S. 533. KSA 12, S. 447. O.C. III, S. 284, und O.C. III, S. 378. O.C. III, S. 326; „une justice universelle […] pour être admise doit être réciproque“. 65 O.C. III, S. 364 und S. 367: „substitution“. 66 Die im mehrfachen Sinn kritische Bedeutung dieses Moments hat Wolfgang Kersting hervorgehoben (Anm. 22, S. 66 – 73, bes. S. 69); so auch schon Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 107.

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gefunden hätte, nicht zuletzt wegen eines paradoxen, gänzlich ungrausamen Epithetons: „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende [sic!] Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden.“67 Diese überraschend hohe Wertschätzung der traditionellen Kardinaltugend ist sehr wohl ernst gemeint68 und wird im Kontext keineswegs desavouiert, wenngleich in einer Weise relativiert, die sich von Rousseauschen Intentionen, und nicht nur von diesen, sehr weit entfernt. Zu vernachlässigen ist die Relativierung, daß das Ideal nicht erwartbar sei.69 Ebenso vernachlässigbar ist cum grano salis, daß von einem gerechten Menschen nur die Rede sein kann im Rahmen von Rechtsinstituten, innerhalb derer die „Objektivität des gerechten, des richtenden Auges“ […] „eingeübt“ werden kann (ebd. 310/311). Relevanter sind die Ausführungen, die zeigen sollen, daß der „Geist der Gerechtigkeit“ 1. nicht Produkt des Ressentiments sei und 2. seine „Eroberungen“ – Recht und Gesetz – wiederum nur Mittel zum (Macht-)Zweck seien. Bei der ersten dieser gravierenden Relativierungen wird unter dem autoritativen Titel einer geschichtlichen Perspektive70 nochmals ein „vulgärer historischer Mythos“ ( J. Shklar) variiert, diesmal kurioserweise sind es die „Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven“, die, wohlgemerkt: in Re-Aktion auf „das Wüthen des Ressentiments“, für sich die Etablierung der Instanzen öffentlicher bürgerlicher Gerechtigkeit reklamieren dürfen. Es ist dies die Perspektive und das Reflexionsniveau von Rousseaus Discours sur l’origine et les fondemens de l’ingalit parmi les hommes. Die zweite gravierende Relativierung soll die Geltung von „Rechtszuständen“ betreffen, die in der Perspektive einer problematischen, weil allzu eindeutig konnotierten, 67 KSA 5, S. 310 f. 68 Ebenso Otfried Höffe (Anm. 48) S. 67; anders Jean-Christophe Merle (Anm. 48) S. 109. 69 KSA 5, S. 311: „[…] Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten […] soll.“ Es heißt im selben Nachsatz im übrigen nicht, daß man schon deshalb nicht daran glauben solle, sondern nur, daß man dies „jedenfalls nicht gar zu leicht“ soll. 70 KSA 5, S. 311: „Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um […]. Historisch betrachtet …“

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doch nicht umfassend genug konzipierten Idee des Lebens wiederum „nur Ausnahme-Zustände“ und „Mittel im Kampf von Macht-Complexen“ seien.71 Es ist vermutlich nicht „souvern und allgemein gedacht“, wie es zum Abschluß von Nietzsches gewichtigstem GerechtigkeitsAphorismus heißt, wenn die Sphären der Moral, des Rechts und der Politik zusammenschnurren zu Funktionen eines vermeintlich72 „höchsten biologischen Standpunkte[s]“; von diesem ist nicht zu sehen, inwiefern er sich unterschiede vom sogenannten Recht des Stärkeren, einem Begriff, der nie besser persifliert wurde als in Rousseaus Contrat social. 73 Eine dritte Relativierung, die der nur im Mittelstück von Nietzsches Passus wehende „Geist der Gerechtigkeit“ erfährt, besteht darin, daß dieser dem „Geist des Ressentiments“ frontal gegenübergestellt wird, auf der Objektebene (definiendum) wie auf der Erklärungsebene (definiens). In der Absicht, sich gegenüber der RacheGenealogie Dühringschen Typs zu profilieren, der er bekanntlich nicht wenig verdankt, schießt Nietzsche übers Ziel hinaus, indem er diesem Erklärungstyp attestiert, selbst vom Ressentiment infiziert zu sein, und er schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem er reaktiven Gefühlen (z. B. des Verletzt-seins) jeglichen Anteil am „Ursprung der Gerechtigkeit“ abspricht.74 Es ist aber schlicht so, daß der Sinn für Ungerechtigkeit einen gewissen Vorrang beanspruchen kann und ein allgemeines Merkmal unseres Menschseins ist (nicht nur der Klasse der „Schlechtweggekommenen“), welches, sofern erzieherisch kultiviert, zu einer mitfühlenden Antwort auf die Kränkungen anderer werden kann, eine Anerkennung der Rechte anderer grundlegt und vielleicht die beste Begründung für unseren Anspruch auf Würde75 bietet (Würde 71 KSA 5, S. 311. 72 Hier wäre zu wiederholen, was zur Diffusität und Definitionsschwierigkeit von Nietzsches Macht-Begriff festgestellt worden ist; vgl. zuletzt Ernst Tugendhat (Anm. 41). 73 O.C. III, S. 354. 74 Robert C. Solomon hat dem überzeugend widersprochen: Weder lässt sich die Motivationsstruktur von Moral auf Ressentiment-Gefühle reduzieren, noch sind solche nur negativ zu beurteilen. Vgl. „One Hundred Years of Resentment. Nietzsche’s Genealogy of Morals“, in: Richard Schacht (Anm. 40). 75 Judith Shklar, ber Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefhl, Berlin: Rotbuch 1992, S. 147 (orig. Faces of Injustice, New Haven/London 1990), in anderem Zusammenhang ähnlich Martha Nussbaum, „Mitleid und Gnade. Nietzsches Stoizismus“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 5/1993, S. 831 – 858.

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jedes einzelnen, nicht nur einer Klasse von Edlen).76 Dieser Aspekt des Egalitarismus ist eine genuin Rousseausche Entdeckung und eine, von der zuallerletzt, woran allerdings wenig liegt, auch die Raubvögel unter den Moralphilosophen profitieren, dann nämlich, wenn sie mit „mildblickendem […] richtendem Auge“ gelesen werden.

76 Der Zusammenhang ist kaum je eindrucksvoller dargestellt worden als im Emile O.C. IV, S. 331 ff. – Ein Exemplar des Emile soll sich in Nietzsches Bibliothek befunden haben; diesen Hinweis danke ich Thomas H. Brobjer. In Nietzsches Werken finden wir, wie bemerkt, keine Spur einer Auseinandersetzung.

Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah* Renate Reschke „Mag ich denn die Franzosen?“ (Nietzsche an Resa von Schirnhofer, 11. 3. 1885) „… ich gelte als Bewunderer der Franzosen.“ (Nietzsche an Erwin Rohde, Silvester 1873/74)

I Friedrich Nietzsche hat seine unbedingte Sympathie für Frankreich und die französische Kultur, für alles Französische schlechthin früh formuliert und zeit seines Lebens beibehalten. Gegenüber Sophie Ritschl, der Frau seines Leipziger Professors und Mentors, macht er bereits 1868 geltend: „[…] ich habe leider Neigung für das pariser Feuilleton, für Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen Rinderbraten“ (Brief vom 2. 7. 1868, KSB 2, S. 299). Pläne nach Paris zu gehen, treiben ihn jahrelang um, zunächst unmittelbar nach dem Studium will er mit Erwin Rohde, einige Jahre später mit Paul Rée und Lou Salomé in die französische Hauptstadt gehen, um dort zu studieren und zu leben. Ihm liegt an der möglichst schnellen französischen Übersetzung seiner eigenen Schriften,1 und er liest vorwiegend französische Zeitschriften: „[I]ch selbst lese, mit Verlaub, nur das Journal de Dbats“, so verteidigt er sich gegen das Ansinnen, die Nationalzeitung zu 1

* Überarbeitete vollständige Fassung eines Vortrages auf der internationalen Tagung der Nietzsche-Gesellschaft „Nietzsche und Frankreich. Nietzsche in Frankreich“ vom 23. bis 27. 8. 2006 in Naumburg/Saale. „Es wäre mir von unschätzbarem Werthe, wenn dasselbe [gemeint ist die Gçtzendmmerung – R. R.] franzçsisch gelesen werden könnte“ (Brief an Hippolyte Taine vom 8. 12. 1888, KSB 8, S. 511).

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lesen (EH, KSA 6, S. 301). Wie kaum ein anderer in Deutschland zu dieser Zeit ist er mit der zeitgenössischen Literatur und Kultur in Frankreich vertraut, erkennt er ihre zwiespältige, aber gerade dadurch uneingeschränkte Modernität. Er fühlt sich mehr als geschmeichelt, als Franzose angesehen zu werden und gibt zu, selbst französisch zu denken: „[M]an sagt mir, ich müsse ein geborner Pariser sein: – noch nie habe ein Ausländer so französisch gedacht“, wie er im Fall Wagner, teilt er stolz Franz Overbeck in einem Brief vom 17. 12. 1888 mit (KSB 8, S. 531). Die Gründe dafür, so verschieden sie im einzelnen sein mochten, waren ins große gerechnet immer die gleichen: Es waren die epidemischen „Anfälle von Verdummung“ bei den Deutschen, die sich stets ,anti‘ gaben, mal antijüdisch, mal antipolnisch, vor allem aber antifranzösisch (KSA, JGB, Aph. 251, Bd. 5, S. 192). Darin zeigt sich für Nietzsche der sprichwörtliche ,Geist der Schwere‘, der moralinsaure Ernst der deutschen Philosophie, die bornierte und leblose Enge eines auf die vermeintliche germanische Vergangenheit bezogenen Kulturbewußtseins der Deutschen. Daher seine radikale Ablehnung des Nationalitätenwahns und der daraus resultierenden nationalistischen und unerträglichen Deutschtümelei und der deutschen Selbstglorifizierung, daher seine Attacken gegen die folgenreiche Verwechselung von Waffen- und Kulturüberlegenheit nach dem militärischen Sieg über Frankreich 1870/71 in der deutschen Öffentlichkeit,2 daher seine unversöhnliche Kritik an jeglichem preußisch-deutschen Kleingeist, am kulturellen Flachland Deutschland und an der geistlosesten aller Formeln ,Deutschland, Deutschland über alles‘,3 für ihn Indizien dafür, dass den Deutschen der Begriff von Kultur nicht nur verlorengegangen sei: Schlimmer noch, in der Anmaßung ihres bildungsphiliströsen Kulturgehabes liege ein fundamental violentes Potential gegen alle Kultur: „Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur“ (EH, KSA 6, S. 285). 2

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Vom Sieg der deutschen Kultur könne nicht die Rede sein, „weil die französische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher“ und: „Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt giebt es keine deutsche originale Kultur“ (DS, KSA 1, S. 160 und S. 164). „,Deutschland, Deutschland über Alles‘ – ist vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland – frage ich: wenn es nicht Etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Werth hat, als irgend eine andere Macht vertritt! An sich nur ein großer Staat mehr, eine Albernheit mehr in der Welt“ (NF, KSA 11, S. 77).

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In Sachen Kultur kommen für ihn die Deutschen des 19. Jahrhunderts nicht mehr in Betracht. Ein Satz wie ein Fazit, mehrfach wiederholt und ein Grund zu Alternativen. Lange nach einer Alternative zu suchen braucht er nicht. Es bieten sich ihm nur zwei an, die Antike und Frankreich, der griechische und der französische Geist, die Lebendigkeit und Offenheit der antiken und der französischen Kultur. Der Philologe weiß um die griechische Philosophie, um die antike Kunst und um ihren Künstlergeist, der moderne Kulturkritiker kennt die Kunst und die Gedankenwelt (die klassische und die moderne) der Franzosen. Er kennt beide aus erster Hand. Vor dem Hintergrund der deutschen Kulturmisere werden sie für Nietzsche zu Maßstäben, an denen alle zukünftige Kultur sich zu orientieren habe, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, hoffnungslos anachronistisch zu sein. Der Weg in die Moderne führt über Athen und (nach) Paris. Nur an wen die Attribute ,antik‘ oder ,französisch‘, noch besser ,antik‘ und ,französisch‘ zu vergeben waren, der hält Nietzsches kritischem Blick stand und wird aufgenommen in die Phalanx derer, die in der wirklichen Moderne angekommen waren. Was Wunder, daß der Philosoph eine Griechenähnlichkeit der Franzosen zu entdecken glaubt, und diese als ein Kriterium ihrer kulturellen Authentizität und Größe sieht: Die Natur der Franzosen sei der griechischen sehr viel näher, als es die deutsche je war oder sein könnte (vgl. MA I, Aph. 221, KSA 2, S. 182). Und, größtes Lob und größte Identifizierung, die Griechen hätten, so sie ihnen zu Gesicht gekommen wären, die Schriften der Franzosen verstanden: Platon hätte dagegen Mühe gehabt, das „Klapperdürre“ des deutschen Geistes zu verstehen (sogar bei Goethe wäre es ihm schwer gefallen), dem alle Leichtigkeit und Helligkeit abgehe: „Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigen Griechen gutheissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks“ (WS, Aph. 214, KSA 2, S. 647). Heinrich Heine wiederum hätten sie diesbezüglich fast zu den ihren zählen können. Im Pandämonium ihrer großen Geister wäre sein Platz auch weit angemessener gewesen, als im fragwürdigen Pantheon der deutschen Walhalla, wo der unbequeme Dichter mit über einhundertfünfzigjähriger Verspätung 2009 aufgenommen werden soll.4 Nietzsche sähe darin fraglos eine Ehrung, die nur des ironischen Ge4

Walhalla-Neuzugnge: Gauß, Stein, Heine, in: Berliner Zeitung vom 9. 8. 2006.

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lächters wert ist und die die ungebrochene Fortführung einer beschämend verkennenden Kleingeisterei bezeugt. Der Gedanke der Griechen-Franzosen-Amalgamierung ist ein basaler Untergrund für Nietzsches außerordentliche Sympathie für alles Französische. Die Franzosen sind sozusagen die Griechen der Moderne. Sie füllen ihre Kultur ganz aus, bis an die ambivalenten Grenzen einer in sich immer problematischer werdenden Wirklichkeit, an der alle künstlerische und intellektuelle Wirkmächtigkeit nach Nietzsche sich in verkehrenden, in sich zurückrollenden Kapriolen erschöpft. Charles Baudelaire, der Pariser schlechthin, wird ihm dafür das Exemple par excellence. In deutscher Atmosphäre gedeihen nur Ausnahmen, die er, wie sich selbst, als Franzosen sehen kann und sieht. Wer in Deutschland geistigen Rang und (Geistes-)Größe besaß, dem sieht Nietzsche französische Elemente in seine Intellektualität und/oder in sein Künstlertum. Georg Wilhelm Friedrich Hegel habe französischen Esprit besessen wie kaum ein anderer, aber er habe Angst davor gehabt:5 Aus dieser Verquickung sei die den Deutschen erlaubte Form des Esprit geworden, schwer verständlich und zu erkennen erst hinter und unter den Schichten idealistischer Begriffssysteme, die selbst noch Arthur Schopenhauer sprachlos gemacht habe. Gotthold Ephraim Lessing rettet Nietzsche vor der bildungsbesessenen Philisterschaft, indem er ihn zum Franzosen erklärt („der französische Lessing“, DS, KSA 1, S. 216) und durch den Hinweis, er besäße „ächt französische Tugend“, was soviel heißen sollte, er besäße französisches Formbewußtsein (WS, Aph. 103, KSA 2, S. 597). Daß Richard Wagner nach Paris gehöre, zählt für Nietzsche unter die Selbstverständlichkeiten, in denen er durch die Franzosen, vorab durch Baudelaire, bestärkt wird.6 Dessen Modernität buchstabiert sich zu einem guten Teil französisch, so sehr, daß die wagnerische Sensibilität quasi deckungsgleich scheint mit der französischen Kultur. Er gehöre nach Paris, denn in der Pariser Luft habe 5

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„Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als Hegel, – aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig […] jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern gehört“ (M, Aph. 193, KSA 3, S. 166 f.). Vgl. NF, KSA 11, S. 590; Brief an Heinrich Köselitz vom 26. 2. 1888 (KSB 8, S. 263 f.).

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Wagner gelernt, „sich in Szene [zu] setzen“ (Brief an Heinrich Köselitz vom 18. 11. 1888, KSB 8, S. 479), und nur wenige wußten ihn so zu schätzen. Unter denen, die er sich ihres Geschmacks und ihrer Kultur wegen nur als Franzosen denken kann, sind auch Cosima Wagner und Schopenhauer: „Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft“ (EH, KSA 6, S. 285). Weil sie ihren kulturellen Habitus an französischen Vorbildern gebildet haben, sind sie selbst, in deren „charmante[r] Gesellschaft“ (ebd.) zu Vorbildern eines wirklichen Geschmacks geworden, unverdorben durch deutsche Grobheiten, Missverständnisse und Philosophie. Schopenhauer auf Französisch zu lesen, gewöhnt sich Nietzsche darum nach eigener Aussage bald an, weil dessen Gedanken französisch schmecken. Sich selbst will er ebenso eingerecht wissen in diese Reihe der Großen, die eher zu den „Unglücksfälle[n] der deutschwerdenden Kultur“ (NF, KSA 7, S. 504) rechnen als zum mainstream der allgemeinen Mittelmäßigkeit. Daß er viel vom französischen Freigeist habe, davon ist er überzeugt, auch davon, daß er mehr Franzose sei als Deutscher.7 Seine Abneigung gegen alles, was deutsch war („Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber das geht über meine Kräfte“, EH, KSA 6, S. 301) gibt der Selbstdefinition als Franzosen die Legitimation und die Argumente. Es sei „an der höchsten Zeit, daß [er] noch einmal als Franzose zur Welt komme“ (Briefentwurf an Jean Bourdeau vom 17. 12. 1888, KSB 8, S. 535), obgleich er in Paris schon „als das geistreichste Thier, das auf Erden dagewesen ist und, vielleicht, noch als etwas mehr“ gelte (Brief an Andreas Heusler vom 30. 12. 1888, KSB 8, S. 364). Dieser Stilisierung mehr Nachdruck gebend, avancieren ihm die möglichen Übersetzer und Herausgeber in Frankreich zu ,wahren Genies‘ und zu den „einflußreichsten und intelligentesten Männer[n] Frankreichs“ (ebd.). So interpretiert er sich die Reaktionen aus Paris auf seine Bücher als Anerkennung seines geistigen Platzes im Reigen der französischen Geistesaristokratie.8 Nur nicht deutsch sein: Er begründete seine Sympathie für Frankreich mit der ausdrücklichen Kriegserklärung an die Deutschen. Es ist ihm eine Frage der Perspektive und der geistigen Reputation und Existenz, des intellektuellen Ekels an 7 8

In Anspielung auf seine angeblich polnische Herkunft heißt es: „Man nennt nicht zufällig die Polen die Franzosen unter den Slaven“ (EH, KSA 6, S. 301). Die Auflagenhöhe seines ins Französische übersetzten Ecce homo sollte Emile Zolas Nana „überwinden“ (Brief an Franz Overbeck vom 22. 12. 1888, KSB 8, S. 548).

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der deutschen Kulturmisere und der Enthüllung, sich mit allen Namen der Geschichte identifizieren zu können.9 Warum also nicht auch eine der Masken der Identität in den Farben Frankreichs? So erfindet er sich als Franzosen und umgibt sich mit einer ganzen Geisterrepublik der besonderen Art, er versetzt sie in ein imaginäres Paris, um sie dem Bann der opportunistischen Bequemlichkeit des Geistes und der bornierten Realität zu entziehen, um mit und an ihnen das begehrte Kapital einer zukunftstragenden Alternative des(r) Geistes(r) und Kultur(en) imaginieren zu können. Wagner hat er diesbezüglich als „Ausland“ (EH, KSA 6, S. 288) bezeichnet und verehrt. Heine gesteht er das gleiche Wort und Recht zu.

II „Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der Heines Andenken in Frankreich behandelt wird“, schreibt Nietzsche im Sommer 1888 empört an Ferdinand Avenarius (Briefentwurf vom 20. 7. 1888, KSB 8, S. 360). Vor dem Hintergrund einer sich zunehmend deutsch-national und antisemitisch gefährlich-dümmlichen Zuspitzung der pseudo-literarischen Attacken gegen Heine und seine Ablehnung als deutschen Dichter, in die sogar die renommierte Zeitschrift Kunstwart verwickelt ist, protestiert Nietzsche mit erwarteter Schärfe. Dem Herausgeber Avenarius teilt er nicht nur die Aufkündigung des Abonnements mit, er wirft ihm vor allem vor, in „schnödeste[r] Weise Heinrich Heine preisgegeben“ zu haben (Brief an Franz Overbeck vom 20. 7. 1888, ebd., S. 362).10 Die eigene Sympathie für den immer stärker ausgegrenzten Dichter formuliert Nietzsche unverhohlen, mit dem ihm eigenen Nachdruck und mit messerscharfer Unnachsichtigkeit gegen dessen kleingeistige Kritikaster oder verblendete Ideologen. Mit Argumenten, die ihn zum Bruder des Verfemten in Geist und Ton erklären. Er sieht sich ihm verwandt in der Radikalität der Ablehnung der kulturellen Selbstgefälligkeit der Deutschen, ihrer vaterländischen Eng9 „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin“ (Brief an Jacob Burckhardt vom 6. 1. 1889, KSB 8, S. 578). 10 Dazu: Renate Müller-Buck, „Heine oder Goethe? Zu Friedrich Nietzsches Auseinandersetzung mit er antisemitischen Literaturkritik des Kunstwart“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung, 15 (1986), S. 265 – 288.

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stirnigkeit und Philisterkultur, dem ästhetischen Mittelmaß und darin, die Krähwinkeleien der Deutschen spöttisch bloßgestellt und ihnen keinerlei Pardon gegeben zu haben. Die Leidenschaft und die Wut, der wilde Übermut, die Ironie und die schmerzliche Leichtigkeit, mit der Heine dies poetisch in Szene gesetzt hat, darin spürt Nietzsche die Seelennähe. Jene „göttliche Bosheit“ (EH, KSA 6, S. 286) ist es, die für Nietzsche die künstlerisch-poetische Vollkommenheit bedeutet und die er an Heine entdeckt. Dessen Scharfblick und die scharfe Zunge, die sich bei ihm mit einer unvergleichlichen Sprachartistik verbindet und artikuliert, die Narrenkappe, die Maske ist und Distanz ermöglicht und doch nicht unverletzbar macht, sowie der abgrundtiefe Schmerz und die Melancholie, die Heine, um nicht an ihr zugrunde zu gehen, ironisch zu brechen wußte, sind die Momente für Nietzsche, die sein HeineBild bestimmen.11 Und die ihn, weit über die Tatsache seines ExilantenDaseins in Paris hinaus, in seinen Augen zu einem Franzosen prädestinieren: „l’ adorable Heine sagt man in Paris“ (NW, KSA 6, S. 427). Das sagt (fast) alles. Heine ist für Nietzsche ein Mann, ein Dichter der Moderne par excellence. Er gehört nach Frankreich, nach Paris wie sonst nur noch Wagner und Jacques Offenbach. Er verkörpert aus seiner Sicht alles, was an französischer Kultur zu bewundern und zu kritisieren ist, was diese zur Moderne zusammenschließt und in dem deutschen Dichter Gestalt geworden ist: Esprit, Modernité und Décadence, drei Stichworte, mit und in denen sich das buchstabieren läßt, was Nietzsches Moderne ausmacht. Was den Deutschen im tiefsten Grunde abging. Mit Esprit will er die Deutschen rasend machen;12 er weiß um deren BiedermannSchwerfälligkeit in allen Sachen des Geistes. Heine hat diesen Esprit besessen, die wundervolle Fähigkeit, geistreich im Sinne des Wortes zu sein, die Meisterschaft, beschwingt geistvoll zu fabulieren und Streiche und Bosheiten auszuteilen, lächelnd, mit einer Nonchalance und Hintergründigkeit, die nur dem französischen Lebensstil des 19. Jahrhunderts entwachsen konnte. Dieser Esprit war eine Art „Rococo des Geistes“ (NF, KSA 11, S. 21). An Heine beobachtet er eine „genüssliche Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen“ ( JGB, KSA 5, S. 141) und eine 11 Dazu Renate Reschke, „,.. .jene göttliche Bosheit.‘ Heinrich Heine aus der Sicht Friedrich Nietzsches. Zum 150. Todestag des Dichters“, in: HUMBOLDT-SPEKTRUM, Heft 2 (2006), S. 34 – 39. 12 „Wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen“ (Brief an Carl Fuchs vom 27. 12. 1888, KSB 8, S. 554).

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„anmuthige Beweglichkeit“ (NF, KSA 9, S. 409) des Geistes und der Sinne, eine gleiche scheinbare Sorglosigkeit in der Verführung zu ambivalenter Schönheit und Raffinesse des Geschmacks, eine Begehrlichkeit nach immer neuen Vergnügungen, in denen sich Schauder und Sinnlichkeit, Genuss und Grauen, Rausch und Ernüchterung, Leidenschaft und Reflexion in einem kulturellen Ambiente zu einem eigentümlichen Erlebniskonglomerat verbinden, das genau die Modernité gebar, in der auch Nietzsche das große Experimentierfeld seiner eigenen Kulturkritik und Ästhetik ansiedelt. Heine wird ihm wie Wagner und die Pariser Literaten zu einem Prototyp und Promotor dieser illustren und zugleich paradigmatischen Kultur- und Kunstszene. Er sei den „feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen“ ( JGB, Aph. 254, KSA 5, S. 198).13 Der „Cultus Heinrich Heines“ lebe allein in Paris (NF, KSA 11, S. 601). Die Grenzlinien verwischen sich: Der Exilant wird zum Vorbild für die Franzosen. Heine hat für Nietzsche viel von den Romantizismen französischer und deutscher Coleur. Als „Farcour“ und Gegenspieler zum „Factor“ Hegel mit seinem unausstehlichen Grau in Grau, habe er „ein „electrisches Farbenspiel“ inszeniert, das mit seinem grellen Licht die Augen angreife (NF, KSA 8, S. 281), habe er alle Einfälle und Bilder einzig dazu entworfen, um sie im nächsten Augenblick durcheinander zu wirbeln und zu zerstören. Es ist Heine, der ihm den „höchsten Begriff vom Lyriker“ gibt, weil die Musikalität seiner Sprache eine Meisterschaft besitzt, die von keinem anderen erreicht ist: „Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik“ (EH, KSA 6, S. 286). Mit dem Furor seiner sprachlichen Destruktionskraft habe er, wie in einem facettenreichen Kaleidoskop alle seine Beobachtungen festgehalten und manchmal subtil, manchmal grell Bildsequenzen werden lassen, um sie so im spielerischen Übermut sich auflösend, zunichte zu machen. Er ist für ihn ein Sprachartist ohne Beispiel, ein brillanter Virtuose aller Stilarten.14 Mit großer Neugierde und Erfindungsgabe, wesentlich aber mit

13 „Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und Baudelaires Einfluß“ (NF, KSA 11, S. 600 f.). 14 „Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine Worte passen nicht zu einander, er beherrscht als Virtuose aber alle Stilarten , um sie nun durcheinander zu werfen“ (NF, KSA 7, S. 595).

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dem feinen Gespür für die Wollust alles Zwiespältigen,15 das den französischen Geist auszeichnet. Der „âme moderne“ ( JGB, Aph. 254, KSA 5, S. 198), d. h. der modernen Seele anheim gefallen zu sein, heißt in Nietzsches Augen, ein Teil der „raffinirtesten Cultur Europa’s“ zu sein. Und die hatte ihren Sitz in Frankreich (ebd.). Ihre hohe Schule des Geschmacks trennte sie von den vergröbernden Tendenzen, dem „lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois“ (ebd.), den Pöbel-Instinkten und den Skandal-Eitelkeiten, dem „Principien-Lärm[]“, der Unpersönlichkeit und dem Anbeten des momentanen Erfolgs.16 Das Frankreich des großen Pessimismus war es, die Versammlung der Verdüsterten, Kranken, Verkünstelten, die Vertreter der artistischen und artifiziellen Passion waren es, die verspäteten Romantiker und die Fatalisten, die Virtuosen des Ambivalenten, in denen sich der Zeitgeist der Modernité seine prägnantesten Darsteller und Protagonisten erfand. Heines Hang zum Schalk gegen sich selbst (vgl. NF, KSA 7, S. 659), der Schwebezustand zwischen Ernst und Ironie, die Sprünge der Logik in das Terrain ihres Gegenteils verbanden ihn nicht nur dem französischen Esprit („In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit“, FW, Aph. 82, KSA 3, S. 438), sondern waren ebenso sehr ein Moment des Dekadenten dieser Kultur und der Tiefe ihrer Selbsterkenntnis, der Einsicht in die unwiderrufliche Morbidität und ihrer artistischen Lust daran. – Die Leichtigkeit des Artistischen ist es, die Nietzsche an Heine fasziniert. Es war eine Leichtigkeit der Tiefe, eine, die in die Tiefe ging und zum französischen Kulturhabitus gehört.17 Dazu war die Maske, war Maskerade nötig, die sich distanziert gab, um nicht dem Sentiment ausgeliefert zu sein. Das In-Sich-Gebrochene, das (schau-)spielerische Raffinement der Selbstinszenierung(en), das extrem Artifizielle des Ich- und Weltbezuges, gehörte dabei ebenso zur Meisterschaft, wie der Reiz des Skan15 Egon Friedell hat Heine eine zwiespältige Natur genannt und den „erste[n] Gestalter“ der Ambivalenz: „Tragik und Komik, Sentimentalität und Ironie verhalten sich bei ihm nicht wie die beiden Hälften, sondern wie die Vorderund Rückseite derselben Sache“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 1100). 16 Vgl. NF, KSA 11, S. 62 f. 17 „Die Franzosen tief artistisch – das Durchdenken ihrer Cultur, die Consequenz im Durchführen des schönen Anscheines – spricht gar nicht gegen ihre Tiefe – – “ (NF, KSA 11, S. 215).

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dalösen, der Tabubrüche und der Katzenjammer über die eigene Fatalität und Ungewißheit über das Heute und Mehr noch über das Morgen. – Es war die Délicatesse des Artistischen, die der Dcadence ihre Konturen einschrieb. Die Leidenschaft in Fragen der Form wurde nirgends so existenziell ausgelebt wie unter französischem Vorzeichen. Die Sicherheit in Formangelegenheiten, das ästhetische Noblesse oblige, das die französische Künstlerszene beherrschte, übte eine Sogwirkung aus, die unheilbar krank machte, an der diese „Fanatiker des Ausdrucks, Virtuosen durch und durch“ (EH, KSA 6, S. 289) alle Lebens- und Kunstkraft verausgabten und wußten, dass sie daran zugrunde gegen würden. Sie hatten die Sinne, d. h. die Finger entwickelt für die Nuancen dieser gefährlichen Passionen, für die laszive Morbidität des Augenblicks, der genossen sein wollte. Eine ungeheure Gier nach Leben und zugleich das Bedürfnis seiner Verneinung gingen eine ästhetische Symbiose bis dato ohnegleichen ein, die sich in dekadenter Poesie artikulierte. Nicht zufällig entdeckt Nietzsche eine nicht zu unterschätzende Verwandtschaft zwischen Heine und Baudelaire, erkennt er ihrer beider Größe in der Souveränität ihrer Poesie, dieser Ambivalenz Bild und (Sprach-)Ton zu geben und sieht er darin den Ausdruck ihrer unumstößlichen Modernité. Was immer Heine zunächst an die deutsche Romantik gebunden hat, Nietzsche goutiert seine Nähe zum Weltgefühl des Schmerzes, der Todes-Sehnsucht und seine kränkelnde Melancholie unter der Optik der ironischen Verwerfungen, der ästhetischen Sprachhöhe, der feinen Psychologie des Literaten, dessen Domäne die scharfsichtige und scharfsinnige Kritik aller Formen der Dcadence war, mit der er in die Nähe der französischen Romantik kam und diese ihrerseits als synonym mit Modernit und Dcadence galt.18 Das dekadente Moment des Romantischen und/oder die Romantik der dekadenten Kultur, diese Ambivalenzen waren in Frankreich zu Hause, besaßen in Paris ihr Domizil. Hier waren sie zu beobachten, hier waren sie zu leben. Heine war ein Teil von ihnen. In ihm, in seiner Poesie wurden sie Sprache, nach Nietzsche die göttlichste und boshafteste und leidenschaftlichste Sprache, die ihm begegnet ist, mit jener Süße und Musikalität, der er 18 Baudelaire hatte im Salon 1846 verkündet: „Wer Romantik sagt, meint moderne Kunst“, und 1856: „Romantik ist eine himmlische oder höllische Gnade, der wir ewige Wundmale verdanken“ (zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische Texte von Baudelaire bis Mallarm, herausgegeben von Manfred Starke, Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1980, S. 17).

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sich tief verwandt fühlt. Das laszive Moment einer grundlegenden kulturellen Schwäche ist in die Mentalität des modernen Großstadtmenschen eingelassen und hat ihn zum Kristallisationspunkt des dekadenten Lebens gemacht: „[…] immer größere Schwäche der Menschen, Die Ereignisse als Excitantien. Der Pariser als das europäische Extrem“ (NF, KSA 10, S. 659). Die Modernität, Paris und Dcadence („Sehr modern, nicht wahr? sehr Pariserisch! sehr dékadent!“, WA, KSA 6, S. 33), das ist für Nietzsche die unheilige Dreifaltigkeit der Kultur seiner Zeit. Der Pariser Heine war davon und damit infiziert und er wußte dem Ausdruck zu verleihen, in der gleichen Doppelexistenz wie Nietzsche, d. h. im Bewußtsein, nicht nur dazuzugehören, sondern durch Reflexion zugleich davon abgehoben, d. h. different zu sein.19 Alles schien immer ein wenig morbid, ein wenig überreizt, nervös und schamlos, (be-)gierig nach Gesundheit und zugleich deren Abwesenheit genießend, sich entblößend und darin doch nicht wahrhaftig histrionisch zu sein, eher und dies mit großer, geltungsbedürftiger Geste, schaustellerisch und exhibitionistisch. Die intimsten Seiten des Leben verächtlich machend, wird, was der Hauch des Dekadenten streift, auf merkwürdige Weise krank, anämisch und verfällt hoffnungslos an das (Selbst)Ruinöse, an den Genuß des Untergehenden. Nicht zufällig, sondern ganz sinnfällig dominieren die Tropen und die Metaphern des Verfalls. Man gefällt sich im Zustand der „Degenerescenz“ (GD, KSA 6, S. 124).20 Der bösen und ihm übelgenommene Erkenntnis Nietzsches: „Unsre Mittel und Wege zur Cultur zu kommen sind der Kraft und Gesundheit der Cultur feindlich“ und die Radikalisierung von 1874: „[W]ir sind eine Zeit, dessen Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht“ (NF, KSA 7, S. 829), steht nicht zufällig Heines Name für sich zur Lektüre empfohlen zur Seite. An ihm glaubt er einiges davon zu 19 Dies gesagt in Anspielung auf Nietzsches Satz, er sei dcadent und zugleich das Gegenteil davon (vgl. EH, KSA 6, S. 266). 20 „Sich den Zustand des Verfalls zu verhehlen, bei dem wir angelangt sind, wäre der Gipfel des Unverstandes. Religion, Sitten, Justiz, alles ist im Niedergang begriffen, oder vielmehr: alles erfährt eine unausweichliche Entwicklung. Die Gesellschaft zerfällt unter der zersetzenden Wirkung einer alles auflösenden Zivilisation. Der moderne Mensch ist ein Mensch voll Überdruß, Verfeinerung der Begierden, der Empfindungen, des Geschmacks, des Luxus, der Genüsse; Neurose, Hysterie, Hypnose, Morphiumsucht, wissenschaftlicher Scharlatanismus, maßloser Schopenhauerismus – das sind die Krankheitsanzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung“, so hat es Anatole Baju in Aux lecteurs 1886 zusammengefaßt (zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische Texte von Baudelaire bis Mallarm, [Anm. 17], S. 254).

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entdecken. Der „farceur“ Heine (ebd., S. 595) wußte mit großer Genialität die Partitur der Dcadence sprachspielerisch zu unterlaufen und so alle Register dieser Modernit zu ziehen. Die ambivalente Schönheit dieser Sprache war die gleiche, die Nietzsche auch an Baudelaire und Wagner wahrnimmt: „Etwas Glühendes und Trauriges, ein wenig unsicher, Raum der Vermuthung gebend“ (NF, KSA 13, S. 79). Dennoch will er nach Martin Luther nur sich und Heine als die größsten Artisten der deutschen Sprache anerkennen, weil ihr Deutsch nicht ,bloßes‘ Deutsch sei.21 Die Genußfähigkeit für die psychologischen Finessen, der Sinn für die Ausschweifungen der Sinne und des Geistes, die Dramatik, mit der eine hohe Sensibilität und die Sucht nach Narkotika und das Ineinander der Gegensätze (Rausch und Betäubung) sich verbinden, die „Hyperirritabilität“ (ebd. 429), die Spielarten der Orgiasmen (Nietzsche sieht die dekadente Seele als die orgiastische Seele) gipfeln für ihn in einem schrillen „hysterisch-erotische[n] Zug“ (NF, KSA 11, S. 591), im Brunstgehabe einer unersättlichen Lebensgier, in einem „sonnenarmen gequälten Glück an der Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen“ (ebd.), die sich zudem, vor allem mit Blick auf Baudelaire und Wagner, mit einer für Nietzsche äußerst unerquicklichen und unerträglichen Neo-Religiosität verbinden. Die „Hündin Sinnlichkeit“ (Za, KSA 4, S. 69) im Dunstkreis zwischen christlicher Bekehrung und Obsession, das Künstlertum im Griff ihrer verlogenen Tugenden: „[D]aß die corrupten Pariser romanciers jetzt nach Weihrauch duften, macht sie meiner Nase nicht wohlriechender: Mystik und katholisch-heilige Falten im Gesicht sind nur eine Form der Sinnlichkeit mehr“ (NF, KSA 13, S. 451).22 An Baudelaire brach aus, was in Charles-Augustin SainteBeuve sich vorgebildet hatte.23 Die Fleurs du mal sind der lyrik-gewordene Beweis. Den modernen Franzosen spricht Nietzsche ohnehin ein „gallische[s] Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Un21 „Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr gemacht haben“ (EH, KSA 6, S. 286). 22 Dazu: Renate Reschke, „Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil. Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne“, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 269 – 286. 23 Vgl. GD, KSA 6, S. 112 f. Zu Nietzsches Verhältnis zu Baudelaire: Karl Pestalozzi, „Nietzsches Baudelaire-Rezeption“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 7 (1978), S. 158 – 178.

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geduld“ (FW, Aph. 377, KSA 3, S. 630) zu als Zeichen ihrer kulturellen Ambiguität. In dieser Unheilbarkeit ihres Wesens lag etwas, das er als deren „hochfliegende und emporreissende Art“ (EH, KSA 6, S. 289) bestimmt, mit der sie dem Leben verfielen und widerstanden und aus der er ihre unbedingte ästhetische Lebenshaltung erklärt, die sich im Erproben immer neuer „Ausschweifungen des Erhabenen“ (NF, KSA 11, S. 590) gefiel und zugleich erschöpfte. Beutegierig seien die Romanciers in Paris, sie würden täglich der Wirklichkeit unverschämt und listenreich auflauern, um ihre Kuriositäten nach Hause zu tragen, wo sie sie dann farbenschreiend zusammensetzen zu einem beunruhigenden Mosaik, um sich an ihm zu delektieren, verweichlicht und verweiblicht, um den Ekel zu verbergen, den sie sich selbst verbieten, d. h. ästhetisch um(ver-)biegen mußten. Heine paßte nicht ganz in dieses Bild. Er teilt mit ihm, nach Nietzsche, alle Facetten der Rebellion gegen die Unterdrückung der Leidenschaft(en), eine gewisse Überreiztheit und eine Lebensgier, die sich erotisch buchstabierte, den Ernst in Formfragen24 und in der „mise en scène“ (ebd., 288), die gedankenreichen Augen und Ohren,25 die Neigung zur Maskerade, die Desillusionierung über die Spezies Mensch unter den Bedingungen der bürgerlichen Moderne und im gleichen Atemzug die Opposition gegen sie. Mit Théophile Gautier wußte er Heine einig in der Aversion gegen alle philisterhaften Tugend- und Moralvorstellungen. Gautiers Satz, er würde ganz sicher „der Großmutter Tugend eine kleine, fein herausgeputzte, kokette Immoralität“26 vorziehen, könnte von Heine stammen. Und von Nietzsche. Heines Plebiszit gegen das (im Sinne des Wortes) Anrüchige der Religion(en) 27

24 „Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler Form nennen, als Inhalt, als die Sache selbst empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt“ (NF, KSA 13, S. 533). 25 Stendhal hatte aus Nietzsches Sicht die gedankenreichsten Augen und Ohren des Jahrhunderts (vgl. FW, Aph. 95, KSA 3, S. 450). 26 Zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische Texte und Baudelaire bis Mallarm, (Anm. 17), S. 29. 27 Heines Gedicht Disputation aus dem 3. Buch des Romanzero endet, nachdem ein Mönch und ein Rabbiner in Toledo Argumente für ihren Glauben wortgewaltig ausgetauscht haben, zum Zwecke ihrer wechselseitigen Bekehrung, und es zu keiner Überlegenheit einer Seite kommt, mit der Antwort der anwesenden Königin, auf die Frage ihres Mannes, für welche Seite sie sich entscheide: „Welcher recht hat, weiß ich nicht -/ Doch es will mich schier bedünken,/ Daß der Rabbi und der Mönch,/ Daß sie alle beide stinken“

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ist ihm tief einsichtig und verwandt im Geiste: Es trennte Heine, in Differenz zu Wagner, von jener an den Franzosen wahrgenommenen verhängnisvollen msalliance mit dem Katholizismus. Davor bewahrte Heine seine Herkunft und wohl auch das, was Nietzsche, mit Bezug auf Baudelaires Leben, ein Amphibienwesen genannt hat: „ebensosehr deutsch als pariserisch“ (NF, KSA 11, S. 601) zu sein. – Was Nietzsche geflissentlich an Heine übersieht, wenn nicht, hat er es jedenfalls nicht ausgesprochen, war die Sympathie der Franzosen, vorab der Pariser für vieles Plebejische. Den Franzosen allgemein hat er einen Glauben an die Revolution und einen von Zeit zu Zeit ausbrechenden Herdeninstinkt attestiert. Victor Hugo habe lebenslang „diesem allerschönsten Heerden-Instinkte“ den Prunkmantel der Freiheit umgehängt (ebd., S. 447). Sollte er an Heine solcherart ,Makel‘ der Ressentiment-Sympathie nicht wahrgenommen haben? Schwer vorstellbar. Eher ist anzunehmen, dass dies nicht in sein Bild von Heine passen wollte, dass seine Imagination ,Heine‘ sich dem politischen Dichter-Porträt sperrt und er es bewusst unterläßt, um ihn nicht unter die „heraufgekommene[n] Plebejer“, wie etwa Honoré de Balzac (ebd., S. 591), zählen zu müssen. Ihm ist in erster Linie wichtig, ihn als den großen Abtrünnigen der deutschen Romantik zu sehen, als den großartigen Spötter, der die Gebrechen der Zeit und die selbstverschuldeten Gebrechlichkeiten der Zeitgenossen, die diese fälschlicherweise als ihre Stärken sahen, im Farbenspiel des poetischen Spiegels zunichte machte. Heine als der tiefsinnige Psychologe, kritisch, drohend, blasphemisch, bitter-süß, souverän und herausfordernd, als jemand, der aus tiefster Verletztheit aggressiv auf jeden erlittenen Schmerz reagierte und mit poetischen Schlägen parierte und eher noch sich selbst verletzte, als dass er auf den Schlag verzichtet hätte. Er sei ein unbewußter Ironiker und ein Schalk gegen sich selbst gewesen (vgl. NF, KSA 7, S. 659). Wie Nietzsche selbst, der jeder Liebe ein „Gran Selbstverachtung“ (NF, KSA 9, S. 676), jedem Recht ein Gran Unrecht beigeben will, als Tarnung und Selbstschutz, weil sie vor existenziellen Katastrophen bewahren helfen. Hinter dem Spott die Tragödie, hinter dem Tragischen der Spötter. Darin vor allem ist Heine für Nietzsche exemplarisch. So wie er selbst sich als „Possenreisser der neuen Ewigkeit“28 entworfen hat, der lieber ein Narr sein wollte auf (Heinrich Heine, Smtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Briegleb, Bd. 6/ 1, München und Wien: Hanser Verlag 1998, S. 172). 28 Nach der Überlieferung von Franz Overbeck soll Nietzsche kurz nach seinem Zusammenbruch in Turin dies als Beruf angegeben haben, zit. nach: Wilhelm

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eigene Faust (vgl. Za, KSA 4, S. 325) als weise nach fremdem Gutdünken, sieht er Heine, wie dieser sich selbst beschrieben hat, stets ein bißchen ein Scharlatan und immer im Zweifel, ob er nicht bloß ein Don Quichotte sei. Rabenschwarze Gedanken fröhlich zu besingen und Wort werden zu lassen, das schien ihm, nach Nietzsche, das Höchste. Mit solchen Beschreibungen entdeckt Nietzsche in Heine seinen unvergleichlichen Vorgänger. Und sich selbst. Der so beschriebene Heine ist ein großartiges Bild, eine Erfindung mit Größe, die den Erfundenen kenntlich macht: eine Idealität mit Wahrhaftigkeitsanspruch, ein intellektuelles Spiel mit wechselnden Masken. Wie bei allen Porträts, so sind auch in ihm die biographischen Konturen das Identifikationskapital für das zu zeichnende Bild, eine Projektionsfläche, ein Deutungsfeld für den Zeichner. Nietzsche setzt sich die Maske Heine auf, und Heine mußte es sich gefallen lassen, unter dieser Maske Züge seines Erfinders eingezeichnet zu bekommen. Wozu taugen für Nietzsche die Biographie und das Werk eines anderen? Um sich ein ,Bild‘ zu machen von ihm, um ihn aus seiner Optik zu zeichnen, um ihm Kontur zu geben, an und mit der er für ihn zum Bruder oder Gegner im Geiste zu erklären ist. Den einen Heine gab es nie, wohl aber unter Nietzsches Optik den, dem er sich zum Sympathisanten macht. Wie er es auch mit anderen, mit Heraklit etwa oder Baruch Spinoza getan hat. Welche Sprache aber sprechen diese Bilder? Da vermischen sich Faktum und Fiktion, verweisen wechselseitig auf sich, sind aufgeladen mit den Idiosynkrasien gegen die zu attackierenden Verunglimpfungen und dem, was Nietzsche an Heine wichtig ist, wie er ihn sehen will. Und wie er sich selber sehen und gesehen werden will. Im Heine-Bild Nietzsches ist ein gutes Stück Nietzsche-Selbstporträt. Auch ohne Maske(n). Die wechselseitige Spiegelung macht notorisch, was an Heine imaginiert wird: ein Fremdbild, das zum Selbstbild mutiert, dieses entund verhüllt, beide als Fiktion vergegenwärtigt und ihnen doch ihre unverwechselbaren Züge nicht streitig macht. Die Authentizität des Fiktionalen, Nietzsche bestärkt und bestätigt sie an und mit seiner Heine-,Erfindung‘. Aber diese Authentizität ist immer die Nietzsches. Weil er die Identifikation im anderen sucht, weil er sie braucht, darum ist das Bild authentisch. Es ist immer einen Schritt sich selbst voraus: Das alles ist ihm ein terrain vague, ausgeliefert dem eigenen Gedanken- und Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 259.

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Bild-Erfindungsspiel und seinen Gestaltungsregeln. Die violente Potenz der Imagination ermöglicht es, das Rätsel, das er sich selber ist, sich verbergend, am Anderen zu begreifen. So kann er auch, paradox, mit seiner Erfindung den Heine entdecken, der dieser war. Und seine eigene Existenz zugleich zur französischen erklären.

III Paris ist für Nietzsche von Anfang an der faszinierendste Ort für die Moderne, ihr Geburtsort und der Ort ihrer ausgeprägtesten Erscheinung in einem. Ein topographischer und geistig-geographischer Glücksfall, an dem die große comedi humaine „auf der schönsten Scene der Welt, zwischen den buntesten Coulissen und einer Unzahl glänzender Statisten“ aufgeführt wurde (Brief an Erwin Rohde vom 20. 11. 1868, KSB 2, S. 345). Er imaginiert sich die Stadt und ihre Atmosphäre so sehr, dass er sich selbst glauben machen kann, in Pariser Luft zu atmen.29 „Paris die einzige Stadt—“ (NF, KSA 8, S. 571), notiert er vieldeutig schon im Herbst 1878. In Ecce homo 1888 listet er die Stadt neben Florenz, Athen und Jerusalem als Ort mit „ausgezeichnet trockene[r] Luft“, „wo es geistreiche Menschen giebt und gab, wo Witz, Raffinement, Bosheit zum Glück gehörten, wo das Genie fast nothwendig sich heimisch machte“ (EH, KSA 6, S. 282). Paris wird man nicht los.30 Es ist das neue, das weltliche Jerusalem der Moderne und erscheint ihm im petrifizierenden Licht der Modernité, das alle Konturen der Stadt und ihrer Bewohner mit dem Schein der Décadence umgibt. Die moderne Kultur ,riecht‘ nach Paris, wenn nicht, kommt ihr das Prädikat ,modern‘ nicht wirklich zu.31 Paris war die große Hoffnung für alle, die das Bild der ,heilen‘ Welt aufgegeben und sich dem ,Leben‘ mit allen seinen Licht- und Schatten-Facetten aussetzen wollten (oder mußten). Die 29 In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 2. 12. 1888 beschreibt er das Erlebnis eines Konzertbesuches: „Diese Ouvertüre [gemeint ist die Sakuntala-Ouvertüre von Karoly Goldmark – R. R.] ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas von Wagner […] und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, dass ich wieder die Luft von Paris zu athmen begann“ (KSB 8, S. 499). 30 Sogar den französischen Romanciers, die sich bemühen, das Pariser Ambiente zu unterlaufen, gelingt es nicht: „Zuletzt werden sie Paris nicht los“ (NF, KSA 11, S. 58). 31 Baudelaire, der Pariser, besaß jene Ankränkelung, „welche nach Paris riecht“ (NF, KSA 11, S. 428).

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kulturelle Anziehungskraft der Stadt schlug in ihren Bann. Wer Pariser war, war froh es zu sein, wer aus Deutschland ins Exil ging, wählte Paris, Heine und Karl Marx gehörten zu den prominentesten. Wer ans Ausland dachte, wie Nietzsche, dachte an Paris. „Paris ergötzte mich sehr, durch die Heiterkeit, die sich in allen Erscheinungen dort kundgibt und auch auf ganz verdüsterte Gemüter ihren Einfluß ausübte“: Man habe beständig das Gefühl, die großen Tragödien, die sich dort abspielen, unter einem Schleier, „im Rosenlichte“ zu sehen, „welches alle Tragödien für den nahen Zuschauer erheitert, damit ihm dort der Lebensgenuß nicht verleidet wird […] In dieser Luft von Paris heilen alle Wunden viel schneller als irgend anderswo; es ist in dieser Luft etwas so Großmütiges, so Mildreiches, so Liebenswürdiges wie im Volk selbst.“32 So hat es Heine in den Florentinischen Nchten gesehen und dargestellt, literaturgewordene Verarbeitung seiner ,Salon‘-Erfahrungen: „Auch ist in Frankreich die Gefallsucht so groß, daß man eifrig dahin strebt, nicht bloß den Freunden, sondern auch den Feinden zu gefallen. Das ist ein beständiges Drapieren und Minaudieren, und die Weiber haben hier ihre liebe Mühe, die Männer in der Koketterie zu übertreffen.“33 Nietzsche setzt sich aus vergleichbaren Sentenzen seine Paris-Vorstellung zusammen. Und plaziert darin auch seinen Heine. Wie den Dichter, so imaginiert er sich den Schauplatz, inszeniert ihn zur Bühne für den Auftritt der Moderne und macht die französische Hauptstadt zur Hauptstadt der kulturellen und künstlerischen Moderne insgesamt, bevölkert sie mit der illustren Gesellschaft ihrer Literaten und Intellektuellen. Er sieht sich von ihren Beschreibungen das Bild der Stadt ab, es gerinnt in seiner Vorstellung zu seinem eigenen. An der Lektüre der Pariser Autoren bildet sich seine Überzeugung, Paris allein tauge zur Heimat aller Artisten („Als Artist hat man keine Heimat in Europa ausser in Paris“, EH, KSA 6, S. 288), die Pariser allein verstünden die modernen Künstler, wie diese ihrerseits an der Pariser Lebensart nicht nur partizipieren, sondern sie auch wesentlich prägen. Darum gehören Heine und Wagner nach Paris. Wo die Anerkennung noch fehle, ist sich Nietzsche sicher, würde sie sich einstellen. In Wagner sei jene Nervosität der Moderne, die in der Stadt ihren Ursprung und Sitz habe, so daß die Pariser unvermeidlich sich zu ihm bekehren werden (vgl. NF, KSA 11, S. 591). Bei Heine sieht es anders aus. Ihn haben die Pariser längst für sich, als einen der ihrigen, 32 Heinrich Heine (wie Anm. 27), Florentinische Nchte, Bd. 1, S. 597. 33 Ders., ebd., S. 599.

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vereinnahmt: „Die Pariser behaupten […], daß er mit 2 anderen NichtParisern die Quintessenz des Pariser Geistes darstelle“ (ebd., S. 472). Die feine Sensibilität für alles Ambivalente, der raffinierte Luxus der Begierden und ihrer Befriedigungen, der Ralisme der ästhetischen Phantasien, die magische Inspiration einer übersteigerten Provokationslust, der artifizielle und zugleich existenzielle Rausch einer immoralistisch sich gebenden Sinnesfreude, das betäubende, selbstbetrügerische Eintauchen in eine ausschweifende Scheinwelt, der Tanz auf dem Vulkan mit der Gratis-Zugabe einer zeitgleichen Melancholie, die heiter-oberflächliche Gewißheit, am Rande des Abgrundes zu stehen und die latente Präsenz des Absturzes zu genießen – dies alles war Paris und konnte nur dort gelebt werden. Paris war, nach einem Wort von Walter Benjamin, das kongeniale Milieu für die bürgerliche Moderne, für den zum Großstädter werdenden Bürger und für die Schnelligkeit und Flüchtigkeit des Lebens, für die täglichen Sensationen, die Journale und das Feuilleton. Motive und Töne der Pariser Alltäglichkeit, auch die nach Nietzsche schrillen, die sozialen, politischen, revolutionären, dringen tief in die Künste ein, infiltrieren sie mit dem (in seinen Ohren) mißklingenden Grundton ihrer sich heroisch gebenden Akteure.34 Sein Interesse gilt mehr, da siedelt er denn auch Heine an, dem Hauch des Dionysischen in der Pariser Luft.35 Heine hatte mit seinem Jubelruf „Evoe Bacche!“ enthusiastisch dem griechischen Gott und seiner Macht gehuldigt und im virtuosen Geigenspiel des Niccolò Paganini die sinnliche Bogenführung eines bocksfüßigen Satyrs entdeckt.36 34 Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, herausgegeben von Rosemarie Heise, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 107 ff. 35 Dazu: Linda Duncan, „Heine and Nietzsche. Das Dionysische: Cultural Directive and Aesthetic Principle“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzscheforschung 19 (1990), S. 336 – 345. 36 „Hinter ihm bewegte sich ein Gesicht, dessen Physiognomie auf eine lustige Bocksnatur hindeutet, und lange haarichte Hände, die, wie es schien, dazu gehörten, sah ich zuweilen hülfreich in die Saiten der Violine greifen, worauf Paganini spielte. Sie führten auch manchmal die Hand, womit er den Bogen hielt, und ein meckerndes Beifall-Lachen akkompagnierte dann die Töne, die immer nur schmerzlicher und blutender aus der Violine hervorquollen […] Zuweilen, wenn in die melodischen Qualnisse dieses Spiels das obligate Bockslachen hineinmeckerte, erblickte ich auch im Hintergrunde eine Menge kleiner Weibsbilder, die boshaft lustig mit den häßlichen Köpfen nickten und mit den gekreuzten Fingern, in neckender Schadenfreude, ihre Rübchen schabten“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Florentinische Nchte, Bd. 1, S. 580 f.).

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Den Topos des Dionysischen verband Heine ausdrücklich mit dem des Satyrhaften, die rauschhaften Dionysien mit den orgiastischen Festen des gehörnten Wald-Dämons, zu denen die wilden Tänze und Klänge der Musik gehörten. Jauchzend, ekstatisch, jubelnd. Nietzsches spätere Bilder des tanzenden Gottes und seiner ihn ehrenden rasenden Gefolgschaft speisen sich nicht nur aus den antiken Vorgaben, sie tragen auch die Spuren der Heineschen Version, die immer schon auf deren Pariser ,Auferstehung‘ deuten. Gegen die mehr als zweitausend Jahre „Widernatur“ (EH, KSA 6, S. 313), die vor allem das Christentum zu verantworten hat, war die Wiedergeburt des Gottes aus dem Geist der Moderne des 19. Jahrhunderts eine Art intellektuelles Gütesiegel für die, die seine Sache betrieben. Heines Sensualismus und Nietzsches ,griechische Heiterkeit‘ gehen eine bemerkenswerte Symbiose ein.37 Paris scheint der ideale Ort zu sein, diese Widernatur aufzuheben. Nietzsche sieht sich in diesem „Attentat“ (ebd.) in vorderster Linie, unausgesprochen mit Heine im Rücken. Dolf Sternberger hat mit Verve davon gesprochen, Nietzsche sei in Sachen Sensualismus und Abschaffung der Sünde, der Lobpreisung des Dionysischen und der Rehabilitierung des Sinnlich-Körperlichen in der Spur Heines nicht nur einfach weitergegangen, er sei in ihr „weitergerannt“, er habe dessen heiter-radikalen Gestus ins Exaltierende ge(über-)steigert.38 Nietzsche bringt Heine in diesem Kontext mit Bedacht in einen Zusammenhang zu Jacques Offenbach. Nicht nur wegen ihres Judentums, sondern wegen ihrer beider Affinität zum Dionysischen und Satyrhaften. Offenbach ist für ihn der „geistreichste[] und übermüthigste[] Satyr“ (NF, KSA 12, S. 361), der „Hanswurst“, dem die „Augenblicke übermüthigster Vollkommenheit“ gelingen, ein Genie in seiner Klasse (NF, KSA 13, S. 497): Er sei darin höher zu schätzen als Wagner, weil ausgestattet mit „unsterblichen Tricks“ (ebd., S. 596). Und er habe den Gipfel seiner Kunst als Franzose erreicht, er, „der nichts Anderes sein wollte als was er war – ein genialer Buffo, im Grunde der letzte M der noch M machte“ (ebd., S. 619). Übermütig sei der Komponist gewesen, „mit einem kleinen sardonischen Grinsen“, „geistreich bis zur Banalität“ und vor allem 37 Wenn Nietzsche auch an Heine kritisiert, dieser habe die ,griechische Heiterkeit‘, wie sie im 19. Jahrhundert verharmlosend gesehen wurde, unter die Kategorie eines ,bequemen Sensualismus‘ gerechnet (vgl. NF, KSA 7, S. 352). 38 Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Snde, Hamburg und Düsseldorf: Claassen Verlag 1972, S. 302.

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„ohne die mignardise krankhafter oder blond-wienerischer Sinnlichkeit“ (NF, KSA 12, S. 344). Die „Spottvogelperspektive der Offenbach-Operetten“ ist es, die das gewohnte Bild der Welt verkehrt und ihren vermeintlich heiligen Werten den Schleier der Heiligkeit entzieht und bloßstellt, welche Nichtigkeiten sich dahinter verbergen, welche aufgeblasenen Hohlräume von ebensolchen Figuren bevölkert und die, musikalischem Hades-Gelächter ausgesetzt, auf ihre Kleinheit zurückgestuft werden.39 Die frivolen Masken, die mit Ludovic Halélys Texten nach Offenbachscher Musik agieren, waren den Straßenszenen des Pariser Lebens entnommen, wo ihre Urgestalten sich tummelten, den Passagen und Ballsälen, den Varietés und Spelunken, in denen der Tanz der Tänze, der Can-Can, infernalisch, dionysisch, rasend, obszön, gewaltsam geboren wurde, der die Ambivalenz des Lebens, das Lebensgefühl der Zeit schlechthin ausdrückte; der Tanz, dem Offenbach die letztgültige Gestalt und die Weihen der Kunst gab. Heine hatte in Paris sehr schnell den Sinn dieses Tanzes erfasst; er gehörte zu den ersten, die ihn als „Verhöhnung alles dessen, was als das Edelste und Heiligste im Leben gilt“ sahen, als ein getanztes Zeugnis des berechtigten Glaubensverlustes, der listigen Entlarvung der „hohle[n] Phrase“, eine „getanzte Persiflage“ auf die Idole der Zeit.40 Das Satyr(ver-)lachen figuriert den Tanzschritt, der Abgesang auf die althergebrachten Rollen, ihre mokante und provozierende Infragestellung macht sein Faszinosum aus und überbietet das Leben als Tanzfigur, schlägt die Tanzenden auf die Seite der Akteure, die sie in der Banalität und Kälte des Alltags nicht sind. Von Offenbach auf die Bühne gebracht, erreicht er seinen sich in sich verkehrenden Höhepunkt. Hier ist er der polemisch-heitere Abgesang derer, die die sinnenfrohe dionysische Üppigkeit des HadesBildes genießen. Der ästhetische Genuß des eigenen Untergangs treibt in die Dcadence und ist selbst ihr dominierendes Moment. Man lechzt nach der eigenen Verherrlichung und erkennt in der Parodie das große Thema des Lebensspiels; der rasende Tanz in der Unterwelt, die entfesselnde Wucht der Akkorde in der Orpheus-Operette spiegeln das tiefe Dilemma der gesellschaftlichen Zustände. Der Höllengalopp befriedigt die Wünsche der Gesellschaft, aber er fügt dem „Rausch Ingredienzien bei, die bedrohliche Wirkungen erzeugen. Er übersteigert ihn ins Dionysische und peitscht derart zu Orgien auf, die mit Selbstzerstörung 39 Siegfried Krakauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1980, S. 11. 40 Zit. nach: Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Anm. 39), S. 45 f.

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enden müssen […] Indem er die von der Devise: Freut Euch! gepackten Massen ins Bacchanal hineinjagt, tilgt er den letzten Rest der Besinnung und treibt auf dämonische Weise der Katastrophe entgegen.“41 Dieses Dionysische differiert von den Vorstellungen, die Nietzsche davon hat. Heine hätte sie unterstrichen. Davon abgesehen, Nietzsche ist sich sicher, dass nur Paris der kulturelle Nährboden für die Realität des Dionysischen sein konnte, unabhängig von den Vorlieben und Antipathien gegenüber seinen konkreten Erscheinungsformen. Offenbachs Variante scheint Nietzsche „die supremste Form der Geistigkeit“, eine „geniale Buffonerie“ (ebd., S. 532), Heine war ihm darin ähnlich. So kann Nietzsche sein Fazit ziehen, dass mit diesen beiden „die Potenz der europäischen Cultur wirklich überboten“ ist (ebd.). Ihr Esprit konnte sich allein in Paris ausbilden und die zwiespältige Lebendigkeit in sich aufsaugen, die ihn auszeichnet: „l’ esprit de Paris ist deren [der französischen Kultur – R. R.] Quintessenz“, und die verwöhnten und Geschmack besitzenden Pariser haben Heine an die Spitze dieses „esprit Parisien“ gestellt (ebd., S. 533). So sehr, daß Nietzsche vom „l’adorable Heine“ (NW, KSA 6, S. 427) und vom göttlichen Heine sprechen kann. Ohne Pathos und ohne die Sicherheit, ob die Kluft zwischen dem Göttlichen und dem Hanswurst eine wirkliche ist und sie sich je schließen wird. Französisch oder nicht.

IV Paris ist im 19. Jahrhundert Europa, das moderne, das zukünftige: Sein Name steht für „das europäische Extrem“ (NF, KSA 10, S. 659) und ist ein Synonym für seine geistreichste Kultur. Superlativisch wird Paris von Nietzsche zum Mittelpunkt der modernen Kultur erklärt: „l’esprit de Paris ist deren Quintessenz“ (NF, KSA 13, S. 533), und Heine gelte den Parisern als „Quintessenz des Pariser Geistes“ (NF, KSA 11, S. 472). Der Wahl-Franzose und Wahl-Pariser Heine, ein Unglücksfall der deutschen Kultur (vgl. NF, KSA 7, S. 504), wird für Nietzsche so quasi per definitionem zum Europäer. Die Franzosen sind ihrerseits wiederum in seinen Augen die „liebenswürdigsten Europäer, [aber] auch die heerdenmäßigsten“ (NF, KSA 11, S. 447). Letzteres ist eine offene Anspielung auf den Hang der Franzosen zu Revolutionen und damit 41 Ebd., S. 182. .

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verbundenen Freiheitsvorstellungen, die sie in „schöne Worte“ kleiden und sich wie „Prunkmäntel umgehängt ha[ben]“ (ebd.). Was ihn nicht davon abhält, auf sie seine Hoffnung zu setzen, gegen den Nationalitäten-Wahn, der die Völker Europas verhängnisvoll einander entfremdet und den er als anachronistisch sieht. Die Vision eines einheitlichen Europa steht gegen jeden Nationalismus. In seinen Augen ist die Haupttendenz die einer neuen Synthesis und die weitsichtigsten Geister, Jahrhundert-Größen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Schopenhauer, Wagner und Heine haben daraufhin gewirkt. Nur, wenn überhaupt, in ihren schwachen Stunden hätten sie dem Geist der Vaterländer gehuldigt und seien ,Patrioten‘ gewesen. Ihr Wesen dagegen war es, „den Europäer der Zukunft“ vorweggenommen zu haben ( JGB, Aph. 256, KSA 5, S. 202). Man frage in Deutschland fast umsonst: „[H]abt ihr auch nur einen für Europa mitzhlenden Geist aufzuweisen?“ (GD, KSA 6, S. 106). Daß Heines Name in diese Aufzählung gehört, ist für Nietzsche selbstverständlich. Er ist für ihn einer der wenigen Deutschen von europäischem Rang. Immer wieder nennt Nietzsche ihn beschwörend einen europäischen Geist, ein europäisches Ereignis (vgl. ebd., S. 125). Zwar habe man in Deutschland keinen Begriff von Kultur mehr, aber die Deutschen haben Europa – und dies ist kein Lob für Deutschland – den modernsten Geist ,geschenkt‘: Heine. Mit ihm sei sogar „die Potenz der europäischen Cultur wirklich überboten“ (NF, KSA 13, S. 532). In einer Zeit, in der das neue Europa im Entstehen sei, ein kulturelles, ein geistiges und künstlerisches, „macht man Heine in Deutschland ein Verbrechen daraus, Geschmack gehabt zu haben – gelacht zu haben“ (ebd., S. 533). Der deutsche Ernst gegen die europäische Souveränität eines befreienden Lachens?! Nietzsches Europa-Bild kennt die intellektuellen, die ästhetischen und künstlerischen Facetten und setzt sich aus ihnen zusammen. Das alte Europa mit der geistigen Öde des preußisch-deutschen Reiches sollte verlacht, sollte in den Untergang gelacht werden. Heine, der Pariser Weltbürger mit dem Vaterland an den Schuhsohlen, hat seinen Spott nicht gegen Deutschland als das ,Land der Rätsel und der Schmerzen‘ gerichtet, sondern gegen den unerträglichen Untertanengeist, gegen die ,Enkel des biderben Arminius und der blonden Thusnelda‘, gegen ihre Deutschtümelei, gegen die Pickelhaube und den verschluckten Prügel-Stock des preußischen Gehorsams. Dem häßlichen Vogel, dem königlich-preußischen Hoheitsadler wollte er die Federn rupfen und die Krallen abhacken, um ihn auf eine Stange zu setzen und zum Abschuß freizugeben. In seiner tiefsten Liebeserklärung

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an sein Vaterland Deutschland. Ein Wintermrchen hat er es mit dem dichterischen Wort getan.42 Nietzsche liebt das Gedicht und zollt ihm Bewunderung. Sein eigener Haß auf jene deutsche Spezies findet er in Heines Kritik bestätigt. In der Rigorosität dieser erklärten Feindschaft liegt der Grund, der die Vorläuferschaft eines zukünftigen Europäertums legitimiert. Für die ,guten Europäer‘ Heine und Nietzsche. – Alles Deutsche scheint nur ein Gegenpart zum Europäischen zu sein, dessen grundlegende Verneinung oder in der schlimmsten Form ein Versuch, „im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik […] ganz Europa zu verdeutschen“ ( JGB, Aph. 244, KSA 5, S. 185). Was auf der Seite der Deutschen als ,Vaterländerei‘ unter die Stichworte Offenheit, Biederkeit, Tiefe und Gutmütigkeit fällt, von Nietzsche wohl bedacht in Anführungszeichen gesetzt, um ihnen den Ernst zu nehmen, der ihnen schlecht zu Gesichte steht („ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen?“, ebd., S. 186), gehört unter der Rubrik des Europäischen der Zukunft zu den Unmöglichkeiten. Heine hatte es so ausgedrückt: „Der Patriotismus der Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur noch ein enger Deutscher sein will.“43 In Frankreich, vorab in Paris dominieren dagegen die Weitläufigkeit und eine geistige und physische Wachheit,44 die Bewegung hin zu einem Zentrum und als „Cultur-Centrum“: „die nationalen Thorheiten sollen uns nicht blind machen, dass in der hçheren Region bereits eine fortwhrende gegenseitige Abhngigkeit besteht“ (NF, KSA 11, S. 42), eine Abhängigkeit, 42 „Du hässlicher Vogel, wirst du einst/ Mir in die Hände fallen,/ So rupfe ich dir die Federn aus/ Und hacke dir ab die Krallen.// Du sollst mir dann, in luft’ger Höh,/ Auf einer Stange sitzen,/ Und ich rufe zum lustigen Schießen herbei/ Die rheinischen Vogelschützen“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Deutschland. Ein Wintermrchen. Caput III, Bd. 4, S. 583). 43 Ders. (wie Anm. 27), Die romantische Schule, Bd. 3, S. 379. 44 Nietzsche sieht die deutsche Kultur, so ihr diese Bestimmung überhaupt zukommt, als eine ermüdete und erschöpfte, als eine verzögerte und andere Kulturen verzögernde, damit als eine bloße Barbarei: „Die Deutschen verderben, als Nachzgler, den großen Gang der europäischen Cultur“ (NF, KSA 11, S. 43).

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genauer eine wechselseitige geistige Erhöhung und Vernetzung der größsten intellektuellen Kulturkräfte: „Alles strebt nach einer Synthese der europischen Vergangenheit in hçchsten geistigen Typen – - – - „ (ebd.). Europa als Versammlungsort der großen Geister, als eine neu dimensionierte Gelehrten-Republik, als Neu-Auflage der seit der europäischen Antike bis zu Schopenhauer in den intellektuellen Köpfen hausenden Idee einer allumfassenden Geistes- und Philosophen-Herrschaft. Sollte dies nicht gelingen, träte nach Nietzsche ein anderes Szenario in Kraft: „Wenn aber Europa in die Hnde des Pçbels gerät, so ist es mit der europäischen Cultur vorbei! Kampf der Armen mit den Reichen. Also ist es ein letztes Aufflackern. Und bei Zeiten bei Seite schaffen, was zu retten ist!“ (ebd.). Dem empfindlichen Philologen stehen die von Carl von Gersdorff als Augenzeuge geschilderten Ereignisse der Pariser Kommune 1871 vor Augen,45 den aristokratischen Denker empört die Anmaßung der Schlechtweggekommenen, selbst Herrschaft ausüben zu wollen. Daß das Ressentiment Werte gebiert, davor ist auch Europa nicht gefeit. Nietzsche reagiert mit einer düsteren Ahnung, daß „die Pariser Commune […] nur eine leichtere Unverdaulichkeit [war] gemessen an dem, was kommt“ und daß ähnliche Ereignisse dem nächsten Jahrhundert „gründlich im Leibe ,rumoren’“ (NF, KSA 11, S. 586). Der Schock und die Furcht sitzen tief. Er denkt verzweifelt darüber nach, wie dem „internationale[n] Hydrakopf“ als „Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe“ der Kopf abzuschlagen sei, um die Gefahr zu bannen (Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871, KSB 3, S. 203), die von den unteren Schichten nach seiner Überzeugung für die Kultur ausgehen. Heine hatte es Jahrzehnte zuvor schon anders gesehen. Sein Europa der Zukunft sah anders aus. Er hatte im Paris des Jahres 1848 die Februarrevolution mit dem Sturz der Regierung und der Ausrufung der Republik erlebt, die Aufstände der Armen und die Kämpfe der Arbeiter. Er war infiziert von den Gedanken einer zukünftigen politischen und sozialen Gleichheit à la Saint-Simons utopischem Sozialismus. Er hätte auf die Privilegien der Intellektuellen und Künstler verzichtet. Das 45 Der Freund hatte aus Paris die Plünderungen und Zerstörungen beschrieben (vgl. KGB, Bd. 2/2, S. 351).In anderen Berichten hieß es, die Kommunarden hätten den Louvre geplündert und angezündet; Nietzsche sagte daraufhin einen Besuch in Tribschen bei Wagner ab: „Pr. Nietzsche kommt nicht, die Ereignisse in Paris haben zu ihn sehr erschüttert.“ So hat es Wagners Frau in ihrem Tagebuch festgehalten (Cosima Wagner, Die Tagebcher, Bd. 1 [1869 – 1872], herausgegeben von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack,, München: Hanser Verlag. 1988, S. 392).

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Poeten-Herz blutete ihm bei dem Gedanken an die Zukunft der Kunst, wenn erst die Marktfrauen, die Arbeiter und die Kommunisten an der Macht wären: Sie würden aus den geliebten Büchern Tüten drehen, um ihren Kaffee darin zu verkaufen. Aber er wollte schweren Herzens den Preis zahlen, der für diese Freiheit und Gleichheit aller zu entrichten war: „ – ach! Mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird. Ach! Ich sehe all dies voraus, und ich bin von einer unaussprechlichen Traurigkeit ergriffen, wenn ich an den Untergang denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse bedroht, die mit der ganzen alten romantischen Welt vergehen werden. Und dennoch, ich bekenne es mit Freimut, übt eben dieser Kommunismus, so feindlich er allen meinen Interessen und meinen Neigungen ist, auf meine Seele einen Reiz aus, dem ich mich nicht entziehen kann“ und er nannte als Gründe, die unwiderlegbare Logik, dass, wenn man es für richtig hält, daß alle Menschen das Recht auf Essen haben, man sich allen daraus ergebenen Folgen anzuerkennen habe und daß „die falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe in nichts anderem besteht als in einer idiotischen Abneigung gegen das Fremde und gegen die Nachbarvölker, und die jeden Tag ihre Galle verspritzen, besonders gegen Frankreich“ gemeinsame Feinde seien.46 Die Ablehnung und Feindschaft gegenüber den Spielarten der Nationalismen, darin besteht zwischen Heine und Nietzsche fraglose Übereinkunft; Heines unverhohlene Fürsprache für die sozial Unterdrückten und ihr Recht nicht nur auf Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft, sondern auch darauf, sich zu holen, was ihnen verweigert wird, an diesem Punkt teilen sich ihre Geister. Und 46 Heinrich Heine, Vermchtnis. Vorwort zur franzçsischen Ausgabe der ,Lutetia‘, in: Ders., Werke in fnf Bnden, herausgegeben von den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Bd. 5, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1976, S. 468 f. (In der Ausgabe [wie Anm. 27] lautet die Passagen in der deutschen Übersetzung: „ach! mein ,Buch der Lieder‘ wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Untergang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem Kommunismus bedroht ist – Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann“ und „von den falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht, und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen.“, Ders. [wie Anm. 27], Bd. 5, S. 232 f.).

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Nietzsche hat das Thema außer Betracht gelassen. Eine Position wie die der Heineschen Wanderratten wäre an Nietzsche abgeprallt oder hätte seinen schlimmsten Vorstellungen eines pöbelhaften Europa der Zukunft die literarischen Argumente geliefert: bildhaft, intensiv, horrible.47 Nietzsche zerfließt in Tränen über die vermeintliche Kulturbarbarei der Kommunarden: „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte“ (Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871, KSB, Bd. 3, S. 204). Der Abstand der Visionen konnte nicht größer sein, ihre gedankliche, kulturelle und soziale Differenz nicht augenfälliger. Als Nietzsche feststellt, Deutschland habe außer Goethe nur einen Dichter hervorgebracht und der sei ein deutscher Beitrag wider Willen für Europa, meint er Heine und fügt hinzu: „und der ist noch dazu ein Jude“ (KSA, NF, Bd. 11, S. 472): eine für Deutschland keinesfalls schmeichelnde Feststellung. Zu einer Zeit, in der die antisemitischen Haßtiraden gegen den Dichter zunehmen und Heine zwischen die Fronten eines unappetitlichen Gezänks der nationalistischen Germanisten- und Literatenzunft gerät, ist es Nietzsche, der ihn gegen diese Geiferer oder opportunistischen Feiglinge in Schutz nimmt. Daß er dabei das jüdische, das französische, das europäische Argument benutzt, ist symptomatisch. Es besitzt in sich eine Art Dreieinigkeit der Mo47 „Es gibt zwei Sorten Ratten:/ Die hungrigen und satten./ Die satten bleiben vergnügt zu Haus,/ Die hungrigen aber wandern aus.// Sie wandern viel tausend Meilen,/ Ganz ohne Rasten und Weilen,/ Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,/ Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.// […] Der sinnliche Rattenhaufen,/ Er will nur fressen und saufen,/ […] So eine wilde Ratze,/ Die fürchtet nicht Hölle, noch Katze;/ Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld/ Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.// […] O wehe! Wir sind verloren,/ Sie sind schon vor den Toren!/ Der Bürgermeister und Senat,/ Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.// Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,/ Die Glocken läuten die Pfaffen./ Gefährdet ist das Palladium/ Des sittlichen Staats, das Eigentum.// Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete./ […] Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,/ […] Heut helfen euch nicht die Wortgespinste/ Der abgelebten Redekünste.// […]Im hungrigen Magen Eingang finden/ Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,/ […] Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,/ Behaget den radikalen Rotten/ Viel besser als ein Mirabeau/ Und alle Redner seit Cicero“ (Ders. [wie Anm. 27], Die Wanderratten, Bd. 6/1 (Nachgelesene Gedichte 1845 – 1856), S. 306 f.).

Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah

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derne. Er will weder in das „deutschthümelnde Horn“ (Brief an Franz Overbeck nach dem 20. 7. 1888, KSB, Bd. 8, S. 362) blasen noch dem ,verfluchten‘ Zeitgeist, der sich immer offener dem Antisemitismus eines Adolf Stöcker oder Bernhard Förster zuneige, geistige Konzessionen machen. Er will nicht in mißverständlicher Weise etwas mit den ,Herren Antisemiten‘ zu tun haben: So erklärt er dem Antisemitismus den „schonungslosen Krieg“, er ist für ihn einer „der krankhaftesten Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen SelbstAnglotzung“ (NF, KSA 13, S. 623). Was Wunder, daß Nietzsche Heines jüdische Herkunft, sicher stärker, als es diesem lieb gewesen wäre, als Trumpfkarte gegen alle Spielarten des Nationalismus und für den europäischen und den kosmopolitischen Geist des Dichters ausspielt.48 Es seien nach Nietzsche vor allem die jüdischen Intellektuellen in Paris, die als Promotoren der europäischen Moderne ihr ihre Konturen und Geltung verleihen. Heine steht auf dieser Liste an prominenter Stelle. Er scheint paradigmatisch für eine allgemeine Grundbeobachtung Nietzsches zu sein: Daß es einen quasi internen kulturgeschichtlichen Zusammenhang gibt zwischen der Moderne, Europa und den europäischen Juden und Europa seine bisherige geistige Gestalt wesentlich ihnen zu danken habe: „gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar“ ( JGB, Aph. 250, KSA 5, S. 192). Und auch seine zukünftige Gestalt zu verdanken haben wird. Was Nietzsche als jüdischen Anteil an Europa beschreibt, deckt sich auffällig mit der Beschreibung des Pariser Lebens, der Existenzweisen der französischen Künstler und Literaten, der Beschreibung der Heineschen Poesie und Weltsicht. Die Moderne wie das Europa von Morgen tragen wesentlich jüdische Züge, weil die Juden auf Grund ihrer Erfolgs- und Leidensgeschichte das Gesamt der kulturellen Erfahrungen ebenso akkumuliert wie verarbeitet und kulturelle Lebensstrategien entwickelt haben, in denen die Moderne ihre Wurzeln hat und aus denen sich ihr Selbstbild zusammensetzt. Schon im dies48 Den Antisemiten wirft Nietzsche vor, es den Juden nicht zu verzeihen, daß sie Geist haben (vgl. NF, KSA 13, S. 365). Provokativ hält er ihnen entgegen: „Ah welche Wohlthat ist ein Jude unter deutschem Hornvieh! … Das unterschätzen die Herren Antisemiten“ (ebd., S. 580).

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bezüglichen Schlüsselaphorismus 205 „Vom Volke Israel“ in der Morgenrçte entwirft Nietzsche mit unwiderstehlicher, wenngleich nicht unproblematischer Plausibilität das Bild einer europäisch sich definierenden Moderne, für die die Juden nicht nur die Wegweiser, sondern zugleich deren gründende und exemplarische Vertreter sind: Ausgezeichnet mit allem, was Europa bisher zu bieten hatte, wird „diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art“ sich verströmen „in grosse geistige Menschen und Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer oder weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, […] dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freuen!“ (M, Aph. 205, KSA 3, S. 180 ff.). So wird das zukünftige Europa als der ,siebente Tag‘ imaginiert, als Teil einer großartigen Schöpfungsgeschichte und qua seiner jüdischen Akteure auch in seiner weltgeschichtlichen Dimension begriffen. Nietzsches Heine als einen Stein in diesem außerordentlichen Mosaik zu sehen, hilft, von ihm ausgehend den ganzen Denk-Horizont Nietzsches zu erschließen, der von der Verehrung des Dichters und der Deutschenund Nationalitäten-Kritik, über die Franzosen-Apotheose und das uneingeschränkte Europa-Plädoyer bis zur ästhetisch und kulturkritisch sich buchstabierenden Zeitdiagnose und zu einem Selbstbild reicht, an dem offensichtlich wird, wie weit die ,Erfindung‘ Heines mit der Nietzsches kompatibel ist. Das Kunststück der Interpretation bestand darin, die Kenntlichkeit der einzelnen Bildsequenzen auf das Gesamtmosaik auszuweiten, d. h. die von Nietzsche intendierte Assoziationskette Heine, Frankreich, Paris, Europa, Moderne, Zukunft sinnfällig zu machen. Ein Experiment, das sich gelohnt hat, es durchzuführen.

Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? Tobias Dahlkvist Die Begegnung zwischen Strindberg und Nietzsche ist schon öfters in der Forschung diskutiert worden. Fast immer aber ist es die Strindbergsche Seite, die diskutiert wird. Und das ist ganz natürlich. Denn der Briefwechsel dauerte nur fünf Wochen, ehe er vom Zusammenbruch Nietzsches unterbrochen worden ist. Der Kontakt mit Strindberg hat also Nietzsches Denken nicht beeinflussen können, während die Bedeutung Nietzsches für Strindberg nicht gering war.1 Aber obwohl die Begegnung zu flüchtig war und zu spät eingetroffen hat, um Nietzsche zu beeinflussen, enthält der Briefwechsel doch Kommentare von Nietzsche zu Strindbergs Schriften, die hochinteressant sind. Das, was einen Beitrag über ihre Begegnung im Rahmen einer Konferenz über Nietzsche und Frankreich rechtfertigt, ist, daß er Strindberg als einen französischen Schriftsteller bezeichnet. Der vorliegende Beitrag besteht in einem Versuch, Nietzsches Lektüre von Strindberg zu rekonstruieren. Mit Ausgangspunkt in ihrem Briefwechsel werde ich versuchen, diejenigen Aspekte von Strindbergs Schriften, die Nietzsche kommentiert, auszulegen, um dadurch die Assoziationen des Begriffes ,französisch‘ zu erläutern. Ich hoffe, die These Mazzino Montinaris illustrieren zu können, daß Nietzsches Lektüre anderer Autoren Bestandteil seines Werks sei; daß sie „in den Text [gehört], weist aber gleichzeitig über den Text hinaus.“2 Ich hoffe mit anderen Worten einen Beitrag zur ,idealen Bibliothek‘ Nietzsches zu liefern. 1

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Für eine Diskussion des Einflusses Nietzsches auf Strindberg und weiterführende Literaturhinweise vgl. Tobias Dahlkvist, „Vad kan Borgs armband lära oss? Nietzsche och I havsbandet“, in: Samlaren. Tidskrift fçr svensk litteraturvetenskaplig forskning 125 (2004), S. 92 – 111. Mazzino Montinari, „Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hrsg. v. Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis und Sara Lennox, Bern und Stuttgart: Francke 1988,

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Nietzsches Briefwechsel mit Strindberg Der Briefwechsel zwischen Nietzsche und Strindberg hebt damit an, daß Nietzsche Gçtzen-Dmmerung an Strindberg schickt. Kein Brief begleitet das Buch, das aber mit einer Widmung versehen ist: „Herrn August Strindberg. Sollte man das nicht übersetzen? Es ist Dynamit. Der Antichrist“3 Abgesehen von beiderseitigen Komplimenten und einer Diskussion über Übersetzer und Übersetzungen ist im Briefwechsel vor allem ein Thema deutlich: die Psychologie des Verbrechers. Strindberg schreibt, Nietzsche habe „donné à l’humanité le livre le plus profonde qu’elle possède“,4 aber seine Deutung des Verbrechers sei verfehlt. Der Verbrecher sei, so Strindberg, „un animal inférieur, un dégénéré“.5 Um diese Kritik zu unterstützen führt er Lombroso an, dessen L’uomo delinquente (1876) laut Strindberg zeige, daß der Verbrecher dekadent ist.6 Er polemisiert hier mit Aphorismus 45 aus den „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“ – er hatte eben die Gçtzen-Dmmerung gelesen –, wo Nietzsche schreibt: „Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. […] Seine Tugenden sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur physiologischen Entartung.“ (GD Streifzüge 45) In seiner Antwort an

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S. 137 – 148, hier S. 137. Vgl. Mazzino Montinari, Che cosa ha detto Nietzsche, hrsg. v. Giuliano Campioni, Milano: Adelphi 22003, S. 154: „Nietzsche si rivela un lettore del prim’ordine; più ancora, queste letture […] ci mostrano un Nietzsche saldamente ancorato nei problemi culturali del suo tempo, un Nietzsche storico, che ben poco ha a che fare con il pallido spettro di molte interpretazioni […] che non fanno altro che tessere e ritessere una discutibile trama di filosofemi, senza alcun concreto riferimento alla reale vita intellettuale di Nietzsche.“ Zitiert nach: August Strindberg, Brev, Bd. 7, hrsg. v. Torsten Eklund, Stockholm: Bonniers 1961, S. 186, Fußnote. Strindberg an Nietzsche, Anfang Dezember 1888, KGB III/6, S. 376. Nach dem Herausgeber der Strindbergschen Briefausgabe, Torsten Eklund, wurde der Brief um den 4. Dezember herum geschrieben: Strindberg, Brev (Anm. 3), S. 190. KGB III/6, S. 376. Strindberg besaß eine französische Übertragung von Lombrosos Hauptwerks: L’homme criminel. Atlas, 21888; siehe: Hans Lindström, Strindberg och bçckerna, 2 Bde., Uppsala: Svenska litteratursällskapet 1977 – 90, Bd. 1, S. 186.

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Strindberg gibt Nietzsche zu, daß der hereditäre Verbrecher zwar oft dekadent sei, er habe aber immer einen Ahnvater, der zu stark für die Umstände gewesen sei.7 Um diese Auffassung zu unterstützen, führt er The Hereditary Genius (1869) des englischen Naturforschers Francis Galton an.8 Strindberg beruft sich also auf Lombroso, Nietzsche auf Galton. Es würde zu weit führen, die Implikationen dieser Tatsache bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Konstatieren wir aber, daß obwohl die Entartung im Zentrum beider Werke steht, beide ihr gegenüber unterschiedliche Haltungen einnehmen. Für Lombroso ist die Entartung ein Faktum, etwas Gegebenes, wogegen wir uns schützen müssen. Der englische Historiker Daniel Pick erläutert die Position Lombrosos folgendermaßen: „For Lombroso, criminality was ,natural‘ but unacceptable; natural in its relation to heredity (certain creatures fell behind in the course of evolution), unacceptable in its social consequences. The criminal class was in short an obsolete freight weight carried by the state.“9 Für Galton hingegen besteht die wissenschaftliche Aufgabe in einer geschichtlich-genealogischen Untersuchung der Degeneration. Er konstruierte zum Beispiel einen Fotoapparat, mit dessen Hilfe die Physiognomie des Verbrechers wissenschaftlich zu erfassen wäre. Galton greift auch der Kritik Nietzsches gegen Darwin vor, daß die natürliche Zuchtwahl zu Gunsten der mittelmäßigen Individuen geschieht. Der 7

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Vgl. Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001, S. 239: „Nietzsche manifeste un vif intérêt pour le phénomène de la dégénérescence, comme pour le personnage du grand criminel qui peuple les romans et les feuilletons de l’époque. Il peut représenter un degré de force et d’autonomie très poussé: sa déchéance et sa chute dans la criminalité de droit commun sont dues à la cohésion grégaire de la société qui l’écrase, qui lui interdit l’adéquate réalisation de sa puissance.“ Nietzsche besaß einen Band von Galton; aber nicht The Herediatry Genius, sondern Inquiries into Human Faculty and in Development (1883); siehe: Nietzsches persçnliche Bibliothek, herausgegeben von Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio, Maria Cristina Fornari, Francesco Fronterotta und Andrea Orsucci unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck, Supplementa Nietzscheana Band 6, Berlin und New York: Walter de Gruyter 2003, S. 238 f. Marie-Luise Haase hat die Bedeutung dieses Buches für Nietzsche in der Zarathustra-Zeit diskutiert: Marie-Luise Haase, „Friedrich Nietzsche liest Francis Galton“, in: NietzscheStudien 18 (1989), S. 633 – 658. Daniel Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 126.

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Kampf ums Dasein, schreibt Galton, „seems to me to spoil and not improve our breed“.10 Obwohl natürlich weder Strindberg noch Nietzsche getreue Schüler Lombrosos beziehungsweise Galtons sind, kann doch einen analoger Unterschied in Nietzsches Kommentaren zu den Werken Strindbergs erahnt werden. Wie Lombroso ist Strindberg der Entartung gegenüber fatalistisch eingestellt.11 Für ihn bildet sie den Hintergrund von Problemen moralischer, politischer und später auch religiöser Natur, die er in seinen Werken darstellt. Nietzsche sucht, wie Galton, die Mechanismen der Entartung zu verstehen, um die höchsten Individuen vor ihren Folgen zu retten. Meines Erachtens ist dieser Unterschied sehr wichtig, um Nietzsches Kommentare zu Strindberg richtig zu verstehen.

Nietzsche als Leser Strindbergs Nietzsche hat drei Bücher von Strindberg gelesen: die Novellensammlung Giftas (die er in französischer Übertragung, Les maris, Lausanne/Paris 1885, las), die Tragödie Fadren (die er in der von Strindberg ausgeführten Übersetzung, Pre, Paris/Helsingborg 1888, las) und die Erzählung „Samvetskval“ (französische Übersetzung unter dem Titel „Remords“ veröffentlicht in der Revue universelle international Januar/ Februar 1885).12 10 Zitiert nach Pick, Faces (Anm. 9), S. 192. Vgl. Haase, „Nietzsche liest Galton“ (Anm. 8), S. 646: „Galtons Anliegen ist es, die ganze Menschheit zu verbessern, indem die Minderwertigen allmählich, fast unbemerkt, ersetzt werden durch gelungene Exemplare. Seine Theorie entwickelt er gegen Darwins grausamen ,Kampf ums Dasein‘. Sehr verkürzt ausgedrückt, will er die Fruchtbarkeit der Besten sicherstellen, damit sie anteilmäßig in der Bevölkerung überwiegen, was zur Folge haben muß, daß die Minderwertigen durch immer geringere Überlebenschancen schließlich aussterben.“ 11 Für eine hervorragende Diskussion von Strindbergs Lektüre der zeitgenössischen Psychologen, siehe Hans Lindström, Hjrnornas kamp. Psykologiska ider och motiv i Strindbergs ttiotalsdiktning, Uppsala: Natur och kultur 1952, besonders S. 115 – 125 und S. 181 – 191. Obwohl Lindströms Buch im Einzelnen veraltet ist, ist es immer noch sehr lesenswert. Leider gehört seine Diskussion von Strindberg und Nietzsche zu den schwächsten Partien des Buches. 12 Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s Reading and Private Library, 1885 – 1889“, in: Journal of the History of Ideas 58:4 (1997), S. 663 – 693, hier 689. Die Bücher sind nicht in der Bibliothek Nietzsches aufbewahrt geblieben und auch nicht in Nietzsches persçnliche Bibliothek aufgenommen worden.

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Giftas – „wir stimmen über das ,Weib‘ absolut überein“ (KSB 8, S. 479) Nietzsches Briefe enthalten zwei Urteile über Giftas. Erstens einen Brief an Köselitz, in dem er schreibt: „sehr curios, wir stimmen über das ,Weib‘ absolut überein […].“13 Zweitens schreibt er an Brandes, Les maris gelesen zu haben, „entzückt, und wie bei mir zu Hause“.14 Das Thema der Novellensammlung ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Giftas besteht aus zwei Teilen, einem ersten Teil, 1884 herausgegeben, der aus drei eigenartigen Vorreden und zwölf Erzählungen besteht, und einem zweiten Teil von 1886, der aus einer Vorrede und achtzehn Erzählungen besteht; der Ton dieses zweiten Teiles ist erheblich schärfer. Der ersten Teil wurde 1885 ins Französische übersetzt (ohne die Vorreden).15 Dies ist also die Ausgabe, die Nietzsche las und die im Folgenden zitiert wird. Das Bild des ,Weibes‘ stimmt in der Tat recht gut mit dem Bild Nietzsches überein. Die Verschiedenheit der Geschlechter wird betont, und die Risiken der sexuellen Abstinenz werden in vielen der Erzählungen hervorgehoben. Ferner ist die Feindseligkeit dem Christentum gegenüber charakteristisch für das Buch. Strindberg wurde tatsächlich wegen Gotteslästerung angeklagt, aber schließlich freigesprochen.16 Als Grundbedingung des Lebens wird von Strindberg der Kampf geschildert. „La nature avait établi des lois si sages que la civilisation humaine n’était qu’une inepte lutte contre ces lois, et que l’homme finirait pour succomber.“ Am schlechtesten ausgerüstet in diesem Kampf sind die Adeligen; ihnen mangelt es an Lebenskraft, deswegen müssen sie die ärmeren Klassen aussaugen: „La haute et noble race vivait par conséquent de proie, même pour les moindres choses.“17 Das hat natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Aussagen Nietzsches wie der folgenden (aus dem Nachlaß von Dezember 1888): „[W]as heute in der 13 Nietzsche an Köselitz, 18. Nov. 1888, KSB 8, S. 479. 14 Nietzsche an Brandes, 20. 11. 1888, KSB 8, S. 483. Brandes selbst hatte Nietzsche auf die Ähnlichkeit seiner Position den Frauen gegenüber mit der Position Strindbergs angewiesen: Brandes an Nietzsche, 16. 11. 1888, KGB III/ 6, S. 353. 15 Siehe dazu die Kommentare des Herausgebers in: August Strindberg, Giftas I-II (1884 – 86), Samlade verk Bd. 16, hrsg. v. Ulf Boëthius, Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1982, S. 336 f. 16 Der Prozeß gegen Strindberg wird in Gunnar Brandell, Strindberg – ett fçrfattarliv, 4. Bde., Stockholm: Alba 1983 – 1989, Bd. 2, S. 61 – 89, ausführlich geschildert. 17 Auguste [sic] Strindberg, Les Maris. Douze caractres conjugaux, Lausanne und Paris: Belhatte & Thomas 1885, S. 191.

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Gesellschaft obenauf ist, ist physiologisch verurtheilt und überdies – was der Beweis dafür ist – in seinen Instinkten so verarmt, so unsicher geworden, daß es das Gegenprincip einer höheren Art M ohne Scrupel bekennt.“ (KSA 13, 25[1]) Aber diese Ähnlichkeit mit Nietzsches Position ist oberflächlich, und die Unterschiede sind erheblich und bedeutsam. Für Strindberg ist das Leben zwar ein Kampf; dieser Kampf ist aber in Giftas vor allem politischer Natur, und zwar mit sozialistischen Untertönen. In der Vorrede zur schwedischen Ausgabe des Buches bezeichnet sich Strindberg sogar als Sozialisten: „Som alla upplysta människor nuförtiden“ – „Wie alle aufgeklärten Menschen heutzutage“.18 Diese Vorrede wurde aber nicht übersetzt. Wahrscheinlich hätte die Vorrede, die außer dieses Bekenntnisses zum Sozialismus auch ein Verzeichnis der politischen Rechte der Frauen enthält, Nietzsche Strindberg gegenüber kritischer gestimmt, wenn er sie hätte lesen können. Die Vorrede hätte ihm vor Augen führen können, daß ihre Ansichten über das ,Weib‘ nur dort übereinstimmen, wo sie es als Individuum betrachten. Fadren – „diese[r] Meisterstück harter Psychologie“ (KSB 8, S. 508) Obwohl Nietzsche Giftas zuerst gelesen und offenbar geschätzt hat, läßt in erster Linie die Tragödie Fadren Strindberg in seinen Augen als Franzose erscheinen. Das Thema des Dramas ist fast archetypisch für Strindberg. Es handelt von der Unsicherheit des Mannes im Hinblick auf die Treue seiner Frau beziehungsweise von der Unmöglichkeit zu wissen, ob man der Vater der eigenen Kinder ist. Als der Rittmeister, der Protagonist des Dramas, einsieht, daß auch er sich dessen nicht sicher sein kann, wird er von seinen Zweifeln in den Wahnsinn und den Tod getrieben. Denn seine Frau erkennt, daß sie den Wahnsinn des Rittmeisters ausnützen kann, um über die Erziehung der Tochter zu entscheiden. Sie läßt ihn also verstehen, daß er nie sicher sein kann, ob sie ihm nicht untreu gewesen ist. Das Leben des Paares wird zu einem Kampf; und weil der Rittmeister empfindlicher und zivilisierter ist als seine Frau, muß er diesen Kampf verlieren. Strindberg hat 1887 die schwedische Fassung Fadrens geschrieben. Zusammen mit Frçken Julie (1888) stellt Fadren den Höhepunkt von Strindbergs Naturalismus dar. Er hat das Werk eigenhändig ins Französische übersetzt; 1888 wurde diese Übertragung unter dem Titel Pre 18 Strindberg, Giftas (Anm. 15), S. 29.

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veröffentlicht. Nietzsche las diese Ausgabe, und das Werk wird hier nach dieser Übersetzung zitiert. Sie ist mit einer Vorrede von Émile Zola versehen, bei der es sich eigentlich um einen Brief von Zola handelt, der sich eher reserviert gibt. Das Drama ist ihm zu abstrakt, und er hätte sich eine ausführlichere Beschreibung des Hintergrunds der Personen gewünscht. Er schließt seinen Brief aber mit einer höflichen Begründung der Tatsache ab, daß das Drama ihm nur teilweise gefällt: „Mais il y a certainement là, entre vous et moi, une question de race.“19 Wegen dieses Rassenunterschieds kann Zola das Werk nicht vorbehaltlos schätzen: Zola scheint zu sagen, daß ihm das Werk nur zum Teil gefällt, weil Strindberg nicht Franzose ist. Nietzsche kommentiert die Vorrede in seinen Briefen an Strindberg ausführlich. Nach seiner Meinung ist diese Vorrede sehr naiv und verrät einen unfranzösischen Charakter: „Aber fast geschüttelt vor Lachen habe ich mich, als er zuletzt eine Rassen-Frage daraus macht! So lange es überhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus RassenInstinkt gerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine protestiert gegen Zola. Zuletzt ist er ein moderner Italiener, er huldigt dem verismo…“20 Der Franzose Zola ist also, nach Nietzsches Auffassung, Italiener. Den Schweden Strindberg dagegen betrachtet er als Franzosen. Es gibt also tatsächlich einen Unterschied zwischen Zola und Strindberg, aber nicht so, wie Zola ihn sieht. ,Französisch‘ bedeutet hier also offenbar etwas anderes, als französischer Herkunft zu sein: Wenn Strindberg Franzose ist, dann, weil er Franzose geworden ist. In anderen Briefen wird das Franzosentum Strindbergs noch ausführlicher kommentiert. Strindberg solle, so Nietzsche im Brief von 18. Dezember, nicht bedauern, Schwede zu sein. Vielmehr solle er das Glück, nicht Deutscher zu sein, nicht unterschätzen. Denn: „Es giebt gar keine andere Cultur, als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft, daß man in die einzige Schule geht – sie ist nothwendig die rechte . . Wollen Sie 19 Auguste [sic] Strindberg, Pre. Tragdie en trois actes, Paris/Helsingborg: Librairie Nilsson 1888, S. 3. 20 Nietzsche an Strindberg, 27. 11. 1888, KSB 8, S. 493. Vgl. GD Streifzüge 1: „Zola: oder ,die Freude zu stinken.‘“ Il verismo war eine italienische naturalistische Bewegung, tief beeinflußt von Manzoni und vom französischen Naturalismus, vor allem von Zola. Der wichtigste Vertreter der Bewegung war Giovanni Verga. Peter Brand & Lino Pertile (Hrsg.), The Cambridge Companion to Italian Literature, Cambridge: Cambridge University Press 21999, S. 463 ff.

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den Beweis dafür? Aber Sie sind der Beweis! –“21 Und an Köselitz faßt er den ersten Eindruck von Strindberg zusammen: „Es ist die französische Cultur auf einem unvergleichlich stärkeren und gesnderen fond: der Effekt ist bezaubernd […].“22 Im ersten erhaltenen Brief an Strindberg berichtet Nietzsche, daß er Fadren zweimal gelesen habe, und zwar „mit tiefer Bewegung“. Nietzsche fügt hinzu, es habe ihn „über alle Maaßen überrascht, ein Werk kennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe – in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter – auf eine grandiose Weise zum Ausdruck gebracht ist.“23 Diese Formulierung stemmt aus dem Fall Wagner; sie ist sehr bedeutungsvoll. Da Nietzsche mit diesen Worten Bizets Carmen beschreibt, dürfen wir annehmen, daß Fadren in seinen Augen vor allem Dank der Liebesauffassung ein französisches Werk ist. Die Liebe wird in Fadren vor allem als Machtkampf geschildert. Was willst du? fragt der Rittmeister seine Frau: die Macht um jeder Preis? „Oui, la pouvoir! Cette guerre à mort, sur quoi a-t-elle roulé?“24 Diese Replik bezieht sich allererst auf den konkreten Konflikt zwischen dem Rittmeister und seiner Frau; sie faßt aber Strindbergs Auffassung der Liebe sehr gut zusammen. Zusammen mit einer anderen zentralen Replik drückt sie die Liebesdefinition Nietzsches fast wörtlich aus. Haßt du mich? fragt der Rittmeister seine Frau; sie gibt zu, ihn zu hassen, insofern er ein Mann ist. „Mais c’est de la haine de race, ceci!“ antwortet der Rittmeister: „Si nous descendons du singe, il faut au moins qu’il y ait eu deux espèces primitives, puisque nous ne nous ressemblons point.“25 Die Liebe ist also ein Krieg; sie stellt einen Todhaß der Geschlechter dar. Es ist dies sowohl die Auffassung Strindbergs wie diejenige Nietzsches. Strindberg ist offenbar nicht mehr Sozialist. Trotzdem besteht ein großer Unterschied zu Nietzsche. Die Liebe und das Weib werden von Strindberg fast genau so wie von Nietzsche analysiert. Aber sie unterscheiden sich in ihrer Bewertung. „Voilà le péril,“ sagt der Rittmeister, indem er erklärt, daß alle Frauen zumselben Typus gehören: „la coquinerie inconsciente, la 21 22 23 24 25

Nietzsche an Strindberg, 18. 12. 1888, KSB 8, S. 539. Nietzsche an Köselitz, 18. 11. 1888, KSB 8, S. 479. Nietzsche an Strindberg, 27. 11. 1888, KSB 8, S. 493; vgl. WA 2. Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 62. Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 66.

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fourberie instinctive. Tel est le genre féminin!“26 In der schwedischen Ausgabe ist der Ton noch negativer: „Det är just detta som är faran, att de äro omedvetna om sin instinktiva skurkaktighet.“27 Auf Deutsch: „Aber eben das ist die Gefahr, daß sie sich ihrer instinktiven Schurkenartigkeit nicht bewußt sind.“ Auch Nietzsche redet öfters von der Gefährlichkeit der Frauen. In Jenseits von Gut und Bçse, zum Beispiel, schreibt er: „Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die ,natürlicher’ ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden ……“ ( JGB 239) Er ist sich also mit Strindberg über das ,Weib‘ einig. Trotzdem ist deutlich, daß Nietzsche diese unbewußte Schurkenartigkeit der Frauen ganz anders beurteilt als Strindberg. Man könnte sagen, der Unterschied besteht darin, daß Fadren viel moralistischer ist als die Schriften Nietzsches. Die Gattungskonventionen zwingen zwar Strindberg zu einem gewissen Moralismus, aber auch wenn wir diesen gattungsbedingten Moralismus berücksichtigen, besteht ein Unterschied zu Nietzsche. In der Vorrede nennt Zola Laura, also die Frau des Rittmeisters, „vraiment la femme dans son orgueil“ und fügt hinzu, daß er sie nicht vergessen werde.28 Das Verhältnis zwischen ihr und dem Rittmeister ist aber sehr tendenziös geschildert. Der Leser, beziehungsweise Zuschauer, des Dramas nimmt notwendigerweise für den Rittmeister Partei; das Drama ist so konstruiert, daß wir Laura verurteilen sollen. Das Schicksal des Rittmeisters wird demnach aus moralischer Hinsicht bewertet, es wird als die Tragödie eines Individuums eher als ein Problem der modernen Kultur dargestellt. Samvetskval – „ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.“ (KSB 8, S. 568) Nachdem Strindberg entdeckt hat, daß Nietzsche das Problem des Gewissens in der Genealogie der Moral diskutiert, schickt er ihm die Erzählung „Samvetskval“ (französischer Titel: „Remords“) zu. Sie ist 26 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 57. 27 August Strindberg, Fadren. Sorgespel (1887), in: ders., Fadren/Frçken Julie/ Fordringsgare, Samlade verk Bd. 27, hrsg. v. Gunnar Ollén, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1984, S. 62. 28 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 3.

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1885 erschienen und gehört zwar einer vergangenen, pazifistischen Phase seiner Produktion an; für Strindberg ist aber die Tatsache, daß das Gewissen für ihn und Nietzsche als Problem gleichermaßen interessant ist, wichtig genug, um ihm die Erzählung zu schicken. Der Protagonist der Erzählung, der deutsche Leutnant von Bleichroden, läßt eine Gruppe von französischen Freischützen füsilieren. Die Hinrichtung erfüllt ihn mit Ekel: Nicht nur bewundert er den Mut der Franzosen; als Leser Schopenhauers und Hartmanns ist er mit Sympathie allen lebendigen Wesen gegenüber erfüllt; und endlich mag er den Krieg gar nicht, sondern er vermißt seine hochschwangere Frau. Bleichroden bricht unter dem Eindruck der Füsilierung zusammen. Die Gewissenbisse werden ihm unerträglich. Nur die Nähe seiner Frau und seines neugeborenen Kindes kann ihn heilen. Strindberg schickt Nietzsche die Erzählung am 27. Dezember 1888 zu; vier Tage später spielt Nietzsche in seinem Brief an Strindberg, einem der ersten Wahnsinnszettel, auf das Ende der Erzählung an. „Lieber Herr“, schreibt Nietzsche, „Sie werden die Antwort auf Ihre Novelle in Kürze zu hören bekommen – sie klingt wie ein Flintenschuß . . Ich habe einen Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.“29 Es hätte ein ironischer Kommentar sein können. Der Brief ist aber mit „Nietzsche Cäsar“ unterzeichnet. Nietzsche ist zusammenbebrochen. Der Rest ist Schweigen.

Abschluß Es ist also einfach zu sehen, welche Elemente der Strindbergschen Werke das Gefallen Nietzsches geweckt haben müssen. Das ,Weib‘ und die Auffassung der Liebe sind die zwei Elemente, die Nietzsche selber hervorhebt. Ich habe versucht zu zeigen, daß diese Elemente bei Strindberg im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe anderer Elemente stehen, die eine gewisse Verwandtschaft mit Nietzsche verraten: die physiologische Entartung des modernen Menschen und der Kampf als Grundbedingung des Lebens zum Beispiel. Es ist offenbar dieser Elemente wegen, daß Nietzsche Strindberg als einen Franzosen bezeichnet. Strindberg ist aber weniger analytisch, weniger kulturkritisch und moralisierender als Nietzsche. Strindberg als einen französischen 29 Nietzsche an Strindberg, 31. 12. 1888, KSB 8, S. 567 f.

Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche?

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Schriftsteller zu bezeichnen, setzt deshalb eine gewisse Umdeutung seiner Werke voraus. Kehren wir also zu unserer Ausgangsfrage zurück: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? Strindberg ist Franzose wegen seines Interesses an der zeitgenössischen Psychologie, wegen seiner Schilderungen der Liebe als Krieg und der Frau als eines gefährlichen Feindes. Strindberg scheint also in dem Maße ,französisch‘ zu sein, wie seine Werke Nietzsches Gedanken widerspiegeln. La France, hätte Nietzsche sagen können, la France, c’est moi; denn ,französisch‘ ist beim späten Nietzsche beinahe ein Synonym von ,nietzscheanisch‘.

B. Französische Nietzsche-Rezeption

La première réception de Nietzsche en France: Henri Lichtenberger, Charles Andler, Geneviève Bianquis Marc Sagnol C’est à partir des années 1890 et surtout 1900 que Nietzsche a commencé à être traduit en français (si l’on fait abstraction du petit volume Richard Wagner  Bayreuth publié à Bâle en 1877). La série des traductions importantes est ouverte par Le cas Wagner en 1892, traduit par Daniel Halévy et Robert Dreyfus, puis un recueil de textes A travers l’œuvre de Nietzsche, choisi par P. Lauterbach et Adolphe Wagnon en 1893. Le rythme de la découverte de Nietzsche s’est amplifié au tournant du siècle, dès 1898 avec Ainsi parlait Zarathoustra, dans la traduction de Henri Albert et Par del le bien et le mal, par L. Weiscopf et G. Art, puis en 1899 avec Le crpuscule des idoles, Le cas Wagner, Nietzsche contre Wagner et L’Antichrist, tous traduits et publiés par Henri Albert, et les Aphorismes et fragments choisis par Henri Lichtenberger, une coupe transversale à travers toutes les grandes œuvres, avec un intérêt particulier porté à Zarathoustra; puis la première partie de Humain, trop humain, traduit par Anne-Marie Desrousseaux, et des Pages choisies traduites par Henri Albert. Les années suivantes vont voir briller ce traducteur, Henri Albert, qui fut aussi un ami ou une connaissance de Paul Valéry. En 1900, il donnera la traduction de La gnalogie de la morale, en 1901 celle du Gai savoir, et d’Aurore, tandis que Morland traduit pour la première fois L’Origine de la tragdie. En 1902 Henri Albert de nouveau publie le Voyageur et son ombre, en 1903 la Volont de puissance et Par del le bien et le mal, en 1907 les Considrations inactuelles et en 1909 Ecce homo et les Posies. On peut donc dire qu’après ce travail presque titanesque, en particulier celui d’Henri Albert, l’œuvre de Nietzsche était presque entièrement traduite en 1909 et pouvait commencer à exercer son influence sur la littérature et la pensée françaises. C’est après la Première guerre mondiale qu’une nouvelle génération de traducteurs se substituera à l’ancienne, déjà méritante, avec notamment les travaux de Geneviève Bianquis, qui retraduira la Volont de puissance dans l’édition

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complète (ou considérée à l’époque comme telle) en deux volumes, et donnera aussi la Naissance de la philosophie  l’poque de la tragdie grecque), Maurice Betz qui retraduira Ainsi parlait Zarathoustra, et Alexandre Vialatte (surtout connu aujourd’hui pour avoir traduit et introduit Kafka en France) qui retraduira Ecce homo et publiera des Lettres choisies (de 1866  1888). Mais venons-en aux études importantes publiées à cette époque sur Nietzsche, qui permettent de tracer des contours plus précis et d’obtenir une image plus fidèle de la réception de cet auteur en France. Parmi les nombreuses monographies consacrées à Nietzsche avant et après la Première guerre mondiale, nous retiendrons principalement trois noms: Henri Lichtenberger, Charles Andler et Geneviève Bianquis. La première étude vraiment considérable donnant une bonne vision d’ensemble de Nietzsche est l’ouvrage de Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, publié en 1898 chez Félix Alcan et qui connut de nombreuses rééditions (nous citons d’après la 12ème édition, de 1923, augmentée des Aphorismes et fragments choisis publiés au départ en volume séparé). Ce livre extrêmement synthétique et bien composé donne un exposé cohérent et mesuré de la pensée de Nietzsche, mettant en évidence son génie, sa grandeur d’âme, son écriture poétique. Après une partie biographique dans laquelle Lichtenberger retrace le mouvement par lequel Nietzsche s’est émancipé de ses maîtres, Schopenhauer et Wagner en particulier, il s’attaque de front à une reconstitution d’un «système» dans la philosophie de Nietzsche, anticipant la méthodologie de Karl Löwith par exemple qui voyait chez Nietzsche un «système en aphorismes». Ce système, Lichtenberger le voit se fonder sur deux piliers, l’un négatif, l’homme, l’autre positif, le surhomme. La conviction de Lichtenberger est que «Nietzsche a très réellement conçu un système fort bien lié dans toutes ses parties et que, s’il ne l’a jamais exposé sous une forme systématique, c’est surtout parce que son état de santé l’a obligé à rendre sa pensée sous forme d’aphorismes qu’il pouvait rédiger de tête, en se promenant et sans écrire, tandis qu’il lui était impossible d’entreprendre la composition d’œuvres de longue haleine.»1 Dans sa description de la partie négative du système, l’homme tel qu’il est déchu à la suite de la transvaluation des valeurs, Lichtenberger 1

Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche (1898), 12ème éd. Paris 1923, p. 99 – 100.

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insiste sur la morale des esclaves qui, selon Nietzsche, s’est emparée de notre civilisation judéo-chrétienne, glorifiant les pauvres, les faibles, les déshérités, les malades. Il cite des fragments dans lesquels est présentée «l’opération mystérieuse et louche grâce à laquelle les esclaves gonflés de ressentiment arrivent à rapetisser en pensée les maîtres et à se transformer eux-mêmes en martyrs et en saints.»2 C’est la morale d’esclaves qui domine aujourd’hui la conscience moderne sous le nom pompeux de «religion de la souffrance humaine».3 Un autre grave symptôme de décadence, selon Nietzsche, est le triomphe général de l’idéal démocratique. De même la femme émancipée est l’objet des sarcasmes du philosophe. Dans sa reconstitution du pilier positif du système, le «surhomme», Lichtenberger tente de mettre en cohérence les éléments qui font de cette pensée une émancipation de la décadence, et de la décadence un mal nécessaire pour parvenir à une régénérescence de l’humanité. La doctrine du surhomme est enseignée principalement dans Zarathoustra. Lichtenberger la résume ainsi: «On peut définir le surhomme: l’état auquel atteindra l’homme lorsqu’il aura renoncé à la hiérarchie actuelle des valeurs, à l’idéal chrétien, démocratique ou ascétique qui a cours aujourd’hui dans toute l’Europe moderne, pour revenir à la table des valeurs admise parmi les races nobles, parmi les Maîtres qui créent euxmêmes les valeurs qu’ils reconnaissent au lieu de les recevoir du dehors.»4 Il cite ensuite les pages les plus dévoyées de Nietzsche selon lesquelles il faut savoir faire souffrir pour obtenir de grandes choses. Lichtenberger présente enfin brièvement la théorie de l’éternel retour, qui «jaillit comme un éclair au mois d’août 1881 à Sils Maria dans le cerveau de Nietzsche»5, et qu’il présente à la fois comme la base et comme le couronnement de la philosophie du surhomme. Lichtenberger est à ma connaissance le premier à avoir remarqué, près de 40 ans avant Benjamin pour qui ce fut une découverte capitale, que la théorie de l’éternel retour avait été formulée avant Nietzsche par Blanqui dans L’ternit par les astres. 6 Nietzsche pourrait-il avoir été influencé par Blanqui? 2 3 4 5 6

Ibid., p. 113. Ibid., p. 121. Ibid., p. 149. Ibid., p. 160. Ibid., p. 175. Voir Auguste Blanqui, L’ternit par les astres, (1872) réédition Paris 1982, et Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften V, Francfort 1982, trad. fr. Le livre des passages, Paris 1989.

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Dans sa conclusion, mesurée mais favorable à Nietzsche, Lichtenberger est tout à fait conscient du fait que certaines idées de Nietzsche, «si elles sont mal comprises, peuvent servir de justification apparente à des doctrines morales infiniment déplaisantes.»7 Mais il lui reconnaît le mérite de «contribuer à détruire l’équilibre moral de natures chez lesquelles les instincts égoïstes sont déjà développés outre mesure […]. Peu de moralistes ont percé à jour avec autant de cruauté tous les petits mensonges que l’âme se fait à elle-même pour se dissimuler sa faiblesse, sa lâcheté, son impuissance, sa médiocrité […] Nietzsche nous apparaît comme un médecin d’âmes rude et impitoyable: l’hygiène qu’il prescrit à ses patients est sévère, dangereuse à suivre mais fortifiante, il ne console pas ceux qui viennent lui conter leurs souffrances, il laisse saigner leurs plaies et leurs blessures, mais il les rend durs à la douleur; il guérit radicalement les malades, ou il les tue.»8 Parmi les études sur Nietzsche publiées à la suite de ce livre de Lichtenberger et jusqu’à la Première guerre mondiale, signalons les noms de Jules de Gaultier, Eugène de Roberty, Pierre Lasserre, Alfred Fouillée, et le petit livre de Gide, Prtextes (1903), ainsi que Daniel Halévy qui a publié en 1909 une Vie de Frdric Nietzsche, ou encore Élie Faure avec son Frdric Nietzsche de 1912. Mais l’ouvrage essentiel qui a contribué de manière décisive à la connaissance de Nietzsche en France, rédigé en grande partie avant la première guerre mondiale mais publié à partir de 1920, est la magistrale biographie intellectuelle de Charles Andler, Nietzsche, sa vie et sa pense en 6 volumes, édités par Gallimard dans la Bibliothèque des idées. Ces volumes sont: 1. Les précurseurs de Nietzsche (1920), 2. La jeunesse de Nietzsche ( jusqu’à la rupture avec Bayreuth) et 3. Le pessimisme esthétique de Nietzsche (sa philosophie à l’époque wagnérienne), 1921; 4. La maturité de Nietzsche ( jusqu’à sa mort), 1928; 5. Nietzsche et le transformisme intellectualiste (1922) et enfin 6. La dernière philosophie de Nietzsche (le renouvellement de toutes les valeurs), 1930. Avec cet ouvrage, qui fait aujourd’hui encore autorité et qui n’a à ma connaissance pas d’équivalent au niveau international, Andler est devenu le véritable père fondateur de la «germanistique» française. Publié après la première guerre mondiale, il n’est pas anodin de lire que ce livre est dédié à la mémoire des germanistes français, ses anciens élèves, morts dans la grande guerre. 7 8

Ibid., p. 177. Ibid., p. 182.

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De cet ouvrage monumental, nous retiendrons ici principalement le premier volume sur «Les précurseurs de Nietzsche» où, après avoir montré l’influence de Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Fichte et Schopenhauer, Andler se lance dans une étude extrêmement stimulante consacrée à l’influence des moralistes français sur Nietzsche, de Montaigne à Pascal et La Rochefoucauld jusqu’à Stendhal. Bien que cet aspect de la pensée de Nietzsche, qui expliquera aussi que la France soit devenue un terreau particulièrement fécond pour son développement, soit en fait aujourd’hui assez connu (Andler ayant été largement pillé dans la littérature critique), il convient de rappeler ici quelques-unes des idées fondamentales que l’on trouve dans cet ouvrage d’une grande érudition, de haute qualité scientifique et en outre admirablement écrit. Andler rappelle tout d’abord que Cosima Wagner, qui avait une grande culture française, lui fit un jour cadeau en 1870 d’une belle édition de Montaigne et que son meilleur ami, Franz Overbeck, né de mère française et élevé à Paris, lisait beaucoup de livres français et en faisait partager la lecture à Nietzsche.9 Montaigne est donc le premier des auteurs qu’étudie Andler. Il est pour Nietzsche, «quand on le compare aux anciens, un naturaliste de la morale». Andler montre que l’une des doctrines les plus importantes de Nietzsche, l’analyse de «l’esprit grégaire» qui fonde la morale et les institutions sociales, a sa source chez Montaigne: «Il est croyable qu’il y a des lois naturelles, comme il se voit chez les autres créatures, mais en nous elles sont perdues»10 et: «Les lois de la conscience, que nous disons naître de la nature, naissent de la coutume; chacun, ayant en vénération intime les opinions et mœurs approuvées et reçues de lui, ne s’en peut déprendre sans remords.»11 Montaigne se prononçait déjà pour une forme de transformation des valeurs lorsqu’il élaborait une critique des lois: «Les lois se maintiennent en crédit non parce qu’elles sont justes mais parce qu’elles sont lois. C’est le fondement mystique de leur autorité.»12 Montaigne, commente Andler, voudrait réveiller en nous la conscience de ce que nous sommes et stimuler en nous le courage de montrer notre nature vraie. «C’est le 9 Charles Andler, Nietzsche, sa vie et sa pense. 1. Les prcurseurs de Nietzsche, Paris: Gallimard, Bibliothèque des idées, 5ème édition 1938, p. 107. 10 Montaigne, Essais II, 244, cité par Andler, p. 110. 11 Essais, I, p. 127, cité ibid. 12 Essais I, p. 121, cité p. 111.

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privilège de l’homme libre et c’est le secret de la vie.»13 L’homme libre, le philosophe, ne cherche pas à s’emparer du pouvoir, sa pensée s’épanouira avec le temps. Les philosophes refusent la royauté, préférant suivre l’exemple d’Empédocle. «La supériorité, pensera Nietzsche après Montaigne, s’impose d’elle-même par une secrète et toute puissante infiltration de sa pensée, et les hommes d’une vraie grandeur gouvernent sans régner ostensiblement.»14 Après son étude de Montaigne, Andler se penche sur les affinités très fortes entre Pascal et Nietzsche dans leur critique de la société: «Pascal, pour qui j’ai presque de la tendresse parce qu’il m’a infiniment instruit.»15 Nietzsche s’inspire de Pascal tout d’abord d’un point de vue formel, dans son écriture par aphorismes, mais il est fasciné aussi par la dialectique pascalienne, la logique de son raisonnement qui renverse toutes les idées reçues. Suivant le scepticisme de Montaigne, Pascal remarque que «rien, selon la seule raison, n’est juste en soi»16 et que le peuple «tient pour justice ce qui est établi» et «prendra l’antiquité des lois pour preuve de leur vérité»17. Ce qui rapproche Pascal de Nietzsche, c’est notamment son refus du monde et son refuge dans la solitude et le dialogue avec le dieu caché, dialogue dont Nietzsche disait qu’il avait «la plus touchante et la plus mélancolique grâce qui ait jamais trouvé des paroles.»18 Nietzsche, dit Andler, n’a pas été moins indifférent que Pascal à la richesse et aux considérations de rang. Et il aimera la maladie pour l’avoir ramené à la méditation clairvoyante.19 Se penchant sur la Rochefoucauld, Charles Andler montre l’influence brève mais forte qu’il a exercée sur Nietzsche: «Nietzsche a souffert de la clairvoyance qu’il a apprise du moraliste français, sa virtuosité d’archer cruel qui, à chaque trait, touche un point vulnérable du cœur, lui arrache, avec de l’admiration, des cris de douleur aussi.»20 La Rochefoucauld s’attache à démonter et donc à transformer la valeur des «vertus» de l’homme et de ce que la société considère comme telles, en particulier la pitié, la générosité, l’amour etc., en montrant qu’elles ont toutes pour mobile profond leur envers négatif, comme la 13 14 15 16 17 18 19 20

Andler, op.cit., p. 111. Ibid., p. 114. Nietzsche, cité par Andler, p. 116. Pascal, Penses, III, 8, cité par Andler, p. 124. Ibid., VI, 6,40. Nietzsche, Morgenrçthe, § 425, cité p. 128. Andler, p. 128. Ibid., p. 139 (Voir Morgenrçthe, I, § 35 – 36).

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vanité, l’orgueil, la recherche de l’honneur, donc d’un gain supérieur à celui qu’on donne. La Rochefoucauld retourne toutes les vertus en leur valeur négative et montre l’homme sous son aspect le plus noir. La médiocre estime où La Rochefoucauld tient la pitié, «passion qui n’est bonne à rien au-dedans d’une âme bien faite, qui ne sert qu’à affaiblir le cœur et qu’on doit laisser au peuple», a eu tout de suite l’adhésion de Nietzsche.21 L’orgueil «se dédommage toujours, il est la ruse la plus savante de la nature pour nous dissimuler nos imperfections.» La générosité n’en est qu’un déguisement, puisqu’elle «méprise de petits intérêts pour aller à de plus grands.» L’amour n’est autre qu’une «passion de régner»22. Néanmoins, tout en approuvant une partie du raisonnement de La Rochefoucauld, Nietzsche le trouve encore fondamentalement ancré dans la pensée chrétienne. En montrant et en dénonçant l’hypocrisie des vertus, La Rochefoucauld se fait pour Nietzsche le complice de la pensée chrétienne moralisatrice. Il s’agira donc d’aller plus loin que La Rochefoucauld et de prendre le contre-pied de son pessimisme chrétien en montrant l’effet nocif de cette recherche de la vertu23 en se faisant l’apôtre d’un certain immoralisme. Sans s’attarder ici sur ce qu’Andler repère de nietzschéen avant la lettre chez Fontenelle et Chamfort, examinons maintenant ce qu’il trouve chez Stendhal. Nietzsche fit la lecture de Stendhal en 1887 et ce fut pour lui une révélation immédiate. Stendhal n’était pas encore à l’époque le grand romancier du XIXème siècle que l’on connaît aujourd’hui, mais méritait encore d’être découvert. Nietzsche reconnaît en Stendhal un précurseur qui a parcouru l’Europe «d’un rythme napoléonien», en avance de deux générations sur son temps. Nietzsche l’appelle son «ami défunt»24. Andler reconstitue tout d’abord la théorie de Stendhal avant de montrer ce que Nietzsche lui doit. Stendhal s’attache à connaître les motifs des actions des hommes et à rechercher les voies qui mènent au bonheur. Il existe pour Stendhal une sorte d’échelle sur laquelle on est assuré de monter d’un échelon chaque siècle, et ainsi une petite partie de l’art d’être heureux peut se constituer à l’état de science exacte.25 A vrai dire cette science n’est pas exacte 21 22 23 24 25

Nietzsche, Menschliches…, I, 50, cité p. 130. Ibid., p. 131. Nietzsche, Der Wille zur Macht, §94, cité p. 130. Nietzsche, Au del du bien et du mal, VIII, § 256. Stendhal, De l’amour, p. 264, cité p. 161.

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puisqu’elle fait intervenir la psychologie, le moi. «Inconnaissable à la science, le moi se décèle par la permanente structure des couches sousjacentes que l’on décèle aux plis de la surface. Une sorte de géologie morale peut en tracer le dessin et en deviner l’inclinaison. Elle découvre notre manière habituelle de chercher le bonheur.»26 Pour Stendhal, la vertu, c’est d’augmenter le bonheur des hommes, le vice d’augmenter leur malheur. «Tout le reste n’est qu’hypocrisie ou ânerie bourgeoise.»27 L’énergie que glorifie Stendhal unit la passion et l’intelligence. Le bonheur est là. Cette énergie est invisible, mais sans elle il n’y aurait pas de civilisation. C’est elle qui galvanise tout, comme une électricité cachée, un courant dynamique obscur d’où partent des décharges puissantes, puis qui rayonnent soudain dans ces lumineux météores, les œuvres d’art. La civilisation d’un peuple se mesure à cette tension intérieure. Ecrire une histoire de la peinture italienne, c’est écrire une Histoire de l’nergie en Italie. 28 Une telle doctrine convenait parfaitement à Nietzsche et complétait celle des moralistes français. Pascal, La Rochefoucauld n’avaient découvert que des passions pauvres, grossières, et en dehors d’elles des inspirations uniques, presque miraculeuses. Nietzsche croit aussi à ces hautes inspirations. Il essaye de les retrouver en-deçà des conventions vaniteuses sous lesquelles étouffent les Européens. Il tente de retourner aux instincts purs et sauvages antérieurs à l’hypocrisie sociale.29 Un autre aspect de Stendhal qui plaît fortement à Nietzsche est son admiration pour l’Italie, le sud de l’Europe. Nietzsche, qui fuyait les brumes de la pensée allemande, fut gagné par Stendhal à un idéal plus méditerranéen, rempli de lumière et de passion italienne30. Stendhal est pour la France le véritable découvreur de l’Italie et de la Renaissance, qu’il n’a cessé de mettre en scène dans ses œuvres. Toutes les admirations stendhaliennes sont partagées par Nietzsche, y compris les mœurs du pape Alexandre VI, César Borgia, parricide et incestueux, qui ne le scandalisent nullement. Stendhal dit avoir trouvé en Italie

26 Stendhal, cité p. 162. Ce terme de « géologie morale » semble annoncer la « géologie des visages » cruellement évoquée par Proust. 27 Stendhal, Correspondance indite, I, p. 15, cité p. 162. 28 Ibid., I p. 47, cité p. 164. 29 Andler, p. 164 – 165. 30 Ibid., p. 165.

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«l’énergie et le bonheur des sauvages.» De tous les peuples modernes, les Italiens sont celui qui ressemble le plus aux anciens. En glorifiant l’Italie, Stendhal attaque la France et les mœurs de son temps. Nietzsche reprendra une partie de ses accusations. A Paris, dit Stendhal, dans les classes sociales hautes et moyennes, la sécurité, la politesse et la civilisation élèvent tous les hommes à la médiocrité mais gâtent et ravalent ceux qui seraient excellents. Diffrence engendre haine31, haine de la pensée, haine de la générosité, de l’audace, de l’amour. Et il conclut: «la civilisation étiole l’âme». Si un homme exceptionnel surgit, comme Napoléon, il sera «puni de sa grandeur par la solitude de l’âme.»32 Nietzsche, montre Andler, emprunte toutes ces idées à Stendhal. C’est par cette citation de Stendhal («différence engendre haine») qu’il explique les jalousies basses qui projettent leur vulgarité sur l’homme supérieur qui passe. Lorsque Nietzsche salue le génie de Napoléon33, voyant en lui un continuateur de la Renaissance, il s’inspire du culte stendhalien du génie latin fait d’énergie et d’intelligence. Nietzsche reprend à son compte l’esthétique stendhalienne lorsqu’il oppose à Kant et à Schopenhauer la définition de Stendhal, «le beau est une promesse de bonheur»34, ou lorsqu’il s’inspire de lui pour sa notion de style, son dégoût de l’ornement inutile. Stendhal faisait de la simplicité la chose la plus indispensable et néanmoins la plus difficile à atteindre. Il voyait un signe d’aristocratie dans le courage d’écrire en style simple.35 Mais il savait que ce faisant il écrivait pour des âmes d’élite, «for the happy few». Nietzsche retiendra aussi cette leçon. Le petit livre de Geneviève Bianquis sur Nietzsche en France, qui obtint en 1928 le premier prix d’un concours de la NietzscheGesellschaft et fut publié en 1929 chez Félix Alcan, fait le point de manière tout à fait claire et remarquable sur l’influence exercée par la pensée de Nietzsche sur la pensée française avant la Première guerre mondiale, remarquant qu’avant même Gide, Anatole France a été marqué par des idées de Nietzsche, même s’il ne l’a pas beaucoup aimé quand il l’a lu. Mais c’est surtout Gide avec son immoralisme, ses actes gratuits, qui a le plus popularisé ou parfois anticipé l’arrivée des idées 31 32 33 34 35

Stendhal, Le rouge et le noir, cité p. 168. Stendhal, De l’amour, p. 70, Vie de Napolon, p. 17 etc., cité p. 169. Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft, § 362, cité p. 169. Nietzsche, Gnalogie de la morale, III, §6. Andler, p. 173.

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nietzschéennes. En 1898, il affirme que l’influence de Nietzsche a précédé l’apparition de son œuvre traduite.36 Charles Maurras semble avoir été influencé par Nietzsche tout en s’en défendant, estimant qu’il avait «découvert la Méditerranée tout seul»37. Gide s’est penché sur Nietzsche dans des articles recueillis dans Prtextes en 1903. Il affirme que pour le comprendre il faut avoir passé par une sorte de protestantisme, de jansénisme de la pensée, par une longue macération au terme de laquelle s’élancent plus vigoureuses l’espérance et la liberté surhumaines.38 Pour d’autres, comme Camille Mauclair, Nietzsche est le philosophe qui libère la pensée du matérialisme. Il est «le philosophe des paysages méditerranéens et lumineux, de l’individualisme rude et pur; il manifeste la vitalité de l’esprit latin, la protestation du Midi contre le Nord, du paganisme contre le christianisme, du réalisme contre le symbolisme, de l’esprit latin contre l’esprit germanique.»39 Geneviève Bianquis note cependant que le premier ouvrage vraiment clair et cohérent sur Nietzsche est celui de Lichtenberger, issu de cours professés à l’université de Nancy. Après avoir évoqué quelques autres études, elle s’attache, dans la partie la plus importante de son livre, à repérer le rayonnement de Nietzsche dans la pensée française, sous les formes multiples de l’antichristianisme, de l’antiromantisme, de l’immoralisme, du dionysisme, de l’impérialisme, d’une forme de socialisme, de l’antirationalisme et du pragmatisme, et enfin dans la philosophie de l’art. 1. C’est tout d’abord l’antichristianisme de Nietzsche qui a frappé ses premiers lecteurs français, un antichristianisme sans rapport avec l’anticléricalisme qui était très en vogue à l’époque, un antichristianisme qui s’attaque au contraire aux valeurs de l’évangile et teinté d’un retour à la civilisation grecque et à la religion athénienne. C’est cette pensée-là que prônent Henri Albert, Jules de Gaultier, Rémy de Gourmont, mais même Charles Maurras et l’Action Française, à la fois ennemis du christianisme et soutiens de l’Eglise catholique comme institution.40 36 37 38 39 40

Geneviève Bianquis, Nietzsche en France, Paris 1929, p. 11. Ibid. Gide, Prtextes, cité par Geneviève Bianquis, p. 13. Camille Mauclair, cité p. 13 – 14. Cf. Charles Maurras, Politique religieuse, L’Action FranÅaise et la religion catholique, etc. cité p. 48.

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2. A l’antichristianisme s’ajoutent, précisément chez les écrivains d’Action Française, la haine du romantisme et d’autres maladies semblables comme la Réforme, la Révolution, Rousseau. Ces écrivains stigmatisent la liberté individuelle et lui opposent un idéal de civilisation hiérarchisée. Ils s’appuient pour cela aussi sur Nietzsche. 3. Mais c’est principalement par l’immoralisme que se manifeste l’influence de Nietzsche sur la sensibilité française. La morale chrétienne répudiée, l’homme ne connaît plus d’impératif catégorique, ni religieux, ni moral, ni social. C’est bien sûr chez Gide que s’exprime le mieux cet abandon des valeurs morales traditionnelles, dans L’Immoraliste comme aussi dans les Nourritures terrestres ou plus encore chez le jeune Lafcadio des Caves du Vatican. 4. Geneviève Bianquis poursuit sa quête des thèmes nietzschéens dans la littérature française, décelant des échos de dionysisme chez Albert Samain et plus encore chez la comtesse de Noailles (Les blouissements, Les vivants et les morts, Les forces ternelles). 5. Sous le terme d’impérialisme, Geneviève Bianquis désigne la glorification de la force; des armes et des armées, qu’on retrouve en France dans l’Appel aux armes d’Ernest Pischari, ou encore chez Suarès (Voyages du condottiere), mais aussi chez Henri de Montherland (Le paradis  l’ombre des pes, qui résonne comme une traduction de Nietzsche : « Mein Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter »). Même Sorel semble influencé par Nietzsche. 6. Enfin, Geneviève Bianquis poursuit sa recherche de thèmes nietzschéens dans la philosophie de l’art, en particulier chez Élie Faure ou encore chez Paul Valéry, qui a publié en 1927 «Quatre lettres au sujet de Nietzsche»41 adressées en 1901 et 1902 à Henri Albert, dans lesquelles il dit qu’il «se retrouve» dans la «combativité de l’esprit» de Nietzsche, dans son «vertige intellectuel» et dans son esprit européen et universel, critique du germanisme, ainsi que dans sa critique des valeurs. On notera, cela a été remarqué lors du colloque, que cette première réception universitaire de l’œuvre de Nietzsche est l’œuvre de germanistes. C’est en tant que spécialistes de la littérature, de la culture et de la 41 Paul Valéry, «Quatre lettres au sujet de Nietzsche», dans les Cahiers de la quinzaine 1927, no 2, p. 9 – 29. Voir à ce sujet l’article de Jean-Marie Valentin, «Paul Valéry et la tradition européenne du commerce de l’esprit», dans Les Temps Modernes, no 622, décembre 2002-janvier 2003, p. 136 – 148, en particulier p. 145 – 146.

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pensée allemandes que ces érudits s’adressent au public français pour lui expliquer Nietzsche. Par ailleurs, de Gide à Valéry, ce sont principalement des écrivains (certes penseurs, mais pas des philosophes au sens universitaire du terme) qui s’emparent de certaines pensées de Nietzsche et les font fructifier sur le sol français. La deuxième réception de Nietzsche en France, à partir des années 1960, sera l’œuvre de philosophes comme Deleuze, Foucault, Derrida, Lyotard, qui tenteront de lui redonner une place de choix dans l’histoire de la philosophie. Il convient de citer enfin un petit livre très synthétique et clairement écrit, l’ouvrage de Jean-Edouard Spenlé sur La pense allemande de Luther  Nietzsche, publié en 1934 chez Armand Colin. Dans le dernier chapitre, consacré aux «doctrines irrationalistes», Spenlé résume la pensée de Nietzsche et conteste l’utilisation frauduleuse qui est faite de lui par l’idéologie raciste et nazie en vogue à cette époque en Allemagne et ailleurs. «Plus inacceptable encore lui eût paru l’évangile raciste […] L’atmosphère de l’Allemagne d’aujourd’hui lui eût paru plus irrespirable encore que celle de l’Allemagne bismarckienne qu’il s’était empressé de fuir. Il n’a cessé de témoigner de son aversion pour ce qu’il appelait ,l’affaire véreuse des races’ et il n’a cessé de combattre le pangermanisme et l’antisémitisme, où il dénonçait ce qu’il appelait ,les deux grandes bêtises allemandes’.»42 Et plus loin, Spenlé écrit: «Il a aimé non la forêt germanique mais la culture méditerranéenne. Comme Goethe, il a vu dans l’orientation vers ce qui n’est pas allemand la marque de supériorité chez tout grand Allemand.»43 Cet ouvrage fut traduit en allemand, sur ordre des autorités françaises, et publié en 1946 dans la zone d’occupation française.44 Mais il s’agit déjà de la réception en Allemagne de la réception française.

42 Jean-Edouard Spenlé, La pense allemande de Luther  Nietzsche, Paris 1934, p. 176. 43 Ibid., p. 178. 44 Jean-Edouard Spenlé, Das deutsche Denken von Luther bis Nietzsche, Baden Baden 1946. Un exemplaire de cette édition se trouvait dans une vitrine de l’exposition «Nietzsche et la France» réalisée par Ralf Eichberg à la maison Nietzsche de Naumburg.

Man findet bei Nietzsche, was man sucht Angelika Schober Seit über hundert Jahren beschäftigen sich Kommentatoren unterschiedlichster Provenienz mit Nietzsche, versuchen, sein Denken zu erörtern oder sich bei ihm zu inspirieren. Immer wieder finden wir Arbeiten mit den Wörtern „wahr“ oder „Wahrheit“ im Titel – zuletzt in dem Buch von Jean Pierre Faye Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre aus dem Jahre 1998. Der wahre Nietzsche ist für Faye der „große Europäer“, der die „europäische Neurose des Nationalismus“ bekämpfte und zu unrecht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wurde.1 In ausführlicher Argumentation belegt Faye seine These, er hat sicher nicht Unrecht mit seinen Analysen. Gleichwohl kann der Ausdruck „der wahre Nietzsche“ Unbehagen hervorrufen. Auch deshalb, weil zur gleichen Zeit Bernhard H. F. Taureck in seinem Buch Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum 2 nachweist, daß es bei Nietzsche genügend Textstellen gibt, die erlauben, ihn als „Protofaschisten“ zu bezeichnen. Zwei seriöse Autoren suchen und finden also bei Nietzsche entgegengesetzte Aspekte, denn man kann weder bei Faye noch bei Taureck von oberflächlichen Lektüren sprechen, um auf diese Weise ihre Aussagen zu entkräften. Wie kommt es zu diesen grundverschiedenen Ergebnissen? Inwieweit ist die Tatsache von Bedeutung, daß es sich bei Jean Pierre Faye um einen französischen Kommentator handelt, bei Bernhard H. F. Taureck um einen deutschen? Zweifelsohne wird das Nietzschebild mitbestimmt von den unterschiedlichen Interessen der Leser, wobei das kulturell geprägte Vorverständnis eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Taurecks Arbeit versteht sich in der Tat als Antwort auf die französische Nietzscherezeption, er unterstreicht, daß „die französischen Nietzscheaner seit Bataille […] tendenziell die normentbundenen Züge sozialer Individualität im Sinne Montaignes bei Nietzsche wahrgenom1 2

Jean Pierre Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre, Paris: Hermann, Editeur des sciences et des arts 1998. Bernhard H.F.Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig: Reclam 2000.

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men“ haben, um sie politisch zu nutzen – und zwar als „Chance einer Befreiung der Politik von allen Formen des Faschismus“.3 Diesem Anspruch gegenüber gibt Taureck zu bedenken: „Wie – das wäre die Frage an Bataille und den gesamten französischen Nietzscheanismus – kann ein Konzept von individueller Souveränität bei Nietzsche gegen seine politischen Bedrohungsthesen und politisch-überpolitischen Endlösungsphantasien gesichert werden?“4 Taureck belegt anhand verschiedener Beispiele, daß eine solche „Sicherung“ in den Texten selbst nicht gegeben ist, sie vielmehr erst durch ein „Hinausgehen“ über Nietzsche möglich erscheint. „Der redlich antifaschistische und philosophisch bedenkenswerte Nietzscheanismus von Deleuze und Guattari ist über Nietzsche hinausgegangen. Er hat nicht nur bei Nietzsche gesucht, sondern er hat sich auf weitergehende Folgerungen eingelassen.“5 So überzeugend diese Aussage erscheint, ihr eigentliches Erkenntnisinteresse reicht weiter. Es betrifft nicht nur den neueren französischen Nietzscheanismus, sondern weite Teile der Rezeption in Frankreich, sowie ansatzweise auch in Deutschland. Ein Großteil der Leser beschränkt sich nicht darauf, philologische Arbeit zu leisten, sondern geht über Nietzsche „hinaus“, inspiriert sich an einem Teil seines Denkens, um es auf eigene Weise fortzuführen, wobei andere, ebenfalls in Nietzsches Texten enthaltene Aspekte, übergangen werden. So daß unterschiedliche „Nietzsches“ entstehen und der „wahre Nietzsche“ immer zugleich ein anderer sein kann. Seine „Wahrheit“ läßt sich nicht eindeutig bestimmen, wandelt sich vielmehr entsprechend der Interessen seiner Leser, der Blickwinkel der jeweiligen Lesearten mit ihren Aus- und Einblendungen von Textelementen. Karl Löwith schreibt zurecht: Zwar trennt ein „Abgrund“ Nietzsche, dieses „Kompendium deutscher Widervernunft oder des deutschen Geistes“, von seinen „gewissenlosen Verkündern“, doch er hat ihnen den Weg bereitet, den er selber nicht ging.“6 Dies schließt jedoch nicht aus, daß er auch anderen Interpreten Wege bereitete, zum Beispiel den französischen Nietzscheanern, die ihn zur Überwindung des Faschismus verwenden möchten. Die weitgehend offene, aphoristische Struktur seines Schreibens – auf die Löwith bereits vor Deleuze hinwies – er3 4 5 6

Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 245 – 246. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 250. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 255. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt am Main: Fischer 1989, S. 5.

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leichtert solche unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Interpretationen. Die französische Nietzscherezeption läßt sich mit einem Mosaik vergleichen, in welchem Steine verschiedenen Materials und unterschiedlicher Größe ein bizarres, nicht einheitliches Gebilde ergeben. Man kann auch von einem Kaleidoskop sprechen, einer Bilderfolge in ständiger Bewegung, wo immer wieder die gleichen zentralen Fragen gestellt, aber unterschiedliche Antworten gefunden werden: Ist Nietzsche ein radikaler Zerstörer? Was bedeutet Kunst für ihn? Wie hält er es mit Gott und Religion? Welches Verhältnis hat er zu Frankreich, zu Deutschland? Inwieweit steht er im Schatten des Nationalsozialismus? … Nietzsche hat diese Wiederkehr der Fragen, sowie die Pluralität der Antworten in gewisser Weise selbst angekündigt, wenn er schreibt: „Es gibt nur ein perspektivistisches Sehen, nur ein perspektivistisches ,Erkennen‘; und je mehr Augen, verschiedne Augen wir für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivität‘ sein.“7 Dies gilt auch für die ,Sache’ Nietzsche, deren ,Objektivität’ letztlich bedeutet, daß man bei ihm findet, was man sucht. Es kann hier nicht darum gehen, die verschiedenen Arbeiten zu diskutieren, die sich mit der Aufnahme und Verarbeitung Nietzsches in Frankreich beschäftigen – von Geneviève Bianquis über Pierre Boudot, Louis Pinto zu Jacques le Rider8 – sondern anhand einiger Beispiele zu 7 8

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III, § 245, in: KSA, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: dtv/de Gruyter, Band 5, S. 365. Geneviève Bianquis, Nietzsche en France. L’influence de Nietzsche sur la pense franÅaise, Paris : F.Alcan 1929; Pierre Boudot, Nietzsche et l’au-del de la libert, Nietzsche et les crivains franÅais de 1930  1960, Paris: Union des éditions 10/18 1970, Aubier Montaigne 1975; Louis Pinto, Les Neveux de Zarathoustra. La rception de Nietzsche en France, mit einem Vorwort von Marc de Launnay, Paris: Seuil 1995; Jacques Le Rider, Nietzsche in Frankreich, übersetzt von Heinz Jatho, München/Paderborn: Wilhelm Finck 1997; ders., Nietzsche en France. De la fin du XIXe sicle au temps prsent, Paris: PUF 1999. Meine eigenen Arbeiten zur französischen Nietzscherezeption unterstreichen die Vielfalt der Deutungen, sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Interpretationsansätze: Nietzsche et la France. Cent ans de rception franÅaise de Nietzsche, Thèse de doctorat d’Etat, Universität Paris X-Nanterre 1990; dies., „La réception de Nietzsche en France. Ecrits de femmes“, in: Jacques Le Rider, (Hrsg.), Nietzsche. Cent ans de rception franÅaise, Paris: Editions Suger 1999, S. 149 – 162; dies., „La réception française de Nietzsche“, in: Revue Internationale de Philosophie n81 (2000), S. 99 – 115; dies., Ewige Wiederkehr des Glei-

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zeigen, daß gerade die französische Rezeption deutlich macht, wie vielfältig Nietzsche interpretiert wird. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts – als Nietzsche, Henri Lichtenberger zufolge, in Frankreich in Mode war „wie Wagner, Botticelli, Ibsen oder Ruskin“9 – beziehen sich Autoren entgegengesetzter politischer Richtungen auf ihn, treffen sich auf seinem Terrain, ohne sich zu begegnen; wobei auch innerhalb der jeweiligen Gruppierungen die Interpretationen keineswegs einheitlich sind. Charles Andler möchte „Nietzsches System legitimerweise einen Sozialismus nennen“, da die „europäische Arbeiterklasse als eine Klasse von Herren“ gewünscht werde.10 Er meint zudem, Nietzsches „Kampagne gegen Kirche und Klerus, Staat und Politiker“ sei eine neue Philosophie der Aufklärung, sogar eine Revolution.11 Doch zur gleichen Zeit sehen andere Leser Gemeinsamkeiten mit den Zielen der „Action Française“ – zum Beispiel René Lasserre und Jules de Gaultier – und heben entsprechend andere Aspekte seines Denkens hervor: seinen ,Aristokratismus’ sowie die Kritik der „modernen Ideen“, besonders der Demokratie. Was Charles Maurras betrifft, so versucht er gleichzeitig, sich von Nietzsche abzugrenzen und ihn zu vereinnahmen. Er betont, er selbst habe das Mittelmeer entdeckt, schulde also diesem „seltsamen Schriftsteller slawischer Rasse namens Nietzsche“, der „von allen Deutschen der am wenigsten deutsche“ sei, nichts.12 Er möchte aber Nietzsches Kritik am „kulturellen deutschen Nationalismus“ zur „intellektuellen Befreiung der jungen, bis ins Mark germanisierten und anarchisierten“ Franzosen“ verwenden,13 auch wenn Nietzsche ihm letztlich als „feindliche Intelligenz voller Barbarei“ erscheint und er deshalb fordert, das Denken dieses „Gassenjungen“ als „nützliche Droge im Giftschrank“ zu verwahren.14 Während des Ersten Weltkrieges wurde Nietzsche bei einer bestimmten Kategorie von Lesern zum Sündenbock – auf „ewige Zeiten“ möchte André Suarès die Franzosen von ihm abbringen: „Ah! Hund Nietzsche, du hast deinen

9 10 11 12 13 14

chen? Hundertzehn Jahre franzçsische Nietzscherezeption, Presses Universitaires de Limoges 2000. Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, Paris: F.Alcan 1898, S. 167. Nietzsche et le transformatisme intellectualiste, zitiert nach Geneviève Bianquis (Anm. 8), S. 95. Nietzsche, sa vie et sa pense (1920 – 1931), Paris: Gallimard 1958, Band 1, S. 232. zitiert nach Yves Ledure, Lectures chrtiennes de Nietzsche. Maurras, Papini, Scheler, de Lubac, Marcel, Monier, Paris: Editions du Cerf 1984, S. 26. Charles Maurras, Quand les FranÅais ne s’aiment pas. Chronique d’une renaissance, 1895 – 1905, Paris: Nouvelle librairie nationale 1916, S. 117. Journal de l’Action franÅaise vom 12. Februar 1909.

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Fraß der gefräßigen Bestie gepredigt und den bellenden Stil. […] Forderste du sie nicht auf, hart zu sein? […] Du bist gestorben, mit dem Löffel ernährt von einer Krankenschwester, knurrend in einer Ecke wie ein räudiges Tier und wurdest wahrscheinlich in mitten deiner Exkremente erstickt. So ergehe es deiner ganzen Rasse.“15 Die negative öffentliche Meinung während des Krieges, die bei Nietzsche nur Verdammenswertes sucht und findet, hätte ihn wohl kaum beeindruckt. Ihn zumindest nicht von seiner Überzeugung abgebracht, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland. Sie hätte Nietzsche vielmehr in zweierlei bestätigt: zum einen in seiner Abneigung gegen die „öffentliche Meinung“ – die besonders in seiner Kritik an der Presse zum Ausdruck kommt16, zum anderen in seinem Frankreichbild. Denn dieses ist alles andere als homogen und insgesamt sehr vielschichtig. Lebenslange Wertschätzung wird begleitet von bissiger Abneigung gegen manche Entwicklungen und Autoren. Zum Beispiel gegen Victor Hugo, den „Pharus am Meere des Unsinns“, oder die „Milchkuh mit ,schönem Stil’“, Georges Sand, sowie Emile Zola, dem Nietzsche „die Freude zu stinken“ nachsagt.17 Enthusiastischen Aussagen über ein bestimmtes, idealisiertes Frankreich – jenes des guten Geschmacks, welches die Kultur des ,grand siècle‘ perpetuiert – steht herbe Kritik an dem „unfreiwillig germanisierten“, von Schopenhauer und Wagner „verdorbenen“, sowie durch die „englischen politischen Ideen“ vergifteten Frankreich gegenüber.18 Die Überzeugung Nietzsches, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland, betrifft also nur jenes idealisierte Frankreich, von dem er annimmt, es sei noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts „Sitz der geistigsten und raffiniertesten Cultur Europas“, dessen Vertreter sich aber „gut versteckt“ hielten, um einem „gröberen“ Frankreich den Vortritt zu lassen, welches anlässlich des Begräbnisses von Victor Hugo „wahre Orgien des 15 André Suarès, Commentaire sur la guerre des Boches, Paris: Emile Paul Frères 1915, S. 80 f. 16 Siehe hierzu meinen Artikel „Nietzsche, critique de la presse“ in: André Combes und Françoise Knopper (Hrsg.), L’opinion publique dans les pays de langue allemande, 37e Congrès de l’Association des Germanistes de l’enseignement supérieur organisé à l’Université de Toulouse 2 – Le Mirail du 24 au 26 mai 2004, Paris: L’Harmattan 2006, S. 191 – 201. 17 Friedrich Nietzsche, Gçtzendmmerung, „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“, §1, in: KSA (Anm. 7), Band 6, S. 111. 18 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253, KSA (Anm. 7), Band 5, S. 197.

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Ungeschmacks“ gefeiert habe.19 Wenn Jean Bourdeau – von dem Nietzsche zunächst annahm, er werde ihn übersetzen und in Frankreich bekannt machen20 – ihn als „zynischen Schriftsteller“ bezeichnet und seine Philosophie „pervers“ nennt, da sie die Grundlagen der sozialen Ordnung in Frage stellt21, so gehört Bourdeau für Nietzsche wohl zu dem „gröberen“ Frankreich, dem jeder Sinn für die feineren Töne, auch die seiner Philosophie, fehlt. Anderes gilt für André Gide, der in Nietzsche eine „lebensbejahenden Energiequelle“ sieht und meint, er habe ihm „erlaubt“, seine eigenen Empfindungen auszudrücken.22 Ähnliches läßt sich auch in Bezug auf Georges Bataille sagen, denn im Anschluß an die Lektüre von Jenseits von Gut und Bçse überlegt er: „Warum soll ich mir vornehmen zu schreiben, da […] mein ganzes Denken so vollständig, so bewundernswert ausgedrückt wurde.“23 Und Jean Baudrillard schreibt in diesem Sinne, er möchte in Hinblick auf Nietzsche lieber von einer „Beziehung fehlender Referenz“ statt von einem „traditionellen Referenzbezug“ sprechen.24 Eine große Anzahl französischer Leser sucht und findet bei Nietzsche eine „lichtvolle Verherrlichung des Lebens“25, die mit dem Namen Dionysos verbunden ist. Dieses Fundstück wird seit Beginn der Rezeption in verschiedenen Varianten vorgezeigt, auch in einem Liebesroman mit dem Titel Nietzschenne, dessen Autor sich während des Ersten Weltkrieges zugleich als Nietzscheaner und französischer Patriot empfindet und dieses Dilemma dadurch zu lösen sucht, daß er seinem Roman einen Anhang beifügt mit Zitaten von „Nietzsche für Frankreich und gegen Deutschland“. In erster Linie versteht Daniel Lesueur Nietzsche als Gewährsmann für die Befreiung von moralischen Zwängen: „Jocelyne, meine Jocelyne lieben wir uns, da unsere Liebe unsere Kraft ist und wir Kraft brauchen. Würde Ihr Nietzsche, den Sie 19 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253, KSA (Anm. 7), Band 5, S. 198. 20 Brief vom 29. 12. 1888 an Meta von Salis. KSA (Anm. 7), Band 15, S. 207 f. 21 Jean Bourdeau, Les matres de la pense contemporaine. Stendhal, Taine, Nietzsche, Paris: Alcan 1904, S. 121 und S. 131. 22 Tagebuch vom 7. Januar 1924. Siehe auch Brief an Angle vom 10. Dezember 1924. 23 Zitiert nach magazine littraire n8243, Juni 1987, S. 19. 24 Interwiev mit Jean Baudrillard, in: Florian Rötzer, Franzçsische Philosophen im Gesprch, München: Boer 1987, S. 43. 25 Henri Albert, Frdric Nietzsche, Paris: Bibliothèque internationale d’édition 1903, S. 11.

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unaufhörlich zitieren und der mir so viel Gutes tat, nicht sagen, daß unsere herrliche Leidenschaft eine der Triebfedern ist, welche das Leben verherrlicht, uns zu allem erhebt, was das Leben an Aktivität, Leidenschaft und Schönheit fordert?“26 Doch dieser Interpretationsansatz ist nicht auf Frankreich beschränkt, ähnliche Tendenzen finden sich auch in Deutschland. Zunächst in der Münchner Bohème der Jahrhundertwende, wo Franziska von Reventlow schreibt, der Zarathustra sei ihre „Bibel“ gewesen, „die geweihte Quelle“, aus der sie und ihre Freunde „immer wieder tranken“ und die sie „wie ein Heiligtum verehrten“.27 Die Lektüre Nietzsches gilt als Schlüsselerlebnis zum „eigentlichen Leben“, das sich befreit hat von den Normen der bürgerlichen Gesellschaft und der christlichen Moral: „Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen – in Schönheit und Freiheit“.28 Doch nicht nur in München, auch in Berlin wird Nietzsche als „befreiender“, subversiver Autor gelesen. Nach dem ersten Weltkrieg versteht ihn die ästhetisch-politische Dada-Bewegung als eine Art „konzeptuellen Lehrmeister“29, sein Name erscheint in verschiedenen Manifesten und Manifestationen. Aus der generellen Kritik an der deutschen Kultur und Literatur wird Nietzsche ausgespart, ein Teil seines Denkens dient dazu, bürgerliche Ideale zu Fall zu bringen. Richard Huelsenbeck zufolge waren alle Dadaisten Nietzscheleser, und Johannes Baader, der selbsternannte „Oberdada“, schreibt eine Karte an Tristan Tzara mit der Anrede „Lieber Zara Tustra“.30 Im Cabaret Dada reitet Raoul Hausmann, der „Dadasoph“, auf einer Eule, dem Tier der Weisheit, und hält die Symbole Zarathustras – die Schlange und den Adler – in seiner Hand.31 Als Antwort auf Zarathustra im Tornister deutscher Soldaten während des Weltkriegs meint Hausmann, die Deutschen hätten, anstatt der „komischen Selbsttäuschung als 26 Nietzschenne (1919), Paris: Plon 1931, S. 237. 27 Ellen Olestjerne, Gesammelte Werke in einem Band, herausgegeben und eingeleitet von Else Reventlow, München: Langen 1925, S. 575. 28 Ellen Olestjerne, Gesammelte Werke in einem Band (Anm. 27), S. 564 und S. 575. 29 Diese Bezeichnung verwendet Hanne Bergius in ihrem Buch Montage und Metamechanik. Dada Berlin, Artistik von Polaritten, Berlin: Gebrüder Mann Verlag 2000, S. 5. 30 Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, Chancellerie des Universités de Paris, fonds Tristan Tzara. 31 Richard Huelsenbeck, „Besuch im Cabaret Dada“, in: Karl Riha und Hanne Bergius (Hrsg.), Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen, Stuttgart: Reclam 2002, S. 95.

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„Überallesmenschen“ zu verfallen, dank Nietzsche die Möglichkeit gehabt, „romanischer, gesünder, dadaistischer“ zu werden,“32 also von ihm lernen können, das Dionysisch-Rauschhafte zu bejahen und das „ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen“ durchzuspielen.33 Um auf diese Weise dem „gefährlichen Leben“ gegenüber der Spießeridylle den Vorzug zu geben und die Dissonanz des tragischen Mythos zum Kunst- und Lebensprinzip zu erheben. Mit Nietzsche sagt man „ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher will“34. Wenn Jean-Francois Lyotard also meint, Nietzsches Konzept des Übermenschen sei bei den Hippies ansatzweise verwirklicht, bei marginalen Künstlern, die sich lieber in einem intensiven Leben statt in bleibenden Werken ausdrücken35, wenn Gilles Deleuze Nietzsches post-historischen Menschen als den „Freien, Verantwortungslosen“ bezeichnet36, so wird damit ein wesentlicher Anspruch des französischen Nietzscheanismus deutlich. Aber eben kein ausschließlich französisches „Über-Nietzsche-Hinausgehen“. Denn auch in Deutschland – in der Münchner Bohème gleichermaßen wie bei den Berliner Dadaisten – öffnet Nietzsche den Blick in diese Richtung. Auch in Deutschland wurde bei Nietzsche das „normentbundene Individuum“ gesucht und gefunden, welches Bernhard H. F. Taureck zufolge im Mittelpunkt französischer Nietzschelektüren steht. Andererseits darf aber nicht verschwiegen werden: Die Interpretationsrichtung eines „protofaschistischen“ Nietzsche wurde nicht nur in Deutschland eingeschlagen, in Frankreich finden sich ebenfalls entsprechende Ansätze. Alfred Baeumlers Versuch, Nietzsche im Sinne des Nationalsozialismus auszuschlachten, kennt seine französische Entsprechung, zum Beispiel bei Drieu la Rochelle.37 Spuren dessen, was zunächst als deutsche Leseart, als deutsches Mißverständnis der Lektüre erscheinen könnte und wogegen sich die französischen Nietzscheaner der siebziger Jahre mit Nachdruck wandten, lassen sich auch in Frankreich nachweisen. 32 Alfred Kutschenbauch (1920) zitiert nach Hanne Bergius (Anm. 29), S. XIV. 33 Johannes Baader, „Wer ist Dadaist?“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 40. 34 „Dadaistisches Manifest“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 22 – 24, hier S. 25. Siehe hierzu meinen Artikel „Dada – critique des idéaux de Weimar sur les traces de Nietzsche“ im Tagungsband des 39. Kongresses der AGES, L’idal. Formes et fonctions, Boulogne sur Mer, Mai 2006 (in Druck). 35 Jean-François Lyotard, „Notes sur le retour et le Kapital“, in: Nietzsche aujourd’hui?, Paris: Union des éditions 10/18 (1973), Band 2, S. 153. 36 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962 (1967), S. 157. 37 Drieu la Rochelle, Socialisme fasciste, Paris: Gallimard 1934.

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Gibt es also keine wesentlichen Unterschiede zwischen französischer und deutscher Rezeption? Dieser Schluß wäre verfrüht und letztlich nicht befriedigend. Denn obwohl in beiden Ländern die „protofaschistische“ und des „antifaschistische“ Leseweise Nietzsches existiert, obgleich in Deutschland wie in Frankreich beides gesucht und gefunden wurde, ist das Gewicht der Fundstücke in beiden Ländern nicht dasselbe. In Frankreich ist der „befreiende“ Nietzsche fester verwurzelt und hat mehr „Blüten“ hervorgebracht als in Deutschland. Der liberal-libertäre, subversive Nietzsche spielt mit Gide, Bataille, Klossowki, Deleuze, Derrida, Foucault und Baudrillard eine unbestreitbar größere Rolle im intellektuellen Leben Frankreichs als in Deutschland. Andererseits hat der „protofaschistische“ Nietzsche in Deutschland mehr Einfluß auf die Politik ausgeübt. Was aber nicht notwendigerweise bedeutet, daß Nietzschelektüre durch Politiker zu faschistischer Interpretation führen muß. Der Spazierstock Nietzsches in der Hand des Diktators schließt nicht aus, daß antifaschistische Politiker sich auf ihn beziehen: Auf dem Schreibtisch von Charles de Gaulle in Colombayles-Eglises soll der Satz Nietzsches gestanden haben „Alles ist leer, alles ist gleich, alles war“, welchen de Gaulle wie folgt auf französisch komprimierte: „Et puis, rien ne vaut rien.“38 Die Rezeption in Frankreich ist insgesamt vielschichtiger und nuancenreicher als in Deutschland. Es gibt eine ganz besonders intensive Beschäftigung mit Nietzsche, welche bestätigt, was Peter Gast voraussagte: Die „gesamte französische Intelligenz“ werde sich seiner bemächtigen, seine Bücher „eine Flut von Artikeln und Broschüren nach sich ziehen“ und die Probleme „zur öffentlichen Diskussion“ kommen.39 Nietzsche selbst erwartete dieses Interesse und zwar aufgrund seiner Kritik an Deutschland, seiner Sympathie für Frankreich, sowie den „Affinitäten“ zwischen dem eigenen Stil und dem französischen Geschmack, auf die er mehrmals hinweist. Er meint, „deutsch denken, deutsch fühlen, – ich kann Alles, aber das geht über meine Kräfte“ und fügt hinzu: „Mein alter Lehrer Ritschl behauptete […] ich conzipirte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier – absurd spannend.“40 Nietzsche sieht die „Hingebungen an die 38 Peter Scholl-Latour, Leben mit Frankreich. Stationen eines halben Jahrhunderts, Stuttgart: DVA 1988, S. 60. 39 Friedrich Nietzsche, KSA (Anm. 7), Band 15, S. 196. 40 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, „Warum ich so gute Bücher schreibe“, KSA (Anm. 7), Band 6, S. 301.

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,Form’, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist“ am besten in Frankreich verwirklicht, und zwar als eine „Art Kammermusik der Literatur“.41 Entsprechend entwickeln die französischen Nietzschekommentatoren der siebziger Jahre, wie Werner Hamacher zeigt, eine „Art „Kammermusik der Lektüre zur Meisterschaft“ mit ausgeprägtem „Gespür für Rhythmus und Synkopierung sowohl der literarischen wie der argumentativen Bewegungen in seinen Texten“.42 Als weiteres verbindendes Element zwischen Nietzsche und Frankreich kann die Tatsache gelten, daß der Vielschichtigkeit der Rezeption in Frankreich eine Vielfalt der Rezeption Frankreichs durch Nietzsche entspricht. Frankreich ist nicht nur das Land, in welchem er am meisten rezipiert wird, es ist auch das Land, mit dem er sich am intensivsten beschäftigte. Es finden sich nicht weniger als vierhundert Erwähnungen Frankreichs in den Werken und im Nachlaß – im Vergleich dazu kommt Italien nur auf etwa hundert Einträge, England sogar nur auf zweiundfünfzig. Nietzsche beschäftigt sich zudem mit mehr als achtzig französischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Epochen und Bereichen (Philosophie, Literatur, Musik, Malerei, Politik etc.).43 Von d’Alembert über Balzac, Diderot und Fénelon bis zu Montaigne, Napoleon, Vauvenargues und Zola reicht sein Interesse, wobei manche Personen wohlwollend kommentiert werden – wie Pascal und Stendhal, 41 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 254, KSA (Anm. 7), Band 5, S. 199. 42 Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Essais von Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986, S. 11. 43 In alphabetischer Reihenfolge: Abelard, d’Alembert, Balzac, Barbey d’Aurevilly, Baudelaire, Bayle, Beaumarchais, Berlioz, Bizet, Blanqui, Bossuet, Chamfort, Chateaubriand, Chopin, Claude Lorrain, Auguste Comte, Condillac, Corneille, Victor Cousin, Jacques-Louis David, Delacroix, Descartes, Diderot, Alexandre Dumas, Fénelon, Flaubert, Fontenelle, Theophile Gautier, Gebrüder Goncourt, Jean Marie Guyau, Helvétius, d’Holbach, Victor Hugo, Joseph Joubert, La Fontaine, Lamarck, Lamartine, La Rochefoucauld, Louis Philippe, Louis XI, Louis XIII, Louis XIV, Louis XV, Pierre Loti, Jean-Baptiste Lully, Joseph de Maistre, Malebranche, Malherbe, Maupassant, Maupertuis, Mérimée, Meyerbeer, Michelet, Mirabeau, Molière, Montaigne, Montesquieu, Napoléon, Jacques Offenbach, Pascal, Poussin, Proudhon, Racine, Rameau, Renan, Richelieu, Rivarol, Robespierre, Ronsard, Rousseau, Sainte-Beuve, Saint-Simon, Georges Sand, Scribe, Madame de Sévigné, Madame de Staël, Stendhal, Sully, Hippolyte Taine, Talleyrand, Adolphe Thiers, Vauvenargues, Alfred de Vigny, Voltaire, Emile Zola. Quelle: Index von Jörg Salaquarda, KSA, Band 15.

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andere hingegen sehr kritisch, zum Beispiel Rousseau oder Robespierre. Dabei sollte die Bedeutung von Descartes nicht unterschätzt werden, welchen Nietzsche an Stelle einer Vorrede der Erstausgabe von Menschliches, allzu Menschliches zitiert. Darüber nachdenkend, welche Beschäftigung die beste für den Menschen sei, kommt Descartes (und mit ihm Nietzsche) zu dem Schluß, „daß für meinen Theil mir Nichts besser erschien als […] wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden“.44 Diese Ausbildung der Vernunft geht einher mit kritischer Infragestellung des Bestehenden, beinhaltet also den Zweifel, der Nietzsche ebenso kennzeichnet wie Descartes, obwohl er bei Descartes eine stärker heuristische Funktion hat und letztlich überwunden wird. Thierry Maulnier betont diese Gemeinsamkeit, wenn er 1925 schreibt: „Nietzsche hat die Frechheit, die verletzt, Descartes die Frechheit, die schweigt. Descartes greift nichts an, widerlegt nichts und scheint außerhalb der Welt zu konstruieren: aber er stürzt genauso um.“45 Sechzig Jahre später unterstreicht Glucksmann den methodischen Zweifel als Kennzeichen von Descartes und des französischen Denkens im allgemeinen und zieht den Schluß: „Descartes ist Frankreich“.46 Da der Zweifel auch Nietzsche auszeichnet, kann man hinzufügen, daß Nietzsche in diesem Sinne ebenfalls Frankreich repräsentiert und hierin einen weiteren Grund für das ausgeprägte französische Interesse an seinen Texten sehen. Der radikale Zweifel führt Nietzsche zur Ablehnung letzter Wahrheiten, zum Perspektivismus, der seinerseits bei den französischen Nietzscheanern der siebziger Jahre zum methodischen Prinzip eines Umgangs mit Texten erhoben wird. Für Deleuze gibt es in einem Buch nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren, aber viel, womit man experimentieren kann. Ein Standpunkt, der durch die Nietzscherezeption in ihrer Vielfalt bestätigt wird, welche somit als Spielfeld für Experimente erscheint. Roland Barthes meint seinerseits, Interpretation könne nicht bedeuten, die „Meinung“ des Autors herauszuarbeiten – was wollte er denn eigentlich sagen? – , sondern bestehe darin, den Text weiterzuschreiben. Dessen Sinn als solcher nicht vorgegeben ist, sondern erst durch die Interpretationsarbeit der jeweiligen Leser geschaffen wird und somit prinzipiell pluralistisch ist. Deleuze, Guattari und Barthes beschreiben damit 44 Friedrich Nietzsche, KSA (Anm. 7), Band 2, S. 11. 45 Thierry Maulnier, Nietzsche, Paris: Gallimard 1925, S. 19. 46 André Glucksmann, Descartes, c’est la France, Paris: Flammarion 1978.

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Vorgehensweisen, die Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemßen Betrachtung für den Umgang mit Geschichte empfiehlt (und damit implizite für die Beschäftigung mit Texten jeglicher Art). Sein Mißtrauen gegenüber dem Anspruch Rankes, den jeweiligen Epochen durch ein Herausarbeiten ihrer Besonderheiten „gerecht“ zu werden, ist zusammengefaßt in der Ansicht, der Historismus verwandle die römische Sentenz Fiat justitia, pereat mundi in die Forderung „Fiat veritas pereat vita“.47 Im Gegensatz dazu fordert Nietzsche einen kreativen Umgang mit historischen Fakten und Texten. Sie sind mit Hilfe der „plastischen Kraft“ – in welcher sich der Wille zur Macht ausdrückt – zu einer Sinneinheit zu verbinden, die den Erfordernissen des „Lebens“ entspricht, das heißt den jeweiligen Interessen derer, die sich mit ihnen beschäftigen48 : „In dieser Weise die Geschichte objectif denken ist die stille Arbeit des Dramatikers; nämlich Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darinnen sei..“ Er selbst verfährt auf diese Weise in seinem Umgang mit Autoren: Sie interessieren ihn nicht als Philologen, sondern als ,Künstler’, er versucht also nicht, ihnen ,gerecht’ zu werden, sondern nutzt sie für sein eigenes Denken, ohne daß ihm „unverdaute Wissenssteine im Magen rumpeln.“49 Das damit verbundene perspektivische Schreiben ist besonders geeignet, prädisponiert, für eine ,offene’ Lektüre. So daß immer wieder neue Leser an unterschiedlichen Stellen seiner Texte den Kopf heben und im Sinne Roland Barthes sagen „Ah, Åa c’est pour moi“ – das ist für mich50 –, das Rad der Nietzscherezeption sich also immer weiter dreht und andere „wahre“ Nietzsches zu Tage gefördert werden. Die eingangs erwähnten Kommentatoren Bernhard H. F. Taureck und Jean Pierre Faye heben in der Tat den Kopf an unterschiedlicher Stelle, wenn sie ihr vollkommen verschiedenes Nietzschebild zeichnen, obwohl sich mit der gleichen Thematik beschäftigen – Nietzsches 47 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA (Anm. 7), Band 1, S. 272. Siehe hierzu meinen Artikel „L’art de l’histoire selon Nietzsche“, in: Etudes Germaniques n8218, April-Juni 2000, S. 231 – 234. 48 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA (Anm. 7), Band 1, S. 290. 49 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA (Anm. 7), Band 1, S. 272. Mit diesem Bild kritisiert Nietzsche die Bildungsbürger. 50 Roland Barthes, „Ecrire la lecture“, in: Essais critiques IV. Le bruissement de la langue, Paris: Editions du Seuil 1984, S. 21 – 31, hier S. 30.

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Verhältnis zum Faschismus.51 Ihre Studien – Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum sowie Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre – konzentrieren sich weitgehend auf andere Aussagen Nietzsches, ihr Blick ist geleitet von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen. Jean Pierre Faye zufolge kommt es darauf an, „Nietzsche von der Sprache des Krieges zu befreien, die er bekämpft,“52 Taureck hingegen möchte zeigen, daß Nietzsche „nie einen Zweifel“ aufkommen ließ, worum es ihm politisch ging – „um Endlösungen zur Sicherung dessen, was bisher verborgen und verschwiegen wurde: Sicherung der Ungleichheiten der Menschen.“ Er stellt ein „Gegenideal“ Nietzsches fest, welches heißt: „Sklaverei, Rangordnung, Kastenordnung, Machiavellismus, Krieg.“ Und fügt hinzu: „Damit sind wir mitten im Faschismus.“53 Die Bezeichnung „Protofaschist“ sei insofern gerechtfertigt, als Nietzsche „eine Vernunftkritik betreibt, die […] zu einer dauernden Teilung der Gesellschaft mittels Gewalt führt“.54 Diese Aspekte kommen bei Faye nicht zur Sprache, er konzentriert sich auf andere Textstellen: vor allem Nietzsches Kritik des Nationalismus, sowie seine ablehnende Haltung gegenüber dem Antisemitismus, die in dem Satz gipfle: „Welche Erleichterung, unter Deutschen einen Juden zu treffen.“55 Aus ihm wollte Faye während der Besatzungszeit ein „Plakat“ machen, „welches den antisemitischen Sätzen eines gewissen Drumont widersprochen hätte, mit denen Dienststellen der Propagandastaffel die Mauern von Paris

51 Ein Arbeitsschwerpunkt von Faye ist der Faschismus: Langages totalitaires, Paris: Hermann 1972; Le Pige, La philosophie heideggerienne et le nazisme, Paris: Ballard 1994; ders., Le langage meurtrier, Paris: Hermann 1996. 52 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 1. 53 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 14. 54 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 225. Er versteht Nietzsches Bezug zum Faschismus nicht als ein Verhältnis von Denker zu Täter, konstatiert vielmehr einen gewissen „Schwebezustand“ (S. 29), wenn sich Theoretiker des Faschismus in Italien (Mussolini, Gentile, Evola) und Deutschland (Steding, Rosenberg, Goebbels) auf ihn beziehen (S. 32). 55 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 97. Der Anti-Antisemitismus Nietzsches wurde auch unterstrichen von Sarah Kofman, die bedauert, daß die „aktuelle Mode“ eher zugunsten eines Antisemitismus von Nietzsche entscheide. Le mpris des juifs. Nietzsche et les juifs, l’antismitisme, Paris: Galilée 1994, S.12. Siehe zu dieser Thematik auch Arno Münster, Nietzsche et le nazisme, Paris: Editions Kimé 1995.

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bedeckten“; eine Absicht, die er als „nietzscheanischen Widerstand“ bezeichnet.56 Sowohl Faye als auch Taureck streiten nicht ab, daß es bei Nietzsche auch Textstellen gibt, die ihrer jeweiligen Interpretation entgegenlaufen, doch die Gewichtung dieser Fundstücke ist verschieden. Taureck nimmt „zwei Stimmen Nietzsches“ wahr, jene Montaignes, des Skeptikers, die das ,normentbundene Individuum’ aufwertet, und jene Machiavellis, des skrupellosen Machttheoretikers57, meint aber, jene Montaignes sei deutlich schwächer und werde überwunden, ebenso wie Ansätze eines „Pazifismus“. Letzterer stelle „eher eine Bestätigung der nihilistischen Vernunft“ dar – wie Nietzsches Kritik am Buddhismus zeige, denn eine Position, die es erlaube, den Nihilismus zu überwinden. Und was die Kompilationen durch die Schwester betrifft, so ändere sie nichts an Nietzsches Grundüberzeugungen. „Wenigenherrschaft“ und „Versklavung der übrigen Menschen“ haben „nicht erst der Nachlaß oder gar die Zusammenstellung ,Der Wille zur Macht’ zutage gefördert oder so erscheinen lassen. Es steht […] in der 1886 veröffentlichten Schrift Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft § 258.“58 Für Jean Pierre Faye hingegen haben Colli und Montinari den ,Willen zur Macht’ in das verwandelt, „was er tatsächlich ist“, das „Tagebuch eines Reisenden“, in welchem Skizzen aufeinander folgen, ohne daß sich daraus ein Programm ableiten ließe. Was die Tafel 29 aus Also sprach Zarathustra betrifft, so verschweigt Faye nicht, daß – wie Poliakov in seinem Werk Le Troisime Reich et les Juifs schreibt – Nietzsches Satz „Gelobt sei, was hart macht“ auf Himmlers Anordnung in Diensträumen der SS hing. Doch dies ist für Faye nur „die Figur des toten Nietzsche, die von seiner Schwester geschaffen wurde“, die folglich übergangen werde dürfe, ja müsse. Denn „der lebendige Nietzsche wird in der Lage sein, diesen Augenblick des gefährlichen Paragraphen 29 zu überwinden.“59 Sowohl Faye als auch Taureck finden also bei Nietzsche etwas, was er ,überwindet’ und was deshalb als unwesentlich angesehen werden darf; dabei handelt es sich jeweils um den entgegen gesetzten Aspekt seines Denkens. Beide möchten nicht 56 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 97. Faye grenzt sich auch gegen Heidegger ab, dessen „Deutung Nietzsches als Denker der nihilistischen Metaphysik in Widerspruch zu jedem Satz Nietzsches“ stehe (S. 49). 57 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 16. 58 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 233. 59 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 107.

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anerkennen, daß Nietzsche die verschiedenen Figuren immer wieder durchspielt, sie manchmal sogar parallel behandelt, ohne sich endgültig für die eine oder andere Möglichkeit zu entscheiden. Und daß gerade diese Unentschiedenheit und damit Unentscheidbarkeit Nietzsche zum eigentlich (post)modernen Denker macht, der keinen festen Standpunkt mehr kennt. Würde man Nietzsches „Pazifismus“ neben seinem „Protofaschismus“ gelten lassen, so wäre dies Taureck zufolge nicht zureichend. Denn die Öffnung zum Faschismus wäre dann nur eine „Teilwahrheit“, und Teilwahrheiten seien „obgleich Zahlungsmittel wissenschaftlicher Forschung unbefriedigend.“60 Aber Teilwahrheiten sind wohl auch die Folge des Perspektivismus Nietzsches. Weder Taureck noch Faye – wie die meisten Nietzscheleser – möchten anerkennen, daß Nietzsches Besonderheit wahrscheinlich auch darin besteht, daß sich sein Denken nicht eindeutig bestimmen läßt. Daß Nietzsche zugleich auch das Gegenteil mitdenkt – und dies in seinen verschiedenen Schaffensperioden, ohne daß es je zu einer Auflösung der Gegensätze käme. Daß seine ,Wahrheit’ in der Pluralität und der Widersprüchlichkeit liegt und somit jede Interpretation, die ihn auf eine einzige und eindeutige Position festlegen möchte, eine unbefriedigende Teilwahrheit darstellt. Jean Pierre Faye schreibt zurecht: „Nietzsches Dialektik ist paradox, aber fein. Sie sucht die Widersprüche, aber statt dies auf die Weise Hegels zu tun, als Bewegung, die immer zu ihrer Aufhebung führt, wird jeder Widerspruch als Ereignis wahrgenommen.“61 Dies hindert Faye jedoch nicht, daß auch er in seiner Interpretation das Widersprüchliche von Nietzsches Denken auszuklammern sucht und nur die eine Seite gelten lassen möchte – den für ihn „wahren“ Nietzsche, welcher dem Krieg den Krieg erklärt. Und wenn er in seinem weiteren Nietzschebuch mit dem Titel ,Nietzsche und Salomé. Die gefährliche Philosophie’ schreibt, in Nietzsches „Hölle seines Willens zum Widerspruch“ und seiner „negativen Philosophie der ,wahren Welt’ gebe es „keine Möglichkeit für einen wahren Nietzsche“,62 so sucht er gleichwohl nach einem Prinzip, den wahren mit dem falschen Nietzsche („Nietzsche ,faux’“ und „le ,vrai’ Nietzsche“) so zu verbinden, daß eben doch der für ihn wahre Nietzsche

60 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 223. 61 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 49. 62 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse, Paris: Grasset 2000, S. 82.

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herauskommt: dank der Umwertung aller Werte als Ausdrucks des Willens zur Macht.63 Wie in einem Ballspiel findet sich Nietzsche einmal auf der einen, dann wieder auf der anderen Seite. Wobei die ,Seiten’ nicht gleichbedeutend sind mit Frankreich oder Deutschland, da er auch in beiden Ländern immer wieder die Seite wechselt. Taurecks Antwort auf den „französischen Nietzscheanismus“ wurde ansatzweise auch in Frankreich gesucht. In einem 1991 veröffentlichten Sammelband mit dem Titel ,Warum wir keine Nietzscheaner sind’64, oder von Alain Clément, dessen Essay Nietzsche und sein Schatten von einer „Psychose der Entschuldigung“ seitens der französischen Nietzschekommentatoren der sechziger und siebziger Jahre spricht, welche mehr Ausdruck eines „schlechten Kollektivgewissens“ sei als „Anstrengung einer intellektuellen Säuberung“. Ist es „Mißverständnis, Zufall oder Übereinstimmung im wesentlichen, daß Nietzsche den großen Krieg herbeisehnte“65 fragt er und fügt hinzu – ganz im Sinne Löwiths, ohne ihn zu zitieren66 – man könne ähnliche Konsequenzen von Hitlers Ideologie und Nietzsches Denken nicht leugnen67, besonders die Bereitschaft, „alles bis zum endgültigen Zusammenbruch zu treiben“.68 Man kann mit Taureck von einem „Schillern Nietzsches“69 sprechen, sollte dabei aber bedenken, daß dieses Schillern sich wohl kaum zu einem klaren Licht zurechtinterpretieren läßt. Es vielmehr als Ausdruck dessen verstehen, daß sich Nietzsches Denken, mit Zarathustra gesprochen „auf die Schiffe“ be63 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse (Anm. 62), S. 273. 64 Luc Ferry/Alain Renaut (Hrsg.): Pourquoi nous ne sommes pas nietzschens, Paris: Grasset 1991. 65 Alain Clément, Nietzsche et son ombre. Essai (1958), Bourges: Amor fati 1989, S. 13 f. 66 Löwiths Nietzscheinterpretation fand bislang, anders als jene Heideggers, in Frankreich nur ein geringes Echo, obwohl seine beiden wichtigsten Arbeiten zu Nietzsche übersetzt wurden. Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1934), aus dem Deutschen übersetzt von Anne-Sophie Astrup, Nietzsche. Philosophe de l’ternel retour, Paris: Calman-Lévy 1991; ders., Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941), aus dem Deutschen übersetzt von Rémi Laureillard, De Hegel  Nietzsche, Paris: Gallimard 1969. 67 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“, KSA (Anm. 7), S. 58. 68 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ , KSA (Anm. 7), S. 9 f. 69 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 34.

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gibt, also nirgends fest verankert ist und auch keine Verankerung sucht. Daß Nietzsche vielmehr, wie Bataille schreibt, die verschiedensten „Möglichkeiten des Menschlichen“ durchspielt, und im Namen eines sich „bewegenden Wertes“ spricht, dessen Ursprung und Ziel nicht zu fassen sind: „Kein Weg führt in die gleiche Richtung“70 So daß Folgetexte entstehen, welche in die unterschiedlichsten Richtungen weisen, man also bei Nietzsche letztlich finden kann, was man sucht.

70 Georges Bataille, Sur Nietzsche. Volont de chance, Paris: Gallimard 1945, S. 141.

Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra Anatoly Livry En lisant le journal de Claudel, dramaturge, poète et diplomate français, il est difficile de ne pas remarquer son aversion pour la pensée nietzschéenne, aversion qui va des accusations de folie aux injures ouvertes. Très certainement, aucun Allemand, même Luther, n’eut à subir autant de manifestations de haine de la part de cet homme de lettres.1 Mais que se cache-t-il véritablement derrière le rideau de cette détestation? Où passe la frontière du rejet de la pensée nietzschéenne entre Claudel-artiste et Claudel-homme? Puis, ce qui est plus important, comment l’interprétation par Claudel de l’œuvre nietzschéenne permet-elle l’explication des mystères remarquables de ses drames dont lui-même s’obstinait à préserver le secret? Enfin, dans quelle mesure peut-on considérer que Nietzsche a poussé Claudel vers sa conversion, l’a guidé vers celle-ci? Tels sont les buts de nos travaux sur Claudel et Nietzsche dont quelques thèses vous seront exposées dans cet article. Mais d’abord voici quelques notes sur la genèse et l’évolution de la représentation de Nietzsche et de tout son environnement, allemand, «romantique», anti-chrétien2, dans l’imaginaire de Claudel. Ayant grandi au lendemain de la guerre franco-prusse, dans un pays animé par l’esprit de revanche, Claudel, comme de nombreux jeunes hommes de cette époque, est amené à considérer tout ce qui est allemand – langue, culture, pensée – comme émanant d’un ennemi qu’il faut connaître car, 1

2

Cf. par exemple, «Mein Kampf de Hitler – une des caractéristiques de l’esprit allemand est la faiblesse des définitions et l’indifférence aux prémisses. La logique remplacée par l’affirmation. La hideuse semence de Luther.». Paul Claudel, J. II, 18 – 19 mars 1934, Paris: Gallimard 1969, S. 53. Cf. par exemple, «À savoir les Voltaire, les Rousseau, les Renan, les Nietzche [l’orthographe dont use Claudel habituellement ], et toute la canaille allemande. Aucun contact, aucune paternité de l’humble, sainte et profonde nature. Ils se sont éloignés de la profonde nature.», dans: Paul Claudel, J. I, Septembre – Novembre 1904, Paris: Gallimard 1968, S. 5.

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un jour, l’on sera amené à le combattre: «Le pays vit dans l’attitude de la guerre. Depuis 1880, la guerre est certaine; elle est imminente […]»3, écrira un condisciple de Claudel au lycée Louis–le–Grand, Romain Rolland. Cette nécessité de connaître pour vaincre se trouve également à l’origine d’un phénomène plus intéressant qui est l’ouverture vers l’Allemagne. Cela aboutira à la parution de la Revue wagnrienne et à l’émergence de germanophiles tels que Barrès, Gide, et des personnages comme Auguste Burdeau, traducteur de Schopenhauer, mais également «homme en vogue», député prenant activement part au scandale de Panama. C’est Burdeau qui, après avoir été le professeur de Barrès à Nancy, deviendra professeur à Louis–le–Grand où il enseignera à Claudel l’œuvre de Schopenhauer. Le jeune Claudel n’a pas pu ne pas être impressionné par cet homme dont l’impact puissant de l’enseignement d’«un monde mauvais» de Schopenhauer aurait poussé l’un de ses camarades au suicide, selon un autre de ses condisciples, Léon Daudet.4 C’est précisément à l’époque où le jeune Claudel exprime son admiration pour Barrès et son «culte du moi», issu de la pensée pessimiste de Schopenhauer, qu’il assiste, avec Romain Roland, aux représentations des opéras-concerts de Wagner. Quant à la Revue wagnrienne, elle lie indéniablement la création artistique et la pensée de Schopenhauer: «La philosophie de Schopenhauer doit servir dorénavant de base à toute culture intellectuelle et morale.»5 Voilà quelques brèves remarques qui démontrent la familiarité de Claudel avec le monde germanique duquel surgit Nietzsche. Il est d’autant plus intéressant de considérer un désaccord, une guerre, entre les deux artistes qu’ils s’en tiennent aux mêmes canons de beauté et utilisent les mêmes armes pour l’affrontement. Ce qui unit Nietzsche et Claudel, c’est leur étude profonde et continuelle de la pensée, de la langue, de la tragédie grecques. C’est lorsqu’il commence à préparer sa carrière de diplomate que Claudel se met à consacrer son temps de loisir aux lettres hellènes sans 3 4 5

Romain Rolland, Le Cloître de la rue d’Ulm (1886 – 1889), Cahiers Romain Rolland 4, Paris: Albin Michel 1952, S. 174. Cf. Léon Daudet, Fantmes et Vivants, Paris: Nouvelle Librairie nationale 1917, S. 130. Richard Wagner, Beethoven in Revue wagnrienne, IV, 8 mai 1885, traduit par Teodore de Wyzewa, Genève: Slatkine Reprint 1968, t. 1, S. 111.

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jamais se satisfaire de son niveau de connaissance. Voici ce qu’il déclarera en 1935 dans La Nation Belge: «J’ai pris goût à la littérature grecque au sortir du lycée à une époque où il me fallait refaire toute mon éducation littéraire. Je me suis remis alors au grec, en m’appuyant sur les œuvres d’un auteur aujourd’hui trop oublié, sur Paul de Saint Victor.»6

A ce moment-là, Claudel se met à envisager sa traduction française de L’Orestie qu’il travaillera jusqu’en 1920, année où il terminera ses Notes sur les Eumnides. C’est également selon le canon classique que Claudel rédigera sa tétralogie comprenant les trois tragédies L’Otage, Le Pain dur, Le Pre humili et qu’il comblera, par la comédie Prote, la lacune due à Chronos dans la tétralogie d’Eschyle. Quant à TÞte d’Or, pièce à laquelle nous consacrerons cet article, et dont la deuxième version fut rédigée par Claudel en poste à Boston en même temps que le début de son travail sur Agamemnon, elle est constamment parsemée de suspensions d’actes et de paroles que des critiques considèrent inspirées d’Eschyle. L’attache de Claudel au style et au mètre archaïques avait déjà été remarquée par ses contemporains. N’est-ce pas pour cela qu’André Suarès déclara dans sa lettre à Claudel en 1907: «Il n’y a jamais eu, comme œuvre d’art, que chez les Grecs. Mon admiration pour le grand Pindare vous est connue. La première Pythique, chez les modernes, est de vous.»7

Même lorsqu’il ne s’agit pas de Claudel-poète mais de Claudel-politikon zoon, ses penchants demeurent «classiques». Souvent, Claudel a des jugements sur la société contemporaine et démocratique semblables à ceux de l’helléniste-Nietzsche8, bien qu’exprimés avec moins de véhémence. Par exemple, sa vision de la démocratie demeure identique à celle de Platon pour lequel ce modèle était une porte ouverte à la

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Paul Claudel, La Nation Belge , 26 mars 1935. Lettre d’André Suarès à Paul Claudel du 24 juin 1907, in Andr Saures et Paul Claudel, Correspondance 1904 – 1938, Paris: Gallimard 1951, S. 103. «Wir, die wir eines andren Glaubens sind –, wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloß als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung […].», zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Berlin – New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, B. 5, S. 126.

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tyrannie9 ou, incompatible avec la «liberté» selon la conception du Périclès de Thucydide.10 N’est-ce pas pour cela que Claudel, ancien ambassadeur de la IIIe République en Europe, en Asie et en Amérique, voyant sa patrie occupée par les Allemands (pour lesquels, d’ailleurs, il n’a aucune sympathie depuis que Hitler a été appelé au pouvoir puisque dans son Journal, il les appelle rarement autrement que les «Boches»11), décrit dans ce même Journal, le 6 juillet 1940, ce qui est pour lui le premier point positif de l’occupation et de l’installation de l’État Français: «Espérance d’être délivrés du suffrage universel et du parlementarisme: ainsi que de la domination méchante et imbécile des instituteurs qui lors de la dernière guerre se sont couverts de honte. La restauration de l’autorité.»12

Claudel ne dissimule nullement ce qui constituerait idéalement pour lui cette autorité: cela passe par le rétablissement de la monarchie, le meilleur système social selon Aristote13, comme Claudel le déclare dans sa lettre à Suarès envoyée de Prague en 1911: «Moi aussi, je vous l’avoue, mes préférences vont à cette forme du gouvernement [la monarchie; A.L.], mais à une monarchie revêtue d’un caractère religieux et dont l’autorité est celle moins de la force que de la persuasion, ,sicut unguentum quod descendit in barbam, in barbam Aaron’.»14

Cependant Claudel semble être d’accord avec le Zarathoustra de Nietzsche: «Es ist die Zeit der Könige nicht mehr: was sich heute Volk heisst verdient keine Könige.»15, c’est pour cela qu’il refuse une certaine marginalisation qui fut le destin de Nietzsche, il n’entre pas non plus en résistance ouverte comme Maurras. Cela ne lui convient guère, tout comme l’inactivité mallarméenne d’ailleurs. Claudel choisit une vie active et productive comme Rimbaud, cet «épicier à Aden», personnage 9 Cf. Platon, La Rpublique VIII, 562 Q, Paris, Belles Lettres, traduit par Émile Chambry, 1982 (1934), S. 33. 10 Cf. Thucydide, La Guerre de Ploponnse II, ch. 1. 11 «Les Boches m’en voulaient particulièrement»: Paul Claudel, J. II, Juillet 1940, Paris: Gallimard 1969, S. 323. 12 Paul Claudel, J. II, Juillet 1940, Paris: Gallimard 1969, S. 321. 13 Cf. Aristote, Politique IV, 2, 26 – 30. 14 Lettre de Paul Claudel à André Suarès, Prague, 10 février 1911 in: Andr Saures et Paul Claudel, Correspondance 1904 – 1938, Paris: Gallimard 1951, S. 160. 15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1988, B. 4, S. 263.

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admiré par Claudel aussi bien comme poète que comme homme.16 C’est quand son activité de diplomate lui laisse quelque temps de loisir qu’il se consacre à la création: «Du temps où je fréquentais chez Stéphane Mallarmé, celui-ci attristait tous les jeunes hommes qui l’entouraient par la description de basses et lugubres besognes où la nécessité de vivre réduisait l’artiste moderne. Mais quand j’étais sorti de ce cénacle, j’étais tout surpris et un peu honteux de ne ressentir devant ces besognes quotidiennes aucune parcelle de cet ennui et de ce dégoût que mon devoir aurait été cependant d’éprouver. Tout ce que je faisais, tout ce que j’étudiais, aussi bien le droit que les finances et les questions commerciales, me semblait plein d’intérêt et de poésie.»17 Mieux encore, l’approche à la création, celle de Claudel comme celle de Nietzsche, est identique – une création «corporelle» et dionysiaque qui les «pénétrait», souvent lors de leurs promenades à travers la forêt.

Chez Nietzsche, on lit: „Man hört, man sucht nicht ; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstorm auslöst, bei der der Stritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen […]“18

Chez Claudel: «Au rythme de la marche, mon esprit s’enivrait, je parlais tout haut, je riais, les larmes me venaient aux yeux de sentir à ce point dans mes veines et tout près de moi, la Vie. Un Soulier de Satin irréel voltigeait autour de moi 16 Cf. Paul Claudel, La Messe l-bas, Paris: NRF 1914, pp. 507 – 509 et «l’Absent professionnel», Le Figaro, 12 février 1938. 17 Paul Claudel, Prambule  «Une promenade  travers la littrature japonaise», Paris: 1925, Pr., S. 1562. 18 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, B. 6, S. 339; „On entend, on ne cherche pas ; on prend, on ne se demande pas qui donne ; tel un éclair, la pensée jaillit soudain avec une nécessité absolue, sans hésitation dans la forme. Je n’ai jamais eu à faire un choix. C’est un ravissement dont la prodigieuse tension se soulage parfois par un torrent de larmes, où nos pas, sans que nous le voulions, tantôt se précipitent, tantôt se ralentissent ; c’est une extase imparfaite qui nous ravit à nous-mêmes, en nous laissant la perception très distincte de mille frissons délicats qui nous font vibrer tout entiers, jusqu’au bout des orteils […].“, in: Friedrich Nietzsche, Ecce Homo in Œuvres, Paris: Éditions Robert Laffont 1993, traduit de l’allemand par Henri Albert, t. 2, S. 1173. Nietzsche souligne.

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comme une mouette qu’escorte un bateau, un ’Bateau ivre’ et ’je devins un opéra fabuleux’.»19

C’est donc tout en ayant une vision du beau et de la société humaine fort proche de celle de Nietzsche que Claudel commence sa lutte contre la doctrine du philosophe allemand et c’est à travers les mouvements de cette lutte que son art se manifeste. Il est nécessaire de préciser l’attitude de Claudel face à la religion à ce moment-là. En 1886, il connaît une révélation et au Noël de 1889 (année de la disparition spirituelle de Friedrich Nietzsche), il tente de se confesser, ce qu’il n’avait pas fait depuis des années. Quelques semaines plus tard, il publie la première version de TÞte d’Or, drame qu’il déclarera, durant toute sa vie, trop intime pour être porté sur scène. Il est intéressant de souligner que, tout comme sa tentative de conversion ne fut annoncée à aucun de ses proches, TÞte d’Or fut publié anonymement: la démarche de Claudel-artiste accompagne donc la démarche de Claudel-homme. C’est seulement à partir de 1890 que le dramaturge retourne, ouvertement, à la pratique religieuse et voici ce que Claudel a bien voulu dévoiler sur ce drame intime en 1919: «Dans un pays dont il m’a paru inutile de préciser le nom, un aventurier s’empare du pouvoir suprême que les faibles mains d’un monarque caduc laissent échapper. Il le tue, chasse sa fille, la Princesse, qui s’en va errante et mendiante sur les routes de l’exil, dompte l’émeute, et réunit autour de lui toutes les forces ardentes et conquérantes de la jeunesse. Bientôt il se saisit de toute l’Europe divisée et affaiblie avec autant de facilité qu’Alexandre jadis de l’empire perse à son déclin, et voilà qu’il s’enfonce vers l’antique Asie dont les déserts avoisinent le Caucase.»20

Oui, un pays mystérieux et aucun spécialiste de Claudel n’a depuis prononcé le nom de ce pays! Mais grâce à Nietzsche, nous arriverions peut-être à situer ce pays sur la carte et à rapprocher les événements se déroulant dans le drame de faits réels de notre passé. Grâce à la vision que Claudel avait de l’œuvre nietzschéenne, nous découvririons également les nuances du combat spirituel de ce dernier, tel qu’il le décrit lui-même, en citant Une saison en enfer de Rimbaud dans une de ses lettres, «[…] aussi brutal que le combat des hommes […].»21 19 Paul Claudel, Novelles Rflexions sur le thtre, S. 209. 20 Paul Claudel, Confrence le 30 mai au Thtre du Gymnase in Notices pour TÞte d’Or in Thtre I, Paris: Gallimard 1967, S. 1249. 21 Lettre à Byvanck du 30 juillet 1884 in Cahiers Paul Claudel II « Le Rire de Paul Claudel », Paris: Gallimard 1960, S. 273.

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Pour répondre à ces questions, il serait souhaitable de se situer à l’époque de la publication de TÞte d’Or, c’est-à-dire quelques années après la parution de Also sprach Zarathustra, et ainsi essayer de définir la démarche spirituelle qui peut se tramer dans le for intérieur d’un jeune lettré français, baptisé (comme l’on dirait maintenant: «d’origine chrétienne»), devenu, pendant quelques années agnostique, féru de cultures hellène et allemande, admirateur de Wagner depuis 1884, lecteur de la Revue wagnrienne évoquant la pensée allemande à maintes reprises22 et, en même temps, sur le chemin de sa reconversion. C’est cette conversion qu’il pourrait vouloir décrire dans son supra-personnel TÞte d’Or, faisant de ses personnages les porteurs d’une doctrine réellement existante et mettant son destin en parallèle avec celui du christianisme occidental. TÞte d’Or pourrait être la réponse de l’artisteClaudel à l’artiste-Nietzsche, et dans cette réponse, Claudel utiliserait des procédés familiers au philosophe allemand. En effet, Nietzsche choisit, pour dire et chanter sa vision du monde et sa «nostalgie du surhomme», un prophète perse pour la raison suivante: selon lui, Zarathoustra est le premier prophète qui indique clairement le limes séparant le bien et le mal: «Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk.»23 Pourquoi donc un Claudel qui répondrait à Nietzsche n’attribueraitil pas le rôle principal de TÞte d’Or à celui qui représenterait par excellence ce Zarathoustra, obéissant de surcroît à la logique historique et dogmatique évidente pour un homme pétri de culture antique? Le vrai Zarathoustra du VI-ème siècle av. J.-C. prêchait la croyance en une divinité nommée Ahura-Mazda qui plus tard absorbera un autre dieu aryen, Mithra. Dans L’Avesta, Mithra, à peine crée, est présenté par Ahura-Mazda à Zarathoustra.24 Les successeurs de Zarathoustra, vénéreront un Ahura-Mithra, et, c’est à la veille de l’ère chrétienne que Mithra-Soleil prendra une place prépondérante à Rome, très accueillante envers les rites orientaux. Peu à peu, Mithra deviendra l’une des 22 «La philosophie de Schopenhauer doit servir dorénavant de base à toute culture intellectuelle et morale.», in: Revue wagnérienne, mai 1885, S. 111. 23 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Smtliche Werke, BerlinNew York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, Band 6, S. 367. Nietzsche souligne. 24 Cf. L’Avesta, X.

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divinités les plus importantes de l’empire, après quoi, son culte sera institué par l’empereur Aurélien, avec des fêtes en son honneur, les Solis Agon, la suite des Saturnales et dont la date dans le calendrier actuel serait le vingt-cinq décembre. Ce Mithra de Rome serait donc un Antchrist par excellence. Dès l’arrivée du christianisme, une rivalité entre les disciples de Mithra et les prêcheurs de l’Evangile s’engagera. Quant à Nietzsche, il connaissait fort bien cette lutte se déroulant à Rome et, ce sont les péripéties de cette opposition spirituelle qui l’avaient guidé lors de la création de Also sprach Zarathustra: n’est-ce pas pour cela que, dans son autobiographie Ecce homo, le philosophe met en italique le nom d’Aquila qui symbolise pour lui «l’anti-Rome chrétien»: „[…] ich versuchte loszukommen, – ich wollte nach Aquila, dem Gegenbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung an einen Atheisten und Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten, den grossen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.“25

La remarque de Nietzsche sur un «empereur – anté-Christ» arrive bien à propos car il existait véritablement un empereur, de Rome cependant, adversaire du christianisme et adepte de Mithra, dieu des successeurs de Zarathoustra. Il s’agit de l’empereur Julien, arrivé au pouvoir en 361, c’est-à-dire quarante-huit ans après l’édit de Milan. Julien haïssait le christianisme représenté, pour lui, par son prédécesseur, Constance II, assassin de ses parents. Bien avant d’accéder aux fonctions suprêmes, Julien, général brillant de l’armée romaine, était devenu disciple du mithriacisme. C’était l’époque où le culte de Mithra était extrêmement répandu dans la légion au sein de laquelle des soldats originaires de l’Asie s’étaient de plus en plus engagés – les mithraeums couvraient alors l’empire, de la Perse jusqu’en Bretagne. Le rituel d’initiation au culte du dieu solaire consistait en outre à être aspergé par le sang d’un taureau immolé. C’est lorsque Julien accède au pouvoir suprême à Rome qu’il apostasie le christianisme de ses prédécesseurs et instaure le culte de Mithra, entamant une réforme visant la réinstallation du paganisme, tout en empruntant chez les chrétiens le système hiérarchique du clergé. Cette installation à Rome, après le début de la gloire du christianisme, du culte de Mithra, dieu de Zarathoustra, était connue de Nietzsche. 25 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Smtliche Werke, BerlinNew York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, Band 6, S. 340. Nietzsche souligne.

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Dans les passages de ses œuvres traitant de l’antichristianisme, il évoque Mithra et chacune de ces évocations se concentre autour de la relation qui oppose Mithra à l’empire romain, nouvellement chrétien. C’est le cas du 58ème chapitre de Der Antichrist, ainsi que de tout le paragraphe 71 de Morgenrçthe intitulé «Die christliche Rache an Rom». Le philosophe parle de Mithra comme de l’ultime tentative du paganisme de chasser, à cette époque, le christianisme, – o jaiq|r que les païens ont mal saisi par les cheveux, pour reprendre l’image nietzschéenne. N’oublions pas qu’outre ses capacités de général et d’administrateur, Julien fut un écrivain de langue grecque raffiné; ses lettres-discours sont des ouvrages de référence pour les hellénistes. L’un de ses discours célèbres est intitulé Eir tom basikea gkiom, de Helios – Roi, dans lequel l’empereur exprime son adoration de Hélios, «maître suprême» et «médiateur»; il montre également une connaissance parfaite de ses prédécesseurs, de Homère jusqu’à Plutarque et Macrobe. Par ailleurs, il est quasi impossible d’imaginer que Claudel, lycéen à Louis–le–Grand, lors des cours d’histoire romaine, n’ait pas entendu ses professeurs parler de cet empereur-helléniste, brillant réformateur, exerçant ses qualités à la gloire de Mithra. Quant aux ouvrages largement accessibles paraissant à Paris quelques années avant la rédaction de TÞte d’Or, nous pouvons mentionner Marc-Aurle d’Ernest Renan26 ou la thèse de Jean Réville publiée en 1885 La Religion romaine sous les Svres.27 L’intérêt déclenché par le personnage historique de Julien ainsi que l’abondance des livres sur Mithra ont pu amener Claudel à lire les discours de l’empereur apostat, ce qui plus tardivement, en 1953, le mènera à mentionner dans son Supplment  [son] livre sur l’Apocalypse, en toute connaissance de cause, «l’impie Julien». Manifestant une connaissance parfaite du cadre historique de la vie de Julien et ses penchant spirituels, – connaissance familière aux écoliers –, Claudel, parlant de l’empereur-«Antéchrist», mentionne les cultes asiatiques des sacrificateurs du sang taurin tout en soulignant l’actualité de ces pratiques avec une répulsion digne d’un Plutarque; les références puisées dans le passé, par Claudel, pour son art, ne sont pour l’artiste que le reflet de l’actualité et, TÞte d’Or a été, une pièce vibrante, vivante, 26 Ernest Renan, Marc-Aurle, Paris: Calmann-Lévy 1882, mentionne le mithriacisme sur les pages 575 – 580. 27 Jean Réville, La Religion  Rome sous les Svres, Paris: Ernest Leroux 1885, mentionne le mithriacisme sur les pages 77 – 103 et l’empereur Julien, en particulier, sur la page 102.

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contemporaine à son auteur et, à la fois, éternelle pour l’espèce humaine: «Puis ce sont les chasseurs et les sorciers qui essayent de s’introduire à l’intérieur de l’animalité elle-même en soudant leurs tiges à des épanouissements de rennes ou de bisons. Et combien de temps n’a-t-on pas vu fonctionner en tant qu’idoles sur les parois de l’Égypte et de l’Assyrie des animaux à têtes d’hommes et des hommes à têtes d’animaux? Quel écolier ne se rappelle le Minotaure et toutes les fables de Jupiter et des autres dieux, de ce sang bestial sous lequel l’impie Julien essaya d’effacer celui du Christ? Encore actuellement dans la malheureuse Inde les animaux, du fait sans doute, muets, de leur valeur purement représentative, ne sont-ils pas investis d’un caractère sacré auxquels nos frères dégradés n’ont point honte de subordonner leur propre existence?»28

L’helléniste Nietzsche lui aussi ne pouvait méconnaître l’existence des discours de Julien qui se trouvaient, en effet, dans sa bibliothèque privée.29 Quant à la connaissance concrète de l’œuvre de Julien, elle transparaît notamment dans la lettre de Nietzsche à Carl Dilthey du 2 avril 1866.30 La fin de Julien est aussi digne d’intérêt que sa vie. Après avoir régné pendant dix-huit mois, Julien à la tête de son armée en guerre en Perse se fait tuer lors d’un combat. Fait remarquable! Son adversaire asiatique, le roi Sapor, était, comme lui, adorateur de Mithra, dieu de Zarathoustra. Ainsi, l’Orient et sa divinité «originelle» aspirent, en quelque sorte, leur serviteur occidental. Suite à la disparition de Julien, l’empire redeviendra chrétien et bientôt, le christianisme sera proclamé religion officielle de Rome. Regardons maintenant ce qu’il se passe dans TÞte d’Or: à la cour d’un pays, dit «inconnu», revient un général, sauveur aux cheveux d’or d’un empire gouverné par un empereur déchu et affaibli par les luttes démocratiques. Il tue l’empereur et, précise Claudel, s’asperge du sang de sa victime, ce qui fait de nouveau penser à Mithra, souvent représenté sous la forme d’un jeune homme à la face entourée des cheveux en 28 Cf. Paul Claudel, Supplment  mon livre sur l’Apocalypse in Le Pote et la Bible II, 1945 – 1955, Paris: Gallimard 2004, S. 1080. 29 Cf. Guiliano Campioni, Paolo d’Iorio, M-C. Fornari, Francesco Fronterotta, Andrea Orsucci, Nietzsche personliche Bibliothek, Berlin – New York: de Gruyter 2003, S. 322. 30 Cf. Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe Kritische Studienausgabe, 2 avril 1866, Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1986, B. 2, S. 118.

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forme des rayons solaires, une divinité brillante31, étincelante32 et immolant un taureau. Dans son ouvrage Au milieu des vitraux de l’Apocalypse, Claudel parlera justement des immolations de taureau au dieu Mithra, rapprochant la bête du Christ lui-même, d’un souverain supra-pur capable de rassembler et, en même temps, de dominer ses semblables: «Sa beauté comme celle du taureau premier-né. Le Premier-né, c’est le Christ dont il est écrit: Ex utero ante luciferum genui te. Le taureau, si important dans les mythes et les religions de toute l’Asie, depuis l’Égypte, depuis les Vedas jusqu’à Mithra, c’est l’animal pur, typique et intact, la force vitale emmagasinée, la matière par excellence du sacrifice qui consiste à offrir à Dieu ce qui vit et qui est capable de donner la vie, le taureau étant à la fois force, travail, aliment et génération. C’est ainsi qu’il est écrit dans l’Épître aux Hébreux : Si sanguis taurorum sanctificat. Le taureau est ce qui ressemble, ce qui domine le troupeau et qui lui donne naissance: Congregatio taurorum, dit le psaume 67, 31, in vaccis populorum. Sa chair est la matière du rassemblement des fidèles et de leur communion. C’est ainsi qu’il est dit dans la Parabole du Festin: Tauri mei et altilia mea occisa sunt et omnia parata.»33

N’est ce pas pour cela que, dans TÞte d’Or, Claudel insiste sur l’acte du sacrifice tel qu’il devait être accompli lors des rituels d’initiation au mithriacisme: « Je l’ai sacrifié, / Et son sang a bondi sur moi, et il est tombé à mes pieds, se tordant dans les convulsions de la mort.»34 Tête d’Or chasse les femmes de l’assemblée, étouffe les luttes oligarchiques et démocratiques, évoque le soleil et part en guerre vers l’Orient retraçant ainsi l’ultime chemin de l’empereur Julien. Personne n’a osé contester son pouvoir: «il a l’armée [ce fief de Mithra dans l’empire romain, A.L.] avec lui.»35, précise Claudel par la bouche d’un oligarque. Mais avant cela, Claudel laisse à l’Église incarnée dans le personnage de la Princesse, fille de l’empereur «sacrifié», la possibilité de s’exprimer pour, ensuite, se faire bannir de son pays.

31 Cf. L’Avesta, X, 44. 32 Cf. L’Avesta, X, 142, 143. 33 Paul Claudel, Le Pote et la Bible I, 1910 – 1946, Paris: Gallimard 1998, S. 277. Claudel souligne. 34 Paul Claudel, TÞte d’Or in Thtre I, Paris: Gallimard 1967, S. 254. 35 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 235.

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Avant d’être chassée, elle lance un appel de justice et, à cette occasion, elle invoque le soleil-Mithra, dieu de Zarathoustra: «Soleil, regarde cet acte impie!»36 Souvenons-nous que le terme « impie » se rapporte à l’empereur Julien dans les écrits postérieurs de Claudel.37 «Penses-tu m’étonner, jeune fille?»38, répond à ces reproches le serviteur de Hélios-Roi. En effet, il s’agit d’une très jeune fille, de l’Église récemment installée à Rome par Constantin Ier et, Tête d’Or, concluant son discours à la Princesse, fait appel à sa gloire qui «[…] va s’élever sur le monde comme l’arc-en-ciel.»39 ; arc-en-ciel – der Regenbogen, une prémisse de l’ bermensch évoquée par le Zarathoustra de Nietzsche40 que Claudel ne cesse de paraphraser tout au long de la pièce, lui empruntant pour étendard jusqu’à ses symboles: l’aigle qui, au lieu de porter autour de son cou la sagesse–serpent, serre entre ses griffes un être humain. La bannière de Tête d’Or est, bien sûr, une image du soleil en toute sa splendeur: «Je ne sais, car jusqu’ici je me tenais toujours à son côté, quand il montait à cheval, à l’heure suprême de la bataille, Tenant la bannière où est peinte l’aigle noire et terrible Qui s’élève vers le soleil, mais toute la bannière est de la couleur de l’or.»41

La conquête de Tête d’Or commence et, désormais, Claudel signalera, à maintes reprises, l’emplacement du soleil-Mithra et ses différentes couleurs lors de chaque mouvement mené par les guerriers de Tête d’Or, et ceci jusqu’au moment ultime, c’est-à-dire le combat entre l’Occident et, je cite Claudel, «[…] l’humanité antique venue au devant de sa sœur […]»42, venue de l’Orient bien sûr. C’est toujours le dieu des successeurs de Zarathoustra, «… rouge […] comme un Moloch […]»43, qui domine les deux armées adverses, toutes deux parées de symboles du mithriacisme, ce qui réintroduit le cadre historique de la dernière rencontre entre Julien et Sapor. 36 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 254. 37 Cf. Paul Claudel, Au milieu des vitraux de l’Apocalypse in Le Pote et la Bible I, 1910 – 1946, Paris: Gallimard 1998, S. 277. 38 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 254. 39 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 255. 40 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin – New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1988, S. 128. 41 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 266. 42 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 274. 43 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 274.

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«Et au-dessus de nous, du soleil brillant la face enflammée.»44, ainsi Cassius, bras droit de Tête d’Or, termine-t-il la description des armées. Lors du combat, Tête d’Or, abandonné des siens, est blessé mortellement45 – l’empereur Julien, rappelons-le, fut assassiné lors d’une bataille contre les Perses, mais par un javelot romain. «Que la révélation du soleil s’éteigne!»46, ainsi Cassius conclut-il les lamentations sur Tête d’Or. Fin de la gloire de Mithra chez Claudel! Dès le commencement de la troisième partie du drame, la nuit retombe, cette nuit précédant l’arrivée de Tête d’Or dans laquelle «rayonnait» la Princesse. Et à travers le brouillard de la nuit, on commence par distinguer la Grande Ourse, cette «Ourse du soir» qui, selon l’un des centurions de la pièce, «a saisi le soleil entre ses pattes.»47 Dressant le décor de la partie finale, Claudel précise: «Toute la hauteur de la scène est occupée par la constellation de la Grande Ourse, qu’on distingue au travers de la brume.»48 Voilà le retour de l’Église, victorieuse d’Hélios-Roi, dieu des successeurs de Zarathoustra, qui, depuis le début du drame, n’a jamais cessé de veiller sur les personnages. Car, pour Claudel, et je cite son Journal de 1904: «L’Église (est) comparée à Arcturus (la Grande Ourse).»49 Une belle image offerte par un helléniste. Référence à Héraclite l’Obscur pour lequel, la Grande Ourse est, selon Strabon50, l’unique constellation qui, durant la nuit, ne quitte jamais le ciel: «Les bornes de l’Aurore et du Soir: l’Ourse, et, en face de l’Ourse, le gardien du Lumineux Zeus.»51 Cette analyse de TÞte d’Or, justifiée par l’influence de l’œuvre de Nietzsche sur ses contemporains, permet également d’expliquer certains moments du drame considérés jusqu’à présent comme «illogiques» mais que Claudel s’obstinait à garder. Voici le premier mystère: le monarque sacrifié par Tête d’Or porte un titre impérial, il est «l’empereur David». Cependant, en lui prenant sa 44 45 46 47 48 49 50 51

Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 275. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 287. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 276. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 287. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 257. Paul Claudel, J. I, Novembre-Décembre 1904, S. 16. Cf. Strabon, Gographie I, 1, 6. Héraclite, Fragments, Paris: PUF 1986, traduit par Marcel Conche, S. 195.

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couronne, c’est le titre de Roi et non d’empereur qu’acquiert Tête d’Or, titre qu’il conservera jusqu’à la fin de la pièce. Par ailleurs, Claudel soutenait la thèse selon laquelle les Psaumes de David étaient l’annonce des vangiles prêchés par le descendant direct du «Melech» et si l’empire romain, devenu récemment chrétien, et donc par ce biais héritier de David, fut gouverné, pour un bref délai, par le serviteur célèbre de Basileos-Helios, Hélios-Roi, n’est-ce pas pour cela que Claudel peut offrir à ce dernier le titre du fameux discours de Julien l’Apostat, prophète du dieu de Zarathoustra? En revanche, lorsque la Princesse lui succède, selon la volonté de Tête d’Or, elle est nommée par le roi – «reine» – et Claudel laisse son héros paraphraser Rimbaud: «Mes amis, je veux qu’elle soit reine!»52 Chez Claudel, Tête d’Or s’adressant à ses lieutenants, on lit: «Le Roi. – Qu’elle soit… Le Commandant. – Qu’elle soit? Premier Officier. – Quoi ? parle. Le Roi. – R…

Il meurt. […]

Deuxième Officier. – Il a dit Reine, je l’ai entendu. Le Commandant. – ’Qu’elle soit Reine’.«53

Cependant, une fois Tête d’Or mort, la fille de l’empereur récupère, à son tour, la couronne de son père, et est nommée, lors du sacre, «Impératrice»54 : l’Église reprend donc l’empire à Simon Agnel qui, bien qu’étant destiné à devenir «Pierre», était devenu le serviteur de Mithra, donc apostat. Ainsi, tous les événements: le baptême, l’apostasie, la réconciliation avec l’Église – repassant par un rude combat – retracent, avec exactitude, le chemin spirituel de Claudel dans ce drame intime qu’est TÞte d’Or. La mort de Tête d’Or–Julien l’apostat symbolise, sous la plume de Claudel, car associant son parcours spirituel à l’histoire du christianisme romain, la fin de sa propre tentation païenne. Enfin, c’est le matin et «L’Occident […] blêmit»55, c’est par cette phrase mystérieuse qui, depuis longtemps, étonne ses commentateurs que Claudel termine son drame – en effet, à l’aurore l’Occident devrait rougir. Cet épilogue trouverait maintenant son explication: immédiatement après la mort en Asie de Tête d’Or, ce serviteur et hypostase de 52 53 54 55

Arthur Rimbaud, Illuminations, Paris: Gallimard 1884 (1965), S. 165. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 297. Claudel souligne. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 301. Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 302.

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Mithra, dieu des successeurs de Zarathoustra, l’Occident cesse d’être le domaine de Hélios – Roi. Il pâlit.

Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus Miriam Ommeln Bei meinem Vortrag dreht es sich vor allem darum, Friedrich Nietzsche besser kennen zu lernen. Als Nietzsche genau im Jahre 1900 stirbt, bricht zugleich ein neues Jahrhundert an. Und es ist die Zeit nach Nietzsches Tod, mit der ich mich beschäftigen werde, weil seine Ästhetik erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangt ist. Schon zu seinen Lebzeiten war Nietzsche der festen Überzeugung, daß „es noch sehr viele Möglichkeiten giebt, die noch gar nicht entdeckt worden sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben.“1 So sucht und findet Nietzsche den Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung in Paris. Warum gerade in Paris? Weil dort Künstler wie z. B. Delacroix und Baudelaire lebten. Vor allem Charles Baudelaire nimmt eine Schlüsselrolle ein, weil er nicht nur der „erste intelligente Anhänger Wagner‘s“2 war, wie Nietzsche meint, sondern weil er auch als Vertreter der Spät-Romantik, die Nietzsche schätzte, von den Surrealisten rezipiert wurde. Da es keine nennenswerte wirkungsgeschichtliche Beeinflußung von Nietzsches Musikverständnis gibt, und Nietzsche zudem eine allgemeine, alle Künste umfassende, nicht nur die Musik betreffende, Ästhetik schuf, werde ich nun darlegen, daß die surrealistische Bewegung den Anforderungen von Nietzsches Ästhetik entspricht. Dies werde ich in zwei Teilen tun, einem allgemeinen, der eine grobe Übersicht über die Parallelen und Übereinstimmungen zwischen dem Surrealismus und Nietzsche gibt, und einem spezielleren, der die tiefgründige, philosophische Fundierung und Basis beider Theorien aufzeigt. Als Ariadnefaden durch diesen Vortrag soll folgende wichtige Aussage Nietzsches dienen: 1 2

Vgl. KSA 8, S. 101, 6 [11]. KSA 6, S. 288 (5).

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„Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, P e r s p e k t i v e n u m z u s t e l l e n : erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine ,Umwertung der Werte‘ überhaupt möglich ist.–“3

1. Teil Eine erste Umwertung der Werte geht von Frankreich aus, als der Psychiater Philippe Pinel als erster die Geisteskranken von ihren Ketten und Käfigen befreit. So befindet sich Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts – Nietzsche hält sich übrigens zeitgleich in Italien auf, bzw. befindet sich schon in der Irrenanstalt – in seiner Glanzzeit der Medizin. Themenkomplexe wie Hypnose, Traum, Unbewusstes und die Psychiatrie selbst werden untersucht und neu definiert. Diese Epoche der sogenannten „Schlafzustände“ wird von den Surrealisten mit Begeisterung aufgenommen, und sie übernehmen die historische Avantgardefunktion für die ästhetische Emanzipation der psychopathologischen Ausdrucksformen. Wahnsinn und Vernunft sind, genauso wie Traum und Wachzustand, polare Gegensätze, bzw. die Surrealisten sagen dazu Antinomien, die im surrealistischen Sprachgebrauch als „kommunizierende Röhren“ zusammengefasst werden. Die Gleichberechtigung von Gefäß und Gefasstem, bei der das eine ohne das andere nicht sein kann, bezieht sich auf sämtliche Gegensätze, wie z. B.: Subjekt und Objekt, Vergangenheit und Zukunft, oder schlicht auf Realität und Surrealität. Daß die Surrealität in der Realität bereits enthalten ist, sieht nicht nur André Breton, einer der Gründer der surrealistischen Bewegung, sondern auch Nietzsche, der wie die Surrealisten den antiken Kult der Wahnsinnigen wiederentdeckt. Nietzsche ist der Überzeugung, daß „fast alle bedeutenden Menschen wahnsinnig waren, und er überlegt sogar, wie man sich wahnsinnig machen, bzw. stellen könne. Beschwörend schreibt er: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien und Zuckungen, […].“4 Auch der Traum hat für Nietzsche eine wichtige Bedeutung, da man „ohne den Traum keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden hätte.“5 Die Kritik, die Nietzsche an 3 4 5

KSA 6, S. 266 (1). KSA 3, S. 28 (14). Vgl. KSA 2, S. 27 (5).

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diesem selbst geschaffenen Dualismus übt, ist die, daß man vergißt, daß es nur auf die „Gesamtheit der hervorgerufenen Affektionen ankommt, gleichgültig, ob sie auf Wahrheit oder Irrthum beruhen.“6 Der Traum und die Wirklichkeit sind für Nietzsche komplementär, da nur die Rolle der Phantasie, die man nach Nietzsche an die „Stelle des Unbewußten zu setzen hat“7 wichtig ist, da die Phantasie die Empfindung und damit die Affekte beeinflusst. Mit dieser Auffassung könnte Nietzsche ohne weiteres die surrealistische Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit unterschreiben. Doch was ist es, was die Kunst der Geisteskranken und ihr paranoides Verhalten kennzeichnet, so daß Nietzsche es in den Affekten wiedererkennen kann? Es kann nach Jacques Lacan mit dem: „Ausdruck der wiederholten Identifizierung mit dem Objekt umschrieben werden. Der Wahn zeigt sich an zyklisch wiederholten Trugbildern, an einer endlosen, periodischen Wiederkehr der gleichen Geschehnisse und zuweilen der Verdopplung der Person.“8

Den Paranoiker zeichnet einen Wiederholungszwang aus, der mit einem Identifikationswunsch nach dem menschlichen Körper verbunden ist, und damit zu einer individuellen Typisierung seines Stils beiträgt. Genau diese Bestimmung nimmt Nietzsche vorweg, wenn er von dem Charakter der höheren Menschen verlangt, daß sie ein „typisches Erlebnis haben, das immer wiederkommt.“9, bzw. das sie am „einfachen Aufbau und das erfinderischen Ausbilden und Ausdichten Eines Motivs oder weniger Motive leicht zu erkennen seien.“10 Nietzsche definiert sein Begriffsverständnis von Ästhetik über den Begriff der Wiederholung bzw. der Periode, so meint er z. B.: „alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde.“11 Die Bedeutung der Periode in Nietzsches Philosophie erkennt man auch daran, daß sie alle wichtigen Begriffe seiner Philosophie bestimmt, so ist z. B. „der Wille 6 KGW V/1, S. 213. 7 Vgl. KSA 9, S. 446, 11[13]. 8 Vgl. Jacques Lacan, „Das Problem des Stils und die psychiatrische Auffassung paranoischer Erlebnisformen“, in: Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der Phantasie und Erklrung der Rechte des Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte Schriften, herausgegeben. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, deutsch von Brigitte Weidmann, München: Rogner & Bernhard 1974, S. 355. 9 Vgl. KSA 5, S. 86 (70). 10 Vgl. KSA 3, S. 203 (245). 11 KSA 6, S. 304 (4).

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zur Macht eine Oszillation zwischen einem Ja und einem Nein“12, Dionysos und Apollon unterscheiden sich, obwohl beide einen „Rauschzustand darstellen, in ihrer Tempoverschiedenheit, der eine Zustand ist explosiv, der andere eine Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls, und beide überlagern sich zu einem dissonanten Rhythmus. Der Begriff der ewigen Wiederkehr ist selbstredend. Dazu kommt noch, daß Nietzsche meint: „Alle Kunst wirkt tonisch.“13 Dasselbe meint übrigens auch André Breton, wenn er sagt, daß das objet trouve (Fundsache), ein Sonderfall des hasard objectif (objektiven Zufalls) „die gleiche Aufgabe erfüllt wie der Traum“, nämlich den „Finder zu kräftigen und Schranken zu überwinden.“14 Die Bezugnahme auf die Physiologie verweist den Künstler zuallererst auf seinen eigenen Leib und seine Affekte. So schaut der Mensch in seinen Kunstwerken und „der Welt, die er sich selber geschaffen hat“ sich selbst und seinen eigenen Gebärdenausdruck an. Sowohl Nietzsche als auch dem Surrealismus geht es um die Menschwerdung, um ein „Werde, der du bist!“, wie Nietzsche gerne formuliert.15 Doch was empfindet der Mensch, wenn er sich selber, quasi wie im Spiegel betrachtet? Sein Spiegelbild wird ihm von einer starren Fläche zurückgeworfen und „er erträgt es nicht“. Was er zu sehen bekommt ist etwas „Unveränderlich-Hässliches“, und das wird sofort „vergessen oder geleugnet.“16 Dieses starre, häßliche Abbild wirkt auf den Rezipienten, bzw. seine Physiologie schwächend, oder mit einem populären Wort Nietzsches ausgedrückt: décadent. Dieser Zustand ruft nach Nietzsche den „tiefsten Hass, den es giebt“ hervor – aber, „um seinetwillen ist die Kunst tief…“17 Das bedeutet u. a. das der Mensch überwunden werden soll, bzw. das ein höherer Leib geschaffen werden soll. Die tonische Wirkung der Kunst bedingt, daß der Rezipient instinktiv und dynamisch auf diesen Zustand reagiert, indem er sich lustvolle Illusionen und Wahnvorstellungen schafft – selbstverständlich unter Ausschluss jeglichen Denkdiktats. Hat der Rezipient also diesem Rauschzustand – der ja 12 KSA 13, S. 260, 14 [80]. 13 KSA 13, S. 296, 14 [119]. 14 André Breton, L’amour fou (1937), Paris: Gallimard, deutsch von Friedhelm Kemp, Suhrkamp 1975, S. 35. 15 Friedrich Nietzsche, KSA 4, S. 297. Und: André Breton, Manifests du Surralime (1962, Neuauflage), Paris: Jean-Jacques Pauvert, deutsch.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbeck: Rowohlt 1968, S. 14. 16 Vgl. KSA 2, S. 693 (316). 17 Vgl. KSA 6, S. 124 (20).

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sowohl dionysisch als auch apollinisch sein kann 18 – nachgegeben, d. h. er folgt jeglicher Suggestion wie Nietzsche sagt, bzw. ist bereit in jede Rolle und Verkleidung zu schlüpfen, dann hat eine „Schönheits-Bejahung“ stattgefunden und folgender „Automatismus“19 wird in Gang gesetzt: „[…] Schönheits-Bejahungen r e g e n s i c h g e g e n s e i t i g a u f u n d a n ; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisiert sich um „das einzelne Schöne“ noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stammender Vollkommenheiten. […] es ü b e r h ä u f t den Gegenstand, der es erregt, mit einem Z a u b e r , der durch Association verschiedener Schönheits-Urtheile bedingt ist – aber dem W e s e n j e n e s G e g e n s t a n d e s g a n z f r e m d ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig falsch empfinden . . .“20

Diese Methode der spontanen Assoziation und Identifikation von wahnhaften Phänomenen im sinnstiftenden Gesamtzusammenhang entspricht der paranoisch-kritischen Methode der Surrealisten. André Breton veranschaulicht diese Assoziationskette z. B. an einem Kristall, der kristallisiert und durch seinen stereotypen Wachstumsprozess Assoziationen hervorruft und zugleich systematisiert. Übrigens sieht auch Nietzsche im Kristall „künstlerische Kräfte am Werke“21. Nicht zu vergessen ist außerdem, daß die Paranoia nach Salvador Dalí auch eine „stolze Selbstverherrlichung“22 darstellt, die in Analogie, das geschaute Spiegelbild bei Nietzsche mit einem Zauber überhäuft. Die Verzauberung ist nach Nietzsche die Grundvoraussetzung aller dramatischen Kunst.23 Dazu kommt, daß die erste und einzige Wahrheit, auf der alle Ästhetik beruht, nach Nietzsche folgende ist: „Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön.“24 So kennzeichnet Nietzsche den tragischen Künstler auch als einen, der „das Leiden als Lust empfindet“ und bejaht! Das bedeutet nach Nietzsche und dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, daß man „die Kräfte zum einen zum anderen nicht trennt – damit die Moral nicht 18 19 20 21 22

Vgl. z. B.: KSA 1, S. 71 (9.). Vgl. z. B.: KSA 13, S. 356, 14 [170]. KSA 12, S. 555, 10 [167]. Vgl. KSA 7, S. 465, 19 [142]. Salvador Dalí, Comment on Devient Dal (1973), Paris: Opera Mundi, deutsch: Memoiren, übersetzt von Franz Mayer, Wien München Zürich: Fritz Molden 1974, S. 11. 23 Vgl. z. B.: KSA 1, S. 61 (8). 24 KSA 6, S. 124 (20).

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zur Giftmischerin des Lebens wird.“25 Nietzsche stellt hier die Perspektiven um, indem er die gesellschaftlich normativierte Moral zugunsten der Ästhetik eliminiert. Und er bezeichnet sich damit als den „ersten Immoralisten“. Es ist vom menschlichen Körper auszugehen, der von außen und von innen zu studieren ist. Nietzsche fordert, daß man zugleich mit „jenem fruchtbaren und furchtbaren Doppelblick in die Welt sieht, welche alle grossen Erkenntnisse an sich haben.“26 Dazu gehört nach Nietzsche z. B. das eine „Gesellschaft von Weisen, also die Aesthetiker höchsten Ranges, sich wahrscheinlich das Böse und das Verbrechen hinzuerschaffen würden.“27 Das Rätsel des Lebens, bzw. des Leibes löst man nach Nietzsche nur, indem man die „heiligsten Naturordnungen zerbricht“28 bis hin zur Selbstzerstörung, oder wie der Surrealist Louis Aragon es formuliert: „Treibt den Gedanken der Zerstörung der Persönlichkeit bis an seine äußerste Grenze, und überschreitet sie.“29 Das kann man nach Nietzsches Überzeugung erreichen durch: Kreuzigungen, Tierkämpfe, insbesondere der Stierkampf, den er auch selber besuchte, des weiteren Orgien und Feste, die nach Nietzsche durch die „drei Elemente des Geschlechtstriebes, des Rausches und der Grausamkeit“ gekennzeichnet sind, bis hin zur Selbstvergewaltigung als Gefühl der Macht über sich, „eine Mischung dieser zarten Nuancen von animalischem Wohlgefühl und Begierde ist der aesthetische Zustand. Die Kunst ist ein Überschuss und Ausströmen von blühender Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche.“30 Des weiteren gehört für Nietzsche auch der Inzest dazu, wie es der persische Volksglaube sagt, und er damit auf seinen Zarathustra anspielt, oder auch das griechische Beispiel der Ödipusschicksale, dieses im Plural genannt, weil es nur eine der Masken des Dionysos darstellt. Diesen extremen Aneignungswillen, das Überwinden von Hindernissen durch den Willen zur Macht, bezeichnet Nietzsche als Einverleibung. Der 25 III, S. 652. I, II, III = Werke in drei Bänden, herausgegeben von Karl Schlechta, München: Carl Hanser Verlag 1965. 26 Vgl. KSA 6, S. 328 (6). 27 Vgl. KSA 9, S. 586, 12 [58]. 28 Vgl. KSA 1, S. 66 (9). 29 Louis Aragon, Der Traum des Bauern, in: Als die Surrealisten noch recht hatten, Texte und Dokumente, herausgegeben von Günter Metken, Stuttgart: Reclam 1976, S. 214. 30 Vgl. KSA 12, S. 393 f., 9 [ 102].

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Begriff der Einverleibung ist umfassend und bezieht sich auf die konkrete Auswahl von Nahrungsmittel, die bißfest und fleischlich sein sollte, mit einem Wort eine Krieger-Kost, wie z. B. Lammfleisch. Des weiteren betrifft die Einverleibung die gesamte Umwelt, bis hin zum Kannibalismus, denn wie Nietzsche sagt: „Die Lust am Menschen ist unserer Nahrung wegen nöthig –.“31 Ist der oder das Andere aber unverdaulich – in Nietzsches Augen eine Schwäche des eigenen Magens und des Willen zur Macht – bleibt eine Zweiheit übrig, die man Scheinheiligerweise mit Nächstenliebe bezeichnet, oder als das Häßliche, das Eklige und die Exkremente. An dieser Stelle ist Nietzsches Doppelblick der Perspektive wieder wichtig, da er das Unverdauliche aufwertet und sogar allgemein behauptet: „Die neue Weltkonzeption: […] sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.“32 Nietzsche bezieht sich einzig auf den Leib des Menschen an sich, der nur über seinen Leib verstanden werden kann. So betont Nietzsche, daß der „Geist ein Magen ist“, bzw. Salvador Dalí formuliert: „die Geistigkeit kommt aus den Eingeweiden.“33 Für Nietzsche und den Surrealismus gibt es nur eine „intelligente Sinnlichkeit“, zu deren vollen Entfaltung sich das „Entfernteste und das Nächste paaren“ müssen, bzw. allgemein: die Gegensätze sich verdichten müssen. Dies ist der Weg der Menschwerdung, den die Surrealisten mit den folgenden Begriffen bezeichnen: Koinzidenz, lyrisches Verfahren, auch als hasard objectif oder einfach als die surrealistische Methode, deren gemeinsamer Nenner der Königsweg der Erotik ist, wie Salvador Dalí sagt. Die Vereinigung der Gegensätzlichkeiten ist bei Nietzsche schon in der Empfindung selbst, die eine gegebene Urtatsache ist, angelegt, da sie aus „Anziehung und Abstoßung zugleich“ besteht, außerdem meint Nietzsche: „Ich habe nichts als Empfindung und Vorstellung.“34 Die Bändigung der Gegensätze mythologisiert Nietzsche in dem Wort Dionysos, das folgendes bedeutet: „ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, […] – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg . . .“35 Nietzsche sagt klar und deutlich: „Der Schönheitssinn zusammenhängend mit der 31 KSA 9, S. 315, 6 [450]. 32 KSA, 13, S. 374, 14 [188]. 33 Friedrich Nietzsche, vgl. KSA 4, S. 258 (16) und KSA 4, S. 158: „Wagt es doch erst, euch selber zu glauben – euch und euren Eingeweiden!“ Und bei: Salvador Dalí, Comment on Devient Dal (1973), dt.: Memoiren (Anm. 22), S. 175. 34 KSA 7, S. 674, 26 [11]. 35 KSA 6, S. 159 f (4).

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Zeugung“36 Der Schönheitssinn ist aber ein extremer, allumfassender Einverleibungswille, der dabei eine Umwertung der Werte vornimmt. Ganz analog zum Surrealismus, der sich als ein „neues Zeitalter des Kannibalismus der Gegenstände“ versteht und mit Salvador Dalí formuliert: „Die Schönheit wird eßbar sein, oder gar nicht.“37 Aber wie gesagt, der Schönheitsbegriff geht so weit, wie der Begriff des Menschen selbst. So gibt es zwei Seiten desselben: das Innere des Menschen muss umgewertet werden um einverleibbar gemacht zu werden: Nietzsche sagt: „Das a e s t h e t i s c h -Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut – blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jenen saugenden pumpenden Unthiere – so formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich! Also w e g g e d a c h t ! Was davon doch heraustritt, erregt Scham (Koth, Urin, Speichel, Same) […]. Also: es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den Organismus ist, um so mehr fällt ihm rohes Fleisch, Verwesung, Gestank, Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft – er thut alles, um n i c h t d a r a n z u d e n k e n . – “38

Deswegen fordert Nietzsche: „Wir lernen den Ekel um !“39 Das würde auch ganz gut zu den skatologischen Bildmotiven Salvador Dalí’s passen. Auch das ußere des Menschen muss umgewertet werden, indem der Oberflächlichkeit, dem schönen Schein und der Maske mehr Bedeutung geschenkt wird. Denn zum apollinischen principium individuationis gehört die Wichtigkeit der Äußerlichkeiten, da diese verinnerlicht, bzw. die Innerlichkeiten sozusagen veräußerlicht werden. So kommt der Ausbildung eines schönen, bzw. höheren Körpers eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. An dieser Stelle sei zu den vorher, bisher nur implizit in meinem Vortrag angedeuteten Bildmotiven, noch ein anderes mögliches Bildmotiv Nietzsches hinzugefügt, nämlich das Aktbild – und zwar verstanden in seiner ursprünglichen Bedeutung des lateinischen actus, das auf den Körper übertragen „Bewegung“ oder auch „Gebärde“ bedeu36 KSA 7, S. 467, 19 [152]. 37 Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der Phantasie und Erklrung der Rechte des Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte Schriften (Anm. 8), S. 225. Das ist auch der Grund, warum im Wertesystem des Salvador Dalí die Gastronomie ganz oben steht und der Friedrich Nietzsches ähnelt, weil Dalí auch alle weichen, verkochten Stücke, wie die Schlaffheit des Spinates verabscheut. 38 KSA 9, S. 460, 11 [53]. 39 Ebd.

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tet. Nietzsche verlangt: „die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“40 Der Körper muß in Bewegung sein, mehr noch, in der Metamorphose inbegriffen sein, weil Nietzsche das Seiende als eine „Phantasmagorie“41 bezeichnet, sowie als Metamorphosen. An einer berühmten Stelle sagt er: „Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln, usw.)“ und weiter: „dem Werden den Charakter des Seins auf zupräge n – das ist der höchste Wille zur Macht.“42 Die Prägung des Seins in die ontologische Gegebenheit der Metamorphose hinein, stellt sich Nietzsche ganz konkret im Alltag so vor, daß z. B. sämtliche Gebrauchsgegenstände mit einem Band an Musterwiederholungen geschmückt sind. Wichtig ist ihm eine „logische und geometrische Vereinfachung“43, die das „Typische“44 eines „Gebärdenausdrucks“ erkennen lässt. Solch eine ornamentale Formenkette, in ihrer ewigen Wiederkehr, sieht Nietzsche am Paradebeispiel des Teppichs verwirklicht. Des weiteren an Vasen, ehernen Geräten usw. Die Formwiederholungen spiegeln sich außerdem wieder in der Einhaltung von Conventionen, Riten und Zeremonien, die in der Kunst des Festefeierns gipfeln. Die Kleidung des Menschen soll nach Nietzsche „modisch“ sein wie in „Frankreich“, und nicht „bummelig-incorrekt“, weil die „Kleider selbst Götter machen“.45 Nicht zuletzt ist die Wiederkehr der Schrittfolge beim Tanzen, wie z. B. dem griechischen Labyrinth-Tanz (auch Kranichtanz genannt) von Bedeutung; sowie das Labyrinth selbst, ein zentraler Begriff Nietzsches, gesehen von oben als Graffiti-Zeichnung, dessen Formelemente sich ständig wiederholen. Selbst die Gärten, Häuser und die Architektur des Menschen soll labyrinthisch sein, da der Mensch in sich selber spazieren gehen will.46 Genau diesen Denkansatz verfolgt auch der Surrealismus, insbesondere Salvador Dalí, wenn er das Dandytum, die Haute Couture, oder als Krönung der technischen Produktion und der Konsumgüterindustrie die Möglichkeit und den Luxus des Feste-feierns preist. Dalí’s 40 41 42 43 44 45 46

KSA 1, S. 33 f (2). Vgl. KSA 9, S. 435, 10 [E93]. KSA 12, S. 312, 7 [54]. KSA 13, S. 294, 14 [117]. Z. B.: KSA 12, S. 289. Vgl. KSA 7, S. 686 f , 29[121 – 123], und KSA 9, S. 475, 11[95]. Vgl. z. B.: KSA 3, S. 525 (280).

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Symbolik der Rhinozeroshörner, der Spiegeleier, der Brotkörbe, usw. verweisen auf eine labyrinthische Ornamentierung, die nicht dionysischen Ursprungs ist, wie Salvador Dalí sagt, sondern apollinischen, was so viel heißt wie, als neuen Maßstab des Sehens, seinen eigenen zu verwenden. Das Prinzip der Waren- und Konsumgüterästhetik beider Philosophien beruht im Grunde auf dem Kannibalismus, der eine gewollte Nivellierung des Fremdartigen darstellt. Das Gleichmachen erfordert ein Wiedererkennen, in dem sich der Mensch neu wiederfinden und reidentifizieren kann, dafür werden Formen und Motive entsprechend vereinfacht und zwar solange, bis diese Antigeometrisierung zu neuen Phantasieproduktionen führt. André Breton sagt kategorisch: „Wiedererkennen, oder nicht wiedererkennen, bedeutet alles. Zwischen dem, was ich wiedererkenne, und dem, was ich nicht wiedererkenne, da ist mein Ich. Und was ich nicht wiedererkenne, werde ich auch in Zukunft nicht wiedererkennen.“47

Dasselbe gilt für die Farbgebung der Bilder bei Nietzsche, der erst eine Meisterschaft in einer Farbe verlangt z. B. des Weißen oder des Schwarzen, und eine Auslotung sämtlicher Schattierungen und Opalisierungseffekte fordert. Also eine langsame Metamorphosenkette der Farbe an sich. Dabei ist von den dunklen Farbtönen auszugehen. Von der Methode des sfumato – so wie L. da Vinci malte. Von den Farbtönen, die ganz allgemein dem Menschen entsprechen; Salvador Dalí sagt dazu „Ekxrementenpalette“, die z. B. kein Grün, wie das der Natur zugehörige, enthält. Allgemein gesagt: Die konvulsivische Formzermalmung der ornamentalen Formenkette geht in Metamorphosen vor sich, die eine sich ständig neu bildende Funktions-Einheit von Zerreißen und Zusammensetzen ist. Dies liegt ursprünglich in der Vorrangstellung des Auges und dem Vorgang des Sehens selbst begründet, so wie der Surrealismus und Nietzsche es annehmen. Der Surrealismus spricht von einer „gequantelter Vibrationseigenschaft“ und davon, daß es ein „Leiden am Nicht-identischen“ gibt, weil es nichts Gleiches gibt, nur Ähnliches. Und daraus leitet sich das surrealistische Postulat des ewigen Werdens ab. Das ewige Werden, die Metamorphosen sieht Nietzsche in der Strukturbeschaffenheit des Sehnervs selbst begründet, der uns bei geschlossenem Auge Muster vorgaukelt. Er meint:

47 André Breton, Der Surrealismus und die Malerei; in: Als die Surrealisten noch recht hatten, Texte und Dokumente (Anm. 28) , S. 302.

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„Wir ertragen die L e e r e nicht. […]. Wir begnügen uns k e i n e n Augenblick mit dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das s p i e l e n d e V e r a r b e i t e n d e s M a t e r i a l s ist unsere fortwährende Grund-Thätigkeit, Übung also der Phantasie. […]. Dieses spontane Spiel von phantasirender Kraft ist unser geistiges Grundleben.“48

Ein Beispiel dafür ist für Nietzsche auch „das zufällige Zusammentreffen zweier Worte […] die der Ursprung eines neuen Gedankens sind.“49 – entsprechend zum sogenannten lyrischen Verfahren der Surrealisten. Doch wie kommt es zu der spontanen Verbindung von irgendwelchen Phantasieobjekten? Also zu einer „Verdichtung der Gegensätze“, wie es die Vexierbilder der Surrealisten verdeutlichen wollen? Oder philosophischer ausgedrückt: Wieso sprechen die Surrealisten von einer „gequantelten Realität“? Nietzsche, der die Quantenphysik nicht mehr erlebte, kennzeichnet diese Quanteneigenschaft interessanterweise als „Sprung“eigenschaft. Nietzsche, als auch der Surrealismus stellen sich die Frage nach Raum, Zeit und Kausalität. Die Kausalität wurde vorher schon als kommunizierende Röhre, als Phantasie, als Unbewußtes oder als Perspektivismus definiert. Bleiben also Raum und Zeit übrig. Beide werden zu einer Raum-Zeit verknüpft, indem die Zeitkoordinate in einem Raumpunkt lokalisiert wird. Das bedeutet aber auch, da es die Annahme einer Welt des Werdens gibt, daß nur noch die Zeitkoordinate übrig bleibt – mit der man die Welt und den Menschen messen kann. Die Parolen des Surrealismus lauten deswegen: „Erweckung der Statik“, „Die Zeit ist die eigentlich wahnhaft surrealistische Dimension“, „Diese Dynamik gehört mir.“50 Nietzsche selbst spricht von „Zeitfiguren“ oder auch von „dynamischen Empfindungspunkten“51, und bringt damit den perspektivistisch-subjektivischen Kern der Zeit zum Ausdruck. Das Phänomen Zeit ist in Nietzsches Philosophie ein nicht zu unterschätzender Faktor – er ist der Faktor überhaupt! Warum? Weil man mit ihm die scheinbar unterschiedlichen Aspekte in Nietzsches Philosophie mühelos zu einer konsistenten Einheit integrieren kann.52 Deswegen – und weil das 48 KSA 9, S. 430, 10 [D 79]. 49 Vgl. KSA 9, S. 17 (51). 50 Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der Phantasie und Erklrung der Rechte des Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte Schriften (Anm. 8, S. 263 und S. 389). 51 Vgl. KSA 7, S. 579, 26[12]. 52 Eine umfassende, die verschiedensten Aspekte verbindende Interpretation findet man bei: Miriam Ommeln, Die Verkçrperung von Friedrich Nietzsches sthetik ist der Surrealismus, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1999.

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Phänomen Zeit im Surrealismus auch eine zentrale Rolle innehat – möchte ich jetzt gerne den allgemeinen ersten Teil verlassen, und mich auf den zweiten Teil meines Vortrags konzentrieren, dem ich ganz allein das Phänomen der Zeit widmen möchte. Dabei werde ich vor allem die nachgelassenen Fragmente von Nietzsche hinzuziehen. Seitens des Surrealismus werde ich zur Klärung des Zeitphänomens die surrealistische Erkenntnis- und Interpretationsmethode, nämlich die activit paranoaque-critique, ins Felde führen, – obwohl sie auf den ersten Blick nicht viel mit dem surrealistischen Zeitverständnis zu tun zu haben scheint. Ich werde jetzt so tun als, ob ich von dieser paranoisch-kritischen Methode noch nie etwas gehört hätte, um bei Nietzsche unbelasteter und klarer seine Erkenntnis- und Interpretationsmethode darstellen zu können, die sowohl Nietzsches eigene Vorgehensweise bei der Bildrezeption betrifft, als auch seine allgemeine ästhetische Herangehensweise. Da ich aber doch etwas von der kritisch-paranoischen Methode gehört habe, werde ich für Sie unbemerkbar – einige surrealistische Wortbilder mit einfließen lassen. Unbemerkbar insofern, weil Nietzsches Zitate sich oft nicht nur inhaltlich, sonder auch begrifflich und metaphorisch mit surrealistischen Aussagen decken. Vor allem Salvador Dalí ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, der in seinen Schriften von Nietzsche beinahe wörtlich abgeschrieben zu haben scheint.53

2. Teil Wir wollen uns jetzt dem zweiten Teil des Vortags widmen und selbstverständlich unser Ausgangsmotto vom Perspektivenwechsel nicht ganz vergessen. Nietzsches Bildmotive sind keine naturalistisch-realistischen Darstellungen, sondern Vexierbilder. Die Bildelemente des Rätselhaften, des Labyrinthischen, der Anamorphose, der Anthropomorphose und der Metamorphose sind für Nietzsche eine ästhetische Notwendigkeit und zugleich ontologische Bedingung. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur kurz an die symbolträchtigen Stichwörter, 53 Mit dem Bild ,Nietzschens vers le haut‘ von Salvador Dalí, das Nietzsche, bzw. die Nietzsche’sche Philosophie porträtiert, gelang es Dalí diese auf geniale und äußerst prägnante Weise zu pointieren. Dalí’s Bewunderung für Nietzsche reichte soweit, daß er ihm selbst in seinem Bartschmuck gleichkommen wollte, mehr noch, ihn sogar übertreffen wollte, und zwirbelt deshalb seinen eigen nach oben, dem Himmel entgegen.

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wie: Ariadne, Maske, Täuschung, Perspektivismus, Umwertung der Werte, Spiel – und lasse diese Aussage somit für sich stehen. Dieses vexierhafte Element ist für Nietzsche die absolute Notwendigkeit um der Welt, „dem Werden den Charakter des Seins auf zuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.“ und dazu bedarf es der „zwiefachen Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw.“54 Die zweifache Täuschung ist naturgegeben und deswegen als eine Gewollte gefordert. Die zweifache Täuschung, sowohl des kognitiven Erkenntnisvermögens des Menschen, als auch des sinnlichen Ertastungsund Erfühlungsvermögens, wird auf eine einzige essentielle Täuschung zurückgeführt, aus der sich alle weiteren Täuschungen ergeben, die sich multipel fortpflanzen: „Das Vervollständigen (z. B. wenn wir die Bewegung eines Vogels als Bewegung zu sehen meinen) das sofortige A u s d i c h t e n geht schon in den Sinneswahrnehmungen los. Wir formuliren immer g a n z e Menschen aus dem, was wir von ihnen sehen und wissen. Wir ertragen die L e e r e nicht – dies ist die Unverschämtheit unserer Phantasie: wie wenig an Wahrheit ist sie gebunden und gewöhnt! Wir begnügen uns k e i n e n Augenblick mit dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das s p i e l e n d e V e r a r b e i t e n d e s M a t e r i a l s ist unsere fortwährende Grund-Thätigkeit, Übung also der Phantasie. Man denke als Beweis, wie mächtig diese Thätigkeit ist, an das Spiel des Sehnervs bei geschlossenem Auge. Ebenso lesen wir, hören wir. […]. Dieses spontane Spiel von phantasirender Kraft ist unser geistiges Grundleben: die Gedanken e r s c h e i n e n uns, das B e w u ß t w e r d e n , die Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist nur eine verhältnißmäßige A u s n a h m e – vielleicht ein Brechen am Contraste.“55

Die Phantasie umspinnt das ganze menschliche Dasein und kreiert lustvoll spielend die menschliche Lebensgestaltung in ihren individuellen und kollektiven Gewohnheiten. Der Schöpfungsprozess der Kultur, verstanden als die Gesamtheit des vom Menschen Erschaffenen, lebt ausschließlich durch den Mechanismus der Spontaneität. Das Erkennbare, das an die Oberfläche des Bewusstseins gespült wird, wird durch die Spontaneität, als dem bestimmenden Faktor der Phantasie, interpretiert. Die Interpretationsmethode hat einen assoziativen, spontanaktiven Charakter. Das zufällig-assoziative Element hängt von dem jeweiligen physiologisch-psychologischen Bezugsrahmen des dazugehö54 KSA 12, S. 312, 7[54]. 55 KSA 9, S. 430, 10[D 9].

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rigen Interpreten ab und konstituiert sich durch einen nicht hintergehbaren Automatismus in Form von Wahngebilden und Täuschungen. Die Phantasiegebilde – also das Erkannte und mögliche Erkennbare – sind real und objektiv, da sie sich dem Rezipienten subjektiv anbieten und spontan durch ihre Bewusstwerdung zur Kenntnis genommen werden können, und damit einen authentischen Zustand des Rezipienten verbürgen. Diese aktive Spontaneität produziert keine Phantasiegebilde, sondern arbeitet sie aus dem vorhandenen Material des Erkennbaren heraus: „Ein Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hemmung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das Wachs unseres Wesens. Wir e r k e n n e n immer nur u n s s e l b e r , in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt erkennen wir die M ö g l i c h k e i t e n unserer Strukturverschiebung, nichts mehr. Ebenso steht der ,Mensch an sich‘ zu allen eterogenen Dingen: sie drücken ihre Formen an ihm ab, so weit er sie annehmen kann, und er weiß nichts von ihnen, als durch die Veränderung s e i n e r Form.“56

Die Interpretationsmethode der aktiven Spontaneität wirkt wie der Belichter eines unsichtbaren Bildes, etwa eines Photonegativs, dessen Formen und Farben langsam und unterschiedlich stark heraus gearbeitet werden können. Bei der Entwicklung der Phantasie und der Imagination schreibt Nietzsche den Wissenschaften einen helfende Rolle zu, da sie die Mittel bereitstellen um den Automatismus zur Produktion von Wahnbildern und Illusionen zu katalysieren. Sie wirken wie eine faszinierende Photographie, die es zu erreichen gilt: „Die Wissenschaft kann durchaus nur zeigen, nicht befehlen (aber wenn der allgemeine Befehl gegeben ist ,in welche Richtung?‘ dann kann sie die Mittel angeben) den allgemeinen Befehl der Richtung kann sie nicht geben! Es ist Photographie. Aber es bedarf der schaffenden Künstler: das sind die Triebe!“57

Die Triebe des Künstlers wiederum werden durch seine Assoziationsketten und Illusionen bestimmt und gelenkt. Es sind seine „Strukturverschiebungen“, die ihn als Erkennenden aktiv beeinflussen. Nicht der Erkennende erkennt, sondern er wird erkannt: 56 KSA 9, S. 305, 6[419]. 57 KSA 9, S. 354, 7[179].

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„Wir können unsere ,geistige Thätigkeiten‘ ganz und gar als W i r k u n g ansehen, welche Objekte a u f u n s ü b e n . Das Erkennen ist n i c h t die Thätigkeit des Subjekts, sondern scheint nur so, es ist eine Veränderung der Nerven, hervorgebracht durch a n d e r e D i n g e . Nur dadurch daß wir die Täuschung des W i l l e n s herbeibringen und sagen ,ich erkenne‘ im Sinne von ,ich will erkennen und folglich thue ich es‘ drehen wir die Sache um, und sehen im Passivum das Aktivum. Aber auch das Wort Passiv-activ ist gefährlich!“58

In diesem Sinne des Wortverständnisses von aktiv und passiv, lässt sich bei Nietzsche von einem Schöpfungsprozess, denn nichts anderes ist Erkenntnis, reden, als einem aktiven, spontanen Automatismus. Die zweifache Täuschung betrifft primär nicht die traditionelle Unterscheidung der „Erkenntnisorgane“ Sinne kontra Verstand, sondern die menschliche Selbsttäuschung bezüglich des Begriffes der Rezeption, aus dem die nötige Selbsttäuschung der vermeintlich distinkten Erkenntnisorgane resultiert. Die Rezeption des Erkennenden, beziehungsweise des „K ünstler-Philosophen“59 verlangt eine zweifache Täuschung bezüglich seines kontemplativen Daseins, die ihn über die Bedeutung und Gewichtung der komplementären Gegensatzpaare passiv-aktiv und Sein-Werden illusionär hinweghilft und diese Illusionen wiederum apologisiert. Die lustvolle Rezeption nötigt den Menschen zu einem Verkennen der Wirklichkeit. Da es kein Sein gibt, nur ein Werden. „Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war. […]. ,Das Seiende‘ als Schein“ und da die „Erkenntnis an sich im Werden unmöglich“ ist, muß es durch ein Wahngebilde konstruiert (Entstehung der Abstraktion und der Wissenschaften) und verinnerlicht (Moral) werden, denn „alle Lust will aller Dinge Ewigkeit“ und dabei „ist die Kunst der Wille zur Überwindung des Werdens, als ,Verewigen‘, […].“60 Ein weiteres Wahngebilde entsteht durch die Konstruktion eines starren Subjektbegriffs – nur in ihm kann sich der Wille zur Macht einen Augenblick lang manifestieren und sich selbst spiegelnd erblicken, also in dem imaginären Erschaffen eines Ist-Zustandes, eines apollinischen Seins. Der Wille zur Macht ist eine beständige Metamorphose, die mit dionysischer Urgewalt aktiv, aber sinn- und ziellos waltet und auf den Menschen unbewusst einwirkt. Dieser eigentlich gewalttätige Akt nö58 KSA 9, S. 429, 10 [D76]. 59 KSA 12, S. 89, 2[66]. 60 Vgl. III, S. 895 f. und KSA 4, II (11).

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tigt den Menschen zur Wahrung seiner Identität und Authentizität, eine Bejahung seiner selbst ab, und damit eine Verkennung des Wirkautomatismus: der in sich komplementär gefassten Einheiten des Apollinisch-Dionysischen, den Willen zur Macht: „Alle ,Zwecke‘, ,Ziel‘, sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhärirt: der Willen zur Macht.“61 Was dem Menschen als Zweck, Ziel und Sinn erscheint, ist nur Ausdruck seiner eigenen perspektivisch begrenzten Phantasie, und nach Nietzsche nichts anderes als: „Zwecke-, Ziel-, Absichten-haben, wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsenwollen – und dazu auch die Mittel wollen.“62 Solchermaßen bildet und durchwebt der Wille zur Macht durch seine Definition, beziehungsweise sein Charakteristikum der Metamorphose, die ganze menschliche Begriffs- und Vorstellungswelt, beziehungsweise seine Kultur, Kosmogonien und Mythen: „Der Prozeß aller Religionen und Philosophie und Wissenschaft gegenüber der Welt: er beginnt mit den gröbsten Anthropomorphismen und hört ni e auf sich zu verfeinern. Der einzelne Mensch betrachtet sogar das Sternensystem als ihm dienend oder mit ihm im Zusammenhang. Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze Natur in Griechen aufgelöst. […]. Die Metamorphosen sind das Spezifische.“63 Die Metamorphose präsentiert sich dem Menschen auf einer tragischen Bühne, indem er selbst Schauspieler und Zuschauer zugleich ist. Das Involviertsein in ein doppeltes Spiel, das zugleich Aktivum und Passivum sein, treibt den Menschen zu einem permanenten Rollenwechsel, einem Vergessen und einer Selbsttäuschung – da er selbst das Maß der Dinge und seiner selbst wird. „Das Sein selbst abschätzen ! Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein sagen, thun wir immer noch, was wir sind … Man muß die Absurditt dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen; und sodann noch zu erraten, was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.“64 Die Absurdität dieses sich selbst erschaffenden lebendigen Vexierbildes vom Menschen selbst, eröffnet durch den metamorphen Vorgang neue Werte und Perspektiven – neben dem Aspekt des ständigen Verwerfens und der Zerstörung. Nietzsche meint: 61 62 63 64

Vgl. KSA 13, S. 44, 11[96]. Ebd. KSA 7, S. 456, 19[115]. KSA 13, S. 45, 11[96].

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„Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Wertschtzung – die Bedeutungslosigkeit naht sich! Wir haben die Welt welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist – und daß man, mehr als sie, die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat. ,Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!‘. Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das ,Wertvolle‘ ein: an sich ist es ich weiß nicht was.“65 – So weit Nietzsches Bekenntnis.

Das Schöne an sich ist alles und nichts, es ist nicht (bestimmt) definierbar. Aus dieser Münchhausen-Situation rettet Nietzsche, der überzeugte Ästhetiker, seinen Schopf, indem er einfach umdefiniert: der Mensch ist schön. Nietzsches Sumpf der Bedeutungslosigkeit, in dem er zu versinken drohte, wird von ihm zum Bedeutungsvollen umdefiniert und der versinkende Mensch wird derart zum höheren Menschen gesteigert: „All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie.“66

Nach dem Rekurs Nietzsches und dem Zurückgeworfen-sein-auf-sichselbst, beziehungsweise dem Menschen an sich, kann Nietzsche seine Definition der Ästhetik reformulieren: „Die Welt ein ästhetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetz der Causalität… Das Theaterspiel, das das Subjekt sich selber spielt: es ist ein Wahn. Die Geschichte ist eine Vermeintlichkeit – nichts mehr: die Causalität ein Mittel, um t i e f zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges.“67

Nietzsches Begriff der Kausalität lässt sich inhaltlich mit der Funktionsweise der Interpretationsmethode des assoziativen, spontan-aktiven Automatismus füllen. Nietzsche schreibt: „Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir k e n n e n ; unser Auge ist in der Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: – der größte Theil ist nicht Sinneneindruck, sondern P h a n t a s i e - E r z e u g n i ß . Es werden nur kleinen Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird dann ausgedichtet. Die P h a n t a s i e ist an die Stelle des ,Unbewußten’ zu 65 III, S. 424. 66 KSA 13, S. 41, 11[87]. 67 KGW V/2, S. 756.

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setzten: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr h i n g e w o r f e n e M ö g l i c h k e i t e n , welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in Reliefs für den Betrachter umschlagen).“68

Dieser Vorgang hängt entscheidend von der ausgebildeten Befähigung zu phantasieren ab. Diese Ausbildung wird in einem bestimmten Rahmen begrenzt sein und von den sozial-gesellschaftlichen Vereinbarungen reguliert werden. Diese Phantasieregulierung kennzeichnet Nietzsche mit dem Etikett „ethischer Anthropomorphismus“69, beziehungsweise nennt sie Moral. Wird die Grenze unbegrenzt, und räumt damit den Instinkten einen größeren Raum ein, so spricht Nietzsche von einer höheren Moral. Das Unbewusste der Instinkte, also die Instinktsicherheit alleine, verbürgt für Nietzsche, daß die „hingeworfenen Möglichkeiten“ der Phantasmagorien vollkommen überblickt und ergriffen werden können: „Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt […]. Das was eine Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Automatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.“70

Die totale Ausschöpfung der menschlichen Fähigkeiten, das heißt seine Vervollkommnung, kann nur durch einen automatischen Mechanismus erlangt werden. Die Vollkommenheit selbst wiederum, ist dynamisch und ein Phantasieprodukt – aber ein konsequent zu Ende Phantasiertes. Bei Nietzsche beruht eine der großen anthropologischen Konstanten und Voraussetzungen auf der Täuschung, beziehungsweise ihren Wahnideen:“Die Ve rwechslung ist das Urphänomen“,71 und daraus folgt konsequenterweise: „Unsere ,Außenwelt‘ ist ein P h a n t a s i e – P r o d u k t , wobei frühere Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem individuellen Zustande. – –“72

Der konkrete Ausgangspunkt und Katalysator der Phantasmagorien, Illusionen, Metamorphosen und Vexierbilder ist die Form. Die Hülle. Der Schein. Die Oberfläche und die Oberflächlichkeiten, also der so68 69 70 71 72

KSA 9, S. 446, 11[13]. vgl. KSA 7, S. 457, 19[116]. III, S. 697. KSA 7, S. 487, 19[217]. KSA 9, S. 446 11[13].

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genannte „schöne Schein“ erlangt bei Nietzsche eine immense Bedeutung, da er die verschiedenen assoziativen Möglichkeiten der wählbaren Wahngebilde erscheinen lässt und sie, im ganzen betrachtet, ganz nach Belieben mit einer inhaltlichen Bedeutung versehen werden können. Individuell gesehen, entscheidet die Empfindung des Subjekts über den Gehalt der Form. Den Begriff der Empfindung erklärt Nietzsche so: „Sobald man das Ding an sich e r k e n n e n w i l l , s o i s t e s e b e n d i e s e W e l t – Erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen an e i n e m Maße (Empfindung).“73 Diese Erklärung gipfelt in der Aussage: „Ich habe nichts als Empfindung und Vorstellung.“74 Dieses Bekenntnis umfasst auch die sogenannte Realität: „Denn es giebt gar nicht diesen Gegensatz von Materie und Vorstellung. Die Materie selbst ist nur als Empfindung gegeben. Jeder Schluß hinter sie ist unerlaubt.“75

Für die Malerei gilt in diesem Sinne: „Der Realism in der Kunst eine Täuschung. Ihr gebt wieder, was euch am Dinge entzückt, anzieht – diese Empfindungen aber werden ganz gewiß nicht durch die realia geweckt! Ihr wißt nur nicht, was die Ursache der Empf ist! Jede gute Kunst hat gewähnt, realistisch zu sein!“76 Reformuliert man das Bekenntnis Nietzsches als Frage und betrachtet sie nun, schleicht sich bei Nietzsche dennoch eine Vermutung ein, die die Materie, beziehungsweise die Empfindung näher zu erklären versucht: „Große Frage: ist die Empfindung eine Urthatsache aller Materie? Anziehung und Abstoßung?“77

Diese Antwort ist als Ambivalenz zu verstehen, in Analogie zu einem Vexierbild, aus dem sich aus einer Oberfläche mehrere Seh-Varianten herausbilden lassen. Die Anziehung und die Abstoßung bestehen gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander, und die eine ohne die andere wäre nicht denkbar. Sie machen gewissermaßen den Hintergrund für die Reliefierung aus, die dann automatisch entsteht und eine Empfindung beim Rezipienten herausschält und gewichtet: „Das Schöne, das Ekelhafte usw. ist das ältere Urtheil. Sobald es die a b s o l u t e W a h r h e i t in Anspruch nimmt, schlägt das ästhetische Urtheil in 73 74 75 76 77

KSA KSA KSA KSA KSA

7, 7, 7, 9, 7,

S. 465, S. 574, S. 575, S. 326, S. 466,

19[146]. 26[11]. 26[11]. 7[46]. 19[150].

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moralische F o r d e r u n g e n um. Sobald wir die absolute Wahrheit l e u g n e n , müssen wir alles a b s o l u t e F o r d e r n aufgeben und uns auf ä s t h e t i s c h e U r t h e i l e zurückziehen. D i e s i s t d i e A u f g a b e – eine Fülle ä s t h e t i s c h e r g l e i c h b e r e c h t i g t e r W e r t h schätzungen zu creiren: jede für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge. R e d u k t i o n d e r M o r a l a u f A e s t h e t i k ! ! ! “78

Die Palette der Empfindungen an sich, sind bei Nietzsche alle gleichberechtigt, genauso wie die sie auslösende Oberfläche und ihr „schöner Schein“. Der „schöne Schein“ ist bei Nietzsche so weit gefasst, daß er alles Menschlicherdenkliche mit einschließt, auch das Häßliche, Schreckliche und Abstoßende. Alle Empfindungen und ästhetische Urteile können nur durch ihre ambivalente Struktur entstehen und begriffen werden. Der inhärente Antagonismus der gegensätzlichen Empfindungen führt zu einer permanenten Selbsttäuschung bezüglich der jeweiligen anderen Empfindung, die in den Hintergrund tritt. Es ist die „Vordergrunds-Optik“79, wie Nietzsche es nennt, und somit die Empfindung anspricht und „überredet.“80 Der Ebenen- und Sichtwechsel in die Hintergrundsoptik, beziehungsweise deren Hervorhebung entspricht Nietzsches bedeutungsschweren Begriff der Wiederkehr: „Man kann seinen Leidenschaften von einem Augenblick an mißverstehen und umtaufen – Wiedergeburt.“81

Warum dem so ist, werde ich jetzt kurz erläutern. Das dadurch entstehende Nebeneinander-Bestehen von gleichberechtigten Leidenschaften und Empfindungen führt Nietzsche auf den Willen zur Macht zurück und identifiziert ihn mit den Empfindungen selbst. Nietzsche sagt: „Diese Empfindungscomplexe, größer oder kleiner, wären ,Wille“ zu benennen!“82 Das Wesen der Empfindungen begreift Nietzsche durch deren Eingebettetsein in eine (kausale) Raum-Zeit Vorstellung, wobei, wie schon gesagt, das kausale Empfinden durch einen spontanen Automatismus und dessen Verinnerlichung entsteht. Weiterhin meint Nietz78 79 80 81 82

KSA 9, S. 471, 11[79]. KSA 12, S. 554, 10[167]. Vgl. ebd. KSA 9, S. 276, 6[303]. KSA 7, S. 469, 19[159].

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sche: „Von der Kausalitätsempfindung hängen Raum und Zeit ab.“83 Raum und Zeit sind also bloß Illusion und von uns geschaffene Wahnbilder, die Nietzsche nun in seinen philosophischen Gesamtzusammenhang einbetten kann, indem er folgende Axiome setzt: „[…], daß der Raum =0 ist, d. h. alle punktuellen Atome fallen zusammen in einen Punkt.“ Daß „die Zeit aber unendlich theilbar ist.“84 Daraus folgt für Nietzsche, daß man nun „zwischen jedem Zeitpunkt noch unendlich viele Zeitpunkte Platz haben“85, da aber der Raum auf einen Punkt zusammengeschrumpft ist, „giebt es dann kein Nebeneinander, als in der Vorstellung. Darin sind unsere Körper imaginirt.“86 Daraus folgt: „Das Wesen der Empfindung bestünde darin, allmählich solche Zeitfiguren immer feiner zu empfinden und zu messen; die Vorstellung construirt sie als ein Nebeneinander gemäß dem Fortgang der Welt: reine Übertragung in einen andere Sprache, in die des Werdens.“87 Da nach Nietzsches Auffassung zwei identische Zeitpunkte zusammenfallen müssen, produziert die Empfindung nur nichtidentische Figuren und hält sie für ähnliche Figurationen. Dadurch entsteht der Eindruck des Werdens und einer fließenden Zeit, die in Wirklichkeit aber „actio in distans temporis punctum“88 ist, wie Nietzsche formuliert. Diese Wirkung durch „Springen“89, wie Nietzsche es formuliert, hat weitreichende Konsequenzen, da er nun folgende Axiome setzt: „1.) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik zurückzuführen, 2.) diese wieder auf Zeitatomistik zurückführen, 3.) die Zeitatomistik fällt endlich zusammen mit einer Empfindungslehre. Der d y n a m i s c h e Z e i t p u n k t ist identisch mit dem E m p f i n d u n g s p u n k t . Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung.“90

Nochmals kurz zusammengefasst, was das bedeutet: Was man nach Nietzsche hat, ist ein subjektiv empfindender Punkt der Zeit – und dieser Punkt ist auch das einzige was man hat, sonst gar nichts! Nun besteht die Möglichkeit, diesen einen Punkt zu multiplizieren, bzw. ein 83 84 85 86 87 88 89 90

KSA 7, S. 469, 19[161]. Vgl. KSA 7, S. 576, 26[12]. Ebd. Vgl. KSA 7, S. 577, 26[12]. Ebd. Ebd. KSA 7, S. 578, 26[12]. KSA 7, S. 579, 26[12].

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Nebeneinander dieses eines Punktes zu projizieren und zu spiegeln – um damit eine Vielfalt an Formen und ein Werden erschaffen zu können. Eigentlich ist es ja ein starres Kontinuum von aneinander gereihten Punkten. Nur wird dieses, wie Nietzsche sagt, „in einer anderen Sprache als Werden erklärt“. Eigentlich „kann es keine echte Gleichzeitigkeit der Empfindung geben“, sondern die verbindende „Wirkung“ beruht allein in der „actio in distans, d. h. also durch Springen“, wie Nietzsche sagt. Die Zeitpunkte mit ihrer „Sprungeigenschaft“ – fast kann man sagen, quantenmechanischen Eigenschaften – konstituieren Zeitfiguren, beziehungsweise Formen, die für die Assoziation notwendig sind. Nach Nietzsche ist es die Wahrscheinlichkeitstheorie, die die Wahrscheinlichkeit für die Wiederkehr der gleichen Formen, der gleichen Assoziationen und Wahngebilde, beziehungsweise der gleichen Empfindungen, höher errechnet als die Wahrscheinlichkeit für die Wiederkehr nichtgleicher Empfindungen. Die Wahrscheinlichkeit hängt entscheidend von unserem Empfinden ab, „das uns von einem Augenblick zum anderen unsere Leidenschaften umbenennen läßt.“ Dieser assoziative, spontan-aktive Mechanismus, beziehungsweise Automatismus, entspricht Nietzsches ewiger Wiederkehr des Gleichen, bei der sich wahrscheinlich Zarathustra, der Zwerg und die Spinne durchaus wieder unter dem Torbogen zu dem gleichen Rendezvous treffen können. Fällt die Wahrscheinlichkeit solcherart mit einem früheren Zeitpunkt zusammen, so entspricht das dem höchsten Empfinden Nietzsches, seinem Willen zur Macht, dann nämlich ist dem „Werden der Charakter des Seins aufgeprägt“ worden. Analog verläuft die Kausalität, beziehungsweise die Verwertung der „hingeworfenen Möglichkeiten“ – wie Nietzsche sagt, oder auch der Wahrscheinlichkeit – durch den assoziativ, spontan-aktiven Automatismus bei den Vexierbildern, die eine ständige Umwertung der Werte erfahren und damit einen Ebenenwechsel der Optik zwischen Sein und Werden durchlaufen. Es ist also ein Perspektivenwechsel nötig, der das Ich, das Werden und die Metamorphosen definiert. Das Werden ist nur über die Unstetigkeitsstelle hinweg möglich, also über den von den Surrealisten so bezeichneten Quantensprung, der die vexierhafte Geometrie des Nebeneinanders kennzeichnet. Der Surrealist nennt es meistens „Gleichzeitigkeit“, manchmal hasard objectif, weil diese vexierhafte Geometrie eine Schönheitsspiegelung ist, in der, wie André Breton und Friedrich Nietzsche wortgleich sagen: man „Schauspieler

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und Zuschauer zugleich ist.“ Nietzsche meint, daß „diese Nebeneinander das merkwürdigste überhaupt ist.“91 An dieser Stelle wird nochmals ganz deutlich, warum für Nietzsche die Form so wichtig ist, bzw. das surrealistische Objekt ornamental wirkt, weil sie durch die Form wirken. Außerdem sieht man an dieser Stelle deutlich, daß die ewige Wiederkehr auf einer ewigen Wiederkehr dieses einen Raum-ZeitPunktes beruht, bzw. auf dem Mythos des Narziß, also einer Selbstspiegelung und Selbsttäuschung.92 Wie Friedrich Nietzsche und André Breton übereinstimmend meinen, ist die Menschwerdung eine Dissonanz. Das Ego modifiziert sich, indem es die Zeit spaltet und seine dazu komplementäre Raum- bzw. Körperstruktur spiegelt. Anders ausgedrückt, der surrealistische Begriff der konvulsivischen Schönheit bedeutet nach André Breton „die Vereinigung im Gegensatz von Ruhe und Bewegung“. Die Schönheit ist weder statisch noch dynamisch. Sie ist eine „attitude“, wie André Breton sagt. Genau das selbe meint auch Nietzsche, wenn er von der Annäherung des Werdens an des Sein spricht und es „Pathos“ nennt.93 Die wichtige Erkenntnis des Surrealismus und von Nietzsche liegt darin, zu sehen, daß die „werthvollste Einsichten am spätesten gefunden werden; aber die werthvollsten Einsichten sind die Methoden.“94. 91 Friedrich Nietzsche, vgl. KSA 1, S. 152 (24) und S. 48 (5). Und bei: André Breton, Les Vases communicantes (1932), Paris: des Cahiers libres, deutsch: Die kommunizierenden Rçhren, übersetzt von Elisabeth Lenk und F. Meyer, München: Rogner: & Bernhard 1973, S. 24. 92 Im Altertum war Narziß ein anderer Name für Dionysos. Im pelasgischen Mythos führt die Spiegelung zum Zerreißen des Dionysos. Die Doppelnatur und Metamorphose des narzißtischen Mythos wird in „Die Geburt der Tragçdie“ anhand der Nietzsche’schen Fassung von Apollon und Dionysos in allen Facetten vortrefflich beschrieben. Auch Salvador Dalí bringt mit seinem Gemälde „Metamorphose de Narcisse“ (1936) und dem dazu verfaßten Gedicht die Gleichstellung von Narziß mit Dionysos deutlich zum Ausdruck (vgl. Salvador Dalí, „Die Metamorphose des Narziß“, in: Salvador Dal, Retrospektive1920 – 1980, München: Prestel, 1993, S. 284 ff.). 93 Breton formuliert im Originalton: „La beauté, ni dynamique ni statique. […]. La beauté sera CONVULSIVE ou ne sera pas.“ Vgl. André Breton, Nadja (1963), Paris: Éditions Gallimard, S. 189 f., deutsch von Max Hölzer, Pfullingen: Neske 1960. Nietzsche schreibt: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, […].“ (KSA 13, 259, 14 [79]). 94 Vgl. KSA 6, S. 179 (13).

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Nietzsche „taufte sie“ – wie er selbst sagt – „nicht ohne einige Freiheit als die Dionysische.“95 Und der Surrealismus nennt sie die paranoisch-kritische Methode, die wie Salvador Dalí sagt „den dionysischen Strom zu apollinischer Leistung transformiert“.96 Diese Methode ist ein „Automatismus, der den Rhythmus des Auges und der Einheit befriedigt“97, so daß man ohne weiteres den Perspektivenwechsel auch wieder an seinen Ausgangspunkt zurückdrehen und mit Nietzsche sagen kann: „[…] du bist immer ein Anderer.“98

Nachdem somit der Anfangs- und Endpunkt im Mythos des Narziß zusammenfällt, und sich solchermaßen auch der Kreis der ewigen Wiederkehr durch den assoziativ, spontan-aktiven Automatismus schließt – den Sie übrigens an allen Stellen meines Vortrags durch den Ausdruck ,kritisch-paranoischen Methode‘ ersetzen können, – will ich jetzt meinen Schlußpunkt setzen und den Vortrag beenden.

95 KSA 1, S. 19 (6). 96 Es ist Dalí, der schreibt: „[…] dionysische Strom zu apollinischen Leistungen transformiert wird, die ich mir immer vollständiger wünsche. Meine Methode, die ich die paranoisch-kritische genannt habe, ist die ständige Eroberung des Irrationalen.“ Vgl. Salvador Dalí, Meine Leidenschaften, übersetzt von Jutta und Theodor Knust, Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 47. Originaltitel: Les passions selon Dal, Paris: Editions Denoël 1968. 97 André Breton, Das Weite suchen. Reden und Essays, übersetzt von Lothar Baier, Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 86. Originalausgabe: La cl des champs, Paris: Jean-Jacques Pauvert 1967. 98 KSA 3, S. 544 (307).

Den Minotaurus schreiben: autobiographische Tauromachien bei Leiris und Nietzsche Christian Benne fr Gert Mattenklott

Die Nietzscherezeption und in ihrem Gefolge auch die Nietzscherezeptionsforschung ähneln zunehmend dem beliebten Kinderspiel der Stillen Post. Frühe Ansätze des französischen Interesses an Nietzsche etwa bei Charles Andler oder, ganz anders, Georges Bataille, sind undeutlich geworden; nur schwer scheint sich das Verhältnis des französischen Geistes zu Nietzsche noch ohne die Einflüsterungen Derridas oder Foucaults beschreiben zu lassen. Indes soll zumindest der Versuch unternommen werden, die Aufmerksamkeit auf ältere, weit schlechter vernehmbare Wirkungen von Nietzsches Œuvre in Frankreich zu richten, gleichsam auf die Anfänge der Stillen Post, die vom Lärm der Späteren übertönt worden sind. Der für die French theory zurechtgemachte und weitergedachte Nietzsche hat einiges an Glanz verloren und verschwindet möglicherweise auf gleichem Wege wie die Denkfiguren des älteren Nietzschekults. Daß ein Raffael oder Beethoven unwiderlegbar sind, war eine Einsicht des jungen Nietzsche, die seine Hinwendung zum dichterischen Philosophieren bestärkte.1 Lebendig sind jene Nietzsche-Lektüren geblieben, die selber zu Kunst wurden. Erst aus ihnen lernen wir auch über Nietzsche wieder hinzu. Der französische Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris, im Jahr 1901 in Paris geboren und dort 1990 auch verstorben, gehört zu jenen Autoren, auf die Nietzsche vor allem im Verborgenen gewirkt hat – und die ihn eben künstlerisch dafür umso fruchtbarer machten. Die geistigen Stichwortgeber von Leiris, der im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannt geblieben ist, werden üblicherweise im Umfeld des Surrealismus gesucht. Die Bedeutung Nietzsches für sein Werk blieb bisher unbeleuchtet, wohl weil er sich nicht im selben Maße für ihn engagierte wie sein Mitstreiter Bataille, mit dem er u. a. das legendäre 1

KGB I, 2, S. 160.

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Collège de Sociologie gründete, oder wie der Maler André Masson, der den jungen Leiris noch vor Bataille prägte.2 Zwischen Leiris und Masson, dem neben Max Klinger wohl größten Verehrer Nietzsches unter bildenden Künstlern, spielte das Thema Nietzsche nachweislich eine Rolle. Obwohl Leiris behauptet hat, Nietzsche erst spät wirklich gelesen3 zu haben, ist seine frühe Be2

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Zum Collège s. neuerdings Stefan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collge de Sociologie (1937 – 1939), Konstanz: UVK 2006; zu Leiris v. a. S. 349 – 359. Die im Umfeld des Collège entstandene Geheimgesellschaft Acphale (s.u.) hatte sich ja nicht nur vehement für Nietzsches Werk eingesetzt, sondern u. a. den Kampf gegen „Elisabeth Judas-Foerster“ [sic] auf die Fahnen geschrieben. Zum Nietzschebild des Collège de Sociologie insgesamt vgl. Le Collge de Sociologie. 1937 – 1939, herausgegeben von Denis Hollier, Paris: Gallimard 1995. Zum Verhältnis von Leiris zu Bataille s. Michel Leiris,  propos de Georges Bataille, Paris: fourbis 1988. Zum Verhältnis zu Masson s. Michel Leiris und Georges Limbour, Andr Masson and his universe, Paris: Éditions des Trois Collines 1947 (trotz des Titels auf französisch verfasst). In der einzigen deutschsprachigen Monographie zu Leiris wird Nietzsche nicht erwähnt: HansJürgen Heinrichs, Ein Leben als Knstler und Ethnologe. ber Michel Leiris, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1992. Die umfangreiche, hagiographische Biographie von Aliette Armel erwähnt Nietzsche lediglich am Rande und ohne die anschließend zitierte wichtige Einsicht weiter zu verfolgen. Leiris habe Nietzsche erst spät, nämlich während des Krieges entdeckt und gelesen: „Lorsqu’il emprunte Par-delà le bien et le mal à l’un de ses compagnons de dortoir, il semble découvrir Nietzsche et surtout l’influence de ses idées sur ses contemporains alors qu’André Masson et Georges Bataille ne cessent de se référer à lui! On constate ainsi à plusieurs reprises, dans le cours des sa vie, comme des oublis amenant une soudaine prise de conscience.“ (Aliette Armel, Michel Leiris, Paris: Fayard 1997, S. 398 f.) „Nietzsche, que j’aurai lu bien tard et n’aurai lu que fort peu, d’abord prévenu par mes séquelles d’éducation chrétienne contre ce philosophe à qui l’idée d’une mort sans rémission n’enlevai rien de son orgueil.“ (Michel Leiris, FrÞle bruit. La rgle du jeu IV, Paris: Gallimard 1976, S. 55 – 58, hier S. 57). Das kleine Wörtchen „d’abord“ – zunchst – verrät freilich, daß die anfängliche Zurückhaltung schließlich doch zu intensivierter Lektüre geführt haben mag. Weitere Hinweise darauf geben die ausführlichen Nietzschereflexionen in diesem Abschnitt, die mit poetischen Assoziationen über den Klang des Namens Nietzsche einsetzen und Visionen von Brand, Krieg, Aufruhr, völliger Vernichtung, russischem Nihilismus über das russische Wort für ,nichts‘ (nitschewo) heraufbeschwören. Die Traumfigur einer erotisch-dekadenten Nietzscheanerin, die sich Leiris aufdrängt, gehöre zu einem Bereich, in dem die Prinzipien, mit denen er aufgewachsen war, nicht mehr galten. Zum Schluss der Sequenz spricht der Text davon, daß viel später in Leiris’ Biographie der einsame Gipfel von Sils-Maria auftauchen wird – eine mögliche Anspielung auf Leseerfahrungen mit dem Spätwerk nach Überwindung einer juvenilen, vom gängigen

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rührung mit Nietzsches Denken u. a. im Briefwechsel mit Masson dokumentiert.4 Ihr wichtigstes gemeinsames Projekt war ein von Masson illustriertes Essai von Leiris über die Kunst des Stierkampfs, die tauromachie 5. Immer wieder kommt Leiris auf den Stierkampf zurück, so auch in einem der wichtigsten jüngeren Texte zur Theorie des autobiographischen Schreibens, dem kleinen Essai De la littrature considere comme une tauromachie von 1946, das seither seiner schon in den 30er Jahren entstandenen Autobiographie L’ge d’homme vorangestellt wird. Literatur, so heißt es dort einigermaßen kryptisch, müsse das eigene Leben ganz, müsse die condition humaine in all ihrer Widersprüchlichkeit bei den Hörnern packen, um authentisch zu sein. Bei den Hörnern hat auch Nietzsche gerne angepackt: „Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neue s Problem: heute würde ich sagen, daß es das Problem der Wissenschaf t selbst war“.6 So spielt Nietzsche in seinem autobiographisch gefärbten Versuch einer Selbstkritik aus dem Jahr 1886 auf das zentrale Thema der Tragödienschrift an – nämlich das Dionysische, dessen Rekonstruktion in der Tat bis heute Herausforderung der Wissenschaft geblieben ist.7 Nun ist dieses Bild der Hörner gewiß kein ungewöhnliches; es ist nichts weniger als ausgemacht, daß die Hörner bei Leiris an demselben Stier sitzen, der auch Nietzsche vorschwebte. In einem ersten Schritt soll deshalb gezeigt werden, inwiefern das Motiv des Stierkampfes bei Leiris tatsächlich mittelbar von Nietzsche herkommt – Nietzsches Denken ist selbst dann noch erkennbar, wenn es aus zweiter oder dritter Hand stammt, gleichsam aus den Anfangsstadien

4

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Nietzscheanismus der Jahrhundertwende geprägten Rezeption. Dies würde jedenfalls gut zu dem Wechsel vom frühen Nietzsche der Tragödienschrift und des Dionysoskults zum späten Nietzsche des labyrinthischen Denkens passen, den ich hier nachzuweisen versuche. André Masson, Les annes surralistes. Correspondance 1916 – 942, herausgegeben von Françoise Levaillant, Paris, Manufacture: 1990. Nietzsche ist bereits Thema zwischen Masson und Leiris in Briefen vom 20. Dezember 1935 und 25. August 1938. Eine kontinuierliche, wenn auch nicht allzu intensive Nietzschelektüre belegt überdies Leiris’ tagebuchhaftes journal, das er von 1922 bis 1989 führte: Michel Leiris, Journal. 1922 – 1989, herausgegeben von Jean Jamin, Paris: Gallimard 1992. Michel Leiris, Miroir de la tauromachie. Prcd de Tauromachies, Paris: GLM 1964. KSA 1, S. 13. Die Anspielung funktioniert, weil der Dionysoskult sich bekanntlich aus Stierkulten entwickelt hat (davon zeugen noch die Hörner des Gottes auf manchen selbst seiner jüngeren Darstellungen).

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der Stillen Post. An- und abschließend soll jedoch kein vermeintlicher oder nachweisbarer Einfluß im Mittelpunkt stehen, sondern das Licht, das Leiris’ Begründung der literarischen Autobiographie aus dem Geist des Stierkampfes zurück auf das Werk Nietzsches wirft. Über die Zeiten hinweg führen beide damit einen deutsch-französischen Dialog über die ästhetischen Grundlagen künstlerischen Selbstentwurfs in der Moderne: einer der bedeutendsten Autobiographen des vergangenen Jahrhunderts8 – und der wohl autobiographischste Autor in der Geschichte der abendländischen Philosophie.9

II Für bildende Künstler mußte Nietzsche immer Grund zur Verzweiflung sein. Zwar besaß die Kunst in seinem Früh- und Spätwerk einen unerreichten Stellenwert. Malerei oder Skulptur aber waren in der Ästhetik des halbblinden Ohrenmenschen an den Katzentisch verbannt. Daß Traum und Rausch einander entgegengesetzt seien, wollte den Symbolisten und später den Surrealisten nie einleuchten. Bildende Künstler, die sich wie André Masson dennoch dem Sirenengesang des Nietzscheanismus ergaben, brachten Bewegung ins Bild, um Nietzsches Ansprüchen immerhin annäherungsweise gerecht zu werden. Das statische Gemälde – man denke nur an das im neunzehnten Jahrhundert dominierende Landschaftstableau – hatte zumindest im Inhaltlichen von der dionysischen Dynamik der Musik zu lernen10. In den frühen figürlichen Darstellungen mediterraner Landschaften des Nietzschelesers Picasso etwa, in seinen lebensbejahenden Tanzszenen mit Stieren, Ziegen, Faunen, Nymphen tanzt die erotische Kraft des Dionysischen, die auch Masson faszinierte – und die in dieser Weise mit 8 Vgl. z. B. Philippe Lejeune, Lire Leiris. Autobiographie et langage, Paris: Klincksieck 1975; ders., Moi aussi, Paris: Seuil 1986, S. 164 – 177, Manfred Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München: Hanser 1986. 9 Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst. Annherung an einen Denkartisten, Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 25: „Was an Nietzsche von Anbeginn auffällt, ist das Interesse an sich selbst. Schreiben heißt für ihn als Gymnasiasten und später als Verfasser von ,Ecce Homo’ in erster Linie: über sich selbst schreiben.“ 10 In einem Brief Massons an Bataille wird in diesem Kontext die große Affinität Nietzsches zum Philosophen des Fließens und Werdens, nämlich Heraklit, herausgehoben (André Masson, Le rebelle du surralisme. crits, Paris: Hermann 1976, S. 290).

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den Instrumenten des Malers also durchaus in die Sphäre Apollons überführbar war. Daß nur dadurch die Moderne Erlösung fand, stand außer Frage.11 Im Miroir de la tauromachie, dem bereits erwähnten frühen Gemeinschaftswerk von Masson und Leiris, ist es die corrida, die eine ähnliche Aufgabe übernimmt. In einer Zeit des ennui, der nur noch sporadischen und fragmentarischen Äußerung menschlicher Leidenschaft, verheiße sie allein die katharsis, die sich in anderen Epochen und Kulturen – hier spricht Leiris schon als Ethnologe – noch in Riten, Spielen, Festen und eben der Tragödie manifestierte. Der Stierkampf sei jene Institution der Moderne, welche der antiken Tragödie am nächsten komme.12 Leiris schreibt: „Ainsi la tauromachie, plus qu’un sport, est un art tragique, où se trouve gauchie, par le soulèvement de forces dionysiaques, l’harmonie apollinienne.“ In der Fußnote dazu wird noch schärfer formuliert, wohlgemerkt zu einer Zeit, da Leiris Nietzsche noch gar nicht gelesen haben will: „Non seulement l’opposition du ,dyonysiaque’ (sic) et de l’,apollinien’, mais tout ce que Nietzsche dit de la musique dans L’Origine de la tragdie, paraît pouvoir s’appliquer à la tauromachie.“13 Warum, fragt man sich, trauen ein Literat und ein Künstler ihren eigenen Kunstgattungen diese (er)lösende Rolle nicht mehr eigenständig zu und sprechen sie augenscheinlich sogar auch der Schwesterkunst der Musik endgültig ab? Die Antwort darauf lässt sich aus Leiris’ journal rekonstruieren. Der Eintrag vom 27. April 1960 stellt eine aufschlußreiche rhetorische Frage: Weshalb solle angesichts des allgemeinen Wertefalls ausgerechnet die Kunst jemals als Ausnahme gegolten haben? „Dada, à juste titre, proclamait la mort de l’art après que Nietzsche eut proclamé la mort de Dieu.“14 Weil die herkömmliche Kunstauffassung unauflöslich mit jener Welt zusammenhängt, deren Zusammenbruch Nietzsche diagnostizierte, mußte sie dieser in den Untergang folgen. Nicht darf man mehr von der Kunst, nicht mehr, wie der frühe Nietzsche, von der kommenden Musik, namentlich dem Musiktheater Wagners, die Überwindung des Nihilismus erhoffen, sondern vom 11 Hinweis auf die frühe Nietzschelektüre Picassos bei Wieland Schmied in: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie und Kunst, München: Bayerische Akademie der Wissenschaften, S. 154. 12 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 23 f. 13 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 40. 14 Leiris, Journal (Anm 4), S. 552.

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Stierkampf. Schon Zarathustra weiß, daß „bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen“ dem grausamsten Tier, dem Menschen nämlich, „bisher am wohlsten geworden“ sei15. Die vermittelnde Position zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, die beim Stierkampf hier auffällt, all seine symbolhaften Konnotationen der Erotik, der tragischen An- und Entspannung, des Opferns und des Heiligen, sprechen aus Sicht der Generation des Collège de Sociologie augenscheinlich dafür, in ihm den neuen ,Geist der Musik’ zu sehen; auch Bataille hat sich ausführlich mit dem Stierkampf beschäftigt.16 Leiris erstes autobiographisches Werk, L’ge d’homme, Bataille gewidmet und mit Elogen auf Masson versehen, beschreibt in großer Ausführlichkeit die nachhaltigen Theatererlebnisse seiner Kindheit, unter denen es ihm die Opern Wagners besonders angetan hatten.17 Die Oper erfährt das Kind zunächst als Ort der Magie und der Erhabenheit; in seiner Feierlichkeit, Zeremonialität und tragischen Würde „un monde à part“ vom gewöhnlichen Alltag. Die Anwesenheit bei dem Spektakel empfindet es als beglückende Initiation in die Welt der Erwachsenen. Freilich erweist sich diese bürgerliche Erwachsenenwelt selbst als Problem. Wagner, mit dessen Hilfe Nietzsche sie noch stürzen wollte, ist offenbar mühelos von ihr assimiliert worden. Wenn die dionysische Befreiung für den jungen Leiris überhaupt noch von der Musik kommt, dann vom Jazz her, ein Erlebnis, das er mit vielen Generationsgenossen der Zwischenkriegszeit teilt. Der Jazz symbolisiert den Einbruch Afrikas in die europäische Moderne, sein Rhythmus lässt 15 Za, KSA 4, S. 274. 16 Vgl. z. B. Georges Bataille, Œuvres compltes I, Paris: Gallimard, 1970. Die Tafel XXVIII im Anhang des Bandes zeigt zur Definition des Heiligen (le sacré), einem Schlüsselbegriff des Collège, die Abbildung eines Stierkampfs mit dem Kommentar: „Les courses de taureaux modernes représentent du fait de leur ordonnance rituelle et de leur caractère tragique une forme voisine des jeux sacrés anciens.“ 17 Von daher stamme, so Leiris interessanterweise, seine Angewohnheit, in Anspielungen und Metaphern zu reden: Michel Leiris, L’ge d’homme. Prcd de De la littrature considere comme une tauromachie, Paris, Gallimard 1973, S. 42. L’ge d’homme erschien zuerst 1939 bei Gallimard, die nächste Ausgabe, dann bereits vom Stierkampfessai eingeleitet, stammt aus dem Jahr 1946 und trägt nun auch die Widmung an Bataille („À Georges Bataille, qui est à l’origine de ce livre“). Seit 1964, als eine längere Fußnote über Puccini hinzukam, sind die Auflagen unverändert. Vgl. auch die mit bibliographischen Hinweisen versehene kommentierende Materialsammlung von Catherine Maubon, L’ge d’homme de Michel Leiris, Paris: Gallimard 1997.

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Europa die eigene Müdigkeit verspüren, als frenetisches „signe de ralliement“ ist er es, der Leiris nach Afrika und letztlich zur Ethnologie führt18. Am pointiertesten drückte Leiris dies in einem Gespräch mit dem Jazz Magazine aus dem Jahr 1984 aus: «Ce que j’aime beaucoup, c’est l’Autre qui n’est pas tout-à-fait un autre, l’Autre qui apparaît chez vous. Ainsi ce que j’ai trouvé fantastique dans le jazz, c’est au fond l’espèce d’africanisation des musiques européennes.»19

Als Ethnologe hat Leiris ganz im Sinne des Collège de Sociologie nach jenen Mythen und dem Sakralen in der Alltagswelt gesucht, die fruchtbare Keime zur Erneuerung bergen mögen. Leiris und das Collège interessierten sich für Nietzsche, weil er als einer der ersten das Archaische, das aus der Mitte der Gesellschaft wieder erwächst, zum positiven Wert erklärt hatte. Aus archaischen Ritualen wie dem Stierkampf muß nicht allein die Gesellschaft von ihrem Werteverlust errettet werden, sondern eben auch die Kunst. An den konkreten Eigenschaften der tauromachie, die dieses Wunder bewirken soll, wird deutlich, warum insbesondere die Literatur vom Stierkampf her zu erneuern war. Das Thema von L’ge d’homme gipfelt in der Frage, wie ein sich entwickelndes Leben die Spielregeln des Lebenskampfes erlernt, anders ausgedrückt: Wie gelangt man „du chaos miraculeux de l’enfance à l’ordre féroce de la virilité“20 ? La rgle du jeu, die vierbändige Autobiographie aus den 70er Jahren, die Leiris’ opus magnum wurde, hat einen ganzen Kosmos von Antworten versucht. Zentral darin ist die gleichsam metaphysische Setzung von der grundlegenden Bedeutung der Regel für die Gesellschaft wie für die Kunst. Im August 1969 hält Leiris im journal fest: «La ,règle du jeu‘, au sens où je l’entends, c’est le mien système de valeurs (cf. Nietzsche) ou choix originel (cf. Sartre) auquel doit répondre le jeu, conforme à mes goûts et à mes aptitudes, que je mènerai avec rigeur et cohérence.»

Damit wird nicht zuletzt auf die Regelhaftigkeit der corrida zurückverwiesen, die Leiris ursprünglich faszinierte. Sie wirkt bis in die berühmten autobiographischen Spielregeln nach und wird zur Grundlage 18 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 159 f. 19 Zit. nach Kevin Inston, «Michael Leiris and the Power of Art», in: The Romanic Review 95 (2004), S. 63 – 80, hier S. 78. 20 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 40.

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des neuen Wertesystems.21. Erst das Regelsystem des Stierkampfes verhindert im Zusammenspiel mit der realen Gefährdung des Toreros die bloße Abschlachtung des Opfers. In einem Ritual ist der Gegner nicht einfach zu vernichten, Taktik und Ästhetik gehen vielmehr eine höhere Einheit ein. So ist festgelegt, zu welchem Zeitpunkt man dem Tier welchen Stich versetzen darf, die Art und Weise des Stehenbleibens ist vorgeschrieben usf. – Torero und Stier, so Leiris in De la littrature considere comme une tauromachie, bilden im Augenblick der höchsten Anspannung eine Art Skulptur.22 Mit der Wiedergewinnung der wertegeleiteten Agonalität gelingt die Wiedergeburt der (statischen bildenden) Kunst aus dem (dynamischen) Geist des dionysischen Festes. Für den gereiften Ethnologen stellt dies eine elegante Lösung insofern dar, als sich durch das Festhalten an den Regeln des Ritus doch noch ein Teil der jugendlichen Begeisterung für das Inhaltliche des Dionysischen bewahren lässt: Die ethnologische Analyse, die immer auch eine Selbstanalyse ist, muss als Aufhebungsfigur der emphatischen Begeisterung für das Andere (der exotischen Kultur, des Alltags, der eigenen Person) begriffen werden, weil sie die Emphase nicht einfach hinter sich stellt, sondern ästhetisch einhegt. Die spezifische Ästhetik in Leiris’ literarischem Werk lässt sich nur in diesem Licht verstehen. Literatur, so Leiris Grundthese in De la littrature considere comme une tauromachie, bleibe letztlich substanzlos, wenn sie nur ästhetisches Verfahren sei, „anodin, dépourvu de sanction“. An der Suche nach einer spezifisch schriftstellerischen Entsprechung zum spitzen Horn des Stieres23, das den Autor in Gefahr zu bringen vermag, verzweifelt das reflektierende Ich zunächst. In jenen Zeilen des Essais, die kurz nach Kriegsende im Angesicht des zerstörten Le Havre und des kriegsbedingten wirklichen Schmerzes entstanden sind, kommt der Autorstimme dieses rein persönliche Vorkriegsproblem plötzlich so harmlos wie unbedeutende Zahnschmerzen vor, denn nie kann die Gefahr für den Schriftsteller so real werden wie für den Torero oder den Soldaten. Hinter der ursprünglichen Eingebung, sich wie in L’ge d’homme durch die öffentliche Konfession des eigenen Gefühlslebens und der eigenen sexuellen Obsessionen in Gefahr zu bringen, so lautet die Selbstanklage, habe sich 21 L’ge d’homme endet mit sog. Emanzipationsträumen, in denen auch die Lösung vom geistigen Mentor André Masson und einer nihilistischen Ideologie, die jegliche Werte und Moral negiert, anklingt. 22 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 19. 23 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 10.

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in Wirklichkeit der versteckte Wunsch nach Absolution verborgen.24 Um auf literarischem Feld wenigstens teilweise eine Authentizität zu erreichen, die dem Stierkampf vergleichbar ist, beschließt Leiris, sich strengen Kompositionsregeln zu unterwerfen – „In Ketten tanzen“ hieß dies bei Nietzsche25. Das Essai endet in dem Wunsch, diese Regeln mögen dem Autor nun als Ariadnefaden dienen.26 Der Ariadnefaden: eine winzige Anspielung nur, aber eine, die man auf die Gefahr hin überliest, eben jener neuen Kompositionsweise nicht einmal annäherungsweise gerecht zu werden, die etwa in La rgle du jeu dann umgesetzt wird. Indem vom ethnologischen Mythenforscher dergestalt selbst Mythen über das eigene Schreiben evoziert werden, fordert er den Leser zur mythologischen Deutung auf. Der Ariadnemythos macht unverkennbar, daß es sich bei dieser Literatur um keine gewöhnliche corrida mehr handelt. Der Stier, der in der Arena autobiographischer Literatur aufläuft, ist womöglich um einiges gefährlicher: Die Rede ist vom Minotaurus, und der Kampf gegen ihn findet nicht mehr auf offenem Platze statt, sondern im Labyrinth des Textes. Man mag darüber streiten, ob der Ariadnemythos in der Beschäftigung Leiris’ mit dem Stierkampf nicht von Anfang an präsent gewesen ist. Schon im Miroir de la tauromachie tauchte in Massons Illustrationen ein interessanter Subtext auf, der in diese Richtung zu zeigen scheint, denn in seinen Stierkampfszenen erkennt man immer wieder auch eine Frau. Neben Masson hat Picasso ebenfalls Minotauren und Labyrinthe gemalt.27 Das Motiv des Labyrinths gehörte zum festen Inventar im

24 „Ce que je méconnaissais, c’est qu’à la base de toute introspection il y a goût de se contempler et qu’au fond de toute confession il y a désir d’être absous. Me regarder sans complaisance, c’était encore me regarder, maintenir mes yeux fixés sur moi au lieu de les porter au-délà pur me dépasser vers quelque chose de plus largement humain. Me dévoiler devant les autres mais le faire dans un écrit dont je souhaitais qu’il fût bien rédigé et architecturé, riche d’aperçus et émouvant, c’était tenter de les séduire pour qu’ils me soient indulgents, limiter – de toute façon – le scandale en lui donnant forme esthétique.“ (Leiris, L’ge d’homme, Anm. 16, S. 13). 25 WS 140, KSA 2, S. 613. 26 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 21. 27 „Bilder aus dem Labyrinth der Seele“ hieß entsprechend der Titel zu einer großen Werkschau, die 2003 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt präsentiert wurde. Der gleichnamige Ausstellungskatalog bietet gute Hinweise auf die Bedeutung Nietzsches sowie einschlägiger griechischer Mythen für Massons Werk: André Masson, Bilder aus dem Labyrinth der Seele/Vues du labyrinthe de

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mythischen Haushalt des Collège de Sociologie; von Bataille selbst gibt es einen – durchaus von Nietzsche geprägten – Text darüber.28 Die Figur des Azephalos, des kopflosen Gottes der gleichnamigen Geheimgesellschaft Batailles und seiner Getreuen, trägt ein labyrinthisches Siegel auf dem Leib. Der dionysische Charakter von Acphale ist freilich ohnehin nicht zu verkennen; mit Recht hat ihm Jacques Le Rider ein Kapitel seines Standardwerks zur französischen Nietzscherezeption gewidmet.29 In Leiris’ journal findet sich ferner als undatierte (aber augenscheinlich späte Eintragung) folgendes Zitat zum Thema Labyrinth: „un homme labyrinthique ne cherche jamais la verité mais seulement son Ariane.“30 Es entstammt dem Nachlaß Nietzsches der frühen 80er Jahre und lautet im deutschen Original folgendermaßen: „Ein labyrinthischer Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern immer nur seine Ariadne – was er uns auch sagen möge“.31 Die Annahme, Leiris habe gleich dem späten Nietzsche den Fokus des Dionysischen vom Agonalen oder Erotischen (wie es bei Leiris vom Horn symbolisiert wird) zum Ariadnemythos verschoben, in dem Dionysos nicht mehr primär Gegenspieler des Apoll, sondern Gemahl der Ariadne ist, hat deshalb einiges für sich. Das Labyrinth wirkt auf seine Besucher ebenso verwirrend und chaotisch wie der dionysische Rausch, doch ist der Aspekt einer zugrundeliegenden geheimen Ordnung bei diesem deutlicher als bei jenem. Dionysos und das Labyrinth sind nicht nur im Mythos eng verbunden. Beide bezeichnen zwei je unterschiedliche Hintergrundsmetaphern für das Versprachlichen menschlichen Innenlebens (dies ist

28 29

30 31

l’me, herausgegeben von Kai Bucholz und Klaus Wolbert, Frankfurt a.M.: Die Galerie 2003. Bataille, Œuvres compltes I (Anm. 17), S. 433 – 441. A-cphale – der kopflose Gott ist eine Erfindung des Kreises um Bataille und bezeichnet zugleich die 1936 gegründete Geheimgesellschaft, die sich stark an vermeintlich dionysischen Kulten und Inhalten orientierte, einschließlich gewalttätiger Opferriten. Azephalos trägt einen Dolch in der Hand; die offengelegten Gedärme bilden eine labyrinthische Struktur. Acphale propagierte die gleichzeitig gegen Christentum, Faschismus und Kommunismus gerichtete herrschaftsfreie und nonkonformistische Gesellschaft, eine Bewegung der Selbstverwirklichung aus dem Geist der Resakralisierung des Alltags. Zur Stellung von Acphale im Kontext der französischen Nietzscherezeption s. Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe sicle au temps prsent, Paris: Presses Universitaires 1999. Leiris, Journal (Anm. 4), S. 827. KSA 10, S. 125.

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selbstverständlich auch schon Metapher: absolute Metaphern im Sinne Hans Blumenbergs sind in der Rede über den Menschen bekanntlich unverzichtbar). Die Umsetzung des Begriffs vom Dionysischen in eine Theorie des Unterbewußten seit der Psychoanalyse ist vertraut und im Alltagsverständnis noch lebendig. Das kann man kaum von der Idee des Labyrinths behaupten, die gleichwohl spätestens seit dem 18. Jahrhundert eng mit Anschauungen über den seelischen Bereich des Menschen verknüpft ist. Das seelische Labyrinth ist seit der Empfindsamkeit und lange vor Freud als Bild des unbekannten und unbewußten menschlichen Innenlebens aufgefaßt worden: „Füllest wieder Busch und Tal/ Still mit Nebelglanz,/Lösest endlich auch einmal/Meine Seele ganz“ – Goethes Gedicht „An den Mond“ ist vor allem für die Umschreibung der Seele mit jenem Namenlosen berühmt geworden, „Was, von Menschen nicht gewußt/Oder nicht bedacht,/Durch das Labyrinth der Brust/Wandelt in der Nacht.“ In diesem, seit Goethe also sprichwörtlichen Labyrinth der Brust, wartet der Minotaurus auf jene, die sich ihm stellen wollen. Das ist keine blumige Umschreibung für den hergebrachten Begriff des Gewissens, denn das Ge-wissen (abgeleitet von der lateinischen conscientia) ist als Instanz doch immer von einem höheren Grad an Bewußtheit geprägt. Einem ,unbewußten Gewissen‘ hat etwa die Psychoanalyse deshalb später andere Namen gegeben. Im besten Fall ist der Minotaurus im Labyrinth der Brust eine Art Gewissen höherer Komplexität, die seiner Unbestimmtheit geschuldet ist: nie weiß man, hinter welcher Ecke der Minotaurus lauern mag. Bei Leiris etwa ist die Gewissensinstanz nach eigener Aussage von der katholischen Erziehung und dem Wissen um Erbsünde und verbotene Früchte geprägt gewesen.32 Aber die Erkenntnis dieses Umstands mußte er sich im Schreiben hart erarbeiten. In seinem libertinistischen Bekenntnisdrang und der Schilderung sexueller Experimentierfreudigkeit nimmt L’ge d’homme den ,Stierkampf‘ gegen den Gewissensminotaurus auf. Im Umkreis der tauromachischen Theorie hat sich Leiris einer Psychoanalyse unterzogen. Das literarisch-autobiographische Schreiben bleibt freilich das probateste Mittel, den Kampf zu führen: probat im Sinne von bewährt, denn mit dem Hinweis auf das Labyrinth knüpft Leiris bewußt an die Anfänge des modernen bekennenden Schrifttums an, die lange verschüttet gelegen

32 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 201.

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hatten. Die Vorstellung vom „Labyrinth der Selbsterfindung“33, das der große Autofiktionär und Leiris-Leser Paul Nizon beschrieben hat, geht zweifellos bis auf Rousseau zurück. Im ersten Buch der Confessions schreibt dieser über seine bis dato unerhörten Enthüllungen sexueller Neigungen: «J’ai fait le prémier pas et le plus pénible dans le labirinthe obscur et fangeux de mes confessions. Ce n’est pas ce qui est criminal qui coûte le plus à dire, c’est c’est qui est ridicule et honteux. Dès à présent je suis sûr de moi, après ce que je viens d’oser dire, rien ne peut plus m’arrêter.»34

Die Selbstpeinigung durch die herabsetzende Selbstentblößung wird zum Ausweis der Aufrichtigkeit. Wenn der Begriff des Labyrinths in diesem Kontext nicht nur zufällig fällt (und bei einem Stilisten wie Rousseau liegt diese Annahme nicht gerade nahe), muß man ihn auch auf die Art des Schreibens selbst beziehen können – ein Schreiben, das in ästhetischer Hinsicht gleichsam den Windungen des eigenen inneren Labyrinths nachzuspüren versucht und damit zwangsläufig auf narrative Konventionen autobiographischen Schreibens verzichtet.

III Nietzsches explizit ,autobiographische‘ Schriften, zu denen neben Ecce Homo v. a. die Antiwagner-Pamphlete zu zählen sind, zeichnen sich durch ihre Fixierung auf eben diese zentrale Bezugsfigur seines Lebens aus.35 „Ah, dieser alte Räuber!“ beginnt eine aufschlußreiche Stelle in Der Fall Wagner, deren erbarmungsloser Spott über seine Zielscheibe die Bitterkeit doch nicht recht verbergen kann und wohl auch nicht soll: „Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre Frauen und schleppt sie in seine Höhle … Ah, dieser alte Minotaurus! Was er uns schon gekostet hat! Alljährlich führt man ihm Züge der schönsten Mädchen und

33 Paul Nizon, Im Bauch des Wals. Caprichos. Frankfurt a.Main: Suhrkamp 1991, S. 108 34 Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Compltes, Bd. 1, Paris, Gallimard 1959, S. 18 35 In Ecce Homo bemerkt Nietzsche über Richard Wagner in Bayreuth: „an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, – man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra‘ hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt.“ (EH, KSA 6, S. 314). Im Grunde werde hier nur von ihm selbst geredet (EH, KSA 6, S. 320).

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Jünglinge in sein Labyrinth, damit er sie verschlinge, – alljährlich intonirt ganz Europa ,auf nach Kreta! auf nach Kreta!‘“ …36

Der wissenschaftliche Konsens hatte für Wagner in Nietzsches privatem Ariadnemythos lange die Rolle des Theseus reserviert.37 In anspruchsvolleren Analysen sind solche platt-eindeutigen Zuweisungen der Erkenntnis gewichen, daß die Rollenspiele insgesamt wechselnde Funktionen haben, daß Theseus, Dionysos und Ariadne „nicht drei Personen, sondern drei Aspekte des (höheren) Menschen in seiner Bewegung zum Übermenschen“ in Szene setzen.38 Erstaunlicherweise hat der Kampf gegen den Minotaurus in der Forschung keine Rolle gespielt, trotz des eben zitierten Hinweises. „Ich bin dein Labyrinth…“39 sagt Dionysos zu Ariadne in der „Klage der Ariadne“. Es scheint in der Tat so zu sein, als ob nicht nur die klassische Dreiecksbeziehung, sondern alle sechs Elemente des Ariadnemythos bei Nietzsche personalisiert und auf Rollen verteilt werden können, nämlich Ariadne, Theseus, Dionysos, Minotaurus, Labyrinth und sogar der Faden der Ariadne. Nicht die biographisch begründete Schwärmerei für Cosima, so sie überhaupt existierte, machte Ariadne für Nietzsche interessant, sondern ihr Verhältnis zum „Labyrinth der Brust“ – einschließlich der Wesen, die darin hausen. In Jenseits von Gut und Bçse hat Nietzsche vom „Höhlen-Minotaurus des Gewissens“ gesprochen, der jene zerreißt, die verwegen genug sind, sich auf eigene Faust ins „Labyrinth“ des Lebens zu begeben. Ihre Erfahrungen seien den gewöhnlichen Menschen so fremd, daß sie „ferne vom Verständniss der Menschen“ zugrunde gehen müssen.40 Freilich lehrt die zweite Abhandlung Zur Genealogie der Moral wenig später auch, das Gewissen als Folge der Verinnerlichung menschlicher Instinkthandlungen zu verstehen, die sich unter den Bedingungen der Gesellschaft nicht mehr nach außen entladen konnten. Hier habe das Leiden des Menschen an sich selbst ihren Ursprung, das ein Leiden an der Krankheit des Gewissens ist. Im „Labyrinth der Brust“ – Nietzsche 36 WA, KSA 6, S. 45. 37 Vgl. schon Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München: Hanser 1993, S. 556. 38 Jörg Salaquarda, „Noch einmal Ariadne. Die Rolle Cosima Wagners in Nietzsches literarischem Rollenspiel“, in: Nietzschestudien 25 (1996), S. 99 – 125, hier: S. 125. 39 DD, KSA 6, S. 401. 40 JGB, KSA 5, S. 47 f.

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zitiert Goethe wörtlich! – verbirgt sich zugleich der Wille zur Macht – mit dem einzigen Unterschied, daß der Mensch seine „formbildende“ Kraft und die eingeborene Lust an Grausamkeit nicht mehr an anderen, sondern an sich selbst ausagiert: „Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlichlustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze aktivische ,schlechte Gewissen‘ hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit…“41

Die Krankheit des schlechten Gewissens, so konkretisiert Nietzsche im gleichen Atemzug, sei also „eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist.“42 Unter diesen Vorzeichen nimmt die Aussage, Wagner habe zu Nietzsches Krankheiten gehört, eine neue Bedeutung an, denn diese Krankheit kann metaphorisch naturgemäß nur als Krankheit des Innenlebens, als Auseinandersetzung mit Aspekten der eigenen Persönlichkeit verstanden werden. Wagner wäre das schlechte Gewissen Nietzsches, dessen eigenes autobiographisches Schreiben sich als tauromachie im Sinne von Leiris verstehen ließe, als corrida der Bekenntnisse mit dem Minotaurus im ,Labyrinth der Brust‘. Für wahre zeitgenössische Kunst unter den von Nietzsche beschriebenen Bedingungen der Modernität und des komplexen Innenlebens spätdekadenter Individuuen gilt damit dasselbe wie für die Geburt wahren Lebens: unter Schmerzen sollst du gebären. Für Nietzsche erweist sich das Leiden an der offenen Wunde Wagner als eigentlich produktives Moment. Erst dieses Leiden öffnet ihm die Augen für das Charakteristische der Zeit, deren emblematische Persönlichkeit Wagner geworden war: „Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagner’s zu entrathen. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein, – dazu muss er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet

41 GM, KSA 5, S. 325 f. 42 GM, KSA 5, S. 327.

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die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt.“43

Das Leiden an Wagner ist das Leiden an der Doppelgesichtigkeit der Moderne – und der Philosoph wird zum Labyrinth im Labyrinth. Anders ausgedrückt: Das eigene Labyrinth der Brust, das den WagnerMinotaurus beherbergt, wird für Nietzsche zum Zentrum einer weiteren Struktur, in dem er den Mittelpunkt als Gewissen des Labyrinths der modernen Seele bildet. Was Wagner ihm, will Nietzsche der Moderne sein. Größer könnte die Geste, mit der Nietzsche Wagner die Konkurrenz erklärt, nicht sein. Bekanntlich ist Nietzsche an der Redaktion und Drucklegung von Wagners eigener Autobiographie beteiligt gewesen. Wenn Wagner (als die Figur, unter der Nietzsche ganz verschiedene Aspekte bis hin zur Idee der dcadence zusammenfasst), wenn dieser ,Wagner‘ also tatsächlich Nietzsches innerer Minotaurus ist, dann müsste seine Autobiographie auch der Maßstab sein, an dem sich die eigene Autobiographie zu bewähren hätte. Nietzsche müßte das eigene autobiographische Schreiben als Gegensatz zu Wagners Mein Leben entworfen haben. In der Genealogie der Moral hatte Nietzsche das zeitgenössische biographische und autobiographische Schrifttum noch scharf als verlogen, moralisierend, verfälscht angegegriffen: „welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müsste denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s: wer zweifelt daran, daß es eine kluge Selbstbiographie sein wird?“44 Nietzsches Ecce Homo kann man eine „kluge Selbstbiographie“ wahrlich nicht nennen, eher ein Buch der Ausbrüche, das „alle Scham vor sich verlernt hat“ – die Modernität spricht als dcadence ohne Scham (s. o.), und die décadence hat der Verfasser wie kein zweiter (wie höchstens noch Wagner) „vorwärts und rückwärts buchstabirt“.45 In der selten gelesenen dritten Unzeitgemßen findet sich in der Beschreibung Schopenhauers ein Selbstporträt Nietzsches, das von Ecce Homo aus gesehen von geradezu unheimlicher Hellsichtigkeit ist. Im „Labyrinth der Brust“, so heißt es dort einmal mehr, „verbergen sich die Einsamen: aber dort auch lauert die grösste Gefahr der Einsamen.“ Sie haben ihre reiche Innenwelt fortwährend den Erfordernissen einer 43 WA, KSA 6, S. 12. 44 GM, KSA, 5, S. 386 f. 45 EH, KSA 6, S. 265.

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gleichgültigen Umwelt anzupassen: „es ist das schrecklichste Gegenmittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie dergestalt tief in sich hinein zu treiben, dass ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer Ausbruch wird.“ Denn durch diese Ausbrüche rächen sie sich bisweilen für ihre Zwangsmaskierung: „Sie kommen aus ihrer Höhle heraus mit schrecklichen Mienen; ihre Worte und Thaten sind dann Explosionen, und es ist möglich, dass sie an sich selbst zu Grunde gehen“.46 An sich selbst zugrundegehen heißt gegen den inneren Minotaurus zu unterliegen. Schreiben heißt, den Stierkampf aufzunehmen. Michel Leiris’ Theorie der Literatur als Stierkampf öffnet dem Nietzscheleser die Augen, in welch spezieller Hinsicht Nietzsches späte Schriften als literarische Tauromachien aufzufassen sind. Die Gefahr, die aus der Konfrontation mit dem inneren Minotaurus als schlechtes Gewissen erwächst und die vor allem im Entbergen und öffentlichen Bloßlegen der geheimsten Obsessionen liegt – sie war es, die bei Leiris dem autobiographischen Schreiben potentiell eine Authenzität verlieh, die es über das rein ästhetische literarische Schreiben erhob. Nietzsche schreibt: „Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.“47 Im Zarathustra klingt dies noch um einiges martialischer: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt.“48 Das Blut stammt zweifellos aus den inneren Verletzungen am Horn des Minotaurus. In seiner tauromachischen Literaturtheorie hat Leiris das ausformuliert, was in Nietzsches autobiographischem Philosophieren schon angelegt war – vermittelt über die zweite oder dritte Hand, gewiß, aber dennoch getragen von der wahlverwandten Sehnsucht nach einer Ästhetik des Schmerzes in der schmerzfreien Welt des letzten Menschen, in der erst der Schmerz die Tatsache des Dasein überhaupt wieder ins Bewußtsein ruft. Mag die Beschwörung des gefährlichen Lebens in einem Moment des gefahrlosen Komforts auch ein rhetorisches Mittel sein, das nur dann überzeugt, wenn der Autor seine Existenz tatsächlich in die Bresche wirft, so begründet das Emblem des Stierhorns das autobiographische Schreiben nach dem Bildungsroman und der Memoirenliteratur – den bevorzugten autobiographischen Genres des neunzehnten und frühen 46 SE, KSA 1, S. 354 f. In Ecce Homo bekannte Nietzsche, in dieser Abhandlung seine „innerste Geschichte“, sein persönliches „W e r d e n “ enthüllt zu haben (EH, KSA 6, S. 320). 47 WS, KSA 2, S. 609. 48 Za, KSA 4, S. 48.

Den Minotaurus schreiben:

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zwanzigsten Jahrhunderts – dennoch durchaus wieder neu. Schmerz und Selbstentblößung sind nun nicht mehr wie bei Rousseau lediglich Symptome der Authentizität bzw. Bausteine der Persönlichkeitsbildung, sondern stehen bei Nietzsche wie bei Leiris insgesamt für die Ablehnung der verkrusteten Verfahren zur ,klugen‘ Selbstdarstellung. Warum ich so klug bin, warum ich so gute Bcher schreibe usf. – Ecce Homo parodiert mit bitterem Unterton den von aller Verbrämung befreiten Wesensgrund zeitgenössischer Selbstentwürfe. Von daher ist es gar kein Widerspruch, wenn uns der Verfasser wenig ,authentisch‘, als vielmehr in Masken und Rollen entgegentritt, die bei Leiris ihre Entsprechung in allerlei mythologischen Vexierspielen haben.49 Die Verwirrung des Lesers hat sich der Maskengott50 auf die Fahnen geschrieben. Erwartungen an das Hergebrachte der Lebensdarstellung werden rücksichtlos enttäuscht. Nietzsches von Wagner provozierter extremer Bruch mit autobiographischen Konventionen fand erst im zwanzigsten Jahrhundert gehörige Resonanz – das zumindest ist ein Befund, der sich kaum abstreiten lässt. Erst aus der Rückschau der Leiris-Lektüre werden Sinn und Zielrichtung von Ecce Homo plausibel. Nietzsches autobiographisches Schreiben könnte dann als Vorreiter einer neuen autobiographischen Schreibweise gelesen werden, die den alten Mythos des Labyrinths auf die Darstellungsproblematik des eigenen Erlebens überführt bzw. überblendet – und die etwa bei Walter Benjamin, Robert Walser, Alain Robbe-Grillet und Leiris selbst zu einer neuen Ästhetik labyrinthisch-autobiographischen Schreibens führt. Dergestalt stellen die je neu zu identifizierenden konkreten Eigenschaften dieses Schreibens hohe Anforderungen an die genaue Lektüre nicht nur von Ecce Homo oder La rgle du jeu, sondern einer ganzen Tradition.51 Um den Kampf des 49 Vg. z. B. Christian Benne, „Ecce Hanswurst – Ecce Hamlet: Rollenspiele in Ecce Homo“, in: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 219 – 228. 50 Vgl. ferner die bekannte Verbindung von „Maske“ und „Tiefe“ in JGB 40 (KSA 5, S. 57 f). 51 In einem enthusiastischen Brief vom Juli 1939, der den Empfang von L’ge d’homme bestätigt, hebt bereits André Masson das Motiv des Labyrinths hervor, das ihm bei der Lektüre ins Auge gefallen war – und verbindet es mit der Überwindung der traditionellen autobiographischen Form (s. Masson, Les annes, Anm. 4, S. 429). Wie die Analyse eines labyrinthischen Schreibverfahrens aussehen könnte, hat z. B. Peter Utz an Walsers Werk demonstriert (Peter Utz, Tanz auf den Rndern. Robert Walsers ,Jetztzeitsstil‘, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, besonders das Kapitel „Das Labyrinth des Lesers“ 369 – 423; vgl. ferner insbesondere Manfred Schmeling, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzhlmodell, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987). Mit den Instrumenten text-

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Autors gegen den inneren Minotaurus nachvollziehen zu können, muß sich der Leser selber ins Labyrinth des Textes aufmachen. Nur wer darin überlebt, darf sich überhaupt mit der Person hinter den Masken beschäftigen – comprendre c’est galer. 52

genetischer und -genealogischer Literaturwissenschaft und unter Einbeziehung des Konzepts der „Schreibszene“ (Rüdiger Campe) wäre außerdem das Verhältnis des labyrinthischen autobiographischen Schreibens zur handschriftlichen Überlieferung der jeweiligen Autoren zu klären, etwa anhand des umstrittenen Status und labyrinthischen Charakters des späten Nachlasses Nietzsches. Dies bedarf indes gründlicherer Studien und wäre schon die Skizze eines umfassenden Forschungsprojekts. 52 KSA 12, S. 51.

Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie Überlegungen zu einem „dreieinen“ Begriff der Zeit Andreas Spohn Wenn im Titel Namen nebeneinander stehen, die keine Zeitgenossenschaft verraten, kann dies eine Ankündigung sein, die publizierte Meinung des Späteren zum Früheren zu analysieren. Eine solche philologische Auswertung der Nietzsche-Stellen in Lacan wäre zwar sinnvoll durchzuführen, allerdings dienen die sporadischen, allusiv gehaltenen Referenzen des französischen Psychoanalytikers zu kaum mehr als zur (mal mehr, mal weniger kontrastreichen) Garnierung der eigenen Theorie.1 Die Nennung in einem Atemzug kann aber auch einen von 1

Während Freud sich aufgrund einer kaum eingestandenen Nähe von Nietzsche distanziert, nennt ihn Lacan als Wegbereiter seiner Psychoanalyse, mal mit Betonung auf den seither zurückgelegten Weg, mal mit Betonung seiner Pioniertaten. Verglichen mit Kant oder Hegel spielt der deutsche Philosoph Nietzsche aber eine geringe Rolle in Lacans Werk, und so braucht es Mut, etwa wie Slavoj Zˇizˇek Nietzsches Lehre der Wiederkehr als großen ungenannten Einfluß auf Lacans Triebtheorie zu bezeichnen oder wie seine Biographin Elisabeth Roudinesco den Titel „Nietzscheaner mit katholischer Kultur“ zu wählen (Slavoj Zˇizˇek, Der nie aufgehende Rest, Wien: Passagen 1996, S. 179; Elisabeth Roudinesco und Michel Plon, Wçrterbuch der Psychoanalyse, Wien: Springer 2004, Artikel „Phallus“, S. 786). Daß Lacan in seinen frühen Zwanzigern Nietzsches Also sprach Zarathustra gelesen hat und sich als Freigeist erlebte, wird von seinem Bruder bezeugt. Ob er jedoch auch späterhin die in seinen vielen Bibliotheken archivierten Nietzsche-Bände tatsächlich gelesen hat, darüber gibt die noch vielversprechendste Quelle, eine unveröffentlichte, wohl auf immer unvollständige und ohne Vermerk von Lesespuren erstellte „Liste“ keine Auskunft (Elisabeth Roudinesco, „La liste de Lacan“, in: Eric Marty u. a. (Hrsg.), Lacan & la littrature, Houilles: Éditions Manucius 2005, S. 181 – 196). So gehören Lacans Freude über die Neuedition von Nietzsches Werk, zusammen mit der früh verspürten Geistesverwandtschaft und der Freundschaft mit George Bataille zu den Indizien eines undokumentierten (und in Ermangelung auskunftsbereiter Zeitzeugen weiterhin sehr spekulativen) NietzscheEinflusses, die aber nur schwerlich mit dem durchaus vorhandenen, jedoch heterogenen Korpus an dokumentierten Nietzsche-Bezügen in Deckung gebracht werden können. Immerhin findet sich in Lacans Seminar – vertraut man

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nicht dem Index Henry Kreutzens, der lediglich fünf Stellen angibt – bis zu dessen neunzehnter Auflage (Ou pire 1971/72) mindestens je eine Erwähnung Nietzsches; ganz ohne kommen nur die Seminare 9, 14, 15 und 18 sowie die von logischen und mathematischen Modellen geprägten Jahre nach 1972 aus, und auch in den Schriften zählt man fünf direkte Referenzen. Lacans unveröffentlichte Antwort auf Christiane Bardet-Giraudon, in der er seinen 1962 im „Kant avec Sade“-Aufsatz unkommentiert eingeführten Terminus „volonté de jouissance“ gar auf den im Französischen fast homonymen Willen-zur-Macht („volonté de puissance“) zurückführt, datiert aus dem Jahr 1972. In folgenden Themen und Thesen taucht Nietzsche bei Lacan häufiger auf: – Gott ist unbewußt: die Psychoanalyse versteht den Gottestod nicht als Befreiung vom Gesetz, sondern als dessen Verschärfung im internalisierten ÜberIch-Zwang. Als „Kehrseite der Psychoanalyse“ zeige sich, wie Nietzsches „frohe Botschaft“ zum Unbehagen wird, weder den Toten noch seinen Machteinfluß ad acta legen zu können. Vielmehr sei man nach Konservierung seines Gesetzes auf andere Weise als bei Nietzsche und Dostojewski dem „absoluten Herrn“: dem Tod ausgesetzt (E 130, S11/22. 1. 1964, S13/11. 5. 1966, S17/18. 3. 1970). – Apriori-Wechsel der Moral (von Machtgeschichte zu Triebstruktur): Die Moralgenealogie sei wertvoller, wo sie sich nicht auf eine historisierende Perspektive kapriziert, sondern der Illusionstotale eine Wahrheit zugrundelegt, die nicht sittenbedingt, sondern triebbedingt ist (E 405, S2/17. 11. 1954, S7/2. 12. 1959, S13/8. 12. 1965). – Nietzsche kann in eine Tradition der Moralisten eingeschrieben werden: Lacan schlägt vor, Nietzsche zu historisieren, ihn in eine Tradition ausgehend von Balthasar Gracián und La Rouchefoucault zu stellen (mal als ,nova’, mal als kleiner Autor gegenüber Gracián), die von Freud neue Impulse bekam (E 407, S1/5. 5. 1954, S10/8. 5. 1963). – Nietzsche liefert ein Beispiel fr einen Verwerfungseffekt: Lacan erinnert an den psychosentheoretischen Wert von Freuds Bezugnahme auf Nietzsches Zarathustra-Kapitel „Vor dem Sonnenaufgang“ (E 547, S3/15. 2. 1956, S5/15. 1. 1958). – Nietzsche als Wegbereiter fr Lacan: wo es scheint, daß er sich von Freud fortbewege, da fühlt sich Lacan dem Wertebegriff Nietzsches am nächsten, der zudem verdienstvoll darin gewesen sei, so etwas wie einen „transzendentalen Leib“ zu erfinden, wenn er auch die utopische Dimension des Dionysos, die Stimme und den Blick nicht hervorhob und statt Euripides Agathon als „Komödientragiker“ erkannte (S7/30. 3. 1960, S12/17. 3. 1965/24. 3. 1965, S13/ 20. 4. 1966/1. 6. 1966). Aus diesen Erwähnungen läßt sich kaum mehr als ein grobes Nietzsche-Bild Lacans zeichnen, sie bieten dem barocken Diskurs Lacans referentiellen Halt, bleiben aber, so profund sie im Ansatz klingen, diffus und widersprechen sich teilweise (die Kürzel bedeuten: E= Jacques Lacan, crits (1966), Paris: Éditions du Seuil, es folgt die Seitenzahl, S= Jacques Lacan, Sminaire, Angabe mit Seminarnummer und Sitzungsdatum, zitiert nach unveröffentlichten Mitschriften).

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konkreten Einlassungen des Späteren unabhängigen Vergleich der Grundgedanken annoncieren. Dieses am Leitthema der Drei und der Zeit hier durchgeführte Unternehmen macht eine Nähe zwischen Psychoanalyse und Nietzsche spürbar, die zu konstatieren bei Lacan eventuell sogar weniger Mutwille braucht als bei Freud, wo es darum geht, sich auf das veröffentlichte bzw. dokumentierte Wort zu verlassen. Wenn ein einzelner Text des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan pars pro toto die meisten wichtigen Aspekte seines gesamten Werkes repräsentieren soll, so könnte gut der kurze Zeitschriftenbeitrag „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit“2 von 1945 dafür einstehen – und tatsächlich wird der darin vorgestellte formalisierte Zeitbegriff der Psychoanalyse von Lacan im Laufe der Entwicklung seiner Lehre auf eine Reihe von Triangulierungsthemen appliziert.3 Wo Lacan von „seinen Drei“ spricht, sind nicht die Instanzen der Freudschen Metapsychologie: das Es, das Ich und das Über-Ich gemeint, sondern seine eigene Umschrift in die Register des Realen, des Imaginären und des Symbolischen, die sich wiederum auf die drei Zeitinstanzen, die er im genannten Aufsatz ausarbeitet: den Augenblick, die Zeit des Verstehens und den Moment des Schließens beziehen lassen. Auch Nietzsche hat „seine Drei“: in dem Zarathustra-Kapitel „Von den drei Verwandlungen“ beschreibt er die Entwicklung des Geistes als fortschreitend in drei aufeinanderabfolgenden Gestalten, vom Kamel über den Löwen hin zum Kind, das den Zeitmodus ewiger Wiederkehr repräsentiert. Die älteste Dreizeitentheorie findet sich in der Religion. Das Christentum hat „seine Drei“ in der Vorstellung einer sich antithetisch in Zeitaltern vollziehenden Geschichte. Wir wollen das Experiment wagen und über Dreizeitentheorien verschiedenster Art eine Vergleichbarkeit zwischen Christentum, dem „Anti-Christ“ Nietzsche und dem borromäischen Analytiker Lacan herstellen. Das dabei mit in Frage stehende Verständnis von Kausalität

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Jacques Lacan, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein neues Sophisma“ (1945), aus dem Französischen übersetzt von HansJoachim-Metzger, in: ders., Schriften III, herausgegeben von Norbert Haas, Olten-Freiburg i. Br.: Walter 1980, S. 101 – 121. Eric Porge zeichnet dies chronologisch nach in: Eric Porge, Se compter trois. Le temps logique de Lacan, Toulouse: Erès 1989.

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variiert zwischen einem Glauben an eine Letztursache, einem Sichselbst-Ursache-sein-Können und einem Gespaltensein der Ursache.

Die Drei als Grundlage der intersubjektiven Zeit Betrachten wir zunächst das von der Spieltheorie abkünftige Modell4 Lacans, mit dem er es ernst genug meint, um es bis an sein Lebensende immer wieder in neue Kontexte zu stellen, dabei jedoch immer wieder der Drei eine besondere Rolle zuschreibt, ohne die keine normalneurotische Subjektbildung gelinge. Gemeint sind die drei Modi der sogenannten „logischen Zeit“, die unter den nicht seltenen Dreierkonstellationen seiner Lehre den heimlichen Höhepunkt bilden. Lacan präsentiert drei triangulär zueinander plazierte Gefangene, denen die Freiheit verheißen wird, sofern sie wohlbegründet als erste die Farbe einer ihnen auf dem Rücken montierten Scheibe nennen können. Obwohl eine Kommunikation untereinander nicht erlaubt ist, zeigt sich, wie dennoch das solipsistische cogito ergo sum nachgerade je schon überwunden ist durch die Orientierung an einem Dritten, welche das Denken in ein triadisch-christologisches Format stellt. Die Verteilung der Scheiben erfolgt durch einen Gefängnisdirektor, dessen väterliche Güte als Garant der Spielregeln (dem Glauben) unterstellt werden muß – eine vorauseilende Überführung in ein Wissen, die Attribuierung als „transzendental“ oder „empirisch“ liefe ins Leere. Was jedoch nicht dem Glauben überlassen wird, ist das Wissen, daß bei Gültigkeit seiner Gesetze drei weiße und zwei schwarze Scheiben zur Markierung bereitstehen. Diese Konstellation schafft ein Signal, das etwas für jemanden repräsentiert, ein „Zeichen“: sieht einer der Gefangenen zwei schwarze Scheiben, so sollte ihm in Fleisch und Blut übergegangen sein, daß er mathematisch-logische Sicherheit darüber hat, daß er selbst eine der drei weißen Scheiben trägt5. Wer selbst eine schwarze Scheibe trägt, wer in 4 5

Was Lacan bei einer Abendgesellschaft aufgriff, hätte auch Nietzsche gefallen können: „Ich weiß keine andere Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das Spiel.“ (KSA, EH 6, 297) Der Grund, warum sie sich überhaupt gefangen fühlen und nun glauben freikommen zu können, indem sie andere und auch sich selbst auf ein dichotomes Merkmal reduzieren, bleibt im Dunkeln. Das insistierende Unterstellen einer väterlichen Autorität, eines soliden Garantiegebers sei als Gegebenheit der von Freud sogenannten „zweiten Intelligenz“, dem Wissen des Unbewußten, eingeführt.

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dieser Weise als Zeichen ein allzu eindeutig bedeutendes Element eines Sprechaktes wird, kann lange auf das verabredete Zeichen der Gewißheit warten, wird es immer nur dem anderen liefern, den er dann aufstehen und begründen sieht. Erst dann hat er Gewißheit um seine Farbe und ist damit je schon zu spät. Die erste mögliche Konstellation der Scheibenverteilung, der Zeichenwert des Anblicks zweier schwarzer Rckenscheiben, erlaubt es, sofort, in einem „Augenblick“, aufzuspringen und mit gutem Grund die Freiheit zu verlangen. Sofern man an das mit einer Sprache gleichstrukturierte sogenannte unbewußte Wissen glaubt, besteht es aus einem Code (dem vom Gefängnisvater festgelegten Bestand der Elemente sowie den von ihm konstruierten Grammatikgesetzen zum erfolgreichen Schlußfolgern) und einer Nachricht bzw. Message (der einer Auserwählung gleichkommenden Code-Aktualisierung). Schon die zweite mögliche Konstellation der Scheibenverteilung, nämlich der Anblick nur einer schwarzen Rckenscheibe und einer weißen Scheibe gefährdet – da das Zeichen fehlt – die Sicherheit des Schlusses, nun selbst weiß zu sein, stürzt in die Ungewißheit. Diese Situation ist analog zu dem ,pater semper incertus est’ („Der Vater ist immer ungewiß“), bei dem der Rückschluß von einer erblickten Ähnlichkeit oder Nähe auf das von sich selbst angenommene Bild nach neun Monaten keinen Syllogismus6 zu formulieren erlaubt, dessen dritter Teil „Ich bin Vater“ lautete. Allerdings würde der Träger der weißen Scheibe sofort aufstehen, sähe er zwei schwarze Scheiben (den anderen und mich selbst). Da er dies nicht tut, hat er das schwarze Merkmal nicht bei mir gesehen und verschafft mir auf diesem Wege die Gewißheit, selbst eine weiße Scheibe zu haben. 6

Der unmögliche Dreischritt einer „gewiß“ gemachten Vaterschaft, einer Reduktion auf real wiedergekehrte eindeutige Zeichen lautet etwa wie folgt: – Freiheit bedeutet wie der „Gefängnisvater“ zu sein. – Das Ansichtigwerden von Zeichenhaftem (hier: zwei schwarzen Scheiben) verschafft Gewißheit/Freiheit. – Diese Wahrnehmung macht mich zum Vater. Paradoxerweise ist dem syllogismusfähigen Wesen Mensch nie das Zeichen allein gegeben, es ist immer konfundiert vom Signifikanten. Das Dingwerden des Zeichens ist seine Wiederkehr als Phallus-Signifikant oder „Nullzeichen“. In diesem Sinne kann Lacan die symbolische Vaterschaft an ein äußeres Merkmal, das er das „Phallus-Haben“ nennt, knüpfen: so denken zu können, wie es ein unterstellter Gesetzgeber vorsah, identifiziert mit jenem – genauso identifiziert sich der Knabe mit seinem Vater, um dem Ödipusgesetz zu folgen.

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Während die traditionelle Logik ein von Zeit und Person unabhängiges Schließen fordert, das bei jeder Wiederholung das gleiche Resultat hervorbringt, wird in diesem Modell die Gewißheit der eigenen Identität ausgerechnet durch das Nicht-Agieren einer anderen Person geschlossen, das dennoch signifikant darin wird, eine gewisse Zeit zu beanspruchen und sogar replizierbar wäre. Das eigene Zögern spiegelt sich in dem anderen, dem ebenso das Gewißheit verschaffende Zeichen nicht angeboten wurde und der somit zu jenem prototypischen Signifikanten, einem ohne positives Merkmal bedeutendem „NullZeichen“ wird, das ich selbst für ihn bin. Die beiden Gefangenen mit weißer Scheibe werden also nach Verstreichen der „Zeit des Verstehens“7 simultan aufstehen und das Innehalten ihres Spiegelbildes als Ursache ihrer Schlußfolgerung nennen. Erst dann endet die Zeit des Verstehens bei dem Gefangenen mit der schwarzen Scheibe. Er bleibt gewissermaßen schuldig, während derjenige, der nicht nur eine weiße Scheibe „hat“, sondern auch bereit ist, ohne sie gesehen zu haben, sich für eine Entsühnung mit ihr zu identifizieren, der „Gute“ gewesen sein wird (oder zumindest besser dran). Nietzsche könnte leicht darin die Sklavenmoral erkennen, sein Glück darin zu finden, so zu denken, wie die Herde denken würde. Bei der dritten möglichen Konstellation, dem Anblick von zwei weißen Scheiben (und somit keiner einzigen schwarzen Rckenscheibe), wird das empirische Zeichen, das augenblickliche Gewißheit verspricht, zur frei interpretierbaren Tabula rasa der Identität eines Neugeborenen: die Parierung dieser Situation ähnelt der Antwort einer archaischen Frau auf die Vaterfrage, wie sie nach Freuds Totemtheorie unter anderem Vögel oder Schlangen als Zeuger namhaft macht, wo sie nicht alleine die Schöpfung verantworten will. Das Wissen um die Möglichkeit eines unsichtbaren schwarzen Dings, der Verdacht, es gar selbst zu „haben“, verlegt die Grundlage des Urteilens ins Feld des Phantasmas. Jeder einzelne der drei Gefangenen mit weißer Scheibe muß in dieser Situation zweimal zögern (um das zu unterstellen, was er nicht ist) und simultan doppelt bejahend zweimal das Zögern der anderen beiden 7

Die „Zeit des Verstehens“, die nicht chronologisch meßbar ist, wartet auch bezüglich der von Nietzsche in die Welt gesetzten Botschaft des Gottestodes noch auf ihre Ankunft: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden.“ (KSA, FW 3, 480)

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beobachten, um sich deren Denken, welches das Denken des Gesetzgebers, des Gefängnisvaters gewesen sein wird, zu verinnerlichen. Im konklusiven „Moment des Schließens“ können dann alle drei Gefangenen zeitgleich aufstehen und „in Hast“ (um nicht gegen ihre bessere Signifikanten-Gewißheit zurückzubleiben8) ihren Grund der Freiheit nennen. So sehr schon die reale Umsetzung dieser Spielanordnung für Unzeitgemäßheiten sorgen würde, so ist doch logisch sogar eine Ausweitung auf mehr als drei Gefangene denkbar – solange es bei nur zwei Typen: schwarz und weiß (fort und da) bleibt, ist der Dritte im Grunde keiner der Gefangenen, sondern der Gefängnisvater, der mit seinem Amnestieversprechen überhaupt erst einen Grund zum schlußfolgernden Denken lieferte. Wer eine weiße Scheibe hat und nicht richtig schließt, oder wer eine schwarze hat, und trotzdem bluffend aufspringt, muß Angst vor der Sanktion des Gefängnisvaters haben, der dem Gesetz der Freiheitserlangung gewissermaßen ein Gesicht gibt – auch wenn er im Augenblick der Übermittlung seiner frohen Botschaft schon gar nicht mehr leben sollte. Die Kernkompetenzen der Gefangenen erweisen sich dabei als identisch mit denen des Gläubigen: das Phantasma der Strafe bei fehlerhaftem Schließen wäre das des Zwangsneurotikers, das reduktive Sehen der Farben schwarz und weiß am anderen Menschen das des Psychotikers – und wer sich dem entziehen will und nicht an den Vater glauben möchte oder nur mit seinem eigenen Spiegelbild umgehen kann, wäre pervers. Der gottvatergleiche Gefängnisdirektor ist in Lacans Vokabular ein „symbolischer Vater“: einer der „Namen-des-Vaters“. Dieser ist jedoch auf andere Art und Weise tot als Nietzsches Gott, war nie mehr als Unterstellung, nur als Referenzadresse bzw. als „Signifikant des Begehrens“ existent. Auf ihn zielt die These, daß paradoxerweise sogar er selbst noch nichts vom allgemein gewordenen Obduktionsbefund wissen muß. Solange die Schlußfolgerung noch nicht bei ihm ankam und das Wissensereignis um das auch ihn treffende Gesetz noch unterwegs ist, wird sein Leben wenigstens symbolisch bzw. grammatisch erhalten, in anderen Worten: er darf untot im Status des Verdrängtseins überleben. „Gott ist unbewußt“ lautet daher Lacans Korrektur an 8

Der Signifikant bildet gewissermaßen die Gewißheitsbrücke über den Abgrund, den er „selbst aufgerissen hat.“ (Raymond Borens, „Unser Vater/Vater unser“, in: Frank Dammasch und Hans-Geert Metzger (Hrsg.), Die Bedeutung des Vaters, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2006, S. 88 – 103, hier S. 95).

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Nietzsches Formel des Atheismus. Gut in Szene gesetzt findet sich dieses Wissen des Unbewußten in den Verfolgungsjagden bei Tom und Jerry, wo es immerhin auch um Leben und Tod geht, die hastende Flucht jedoch ohne an Höhe zu verlieren über den Abgrund hinaus weitergehen darf – bis die Gesetze einer größeren Macht erinnert werden und der Absturz in ein neues Leben erfolgt.

Die Drei und die Wiederkehr Meint Nietzsche etwas dieser Vorstellung Ähnliches, wo er von drei Gestalten des Geistes spricht? Für die erste Zeit setzt er den „tragsamen Geist“ an, der durch ein Kamel repräsentiert wird und sich kritiklos den kursierenden moralischen Geboten unterstellt – sei es der Dekalog, der von Nietzsche vor dem gleichen Hintergrund beargwöhnte kategorische Imperativ oder aber das Versprechen eines Gefängnisdirektors. Nietzsche fragt nach der Autorität des Gesetzgebers, forscht nach den Gründen, mit denen sich jener vom Zwang dispensieren möchte, Gesetzesgehorsam zu leisten und mit der Herde zu schlußfolgern. Er vermutet, daß das Sollen von einer geschichtlich frühen Pervertierung des menschlichen Denkens herrührt: wo sich keine sichtbaren Signale der Auserwähltheit ausfindig machen ließen, wurde gewissermaßen ein Nullzeichen (das Transzendenzparadigma) an ihre Stelle gesetzt und das Schweigen der Natur als Grund der eigenen Beredtheit und Besonderheit genommen. Gott wäre in diesem Fall zwar je schon tot, kann aber als Garant dieser Praxis (und als Garantie der Macht der Moralingenieure) nach Vorbild des Vaters eingesetzt werden. Nietzsche, der der Drei sehr zurückhaltend begegnet, sieht diese an einem Mangel orientierte Idee aufgrund von fehlgeleiteten Gottesvorstellungen der Spätantike erstarken. Genealogisch gesehen, drücke sich in ihr der natürliche Tod der Tragödie aus, der ein Machtvakuum hinterläßt, das ein Sokratismus ausfüllen wird, dessen Übergewichtung des apollinischen Prinzips der „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ im Christentum auf die Spitze getrieben wird, wo das mangelabwehrende Schließen auf einen transzendenten Vater zum Gesetz wird. Ein solcher passiver Nihilismus führt in die „Wüste“, die dem tragsamen Geist sein „heiliges“ Sollen bald der Sinnlosigkeit preisgibt und ihn einen Widerwillen ausbilden läßt, der das unterwürfige Kamel in einen Löwen verwandeln wird. Der psychische Mechanismus der

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Abhängigkeit wird sich dabei jedoch nicht verändert haben. Freuds Verneinungsbegriff beschreibt etwas Ähnliches, wo das Negationszeichen zunächst helfen kann, Ballast aus dem Bestand des Verdrängten loszuwerden, indem es in der Form des Dementi publik, intersubjektiv und Gegenstand intellektueller Spielerei werden kann, jedoch letztlich als affkektiv-unbewußtes Ressentiment weiterhin das Subjekt blockiert. Die vom Löwenherz eroberte Freiheit mündet in einen neuen Zwang zum korrekten Schlußfolgern unter neuen, erst nach einer Zeit des Verstehens erkannten Gesetzgebern, von denen keiner je die ganze Wahrheit sagen wird. Stets bleiben manche Scheiben unrepräsentiert, stets ist auch der vermeintlich eigene Wille gezwungen, an ein Ungesagtes, an einen „Signifikanten“ zu glauben. Einzig auf der Aktiva-Seite zu verbuchen bleibt, daß das „Ich will“, welches das „Ich soll“ ablöst, sich mit dem Gedanken anfreundet, selbst eines dieser Gesichter des Gesetzes werden zu können. Hier gibt es einen entscheidenden Bruch zwischen Nietzsche und Lacan. Bei Nietzsche muß sich der verbissene Löwe in ein Kind verwandeln, um die Disposition des Ressentiments und der Rache an der Zeit zu einer positiven, kreativen Freiheit zu überwinden. Das Kind, „ein aus sich rollendes Rad“, ist die finale Geistesgestalt, die den von Nietzsche favorisierten „aktiven Nihilismus“ repräsentieren darf, dessen Zeitform die ewige Wiederkehr des Gleichen wäre. Wo es zwar auch zuvor letztlich eine kreisförmige Abfolge von Aufstieg und Fall der Gesichter des Gesetzes gab, jedoch stets die paternal garantierte Finalität einer Verbesserung hineingedichtet wurde, will Nietzsche gänzlich auf die Annahme eines Gefängnisvaters verzichten. Von da an wäre das Begehrensobjekt nicht weiter ein transzendentes Ding, das man zum Genuß begehrt, faktisch aber bis auf weiteres nach seinem Gesetz handelt und Distanz hält. Vielmehr werden die beiden Pole, das „Ich will“ und das „Ich soll“ in Nietzsches dritter Zeit ersetzt durch ein unabhängiges „Ich bin“, ausgesprochen von einer Geistgestalt, die nicht mehr von der vorigen Generation, nicht von Erwachsenen abhängt. Genau an diesem Punkt, zeigt sich die Differenz des Modells der zirkulären und des der logischen Zeit: zwar meint auch Nietzsche keine Wiederaufnahme einer früheren Zeitstelle bzw. Ursache, hat keine Regression, keine ,Père-version’9 im Sinn, sondern zielt auf eine autonome Neugründung der paternalen Bindung im Sinne eines Sich9

Lacan schreibt die Perversion in Nietzsches Sinne einer einseitigen Wendung zur Strafinstanz wie hier gelegentlich als „Vater-Entropie“.

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selbst-Vater-Seins. Allerdings geht er dabei wie Dostojewski und ganz im Gegensatz zu Lacan von der (zwangsneurotischen) Position aus, daß, wenn Gott bzw. der Gefängnisvater tot wäre, alles erlaubt sei. Sein aktiver Nihilismus überwindet jenen der erzwungenen, nur sogenannten Freiheit, der den Gefangenen aus Lacans Modellsituation und ähnlich auch den Gläubigen des Christentums versprochen wird, indem er die Option eines gänzlichen Auslöschens der Spur des Fremden in der Tradition der Gefängnisväter stark macht. Nietzsches Alternative eines „ehrlichen Atheismus“ will nicht nichts (etwa dem Versprechen des Gefängnisvaters entfliehen), sondern will dieses Nichts, will rückwärts, will sein eigener Gesetzgeber gewesen sein. Die azephalische Ausnahmeposition, wie ein Träger einer schwarzen Scheibe (deren Pointe darin besteht, nie realiter eingesetzt zu werden) befreit von der ihm nutzlosen symbolischen Vaterbindung zu sein, soll dennoch alle und ihn selbst nach väterlicher Vorgabe denken lassen. Man könnte es auch so sehen: seinen Wunsch, sich selbst Vater zu sein, erfüllt sich Nietzsche durch eine Streichung der Appelldimension im intersubjektiven Semioseprozeß. Dem würde Lacan widersprechen. Sofern bei ihm der Moment des Schließens und des Die-ganze-Wahrheit-Sagens zusammenfällt mit der Realisierung der Freiheit des unterstellten Vaters, erweist sich jene als Wiedereinsetzung des Platzhalters, der aufs Neue die gruppendynamisch unter Glaubensbrüdern erarbeitete Wahrheit als Ursache spaltet. Wo Lacan vom unbewußten Gott spricht, meint er mitnichten die befreienden, sondern die eine Verschärfung der Haftbedingungen befördernden Konsequenzen des gemeinsamen Gottvatermordes. Nietzsches Hoffnung, sich selbst einen Vater „anzuschaffen“, die Leere im Anderen, den widerlegten „Vater in Gott“ durch eine Schöpfung aus sich heraus zu kompensieren, würde Lacan skeptisch begegnen. Zu voller Präsenz käme der Vater bei ihm erst in der Psychose, wo das Gesetz des Symbolischen bzw. die Referenz auf den Mangel positiviert zur realen Kastration würde, wo also die Gesetzesgläubigen gewissermaßen den Kater Tom abstürzen ließen, um daraufhin selbst nicht mehr der Erdanziehungskraft gehorchen zu müssen.

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Die Finalität der Drei im Vergleich Der Zwang zum gesetzesgemäßen Leben wurde im Christentum oft aus der heilsgeschichtlichen Entwicklung von Zeitaltern entwickelt, deren dritte Stufe bisweilen nur einer Glaubenselite erreichbar sein soll. Dieser Ablauf kann durchaus mit den trinitarisch entfalteten drei Hypostasen Gottes parallelgeführt werden. So spricht etwa Joachim de Fiori von einem Ineinander der „Zustände“, die der Temporalisierung in einen seit Christi Geburt vergangenen Vaterstatus, einen gegenwärtigen Sohnstatus bis zu ihm selbst ins 13. Jahrhundert, und einen von da an ewig währenden Status des Heiligen Geistes nicht widersprechen müssen. Joachims Dreizeitentheorie wie auch viele Apokalypse-Theorien des 16. Jahrhunderts setzen überdies noch eine Zwischenphase an, um den Übergang vom zweiten zum dritten Zeitalter zu sichern, für welchen die Überwindung des Antichrist angesetzt wird. Modell einer solchen Hilfe zum Übersetzen hin zur Transsubstantiation sind die „zwei Zeugen“ des elften Kapitels der Offenbarung, gewissermaßen zwei tatsächlich wie wilde untote Götter sichtbare schwarze Scheiben. Sie haben „die Macht, den Himmel zu verschließen“ und die im symbolischen Leben wirkende Kraft des heiligen Geistes all jenen zu entziehen, die keine Ohren haben, das Ankommen ihrer Nachricht zu hören.10 Denn das Schicksal der Träger des Nicht- oder Null-Zeichens war es, das Zeichen, das gemäß des letzten Zarathustra-Kapitels kommen soll, zu unterstellen, um es sich fernzuhalten und sich mittels einer lebenslänglichen Askese zu profilieren. Bis zur Formalisierung des Vatergesetzes in der Form des Sozialen bzw. bis zum Tode Gottes setzt die Religion stark auf die Sichtbarmachung des Phantasmas: Jesus und sein heiliger Vater nehmen gewissermaßen die erste Rolle des Doppel-Schwarz als „Zeugen der Wahrheit“ ein. Übertragen auf die Ontogenese, die individualpsychologische Entwicklung, bildet die nach dem Eingehen in den heiligen Geist neu berufene Doppelstütze des Verstehens bei Lacan der Analytiker, der als Aufwerter des punktuellen Wiederholens der angeeigneten und doch fremdgebliebenen Gründung fungiert, für Nietzsches Projekt der Wertezerstörung wären es die anti-christlichen Übermenschen. Lacan weist auf die etymologische Verwandtschaft des Zeugen zum 10 „Ohren haben, zu hören“ ist eine biblische bzw. in vielen Religionen ähnlich zu findende Formulierung, die sowohl von Nietzsche als auch von Lacan häufig aufgegriffen wird.

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Märtyrer hin und nennt den Psychotiker einen „Märtyrer des Unbewußten“ – wie stets, wo eine symbiotische Zweierbeziehung die Gefahr eingeht, der Wahrheit einer ,folie à deux’ anheimzufallen. Allerdings sind das Verstehen und Schließen, welche zum sozialen Erfolg ebenso gehören wie zum verheißenen Eintritt in die Geistgemeinschaft, kriterial nicht leicht zu fassen. Das Scheibenmodell zeigte, daß sich den Gläubigen eines Mythos’ nicht aktualisierter Schwarzelemente allein das Nullzeichen (ein asketischer Nicht-Akt) zu Erkennen gibt. Auch der Schritt von der Couch zum Sessel, von der Verdrängung zur Sublimierung, meint eine Revolution der Einstellung zum unbewußten Gottvater, die aber prinzipiell auch vorgetäuscht werden könnte. Damit ist der Unterschied zwischen empirischem bzw. verdrängendem und transzendentalem bzw. sublimierendem Subjekt gemeint. Der zukünftige Analytiker (bei Lacan ein sogenannter ,passant’ bzw. Initiand), zunächst Effekt der Sprachwirkung einer Frohen Botschaft (der Message als aktualisierte Signifikantenanordnung der drei weißen Scheiben), will selbst Ursache werden, will sagen können „Ich weiß“ – was im Scheibenmodell nur heißen kann: „Ich bin weiß“. Lacan behauptet, daß sich der Analytiker selbst autorisiert und somit auf die Prüfung durch eine väterliche Kommission verzichtet, dennoch setzt er an ihre Stelle die initiatorische Prüfung der ,passe’. Sie sieht vor, daß der Aspirant seine innere Revolution in einer angemessenen Zahl von Einzelgesprächen zwei ,passeurs’ bzw. Zeugen mitteilt (das Ankommen der Nachricht, das Ende der Analyse kann jeder der drei – ganz wie im Scheibenmodell – gewissermaßen durch bloßes Aufstehen bestimmen). Die „Zulassungsjury“, ein weiteres, sozusagen „letztes Gericht“, erfährt anschließend von dieser Präsentation – jedoch allein durch die beiden im Zufallsverfahren ausgewählten Zeugen. Aus deren Aussage sollen sie wie der Gefängnisvater im Modellversuch so sichere Schlüsse ziehen können, als hätte die Wahrheit selbst, die Nachricht eines herauspräparierten transzendentalen Subjekts zu ihnen gesprochen. Wenn Nietzsches Zeit des aktiven Willen-zur-Macht nicht als Ablösung, sondern als Verstärkung der Askese verstanden wird, so trifft auch auf den dem Reglement der ,passe’ unterworfenen Aspirant das ÜberichParadox zu, daß man um so unfreier wird je (un)gehorsamer man ist. Denn nur wenn sich das Begehren nach einer dinghaft wirklichen Freiheit überträgt, wird bei der Jury (wie im Modell beim Gefängnisvater) nach Zwischenschaltung von Zeit und Person ankommen, daß das Begehren es vermochte, „die Kontingenz des Vergangenen neu zu

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ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünftigen Notwendigkeit gibt“.11 Viele Autoren betonen die Nähe der Sublimierung des Analytikers zur Psychose, von der Lacan behauptete, sie sei ein Märtyrertum, eine direkte, passive Bezeugung der unbewußten Autorität. Und tatsächlich wird die Sublimierung nuanciert als eine distanzierte Überhöhung, als ein ironisches Ernstnehmen solcher Märtyrer. Nietzsches Lehre der „großen Gesundheit“ entwickelt sich in Löwenmanier an einem paternal konturierten Gegner: dem christlichen Zeitmodell eines Anfangs im selbst vorgängerlosen Vater12, einer sich in der Zeit entfaltenden Geschichte und schließlich einem messianischgerichtlichen Ende aller Zeiten, worin die Materie im väterlichen Geist aufgehoben wird. An die Stelle der dritten Zeit des Christentums, die er als Fluchtpunkt einer Versklavung der Massen versteht, setzt Nietzsche die Zeitform der ewigen Wiederkehr. Seine zwischen dem dionysischen Urstand, der darauffolgenden Pervertierung der Götter bis hin zum finalen Tod eines einzigen Gottes aufgespannte Geschichtslinie ist einer Krümmung unterworfen, würde immer wieder zurückkommen – bis ins kleinste Detail, ohne Variation des Ablaufs. Der Mittag, der die lineare Geschichte mitsamt ihren Jenseitsphantasmen vom zirkulären Zeitmodell trennt, erzwingt, sobald er in den Köpfen prädestinierter neuer Zeugen, Neuer Menschen, angekommen sein wird, einen Neubeginn des Kalenders. An einem solchen Mittag wird die Eins zur Zwei, in der die Drei aufgehoben ist. Nietzsches amor fati, das doppelte Ja zu Jetzt und Wiederkehr, ist strukturiert wie das Futur anterior, es formuliert sich als „Ich werde dies gewollt haben“. Was im Zeitalter des passiv nihilistischen Ressentiments verloren ging, ist keineswegs eine Differenz zwischen Schwarz und Weiß, sondern eine Differenz innerhalb des als proto-weiß unterstellten Verteilers der Farben, wie er einst selbst seine Farbe festsetzte. Zwar gibt es keine Metasprache, aber das jedes Urteil unsichtbar begleitende „Es 11 Jacques Lacan, „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“ (1953), aus dem Französischen übersetzt von Klaus Laermann, in: ders., Schriften I, herausgegeben von Norbert Haas, Olten: Walter 1973, S. 71 – 170, hier S. 95. 12 Seine Macht rührt von einer – mit Walter Benjamin zu sprechen – „göttlichen Gewalt“: dem mystischen Grund der Autorität der Gesetze, die im Augenblick ihrer Errichtung selbst eine reine Gewalt gewesen sein müssen. Daß ihr Subjekt transzendental: völlig interesselos sei, ließ Kant in Bezug auf den Monarchenmord schaudern.

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ist wahr, daß…“ bezeugt die bei Nietzsche wie auch bei Lacan unterstrichene strukturelle Identität von Wahrheit und Weiblichkeit.13 Die Wahrheit, die eine Frau wäre, situiert sich jedoch jenseits des „Ein“, zu dem sie das männliche Begehren, für das nach Lacan auch tatsächlich ein Geschlechterverhältnis existiert, machen will. Erst die Bejahung des Gesetzes als frei (bzw. „weiß“) gegebenem Anderen – garantiert durch die implizite, selbstspaltende Meta-Aussage der Wahrheit „Es ist wahr, daß…“ (und nicht durch einen „Anderen-des-Anderen“) – ermöglicht auch die via Unterstellung bejahte Geisterexistenz des Nullzeichens „Doppelschwarz“, das die Ursache eines weiß „seienden“ Subjektes gewesen sein wird. Während der Verdopplung des Zögerns referiert man auf beides: Unterstellen und selbstspaltendes Unterstellensunterstellen entsprechen so der freiheitsstiftenden Logik einer doppelten Herkunft: als Vater (ein nur „zum Vorübergehen bestimmtes Wesen“) bereits gestorben zu sein, als Mutter aber noch zu leben und alt zu werden.14 Dem Auslöschen des Täters im Prozeß seiner Selbstzeugung als Signifikant (ein „Name-des-Vaters“) entspricht die begleitende, stets wiederkehrende „unsühnbare“ Tat einer reinen (mütterlichen) Gewalt. So ist es gewissermaßen die Semiose, die das Hineindichten eines Subjekts effektuiert, welches die Gottvaterposition entweder usurpiert oder sich ihr unterwirft. Es scheint, dass man ohne die Annahme von weiteren unsichtbaren Scheiben, ohne die Reduktion von Personen auf Scheiben und auf ihre moralisch bzw. vielmehr machtpolitisch gewordene Qualität dem klaustrophobischen Engegefühl in den Gefängnismauern entkommen und eigene Münzen prägen, neue Werte setzen könnte. Lacan dagegen bekennt offen, daß es ihm in der Kur nur um einen Umtausch der Symptome, nicht um die Neuprägung der „Neurosenwahl“ geht, denn keine Neubestimmung der Modalitäten der Wiederkehr kann darauf verzichten (dies ist eine Art regulative Idee der Psychoanalyse), in der Intersubjektivität einen Gefängnisvater zu un13 Dieses Beispiel ist einem lacanianischen Nietzsche-Buch entnommen: Alenka Zupancˇicˇ, The shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two, MassachusettsLondon: The MIT Press 2003, S. 143. 14 Inwieweit sich Nietzsche und Lacan, wenn die Motivation zum Denken im Dreischritt vom Vater herrührt (und ein Begehren: eine dem Futur anterior gleichkommende Antizipation verursacht), die operative Umsetzung aber mütterlich besetzt ist, nur in der Interpretation der Geschlechtszuschreibungen unterscheiden (Nicht-Existenz des Geschlechterverhältnis vs. doppelte Herkunft), kann hier nicht erörtert werden.

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terstellen und seinen Gesetzen zu folgen. Der Untertitel der Theorie der logischen Zeit lautet entsprechend: „Ein neues Sophisma“. „Sophistisch“ daran ist, daß man wissen kann, daß nur transzendentale Subjekte exakt gleich schnell ihre Ziele verfolgen, exakt gleich schnell aufstehen und exakt gleich begründen. Letztlich bleiben alle, auch die sublimierenden Analytiker immer etwas verspätet. Es gibt sozusagen keine drei Subjekte, die je zeitgleich irgend etwas dem Status der Gewißheit zuführen könnten. Verdrängend glaubten sie viel zu wissen, sublimierend aber wissen sie um den Unterstellenscharakter dieses Wissens, spüren die Ungerechtigkeit, faktisch weiter im Modus der drei Zeiten und des Syllogismus zu leben. Wer neue Gesetze festlegen will, braucht wieder mindestens zwei Zeugen. Nietzsche dagegen sublimiert nicht, er bejaht und begegnet den Zuckungen und der neurotischen Hast der anderen zynisch, nicht ironisch. Er tat dies vielleicht in der Hoffnung, auch ohne Zeugen einem solchen psychosenahen Hanswurst-Typus immer öfter wieder begegnen zu können, so oft, daß die Menschheit irgendwann nicht mehr aus Tieren bestehe, die sich selbst feststellen wollen, sondern aus Übermenschen, die lachen, tanzen, parodieren, zerstören – um schließlich eine dionysische Gemeinschaft ewig schweigender Kinder zu bilden.

„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“ Zur Auseinandersetzung mit der französischen Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung Ernani Chaves Ab Januar 1931 übernimmt Max Horkheimer offiziell die Leitung des Instituts fr Sozialforschung, das der Universität Frankfurt angegliedert ist, wo er Professor für Sozialphilosophie geworden war. Das bedeutete nicht nur eine Veränderung in der organisatorischen Leitung des Instituts, vielmehr hauptsächlich seiner theoretischen Perspektive, die sich die Idee eines interdisziplinären Forschungsprogramms zur Grundlage machte, wo sich Philosophie, Psychoanalyse, Soziologie, Wirtschaft und eine Reflexion der Künste gegenseitig ergänzten. Die Gründung der Zeitschrift fr Sozialforschung mit halbjährlichem Erscheinen war ein wichtiger Teil dieser Veränderung. Die erste Ausgabe der Zeitschrift wurde im Sommer 1932 vom Verlag Hirschfeld aus Leipzig veröffentlicht, der auch das Archiv fr die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung unter der Institutsleitung des Historikers Carl Grünberg herausbrachte. Auch wenn die zwei Zeitschriften das gleiche visuelle Äußere aufwiesen, unterschieden sie sich beträchtlich, was die inhaltliche Anordnung betraf. Die Zeitschrift setzte sich grundlegend aus Artikeln und Rezensionen zusammen. Die Artikel wurden vorzugsweise von Institutsmitgliedern verfasst, während die Rezensionen auch von Gästen geschrieben werden konnten, und sie wurden nach verschiedenen Wissensgebieten geordnet in Abschnitten gliedert, die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geschichte, Wirtschaft und Literaturkritik umfassten. Nach Alfred Schmidt „gehört [die Zeitschrift] zu den großen Dokumenten europäischen Geistes in diesem Jahrhundert“1 und 1

Alfred Schmidt, „Die Zeitschrift fr Sozialforschung und Gegenwärtige Bedeutung“, in: Zeitschrift fr Sozialforschung. Photomechanischer Nachdruck mit Genehmigung des Herausgebers, München: Kösel-Verlag 1970, S. 5 – 63, hier

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sie unterschied sich von anderen wissenschaftlichen Zeitschriften dadurch, daß sie „ein einheitliches Programm [verfolgte], ohne daß deshalb die individuellen Neigungen und Interessen der Mitarbeiter oder gar die Wissenschaftlichkeit des Anspruchs im mindesten geschmälert worden wären“.2 Aufmerksam auf die schwerwiegenden Konsequenzen der Machtergreifung Hitlers achtend, sorgte Horkheimer unverzüglich für das Überleben der Institution. Noch im Februar 1933 richtete er eine „Societé Internationale de Recherces Sociales“ und gleich darauf zwei Vertretungen des Instituts im Ausland ein: eine in Paris, im Centre de Documentation de l’École Normale Supérieure, geleitet von Celestin Bouglé, Schüler von Durkheim, und eine andere in London im Le Play House des Londoner Institute of Sociology. Die Ereignisse rechtfertigten den Weitblick Horkheimers: am 13. März 1933 besetzte und schloss die Polizei den Institutssitz in Frankfurt. Auch wenn der administrative Sitz des Instituts sich in Genf befand, übernahm das Büro in Paris zweifellos die wichtigste Rolle in den Immigrationsjahren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, und zwar aus drei Hauptgründen: 1) weil sich der neue Verlag des Instituts in Paris befand, die angesehene Libraire Felix Alcan, der die Zeitschrift zu veröffentlichen begann; 2) weil dort die Ergebnisse der international finanzierten empirischen Projekte des Instituts zusammenflossen und schließlich 3) weil es sich zu einem Vorposten des Instituts in Europa verwandelt hatte.3 Die Libraire Felix Alcan übernimmt den Druck und die Verwaltung der Zeitschrift ab der vierten Ausgabe, die im Herbst 1933 veröffentlicht werden sollte, nachdem Hirschfeld, der deutsche Verlag, Horkheimer mitgeteilt hatte, daß er in Anbetracht der neuen politischen Lage kein Risiko mehr eingehen könne. Dem Vertrag mit Felix Alcan entsprechend, sorgte das Institut für 300 Abonnements, während sich der Verlag für den Druck von 800 Exemplaren und weiteren 50 Mustern

2 3

S. 5. – Alle Zitate aus der Zeitschrift werden im Folgenden mit den Sigel ZfS gekennzeichnet, gefolgt von der Ausgabe, dem Jahr und der Seite. Schmidt, Die Zeitschrift fr Sozialforschung. Geschichte und Gegenwrtige Bedeutung (Anm. 1), S. 5. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, 2. Aufl., München: DTV 1989, S. 153 ff. und noch im Hinblick darauf Brief von Horkheimer an Sébastien Charléty, Historiker und zu dieser Zeit Rektor der Universität zu Paris, vom 21. Juni 1933, in: Max Horkheimer, Briefwechsel 1913 – 1936, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 15, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 108.

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für Werbezwecke verpflichtete. Darüber hinaus bürgte der Verlag für die Weiterführung des Geistes der Zeitschrift „als wissenschaftliches Organ in deutscher Sprache“4 entsprechend den Worten von Horkheimer im Vorwort der zweiten Nummer von 1933, d. h. der ersten, die von Felix Alcan veröffentlicht wurde. Der Leiter des Pariser Büros war bis 1936 Paul Honigsheim, Assistent des Soziologen Leopold von Wiese, einem der Gründer der Deutschen Gesellschaft fr Soziologie. Honigsheim leitete vor der Emigration die Volkshochschule in Köln.5 Die Ausgaben der Zeitschrift, die von Felix Alcan im Zeitraum zwischen 1933 und 1940 veröffentlicht wurden, erlauben es uns bei aufmerksamer Lektüre, die intensive Debatte um das Denken von Friedrich Nietzsche zu verfolgen, das aufgrund seiner Vereinnahmung durch das nationalsozialistische Denken bereits im Vordergrund damaliger philosophischer Kontroversen stand. An dieser Auseinandersetzung beteiligten sich alle berühmten Mitglieder des Instituts, wie Horkheimer, Adorno, Benjamin und Marcuse und wichtige und einflußnehmende Mitwirkende wie Karl Löwith und Paul Honigsheim selbst. Im Band III von 1934, zum Beispiel, veröffentlicht Honigsheim eine Rezension mit dem Titel „Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littérature française“, wo er einige Beobachtungen in Bezug auf die französische Rezeption der drei zitierten Autoren anstellt. Die Präsenz Nietzsches wird dadurch gerechtfertigt, daß seine Ideen – vorweggenommen durch die Gedanken Luthers und der Romantik – das der „civilisation française“ so wertvollen „ideal rationaliste“ in Frage stellen. Im Anschluss stellt Honigsheim auf eine sehr synthetische Art zwei Bücher von Geneviève Binaquis,6 eine Biographie geschrieben von Félicien Challaye,7 das bekannte Werk von Th. Maulnier8 und das Buch von Louis Vialle9 vor und schließt seine Rezension mit dem Hinweis auf die Gemeinsamkeit all dieser Werke trotz ihrer Unterschiede ab: 1)

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Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung (Anm. 3), S. 153. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung (Anm. 3), S. 153. Geneviève Binaquis, Nietzsche en France, Paris: Felix Alcan 1929 und diess., Nietzsche, Paris: Les Èditions Rieder, ohne Jahresangabe. Félicien Challaye, Nietzsche, Paris: Libraire Melotté, ohne Jahresangabe. Thierry Maulnier, Nietzsche, Paris: Libraire de la Revue Française 1933. Louis Vialle, Dtresses de Nietzsche, Paris: Felix Alcan 1933.

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Es gebe etwas „constant“10 im Werk Nietzsches trotz der offensichtlichen Variationen und 2) die Position von Nietzsche sei nicht nur „destruktiv“, sondern auch „affirmativ und aus diesem Grund könnten sowohl die „catholiques“11 als auch die „glorificateurs du nationalisme“ ihm folgen. Genau aufgrund dieser zwei Charakteristiken könnte Nietzsche, nach Honigsheim, beim „milieu du pays classique des droits de l’homme“12 Erfolg gehabt haben. Herbert Marcuse rezensiert seinerseits im Band VIII von 1938 zwei Bücher über Nietzsche, die von Heinrich Härtie13 und Georg Siegmund14. Marcuse betrachtet das Buch von Härtie als „eine offizielle Zusammenstellung“,15 die die Verwandtschaft zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus bestätigen sollte. Wenn einerseits das Buch von Härtie von anderen mit ähnlicher Thematik in dem Maß abweicht, wie es die sich widersprechenden Positionen Nietzsches nicht verbirgt, so erzeugt es allerdings andererseits „eine verkehrte Deutung“, da er die Texte aus ihrem Kontext herausreißt: „So soll Nietzsches Kampf gegen den Antisemitismus nur eine veraltete Form des Judenhasses meinen, seine Absage an die Deutschen nur eine zu überwindende Form des Deutschtums treffen, aus höchstgespannter Liebe kommen usw.“16

Das Buch von Siegmund allerdings, auch wenn es als „kleine katholische Schrift“ bezeichnet wird, zeigt, daß der Autor „keine falsche ,Rettung’ [will]“: „Er versteht den starken Einfluss Nietzsches aus der Affinität seines AntiChristentums und Atheismus zu einer von allem echten Bindungen losgerissenen, blind individualistischen Zeit.“17

10 Paul Honigsheim, „Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littérature française“, in: ZfS, III, 1934, S. 414. 11 Honigsheim, Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littrature franÅaise (Anm. 10), S. 414. 12 Honigsheim, Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littrature franÅaise (Anm. 10), S. 414. 13 Heinrich Härtie, Nietzsche und der Nationalsozialismus, München: Frans Eher Nachfolger 1937. 14 Georg Siegmund, Nietzsche, der Atheist und Antichrist,. Paderborn: BonifaciusDruckrei 1937. 15 Herbert Marcuse, „Besprechung“, ZfS, VII, 1938, S. 226 – 227, hier: S. 226. 16 Marcuse, Besprechung (Anm. 15) S. 227. 17 Marcuse, Besprechung (Anm. 15) S. 227.

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Wir beschränken uns hier für eine genauere Analyse auf die französische Nietzsche-Rezeption mit dem größten Echo auf Seiten der Zeitschrift: Es handelt sich um die harsche Kritik am Nietzsche-Buch Jaspers. Diese Kritik weist schließlich auf die französische Zielgruppe der Anhänger der Frankfurter Schule hin: die Gruppe um Jean Wahl und die Zeitschrift Recherches philosophiques.

Das Echo der „existentiellen“ Nietzsche-Interpretation durch Karl Jaspers in Frankreich Im Anschluss an die Veröffentlichung des Buches von Karl Jaspers Nietzsche, Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens (1936) veröffentlichte Jean Wahl eine Buchrezension in der Zeitschrift Recherches philosophiques, deren Gründung und Leitung er unterstützt hatte.18 Die Stellung von Jean Wahl im inneren Zirkel der französischen Rezeptionsgeschichte wird von Jacques Le Rider hervorgehoben, für den er „un des premiers à traiter de Nietzsche avec le même sérieux que de Hegel ou de Kierkegaard (auxquels il consacra des ouvrages)“19 war. Die Bedeutung dieser Ansicht ist hervorzuheben: Sie betrachtete Nietzsche als „Philosophen“, eine in der damaligen Zeit nicht sehr weit verbreitete Position. In dieser Rezension hebt Wahl, neben dem Lob für das Jaspers-Buch die Präsenz Nietzsches in der Gesamtheit des bis dahin veröffentlichten Werkes Jaspers’ hervor und schlussfolgert: Nietzsche werde, neben Kierkegaard, zu einem Gründer der „Existenzphilosophie“. Als erst 1950 die französische Übersetzung des Jaspers-Buches erschien, wurde Wahl gebeten, ein Vorwort zu verfassen. Er schrieb es in Form eines „Lettre-Préface“, gerichtet an Henri Niel, den Übersetzer, wo er die Grundzüge seiner Rezension aus den 1930er Jahren wieder aufnimmt. Indem er einen Satz von Jaspers selbst wiederholt, wo dieser die wachsende Bedeutung Nietzsches und Kierkegaards für das Verständnis der „situation philosophique présente“ mit nachteiliger Wirkung für Hegel und seine Nachfolger (hier lese man Marx und den Marxismus), bekräftigt Wahl: 18 Jean Wahl, „Le Nietzsche de Jaspers“, Recherches philosophiques, Band VI, 1936 – 1937, S. 362. 19 Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe. Sicle au temps prsent. Paris: PUF 1999, S. 183.

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«Il s’agirait donc avant tout de prendre conscience de ces deux événements philosophiques que constituent Nietzsche et Kierkegaard, sans jamais les séparer l’un de l’autre, chacun d’eux ne prenant, comme on pourra le montrer, toute sa signification que par sa relation et par son opposition avec l’autre».20

Indessen gewinnt ein anderer Name entscheidende Bedeutung in diesem „Lettre-Préface“: der von Heidegger. Jaspers hatte noch 1917 in seinem Buch Wahrheit und Existenz darauf hingewiesen, daß Nietzsche und Kierkegaard nicht ausschließlich Produkte einer Epoche der Veränderung in der Geschichte sind, sondern gleichzeitig, wie Wahl klarstellt, das Bewusstsein von der „enorme beauté de l’époque qui va survenir“. Er schreibt: «En fait, nous sommes, pour Jaspers comme pour Heidegger, devant la fin de la philosophie occidentale de la rationalité considérée comme objective et absolue».21

Auf diese Weise nimmt die Auslegung von Jean Wahl nicht nur die Verbindung zwischen Nietzsche und Kierkegaard wieder auf, sondern auch jene zwischen Jaspers und Heidegger. Die Antworten auf Jean Wahl in der Zeitschrift erfolgen in zwei verschiedenen Ausgaben durch drei verschiedene Autoren – Löwith, Horkheimer und Adorno – die sich aber durch die gleiche Absicht ergänzen: die Kritik an der Nietzsche-Rezeption unter Rückbeziehung auf die „Existenzphilosophie“ und das Bewusstsein der Notwendigkeit, Nietzsche mit der „Aktualität“ in Beziehung zu setzen. Die zwei ersten Antworten erscheinen im Band VI der Zeitschrift von 1937, wo sowohl Löwith als auch Horkheimer über das Jaspers-Buch schreiben; die dritte findet sich im Band VIII von 1939: die Adorno-Rezension des WahlBuches über Kierkegaard, die schon in New York erscheint. Indessen ist es wichtig zu erinnern, daß im gleichen Band der Zeitschrift fr Sozialforschung, in dem die Kritiken am Jaspersbuch erscheinen, zwei Rezensionen über spezifische Ausgaben der Recherches Philosophiques veröffentlicht werden: Eine ist von Walter Benjamin geschrieben und bezieht sich auf den Band IV der Recherches von 1934 – 1935 und die andere von Raymond Aron bezüglich Band V von 1935 – 1936. Beide Autoren weisen auf die enge Beziehung der Recherches mit 20 Jean Wahl, «Lettre-Préface», in: Kart Jaspers, Nietzsche. Introduction  sa philosophie, aus dem Deutschen übersetzt von Henri Niel, Paris: Gallimard 1950, S. I. 21 Wahl, Lettre-Prface (Anm. 20), S. II.

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der „deutschen Forschung“22 hin, wie Benjamin sagt, oder mit den „doctrines allemandes“,23 wie Aron herausstellt. Beide formulieren ihre Kritik auch auf sehr ähnliche Weise. Benjamin unterläßt es nicht, auf den Stellenwert von Max Scheler und Heidegger in den Artikeln über phänomenologische Einführung der Recherches aufmerksam zu machen, die von einer ontologischen und metaphysischen Anthropologie durchdrungen sind, mit Ausnahme von, so Benjamin, gerade dem Artikel von Löwith bezüglich Hegel, Marx und Kierkegaards, „die einer kritischen Haltung zu anthropologischer Philosophie förderlich sind“.24 Aron seinerseits macht auf „la confusion idéologique dont témoigne la juxtaposition de tant d’études divers par l’orientation et la qualité ne va pas sans inconvénients“25 aufmerksam und kritisiert daneben die Artikel, die „la philosophie existentielle“26 folgen – vertreten von Lévinas, Benjamine Fondane und Jeanne Hersch. Letzteren nennt er „une disciple fervente de Jaspers“.27 Wie man sehen kann, gab es sowohl von deutscher Seite, hier von Benjamin vertreten, als auch von französischer, wie uns das Beispiel von Aron zeigt, ein tiefes Mißtrauen im Bezug auf die französische Rezeption der deutschen Philosophie, die sich auf Heidegger und Jaspers beruft. Löwith seinerseits unterhielt enge Beziehungen zu Jean Wahl und seiner Gruppe. Er veröffentlichte nicht nur Artikel in den Recherches Philosophiques, 28 auch sein Buch über Nietzsche wurde von Paul Ludwig Landsberg lobend in der Recherches rezensiert.29 Sogar Wahl selbst schrieb eine Rezension über das Buch von Löwith.30 In dieser Rezension weist Wahl auf eine Distanz von Löwith zu Heidegger hin: Walter Benjamin, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 173 – 174, hier: S. 173. Raymond Aron, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 417 – 419, hier: S. 417. Benjamin, Besprechung (Anm. 22), S. 174. Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 417. Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418. Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418. Aron bezieht sich auf folgendes Buch: Jeanne Hersch, L’ illusion philosophique, Paris: Libraire Felix Alcan 1936. 28 Löwith, Karl, „L’achévement de la philosophie classique par Hegel et sa dissolution chez Marx et Kierkegaar“, in: Recherches Philosophique, Band IV, Boivin & Cia., Editeurs, Paris, 1934 – 1935 und ders., „La conciliation hégélienne“, in: Recherches Philosophique, Band V, Paris: Boivin & Cia. Editeurs 1934 – 1935. 29 Paul-Laurent Landsberg, „Comptes Rendus“, in: Recherches philosophiques, Band V, Paris: Boivin & Cia., Editeurs 1935 – 1936, S. 535 – 537. 30 Jean Wahl, „Notes“, in: Nouvelle Revue Française, Paris: Éditions Gallimard 1937, S. 792 – 793. 22 23 24 25 26 27

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«Si je comprends bien la pensée de M. Löwith, elle est celle d’um philosophe qui après avoir subi fortement l’influence de l’’existentialisme’ de Heidegger, a pris conscience de certains dangers qu’il pourrait faire courir à la pensée; M. Löwith revendique les droits de la spéculation à la fois sévère et désintéressée, telle que la concevait la Grèce. Il veut nous rappeler aus normes de la pensée en tant que théorie.»31

Das zeigt, wie groß die Wirkung des Buches von Löwith über Nietzsche sowohl in den französischen Zirkeln als auch bei Mitgliedern der Gruppe um Horkheimer war.32 Löwith beginnt seine Besprechung mit einem Satz, der den rauen Ton der Debatte und der Kritik zum Ausdruck bringt: „In Jaspers’ neuem Buch ist von Nietzsches Aktualität schlechthin nichts zu verspüren. Seine breit angelegte Einführung scheint, jenseits aller Fragen der Zeit, im reinen Äther eines allseitigen Wissens zu schweben.“33

Nach der Kritik am Fehlen einer Meinung Japsers, inwieweit Nietzsche selbst für seine Vereinnahmung durch das nationalsozialistische Denken zur Verantwortung gezogen werden könne, fasst Löwith seine Bedenken unter folgendem Aspekt zusammen: Jaspers wendet seine eigenen philosophischen Begriffe auf die Philosophie Nietzsches an und schafft dadurch schließlich eine Reihe von Mißverständnissen. Der Begriff Leben zum Beispiel wird zu einem „Existenzbegriff“, die Frage nach dem „Tod Gottes“ wird zu einer nach dem „existenziellen Anspruch“. Die Kritik Löwiths hat seine eigene Nietzsche-Interpretation zur Grundlage, die schon in seinem Buch von 1935 präsent war. Gegen die Position von Jaspers, daß die Philosophie Nietzsches von einer „schwindelerregenden Bewegung“ durchdrungen sei oder daß es sich um eine einfache „Beschwörung der Unendlichkeit“34 handele, betont Löwith deshalb, daß die Philosophie Nietzsches „ein System in Aphorismen“35 sei. Dieses werde ständig von einer zentralen Frage durchkreuzt – dem Konflikt, einerseits „jene alte, ,endliche’ Welt“ zurück haben zu wollen und andererseits sich nach einem „neuen Wozu 31 Wahl, Notes (Anm. 30), S. 792. 32 Ernani Chaves, „Nietzsche en exil: à propos de la lecture du livre de Karl Löwith sur Nietzsche (1935) par Walter Benjamin“, in: Paolo D’Iorio und Gilbert Merlio (Hrsg), Nietzsche et l’Europe, Paris: Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 2006, S. 271 – 286. 33 Karl Löwith, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 405 – 47, hier S. 405. 34 Löwith, Besprechung, (Anm. 33), S. 406. 35 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin: Die Runde 1935, S. 11.

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oder Ziel“ zu sehnen.36 Dieses System hebe nicht die Form einer „vagen Dialektik“ auf, es sei vielmehr „bestimmt durch eine dreifache Verwandlung, welche die erste Rede des Zarathustra beschreibt.“37 In einem Brief an Löwith, geschrieben am 27. Juli 1937 in New York, teilt Horkheimer mit, eine längere „Nachbemerkung“ zum Buch Jaspers’ geschrieben zu haben, was er mit der Sorge über die Wirkung des Buches in Frankreich und anderswo rechtfertigt: „Da es [das Jaspers’ Buch] in Frankreich und anderswo eine große Wirkung ausübt, wollte ich noch einige Proben seiner Darstellung mit Nietzsches Text konfrontieren, um auch im einzelnen zu zeigen, wie sich Jaspers in Sachen Juden, Franzosen, Deutschen und Nation aus der Affäre gezogen hat. Wir selbst wissen das alles recht gut, aber in anderen Ländern ist es unbekannt.“38

Horkheimer fordert demnach, Nietzsche gegen falsche Interpretationen zu schützen, was hier auch das Buch Jaspers einschließt. Die Kritik Horkheimers setzt marxistische Elemente der Kritischen Theorie voraus. Daher wird Jaspers als „Spießbürger“39 bezeichnet, der auch versucht, aus Nietzsche einen „Spießbürger“ zu machen. Das Ziel dieser falschen Auslegung sei es, Nietzsches Philosophie für die Deutschen akzeptabel und schmackhaft zu machen. Auf diese Weise folge Jaspers schließlich einer „liberalistischen Ideologie“, deren schwerwiegende theoretische, aber auch politische Schlussfolgerung es sei, daß „alle Gegensätze [der Philosophie Nietzsches] untergehen.“40 Gegen Jaspers hebt Horkheimer anfangs die Radikalität des Denkens von Nietzsche hervor; „Nietzsche hat den objektiven Geist seiner Zeit, die psychische Verfassung des Bürgertums analysiert.“41 Andererseits könne man, so unterstreicht Horkheimer, nicht vergessen, die utopischen – und gerade deshalb emanzipatorischen Elemente – anzuerkennen, die im Begriff des bermenschen enthalten sind. Horkheimer zufolge kann Nietzsche, weil er nur die Sozialdemokraten, nicht aber Marx kannte, die Zielsetzung des bermenschen als „klassenlose Menschheit“ nicht begreifen – eine Perspektive, die sich in der Sozialdemokratie langsam 36 Löwith, Besprechung, (Anm. 33), S. 406. 37 Löwith, Besprechung (Anm. 34), S. 406. 38 Max Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940 in: ders., Gesammelte Schriften, Band 16, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 202 – 3. 39 Max Horkheimer, „Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche“, in: ZfS, 1937, VI, S. 407 – 414, hier S. 408. 40 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche (Anm. 39), S. 408. 41 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche (Anm. 39), S. 408.

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verliert. Darüber hinaus bewertete Nietzsche den geschichtlichen Wert der Arbeit falsch, nämlich immer als versklavend. Aber dies verhindere nicht die Notwendigkeit „hinter seinen [von Nietzsche] scheinbar menschenfeindlichen Formulierungen“ den „Hass gegen eine von der Ökonomie beherrschten Welt“42 zu erkennen. Der Begriff vom bermensch ist die Möglichkeit für Horkheimer, nicht nur Jaspers, sondern auch die Idee zu kritisieren, Nietzsches Philosophie als eine „Vorbereitung der totalitären Gesellschaft“ anzusehen oder ihn als eine Art „Prophet von Unterdrückung und Lakaientum“ zu betrachten. Und in dieser Tonlage fährt er weiter fort: „Jaspers weiß es besser. Er bemerkt die Kluft zwischen der Lehre vom Übermenschen und dem, was er in Deutschland vor sich sieht. Daher bietet er Nietzsche erst einmal als großen deutschen Denker an, er gilt ihm als ‘Philosoph von Rang’, der ein ‘angemessenes Studium’ verdient. Er entschuldigt ihn, er macht ihn akzeptabel.“43

Indem er Nietzsche harmlos und akzeptabel macht, wird Jaspers selbst harmlos und akzeptabel und muß deshalb Deutschland nicht verlassen. Der Ankündigung im oben zitierten Brief an Löwith entsprechend stellt Horkheimer die Interpretation Jaspers und Nietzsche-Texte über die Franzosen, Juden und Deutsche und über die Idee der Nation gegenüber. Für Horkheimer wird in der Sprache Jaspers die Stellung der Juden und Franzosen – so entscheidend für das Verständnis des Denkens von Nietzsche – ausschließlich neutral, sekundär und sogar abwertend betrachtet. Was die Franzosen betrifft, beruft sich Horkheimer auf die berühmte Passage aus Ecce homo, wo Nietzsche sagt: „Ich glaube nur an französische Bildung“,44 um anzufügen, daß dieses Lob – offenkundig antideutsch, von Jaspers abgeschwächt wird, wenn er schreibt: „Nietzsche habe ,eine Zeitlang die Franzosen La Rochefoucauld, Fontenelle, Chamfort, besonders aber Montaigne, Pascal und Stendhal ganz außerordentlich geschätzt.’“45 Für Horkheimer handelt es sich nicht um eine Bewunderung für „eine Zeitlang“, wie Jaspers schreibt, sondern um eine Verehrung, die das Werk durchzieht und entscheidend und grundlegend ist. Jaspers führt das Fehlen von Namen wie Maupassant und Anatole France auf die Tatsache zurück, daß sich Nietzsche 42 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 409. 43 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 409. 44 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, „Warum ich so intelligent bin“, 3. KSA, 6, S. 285. 45 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.

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in der Einschätzung dieser Autoren geirrt habe. Auf diese Weise projiziert Jaspers, so wie von Löwith bereits angemerkt, seine eigenen literarischen Vorlieben auf Nietzsche. In Wahrheit scheint es in Deutschland verzeihbar zu sein, Pascal oder Stendhal zu schätzen, vollkommen unverständlich aber, die anderen Autoren zu loben. Nun wird es verständlich, warum Horkheimers Text schließlich eine „Verteidigung Nietzsches“ darstellt. Er sagt: „Im Ausland ist Nietzsche so unbekannt, daß er selbst von vielen fortgeschrittenen Geistern als ein Vorläufer der gegenwärtigen Zustände angesehen wird. Man denkt ihn etwa als eine Mischung von größenwahnsinnigem Genie und bramarbasierenden Feldwebel.“46

Horkheimer erkennt an, daß an einigen Stellen das Buch Jaspers wie eine „mutige Zerstörung einer Legende“ erscheint. Dies läßt ihn indessen nicht von seiner Kritik abweichen, das Buch Jaspers als „im tiefsten unwahr“ zu betrachten, weil Jaspers eine Gegenüberstellung Nietzsches mit den damaligen Ereignissen ablehnt.47 Daher müsse man, entgegen der Vorstellung von einem Nietzsche „allein mit seinem Werke“ unterstreichen, daß Nietzsche „bestimmte historische Ziele (hatte), auf deren Verwirklichung es ihm ernsthaft ankam.“48 Wenn das Denken Nietzsches, wie Jaspers selbst bestätigt, vor nichts „zurückschreckt“49, erkennt er selber diese Lesart nicht an, denn er stellt sich nicht der Kritik Nietzsches an seiner Epoche und am damals vorherrschenden Menschentyp. Der Beitrag Adornos zu dieser Kontroverse zeigt sich indirekt jedoch ebenso kritisch. Ich sage indirekt, weil er keine Rezension über das Buch Jaspers’ verfasst hat, sondern vielmehr eine zum Buch von Jean Wahl über Kierkegaard.50 Die Verbindungen Adornos mit Jean Wahl sind im Briefwechsel dokumentiert. Am 12. Mai 1937 schreibt Adorno aus Oxford an Horkheimer in New York und berichtet von seiner Durchreise in Paris: „Ich kenne ihn [Wahl] nicht selber; er hat aber das Kierkegaardbuch gelesen, soll davon sehr beeindruckt sein und hat mich durch Klossowsky zur

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Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411. Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411. Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411. Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411. Jean Wahl, tudes Kierkegaardiennes. Paris: Éditions Montaigne, 1938.

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Mitarbeit an den Recherches de Philosophie eingeladen (übrigens ebenso auch Benjamin). Er ist ein recht wichtiger Mann.“51

Horkheimer seinerseits bezieht sich in einem Brief an Adorno vom 24. Mai 1937 auf die Pläne, Wahl zum Vertreter des Institutes in Frankreich zu ernennen.52 Die Annäherung zwischen den Mitgliedern des Instituts und Jean Wahl wurde auch durch die Vermittlung von Pierre Klossowsky gefördert, der Horkheimer über seine Bitte an Wahl informierte, ein Vorwort zur französischen Ausgabe von „Egoismus und Freiheitsbewegung“53 zu schreiben. In der Antwort an Klossowsky vom 29. Juni 1937 stimmt Horkheimer diesem Vorschlag völlig zu. Die engen Beziehungen zwischen dem Institut und Jean Wahl und seiner Gruppe verunmöglichten die Kritik Adornos nicht, die auch sehr harsch und explizit beginnt: „Seit der Rezeption Max Schelers bildet sich in Frankreich eine existentialphilosophische Schule, die sich um die Recherches philosophiques gruppiert und die Meinungen von Heidegger und Jaspers propagiert. Das kompendiöse Werk Jean Wahls dient der Absicht, jene Bestrebungen durch Dokumentation zu stützen und auf den Ursprung der Existenzphilosophie in Kierkegaard zurückzugehen, der auch bei der akademischen deutschen Seins- und Daseinsphilosophie offen zutage liegt.“54

Adorno bezieht sich nicht direkt auf die Polemik um Jaspers und ergreift dennoch Partei. Dies zeigt seine Kritik an der Verwandlung Kierkegaards in einen „Klassiker“ durch Jean Wahl, das heißt in jemanden, dessen Philosophie im Panteon der Philosophen kanonisiert und fruchtlos im Bezug auf die Gegenwartsproblematik ist. Wenn Wahl bekräftigt, daß „Kierkegaard est avec Nietzsche le maitre de la dialectique existentielle“55, ist dies für Adorno ebenfalls eine Konsequenz aus der Wahlschen Interpretation von Heidegger und Jaspers, die folglich ideologisch das Denken von Kierkegaard – und auch das von Nietzsche – transformiert und ihn auf diese Weise zu einem „Konformisten“ macht. Mit anderen Worten: Löwith, Horkheimer und Adorno betrachten es als großen Fehler, Nietzsche, gemeinsam mit Kierkegaard, 51 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 144. Adorno bezieht sich hier auf sein eigenes Buch: ders., Kiekeggard. Konstruktion des sthetischen, Tübingen: J. C. B. Mohr 1933. 52 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 160. 53 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 167. 54 Theodor W. Adorno, „Besprechung“, in: ZfS, VIII, 1939, S. 232 – 235, hier S. 232. 55 Adorno, Besprechung (Anm. 54), S. 233.

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zu einem Vorläufer der „Philosophie der Existenz“ zu machen. Adorno respektiert die antifaschistische Haltung Wahls, aber unterstreicht, daß seine Interpretation Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen politisch autoritären Formeln aufweist.56

Abschließende Betrachtungen: gestern und heute Die Polemik um die Wirkung des Denkens von Nietzsche, vermittelt durch das Buch von Jaspers in Frankreich, zeigt, wie sehr die deutschen Intellektuellen das Unverständnis der Franzosen hinsichtlich der deutschen Philosophie betonen. Man müsse sie aus diesem Grund berichtigen. Die gleiche Haltung wurde vom Erben der Kritischen Theorie ab dem Ende der 1970er Jahre übernommen. Wir sprechen offensichtlich von Jürgen Habermas. Indessen sind die Intention und die Form vollständig entgegengesetzt. Der Nietzsche Aufklrer, der die psychische Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft enthüllt, der die Beherrschung der Gesellschaft durch die Wirtschaft hasst und ihr widersteht, der den emanzipatorischen Horizont, welcher der „Kritischen Theorie“ zu eigen ist, nicht aufgibt, dieser Nietzsche Aufklrer macht dem wesentlich reaktionären Nietzsche Platz, dem Konservativen, Feind der universellen Ethik und der Menschenrechte, Quell aller postmodernen Irrtümer. Nicht zufällig sind auch Habermas’ Zielscheibe hauptsächlich die französischen Philosophen der postsartrischen Ära, die wiederholt in der korrekten Lektüre der deutschen Philosophen unterwiesen werden sollten. Heute wie gestern mißverstehen die Franzosen nach Ansicht der Deutschen ihre Philosophen und aus dieser Perspektive heraus ist Nietzsche ein beispielhafter Fall. (Übersetzt von Nicole Kirsch.)

56 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 598.

Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille Clemens Pornschlegel « Il arrive que l’ivresse fasse tituber jusqu’aux plus sages… » Henri de Lubac

1 Die folgenden Überlegungen zu Bataille und Nietzsche gehen von einer konjunkturellen Beobachtung aus. Von der Beobachtung nämlich, dass die Schriften Georges Batailles im deutschen Sprachraum – nach einer kurzen Blüte Mitte der 80er Jahre – wieder aus der Mode gekommen sind. Zusammen mit dem so genannten ,französischen Denken’ ist auch Bataille in den hinteren Bibliotheksrängen verschwunden. An den deutschen Universitäten wird das french thinking bekanntlich nur noch als eine Art prähistorischer Vorstufe der Kulturwissenschaften und ihrer anglophonen Verzweigungen wahrgenommen, sozusagen als primitive Form der höher entwickelten gender, cultural, masculinity oder performance studies. Nun ist das Vergessen, dem das Werk Batailles anheim gefallen ist, nicht nur äußerlicher Natur. Konjunkturen betreffen immer auch die Inhalte. Die großen Nietzsche-Exerzitien, denen Bataille sich zwischen 1936 und 1945 gewidmet hat – von den Texten in den Zeitschriften Les Cahiers de ,Contre-Attaque’ und Acphale über die Exprience intrieure bis hin zu den Meditationen Sur Nietzsche –, muten in ihrem revolutionärekstatischen Pathos seltsam vergangen an. Was antiquiert erscheint, ist schnell aufgezählt: die Naherwartung der revolutionären Total-Befreiung, die fiebrige Beschwörung einer unerhörten Über-Menschheit, das souveräne Ignorieren von Verbot und Verbrechen, die Anleitungen zu schlüpfrigen Ekstasen und blasphemischen Transgressionen, der Wunsch nach tragischer und gefährlicher Existenz, die Beschwörung von Opfer und Kampf, das Zittern angesichts des leeren Himmels, die Geheim-Riten und Mysterien orgiastischer Ich-Auflösung. In den

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Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen der Gegenwart stößt nichts mehr davon auf größere Resonanz. Die Mystiker-Rede von der ,déchirure’, der Zerrissenheit von Ich und Welt, von Gott und Mensch, von klaffenden Wunden, Verzückungen, Qualen und Schmerzen lässt eher kalt. Die post-moderne Gegenwartskultur begreift sich selbst als ironisch abgeklärt oder ,cool’; jedenfalls weit entfernt von den Tragödien und Delirien, wie Bataille sie zelebriert. In der Einleitung zur Textsammlung Sur Nietzsche verkündet Bataille pathetisch: „Nietzsche hat zum ersten Mal das äußerste, bedingungslose Streben des Menschen unabhngig von einem moralischen Ziel und vom Dienst fr einen Gott zu denken versucht. Er kann es nicht genau definieren, aber es hält ihn in Atem. Von heiligem Eifer erfüllt zu sein, innerlich zu brennen, ohne verantwortlich zu sein gegenüber einer moralischen Verpflichtung, die sich dramatisch ausdrücken würde, ist sicher ein Paradoxon. Wenn wir aufhören, aus dem Zustand eines innerlich brennenden Eifers die Bedingung eines anderen, daraus folgenden Zustands zu machen, der uns wie ein greifbares Gut dafür gegeben würde, so scheint dieser [zwecklose] Eifer ein reines Blitzen zu sein, eine leere Verausgabung.“1

Dass in der Attitüde einer souveränen „consumation vide“ irgendein revolutionärer Akt gegenüber den bestehenden Verhältnissen verborgen läge, daran glaubt niemand mehr. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Der „état brûlant“ und die „consumation vide“ gehören zu den gängigen Clichés der Marketingstrategen aus der Kultur-Industrie, die ihre Geschäfte gern auch mit tragisch-transgressiven Ikonen wie Sid Vicious oder Kurt Cobain macht. Und keinen Deut weniger vergangen als die Attitüde der bösen Revolte wirkt auch das, was man Batailles ,Zarathustra-Pathos’ nennen könnte, also die apokalyptischen Orakel vom anstehenden ,Übermenschen’, der Glaube an ein leuchtendes ,Jenseits-des-Menschen’, wie er dann noch einmal den Anti-Humanismus Foucaults oder Deleuze beseelt hat, die Ende der 60er Jahre das Verschwinden des Menschen prophezeiten, „comme à la limite de la mer un visage de sable.“2 Alain Badiou bemerkte dazu: 1

2

Georges Bataille, Sur Nietzsche, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard 1973, Band 6, S. 11 – 205, hier S. 12. Übers. v. Verf. – Wenn nicht anders angegeben, stammen im folgenden alle Übersetzungen aus dem Französischen v. Verf. Michel Foucault, Les mots et les choses.Une archologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966, S. 398.

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„Wenn sich Ende der 60er Jahre das antihumanistische Programm durchsetzt, dann weil es die beiden verschwisterten Ideen der Leere und des Anfangs befördert. Sie werden sich für die Revolten von 68 und der beginnenden 70er Jahre als nützlich erweisen. Man nimmt damals allgemein an, dass etwas nahe ist, dass irgendetwas Neues kommen wird. Und für dieses kommende Etwas kann man sich umso eifriger einsetzen, als es eben nicht der x-te Neuaufguss des Humanismus ist, eben weil es die Figur eines in-humanen Anfangs ist.“3

Im Rückblick zeigt sich freilich, dass es in den Revolten weniger um einen unerhört inhumanen Neubeginn ging, wie die Akteure glaubten, sondern vor allem um eine nachholende Wiederholung und theatralische Imitation von Kämpfen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, anders gesagt: um die psycho-dramatische Re-Inszenierung eines Revolutionsstücks, das längst schon stattgefunden hatte. André Malraux hatte bereits 1926, im Kontext der beginnenden revolutionären Dekolonisierungen den alten republikanischen Humanismus verabschiedet: „Die absolute Wirklichkeit war für euch [Europäer] zuerst Gott, dann der Mensch; aber der Mensch ist tot, so wie Gott tot ist, und jetzt sucht ihr ängstlich nach demjenigen, dem ihr sein Erbe anvertrauen könntet.“4

Der Satz stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 1926. Und das heißt, die Verabschiedung des Humanismus in den 60er Jahren war nicht ganz so neu, wie manche meinten. Sie war vor allem eine Wiederholung von Positionen, von denen aus die anarcho-revolutionäre Avantgarde der 20er und 30er Jahre die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, in allererster Linie aber die schäbige III. Republik bekämpft hatte: ihre koloniale Heuchelei, ihren falschen Pazifismus, ihre Unfähigkeit, der sozialen Misere Herr zu werden. Die anti-bourgeoise Parole der 60er und 70er Jahre lautet deswegen noch einmal genau so, wie sie schon 1936 gelautet hatte: „Il est temps d’abandonner le monde des civilisés et sa lumière.“5 „Es ist an der Zeit, die zivilisierte Welt und ihr Licht zu verabschieden.“ In seinem Roman Tigres en papier hat Olivier Rolin die historistischpoetische Illusion, in der die Rebellen der 60er und 70er Jahre befangen waren, anschaulich beschrieben: 3 4 5

Alain Badiou, Le sicle, Paris: Seuil 2005, S. 245. André Malraux, La tentation de l’occident, in: ders., Oeuvres compltes I, Paris: Gallimard 1989, Band 1, S. 59 – 111, hier S. 100. Georges Bataille, La conjuration sacre, in: ders., Oeuvres compltes I, herausgegeben von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 442 – 446, hier S. 443.

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„Da standet ihr, in Lederjacken und mit Helmen, auf eure Schlagstöcke gestützt. Und ihr stelltet euch vor, ihr würdet Wache schieben 1938 in der Madrider Universität. So war es: Die Welt, die ihr saht, in der ihr lebtet, hatte unendliche historische Tiefe. Sie war wie verklärt durch eine Macht, die jedes Ereignis und jedes Individuum insgeheim mit einer ganzen Serie anderer Ereignisse und Individuen verband, die noch größer und tragischer waren. Die Vergangenheit hatte eine wunderbare Gegenwart, und die Zukunft nicht minder. Die Geschichte war der große Projektor, der die Bilder der Zukunft an die Häuserwände warf.“6

Rolins Beschreibung macht die Attraktivität Batailles für einen Teil der 68er-Generation und die dezidiert gauchistische Aneignung Nietzsches in Frankreich anschaulich. Sie stand im Zeichen der traumatischen Wiederholung jener Revolten, die von den historisch nicht kompromittierten anarchistisch-surrealistischen Gruppen seit Ende der 20er Jahre propagiert worden waren. Im selben Maße freilich, wie im Rückblick auf die 68er-Revolte deren histrionischer Charakter deutlich wird, im Maße, wie sie sich als der Versuch von Kindern entpuppt, die historischen Tragödien der Elterngeneration nachtrglich wieder gut zu machen – die Infamie des Stalinismus und die Schande des Pétainismus –, wird auch das gegenwärtige Desinteresse an Bataille verständlicher. Die Bürgerschreckattitüden der ,68er’ sind dem kühlen Blick auf deren Illusionen und deren durch und durch phantasmatischen Charakter zum Opfer gefallen. Der Glaube ist abhanden gekommen, man könne die Welt durch eine quasi-göttliche „danse qui force à danser avec fanatisme“7 oder mittels permanenter Liebesekstasen überwinden. Niemand verwechselt heute noch Rockfestivals mit dem Ausbruch des echten, libertären Kommunismus. Niemand kommt mehr auf die Idee, WGGründungen für die Morgenröte der neuen, nietzscheanisch-souveränen Welt zu halten, in der alle bürgerlichen Gesetze, Verträge und Institutionen abgeschafft wären.8 Und nicht zuletzt ist der Gegenwart auch die Selbstverständlichkeit des okzidentalen Diskurses vergangen, wie er Batailles Revolte noch trägt, das heißt, die euro-zentrische Arroganz der Rede vom „Menschen“ und von seinem imperial über-menschlichen Geschick. Noch in seinem tiefsten Fall und seiner bösesten ,décadence’ war es selbstver6 7 8

Olivier Rolin, Tigre en papier, Paris: Seuil 2002, S. 29. Bataille, La conjuration sacre (Anm. 5), S. 443. vgl Gilles Deleuze, „Pensée nomade“, in: Centre Culturel International de Cerisy-La-Salle (Hrsg.), Nietzsche aujourd’hui, 1. Intensits, Paris: U.G.E (10/18) 1973, S. 159 – 174, hier: S. 164 – 165.

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ständlich der europische Mensch, der sich ganz ungeniert an der Spitze des Welt-Geschicks stellte. Sätze über „Schwarze“, wie Bataille sie anlässlich der Revue Black Birds von Lew Leslie schreiben konnte, sind deswegen unmöglich geworden. Die Tänze und Gesänge von Negern erschienen Bataille 1929 – in bester Baudelaire-Nachfolge – als kreischende Irrlichter über der verfaulenden, bourgeoisen Kultur Europas. „Unnütz, noch länger nach einer Erklärung der coloured people zu suchen, die mit unpassendem Wahn die absurde Stille von Stotterern durchbrechen: Wir verfaulten mit Neurasthenie unter unseren Dächern, ein einziger Friedhof, ein Massengrab voll von pathetischem Plunder. Und so sind die Schwarzen, die sich mit uns zivilisiert haben (in Amerika und sonst wo) und die heute schreien und tanzen, die sumpfigen Emanationen der Verwesung. Sie haben sich entzündet über diesem gigantischen Friedhof. In einer mondbeschienenen Negernacht wohnen wir der trunkenen Demenz von Irrlichtern bei, zwielichtig und charmant, übergeschnappt und brüllend wie Gelächter. Diese Definition macht jede Diskussion überflüssig.“9

Die Dekolonisierung hat derartige Witze sinnlos gemacht. Das Machtverhältnis gegenüber den ,nègres’, das sie stillschweigend voraussetzten, ist obsolet. Mit dem Imaginarium des Exotismus ist auch der geschichtsphilosophische Eurozentrismus verschwunden, den sämtliche Fortschritts-, Dekadenz- und tabula-rasa-Ideen miteinander geteilt haben, von Hegel bis zu Heidegger. Die Vorstellung, dass das Geschick und die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte des europäischen Groß-Denkens zusammenfielen, womöglich im Kopf eines einzigen Denkers, womöglich im Schnauzbart Nietzsches, die Idee, dass die Erde allein mit einer neuen Übermenschen-Religion aus ihrer zweitausendjährigen Knechtschaft erlöst werden könnte, hat sich als eigennützige Illusion erwiesen, als ein Seitenstück dessen nämlich, was Kipling als „the white man’s burden“ besungen hat, das heißt als imperiales Phantasma.

2 Die konjunkturellen Beobachtungen zeigen zumindest folgendes: dass zentrale Momente des Batailleschen Diskurses – das Programm der ,souveränen’ Revolte, das ,Zarathustra-Projekt’ der kommenden Übermenschheit und die implizit damit verbundene eurozentrische 9

Georges Bataille, „Black Birds“, in: ders., Oeuvres compltes I, herausgegeben von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 186.

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Geschichtskonzeption – in den letzten Jahrzehnten an Evidenz verloren haben. Sie lassen sich deswegen auch nicht mehr einfach re-aktualisieren. Gleichzeitig stellt sich damit aber noch einmal die Frage nach den sachlich argumentativen Gründen der Unzeitgemäßheit. Anders formuliert: Was hat auf der Ebene der Konzepte dazu geführt, dass die Revolte, wie Bataille sie unter Berufung auf Nietzsche verkündete – der Schrei nach grenzenloser Freiheit, nach dem souveränen „être qui ignore la prohibition et qui me fait rire parce qu’il est sans tête, qui m’emplit d’angoisse parce qu’il est fait d’innocence et de crime“10 –, mittlerweile so unattraktiv geworden ist? Und dass eine Passage wie die folgende – sie stammt aus Batailles Nietzsche-Memorandum von 1944 – in erster Linie ,überspannt’ wirkt? „Nietzsches Denken ist ganz und gar hingespannt auf die Integrität, die Ganzheit des Menschen. Weil es die Fragmentierung zurückweist – die ehrenwerte, bornierte Tätigkeit voller Sinn –, führt es zu so gefährlichen Zusammenbrüchen. Wenn Gott aufhçrt, jedem Menschen seine Aufgabe zuzuweisen, muss ein Mensch die Aufgabe Gottes bernehmen. Und da er sich auf keine Weise beschränken kann, verliert er noch den Schatten jedes ,Sinns’… Nietzsche konnte seine Fragestellungen nicht mehr voneinander trennen. Die moralische Frage ist auch eine politische und umgekehrt. Die Moral selbst ist mystische Erfahrung. Und zwar im ganzen Zarathustra. Diese Erfahrung, die, wie die Moral, frei ist von jedem Ziel und jedem Zweck, dem sie zu dienen hätte, ist genau dadurch moralische Erfahrung. Sie steigt hinauf zu den Gipfeln des Bösen und des Lachens und ist die Erfahrung der entwaffnenden Freiheiten des Nicht-Sinns und einer leeren Herrlichkeit.“11

Der Problemkomplex, um den es Bataille geht, ist deutlich. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch, und zwar nach dem ,Tod Gottes’. Im Zentrum der Batailleschen Überlegungen steht die Vorstellung des ,integralen Menschen’, der sich dadurch auszeichnet, dass er jede utilitaristisch ausgerichtete, soziale Fragmentierung und jede funktionale Spezifizierung hinter sich lässt. Das betrifft die Arbeitsteilung ebenso sehr wie die entsprechenden Klassenunterschiede. Bataille greift mit dem Begriff des ganzen Menschen freilich weniger auf Nietzsche als auf das Bild der kommunistischen Gentleman-Farmer-Idylle zurück, wie Marx sie in der Deutschen Ideologie gezeichnet hatte: „morgens jagen, nachmittags fischen, auch das Essen kritisieren, wie ich 10 Bataille, La conjuration sacre (Anm. 5), S. 445. 11 Georges Bataille, „Mémorandum“, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard 1973, Band 6, S. 209 – 266, hier S. 259.

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gerade Lust habe.“12 Sozial-funktionale Differenzierungen, die durch rationalisierende Zwecksetzungen begründet werden und von dort her ihren Sinn beziehen, stehen im Widerspruch zur „intégrité de l’homme“, und zwar deswegen, weil sie den Menschen gewaltsam entfremden von seiner offenen, prinzipiell jede Finalität beziehungsweise Essentialität in Frage stellenden und über sie hinausgehenden Existenz. Bataille schreibt in diesem Sinn: „Der größte Teil der menschlichen Tätigkeit ist der Produktion nützlicher Güter unterworfen, ohne dass hier ein entscheidender Wandel möglich schiene, und der Mensch ist nur allzu geneigt, aus der Sklaverei der Arbeit eine unüberwindbare Grenze zu machen.“13

Dabei setzt Bataille die Abtrennung des Menschen von seinen unendlichen Möglichkeiten unmittelbar mit dem Verlust an Virilität und vitaler Potenz gleich.14 Der ,ganze Mensch’, den Bataille gegen die rationalisierende Arbeitsmoral des akkumulativ-asketischen Kapitalismus einklagt, ist also auch jener Mensch, der keine Kastration erfährt – und zwar mit allen Konsequenzen, die der psychoanalytische Begriff der Nicht-Kastration zu bieten hat: vom ausagierten Inzest, wie die Erzählung La mre ihn ausschreibt, bis hin zum psychotischen Delirium, wie die Histoire de l’œil oder die Erzählung Le mort es durchbuchstabieren. Die menschliche Existenz in ihrer grenzenlosen Freiheit und in ihrem unbeschränkten Werden übersteigt für Bataille prinzipiell jede ,festgestellte’ Essenz – damit auch jede soziale, moralische, sexuelle Grenze. Die Existenz ist nichts anderes als der offene, grenzenlose Prozess des ebenso dramatischen wie ziellosen Übersteigens und Überwindens, des Transzendierens und Transgredierens sozialer Normen. Deswegen nimmt er notwendig auch die Form einer bçsen Agonie und Destruktion an, und zwar einer Destruktion und Agonie aller nur scheinhaften, in Vorurteilen befangenen Identitäten und Essenzen. Ihnen gilt Batailles Gelächter. Und an erster Stelle gilt es natürlich der metaphysischen Garantie all dieser Wesenheiten und Identitäten, dem ens summum. „Das Lachen erhebt zunächst über die anderen. Es spottet über Kinder oder Dummköpfe, die sie weit unter sich lässt. Dann freilich kehrt es sich um 12 Karl Marx, Deutsche Ideologie; in: ders., Die Frhschriften, herausgegeben von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner Verlag 1971, S. 339 – 485, hier S. 361. 13 Georges Bataille, „L’apprenti sorcier“, in: Oeuvres compltes I, herausgegeben von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 523 – 537, hier S. 524. 14 Vgl. Bataille, „L’apprenti-sorcier“ (Anm. 13), S. 532.

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und wendet sich – in entgegen gesetzter Richtung – gegen den Vater, den Chef, gegen alle diejenigen, die mit der Aufrechterhaltung des sozialen Gefüges betraut sind und welche die Genügsamkeit all dessen symbolisieren, was das Ipse sein möchte. […] Das Lachen stellt in Frage, es bestreitet die Genügsamkeit aller übergeordneter Wesen … ja, bis hin zum Gipfel …, den es unweigerlich in Mitleidenschaft zieht. Und wenn es diesen Gipfel erreicht? Dann hat die Agonie Gottes statt, in einer schwarzen Nacht.“15

In Batailles schwarzem Gelächter lösen sich mithin Ich, Welt und Gott auf: die sozialen Illusionen mitsamt ihren Individualitäten und SubjektObjekt-Spaltungen. Sie fallen dem Spott ihrer Borniertheit zum Opfer. Gleichzeitig beginnen im Lachen die Kommunionen der Nacht und des Nichts, in denen sich die Erfahrung eines anderen, neuen Gott-Seins ankündigt, das die unendliche Gottessehnsucht des individuierten ,Selbst’ stillen wird: die unio mystica mit dem All, die sich vornehmlich in obszönen Transgressionen einstellt. In der Exprience intrieure beschreibt Bataille das große Gott-Werden-Wollen wie folgt: „Das Wesen schließt sich in der Autonomie ein, zugleich aber will jedes Wesen, gerade aufgrund dieses Eingeschlossenseins, das Ganze der Transzendenz werden: zunächst das Ganze der Komposition, dessen Teil es ist, und dann, eines Tages, ohne Grenze, das Universum.“16

Diesen Willen zur fusionellen Transzendenz, zum göttlichen AllesWerden, das Streben nach dem Sein „sans limite“ setzt auch Batailles pornographische Abhandlung Mme Edwarda in Szene. Nicht zufällig zeigt es sich im Öffnen und in der Exposition genau dessen, was Courbet auf seinem Gemälde L’origine du monde gezeigt hat. Das heißt, es geht um den verschlingenden Blick auf das weibliche Geschlecht, aus dem man hervorging und das Bataille mit einer „pieuvre“, einer „Krake“ vergleicht, also um die faszinierte Schau des monströsen Ursprungs, um die Auflösung jedes beschränkten individuellen Lebens, wie es im sexuellen Außer-sich-Sein erfahrbar wird. Mme Edwarda exponiert „die Lumpen“, wie sie sagt, ihres prostituierten Geschlechts, das sie mit beiden Händen öffnet und dem entsetzten Blick des Betrachters darbietet:

15 Jean-Paul Sartre, „Un nouveau mystique“, in: ders., Critiques littrarire (Situations, I), Paris: Gallimard 1947, S. 133 – 174, hier: S. 159. 16 Georges Bataille, L’exprience intrieure, in: Oeuvres compltes V, Paris: Gallimard 1973, Band 5, S. 7 – 181, hier S. 134.

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„Siehst Du, ich bin Gott … Ich muss verrückt sein… Aber nein, du musst hinschauen: schau hin!“17

Zurückübersetzt in philosophische Prosa, könnte man sagen: Der Mensch in der absoluten Offenheit seines Wesens, frei im Moment der Überschreitung jeder Norm und im Negieren jeder vorgegebenen Essenz, eignet sich durch den obszönen Akt die ihm entfremdete, an eine fabelhafte Instanz namens Gott veräußerte Ganzheit der Welt wieder an. „Tu vois, je suis Dieu …“ Die blasphemisch inkarnierte Göttlichkeit äußert sich gerade darin, dass sie das Organ der Geburt und der bewusstlosen Lust ausstellt, die fleischliche ,origine du monde’. Die Psychoanalyse würde darin vermutlich eine prä-ödipale Mutter-Imago entdecken, ,la Mère majuscule’. Wenn für Bataille Gott also tot ist, dann in einem ironischen Sinn. Was man bislang Gott nannte, war nur eine bornierte menschliche Vorstellung, eine Idee von und für unterworfene Sklaven-Menschen. In der Conjuration sacre heißt es in diesem Sinn: „Das menschliche Leben hat genug davon, dem Universum als Kopf und Verstand zu dienen. Im Maße, wie es zu diesem Kopf und Verstand wird, im Maße, wie es dem Universum notwendig wird, akzeptiert es die Verknechtung. Wenn das Leben nicht frei ist, wird die Existenz leer und grau. Und wenn es wirklich frei ist, ist es ein Spiel. Die Faszination der Freiheit ist verblasst, als die Erde ein Wesen produziert hat, das die Notwendigkeit als ein über dem Universum stehendes Gesetz einforderte. Der Mensch indes ist frei geblieben, keiner Notwendigkeit mehr zu entsprechen. Er ist frei, all dem zu ähneln, was nicht er im Universum ist.“18

Der A-Theismus bezüglich des Gottes der Philosophen mit seinen Gesetzen, Rationalitäten und seinem absoluten Wissen schlägt deswegen umgehend in eine – von Bataille explizit so genannte – ,neue mystische Theologie’ um, die eine Theo-logie des integralen, transgressiven Menschen ist, also des Menschen, der ohne Ende Gott werden will und das Ganze des endlos werdenden Seins umfasst: „l’univers“, „le tout“. In der Exprience intrieure schreibt Bataille: „Ich habe eine derart irre Erfahrung des Göttlichen, dass man lachen wird, wenn ich davon spreche. […] Was den Menschen letztlich jeder Möglichkeit beraubt, von Gott zu sprechen, ist der Umstand, dass Gott im 17 Georges Bataille, Madame Edwarda, in: Oeuvres compltes III, Paris: Gallimard 1971, Band 3, S. 7 – 31, hier S. 21. 18 Bataille, La conjuration sacre, (Anm. 5), S. 445.

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menschlichen Denken notwendig vermenschlicht wird, und zwar im Sinn des beschränkten Menschen, also des Menschen, insofern er müde und schwach ist und sich nach Ruhe und Frieden sehnt.“19

Und im Vorwort zu den Thses fondamentales heißt es: „Ich kann es nicht ausdrücklich genug unterstreichen: Wir wollen die Erben der christlichen Meditation und geistigen Tiefe sein… wir wollen das Christentum überwinden mit Hilfe eines Überchristentums. Wir wollen uns nicht damit begnügen, es einfach zu vergessen.“20

3 Bataille geht es um zweierlei. Zum einen um die traditionelle, aus der linkshegelianischen Kritik beziehungsweise dem deutschen Idealismus stammende Wiederaneignung der an Gott veräußerten menschlichen Potentialitäten. Erst durch die Emanzipation von den Zwängen der Natur kann der Mensch zum spielenden, ganzen Menschen werden, zum Götterkind. Zum anderen geht es aber auch darum – und das ist der Punkt, an dem Bataille mit Nietzsche über die marxistische Kritik hinausgeht –, die religiçs mystische Erfahrung für die prosaische Moderne zu bewahren und a-theologisch zu erneuern: die Erfahrung der Auflösung des beschränkten Ich im Welt-Ganzen, das Einswerden mit dem Göttlichen. Nicht umsonst sagt Bataille: „Nous sommes farouchement religieux…“ Es geht also nicht darum, den Menschen an die Stelle eines rationalen Gottes zu setzen, um dabei den Himmel in seiner Erhabenheit auf das Maß des müden Normal-Menschen herabzusetzen. Vielmehr geht es darum, den Menschen hic et nunc zum neuen, souveränen GottMenschen zu machen, zum Wesen, das sich selbst zu überschreiten versteht und das mit demselben Liebeseifer wie die alten Märtyrer – in einer Art neuer Imitatio Hyper-Christi – sich seiner absoluten Sache als Opfer darbringt, nämlich seiner eigenen Transzendenz. „Die Welt, der wir angehört haben, bietet uns nichts anderes zu lieben an als die individuellen Borniertheiten: ihre Existenz beschränkt sich aufs Annehmliche. Eine Welt, die man nicht bis zum Tod lieben kann – so wie ein Mann eine Frau liebt -, stellt lediglich eine Welt dar, die von nichts anderem beherrscht wird als von kleinen Interessen und der Pflicht zur 19 Georges Bataille, L’exprience intrieure (Anm. 15), S 117. 20 Georges Bataille, „Discussion sur le péché“, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard 1973, Band 6, S. 315 – 359, hier S. 315.

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Arbeit. Verglichen mit den verschwundenen Welten, ist sie eine grässliche Fratze, im Grunde die missratenste aller Welten. In den verschwundenen Welten war es möglich, sich in der Ekstase zu verlieren. In der Welt der wissenschaftlich gebildeten Vulgarität ist dies unmöglich. Die Existenz aber ist nicht nur aufgewühlte Leere, sie ist ein Tanz, der fanatisch zu tanzen zwingt. Das Denken, das mehr als nur ein totes Fragment zum Gegenstand hat, existiert innerlich wie Flammen. Es brennt.“21

Batailles Frage und sein Interesse an Nietzsches Figur des ,Übermenschen’ wird von hier aus deutlicher: Wie kann man den religiçsen Eifer, das heißt die Ekstasen der Selbsthingabe im historischen Kontext eines radikalen, atheistischen Humanismus retten? Wie kann man die Moderne vor dem lauen Mittelmaß bewahren, vor dem, was Nietzsche den „letzten Menschen“ nennt? Wie ist es möglich, inmitten der entzauberten Arbeitswelt mit Eifer für ein Absolutes zu brennen, das dennoch keine ,höhere Sache’ wäre? Wie kann man das ,pneuma’ retten, den feurigen Geist der Kommunion oder der Kommunikation? Bataille verbindet damit die Figur des Übermenschen dezidiert mit der Problemstellung Baudelaires. Es war Baudelaire, der dem heraufkommenden Industriezeitalter mit Schrecken die Frage gestellt hatte: Was bleibt vom Himmel und seinem Glanz, wenn er von der utilitaristischen Epoche, die nur noch an Arbeit und Bedürfnisbefriedigungen glaubt, leergefegt worden ist? Was wird aus dem überschwänglichen Luxus, der Raffinesse, der Poesie, wenn nichts anderes mehr zählt als der immer selbe Zyklus aus Produktion, Konsumtion, Reproduktion, anders gesagt: das Vegetieren hässlicher Fleischklumpen? Im Gedicht „Spleen“ beschreibt Baudelaire den wütenden Aufstand des überflüssig gewordenen Religiösen wie folgt: Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle […] Des cloches tout à coup sautent avec furie Et lancent vers le ciel un affreux hurlement Ainsi que des esprits errants et sans patrie Qui se mettent à geindre opiniâtrement, Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, Défilent lentement dans mon âme ; l’Espoir Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique, Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir. 22 21 Bataille, La conjuration sacre, (Anm. 4), S. 443. 22 Charles Baudelaire, Spleen (LXXVIII). Les Fleurs du Mal (1861), in: ders., Oeuvres compltes I, Paris: Gallimard 1975, Band 1, S. 3 – 134, hier S. 74 – 75.

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Wenn der tiefe, graue Himmel schwer lastet wie ein Deckel […] Rasen plötzlich Glocken los Und schleudern gen Himmel ihr grässliches Geheul Voll Wut, wie umherirrende, vaterlandslose Geister, Die störrisch zu greinen und zu wimmern beginnen. Und lange Leichenwagen, ohne Trommelschlag und Musik, ziehen endlos durch meine Seele, die Hoffnung ist besiegt, sie weint, und die grauenhafte, despotische Angst pflanzt auf meinem gebeugten Schädel ihre schwarze Fahne auf.

Erich Auerbach hat in seiner Lektüre des Gedichts, das er vor dem Hintergrund der christlichen Dichtungstradition des Erhabenen liest, vier zentrale, thematische Problemzusammenhänge herausgearbeitet. Auerbachs Kommentar macht nicht zuletzt auch deutlich, wie sehr Bataille ein Baudelairesches Programm fortschreibt und wie sehr er damit Nietzsches Übermenschen-Projekt der französischen Tradition der „poètes maudits“ einzeichnet – und zwar völlig zu Recht, wie Nietzsches Baudelaire-Exzerpte belegen.23 Der erste Themenzusammenhang, den Auerbach für Baudelaire namhaft macht, betrifft Baudelaires Substitution des Himmels durch den Rausch des Nichts und der Wollust. Was Baudelaire gegen das Zeitalter kapitalistischer Askese und Akkumulation sucht, ist nicht mehr „Gnade und ewige Seligkeit“, sondern was er sucht – und was Bataille dann noch finden wird –, „ist entweder das Nichts, le Néant,“ oder aber es ist „eine Art sinnlicher Erfüllung, die Vision einer sterilen, aber sinnlichen Künstlichkeit“. Die Fleurs du Mal sprechen immer wieder von der „volupté calme“, von „ordre et beauté, luxe, calme et volupté“.24 Das „Nichts“ und die sündige „Wollust“ sind die beiden Namen, die Baudelaire gegen die Askese unter säkularisierten Bedingungen ins Feld führt, das heißt gegen das, was Max Weber als die ,protestantische Ethik’ des Kapitalismus analysiert hat. Das zweite, entscheidende Moment der Fleurs du Mal besteht sodann darin, dass sie für die Kategorie der Erlösung und der Hoffnung 23 Vgl. Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden, herausgegeben von Giogio Colli und Mazzino Montinari, Band 13, Nachgelassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889. 2. Teil: November 1887 bis Anfang Januar 1889, S. 77 ff. 24 Erich Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene“, in: ders., Gesammelte Aufstze zur romanischen Philologie, Bern, München: Francke Verlag 1967, S. 275 – 290, hier S. 285.

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keinerlei Platz mehr lassen. „L’Espoir, vaincu, pleure.“ Allerdings hat die Melancholie auch eine freundlichere Kehrseite: Baudelaires Poesie lebt nämlich vom Ausschluss jeder Hoffnung und jeder Erlösung; sie zehrt davon, und sie genießt ihn. Als perfektes Kunstwerk ist das Gedicht also auch eine Feier des Ausschlusses. Die besiegte Hoffnung ist gleichsam die Goldmiene, die Baudelaire ausbeutet und die er eifersüchtig hütet. Der dritte für Baudelaire entscheidende Problemzusammenhang, ist die Frage nach dem Verhältnis des Sinnlich-Erotischen zum Bösen. „Das Problem der Verderbnis des Sinnlichen“, schreibt Auerbach, „ist in den Fleurs du Mal ganz anders gestellt als im Christlichen. In den Fleurs du Mal richtet sich die verdammenswerte Begierde sehr oft auf das körperlich Verdorbene oder Seltsame; den aktuellen Genuss des Gesunden findet man in ihnen nie als Sünde.“25 Der christlichen Sexualmoral erscheint demgegenüber der Gegenstand der sündigen Begierde durchweg als gesund und jugendlich. „Eva mit dem Apfel ist nicht krank; das Trügerische der Versuchung ist gerade ihre scheinbare Intaktheit.“26 Anders Baudelaire: Er kennt „Jugend, Lebensfülle und Gesundheit nur als Gegenstand der Sehnsucht und Bewunderung – oder aber des bösartigen Neides. Zuweilen wünscht er sie zu zerstören, aber zunächst ist er geneigt, gesunde Lebensfülle zu spiritualisieren, zu bewundern und anzubeten.“27 „J’aime le souvenir de ces époques nues.“ Das heißt, der schöne, gesunde Körper ist genau das, was in Baudelaires Augen der bisherigen, miserablen Schöpfung fehlt, was ihr misslungen ist. Und er ist das, was von den Artisten – als den neuen Schöpfern – ungleich perfekter hergestellt wird. Die Natur-Körper der christlichen Kultur erscheinen durchweg als defizient und hässlich – und mit ihnen die gesamte creatio. Die Welt ist umso hassenswerter, je natürlicher und kreatürlicher sie ist. Und sie ist umso schöner, je ,gemachter’ sie ist. Der vierte Problemkomplex betrifft die Frage nach der Selbsteinschätzung und Selbstbewertung des Dichters. „In den „Fleurs du mal“ geht Baudelaires Kampf nicht um Demut, sondern um Hochmut. Zwar entwürdigt Baudelaire sich und das Irdische sehr oft, aber in der Entwürdigung selbst sucht er seinen Hochmut aufrechtzuerhalten.“28 Die Feier der Schmerzen – „soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffr25 26 27 28

Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal“ (Anm. 24), S. 286. Ebd. Ebd. Ebd.

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ance“ – steht nicht im Zeichen christlicher Demut, sie steht vielmehr im Zeichen der Apotheose, also der Vergottung des Artisten-Dichters selbst, der den Schmerzen trotzt und sie durch seine Schöpfung überwindet. Damit unterstreicht er auch seine über-menschliche Ausnahmestellung gegenüber dem Durchschnittsmenschen, und zwar in genau demselben Sinn, in dem dann auch Nietzsche von seinen Schmerzen und seiner Kraft zur Gesundung sprechen wird. Im Maß, in dem der Schmerz und die miserable Welt in ein ästhetisches Gebilde verwandelt werden kann, sind sie gerechtfertigt. Die Misere der Schöpfung wird ästhetisch kuriert. Zusammenfassend hält Auerbach fest: „Einen Ausweg [aus der verzweifelten Welt] gibt es [für Baudelaire] nicht, und darf es nicht geben. [Er] hasst die gegebene Wirklichkeit der Zeit, in der er lebt; er verachtet ihre Tendenzen, Fortschritt, Wohlstand, Freiheit und Gleichheit. […] Die Kräfte des Glaubens und der Transzendenz beschwört er nur, insofern sie sich als Waffen oder Fluchtsymbole gegen das Leben verwenden lassen, und insofern sie […] dem Kult dessen dienen können, was er wirklich liebt […]: die absolute Schöpfung des Dichters.“29

Der Umweg über Baudelaire, den Bataille 1948 in einer regelrechten defensio fidei gegen die Vorwürfe Sartres verteidigt hat, erhellt noch einmal die entscheidenden Motive der Batailleschen Umwertung beziehungsweise Rettung der Transzendenz. Bataille lagert sie nicht in die Zukunft und in die Arbeit aus wie die linkshegelianische Tradition, er macht aus ihr kein ausstehendes Menschen-Arbeiter-Paradies, das demnächst eintreffen müsste. Im „theoretischen Humanismus“30 sieht er keine Aufhebung, sondern die hässliche Fortsetzung des Ideals einer „Welt, die nicht von dieser Welt ist“, also eine christlich-asketische Welt, die sich freilich um ihr Bestes gebracht hat: um die Wonnen der religiösen Verzückung nämlich. „Ausnahmslos alle Spielarten des Sozialismus agieren und intervenieren in dieser schlecht gemachten Welt im Namen einer zukünftigen Welt, die vollkommen gerecht und gleich wäre. Nicht anders als im Christentum urteilt hier ,das, was nicht ist und nicht sein’ kann, über das, was ist. Und alles, was nicht Opfer ist, verfällt der Verdammnis. […] In der Praxis wird der Kampf also geführt im Namen einer ungeheuer platten, faden Moral.“31 29 Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal“ (Anm. 24), S. 287. 30 Marx, Deutsche Ideologie (Anm. 12), S. 281. 31 Georges Bataille, Manuel de l’Anti-Chrtien, in: ders., Oeuvres compltes II, Paris: Gallimard 1972, Band 2, S. 375 – 399, hier S. 382.

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Der faden Sozialisten-Moral setzt Bataille – mit Baudelaire und Nietzsche – eine hyper-christliche Hyper-Moral raffiniert libertiner Freigeister entgegen, die sich gerade nicht mehr auf das Gute beruft, zu dem eine nicht seiende Ideal-Welt oder ein ideales Menschenbild verpflichten würde. Stattdessen geht es um ein Ethos, das darauf abzielt, das absolute Göttliche – oder den Gipfel, „le sommet“, wie Bataille auch sagt – bereits hier und jetzt zu erreichen: in der souvernen Transgression sozialer Regeln und Verbote, in einer Freiheit jenseits von Gut und Böse, anders gesagt: im orgiastisch souveränen Ausnahmezustand. Sartre hat ihn wie folgt karikiert: „Im nutzlosen, schmerzhaften Opfer sieht Monsieur Bataille das Äußerste an Hingabe. Es handelt sich […] um die Sehnsucht nach einem dieser primitiven Feste, wo ein ganzer Stamm sich berauscht, lacht, tanzt, kopuliert […], wo ein jeder in der Frenesie des Amok sich selbst verstümmelt, fröhlich eine ganze Jahresernte vernichtet, sich am Ende selbst umbringt, ohne Gott, ohne Hoffnung, voller Wein und voller Geilheit – und das Ganze für absolut nichts. […] Das ist sie, die Einladung zum freien Selbstverlust ohne Berechnung und ohne Heil. Die Frage ist nur, ob sie auch ehrlich ist?“32

Auf Sartres beißenden Spott hat Bataille eine ehrliche, entwaffnende Antwort gegeben: „Die Position [von der aus ich spreche] ist vollkommen schwach, vollkommen fragil.“33 Die Schwäche besteht darin, dass Bataille zum einen um die soziale und politische Unhaltbarkeit des sinnlos vorbeirauschenden Festes weiß: Keine Gesellschaft kann sich als übermenschliches Dauer-Verbrechen etablieren. Zum anderen ist Bataille aber auch um keinen Preis dazu bereit, auf die göttliche Ekstase, die heilige, poetische Revolte gegen das langweilig disziplinierte Leben zu verzichten. In seiner Verteidigung Baudelaires schreibt Bataille: „Die Weigerung des Charles Baudelaire ist die tiefste Weigerung, weil sie nirgendwo je die Affirmation eines anderen, entgegen gesetzten Prinzips beinhaltet. Baudelaire drückt nur den Zustand der verstockten, bösen Seele des Dichters aus. Und er drückt ihn aus als völlig unhaltbaren, vollkommen unmöglichen Zustand.“34

Die Unmöglichkeit, von der Bataille spricht, ist letztlich auch das Unvermögen des atheistischen Humanismus, den Gottesbegriff ohne 32 Sartre, „Un nouveau mystique“ (Anm. 15), S. 161 – 162. 33 Georges Bataille, Annexes, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard 1973, Band 4, S. 273 – 374, hier S. 345. 34 Georges Bataille, „Baudelaire“. La Littrature et le mal, in: ders., Oeuvres compltes IX, Paris: Gallimard 1978, Band 9, S. 171 – 316, hier S. 207.

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Verlust ins Irdische ,aufheben’ zu können. Der über-moralische GottMensch, den Bataille als Überbietung des allzu grauen Humanismus erfindet, ist entweder die Figur einer hochmütig bösartigen und gewalttätigen Anmaßung, das heißt, die Figur einer Allmachtsphantasie, oder aber poetische Chimäre, das heißt, die ironisch melancholische Antwort eines Dandy auf die Zumutungen mediokrer Normalität, einschließlich des damit einhergehenden ,désespoir’. Und deswegen ist Batailles transgressiver Hyper-Mensch – mitsamt der neuen ,église’ des Gelächters, die Bataille ihm zugedacht hat – auch keine Antwort auf die Frage nach der Änderung des miserablen, sozialen Lebens und auch keine monumentale, kollektive Sache, für die man politisch kämpfen könnte. Im Rückblick sieht es also ganz so aus, als ob auch der Übermensch noch allzu menschlich konstruiert gewesen wäre, als ob er noch allzu abhängig gewesen wäre von den ,Aufhebungs’-Programmen des ,theoretischen Humanismus’, auf die er ebenso sehr zurückgreift, wie er sie post-humanistisch zu überbieten sucht. Batailles böses Gelächter klingt deswegen auch wie das verschämte Kichern eines verstockten Sünders, dem Gott zu alt und zu abgestanden, der entzauberte Geschäftsalltag aber entschieden zu profan ist. Alain Badiou sagt in diesem Kontext zu Recht: „Der klassische Humanismus ohne Gott, ohne Projekt, ohne Werden des Absoluten, ist eine Vorstellung vom Menschen, die ihn auf seinen animalischen Körper reduziert.“35 Allerdings lässt sich dasselbe auch vom klassischen Anti- beziehungsweise Post-Humanismus und der inhuman bermenschlichen Zukunft behaupten, die er ziellos herbeisehnt. Das jüngste Manifest des laizistischen, französischen Vulgär-Nietzscheanismus – „Notre antichristianisme. Une lecture de l’Antéchrist“ – trägt jedenfalls die eindeutige Widmung: „Aux animaux“36, für die Tiere. Im Unterschied zu Bataille spricht das neu wiedergekäute Anti-Christentum allerdings nicht mehr aus der bewusst übernommenen Position des Fragilen, Unhaltbaren und Unmöglichen. Und genauso wenig versteht es sich als raffiniertes ,Hyperchristentum’ oder neo-mystische Elevation. Der Animalismus ist vielmehr bitter ernst gemeint und mündet umgehend in veterinäre Züchtungsphantasien: „Das Bild des Fortschritts ist [bei Nietzsche] nicht mehr ideologisch, es ist biotechnisch und biopolitisch. 35 Badiou, Le sicle (Anm. 3), S. 246. 36 Vgl. Alain Jugnon. Michel Onfray. La force majeure de l’athisme, Paris: Editions Pleins Feux 2006, S. 79.

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[…] Alle Phantasmen sind Bilder, die den Weg entwerfen, den wir gehen und den wir werden.“37 Die beiden Qualitäten, die man diesem Fortschrittsoptimismus unmittelbar zuschreiben kann, sind die des politischen Dilettantismus und der Geschichtsvergessenheit. Im Subjekt des biopolitischen „Wir“ hat Giorgio Agamben nicht nur die stolze Figur des Souveräns, sondern auch die Figur des „Homo sacer“ entdeckt. Er ist die Kehrseite des selbsternannten Herrn über Leben und Tod. Und das politische Paradigma des bio-techno-politischen ,Fortschritts’ ist nicht die freie Übermenschheit, sondern das „Lager“. Anders gesagt, der phantasmatische Übermenschen-Weg ist eine katastrophische Sackgasse, ein „cul-de-sac“ des Humanismus. Gerade weil Bataille darum weiß, hat er seine Nietzsche-Lektüre unter die beiden Zeichen der ,déchirure’ und der ,désinvolture’ gestellt: Zerrissenheit und Frechheit.

37 Jugnon, Michel Onfray (Anm. 35), S. 69 – 75.

De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche Slaven Waelti La lecture que Pierre Klossowski fit de Nietzsche à travers ses articles et ses conférences compte sans nul doute parmi les plus profondes, mais également les plus troublantes jamais tentées en France; une des plus fascinantes aussi, comme en témoigne cette lettre de Michel Foucault qui, ayant refermé Nietzsche et le cercle vicieux, écrit à son auteur: «C’est le plus grand livre de philosophie que j’aie lu, avec Nietzsche lui-même; plus bouleversant même dans tous ses effets, dans les moindres de ses phrases que le Gai savoir.»1 Si l’enthousiasme de l’archéologue du savoir est sincère, il faut néanmoins se demander si le livre de Klossowski est bien, au sens propre du terme, un livre de «philosophie». Lorsqu’il écrit: «nous entendons parler [Nietzsche], peut-être le ferions-nous parler pour ,nous-même’»2, ne se place-t-il pas d’emblée en dehors des cadres classiques de la philosophie, comprise comme discipline universitaire de transmission de problèmes? Il est néanmoins hors de doute que Klossowski, traducteur et exégète appliqué, n’ait également eu le souci de transmettre l’œuvre et la pensée de Nietzsche, autant que d’en déterminer le sens et le poids pour notre existence présente. Or ce souci de communication, au fil des textes, préfaces, articles et conférences que Klossowski consacra à Nietzsche, semble s’estomper à mesure qu’il tendra, dans sa pensée et dans son œuvre, à faire disparaître les frontières constitutives de la philosophie elle-même. La pensée et le chaos, la lucidité et la folie, la vérité et la fiction, le moi et le non-moi tendront ainsi à se mêler indistinctement, si bien que Klossowski pourra, au seuil de Nietzsche et le cercle vicieux, réellement envisager de faire parler Nietzsche pour «lui-même». Nous choisissons de partir ici des premiers 1

2

«Lettre de Michel Foucault à Pierre Klossowski du 3 juillet 1969 sur Nietzsche et le cercle vicieux» reproduite dans: Pierre Klossowski, présentation par Andreas Pfersmann, coll. «Cahiers pour un temps», Paris: Édition du Centre Pompidou 1985, p. 85. Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux,Paris, Mercure de France, 1969, p. 11.

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écrits de Klossowski sur Nietzsche pour suivre leur développement jusqu’à leur aboutissement dans le Cercle vicieux. Nous étudierons à chaque étape le rapport mouvant et conflictuel qu’ils entretiennent avec la discipline philosophie.

1 Premiers articles, lecture de Karl Löwith. Klossowski, avant de devenir l’exégète et traducteur de Nietzsche que l’on sait, a tout d’abord travaillé sur Sade et Kierkegaard. Ses premiers articles sur ces penseurs sont contemporains de sa rencontre avec Georges Bataille en 1933, aux côtés duquel il participera activement aux aventures du «Collège de Sociologie» et d’ «Acéphale». Si les articles de Klossowski datant de cette époque, et jusqu’à la seconde guerre mondiale3, ne sont pas consacrés en priorité à Nietzsche, le penseur de l’Éternel retour y est néanmoins présent, guidant Klossowski dans tous les points nodaux de ses recherches. Pour Klossowski, chez Sade, «la substitution à Dieu de la Nature  l’tat de mouvement perptuel signifie non pas l’avènement d’une ère plus heureuse de l’humanité, mais seulement le commencement de la tragédie.»4 Commencement qui fait évidemment référence à l’avant-dernier aphorisme du Gai savoir où Nietzsche annonce: «que la tragédie commence […].»5 Et lorsque Klossowski analyse la tragédie moderne selon Kierkegaard, c’est pour la mettre en rapport avec la tragédie antique, dont Nietzsche avait pensé la naissance.6 Malgré cette forte présence sous-jacente du solitaire de Sils-Maria, Klossowski ne lui consacre qu’un seul texte, et, qui plus est, de manière bien indirecte, puisqu’il s’agit d’un compte rendu du grand ouvrage de Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr des Gleichens. Le compte rendu sera publié en 1936, dans le deuxième numéro d’Acphale. 7 Au vu des nombreux éléments étudiés par Löwith qui, par la suite, deviendront centraux pour Klossowski, nous sommes portés à accorder 3 4 5 6 7

Ces articles furent rassemblés dans: Pierre Klossowski, crits d’un monomane, Essais 1933 – 1939, Paris: Gallimard, coll. « Le Promeneur », 2001. Ibid. p. 61. Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t.V., Paris: Gallimard 1982, p. 293. Pierre Klossowski, crits d’un monomane, Essais 1933 – 1939 (2001), p. 111 – 125. Ibid. p. 103 – 111.

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un statut augural à ce premier texte consacré à Nietzsche. En dehors du thème central de l’éternel retour, Klossowski relève particulièrement la représentation d’un Nietzsche revenant à une pensée présocratique et «se ressouvenant de l’originelle unit de la vrit et de la fiction dans le langage sentencieux des sages de l’antiquit.»8 Cette remarque que Klossowski souligne dans son texte, marque dès l’origine de ses recherches sur Nietzsche l’effort qui sera le sien pour s’affranchir progressivement de toute philosophie attentive à distinguer un monde vrai d’un monde fait d’apparences. Plus loin, Klossowski relève également que «les considérations de Löwith sont bien près de l’analyse pathologique»,9 analyse que Klossowski fera largement sienne, tant dans ses écrits sur Sade que dans Nietzsche et le cercle vicieux, s’interrogeant plus sur la maladie et la folie de Nietzsche que sur la pertinence philosophique de ses concepts. Au-delà de ces découvertes, Klossowski souligne également le problème philosophique que l’exégèse lowithienne avait particulièrement bien mis en relief, à savoir l’irréductible antagonisme à l’œuvre dans la pensée de Nietzsche entre la notion de volonté de puissance et celle d’éternel retour du même, soit le problème de l’unité «des Zwiespaltes zwischen menschlichem Willen und ziellosem Kreisen der Welt».10 Cette difficulté inhérente à la philosophie de Nietzsche, Klossowski a essayé à plusieurs reprises de la résoudre, si bien que les différentes solutions proposées marquent les différentes phases de sa pensée par rapport à Nietzsche telles que nous voulons les étudier ici.

2 Sur quelques thèmes fondamentaux de la Gaya Scienza de Nietzsche. Le cheminement de Klossowski, s’il s’éloigne de toute philosophie académique, n’exclut pas de réels efforts de transmission de la pensée de Nietzsche à un public francophone. Ainsi, il publiera une première traduction du Gai savoir en 195411 qui sera suivie de nombreuses autres –

8 Ibid. p. 103. 9 Ibid. p. 107. 10 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart: Kohlhammer 1956, p.67. 11 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, traduction et introduction de Pierre Klossowski, Paris: Club français du livre 1954.

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notamment des Fragments posthumes 1887 – 1888 12. Toutes les traductions de Klossowski seront reprises dans l’édition des Œuvres compltes de Nietzsche, publiées entre 1967 et 1977 sous la responsabilité de Gilles Deleuze et de Maurice de Gandillac. C’est à l’occasion de la parution de sa traduction que Klossowski écrit une introduction au Gai Savoir, consacrant ainsi un premier essai à Nietzsche sous le titre: Sur quelques thmes fondamentaux de la Gaya Scienza de Nietzsche. 13 Le cadre de la réflexion de Klossowski y est encore essentiellement philosophique. Les préoccupations qui l’animent semblent tributaires d’une double ascendance bataillienne et löwithienne. Tributaire également d’une époque qui cherche à faire réparation à Nietzsche suite aux hypothèques que le IIIe Reich fit peser sur son œuvre et qui furent possibles, selon Klossowski, en raison d’une interprétation exclusive de Nietzsche comme penseur de la volonté de puissance. Klossowski s’attachera dès lors à montrer que la volonté de puissance ne résume pas à elle seule la pensée de Nietzsche et qu’il faut nécessairement y adjoindre le thème de l’Éternel retour. C’est donc ici que ressurgira pour Klossowski le délicat problème soulevé par Löwith, à savoir le caractère antithétique des notions de puissance et de retour, de volonté et de nécessité ou, autrement dit, d’Amor et de Fatum. À ce problème, le traducteur-préfacier propose une solution ingénieuse en réactivant le motif de l’oubli, tel que Nietzsche avait su le développer dans sa deuxième considération intempestive. Klossowski remarque en effet que, pour Nietzsche, la volonté, ou tout au moins les actes créateurs, supposent l’oubli du présent. Un oubli qu’il faut paradoxalement comprendre comme une ressouvenance inconsciente du passé le plus lointain dans lequel puiser une volonté nouvelle. Or qu’est-ce que ce passé le plus lointain sinon l’éternelle présence des forces créatrices et le retour éternel des mêmes dispositions? Nietzsche, par l’oubli du présent, chercherait donc à revenir au «sans-cessepossible» des forces vives dissimulées sous l’épais brouillard de l’oubli, afin de les retransformer en son propre sang. Ainsi l’homme pourra à nouveau se projeter vers des possibilités futures: «ce qui sous-vient est à venir»,14 écrit Klossowski. Volonté et fatum, distribués ainsi de part et d’autre de l’oubli, permettent donc à l’homme de retrouver toute sa 12 Friedrich Nietzsche, Fragments posthumes, in Œuvres philosophiques compltes, t. XIII., Paris: Gallimard 1976. 13 Essai repris dans: Pierre Klossowski, Un si funeste dsir, Paris: Gallimard 1963. 14 Ibid. p. 22.

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force de création: il oublie le présent pour se plonger dans l’éternité du fatum où il puise une volonté nouvelle. Puis, repassant le Léthé, il peut désormais agir sur le présent, librement, ayant oublié le destin lui-même dont toutes ses actions cependant sont dès lors gorgées. En vertu de quoi cet échange de forces au-delà du Léthé est-il possible? Klossowski s’arrête sur tous les instants «d’extase sereine»15 qui constituent selon lui le fond des aphorismes du Gai savoir. Reprenant alors l’analyse à partir de l’un de ces instants, Klossowski s’arrête sur l’aphorisme 341, intitulé dans sa traduction: «Le poids le plus lourd»16 et relève tout d’abord l’aporie contenue dans la question du démon. Aporie que l’on peut reconstituer comme suit: le démon enseigne au moi la loi de l’éternel retour du même, lui révélant la multitude des existences qu’il a déjà vécues et dont il ne peut se souvenir, puisqu’elles sont strictement identiques à celle qu’il vit présentement, avant de lui poser la question: «Voudrais-tu de ceci encore une fois et d’innombrables fois?»17 Mais comment revouloir ce que l’on est déjà? L’aporie ne peut dès lors recevoir qu’une seule signification: le moi qui se trouve face à l’interrogation «se trouve mis en demeure d’accomplir sa destinée comme si elle n’était pas dj accomplie par le seul fait d’exister»! 18 L’Éternel retour, par la voix du démon, devient donc une sorte d’hypostase de l’existence hic et nunc, sans autre but que de s’accomplir comme existence. «Ainsi vivent les vagues – ainsi vivons-nous, nous autres, Þtres voulants! ce secret même n’était-il pas dans le: ‹comme s’il s’agissait d’atteindre quelque chose!› alors qu’il n’y a rien que ce mouvement avide, rien que cette convoitise des trésors ensevelis: rien en effet que ce vouloir se-recueillir dans l’aller et venir des vagues: l’âme revenant à sa souveraineté […] Et ce secret – la leçon même de la Gaya scienza – est que cette exaltation du mouvement pour le mouvement ruine la notion d’une fin quelconque dans l’existence et glorifie l’inutile présence de l’être en l’absence de tout but.»19 L’Éternel retour est aporie, non-sens, chaos, en même temps qu’il constitue le fond de l’existence elle-même, tel que le révèle un instant 15 Ibid. p. 22. 16 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t. V., Paris: Gallimard 1982, p. 232. 17 Pierre Klossowski, Un si funeste Dsir, op. cit., p. 26. 18 Ibid. p. 25. 19 Ibid. p. 27.

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d’extase. Dans cet instant extatique, l’individu est libre de toute notion de but que l’instinct de conservation créait pour nous préserver du vide de l’immotivé. Quoi de plus angoissant en effet que l’idée de vivre «pour rien»? Sans vouloir s’arrêter sur ce que le terme «angoisse» peut avoir de bataillien, il faut néanmoins rapprocher cette première conception «existentialiste» de l’Éternel retour de la conception du maître à penser de l’athéologie. Dans son Sur Nietzsche, Bataille écrit: «J’imagine nécessaire en ce sens d’inverser l’idée d’éternel retour. Ce n’est pas la promesse de répétitions qui déchire mais ceci: que les instants saisis dans l’immanence du retour apparaissent soudainement comme des fins. Qu’on n’oublie pas que les instants sont par tous les systmes envisagés et assignés comme des moyens: toute morale dit: ,que chaque instant de votre vie soit motiv’. Le retour immotive l’instant, libère la vie de fin et par là d’abord il la ruine.»20

Entre Löwith et Bataille, cette première lecture de Nietzsche par Klossowski a donc de nombreux accents existentialistes. Il n’est pas jusqu’à la mort de Dieu qui n’annonce une «nouvelle maturité de l’esprit». Mais ce terrain-là, Klossowski le quittera bientôt. Les motifs centraux de sa réflexion, tels que le rapport aporétique de l’oubli et du retour, se maintiendront certes tout au cours de son œuvre de critique nietzschéen. Le cadre de sa réflexion en revanche évoluera considérablement. De philosophique, aux accents existentialistes qu’il est en 1954, il va progressivement entrer dans une dimension «affabulatrice», et fictionnelle.

3 Nietzsche, le polythéisme et la parodie. Klossowski revient à Nietzsche en 1957, lors d’une conférence au Collège de Philosophie sous le titre: Nietzsche, le polythisme et la parodie. 21 La conférence s’ouvre sur le problème de la relation à Nietzsche. Question qui se pose dès lors que l’on n’est plus, ni traducteur ou préfacier, ni même auteur de compte rendu, mais un simple particulier invité à parler de Nietzsche dans le cadre d’un collège de philosophie. Et c’est avec soin que Klossowski va tracer le portrait 20 Georges Bataille, Sur Nietzsche, in Œuvres Compltes, t. VI., Paris: Gallimard 1973, p. 23. 21 Le texte paraîtra dans le recueil d’articles déjà mentionné: Pierre Klossowski, Un si funeste Dsir, op. cit., p. 173 – 212.

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d’un Nietzsche qui aurait développé: «non pas une philosophie, mais, en dehors des cadres de l’université, les variations sur un thème personnel», définition qui sied parfaitement à ce que fut l’activité de Pierre Klossowski lui-même. Or, pour ces marginaux de l’esprit, et pour Nietzsche en particulier, se pose une question capitale qui est de savoir comment aborder sa pensée? Son œuvre «sans réel point de départ ni d’arrivée»22, peut-elle être dépliée, élucidée, comprise par des commentaires philosophiques qui la saisiraient de l’extérieur? Comment saisir ces variations sur un thème personnel? Nietzsche lui-même, selon Klossowski, se serait «vu amené à enseigner l’inenseignable: cet inenseignable, ce sont les moments où l’existence, échappant aux délimitations qu’apportaient les notions d’histoire et de morale dont découle ordinairement un comportement pratique, se révèle comme rendue à elle-même sans autre but que de revenir sur elle-même.»23 Il s’agit donc toujours ici de ce fond de l’existence que la préface de 1954 avait déjà étudié. Mais le problème qui se pose dorénavant est celui du langage. Comment parler d’un fond qui n’a ni sens ni but, au moyen d’un langage tout entier tourné vers l’action et la survie de l’espèce? Comment exprimer la singularité d’une expérience fondamentale dans le langage grégaire des concepts, langage négateur de singularités? En dehors du thème du «fond de l’existence», les autres grands thèmes abordés dans la préface se retrouvent dans la conférence du Collège de Philosophie. Mais de 1954 à 1957, l’horizon de réflexion change. Si l’oubli est toujours pensé comme élément médiateur rendant possible le rapport entre volonté et retour, l’analyse nouvelle que fait Klossowski de la mort de Dieu, marque une prise de distance sérieuse par rapport aux catégories de l’existentialisme d’après-guerre. Elle ne correspond plus à une «maturité nouvelle de l’esprit» ou à une souveraineté recouvrée de l’existence. Elle devient le signe d’un événement aussi inouï qu’inquiétant: la perte de l’identité du sujet. «,Dieu est mort’ ne signifie pas que la divinité cesse en tant qu’une explication de l’existence, mais bien que le garant absolu de l’identité du moi responsable disparaît à l’horizon de la conscience de Nietzsche lequel, à son tour, se confond avec cette disparition.»24 Dès lors, la conscience s’ouvre à une pluralité d’identités possibles qu’elle va chercher à s’incorporer jusqu’à devenir tous les noms de l’histoire. 22 Ibid. p. 176. 23 Ibid. p. 177. 24 Ibid. p. 206.

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Chaque identité ne correspondant qu’à un possible, à l’attribution fortuite d’un nom à une intensité quelconque de pensée. En d’autres termes Nietzsche «a saisi le fond même de l’existence, vécue en tant que fortuite, c’est-à-dire en tant qu’existence qui, en lui, se nomme fortuitement Nietzsche.»25 La mort de Dieu devient le symbole de la perte de l’unique garant de l’identité stable. Elle n’annonce ni une nouvelle ère de nihilisme ou d’athéisme qui restent à leur manière tributaires du triomphe de l’Un – absent ou présent – sur le multiple. La mort de Dieu, comme perte de l’identité, marque pour Klossowski, la possibilité d’un retour de dieux multiples, retour du polythéisme. Ce retour au multiple fournit la clé de l’interprétation que Klossowski donne du célèbre aphorisme du Crpuscule des Idoles «Comment le monde vrai finit par devenir fable»26 : qu’il commente en ces termes: «Avec le monde vrai, nous avons supprimé le monde apparent; le monde vrai (platonicien, chrétien, spiritualiste, idéaliste, transcendant) servant de référence au monde apparent, ayant disparu, l’apparence à son tour disparaît; ce n’est pas que le monde puisse, d’apparent qu’il était, devenir le monde réel du positivisme scientiste; le monde devient fable, le monde tel quel n’est que fable: fable signifie quelque chose qui se raconte et qui n’existe que dans le récit; le monde est quelque chose qui se raconte, un événement raconté et donc une interprétation: la religion, l’art, la science, l’histoire, autant d’interprétations diverses du monde, ou plutôt autant de variantes de la fable.»27

Autrement dit, il y a pluralité de normes et de vérités, toutes ne sont que des événements racontés. Klossowski, joignant alors le geste à la parole, va s’attacher à faire disparaître dans son œuvre toute distinction entre fiction et théorie, l’une comme l’autre n’étant plus que des variantes de la fable. Se pose alors la question du langage de Nietzsche: quel est son véritable langage? Comment exprimer au moyen d’une langue construite sur des notions stables, les identités des concepts, la fin de l’identité et la pluralité nouvelle du sens? La préface de 1954 déjà se terminait sur la question de savoir si la doctrine de Nietzsche était communicable28. Nietzsche, le polythisme et la parodie reprend alors le 25 Ibid. p. 177. 26 Aphorisme traduit intégralement par Klossowski dans: Pierre Klossowski, Un si funeste dsir, op. cit., p. 179 – 180. 27 Ibid. p. 180 – 181. 28 Ibid. p. 31.

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problème en introduisant une conception nouvelle du langage axée sur la notion très klossowskienne de «simulacre». Une notion qui recèle de nombreuses facettes et qui traverse une grande partie de l’œuvre de Klossowski. Par rapport au problème de la communication, de l’enseignable et de l’inenseignable, nous retiendrons le sens que Klossowski donne au simulacre par opposition au concept. Le simulacre se distingue en effet de ce dernier en cela qu’il ne s’adresse pas à l’intellect des lecteurs-interlocuteurs, mais à leur sensibilité. Il ne vise pas à «être compris» par ceux avec qui il est partagé, mais à stimuler leur complicité dans une communauté du sentir – chaque émotion singulière appelant pour la traduire un simulacre unique répondant exactement à la physionomie de l’émotion, ce que les concepts, en leur généralité, ne peuvent évidemment faire.29 La philosophie de Nietzsche n’est donc pas, pour Klossowski, une doctrine saisissable sur un plan conceptuel, mais un «simulacre de doctrine»30 invitant à partager une manière de sentir. Toutes les difficultés conceptuelles que posait cette philosophie vont alors s’effacer. L’union de la volonté et du retour ne fait plus problème dès que le retour n’est plus perçu comme un concept à intégrer de toute force dans un système philosophique, mais comme un «simulacre» invitant à partager une expérience fondamentale et inarticulable dans le langage des concepts et de la philosophie. Le simulacre, dans la compréhension klossowskienne de Nietzsche, est le produit d’une simulation, d’une pensée et d’un langage mimant un objet. Comment pourrait-il en être autrement puisque l’objet fondamental de l’œuvre de Nietzsche serait en effet de rendre compte de ces moments vécus en dehors de frontières du sens dans la «communauté fabuleuse des vagues», soit mimer l’expérience fondamentale du retour éternel en l’absence totale de tout sens possible?

4 Oubli et anamnèse dans l’expérience vécue de l’éternel retour du même. Le simulacre cherche donc à faire partager une expérience fondamentale, l’expérience d’une intensité particulière du pathos. C’est sur cette expérience que Klossowski ne cessera de revenir – ainsi lors du demeuré 29 Voir à ce propos : Pierre Klossowski, La Ressemblance, Marseille, Édition Ryôan-ji, 1981. 30 Pierre Klossowski, Un si funeste dsir, op. cit., p. 211.

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célèbre VIIe Colloque philosophique international de Royaumont de 1964. Klossowski y décrit cette expérience fondamentale «comme un brusque réveil au gré d’une Stimmung, d’une certaine tonalité de l’âme»31, telle que Nietzsche le vécut au cours de l’été 1881 à Sils-Maria et au cours duquel lui vint la pensée de l’Éternel retour du même. Deux questions se posent alors: quelle est cette «tonalité de l’âme» et comment passe-t-on de cette dernière à une pensée telle que l’Éternel retour? La réflexion de Klossowski semble tout d’abord revenir en arrière, puisqu’il part du problème de l’oubli déjà traité à plusieurs reprises. Le cadre de réflexion est cependant entièrement différent de celui proposé dans la préface de 1954. L’oubli n’est plus pensé comme un passage obligé en vue d’une réconciliation entre la volonté et le destin, il marque désormais le point crucial de la révélation même de l’Éternel retour. L’oubli est oubli de soi au gré d’une forme d’extase résultant d’une intensité extraordinaire de la sensibilité ou, plus précisément, du pathos. Une haute tonalité de l’âme qui déborde l’identité même du sujet: l’intensit de la pensée prenant le dessus sur l’intention du penseur. Au gré de sa «Stimmung», Nietzsche perd le monde ainsi que son identité et son nom et ne se perçoit plus que comme la ronde éternelle des identités possible: «au fond tous les noms de l’histoire, c’est moi» écrit-il dans une lettre célèbre. Un schéma se met dès lors en place de part et d’autre du Léthé, qui oppose d’un côté le monde quotidien dans lequel chaque individu est le détenteur responsable d’une identité unique acquise en vertu de l’oubli des divers possibles; et de l’autre, la ronde des diverses identités possibles, révélée au gré d’une haute tonalité de l’âme qui fit oublier au penseur son identité momentanée. La révélation de l’Éternel retour coïncide avec le dévoilement de la ronde des identités possibles dans l’oubli de toute identité actuelle. Klossowski ne pense donc plus l’Éternel retour comme fond mouvant de l’existence, mais bien plus comme perte de l’identit au sommet de l’intensit de la pense, soit un état où la pensée n’est plus celle d’un sujet – pensée désignant sa cohérence avec le monde environnant par le jeu des désignations, mais pensée désignant sa cohérence avec elle-même à l’exclusion du monde et du penseur luimême. Cette pensée désignant ainsi sa propre cohérence, forme nécessairement un cercle qui en devient, au niveau maximal de son intensité, le signe unique. Un signe qu’il nommera bientôt avec 31 Nietzsche, Cahiers de Royaumont, VIIe colloque, 4 – 8 juillet 1964, dir. Gilles Deleuze, Paris: Les Éditions de Minuit 1967, p. 227.

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Nietzsche, en référence à l’aphorisme 56 de Par-del bien et mal: «le cercle vicieux». Parvenu à ce point de sa réflexion, Klossowski semble avoir définitivement quitté le terrain de la philosophie dite académique ou universitaire. Les observations dubitatives de nombreux participants suite à sa communication en témoignent: «cela me laisse rêveur»32 concède M. Guéroult, tandis que M. Birault conclut: «je suis comme tout le monde, très admiratif et très perplexe»33, à quoi Klossowski se contente de répondre de manière on ne peut plus laconique: «en tout cas c’est un vertige».34 C’est le vertige de la pluralité des identités, le vertige de la fiction indistinctement mêlée à la vérité, la philosophie à l’affabulation – Klossowski suivant en cela le programme présenté dans Nietzsche, la parodie et le polythisme. C’est que l’expérience fondamentale décrite à propos de Nietzsche est déjà celle que Klossowski aurait vécue lors de la rédaction de ses propres romans: Roberte ce soir (1953), La Rvocation de l’dit de Nantes (1959) et Le Souffleur (1960). Au-delà des romans à proprement parler, ce qui importe pour nous, c’est la postface qu’il leur adjoint au moment de les rassembler en une trilogie intitulée Les Lois de l’hospitalit (1965).35 Il s’agit d’une longue postface sous forme de fiction théorique dans laquelle il retrouve parfois mot pour mot des passages entiers de sa communication sur Nietzsche, présentée une année plus tôt au colloque de Royaumont. Il y décrit comment il fut lui-même confronté au «phénomène de la pensée, ses hausses, ses chutes»36 et comment, à l’instar de Nietzsche, «il [lui] arriva d’être bientôt réduit à un signe unique»37, soit une expérience dépouillée de toute dimension empirique sensible ou existentielle, la pensée comme cercle immobile se désignant elle-même en dehors de toutes les désignations qui assurent notre cohérence avec le monde. Or, détruisant cette cohérence-là, la pensée détruit l’identité du sujet pensant, et le plonge dans l’oubli de soi-même. La pensée se désignant pour Klossowski dans Les Lois de l’hospitalit dans un signe unique qui est le nom propre de «Roberte», et qui chez Nietzsche se nomme «cercle vicieux». Ibid. p. 237. Ibid. p. 241. Ibid. p. 238. Pierre Klossowski, Les Lois de l’hospitalit, Paris: Gallimard, coll. «L’Imaginaire», 1965. 36 Ibid. p. 333. 37 Ibid. p. 333. 32 33 34 35

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La scission semble dès lors bel et bien consommée. Scission pour Nietzsche entre sa vie de professeur de philologie classique et son existence «de simple particulier égrotant ou convalescent»38, scission pour Klossowski entre l’expérience fondamentale de la pensée revenue sur elle-même, et le monde des philosophes travaillant sur ou à partir de Nietzsche. La volonté de puissance ne joue plus aucun rôle dans l’interprétation klossowskienne, pas plus que le motif de la mort de Dieu ou celui de la transvaluation. Le problème de la réconciliation du concept de volonté avec la fatalité est également évacué. Dans Nietzsche et le cercle vicieux, Klossowski ira jusqu’à citer un fragment de Nietzsche dans lequel ce dernier proclame avoir liquidé le concept de volonté luimême! 39 Dès lors tous les «concepts» nietzschéens s’effacent au profit de la seule expérience d’une pensée se désignant elle-même. Les concepts, qui ne sont que les simulacres de cette expérience, perdent toute pertinence philosophique. Ils ne sont que les «signes» au travers desquels Nietzsche cherche à communiquer une manière de sentir, soit enseigner l’inenseignable. Cette expérience du «phénomène de la pensée», dégagée de toute catégorie empirique ou biographique, est en fin de compte tant celle de Klossowski que de Nietzsche. Est-ce Klossowski qui médite à travers Nietzsche sur un thème qui lui est propre ou découvre-t-il dans Nietzsche des préoccupations qu’il s’approprie? La question a-t-elle seulement un sens? Nietzsche ne pourrait-il pas aussi bien être le masque sous lequel Klossowski se pense que Klossowski le masque sous lequel la pensée de Nietzsche continue à penser? L’exégète, ayant rompu avec l’université ainsi qu’avec le langage des concepts, semble bien proche de sombrer dans la folie, imitant en cela la folie même de Nietzsche. Folie que Klossowski définit comme «perte du monde et de soi-même, au titre d’une connaissance sans commencement ni fin»40, tous les noms de l’histoire ayant été révélés à Nietzsche, Nietzsche étant devenu tous les noms. Et Klossowski de conclure: «L’intensité de la pensée s’exprime par cette alternative de la folie acceptée ou éludée; ou bien perdre le signe, le laissant pour lui-même, sachant qu’il existe ignoré du monde, et donc m’aliéner le signe qui pour soi n’a rien de 38 Ibid. p. 177. 39 «Meine Vollendung des Fatalismus: 1) durch die ewige Wiederkunft und Präexistenz, 2) durch die Elimination des Begriffs ,Wille’.», in: Friedrich Nietzsche, Nachlass 1884 – 1885, KSA, t.11, p. 70. 40 Ibid. p. 346.

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fou; ou bien subir l’intensité du signe, quitte à perdre le monde, pour connaître sans commencement ni fin.»41

Tel est le dilemme devant lequel Nietzsche se trouva placé et que Klossowski, pour sa part, dénoncera: la folie étant devenue cohérence de la pensée avec elle-même atteinte au cours d’une hausse phénoménale de l’intensité de cette dernière.

5 Nietzsche et le cercle vicieux. C’est ainsi que nous sommes parvenus sur le seuil du grand œuvre de Klossowski sur Nietzsche: Nietzsche et le cercle vicieux, paru en 1969. Comme nous l’avons montré, il ne semble pas que Klossowski à la fin des années soixante, se soit encore préoccupé de philosophie. Au contraire, au fil des années depuis l’après-guerre et au fil de ses travaux sur Nietzsche, il s’est progressivement éloigné de tout débat philosophique, pour se tourner de plus en plus vers un espace d’affabulation dont toute vérité philosophique est exclue, ne s’intéressant chez Nietzsche qu’au seul «fait que la pensée tourne sur le délire comme sur son axe»42 et à la question: «qu’est-ce qui est lucide, qu’est ce qui est inconscient dans la pensée et dans nos actes – question souterraine qui au-dehors se travestit en une critique de la culture et s’explicite à dessein sous une forme encore intégrable aux discussions spéculatives et historiques de son temps.»43 Mais Nietzsche, selon Klossowski renoncera bientôt à toute intégration de ce type. Le Nietzsche de Klossowski, comme Klossowski lui-même, semble renoncer volontairement à toute forme de cohérence entre la pensée et le monde, telle que l’assurait le jeu des désignations, pour se consacrer entièrement à l’expérience de la cohérence de la pensée avec elle-même, soit cet anneau encerclant le délire, éternel retour tournant autour du chaos comme sur son axe. Sur cette rupture, Klossowski est absolument formel au début de la préface de son Nietzsche et le cercle vicieux où il écrit: «Voici un livre qui témoignera d’une rare ignorance: comment seulement parler de ,la pensée de Nietzsche’ sans faire jamais le point de ce qui a été dit depuis lors?»44 Mais Klossowski n’a nullement besoin de faire le point dès lors 41 42 43 44

Ibid. p. 346. Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, op. cit., p. 12. Ibid. p. 13. Ibid. p. 11.

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qu’il partage la sensibilité de Nietzsche. À l’instar de Bataille, Klossowski lit et sait écouter Nietzsche mieux que quiconque, car, comme il l’écrit lui-même, il «l’entend parler»: «Quel est donc notre propos – si toutefois nous en avons un? Mettons que nous ayons écrit une fausse étude. Parce que nous lisons Nietzsche dans le texte, que nous l’entendons parler, peut-être le ferions-nous parler pour ,nous-même’ et nous mettrions à contribution le chuchotement, le souffle, les éclats de colère et de rire de cette prose la plus insinuante qui se soit encore formée dans la langue allemande – la plus irritante aussi? Pour qui sait l’écouter, la parole de Nietzsche acquiert une vertu d’autant plus percutante que l’histoire contemporaine, que les événements, que l’univers commencent à répondre de façon plus ou moins divaguante aux questions que Nietzsche a posées, voici quelque quatre-vingts ans.»45

Au-delà de la personne que fut Nietzsche et des concepts qu’il laisse aux philosophes, il reste de lui, pour Klossowski, en premier lieu une voix, une intensité ou une impulsion que le traducteur du Gai savoir prétend encore entendre. La philosophie devient ici, une affaire d’ouïe et de complicité. Toutes les spéculations, les idées et les concepts, ne sont que les simulacres dont s’affuble l’impulsion la plus intense pour se communiquer et éveiller la sympathie et la complicité d’éventuels témoins … allant jusqu’à penser une forme délirante de complot rassemblant une poignée de penseurs ou d’artistes prêts «à casser en deux l’histoire de l’humanité».46 Foucault lorsqu’il fit de Nietzsche et le cercle vicieux le plus grand livre de philosophie qu’il ait jamais lu, partait-il d’un tel concept de la philosophie?

45 Ibid. p. 11. 46 Ibid. p. 23.

Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze Marc Rölli „Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, – oder waren wir’s, die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx?“1

Mit dem 1962 in Paris veröffentlichten Buch Nietzsche et la philosophie von Gilles Deleuze beginnt ein neuer Abschnitt der Rezeptionsgeschichte der Schriften Nietzsches.2 Haben bis dahin, grob gesagt, die „metaphysischen“ Lesarten dominiert, so rückt nun eine radikal metaphysikkritische, d. h. immanenz- und differenzgetestete Spielart der Nietzsche-Interpretation in den Vordergrund. Für diese Verschiebung der Perspektive steht exemplarisch die Durchstreichung des majestätischen Singular eines einzigen und universalen Willens zur Macht zugunsten einer Pluralität von Willen-zur-Macht-Prozessen.3 Gegen die zumeist entweder über Schopenhauer vermittelten oder von Heidegger (zeitweilig auch von Bäumler) inspirierten metaphysischen Deutungen 1 2 3

KSA 5, S. 15. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991. „Die Annahme einer Substantialität wurde zuerst von W. Müller-Lauter zurückgewiesen. Müller-Lauter hat, besonders gegen die von Heidegger vorgetragene Nietzsche-Deutung, herausgestritten, daß es sich in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht nicht um ein einheitliches ens metaphysicum, nicht um einen sich selbst wollenden Wesenswillen, sondern um eine Vielheit miteinander kämpfender Willen zur Macht handelt.“ (Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1984, S. 20 – 21.) Abel läßt hier aus, worauf Müller-Lauter in seinem Text von 1971 hingewiesen hat, daß nämlich bereits 1962 Deleuze der metaphysischen Interpretation das pluralistische Konzept einer „Vielheit von Willen zur Macht“ entgegengestellt hat. Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Jörg Salaquarda (Hrsg.), Nietzsche. Wege der Forschung Bd. 521, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 234 – 287, hier S. 246. Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 240 (Endnote 98), wo sich Deleuze explizit von den Nietzsche-Interpretationen Heideggers absetzt.

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des Willens zur Macht als fundamentales Prinzip der Spätphilosophie Nietzsches tritt somit in Frankreich ein „nachmetaphysisches“ Denken auf, das in seinen häufig als „strukturalistisch“ und „poststrukturalistisch“ bezeichneten Bemühungen um eine Position diesseits des Subjekts in Nietzsche ihre privilegierte Bezugsperson findet. In diesem Zusammenhang erklärt sich, warum Deleuze mit seinem NietzscheBuch ein so breites Echo hervorrufen konnte. Er liefert der strukturalistischen „Bewegung“ mit Nietzsche einen dezidiert philosophischen Halt. Hinzu kommt, daß er mit seiner Nietzsche-Auslegung eine kompromißlose Gegenposition gegen den philosophischen Traditionalismus entwickelt, die noch über Heideggers Ansatz zu einer Destruktion der Metaphysik hinausgeht. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Deleuze mit seinem Nietzsche-Buch nicht nur für die Nietzsche-Rezeption einerseits und die Konsolidierung „strukturalistischer Methoden“ innerhalb der Philosophie andererseits Entscheidendes geleistet hat, sondern zudem seine eigene Form des Philosophierens erst anhand seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche erarbeitet. Ein erster Bezugspunkt von Nietzsche et la philosophie ist der „Freudo-Marxismus“ in der politischen Theorie. Deleuze wendet sich gegen den zeitgenössischen Unterdrückungs- und Befreiungsdiskurs, indem er seine dialektischen Grundlagen auf der Folie nietzscheanischer Denkmuster ausleuchtet. Gegen den „Negativismus“ Hegels wird der „Positivismus“ Nietzsches ausgespielt. Mit Nietzsche unternimmt Deleuze eine progressive „Kritik der Modernität“,4 indem er ihn in eine Traditionslinie mit Kants kritischer Philosophie stellt. Auf diesem Weg eröffnet sich die „Immanenzebene“ des Willens zur Macht als Inbegriff mannigfaltiger Willen-zur-Macht-Prozesse. Hinter der Oberfläche der angriffslustigen Positionierung im Kontext der politischen Denkweisen verbirgt sich ein grundsätzlicher philosophischer Entwurf, der in Nietzsches Lehre von den Willen zur Macht eine metaphysikkritische Alternative zum dogmatischen Bild des Denkens der herkömmlichen (rationalistischen) Philosophie, vor allem aber zur Dialektik in ihrer an Hegel geschulten Ausprägung bietet. In dieser Stoßrichtung liefert Nietzsche die Vorgaben für die von Deleuze in den folgenden Jahren unternommene Ausarbeitung einer Philosophie der „unbewußten“ 4

Vgl. KSA 5, S. 24, und KSA 6, S. 350. Vgl. Marc Rölli, „Wir modernen Menschen – wir Halbbarbaren“, in: Sic et Non. zeitschrift fr philosophie und kultur. Im netz 2004, http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/historie/nietzsche.htm.

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Kraftkonstellationen, Wiederholungsformen und Machtstrukturen, sowie der nicht negationslogisch verstellten Differentialverhältnisse. Zwei Problemkreise, die im Werk von Deleuze regelmäßig wiederkehren, lassen sich vorab herausstellen. An erster Stelle steht die Konzeption des „Willens zur Macht“. Nach Deleuze steht sie im Zentrum einer immanenten Philosophie, die sich jegliche Zugeständnisse an transzendente Bezugsgrößen verbietet, die außerhalb der Erfahrung situiert sind – bzw. genauer: dorthin fingiert sind. So wird auch verständlich, warum Deleuze seine Philosophie gelegentlich als „empiristisch“ einstuft. Der Wille zur Macht als Begriff mannigfaltiger „Willen-zur-Macht-Prozesse“ fungiert als Grundbegriff eines nicht länger klassischen, auf Erfahrungsatomen fundierten, sondern radikalen Empirismus, der dem reinen Erfahrungsfluß den Primat vor den ihn repräsentierenden subjektiven Akten einräumt. Diese Prozessualität eines Werdens, das sich festen ontologischen Zuordnungen sperrt, wird laut Deleuze im Gedanken der ewigen Wiederkunft von Nietzsche gedacht.5 Ein weiteres, mit dem ersten korrespondierendes Hauptthema der Deleuzeschen Nietzsche-Rezeption liegt im Umfeld der Nihilismusthese und der Problematik von Lebensverneinung und Lebensbejahung. Als „nihilistisch“ gilt, was im Namen transzendenter Werte die immanenten Lebensverhältnisse negiert. Deleuze lehnt sich an Nietzsches Diktum von den moralischen Qualitäten des Willens zur Wahrheit an, der nach reinen, gesicherten, befreienden und unbedingten Erkenntnissen sucht, die sich nicht im Bereich des Vergänglichen und Perspektivischen finden lassen. Nihilistisch ist die Wahrheitsliebe selbst, wenn sie die Höhlenlandschaft der irdischen Lebenswelten im Sonnenlicht des Idealen verschattet. Gerade in der Unfähigkeit zum Guten, zum Schönen und zum Wahren bringt sich eine Positivität zum Ausdruck, der mit der Idee vom Willen zur Macht ihre philosophische Rechtmäßigkeit wiedergegeben wird. Mit diesen wenigen thesenartigen Bemerkungen vorweg ist nicht viel gesagt. Deutlich wird aber, daß auch Deleuze die Philosophie Nietzsches von ihrem Ende her angeht und begreift, das heißt ausgehend von ihren berühmt-berüchtigten Pathosformeln (Wille zur Macht, ewige Wiederkehr, Nihilismus), die einen wie auch immer genauer 5

Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 58 ff. Ausdrücklich führt er in seinem Nietzsche-Buch den Willen zur Macht und die ewige Wiederkunft als Komplementärbegriffe ein, die philosophiegeschichtlich das Thema von Differenz und Wiederholung erstmals konsistent durchführen.

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beschaffenen systematischen Ansatz und Zusammenhang nahe legen. Im Unterschied zur überwiegenden Mehrzahl älterer Nietzsche-Deutungen verläßt er aber mit Nietzsche den Boden der Metaphysik. Dieser Anspruch wird zunächst in Nietzsche et la philosophie mit direkter Bezugnahme auf Nietzsches Texte eingelöst. Einige Jahre später entfaltet Deleuze in Diffrence et rptition dieselbe Problematik auf mehreren theoretischen Schienen und weitaus differenzierter, abgelöst von Nietzsches Terminologie und in enger Korrespondenz mit entsprechenden Texten und Problemen der abendländischen Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger.6 Im Folgenden werden zunächst die grundlegenden „metaphysikkritischen“ Gemeinsamkeiten von Deleuze und Nietzsche herausgestellt. Anschließend komme ich auf die zeitphilosophischen Kernpunkte zu sprechen, die das Konzept der Wiederholung bei Deleuze bestimmen. Drittens werde ich die These aufstellen und verfechten, daß Deleuze den Gedanken von der ewigen Wiederkunft als höchste Form der Zeit aufgreift und deutet.

I. Bild des Denkens Im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Bçse (1886) hat Nietzsche auf unüberbietbare Art und Weise die moralischen Vorurteile „der Philosophen“ als ihre ebenso impliziten wie die Gesamtheit ihres Denkens beherrschenden „Wertschätzungen“ aufgedeckt.7 „In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will er –) hinaus?“8 Mit seiner „psychologischen“ Methode und Fragehaltung fördert Nietzsche einige typische Merkmale vergangenen Philosophierens ans Tageslicht: zunächst den „Grundglauben der Me6

7 8

Zentrales Thema ist der Gedanke von der ewigen Wiederkunft im zweiten Kapitel von Diffrence et rptition, wo er als höchste Form von drei Wiederholungstypen begriffen wird. Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (1968), aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München: Wilhelm Fink 1991, S. 123 – 127, S. 153 ff. Vgl. dazu ausführlich: Marc Rölli, Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia + Kant 2003, S. 333 – 371. Vgl. KSA 5, S. 19 – 20. KSA 5, S. 20.

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taphysiker […] an die Gegensätze der Werthe“9 sowie den guten Willen zur Wahrheit, sodann die dogmatische Einstellung, eine Interpretation für die Sache selbst (den „Text“) gelten zu lassen, – und zuletzt einige tief in der Grammatik verwurzelten „Volks-Vorurtheile“,10 die als Fundamente philosophischer Systeme eingesetzt werden, zum Beispiel der Glaube an einen freien Willen, der Glaube an die ursprüngliche Einheit des Denkens und Selbstseins, der Glaube an die Kausalität als allgemeines und notwendiges Gesetz der Natur. Als exemplarische Anfangspostulate oder Überzeugungen bezieht er sich auf die Begriffe des Denkens und Wollens bei Descartes und Schopenhauer.11 Beide erliegen einer „Verführung der Worte“,12 indem sie vorgeben, von der „bekannteste[n] Sache von der Welt“ zu reden, d. h. von dem, was uns „eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt“ sei.13 Nun sind diese impliziten Vorannahmen keineswegs harmloser Natur, vielmehr kommt in ihnen ein fest in den Sprachstrukturen sitzender metaphysischer Glaube zum Ausdruck, der sich auf sichere Instanzen zur Begründung der moralischen Werteordnung berufen will. Diese steht allerdings auf wackeligen Füßen, da sie sich auf dogmatische Festlegungen stützen muß, die skeptisch, d. h. im Hinblick auf ihren immanenten Perspektivismus, auf ihren unhaltbaren Kern hin analysiert werden können. Das von Nietzsche in Aussicht gestellte „zukünftige“ Bild des Denkens unterscheidet sich von seinen dogmatischen Vorläufern zunächst dadurch, daß es die natürliche Verwandtschaft zwischen dem Denken und der Wahrheit – quasi als Ausdruck des moralischen Vorurteils par excellence – in Frage stellt.14 Deleuze konzipiert diesen ersten 9 KSA 5, S. 16. 10 KSA 5, S. 32. 11 „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es ,unmittelbare Gewissheiten‘ gebe, zum Beispiel ,ich denke‘, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, ,ich will‘: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich‘ […].“ (KSA 5, S. 29.) 12 KSA 5, S. 29. 13 KSA 5, S. 31. 14 Nietzsche problematisiert die Instanz des Fragens, des Willens zur Wahrheit. „Was in uns will eigentlich ’zur Wahrheit’?“ Seine Antwort lautet, dass es der Wille zur Macht ist, der im Willen zur Wahrheit will, und dass „die“ Wahrheit ein metaphysischer Begriff ist, der auf nicht eigens thematisierten normativen Voraussetzungen beruht. Die Angleichung dieser Voraussetzungen an das genetische Prinzip des Voraussetzens führt Nietzsche dazu, nicht aus der „Falschheit“ eines Urteils einen Einwand gegen es abzuleiten. „Warum auch

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Aspekt als Postulat von der „Wahrhaftigkeit des Denkens“. 15 Damit ist die implizite rationalistische Unterstellung gemeint, daß dem Denken als natürliche menschliche Fähigkeit die Wahrheit formell zugehört, „daß es folglich ausreiche, ‘wirklich‘ zu denken, um wahrheitsgemäß zu denken“.16 Zweitens weist Nietzsche die Vorstellung von sich, die Wahrheit kçnnte erreicht werden. Die „Scheinwahrheiten“ sind keine vorläufigen Wahrheiten in dem Sinne, daß ihr minderer Status in absoluter, nicht perspektivisch gebrochener Erkenntnis, zumindest potentiell, aufgehoben ist. Für Deleuze ist dieser zweite Aspekt als (dogmatisches) Postulat des Methodenideals zu fassen. Es besagt, daß „wir Menschen“ nur faktisch vom Weg der Erkenntnis abgekommen sind, daß es uns aber mit der richtigen Methode schon gelingen wird, das von Rechts wegen unsere Gattung auszeichnende Wissen um die vernünftige Ordnung der Wirklichkeit zu erfassen. Und zuletzt bekämpft Nietzsche die metaphysische Setzung eines „Glauben[s] an die Gegensätze der Werthe“.17 Mit diesem Glauben verbindet sich die Auffassung, daß die Wahrheit, der Wille zur Wahrheit, die „selbstlose Handlung“ oder „das reine sonnenhafte Schauen des Weisen“ nicht aus dem Willen zur Täuschung, aus dem Eigennutz oder der Begehrlichkeit abgeleitet werden kann. Somit wird ein reines, unvergängliches, göttliches Sein der „vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt“, „diesem Wirrsal von Wahn und Begierde“18 entgegengesetzt. Gegen die Erklärung der Nichtigkeit der diesseitigen körperlichen und zeitlichen „Existenz“ wendet sich Nietzsche mit der These, daß das „,Bewußtsein‘ in [keinem] entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt“, sondern ganz im Gegenteil „das meiste bewußte Denken eines Philosophen […] durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte

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durchaus Wahrheit?“ (KSA V, S. 30.) Es ist (auf Kant bezogen) eben nicht die Frage, „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“, sondern die Frage, „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?“ zu stellen. Unmöglich kann auf falsche Urteile im Sinne von „Vordergrunds-Schätzungen“ (KSA V, S. 16) verzichtet werden. „Eine Philosophie, die [es] wagt, […] die Unwahrheit als Lebensbedingung zu[zu]gestehn […], stellt sich damit allein schon jenseits von gut und böse.“ (KSA V, S. 18.) Von daher wird es einsichtig, dass für Deleuze im Anschluss an Nietzsche das dogmatische und das moralische Bild des Denkens unmittelbar zusammenhängen. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113. Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113. KSA 5, S. 16. KSA 5, S. 16.

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Bahnen gezwungen [ist].“19 Deleuze bringt diesen dritten Aspekt als Postulat des Irrtums auf den Punkt. Der Irrtum repräsentiert das NichtSein überhaupt, und zwar in der logischen Fassung eines Effekts „von Kräften, die dem Denken äußerlich sind (Körper, Leidenschaften, sinnliche Interessen).“20 Somit macht sich der Irrtum nicht als scheinhaft-unwahre Struktur des Denkens de iure geltend, als immanentes Unbewußtes des Bewußtseins, sondern als bloßes „Nicht-Denken“, das als nichtiges Moment von der wahren Beschaffenheit des intelligiblen Realitätscharakters abfällt, sofern man ihm näher kommt. Gegen diese dogmatischen Merkmale eines verbreiteten philosophischen Selbstverständnisses richtet sich nun das von Nietzsche vorgeschlagene und von Deleuze nachgezeichnete neue oder amoralische Bild des Denkens: „Denn dieses [Denken; Vf.] ist niemals nur natürliches Vollziehen eines Vermögens. Das Denken denkt nie allein und durch sich; ebenso wenig wird es einfach nur durch ihm angeblich äußerlich bleibende Kräfte gestört. Denken hängt ab von Kräften, die sich seiner bemächtigen.“21 Sein „Wert“ bemißt sich an den Kräften, die es zu denken determinieren. Mit dieser Bestimmungsgrundlage verändert sich das gesamte begriffliche Koordinatensystem. Es muß mit einem „blinden Fleck“ als Vorgabe und Stimulans der Vernunft gerechnet werden, von dem aus sich Probleme aufwerfen und Fragen stellen. Von hier aus wird nachvollziehbar, wie sich das Unvermögen zu denken in seiner Positivität zur Geltung bringt. Schließlich ist es nicht länger auf eine bloß subjektive Gestörtheit zu reduzieren. Genau an diesem Punkt aber tritt der Wiederholungsgedanke hervor, aus dem Schatten einer (fingierten, transiterativen) Wahrheit heraus, die mit ihrer Teleologie die Wiederholung – so schien es – zum Stillstand brachte. Somit entfaltet sich die Wiederholung auf der ganzen Linie der Zeitlichkeit, die inmitten des Subjekts einen Bezug zu sich etabliert, der die Entzweiung „des Subjekts mit sich“ vor jeder Identitäts-Behauptung zur Ausgangstatsache erklärt.

19 KSA 5, S. 17. 20 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113. 21 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 118.

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II. Synthesen der Zeit Am Leitfaden der „drei Synthesen“, die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft ins Zentrum der transzendentalen Analytik der Erfahrung gestellt wurden, entwickelt Deleuze in Diffrence et rptition eine originelle Theorie der Wiederholungsformen.22 Er lehnt sich hierbei – durchaus in kritischer Absicht – an die von Husserl unter dem Stichwort der „passiven Synthesen“ und an die von Heidegger unter dem Stichwort der „Zeitsynthesen“ vorgelegten Interpretationen der Kantischen Ausführungen an. Die erste Synthese der Apprehension wird von ihm als empirische und passive Synthese der Gegenwart expliziert, die am Vorbild des Husserlschen Zeitbewußtseins orientiert ist und den ersten Wiederholungsmodus zur Darstellung bringt.23 Zunächst stellt Deleuze heraus, daß sich von der Grundlage der passiven Zeitsynthesen der lebendigen Gegenwart die aktiven Synthesen abheben, die reflexive Zeitformen generieren: d. h. „willkürlich“ abgetrennte Formen der Vergangenheit und der Zukunft, die sich von der Gegenwart abtrennen und für sich selbst repräsentieren lassen.24 In diesen Zusammenhang gehören „objektive“ Wiederholungsfälle, die unabhängig von einem „passiven“ Wiederholungssubjekt eine Realität an sich konstituieren. Die so blockierte Wiederholung, die sich auf äußerliche Gegebenheiten erstreckt, die – unter einem sie subsumierenden Begriff – als dieselben reproduziert werden können, unterstellt ein betrachtendes „Subjekt“, das die geschiedenen Fälle als begrifflich identisch und zeitlich verschoben zu Bewußtsein bringt. Das bedeutet aber, daß die aktiven Synthesen der Repräsentation nicht nur eine passive Synthese der Gegenwart, sondern auch ein passives Gedächtnis voraussetzen, das vergangene Gegenwarten aufbewahrt. Mit dieser Annahme unterhöhlt Deleuze nicht nur die „vulgären“, mechanistischen Zeit- und Wiederholungsvorstellungen, sondern unterminiert auch die phänomenologische Erfahrungsganzheit. 25 Es ist nicht so, daß die passiven Synthesen 22 23 24 25

Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 99 – 168. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 100. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 101. Sowohl Husserl als auch der frühe Heidegger integrieren die Syntheseformen der Wahrnehmung und der Erinnerung in die ursprüngliche subjektive Einheit der Apperzeption, wie sie in der letzten und höchsten der drei Kantischen Synthesen, nämlich im Vollzug der Rekognition, sich konsolidiert. Deleuze hingegen ordnet gerade die Rekognition, d. h. die begriffliche Vergegenwär-

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als untere Konstitutionsschichten einer aktiv begriffenen Einheit der Apperzeption aufgefaßt werden könnten. Den Begriff der Wiederholung bestimmt Deleuze genauer, indem er in die noch unbeleuchteten Tiefen des Zeitbewußtseins vordringt und auf die zweite Synthese der Vergangenheit oder des Gedächtnisses aufmerksam macht, die noch unterhalb der lebendigen Gegenwart lokalisiert ist. Es bezeichnet die Paradoxie der Gegenwart, daß sie die Zeit konstituiert – und doch nicht mit dieser Zeit „koextensiv“ ist, d. h. in ihr vorübergeht. Dieses „Vorübergehen“ verlangt somit nach einer Fortbestimmung der Zeit, die als „lebendige Gegenwart“ noch nicht zureichend beschrieben ist. Deleuze „löst“ dieses Rätsel, indem er eine zweite Zeitsynthese konzipiert, die der ersten zugrunde liegt. Entscheidend ist dabei, daß die Vergangenheit nicht länger als eine der beiden auf die Gegenwart relativen Zeitdimensionen aufgefaßt wird. Innerhalb der ersten Zeitsynthese kann das Vergehen der Gegenwart nicht gedacht werden. Laut Deleuze läßt sich die Vergangenheit, wie sie sich im Gedächtnis vor allen bewußten Akten des Sich-Erinnerns akkumuliert, nicht im Ausgang von der Gegenwart begreiflich machen. Ein dem Zeitphänomen adäquater Begriff läßt sich nur konzipieren, wenn sich in ihm die passive und kontinuierlich von selbst ablaufende Anhäufung der reinen Vergangenheit reflektiert. Darauf hat Kant mit seiner Überlegung zur transzendentalen Synthese der Reproduktion, die sog. „Reproduzibilität“, Bezug genommen.26 Diese Synthese ermöglicht die empirische Reproduktion von Vergangenem, da sie den bewußten und willkürlichen Akten der Wiederholung voraus liegt.27 Auf dem bisher erreichten Niveau lassen sich nun zwei Wiederholungsordnungen unterscheiden. Deleuze spricht zumeist von „verkleideten“ oder virtuellen im Unterschied zu „nackten“ oder aktuellen Wiederholungen. Diese verlaufen von einer Gegenwart zur nächsten tigung und gegenständliche Bestimmung eines wahrgenommenen und dann auch reproduzierten Sachverhalts, als exemplarischen Fall den aktiven Synthesen zu, welche die passiven Synthesen nur berlagern, sie aber nicht im Wesentlichen erschließen. Vgl. Rölli, Gilles Deleuze (Anm. 6), S. 163 ff., 204 ff. 26 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787), herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg: Felix Meiner 1993, A 102. 27 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 116. Es war Bergson, der diesen Begriff einer Vergangenheit a priori, die niemals gegenwärtig war, entscheidend geprägt hat. Gleichwohl finden sich in der Entwicklung der Phänomenologie vielfältige zeitphilosophische Entwürfe, die auf Zeitformen der Vergangenheit (und auch der Zukunft) spekulieren, die die synchrone Einheitlichkeit des phänomenologischen Zeitbegriffs unterwandern.

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und etablieren ein Ähnlichkeitsmodell, da sie sich auf einen ersten Fall stützen, den sie nachbildend wiederholen. Ihr Differenzierungsvermögen bezieht sich einzig und allein auf die raum-zeitliche Vervielfältigung eines substantiell mit sich identischen „Urbilds“. Verkleidete Wiederholungen hingegen umfassen die Differenz in ihrer Totalität: Sie sind nicht auf einen „wahren“ Sachverhalt bezogen, zum Beispiel auf eine (frühkindliche, traumatische) Urszene, die sie zwanghaft umkreisen. Die bewußte Repräsentation des virtuellen Objekts (z. B. eines Kleinschen Partialobjekts), das in ihnen zirkuliert, ist nicht nur faktisch, sondern prinzipiell unmöglich. Deleuze bezeichnet sie nicht deshalb als „verkleidet“, weil sie unter ihren Hüllen eine nackte Wahrheit verbergen. Im Gegenteil: das Nackte ist eine Verkleidung, die sich nicht als solche kenntlich macht. Mit Nietzsche spricht er von den graduellen Abstufungen des Scheins, die sich nicht am Maßstab einer scheinlosen Wirklichkeit bemessen lassen. Die Wiederholung „liegt nicht unter den Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen“.28 Sie bildet sich im Ausgang von den virtuellen Strukturen, die sie impliziert, d. h. in Abhängigkeit von Wunschverkettungen oder Konstellationen eines Begehrens, das nicht einer empirischen Lustbefriedigung nachjagt, sondern sich aus permanenten intensiven und subrepräsentativen Synthesen zusammensetzt. In diesen Immanenzmilieus entwickeln sich die Wiederholungen, die das strukturelle Feld niemals abschließend aktualisieren, weil sie nur einen kleinen Teil davon explizieren können, während der große Rest – ein komplexer Aufbau virtueller Schichten, der sich unaufhörlich umstrukturiert – unter ihrer Oberfläche („Verkleidung“) im Dunklen bleibt. Somit bleibt ein beständiger SinnÜberschuß erhalten, der immer neue Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Zwei Probleme tauchen hier auf, die von Deleuze im Übergang zur dritten Synthese der Zeit behandelt werden, die im Zeichen der Zukunft und der ewigen Wiederkunft des Gleichen steht. Zum einen stellt sich das Problem der Indifferenz. Es könnte scheinen, als ob der Grund einer reinen Vergangenheit in sich zum differenzlosen Abgrund mutiert. Es ist dies die romantische Illusion eines metaphysischen Willens oder einer ursprünglichen Natur, aus der das intuitive Erkennen oder die intellektuelle Anschauung ihre Weisheiten schöpft – und worin die individuelle Seele ihr ganzheitliches Wohlgefühl zu finden sucht. Das zweite Problem bezeichnet der im Konzept der Vergangenheitssynthese 28 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 34.

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mitschwingende latente Platonismus, wodurch das Gedächtnis „ontotheologisch“ zur idealistischen Begründungsfigur der Repräsentanz als solcher überhöht wird. Beide metaphysischen Illusionen bekämpft Deleuze mittels einer „dekonstruktiven“ Überlegung zum einheitlichen Status des philosophischen Subjekts. Im Hintergrund dieser Überlegung steht Nietzsche und sein „schwerster Gedanke“.

III. Ewige Wiederkunft Es ist bekannt, daß Nietzsche sein Konzept der ewigen Wiederkunft sämtlichen Formen des Nihilismus entgegenstellt, die sich dadurch auszeichnen, nicht die diesseitige „Welt der Begierden und Leidenschaften“ bejahen zu können und stattdessen die Wirklichkeit im Zeichen von teleologischen, ontologischen und epistemologischen Begriffen verfälschen. „Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.“29 Diese fingierte Welt von Metaphysikern und Theologen behauptet ihren Wert auf Kosten einer Entwertung des vergänglichen Lebens. Der Wiederkunftsgedanke hingegen wendet sich gegen den Nihilismus, indem er den modernen Prozeß des „Unglaubwürdigwerdens“ der metaphysischen Werte nicht (unglücklich, resigniert, konservativ) aufhält, sondern noch beschleunigt: Er findet das Prinzip der Wertsetzung im ganz und gar immanenten Prinzip des Willens zur Macht. Von daher sieht die Welt nur so lange wertlos aus, wie die alten Werte ihr Bild bestimmen und kein affirmativer Gebrauch von den endlichen „Seelenkräften“ und körperlichen Vermögen gemacht wird.30 Die philosophische Schwierigkeit dieses Gedankengangs besteht darin, daß noch ungeklärt ist, was sich in der ewigen Wiederkunft bejaht bzw. was es ist, das sich wiederholen will oder was es ist, das (sich) im Willen zur Macht will. An diesem Punkt dividieren sich die Nietzsche-Deutungen auseinander. Für Deleuze ist entscheidend, daß mit Nietzsche ein prozessuales, von keinen transzendenten Instanzen überschattetes immanentes und gesellschaftliches „Leben“ zum Vorschein kommt, das gerade in seinem Affekt gegen ontologische Ein29 KSA 13, 11[99]. 30 Vgl. KSA 13, 11[99].

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heitskonzeptionen jeder Art das ungeschminkte „Sein“ der Zeit, seinen radikalen Werdenscharakter, zu denken erlaubt. Dies spiegelt sich darin, daß mit der dritten Synthese „die Wiederholung der Zukunft als ewige Wiederkunft“ thematisch wird.31 „Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von der Differenz und dem Differenten aussagt.“32 Hiermit sehen wir uns auf Nietzsches in den späten Nachlaß-Texten präsentierte „WeltConception“ verwiesen, in der „das Werden […] in jedem Augenblick […] gerechtfertigt [oder unabwerthbar] erscheint.“ In dieser Welt gibt es „nichts Seiendes“, weder Subjekt noch Objekt, keine festen Formen oder Qualitäten: „So bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben […].“33 Dieses „mikrophysikalische“ Konzept nimmt Deleuze als Vorlage seines Strukturdenkens, das sich seit den 70er Jahren in den Begriffen von Maschinen, Gefügen und Plänen der Immanenz artikuliert. Zwar befindet sich die Wiederholung im transzendentalen Modus der Virtualität bereits auf dem Niveau der dritten Zeitsynthese. Allerdings verbindet sich mit der Fixierung auf das Gedächtnis noch eine schlechte Zweideutigkeit, die nur im Bezug auf die Wiederholungsform der Zukunft getilgt werden kann. Deleuze erläutert das Problem mit Blick auf die platonische Anamnesis-Lehre, die in der reinen Vergangenheit der Idee mittels der Wiedererinnerung die Zeit begründet.34 Die Relativität zwischen Grund und Begründetem wiederholt die Grundfigur der transzendental-empirischen Dublette. „Die Unzulänglichkeit des Grunds liegt darin, daß er relativ zu dem ist, was er begründet, daß er die Merkmale dem entnimmt, was er begründet, und 31 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124. 32 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 373. „Die ewige Wiederkehr sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 372.) 33 KSA 13, 14[79]. 34 „Dennoch bleibt bestehen, daß die Idee gleichsam der Grund ist, von dem aus sich die sukzessiven Gegenwarten im Kreis der Zeit anordnen, so daß sich die reine Vergangenheit, durch die sie selbst definiert wird, notwendig noch in Begriffen der Gegenwart ausdrückt, als einstige mythische Gegenwart. Dies war bereits die ganze Zweideutigkeit der zweiten Synthese der Zeit.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 121.)

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sich über sie beweist.“35 Von daher bestimmt sich die Vergangenheit nicht durchweg aus dem strukturellen Element symbolischer Verhältnisse, sondern verformt sich begründungslogisch zu einem Möglichkeitsrahmen, der nicht nur den vorübergehenden Gegenwarten a priori vorausgesetzt ist, sondern in den abstrakten, d. h. von den empirischen Akten abstrahierten, Bedingungen jeder möglichen Repräsentation seinen wesentlichen Inhalt findet. Hiermit etabliert sich eine subjektive Position (aktiver Synthesis), die im Gedächtnis einen Halt findet, sofern dieses eidetische Invarianten als Wesensformen der Erinnerung (qua Vergeistigung) beinhaltet. Der Übergang in die dritte Zeitsynthese ist unvermeidlich, will man der Zweideutigkeit, die im Wesen der Vergangenheit als Zeitgrund beschlossen liegt, entkommen. Das Gedächtnis muß sich vorbehaltlos der Zukunft öffnen. Deleuze arbeitet an dieser „Öffnung“, indem er sich auf die Kantische „Revolution“ der Denkungsart besinnt und alle Konsequenzen zieht, die sich aus der transzendentalphilosophischen Einführung der Zeit als „Form, in der die unbestimmte Existenz durch das Ich denke bestimmbar ist“ ergeben.36 Mit der Zeit, die das Denken von innen heraus heimsucht, wird ein feiner Sprung im Gehäuse der subjektiven Einheit bemerkbar. Worin besteht dieser Sprung oder „Riß im Ego“, – und warum schließt er die Kohärenz des Ichs mit sich selbst aus? Für Deleuze ist die Antwort leicht zu geben. Gemäß der Triftigkeit der Kantischen Argumente gegen den cartesianischen Kurzschluß cogito ergo sum, nämlich der kritischen Auftrennung der natürlichen Verbindung zwischen der Bestimmung „ich denke“ und der unbestimmten Existenz „ich bin“, ergibt sich die von Kant so genannte „Paradoxie des inneren Sinns“.37 Sie besteht darin, „daß wir […] uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden“ und somit „unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen.“38 Das Dasein läßt sich nur bestimmen, indem in der „Selbstanschauung“ ein Mannigfaltiges gegeben ist, das als solches „eine a priori gegebene Form, d. i. die Zeit, zum Grunde liegen hat, welche sinnlich und zur Rezeptivität des Bestimmbaren gehörig 35 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 121. Vgl. zu dieser Figur einer Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1966), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 384 – 389. 36 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 119. 37 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 152 f. 38 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 156.

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ist.“39 Aus diesen Prämissen folgt aber, wie Kant selbst an einer für Deleuze zentralen Stelle des Deduktionskapitels ausführt, daß das passive Ich und die Spontaneität des bestimmenden Subjekts – und zwar aufgrund der Zeit als Form des inneren Sinns, die den Unterschied macht – nicht zur Deckung gebracht werden können. „Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin, ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein, als eines selbstttigen Wesens, nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneitt meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar.“40 Das passive Subjekt, das sich in der „Form der Bestimmbarkeit“, d. h. in den Zeitsynthesen „konstituiert“, ist somit auf einen immanenten Prozeß zeitlicher „Selbstaffektion“ verwiesen: Es ist nur so bestimmbar, wie es in der Zeit erscheint, d. h. nicht als „Dasein eines selbsttätigen Wesens“. Während Kant die spekulative Einheit des Subjekts wiederherstellt, indem er das Prinzip der Synthesis aus dem Bereich der Passivität heraushebt, insistiert Deleuze darauf, daß die Zeit als transzendentale Form des inneren Sinns in keiner Weise mit den kategorialen Verstandesformen a priori konform gehen muß.41 Ihre De-

39 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 157. 40 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 157 – 158 [Hervorh. M. R.]. Deleuze kommentiert diese Textstelle mit den Worten: „Dem ,Ich denke‘ und dem ,Ich bin‘ muß das Ich [moi] hinzugefügt werden, d. h. die passive Position […]; der Bestimmung und dem Unbestimmten muß die Form des Bestimmbaren, d. h. die Zeit, hinzugefügt werden. […] Von einem Ende zum anderen ist das ICH [ JE] gleichsam von einem Riß durchzogen: von einem Riß, der ihm durch die reine und leere Form der Zeit zugefügt wurde. In dieser Form ist es das Korrelat des passiven Ich [moi], das in der Zeit erscheint. Ein Sprung oder ein Riß im Ego [ Je], eine Passivität im Ich [moi] – dies ist die Bedeutung der Zeit.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S.119.) 41 In der Anthropologie akzentuiert Kant diesen Punkt: „Hier scheint uns nun das Ich doppelt zu sein […]. Die Frage, ob bei den verschiedenen inneren Veränderungen des Gemüts […] der Mensch, wenn er sich dieser Veränderungen bewußt ist, noch sagen könne, er sei ebenderselbe (der Seele nach), ist eine ungereimte Frage; denn er kann sich dieser Veränderungen nur dadurch bewußt sein, daß er sich in den verschiedenen Zuständen als ein und dasselbe Subjekt vorstellt, und das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalte) nach zwiefach.“ (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders., Werke in sechs

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finition fällt rein formal aus: als unveränderliche Form der Veränderung wird die Zeit durch eine Zäsur bestimmt, die ein für allemal die beiden Seiten des Vorher und Nachher festlegt, auf denen sie „sich“ ungleichmäßig verteilt. Diese „leere Form der Zeit“ entspricht ihrer dritten Synthese, sofern „die Zäsur genau der Ursprungsort des Risses“ ist, der die Zeit aus den subjektphilosophischen Angeln hebt und sie „vom Zwang der Ereignisse [befreit], die ihren Inhalt ausmachten“.42 Mit Kant gesprochen: „Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren.“43 Ihre reine Ordnung a priori liegt nicht in einer der Zeit vorgeordneten Einheit, vielmehr bestimmt sie durch die Unerbittlichkeit ihrer Zäsur die Differenz als Seinsprinzip eines durch und durch prozessualen Verlaufs des „Wandelbaren“, d. i. die virtuelle Mannigfaltigkeit in der Kontinuität singulärer Modifikationen ihrer selbst. Die Wiederholung der Zukunft, die „nur das Zu-Kommende [venir] wiederkehren läßt“, ergibt sich aus der Aleatorik des Augenblicks. Dieser bezeichnet den virtuellen Punkt einer Umverteilung von Vergangenheit und Zukunft, die sich permanent unterhalb der zeitlich ausgedehnten Gegenwart vollzieht.44 Diese statische Syntheseform bricht mit der Kohärenz meiner eigenen Identität im Sinne einer die Zeitprozesse umgreifenden Einheit und bringt den ontologischen Primat der Differenz philosophisch zum Ausdruck: Es gibt Zeit. Hiermit bestimmt sie den (unbewußt affektiven) Beginn der „Erfahrung“ innerhalb der (bewußten) Erfahrung, ihren differentiellen Untergrund, der sich in einzelnen Aktualisierungslinien immer wieder neu expliziert. Von daher sind die strukturellen Bedingungen den phänomenologischen Erfahrungsbereichen keineswegs abstrakt vorgeordnet, vielmehr strukturieren sie ihren Aktualisierungsverlauf, indem sie gleichzeitig sich selbst strukturieren. Im Gedanken der ewigen Wiederkunft schließt Deleuze seine Überlegungen zur dritten Synthese der Zeit zusammen.45 Sie läßt nur

42 43 44 45

Bnden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 395 – 690, hier S. 417.) Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 122. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), A 144/ B 183. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 125. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124 f., S. 129, S. 164 – 165. „Die ewige Wiederkehr […] ist überschießende Wiederholung, die vom Mangel oder vom Gleichwerden nichts fortbestehen läßt. Sie ist selbst das Neue, die ganze Neuheit. Sie ist sich selbst die dritte Zeit der Reihe, die Zukunft als solche.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 124.)

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die Zukunft wiederkehren, sie wird „buchstäblich Zukunftsglaube genannt“, und ordnet sich Gegenwart und Vergangenheit als verschwindende „Dimensionen“ ihrer synthetischen Verfaßtheit unter.46 Deleuze interessiert sich nicht für die Wiederkehr identischer Flle, die Nietzsche aufgrund kosmologischer Spekulationen zur Formulierung seiner „ethischen“ Ausdeutung des Wiederkunftsgedankens heranzieht. Stattdessen interpretiert er die Wiederkunft des Gleichen im Sinne der letzten Zeitsynthese, wonach die Zäsur (zwischen Vorher und Nachher) eine unveränderliche Form darstellt, die gerade weil sie ständig wiederkehrt, nur Veränderungen zuläßt. Von ihr läßt sich nur die Differenz aussagen.47 „In diesem Sinne ist die ewige Wiederkunft tatsächlich die Folge einer ursprünglichen, reinen, synthetischen Differenz an sich (was Nietzsche Willen zur Macht nannte).“48 Wenn sich Deleuze mit dieser Auslegung auch von einer in Nietzsches Texten immer wieder auftauchenden Gedankenfigur trennt, so kann er dennoch an die meisten Überlegungen anknüpfen, die Nietzsche mit der ewigen Wiederkunft verbindet. Da wäre einmal der zeitphilosophische Begriff des Augenblicks zu nennen, der mit einer rigorosen Ausdeutung eines nicht zyklischen, sondern linearen Zeitverlaufs verschmilzt – und zudem die von Deleuze ins Spiel gebrachte virtuelle Tiefe aufweist. Weiter wäre auf die enge Verbindung hinzuweisen, die die Wiederkunft mit der Problematik des Nihilismus unterhält. In einer eng gedrängten Textpassage hin zum Ende von Differenz und Wiederholung wiederholt Deleuze noch einmal die zentralen Motive seiner Interpretation der ewigen Wiederkunft.49 Besonderen Wert legt er dort auf ihren selektiven Aspekt, d. h. auf die in ihrem Namen stattfindende Tilgung der Wiederholungsformen von Gegenwart und Vergangenheit. Es handelt sich darum, das Negative auszusondern, und zwar im Sinne einer „doppelten Bejahung“, indem dasjenige verneint wird, was in die Bejahung ein negatives Moment einführt. Bereits in Nietzsche und die Philosophie konnte man lesen: „Wiederkehren ist das Sein der Differenz unter Ausschluß von jeglichem Negativen. […] Das 46 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124. 47 „Nicht das Selbe kehrt wieder […], vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr des Wiederkehrenden, d. h. des Differenten […]. Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von der Differenz und dem Differenten aussagt.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 373.) 48 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 164 – 165. 49 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 368 – 374.

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Negative scheidet dahin, vor den Toren des Seins.“50 Die Differenzen resultieren aus der Zeitform, die keine übergreifenden ontologischen Einheiten bestehen läßt und somit gerade die Überführung oder Zuspitzung der Differenz auf die Negation und den Gegensatz zurückweist, d. h. die Einschränkung der prozessualen Positivität relativ auf wesentliche, tiefer liegende Bedeutungen. „Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz, sie bejaht die Unähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das Viele und das Werden. Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. […] Die ewige Wiederkunft sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht. Was sie aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das Negative als Voraussetzungen der Repräsentation.“51 Zarathustra ist der prcurseur sombre, der Prophet des Dionysos. Nach Deleuze verhandelt Nietzsche das Thema der Wiederkunft im Zarathustra zweimal – und läßt ein drittes Mal offen: der kranke, der genesende und der sterbende Zarathustra.52 Die Ausrichtung auf die dritte Zeit ist aber bereits in den beiden voraus liegenden Stadien deutlich. Gerade mit dem Thema des Augenblicks durchbricht Nietzsche die kosmologische Beobachterperspektive auf die ewige Wiederkunft des Gleichen. Im Zarathustra steht dafür das Sinnbild des „Torwegs“, auf dem oben „Augenblick“ geschrieben steht, und an dem die zwei langen geraden Gassen der Zukunft und der Vergangenheit aufeinander stoßen.53 Gegen den Zwerg, der auf ihm hockt, „der Geist der Schwere“, 50 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 205. 51 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 372. 52 Deleuze verhehlt nicht, dass Nietzsche mit seinem Gedanken von der Wiederkehr identischer Fälle hinter der Konzeption einer Wiederkehr des Differenten „zurückbleibt“. Gleichwohl versucht er zu zeigen, daß seine eigenen Interpretationen die Emphase rechtfertigen, die Nietzsche selbst mit dem Gedanken verbindet, soweit sich in ihm nicht nur eine kosmologische Spekulation, sondern eine neuartige dionysische Philosophie ankündigt, die die Idee der Wiederkunft mit der „postnihilistischen“ Bejahung, dem Pluralismus der Willen zur Macht und dem Übermenschen verknüpft. Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 369. Einmal wird Zarathustra krank – in „Vom Gesicht und Rätsel“ (KSA 4, S. 197 – 202) –, ein zweites Mal ist er dabei, gesund zu werden – in „Der Genesende“ (KSA 4, S. 270 – 277). Ein drittes Mal steht noch aus: „Wir wissen nur, daß der Zarathustra unvollendet ist und eine Fortsetzung erfahren sollte, die den Tod Zarathustras einschließt: als eine dritte Zeit, ein drittes Mal.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 369.) 53 Vgl. KSA 4, S. 199 – 200.

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verteidigt Zarathustra die in jedem Augenblick liegende Radikalität der irreversiblen Weichenstellung. Er zürnt dem Zwerg, der da spricht: „Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.“54 Und auf die gleiche Weise lacht Zarathustra, der „Genesende“, über seine Tiere, die aus dem Gedanken der ewigen Wiederkunft schon ein „Leier-Lied“ machten, in dem es heißt: „Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“55 Denn Zarathustra (nicht nur der Hirte) hat der Schlange den Kopf abgebissen, d. h. er hat die zyklische Form der Wiederkehr, die für den Ekel am Dasein verantwortlich ist (sofern auch die kleinsten und häßlichsten Dinge wiederkehren), unmöglich gemacht.56 Und von hier aus bedeutet die Genesung eine Metamorphose, die selbst die Identität Zarathustras mit sich selbst ausschließt – und die dritte Zeit mit ihrer selektiven Kraft, die allein die Differenz wiederkehren läßt, ankündigt: „Weder […] der kranke Zarathustra noch der genesende Zarathustra werden wiederkehren. […] Zarathustra muß sterben. […] Die höchste Prüfung liegt darin, die ewige Wiederkunft als das selektive Denken, die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr als das selektive Sein zu begreifen. Man muß die aus den Angeln gehobene Zeit erleben und erfassen, die geradlinig verlaufende Zeit, die erbarmungslos all die aussondert, die sich darauf einlassen, die auf diese Weise die Bühne betreten […].“57

54 KSA 4, S. 200. 55 KSA 4, S. 273. 56 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 371. Der Augenblick markiert den zeitphilosophischen Entwurf der ewigen Wiederkunft, mit dem sich Nietzsche vom Nihilismus absetzt. In diesem Sinne bezeichnet er bereits in den letzten beiden Aphorismen des vierten Buches der Frçhlichen Wissenschaft das größte Schwergewicht des Wiederkunftsgedankens – und kündigt dann „incipit tragoedia“ Zarathustras Untergang oder „Niederkunft“ zu den Menschen an. Vgl. KSA 3, S. 570. 57 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 370. Die Selektion erstreckt sich auf das Element des Nihilistischen. Deleuze attestiert der „Mehrheit“ bzw. der Logik des Common Sense, mit den Minderheiten auch die Differenzen zu tilgen, die aus der Norm fallen. Aber mit den von den großen Systemen der Repräsentation ausgeschlossenen Lebensweisen, Assoziationsformen und Werdensprozessen eröffnet sich ein neuartig bestimmbares Milieu der Immanenz. Nicht die Ausnahme steht der Regel entgegen und wird gefeiert – vielmehr begründet sie eine neue, eine anders konzipierte, eine differenztheoretisch gefasste Vielheit von Regeln.

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Epilog Karl Löwith hat in seiner wirkungsmächtigen Nietzsche-Studie vorgeschlagen, den Gedanken der ewigen Wiederkunft in den Mittelpunkt der Philosophie Nietzsches zu rücken.58 Diesem Anliegen weiß sich auch Deleuze verpflichtet, allerdings mit einer wesentlichen Akzentverschiebung. Nach Löwith zerfällt der Wiederkunftsgedanke in ein „antikes“ naturphilosophisches Szenario einerseits und in ein anthropologisches, „praktisches“ Gegenstück andererseits, das auf den zielgerichteten Willen des Menschen spekuliert. Als eine Einheit drückt sich die ewige Wiederkunft nur in den poetischen Gleichnisreden bzw. negativ im Wahnsinn aus.59 Dagegen macht Deleuze geltend, daß die Willen zur Macht ein kraft- und zeitphilosophisches Strukturmoment implizieren, mikrologische Vielheiten von Empfindungen, Begierden, Gedanken etc., die sich in ihren konkreten Äußerungen manifestieren.60 Das im Wiederkunftsgedanken artikulierte „Prozessieren von Kräften“ ist demnach kein (abstraktes oder romantisch-ästhetisches) naturalistisches Konstrukt, sondern eine vollständig in die impliziten Strukturen der Erfahrung und des Handelns eingelassene Dimension. Und gerade weil diese (virtuelle) Dimension zunächst und zumeist von ihren metaphysisch belasteten Erscheinungsweisen verdeckt ist, setzt sie auf die intellektuelle Redlichkeit, die in der Bewegung der „Selbstüberwindung der Moral“ zum Zuge kommt.61 Hieraus ergibt sich, daß Nietzsche keineswegs auf eine Wahrheit des Unbestimmten setzt, die einfach hinter der Mannigfaltigkeit endlicher Perspektiven ihr Unwesen treibt.62 Im Gegenteil: Die zeitphilosophisch auf den Begriff gebrachten 58 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin: Die Runde 1935. 59 An diesem Punkt bleibt Löwith dem Geist seiner Zeit verhaftet, der zum einen den Willen zur Macht subjektivistisch fehldeutet (vgl. Alfred Bäumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931) und zum anderen den Wiederkunftsgedanken „kosmisch“ überhöht (vgl. Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches (1926), Bonn: H. Bouvier 1958). 60 Vgl. KSA 13, 14[121], 14[79] und KSA 5, S. 31 – 34. An letztgenannter Stelle nimmt Nietzsche das „Wollen“ Schopenhauers auseinander, indem er es durch eine „Mehrheit von Gefühlen“, von Gedanken und Affekten substituiert. 61 Vgl. zur „Selbstüberwindung der Moral“: KSA 5, S. 50 – 51, und zum Thema der „intellektuellen Redlichkeit“: KSA 5, S. 167 – 170. 62 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 15 ff. und Nietzsches vielfältige Schopenhauer-Kritiken in den 1880er Jahren, die sich u. a. auch mit einer Selbstkritik der metaphysischen Voraussetzungen der Geburt der Tragçdie verbinden

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Strukturen der Willen-zur-Macht-Prozesse liefern die präzise immanente Bestimmung der Erfahrung.

lassen. Vgl. Marc Rölli, „Nietzsches Ästhetik im Licht seiner Metaphysikkritik. Teil 1“, in: Topos. Journal for Philosophical and Cultural Studies (5) 2001, S. 74 – 93.

Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches Christine Blättler Mit der Formel von der ,nietzscheschen Trinität‘ brachte Gilles Deleuze Symptomatologie, Typologie und Genealogie als Aufgaben des ,Philosophen der Zukunft‘ zusammen.1 Sie holen den Arzt, den Künstler und den Gesetzgeber in das Geschäft der Philosophie wieder herein. Hier soll, für Überlegungen zu Nietzsches Ethik, der Blick auf den Philosophen als Gesetzgeber gerichtet sein. Als Genealoge hat Nietzsche der Moral eine Geschichte gegeben, sie als von Menschen produziert bezeichnet, sie als ein weltimmanentes Ergebnis gefaßt und nicht als eine transzendente, ewige Norm. Deleuze schließt den Genealogen und Gesetzgeber zusammen, ein kleiner Kurzschluß, dessen Funken erst einmal blenden. Sie erfüllen den oft von Philosophen geforderten Anspruch an eine Idee mit der Formel ,clare et distincte‘ nicht. Doch Deleuze folgt hier nicht dem Ideal der wahren Idee, sondern den Spuren von Leibniz’ Meeresrauschen, dessen Wahrnehmung hell und konfus ist. Mit Nietzsche spricht er sie dem hellen, apollinischen Denken zu, das ein eigenes Denkregister darstellt, unterschieden vom dionysischen, das in der deutlich-dunklen Idee seine „ivresse, l’étourdissement proprement philosophique“2 feiert. Mit Genealogie spannt er den Bogen zwischen der „valeur de l’origine et origine des valeurs“3, der Entstehung der Werte wie ihrem differentiellen Element. Mit der Genealogie, diesem Teil des Triptychons der realen Verhältnisse zwischen Kräften, setzt Deleuze nicht deren Sinn oder Qualität nach; hier läßt er die Herkunft der Kräfte abschätzen und den Vorfahr, den Willen zur Macht in seiner Qualität aufspüren. Der Wille zur Macht zeichnet den philosophischen Gesetzgeber aus. „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen: so soll es sein!, sie bestimmten erst das Wohin und 1 2 3

Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962, S. 85. Deleuze, Diffrence et rptition, Paris: PUF 1968, S. 276. Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 2.

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Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht.“4 Einer der philosophischen Arbeiter, sogar einer nach ,edlem Muster‘, ist für Nietzsche Kant, er taucht auch kurz vor dem vorigen Zitat auf. Im Bereich der Ethik kann dabei dessen Sittengesetz nicht überhört werden. So sehr Nietzsche auch gegen Kant austeilt – gerade der kategorische Imperativ, der ,nach Grausamkeit riecht‘5, wird ihm zum Mittel, Werkzeug und Hammer, wenn er mit der ewigen Wiederkehr sein eigenes Sittengesetz formuliert. Keine simple Farce der Kantschen Formel, vielmehr deren ,leibhafteste unfreiwillige Parodie‘, und keineswegs weniger grausam. Deleuze spricht von einer halb zugestandenen, halb verborgenen Rivalität Nietzsches gegenüber Kant.6 Das erste Mal taucht der Gedanke der ewigen Wiederkehr im Abschnitt ,Das größte Schwergewicht‘ in der Frçhlichen Wissenschaft auf: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ,du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und jedem ,willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das größte Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem 4 5 6

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, KSA 5, S. 211. Nietzsche, Genealogie der Moral, KSA 5, S. 298. Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 59.

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Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –“7 Die entscheidende Frage also ist: willst du dies noch einmal und noch unzählige Male? Deleuze formuliert das imperativisch so um: „Ce que tu veux, veuille-le de telle manière que tu en veuilles aussi l’éternel retour.“8 Und Pierre Klossowski so: „agis comme si tu devais revivre d’innombrables fois et veuille revivre d’innombrables fois“.9

Varianten eines ethischen Imperativs Georg Simmel macht in seinem Vortragszyklus Schopenhauer und Nietzsche in der ewigen Wiederkunft des Gleichen, dieser „wunderlichsten Lehre Nietzsches“, „ein Kantisches Grundmotiv“ aus, das „gleichsam in eine neue Dimension distrahiert“10 worden sei. Der Dimension bei Kant kommt insofern ein räumlicher Charakter zu, als sein Imperativ die Handlungsweisen des einzelnen Menschen zu einem für alle gültigen Gesetz verbreitert. Damit zieht Kant „die Tat in die Breitendimension, in die unendliche Wiederholung im Nebeneinander der Gesellschaft“. Demgegenüber ließ Nietzsche die Tat sich „in die Längendimension erstrecken“, „indem sie sich in endlosem Nacheinander an dem gleichen Individuum wiederholt“ (395). In „beiderlei Multiplikationen“ findet Simmel den selben Zweck: dem Sinn der Tat das Zufällige nehmen, sie „der Zufälligkeit entheben, die ihre Darstellung im Nur-Jetzt, Nur-Hier, ihr antut“. Eine einzige Handlung wird so mit einem ,inneren Wert’ versehen, für den das Individuum verantwortlich ist. Im Gefühl der Verantwortlichkeit sieht Simmel einen wesentlichen Bestandteil von Nietzsches Philosophie, insbesondere der ewigen Wiederkehr. Eine Verantwortlichkeit nicht gegenüber einer transzendenten Instanz wie Gott, aber auch nicht einem anderen Menschen oder einem äußeren Gesetz gegenüber, vielmehr gegenüber sich selbst. Den Grundsatz von Kants Sittenlehre, mit Nietzsche zeitlich erweitert, formuliert Simmel folgendermaßen: „Handle so, daß du die 7 Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft, in: KSA 3, S. 570. 8 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 76. 9 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, Paris: Mercure de France 1969, S. 93. 10 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche (1907), in: Simmel, Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 393 f.

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Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest“. Damit erstreckt sich das Kriterium „in die Zeitreihe statt in die Gesellschaftsreihe“ (S. 395 f.). Doch bei Nietzsche handelt es sich nicht nur um ein ethisches Regulativ oder einen moralischen Prüfstein wie bei Kants kategorischem Imperativ, sondern er behauptet auch die Realität der ewigen Wiederkehr. Da empirisch unmöglich, versteht Simmel diesen Anspruch als metaphysischen. Die beiden menschlichen Sehnsüchte nach dem Endlichen und Geformten wie nach dem Unendlichen und Grenzenlosen beanspruchten eine ,psychologische Wirklichkeit‘, und diese findet Simmel bei Nietzsche hier metaphysisch gespiegelt und ausgedrückt. Denn in der Metaphysik „nehmen die Vorstellungen überhaupt sozusagen einen besonderen Aggregatzustand an, auf den die Frage nach der Wahrheit im logischen und konkreten Sinn gar nicht anwendbar ist“; so pochte Simmel auf deren „Eigenheit der Forderungen und Normen“ (S. 400 f.). Auch Karl Löwith setzte auf die kantisch-imperative Spur bei Nietzsche, in seinem Nietzsche-Buch von 1935 mit dem Titel: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Nietzsches ,System in Aphorismen‘ formiere sich um das widersprüchliche Kraftzentrum der ewigen Wiederkehr des Gleichen, zu deren Ewigkeit die Zeitlichkeit der Zeit überwunden werden soll. Dabei regte Löwith an, die ewige Wiederkehr, dieses ,höchste ethische Schwergewicht‘ in nachchristlichen Zeiten, in ihrem erzieherischen Charakter als ethischen Imperativ zu verstehen: Lebe in jedem Augenblick so, daß du ihn wieder zurückwollen könntest. Der Imperativ formuliert sich als zweistufige Befreiung: vom ,Du sollst‘ des christlichen Glaubens zum ,Ich will‘ der selbstgemachten Gesetzgebung, und dann vom ,Ich will‘ zum ,Ich bin‘ der „nichts mehr wollenden Willigkeit, in der sich das Wollen als solches aufhebt“11. So zukunftsgerichtet und schaffend sich der Imperativ in seiner ,anthropologischen Gleichung‘ ethisch präsentiert, läßt er mit der ,kosmologischen Gleichung‘, die auf dem naturwissenschaftlichen Satz der Energieerhaltung basiert, den Widerspruch und die „maßlose Anspannung“ deutlich hervortreten. Löwith sieht den Gedanken der ewigen Wiederkehr und den Nihilismus einander bedingen. Er macht eine „Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen Wiederkehr“ aus. Deshalb nennt er die ewige Wiederkehr „Not-wendigkeit“, „Wende der Not“ – eine metaphysische Notwendigkeit. Dieser 11 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935/ 1955), in: ders., Smtliche Schriften, Band 6, Stuttgart: Metzler 1987, S. 201.

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gewendete Imperativ und verkehrte Wille, „der immer noch will, was er schon muß“,12 Nietzsches amor fati, sieht Löwith als eine Aufforderung, sich dem Fatum zu ergeben, die Resignation gleichkommt. Bernd Magnus nimmt den Impuls des Imperativs auf und macht ihn nicht nur zum Titel, sondern auch zum Zentrum seines NietzscheBuches.13 Im Unterschied zu Löwith betont er nicht diese Art Umschlagen des Nihilismus in ewige Wiederkehr, sondern deren Überwindung des Nihilismus. Dafür faßt er den Imperativ als existentiellen. In seiner Doppelthese versteht er die ewige Wiederkehr als „visual and conceptual representation of a particular attitude toward life“,14 und in dieser Haltung gegenüber dem Leben drücke sich der schon überwundene Nihilismus aus. Es gehe nicht um den Wahrheitsgehalt der ewigen Wiederkehr wie in der kosmologischen Interpretation als Fakt, oder wie in der normativen im Modus des ,als ob‘. In der letzteren, kantianischen Form des kategorischen Imperativs sieht Magnus den stärksten Unterschied zu Nietzsches existentiellem Imperativ. Denn dieser spreche eine private Sprache, und es gehe bei ihm um eine bestimmte Haltung gegenüber dem Leben. Diese ,particular attitude‘ sei persönlich und deshalb pluralistisch, nicht inhaltlich festgelegt, und doch Resultat einer Wahl. Sie sei charakterisiert durch Bejahung, und für die darin ausgedrückte Überwindung des Nihilismus steht der Übermensch. Diese Bejahung findet sich in der Formel des amor fati, in einem ,dionysischen Verhältnis‘ zur Existenz, „in the total and unconditioned love of becoming, love of life, which is my creation and my fate“.15 Auch Bernard Reginster operiert mit der Überwindung des Nihilismus. In seiner Monographie The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism (2006) betont er die ,ethische Signifikanz‘ der ewigen Wiederkehr ausdrücklich. Darin denkt er auch mit Deleuze weiter, obwohl er kaum auf ihn referiert. Im Unterschied zur ,theoretischen Rolle‘ der ewigen Wiederkehr, die eine besondere Eigenschaft des Lebens ausmacht, bejaht zu werden, fokussiert er auf die ,praktische Rolle‘, die etwas über die Haltung der Bejahung gegenüber dem Leben aussagt. Deshalb argumentiert er für eine praktische Interpretation der ewigen Wiederkehr, in dem Sinn, einen praktischen 12 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 170, S. 172, S. 199, S. 200. 13 Bernd Magnus, Nietzsche’s Existential Imperative, Bloomington-London: Indiana University Press 1978. 14 Magnus, Nietzsche (Anm. 13), S. 142. 15 Magnus, Nietzsche (Anm. 13), S. 146.

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Imperativ zu formulieren.16 Darin setzt er auch auf Prozessualität und Werden, ein Aspekt, der bei Magnus vernachlässigt wird, dem aber schon Löwith große Bedeutung zugemessen hat: die neue Ewigkeit der ewigen Wiederkehr ist zeitlich, in dem sie die Vergänglichkeit einschließt, und neu im Verhältnis zur alten Ewigkeit der Zeitlosigkeit, jedoch ohne als ein bloßes Lob der Vergänglichkeit aufzutreten.17 Ewigkeit wünschen in der Wiederkehr, das zielt bei Reginster nicht auf Permanenz, denn diese wird dem Sein und dem christlichen Ideal des ewigen Lebens zugeschrieben. Damit etwas wiederkehren kann, muß es Permanenz durchbrechen, kann es nur unbeständig sein. Dies kommt nicht dem Sein, sondern dem Werden zu. In der ewigen Wiederkehr findet Reginster eine Aufwertung des Werdens; als Wert dafür steht der Wille zur Macht. „For becoming is an essential feature of the will to power, a paradigmatic manifestation of which is creative activity.“18 Damit koppelt er die ewige Wiederkehr an die Umwertung der Werte, nihilistischer, lebensfeindlicher Werte in Leben affirmierende. Auch hier wird die ewige Wiederkehr als Hauptstück eines neuen ethischen Ideals der Bejahung des Lebens gesehen, gegen dessen nihilistische Negation. Mit Nietzsches Imperativ soll hier noch ein weiterer Schritt gemacht und seine Moralphilosophie als Spielart einer formalen Ethik betrachtet werden. Und dafür kommt Kant zum Zug. In Deleuzes Nietzschebuch ist Kant noch weit stärker präsent als expliziert wird. Damit legt Deleuze nahe, eine spezifische Spur in Nietzsche selbst zu verfolgen, gerade auch in der Ethik. Bekanntermaßen spart Nietzsche nicht mit Schmähungen in Richtung des ,Chinesen von Königsberg‘. Doch Kant kehrt wieder, maskiert, und nimmt einen Ehrenplatz ein, er hat Eingang gefunden in Nietzsches Liste ,seiner Unmöglichen‘, neben Seneca, Rousseau, Schiller, Dante, Mill und anderen.19 Um gleich mit dem Herzstück von Kants Ethik anzufangen: Analog zur Grundformel des kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“,20 könnte man bei Nietzsche sagen: handle 16 Bernard Reginster, The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism, Cambridge MA, London: Harvard University Press 2006, S. 223. 17 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 108. 18 Reginster, The Affirmation (Anm. 16), S. 226. 19 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, in: KSA, Band 6, S. 111. 20 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe (AA), Band 4, S. 421.

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nur so, daß du es immer wieder wollen kannst. Darin drückt sich allerdings auch ein grundlegender Unterschied aus. Während Kant mit der Vorstellung des allgemeinen Gesetzes auf die gesellschaftliche Dimension zielt, markiert Nietzsche mit seiner Formulierung den Bereich des Individuellen. Statt der Prüfung durch verallgemeinernde Abstraktion setzt er auf die konkrete, partikuläre Intensivierung. Und doch verbleibt er nicht individualistisch im Privaten. Die Abkehr von Nihilismus und Ressentiment, welche die sozialen Verhältnisse abwerten, hat eine ethische Umgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Folge. Auch bei Nietzsche kann nicht von einer moralischen Begründung des Handelns gesprochen werden, weil es ganz grundsätzlich nicht um einzelne Handlungen geht, die durch ein singuläres normatives Urteil oder Werturteil gestützt und damit gerechtfertigt werden sollen. Handeln orientiert sich nicht an einem einzelnen Faktum, einem Gefühl, einer möglichen Folge, dem Gewissen, einem Moralkodex oder einer moralischen Kompetenz.21 Vielmehr geht es hier um eine ethische Begründung, bei der moralisches Handeln und Urteilen vom Begriff der Moralität her begründet und als sinnvoll einsichtig gemacht werden will. Auch Nietzsche führt moralisches Handeln auf die konstitutiven Bedingungen seiner Möglichkeit zurück, indem er den Begriff der Moralität genetisch bestimmt und von etwas Unbedingtem ausgehen läßt. Das macht die apriorische Begründung und ihre Formalität aus, auch wenn diese selbst bei Nietzsche wieder eine Geschichte hat, die Erfahrung mit einschließt. Transzendental heißt, die Regel-Bedingungen eruieren, unter denen etwas als möglich gedacht werden kann. Mit Deleuze sind die „transzendentalen Bedingungen […] nicht regressiv erschlossene Möglichkeitsbedingungen einer vorgegebenen Erfahrung, sondern genetische Bedingungen einer werdenden Erfahrung, die sich im Prozeß ihrer Aktualisierung bestimmen und verändern.“22 Nietzsches Ethik ist normativ, da sie primär danach fragt: unter welchen Bedingungen ist moralisches Handeln als moralisches möglich. Gerade wegen dieser transzendentalphilosophischen Prägung kann nicht von einem existentiellen Imperativ gesprochen werden, wie das Bernd Magnus tut. Es 21 Vgl. Annemarie Pieper, Einfhrung in die Ethik, Tübingen u. a.: Francke 1994 (3. überarbeitete Aufl.), S. 156 – 202. 22 Marc Rölli, Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia & Kant, 2003, S. 393.

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geht nicht um Gültigkeit oder Sinn einer bestimmten einzelnen Handlung, sondern um ihre Begründung und ihren Antrieb. Der Akt des Wählens zeigt sich bei Nietzsche nicht in einer existentiellen Entscheidungssituation; vielmehr scheidet sich das schon weit vorher in einer prinzipiellen Selektion der Kräfte, „devenir-actif ne peut être pensé comme le produit d’une slection“23. Deleuze bezeichnet die ewige Wiederkunft, Nietzsches ethischen und züchtenden Gedanken, deshalb als selektives Prinzip.

Wille und Wollen In den analogen Formulierungen bei Kant und Nietzsche sticht die Rolle des Wollens hervor: Du mußt wollen können, daß deine Handlungsmaxime ein allgemeines Gesetz werden kann, und: du mußt es immer wieder wollen können. Beide unbedingt, und monströs im Anspruch. Es geht hier nicht um die Chimäre des freien Willens, dieses von Nietzsche so genannten ,Folter-Instruments’ der Sünden- und Sklavenmoral, die bestraft und richtet, nicht einmal bei Kant, bei dem es lediglich der gute Wille ist. Und trotzdem hat der Wille mit Freiheit zu tun. Die „wahre Lehre von Wille und Freiheit“, wie sie Zarathustra lehrt, ist: „Wollen befreit“.24 Mit dem Sittengesetz machen sich die einzelnen Menschen nicht zu Richtern (über sich selbst), vielmehr zu Gesetzgebern, die Werte schaffen als genuin ethische Aufgabe – das ist der Sinn des praktisch-synthetischen Satzes a priori. Dieses Sittengesetz verfolgt keine analytische Logik, die von etwas schon Bestehendem ausgeht, es werden keine Elemente voneinander geschieden. Vielmehr zielt dieser Satz auf das Schaffen von etwas, was es noch nicht gibt, auf etwas, was allein durch Handeln möglich ist. So wird etwas aus Komponenten synthetisiert, was mehr ist als diese. Die Idee, die hinter dem Sittengesetz steckt, ist die Freiheit, wie jede Idee erdacht, erfunden, bedingt durch die natürliche Veranlagung der menschlichen Vernunft hierzu. Das Bedürfnis der Vernunft produziert Ideen wie Freiheit, nach denen sie sich selbst ausrichtet: Als subjektiver Grund wird etwas vorausgesetzt und angenommen, was objektiv nicht wißbar sein kann. Als Produkt reiner Vernunft überfliegt sie die Erkenntnis, und nichtsdestotrotz wird sie wirksam als transzen23 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 77. 24 Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 374; Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 111.

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dentaler Bezugspunkt. Es geht um Handeln, genauer um die Bedingungen der Möglichkeit von Handeln, die Bestimmung des Willens, nicht um Erkennen. Denn im Handeln ist möglich, was zu erkennen unmöglich ist. Das Vorgestellte kann wirklich werden. Bei Kant ist die Freiheit weder eine ,einheimische‘ (immanente) noch eine ,überfliegende‘ (transzendente) Idee, sondern wird zu einer transzendentalen, einer Idee, welche die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung betrifft. Sie wird zu einer wirkenden Ursache und schafft ein Ereignis. Das ist das Geheimnis der Freiheit. Sie ist nicht beweisbar, eine Fiktion, doch sie kann Kraft entfalten, ihr eignet „große Fruchtbarkeit“.25 Schon nur der Gedanke einer Möglichkeit kann wirken. „Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der Gedanke einer Mçglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten“26. Die ewige Wiederkehr wollen, heißt auch sie bejahen. Affirmation ist keine Aktion, Deleuze bezeichnet sie als eine Macht zum Aktiv-werden.27 Damit zeigt sie sich auch als Äußerung eines Prinzips, das Nietzsche Willen zur Macht nennt.28 Analog zu Kant, der die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem ,guten Willen‘ anfangen läßt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“29 Entsprechend manifestiert sich der Wille zur Macht als die relevante Kraft in Nietzsches Sittengesetz, der ewigen Wiederkehr. Eine Kraft, die schafft; kein Sein oder Werden, sondern ein Pathos, das „Zeuge- und Werdelust“30 heißt: der Wille als Erschaffer von Werten. Deshalb ist es ein bejahender Wille, den Verneinungen des Nihilismus entgegengesetzt. „Der Gedanke der ewigen Wiederkehr mehrt, wenn er ertragen wird, den guten Willen zum Leben“.31 Im Willen zur Macht wie im guten Willen äußert sich ein Drang, über die Grenzen seiner selbst hinauszugehen. Er übersteigt den Menschen, denn dessen Willen ist nur bedingt gut und stark. Aber er kann sich diesen guten Willen vorstellen und vorgeben als unmögliche und notwendige ethische Aufgabe. Diese Übersteigerung seiner selbst zeichnet den Übermenschen aus. Er ist weltimmanent, doch 25 26 27 28 29 30 31

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Band 5, S. 103. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 9, S. 523. Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 63 f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 7, S. 64. Kant, Grundlegung (Anm. 20), S. 393. Nietzsche, Ecce homo (Anm. 24), S. 348. Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 209.

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zukünftig, eine Verheißung, und von einer Schaffenskraft, die nach dem reaktiven Menschen kommt, aber doch schon als ein steter transzendentaler Angelpunkt auf einen aktiven und bejahenden Menschen hin wirkt. Er bleibt dem Erkennen transzendent, ist aber der Praxis immanent.

Ästhetik und Ethik Die Nietzsche-Lektüren von Deleuze und Klossowski führen das Zusammengehen von Ästhetik und Ethik vor. Die Begriffe von Perzept, transzendentalem Empirismus, Intensität und Experiment lassen dies nachvollziehen. Percept Auch hinter dem Willen zur Macht steht die regulative, transzendentale Idee der Freiheit. Daran wird ersichtlich, was Deleuze in Diffrence et rptition den empirischen und pluralistischen Sinn der Idee nannte: es handelt sich um den ,offenen Begriff‘ als ,percept‘, welcher die „deux parties de l’Esthétique si malheureusement dissociées“ vereint, nämlich „la théorie des formes de l’expérience et celle de l’oeuvre d’art comme expérimentation“.32 In Qu’est-ce que la philosophie? führt Deleuze seine Überlegungen zum Perzept mit Félix Guattari zusammen weiter. Sie unterscheiden hier bekanntlich drei Formen des Denkens: Kunst, Wissenschaft, Philosophie, wobei sich die drei Denkformen kreuzen und verknüpfen können, allerdings ohne Synthese oder Identifikation.33 Die Perzepte nun – zusammen mit den Affekten bilden sie die Empfindungen – werden der Kunst zugeschlagen, der Philosophie die Begriffe, und der Wissenschaft die Sachverhalte. Das Perzept wird definiert als dasjenige, was „rendre sensibles les forces insensibles qui peuplent le monde, et qui nous affectent, nous font devenir“. Als Wahrnehmungskomposition ist das Perzept ein Akt sinnlichen Werdens, „par lequel quelque chose ou quelqu’un ne cesse de devenir-autre“.34

32 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 364. 33 Vgl. Deleuze/Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?, Paris: Editions de Minuit 1991, S. 186 – 188. 34 Deleuze/Guattari, Qu’est-ce (Anm. 33), S. 172, S. 168.

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Es sei hier erlaubt, die viel später formulierte Definition des Perzepts mit derjenigen in Diffrence et rptition zu verknüpfen, nicht zuletzt auch, weil Nietzsche in beiden Büchern präsent ist. In Qu’est-ce que la philosophie taucht zum Beispiel Zarathustra gerade dort auf, wo es um das ineinander Übergehen von Empfindung und Begriff, von ,ästhetischer Figur‘ und ,Begriffsperson‘ geht, wenn auch unterschieden wird zwischen sinnlichem und begrifflichem Werden. Das Perzept hat seiner Definition gemäß zu tun mit dem spürbar Machen von Kräften. Den Willen zur Macht nennt Deleuze „le pouvoir être affecté“, worin Macht und Stärke der Kraft zum Ausdruck kommen; der Wille zur Macht wird auch zu einem Vermögen zu affizieren. Neben seiner Affektivität und Sensibilität ist er wesentlich schaffend: „la puissance est ce qui veut dans la volonté. La puissance est dans la volonté l’élément génétique et différentiel.“35 Der Genealoge und Gesetzgeber interpretiert und setzt Werte, er schätzt Werte ab aufgrund ihrer Herkunft, macht eine Differenz ihrer Herkunft, und deshalb setzt er eine Rangfolge und Hierarchie. Er schätzt sowohl Geschichte wie die aktuelle Wahrnehmung der Werte ab, er kann sie wertschätzen, und er kann eben auch neue Werte schaffen. Deshalb geht diese Ästhetik mit der Ethik zusammen. Dem Willen zur Macht, von Löwith im Kontext der ewigen Wiederkehr ganz beiseite gelassen, gibt Deleuze eine tragende Rolle. Von Nietzsche erhält er einen metaphysischen Charakter, er bezeichnet ihn als ,Essenz des Lebens‘. Zu seiner affirmativen Entfaltung kommt er in der ewigen Wiederkunft, die Nietzsche in Ecce homo ,höchste Formel der Bejahung‘ nennt, und worin sich sein Gesetz der nicht lehrbaren Lehre der Moral verkörpert. Das Unlehrbare führt Deleuze in die Lehre ein, wie Klossowski ihm attestiert. „[I]l fallait que Nietzsche eût vécu et souffert pour que pareil propos ne restât vide et absurde“.36

35 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 70, S. 96 f. 36 Klossowski, „Digression à partir d’un portrait apocryphe“, in: L’arc Nr. 49, 1972, S. 11. Siehe auch Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 89 – 112 (L’expérience de l’Éternel Retour).

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Transzendentaler Empirismus Transzendentaler Empirismus – mit seiner Deleuze-Monographie prägte Marc Rölli diesen auch von Deleuze selbst verwendeten Begriff 37 als für dessen Philosophie insgesamt charakteristisch. Und Rölli macht gerade in Deleuzes Nietzsche-Buch von 1962 einen ersten Entwurf des Projekts transzendentaler Empirismus aus, den Deleuze anhand seiner Auslegung der Lehre vom Willen zur Macht präsentiert.38 Der transzendentale Strang, der hier mit dem ethischen Imperativ eingebracht wurde, soll nun mit dem empiristischen verbunden werden, welcher auf die Wahrnehmung, aisthesis baut. Deleuze hebt sich gegenüber einem Denken ab, das sich hypothetisch im Kreis des immer schon vorausgesetzten dreht. Er verlangt ein unwillkürliches Denken: „il n’y a de pensée qu’involontaire, suscitée contrainte dans la pensée, d’autant plus nécessaire absolument qu’elle naît, par effraction, du fortuit dans le monde. Ce qui est premier dans la pensée, c’est l’effraction, la violence […] comptons […] sur la contingence d’une rencontre avec ce qui force à penser“ .39 Dieses Etwas, das zum Denken nötigt, sieht Deleuze in einer fundamentalen Begegnung. Es kann nur empfunden werden, und das setzt den Gebrauch der Sinne voraus. Das sentiendum, das, was nur empfunden werden kann, erschüttert die Seele und zwingt sie, ein Problem zu stellen. Der Weg geht vom sentiendum oder aisthetéon zum cogitandum oder noetéon.40 Bei Nietzsche gab es viele Dinge, die ihn zum Denken zwangen. Die für sein Werk wohl folgenreichste Erschütterung hatte er auf seinem berühmten Spaziergang am See von Silvaplana, im August 1881. Ein zufälliges Erlebnis inmitten der kontingenten Welt, zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, des Jahres, der Natur, an diesem Ort. Es ließ ihn mit einem Gedanken begegnen, der seine ganze Wahrnehmung erschütterte, der einer Offenbarung gleichkam, und der ihn zum Denken und Weiterdenken nötigte. Das ist es, was Klossowski mit der ,gelebten Erfahrung der ewigen Wiederkehr‘ bezeichnet, dem ganzen ekstatischen Charakter dieses Erlebnisses, als Ausgangspunkt für

37 38 39 40

Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 79 f. Rölli, Gilles Deleuze (Anm. 21), S. 388. Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 181 f. (L’image de la pensée). Vgl. Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 182 ff.

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die Lehre von der ewigen Wiederkehr, wie sie sich in den Jahren danach vielschichtig in Nietzsches Schriften manifestiert.

Intensität Es ist die Intensität, die Klossowski als das wesentliche in Nietzsches erster Erfahrung der ewigen Wiederkunft faßt.41 Die Intensität hat sich selbst zum Gegenstand, hat nie einen anderen Sinn als Intensität zu sein. Zarathustra sucht im Wiederwollen nicht eine Veränderung des Individuums, sondern seines Wollens. So kann Klossowski feststellen, daß die Veränderung im moralischen Verhalten eines Individuums nicht durch einen bewußten Willensakt bestimmt ist, vielmehr durch die der ewigen Wiederkunft eigene Ökonomie. Das Wiederwollen kommt dem reinen Beitritt in den Circulus vitiosus gleich, das heißt, die ganze Reihe von Erfahrungen wieder wollen, um der Intensität willen. Am Anfang steht für Klossowski die ewige Wiederkunft als ,fait vécu‘, gelebter Fakt, und als erfahrener Gedanke, auf keinen Fall die Repräsentation von etwas. Von ihm aus nehmen das Entsetzen und die Freude, die in dieser empfundenen Notwendigkeit stecken, ihren Gang. Von hier aus auch interpretiert Nietzsche nach Klossowski die ewige Wiederkunft unterschiedlich. Zum einen nennt er das Subjekt des Willens zur Macht Übermensch, zugleich Sinn und Ziel der ewigen Wiederkunft. Zum andern zeige sich der Circulus vitiosus als Kette von Existenzen für die Individualität, in dem Sinne, daß die Kapazität einer Individualität nie den Reichtum an Differenzierung und sein affektives Potential erschöpfen kann. Deshalb legt Klossowski den Schwerpunkt auch auf den Verlust der gegebenen Identität. Klossowski koppelt die Intensität an den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Intensität ist bei ihm das, was die ewige Wiederkehr ausmacht. Man könnte sagen, der sittliche Wert liegt in der Intensität, in der übermenschlichen Anstrengung, mit der um eine Sache gekämpft wird, „in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns kostet“.42 Auch in dieser Intensität trifft sich Nietzsche mit Kant, dem die Tugend „nur darum so viel werth [ist], weil sie so viel kostet, nicht weil sie etwas einbringt“.43 Die Kosten spricht Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung an, 41 Vgl. Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 97 – 111. 42 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung (Anm. 19), S. 139. 43 Kant, Kritik (Anm. 25), S. 156.

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mit seinem Begriff von Freiheit, der mit dem Willen zur Selbstverantwortlichkeit zusammen fällt. Die Anstrengung zielt nicht auf ein Sein, entzieht sich möglicher Verfügbarkeit und Besitz, der Sinn liegt in ihr selbst. Schwerstarbeit, aber gegen den ,Geist der Schwere‘ gerichtet. Es handelt sich um eine Anstrengung, die produktiv wird. Bei Klossowski klingt das so, daß sich die in den Phantasmen eingeschlossene Imagination befreit, indem sie Simulakren schafft.44 Das, was Deleuze die ,Ethik der intensiven Quantitäten‘ nennt, zeigt sich als eine Spielart der formalen Ethik, ohne bestimmten Inhalt, referenzlos.

Experiment Intensität unterhält eine besondere Beziehung zum Experiment. Schon Löwith baute auf Nietzsches Denken als Experimentalphilosophie. Als Nietzsches letztes Experiment bezeichnete er die Lehre von der ewigen Wiederkehr, in der sich die Folge seiner Versuche mit systematischer Konsequenz zu einer Lehre zusammenfügt.45 Auch im Experiment manifestiert sich der Nexus von Ethik und Ästhetik, diesmal mit Deleuze, der in der Ästhetik sowohl die Form der Erfahrung wie das Kunstwerk als Experiment reflektiert. Die ewige Wiederkehr bündelt dies beides, Nietzsche wandelt sie in ein veritables „instrument expérimental“46 um. In der Intensität beziehungsweise deren Vervielfältigung in Intensitäten und ihren mannigfaltigen Experimenten trifft sich Deleuzes ästhetisch-ethische Lesart mit der von Klossowski. Ein Zitat aus Diffrence et rptition zeugt auch vom Gespräch zwischen den beiden Franzosen, mit Nietzsche im Bunde: „L’éternel retour n’est ni qualitatif ni extensif, il est intensif, purement intensif. C’est-à-dire: il se dit de la différence. Tel est le lien fondamental de l’éternel retour et de la volonté de puissance. L’un ne peut se dire que de l’autre. La volonté de puissance est le monde scintillant des métamorphoses, des intensités communicantes, des différences de différences, des souffles, insinuations et expirations:

44 Klossowski, „Les derniers travaux de Gulliver suivi de Sade et Fourier“, in: Fata Morgana 4/1974, S. 53. Vgl. Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 194 – 212. 45 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 113. Vgl. a. Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien 1980. 46 Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 247.

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monde d’intensives intentionalités, monde de simulacres ou de ,mystères‘.“47 Klossowski begeisterte sich an Nietzsches zukünftigem Philosophen als Versucher, dem tentateur und expérimentateur, dem Philosophen als Verführer und Experimentator.48 „Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errate […], möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.“49

47 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 313. Klossowski widmete sein Nietzschebuch Deleuze. 48 Klossowski, Nietzsche (Anm. 2), S. 186 f. 49 Nietzsche, Jenseits (Anm. 4), Nr. 42.

Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne: Hegel – Hölderlin – Nietzsche Günter Krause Dieu est mort mais l’ombre de ce spectre est de retour – comme la situation actuelle dans le monde le prouve. La question s’impose: comment s’y prendre? Cet être absolu avait tellement dérangé l’homme occidental à un moment donné de son histoire que ce dernier a essayé de se débarrasser de lui par une ruse. L’absolu semble être imbattable et indestructible par principe, et pour cette raison il a été dé-rangé ou, autrement dit, transformé dans la perspective d’une suppression de ses qualités dérangeantes. Cette opération a laissé une trace dans le déplacement du sacré d’un champ d’action divin vers un lieu d’action humain(e). L’homme s’est emparé du sacré par son intégration dans l’univers profane. Depuis l’antiquité grecque («hiëros») et romaine («sacer», «sanctus») ainsi qu’en hébreu («qados») le mot «sacré» décrit un territoire délimité («fanum») qui rend le reste de l’espace «pro-fanus» («hors-sacré»). Pour Hegel, seul Dieu représente le sacré absolu dans sa totalité parce qu’il est «l’essence de part en part universelle en elle-même»1. Avec sa mort, le sacré devient un espace vide, ou, dans la tradition protestante et mystique de Jacob Böhme, un abîme, «ein Abgrund» et «ein Un-grund» (un espace sans fond), un Néant qui, d’après Hegel, doit être occupé «par le pur concept» («dem reinen Begriff») pour que la totalité suprême ressuscitée puisse apparaître dans son sérieux total et, en même temps, dans sa figure de liberté la plus sereine. Dans un processus dialectique de la raison, cette dernière doit d’abord attaquer par la «profanisation» le sacré absolu, mais elle fait naître ensuite une nouvelle 1

G.W.F.Hegel, Philosophische Propädeutik (herausgegeben von Karl Rosenkranz), § 77, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 3 ( Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden), Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 98: «Gott ist nach den Momenten seines Wesens; 1) absolut heilig, insofern er das schlechthin in sich allgemeine Wesen ist.» – Traduction personnelle.

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totalité suprême immunisée, une fois pour toutes, contre les ruses d’un logos historiquement limité, ce qui la rend plus puissante que jamais. «Mais le pur concept, ou l’infinité, en tant qu’elle est l’abîme du Néant où tout l’Etre s’engloutit, doit désigner la douleur infinie – douleur qui précédemment n’était présente qu’à titre historique dans la culture, et n’y était que comme le sentiment sur lequel repose la religion des temps modernes, à savoir le sentiment que Dieu même est mort, ce qui est exprimé d’une façon pour ainsi dire empirique par les mots de Pascal ,La nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme’ – purement comme un moment de l’Idée suprême mais pas plus donc que comme un moment. Ainsi le concept pur doit donner une existence philosophique à ce qui autrement était ou bien la prescription moraliste d’un sacrifice de l’être empirique ou bien le concept de l’abstraction formelle. Il doit ainsi donner à la philosophie l’Idée de la liberté absolue, et, du même coup, la Passion absolue ou le Vendredi–Saint spéculatif, qui jadis fut historique, et il doit rétablir celui-ci dans toute la vérité et la cruauté de son absence de Dieu. C’est à partir de cette cruauté seule – car il faut que disparaisse l’élément serein, le moins fondamental et le plus singulier des philosophies dogmatiques comme des religions de la nature – que la totalité suprême dans son sérieux total et à partir de son fondement le plus profond, embrassant tout en même temps, peut et doit ressusciter dans sa figure de liberté la plus sereine.»2

2

G.W.F.Hegel: «Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muss den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: ,la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme’ [Pensées, 441: ,die Natur ist so beschaffen,dass sie überall, sowohl innerhalb als ausserhalb des Menschen, auf einen verlorenen Gott weist’] –, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muss – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss.» ( Jenaer Schriften 1801 – 1807,Werke 2, Frankfurt/Main 1970, S. 432 f) – Notre traduction suit – à deux exceptions près – celle qui a été proposée par Jean-Louis Vieillard-Baron dans «Hegel et l’idéalisme allemand», Paris 1999, p. 168.

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Le pur concept, l’abîme du Néant, cet «espace marqué par le détour des dieux»3 a investi le champ du sacré pour transformer la douleur infinie, empirique et éprouvée de la mort de Dieu en une vérité philosophique rigoureuse, en un moment de l’idée suprême qui permettra un jour la résurrection du divin. Cette transformation ne s’effectue pas sans cruauté, autrement dit, sans la rigueur de l’abstraction. Le prix à payer, au moins dans un premier temps, pour l’égalité, la base même du concept d’abstraction, et pour la liberté, la base même du concept de vérité, n’est pas la cruauté elle-même mais l’absence immédiate d’unité dans la totalité. En citant Goethe, Hegel répond à la question «Qu’est-ce qui est sacré?» par «C’est ce qui lie ensemble beaucoup d’âmes.»4 La mort de Dieu – comme radicalisation de la mort du Christ – marque d’abord la fin de l’idée d’une société homogène, d’une unité entre êtres humains en ouvrant un espace vide et sans fond entre les hommes. Mais cette ouverture est interprétée par Hegel comme invitation à une intervention de l’esprit qui, en fin de compte, ne détruit rien (et surtout pas la divinité – malgré les sentiments de douleur et de cruauté) parce qu’elle est l’acte d’une reconstitution améliorée et le principe même de la construction de l’avenir, le devenir. «L’unité, dont les moments – être et néant – sont en tant qu’inséparables, est en même temps différente d’eux-mêmes, et de la sorte un tiers à leur encontre, lequel, sous sa forme la plus singulière, est le devenir.»5 Autrement dit: dans une certaine mesure, la tragédie («la douleur infinie») devient tout à fait un élément de la loi du devenir ainsi que celle de la construction humaine, et cette tragédie ne se passe pas, grâce à la rigueur sévère de l’abstraction, sans un élément héroïque. Mais Hegel ne développe ni l’idée d’un «Dieu à venir» (comme Hölderlin) ni le concept de «sur-homme» (comme Nietzsche) et cela tout simplement parce que le devenir de Hegel est complètement spirituel et intemporel 3 4

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Michel Foucault, Le langage à l’infini, dans ,Tel Quel’, N8 15/automne 1963 – cité d’après: Michel Foucault, Dits et Ecrits I, Gallimard 2001, p. 282 f. G.W.F.Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke 14, Frankfurt/Main 1970, p. 276: «,Was ist heilig? fragt Goethe einmal in einem Distichon und antwortet: ,Das ist’s, was viele Seelen zusammenbindet.’» – Traduction personnelle. G.W.F.Hegel, Logik , Werke 5 (Anm. 3), S. 97: «Die Einheit, deren Momente, Sein und Nichts, als untrennbare sind, ist von ihnen selbst zugleich verschieden, so ein Drittes gegen sie, welches in seiner eigentümlichsten Form das Werden ist.» – Traduction personnelle.

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ou, si l’on veut, un concept dans sa pureté. Et c’est cette pureté du concept de devenir qui rend le processus historique irréversible et crée le phantasme d’une réconciliation de l’Idée et de la Passion, l’utopie de la résurrection d’un divin esprit pur, absolu et sacré. Ce n’est pas par hasard que la critique de Hegel commence dans les années 30 du XIXème siècle par la critique de la religion, qui reste évidemment l’horizon insurmontable de l’idéalisme absolu. Le pur concept rassemble les moments du processus de relève («Aufhebung») pour occuper philosophiquement le lieu de l’absolu dans sa pureté, son indifférence, le lieu de l’indifférence absolue, c’est-à-dire le sacré. L’intemporalité du moment hégélien fait aussi – malgré l’abîme, la douleur et la cruauté – qu’on ne trouve nulle part chez Hegel l’idée du sacrifice (idée centrale chez Hölderlin et chez Nietzsche); la transformation par l’abstraction du sacré a fait disparaître l’acte de transformation même (avec ses implications «tragiques») dans l’utopie. L’événement mythologique du VendrediSaint, le sacrifice d’un Dieu devenu homme pour sauver l’unité de l’humanité, est remplacé par l’événement philosophique du VendrediSaint spéculatif qui transforme la mythologie en un concept épistémologique, à savoir en la vérité de l’événement mythologique. Cette vérité est présentée comme un simple élargissement du champ du sacré et l’esprit qui règne dans le pur concept dans sa vérité devient finalement identifiable au sacré: «A cause de cette harmonie consciente qui règne entre le savoir et son objet, entre la forme et le contenu, et qui exclut toute séparation et par là tout changement, on peut appeler l’esprit selon sa vérité, l’Eternel tout comme le parfaitement Bienheureux et Sacré. Car il n’est permis d’appeler sacré que ce qui est rationnel, sachant la raison.»6

Ce concept du sacré semble – au moins à première vue – être très proche de la conception hölderlinienne et il est sans aucun doute très fortement et directement influencé par le poète et sa pensée. Mais en réalité, les deux se distinguent clairement et nettement. A la ressemblance verbale correspond un antagonisme sémantique, l’abîme du 6

G.W.F.Hegel, Enzyklopädie, 3. Teil (§ 441), Werke 10, Frankfurt/Main 1970, S. 297 f.: «Wegen dieser zwischen dem Wissen und seinem Gegenstande, zwischen der Form und dem Inhalt herrschenden, alle Trennung und damit alle Veränderung ausschliessenden bewussten Harmonie kann man den Geist, seiner Wahrheit nach, das Ewige wie das vollkommen Selige und Heilige nennen. Denn heilig darf nur dasjenige genannt werden, was vernünftig ist und vom Vernünftigen weiss.» – Traduction personnelle.

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Néant affecte chez Hölderlin le sujet dans son unité, son identité – ce que rend impossible l’idée même d’une totalité pure et réflexive. Le mot «heilig» («sacré») compte parmi les mots préférés de Hölderlin et le poète en connaît très peu. Il apparaît très régulièrement dans ses poèmes, soit d’une manière isolée, soit combiné avec d’autres mots, soit intégré dans certaines expressions – comme, par exemple, «la nuit sacrée (ou: sainte)»/«die heilige Nacht». On retrouve cette dernière expression dans plusieurs poèmes: «Cours de la vie»/«Lebenslauf», «Vocation du poète»/ «Dichterberuf», «Stuttgart», «Pain et Vin»/«Brot und Wein» et «A la Madone»/«An die Madonna». Le chemin parcouru par le sujet dans «la nuit sacrée» hölderlinienne lie la pensée grecque, plus précisément le pré-socratique Héraclite7 au christianisme. La troisième strophe de l’élégie «Pain et Vin»/«Brot und Wein» nous explique la raison et le but du mariage de ces deux-là: «Et notre coeur, en vain le cachons-nous en nous-mêmes, notre âme en vain Nous la tenons captive! car qui donc, nous les maîtres, nous les disciples, Peut briser notre élan, qui donc, ah! nous interdirait la joie? Le feu divin lui-même, nuit et jour, s’efforce vers un brusque Embrasement. Viens donc! et nous tournerons nos yeux vers l’étendue Pour y chercher, si loin soit-il quelque chose qui nous soit propre! Une chose demeure ferme. Que midi sonne ou que le temps s’allonge Dans le coeur de la nuit, une mesure est là toujours, commune A tous, et chacun cependant reçoit en propre son destin. Chacun s’en va, chacun s’en vient aux lieux qu’il peut atteindre. Viens donc! Et qui pourrait mépriser le mépris, sinon cette Folie délirante qui saisit les chanteurs soudain dans la nuit sacrée. Viens aux rives de l’Isthme, oh viens! Là-bas où la rumeur immense de la mer Monte vers le Parnasse, où la neige scintille en 7

Diels, Fragment 60: «Der Weg auf und ab ist ein und derselbe.» – «La route, montante descendante – Une et même.» ( Jean-Paul Dumont, Les écoles présocratiques, Paris: Gallimard 1991, p.80)

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diadème aux rocs delphiques, Là-bas dans le pays de l’Olympe, à la cime du Cithéron là-bas, Là-bas sous les épicéas, sous les raisins d’où voici Thèbes Et le fleuve Ismènos bruire au pays de Kadmos, C’est là d’où vient, c’est là ce que désigne à son tour le dieu à venir!»8

Le sujet de cette strophe est de toute évidence la relation entre, d’un côté, une foi qui est caractérisée par l’enthousiasme de la nuit profane et sacrée, et de l’autre, un savoir déterminé par la mesure qui est toujours là et commune à tous. Mais s’il est vrai que la chouette de Minerve prend son envol à minuit, il est également vrai que le feu divin lui-même, nuit et jour, s’efforce vers un brusque embrasement. «Pain et Vin» n’est pas non plus un hymne à la nuit, l’idée de l’appropriation active du propre par l’Autre unit même jour et nuit. L’un des modèles de Hölderlin était, certes, «The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death and Immortality» d’Edward Young, mais contrairement à son modèle, chez Hölderlin la nature est pleine d’esprit et n’a rien d’absolu ou d’intemporel.

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Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in : Friedrich Beissner/Jochen Schmidt (Hg.), Hölderlin – Werke und Briefe, Frankfurt/Main 1969, S. 115: « Auch verbergen umsonst das Herz im Busen, umsonst nur Halten den Mut noch wir, Meister und Knaben, denn wer Möcht es hindern und wer möcht uns die Freude verbieten? Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, Aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen, Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Mass, Allen gemein, doch jeglichem auch ist ein eignes beschieden, Dahin gehet und kommet jeder, wohin er es kann. Drum! und spotten des Spotts mag gern frohlockender Wahnsinn, Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift. Drum an den Isthmos komm! Dorthin, wo das offene Meer rauscht Am Parnass und der Schnee delphische Felsen umglänzt, Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons, Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos, Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott.« – Traduction personnelle.

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«Night, sable Goddess ! from her Ebon throne, In rayless Majesty, now stretches forth Her leaden Scepter o’er a slumbering world: Silence, how dead? and Darkness, how profound? Nor Eye, nor listening Ear an object finds; Creation sleeps. ’Tis as the general Pulse Of life stood still, and Nature made a Pause; An awful pause! prophetic of her End.»9

Certes, l’un des interlocuteurs principaux de Hölderlin dans «Pain et Vin» est Novalis – mais déjà la forme «élégie» signale une différence importante: l’hymne exprime l’enthousiasme pour les Dieux et les héros pendant le culte, l’élégie est la construction d’une symbiose de l’idée de la loi et l’émotion. La sacralité de la nuit sacrée hölderlinienne s’exprime dans un délire, une aliénation mentale («geistige Umnachtung» comme on dit en allemand) du chanteur-poète. Le délire pousse l’être humain à bouger, à marcher («wandern»), au voyage et ce n’est certainement pas un hasard si Dionysos, le Christ et Zarathoustra étaient de grands voyageurs («Wanderer»10). «Viens aux rives de l’Isthme», c’est-à-dire au centre de la Grèce, royaume de celui qui vient du pays de Kadmos pour participer à la fête à Cithéron près de Thèbes – lieu des orgies dionysiaques où, bien évidemment, le vin («raisins»/«Trauben») ne doit pas manquer. Le vin lie cette scène à la cène chrétienne, c’est-à-dire à l’idée d’un sacrifice divin, d’un sacrifice de Dieu pour entamer une nouvelle alliance («einen neuen Bund») avec l’homme, qui consiste d’après la Bible en l’amour; le pain, par contre, est aussi le signe de la trahison de cet amour: «Et quand celui-là ( Judas) eut pris sa bouchée de pain, il sortit aussitôt. Or, il faisait nuit. Lorsqu’il fut sorti Jésus dit: ,Voici que le fils de l’homme est magnifié, et Dieu est magnifié en lui […] Un nouveau commandement je vous le donne: aimez-vous les uns les autres comme je vous ai aimés.’»11 L’invitation («Viens donc») à l’amour est une invitation à regarder l’ouvert, le découvert («das Offene»), une invitation à la Révélation («Offenbarung») qui correspond dans l’univers grec (et allemand) à une 9 Edward Young, Night Thoughts, ed. by Stephen Cornford, Cambridge 1989, p. 37. 10 Im «Wanderer» steckt auch ein «Anderer» und das W(eh) des Wahnsinns/Dans le «Wanderer» (voyageur) se cache aussi «ein Anderer» (un autre) ainsi que le «W(eh)» (la d[ouleur]) «des Wahnsinns» (de la folie). 11 L’évangile selon St. Jean 13.30 – 34.

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image de la mer («das offene Meer»), autrement dit: à la nature sacrée.12 L’amour, de son côté, mène finalement au propre si lointain («Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist») et si proche – dans le poème: «Quoi que j’aie vu, le sacré soit mon mot»13 La résurrection de Dieu s’opère chez Hölderlin dans le mot où le divin peut apparaître dans son sérieux total («la mesure»/«das Mass») et, en même temps, dans sa figure de liberté la plus sereine (la fête/das Fest). Le mot est l’expression de l’amour absolu du Dieu à venir, d’une nouvelle alliance entre le je et les autres, entre le sujet et l’Autre. La cruauté de l’absence de Dieu s’applique également au mot parce que ce dernier est devenu une sorte de refuge du sacré, un lieu où la logique de la cruauté divine, le sacrifice, reste intacte. Cette transformation du lieu du sacré (d’un au-delà vers le mot) marque la naissance de la maladie mentale, de la folie au sens moderne. Le mot ne représente plus le sens («Sinn») d’une force mais devient lui-même une force qui affecte le corps directement et le condamne à la passivité – comme la folie («Wahn-Sinn») le prouve. Hölderlin est effectivement le poète du poète («der Dichter des Dichters») comme le dit Heidegger parce qu’il montre dans ses poèmes les résultats d’une expérience verbale, d’une expérience avec une nouvelle force sacrée qui s’appelle «mot» et par laquelle l’homme a été affecté pour devenir poète moderne. Friedrich Nietzsche enfin ne reflète pas directement le sacré, il le comprend comme force, et pour cette raison il l’«applique» – dans son style et dans sa réflexion sur l’homme. Dans les deux cas il n’«applique» pas la conception hégélienne mais plutôt celle de Hölderlin (avec ses implications) qu’il a beaucoup apprécié dès sa jeunesse. L’«application» dans sa réflexion sur l’homme mène Nietzsche d’abord à une interprétation de l’homme sacré, du saint: «Toutes les visions, les terreurs, les fatigues, les extases du saint sont des états morbides connus, que lui-même, en raison d’erreurs religieuses et psychologiques enracinées, interprète seulement d’autre façon, c’est-àdire non comme des maladies. […] Parmi les facultés les plus grandes de ces hommes que l’on appelle génies et saints, il faut mettre celle de se procurer 12 Voir Martin Heidegger, Approche de Hölderlin (son interprétation de «Comme au jour de fête») – Siehe Martin Heidegger, «Wie wenn am Feiertage…», in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/Main 1981. 13 Friedrich Hölderlin, Wie wenn am Feiertage, in: Friedrich Beissner/Jochen Schmidt (Hg.), Hölderlin – Werke und Briefe, Frankfurt/Main 1969, S. 135: «Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.» – Traduction personnelle.

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à eux-mêmes des interprètes qui les entendent mal pour le salut de l’humanité.»14

La traduction française minimise le pouvoir que Nietzsche attribue aux génies et aux saints: ces derniers produisent – par la force – des interprètes qui les entendent mal pour le salut de l’humanité. Leur maladie ne nuit pas à leur force, au contraire, leur maladie est la source d’un incroyable pouvoir fondé sur le mot. Nietzsche reprend ici l’idée centrale de la philosophie d’Arthur Schopenhauer qui consiste en une sorte de paradoxe qui s’exprime dans la question suivante : Comment est-il possible qu’il existe un homme (dont le saint est l’incarnation) qui fonde son existence sur la négation de la volonté de vivre? Ce paradoxe se traduit chez Nietzsche tout d’abord en une psychopathologie des saints. Le sacré apparaît donc, indirectement, comme un phénomène directement lié à l’ascétisme et au ressentiment, deux qualités (ou forces) qui définissent le prêtre. Saint Paul par exemple est interprété comme un épileptique habité par l’idée fixe de la loi, Saint François d’Assise est lui aussi présenté comme un épileptique, mais à l’instar de Jésus, également comme un névrosé et un visionnaire. Ces descriptions n’impliquent aucune critique négative, elles posent très simplement la question des valeurs, puisque le saint n’est pas seulement malade, il est en même temps «l’espèce la plus puissante – homme.»15 Jugé du point du vue de pouvoir, la maladie est plus vitale que la santé – une santé qui fait partie de l’idéologie du dernier homme: «Voici! Je vous montre le dernier homme. […] ,Nous avons inventé le bonheur’, – disent les derniers hommes, et ils clignent de l’œil. […] Tomber malade et être méfiant passe chez eux pour un péché: on s’avance 14 Friedrich Nietzsche, Humain, Trop Humain (§ 126), dans: Jean Lacoste/ Jacques Le Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres I, Paris 1993, p. 512 – Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (§ 126), in: G.Colli/ M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 2, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.122: «Alle die Visionen, Schrecken, Ermattungen, Entzückungen des Heiligen sind bekannte Krankheitszustände, welche von ihm auf Grund eingewurzelter religiöser und psychologischer Irrtümer nur ganz anders, nämlich nicht als Krankheiten gedeutet werden. […] Zu den grössten Wirkungen der Menschen, welche man Genies’ und Heilige nennt, gehört es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit missverstehen.» 15 Friedrich Nietzsche, Nachlass 1885 – 1887, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 12, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 561: «der Heilige als die mächtigste Species Mensch» – Traduction personnelle.

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prudemment. […] Point de berger et un seul troupeau! Chacun veut la même chose, tous sont égaux: qui a d’autres sentiments va de plein gré dans la maison des fous. […] On a son petit plaisir pour le jour et son petit plaisir pour la nuit: mais on respecte la santé.»16

Dans ce contexte il faut rappeler que, chez Nietzsche, le premier qui proclame la mort de Dieu est le fol («der tolle Mensch») dans le troisième livre du «gai savoir»: «N’avez-vous pas entendu parler de ce fol qui alluma une lanterne en plein jour, courut au marché criant sans trêve: ,Je cherche Dieu! […] Dieu est mort, Dieu reste mort!’»17

Mais tout au début de ce troisième livre on peut déjà lire: «Dieu est mort: mais à voir l’espèce humaine il restera peut-être durant des millénaires des cavernes dans lesquelles on montrera son ombre. Et nous, il nous faut de surcroît vaincre son ombre.»18 Nietzsche, comme Hegel et Hölderlin, présente la mort de Dieu comme un acte de transformation, mais chez Nietzsche cet acte exclut toute idée de neutralité objective ou subjective. Sa pensée n’accepte ni l’idée de la totalité ni la passivité. La mort de Dieu provoque chez les penseurs d’abord une transformation physique (une maladie), une métamorphose (ce qui est, d’après Platon, le but de la philosophie) pour 16 Friedrich Nietzsche, Ainsi parlait Zarathoustra, dans: Jean Lacoste/Jacques Le Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres II, Paris 1993, p. 295/96 – Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.19/20: «Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. […] ,Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln […] Krankwerden und Misstrauenhaben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. […] Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus. […] Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.» 17 Friedrich Nietzsche, Le gai savoir, traduction personnelle d’après Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 3, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.480/81: «Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche Gott!’ […] Gott ist todt! Gott bleibt todt!» 18 Friedrich Nietzsche, Le gai savoir, traduction personnelle d’après Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 3, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.467: «Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!»

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ensuite être comprise comme une transmutation. Le sacré se présente désormais sous la forme d’une ombre, l’ombre du sacré, sa trace se trouve un peu partout dans l’univers humain, dans le corps de l’homme, son caractère, sa personnalité, sa pensée, ses sentiments, mais également dans sa langue, son écriture. En outre, cette transformation en ombre implique une progression qualitative sans pour autant vaincre la force réactive qui est le sacré. Reste alors la question: Comment peut-on vaincre l’ombre de Dieu? – Dans l’œuvre posthume nous trouvons la réponse: «Si nous ne faisons pas de la mort de Dieu un grandiose renoncement et une victoire constante sur nous-mêmes, nous avons à endosser la perte.»19 Cette réponse correspond parfaitement au programme de «Zarathoustra», livre qui est d’un côté une critique du pur concept sacré parce que ce dernier anéantit toute différence qualitative afin d’installer une objectivité sacrée – et de l’autre une transmutation de la conception hölderlinienne parce que cette dernière anéantit la volonté de pouvoir afin de sauver l’idée sacrée de la réconciliation. La critique s’exprime dans «Zarathoustra» en un langage poétique qui, d’une manière frappante, est inspiré par Hölderlin à plusieurs égards: 1. concernant sa structure – qui rappelle le modèle d’une ode tragique développé dans «Empédocle» et «Fondement d’Empédocle» 2. concernant son style hymnique – qui ressemble à «Hypérion», même si le pathos, chez Nietzsche, se trouve relativisé par la parodie 3. concernant certains motifs – comme celui de la nuit, celui du voyage (avec des morts – les Grecs – sur le dos) ou celui du pain et du vin: «La faim s’empare de moi comme un brigand, dit Zarathoustra. Au milieu des bois et des marécages, la faim s’empare de moi, dans la nuit profonde. […] En parlant ainsi, Zarathoustra frappa à la porte de la maison. Un vieil homme parut aussitôt: il portait une lumière et demanda: ,Qui vient vers moi et vers mon mauvais sommeil?’ ,Un vivant et un mort’, dit Zarathoustra. ,Donnez-moi à manger et à boire’ […] Le vieux se retira, mais il revint aussitôt, et offrit à Zarathoustra du pain et du vin.»20 19 Friedrich Nietzsche, Nachlass 1880 – 1882, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 9, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 577: «Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine grossartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.» – Traduction personnelle. 20 Friedrich Nietzsche, Ainsi parlait Zarathoustra, dans: Jean Lacoste/Jacques Le Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres II, Paris 1993, p. 298 – Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische

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Il faut y ajouter la proximité entre la conception hölderlinienne et celle de Nietzsche concernant le lien entre la grécité et la pensée moderne qui consiste en l’idée de l’appropriation du propre par le biais de l’autre – exprimé déjà dans le titre «Also sprach Zarathustra». La traduction française – «Ainsi parlait Zarathoustra» – efface presque la référence biblique («ainsi parla…») mais dans l’original elle est aussi présente que celle à Héraclite. L’appropriation du propre du prophète Zarathoustra, c’est-à-dire d’un homme sacré qui fait l’expérience d’une transformation par la maladie21, passe aussi par une Grèce qui incite à la transmutation et mène vers le chemin d’auto-dépassement en direction du surhomme. Le Dieu à venir de Hölderlin devient l’Homme à venir, et les deux incarnent d’abord la même chose (ou presque), à savoir l’amour entre hommes (avec, chez Nietzsche et seulement chez lui, une dimension physique, «hommo-sexuelle»22 évidente) – mais la perspective a changé, Studienausgabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 24: «Der Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber. In Wäldern und Sümpfen überfällt mich mein Hunger und in tiefer Nacht. […] Und damit schlug Zarathustra an das Thor des Hauses. Ein alter Mann erschien; er trug das Licht und fragte: ,Wer kommt zu mir und meinem schlimmen Schlafe?’ ,Ein Lebendiger und ein Todter’, sagte Zarathustra. ,Gebt mir zu essen und zu trinken […].’ Der Alte ging fort, kam aber gleich zurück und bot Zarathustra Brot und Wein.» – Vergleiche auch das Kapitel «Das Abendmahl» im 4. Teil des Zarathustra/Voir également le chapitre «La cène» dans la quatrième partie de «Zarathoustra». 21 Voir le chapitre «De la vision et de l’énigme» (Zarathoustra III, 2) et sa suite «Le Convalescent» (Zarathoustra III, 13). Voir également mon article «High noon – le cauchemar décisif: ,De la vision et de l’énigme’» dans: Herbert Holl (dir.), Les indécidables, Paris: L’Harmattan 2010. 22 Voir surtout le chapitre sur «l’ami» dans «Zarathoustra» (malheureusement les traductions françaises exclurent la possibilité de traduire «Kleid» par «jupe»). Voici la version de Colli/Montinari, tome 4 , version française, traduit par Maurice de Gondillac, Paris: Gallimard 1971, p. 69/70): «Devant ton ami tu ne veux porter aucun vêtement? Est-ce en l’honneur de ton ami qu’à lui, tel que tu es, tu te livres? […] En faisant de soi aucun mystère, l’on irrite; tant vous avez raison de craindre la nudité! Oui certes, si vous étiez des dieux, de vos vêtements il vous serait permis d’être honteux. Tu ne saurais pour ton ami te faire assez beau […] Ton ami, déjà le vis-tu dans son sommeil – afin d’apprendre comment il paraît? Sinon, de ton ami quel est donc le visage? Dans un miroir grossier et imparfait, c’est ton propre visage.» – Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 72: «Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines Freundes Ehre sein, dass du dich ihm giebst, wie du bist? […] Wer aus sich kein Hehl macht, empört: so sehr habt ihr Grund die Nacktheit zu fürchten! Ja, wenn ihr Götter wäret, da

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la direction a été inversée, la passivité de la subjectivité est transformée en activité des sujets. L’amour chez Nietzsche n’est pas en route vers l’homme, il ne vient pas, Zarathoustra est obligé de le chercher, physiquement, auprès de chaque individu; la foule ne le suit pas automatiquement, il trouve ses compagnons un par un. Une nouvelle alliance se construira à partir d’une politique de transmutation de la maladie qui passe par une nouvelle poésie née de l’esprit de la parodie, qui, de son côté, s’applique aussi au sacré afin de construire le simulacre d’un texte sacré, à savoir le 5ème évangile.

dürftet ihr euch eurer Kleider schämen. Du kannst dich für deinen Freund nicht schön genug putzen […] Sahst du deinen Freud schon schlafen, – damit du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes? Es ist dein eignes Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen Spiegel.» Déjà le jeune professeur de philologie Nietzsche a critiqué l’absence totale d’une réflexion sur la pédophilie et l’homosexualité dans les cours sur la culture grecque de son collègue et ami paternel à Bâle, Carl Jakob Burckhardt.

Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori Transzendierung des Historischen oder Historisierung des Transzendentalen? Knut Ebeling Das historische Apriori ist ein hölzernes Eisen: Es ist eine wirksame Waffe im Arsenal der philosophischen Metaphysikkritik – und zugleich ein blinder Fleck auf jeder philosophischen Landkarte. Man findet diesen Fleck weder in den geläufigen Wörterbüchern der Philosophie verzeichnet, noch ist er in dem historischen Wörterbuch, dem Historischen Wçrterbuch der Philosophie aufgelistet.1 Religiöse oder gar psychologische Apriori mögen es in die Rangliste der Philosophiegeschichte geschafft haben; doch dasjenige Apriori, das am deutlichsten gegen jede metaphysische Auffassung der Geschichte vorgeht, wird mit keiner Zeile erwähnt. Tatsächlich ist dieses seltsame Apriori, das im metaphysikkritischen Niemandsland zwischen Nietzsche und Foucault entwickelt wurde, mitnichten das erste Thema, das einem bei der prominenten Allianz zwischen diesen beiden Philosophen einfällt. Selbst wenn man das Thema auf Nietzsche und die Geschichte, oder spezieller, auf Nietzsche und die frankophonen Versionen der Geschichte, oder noch spezieller, auf Nietzsche und Geschichte auf Französisch eingrenzt, erscheint das historische Apriori kaum auf dem Monitor der Untersuchung. Das historische Apriori ist so verhüllt und unerkannt wie es in der jüngeren Metaphysikkritik wirksam ist.2 Zunächst mag die Konjunktur des Begriffs nur als Hinweis darauf dienen, daß sich „in der Nachfolge Cassirers und Foucaults […] ein verkappter Erbfolgekrieg um

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Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Band 1: A-C, hg. von Joachim Ritter, Basel und Stuttgart 1971, S. 462 ff. Eine Eingabe des Begriffs „historisches Apriori“ in der Suchmaschine Google am 16. 1. 2007 ergab ca. 46.400 Einträge.

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den seit der Abdankung einer ,Kritik der reinen Vernunft‘ nunmehr vakanten Thron des Transzendentalen [abspielt].“3 Bevor sich Medienwissenschaftler anmaßen konnten, um den Thron des Transzendentalen zu werben, stand auf dem Treppchen jemand anders: jener Michel Foucault, der in der medienhistorischen Ahnenreihe prominent erscheint. Einerseits teilen Medien- und Kulturwissenschaftler durchgängig Foucaults und Nietzsches Kritik der Metaphysik;4 andererseits versuchen sie, den „Thron des Transzendentalen“ medial zu besetzen. Dieser Versuch – der nach dem Strickmuster verläuft: auf Kants formales Apriori folgte Foucaults historisches Apriori, das wiederum vom einem medialen oder technischen Apriori abgelöst wird – stellt unter anderem den Anlaß und virulenten ,Jetztpunkt‘ dieses Beitrags dar.5 Schließlich war schon Foucaults historisches Apriori begriffshistorisch so schwer zu fassen gewesen, daß es nicht in historischen Wörterbüchern erschien. Daher könnte man auf die Idee kommen, nach dem historischen Apriori von der umgekehrten Seite her zu suchen: Nicht das letzte, sondern das erste, was einem beim Thema Nietzsche und die Geschichte einfällt – zumal in der besagten Verschränkung aus Nietzsche und dem bekennenden Nietzscheaner Foucault – ist natürlich die Methode der Genealogie: jene Kampfansage an die geschichtsphilosophische und mithin metaphysische Auffassung von Geschichte. Die metaphysikkritische Genealogie empfiehlt sich naturgemäß beim Überthema Nietzsche und Frankreich, spezieller für Nietzsche und Foucault. Tatsächlich ist die Methode der Genealogie mittlerweile derart einschlägig, daß man auf den berühmten Doppelpaß zwischen Nietzsches Genealogie der Moral von 1881 und Foucaults Antrittsvorlesung am Collge de France hundert Jahre später, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 6 kaum noch hinzuweisen braucht. Titel, Thesen 3 4 5 6

Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, in: dies., Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Archiv fr Mediengeschichte 6, Weimar 2003, S. 5. „Kultur- und Mediengeschichte [teilen] bestimmte metaphysik- und hermeneutikkritische Grundvoraussetzungen stillschweigend.“ Engell/Siegert/Vogl, Editorial (Anm. 3), S. 9. Vgl. Knut Ebeling, „Das technische Apriori“, in: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). Archiv fr Mediengeschichte 6, hg. von Lorenz Engell/ Joseph Vogl/Bernhard Siegert, Weimar 2006, S. 11 – 22. Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bnden/Dits et Ecrits, Band II: 1970 – 1975, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2002, S. 166 – 190. Vgl. dazu: Knut Ebeling, „Nietzsche, die Genealogie,

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und die durchgängig metaphysikkritischen Temperamente dieser Texte sind zum fait accompli der jüngeren Theoriegeschichte geworden. Es ist nicht nötig, sie zu wiederholen. Doch das Thema der Genealogie ist nicht das einzige Thema, das man beim Stichwort einer metaphysikkritischen Geschichtsauffassung bei Nietzsche und Foucault ins Feld führen kann. Ein zweites Thema wäre das historische Apriori. Zu allem Überfluß läßt sich diese nietzscheanische Geschichtsschreibung durchaus auch mit dem Namen oder dem Titel ,Frankreich‘ versehen: Neben der Genealogie ist das historische Apriori ein zweites und flankierendes Thema, das den ,französischen Nietzsche‘ kennzeichnet – das einen Nietzsche markiert, der eine geschichtsphilosophische, man könnte auch sagen: eine deutsche Tradition verläßt und eine positivere, positivistischere Richtung einschlägt – die man durchaus mit dem Kürzel ,Frankreich‘ versehen kann. Das Thema des historischen Apriori ist also eher von Foucault bekannt als von Nietzsche. Doch auch bei Foucault wurde das historische Apriori nie sonderlich prominent. Dabei war das historische Apriori, im Gegensatz zu vielen plakativeren Slogans Foucaults – wie sie in den gerade erscheinenden Foucault-Handbüchern mittlerweile nachzulesen sind – durchaus eine seiner wirksameren Formeln. Wirksam war das historische Apriori, das gern mit Cassirers „symbolischen Formen“ verglichen wird, nicht nur in Bezug auf die kommenden Forschergenerationen, die von dieser Konzeption eine neue Richtlinie in Sachen Historisierung zugewiesen bekamen, hinter die man nicht zurückkonnte. Wirksam war das historische Apriori vor allem auch, um eine gewisse Tradition sichtbar zu machen. Diese Tradition war eine nietzscheanische – und keine kantische oder neukantianische. Ein historisches Apriori wäre also gewissermaßen ein neunietzscheanisches Apriori: Ein Apriori, das vielleicht auch ein Nietzsche hätte unterschreiben können.

Nietzsches Geschichte(n) Mit anderen Worten: Das einschlägige Thema der nietzscheanischen Geschichts- und Metaphysikkritik soll einmal nicht von der Seite der Genealogie her erzählt werden – sondern von der des historischen die Archäologie. Ethnologie der eigenen Kultur und Geschichte der Gegenwart bei Foucault“, in: Zeitenwende – Wertewende, hg. von Renate Reschke, Berlin, S. 159 – 163.

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Apriori. Das Thema der Genealogie bei Nietzsche wird durch das Thema des historischen Apriori ergänzt. Schließlich ist das eine Thema, die Genealogie, nicht nur ebenso populär wie das andere unbekannt ist; beide Themen sind sich ohnehin bereits näher, als man meinen sollte. Denn nicht nur die Genealogie ist eine Methode, die ihre Prägung nach Nietzsche von Foucault erfuhr; auch das historische Apriori ist eine Konzeption Foucaults, die das nietzscheanische Projekt einer Metaphysikkritik weiterführt. Doch im Unterschied zur Methode der Genealogie kann sich die Konzeption des historischen Apriori nicht auf eine nietzscheanische Wurzel berufen. Das Thema des historischen Apriori bei Nietzsche ist bei weitem nicht so einschlägig wie die Methode der Genealogie – im Gegenteil: Während er der genealogischen Methode ein eigenes Buch widmete, kam ein so bezeichnetes historisches Apriori bei Nietzsche nie vor. Was es bei Nietzsche aber durchaus gegeben hat, ist eine anti-geschichtsphilosophische Haltung zur Geschichte. Ein Hinweis auf die Genealogie der Moral genügt, um diese antigeschichtsphilosophische Haltung zur Geschichte zu belegen. Aber auch in anderen Texten von Nietzsches mittlerer Werkphase tritt diese historische Aggression gegen die Philosophie auf – wie zum Beispiel in jenem zehnten Paragraphen von Menschliches, Allzumenschliches II. Dort wird behauptet, daß „die ganze Philosophie […] von jetzt ab der Historie verfallen“ (MA 384) sei: „Der Historie verfallen. – Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröbern Korns, ergreifen Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, daß es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen, daß sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen: die Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren.“

Genau diese Verfallenheit der Philosophie gegenüber der Historie wurde durch das historische Apriori auf den Begriff gebracht. In der Tat hat man gute Gründe für die Vermutung, daß diese Haltung Nietzsches durchaus Foucaults Metaphysikkritik des historischen Apriori entspricht. Das historische Apriori erlaubt es, Nietzsches Metaphysikkritik an der Geschichte auf den Begriff zu bringen und sie mit einem entschieden zeitgenössischen Akzent zu versehen. Neben der Methode der Genealogie ist das historische Apriori ein weiterer Versuch des zwanzigsten Jahrhunderts, eine nietzscheanische Geschichte zu betreiben. Auch wenn Nietzsche ein historisches Apriori an keiner Stelle erwähnt,

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so ist zu vermuten, daß er gewiß mit dieser verqueren Konzeption geliebäugelt hätte – und das nicht nur wegen ihrer bereitwilligen Verdrehung der Philosophiegeschichte. Auch aufgrund Nietzsches eigener Aversion gegen metaphysische Aufladungen von Geschichtsverläufen läßt sich seine Zustimmung zu dieser Konzeption annehmen. Die offen metaphysikkritische Phase von Nietzsches Geschichtskritik findet sich natürlich am ehesten in dessen mittlerer, ,positivistischer‘ Phase. Was sich im glücklichen Positivismus Nietzsches in Bezug auf die Geschichte artikuliert, ist ein anderer Ton als die juvenile Geschichtskritik, die man aus der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung kennt. Wer den angestrengt-polemischen Ton der Reflexion über Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben im Sinn hat, für den hört sich Nietzsches positivistische Geschichtsauffassung durchaus ungewohnt an. Man erinnert sich: In der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung war die Historie vor allem in ihrer historistischen und geschichtsphilosophischen Form verurteilt worden – verurteilt als Philister-Forschung und angepaßte historische Besserwisserei. Die Avantgarde des Denkens mußte etwas anderes betreiben. Wer also an Nietzsches frühe Geschichtsschelte denkt, den kann seine historische Kritik, seine Geschichte als Metaphysikkritik nur überraschen. Die ehemals angegriffene Geschichte wird plötzlich zum Werkzeug einer Demontage der Metaphysik, zur Waffe zur Anfechtung jeder Geschichtsphilosophie. Beispielsweise in Gestalt der Genealogie erscheint das Geschichtliche, um es gegen die Geschichte zu wenden. Plötzlich wird die Geschichte nicht mehr als historistische Besserwisserei attackiert; mit einem Mal ist es das Historische selbst, das Sand ins Getriebe der Geschichtsphilosophie streut. Plötzlich ist „die ganze Philosophie der Historie verfallen“ – und werden geschichtliche Abläufe als Waffe im Kampf gegen die Metaphysik eingesetzt. Das wäre, grob gesagt, die Funktion von Nietzsches Geschichte als Kritik. Nietzsches Kritik richtete sich bekanntlich nicht nur an die Adresse der Geschichtsphilosophie. Bekanntlich hatte er alle möglichen „Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröbern Korns“ im Visier. Im Klartext: Nietzsche bekämpfte alle möglichen Varianten von Apriori, alle Versionen von Vorgängigkeiten. Man muß kein Wahrsager sein, um Nietzsches Apriori-Aversion zu erkennen. Unverkennbar gehörte er zu denjenigen Skeptikern, denen sich bei jeder Voreinstellung der Erkenntnis die Nackenhaare kräuselten. Nietzsche konnte dem Mechanismus des Apriori, das etwas in Reih’ und Glied bringt, was sich nicht unbedingt derart aufstellen läßt, nur feindlich gegenüber stehen. Aus diesem Grund

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wäre ein historisches Apriori nur schwer mit Nietzsche in Verbindung zu bringen, wenn man es dem Wortlaut nach versteht: als Gründung eines neuen Apriori, als neue erkenntnistheoretische Konstante, als neue Transzendentalie, die allem zuvorkommt – als Gründungsgeste einer neuen Metaphysik. Doch genau darauf läuft das historische Apriori nicht hinaus. Foucaults historisches Apriori legt den Schwerpunkt auf die Historisierung des Transzendentalen und nicht auf die Transzendierung der Geschichte. Es ist ein Apriori gegen die Formulierung aller Apriori, ein Unternehmen zur Abschaffung aller Apriori – ein trojanisches Pferd, das mit seiner radikalisierten Historisierung jede apriorische Vereinheitlichung gleichsam von innen ausräuchert.

Geschichte nach Nietzsche Doch was besagte das historische Apriori, was das genealogische Thema noch nicht formuliert hatte? Und was für eine Geschichtsauffassung kann man dem ,französischen‘ Nietzsche zuschreiben? Es wurde bereits gesagt, daß der Begriff des historischen Apriori die positive oder positivistische Ausrichtung der Geschichtskritik des mittleren Nietzsche verdeutlicht, das Projekt einer Positivierung von metaphysischen Begriffen. Nietzsches Arbeit an der Abschaffung der Apriori landet möglicherweise weniger noch bei einer Wiederholung der Transzendentalphilosophie auf historischer Ebene als sein französischer Nachfolger Foucault. Der hatte in dem besagten Essay „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ hinlänglich deutlich gemacht (um auch die zweite Frage zu beantworten) worauf Nietzsches Position hinauslaufen könnte – und worum es auch bei einem historischen Apriori ginge: um eine Geschichte nämlich, die vom Register der Repräsentation zu dem der Codierung wechselt. Diese positivistischere Geschichtsauffassung könnte man als das Geschichtsdenken des ,französischen‘ Nietzsche betrachten. In allen Forschungen der hier zitierten mittleren Werkphase Nietzsches geht es weniger um eine neue Geschichte, eine andere Geschichtsschreibung oder Korrekturen am Bild der Geschichte. Es geht zunächst um überhaupt kein Bild mehr, sondern um die Zerschlagung des Spiegels der Repräsentation der Geschichte. Was die Suchbewegungen aufspüren, die mit dem Stichwort des historischen Apriori versehen wurden, ist so etwas wie die Codierung der Geschichte oder die Codierung von Geschichtsschreibungen: Das historische Apriori stöbert diejenigen verborgenen Punkte auf, die zu

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dieser und keiner anderen Geschichte geführt haben; diejenigen Entscheidungen, Weichenstellungen und Schaltpläne, die dazu geführt haben, diese Geschichte zu schreiben und keine andere. Kurz: Worauf es dem historischen Apriori ankommt, ist zweierlei: Einmal die besagte Kritik der Metaphysik, der mit den Historisierungen gängiger Apriori ein Riegel vorgeschoben wird. Auf der anderen Seite jedoch sollen diese Historisierungen selbst nicht wieder ins Absolute kippen und zur Transzendentalie werden. Man darf nicht vergessen, daß es (zumindest Nietzsche und Foucault) nicht nur um eine Neubesetzung des Throns des Transzendentalen ging – sondern auch um dessen Nichtbesetzung. Schließlich wird die Geschichte hier selbst nicht als Erstes verstanden, als Apriori, sondern als etwas Aufgesetztes, Späterkommendes, Sekundäres. Hier ist Nietzsche durchaus mit den Schulphilosophen d’accord – doch er verwirft das Historische nicht zu Gunsten eines Rationalen, Logischen oder wie auch immer gearteten anderen. Der Clou ist bei Nietzsche – wie auch bei Foucault – daß das Historische nur verworfen wird, um eine noch radikalere Geschichtsschreibung einzuführen – eine Geschichte, die auch die Geschichte noch historisiert. In dieser doppelten Buchführung wird das Historische aufgegeben zugunsten eines noch historischeren. Diesem noch historischeren geht es einfach darum, auch die Geschichte zu historisieren, darum, historischer und historisch genauer zu sein als die Geschichte. Der Thron des Transzendentalen wird also nicht durch das Historische besetzt, sondern das Historische wird durch dessen Radikalisierung ersetzt.

Foucaults Geschichte Dieses positive und positivistischere Geschichtsdenken läßt sich besonders gut durch die Brille des positivistischsten Nietzsche-Lesers des 20. Jahrhunderts lesen – durch die Brille des „glücklichen Positivisten“7 Michel Foucault. Tatsächlich wagte er es, im gleichen Atemzug mit seinem unverschämten Positivismus im gleichen Buch noch eine zweite Erbsünde an der Tradition der deutschen Geistesgeschichte zu begehen – und beschwor das hölzerne Eisen des „historischen Apriori“8 herauf. Zwar berief sich dieses Apriori naturgemäß auf Kant, den Inhaber des Copyrights für diesen philosophischen Begriff in der Moderne. Den7 8

Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 182. Foucault, Archologie (Anm. 7), S. 183 ff.

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noch machte Foucaults „historisches Apriori“ eine Tradition sichtbar, die eher die Verbiegung oder Umleitung dieser Tradition darstellte – eine Umleitung oder auch Umkehrung des Apriori, die man durchaus mit dem Namen Nietzsche verbinden kann. Man muß gewiß nicht auf Nietzsches Antipathie jedem Apriori gegenüber verweisen, auf den Haß gegenüber jeder vorgängigen, und d. h. natürlich metaphysischen Grundeinstellung des Denkens, um zu zeigen, daß Nietzsche auf einer Wellenlänge mit der Paradoxie namens historisches Apriori philosophierte. Dieser Antipathie muß eine derart verquere Konzeption wie Geigen in den Ohren geklungen haben. Bei Foucault stand das historische Apriori für dessen berüchtigte erkenntniskritische oder epistemologische Einstellung der Geschichte. In den frühen wissenshistorischen oder archäologischen Arbeiten Foucaults muß diese Einstellung derart berüchtigt gewesen sein, daß ihr Autor ihr in vorauseilendem Gehorsam höchstselbst jene „schrille Wirkung“9 unterstellte, von der in der Archologie des Wissens die Rede war. Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht einmal falsch. Denn als „schrill“ läßt sich sein hölzernes Eisen in der Tat beschreiben: Schließlich handelt es sich beim historischen Apriori um eine Kombination von zwei hervorragenden philosophischen Qualitäten – bei deren Zusammenstellung sich (nicht ganz ohne Grund) die Nackenhaare von Schulphilosophen sträuben. Die Formel war „schrill“, weil sie verband, was in der durchkantianisierten Welt nicht zusammengehörte, bzw. was sich in dieser Welt nicht berührte: Das Historische und das Apriorische. Diese beiden Elemente waren sich in dieser (schul-)philosophischen Welt so fremd wie Wasser und Öl. Hier wurden zwei Dinge vermengt, die absolut nichts miteinander zu tun hatten: Das Apriori – also das, was vor aller Erfahrung kommt – und die Geschichte, die per Definition erst auf vergangene Erfahrungen folgen kann. Schulphilosophisch beging das historische Apriori also einen kapitalen Fehler: Es verband die Vorgängigkeit des Apriorischen mit der Nachträglichkeit des Historischen. Es kombinierte das, was vor der Erfahrung ist mit dem, was ihr nachfolgt und nur in der Erfahrung ist: also das Erfahrungsunabhängige und das Erfahrene, das Analytische und das Empirische, das Rationale und das Sinnliche – ein philosophischer fauxpas. Foucault vereinte die Sterilität des Rationalen und die Infiziertheit des Historischen in einem einzigen Begriff. Dieser Begriff war derart 9

Foucault, Archologie (Anm. 7), S. 184.

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heterogen organisiert, daß man ihn in der Geschichte der Philosophie nur als Skandalon auffassen konnte – weswegen man ihn aus allen reinen Begriffsgeschichten strikt fernzuhalten hatte. Das historische Apriori war zu heterogen, als daß es in die schulphilosophische Welt gepaßt hätte. Es muß diese Heterogenität und Verschiedenartigkeit dessen gewesen sein, was vom historischen Apriori zusammengebracht wurde, die für die schulphilosophische Ächtung dieser Konzeption gesorgt haben. Dabei kann man deren ausgewiesene Heterogenität nicht nur als ihre Schwäche ansehen. Selbstredend kann diese Schwäche – beispielsweise aus einer nietzscheanischen Perspektive – auch als die eigentliche Stärke des historischen Apriori betrachtet werden. Schließlich belegen nicht nur Internet-Einträge, daß diese Figur auch dreißig Jahre nach Foucault noch interessiert – und das nicht trotz, sondern wegen ihrer Eigentümlichkeit. Indem das historische Apriori philosophisch getrennte Welten mehr oder weniger elegant miteinander verschränkte, hat es die nietzscheanische Blickrichtung auf die Geschichte ins zwanzigste Jahrhundert importiert und damit entschieden aktualisiert.

Die Sabotage der Geschichtsphilosophie Was sagt, was besagt das historische Apriori? Dieser Agent der Abschaffung aller Apriori formulierte zunächst eine paradoxe Erkenntnis: Das Apriorische ist historisch, aber das Historische nicht apriorisch. Einerseits ist das, was apriorisch zuvor kommt, nichts Zuvorkommendes – weil nämlich auch das Apriorische eigentlich historisch ist. Doch andererseits kann das Historische nicht apriorisch sein. Es kann schon deshalb nicht zuvor kommen, weil die Geschichte sich empirisch ereignet haben muß. Die Geschichte ist also ihrer eigenen Definition gemäß immer das, was danach kommt – vielleicht auch das, was zu spät kommt. Aus diesem Grund gibt es eigentlich nichts, was dem apriorischen Ansinnen fremder gegenüber steht, als das empirische Historische. Denn das Historische ist – nicht nur bei Kant – Teil der empirischen Welt, sie ist streng a posteriori. Der Trick des historischen Apriori besteht also darin, zwei Welten gegeneinander auszuspielen: die historische und die apriorische Dimension des Denkens. Formuliert man ein historisches Apriori, so macht man eine paradoxe Aussage: Man sagt, daß zuvor kommt, was eigentlich per definitionem nachträglich ist – nämlich die Geschichte. Und man sagt, daß das historisch und nachträglich

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ist, was eigentlich apriorisch zuerst kommt. Eine verwirrende Angelegenheit. Man könnte sagen, das historische Apriori installiert einen logischen Kreisverkehr. Es sagt, daß das nachträglich ist, wovon apriorisch angenommen wird, daß es zuvor kommt – und daß das zuvor kommt, was eigentlich nachträglich ist. Die Bedingung der Gültigkeit jeder Aussage ist ihre Widerlegung. Psychologisch gesprochen, hat man es mit dem Problem eines double-bind zu tun, in dem eine Behauptung auf Voraussetzungen aufbaut, die nicht ihr, sondern ihrem logischen Gegenteil das Wort reden. Für das Problem des Apriori, also des logischen voroder nachher, könnte man also salopp formulieren: Vor dem Spiel des historischen Apriori ist immer nach dem Spiel und umgekehrt. In diesem Kreisverkehr wird jede Reihenfolge und damit jede Geschichte zum Leerlauf verurteilt – und man könnte in der Tat annehmen, daß dieser geschichtsphilosophische Leerlauf das eigentliche Ziel des historischen Apriori ist. Diese Konzeption schickt jede erkenntnistheoretische Spekulation über ein grundsätzliches Vorher oder Nachher ins Leere. Die Leere besteht in der logischen und erkenntnistheoretischen Unentscheidbarkeit des Problems, das exzediert wird. Das historische Apriori verursacht also einen logischen Exzeß, einen Exzeß der logischen Formen. In Folge dieses Exzesses bricht die Spekulation am Ende zusammen. Aus diesem Grund könnte man das historische Apriori auch als Exzeß der Geschichte oder als geschichtsphilosophischen Sabotageakt bezeichnen. Man berichtet in der Tat nichts Neues, wenn man bekannt gibt, daß dieser Exzeß und diese Sabotage von Nietzsche und Foucault angestrengt wurde. Dabei wurde die strategische Lage selten bedacht, in die beide Denker durch ihr gemeinsames Projekt gebracht wurden: Denn so heroisch ihr Unternehmen zunächst klingt, bringt es beide Denker (wie jeder andere Sabotageakt auch) in eine prekäre Lage. Das historische Apriori manövriert Nietzsche und Foucault in einen Engpaß zwischen Philosophie und Geschichte. Das von Nietzsche angedachte und von Foucault weitergeführte Projekt einer historischen Kritik der Metaphysik befindet sich genau zwischen den Welten, die es gegeneinander ausspielt: zwischen der Geschichte und dem Apriori. Diese Welten sind so wirkmächtig, daß jedes zwischen ihnen angesiedelte Projekt Gefahr läuft, glatt zerrieben zu werden. Nicht zufällig handelten sich alle Experimente mit diesem Denkstil im Niemandsland zwischen Philosophie und Geschichte Angriffe von beiden Seiten ein: Zu historisch für die Philosophen, zu philosophisch für die Historiker – so

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lautete der Vorwurf, der sowohl gegen den positivistischen Nietzsche, als auch gegen Foucault und seine Nachfolger gerichtet wurde. Doch läßt man diese Vorwürfe und Risiken hinter sich, so wird deutlich, daß mit Hilfe des Begriffs des Apriori an der Schnittstelle zwischen Geschichte und Philosophie ein neuer Denkstil zwischen den Sphären entwickelt wurde.

Der Thron des Transzendentalen Der Vorwurf der Unentschiedenheit des historischen Apriori verdankt sich der schlichten Tatsache, daß eine theoretische Begründung dieser Konzeption durchaus schwerfällt. Dieser Befund könnte auch der Grund für die Tatsache sein, daß diese Begründung von Foucault gar nicht erst angestrengt wird: In der Archologie des Wissens wird das historische Apriori eher proklamiert als fundiert. Aus diesem Grund wird man mehr Glück als auf der theoretischen Ebene auf einer pragmatischen Ebene haben: Das historische Apriori läßt sich auch als Handlungsanweisung für die philosophische Forschung lesen, als Richtlinie, nach der jede Philosophie sich richten muß. Das Apriori, auch das historische, geht davon aus, daß immer schon etwas vorgefallen ist, wenn etwas anderes vorfällt – daß es immer schon eine Geschichte gibt, auf die auch die abstraktesten Denkbewegungen, -figuren oder -formeln aufsetzen. Selbst wenn die Verstandesbegriffe von Kant so jungfräulich vom Himmel heruntergebetet werden wie ein Gottesbeweis, tragen auch diese vorgängigsten Begriffe (wie beispielsweise Raum und Zeit) das Mal der Geschichte, der sie entstammen. Wie dieses Mal des Historischen auf dem Apriorischen aussieht, hat Foucault in seinem philosophischsten Buch demonstriert, der Ordnung der Dinge. In der Ordnung der Dinge, die zuweilen mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen verglichen wurde, ist das historische Apriori – wie Cassirers symbolische Form – die unsichtbare Klammer, die die großen zeitlichen Einheiten der Episteme äußerlich einrahmt und umfaßt. Kant und seine Apriori erscheinen hier beispielsweise eingerahmt von der Episteme, dem Zeichensystem der Klassik, das auch den kantischen Apriori seinen Stempel aufdrückte. Das einzige Problem bei diesen großformatigen Klammern war nur, daß Foucault in seiner Archologie der Humanwissenschaften diese nicht als historische, sondern als archäologische bezeichnete – weshalb er eigentlich von einem ,archäologischen Apriori‘ hätte sprechen müssen. Doch gleichviel; was

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diese Klammer eines historischen oder archäologischen Apriori zeigte, war die Tatsache, daß auch die reinsten philosophischen Vorgängigkeiten – die Kant in der Kritik der reinen Vernunft rauf- und runterdekliniert hatte – bereits eine Geschichte besitzen: Auch das Vorgängige ist historisch imprägniert – womit es nicht mehr rein vorgängig ist. Nach der paradoxen Lehre des historischen Apriori verhält es sich also genau umgekehrt: Die Verstandesbegriffe sind nicht vorgängig, sondern das Vorgängige ist (begriffs-)historisch. Was vorhergeht, ist also immer eine Geschichte – eine Geschichte der Begriffe, beispielsweise der „Moral-Begriffe“, die Nietzsche bekanntlich in der Genealogie der Moral heraufbeschwor; oder eine Geschichte der Diskurse, die Foucault bekanntlich in der eben erwähnten Ordnung der Dinge durchführte; oder eine Geschichte der Techniken und Medien, der Aufschreibesysteme und Schreibtechniken, wie sie im Anschluß an Foucault immer öfter durchgeführt werden – um nur die geläufigsten Anwärter auf den vakanten „Thron des Apriorischen“10 zu nennen. Mit anderen Worten: Das historische Apriori ist weniger ein akademischer Spielverderber als eine neue philosophische Spielregel. Diese neue philosophische Spielregel erweist sich (wie jede Spielregel) eher in ihrer Ausführung und Performanz als in ihrer theoretischen Begründung. Wie sollte man auch eine philosophische Begründung für die historische Einrahmung aller philosophischen Forschung finden? Denn auf eine derartige historische Einrahmung aller philosophischen Forschung läuft das historische Apriori hinaus. Sie läßt sich an allen Projekten beobachten, die mit historischen Apriori operieren: Sowohl Foucaults Diskursgeschichte als auch die heutige Medien- oder Technikgeschichte behaupten diese historische Einrahmung jeder philosophischen Erkenntnis.11 Stets wird behauptet, daß den Entwicklungen 10 Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, wie Anm. 3, S. 7. In einem früheren „Editorial“ sprechen die Erfinder dieser Formel davon, daß Medien den „Möglichkeitshorizont und Bedingungsgefüge des Historischen“ bildeten. „Medien gehen als Ermöglichungen dem, was ist, voraus“. Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, in: dies., Medien der Antike. Archiv fr Mediengeschichte 3, Weimar 2003, S. 8. Vgl. dazu auch Geoffrey Winthrop-Young, Friedrich Kittler zur Einfhrung, Hamburg 2005, S. 75. 11 Winthrop-Young (Anm. 10, S. 76) stempelt Kittler zum „Vertreter eines ,technisch-medialen Apriori’“, das so definiert wurde, „daß technische Vermittlungsverhältnisse gesellschaftlichen, kulturellen und epistemologischen Strukturen vorausgesetzt sind.“ D. Spreen, Tausch, Technik, Krieg: Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Hamburg 1998, S. 7. In einem

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des Geistes etwas anderes zuvorkomme; stets wird der Formulierung neuer Apriori mit der Behauptung ein Riegel vorgeschoben, daß jedem Apriorischen unsichtbar ein Historisches vorauseile – daß jede zeitlose und übergeschichtliche Determination der Erkenntnis immer noch historisch determiniert sei.

Die Transzendierung des Historischen An dieser Stelle erscheint ein ernstes Problem: Wenn das Geschichtliche stets und immer vorauseilt – ist es dann nicht selbst ein Apriori? Birgt die systematische historische Unterlaufung der Apriori nicht selbst wieder die Gefahr der Gründung einer neuen Transzendentalie? Führt die programmatische Metapysikkritik am Ende nicht wieder in die metaphysischen Fahrwasser, die man verlassen wollte? Wird der „vakante Thron des Transzendentalen“ nicht sofort wieder durch das Historische besetzt? Jede systematische Kritik der Metaphysik scheint mit dem Risiko behaftet zu sein, eine neue metaphysische Transzendentalie zu gründen. Man mag diese Gefahr bereits bei Nietzsche am Werk sehen, beispielsweise in seiner oben erwähnten Formulierung, „die ganze Philosophie“ tendiere zur Geschichte. Es ist durchaus zu befürchten, daß wer mit Ganzheiten zu rechnen anfängt, bei der Formulierung von Apriori enden muß. Nach Nietzsche zeichnet sich dieses Risiko sowohl in Foucaults Diskursgeschichten als auch in den ihnen nachfolgenden kulturwissenschaftlichen Wissens-, Medien- und Technikgeschichten ab. Foucaults genealogischen Untersuchungen wurde mehr als einmal vorgehalten, sie hätten das Moment der Macht transzendentalisiert; andererseits läßt sich von vielen Mediengeschichten durchaus behaupten, sie würden die Medien als neue Transzendentalie behandeln mit einer Metaphysik der Technik in ihrem Kern.12 Doch kann das Historische überhaupt zum Transzendentalen tendieren? In beiden zitierten Fällen, der Macht- und der Medien-Metaphysik, geht es um die Frage, ob eine grundlegendere Ebene gedacht dritten „Editorial“ sprachen Lorenz Engell/Joseph Vogl (Mediale Historiographien. Archiv fr Mediengeschichte 1, Weimar 2001, S. 6) von einem „medialen Apriori“ der Mediengeschichte, das sich an das historische Apriori Foucaults anschließe. 12 Vgl. stellvertretend die bei Winthrop-Young (Anm. 10) resümierte Kritik sowie Hartmut Winkler, Diskursçkonomie. Versuch ber die neue konomie der Medien, Frankfurt am Main 2004, S. 198.

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werden kann als das Historische. Sowohl in Foucaults machttheoretischen Untersuchungen als auch in vielen medienhistorischen Analysen wird etwas angenommen, das der Geschichte in ihrer offiziellen, niedergeschriebenen Form zuvor kommt – etwas, das darüber entscheidet, welche Geschichte geschrieben wird und welche vergessen, welche Version zur vorherrschenden wird und welche nicht. In beiden Fällen wird etwas angenommen, das schaltet – etwas, das bestimmte Geschichten ein- und andere ausschaltet; etwas, das auch bestimmte Apriori ein- oder ausschalten könnte. Noch vor Foucault nimmt Nietzsche also an, daß es etwas gibt, das die Geschichte beherrscht. Zu dieser – möglicherweise transzendentalen – Ebene gelangen Nietzsche und seine Nachfolger bekanntlich, indem sie die Frage der Macht stellen. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Frage stellt das historische Apriori dar: Es fragt nach Bedingtheiten, denen auch das scheinbar Unbedingte noch unterliegt. Es versieht das Philosophische mit historischen Vorzeichen und macht so die Frage möglich, ob das Wissen der Philosophie nicht beispielsweise durch historische Praktiken der Macht grundiert sei. Das historische Apriori nimmt also eine Ebene vor dem Historischen an, eine Schicht, die tiefer als das Historische gelegen ist – eine Schicht von Ereignissen, die von der Geschichte in ihrer offiziellen Form verdeckt wird.

Die Historisierung des Transzendentalen Man befindet sich also schon mitten in der Dynamik des historischen Apriori mit seinem Unternehmen einer Historisierung des Transzendentalen. In diesem Unternehmen wurde das Historische als absoluter Transzendierungsverhinderer eingesetzt, als anti-transzendentalphilosophische firewall gewissermaßen. Gegen die Gefahr, das historische Feld zu transzendentalisieren, setzten Nietzsche und Foucault auf das Projekt einer Historisierung des Transzendentalen. In den erwähnten Texten sollte das Transzendentale dadurch entmachtet und entkräftet werden, daß man ihm historische Analysen, historische Verläufe, archäologische Szenarien beigesellte. Das wäre also das Projekt einer Rekonstruktion der Apriori: Bei diesem Projekt, einer Archäologie der Philosophie gewissermaßen, geht es nicht um die Gründung eines neuen Apriori, sondern um die historische Rückrechnung der bekannten apriorischen Begriffe auf historische Verläufe oder Szenarien.

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Diese Archäologie der Philosophie – die von Nietzsche nie so benannt wurde und von Foucault dann in Bezug auf die Humanwissenschaften durchgeführt wurde – verwendet die Geschichte, um die Metaphysik zu entmachten: Einerseits setzt sie zwar durchaus historische Rekonstruktionen ein, um die transzendentalen Begriffe zu depotenzieren und zu positivieren. Andererseits tut sie dies aber, um die große Erzählung der Metaphysik leer laufen zu lassen und zu exzedieren. Die Begriffe, von denen man sagte, daß sie vorgängig und zuvorkommend seien (wie beispielsweise Raum und Zeit) werden als historisch oder diskursiv oder technisch imprägniert enttarnt – womit schlußendlich gesagt wird, daß es einen von diesen Koordinaten unabhängigen Begriff der Zeit oder des Raums nicht gibt. Doch wenn es kein formales Apriori mehr gibt, das alle Fragen nach den Bedingungen der Erkenntnis vorentscheidet – was gibt es dann? Wenn der Thron des Transzendentalen nicht durch das Historische neu besetzt wird, wer oder was richtet das Wissen dann aus? Es wird niemanden überraschen, daß die Diskussion um das historische Apriori unmittelbar ins Schlachtfeld der philosophischen Schulen und Methoden des zwanzigsten Jahrhunderts einmündet. Diese Schulen haben die Frage nach dem Apriori in einer nachmetaphysischen Geste zumeist ebenso zurückgewiesen, wie sie neue Antworten auf die Frage nach dem Apriori formuliert haben. Nach dem formalen Apriori wurden ebenso historische wie auch technische oder mediale Apriori entwickelt. Was man auch immer von diesen Konzeptionen halten mag – sie halten die Diskussion um das Apriori am Laufen. Denn glücklicherweise befindet man sich heute jenseits der Kulturkämpfe um diese beiden Denker und ihre paradoxen und provokanten Konzeptionen. Stattdessen ist man heute an einem Punkt, an dem sich die Entstehung dieses historisch neuen Denkstils rekonstruieren läßt. Heute wird sichtbar, was für ein Wissen mit diesen philosophisch-historischen Zutaten hat entwickelt werden können: Es handelt sich um ein historisiertes, positiviertes und oftmals auch verräumlichtes Wissen – um eine Positivierung der Philosophie. Die Negativität philosophischer Begriffe wurde unter anderem durch die Geste der Historisierung positiviert. Das Jenseits der Apriori wurde in das Diesseits von historischen und diskursiven, medialen und technischen Abläufen verwandelt.

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Die Positivierung der Philosophie Den Anfang dieser erfreulichen und gefahrvollen Bewegung der Positivierung der Philosophie machte gleichwohl Nietzsche: Was in der Philosophie als reines und makelloses Apriori ankam, als reines Vorher, wurde – beispielsweise natürlich in der Genealogie der Moral – einer historischen Rekonstruktion unterzogen und auf seine unreinen Anfänge und Ursprünge hinterfragt (wobei ich jetzt nicht auf die begrifflichen Differenzen zwischen diesen Begriffen eingehen möchte).13 Nietzsche hat den historischen Makel an jedem Transzendentalen enttarnt – und es damit positiviert. Und noch für Foucault entstammte jeder Begriff und jedes Konzept einem historischen Umfeld, einem rekonstruierbaren Kampf oder Konflikt, der anschließend von der makellosen Majestät der Begriffe kaschiert wurde. Diese Arbeit der Rekonstruktion – moderner gesprochen: diese Diskursanalysen – waren das, was Nietzsche dem philosophischen Denken seiner Zeit zugefügt, hinterlassen oder angetan hat; und diese Diskursanalysen – traditioneller: diese Genealogien – sind das, wodurch Foucault das Projekt Nietzsches fortgesetzt hat. Doch Foucaults bevorzugte Methoden der Genealogie und Archäologie sind nichts ohne ihren methodischen Rahmen, das historische Apriori. Diese Ergänzung der Genealogie durch das historische Apriori läuft darauf hinaus, nicht nur die Tradition der genealogischen Forschung bei Nietzsche stark zu machen. Stattdessen soll die Genealogie mit der systematischen Arbeit an der Abschaffung von metaphysischen, transzendentalen, apriorischen Begriffen verbunden werden: mit dem historischen Apriori. Das wäre, glaube ich, der Einsatz und die Aufgabe einer heutigen Metaphysikkritik. Diese wird durch den Begriff des historischen Apriori systematisiert und eingerahmt; gleichzeitig wird das genealogische Unternehmen aktualisiert und in seiner metaphysikkritischen Ausrichtung in Stellung gebracht. Am Ende sei der Hinweis erlaubt, daß diese ganz heutige Kritik der Metaphysik nicht nur in terms of Macht- oder Medienanalysen durchgeführt wird. Es ist durchaus möglich, diese beiden Eckpunkte der Metaphysikkritik miteinander zu verbinden und beispielsweise eine Kritik der Medienmacht durchzuführen. Diese Kritik der Medienmacht baut jedoch nicht nur auf genealogischen, sondern dazu noch auf 13 John Pizer, „The Use and Abuse of ,Ursprung‘: On Foucault’s Reading of Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 462 – 478.

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epistemologischen Voraussetzungen auf: Was aus Kant, Nietzsche und Foucault folgte, war eine „Epistemologie der postkantianischen und der postfoucaultianischen (weil medialen) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“14. Eine solche machttheoretische Untersuchung des Computers, die die Macht am Rechner und die Macht der Rechner erforscht, wurde beispielsweise vom selbsternannten Foucaultnachfolger Friedrich Kittler durchgeführt. Dessen „technisches Apriori“15 entfernte die historischen Klammern von Foucaults historischem Apriori und ersetzte sie durch technische Standards – womit historische Apriori „reihenweise dahin[sanken].“16 Auf diese Weise wurde die „Analyse von Machtsystemen, diese große von Foucault hinterlassene Aufgabe“17, von Kittler auf die Macht- und Entscheidungsinstanzen von Computerprogrammen ausgedehnt – was der Technikfetischist durchaus als technologische Aufklärung und Technologiekritik verstand.18 Auf der Basis von verschwindenden Quellcodes erschien das Projekt einer Analyse von Machtsystemen des digitalen Zeitalters – die Aufgabe, „Macht nicht mehr […] als eine Funktion der sogenannten Gesellschaft zu denken, sondern eher umgekehrt die Soziologie von den Chiparchitekturen her aufzubauen.“19 Wie man sieht, sind die Kämpfe und Konflikte um die Thronnachfolge des Transzendentalen oder Codierungen des Wissens, von denen Nietzsche in der Genealogie der Moral berichtete, heute keineswegs vorbei – sie werden nur auf anderen Ebenen und von anderen Agenten ausgefochten. Heute sind es möglicherweise nicht mehr Priester, die sie ausführen, sondern möglicherweise Programmierer. 14 Das vollständige Zitat lautet: „An die Stelle einer Genealogie derjenigen Werte und Wertschätzungen, auf denen die Geisteswissenschaften beruhten, mit dem Ziel, diese Werte als Machteffekte von Medien zu entlarven, mußte eine Epistemologie der postkantianischen und der postfoucaultianischen (weil medialen) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung […] treten.“ Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert, Editorial (Anm. 3), S. 8. 15 Vgl. Ebeling, „Technisches Apriori“ (Anm. 5). 16 Friedrich Kittler/Manfred Schneider, „Editorial“, in: Diskursanalysen 2. Institution Universitt, hg. von Friedrich Kittler/Manfred Schneider/SamuelWeber, Opladen 1987, S. 8. Zum technischen Standard vgl. Winthrop-Young (Anm. 10), S. 98. 17 Friedrich Kittler, Draculas Vermchtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 215. Zu den genealogischen Medien-Machtanalysen vgl. Winthrop-Young (Anm. 10), S. 143 ff. 18 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 208 ff. 19 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 215.

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Doch während die Priester wenigstens noch sagen konnten, wohin die Reise ging, ist es bei den Programmierern in der Kontingenz ihrer Programme mit jeder teleologischen Richtungsangabe endgültig vorbei.

Skandal und Hygiene Mattia Riccardi Nietzsches Weg zum Freigeist in Anbetracht von Marcel Detiennes „Erfindung der Mythologie“ Einleitung In seinem 1981 erschienenen Buch L’invention de la mythologie hat Marcel Detienne versucht, die Entstehung der Mythologie neu zu schreiben.1 Dabei hat er gezeigt, daß es sich hierbei um einen doppelten Werdevorgang handelt, denn der spezifische Diskurs, der noch unter dieser Bezeichnung läuft und von uns in diesem Sinne verstanden wird, und der „Mythos“ als ihr spezifisches Objekt sind im Laufe der Geschichte zusammengewachsen. Beides hat sich in demselben Horizont konturiert. Detienne hebt nun einige Wendepunkte dieser Entfaltung, die mit Namen wie Thukydides, Lévi-Strauss, Platon oder Fontanelle verbunden sind, hervor. In meinem Vortrag möchte ich auf ein bestimmtes Moment seiner Rekonstruktion fokussieren, um von dorther auf Nietzsches Philosophie zurückzublicken. Mich interessiert in diesem Zusammenhang weder wie Detienne Nietzsche rezipiert noch wie er ihn interpretiert. Vielmehr werde ich mich einiger seiner glänzenden Ausführungen zur „Erfindung der Mythologie“ bedienen, um gewisse Aspekte des Denkens Nietzsches ans Licht zu bringen. Im Hinblick auf Nietzsche sind insbesondere jene Passagen aus Detiennes Buch von Bedeutung, die der akademischen Institutionalisierung der Mythologie gewidmet sind. Obwohl „Mythologie“ als Diskurs um den Mythos, wie Detienne selbst zeigt, eine viel ältere Geschichte aufweist, hat sie sich erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Form einer hybriden Aufspaltung der Altertumswissenschaft als Wissensbranche etabliert. Angesichts dieses Phänomens 1

Vgl. Marcel Detienne, L’invention de la mythologie, Paris: Gallimard 1981.

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fragt sich Detienne, warum das Interesse am Mythos so intensiv, sogar obsessiv wurde, daß es zur Errichtung eines entsprechenden, wissenschaftlich kodierten Forschungsbereichs kam. Ist das nur ein Symptom gelehrter Hypertrophie, oder geht es vielmehr um eine wesentliche Verschiebung im Verständnis nicht nur der Antike, sondern sogleich der Kultur überhaupt? Detiennes Antwort geht eindeutig in die zweite Richtung, indem er auf die schockierende Aufdeckung des „Iroquois caché sous l’écorce du Grec“ hinweist.2 Deutlicher formuliert, was die Mythologieforschung innerlich treibt, „c’est qu’on aperçoit soudainement que la mythologie des Grecs est remplie d’histoires indécentes, qu’elle tient des propos incongrus, qu’elle parle un langage insensé“.3 Die sich anhäufenden Materialien, die zahlreiche Reiseberichte sowie erste Beispiele proto-ethnologischer Literatur liefern, machen zuallererst die Gleichartigkeit kultivierter Griechen und wilder Stämme ersichtlich. Wie Detienne nachdrücklich betont, wurde diese Erfindung als äußerlich „scandaleux“ empfunden,4 denn sie stellte das Paradigma der humanistisch-aufklärerischen Tradition grundsätzlich in Frage: „Il n’y a pas plus de ,miracle‘ grec“.5 Das Primat der Griechen als Erfinder der Rationalität und zugleich als ihre unüberbietbare Verkörperung geht damit ein für allemal verloren. Diese unerhörte Begegnung, die man durch Heranziehung seiner Lektüren nachweisen kann, hat auch Nietzsche um die Mitte der 1870er Jahre erlebt. Deswegen bieten Detiennes Bemerkungen einen idealen Leitfaden, um einige zentrale Momente dieser Phase des Denkens Nietzsches zu beleuchten und gleichwohl zu gewichten. Nietzsches Reaktion auf die Entdeckung des „wilden Griechen“ bildet somit den ersten Punkt meines Beitrags, der sich über die ersten beiden Teile meiner Ausführungen erstrecken wird. Zunächst werde ich kurz auf Nietzsches endgültige Distanzierung von der Philologie und von dem ihr zugrunde liegenden Humanismus eingehen. Deren Tragweite werde ich dann am Beispiel der proto-genealogischen Infragestellung, der er die ästhetische Kategorie des Klassischen unterzieht, verdeutlichen. Im dritten Teil werde ich schließlich das Terrain der Altertumswissenschaft verlassen und zum viel anspruchsvolleren sowie „riskanten“ Feld der Kulturphilosophie übergehen. Damit möchte ich einige Motive jener 2 3 4 5

Ebd., S. 19. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 22.

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hygienischen Strategie, die Detienne als stillschweigende Ideologie der neuen mytho- und ethnologischen Forschung entpuppt, auch an Nietzsches Text dokumentieren. In diesem Zusammenhang soll insbesondere Nietzsches Beziehung zu Eduard Burnett Tylor, auf dessen Werk Detienne mehrfach hinweist, berücksichtigt werden. Dadurch soll auch die allgemeine und zentrale Verschiebung, die der Kulturbegriff zu dieser Zeit erfuhr, deutlich werden.

1. Skandal und Philologie Zunächst ist auf die Frage einzugehen, in welchem Verhältnis Nietzsche zur „skandalösen“ Entdeckung des „wilden Griechen“, die Detienne sorgfältig herausarbeitet, steht. Ist er darauf überhaupt aufmerksam geworden, und wenn ja, wie läßt sich seine Reaktion beschreiben? Zuallererst ist zu bemerken, daß Detiennes These sich grundsätzlich auf eine Traditionslinie bezieht, die vom Humanismus bis zur Romantik ständig an einem „ideellen“ Griechenbild festgehalten und sich an ihm gemessen hat. Bei Hegel und Husserl – so lautet seine Analyse – habe diese Praxis der Identifikation, die sich immer wieder bemühte, den Geburtsort der europäischen Rationalität in Griechenland zu lokalisieren, ihren Höhepunkt erreicht.6 Zumindest fraglich scheint grundsätzlich, Nietzsche hierbei miteinzuschließen, denn er entzieht sich von vornherein der Einseitigkeit eines Husserls. Vielmehr kann Nietzsches Hervorhebung des Dionysischen sogar ganz im Gegensatz dazu als eine doppelte Abgrenzung verstanden werden, die – pauschal gesagt – sowohl gegen die „klassizistische“ als auch gegen die „alexandrinische“ Vorstellung des Griechentums gerichtet ist. Diesen beiden Zerrbildern gegenüber, symbolisiert jeweils durch die Kategorie des Apollinischen und des Sokratischen, repräsentiert nun Dionysos gerade jenes „fremde“ Element auf dem Boden der griechischen Kultur, das ein vom Humanismus bzw. Rationalismus durchtränkter Blick nie erfassen kann. Beleg dafür ist eine wichtige Passage aus einem Brief an Erwin Rohde aus dem Sommer 1872, die die feurige Kontroverse um die Geburt der Tragçdie veranlaßte. Hiermit sendet Nietzsche dem Freund, der mit einer Konterattacke gegen Wilamowitz-Möllendorfs heftigen Angriff auf Nietzsches Buch beauftragt worden war, einige Hinweise 6

Vgl. ebd., S. 27 f.

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philologischen Inhalts. Im Hinblick auf die damals verbreitete „naive“ Interpretation der Dichtung Homers bemerkt Nietzsche beiläufig: „Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw. hörte! In dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein ungeheures, wildes Ringen, aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus, vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Periode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen. Die Griechen sind viel älter als man denkt. Von Frühling mag man reden, wenn man vor den Frühling noch den Winter setzt: aber vom Himmel gefallen ist diese Welt der Reinheit und Schönheit nicht.“7

Homers träumerische Welt verbirgt also einen tiefen Abgrund, der im Kern der griechischen Kultur liegt. Eine derartige Auffassung weicht dezidiert von der stilisierten Betrachtungsweise der Antike als plötzlicher Offenbarung der Vernunft ab. Trotzdessen darf Nietzsches intensive Beschäftigung mit den angesprochenen Tendenzen der Geisteswissenschaft seiner Zeit (Ethnologie, Mythologie, Sprachwissenschaft), die als Nährboden für die von Detienne zum Ausdruck gebrachte Erschütterung des damaligen Griechenbilds wirkten, nicht vernachlässigt werden. Denn die Begegnung Nietzsches um die Mitte der 1870er Jahren mit Autoren wie u. a. Eduard Burnett Tylor und John Lubbock bringt relevante Konsequenzen für Nietzsches Denken mit sich.8 So geht sein Verhältnis zur Philologie endgültig in die Brüche, sein Bezug zur Antike gestaltet sich neu und sein Kulturbegriff verändert sich komplett.

7

8

Brief an Rohde, 16. Juli 1872, KGB 4, S. 23. Auf Nietzsches Ausführungen über die vermeintliche Naivität der Griechen wird an folgender Stelle beiläufig verwiesen: Marcel Detienne, Dionysos mis  mort, Paris: Gallimard 1998 (1. Aufl. 1977), S. 45. Dies bleibt die einzige Bezugnahme auf Nietzsche in Detiennes erstem Dionysos-Buch. Nietzsches Name kommt dann in seinem zweiten, der griechischen Gottheit gewidmeten Werk (Marcel Detienne, Dionysos  ciel ouvert, Paris: Hachette 1986), gar nicht mehr vor. Vgl. dazu insbesondere Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin/New York: De Gruyter 1996, S. 8 – 52 und 58 – 140. Diese für Nietzsches Griechenbild in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre entscheidenden Lektüren bleiben allerdings meistens unbeachtet. Vgl. z. B. die sonst sehr kenntnisreiche und präzise Untersuchung von Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York: De Gruyter 2005, S. 74 ff., wo die „Fremdheit der Griechen“ allein mit Rekurs auf Burckhardt thematisiert wird.

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Es ist bekannt, daß Nietzsche in den Jahren, die der Polemik um die Geburt der Tragçdie folgen, Sinn und Aufgabe der Philologie radikal infragestellte. In seinen Heften häufen sich Bemerkungen, die eine tiefgreifende Krise bezeugen. Diese erscheint zunächst als grundlegende Zurückweisung der dominanten, obwohl nicht erklärten Ideologie der Altertumswissenschaft: „Es ist wahr, der Humanismus und die Aufklärung haben das Alterthum als Bundgenossen in’s Feld geführt: und so ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum anfeinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist ein Beweis gegen den Humanismus, gegen die grundgütige Menschen-Natur“.9 Dies hat eine doppelte Bedeutung im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundierung der Philologie. Einerseits – in methodologischer Hinsicht – dehnt sich die Verwerfung einer humanistisch-aufklärerisch verfassten Haltung zur Antike gleichwohl auf jene „Schätzung der ratio“ aus,10 auf der die alltägliche Praxis des Philologen beruht. Mit Blick auf Detiennes Rekonstruktion ist dann noch zu beachten, daß für Nietzsche gerade das Terrain der Mythologie die Unhaltbarkeit dieses methodologischen Ansatzes am schärfsten verrät: „Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen Mythologie“.11 Die mythische Erzählung entzieht sich also der Rationalisierung und ermöglicht zugleich einen ersten Blick hinter die sonnigen Kulissen der altgriechischen Welt. Andererseits – wie Nietzsches Verweis auf die „Menschen-Natur“ nachspuren läßt – rückt vor allem die fatale Verwechselung des „Humanen“ mit dem „Menschliche[n]“ ins Fadenkreuz seiner Kritik.12 Die Philologie, aus dem Geist des Humanismus geboren, „ahmt etwas rein Chimärisches nach“.13 Denn, betrachtet man sie näher, weisen die 9 Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5[60], KSA 8, S. 58. 10 Ebd., 5 [87], S. 63. 11 Ebd., 5[112], S. 69 – 70. Vgl. dazu: „[L]a mythologie de l’Antiquité devient soudainement un langage incongru et insensé où le peuple ancien que passait pour avoir atteint les dernières limites de la civilisation semble tenir un discours plus possédé par la sauvagerie que celui des Peuple de la Nature“, Detienne, Mythologie (Anm. 1), S. 27. 12 Nachlass März 1875, 3[12], KSA 8, S. 17. 13 Nachlass 1875, 7[1], ebd., S. 121.

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Griechen sogar Züge der „Inhumanität“ auf,14 wie Hubert Cancik bemerkt. Die anerkannte Nähe zum Irokesen erschüttert darum das veraltete Gebäude der Altertumswissenschaft.

2. Nietzsches proto-genealogische Untersuchung der Kategorie des „Klassischen“ Die von der Philologie fortgetriebene Verfälschung der Antike führt Nietzsche auf ein zweifaches Vorurteil zurück. Das Altertum wird als klassisch angesehen, erstens „weil es die Schule des Humanen ist“, zweitens „weil es aufgeklrt ist“.15 An dieser Stelle wird also die Kategorie des Klassischen ins Zentrum der Querelle um die Philologie geschoben. Demzufolge bietet sie sich als ein fruchtbares Feld an, um die Neugestaltung der Antikeauffassung Nietzsches, besonders des Griechentums, zu konturieren. Vor allem in der Vorlesung zur griechischen Literatur, die er im Wintersemester 1875 – 1876 hielt, widmet Nietzsche diesem Begriff einige ausschlaggebende Bemerkungen. In dieser Vorlesungsreihe, die sich an einen zweisemestrigen Überblick über die griechische Literatur anschloß, geht Nietzsche endlich auf das „Allgemein-Wichtige“, d. h. auf das Problem ein, „wie die Griechen zu dieser so klassischen Litt. kat’[e + spiritus lenis]noj[g + accentus acutus]m kamen“.16 In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte zu beachten, die die These unterstützen, daß Nietzsches Griechenbild in dieser Phase von dem Skandal, den Detiennes Buch genealogisch rekonstruiert hat, stark geprägt wurde. Erster Punkt (methodologisch): Nietzsche bringt eine Methode zur Anwendung, die in der Praxis der mytho- und ethnologischen Forschung von großer Bedeutung ist und die weiterhin eine fundamentale Leistung noch für die Gestaltung seiner späteren „historische[n] Philosophie“ bilden wird.17 Sie besteht darin, zwischen Ursprung und Resultat eines kulturellen Prozesses scharf zu unterscheiden. Dies ist so, weil die Entstehung einer bestimmten Handlungskonstellation, sei sie in 14 Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 97. 15 Nachlass 1875, 7[6], KSA 8, S. 125. 16 KGW 2.5, S. 273. 17 Vgl. MA 1, KSA 2, S. 23 – 24.

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weiterem Sinne sittlicher oder auch technischer Natur, nicht begriffen werden kann, wenn man auf sie vom Standpunkt ihrer finalen Realisierung aus zurückblickt. Diese Ansicht entspricht also dem allgemeinen Prinzip einer historisch fundierten Betrachtungsweise, der nach dem „Zustand, der die Regel gebiert, ein anderer ist als der, den die Regel gebiert“.18 Die Fixierung einer spezifischen Praktik dokumentiert deshalb den Übergang zu einem Stadium, bei dem ihr ursprünglicher Sinn bereits verloren gegangen ist. Allein durch einen derartigen, ständigen Umschreibungsprozeß leben die soziokulturellen Einrichtungen und Rituale fort. Nietzsches spätere Betonung der konstitutiven Hybridisierung, die der Menschwerdung zugrunde liegt, findet also in diesem Zusammenhang einen ersten Ausdruck. Zweiter Punkt (inhaltlich): Aus dieser methodologischen Perspektive formuliert Nietzsche zwei Thesen hinsichtlich der Entstehung der „klassischen“ Literatur. Auf der einen Seite koppelt er die Frage nach der Geburt der „klassischen“ Literatur mit derjenigen nach dem Verhältnis von Schrift und Oralität. Konstituiert sich der Kanon der „klassischen“ Literatur(en) im Zirkel zwischen Buch und Leser, sind doch die Texte, die damit „kanonisiert“ werden, „nicht das Erzeugniß einer litterarisch gebildeten Zeit“, d. h. „einer auf Büchern beruhenden“ Bildung.19 Diese erste These versteht sich deshalb als eine Spezifikation des oben dargestellten allgemeinen Prinzips, indem flüssige Entstehung (oral variierte Literatur) und erstarrtes Endergebnis (schriftlich kanonisierte Literatur) völlig different sind.

18 KGW 2.5, S. 276. Im Bezug auf die Frage, wie der religiöse Kultus bei den Griechen entstanden sei, nimmt die methodologisch fundamentale Trennung zwischen flüssiger Entstehungsphase und fest kodiertem Endergebnis folgende Form: „Die Zeiten, welche ihn [den Kultus] feiern, sind nicht die, welche ihn erfinden“, Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5[155], S. 83. Vgl. folgende Passage aus Lubbock: „In der That erscheinen uns manche Dinge aus der Luft gegriffen, unbegründet und befremdend, weil unsere Verhältnisse durchaus anders sind, als die, welche sie in’s Leben riefen. Vieles scheint einem Wilden naturgemäß, was uns absurd und unerklärlich dünkt“, John Lubbock, Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erlutert durch das innere und ußere Leben der Wilden, aus dem Englischen übersetzt von Athenäa Passow, Vorwort von Rudolf Virchow, Jena: Costenoble 1875, S. 415. Zu Nietzsches Beschäftigung mit Lubbock vgl. auch David Thatcher, „Nietzsche’s Debt to Lubbock“, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983), S. 293 – 309. 19 KGW 2.5, S. 276.

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Auf der anderen Seite identifiziert Nietzsche den Ursprungsort der altgriechischen Literatur in den kultischen Praktiken: „Die ältesten Anlässe zur Entstehung von Poesie sind die gleichen Anlässe, bei denen man die Anwendung von Musik u. deren Rhythmus für nöthig befand. Wozu wandte man Musik u. Rhythmus an? Zur [magischen] Einwirkung auf die Gçtter im Cultus oder außer dem Cultus“.20 In diesem Zusammenhang kann ich nicht auf die vielfältigen Aspekte und Implikationen eingehen, die mit dem Problem des Kultus bei den Griechen verbunden sind, das im übrigen später Thema von zwei Vorlesungen Nietzsches wurde (Wintersemester 1875 – 1876 und Wintersemester 1877 – 1878). Nur zwei Momente möchte ich hieraus hervorheben, die für meine Fragestellung von zentraler Bedeutung sind. Erstens: Nietzsche unterstreicht wiederholt, daß die religiösen Kulte der Griechen viele Elemente aufnahmen, die aus den verschiedensten vorgriechischen Völkern und Kulturen stammen. In diesem Sinne bezeugen sie, daß die Rede von einem „ursprünglichen“ Geist der Griechen unhaltbar ist. Dieser hat sich hingegen erstmals durch mehrfache Ablagerungen formiert. Zweitens: Genau in den Praktiken des Kultus kommt jene „fremde“ Seite der Griechen zur Sprache, der gegenüber die humanistisch-aufklärerisch aufgerüstete Philologie immer blind blieb. Wendet man nun diese zwei Ansichten auf den Spezialfall der Literatur an, bedeutet dies, daß die altgriechische, seit der hellenistischen Zeit als „klassisch“ kodierte Literatur auf dem Boden eines nicht-autochthonen und „wilden“ Komplexes ritualer Praktiken entstand.21 Diese proto-genealogische Ermittlung der Kategorie des Klassischen, die Nietzsches frühe Infragestellung der Naivitätsthese über Homers Dichtung gewiß wieder aufnimmt, dennoch mit Rekurs auf 20 Ebd., S. 284. Vgl. auch: „[I]hre ,klassische Litteratur‘ mit Chorlied, Tragödie, Komödie ist ja auf dem Boden des Cultus oder als Anhang zu demselben zum guten Theil erwachsen“, ebd., S. 364. 21 Vgl.: „Die Entstehung der griech. Poesie geschah nicht autochthon, sondern auf fremden Einfluß hin“, ebd., S. 310. Auch die im Kultus enthaltenen Elemente entpuppen sich als von verschiedenster Provenienz: „Der griechische Cultus führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder. Sie conserviren durch diese schöne Vollendung“, Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5 [155], KSA 8, S. 83. Vgl. auch noch VM 219, KSA 2, S. 472 – 473. Dazu vgl. Mafred Riedel, „The Origin of Europe: Nietzsche and the Greeks“, in: New Nietzsche Studies 4.1/2 (2000), S. 141 – 155, hier 142 f.

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neue relevante Materialien erheblich erweitert und verschärft ist, wurzelt also in der Entdeckung, daß im Herzen der griechischen Kultur dasselbe „unreine Denken“ der Naturvölker pulsiert.22

3. „Freilich ist die Inquisition in der Nähe“. Unbequeme Wildheit und aufklärerische Hygiene Die erschreckende Aufdeckung einer Wildheit, die uns so naheliegt und sogar innewohnt, erschöpfte ihre Kraft nicht auf dem Feld der Altertumswissenschaft, sondern wirkte in einem viel breiteren Horizont. Diese tiefergehende Reaktion legt Detienne am Fall Eduard Burnett Tylors paradigmatisch dar: „Reconnaître le sauvage en nous, mais afin d’extirper une chose étrangère, de retrancher une excroissance. Car il y va du mieux-être de l’humanité et du corps social“.23 Insbesondere macht er auf einige Passagen aus dem Schlußkapitel des Hauptwerks Tylors aufmerksam, wo die Kulturwissenschaft auf ethnologischer Basis ausdrücklich als eine „Wissenschaft der Reformation“ dargestellt wird, die „die Ueberreste einer alten, rohen Cultur, die in schädliche Superstitionen übergegangen sind, blosszustellen und ob reif zur Zerstörung zu kennzeichnen“ hat.24 Zusammen mit Tylors Werk bildet dann noch John Lubbocks Origin of Civilisation eine weitere, fundamentale Quelle für Nietzsches Kulturbegriff zur Entstehungszeit von Menschliches, Allzumenschliches. Auch in diesem Buch ist jene Tendenz, die Detienne bei Tylor klargelegt hat, mühelos zu finden. Denn auf der „feste[n] Zuversicht, daß die Geschichte des Menschengeschlechtes im Großen und Ganzen einen Fortschritt bekundet“, begründet Lubbock die grundlegende Hoffnung, „daß sich die Segnungen der Civilisation nicht nur auch auf andere Länder und andere Völkerschaften erstrecken werden, sondern daß sie auch in unsrem eigenen Vaterlande nach und nach zur allgemeinen, gleichmäßigen Geltung kommen“.25 Dieser Ansatz spiegelt sich nun in einer Begrifflichkeit wider, die eine zentrale Bedeutung für Nietzsches Philosophie in der Zeit von 22 KGW 2.5, S. 364. 23 Detienne, Mythologie (Anm. 1), S. 46. 24 Edward Burnett Tylor, Die Anfnge der Cultur. Untersuchungen ber die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, aus dem Englischen übersetzt von Johann Wilhelm Spengel und Friedrich Poske, Leipzig: o. V. 1873, S. 456. 25 Lubbock, Entstehung der Civilisation (Anm. 18), S. 398 – 399.

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Menschliches, Allzumenschliches hat.26 An dieser Stelle möchte ich insbesondere die „positivistische“ Neigung hervorheben, die das Programm dieser Autoren belebt und auch in Nietzsches Texte dieser Zeit – so scheint mir – übergegangen ist. Dies werde ich kurz am Beispiel Tylors schildern, wobei ich mich erneut Detiennes Analyse anschließe. Mit Nachdruck unterstreicht Tylor die in den Resultaten seiner Untersuchung vorkommende implizite „praktische Seite“.27 Darin ist eine stillschweigende und dennoch markante „procédure d’exclusion“ anzuerkennen, wie Detienne betont.28 Diese erfolgt aus einem doppelten Beweggrund: Tylor hält zwar als Ergebnis seiner vergleichenden Ethnographie fest, daß, um es in einer nach Nietzsche klingenden Formulierung auszudrücken, die „Vernunft“ sich allmählich aus dem „unreinen Denken“ entwickelt hat, als bunter Zusammenhang von „Fortschritt, Verfall, Ueberleben, Wiederaufleben, Umgestaltung“.29 Dennoch betrachtet er diesen geschichtlichen Vorgang immer noch vom Blickwinkel jener Rationalität aus, deren Unreinheit er gerade ans Licht gebracht hat: „Die gebildete Welt Europas und Amerikas stellt praktisch einen Masstab auf, wenn sie die eigenen Nationen an das eine Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende derselben stellt“.30 Durch Tylor kommt also die gebildete Welt Europas und Amerikas zu Wort, von der Absicht getrieben, an einer selbstgebastelten Skala „den Fortschritt oder Rückschritt in der Civilisation“ zu berechnen.31 Wie verhält sich nun Nietzsche dazu? Schwankend – so der erste Eindruck. Denn einige Stellen, die die Gestaltung einer künftigen Kultur von einer strengen Selektion des Herkömmlichen abhängig machen, sprechen auf der einen Seite dafür, daß Tylors kultur-hygienische Strategie sich auch in Nietzsches Werk fortgepflanzt habe. Als Beispiel dafür gilt der Aphorismus 23 aus Menschliches, Allzumenschliches, wo Nietzsche, sich auf die ethnologische Forschung rückbeziehend, seine Epoche als „Zeitalter der Vergleichung“ definiert, das es sich zur eigenen Aufgabe macht, die „Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit“ einerseits und den „Untergang der niedrigeren Sittlich26 Für die Termini technici „Überbleibsel/Überlebsel“ und „Stufenleiter der Kultur“ vgl. Orsucci, Orient – Okzident (Anm. 8), S. 33 ff. und 45 ff. 27 Tylor, Anfnge der Cultur (Anm. 24), S. 445. 28 Detienne, Mythologie (Anm. 1), S. 46. 29 Tylor, Anfnge der Cultur (Anm. 24), S. 17. 30 Ebd., S. 26. 31 Ebd.

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keiten“ andererseits zu fördern.32 Daß hier Nietzsche nicht bloß ein allgemeines Merkmal seiner Zeit ermittelt und distanziert, wenn nicht gar sarkastisch beschreibt, zeigt eine Aufzeichnung, die als Vorstufe dieses Aphorismus gilt. Dort ist die Pointierung unverkennbar: „Unsre Kraft soll sich zeigen, wie wir whlen; wir sollen Richter sein“.33 Außerdem kommt diese Begrifflichkeit an anderen Stellen wiederholt vor, die außerdem die im Namen einer positivistisch beladenen Fortschrittsideologie zum Einsatz gebrachte Exklusionsstrategie Tylors untermauert. Auf der anderen Seite scheint Nietzsche anderswo die Aufdeckung unterschiedlicher Kulturschichten dennoch keinem kulturhygienischen Ziel zu unterziehen, wie in dem Aphorismus 223 aus „Vermischte Meinungen und Sprüche“. Hier, im Nachklang von Emersons Vision einer All-Geschichte, in der Ich und Welt zusammenschmelzen, liefert nunmehr das „Reise-Abenteuer“ durch „ältere Culturstufen“ keine kulturwissenschaftlichen Materialien, unter denen die Züge des künftigen Menschen auszusortieren wären, sondern eher einen reichen Schatz an Erlebnissen und Anschauungen, mittels dessen die „SelbstErkenntnis“ zur „All-Erkenntnis“ wird.34 Die arrogante Haltung des Kulturarztes fällt hier deshalb komplett weg. Oszilliert nun Nietzsche mit variierten Nuancierungen zwischen diesen beiden Polen, läßt eine Aufzeichnung aus der Zeit zwischen Ende 1876 und Sommer 1877 jedoch ihre mögliche Zusammenbringung einsehen. Dort behauptet Nietzsche zwar, daß die „Reife“ nur dadurch gewonnen wird, daß der Mensch „verschiedene Culturen durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen Höhepunkt erreicht“.35 Gleichwohl wird die Selbsterziehung allerdings in ein präzises kulturgeschichtliches Entwicklungsmuster eingebettet, denn „diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als religiöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher 32 MA 23, KSA 2, S. 44. 33 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23[85], KSA 8, S. 434. Vgl. auch: „Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen“, Nachlass Juli 1879, 41[65], ebd., S. 593. 34 VM 223, KSA 2, S. 477. Vgl. dazu: Giuliano Campioni, „,Wohin man reisen muß‘. Über Nietzsches Aphorismus 223 aus ,Vermischte Meinungen und Sprüche‘“, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 209 – 226. 35 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23[145], KSA 8, S. 455.

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Mensch durch“.36 Der Prozeß der Selbstgestaltung, die also eine zyklische Wanderung in fremden Kulturwelten erfordert, wird deshalb nach der aufsteigenden Skala Religion – Kunst – Wissenschaft gedacht.37 Diese kulturgeschichtliche Aneinanderkettung gewährleistet für Nietzsche schließlich sogar die „Mçglichkeit des Fortschritts“,38 wobei der Mensch endlich auf die Ebene bewußter Kulturplanung übergeht. Die Gefahr einer solchen Vorstellung entgeht Nietzsche zwar nicht. In ihr sieht er aber dennoch nicht genügend Grund, eine totalisierende Verfolgung des „Wohl[s] der Menschheit“ infragezustellen.39 Vielmehr billigt er sie widerstandslos: „[D]a [ist] die Inquisition in der Nähe; denn das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer verfolgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig, die Mittel freilich werden immer humaner werden“.40 Deswegen bin ich der Meinung, daß der Aufruf an hygienische Maßnahmen, den Detienne am Beispiel Tylors zutage gebracht hat, zwischen den Zeilen von Menschliches, Allzumenschliches wieder auftaucht. Denn haben Mythologie und Ethnologie dazu beigetragen, die inszenierte Reinheit der Vernunft zu demaskieren; allerdings orientieren sie sich unberührt an dieser Instanz. Das europäische Gepräge wirkt also immer noch mit voller Kraft. Dasselbe läßt sich aber auch von dem unter der Maske des „freien Geistes“ auftretenden Nietzsche von Menschliches, Allzumenschliches behaupten. Von der späteren Anforderung, man sollte „orientalischer denken lernen über Philosophie und Erkenntniß“,41 ist er zu diesem Zeitpunkt also noch weit entfernt, wie folgende Passage, mit der ich meinen Beitrag schließen möchte, zeigt: „Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueb36 Ebd., S. 456. 37 Diese wirken also nicht mehr wie Burckhardts „Potenzen“, die komplementäre und überhistorische Elemente einer Kultur darstellen. Bei Nietzsche machen sie hingegen eine fest gestaffelte und hierarchisch gedachte Reihe aus. Jede wird deshalb zur exklusiven Marke einer bestimmten Stufe des Geistes. 38 MA 24, KSA 2, S. 45. 39 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23 [82], KSA 8, S. 433. 40 Ebd. 41 Nachlass Sommer-Herbst 1884, 26 [317], KSA 11, S. 234. Diese Anforderung strömt aus einer klaren Infragestellung des Primats Europas: „Die Europäer bilden sich im Grunde ein, jetzt den höheren Mensch auf der Erde darzustellen“, ebd., 26 [319].

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erzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen“.42

42 MA 265, KSA 2, S. 220.

Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum Philippe Lepers 1995 interviewte ich Jean Baudrillard in Paris für den flämischen Rundfunk. Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn, ob er mit den traditionellen Ritualen der Katholischen Kirche sympathisieren könne. Diese Frage war nicht zufällig gewählt: Denn es gibt noch immer einige so genannte neo-konservative flämische Philosophen, die ihr Interesse für die alten christlichen Bräuche mit einer klaren Anerkennung des Denkens Baudrillards kombinieren. Weil letzterer seine Kritik an der Modernität immer mit einer offensichtlichen Wertung für traditionelle Kulturen verknüpft hat, ist auch dies nicht ganz verwunderlich. Baudrillard aber verneinte dies sofort. Als ich ihn bat seine Haltung näher zu erläutern, antwortete er: „Es ist wie bei Nietzsche. Keine Transzendenz.“ Man kann sich fragen, ob es wirklich unmöglich ist bei Nietzsche von Transzendenz zu reden (die Figur des ,Übermenschen‘ z. B. gibt Anlaß, das Umgekehrte zu vermuten), aber von ,Supranaturalismus‘ kann freilich keine Rede sein. Baudrillards Antwort zeigt auch, daß sich sein Denken nach dem Tod Gottes abspielt. Wenn Gott dennoch in seinen Texten in Erscheinung tritt – z. B. in dem Satz: ,Gott existiert, aber ich glaube nicht an ihn‘1, so darf man das folglich nicht wörtlich verstehen oder als ein Plädoyer für eine neue Art von Religion mißbrauchen, geschweige denn als eine Art Umwertung des Christentums. Die Reaktion Baudrillards macht auch klar, daß er sich selbst als jemanden betrachtet, der an der Seite Nietzsches steht. Wie aber sollen wir nun das Verhältnis Nietzsche-Baudrillard genau verstehen? Sympathisiert er nur mit den Gedanken Nietzsches oder läßt sich auch eine nachhaltige Beeinflussung erkennen? Und, sollte dies der Fall sein, in welchem Maße und in welchem Sinne läßt sie sich feststellen? Und schlußendlich: Gibt Baudrillards Nietzscherezeption auch Anhaltspunkte für eine Neuinterpretation von Nietzsches Philosophie? Im Folgenden möchte ich versuchen diese Fragen zu beantworten. 1

Vgl. Jean Baudrillard, L’illusion de la fin, Paris: Galilée 1992, S. 132.

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Philippe Lepers

Dank der weitläufigen Gespräche von François L’Yvonnet mit Baudrillard verfügen wir über interessante Information über die Rolle der Nietzschelektüre bei Baudrillard.2 Schon in den letzten Jahren der Oberschule hat er ihn rezipiert, einige Jahre später, während seiner Studien in Germanistik, auch auf Deutsch, anschließend aber nicht mehr. Auf diese Weise ist Nietzsche eine Art unbewußter Hintergrund seines eigenen Denkens geworden. Im Unterschied zu vielen anderen französischen Denkern seiner Zeit hat er sich auch niemals mit einer expliziten Nietzsche-Interpretation beschäftigt oder sich in die Diskussion über den Wert von Nietzsches Philosophie eingemischt. Freilich darf nicht vergessen werden, daß Baudrillard nie ein Philosophiestudium absolviert und er sich deshalb stets zurückhaltend geäußert hat. Trotzdem merkte er in den Gesprächen mit L’Yvonnet an: „Kant, Hegel und sogar Heidegger habe ich natürlich gelesen, aber nicht auf Deutsch und nur fragmentarisch. Vielleicht studiert man niemals mehr als einen Philosophen ernsthaft, wie man nur einen Paten hat, wie man nur eine Idee hat in seinem Leben. Nietzsche ist also der Autor, in dessen Schatten ich mich entwickelt habe, aber ohne es zu wollen und gar ohne es wirklich zu wissen.“3

Wir dürfen deshalb zuallererst nicht von einer sehr direkten Beeinflussung sprechen. Und zweitens: Wenn Baudrillard Nietzsche zitiert, geschieht dies immer sporadisch und beiläufig.4 Trotzdem behauptet er in den Gesprächen mit François L’Yvonnet, daß er beabsichtigt Nietzsche wieder auf Deutsch zu lesen. Und vielleicht hatte er diese Lektüre damals schon angefangen. Denn in den neunziger Jahren findet man nämlich offensichtlich mehr und weitläufigere Verweise auf Nietzsche, was ich anhand der folgenden drei Beispiele verdeutlichen möchte:

2 3 4

Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre. Entretiens avec FranÅois L’Yvonnet, Paris: Albin Michel 2001, S. 9 – 13. Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre (Anm. 2), S. 11. Einige Beispiele von Textstellen, in denen Baudrillard sich explizit auf Nietzsche bezieht und die weiterhin nicht mehr erörtert werden, sind nachzulesen in: Jean Baudrillard, La socit de consommation, Paris: Denoël 1970, S. 51; ders., L’change symbolique ou la mort, Paris: Gallimard 1976, S. 95 und 328; ders.,  l’ombre des majorits silencieuses (ou la fin du social), Paris: Denoël/ Gonthier 1978, S. 22; ders., La gauche divine. Chronique des annes 1977 – 1984, Paris: Grasset 1985, S. 52 ; ders., L’autre par lui-mÞme. Habilitation, Paris: Galilée 1987, S. 231 ; ders., L’illusion de la fin, Paris: Galilée 1992, S. 45.

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Das erste Mal lassen sich diese Verweise in L’Illusion de la fin (1992) aufzeigen. Baudrillard bezieht sich hier auf Nietzsches Erwartung des Übermenschen sowie einer ,Umwertung der Werte‘ und sagt, daß genau das Umgekehrte stattgefunden hat: kein ,au-delà du bien et du mal‘, aber ein ,en deça du bien et du mal‘, in einer Welt, die sich nicht mehr für Ideale oder Werte interessiert, sondern in der völligen Gleichgültigkeit des ,Untermenschlichen‘ versinkt. Laut Baudrillard gibt es also heute eine ,Verklärung des Untermenschen‘.5 In Le paroxyste indiffrent, einer Gesprächssammlung Philippe Petits mit Baudrillard, findet man dieselben Gedanken und Petit weist auch auf Nietzsches ,letzten Menschen‘ hin, Baudrillard jedoch geht darauf nicht näher ein.6 Wichtiger ist in diesem Kontext vielleicht die Bedeutung von einem Baudrillards bekanntester Sätze: „Comment sauter par-dessus son ombre, quand on n’en a plus?“7

Allem Anschein nach zu urteilen ist dies der Hinweis auf Nietzsches Also sprach Zarathustra, insbesondere auf das Kapitel ,Von der Erhabenen‘ aus dem zweitem Teil. Dort steht: „Erst, wenn er sich von sich selber abwendet, wird er über seinen eignen Schatten springen – und, wahrlich! hinein in seine Sonne.“8

Was auch immer die genaue Bedeutung dieses Satzes sein dürfte, so er hat auf jeden Fall etwas mit einer Art Selbstüberwindung zu tun, die nach Baudrillard in den aktuellen kulturellen Kontexten so gut wie unmöglich geworden ist. Das ‘Neo-Individuum’ ist so stark von Gleichgültigkeit gekennzeichnet, daß es eigentlich kein ‘Selbst’ mehr hat, geschweige denn die Ambition, dieses ‘Selbst’ zu überwinden. Auch hier ist zu erkennen, daß Baudrillard glaubt, Nietzsches Zukunftsvision sei nur insofern erfüllt, als daß sich die traditionelle Moral erledigt hat. An ihre Stelle ist jedoch nichts getreten, das etwas mit 5 6 7

8

Jean Baudrillard, L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 135 – 136. Jean Baudrillard, Le paroxyste indiffrent. Entretiens avec Philippe Petit, Paris: Grasset 1997, S. 10 – 11, 31 und 95; auch: ders., L’change impossible, Paris: Galilée 1999, S. 50 und 72. „Wie kann man über seinen Schatten springen, wenn man keinen mehr hat?“ Der Titel eines Kapitels von L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 143 f. und das Motto von Fragments ( Jean Baudrillard, Fragments (Cool memories III 1991 – 1995), Paris: Galilée 1995, S. 9). Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, II Erhabenen, KSA, Band 4, S. 151.

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Vornehmheit oder Tugenden, wie es sich Nietzsche noch erträumt hatte, gemeinsam hat.9 Gleiches unternimmt Baudrillard auch in Bezug auf Nietzsches Gedanken zur objektiven Wahrheit und Illusionen. Er schreibt darüber ausführlich in Le crime parfait und führt dort sogar ein Nietzschezitat aus dem späten Nachlass (freilich ohne Referenz) auf: „Aber die Wahrheit gilt nicht als [oberstes Werthmaß, noch weniger als] oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: – letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion.“10

Baudrillard appelliert also an Nietzsche, daß der Mensch in seinem Kampf gegen die prätentiösen Gedanken die Möglichkeit hätte die Welt auf eine nicht durch die menschliche Perspektive verzerrte Weise zu sehen und zu erleben. Übrigens erklärt dies auch, warum Baudrillard durch die Phänomene von Simulation und Simulacra so fasziniert war. Es sind Dinge, die sich wie Nachahmungen der Wirklichkeit ergeben und auf diese Weise zu Unrecht den Glauben an eine absolute Realität aufrechterhalten.11 Übrigens verwundert es nicht, daß er in Bezug auf dieses Thema auch auf ,Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde‘ aus Nietzsches Gçtzendmmerung hinweist.12 Aus demselben Grund zitiert er (auf französisch und wiederum ohne Referenz) ebenfalls den Aphorismus 243 aus Nietzsches Morgenrçthe: „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf Nichts, als auf den Spiegel. – Dies ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntnis.“13

Nietzsche hat schon seit Die Geburt der Tragçdie gegen das, was er dort ,den Sokratismus‘ oder ,den Optimismus des theoretischen Menschen‘ 9 Jean Baudrillard, L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 143 f. 10 Jean Baudrillard, Le crime parfait, Paris: Galilée 1995, S. 25 (vgl. NL 17[13] KSA 13, S. 522 – In eckigen Klammern sind die Teile des Zitats aufgeführt, die Baudrillard wegließ.). 11 U. a. Jean Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris: Galilée 1981. 12 Jean Baudrillard, Le Pacte de lucidit ou l’intelligence du Mal, Paris: Galilée 2004, S. 19. Vgl.: Gçtzen-dämmerung, Fabel, KSA, Band 6, S. 80 – 81. 13 Jean Baudrillard, Le Pacte de lucidit (Anm. 12), S. 34; vgl. M 243, KSA, Band 3, S. 202 – 203.

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nennt, gekämpft. In Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne hat er die Wahrheit entlarvt wie „ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen.“14

Baudrillard also führt diesen Kampf weiter, heimst dabei aber ebenso wenig unvermittelten Erfolg ein. Auch er wird nämlich in dem Aufsehen erregenden Buch Les imposteurs intellectuels von Alan Sokal und Jean Bricmont anvisiert und des ,Pseudo-Tiefsinns‘ beschuldigt.15 In dem bereits erwähnten Interview für den flämischen Rundfunk reagierte Baudrillard sehr lakonisch: „Natürlich bin ich ein Betrüger!“, womit er nur bestätigen wollte, daß er nicht an die Möglichkeit einer objektiver Wahrheit glaubt. Vielmehr seien dagegen diejenigen, die das Umgekehrte behaupten, die eigentlichen, die gefährlichen Betrüger, weil sie wider besseren Wissens darauf beharren etwas Unmögliches zu realisieren, etwas, das Nietzsche in seinem späteren Werk in Beziehung zu dem ,Ding an sich‘ als eine ,contraditio in adjecto‘ bezeichnet hat.16 Zum Abschluß der Untersuchung einiger expliziter Hinweise auf Nietzschebezüge bei Baudrillard möchte ich noch ein drittes Beispiel aufführen, nämlich seine Beachtung der Lehre Nietzsches von der ewigen Wiederkunft. Er interpretiert diese Idee nicht wörtlich (das sollte nach ihm etwas Absurdes sein), aber er verbindet sie mit dem Begriff des ,Schicksals‘ und agiert auf diese Weise gegen eine Kultur, die die Illusion hegt, daß Identitäten einfach auswechselbar seien. Zwar fänden in unseren Umgang mit der Welt immer wieder Metamorphosen statt, doch würden diese einem Menschen auf die verschiedensten Weisen passieren und sein Schicksal bilden, ohne das es niemals möglich wäre, genau zu definieren, wer diese Person sei. Baudrillard zitiert darauf folgend wiederum aus einem Fragment aus dem späten Nachlass Nietzsches, worin er eine spezifische Art des Menschen als ein Chamäleon charakterisiert und über sie sagt: 14 Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne 1, KSA, Band 1, S. 880. 15 Alan Sokal et Jean Bricmont, Impostures intellectuelles, Paris: Odile Jacob 1997. Das achte Kapitel ist Baudrillard gewidmet. Ihre Aussage: „Auch was Vorfälle in einem Menschenleben betrifft, bezweifeln wir stark, ob eine Tat heute ein Ereignis in die Vergangenheit beeinflussen kann!“ verdeutlicht, daß die Autoren selbst jedenfalls nicht sehr bemüht sind, tiefsinnig zu sein. 16 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse 16, KSA, Band 5, S. 29 (vgl. auch: NL 26[413] KSA, Band 11, S. 262 und 34[28] , KSA, Band 11, S. 429).

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„Sie wechseln, sie werden nicht…“17

Aus der Art und Weise seiner Nietzschezitierweise kann man übrigens auch ableiten, wie frei Baudrillard mit dessen Texten verfährt. So erörtert Nietzsche beispielsweise in seinem Fragment drei Typen, von denen Baudrillard aber in seinem „Zitat“ einen Teil des Originaltextes wegläßt, so daß sich der Vergleich auf den falschen Typus bezieht. Des weiteren benutzt er den Text, um einen Unterschied zwischen wechseln und werden aufzuzeigen, was jedoch nicht das einzige ist, das Nietzsche interessiert: Denn Nietzsche wollte einen Typus beschreiben, der durch Wechsel, die nicht in eine aufsteigende Bewegung aufgenommen werden, gekennzeichnet ist, weil seine Leidenschaften nicht durch eine produktive Art Antagonismus bezeichnet sind, sondern friedlich nebeneinander existieren. Bis hierhin sind einige Beispiele von ziemlich rezenten Beziehungen Baudrillards auf Nietzsche untersucht worden. Im Anschluß soll nun die schwerere, aber auch interessantere Frage beantwortet werden, in welchem Maße Nietzsche für das Denken Baudrillards im Ganzen wichtig gewesen ist. Es ist klar, daß Baudrillard mit seinem Werk eine eigensinnige Stimme erklingen lassen hat. Dabei fällt insbesondere auf, daß er sich nachdrücklich sowohl von Marxismus und Psychoanalyse als auch vom Strukturalismus distanziert hat – allesamt Denkweisen, die in Frankreich nach dem Zweitem Weltkrieg in Mode waren. Auch Michel Foucault hat er auf eine sehr provokative Weise kritisiert.18 Dabei darf man nicht vergessen, daß Baudrillard ein Bauernsohn war, der, aufgewachsen in den französischen Ardennen, stets mit Argwohn gegenüber den Pariser Trends erfüllt war. Es läßt sich also leicht behaupten, Baudrillard sei wie Nietzsche immer ein ,unzeitgemäßer‘ Denker gewesen. Er war aber jedoch ,zeitgemäß‘, insofern er immer stark durch die Aktualität inspiriert war. Wollte man bösartig sein, so könnte man ihn in diesem Sinne sogar einen ,reaktiven‘ Denker nennen. Dies sind nur allgemeine Betrachtungen. Was nun den Marxismus betrifft, so darf man nicht aus den Augen verlieren, daß Nietzsche in Nanterre durch den Marxisten Henri Lefebvre eingebracht worden war. Früher hatte er übrigens auch Werke von Bertolt Brecht, Peter Weiss, 17 NL 15[157] KSA, Band 13, S. 342. Auf Französisch zitiert in: Jean Baudrillard, L’change impossible (Anm. 6), S. 100. 18 Vgl. Jean Baudrillard, Oublier Foucault, Paris: Galilée 1977.

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Wilhelm Mühlman und Marx und Engels übersetzt. Mit seinen ersten Büchern Le systme des objets und La socit de consommation hat er vermutlich auch den Eindruck erweckt, daß er genauso links und gesellschaftskritisch wie seine Umwelt wäre. Baudrillard aber war niemals vom Klima und den Zielen der 68er-Bewegung erfaßt worden und er glaubte noch weniger an irgendwelchen Blaudruck einer neuen Gesellschaftsordnung. Pour une critique de l’conomie politique du signe und Le miroir de la production zeigen auf unmißverständliche Weise, daß er den Marxismus radikal ablehnt.19 Dabei spielen überwiegend zwei Gründe eine Rolle: Zum einen weist Baudrillard Marx Idee vom Gebrauchswert als dem natürlichen Wert der Objekte zurück, zum anderen reagiert er auf scharfe Weise gegen die Stellung des Produktionsbegriffs im marxistischen Denken, weil er nicht glaubt, daß der Mensch fähig sei auf autonome Weise die Bedeutung und die Einrichtung der Welt zu bestimmen. Inwiefern zeugt Baudrillards Kritik nun von nietzscheanischer Beeinflussung? Folgende Sachen könnten eine Rolle gespielt haben: – Nietzsches Allergie für jede Art von Sozialismus – Nietzsches bekannte Kritik am Utilitarismus – Nietzsches Ablehnung von objektiven, vom Menschen unabhängigen und damit ,natürlichen‘ Bedeutungen – Nietzsches Kritik am autonomen, rationellen Subjekt: Der Mensch ist das Resultat eines immerwährendes Kampfes von Kräften und alles, was er macht, ist ,symptomatisch‘ ein Zeichen von Krankheit oder Gesundheit. – Nietzsches kritische Haltung zur Idee des kontinuierlichen Fortschritts in der europäischen Kultur: In seinen Augen ist die Modernität vielmehr durch Zeichen von Niedergang und décadence geprägt. Sein bereits erwähntes Buch Pour une critique de l’conomie politique du signe erweckte den Eindruck, Baudrillard sollte im strukturalistischen Lager anstelle des marxistischen situiert werden. Man könnte Le systme des objets übrigens schon als einen proto-strukturalistischen Ansatz betrachten. Schließlich behauptet er in diesem Buch, daß die Bedeutung 19 In zwei kleineren Schriften hat Baudrillard außerdem die französiche Kommunistische Partei heftig kritisiert. Vgl. Jean Baudrillard, Le PC ou les paradis artificiels du politique, Paris: Cahiers d’Utopie 1978, und ders., La gauche divine (Anm. 4).

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eines Objektes in der modernen Konsumgesellschaft auf die Weise bestimmt wird wie es als Element eines Ganzen funktioniert. In Pour une critique de l’conomie politique du signe hat er diese Idee theoretischer ausgearbeitet. Laut Baudrillard gilt in der modernen Gesellschaft hauptsächlich der ,Zeichenwert‘ der Objekte. So wie Wörter bei de Saussure ihre Bedeutung nicht durch ihren Bezug auf die Realität, sondern durch ihre Stelle im Netzwerk der Zeichen, beziehen, so wird auch in der Konsumgesellschaft die Bedeutung der Objekte nicht durch ihren Gebrauchs- oder Tauschwert bestimmt, sondern durch häufig minimale und willkürliche Unterschiede mit anderen Objekten. Diese Analysen aber sollen vor dem Hintergrund von Baudrillards Betrachtungen über den symbolischen Wert der Objekte, jener unzweifelhaft hervorhebt und der in der modernen Gesellschaft unterzugehen droht, verstanden werden. Diesen Untergang betont er später noch stärker, wenn er in L’autre par lui-mÞme behauptet, daß das System der Objekte gar nicht mehr existiere.20 Die Gleichgültigkeit, die die zeitgenössische Gesellschaft kennzeichnet, gilt auch für die Objekte. Es gibt kein System mehr, in dem man ihre Bedeutung verstehen kann, weil sie in einem Zeitalter, das nicht mehr durch einen Code, sondern durch die Mode, bestimmt wird, jede Bedeutung verloren haben. Baudrillards ,flirt‘ mit dem Strukturalismus darf man also nicht als den Versuch durch eine bestimmte Methode definitive Bedeutungen bloß zu legen betrachten, sondern eher als die Suche nach einem Instrument, um den Untergang der symbolischen Bedeutung zu verstehen. Die symbolische Bedeutung ist aber niemals objektiv. Vielmehr impliziert sie, daß der Wert der Dinge nur innerhalb der Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt verstanden werden kann. Dies bedeutet, daß es nicht nur der Mensch ist, der den Dingen Bedeutung schenkt. Ebenso gut bestimmen die Dinge das Schicksal der Menschen. Diese Thematik kann man nicht wirklich nietzscheanisch nennen. Trotzdem gibt es auch hier Vergleichspunkte: – die Unmöglichkeit, zu einer objektiven Wahrheit zu kommen – Nietzsches Lehre von der ,Amor fati‘, worin alles sowohl synchronisch als auch diachronisch miteinander verbunden ist; dies ist bestimmt vergleichbar mit dem, was Baudrillard mit dem ,Symbolischen‘ meint.

20 Vgl. Jean Baudrillard L’autre par lui-mÞme (Anm.4), S. 11.

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Was die Psychoanalyse betrifft, so können wir uns kurz fassen: Baudrillard erwähnt sie meistens wie eine systematische Methode mit der Prätention auf eine objektive und exaustive Weise Bedeutungen aufzuspüren (z. B. der Witz oder die Träume). Er teilt also Nietzsches Intuition, daß jede Art von System einen Mangel an Rechtschaffenheit zeige. Vielleicht erklärt dies, warum Baudrillard wie Nietzsche immer häufiger den aphoristischen Stil geführt hat. Nicht nur in seinen Cool Memories (wovon inzwischen bereits fünf Teile erschienen sind), sondern auch in seinen anderen Büchern. Ob Baudrillard übrigens völlig Recht hat mit seiner Meinung bezüglich der Psychoanalyse kann man bezweifeln. Seine Beispiele zeigen aber überzeugend, daß die Psychoanalyse nicht fähig ist, jede Art von Bedeutung zu fassen.21 Übrigens sind Baudrillards Vorwürfe gegen Foucault vergleichbar mit seiner Kritik an der Psychoanalyse. Baudrillard glaubt, daß auch die Mikrophysik die Macht der Dimension des Symbolischen ganz übersieht. Auf den kommenden Seiten sollen nun einige Themen im Werk Baudrillards, die noch nicht direkt oder indirekt erörtert worden sind, behandelt werden. Was das Thema Zeit betrifft, haben wir schon gesehen, dass sich Baudrillard wie Nietzsche der Fortschrittsidee gegenüber sehr kritisch verhält. Eigentlich hat er immer den ganzen linearen Zeitbegriff zugunsten eines zyklischen Models relativiert: Reversibilität statt Irreversibilität. Hier bietet sich deshalb ein Vergleich mit Nietzsches Idee von der ewigen Wiederkunft an. Zwar sagt Baudrillard nicht genau dasselbe, doch hat Nietzsche ihn für eine nicht-lineare Auffassung der Zeit und der Geschichte sensibilisiert. Ein zweites Thema ist das der Kunst. Das Denken Baudrillards ist lange Zeit im Künstlermilieu sehr geschätzt worden; vermutlich aufgrund des extravaganten Scheins, den sein Werk immer besessen hat. Man hat dabei offensichtlich übersehen, daß schon Le systme des objets ein äußerst kritische Behauptung des Designs und der Innenarchitektur enthielt und daß Baudrillard in Pour une critique de l’conomie politique du signe darlegte, daß, wenn man die Kunst an erster Stelle wie die Kreation eines autonomen Subjekts betrachtet, man sich ganz mit der Ideologie der Modernität solidarisch erklärt. Der Artikel Le complot de l’art (erschienen in Mai 1996 in Libration) aber war ein Frontalangriff gegen die zeitgenössische Kunst, die laut Baudrillard nicht viel mehr als eine ba21 Vgl. z. B. Baudrillard, L’change symbolique ou la mort (Anm. 4), S. 322 – 343 und ders., Les stratgies fatales, Paris: Grasset 1983, S. 154 – 161.

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nale Evokation aktueller Banalität mit banalen Mitteln sei.22 Könnte man diese Distanzierung nietzscheanisch nennen? Es ist bekannt, daß Nietzsche in Die Geburt der Tragçdie den Wert der Kunst sehr hoch eingeschätzt hat. Aber schon von Menschliches, allzumenschliches ab ist seine Einstellung viel kritischer geworden und später wird er sogar seine frühe Idolatrie des künstlerischen Genies als ,Artistenmetaphysik‘ bezeichnen.23 Weder Kunst noch Künstler haben einen überzeitlichen Wert. Auch sie sollen innerhalb einer bestimmten Kultur situiert werden und können sowohl Zeichen von Krankheit als auch von Gesundheit sein. Auch seinen Argwohn gegenüber der Kunst und der Kultur hat Baudrillard in gewissem Maße von Nietzsche geerbt. Ein Thema, das bei Baudrillard seit den neunziger Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat, ist das Böse. Er bemerkt, daß die abendländische Kultur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts immer stärker nur das Positive betont und nur das anerkennt, was innerhalb einer produktiven, kausalen und utilitaristischen Logik verstanden werden kann. Alles andere nennt sie ,das Böse‘ und versucht es zu exkommunizieren, zu verneinen oder zu vergessen. Dies ist laut Baudrillard aber unmöglich und unerwünscht: Das Böse schimmert immer durch (vgl. La Transparence du Mal). Man denkt dabei unweigerlich an das, was Nietzsche über das Böse gesagt hat. Wie jener glaubt auch Baudrillard nicht, daß das, was in der traditionellen Moral als gut und böse bezeichnet wird, voneinander zu trennen ist. Es hat also auch keinen Sinn, das ,Böse‘ auf eine moralisierende Weise beseitigen zu wollen. Die aktuelle Kultur, die sich oft rühmt sich von der traditionellen Moral befreit zu haben, hat dieses immer noch nicht verstanden und ist also noch nicht zu einem nietzscheanischen ,Amor fati‘ fähig. Auf diese Weise kommen wir zu dem Thema des ,Fatalen‘, das explizit in Les stratgies fatales erwähnt wird. Man hätte denken können, daß Baudrillard in einer Kultur, die die individuelle Freiheit vergöttlicht, den Determinismus propagierte, aber das war nur Schein. Auch betont er nachdrücklich, daß der Ausdruck ,fatal‘ nichts mit ,Fatalismus‘ zu tun hat.24 Er wollte vor allem den Gedanken, daß der Mensch fähig sei von seinem eigenen Willen und Verlangen aus sein Leben zu be22 Vgl. Jean Baudrillard, Le complot de l’art, Paris: Sens et Tonka 1997 und ders., cran total, Paris: Galilée 1997, S. 205 – 209. 23 Vgl. z. B. Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, Versuch 2, KSA, Band 1, S. 13. 24 Vgl. Jean Baudrillard L’autre par lui-mÞme (Anm. 4), S. 75.

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stimmen, hervorheben.25 Genau aus diesem Grund stellte er auch den Begriff der ,Verführung‘ (,sé-duction‘) dem der ,Produktion‘ gegenüber.26 Wir können hier natürlich wiederum nur auf Nietzsches ,Amor fati‘ hinweisen, allerdings ebenfalls auf Dionysos, der durch Nietzsche auch der ,Versucher-Gott‘ genannt wird.27 Bevor wir zum Schluß kommen werden, überlaufen wir jetzt noch drei kürzere bzw. etwas nebensächlichere Gleichnisse zwischen Baudrillard und Nietzsche: – Wie Nietzsche steht auch Baudrillard dem Feminismus kritisch gegenüber. und ist die Frau zuweilen fast eine Philosophische Figur, auf eine Weise wovon man sich fragen kann ob sie die Frau nicht mehr berücksichtigt wie manche Emanzipationsbewegungen die sie oft nur mitreißen wollen in einen Kult der Individuellen Freiheit der leider ziemlich männlich anmutet – Ebenso wie Nietzsche verhält sich Baudrillard den Medien gegenüber – auch wenn sie im 19. Jahrhundert noch nicht eine so bedeutende Rolle gespielt haben wie das heute der Fall ist – ungemein kritisch. – Wie Nietzsche, der in Bezug auf das Thema ,Krieg‘ provozierende Standpunkte einnahm und sich selbst als ,kriegerisch‘ bezeichnete28, hat auch Baudrillard mit seinen Artikeln über den Golfkrieg von 1991, die später gebündelt unter dem Titel La guerre du Golfe n’a pas eu lieu veröffentlicht wurden, viel Staub aufgewirbelt.29 Er bezog sich darin nicht nur auf den beispiellos mediatisierten Charakter dieses Kriegs, sondern vor allem auf die Tatsache, daß er niemals eine wirkliche Konfrontation gewesen sei. Nicht nur, daß im wörtlichen Sinne keine militärische Feldschlacht stattgefunden habe, vielmehr habe die ganze Geschichte auf eine dramatische Weise auch gezeigt, wie groß die Kluft und das gegenseitige Unverständnis zwischen der abendländischen Kultur einerseits und der arabischen Kultur andererseits sei. Darum zeugt dieser Krieg laut Baudrillard auch vom Bankrott des modernen universalistischen Traumes. Man kann natürlich nicht behaupten, Baudrillard habe dies alles schon bei Nietzsche gefunden. Aber vielleicht kann man wenigstens sagen daß 25 Vgl. Jean Baudrillard et Marc Guillaume, Figures de l’altrit, Paris: Descartes & Cie 1994, S. 161. 26 Vgl. Jean Baudrillard, De la sduction, Paris: Denoël/Gonthier 1979. 27 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, 295, KSA, Band 5, S. 238. 28 Vgl. Nietzsche, Ecce Homo, Weise 7, KSA, Band 6, S. 274. 29 Vgl. Jean Baudrillard, La guerre du Golfe n’a pas eu lieu, Paris: Galilée 1991.

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die wichtige Stelle, die Nietzsche dem Kampf im Sinne von Agonalität zuerkennt, das Denken Baudrillards in die Richtung geschickt hat die befreit war von den Tabus einer allzu bequemen und simplizistischen Friedensideologie.

Schlußbemerkungen Wir haben festgestellt, daß eine Menge von Vergleichen zwischen Baudrillard und Nietzsche möglich sind. Daß Nietzsche der Denker ist, in dessen Schatten sich der Franzose entwickelt hat, scheint damit bestätigt werden zu können. Trotzdem haben wir auch gesehen, daß Baudrillard sich wenig um eine wort- und sinngetreue Nietzsche-Interpretation kümmert. Zweitens ist die Beziehung zu Nietzsche meistens nur ein Ausgangspunkt, um seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Zudem gibt es auch mehrere wichtige Facetten von Nietzsches Philosophie, die bei Baudrillard gar nicht erörtert werden und die er vermutlich auch nur schwer in seine eigene Denkweise aufnehmen könnte. Man kann dabei erstens an Nietzsches Lehre von dem ,Willen zur Macht‘ und an den damit verbundenen Naturalismus denken. Auch findet man bei Baudrillard kein Streben nach einer Art ,Übermenschlichkeit‘. Und, um diese beiden Sachen miteinander zu verbinden, auch die Idee des Übermenschen als Sinn der Erde fehlt bei Baudrillard gänzlich.30 Vielleicht könnte man sogar sagen, Baudrillard betrachtet den Sinn des Lebens immanenter als Nietzsche, nämlich bloß im Spiel des symbolischen Tausches. Weiterhin hat Baudrillard auch nicht eine so abschätzige Sicht auf die Masse wie Nietzsche, im Gegenteil: Er nimmt sie häufig gegen die bekrittelnde Einstellung der Politiker, Intellektuellen und Volkserzieher in Schutz und zeigt wie ihre Gleichgültigkeit tatsächlich den Bankrott der Modernität demonstriert. Es ist fraglich, ob Nietzsche etwas dagegen hätte. Er suchte ja keine Anhänger oder Leute, die ihm blindlings folgten. Am 13. Mai 1878 schreibt er an Reinhart von Seydlitz: „Nichts liegt mir ferner als Proselyten zu machen.“31

Und einige Tage später erklärt er in einem Brief an Heinrich Köselitz, was er denn jedoch will: 30 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vorrede 3, KSA, Band 4, S. 14. 31 Vgl. KSB, Band 6, S. 327.

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„Das eben ist das Beste, was ich erhoffte – die Erregung der Produktivität Anderer und die Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt.“32

Baudrillard ist also bestimmt kein Epigone Nietzsches, aber bleibt dessen Adagium ,vademecum, vadetecum‘ treu.33 Man könnte also behaupten, daß er hauptsächlich Nietzsches Kritik an der Modernität auf eigene Weise und in einem neuen gesellschaftlichen Kontext weitergeführt hat. Zum Schluß: Bietet Baudrillards eigener Ansatz auch die Perspektive zu einer anderen Sicht auf Nietzsche? Ich wollte mich diesbezüglich auf einen Punkt beschränken. Baudrillard hat sich während der neunziger Jahre sehr für das Phänomen der ,Alterität‘ interessiert.34 Was er damit behauptete, war zumeist die Unmöglichkeit alles und jeden in einen homogenen und universellen Diskurs integrieren zu können. Es gibt dabei klare Zusammenhänge in Bezug auf die Themen des symbolischen Tausches, Fatalität, Verführung usw. Man könnte sich also fragen, ob nicht auch Nietzsche als ein Philosoph der Alterität betrachtet werden könnte. Diese These mutet vielleicht ein bißchen sonderbar an, weil er manchmal gerade ein Philosoph des Egoismus genannt wird. Aber was Nietzsche auf eine positive Weise mit Egoismus beabsichtigt, ist jedenfalls viel komplizierter als das Verfolgen des individuellen Glücks.35 Bei Nietzsche ist es offensichtlich möglich von ,das Fremde in das Selbst‘ zu reden und bedeutet die Wichtigkeit der ,Agonalität‘ unzweifelhaft die Erkennung einer Verhaltung zu den Anderen worin Distanz und Spannung immer behalten bleiben sollen. Auch das ,Pathos der Distanz‘ (was freilich etwas anderes ist) kann hierauf bezogen werden, ebenso wie die Stelle der Einsamkeit in Nietzsches Denken. Außerdem entzieht sich die Welt laut Nietzsche immer bis zu einem gewissen Grad unseren Versuchen sie zu verstehen oder zu meistern. Nietzsches Perspektivismus enthält das man niemals einen vollständigen Blick auf die Welt nachstreben kann und immer die Möglichkeit anderer Ansätze offen läßt und erkennt. Zuletzt kann man sich fragen, ob auch die Suche nach dem wahren Selbst, wie sie zum ersten Mal in 32 Vgl. KSB, Band 6, S. 329. 33 Vgl. NL 4[313] KSA, Band 9, S. 178, Die frçhliche Wissenschaft, Scherz 7, KSA, Band 3, S. 354 und NL 1[13] KSA, Band 10, S. 11. 34 Vgl. z. B. Jean Baudrillard et Marc Guillaume, Figures de l’altrit (Anm. 25) und Jean Baudrillard, L’change impossible (Anm. 6). 35 Vgl. Paul van Tongeren/Gerd Schank/Herman Siemens H. (Hrsg.), NietzscheWçrterbuch, Berlin: De Gruyter 2004, Band 1, S. 702 – 720; Gisèle Souchon G., Nietzsche: gnalogie de l’individu, Paris: L’Harmattan 2003 und Christophe Colera, Individualit et subjectivit chez Nietzsche, Paris: L’Harmattan 2004.

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Schopenhauer als Erzieher thematisiert wird, wohl als eine Odyssee verstanden werden soll (auf die Weise wie Emmanuel Levinas diese versteht) und nicht eher wie ein wirkliches Abenteuer, eine überraschende Fahrt ins Blaue, die vielleicht niemals enden wird.36 Jedenfalls erscheint es als eine interessante und herausfordernde Möglichkeit von Baudrillard Nietzsches Denken auf diese Weise, wie eine Philosophie der Alterität, zu beschreiben.

36 Vgl. Unzeitgemße Betrachtungen III.1, KSA, Band 1, S. 337 – 341. Vgl. Emmanuel Levinas, Totalit et Infini. Essai sur l’extriorit (1961), La Haye: Martinus Nijhoff Publishers 1980, S. XV, 151 und 249.

“René Girard and Nietzsche Struggling” Michael Platt I The French, essayist, historian, anthropologist and professor of literature, René Girard, has had his eye on Nietzsche for a long time, all his intellectual life one would guess,1 and has had his critical eye on fel-

1

All quotations from Nietzsche, unless otherwise noted, will be from the Colli and Montinari edition. In English they will be from Walter Kaufmann’s translation, if otherwise as noted. The things of Girard’s that deal with Nietzsche, those I am aware of, are “Superman in the Underground: Strategies of Madness – Nietzsche, Wagner and Dostoevsky”, in: Modern Language Notes Vol. 91 (1976), pp. 1161 – 1185; republished as “Strategies of Madness – Nietzsche, Wagner and Dostoevsky”, in: To Double Business Bound: Essays on Literature, Mimesis, and Anthropology, Johns Hopkins 1978. La Violence et la Sacr, Paris: Editions Bernard Grasset 1978 [Eng. trains. Patrick Gregory ( Johns Hopkins 1977)]; Nietzsche just a few times mentioned; however the index missed one mention (296) and one of Zarathustra. Des choses caches depuis la fondation du monde (Paris: Grasset 1978; trans. Stephen Bann & Michael Metteer as Things Hidden Since the Foundation of the World (Matthew 13:35) (Stanford U. P. 1987); just mentions of Nietzsche, but more of them, in this book. René Girard, “Dionysus versus the Crucified”, in: Modern Language Notes, Vol. 99 (ca. 1984, No. 4), pp. 816 – 835. Most important. “Nietzsche and Contradiction”, in: Nietzsche in Italy, ed. Thomas Harrison, Saratoga, California: Anima Libri 1988 (written sometime after the 1978 French publication of Colli/ Montinari, Nachlass of 1885 – 87; here Girard discovers Nietzsche’s Nachlass adoration of Parsifal for its address to his deepest Christian questions. “The Founding Murder in the Philosophy of Nietzsche”, in: Violence and Truth: On the Works of Ren Girard, ed. Paul Dumouchel, Stanford U. P. 1988, but originally in French of the volume in 1985 (Violence et verit, Grasset & Fasquelle); in the essay Girard humorously portrays himself as, being unable to find anything but his idée fixe, only by accident with his eyes closed opening to the Madman’s report of God’s death in Nietzsche.

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low French Nietzscheans too.2 Instead running with one of Nietzsche’s ideas and ignoring the rest as epigones do, with more rivalry than gratitude, Girard has homed-in, like a laser, on the contradictions and underlying struggles in Nietzsche, and he has done so not to show Nietzsche up as the effect of causes other than himself (such as the times, milieu, nation, race, class, sex, genes, etc.), but with respect for all Nietzsche’s thinking and struggling life, and on topics deeply interesting to humanity. These interesting things, may be restated, somewhat more broadly, for the sake of philosophy, as questions. Why do we do what we do? Why do we desire what we desire? And how do we become who we are? Why as we grow up, do we imitate, then emulate, soon rival, and finally slay the person we admire most, all to become who we are? And, who, then, are we? What is it about us humans that our cities, countries, civilizations, and religions seem always to begin with a violent deed – think of Romulus killing Remus, Cain killing Abel – and why is it that we, collective we, seem so ready to persecute the best of us, Dreyfus, Joan of Arc, and Christ, scapegoats all? What is the deepest representation of our strange condition, so violent and rivalous? Is it tragedy or Christianity? Is it the Bachee, in which the intoxicating god of tragedy, Dionysus, drives mad the city, especially its women, and then the madding city tears Dionysus apart, even as he

2

“The Twofold Nietzschean Heritage”, in: I See Satan Fall Like Lightning trans. James G. Williams, Orbis Books 2001, trans. of Je vois Satan tomber comme l’clair, Paris: Grasset & Fasquelle 1999. Several things from the above, including “Nietzsche versus the Crucified”, but also out of the way things, reprinted in: The Girard Reader ed. James G. Williams, Crossroad Herder 1996, along with an excellent interview at the end and a short intellectual and spiritual biography at the beginning. The best criticisms of Girard’s work I have found are: Pierre Manent, Contrepoint 14, 1974; Hans Urs v. Balthasar, Theodrama: IV, Ignatius Press, pp. 296 – 310; and Lucien Scubla, “The Christianity of René Girard and the Nature of Religion”, in: Violence and Truth: On the Works of Ren Girard (cited above). Girard pays so much scornful attention to various French intellectuals that a wag could propound a theory of anti-imitative desire, about how some people are animated to do what they do by resolving not to imitate others. “Whatever I see someone else wanting, I want the opposite.” Come to think of it, this wag could cite Nietzsche as an example, for so often his screaming “noes” about anything precede his gentle “yeses”. Or are not followed by the “yeses”. You have to infer those from the “noes”.

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affirms suffering life, as Nietzsche claims. Or is it the Gospel representation of Christ stirring up the people, yet refusing to rule, and then suffering judicial lynching by the people? Is the Crucifixion but an instance of the same mythic pattern as Dionysus, or is it singularly different because Christ accepts suffering so as to teach us to pity the innocent victim not the mighty mob? And why was it just in our time, after Nietzsche, that a movement arose filled with hatred of the pitiful? With these questions in mind, let us look at the three important matters that René Girard has attended to in Nietzsche.

II Desires, weak and strong First, according to Girard, it is interesting that Nietzsche more than once made proposals of marriage through another man and in both cases that man was interested in the girl, something Nietzsche either knew or suspected. In the case of Mathilde Trampedach, the man Nietzsche entrusted with his proposal, Hugo von Sender, later made his own proposal, which was accepted. In the case of the proposal to Lou von Salomé, conveyed by Paul Reé, who must have praised Lou to Nietzsche with a warmth Nietzsche surely noticed, the proposal was also rejected, and later Reé and Lou made a pair for a time (if an unusual pair, even as the “pair” Lou made with her husband Prof. Andreas was unusual too). About such proposing to women through other men, Girard claims that no theory, not Freud’s Oedipal one, not Lacan’s, not Levi-Strauss’, but only his own theory of imitative desire can give an adequate account. For myself, never having been enchanted with the claims of Freud, Lacan, or Levi-Strauss to understand human beings very well, especially such a deep, noble, and self-knowing human being as Nietzsche, I find René Girard’s theory plausible, but not more. Its apparent basis, the conviction that all human desires lack natural goals is dubious, and even dubious on Girard’s own evidence, for Girard supposes the person moved by imitation to desire anything (a person, a mate, a thing, an achievement) is imitating someone who has an un-imitative desire for that thing – unless Girard supposes that that prime person too was prompted by imitation, but then there would be an infinite regress, each person’s desire dependent on seeing someone else’s desire, ad infinitum, with no first, unimitative, pure desire founding the series.

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Surely, contra Girard, we do have good evidence that there are pure human desires, however various in their objects, however different their intensity, and however few humans are influenced solely by their own desires. And some human desires, for someone beautiful, for someone who returns one’s love, for a mate, a fellow parent, and for children – such desires so well represented in literature, especially Shakespeare and in their greatest range and elevation in Plato’s Symposium – seem rooted in nature, pretty constant and general, again however various in quality. Would Girard have us believe that a boy’s desire for a girl only arises because he saw an older boy desire one? I have heard of a father who wished to shelter his boy and so when they first saw a girl, the father told the boy “That’s a goose” but the boy merely replied “I like that goose.” In truth, Girard’s theory of imitative desire is only a theory of weak desires, of desires that wouldn’t arise except the person notices someone else desiring something, who would lose interest if the other does, and hasn’t the strength to express this desire except through the other.3 There are such persons. Think of the wretched Teenagers, their anxious alertness to what others think is “cool” but also all of us potentially, and aren’t some speakers at congresses imitating speakers they once heard? Perhaps Girard’s theory describes the souls prevalent in a weak era such as our own, but such weakness is surely inseparable from our very imitative human nature. As Aristotle might say, the child who imitates no one must grow up a beast or a god.4 As to Nietzsche, it ought to have been remarked by Girard that after Lou refused Nietzsche’s offer of marriage through Reé, Nietzsche renewed the proposal himself. On their long walk up Monte Sacro they may have kissed – she once said she couldn’t remember (which in woman means “yes”, as Werner Ross observes in The Most Anxious 3

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Shakespeare has portrayed such weak desire in Claudio in Much Ado About Nothing, who has the Prince woo Hero for him, and portrayed the struggle to emulate and yet to be, in Hamlet; for more, see my “To Emulate or To Be: Hamlet and Aeneas”, in: Law and Philosophy: The Practice of Theory [Essays in Honor of George Anastaplo] ed. William Braithwaite, John Murley, & Robert Stone, Athens, Ohio: Ohio University/Swallow Press 1992, Vol. II., pp. 917 – 936. In a 1992 interview excerpted in The Girard Reader, Crossroads 1996. Girard asserts he does recognize a good form of imitative desire (pp. 62 – 65), but not it seems to me sufficiently; for it does not lead to a re-thinking of the whole theory from scratch.

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Eagle 5), but still she rejected the offer. So Nietzsche wasn’t always entirely “imitative” or weak. And with rival Reé, Nietzsche didn’t struggle at all. Nor, after it was all over, did Nietzsche struggle with Lou. Suffer he undoubtedly did, but he put it behind him, as we see in his calm respect for her in Ecce Homo. Where Girard’s theory strikes some pay dirt is in Nietzsche’s relations with Wagner. Here we really do have signs of a never completed struggle. A critic can combine a wide range of judgments of something; to do justice to some rich complex thing, he will have to. Wagner is that and was that for Nietzsche, but in all the things Nietzsche says of Wagner and his music, there is extra intensity, both heated and cold. After all, as Nietzsche confesses, meeting Wagner was an event in his life. Early, he almost adored Wagner; later he nearly reviled him; yet in both moods, we can detect something of the other. The needle between the two never quite settles. And of the two postscripts and one epilogue to Der Fall Wagner and then of the retrospective Nietzsche Contra Wagner, that great psychologist, Hamlet’s mother, Gertrude, might well exclaim “The man doth epilogue too much.” And what rich pay dirt Girard’s similar observation struck when he discovered the passage in the Nachlass in which Nietzsche positively adores the Prelude to Parsifal and for its Christian answers to his abiding questions; the passage begins: Vorspiel des P , grösste Wohlthat, die mire seit langem erwiesen ist. Die Mach un Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl brächte. Ganz erhoben and erfriffen – kein Maler hat einen so unbeschreiblich schwermüthigen and zärtlichen B l i c k gemalt wie Wagner die Grösse Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, aus der etwas wie Mitleiden quillt: das Grösste Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, ein unbeschreiblicher Ausdruck von Grösse i m Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen dunklen, schwermüthigen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Lionardo nicht.

Prelude to Parsifal, the greatest gift I have received in a long time. The power and the rigor of the feeling, indescribable, I do not know anything that apprehends Christianity at such depth, and that generates compassion so powerfully. I am completely transported and moved – 5

Werner Ross, Der angstliche Adler: Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1980.

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no painter ever managed to render as Wagner does a vision so indescribably melancholy and tender. His greatness in apprehending a dreadful certainty, from which something like compassion emanates: the greatest masterpiece of the sublime that I know, power and rigor in apprehending a dreadful certainty, an indescribably expression of greatness in the compassion towards it, whatever it means. No artist has ever been able to express as magnificently as Wagner does such a somber and melancholy vision as in the last part of the Prelude. Not even Dante, not even Leonardo.6 Like nothing in the published works, this passage exposes how profound Nietzsche’s ambivalence was to Wagner (and also to Christianity and even Christ, of which more soon). Here is Nietzsche praising what he elsewhere reviles. Nietzsche lauded the quest for truth; he presents himself as honest to a fault; and often gives the impression of holding nothing back. To be sure, he also characterizes lies as life-protecting and he lauds masks. Still, the passage, or more exactly his never saying something similar in print, mars his reputation for integrity, as his plagiarism of an essay at Schulpforta might not, being excused as a youthful offense never repeated. As Girard asserts, this is a passage that many Nietzscheans, especially French Nietzscheans, do not want to confront. Upon discovering the passage well might Girard have exulted like Hamlet “Oh my prophetic soul!” And be forgiven for scorning all the intellectuals in the rotten French court who don’t want to admit that their Emperor is naked. Perhaps Girard might not have discovered this remarkable passage without his interest in his imitative theory. Yet even if his theory be superior to all the post W.W.II French and German intellectuals he scorns, still is his insight into Nietzsche relation to Wagner remarkable? Is it an insight no one else makes, none of Nietzsche’s biographers, the comprehensive Curt Paul Janz or the vivacious Werner Ross? Girard even passes up evidence his theory should have pointed him to. By noting the mad postcard Nietzsche wrote to Cosima declaring his love, by remarking that Nietzsche did not write Der Fall Wagner until after Wag6

Colli/Montinari, KSA XII, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886-Herbst 1887 5[41]. As the reader might have guessed there is reason to construe this “paragraph” as a revision of the one above, a conjecture supported by seeing the notebook itself, as I did at the Goethe Schiller Archive in Weimar, thanks to the staff and Marie-Louise Haase.

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ner was dead for five years, we may conjecture that Nietzsche hoped that upon reading Der Fall Wagner Cosima would get in touch with him.7 Girard’s attachment to his theory, his indefatigable promotion of it, seems to have blinded him to other things in Nietzsche. Thus, even in Nietzsche’s writings on Wagner, Girard never hears how fine the criticism is. To its music he is deaf. And he never listens to the argument. Nor does Girard attend to the wonderful range of Nietzsche’s thoughts, his singular teachings, and his fine appreciations of all beautiful and noble things. And Nietzsche’s remarkable self-knowledge, including remarks on his contradictions, don’t register with Girard. There is more in Nietzsche than Girard kens of.8 Surely the man who would understand Nietzsche would have to be remarkable. Who could understand struggling Nietzsche? Perhaps the man who told the story of Telemachus growing up alone with only stories of his father, till he joins him in setting Ithaka right, yes wouldn’t Homer understand Nietzsche, who grew up without a father and came to think he alone was called to redeem the history of humanity alone. Or even more the man who wrote of Hamlet worshipping his heroic father, struggling with his dread commands, and who while becoming the rough-hewn minister of those commands, nevertheless succeeded in becoming himself, yes wouldn’t it take Shakespeare to understand Nietzsche’s spiritual struggle with Wagner; after all he understood what moved Brutus to slay Caesar. In fairness to Girard, we must, however, observe that he might agree, that it would take a Homer or a Shakespeare to understand Nietzsche, for Girard often stresses the wisdom in great literature, and not in the hollow and condescending way of Freud.9

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In the Nachlass there is an “Entwurf of a letter to Cosima (No. 1099a)”, believed to belong to early September of ’88. There are of course the later missives (and drafts) of December, and one, addressed to “Prinzess Ariadne, meine Geliebte”, in which Nietzsche suggests he was once Richard Wagner (3 Jan. 89, No. 1241 in Colli / Montinari). Surely good evidence of unfinished struggle. A struggle never to be finished. A man with a similar theory, a similar simplicity, and a similar inability not to ride his hobby-horse, and yet with insight is Harold Bloom, with his theory of emulation and overcoming. (So far, I have not run across in Girard any mention of Bloom.) Girard’s book on Shakespeare, A Theater of Envy (Oxford U. P. 1991), leaves the general impression that his theory visits the works, finds itself there, and says “what a pretty theory am I!” but Girard does find interesting things;

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III. Dionysus versus Christus Crucifixus In mentioning the passage in Nietzsche’s Nachlass in which Nietzsche positively adores Parsifal and for its Christian depth, we have already touched upon the fundamental struggle Girard discovers in Nietzsche. According to Girard, in his published writings Nietzsche distorts the truth about Wagner’s relation to Christianity; features of Christianity do appear in Wagner’s early work; if lesser minds can see that, so could Nietzsche; moreover, during his time of intimate conversation with Wagner at Tribschen, Nietzsche knew a version of Parsifal. No, Nietzsche fabricates the notion that Wagner suddenly became Christian, or more receptive to Christian themes. Parsifal is not a sudden turn away from and thus betrayal of what Nietzsche and Wagner shared when they were friends. Girard believes Nietzsche knew this but could not face it. To be himself, Nietzsche felt he had to overcome Wagner, and to do that he had to deny things he knew. So claims Girard. The deeper matter, upon which this struggle with Wagner rests, however, is Nietzsche’s relation to Christianity. Here is how the passage in the Nachlass on Parsifal continues: “Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Probleme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die ich eben dafür bereit halte, sondern mit den christlichen – welche zuletzt die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhunderte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik den Protestant wie ein Missverständnis bei Seite. […] Sonderbar! Als Knabe hatte ich mire die Mission zugedacht, das Mysterium auf die Bühne zu bringen.”

As if, after many years, someone finally addressed the problems that truly concern me, not to echo once again the answer that I always have ready at hand, but to provide the Christian answers, which have been the answers of souls stronger than those produced by the last two centuries. Yes, when this music is heard, we brush aside Protestantism as if it were a misunderstanding … Strange! As a lad I intended for myself the mission of bringing the Eucharist to the stage.10 What were those problems? How we wish Nietzsche had written what they were. We can only guess that they were about resentiment, about pity, about slave morality, about redemption, and about the curse envy is important in Shakespeare; and Girard is, for example, wonderful on what moves each of the conspirators against Caesar to join the conspiracy. 10 KSA XII, Sommer 1886 – Herbst 1887 5 [41].

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on nature and life that Nietzsche was always ready to accuse Christianity of in what he published. But wait, in this entry Nietzsche writes of “the problems that truly concern me” and he thinks of stronger Christian answers to questions than he always had ready answers to. What were those deeper questions he was truly concerned with? Were these questions not treated, let alone even asked, in what he published? Could Nietzsche, then, be unsure of the truth of his critical curses upon Christianity? Were they just answers “that I always have ready at hand”? What wonderful self-examination is in that phrase. (Reading it, we might whisper “how true” of us, with our stock of points, stories, and opinions, our tics and our idée fixes, which we too always have ready to hand and to hand out. And would we be as willing as Nietzsche to question them when we meet stronger souls. Nietzsche did publish some “self-criticisms.” One wishes there were more like this one he left behind in his notebook. It seems, then, that the vehemence of his published curses must be a sign not of certainty, either calm or resolute, but an attempt to crush an uncertainty ever tumultuous and now grown unbearable, and thus a sign of struggle not victory. What did Nietzsche really think of Christianity and of Christ? Romano Guardini once observed: „Wenn N. vom Christentum spricht, dann kommt es wie ein Paroxysmus über ihn und er, der in seiner Natur vornehme und zarte Mensch, verliert jeden Masstab der Wahrheit, ja der Anständigkeit. Dass aber sein Angriff so viel Richtiges sieht, macht da Unwaher darin um so heftiger. Ein Buch, wie den ,Antichrist’ zu lesen, ist nicht nur quälend, sondern beschämend. Dabei geht durch N’s ganzen Kampt gegen Christus und das Christliche ein solcher Hauch der Nähe, dass man nicht anders kann als denken, er wende sich gegen etwas, von dem sein innerstest Herz weiss, es ist gut. So wie N. das Christliche hasst, kann man es nur mit schlechtem Gewissen tun. Es wirkt wie eine Enthüllung, wenn er sein letztes Buch Ecce Homo nennt und einen Brief aus der Wahnsinnszeit mit ,Der Gehreuzigte’ unterzeichnet.“ “When N. speaks about Christianity it is as if a paroxysm came over him. Although he is in his nature noble and sensitive, he loses all measure of truth and even decency. The untruth of his attack is all the more vehement because he sees so much that is right. Reading a book like the Antichrist is not only a torture, but an embarrassment. At the same time, such a breath of closeness blows through all of N’s struggle against Christ and Christianity that one cannot avoid the conclusion: he is turning against something which—he knows in his innermost heart – is good. The manner in which N. hates Christianity is only possible for one who hates it with a bad conscience. One has the impression of a revelation when he calls his

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last book Ecce Homo and when he signs a letter written after he became insane, ,The Crucified’.”11

Deeper still then, perhaps Nietzsche may wonder about the love Christ offers him. And may even resent it terribly, as an offense, or worse, a temptation. As Nietzsche so acutely observes in Menschliches, Allzunenschliches I, 603 (Human, All Too Human), men who very much want to be honored, to be justly honored, do not like being loved, not loved as a free gift, an affirmation that it is merely “good that you exist.” In Ecce Homo Nietzsche wants to say something like that to his whole existence, to achieve and to exhibit the virtue of amor fati. He wants to say it, not hear it. That Christ is always saying to him, to every person, and to every creature in Creation, “It is good that you exist,” Nietzsche shunned. Indeed, Nietzsche wants more than amor fati; in Ecce Homo he honors himself as the greatest man who has ever lived. Such is the perfection of this self-love that he wants no love from another. Mon moi est aimable. Certainly Girard in bringing forward this Nachlass is right to think that it points to Nietzsche’s struggle with Christianity (with it, not as in the published works just against it) and to Nietzsche’s struggle with Christ (with Him, not just against him). Girard thinks that to uncover that struggle one must go to the following additional Nachlass, the famous No. 1052 of Wille-zur-Macht, about: Gegenbewegung: Religion „Die zwei Typen: D i o n y s o s und der G e k r e u z i g t e„ Festzuhalten: der typische r e l e g i ö s e Mensch – ob eine décadenceForm? Die grossen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und epileptisch: aber lassen wir nichet da einen Typus des religiösend Menschen aus, den h e i d e n i s c h e n? Ist der heidenische Cult nicht eine Form der Danksagung und Behahung des Lebens? Müsste nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? 11 The passage comes from the only chapter of a planned book on Nietzsche that Romano Guardini wrote before his death, extant in the Guardini Archive at the Catholic Academy in München; see below. (Trans. Prof. Dr. Dr. Dr. Michael Waldstein, President, International Theological Institute, Gaming Austria). Many thanks to Dr. Stephan Höpfinger and Prof. Dr. Hans Mercker for help locating this mss.

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Typus eines vollgerathenen und entzückt-überströmendeden Geistes … Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlçsenden Typus? – Hierher stelle ich den D i o n y s o s der Griechen: die religiöse Behahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbirten Lebens typisch: dass der Geschlechts-Akt Tiefe, Geheimniss, Ehrfurcht erweckt Dionysos gegen den „Gehreuzigten“: da habt ihr den Gegensatz. Es ist n i c h t eine Diferenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen andern Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchbarkeit and Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstöring, den Willen zur Vernichtung … im andern Fall gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der Unschuldige“, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurtheilung. Man erräth: das Problem ist das vom Sinne des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn … Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt d a s S e i n a l s s e l i g g e n u g, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu Der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden … „der Gott am Kreuz“ ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen der Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheissung ins Leben: est wird ewig wieder gehoren und aus der Zerstörung heimkommen.12 The two types: Dionysus and the Crucified. – To determine: whether the typical religious man is a form of decadence (the great innovators are one and all morbid and epileptic); but are we not here omitting one type of religious man, the pagan? Is the pagan cult not a form of thanksgiving and affirmation of life? Must its highest representative not be an apology for and deification of life? The type of a well-constituted and ecstatically overflowing spirit? The type of a spirit that takes into itself and redeems the contradictions and questionable aspects of existence! It is here I set the Dionysus of the Greeks: the religious affirmation of life, life whole and not denied or in part; (typical – that the sexual act arouse profundity, mystery, reverence). Dionysus versus the “Crucified”: there you have the antithesis. It is not a difference in regard to their martyrdom – it is the difference in the meaning of it. Life itself, its eternal fruitfulness and recurrence, creates torment, destruction, the will to annihilation. In the other case, suffering – the “Crucified as the innocent one” – counts as a objection to this life, as a formula for its condemnation. – One will see 12 KSA XIII [Frühjahr 1888 14 [89].

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that the problem is that of the meaning of suffering: whether a Christian meaning or a tragic meaning. In the former case, it is suppose to be the path to a holy existence; in the latter case, being is counted as holy enough to justify even a monstrous amount of suffering. The tragic man affirms even the harshest suffering: he is sufficiently strong, rich, and capable of deifying to do so. The Christian denies even the happiest lot on earth: he is sufficiently weak, poor, disinherited to suffer from life in whatever form he meets it. The god on the cross is a curse on life, a signpost to seek redemption from life; Dionysus cut to pieces is a promise of life: it will be eternally reborn and return again from destruction.13

Now at first glance it seems that the struggle in this passage is indeed against Christianity, but Girard thinks there is a deeper struggle, one within Nietzsche. After all, unlike positivist students of mythology, most professors of anthropology, and modern atheistical intellectuals, Nietzsche did not think the voluntary death at the center of Christianity was like all the violent sacrifices in so many founding mythologies. “Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe einen anderen Sinn.” Christianity is not, then, just another tired religion, waning faith in whose god might be termed a death. Thus in Die Frçhliche Wissenschaft No. 125 (Frolicsome Science), not only is this God said by the Madman to have been murdered by us all, but later in Zarathustra IV we hear that this God has been killed by an individual murderer, the Ugliest Man.14 Of course, to confirm that Nietzsche thought Christianity unique, Girard could simply point out that Nietzsche almost always singles it out, as he does no other religion, for his criticism, and finally in Der Antichrist even calls it “the one immortal blemish of mankind” (No. 62 my italics). Girard wants to prove more of course. And that “more” is much harder to prove. With Nietzsche’s relation to Wagner, Girard’s intuition told him a passage of ambivalent inner contradiction might well exist in the Nachlass, and then he discovered it, in the passage on Parsifal. Does such a passage exist about Dionysus and Christ, one in which Nietzsche contradicts what he holds about the opposition of Christ to Dionysus? 13 Trans. Walter Kaufmann. 14 That the Ugliest Man is an individual murder deviates from Girard’s theory of collective murder, but perhaps, as Girard argues, that is not as disabling as it seems, if the Ugliest Man is the same as the Madman, or if he is representative of all men, just more knowing. For the interesting suggestion that the Ugliest Man is Socrates, see: Weaver Santaniello, “Socrates as the Ugliest Murderer of God”, in: Nietzsche and the Gods ed. Weaver Santaniello & John J. Stuhr , SUNY Press 2001.

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Perhaps only the word “innocent” in the Nachlass passage itself ( “Gekreuzigt als der Unschuldige”) but while acknowledging that Christ is innocent, thus unjustly sacrificed, still Nietzsche sways not a whit from siding with Dionysus against Christ. (In Der Antichrist No. 27 he says Jesus was guilty, in depriving the Jews of the hope of becoming a nation once again.) Apparently the good, as Nietzsche sees it in Dionysus, the good of uniting a society, trumps the just. Thus, according to Nietzsche, the innocent are to be sacrificed for the community, the sick for the species, and the weak for the sake of the strong. To prove that beneath the very evident attacks in the published works, there lies a profound ambivalence to Christ, Girard generously attributes to Nietzsche the insight that the truly important difference between the sacrifice of Dionysus and the “sacrifice” of Christ is that Christ was innocent and that we are taught by that innocence always to side with the innocent and against those violently sacrificing them to draw our sword and cry “hold your hand,” much as the Second Servant in Shakespeare’s King Lear does (3. 7). The evidence that Nietzsche saw this is, according to Girard, not only that he is too vehement in his worship of Dionysus and too vehement in his vilification of Christianity – as Gertrude might say “The man doth worship and vilify too much” – but that when Nietzsche went mad, he began confusing himself not only with Dionysus (and the Antichrist, Alexander and Caesar, and once even Wagner, but not Socrates), signing missives as Dionysus, but also signing missives “The Crucified One.” To the whole world, those postcards surely confess an inner conflict always there. From this collapsing of Dionysus and Christ together in the time of madness, Girard infers that the true conflict in Nietzsche between Dionysus and Christ was between, on the one hand, violent sacrifice as the core of life, will-to-power affirmed in destruction and self-destruction, confident of eternal return, and of such destruction as the core of every human community versus, on the other hand, the complete renunciation of violent sacrifice (and even perhaps the renunciation of resistance to it), the indignant admiration of justice, and the comforting protection of all innocent victims. That Girard has pointed to some evidence, important evidence, for this profound conflict in Nietzsche about Christianity, must be granted I think. And this would be strengthened importantly by pointing to the profound distinction Nietzsche makes in Der Antichrist between Christ, on the one hand, with his wonderful, entirely un-resentiment-al disposition to death and, on the other hand, the Christianity of the uncompre-

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hending disciples who, Nietzsche says, immediately covered the supernal, surpassing love of the Redeemer over with resentiment. Indeed, in Der Antichrist No. 27 he says Jesus was guilty, in depriving the Jews of the hope of becoming a nation once again, but in No. 58 in the course of a general criticism of Christianity, Nietzsche actually mentions “sacrifice of the innocent,” in a way that seems to include Christ, as a criticism of Christianity: Diese Mucke-Schleicherei, die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe wie Hölle, wie Opfer des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken, vor allem das langsam aufgeschürte Feuer der Rache, der TschandalaRache – das wurde Herr über Rom, dieselbe Art von Religion, der in ihrer Präexistenz-Form schon Epikur den Krieg gemacht hatte.

To be sure, this is not as strong as the passage in the Nachlass. Nevertheless, it seems that sacrifice of the innocent is among the things that Roman Nietzsche finds objectionable in Christianity. Would Nietzsche then join Epicurus in war against the same sacrifice of the innocent in the worship of Dionysus? Nietzsche is certainly a man of contradictions. Why Girard does not look at Der Antichrist, I do not understand. If he did, what might he say? Perhaps that by splitting Christ and Christianity Nietzsche was seeking a way out of his struggle. Or maybe Nietzsche simply couldn’t curse Christ, because he was too aware of Him. Aware of Him judging him. Or, worse, as I suggested above, aware of Him loving him. Another, though parallel, path, opened up by the end of Nietzsche’s Nachlass on Parsifal, would have been for Nietzsche to investigate the suspicion indicated there, that his criticisms of Christianity were really only of Protestant Christianity, of the profoundly anti-natural teachings of Luther, who said hatred of oneself is the basis of the love of God,15 but also the same anti-natural teaching in Pascal ( “Le moi est haïssable.”), and indeed all over the Gnostics such as Marcion, and not those of the Catholic Church which, holding onto the goodness of Cre-

15 For Luther’s declaration, Est enim diligere seipsum odisse, see: Anders Nygren, Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christichen Liebe Two Vols, Gütersloh 1930, 1937, II, p. 533. See also the Fourth of his Ninety-Four Theses. For a sagacious exposition of the issue, read Josef Pieper, About Love (Chicago: Franciscan Herald 1974), especially Chapter V (orig. ber die Liebe [München: Kösel 1972]).

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ation, keeping the Old Testament in the cannon, opposed them.) 16 Perhaps Nietzsche explored this path, but I know of no evidence he did.17 As to Girard’s additional contention that it is this deep conflict in Nietzsche, between the claims of Dionysus, as he had championed them all his intellectual life, beginning with Die Geburt der Tragçdie, and the claims of Christ, which he grew up with (living exclusively with female Protestants, all the relatives of Protestant pastors, going to a Protestant school, etc.),18 and then this deep conflict mixed with Wagner and his music with its Christian themes, such a conflict always at work in Nietzsche, and issuing finally in his frenzied decline into madness – I would say that Girard’s account is certainly superior to one of the prevailing accounts, that the works, especially the works of the last 16 And if Nietzsche had studied in the direction of his suspicion, voiced in the Nachlass on Parsifal, that his criticisms of Christianity were of Protestant Christianity, perhaps he might have discovered how mistaken even his quotation of Thomas at the end of Zur Genealogie der Moral I (15) is, the Supplement to the Summa Theologiae III not by Thomas, but by his follower Reginald; to be sure it is in accord with Thomas elsewhere but the point made (Suppl. III 94, aa. 1 – 3) is not Nietzsche’s or Tertullian’s; the blessed don’t rejoice in the sufferings of the damned, they feel grateful not to suffer them. Nietzsche gives fine advice about reading and has some wonderful descriptions of what he desiderates in a reader, in one of which he says he prefers the reader who would rather guess than know. (Ecce Homo 3 (quotes Zarathustra III “Vision and Riddle” 2). But as to who wrote or did not write something, to leave it at conjecture and not try to find out the truth, is not the probity of a philologist, the practice of a good reader, or the way of a philosopher. 17 Thomas Brobjer’s detailed “Nietzsche’s Changing Relation to Christianity” in the collection, Nietzsche and the Gods, stops before 1883. 18 Did Nietzsche ever know a living Catholic? Perhaps only Heinrich Romundt, his fellow student who became Catholic. And what of Catholic teachers? There are brief confrontations with Augustine, Thomas Aquinas, and Thomas à Kempis, but none with any of the Church fathers or his contemporary, Newman. Nietzsche said one loves Pascal, but he loved him mostly as an example of the sacrifice of a great intellect, which is hardly to confront Pascal’s arguments. Despite the high and elating standards Nietzsche sets for his readers, he seems seldom to practice them when reading others, sharp and wonderful as are some of his insights are, as when adds, to Aristotle’s remark that the man who lives outside the city (polis) must be either a beast or a god – the penetrating truth “or a philosopher” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 3). Nietzsche praised slow reading, but who did he read slowly? Emerson surely. Pascal and maybe Montaigne. Nothing in Italian or Spanish. Lots in Latin and Greek, especially Plato, Aristotle, the tragedians and Homer. So one presumes, for he studied and taught them. And who in German? Schopenhauer? Heine? And maybe for a time Wagner?

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lucid year have nothing to do with the madness that followed so swiftly,19 because the madness has an exclusively material cause, perhaps syphilis. (Why do those who assert a material cause never ask to have Nietzsche’s body exhumed for modern analysis? 20) There are just too many signs in the excited later works that point to the euphoric madness soon after, to deny some connection.21 Some connection, but is it the connection Girard claims? It seems to me that a far more detailed examination of the later books and the writings left in Nachlass would be needed to sustain Girard’s view. Girard 19 A view I once held: “Behold Nietzsche”, in: Nietzsche Studien, Band XXII, Berlin and New York: Walter de Gruyter 1993, pp. 42 – 79. Reprinted with additions in: Nietzsche: Critical Assessments, ed. Daniel W. Conway, with Peter S. Groff Vol. III: On Morality and the Order of Rank, London & New York: Routledge 1998, pp. 218 – 255. 20 A physician I know is of the opinion that, depending on the state of the body, over a century now since it became a corpse, something might be learned. Of course, any traces of poisons in the corpse would have to be examined with the following questions in mind: does this trace come from whatever Nietzsche was given to eat or drink during his madness over his last decade and does this trace come from one of the nostrums he gave himself, many of which, for sale over the counter in the 19th century or available to Dr. Nietzsche with his doctor’s hard-to-read handwriting, contained poisons. In a recent diagnosis something other than syphilis as the most likely cause of Nietzsche’s illness and death: M. Orth1 and M. R. Trimble , “Friedrich Nietzsche’s mental illness – general paralysis of the insane vs. frontotemporal dementia”, in: Acta Psychiatrica Scandinavica, Volume 114, Issue 6, p. 439 – December 2006. I have not been able to secure the book said to be the best, on the matter: Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990 (Diss. med. Tübingen 1988); more recent and laudibly stuptical is Richard Strain’s The Legend of Nietzsche’s Syphilis (Greenwood: Westport, Connecticut 2001). 21 Judicious on the question of Nietzsche’s madness is Daniel Breazeale’s “Ecce Psycho: Remarks on the Case of Nietzsche”, in: International Studies in Philosophy XXIII/2, pp. 19 – 33. For the view that Nietzsche was insane throughout his writing life see Max Nordau, Degeneration (trans.: Univ. of Nebraska, 1968). He is certainly right, if unappreciative of other things, to speak of Nietzsche having a mania for contradiction, but there may be teacherly method in this “madness”. Although Nietzsche said his way was “A yes, a no, a straight line, and a goal” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 44), the way he makes the reader go is more often a no, no, no, that points, in a crooked line, to a goal. Consider for example the many passages where Nietzsche attacks something as anti-nature, from which you must gather what he thinks nature is, and how few passages there are that start with nature. In truth, I can’t think of any.

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would find his case, if not strengthened, at least made more persuasive to those who fear losing the fine things in these later books, by seeing them dismissed as madness, if Girard would concede that there are fine and even important things in these books. But numerous scornful asides about his fellow French Nietzscheans suggest that Girard thinks they, his prime audience, aren’t much interested in these fine things in Nietzsche, anyway. In writing one should beware of letting those one vilifies, however justly, distract one from addressing a fitter audience though few.

IV. Aprés moi, le Holocaust On the basis of Nietzsche’s celebration of Dionysus, of his violent sacrifice, sacrifice of the innocent, affirmed in numerous passages in the published works and in the famous Nachlass where Dionysus and Christ are opposed and in another of the same time22 in which Nietzsche maintains that the species endures only through human sacrifice, Girard accuses Nietzsche of being importantly responsible for the murderous destruction of European Jewry by the Nazis and importantly responsible for the subsequent vilification of Christianity today throughout the West by intellectuals. Here is Girard’s most succinct expression of the accusation: “To bury the modern [ultimately Christian] concern for victims under millions and millions of corpses – there you have the National Socialist way of being Nietzschean. But some will say, ,This interpretation would have horrified poor Nietzsche.’ Probably, yes. Nietzsche shared with many intellectuals of his time and our own a passion for irresponsible rhetoric in the attempt to get one up on opponents. But philosophers, for their misfortune, are not the only people in the world. Genuinely mad and frantic people are all around them and do them the worst turn of all: they take them at their word.”23

Girard’s accusation would be stronger, or at least more widely convincing, if he had first conceded, what must, I think, be conceded. Namely: 22 KSA XIII, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888 14 [5]. In Walter Kaufmann’s translation, p. 142. 23 All the quotations from Girard in this section are from “The Twofold Nietzschean Heritage”, in: I See Satan Fall Like Lightning trans. James G. Williams, Orbis Books 2001, Chapter 14, pp. 170 – 181; it is a translation of Je vois Satan tomber comme l’clair, Paris: Grasset & Fasquelle 1999.

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that Nietzsche was not a Jew hater;24 that Nietzsche vehemently denounced Jew-haters, such as the one his sister married; and that Nietzsche wrote one of the most exalted appreciations of a European Jew ever penned (Morgenrçthe 205). Conceding these things would complicate Girard’s view of Nietzsche, but it would make his accusation more convincing. In addition it must be acknowledged that Nietzsche was also no socialist, but an aristocrat ( “radical aristocrat” in Brandes felicitous phrase, which Nietzsche adopted); and finally, that Nietzsche was no nationalist, criticizing Bismarck’s strutting Imperial Germany, lauding the civilization of the defeated French, and looking to a Europe of good Europeans. So, surely Girard must concede that the Nazis were three things Nietzsche opposed vehemently: nationalists, socialists, and Jew-haters. Still, the passages Girard cites do justify the murder of the innocent and not reluctantly, nay almost stridently, called future Surpassing Men to take joy in cruelty. Nietzsche certainly criticized pity, sometimes justly, at least once with discriminating insight, when he names indignation at another’s suffering as the strong brother of pity (Morgenrçthe 78), but usually so comprehensively and so vehemently critical of pity as to lose all intellectual virtue, even forsake his own thought; after all, why admire the protagonist in a tragedy, or Nietzsche’s own virtue in living his hard and solitary life, except that we feel the suffering he overcomes, in short feel pity for him.25 In a thinker whose nobility will always deserve admiration, such lack of discrimination, of justice, of humanity, is a grave error of soul, and since Nietzsche published some of these thoughts, he bears a grave responsibility for those whose deeds were influenced by them, and even for the deeds of those who found excuse or justification for such deeds as they were going to do anyway. Here, then, lies the strength of Girard’s case. (It would be juster if Girard distinguished the thoughts Nietzsche published and those he merely wrote down, which others published, and he might have either destroyed, or at least never published.) 24 The term “anti-Semite” is too pale for the hatred it covers, also inaccurate since Jews are not the only Semites. I understand the term was coined by one Wilhelm Mahr to give the old hatred a modern and scientific appeal. 25 See Erich Mende, Nietzsche und sein Gegensatz, Cuxhaven: Traude Junghans 1997, for a sharp observation of the contradictions in Nietzsche’s thinking and especially the contradiction between the hardness he lauded and the pity all his complaints, requests for wursts, hams, and Zweiback, and descriptions of his sufferings appealed for, whether he would admit it or not.

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Girard continues with this claim “Since the Second World War a whole new intellectual wave has emerged, hostile to Nazism but more nihilist than ever, more than ever a tributary of Nietzsche. It has accumulated mountains of clever but false arguments to acquit its favorite thinker of any responsibility in the National Socialist catastrophe […]” Girard goes on to hold Heidegger’s dismissal of the texts in Nietzsche which curse Christianity and its pity for the weak innocent of the world as authorizing lesser minds in France and elsewhere to ignore Nietzsche’s partial responsibility for the Holocaust. I do not know if anyone has replied to Girard. That Girard sometimes shouts his accusations suggests no one has answered him. Girard, however, also maintains that: “Nietzsche is the author of the only texts capable of clarifying the Nazi horror. If there is a spiritual essence of the movement, Nietzsche is the one who expresses it.”26 Finally, Girard observes that the deep hostility of Nazism, of Heidegger, with his wish for some other “god” to save us (from God), and the Nietzscheans in Heidegger’s wake, dominant in the Universities of the West, for whom Christians have replaced Jews as scapegoats, is evidenced in their neglect of the religious struggle in Nietzsche.27 It must be welcome then to René Girard that the Nietzsche Gesellschaft held a workshop on this important topic in September of 2006. And it would be well if Girard had been able to attend.28 26 Does “spiritual essence” in the English translation of Girard refer to something in the French that alludes to Heidegger’s famous remark about National Socialism in his Introduction to Metaphysics about the “inner truth and greatness of this movement”? 27 Here I summarize the concluding pages of Girard’s “Twofold Nietzschean Heritage”. Among those who do not neglect the religious struggle of Nietzsche, I am aware of more Germans than French scholars: e. g. Josef Pieper passim, Hans Urs von Balthasar (Apokalypse der deutschen Seele, II), Henri de Lubac (Drama of Atheist Humanism), Roman Guardini, passim, Helmut Kuhn (Encounter with Nothingness), Eugen Biser, Alistair Kee (Nietzsche Against the Crucified), and now Pope Benedict, in his encyclical, Deus Caritas Est (the first encyclical ever to address a worthy adversary of Christianity). There are also the fine collections: Jossua, Jean Pierre and Claude Geffre ed. Nietzsche and Christianity, Edinburgh 1981, and Weaver Santaniello ed. Nietzsche and the Gods, and James O’Flaherty, Studies in Nietzsche and the Judeo-Christian Tradition. 28 I have left largely to the side the important matter of whether it is fair to Nietzsche to pay so much attention to Nachlass, thus to things he never published, and never got the chance either to publish or to get rid of (as he did some things, telling his landlord in Sils Maria that last summer to throw stuff he left in a basket out, but Durisch didn’t and some of it found its way into

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V. Whither from here? The theme of this Nietzsche Congress of 2006 is the reception of Nietzsche by the French, with one section on Nietzsche’s reception of the French.29 I have striven to show what features of Nietzsche, the man, his struggles, and his thoughts, have been received by René Girard. It is obvious that some things in Nietzsche have been left out. For example, the multitude of insights and appreciations in his work, one of which can often be fruitfully pondered for a long while, in Elizabeth’s Wille-zur-Macht. Beyond that, there is the question of whether if Nietzsche did publish the Nachlass Girard fixes on, whether it would not have been quite altered. Nietzsche’s first drafts are more worthy of attention than the vast majority of other’s final drafts, but his own list drafts are far more worthy of attention than his first drafts. Having discovered our mutual interest in the matter of the late Nachlass, Bernd Magnus and I combined our efforts and he published what we found about the Nachlass of 1888, including the basket of Nachlass Nietzsche told his landlord at Sils-Maria to get rid of, but when Herr Durisch failed to and began passing it out to visitors, Elizabeth frightened him into giving the rest to her, and some of it got into Elizabeth’s Wille-zur-Macht book. Bernd first published this research in Bernd Markus, “Nietzsche’s Philosophy in 1888: The Will-to-Power and the Übermensch”, in: Journal of the History of Philosophy, Vol. 24, no. 1, pp. 79 – 99, revised it in “The Use and Abuse of The Will to Power”, in Reading Nietzsche ed. Robert C. Solomon & Kathleen M. Higgins, Oxford University Press 1988, pp. 218 – 235, and then included it (perhaps further revised) in: Bernd Magnus/Stanley Stewart/Jean-Pierre Mileur, Nietzsche’s Case, New York: Routledge 1993; see especially pp. 35 – 46 and the index under my name. 29 There is no mention of Tocqueville in the announcement of the Congress, and rightly so; though Nietzsche knew of Tocqueville (Colli/Montinari KSA XI, p. 442; Nachgelassene Fragmente April – Juni 1885 34[69]), he never confronted him. It is the most important meeting between a German and a Frenchman that never happened, for in Tocqueville Nietzsche would have met the most comprehensive appreciation of democracy by a man whose nobility and whose esteem for aristocracy, think of what Tocqueville says of Pascal, Nietzsche could not dismiss easily and might have lauded. In such a meeting Nietzsche would have had to confront Tocqueville’s argument that though democracy will only rarely be great, will never have the likes of Pascal, it can be good and it is just. From this confrontation, Nietzsche would have had to think more about his view of justice, something he more commonly launches out from, in criticizing others, than reflects on. Of course to find his way to Tocqueville Nietzsche would have had to overcome the neglect during Nietzsche’s time that Tocqueville apparently sank into in France, which neglect has in our time thankfully dissipated, especially in the thinking of Pierre Manent and Philippe Benéton.

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truth treasured for life, as I treasure Frolicsome Science No. 295 or 329; for Nietzsche was right to suggest he could say in ten sentences what everyone else says in a book – what everyone else does not say in a book.” Gçtzen-Dmmerung (Streifzüge 51) and to recommend only dipping into his thinking, taking a stroll to the next bench, on the forest way or beside the stream, before reading another of his thoughts (Morgenrçthe 454). Of such beautiful provocations to thought, Girard takes, so far as I know, no notice at all, though perhaps he assumes their worth. What needs to be most remarked among the things in Nietzsche of which Girard takes no notice, is Also Sprach Zarathustra. In Ecce Homo, the most authoritative guide there will ever be to reading him, Nietzsche calls his lyrical epic the greatest gift so far given to mankind. He didn’t say that about the works Girard focuses on, the Wagner books, the Geburt der Tragçdie, and Der Antichrist, still less any Nachlass, interesting and even as important as they are. Zarathustra does not command Girard’s attention. After all, Zarathustra does not propose marriage to the women, Life and Eternity, through another person who turns out to be a rival wooer and then wins the woman for himself; after all, Zarathustra does not begin by worshipping an older hero and then struggle to overcome him. And above all, Zarathustra does not bring intoxicating havoc to a city or community who then collectively murder him. Nevertheless, precisely because of these features of Zarathustra are so different from the rest of Nietzsche, or from the part of Nietzsche Girard pays attention to, Girard should have paid attention to the work. Wagner, Dionysus, Christ, these are great figures in Nietzsche and for him, but so is Zarathustra. And Zarathustra differs from the last two by not mixing or connecting violence and the sacred. This was deliberate and knowing on Nietzsche’s part. The opening of Zarathustra shows that had Zarathustra remained in the City of the Motley Cow, he would have been lynched. Only the spectacle of the Seiltänzer (Rope Dancer) falling to his death distracts the crowd. For giving his speech on the Übermensch (Surpassing Man), once they understood it, the crowd would have persecuted Zarathustra, at least exiled him. And still more would they have persecuted him, unto death, for any speech on the “Death of God” which Zarathustra does not whisper even to the Old Hermit he meets on the way down from his mountain solitude. In the whole of the poem Zarathustra never returns to the City of the Motley Cow and even remarks that Christ died too young. Moreover, although some Nachlass show that Nietzsche considered end-

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ing Zarathustra with his death,30 he chose against that. And none of the rejected scenes Nietzsche considered would have portrayed Zarathustra’s death as a murder, either individual or collective, by the Higher Men. Whatever religion Zarathustra is introducing the Higher Men to does not originate in sacred violence. Instead, what we do have is Zarathustra’s preparation for death, not only in what he recommends as a free death loyal to the earth, but in the high point, at the end of Zarathustra III, when Zarathustra declares his love of eternity, which is, ipso facto, a preparation for death.31 In such a preparation, Zarathustra is “blessing not clinging to life” as Nietzsche said one should, and Odysseus did Nausikaa. And Part IV of Zarathustra shows the beneficence of Zarathustra, toward the various Higher Men, who may later reflect that beneficence upon others. From early on in his thinking and writing life, Nietzsche was concerned with, drenched with the blood of, the Bachee, with its story of how the intoxicating Dionysus destroys a community and himself, but joyously. It, and not the Oedipus dearest to Aristotle, and not the Antigone dearest to Hegel, is Nietzsche’s paradigm of tragedy. And the Bachee is a pattern for the last six books Nietzsche wrote in his last lucid year, with its furious curse on Christianity and the author’s subsequent destruction in madness. Zarathustra, however, is the opposite. It is a refraining from such violent sacredness. It is revealing that Dionysus is never mentioned in Zarathustra. Girard should confront the contradiction, Dionysus versus Zarathustra, and what it means for Nietzsche, for his thought and for his life. There is another feature of Nietzsche’s thought that Girard does not “receive”. Socrates. Nietzsche’s struggle with Socrates was life-long. In the beginning of Nietzsche’s writing life, Socrates is there in Die Geburt der Tragçdie, as the rationalist enervator of the tragic Greeks. And Socrates is there at the end of Nietzsche’s waking life. In deed, the twelve numbered remarks on “Das Problem des Sokrates” and the surrounding remarks on Plato in Gçtzen-Dmmerung constitute the longest confrontation with Socrates in Nietzsche’s work. They lead to the conclusion, though a silent one, that Socrates committed judicial suicide. “Not Athens, but he himself chose the hemlock,” writes Nietzsche (Gçtzen-Dmmerung, II, 12). To be sure, Nietzsche is also saying that Socrates was 30 For example, KSA Nachlass Sommer 1883 10[45]; 11[2] and 13[2]. 31 For more, see Michael Platt, “What Does Zarathustra Whisper in Life’s Ear?”, in: Nietzsche Studien, Band XVII, Berlin and New York: Walter de Gruyter 1988, pp. 179 – 194.

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guilty, of seducing the vital and instinctual Greeks to the agon of reasoning (dialectics), and that he knew he was guilty, certainly guilty of not loving life ( “a cock for Asclepius”), but still Nietzsche’s admiration for the equanimity of Socrates before death comes through as well. It is hard to understand why this scene of judicial murder by the community does not attract Girard’s attention. Nietzsche attended to it, but Girard does not. Girard’s inattention to Socrates in Nietzsche’s work fits with his shunning of Socrates in his own work; so far in what I’ve read, in the works translated into English, I have found only one mention of Socrates’ death, a passing, almost perfunctory one.32 According to Girard it is the Gospel story of Christ’s death that taught our Western ancestors to side with the innocent victim, not the society regaining its confidence by scapegoating the innocent. But surely the death of Socrates taught the same, and even to the Athenians, who are reported to have regretted their vote to hemlock Socrates, and surely most readers of Plato’s account since have hated the injustice of it and thrilled to the virtue of Socrates,33 even Nietzsche however ambivalently. As later instances of the pattern and teaching of Christ, Girard does mention Joan of Arc, the Jewish doctor of Elizabeth I, and Dreyfus, but not Socrates before Christ. And Nietzsche’s account of Socrates facing death in Gçtzen-Dmmerung should remind us of the similar confrontation with death of Jesus in Der Antichrist, written at virtually the same time, in which Christ is lauded in his death, and whatever resentiment surrounds or issues from the Cross is said to have arisen immediately from the failure of the disciples to understand the nobility of that humiliating death (and later Paul’s willful further traducement of it). Again, this is something that Girard slights, and despite the fact that it is an even more important “contradiction” in Nietzsche’s thoughts than his love and hate of Parsifal. Here in Der Antichrist in its portrait of Christ, there is not only no Wille-zur-Macht, but neither the low resentiment, slavish morality and pity Nietzsche abhorred, nor the justification of collective sacrificial violence Nietzsche lauded in published passages and described in that Nachlass (which got published as No. 1052 in Wille-zur-Macht), which Girard has emphasized. Not that Girard should not have emphasized this passage, but that having done so, he should have taken note of 32 Violence and the Sacred, Johns Hopkins 1977, p. 295. 33 Not however, Thomas West, Plato’s Apology of Socrates, Cornell U. P. 1979.

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what so massively contradicts it in Der Antichrist. In finding contradictions, Girard has his favorites.34 However, in the end and in summary, one should express gratitude to Girard. For pointing to so much that is rich and important in Nietzsche, Girard deserves our since and abundant thanks. Few among any nation have received so much from Nietzsche. And let us remember that among the French much has been received, not only by those mentioned in the announcement of this Nietzsche Congress, but by Malraux, Gide, and Marcel, by De Lubac, Mounier, and Camus, and also by the DeGaulle who attributed the German defeat in W.W.I to its Nietzschean generals.35 If this congress were devoted to the English-speaking reception of Nietzsche, would be much more be remarked as having been “received”? After all, a translation of the Colli/Montinari faithful ordering of Nietzsche’s Nachlass has been available to French readers for decades, some parts even before the Colli/ Montinari edition itself! Meanwhile the English-speaking world still awaits such faithfulness and accordingly English-speaking Nietzschean continue to mingle the beautifully composed books Nietzsche published with the Nachlass he never, after his breakdown, had the opportunity to order or throw away. Thus the poster for a Congress on the English and American Reception of Nietzsche might show mild-mannered, if terrifyingly-mustachioed, Nietzsche sitting on a crowded beach, at first hard to make out, à la Breughel, in the midst of so much motley demotic mayhem, – think of Coney Island – and Nietzsche refusing with incipient nausea and yet politeness to sip the only drink offered, the sugar water called “Coke”. How unlike the poster for this Congress, showing Nietzsche made convalescing in France, there “received” by a French maiden who has already been reading him, and thus would Nietzsche be made healthy, healthy enough to set aside his distaste for everything alcoholic and thus enjoying a glass of wine, Bordeaux perhaps, in the shade of a great-rooted tree, one of the walnuts of Altenburg perhaps. 34 As to who, before himself, made the discoveries he trumpets, Girard would surely name Christ, and after Him to some of the great poets, Dostojevsky and Shakespeare especially, and of course to Nietzsche. And since the distinction between all pagan sacrifice and Christ’s crucifixion is stressed by Nietzsche, one wonders if Girard learned it from […] Nietzsche. 35 In his Discord Chez Les Enemis (Discord Among Our Enemies: (trans as Our Enemy’s House Divided by Robert Eden, University of North Carolina Press 2002).

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And then, in such a conversation with Nietzsche, in such a happy landscape, perhaps we might take up the philosophic questions, now enhanced, that I sketched at the beginning of this report on René Girard versus struggling Nietzsche: Why do we do what we do? Why do we desire what we do? And how do we become who we are? Why as we grow up do we imitate, then emulate, but finally perhaps slay the person we admire most, all to become who we are? If we were solitary, with no one to imitate, would we have no desires? Are none of our desires natural? Is life with others nothing but rivalry? Is nothing we desire shareable? Are we truly friendless? Who, then, are we? What is it about us humans that our cities, countries, civilizations, and religions seem always to begin (as Machiavelli imprudently emphasized) with a violent deed – think of Romulus killing Remus, Cain killing Abel – and why is it that we, collective we, seem so ready to persecute the best of us, Christ for example, but also Socrates? We think of them as the founders of our civilization, the West, but if they reappeared on earth, would the one not be crucified again, and the other hemlocked? What would they think of what they founded? And why was it just in our time, after you Nietzsche, that a movement arose filled with hatred of the weak and scorn for pity and also that just in our time it met with a people willing to go so gently to slaughter? 36 What is the deepest representation of our strange and wonderful condition? Is it tragedy, Christianity, or philosophy? Is it perhaps the Bachee, in which the intoxicating god of tragedy, Dionysus, drives mad the city, especially its women, and then the madding city tears Dionysus apart, but he affirms suffering life joyously. Or is it the Gospel representation of the Crucifixion, in which Christ accepts suffering so as to teach us to pity the innocent victim, not the mighty crowd, but also refuses to rule? Or is it philosophy, the philosophy of Socrates, who recognizes sharable goods, such as truth, enjoys friendship, and prefers to suffer evil than do it, but is, nonetheless, loyal to the city hemlocking him, and if he were asked, willing to rule the city, which would be the nearest thing to establishing justice on earth?

36 As Hannah Arendt famously asked in her Eichmann in Jerusalem, München: Piper 1964.

Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“1 Isabelle Wienand Einleitung Der französische Philosoph Michel Onfray ist Autor, Essayist und Dozent der Philosophie an der von ihm gegründeten Volkshochschule in Caen. In der Öffentlichkeit gilt er als Störenfried der akademischen Philosophie und als unzeitgemäßer Kritiker der jüdisch-christlichen Prinzipien, die sich seiner Auffassung nach in den säkularisierten Gesellschaften verhängnisvoll auswirken.2 Der Kulturmediziner Onfray interpretiert die scheinheiligen Grundlagen und Praktiken von konfessionsneutralen Institutionen wie dem Recht, der Bioethik oder den Wissenschaften als verkappte Symptome einer grassierenden religiösen Krankheit.3 Onfray befürwortet einen „authentique athisme athe“ (TA, S. 93), das heißt eine Geisteshaltung, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die christliche „Ideologie“ kritisiert und überwindet. Der post-moderne Atheismus, den Onfray als Ersatz für die ausklingende, jedoch tonangebende christliche Musik vorsieht, will „la Philosophie, la Raison, l’Utilité, le Pragmatisme, l’Hédonisme individuel et social“ (TA, S. 93) als Mittel gebrauchen, um eine immanente Moral zu begründen, die ausschließlich von und für Menschen konzipiert ist. In diesem materialistisch-positivistischen Manifest, dem Trait d’Athologie, worauf dieser Beitrag sich im Besonderen bezieht, kommt Nietzsche ein privilegierter Stellenwert zu. Sowohl der Inhalt als auch die Vorgehensweise und der Stil von Onfrays philosophischem Programm erinnern an das Denken Friedrich Nietzsches. Michel Onfray definiert sich selbst als Linksnietzscheaner auf Deleuzes und Foucaults Spuren und 1 2 3

Jean-Claude Wolf und Simone Zurbuchen bin ich sehr dankbar für ihre Kommentare und ihre sprachlichen Korrekturen. Vgl. Michel Onfray, Trait d’Athologie. Physique de la mtaphysique (= TA), (2005), Paris: LGF 2006, S. 76 – 86. Vgl. TA, S. 76: „L’époque dans laquelle nous vivons n’est donc pas athée. Elle ne paraît pas encore post-chrétienne non plus, ou si peu. En revanche, elle demeure chrétienne, et beaucoup plus qu’il n’y paraît.“

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stellt sich die Aufgabe, Nietzsches philosophisches Vermächtnis, insbesondere seine Religionskritik, weiterzuentwickeln.4 Die erste Frage, der ich im Rahmen der Tagung zu Nietzsche und Frankreich nachgehen möchte, betrifft Onfrays Angriff auf den Gottesbegriff und seine Religions- bzw. Christentumskritik, wie sie in seinem 2005 erschienenen Trait d’Athologie dargestellt wird: Inwiefern ist sie auf Nietzsche zurückzuführen? In diesem Aufsatz wird die These ausgeführt, daß Onfrays Gotteskritik und Atheismus, die angeblich auf den Texten Nietzsches beruhen sollen, tatsächlich dem Autor Onfray bzw. dessen eigenartigem Umgang mit Nietzsches Texten und der Nietzsche-Literatur zuzuschreiben sind. Zu diesem Zweck wird Onfrays Interpretation einiger sprachlicher, stilistischer, methodologischer und inhaltlicher Eigenschaften der Philosophie Nietzsches anhand von Schlüsselwörtern und -formeln wie „klassisch“, „Gott“, „Gott ist tot“ und „Atheismus“ kritisch analysiert. Die zweite Frage richtet sich auf ein Merkmal von Nietzsches Philosophie, das Onfray bewußt oder unbewußt imitiert: den streitschriftartigen und effektorientierten Charakter seiner Lektüre von Philosophen wie dem englischen Utilitaristen Mill. Onfray scheint indirekt und unreflektiert zu bestätigen, daß vehemente und plakative Behauptungen eher die Unloyalität eines Autors seinem Gegner gegenüber als eine relevante Kritik widerspiegeln. Nietzsches polemische Nachlaßwerk Der Antichrist wird besonders veranschaulichen, daß Onfray jedoch das eigentliche Ziel Nietzsches Kritik übersieht. Zum Schluß wird die Frage gestellt, ob der Mangel an Kenntnissen, an hermeneutischer Geduld und an wissenschaftlicher Redlichkeit, den man dem französischen Atheologen in seiner Religionskritik vorgeworfen hat,5 auch für seine Interpretation Nietzsches zutrifft.

4 5

Vgl. TA, S. 65 – 67. Vgl. Matthieu Baumier, L’Anti-Trait d’athologie. Le Systme Onfray mis  nu, Paris: Presses de la Renaissance 2005; Irène Fernandez, Dieu Avec esprit. Rponse  Michel Onfray, Paris: Philippe Rey 2005; René Rémond, Le Nouvel antichristianisme, Paris: Desclée de Brouwer 2005 sowie die Buchbesprechung von Yves Ledure in: Esprit et vie 128 (2005), S. 26 – 27.

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I Nietzsches Allgegenwärtigkeit in Onfrays Denken ist ein Faktum. Es gibt kaum ein Werk Onfrays, in dem Nietzsche nicht zitiert oder paraphrasiert wird.6 Die semantische Vieldeutigkeit der Sprache wird jedoch weder erwähnt noch eruiert. Im ersten Band seines Journal hdoniste, Le Dsir d’Þtre un volcan beschreibt Onfray Nietzsches aphoristische Schreibweise als Inbegriff des freien Geistes, wenn er feststellt: „ Apophtegmes, aphorismes, poèmes, dithyrambes, dissertations, fusées, libelles, pamphlets, Nietzsche a tout utilisé pour désinfecter la forme classique.“ (S.12) Er nimmt auch Nietzsches genealogische Methode wieder auf. In seinem a-theologischen Essay benutzt er sie zur Aufdeckung der „épistémè judéo-chrétienne“ (TA S.76; S. 94 – 98), indem er behauptet, Nietzsches Atheismus liege dem Projekt der Atheologie zugrunde.7 Auch wenn diese lexikalischen, stilistischen, methodologischen und thematischen Verwandtschaften zwischen Jünger und Mentor eindeutig verbürgen, daß Onfray kein Thomist oder Kantianer ist, bestehen doch grundsätzliche Zweifel, ob er nicht in vielen Hinsichten nur in einem chronologischen Sinne „Post-Nietzscheaner“ ist. (Vgl. TA, S.66) Ich möchte die in der Einleitung vier erwähnten Merkmale der Familienzugehörigkeit zwischen Onfray und Nietzsche kritisch prüfen.

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Vgl. Physiologie de Georges Palante. Pour un nietzschisme de gauche (1989), Paris: Grasset 2002; Le Ventre des philosophes. Critique de la raison dittique (1989), Paris:Le Livre de Poche 1990; Journal Hdoniste, 5 vol., Paris: Grasset 1996; L’Art de Jouir (1991), Paris: Le Livre de Poche 1996; La Sculpture de soi. La morale esthtique (1991), Paris: Le Livre de Poche 1996; Politique du Rebelle. Trait de rsistance et d’insoumission (1997), Paris: Le Livre de Poche 1999; Trait d’Athologie. Physique de la mtaphysique (2005), Paris: Le Livre de Poche 2006. „Avec lui [Nietzsche, IW], la pensée idéaliste, spiritualiste, judéo-chrétienne, dualiste, autant dire la pensée dominante, peut enfin se faire du souci: son monisme dionysiaque, sa logique des forces, sa méthode généalogique, son éthique athée permettent d’envisager une sortie du christianisme. Pour la première fois, une pensée post-chrétienne radicale et élaborée apparaît dans le paysage occidental.“ (AT, S. 64)

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1) Nietzsches Sprachgebrauch Nietzsches Sprache mag im Vergleich zu den hegelianischen oder heideggerianischen Fachidiomen auf den ersten Blick lebensnaher und zugänglicher erscheinen. Der Anschein ist jedoch täuschend und „verräterisch“, denn die verschiedenen Bedeutungen, Konnotationen und Anspielungen der Wörter, Ausdrücke und Begriffe in Nietzsches Werk sind undurchdringlich.8 Exemplarisch für diese Vieldeutigkeit ist das Wort „klassisch“, das im folgenden Absatz näher betrachtet wird. Zuvor möchte ich das Wort „Gott“ als Beispiel anführen, um Onfrays sprachliche Feinfühligkeit zu diskutieren. Onfrays Interpretation verpaßt oder verschweigt, daß „Gott“ in Nietzsches Werk vielgestaltig ist und deshalb nicht systematisch und symptomatisch auf eine nihilistische Diesseitsverneinung zurückgeführt werden kann.9 „Gott“ ist nämlich nicht immer gleichbedeutend mit dem christlichen Gottesbegriff 10 ; „Gott“ wird der christlichen Moral und Theologie entgegengesetzt11; „Gott“, „Götter“ „Gottheit“ und „göttlich“ sind nicht gleichwertig (vgl. NL 5[50], KSA 7.105; Z III, KSA 4.230; AC 33, KSA 6.205 – 206), „religiöser Instinkt“, bzw. „gottbildend“ haben nicht immer eine negative Konnotation12 ; so bezeichnete Nietzsche z. B. Dionysos als „Gott“ (vgl. GT, „Versuch einer Selbstkritik“ 5, KSA 1.19; FW 381, KSA 3.635; JGB 295, KSA 5.237 – 239). Das semantische Feld von „Gott“ ist in Nietzsches Werk (über 3500 Belege) so variiert, ausgedehnt und interpretationsbedürftig, daß es wissenschaftlich zweideutig erscheint, dezidiert zu behaupten, daß „Gott“ eindeutig „l’oubli du réel, 8 Vgl. Paul van Tongeren et al. (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Berlin/NewYork: Walter de Gruyter 2004, Bd. 1, S. VII-X. 9 „,Gott’ als Culminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Werth-Hçhepunkt sondern nur Macht-Höhepunkte“ (NL 9[8], KSA 12.343). 10 „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung: – er zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wieder sehn, jenseits von gut und Böse.“ (NL 3[1], KSA 10.105). Vgl. NL 39[13], KSA 11.624; AC 18, 25, 47, KSA 6. 11 „Gott erstickte an der Theologie; und die Moral an der Moralität.“ (NL 3[1] 7, KSA 10, S. 54) Vgl. FW 357, KSA 3, S. 600. 12 „– Und wie viele neue Götter sind noch möglich!… Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart!…“ (NL 17[4], KSA 13, S. 525 – 526)

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donc la coupable négligence du seul monde qui soit“ (TA, S. 23) bedeute. 2) Nietzsches Stil Onfray hat zweifelsohne Recht, die stilistische Spannweite Nietzsches hervorzuheben. Weniger überzeugend ist seine Erklärung dafür: „Nietzsche a tout utilisé pour désinfecter la forme classique.“ Zum einen fehlt es Onfrays Aussage an Genauigkeit. Ist „klassisch“ historisch, ästhetisch, kunstgeschichtlich, philosophisch zu verstehen? 13 Der Gebrauch des Begriffs „klassisch“ ist in Nietzsches Schaffen so zentral und vieldeutig, daß er sich schwerlich auf Onfrays „Desinfektion“ reduzieren läßt. Es handelt sich vielmehr um einen kontinuierlichen Versuch, „klassisch“ in der modernen Kultur zu verstehen bzw. neu zu definieren (vgl. NL 5[138], KSA 8, S. 75; 7[6], KSA 8, S. 123 – 125 und JGB 223, KSA 5, S. 157). Man denke zum Beispiel an Nietzsches Kritik am Romantischen,14 am falschen klassischen Stil von David Friedrich Strauss (vgl. UB III 10, KSA 1, S. 220) oder auch an seine Hochschätzung des klassisch-römischen Stils.15 Zum anderen gilt Onfrays Behauptung nicht für alle Werke Nietzsches. In seinem „Versuch einer Selbstkritik“ (1886) schreibt dieser rückblickend über Die Geburt der Tragçdie (1872): „Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, mißtrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens […]“ (KSA 1, S. 14).

13 Vgl. H. Siemens Artikel „klassisch/classisch“ in: Nietzsche-Wçrterbuch (Anm. 8), Bd. 3 (noch nicht erschienen). 14 „Classisch und romantisch. – Sowohl die classisch als auch die romantisch gesinnten Geister – wie es diese beiden Gattungen immer giebt – tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer Strke ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren Schwche.“ (WS 217, KSA 2, S. 652) 15 „Man lernt nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um ,klassisch’ zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne die Römer gelernt!“ (GD „Was ich den Alten verdanke“ 2, KSA 6, S. 155)

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3) Nietzsches Gotteskritik Die Wege, die Nietzsche beschreitet, um das Thema vom Tod Gottes darzustellen, sind vieldeutiger als bei anderen Religionskritikern des 19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel bei Ludwig Feuerbach. Die große Zahl von philosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Untersuchungen zum Thema, die über mehr als ein Jahrhundert erschienen sind, bestätigt, daß der Tod Gottes bei Nietzsche nicht einfach einer Evidenz oder einem vergangenen Ereignis gleichkommt.16 Zwar stimmt Nietzsche mit den Philosophen der Aufklärung und den Linkhegelianern überein, daß „die Menschen Gott geschaffen haben“; er hinterfragt jedoch die Vorstellung der Aufklärer, daß der gottlose Mensch freier, toleranter, rationaler und menschenfreundlicher sei.17 Denn zum einen heiße gottlos sein auf die mit dem Tod Gottes hinfällig gewordenen höchsten Werte zu verzichten. Daß „wir noch an die Grammatik glauben“18 zeigt, daß eine noch so gründliche Verneinung der platonisch-christlichen Metaphysik „immer noch ein metaphysischer Glaube ist“ (FW 344, KSA 3, S. 577). Zum anderen ist der Tod Gottes mehr ein Verlust als ein Gewinn, wenn man seine eigenen Gottesvorstellungen bzw. Lebensbedingungen nicht geprüft und ihnen entsagt hat.19 Gott loszuwerden ist ohne Selbstprüfung und Selbstüberwindung undenkbar und unrealisierbar. Seien es die Szene mit dem tollen Menschen (FW 125, KSA 3, S. 480 – 482) oder die Figuren der höheren Menschen im Zarathustra, sie alle zeigen, daß die Bedeutung vom Tod Gottes nur oberflächlich erkannt wird, letztlich aber un- oder mißverstanden bleibt. Die „Gottlosen“ in Die frçhliche Wissenschaft (125) kümmern sich zwar nicht mehr um Gott, richten ihr Leben aber den16 Eine ausführliche Bibliographie würde die Seitenzahl dieses Beitrages vervielfachen. Unter den wichtigsten Studien zum Thema Gottes Tod in Nietzsches Denken gehören die Kommentare von Eugen Biser, Eric Blondel, Johann Figl, Didier Franck, Martin Heidegger, Dieter Henke, Karl Jaspers, Martin Pernet, Peter Köster, Jörg Salaquarda, Paul Valadier und Bernhard Welte. 17 “ Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen – ist dies ein Grund, sich nicht mehr um ihn zu kümmern?“ (NL 12[202], KSA 9, S. 611) Vgl. auch NL 15[4], KSA 9, S. 635; FW „Scherz, List und Rache“ 38, KSA 3, S. 361. 18 „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“ (GD, KSA 6, S. 78) 19 „Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg ber uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.“ (NL 12[9], KSA 9, S. 577)

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noch nach christlich geprägten moralischen Werten aus. Gott verkörpert diese nihilistische Übergangssituation, in der sich der Mensch von dem „unglaubwürdigen“ Gott (FW 343, KSA 3, S. 573) entfernt hat, ohne jedoch seine Existenz nach neuen Werten einrichten zu können. Onfray mißdeutet Nietzsche, weil er den Nihilismus ausschließlich als eine Übergangsphase zwischen dem alten kindlichen Gottesglauben und der neuen reiferen Gottlosigkeit bzw. dem Atheismus versteht. Er läßt Nietzsches Frage, ob der Mensch ohne „Kinder-Spielzeug“ und „Kinder-Schmerz“ ( JGB 57, KSA 5, S. 75) überhaupt leben könne, völlig außer Acht. Daß Nietzsches Rede vom Tod Gottes nicht eindeutig ist, scheint Onfray kaum zu interessieren. Der Tod Gottes wird in Nietzsches Werk mehrdeutig verwendet: als ein historisches Ereignis (vgl. FW 343, KSA 3, S. 573), eine ethische Aufgabe (vgl. FW 124, 283, 285, 343, KSA 3), eine philosophische Frage,20 als psychologischer Ausdruck des Selbsthasses21 oder der Selbstüberwindung (vgl. FW 285, KSA 3, S. 527 – 528; Z I, KSA 4, S. 35 – 36). Es wirkt daher umso befremdlicher, wenn Onfray Nietzsches Interpretation so zusammenfaßt: „Car Dieu n’est ni mort ni mourant – contrairement à ce que pensent Nietzsche et Heine. Ni mort ni mourant parce que non mortel.“ (TA, S. 40) Dabei verschweigt Onfray, daß die Werke der sogenannten mittleren Periode immer wieder hervorheben, daß Gott in seinen verschiedensten Ausdrucksformen weder ein Irrtum der Vernunft noch ein sterbendes Überbleibsel obskurer Zeiten ist, sondern als eine lebensnötige Illusion fungiert.22 Man sucht vergebens nach einem Textbezug, der Onfrays Behauptung stützen könnte. Onfrays Analyse von Nietzsches Gotteskritik fehlt es an Genauigkeit und Originalität. In seiner Abhandlung geht verloren, daß sich Nietzsche dem Tod Gottes in seinen vielfältigen Interpretationen auf verschiedenen Wegen nähert. Es wäre der Relevanz seines atheologischen Programms dienlicher, wenn Nietzsche nicht der Ausgangspunkt seines postmodernen Atheismus wäre.

20 „Nachzudenken: In wiefern immer noch der verhängnißvolle Glaube an die gçttliche Providenz […] fortbesteht“ (NL 10[7], KSA 12, S. 457). 21 Vgl. die Figur des häßlichsten Menschen in Z IV, KSA 4, S. 327 – 332. 22 Vgl. MAM I 110, 226; VM 225, KSA 2; M 204; FW 347, KSA 3; AsZ IV, KSA 4, S. 391: „Tod ist bei Göttern nur ein Vorurtheil.“

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4) Nietzsches Atheismus Onfray vermittelt den Eindruck, es habe kaum einen Denker vor ihm gegeben, der Nietzsches Gedanken zum Atheismus interpretiert hätte. Abgesehen von einem nicht weiter erläuterten Zitat von Deleuze („l’athéisme tranquille“, TA, S. 90), hält es Onfray für unnötig, seine Interpretation von Nietzsches Atheismusverständnis im Vergleich z. B. zu derjenigen von Bataille oder Camus zu unterscheiden bzw. rechtfertigen. Auf die Forschung zu Nietzsches Atheismus geht er nicht ein.23 Keine Primärtexte werden angeführt, um dem Leser zu erklären, inwiefern die Atheologie eine Weiterentwicklung des Atheismus von Nietzsche ist. Statt einer Darstellung von Nietzsches Atheismus offeriert uns Onfray ein inspiriertes Selbstbekenntnis: „Etre nietzschéen, c’est proposer d’autres hypothèses, nouvelles, post-nietzschéennes, mais en intégrant son combat sur les cimes. Les formes du nihilisme contemporain appellent plus que jamais une transvaluation qui dépasse enfin les solutions et les hypothèses religieuses ou laïques issues des monothéismes. Zarathoustra doit reprendre du service: l’athéisme seul rend possible la sortie du nihilisme.“ (TA, S. 66) Onfrays kuriose Lektüre von Nietzsches Denken läßt sich im Falle seines Atheismusverständnisses besonders gut erklären. Denn weder die Argumente für und gegen den Atheismus, die Nietzsche diskutiert (vgl. GM III 27, KSA 5, S. 409), noch die Bedeutung des Atheismus innerhalb seines philosophischen Systems24 scheinen für Onfray von Belang zu sein. Daß Onfray keine Rücksicht weder auf die anti-hedonistische Einstellung von Nietzsches Atheismus,25 noch auf den grö23 Siehe Anm. 16. 24 „Etre nietzschéen – ce qui ne veut pas dire être Nietzsche comme le croient les imbéciles… – exclut de reprendre à son compte les thèses majeures du philosophe au serpent: le ressentiment, l’éternel retour, le surhomme, la volonté de puissance, la physiologie de l’art et autres grands moments du système philosophique. Nul besoin – quel intérêt? – de se prendre pour lui, de se croire Nietzsche, et de devoir endosser, puis assumer toute sa pensée. Seuls les esprits courts imaginent cela …“ (TA, S. 64 – 65) 25 Vgl. NL 31[26], KSA 11, S. 366: „wenn ihr das Gesetz von Lust und Unlust über euch fühlt und kein hçheres: nun, wohlan, so wählt euch die angenehmsten und nicht die wahrscheinlichsten Meinungen: wozu bei euch Atheismus!“; NL 31[29], KSA 11, S. 367: „– wir stellen uns gefährlicher hin und geben uns vielmehr dem Schmerze, dem Gefühl der Entbehrung hin: unser Atheismus ist ein Suchen nach Unglück, wofür die gemeine Art Mensch gar kein Verständniß im Leibe hat.“

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ßeren Zusammenhang von Nietzsches Atheismus nimmt, mag wohl auf seine Grundinterpretation von Nietzsche zurückgeführt werden: Onfray liest Nietzsche als Anti-Systematiker. Der Leser darf sich wohl fragen, was es heißen soll, Nietzsches „Kampf“ weiterzuführen, wenn die inhaltlichen Zusammenhänge seiner Philosophie derart vereinfacht oder verkannt werden. Onfray vermittelt den Eindruck, die These, der Atheismus allein erlaube den Ausgang aus dem Nihilismus, sei im Grunde auf Nietzsche zurückzuführen (vgl. TA, S. 66 – 68). Viele Texte widersprechen dieser Behauptung. Auf die nihilistische Haltung der Atheisten im Text 125 in Die frçhliche Wissenschaft ist schon hingewiesen worden. Diese inkonsequenten Gottlosen zeigen indirekt, daß der Atheismus keine theoretische Bedingung, sondern „die Folge einer Erhöhung des Menschen ist“, wie es der folgende Entwurf aus dem Nachlaß vom Herbst 1885 zum Ausdruck bringt: „Der Atheismus ist die Folge einer Erhçhung des Menschen: im Grunde ist er schamhafter, tiefer und vor der Fülle des Ganzen bescheidener geworden; er hat seine Rangordnung besser begriffen.“ (NL 39[14], KSA 11, S. 625) Angesichts der Beispiele, die Onfrays idiosynkratische Interpretation von Nietzsches Philosophie veranschaulichen, kann man sich wohl fragen, ob seine Rezeption von Nietzsches Gotteskritik nicht anachronistisch ist. Chronologisch gesehen ist Onfray wie wir zweifellos ein Post-Nietzscheaner. Inhaltlich scheint Onfrays Interpretation jedoch bei der positivistischen Gotteskritik vor Nietzsche stehen geblieben zu sein. Meines Erachtens gibt es allerdings ein erwähnenswertes Element, das sowohl bei Nietzsche als auch bei Onfray zu finden ist: nämlich die streitbare, effektorientierte Dimension der Kritik.

II Daß Onfray sich nicht an die Regel der philologischen und philosophischen Genauigkeit hält, charakterisiert seine leidenschaftliche Interpretation. Man muß zu seinen Gunsten jedoch einräumen, daß auch der Philologe Nietzsche diese Regel nicht immer einhält. Zum Beispiel gleichen seine vehementen Urteile über Mill26 mehr einem parteiischen und spöttischen Porträt als einer geduldigen und ausführlichen Auseinandersetzung mit Mills Texten und Argumentation. Besonders vi26 Vgl. Jean-Claude Wolf, Zarathustras Schatten. Studien zu Nietzsche, Fribourg: Academic Press Fribourg 2004, S. 193 – 195.

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rulent, polemisch und plakativ wirkt Der Antichrist. Fluch auf das Christentum auf den heutigen Leser. Damit wird nicht behauptet, daß die Philosophie Nietzsches nur die effektvolle Wirkung, die Provokation und die geistreiche Originalität anstreben würde, sondern es wird daran erinnert, daß das literarische Genre der Streitschrift ein Bestandteil seiner Schaffensproduktion ist. Von der Rhetorik her klingt Onfrays Trait d’Athologie wie ein Echo des Pamphlets Der Antichrist. Onfray ist jedoch entgangen, daß Der Antichrist vor allem lauter Interpretationsfragen aufstellt: Warum wird auf die biblische Figur des Antichristen in diesem Fluch auf das Christentum angedeutet? Welches Christentum wird in dieser Schrift bloßgelegt (vgl. AC, 32 – 46, KSA 6)? Sind Antichrist und Atheist gleichbedeutend (vgl. AC 47, KSA 6, S. 225)? Diese Unterscheidungen fehlen in Onfrays Diatribe. Was von seiner Lektüre Nietzsches übrig bleibt, ist ein pauschaler und in dieser Pauschalität leerer Angriff auf „das religiöse Wesen“. Ein Grund für Onfrays Scheitern besteht darin, daß er die Zielscheibe seiner Kritik nicht klar identifiziert. Daher wirkt seine polemische Empörung unbegründet, wie zum Beispiel seine Behauptung, das Erbe der Atheisten sei nur aufgrund der Dominanz der christlichen Ideologie in Vergessenheit geraten. (TA, S. 60 – 62) Es ist erstens zu bezweifeln, ob heutzutage Autoren wie der Abbé Meslier, La Mettrie, d’Holbach oder Feuerbach weniger als andere Denker herausgegeben und studiert werden.27 Zweitens trägt Onfrays vereinfachte Darstellung des Atheismus gerade nicht dazu bei, La Mettrie oder d’Holbach lesen zu wollen.28 Drittens wird es wohl auch andere Gründe (wissenschaftliche, finanzielle) als allein das christliche Monopol geben, warum es angeblich keine Historiographie des Atheismus gibt (TA, S. 52 – 54). Auch in diesem Punkt versteigt sich Onfray zu angreifbaren Behauptungen.29 27 Vgl. TA, S. 63: „Malgré cet immense chantier philosophique, Feuerbach demeure un grand oublié de l’histoire de la philosophie dominante.“ Diese Behauptung ist mehr der Ausdruck von Onfray Verschwörungstheorie als ein sachdienlicher Bericht über den Inhalt des Philosophieprogramms an den französischen Gymnasien, über die internationale Feuerbach-Forschung und die Neuedition von Feuerbachs Werken, die Berliner Akademie der Wissenschaften herausgibt. 28 Vgl. Michaël Fœssel, „L’athéisme dérisoire de Michel Onfray“ in: Esprit 314 (2005), S. 75 – 86. 29 Vgl. Michael J. Buckley, At the Origins of Modern Atheism, New Haven: Yale University Press 1987; Hermann Ley, Geschichte der Aufklrung und des Atheismus, 9 Bde, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966 – 1989; Georges Minois, Histoire de l’athisme. Les incroyants dans le monde occidental des origines 

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Schluß Der deutsche Titel von Onfrays Abhandlung lautet: Wir brauchen keinen Gott. – Warum man jetzt Atheist sein muß. 30 Die deutsche Übersetzung entspricht dem Inhalt des Buches besser als der Originaltitel. Statt eine theoretische Grundlegung des Atheismus und eine begründete Darstellung seines „post-modernen Atheismus“ zu liefern, führt Onfray einen persönlichen Kreuzzug gegen die Allgegenwärtigkeit Gottes und präsentiert ein kurzatmiges Plädoyer für eine hedonistische Lebensphilosophie. Sein Ziel, den nihilistisch gesinnten Monotheisten zu einem lebensbejahenden Atheismus zu bekehren, erreicht er mit seinem Buch Trait d’Athologie nicht. Ein Grund dafür ist, daß Onfray auf die eigentliche Bedeutung der Rückkehr zum Wirklichen („regarder le réel en face“), zu „der Erde“ nie in seinem Essay näher eingeht (TA, S. 23). Daß der Übergang zum Post-Atheismus unklar ist, liegt wohl daran, daß Onfray auf keine Überwindung, sondern auf eine dogmatische Vernichtung der „Hinterwelten“ zielt. Daher hängt seine neue Moral, die er am Anfang seines Buches vorstellt, in der Luft. Und seine Lektüre Nietzsches schwebt über den Wolken.

nos jours, Paris: Fayard 1998; Winfried Schröder, Ursprnge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysikkritik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1998. 30 Aus dem Französischen von Bertold Galli, München: Piper 2006.

C. Interpretationen

L’Éternel Retour et le fantôme de la différence Catherine Malabou Sous le titre «L’éternel retour et le fantôme de la différence», j’entends mettre en lumière ce que je présenterai comme le coup de force interprétatif qui, de Deleuze à Derrida, en passant par Klossowski et Blanchot, a orienté et gouverné la compréhension de la philosophie de Nietzsche durant la seconde moitié du Xxe siècle. Ce coup de force consiste à avoir fait de Nietzsche un penseur, voire le premier penseur, de la «différence». Un tel coup de force n’est pas «français» à l’origine. Il a été inauguré en effet par Heidegger, qui a entrepris de lire Nietzsche au fil conducteur de la différence ontologique. À l’évidence, les auteurs que je viens d’évoquer ont été, chacun à leur manière, profondément influencés par cette lecture. Ce qui est «français», si je puis dire, dans leur décision interprétative est que là où Heidegger voit dans la pensée de Nietzsche à la fois un dévoilement et un recouvrement de la différence, ils aperçoivent quant à eux, dans cette même pensée, la mise au jour d’une différence franche, sans ambivalence, sans équivoque. La différence nietzschéenne serait une différence originaire, fondatrice, un principe de raison suffisante, dit Deleuze, une instance irréductible, indéconstructible. Elle irait jusqu’à apparaître comme un instrument de déconstruction de la différence ontologique elle-même, jugée encore trop lourde, trop englobante, trop attachée au sens de l’être. La différence nietzschéenne serait ainsi plus radicale que la différence ontologique. L’expression la plus pure, la plus probante de cette radicalité est aux yeux des penseurs français la doctrine de l’éternel retour. Telle est bien l’orientation proprement «française» de la lecture de Nietzsche lors de la seconde moitié du Xxe siècle: la promotion de la doctrine de l’ternel retour en annonce de la pense de la diffrence. «Revenir», déclare Deleuze dans Nietzsche et la philosophie, est l’ «être de la différence en tant que telle, ou l’éternel retour».1 1

Gilles Deleuze, Diffrence et rptition, Paris: PUF 1968, p. 217.

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Mais pourquoi parler de «coup de force» au sujet d’une telle interprétation, formule qui sous-entend une violence, voire un truquage? Premièrement, parce que la différence, «Unterschied» ou «Differenz», n’est pas, on ne peut que le constater, un concept nietzschéen. Elle n’occupe aucune place privilégiée dans le lexique du philosophe et ne pas fait l’objet d’un traitement spécifique. Deuxièmement, parce qu’il y a plus qu’un paradoxe à voir dans l’éternel retour de l’identique une pensée radicale de la différence. En effet, une telle interprétation suppose que l’éternel retour, contrairement à ce qu’indique son nom, est un principe de sélection qui trie automatiquement, pourrait-on dire, entre ce qui revient – ou mérite de revenir – et ce qui ne revient pas. Un principe qui fait la diffrence entre les candidats ontologiques au retour. Un principe qui n’annonce donc, contrairement à ce qu’indique son nom , ni le retour de l’identique, ni le retour de toutes choses. L’identité, déclare Deleuze, doit être précisément comprise à partir de la différence. Pour Nietzsche, l’identité ne préexiste pas au retour, elle est produite par lui. L’identité est donc le résultat de la différence. En ce sens, s’agit-il encore d’une «identité»? Deleuze répond: «l’éternel retour ne peut pas signifier le retour de l’Identique puisqu’il suppose au contraire un monde […] où toutes les identités préalables sont abolies et dissoutes. […] Revenir est donc la seule identité, mais l’identité comme puissance seconde, l’identité de la différence, l’identique qui se dit du différent, qui tourne autour du différent.»2 Quant au retour de «toutes choses», il est une répétition qui sélectionne et fait le partage entre ce qui supporte et ce qui ne supporte pas l’épreuve du retour. «Si l’éternel retour est une roue, encore faut-il doter celle-ci d’un mouvement centrifuge violent, qui expulse […] ce qui ne supporte pas l’épreuve.»3 D’une autre manière, mais avec une conclusion identique, Derrida insiste, dans son petit livre intitulé Otobiographies, l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre 4, sur le lien qui unit l’anneau de l’éternel retour et le mouvement de la différance. C’est bien comme diffrance – affirmation et sélection – qu’il faut comprendre l’éternel retour. A relire toutes les occurrences de la doctrine de l’éternel retour dans les textes de Nietzsche, dans Ainsi parlait Zarathoustra, dans le Gai Savoir 2 3 4

Ibid., p. 59. Ibid., p. 78. Jacques Derrida, Otobiographies, l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris: Galilée 1984.

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et dans les textes posthumes notamment, on ne voit rien qui autorise une telle compréhension, pourtant dominante et largement répandue, de la doctrine. Le «Différent» n’existe pas. Pourquoi dès lors une telle insistance? Je voudrais développer ici un élément de réponse. L’éternel retour, envisagé à partir de la différence, est compris, par les auteurs que je viens de citer, comme une processus de traitement de la dualité, de la dyade, des couples ontologiques, qui s’oppose en tous points à la dialectique hégélienne. L’anti-hglianisme constitue ainsi un autre trait dominant de la comprhension franÅaise de Nietzsche, inséparable du premier. C’est au nom de l’anti-hégélianisme que la différence est promue au rang de concept directeur. En effet, la différence n’est pas l’opposition; à ce titre, elle n’est pas en quête de sa propre résolution. Cette remarque me permet d’éclairer le sens du mot «fantôme» dans mon titre: L’ternel retour et le fantme de la diffrence. Selon nos auteurs, au processus dialectique de résolution des opposés, qui réduit la différence et la subordonne au travail du négatif, Nietzsche substituerait un principe de sélection spectralisante. La roue du retour ferait la différence entre la vie – vitalité de l’affirmation, de tout ce qui mérite de revenir – et la mort –infirmité, nihilisme, faiblesse de ce qui ne peut supporter l’épreuve du retour. La différence serait ainsi productrice de fantômes, principe de distinction entre les vivants et leurs spectres. Principe de sélection automatique entre la vitalité créatrice et les fantômes réactifs. Sans contradiction, sans négation. Tout ce qui revient reviendrait alors à la fois accompagné par son fantôme et libéré de lui. La production du double spectral serait la réplique nietzschéenne, non dialectique, de la relève dialectique. Nous verrons d’ailleurs, chez Deleuze comme chez Derrida, que le plus fantomatique des fantômes, celui qui ne mérite pas de revenir autrement que sous la forme d’une ombre est bien Hegel. Deleuze affirme: «le Négatif ne revient pas. L’Identique ne revient pas. Le Même et le Semblable, l’Analogue et l’Opposé ne reviennent pas. Seule l’Affirmation revient, c’est-à-dire le Différent, le Dissimilaire.»5 La doctrine de l’éternel retour de l’identique signifierait donc: Seule la différence revient. Ou encore «deux négations» ne font jamais qu’un «fantôme d’affirmation».6 Le point de vue hégélien «est le point de vue de l’esclave qui tire du non le fantôme d’une affirmation.»7 5 6 7

Diffrence et rptition, op. cit., p. 382. Ibid., p. 75. Ibid., p. 76.

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Or de la même manière que Nietzsche n’est peut-être pas un penseur de la différence, il n’est peut-être pas non plus obsédé par le fantôme de Hegel. Aujourd’hui, telle sera ma question, n’est-ce pas la différence elle-même qui est devenue fantomatique? N’est-ce pas la différence elle-même qui n’est plus qu’un spectre et qui, à ce titre, n’est plus opératoire, tout comme la critique de la dialectique qu’elle entend orienter? On ne manquera pas de m’objecter toutefois, et je dois faire droit immédiatement à cette objection, que le concept de différence est apparu, sinon comme la meilleure solution, du moins comme le traitement le moins fautif de l’immense problème posé par la doctrine de l’éternel retour. Ce problème tient à ce qu’il y a toujours en effet et précisément du «deux», de la dyade, dans la formulation de la doctrine de l’éternel retour. Le retour s’annonce toujours chez Nietzsche comme un entre-deux, que celui-ci prenne la forme du portique où se joignent les deux voies dans Ainsi parlait Zarathoustra ou qu’il s’agisse du «ou bien (oder)» qui structure l’annonce du «poids le plus lourd» dans le Gai savoir. Dans «De la vision et de l’énigme» (Vom Gesicht und Rthsel), dans la troisième partie d’Ainsi parlait Zarathoustra, Nietzsche déclare: «Vois ce portique, ô nain […]. Il a deux faces [zwei Gesichter]. Deux voies [zwei Wege] ici se joignent, que ne suivit personne jusqu’au bout. Cette longue voie derrière dure une éternité [eine Ewigkeit]. Et cette longue voie devant – est une autre éternité [eine andre Ewigkeit]. Elles se contredisent ces voies, se heurtent de plein front [sie widersprechen sich, diese Wege, sie stoßen sie gerade vor den Kopf] et c’est ici, sous ce portique, qu’elles se joignent. Le nom de ce portique est là haut inscrit: »Instant« [Augenblick].»8 Au §341 du Gai Savoir, intitulé Le poids le plus lourd, on lit: «Que dirais-tu si un jour, une nuit, un démon se glissait jusque dans ta solitude la plus reculée et te dise: ,Cette vie telle que tu la vis maintenant et que tu l’as vécue, tu devras la vivre encore une fois et d’innombrables fois; et il n’y aura rien de nouveau en elle, si ce n’est que chaque douleur et chaque plaisir, chaque pensée et chaque gémissement et tout ce qu’il y a d’indiciblement petit et grand dans ta vie devront revenir pour toi, et le tout dans le même ordre et la même succession – cette araignée-là également, et ce clair de lune entre les arbres, et cet instant-ci et moimême. L’éternel sablier de l’existence ne cesse d’être renversé à nouveau – et toi avec, ô grain de poussière de la poussière!’ – Ne te jetterais-tu pas sur 8

Ainsi parlait Zarathoustra, tr. fr. Maurice de Gandillac, Paris: Gallimard 1971, p. 197.

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le sol, grinçant des dents et maudissant le démon qui te parlerait de la sorte? Ou bien (oder) te serait-il arrivé de vivre un instant formidable où tu aurais pu lui répondre: ,Tu es un dieu, et jamais je n’entendis choses plus divines!’»9

Il y a ce «deux» de l’éternité, des chemins, des voies, il y a ce «ou bien». Que peuvent-ils exprimer d’autre, précisément, qu’une diffrence? Le retour, dans son mouvement même, n’opère-t-il pas une slection une hiérarchisation, sans solution dialectique, entre deux significations de lui-même? Une première signification, dite «nihiliste», selon laquelle tout revient au même, une seconde, résolument «créatrice», qui soutire à la répétition la possibilité d’une transvaluation et d’un surmontement du nihilisme? N’y a t-il pas dès lors deux retours dans le retour, une différence du retour à lui-même en effet, qui fait la part entre le nain et le surhomme, le «oui» de l’âne et le «oui» du créateur, l’affirmation et son fantôme? Deleuze thématise cette difficulté: comment expliquer en effet, demande-t-il, que «l’éternel retour soit à la fois cycle et instant: d’une part continuation, d’autre part itération? d’une part continuité du processus d’un devenir qui est le Monde, d’autre part reprise, éclair, vue mystique sur ce devenir ou ce processus? d’une part recommencement continuel de ce qui a été, d’autre part retour instantané à une sorte de foyer intense, à un point ,zéro’ de la volonté? et encore, comment expliquer que l’éternel retour soit la pensée la plus désolante […] et la plus consolante […]?»10 Toutefois, il met rapidement fin à cette hésitation et répond fermement: il n’y a pas, en réalité de «à la fois», ni d’ «oscillation». La différence travaille à hiérarchiser les perspectives qui semblaient égales. Il y a une diffrence d’intensit dans l’Þtre, qui sépare la consistance des instances actives des fantômes de la passivité. De fait, face à cette difficulté du «ou bien», comment comprendre l’éternel retour autrement que comme la lame d’une différence qui tranche et l’empêche d’être une simple rengaine? Quel sens aurait-il sans cette différence? Sans sa différence? Ne serait-il pas en effet pure absurdité, pure redite, nihilisme encore une fois? Le retour ne revient pas sans sa différence. C’est ainsi que les choses ont été comprises. Heidegger le premier a insisté sur la valeur de l’instant dans De la vision et de l’nigme. L’instant, qui correspond au coup de dent qui tranche la tête du serpent noir, est bien le moment décisif qui interrompt 9 10

Le gai Savoir, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1957, p. 330. Diffrence et rptition, op. cit., pp. 280 – 281.

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le cours uniforme du retour et permet ainsi à celui qui en a la vision de surmonter le nihilisme.11 Or l’insistance «française» sur la différence comme moteur de l’éternel retour est à la fois une radicalisation et un déplacement de l’insistance heideggerienne. Radicalisation, car l’instant est compris comme ce moment décisif où sont produits les spectres. Déplacement, car le poids de l’analyse porte clairement sur la critique de la dialectique. Je montrerai d’abord que chez Deleuze, l’instant est compris comme ce différenciant de la différence qui opère un partage nergtique et non logique entre ce revient et ce qui échoue à revenir. Un principe de sélection qui sépare l’affirmation de ce qu’elle n’est pas et la distingue de ce que Deleuze appelle précisément son fantôme. Je m’attacherai ensuite à la compréhension de l’instant développée par Derrida. Cette compréhension est ordonnée à une logique de l’autobiographie. L’éternel retour est une doctrine qui ne peut être enseignée que par un individu qui porte un nom, celui de Zarathoustra, ou celui de Nietzsche. Pas d’éternel retour sans nom propre. La doctrine n’échappe à la rengaine que par la singularité du nom de celui qui l’énonce. Envisagé ainsi, l’éternel retour n’est plus seulement le sablier infiniment retourné de toutes choses dans leur neutralité, leur banalité ou leur anonymat, mais une vie qui se voit elle-même revenir. Dans l’indifférence du fleuve, il y a le je qui s’enchaîne à lui-même dans l’unicité irréductible de sa vie et éprouve la diffrence entre la vie et la mort. Cette différence, qui produit aussi le fantôme de l’écrivain, permet d’introduire relief et hiérarchie dans l’éternel retour. Après avoir examiné les traits essentiels de ces deux positions, qui, bien qu’irréductibles l’une à l’autre, ont incontestablement des points communs, je formulerai ma question en ces termes: et si la diffrence n’tait pas le bon mot pour rendre compte des deux voies du portique ou du «ou bien» lui-mÞme? Et si surmonter le nihilisme ne revenait pas  «faire la diffrence»? Il n’est sans doute pas outrancier d’affirmer que les deux ouvrages de Deleuze Nietzsche et la philosophie et Diffrence et rptition présentent la doctrine de l’éternel retour comme une stratégie de mise en pièces de la dialectique hégélienne. Le concept de «différence» exprime pour Deleuze avant toutes choses son irréductibilité à l’opposition, à la contradiction, en un mot à la ngation. Contre le processus de 11

Cf. Heidegger, Nietzsche, I, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1971, p. 340.

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l’Aufhebung qui règle d’avance les scissions, les déchirures, au profit d’une identité prédéterminée, Nietzsche définit une énergétique, un champ de forces au sein duquel aucune force n’existe avant sa mise en rapport avec la force ou les forces dont elle diffère. Il n’y a donc aucune identité préalable à la relation, toute présence résulte d’un ,diapherein’ originaire. Par là, aucune instance ne préside à la réconciliation des forces, la différence est un mode d’être du multiple qui ne se contredit pas, ne se surmonte pas non plus. Sa constance est assurée par la répétition, qui n’est pas une réduction à l’identique. L’éternel retour, déclare Deleuze dans Nietzsche et la philosophie est le «principe de la reproduction du divers en tant que tel, celui de la répétition de la différence: le contraire de l’adiaphorie.»12 La différence des forces est à la fois quantitative et qualitative. D’après leur différence de quantité, déclare Deleuze, les forces sont dites dominantes ou dominées. D’après leur différence de qualité, les forces sont dites actives ou réactives.13 Les forces sont donc réparties originairement, sans processus, selon cette double différenciation. Le retour est précisément ce qui permet à cette différenciation d’être constamment opératoire. En effet, si tout doit revenir, qu’est-ce qui sert de principe sélectif et empêche que les forces réactives ou dominées fassent retour, à égalité avec les forces actives et dominantes? Nous retrouvons là la menace du nihilisme. De fait, rappelle Deleuze, «Zarathoustra ne présente pas seulement la pensée de l’éternel retour comme mystérieuse et secrète, mais comme écœurante, difficile à supporter.» Quelque chose semble «contaminer si gravement [l’éternel retour] qu’il devient lui-même objet d’angoisse, de répulsion et de dégoût.»14 Cette menace de contamination n’est autre que le cercle de la dialectique, qui fait tourner l’être en rond et assure le triomphe des forces réactives: «le cercle de Hegel n’est pas l’éternel retour, mais seulement la circulation infinie de l’identique à travers la négativité. […] La différence [y] reste subordonnée à l’identité, réduite au négatif, incarcérée dans la similitude et l’analogie.»15 L’éternel retour, par sa force de sélection, est précisément ce qui brise le cercle. Ce qui revient revient différent, «la répétition est le différenciant de la différence». La volonté de puissance est la mise à 12 13 14 15

Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962, p. 52. Cf. Ibid., p. 49. Ibid., p. 73. Diffrence et rptition, op. cit., p. 71.

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l’épreuve de cette différenciation, qui finit par inverser le sens de la réaction ou de la réactivité par la seule dynamique de l’affirmation: «Ce que tu veux, veuille-le de telle manière que tu en veuilles aussi l’éternel retour.»16 Or poursuit Deleuze, «une paresse qui voudrait son éternel retour, une bêtise, une bassesse, une lâcheté, une méchanceté qui voudraient leur éternel retour: ce ne serait plus la même paresse, ce ne serait plus la même bêtise […]. Voyons mieux comment comment l’éternel retour opère ici la sélection. C’est la pense de l’éternel retour qui sélectionne. Elle fait du vouloir quelque chose d’entier. La pensée de l’éternel retour élimine du vouloir tout ce qui tombe hors de l’éternel retour, elle fait du vouloir une création, elle effectue l’équation vouloir = créer.»17 Et c’est alors que la sélection crée des fantmes. Les forces écartées par la roue deviennent en effet des fantômes de force, ce qui tombe en dehors du retour est spectralisé. Et le plus fantomatique de ces fantômes, nous l’avons annoncé, est le processus dialectique. «Ceux qui portent le négatif ne savent pas ce qu’ils font : ils prennent l’ombre pour la réalité, ils nourrissent les fantômes […].»18 C’est pourquoi «Le négatif, le semblable, l’analogue, ne reviennent pas, pour toujours chassés par la roue de l’éternel retour.»19 Le devenir apparaît alors comme processus de hiérarchisation entre l’être – dont la constance est assurée par la répétition – et le fantôme, simulacre ou ersatz de présence. Je pourrais citer encore beaucoup de passages concernant la critique de la dialectique, l’assimilation de la dialectique au nihilisme, la mise en lumière de la négation comme fantôme ontologique de l’affirmation. Mais je veux surtout ici avouer ma gêne face à ces analyses. En effet, premièrement, où peut-on trouver chez Nietzsche l’idée que le négatif, la dialectique, la pensée hégélienne elle-même ne reviennent pas? Cette question en induit une seconde: où peut-on trouver, chez Nietzsche, l’idée que l’éternel retour soit un principe automatique de sélection? Deleuze présente l’éternel retour comme une roue, laquelle apparaît à son tour comme une machine à faire la différence, une différenciation automatique. Or où se trouve ce motif dans les textes? Enfin, 16 17 18 19

Nietzsche et la philosophie, p. 77. Ibid., p. 78. Diffrence et rptition, op. cit., p. 78. Ibid., p. 380. Cf. aussi «la sélection se fait entre deux répétitions: ceux qui répètent négativement, ceux qui répètent identiquement seront éliminés. Ils ne répètent qu’une fois.» (Ibid., p. 381.)

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troisièmement, et c’est la question la plus grave, la compréhension deleuzienne de l’éternel retour à partir de la différence n’est-elle pas, dans son anti-hégélianisme, extrêmement violente? L’éternel retour n’est-il pas transformé par le biais d’une telle lecture en machine  liminer? «La sélection se fait entre deux répétitions: ceux qui répètent négativement, ceux qui répètent identiquement, seront éliminés.»20 Le verbe «éliminer» revient constamment sous la plume de Deleuze. Elimination qui correspond à une destruction, voire à une autodestruction: «Le nihilisme, par et dans l’éternel retour, ne s’exprime plus comme la conservation et la victoire des faibles, mais comme la destruction des faibles, leur auto-destruction.»21 Où peut-on lire, chez Nietzsche, que les faibles s’auto-détruisent? Et une machine à détruire la faiblesse, à faire la différence entre deux répétitions n’est-elle pas au fond plus totalitaire, plus menaçante, plus réactive que la dialectique? L’idée que l’éternel retour fait la chasse aux revenants est une vision séduisante mais dangereuse. En outre, encore une fois, il semble que Nietzsche soit absent d’une telle vision. La différence est quelque chose qu’on lui fait assumer. Dans les deux livres Nietzsche et la philosophie et Diffrence et rptition, on ne trouve aucune citation de Nietzsche qui mobilise littéralement le concept de différence. Non que Nietzsche n’emploie jamais le mot, ni que la lecture de Deleuze soit ruinée par l’absence d’occurrence textuelle fondamentale du concept. On peut simplement se demander si une telle lecture, malgré sa grandeur et son importance, ne règle pas trop vite la question fondamentale de la complicité du nihilisme et de l’affirmation créatrice en faisant intervenir ce fantôme de la dialectique qui se transforme en mauvais sujet. Si cette lecture n’élimine pas ellemême de manière machinale, systématique, l’alliance des «deux voies», le fait que toutes choses soient «fermement nouées».22 À première vue, la lecture que Derrida propose de Nietzsche semble insister davantage sur ce lien, ce nœud qui lie toutes choses, sur la difficulté qu’il y a précisément à trancher, à sélectionner au sein de cette complication. Pourtant, nous découvrons très vite que les motifs de la différance et de la spectralité gouvernent, ici encore, l’interprétation. Il faudrait bien sûr prendre le temps d’indiquer tout ce qui sépare la différence de Deleuze de la différance de Derrida, tout ce qui sépare 20 21 22

Ibid., p. 381. Nietzsche et la philosophie, op. cit., p. 79. Ainsi parlait Zarathoustra, op. cit., p. 198.

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aussi le concept de spectralité chez l’un et chez l’autre, mais tenons nous-en ici à notre problème. Dans Otobiographies, ouvrage qui contient beaucoup d’éléments essentiels sur la pensée de la déconstruction, Derrida montre que l’originalité de la pensée de l’éternel retour tient à la signature qu’y laisse en elle son penseur. L’éternel retour est une pensée qui n’est pas séparable du nom propre de celui qui la pense. Il y a donc une alliance entre l’anneau du retour éternel et la vie singulière de celui qui en a la révélation. Deux anneaux dans l’anneau. La thématique de la différance est précisément introduite dans l’analyse de la dualité de ces cercles, le premier que l’on peut appeler ontologique et le second autobiographique. Il y a bien à la fois similitude et différence entre l’anneau du retour de toutes choses et l’anneau qui unit ce cercle à la vie du penseur. Le point de rencontre ces deux anneaux est l’anniversaire, motif si important pour Nietzsche – qu’il s’agisse du grand midi ou de l’anniversaire du milieu de la vie évoqué dans Ecce Homo. L’anniversaire marque à la fois le retour infini et le retour fini de la vie sur elle-même. C’est en l’articulant à cette double logique de l’anniversaire que Derrida lit la déclaration de Zarathoustra: «j’ai regardé en arrière, j’ai regardé devant moi, jamais je n’ai vu d’un seul coup tant de choses et de si bonnes.» Derrida déclare: «l’anniversaire, c’est l’instant où l’année tourne sur elle-même, forme avec elle-même un anneau, s’annule et recommence.»23 Les deux retours inclus dans l’éternel retour se marquent par la coïncidence entre le retour anonyme du temps et la date, la signature propre à tel anniversaire: «dater, dit encore Derrida, c’est signer.»24 La signature de l’instant est une date: aujourd’hui, c’est mon anniversaire. Entre l’anneau du retour éternel et l’instant daté de l’anniversaire se joue le statut structurel de l’autobiographie. L’apport propre de Nietzsche est la révélation de la dimension nécessairement autobiographique de la philosophie. Dans la coïncidence de l’anneau et de l’instant, la vie s’ouvre un crédit à elle-même, se voit passer, se récite, se raconte. Le philosophe ne parle dès lors plus de la vie en général, mais toujours de la sienne, en son nom: «le nom de Nietzsche est peut-être aujourd’hui, pour nous en Occident, le nom de celui qui fut le seul […] à traiter de la philosophie et de la vie, de la science et de la philosophie 23 24

Otobiographies, op. cit., p. 53. Ibid.

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de la vie avec son nom, en son nom. Le seul peut-être à y avoir mis en jeu son nom – ses noms – et ses biographies.»25 Or c’est là ce qui sépare à jamais Nietzsche de Hegel, ce dernier n’ayant jamais parlé en son nom, ayant toujours pensé au contraire l’effacement du nom propre dans la logique du savoir absolu. En outre, la dualité des anneaux dans l’éternel retour – anneau éternel et anneau fini – ne se contredit jamais chez Nietzsche. Là encore, elle ne donne lieu à aucun processus dialectique. «L’ombre de toute négativité a disparu».26 Midi est «délivré du négatif et de la dialectique».27 La production de spectre a lieu ici précisément au point de rencontre des deux anneaux, au point, à l’instant, à la date de l’anniversaire. Au moment où Nietzsche signe en son nom le récit de sa vie, il n’est déjà plus vivant, mais survivant, il est devenu son nom même, un mort-vivant. Un fantôme. Il y a donc toujours «une différance de l’autobiographie».28 Le nom, écrit Derrida «est toujours et a priori un nom de mort. Ce qui revient au nom ne revient jamais à du vivant, rien ne revient à du vivant.»29 Derrida met ces analyses en rapport avec ces deux passages d’Ecce homo dans lesquels Nietzsche dit «je suis, en tant que mon père, déjà mort [als mein Vater bereits gestorben], en tant que ma mère, je vis encore et je vieillis [als meine Mutter lebe ich noch und werde alt]»30 et «pour pouvoir comprendre la moindre chose à mon Zarathoustra, on doit peut-être se trouver dans une condition voisine de celle où je suis – avec un pied au-del de la vie.»31 Cet au-delà n’est pas là non plus une solution dialectique, il est bien «par delà l’opposition de la vie et de la mort», il marque leur entre-deux, la diffrence entre les deux. Le sujet n’est pas, comme chez Hegel, absolument présent à lui-même. Le fait que le sujet de l’autobiographie ne coïncide jamais avec luimême, soit toujours différent de lui-même: une part de lui vivante, une part de lui morte, montre que l’éternel retour est là encore un principe de sélection. Affirmer que rien ne revient  du vivant, c’est affirmer encore une fois que tout ne revient pas dans l’éternel retour. Non plus au sens, dégagé par Deleuze, où certaines choses reviennent et pas d’autres: l’affirmation et pas la négation par exemple. Mais au sens du datif: non 25 26 27 28 29 30 31

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

p. 43. p. 54. p. 65. p. 73. p. 44. p. 62. p. 69.

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pas ce qui revient mais celui  qui cela revient, le destinataire de ce qui revient, comme s’il y avait un tri, en lui, entre le vivant et le mort. Entre son nom, le nom du mort, le nom du père, qui conserve, assure les généalogies, et le vivant, la mère, la création, l’affirmation. La différance autobiographique fait passer dans l’éternité la fracture de la hantise de la finitude, de la vie et de la mort. Nous l’avons vu, chez Deleuze, le fantôme correspond à cet être moindre de la faiblesse, chassé par la roue de l’éternel retour. Chez Derrida au contraire, le fantôme ne se trouve pas dans l’être des choses, ou des forces, mais dans la subjectivité du penseur, dans le «je» de celui qui pense l’éternel retour. Ce «je» se trouve partagé entre la vie et la mort, écartelé par la roue là encore, entre infinité et finitude. Les deux positions sont donc très distinctes, voire parfois opposées et pourtant je me suis permis ici de les unir au lieu d’un même constat. Toutes deux se rencontrent en effet au lieu d’une commune affirmation: chez Nietzsche, seule la différence revient. Or de la même manière que l’on ne trouve pas chez ce penseur de problématique de l’autodestruction des faibles ou de la roue centrifuge, on ne voit pas non plus chez lui me semble-t-il l’évidence d’une mortification de la vie au nom d’une logique de l’autobiographie. Nietzsche aurait-il pu signer cette phrase: «rien de vivant ne revient à du vivant»? De quel droit lire la doctrine de l’éternel retour comme une thanatographie? Il m’apparaît, encore une fois, que ces lectures ne respectent pas tout à fait peut-être l’énigme de l’éternel retour dans la mesure où elles voient en lui un principe de coupure, une instance critique qui n’y est sans doute pas. Dans le premier volume de son Nietzsche, Heidegger déclare: «la pensée de l’éternel reour du Même n’existe qu’en tant que cette pensée qui réduit le nihilisme. La réduction doit nous faire passer de l’autre côté d’un abîme étroit en apparence; car cet abîme sépare ce qui, d’un côté comme de l’autre, se ressemble au point de paraître le même. D’un côté il est dit: toutes choses ne sont rien, toutes sont indifférentes, toutes se valent, en sorte que rien n’en vaille la peine: tout revient au mÞme [alles ist gleich]. De l’autre côté il est dit: toutes choses reviennent, toutes dépendent de chaque instant, toutes dépendent de toutes: tout revient au mÞme [alles ist gleich]. L’abîme le plus étroit qui soit, le pont apparent de la parole: tout est indiffrent cache cette simple différence [verbirgt das schlechthin Verschiedene]: toutes choses se valent, tout est indiffrent [alles ist gleichgltig], et aucune

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chose n’en vaut une autre: rien n’est indiffrent, rien ne revient au même [nichts ist gleichgltig].»32

Sans doute, entre les deux versions de la pensée de l’éternel retour une «simple différence» se cache-t-elle, et pourtant il n’est pas sûr que cette «simple différence» soit une origine et non un résultat. La différence n’est peut-être pas pertinente, malgré les apparences, pour penser la dualité, voire la duplicité des significations de la doctrine. Nous l’avons vu: si la différence est constituée en maître mot de la pensée de Nietzsche, si l’éternel retour devient une machine automatique de sélection, un processus qui garantit sa différance, alors il ne reste rien de l’ambivalence essentiel du mot «gleich» – alles ist gleich ne veut plus rien dire. «Eternellement fidèle reste à lui-même l’anneau de l’être.»33 Lorsque nous lisons cette phrase: est-ce l’urgence d’une différence qui saute aux yeux? N’est-ce pas plutôt la nécessité de la co-implication? Qui dit que surmonter signifie différencier et non plutôt porter ensemble, garder l’un et l’autre, penser la complicité des deux côtés, être les deux ensemble? «Tout se brise, tout se remet en place; éternellement se rebâtit la même maison de l’être. Tout se sépare, tout à nouveau se salue.»34 Les textes de Nietzsche ne nous conduisent-ils pas à penser la mise en rapport et la duplication inévitable plutôt que la dissociation? Après tout, la pensée de la différence n’a t-elle pas elle aussi un sens nihiliste, ne revient elle pas aussi comme ressentiment, réaction anti-hégélienne, faiblesse? Ne devient-elle pas son propre fantôme? Une dépouille qui a fait son temps? Mais alors que donnerait une lecture de Nietzsche qui renoncerait à faire de la différence son fil conducteur? C’est sur cette question que je terminerai cette conférence, laissant ouverte la possibilité d’une nouvelle compréhension de l’éternel retour, c’est-à-dire aussi de la vie, qui substituerait, à la différence, la synthèse, et à la figure du fantôme celle, tout aussi inquiétante, du clone. Je pose donc simplement, à titre d’annonce, la possibilité de lire la doctrine de l’ternel retour comme une pense du clonage ontologique. Et si, finalement, tout se redoublait, si tous les noyaux ontologiques se dupliquaient, sans être différents et sans pour autant revenir au même? Et si l’enjeu philosophique de notre époque, 32 Nietzsche, op. cit., p. 345. 33 Ainsi parmait Zarathoustra, op. cit., p. 269. 34 Ibid.

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préfiguré par Nietzsche, était précisément de parvenir à penser sans l’identité et sans la différence?

Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche Georg W. Bertram Der Weg von Nietzsche ins neuere französische Denken läßt sich mit einem Schlagwort umreißen: mit der Rede vom Tod des Subjekts. Dieses Wort, das unter anderem durch Texte von Roland Barthes1 und Michel Foucault2 in Umlauf gebracht worden ist, geistert als Slogan neostrukturalistischer Denker durch philosophische sowie kunst- und kulturwissenschaftliche Debatten. Auch und besonders in zahllosen Widerlegungen hat dieser Slogan sich im Diskurs der Gegenwart etabliert. Gängigerweise werden Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida verdächtigt, einen solchen Tod proklamiert zu haben. Foucault und Derrida partizipieren beide an jener philosophischen Wende, die in Frankreich von Hegel zu Nietzsche führte und für die in besonders markanter Weise Gilles Deleuze mit seiner Studie Nietzsche und die Philosophie einsteht. Der Wende, die von Hegel zu Nietzsche geführt haben könnte, kann man folgendermaßen eine grobe Kontur geben: Die Neuzeit und insbesondere der deutsche Idealismus haben vom Subjekt her gedacht. Dabei wird Subjektivität als ein ursprüngliches, reflexives Verhältnis begriffen, das konstitutiv für den Weltzugang und die Handlungsorientierung ist. Dieses reflexive Verhältnis kann man so erläutern, daß das Subjekt sich zugleich Objekt ist – in Anlehnung an Kant gesprochen: daß es die Bewußtseinszustände, die es hat, als eigene zu denken vermag.3 Mit Nietzsche ist es, so kann man die Geschichte weiter erzählen, zu einem Dementi jener Idee eines solchen ursprünglichen, reflexiven Verhältnisses gekommen. Nietzsche entwickelt eine Konzeption, die 1 2 3

Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ (1967), aus dem Französischen übersetzt von Matias Martinez, in: Fotis Jannidis (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185 – 193. Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), aus dem Französischen übersetzt von Karin von Hofer, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Fischer 1988, S. 7 – 31. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1789), in: ders., Werkausgabe, Band 3, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, B 132 ff.

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nicht mehr Subjekte, sondern nur noch anonyme Kräfte kennt, die sich in unterschiedlichen Wirkungsdynamiken entfalten. Gerade als Instanz von Handlungs- und Gestaltungsfreiheit hat Nietzsche das Subjekt immer wieder einer scharfen Kritik unterzogen. „[D]er Thäter ist zum Thun bloß hinzugedichtet“ (KSA 5, S. 279), heißt es im 13. Aphorismus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral. Die Idee eines ursprünglichen, reflexiven Verhältnisses scheint hier aufgegeben. Oder genauer: Sie wird, so scheint es, als Illusion entlarvt. An der Geschichte dieser Wende, wie ich sie somit in einer ultrakurzen Version präsentiert habe, scheint mir allerdings einiges problematisch. Für besonders problematisch halte ich eine Implikation, die ich folgendermaßen formulieren kann: Mit der Idee einer ursprünglichen Reflexivität soll zugleich die Idee von Reflexivität überhaupt aufgegeben worden sein. Diese Verknüpfung scheint mir ungerechtfertigt. Und nicht nur das: Sie scheint mir der Philosophie Nietzsches nicht gerecht zu werden. Ich betrachte es als erforderlich, die Geschichte, die von Hegel zu Nietzsche führt, in einer anderen Weise zu erzählen. Einige Ansätze zu einer solchen Erzählung zu gewinnen, ist ein Ziel der folgenden Überlegungen. Es geht mir gewissermaßen darum, Perspektiven einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche zu gewinnen. Statt von einer Philosophie der Reflexivität kann ich auch von einer Philosophie der Subjektivität beziehungsweise des Selbstbewußtseins sprechen. Das heißt nicht, daß ich Begriffe wie Reflexivität, Subjektivität und Selbstbewußtsein überhastet in einen Topf schmeißen will. Wenn ich mit dem Begriff der Reflexivität den der Subjektivität und des Selbstbewußtseins in Verbindung bringe, will ich anzeigen, vor welchem Horizont sich meine Überlegungen abspielen. Es geht mir allgemein darum, Selbstbewußtsein von Formen der Reflexivität her zu begreifen. Im Speziellen zielen meine Überlegungen darauf, bei Nietzsche Elemente eines Begriffs von Selbstbewußtsein freizulegen, der nicht als Basis von kritischen Operationen fungiert, sondern vielmehr auf kritischen Operationen basiert. Was mit einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche auf dem Spiel stehen könnte, kann ich unter anderem von zwei Fragestellungen her andeuten, die besonders im Anschluß an die Schriften Michel Foucaults immer wieder aufgeworfen worden sind. Foucault hat mit Texten wie „Was ist ein Autor?“4 oder Die Ordnung des Diskurses,5 so 4

Foucault, „Was ist ein Autor?“ (Anm. 2).

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scheint es, die Konstitution von bedeutungshaften Zuständen auf das anonyme Geschehen von Diskursen zurückgeführt und das Subjekt als bedeutungsstiftende Instanz verabschiedet. Nun stellt sich aber erstens die Frage, wer überhaupt ein solches Geschehen von Diskursen zu explizieren vermag – ob in Foucaults Philosophie eine Instanz der Kritik im epistemischen Sinn noch Platz hat. Und es stellt sich zweitens die Frage, woher Foucaults Denken zufolge Spielräume der reflexiven Veränderung von diskursiven Dispositionen kommen sollten – wer nach Foucault die Instanz einer Kritik im moralischen Sinn sein könnte. Das Foucaultsche Denken scheint affirmative Konsequenzen zu haben, die man unter anderem aus der Perspektive einer kritischen Theorie der Gesellschaft für problematisch halten kann.6 Die mögliche Aufgabe von Reflexivität ruft insofern die Frage nach Kritik auf den Plan. Wie läßt sich Kritik unter den Bedingungen eines Abschieds von Reflexivität überhaupt oder zumindest unter den Bedingungen eines Abschieds von Reflexivität als einem transzendentalen Prinzip denken? Hat Foucaults Ansatz genuin relativistische Konsequenzen? Bedarf es, um solche Konsequenzen zu vermeiden, einer Rückkehr zu einer Instanz der ursprünglichen Reflexivität, die kritikfähig ist? Im Horizont solcher Fragestellungen, die sich im Anschluß an Nietzscheanische Denkweisen stellen, scheint es mir sinnvoll, die Sondierung eines möglichen anderen Verständnisses von Reflexivität bei Nietzsche mit dem Begriff der Kritik zu verbinden. Mir geht es dabei einerseits darum, systematisch nachzuvollziehen, wie Kritik und Reflexivität in einer ganz anderen Art und Weise – jenseits der Alternative von ,Subjekt oder Tod des Subjekts‘– zu denken sein könnten. Meine Überlegungen zielen andererseits darauf, Verbindungen zwischen Nietzsche und neostrukturalistischen Denkern wie Foucault, Deleuze und Derrida zu beleuchten. Um diese beiden Ziele zu realisieren, gehe ich folgendermaßen vor: Im ersten Teil deute ich einen Topos der neuzeitlichen Bestimmung von Kritik an, um dann im zweiten Teil darzulegen, wie Nietzsche diesen Topos gekündigt haben könnte. Im dritten Teil verfolge ich Möglichkeiten, eine entsprechende Kündigung als eine Destruktion von Reflexivität zu deuten, bevor ich diesen Deutungen im vierten Teil eine andere Option entgegenhalte. 5 6

M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses (1972), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Fischer 1991. Vgl. hierzu z. B. A. Honneth, Desintegration. Bruchstcke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 11 ff.

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Ich komme dabei zu einem Verständnis von Reflexivität, das diese wesentlich von Praktiken produktiver Kritik her begreift. Dieses Verständnis profiliere ich im fünften und abschließenden Teil, indem ich einen Begriff des Subjekts nach Nietzsche konturiere.

1. Das neuzeitliche Dispositiv: Kritik durch Selbstbewußtheit Einer weitverbreiteten neuzeitlichen Denkfigur zufolge gilt Kritik als ein selbstbewußter Akt. Nur ein selbstbewußtes Wesen kann kritische Operationen durchführen. Wir können diese Denkfigur als einen großen gemeinsamen Nenner betrachten, der unter anderem Descartes, Kant und Hegel miteinander verbinden kann. Diese Verbindung hat Hegel in besonderer Weise artikuliert. Er sagt in den Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie bekanntlich, daß mit Descartes „die Philosophie der neueren Zeit, das abstrakte Denken“7 anfange. Was mit Descartes aus Hegels Perspektive anfängt, ist eine Philosophie der Subjektivität und des Selbstbewußtseins. Ohne die Unterschiede zwischen den Philosophien von zum Beispiel Descartes, Kant und Hegel allzu sehr einzuebnen, kann ich vielleicht folgendermaßen sagen: Jeweils wird Selbstbewußtsein verstanden als eine Einheit, in deren Rahmen es zu einem Sichzusichverhalten kommt. Ein solches Sichzusichverhalten ist eine reflexive Struktur in der Weise, in der ich es bereits zuvor angedeutet habe: Im Sichzusichverhalten wird sich das Subjektive objektiv und bleibt dabei doch subjektiv. Das Subjekt gewinnt sich als Gegenstand, ohne sich als Subjekt zu verlieren. Zwar explizieren Descartes, Kant und Hegel Verhaltensweisen, in denen ein Subjekt sich auf sich selbst bezieht, in unterschiedlicher Weise.8 Dennoch sind sie sich im Grundsatz einig, daß diese Verhaltensweisen als Spezifik einer Perspektive des Subjekts zu begreifen sind. Auf der Basis eines solchen Begriffs von Selbstbewußtsein kann man nun Kritik folgendermaßen explizieren. Kritik ist eine besondere Aus7 8

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie (1833 ff.), Band III, in: Werkausgabe in 20 Bnden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, Band 20, S. 70. Vgl. zu Unterschieden unter anderem: Charles Taylor, Quellen des Selbst (1989), aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 262 ff., 631 ff.; Robert B. Pippin, Hegel’s Idealism. The Satisfaction of Self-Consciousness, Cambridge, Massachusetts: Cambridge University Press 1989, S. 16 ff.

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prägung des Selbstbewußtseins. Kritisch ist ein Selbstbewußtsein dann, wenn es sich so auf ein Bewußtsein bezieht, daß es dieses überprüft. Diese Überprüfung kann unter anderem die Cartesische Form annehmen, die Inhalte des Bewußtseins auf ihre Resistenz gegenüber skeptischen Erwägungen hin zu befragen.9 Sie ist aber auch im Geiste Kants möglich, der nicht die Inhalte, sondern die Formen des Bewußtseins betrachtet und so jegliches Bewußtsein auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin analysiert.10 Mir scheint es allerdings so zu sein, daß man den spezifischen Zusammenhang von Selbstbewußtsein und Kritik, der dem neuzeitlichen, szientistischen Paradigma zugrunde liegt, am besten bei Hegel begreifen kann. Hegel hat unter anderem in der Einleitung der Phnomenologie des Geistes die Möglichkeit der Kritik erörtert. Er spricht davon, daß eine Kritik nur gelinge, wenn sie nicht von außen an etwas herangetragen werde. Er macht geltend, daß ein von außen an einen Gegenstand (zum Beispiel an eine Bewußtseinsgestalt) herangetragener kritischer Maßstab immer willkürlich bleibt. Warum zum Beispiel sollen wir von einer Überzeugung sagen, daß sie einer skeptischen Befragung standhalten muß, um gerechtfertigt zu sein? Warum ist eine solche skeptische Befragung ein gutes Kriterium? Oder warum sollte eine Befragung von Erkenntnissen auf die Bedingung ihrer Möglichkeit hin dazu führen, daß wir wirkliche Erkenntnisse von solchen unterscheiden können, die bloß Erkenntnisse zu sein scheinen, tatsächlich aber keine Erkenntnisse sind? Hegel vertritt die Auffassung, daß solche Maßstäbe nur dann plausible Maßstäbe sind, wenn sie sich von einem Gegenstandsbewußtsein selbst her ergeben. „Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung seiner mit sich selbst sein; … „,11 heißt es entsprechend in der Einleitung der Phnomenologie des Geistes. Nun ist es keine ganz einfache Sache zu verstehen, was Hegel hier sagt. Inwiefern bringt ein Bewußtsein einen Maßstab mit sich? Das Bewußtsein erhebt einen Wissensanspruch in Bezug auf einen oder mehrere Gegenstände – es hat somit Bewußtseinsinhalte und hat Ge9 Vgl. Bernard Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, Atlantic Highlands, New Jersey: Humanities Press 1978. 10 Vgl. Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven, Connecticut: Yale University Press, 2. Aufl. 2004, S. 34 ff. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, in: Werkausgabe in 20 Bnden, a.a.O., Band 3, S. 76.

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genstände, von denen die Bewußtseinsinhalte ihren Inhalt gewinnen. Maßstäbe ergeben sich nun aus der Vergleichung von Bewußtseinsinhalten mit ,ihren‘ Gegenständen. Nun bringt allerdings nicht jegliches Bewußtsein von sich aus eine entsprechende Vergleichung hervor. Ein einfaches Wahrnehmungsbewußtsein des Inhalts „Hier Röte“ vergleicht sich nicht von sich aus mit seinem Gegenstand – mit der Röte, von der her es seinen Inhalt zu gewinnen beansprucht. Ein solches Bewußtsein wird sich günstigenfalls verändern, wenn es zu einer Diskrepanz von Inhalt und Gegenstand kommt. Das Bewußtsein selbst bekommt die Veränderung allerdings nicht mit.12 Zu einer Perspektive auf sich selbst ist nur das Selbstbewußtsein in der Lage. Das Selbstbewußtsein kann einen Wissensanspruch, den es erhebt, mit dem Gegenstand vergleichen, auf den es seinen Wissensanspruch innerhalb seiner selbst bezieht. Es kann den Gegenstand in der Weise, wie es ihn konzipiert, als Maßstab heranziehen, vor dem sich sein Wissensanspruch bewähren muß. Genau dadurch läßt es sich als ein kritisches Bewußtsein verstehen. Das Selbstbewußtsein ist nicht bloßen Veränderungen unterworfen, die ihm zustoßen. Es kann Veränderungen selbst herbeiführen, indem es sich selbst daraufhin befragt, ob es von ihm selbst konstituierten Maßstäben – also den eigenen GegenstandsKonzeptionen – gerecht wird. Es kann eine Diskrepanz im obigen Sinne selbst bemerken und die daraus resultierte Inadäquatheit seiner Inhalte einer Kritik unterziehen. Hegel kommt somit zu der Auffassung, daß die erkenntniskritischen Operationen von Descartes und Kant nur verstanden werden können, wenn man sie als selbstbewußte Operationen konzipiert. Über diese Operationen kann man sich nur dann Rechenschaft ablegen, wenn man die Struktur des Selbstbewußtseins als solche angemessen faßt (was Hegels Meinung zufolge weder Descartes noch Kant in zufrieden stellender Weise gelungen ist). Im Sinne meiner knappen Darlegungen kann man Hegel die Auffassung zuschreiben, daß alle Kritik auf Selbstbewußtsein beruht. Erst ein Bewußtsein, das die unterschiedlichen Momente, die es umfaßt, miteinander zu vergleichen vermag, entwickelt eine kritische Perspek12 So schreibt Hegel: „Dieser Umstand ist es, welcher die ganze Folge der Gestalten des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit leitet. Nur diese Notwendigkeit selbst oder die Entstehung des neuen Gegenstandes, der dem Bewußtsein, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, sich darbietet, ist es, was für uns gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht.“ (Hegel, Phnomenologie des Geistes [Anm. 11], S. 80).

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tive. Das Selbstbewußtsein wird dabei nicht als eine Instanz expliziert, die über feststehende Maßstäbe der Kritik verfügen würde. Nach Hegels Verständnis gewinnt es Maßstäbe vielmehr in dem Prozeß, in dem es sich selbst formiert. Der kritische Prozeß des Selbstbewußtseins resultiert daraus, daß es Momente ausbildet, die sich diskrepant zueinander verhalten, und die das Selbstbewußtsein in ihrer Diskrepanz gegeneinander abzuwägen vermag. Hegel argumentiert, daß ein Selbstbewußtsein nur dann eine Diskrepanz in sich auszutragen vermag, wenn es über Fähigkeiten der Artikulation verfügt; diese Fähigkeiten wiederum konstituieren sich seiner Analyse zufolge in sozialen Praktiken.13 Ich werde auf Zusammenhänge dieser Art weiter unten zurückkommen.

2. Genealogie und Umwertung von Werten Man kann die Philosophie Nietzsches als eine Philosophie verstehen, mit der die Konzeption, die ich im vergangenen Abschnitt skizziert habe, ins Wanken gerät. Gilt für die neuzeitliche Philosophie eine Idee des Selbstbewußtseins als eines grundlegenden Sichzusichverhaltens, das seinerseits als Basis von Kritik verstanden wird, dann kommt es nun zu einem bemerkenswerten Umbruch. Dieser Umbruch besteht in dem Gedanken, daß Selbstbewußtsein von Kritik im Sinne kritischer Praktiken her gedacht werden muß. Selbstbewußtsein wird nicht weiterhin als Basis möglicher (aber nicht notwendiger) Kritik begriffen. Von Nietzsche her gelangt man vielmehr zu der Auffassung, daß alles Selbstbewußtsein von Grund auf kritische Praxis ist. Alle Kritik hat, so will ich vorläufig sagen, Selbstbewußtseins-Wirkungen. Selbstbewußtsein kann sich nur auf der Basis solcher Wirkungen konstituieren. Nun ist es zweifelsohne so, daß solche Thesen sich keineswegs von selbst verstehen. Aus diesem Grund will ich mich ihnen mit den folgenden Überlegungen langsam annähern. Eine solche Annäherung kann von Nietzsches Konzepten der Genealogie und der Umwertung aller Werte ihren Anfang nehmen. Es ist besonders eine Grundidee, die Nietzsche mit diesen Konzepten ins Spiel bringt, die diesen Ansatzpunkt ermöglicht. Es handelt sich um die Idee, Kritik als produktiv zu begreifen. Sowohl das Konzept der Genealogie als auch das Konzept der 13 Vgl. Georg W. Bertram, „Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die Phnomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität“, Ms. 2006.

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Umwertung aller Werte sind als Ausdruck dieser Idee zu begreifen. Ich werde einige Stichworte zu diesen Konzepten geben, bevor ich in den folgenden Abschnitten überlege, welche Konsequenzen sich von diesen Konzepten her für den Zusammenhang von Kritik und Selbstbewußtsein ergeben. Nietzsche hat Genealogie in erster Linie als eine Genealogie von Werten betrieben. Werte entstehen demnach aus Werten – durch unterschiedliche Profilierungen und Abgrenzungen. Solche Profilierungen und Abgrenzungen kommen durch Prozesse der Interpretation zustande. Es gibt demnach einen unentwegten Prozeß von Interpretationen oder – wie Nietzsche auch sagt – des Überwältigens bzw. Herrwerdens. In dem berühmten zwölften Aphorismus der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral formuliert Nietzsche entsprechend die Allaussage: „daß alles Geschehen in der organischen Welt ein berwltigen, Herrwerden und daß wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, …“ (KSA 5, S. 313 f.) Prozesse des Neu-Interpretierens bringen Entwicklung hervor, ohne daß ihnen irgendeine bestimmende Intention oder irgendeine Teleologie zugrunde läge. Mit Günter Abel kann man von der „Um-Interpretation als Grundgeschehen“14 sprechen – mit Volker Gerhardt von einem grundlegenden Geschehen der „Selbstinterpretation von Praxis“.15 Dieses Grundgeschehen ist die Basis für die genealogische Arbeit. Der Genealoge verfolgt die Prozesse der Um-Interpretation, die zum Beispiel unterschiedliche geistige Entwicklungen hervorgebracht haben. Er befragt das Entstehen von Werten. Dies wiederum gelingt ihm nicht aus neutraler Perspektive. Die Genealogie ist selbst involviert in die Prozesse der Um-Interpretation. Genealogie selbst vollzieht sich als Umwertung von Werten. Sie greift in die Prozesse ein, die sie verfolgt, kehrt Wertekonfigurationen um. Die Umwertung von Werten findet als ein Prozeß der Neu-Interpretation statt. Die genealogische Arbeit muß dabei von Anfang an als ein produktives Geschehen begriffen werden. Der Genealoge repräsentiert nicht – er greift ein. In diesem Sinn deutet sich ein Abschied von repräsentationalen Erkenntnismo14 Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin-NY: de Gruyter 1984, S. 139. 15 Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin-NY: de Gruyter 1996, S. 279 ff.

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dellen an, der mit Nietzsches Genealogie verbunden ist. Mit Nietzsche kann man auch von reaktiven Erkenntnismodellen sprechen. Im Gegensatz zu solchen Modellen ist die genealogische Perspektive aktiv beziehungsweise performativ.16 Nun ist allerdings mit den bisherigen Darlegungen noch nicht gesagt, warum die genealogische Tätigkeit als kritisch verstanden werden kann. Bislang habe ich nur erläutert, daß diese Tätigkeit Entwicklung hervorbringt. Durch die genealogische Perspektive finden Um-Interpretationen statt, kommt es zu einer Umwertung von Werten im dem Sinn, daß Werte sich in ihrer Stellung verändern oder ganz zugrunde gehen. Nietzsche beschreibt dies unter anderem in einem biologischen Bild: „… mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich … der ,Sinn‘ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehen (zum Beispiel durch Vermittlung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein.“ (KSA 5, S. 315) Entwicklungen sind immer damit verbunden, daß einzelne Elemente anders bestimmt werden beziehungsweise daß sie aus einem Zusammenhang, in dem sie zuvor standen, herausfallen. Man kann nun versucht sein, solche Um-Interpretationen mit Nietzsche als kritisch zu begreifen. Kritische Prozesse fänden so gesehen dort statt, wo es zu Werteveränderungen und Werteeliminationen kommt. Dennoch bleibt eine entsprechende Explikation von Kritik unklar. Inwiefern begründen Werteveränderungen durch interpretative Entwicklungen, in denen Werte sich voneinander abstoßen und sich wechselseitig ihre Stellungen beziehungsweise ihre Existenz nehmen, Kritik? Auf der Basis des bislang Dargestellten zeichnet sich keine Antwort auf diese Frage ab. Man kann also leicht den Eindruck gewinnen, daß Nietzsche die Möglichkeit der Kritik im engeren Sinn bestreitet. Er läßt sich so lesen, daß ihm zufolge eine Umwertung von Werten bloß in Prozessen der Veränderung zustande kommt. Da solche Prozesse keinerlei reflexive Momente aufweisen, so kann man – im Sinne der neuzeitlichen Konzeption von Selbstbewußtsein und Kritik – argwöhnen, weisen sie auch keine kritischen Momente auf. Es scheint mir wichtig, entspre16 Nietzsche läßt sich in diesem Sinn auch als ein Vordenker vieler aktueller Bemühungen begreifen, repräsentationalistische Denkweisen dadurch zu überwinden, daß man zu performativen Ansätzen übergeht. Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte, sthetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke 2001.

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chende Lesarten von Nietzsches Texten dezidiert auszuschließen, um dadurch besser zu verstehen, inwiefern Nietzsche Kritik in einem positiven Sinn begreiflich macht.

3. Zur Destruktion von Reflexivität Unter anderem zwei Positionen des neostrukturalistischen Theoriespektrums, die in der Nachfolge Nietzsches stehen, gehen davon aus, daß Nietzsche die Möglichkeit von Reflexivität und damit von Kritik depotenziert. Auch wenn ich diese Positionen an konkreten Autoren darlegen werde, geht es mir nicht um eine angemessene Diskussion der Autoren, die ich heranziehe, sondern um Typen der Depotenzierung von Kritik auf der Basis einer Depotenzierung von Reflexivität. Der erste Typ besteht in einem radikalen Perspektivismus. Der zweite Typ macht geltend, daß alle Reflexionen die Praxis, deren Reflexionen sie sind, nicht einzuholen vermögen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Nietzsches Philosophie in irgendeiner Weise als eine Philosophie der Perspektiven zu verstehen ist.17 Daraus hat man immer wieder gefolgert, daß für Nietzsche Reflexivität in einem ernsthaften Sinn nicht zustande kommt. Diese mögliche Konsequenz des Perspektivismus läßt sich unter anderem mit der Philosophie Jean-François Lyotards explizieren. Lyotard macht in seinem Hauptwerk Der Widerstreit geltend, daß alle sprachlichen Äußerungen als Sprachspiele bestimmter Regeln zustande kommen. Alle Äußerungen stehen demnach im Rahmen von Diskursarten. Solche Diskursarten legen fest, wie sprachliche Äußerungen verkettet werden können.18 Lyotards These ist nun unter anderem, daß umfassende Diskursarten nicht zustande kommen können. Jede Diskursart, die einen umfassenden Status prätendiert, ist Lyotard zufolge nichts weiter als eine Diskursart neben anderen.19 Reflexivität im Sinne des Denkens 17 Vgl. Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1985; Stephen D. Hales und Rex Welshon, Nietzsche’s Perspectivism, Urbana und Chicago, Illinois: University of Illinois Press 2000. 18 Vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (1983), aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München: Fink 2. Aufl. 1989, S. 58. 19 Vgl. Lyotard, Der Widerstreit, S. 230. Lyotard hat diese These auch in einer anderen Version vorgetragen. In dieser anderen Version ist sie historisch imprägniert und besagt, daß die großen Rahmenerzählungen zu Ende gegangen

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der Neuzeit ist aber immer als eine umfassende Diskursart erläutert worden. Sie wurde stets als ein Diskurs über Diskurse expliziert – als die Metasprache aller Sprachen. Entsprechend läßt sich die Analyse Lyotards so resümieren, daß sie die Unmöglichkeit von Reflexivität konstatiert. Lyotard rechnet demnach vor, daß keine Metasprache zustande kommen kann, da jede Metasprache nichts anderes ist als eine andere Sprache – jeder Metadiskurs nichts anderes als eine andere Diskursart. Wenn dies zutrifft, sind Reflexionen konstitutiv unmöglich. Alle Versuche, Reflexionen hervorzubringen, etablieren nur neue Diskursarten. Es kann nicht zu Diskursarten kommen, in denen Diskursarten als Subjekte und Objekte zugleich auftreten. Der Perspektivismus erweist sich in dieser Lesart als eine radikale Destruktion von Reflexivität. Nietzsches Betonung des Zusammenhangs von Entwicklung und Neu-Interpretation ließe sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen begreifen: Alle Neu-Interpretation bedeutet bloße Veränderung, ein bloßes Werden. Die Konzeption der Reflexivität ist demnach nur eine bestimmte Figur solchen Werdens, eine Wertkonfiguration, die vorgibt, es gebe eine Perspektive der Perspektiven. Tatsächlich aber, so könnte man als Resultat der genealogischen Kritik festhalten wollen, gibt es nur Perspektiven – im irreduziblen Plural. Die Destruktion der Reflexivität läßt sich auch in einer etwas moderateren Weise explizieren. Von Jacques Derrida her kann man, wie Christoph Menke erwogen hat, die These vertreten, daß es zwischen unserem praktischen Tun und den Reflexionen dieses Tuns immer zu einem Abstand (diffrance) kommt.20 Dieser Abstand zwischen Tun und Reflexionen hat demnach mindestens zwei Dimensionen: Erstens verspätet sich alle Reflexion gegenüber dem Tun, das sie reflektiert. Der Gegenstand einer Reflexion geht dieser konstitutiv voraus. Das hat zur Folge, daß eine Reflexion ihn als solchen nicht zu erreichen vermag. Zweitens kann alle Reflexion ihre Einwirkung auf Vollzüge nicht garantieren. Zwar können Reflexionen in untersind, daß nach der Moderne keine umfassenden Erzählungen mehr möglich sind, sondern nur viele Teilerzählungen nebeneinander Bestand haben (vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen (1979), aus dem Französischen übersetzt von Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1986). 20 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 234 ff.; vgl. auch Jacques Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“ (1971), aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Ahrens u. a., in: Randgnge der Philosophie, Wien: Passagen 2. Aufl. 1999, S. 325 – 351.

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schiedlicher Weise mit der Prätention verbunden sein, sich auf unser Tun auszuwirken. Da Reflexionen aber nicht in einem Akt zugleich auch das Tun mit zu sein vermögen, das sie zu bestimmen suchen, können sie nicht sicherstellen, daß das Tun so ausfällt, wie sie es vorgeben.21 Die Idee einer abgesicherten Wirksamkeit von Reflexivität hat allerdings immer das neuzeitliche Verständnis von Selbstbestimmung geprägt. Zieht man vor dem Hintergrund von Nietzsches Überlegungen Konsequenzen in dieser Art und Weise, dann gesteht man zwar zu, daß es Um-Interpretationen gibt, die als Reflexionen gelten können. Diese spezifischen Um-Interpretationen gewinnen aber ihre Distanz nur um den Preis eines Verlusts an sicherer Wirksamkeit. In idealistischem Vokabular kann man so sagen: Subjektives und Objektives treten auseinander. Dies wiederum kann man darauf zurückführen, daß das Geschehen der Entwicklung von Werten als solches ohne Reflexionen funktioniert. In einer wittgensteinianischen Begrifflichkeit gesagt: All unser Tun und Wertegeschehen entwickeln sich „blind“.22 Zwar kann es Formulierungen dessen geben, was in der Praxis funktioniert. Solche Formulierungen aber treten konstitutiv verschoben auf. Sie konstituieren die Praxis nicht. Das heißt auch, daß ihr möglicher Einfluß auf die Praxis nicht abgesichert werden kann. Man kann denken, daß Nietzsche von Positionen wie derjenigen Wittgensteins her verstanden werden kann. Beide skizzierten Varianten einer Depotenzierung von Reflexivität lassen sich aber meines Erachtens nicht von Nietzsche her gewinnen. Ich will zwei Gründe nennen, die mich zu dieser Diagnose bringen: Der erste Grund bezieht sich auf das Interpretationsgeschehen der Werte. Dieses Geschehen läßt sich nicht in einem wittgensteinianischen Sinn als Praxis verstehen, in die ihre Partizipanten „blind“ involviert sind.23 Nach Nietzsches Verständnis ist es wesentlich für dieses Geschehen, daß es zu Überwältigungen von Werten kommt, zu Ge21 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autoritt (1990), aus dem Französischen übersetzt von Alexander Garía Düttmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Teil I. 22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 219. 23 Vgl. zu dem entsprechenden wittgensteinianischen Verständnis von Praxis z. B. John McDowell, „Wittgenstein on Following a Rule“, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1998, S. 221 – 262.

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schehnissen der Umwertung von Werten. Das heißt, daß man ein solches Geschehen falsch bestimmt, wenn man es bloß als Veränderung von Werten zeichnet. Es handelt sich um ein Geschehen, in dem Wertungen sich auf Werte beziehen. Dies läßt sich unter anderem an einer Erläuterung Foucaults nachvollziehen. „Wenn Interpretieren heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von Interpretationen.“24 In Foucaults Erläuterung wird zwischen einem System von Regeln und interpretativen Geschehnissen des Überwältigens und der Bemächtigung dezidiert unterschieden. Entwicklung kommt nach Nietzsche durch Vorgänge der Überwältigung zustande, die sich auf bestehende Werte, auf Systeme von Regeln, beziehen. Dem wird man nicht gerecht, wenn man auf ein wittgensteinianisches Szenario zurückgreift, innerhalb dessen der ,blinden‘ Praxis ein Primat zukommt. Eine Praxis im Sinne Nietzsches ist immer eine von Interpretationen durchsetzte Praxis. Der zweite Grund bringt mich zum Begriff der Perspektive. Es scheint mir falsch, nach Nietzsche einfach von einer irreduziblen Pluralität von Perspektiven zu sprechen. Nicht nur läßt sich die Position nicht recht verständlich machen, von der aus man eine solche Pluralität von Perspektiven aussagt. Es ist auch so, daß von Perspektiven in einem irgendwie unterscheidbaren Sinn nicht die Rede sein kann.25 Mit Nietzsche sollte man nicht von einer bestimmten Wertkonfiguration als einer Perspektive sprechen. Vielmehr kann man sagen, daß in einem Prozeß der Um-Interpretation eine Perspektive bezogen wird. Eine so verstandene Perspektive kommt prozessual zustande. Sie ist ein Moment des Eingriffs in Wertekonfigurationen. Eine Perspektive in diesem Sinn hat keinerlei Bestand – sie kann nicht substantiiert werden. Wie der 24 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, in: Walter Seitter (Hrsg.), Von der Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 83 – 109, hier S. 95. 25 In diesem Punkt läßt sich Derrida gut als Nachfolger Nietzsches verstehen, wenn er geltend macht, daß mit der Idee des Zentrums auch die Idee unterschiedlicher für sich bestehender Zentren hinfällig wird. Vgl. Jacques Derrida, „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 422 – 442.

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Genealoge verdeutlicht, kann ein Eingriff immer wieder aufs Neue erfolgen. So sind die um-interpretierenden Perspektiven damit verbunden, daß es immer zu neuen Um-Interpretationen der hergebrachten Wertezusammenhänge zu kommen vermag. Perspektiven sind darauf angelegt, einander abzulösen. In Prozessen der Um-Interpretation treten Perspektiven nicht einander gegenüber, sondern treten, wie es bei Foucault hieß, Systemen von Regeln gegenüber, die sie insgesamt zu bemächtigen suchen.

4. Reflexivität als produktive Kritik Die Gründe, die ich gegen die referierten Typen einer Depotenzierung von Reflexivität ins Spiel gebracht habe, machen meines Erachtens deutlich, daß Nietzsche nicht einfach so verstanden werden kann, daß er Reflexivität depotenziert. Entsprechend stellt eine solche mögliche Depotenzierung auch nicht die Basis für eine Verabschiedung des Begriffs der Kritik dar. Das heißt, daß ich wieder auf die Frage zurückkomme, die ich im vorletzten Abschnitt habe liegen lassen: Inwiefern begründen Werteveränderungen durch interpretative Entwicklungen, in denen Werte sich voneinander abstoßen und sich wechselseitig ihre Stellungen beziehungsweise ihre Existenz nehmen, Kritik? Diese Frage kann man nach den Überlegungen des letzten Abschnitts auch anders formulieren: Inwiefern geht das Geschehen der Um-Interpretationen, das Nietzsche zeichnet, über einen bloßen Perspektivismus und über eine bloße Praxis hinaus? Auf diese Frage scheint eine gewissermaßen tautologische Antwort möglich: Das Geschehen geht gerade dadurch über diese Formen der Praxis hinaus, daß es ein Geschehen der UmInterpretationen ist. In dieser Antwort scheint mir aber mehr zu liegen als eine bloße Tautologie. Nietzsche sucht das Geschehen der UmInterpretationen als ein Geschehen zu begreifen, das in dem Maße, in dem es kritisch ist, zugleich reflexiv ist. Die Begriffe der Kritik und der Reflexivität müssen entsprechend nach Nietzsche so verstanden werden, daß sie sich wechselseitig erläutern. In diesem Sinn gehen mit Nietzsche Konzeptionen, die sich auf die Formel „Erst Reflexivität, dann Kritik“ bringen lassen, zuende. Das Moment von Reflexivität, das dem Interpretationsgeschehen inhärent ist, läßt sich vorerst folgendermaßen bestimmen: Die UmInterpretationen konfigurieren Werte. Foucault beschreibt solche UmInterpretationen als „Ersetzungen, Versetzungen und Verstellungen,

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Eroberungen und Umwälzungen“.26 Ersetzungen, Eroberungen und Umwälzungen gehen immer auf Distanz zu bestimmten bestehenden Wertkonfigurationen und zeigen in diesem Sinn ein reflexives Moment. Sie sind Machtgeschehnisse aus einer bestimmten Distanz heraus. Über Macht allerdings verfügen die Geschehnisse nicht von sich aus. Sie verfügen über sie nur dadurch, daß sie kritische Wirkungen entfalten. Als solche kritischen Wirkungen lassen sich die Momente der Wertveränderung und der Werteliminierung begreifen, die ich oben bereits genannt habe. Diese Momente sind wiederum nicht als solche kritisch, sondern nur insofern, als sie in einem Geschehen der Wertekonfiguration zustande kommen – in einem Geschehen, das eine Dimension von Macht aufweist. Die – enge – Interdependenz von Kritik und Reflexivität, die somit knapp bestimmt ist, läßt sich gut mit Nietzsches Wort vom „Pathos der Distanz“ verbinden. Eine der berühmten Formulierungen Nietzsches, in denen vom „Pathos der Distanz“ die Rede ist, lautet: „Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie [die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten] sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen: was gieng sie die Nützlichkeit an!“ (KSA 5, S. 259) Nietzsche schreibt den Vornehmen zu, daß sie Werte unterscheiden, daß sie bestimmte Werte einsetzen und bestimmte andere Werte außer Kraft setzen. Gerade von den oben bereits vorgetragenen Überlegungen her kann man die Realisierung von Distanz als eine Realisierung von Kritik begreifen. So könnte man den Begriff der Distanz als Element einer Antwort auf die oben bereits gestellte Frage begreifen, inwiefern man mit Nietzsche von Kritik sprechen kann: Eine Kritik von Werten käme dadurch zustande, daß eine Praxis der Distanz etabliert wird, daß Werte unterschieden werden, daß sie in beziehungsweise außer Kraft gesetzt werden. Mit dem Begriff der Distanz läßt sich nicht allein derjenige der Kritik, sondern auch derjenige der Reflexivität beleuchten: Nietzsche begreift die Vornehmen als solche, die Werte von ihrem Standpunkt aus prägen, die Werte mit eigenen Perspektiven imprägnieren. Die Vornehmen gewinnen in ihrer Praxis der Distanz Stellungnahmen gegenüber Werten. Genau in diesem Sinn kann man eine Realisierung von Distanz als eine Realisierung von Reflexivität begreifen. In der Distanz werden Perspektivierungen beziehungsweise Stellungnahmen erreicht. 26 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (Anm. 24): S. 83 – 109, hier: S. 95.

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Nun kann man argwöhnen, daß man Stellungnahmen nur dann als reflexive Praktiken begreifen kann, wenn man sie von vornherein als reflexiv begreift. Man könnte Nietzsche, wie ich ihn interpretiere, einer petitio principii bezichtigen. Das scheint mir aber nicht berechtigt zu sein. Ich halte es gerade für die Grundintuition von Nietzsches Erläuterungen zu sagen, daß in Stellungnahmen Reflexivität zustande kommt, daß ein Geschehen der Perspektivierung Reflexivität konstituiert. Nietzsche muß so verstanden werden, daß er gängige Erläuterungen umkehrt. Reflexivität ist nicht das Fundament der Umwertung von Werten – sie kommt erst mit dieser Umwertung selbst zustande. Dort, wo ein Umwerten von Werten, ein Schaffen von Werten, stattfindet, konstituieren sich reflexive Momente. Volker Gerhardt hat das „Pathos der Distanz“ als eine „ethische Grundregel“27 Nietzsches bezeichnet. Ich meine, daß es sich dabei um eine Ethik reflexiver Praxis handelt. Nun weisen alle Erläuterungen, die ich bislang zu einer möglichen Interdependenz von Kritik und Reflexivität gegeben habe, das Problem auf, daß nicht recht verständlich wird, wie man beide Begriffe im Sinne dieser Erläuterungen unterscheiden könnte. Diese Problematik kann ich auch folgendermaßen zum Ausdruck bringen. Ich habe mit Nietzsche und Nietzsche-Interpreten wie Günter Abel oder Volker Gerhardt durchweg behauptet, daß das Geschehen Um-Interpretation als Grundgeschehen begriffen werden muß. Dabei ist aber letztlich die Frage nicht beantwortet worden, wodurch ein Geschehen ein Geschehen der Um-Interpretation ist. Zur Beantwortung dieser Frage reicht es nicht aus, bloß die Begriffe der Kritik und der Reflexivität ins Spiel zu bringen, zumal dann nicht, wenn man mit diesen Begriffen ein derart enges begriffliches Netz schnürt, wie ich dies in den letzten Absätzen getan habe. Es bleibt unklar, ob dieses enge begriffliche Netz eine Explikationsleistung erbringt. Um zu erkennen, inwiefern mit Nietzsches Position tatsächlich eine neue Explikation von Kritik und Reflexivität auf den Weg gebracht sein könnte, scheint es mir hilfreich, auf einen Aspekt zurückzukommen, den ich oben bereits anläßlich meines kurzen Verweises auf Hegel angesprochen habe. Hegel zufolge, so habe ich angedeutet, ist Selbstbewußtsein erst dort realisiert, wo Praktiken symbolischer Artikulation entwickelt sind. Genau diese Idee läßt sich nun für die Position Nietzsches fruchtbar machen. Ein Geschehen der Um-Interpretation ist 27 Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart: Reclam 1988, S. 6.

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demnach als ein Geschehen zu begreifen, das von symbolischen Artikulationen geprägt ist. Das „Pathos der Distanz“, das ein solches Geschehen auszeichnet, ist immer mit Formen des Zeichengebrauchs verbunden.28 Wenn man Nietzsches Konzeption in dieser Weise von Hegels Begriff geistiger Praktiken her zu ergänzen sucht, kann es nicht darum gehen, wieder zu der klassischen Idee selbstbewußter Kritik zurückzukehren. Vielmehr muß es das Ziel sein, die Tendenzen aufzugreifen, die von Hegel zu Nietzsche weisen. Symbolische Artikulationen müssen entsprechend so begriffen werden, daß sie nicht in einem Raum des Selbstbewußtseins zustande kommen, in dem auf ihrer Basis dann auch Kritik möglich wird. Es muß vielmehr begreiflich werden, daß die symbolischen Praktiken, die in Um-Interpretationen im Spiel sind, von sich her eine kritische Dimension gewinnen. Durch symbolische Praktiken werden Werte verändert und Werte eliminiert. Um einen Begriff symbolischer Praktiken zu gewinnen, der diesen Anforderungen gerecht wird, darf man symbolische Praktiken nicht grundsätzlich als reflexiv begreifen. Eine Explikation der Reflexivität symbolischer Praktiken, die den Weg von Hegel zu Nietzsche und darüber hinaus fortsetzt, muß Reflexivität als eine Dimension begreifen, die in symbolischen Praktiken selbst entwickelt wird. Symbolische Praktiken werden dadurch reflexiv, daß Formen entwickelt werden, in denen es denjenigen, die an ihnen partizipieren, möglich wird, sich auf diese Praktiken selbst zu beziehen. Damit kommt man zu einem Verständnis von Reflexivität als einer prozessualen Dimension symbolischer Praktiken. Zugleich wird es möglich, Kritik und Reflexivität zu unterscheiden: Reflexivität ist eine Struktur, die sich in symbolischen Praktiken entwickelt. Kritisch sind all die Praktiken, in denen solche symbolischen Strukturen entwickelt und praktiziert werden. Das Geschehen der Um-Interpretation ist als ein Geschehen zu begreifen, bei dem Formen im Spiel sind, innerhalb derer in symbolischen Praktiken auf diese Praktiken selbst Bezug genommen wird. Es scheint mir sinnvoll, etwas konkreter zu werden: Das Paradigma reflexiver Formen, in denen wir in symbolischen Praktiken auf diese selbst Bezug nehmen, ist das Reden über Sprache. Äußerungen wie „Zidane sagt: ,Er hat mich beleidigt‘“ sind Realisierungen solcher Formen. Wir haben uns zum Teil angewöhnt, solche zitierenden Äu28 Auch Günter Abel hat eine entsprechende Verbindung von Nietzsches Genealogie mit interpretativen Zeichengeschehnissen hergestellt; vgl. Günter Abel, Interpretationswelten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, z. B. S. 437 ff.

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ßerungen als unproduktive Verdopplungen zu begreifen. Ob wir noch einmal sagen, was Zidane bereits gesagt hat oder nicht: Es bleibt dabei, daß Zidane es genau so gesagt hat. Dies scheint mir aber eine falsche Deutung des Redens über Sprache zu sein. Das Reden über Sprache ist in den entscheidenden Formen ein solches, das unser Sprechen und Verstehen weiterentwickelt.29 Daß dies so ist, will ich noch an einem anderen Beispiel verständlich machen: am Beispiel grammatischer Sprachformen. Aussagen wie „,Ich bin‘ ist eine Verbform in der Ersten Person Singular Präsens Indikativ.“ müssen wir in dem Sinn als produktiv verstehen, daß solche Aussagen unser Sprechen standardisieren und disziplinieren. Verfügten wir nicht über solche Aussagen, wäre unser Sprachgebrauch weniger gleichförmig. Ich gehe also unter anderem mit Christian Stetter davon aus, daß wir unser grammatisches Sprechen als sprachgestaltend begreifen müssen.30 Die Grammatik expliziert diesem Verständnis entsprechend nicht das implizit bereits Vorhandene und Verstandene. Sie gestaltet Praktiken. Dies leistet sie – man denke nochmals an den oben diskutierten zweiten Typ einer Depotenzierung von Reflexivität – genau in einer Verschiebung gegenüber allem Vollzug. Das grammatische Reden über Sprache führt zu einer Weiterentwicklung der Praxis. Daß eine solche Um-Interpretation die Praxis nicht zu garantieren vermag, ist kein Defizit, das sie aufweist. Es ist ein Aspekt der produktiven Prozesse, innerhalb deren Um-Interpretationen zustande kommen. Diese weisen in dem Sinn stets über sich hinaus, daß sie gewissermaßen auf die Ablösung durch weitere UmInterpretationen hinzielen. Ich bin der Meinung, daß sich auch bei Nietzsche Andeutungen finden, wie sich in symbolischen Praktiken reflexive Strukturen ergeben können. Besonders markant scheint mir in dieser Hinsicht der Begriff der Kunst zu sein, den Nietzsche im zweiten Teil von „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ entwickelt. Nietzsche zeichnet hier unter dem Begriff des „freigewordenen Intellekts“ das Bild einer Kunst, die sich auf die grundlegende, metaphern- und begriffsbildende Kunst des Menschen bezieht: „[Das] ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe … ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: …“ (KSA 1, 29 Vgl. hierzu und weiterführend: Georg W. Bertram, Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Welbrück 2006, 5. Kap. 30 Vgl. Christian Stetter, Sprache und Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

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S. 888) Eine Kunst, die sich in dieser Weise auf Kunst bezieht, entwickelt eine reflexive Struktur: Sie spielt mit dem Prinzip der Metaphernbildung, das nach Nietzsches Verständnis die Begriffsbildungen des Menschen überhaupt ausmacht. Sie verändert die Begriffsbildungen und sie verändert auch das Verständnis derselben. Ich will nicht behaupten, daß Nietzsche tatsächlich Reflexivität von symbolischen Praktiken her expliziert. Ich verweise lediglich auf Andeutungen, die in Richtung einer entsprechenden Explikation gehen. Es ist meine These, daß die produktive Dimension von Kritik, die Nietzsches Überlegungen immer wieder geltend machen, nur dann begreiflich gemacht werden kann, wenn man Reflexivität von symbolischen Praktiken her expliziert. Dann wird auch begreiflich, daß die genealogische Kritik (symbolisch artikulierte) Wertekonfigurationen verändert. Diese Kritik wird genau durch die besagten Formen von Reflexivität realisiert. In den Prozessen der Um-Interpretation, im Schaffen von Werten sind so Kritik und Reflexivität miteinander verbunden. Dabei ist keine Reflexivität im Spiel, die der Kritik vorausgeht. Reflexivität kommt als strukturelles Moment symbolischer Praktiken nur in dem Maße zustande, in dem auch Praktiken einer kritischen Distanz entwickelt werden. „Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, … das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art“ (KSA 5, S. 259) geht aus Praktiken der Um-Interpretation hervor. Nietzsche kommt damit zu einem Verständnis von Reflexivität, das diese auf das Vorliegen bestimmter Interpretationsgeschehnisse zurückführt. Reflexivität ist keine gegebene (Meta-)Struktur der Bezugnahme eines Geschehens auf sich selbst. Reflexivität wird als eine Struktur begriffen („Distanz“), die erst durch Interpretationsprozesse – durch eine bestimmte Entwicklung symbolischer Praktiken – zustande kommt.

5. Ein anderer Begriff des Subjekts Das an Nietzsche gewonnene Verständnis von Kritik und Reflexivität will ich abschließend für einen Begriff des Subjekts fruchtbar machen, der die Alternative von ,Subjekt oder Tod des Subjekts‘ unterläuft. Dieser andere Begriff des Subjekts nimmt sich knapp folgendermaßen aus: Subjektivität beruht auf Praktiken der Subjektivierung beziehungsweise Selbstbewußtwerdung. Das Subjekt als eine Instanz von Reflexivität konstituiert sich im Rahmen von Interpretationsgescheh-

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nissen. Es kann dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen. Entsprechend scheint es mir sinnvoll, von einem offenen Begriff von Subjektivität zu sprechen. Nietzsche erweist sich in der Lesart, für die ich plädiere, nicht als ein Wegweiser auf dem Weg zur Verabschiedung des Subjekts. Er fungiert vielmehr als eine wichtige Station in der Entwicklung eines offenen Begriffs von Subjektivität.31 Diesen offenen Begriff von Subjektivität kennzeichnen besonders zwei Aspekte: Erstens werden Formen von Subjektivität beziehungsweise von Selbstbewußtsein in Praktiken entwickelt. In Praktiken der Interpretation und Um-Interpretation können Perspektiven der UmInterpretation zustande kommen, die sich anderen Perspektiven gegenüber behaupten. In einem anderen Vokabular gesagt: In symbolischen Praktiken ist es möglich, daß sich – im weitesten Sinn – individuelle Prägungen von Symbolen entwickeln, die sich von anderen solchen Prägungen abgrenzen lassen. Dies ist dort der Fall, wo es möglich wird, sich in symbolischen Praktiken auf diese Praktiken selbst zu beziehen. Zweitens entwickeln sich in einem solchen Geschehen, in dem sich Perspektiven der Um-Interpretation ausbilden, auch die Interpretationen solcher Perspektiven in unterschiedlicher Weise. Der Begriff des Subjekts beziehungsweise des Selbstbewußtseins ist selbst ein Moment der sich entwickelnden Perspektiven. Was als subjektive beziehungsweise selbstbewußte Intentionalität gilt, wird im Prozeß der Um-Interpretationen in immer neuer Weise verstanden. Nietzsches Insistieren auf Prozessen der Überwindung, des Über-etwas-hinausGehens weist auch diese Stoßrichtung auf: Auch die Perspektiven, die im Prozeß der Un-Interpretationen bezogen werden, werden in diesem Prozeß immer in neuer Weise interpretiert. Es bilden sich in diesem 31 Die Geschichte läßt sich, wie bereits angedeutet, durchaus so schreiben, daß die Entwicklung eines solchen offenen Begriffs von Subjektivität unter anderem bei Hegel ihren Ausgang nimmt. Hegel muß also nicht unbedingt als derjenige verstanden werden, bei dem sich – wie oben betrachtet – ein neuzeitliches Verständnis von Selbstbewußtheit zuspitzt. Er kann auch als ein Autor gelesen werden, der das Denken von einer fixierten Form von Selbstbewußtheit her verabschiedet. Vgl. zu Verbindungen zwischen Hegel und Nietzsche die Beiträge in Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.): Nietzsche und Hegel, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992. Auf einen Weg, der zu einem offen Begriff von Subjektivität führt, können auf jeden Fall auch die Romantiker eingezeichnet werden. Vgl. z. B. Dirk von Petersdorff, „Nietzsche und die romantische Ironie“, in: Renate Reschke und Volker Gerhardt (Hg.), Antike und Romantik bei Nietzsche. Nietzscheforschung, Band 11, Berlin: Akademie 2004, S. 29 – 43.

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Prozeß also unterschiedliche Formen von Subjektivität und Selbstbewußtheit und unterschiedliche Verständnisse der jeweils etablierten Formen aus. Nach dem offenen Begriff von Subjektivität, der mit diesen beiden Aspekten charakterisiert ist, kommt Subjektivität beziehungsweise Selbstbewußtsein immer dadurch zustande, daß in Praktiken Formen von Reflexivität entwickelt werden. Kommt es zu Veränderungen dieser Formen – in Nietzsches Vokabular gesagt: zu Überwindungen –, verändern sich Subjektivität und Selbstbewußtsein. Eine solche Veränderung kann sowohl die Formen selbst als auch die Interpretationen dieser Formen betreffen. Eine Instanz der Reflexion wie Subjektivität beziehungsweise Selbstbewußtsein hat somit nach Nietzsche keine feststehende Form. Vielmehr formt sich eine solche Instanz in produktiven Praktiken der Kritik und Reflexion und ist damit veränderlich. Dem offenen Begriff von Subjektivität, den ich bei Nietzsche angelegt sehe, kann ich dadurch noch etwas Kontur verleihen, daß ich ihn von zwei anderen Explikationen abgrenze, die gleichfalls das neuzeitliche Verständnis von Subjektivität zu verabschieden suchen. Es handelt sich erstens um das von Michel Foucault ausgehende Verständnis von Subjektivität als Subjektivation. Zweitens handelt es sich um den von Ernst Tugendhat paradigmatisch gebündelten Begriff von Subjektivität, den man als nachmetaphysisch und nachidealistisch charakterisieren kann. Vor allem Judith Butler ist Michel Foucault in dem Versuch gefolgt, Subjektivität als eine Instanz zu begreifen, die von Diskursen produziert wird. Im Anschluß an den ersten Band von Sexualitt und Wahrheit 32 profiliert sie dabei den Begriff der Subjektivierung (assujettissement).33 Wenn diskursive Praktiken sich zum Beispiel so entwickeln, daß einzelne Individuen Sorgen oder Lüste, Verfehlungen oder Hoffnungen als eigene Sorgen, Lüste etc. artikulieren, dann findet Subjektivation statt: Der Diskurs formt Individuen dann als Subjekte. Die Form des Subjekts wird damit als eine Form verstanden, die in interpretativen Praktiken ausgebildet wird.

32 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualitt und Wahrheit I (1976), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, u. a. 58 f. 33 Vgl. z. B. Judith Butler, Kçrper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993), aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, 60 ff.

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Ein solches Verständnis von Subjektivität als einer bloß von Diskursen (als anonymen Mächten) hervorgebrachten Form läßt sich von Nietzsche her aber in zweifacher Hinsicht kritisieren: Erstens begreift Butler Foucaults Diskurse als Praktiken, in denen es nicht zu einem Geschehen der Um-Interpretationen kommt. Diskurse entwickeln sich, so kann man wieder das Wort Wittgensteins bemühen, „blind“. Aus Nietzsche Sicht werden Diskurse so allerdings nicht als Wertgeschehnisse verständlich. Wertgeschehnisse sind damit verbunden, daß Interpretationen und Um-Interpretationen stattfinden. Eine bedeutungstragende Praxis gibt es, so können wir Nietzsches Überlegungen pointieren, nur unter diesen Bedingungen. Butlers Foucault gelingt es nicht, überhaupt eine bedeutungstragende Praxis einsichtig zu machen. Zweitens sitzt Butlers Foucault der neuzeitlichen Logik der Verbindung von Selbstbewußtsein und Kritik auf. Er begreift eine gegebene Form der Reflexivität als Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Da der Diskurs als blinde Praxis keine gegebene Form der Reflexivität aufweist, folgt so, daß Subjekte, die sich im Diskurs ausbilden, nicht als kritische Instanzen gedacht werden können. Dies folgt allerdings nur auf der Basis der für Nietzsche unhaltbaren Voraussetzung, daß Kritik etablierte Formen der Reflexivität voraussetzt. Läßt man diese Voraussetzung fallen, muß man möglicherweise sagen, daß Subjekte zwar im Rahmen von diskursiven Praktiken entstehen, daß sie aber als solchermaßen entstandene sehr wohl als Instanzen von Kritik – als sich behauptende Perspektiven der Um-Interpretationen – fungieren können. Ernst Tugendhat hat vor dem Hintergrund von Überlegungen Martin Heideggers und Gilbert Ryles den Versuch unternommen, einen nachidealistischen Begriff des Selbstbewußtseins zu konturieren. Er zeichnet nach, daß Individuen in Praktiken, vor allem symbolischen Praktiken, die in Gemeinschaften entwickelt werden, ein „reflektiertes Selbstverhältnis“ zu gewinnen vermögen.34 Ein reflektiertes Selbstverhältnis muß diesem Verständnis zufolge etabliert werden; es ist keine gegebene Struktur. Der Vorschlag Tugendhats, den ich hier nur in seiner Stoßrichtung charakterisiere, weist offensichtlich eine enge Verwandtschaft zu dem offen Begriff von Subjektivität auf, von dem ich im Anschluß an Nietzsche spreche. Dennoch läßt sich mit Nietzsche ein

34 Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, z. B. S. 31 ff.

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Einwand gegen die Analysen Tugendhats vortragen:35 Subjektivität und Selbstbewußtsein haben keine ex ante bestimmbare Form. Sie können sich in unterschiedlichen Formen entwickeln. Das heißt, daß sich nur aus Praktiken der Interpretation und Um-Interpretation – aus bedeutungstragenden Praktiken – heraus sagen läßt, was als reflektiertes Selbstverhältnis gilt. Oder negativ gesagt: Es läßt sich nicht unabhängig von bestimmten Praktiken sagen, welche Formen Praktiken gewinnen müssen, um Praktiken zu sein, in denen ein reflektiertes Selbstverhältnis konstituiert ist. Man kann sagen, daß ein offener Begriff von Subjektivität sowohl in Butlers als auch in Tugendhats Überlegungen angelegt ist. Dennoch gewinnt ein solcher Begriff weder bei Butler noch bei Tugendhat eine ausreichende Kontur. In einer neueren Publikation Butlers findet sich die Einsicht artikuliert, „daß sich die Erzeugung des Selbst als Bestandteil der Praxis der Kritik erweist“.36 In der Konsequenz dieser Einsicht liegt es, das Selbst nicht bloß als eine Form zu begreifen, die durch Diskurse konstituiert wird, sondern das Selbst als Moment einer spezifischen Entwicklung von Diskursen (symbolischen Praktiken) zu explizieren. Das Subjekt wird dabei nicht für tot erklärt und es wird auch nicht auf eine bestimmte Form der Ausgestaltung gemeinschaftlicher Praktiken zurückgeführt. Es wird verstanden als konstituiert in Praktiken der Kritik, die im Rahmen von symbolischen Praktiken, die ihrerseits eine Dimension der Reflexivität aufweisen, entwickelt sind. In dieser Weise konstituiert ist das Subjekt eine offene Form: Es kann je unterschiedliche Gestalten annehmen und kann sich in diesen Gestalten mitsamt der symbolischen Praktiken, an denen es partizipiert, in je unterschiedlicher Art und Weise entwickeln und zu entwickeln suchen. Der offene Begriff von Subjektivität, der sich von Nietzsche her ankündigt, scheint mir besonders geeignet für eine Aufgabe, mit der das neuzeitliche Verständnis von Subjektivität beziehungsweise Selbstbewußtsein immer verbunden war. Es handelt sich um die Aufgabe, eine kritische Selbstbestimmung des Menschen anzuleiten – eine Aufgabe, die unter anderem unter den Titeln der „Aufklärung“ oder der „kritischen Gesellschaftstheorie“ verfolgt worden ist. Die Pointe des offenen 35 Es kann nicht in Tugendhats Sinn sein, daß genau dieser Einwand aus Nietzsches Perspektive auch Hegel trifft, der genauso wie Tugendhat davon ausgeht, daß Selbstbewußtsein die Form der Individualität hat. 36 Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt (2002), aus dem Englischen übersetzt von Rainer Ansén, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 26.

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Begriffs von Subjektivität liegt darin, daß er die Frage, was als angemessen kritisches Verhalten gilt, in die Konstitution von Subjektivität selbst hinein verlagert. Im Anschluß an Nietzsche ist es eine zentrale Frage kritischer Philosophie, welche Form von Subjektivität wir uns geben wollen. Wir können diese Frage aber nur beantworten, wenn wir dabei zu den Fragen Stellung nehmen, in welcher Weise wir uns als kritisch und reflexiv verstehen. In einem Geschehen ständiger UmInterpretation wird allerdings keine der Antworten auf diese Fragen für sich Bestand haben. Sie werden sich immer in der Weiterentwicklung von Praktiken der Kritik behaupten müssen. Uns ist aufgetragen, immer aufs Neue zu klären, wie wir uns in unseren Praktiken als kritisch verstehen und verstehen wollen.

Science du Désastre et Démocratie Jean-Marc Hémion Que doit la mesure du «désastre» (Unheil) repéré par Nietzsche dans le déploiement scientifique et démocratique, dès La Naissance de la tragdie, aux larmes? Comment mesurer, en retour, les mutations d’une pensée suscitée par les larmes, dépliée jusqu’à l’«auto-critique», cet exercice si peu conforme aux caricatures aristocratiques? Comment s’agence la structure qui associe «science du désastre» – symptôme scientifique du désastre et sondage rigoureux du désastre – et machines; machines autocritiques et ambiguïtés de la politique nietzschéenne? Comment ces ambiguïtés, ces contradictions parfois, ces retournements souvent, supportent-ils la multiplicité des lectures possibles des rapports entre science, «démocratisation» et désastre déploré? Je retiendrai surtout, mais pas exclusivement, les textes contemporains de La Naissance de la tragdie et de Humain, trop humain, parce qu’ils correspondent à une formation – toujours renouvelée, toujours revenue – du problème politique, à une mutation – toujours fuyante – des rapports qui structurent ce problème. La Naissance de la tragdie, publiée en 1872 (première publication de Nietzsche) et Humain, trop humain I et II, publié en 1878 et 1879, sont réédités en 1886 avec modification du sous-titre et préalable «auto-critique» pour La Naissance de la tragdie, de nouveaux avant-propos pour Humain, trop humain: ces rééditions datent un travail de ré-écriture auto-critique et politique de la science du désastre. Quel rapport à la science suppose l’interprétation éplorée de la modernité démocratique comme désastre? De quelle problématique la politique selon Nietzsche est-elle l’institution? Où le rapport muable de la science du désastre et d’une science politique s’inscrit-il? Quelle «machine», en d’autres termes, requiert ici la lecture et l’interprétation auto- et hétéro-critiques?

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A – Les Larmes de Nietzsche mesurent un Désastre Nietzsche pleurait, ne se cachait pas d’avoir pleuré, et ses larmes participent de tout autre chose que d’une émotion privée; elles relèvent de l’expression d’un ébranlement spirituel devant un phénomène dont le caractère politique semble, dans un premier temps, indifférent: «Lorsque j’ai entendu parler de l’incendie de Paris, j’ai été anéanti pendant quelques jours, effondré dans le doute et les larmes: toute l’existence scientifique, philosophique et artistique m’est apparue comme une absurdité dès lors qu’un unique jour pouvait abolir les chef-d’œuvres les plus magnifiques et même des périodes entières de l’art; avec une conviction grave, je me cramponnais à la valeur métaphysique de l’art qui ne saurait être là pour les pauvres humains, ayant de plus hautes missions à accomplir. Mais même dans ma suprême douleur je n’étais pas en état de jeter la pierre à ces criminels qui n’étaient pour moi que les porteurs d‘une faute universelle dont il y a beaucoup à penser.»1

L’incendie de Paris déploré dans cette Lettre du 21 juin 1871 désigne ce qu’une fausse nouvelle présentait comme incendie du Louvre – il s’agit, en fait, de la destruction par le feu, lors de la «semaine sanglante» (21 – 28 mai 1871), du Palais des Tuileries – et manifeste, pour Nietzsche, un combat contre la «culture» mené, à travers les ouvriers parisiens, «ces criminels», par la civilisation. Le 27 mai 1871, trois jours après l’incendie, il écrit à Vischer-Bilfinger, son protecteur à l’université de Bâle: «A quoi ressemble cette profession [savant] quant un seul jour funeste suffit à réduire en cendres les plus précieux documents de cette période? C’est le pire jour de ma vie.»2

Les larmes suscitées par le combat de la Zivilisation contre la Kultur ne sècheront pas, comme on dit, avec le temps; elles concentrent les affects théoriques de l’expérience nietzschéenne de la science et de l’art. En 1879, un fragment passant en revue les différentes circonstances dans lesquelles Nietzsche a pleuré évoque d’abord la Commune; en 1878, c’est un fragment intitulé «Memorabilia» qui porte sur la souffrance

1

2

Lettre  Gersdorff du 21 juin 1871 dans Friedrich Nietzsche, Œuvres philosophiques compltes, I . La Naissance de la tragdie – Fragments posthumes, trad. M. Haar, P. Lacoue-Labarthe, J.L. Nancy, Colli-Montinari, NRF, Paris: Gallimard 1977, p. 502 – 503. Ibid., p. 501 – 502.

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profonde de l’incendie du Louvre.3 Les larmes incorporent une pensée apparemment équivoque de la valeur non démocratique de l’art («qui ne saurait être là pour les pauvres humains») et de la «faute universelle» portée par l’existence criminelle. Ces larmes que l’on ne saurait décider sont décisives et n’apparaissent pas sans détermination, sans structure organique et spirituelle antérieure organisant la perception et réception du «jour» de destruction. A la fin de 1871, s’achève le travail publié en 1872 sous le titre «La Naissance de la tragédie à partir de l’esprit de la musique», titre assumé par un auteur professeur de philologie; ce travail «savant» (réédité en 86 sous un nouveau titre, La Naissance de la tragdie ou hellnit et pessimisme, et avec un «Essai d’auto-critique» placé au début de l’ouvrage avant la dédicace à Wagner) fut préparé, décomposé et recomposé, sous des titres divers de l’examen desquels ressort une triple direction apparemment effacée dans les éditions définitives: Socrate et la tragdie grecque, Musique et Tragdie, mais aussi, de façon plus fragmentaire, L’Etat chez les Grecs, La Tragdie et les esprits libres, ou, dans une des premières propositions nietzschéennes, La Tragdie et les Esprits libres. Considrations sur la signification thicopolitique du drame musical 4. Une pensée de l’art se cherche et s’essaie ici, tout autant que de la science et de la politique. Un «auteur» (quoi de plus problématique pour une pensée nietzschéenne de la mort de Dieu, de la pluralité, de l’inconscient) cerne comme «politique» un ouvrage dont ce contenu disparaît du titre définitif; un «savant», au fait de l’actuel (mais quoi de plus problématique que l’actuel pour l’auteur de Unzeitgemße Betrachtungen), est ébranlé, jusqu’aux larmes mémorables, par la portée scientifique et artistique d’une destruction socio-politique. En Nietzsche et sous son nom s’incorporent et se nouent des mises en question scientifiques et politiques irréductibles au genre du programme-manifeste ou de la théorie fondatrice. Toutefois, une «position» et des mouvements politiques se dessinent bien sous une forme inquiétante, proche des considérations épistolaires éplorées de 1871, dans l’étude de la tragédie. Le fragment du début 1871 correspondant à peu près au texte intitulé L’Etat chez les Grecs se propose d’examiner les condition du «génie» et de «l’œuvre d’art dionysiaque apollinienne» à partir du «monde grec» et de ses dispositions «sur lesquelles aucun moderne n’a 3 4

Œuvres compltes, III . p. 384 et 395. Voir aussi Jean Lacoste, Nietzsche et la Civilisation franÅaise in-Nietzsche, I . Robert Laffont . p. 1036 – 1037. Œuvres, I, Paris: Gallimard, p. 495 – 495 et 515 – 520.

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encore su parler avec sympathie»5. Dès lors, apparaîtrait un effroyable fonctionnement naturel et nécessaire favorisant une minorité créatrice aux dépens des grandes masses asservies. L’étude d’une question artistique exigerait donc le passage par la Grèce, par l’inactualité d’un monde éloigné des dispositions affectives modernes (absence de «sympathie»), par un monde où la direction procède de l’homme qui a besoin d’art, alors que «l’esclave détermine les représentations du monde moderne»6. La direction artistique du monde grec sait la nécessité de l’esclavage du grand nombre; les discours modernes dominants sur la «dignité du travail» et la «dignité de l’homme»7 constituent, selon la sévère expression nietzschéenne, les «rejetons nécessiteux de l’esclavage se dissimulant à lui-même»8. Ainsi, la modernité des «Lumières», indissociable d’un développement démocratique, coïnciderait, dans son effectuation, avec une ignorance des conditions qui la déterminent, l’incroyable ignorance des conditions cruelles et effroyables de toute culture. Les Grecs, en revanche, que la science optimiste moderne nous transmet si déformés, ne négligeraient pas, en vérité, ce qu’ils écartent avec les douleurs et les difficultés du travail, jetant simplement sur celuici le même voile pudique que nous jugeons encore nécessaire, selon Nietzsche, pour l’acte de procréation. Tout présent se tiendrait d’une cruauté affrontée par les Grecs, dissimulée et niée par les modernes. L’étude de l’art comme tâche suprême, la science esthétique, se présente donc comme une critique de ce qu’une autre tradition nommerait l’«idéologie», l’auto-dissimulation des contraintes objectives assurant leurs développements; cette critique est indissociable d’une pensée politique élaborée à partir du caractère problématique de l’existence telle que l’assument les Grecs. Le retour à la question grecque est si peu, toutefois, un retour au monde grec que l’examen se prolonge sous le forme d’une conjonction d’énoncés universels: «Il nous faut par conséquent savoir poser comme cruelle condition de principe de toute culture que l’esclavage appartient à l’essence d’une civilisation: et cette connaissance peut déjà susciter un frisson d’horreur à sa mesure en face de l’existence […]. C’est là que prend sa source la rage mal dissimulée que les communistes et les socialistes, ainsi que leurs pâles disciples, la race blanche des libéraux, n’ont cessé de nourrir contre les arts, 5 6 7 8

Ibid., p. 411. Ibid., p. 412. Ibid. Ibid., p. 419.

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mais aussi contre l’antiquité classique. Si la civilisation était réellement à la disposition d’un peuple, si ne régnaient pas ici des puissances implacables, limites et lois pour l’individu, le mépris de la civilisation, la célébration de la pauvreté d’esprit, le saccage iconoclaste des exigences artistiques, seraient davantage qu’une révolte de la masse opprimée contre les individus qui sont ses faux bourdons: ce serait le cri de la compassion qui jetterait bas les murailles de la civilisation, et l’instinct de la justice, de l’égalité dans les souffrances submergerait toutes les autres représentations.»9

Si le ton n’est pas exempt de pathos, il n’en reste pas moins dominé par l’intrépidité d’un savant n’effectuant les comparaisons qu’en vue d’une thèse générale comme celle qui se déclare ici devant l’effroyable et le problématique, et se prolonge quelques lignes plus bas en précisant que les débordements redoutables dus à la «célébration de la pauvreté d’esprit» eurent lieu, avec grandeur, dans le premier christianisme dont témoigne l’Evangile de Saint Jean! Non seulement la «rage» des socialistes, des communistes, des libéraux, n’est pas la simple répétition du dionysiaque johannique, non seulement celui-ci n’est pas opposé d’un point de vue ethnique aux Grecs, mais l’étude du sérieux de l’existence semble appeler une politique de la «cruauté». Cette politique est indissociable d’une science du désastre. Des considérations «esthétiques» conduisent une critique politique du présent en suivant le fil d’une question: «la question fondamentale est la question du rapport qu’entretient le Grec à la douleur, son degré de sensibilité»;10 la mesure nietzschéenne dispose d’une sensibilité à production lacrymale et à écoute musicale. Le chapitre 18 de La Naissance de la tragdie reprend la méditation du danger de submersion – «Il n’y a rien de plus terrifiant qu’une classe servile et barbare qui a appris à considérer son existence comme une injustice et qui se prépare à en tirer vengeance, non seulement pour elle, mais pour toutes les générations.»11 – danger considéré comme une amplification de l’optimisme socratico-scientifique. Le même passage inscrit la critique kantienne et son prolongement pessimiste schopenhauerien dans un mouvement de réapparition d’une civilisation tragique «alors que, annonçait-il un peu auparavant, le désastre qui sommeille au sein de la civilisation théorique se met peu à peu à envahir d’angoisse l’homme moderne […].»12 9 10 11 12

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

p. 414 – 415. p. 29. p. 122. p. 123.

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Les larmes de Nietzsche manifestent cette angoisse de l’homme moderne plus qu’elles ne relèvent d’une sentimentalité que déterminerait l’appartenance à une petite-bourgeoisie passée de l’adhésion aux Lumières à la réaction néo-aristocratique, plus, aussi, qu’elle ne suppose un jeu délibéré, une posture d’encouragement idéologique. Ces larmes mesurent un ébranlement, un désastre. L’incendie de la semaine sanglante n’est pas interprété, par une référence à la solidité organique de l’Etat, comme parekbasis ou déviation extrême de la politeia par la multitude des démunis (Aristote), mais comme vengeance ou rage hallucinée contre une nécessité universelle, ou bien, ce qui ne revient pas au même, comme dissolution dionysiaque anti-esthétique. Des larmes mesurent la cruauté d’une existence problématique contre l’indifférence attribuée à l’indifférenciation égalitariste; les «porteurs d’une faute universelle» ne sont pas indifférents à un Nietzsche rêveur ou réactionnaire, mais donnent à penser une politique, c’est-à-dire le problématique comme dimension publique, à partir de la cruauté sensible et de la science mesurante, à partir des rapports de la science à la cruauté, à ces déchirements différenciés inouïs pour l’oreille contemporaine. Les larmes d’un «savant» en philologie, en philosophie, exposent le problème politique de la science, forment la question de la science, en suivant le fil conducteur de l’«art» comme pouvoir de sentir, comme sentiment approbateur de la cruauté de l’esclavage. Pourquoi, dans ce cas, Nietzsche éploré par le désastre démocratique ne jette-t-il pas la pierre aux émeutiers?

B – Généalogie des Larmes ; Larmes auto-critiques L’inanité anéantissante du savant serait révélée par le crime de la multitude contre la culture et son exigence de servitude; l’étude savante de la tragédie révélerait la condition cruelle de l’existence approuvée et transfigurée par l’art, par le pouvoir «esthétique», c’est-à-dire, aussi, le pouvoir – à exprimer, à entretenir et développer – de sentir. Ce pouvoir requiert une puissance politique, un Etat dont les énormes dépenses ne sont effectuées que pour quelques-uns, les philosophes et les artistes dont la vocation ne serait pas, comme le croit Platon, de s’inscrire dans l’Etat:

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«L’Etat doit préparer l’engendrement et la compréhension du génie.»13

Pourquoi, alors, ne pas, tout simplement, tout unilatéralement, dénoncer les insubordinations violentes à l’égard de cette orientation fondamentale et générale? Pourquoi ne pas «jeter la pierre à ces criminels»? Parce que l’étude de la «tragédie» et des «esprits libres», les «considérations sur la signification éthico- politique du drame musical» supposent l’insistance sur l’aspect problématique de l’existence, sur la cruauté, ainsi que sur la question de la provenance et de la valeur de la science. Inanité possible de la science du savant et démesure déchirante du crime constituent la condition d’une prise en charge rigoureuse du tragique. En d’autres termes, tout se passe comme si une «science» de l’art, une science en un sens nouveau (mais l’unicité n’est jamais définitivement acquise pour la méthode nietzschéenne), ne pouvait, sans renoncer à la cohérence, dissocier l’art d’une mise en question, par ce qui en assure la production, de ce qui en mesure l’importance. Le travail philosophique de Nietzsche est d’abord celui d’un «savant» philologue qui réfléchit par son savoir la mise en question objective du savoir lui-même. Les émeutiers incarnent cette mise en question; les larmes expriment cette incorporation problématique. La démesure cruelle de la totalité de l’existence se dévoilait, selon Nietzsche, dans les fêtes dionysiaques, «comme la vérité»; la tragédie justifie le mal humain; les olympiens, formations apolliniennes, justifient la vie humaine en la vivant: «C’est du sourire de Dionysos que sont nés les dieux de l’Olympe, mais de ses larmes que sont faits les hommes.»14

Comment, dès lors, apprécier une situation moderne marquée par la corrélation paradoxale de l’individualisme égalitariste, de l’étatisme équitable et de l’optimisme scientifique? Le texte essentiel, déjà évoqué, d’août 1886, placé, sous le titre de «Essai d’auto-critique», au début d’une nouvelle édition de La Naissance de la tragdie, insiste et sur l’importance de la question pessimiste (nouveau sous-titre: «Hellenité et pessimisme») et sur celle de la provenance de la science pour souligner la gravité et la provenance d’un obstacle démocratique: «Eh quoi! En dépit de toutes les ,idées modernes’ et de tous les préjugés du goût démocratique, ne se pourrait-il pas que la victoire de l’optimisme, la prédominance de la rationalité, l’utilitarisme théorique et pratique (avec la 13 fragment 70 – 71., p. 265. 14 p.84.

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démocratie qui lui est contemporaine), soient un symptôme de force déclinante, de proche vieillesse, d’épuisement physiologique?»15

Le préjugé politique de la modernité sur elle-même appelle l’intempestivité d’une généalogie de la science et de l’optimisme. Les larmes de Nietzsche, humaines, comme toutes larmes de Dionysos, ne trouveront pas de délivrance dans quelque olympien ou fiction apollinienne, ne sècheront pas d’avoir écouté les histoires de l’érudition sur l’Antiquité; elles ne penseront pas la «faute universelle» sans avoir situé politique tragique et politique moderne à partir d’«une généalogie de la science», c’est-à-dire d’une question sur le rapport de qui veut la science à la cruauté problématique de l’existence. La modernité politique est marquée par une contradiction insoutenable dont elle n’est pas le sujet réconcilié et souverain, entre le besoin d’esclavage, pour durer par le travail, et l’optimisme qui dénie la nécessité de la servitude; la modernité politique est marquée par l’optimisme socratique de la science, optimisme dont l’inquiétude – aucun phénomène n’est unilatéral ou uniment contradictoire! – se révèle dans l’opéra et, plus précisément, dans cette tendance extraartistique qui soumet la musique au livret pour «la nostalgie de l’idylle, la croyance à l’existence, dans les temps primitifs, d’un homme artiste et bon». Cet opéra moderne, symptôme d’une lutte active contre l’esthétique, c’est-à-dire contre le pouvoir de sentir autant que contre les divisions déchirantes de la «vie», se transforme «en une redoutable et menaçante revendication», à laquelle, devant les mouvements socialistes de notre temps, il n’est plus possible de faire la sourde oreille. Le «bon sauvage réclame ses droits.»16 Le phénomène de contradiction insoutenable est interprété par Nietzsche à partir, non de son dépliement politique, mais, conformément à la méthode revendiquée, toujours, de tout l’ouvrage, de son mouvement esthétique (Bach, Beethoven, Wagner) et philosophique (Kant, Schopenhauer). Comment relier par une même étude la question politique et celle de l’expulsion socraticoscientifique de l’art? Le désastre, celui de l’optimisme, accomplit le socratisme, c’est-àdire l’instinct de la science qui veut rendre l’existence intelligible et la justifier par le «fouet des syllogismes», le raisonnement formel et les essences, l’expulsion de l’unité musicale. L’optimisme d’une science 15 p. 30. 16 p. 127.

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reconduisant par le silence conceptuel à la stabilité différenciée des essences pour délivrer, dans l’ignorance du travail dont elles résultent, du devenir, forme «l’axe et le pivot de ce qu’on nomme l’histoire universelle»17; cet optimisme forme, dans cette histoire, le désastre d’un ébranlement musical et des audaces critiques de Kant et Schopenhauer. Le masque d’une époque experte en dissimulation d’elle-même pour elle-même est celui d’un Etat abstrait, d’hommes abstraits issus de la destruction socratique des mythes et assoiffés de compensations fournies par les recherches historiques et sociologiques; la violence démasquée se cherche, elle, dans le «choral de Luther» qui «sonne comme le premier appel dionysiaque». A quelle politique cet appel et cette résonnance se rattachent-ils? La réponse est bien connue, trop connue: un radicalisme aristocratique et germano-centriste subordonnant la puissance de l’Etat aux productions du génie en s’appuyant sur une critique du préjugé démocratique et du progressisme optimiste et scientifique. Il suffit, toutefois, pour suspendre une telle interprétation, de relire le sixième moment de l’Essai d’auto-critique: Nietzsche, après y avoir revendiqué le caractère essentielle d’une interrogation sur la tragédie, conduite à partir de la prédilection pour le problématique dans l’existence et de la question esthétique sur la provenance de la science, après y avoir déploré un ton jugé trop soupçonneux à l’égard du style logique et des preuves en général, dans l’écrit de 1872, après avoir reconduit à la question, déterminée comme centrale, «du rapport qu’entretient le Grec à la douleur, [de] son degré de sensiblité», s’y reproche – c’est une autocritique – d’avoir gâché le problème grec par une confusion avec les «dernières affaires de la modernité.» Le regret exprimé, avec cette probité que revendiquera toujours Nietzsche, porte sur le caractère déplacé, pour le problème esthétique du rapport grec à la douleur et du rapport contemporain au degré de «sensibilité» grecque, de fabulations romantiques et politiques sur «l’âme allemande» alors que celle-ci «venait irrévocablement et définitivement d’abdiquer, et sous le pompeux prétexte d’une fondation d’empire, opérait son passage à la médiocrisation, à la démocratie, aux ,idées modernes’.»18 Si l’on ne se satisfait pas, pour expliquer cette transformation, d’une tolérance pour les fantaisies de l’opinion ni même de l’exposition de tout propos théorique aux variations et turbulences politiques, il faut relier cette critique du 17 p. 107. 18 p. 33.

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romantisme de l’âme allemande à un nouveau rapport de la science à la démocratie. Des larmes savantes incorporent les pensées d’une cruauté que les hommes – larmes de Dionysos – voilent en s’anesthésiant par le travail (analyses développées jusque dans La Gnalogie de la morale) contre le pouvoir déchirant de l’art. La science, le socratisme et son logicisme, constitueraient donc l’expression et la formation théoriques de ce travail dont l’inanité, révélée par le criticisme et le «pessimisme», annonce un retour sensible au tragique, un affrontement public du problématique qui relève, dans un nouveau rapport à la science, de la politique. L’appréciation d’une position nietzschéenne sur le désastre et la démocratie passe par l’examen de son «auto-critique», tout autant que par celui du rapport de l’indifférenciation égalitariste aux classements par la douleur.

C – Science du Désastre et Machine critique Dans Humain, trop humain (publié en 1878 et en 1880, puis en 1886, époque de l’Essai d’auto-critique de La Naissance de la tragdie), Nietzsche, s’adonnant à une lutte contre lui-même et le romantisme auquel il se reproche d’avoir cédé par le passé, corrige le statut de la science, développe un genre de science politique indissociable de l’intallation d’un cerveau-machine et, plus généralement, d’une machinerie dont résulte un statut plus nuancé et inquiétant de la démocratie. Comme un serpent change de peau, le penseur de la tragédie ébranlée par la lutte contre la culture, célèbre, dans «Le Voyageur et son ombre», la «sagesse pleine d’espièglerie» d’un Socrate au visage de Montaigne.19 Cette transformation fait suite à l’affirmation (dans la première partie d’Humain, trop humain, plus précisément dans l’aphorisme intitulé «De l’Ame des artistes et des écrivains») selon laquelle «ce qui reste de l’art», école de sensation et d’approbation de la multiplicité vivante, c’est la science: «L’homme scientifique est le développement ultérieur de l’homme artistique.»20 19 Humain, trop humain . trad. A.M. Desrousseaux et H. Albert, révisée par J. Lacoste, dans: Œuvres, I., Robert Laffont, Bouquins 2004 – HH, II, § 86, p. 868. 20 HH, I, § 222, p. 559.

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La science répond de façon salutaire par la froideur et le scepticisme à la surexcitation culturelle21 et elle s’avère précieuse en ceci, non qu’elle donne des résultats, mais «qu’on en retire un accroissement d’énergie, de capacité de raisonner, de constance à persévérer.»22 Un «discours de la méthode» (un extrait de celui de Descartes figurait en exergue de l’ouvrage au côté de l’hommage à Voltaire) se propose, qui saisit la science comme «pouvoir» («Das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft» est le titre de cet aphorisme 256): la science serait pouvoir de sentir et d’approuver le problématique de l’existence. Socrate n’est alors plus le nom pour la maladie mortelle qui fait coïncider délivrance et mort de soi; le pessimisme méthodologique revendiqué ne perçoit plus l’artiste comme unique figure de la délivrance tragique. L’Etat, toujours pensé à partir du caractère problématique de l’existence et de la question du rapport à la douleur, du degré de sensibilité, ne peut pas être simplement répété comme puissance trop romantique au service du génie ou du saint. La science comme pouvoir peut donc se replier comme pour une nouvelle version de la science politique, de la science «du» pouvoir, telle qu’elle se fondait chez Machiavel. Le chapitre consacré à l’Etat développe de façon aphoristique un examen dégrisé de la puissance politique considérée comme plus éclairante que ses fondements juridiques (§ 446), en insistant sur le «service» comme lien, en chaque âme noble, en chaque société puissante, du commandement et de l’obéissance; on y trouve aussi soulignée l’inutilité d’une résistance à un processus de massification du raisonnement jusqu’à niaiserie en même temps que la nécessité de pouvoir se soustraire aux dictées de l’opinion (§ 440, 450, 438). Au terme d’une lecture du premier livre, une thèse peut apparaître selon laquelle «la démocratie moderne est la forme historique de la décadence de l’Etat» (§ 472, une laïcisation de l’Etat vide celui-ci de l’autorité et de la puissance mystique qui le faisaient durer); thèse aussitôt nuancée par la position selon laquelle le socialisme, avec sa mobilisation inouïe de puissance dans la lutte contre l’individu et dans l’expansion par la terreur, suscite nécessairement le «cri» le «moins d’Etat possible» (§ 473). Une situation démocratique serait donc marquée par l’ambiguïté d’une défection inquiétante de l’Etat en même temps que de son développement monstrueux. Surtout, le «coup d’œil» (cette partie s’intitule «Ein Blick auf dem Staat») se précise avec les réflexions, dans 21 § 244. 22 § 256, p. 578.

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«Le Voyageur et son ombre», sur l’armée – survivance anti-démocratique – comme organisation lancée, par-delà toute conquête et toute défense, dans un service sacrificiel d’auto-consumation (§ 284). Une science politique d’un désastre (que Voltaire, cette fois-ci, résume: «Quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu») prend sa structure particulèrement visible dans un aphorisme d’une partie antérieure intitulée «Ennoblissement par dégénérescence» («Veredelung durch Entartung»): une question quasi physiologique – comment expliquer l’accroissement de force d’un homme, d’une race? – écarte la réponse darwiniste par la «fameuse lutte pour la vie» pour privilégier deux facteurs, l’union, d’une part, et les blessures ou affaiblissement d’un organisme durable, d’autre part. Ainsi, Machiavel, cité dans cet aphorisme comme le penseur de la durée de l’unité politique, est mobilisé au service de la puissance des blessés, d’une faiblesse des forts instituée comme normativité, à l’écart d’un darwinisme jugé simpliste! Une pensée politique s’essaie ici, qui s’exalte de sa rigueur scientifique et jouit d’une lucidité conquise contre soi, contre le romantisme du soi.23

23 Cet aphorisme intitulé «Ennoblissement par dégénérescence» peut se présenter, par concentration du propos, comme une thèse: «Les natures dégénérescentes sont d’extrême importance partout où doit s’accomplir un progrès. Tout progrès d’ensemble doit être précédé d’un affaiblissement partiel. Les natures les plus fortes conservent le type fixe, les plus faibles contribuent à le développer.» Le darwinisme est convoqué pour être récusé immédiatement. Pourquoi le convoquer? Darwin est, pour Nietzsche, la science du temps, de son temps et du devenir; une science, pourrait-on dire, qui brise la stabilitité monarchique des représentations antérieures de la nature et du vivant pour inscrire la pensée et le pensable dans une turbulence radicale. En ce sens le darwinisme participe du temps démocratique que n’oriente ni le passé ni les ordres traditionnels. Pourquoi, alors, récuser la ,fameuse lutte pour la vie’? Pour subordonner les turbulences de la nature à l’unité spirituelle et normative, comme antérieure au rapport de la vie à la mort, d’une puissance collective que Machiavel avait scientifiquement médité plus de trois siècles auparavant; pour mobiliser la politique au service d’une éducation de la blessure: «Un peuple qui devient sur un point gangrené est faible, mais dans l’ensemble reste encore robuste et sain, est capable de recevoir l’infection de l’élément neuf et de se l’incorporer à son avantage. Chez l’homme pris isolément, la tâche de l’éducation est celle-ci: lui faire une assiette si ferme et si sûre que, dans l’ensemble, il ne puisse plus être du tout détourné de sa route. Mais alors le devoir de l’éducateur est de lui faire des blessures ou de mettre à profit les blessures que lui fait la destinée […].»

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Un pouvoir de sentir le problématique de l’existence, une «esthétique», se prolonge et s’exerce au-delà de l’art, dans le pouvoir savant, dans la science . Une réflexion rigoureuse se substitue aux spéculations hasardeuses et romantiques sur l’«âme allemande»; une réflexion du pouvoir-savoir s’exerce sur les formations nouvelles et inquiétantes du pouvoir. L’ambiguïté domine dans les mouvements étatiques et les mutations de masse dont la mémoire martiale et le sens de la vulnérabilité semblent pouvoir fournir des mesures. C’est ainsi, sans doute, qu’il faut relire le § 251 – «L’Avenir de la science» – un aphorisme qui paraît classiquement consister en une mise en garde contre la barbarie résultant de la perte d’intérêt pour la science, perte induite par la banalisation des résultats au détriment de l’excitation de la recherche, perte amplifiée par la dissipation scientifique des exaltations religieuses et métaphysiques, perte suscitant le repli inquiétant sur l’illusion et les divagations du divertissement. Le cœur du texte se présente, toutefois, comme une proposition de lutte contre l’épuisement de la source du plaisir: «C’est pourquoi une civilisation supérieure doit donner à l’homme un cerveau double, quelque chose comme deux compartiments du cerveau, pour sentir, d’un côté, la science, de l’autre, ce qui n’est pas la science […]. Dans un domaine est la source de force, dans l’autre le régulateur: les illusions, les préjugés, les passions, doivent servir à échauffer, l’aide de la science qui connaît doit servir à éviter les conséquences mauvaises d’une surchauffe.»24

Approuver la cruauté et sentir le problématique; disposer d’un cerveaumachine jouissant de sa lucidité; suspendre la barbarie d’existences sans plaisir, telle semble être la disposition nietzchéenne. Cette disposition s’éduque et à cela une politique est nécessaire; une politique des machines qui doit se distinguer des machines; non des machines en général, dont on opposerait l’artificialité morte à une nature vivante et plurielle, au naturel comme cruauté, mais des machines fermées sur elle-mêmes au fonctionnement résumé par l’aphorisme 585 – «Pensée de mauvaise humeur»: «L’humanité emploie sans ménagement tous les individus comme combustible pour chauffer ses grandes machines: mais pourquoi donc les Tels sont les éléments, plus complexes qu’équivoques, d’une détermination nietzschéenne du progrès et d’une pensée souvent désignée comme (et parfois revendiquée comme) «aristocratique», dans: HHI, § 224. 24 HH, I, § 251, p. 575 – 576.

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machines, si tous les individus (c’est-à-dire l’humanité) ne sont bons qu’à les entretenir? Des machines qui n’ont d’autres fins qu’elles-mêmes, est-ce là l’umana comedia?»25

La résonance théâtrale n’est sans doute pas fortuite et l’on sait ce que le théâtre doit à la «machine» comme ruse, artifice et montage de dispositifs. Faut-il, toutefois, interpréter cet aphorisme à partir du § 17 de La Naissance de la tragdie, qui concevait le passage antique du dionysiaque au non dionysiaque comme celui de la «consolation métaphysique» au «deus ex machina» et, avec la généralisation du modèle socratique, au «dieu des machines et des creusets»? Faut-il inscrire une série de remarques critiques, souvent d’audacieuse anticipation, dans la disqualification organisée du recours à l’«artifice» théâtral et aux machineries d’une solution toujours extérieure à l’immanence de la souffrance? Faut-il stucturer la lecture d’une «pensée de mauvaise humeur» en s’appuyant sur la solidarité du démocratique, du machinalautomatique et de l’anesthésie, solidarité dont de nombreux textes plus tardifs organisent la critique? La nuance est plutôt de rigueur et on ne peut pas oublier la revendication d’un cerveau avec source de force et régulateur, ni cette formule souvent reproduite de la Lettre du 14 aot 1880  Peter Gast, lettre faisant état de la révélation de l’éternel retour «à six mille pieds au-dessus de la mer et plus haut encore par-delà toutes les choses humaines»: «Ah, ami, parfois le pressentiment me traverse l’esprit, que je mène en somme une vie très dangereuse, car je suis de ces machines qui peuvent exploser !»26

L’éducation, tâche de toute politique, horizon de tout rapport au problématique, s’effectue par blessures et maladies, l’ennoblissement, par dégénérescence; voilà ce qui se distingue et de l’humanisme trop humain et des machines auto-teliques; des machines «d’essai» – comme on parle de «pilote d’essai» –, voilà ce que constituent les lecteurs postnietzschéens de Montaigne: «[…] ta propre vie prend la valeur d’un instrument et d’un moyen de connaissance. Il dépend de toi que tous les traits de ta vie: tes essais, tes erreurs, tes fautes, tes illusions, tes souffrances, ton amour et ton espoir entrent sans exception dans ton dessein.»27 25 Ibid., p. 673. 26 trad. L. Servian, Bourgois 1981. 27 §292 . p.596.

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Une science prolongeant le désastre se mue en science du désastre, science politique fidèle aux répliques de Machiavel à la fortuna; une science politique qui reprend la puissance artistique du tragique s’installe comme dispositif de machines cérébrales non fermées mais ouvertes, non de santé parfaite comme dans les rêves dérisoires et démocratiques des premiers mouvements cybernétiques, mais vulnérables et expérimentales. Que s’adresse la démocratie et ses institutions interprétatives à travers ce dispositif cérébral? Cette question prend acte d’une non extériorité d’un quelconque sujet Nietzsche disposé à prendre d’assaut son époque ou à trouver refuge en quelque repaire; cette question prend Nietzsche comme un dispositif de connaissance de la démocratie et de ses déploiements désastreux. Avec Nietzsche, la démocratie s’adresse-telle une hétéro-machine auto-critique?

D – Hétéro-machines auto-critiques L’étude savante du désastre que constitue l’idéologie du travail et l’hostilité de l’optimisme vindicatif à l’endroit des différenciations artistiques et du pessimisme tragique s’est muée en examen «scientifique» pessimiste – assumé par une machine à vision extatique et à refroidissement conceptuel – des possibilités offertes par la «démocratisation» (Demokratisierung); examen des possibilités de soustraction, pour l’écrivain d’exception, à la puissance banalisatrice, des possibilités de puissance reconfiguratrices du socialisme dans la machine mondiale, des possibilités dissolvantes dans l’éducation et la famille, des menaces de dissolution étatiques ou de totalisation terroriste.28 Nous sommes loin des réconciliations hégéliennes de la pensée avec les déchirements du présent ; très éloignés, aussi, des assurances «sacrées» et militantes de la pensée réactionnaire. De Tocqueville – si peu réactionnaire, si peu révolutionnaire – avec lequel il partage l’intérêt spéculatif pour l’Amérique et la Russie, ainsi qu’une vision de la «démocratisation» comme mouvement historique inéluctable, Nietzsche se distingue par des remarques décisives sur l’armée considérée comme survivance non démocratique dans un monde transformé par le culte de la négociation et du juridisme; l’institution militaire apparaît comme «frein» en même temps que comme puissance sacrificielle, qui s’écrie, au comble de la 28 voir §438, 446,450,472,473.

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puissance: «Nous brisons l’épée!»29 Pas de réconciliation là où se déchire la culture, mais une proximité, dont la structure se trouve avant Hegel et au-delà de Nietzsche, apparaît, au terme de l’aphorisme 284 – «Les Moyens pour arriver à une paix véritable» – consacré à une critique de la doctrine de l’armée comme institution défensive (doctrine jugée hypocrite et inhumaine dans la mesure où elle substitue au culte suranné de la gloire militaire les stratégies de la victime), quand Nietzsche déconseille aux «députés libéraux» la «diminution graduelle des charges militaires»: «Au contraire, ce n’est que lorsque ce genre de détresse sera la plus grande que le genre de dieu, qui seul pourra aider, sera le plus près. L’arbre de la gloire militaire ne pourra être détruit qu’en une seul fois, par un seul coup de foudre […].»30

Au désastre réplique la foudre qui brise la force noble en deux! Phraséologie aristocratico-militariste substituée aux accents d’esclaves de la «démocratisation»? Ambiguïté de machines auto-critiques? Le statut aristocratico-libertaire de la politique nietzschéenne est sans doute trop souvent et trop rapidement fixé pour qu’on ne considère pas avec reconnaissance la lecture nuancée des ambiguïtés nietzschéennes que proposait Klossowski lorsqu’il évoquait, par exemple, l’accomplissement caricatural d’une maîtrise de la terre dans l’ éternel retour industriel de la surgrégarité marchande;31 ou bien lorsqu’il développait l’analyse du rire et des larmes de Nietzsche à partir de l’examen généalogique de la conscience intentionnelle, afin de repenser la nécessité aimable (amor fati) qui me surprend à pleurer sans motif, ces puissances irréductibles à la vérité de la conscience, ces puissances dont je suis l’acteur – le comédien – , l’identité volant en éclat (c’est le sens, répète avec insistance Klossowski, de la «mort de Dieu»). De la multiplicité des dispositions qui pensent en moi, je serais l’acteur et nulle garantie transcendante de la réalité ne permettrait de discréditer le jeu dont je suis l’approbation. C’est en même temps que se développent ces pensées qu’apparaisssent des époques où «la prévoyance vitale» libère des «rôles déterminés» de toutes carrières, de toutes vocations professionnelles: des «époques véritablement démocratiques» où «tout individu est persuadé […] qu’il est à la hauteur de presque tous les rôles, où chacun essaie avec soi-même, improvise, essaie à nouveau, essaie avec plaisir, où 29 Pour tout cela, voir Humain, trop humain, II 2 . §279, 281, 284. 30 HH, II, toujours p. 935. 31 Nietzsche et le Cercle vicieux, Mercure de France 1969, p. 249.

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toute nature devient art.» Dans ce paragraphe du Gai Savoir intitulé «En quoi l’Europe deviendra de plus en plus artistique» (§ 356), l’époque démocratique et «la croyance des Américains d’aujourd’hui» sont associés au procès de dissolution de tous les cadres durables vécus comme prédestinations et vocations, au processus de génération d’acteurs excluant toute durée à venir, tout projet de société. Nietzsche, se demande Klossowski, n’échappe-t-il alors à la fonction dérisoire, selon lui, de «docteur du but de l’existence», de théoricien de la volonté de puissance qui encouragerait la nécessité du devenir et du pathos, que pour les pitreries, les parodies pathétiques, d’un essayeur ou tentateur d’une société déjà du spectacle? Ne faut-il pas plutôt, comme y invite Klossowski, toujours associer l’approbation nietzschéenne du devenir à la gravité du poids le plus lourd? Ne faut-il pas, pour le dire trop rapidement, revenir sur cette machine cérébrale échauffée et régulée, sur le dispositif qui recueille alors les «époques véritablement démocratiques» à partir d’une rhétorique du pathos indissociable d’un langage de la gravité? Il faut cependant écarter une interprétation trop légère qui, sous prétexte de probité herméneutique, soustraierait aux lectures malveillantes les développements parodiques de Nietzsche ou celle qui, sous prétexte de sévérité sociologique, y reconnaîtrait un aristocratisme irresponsable; les uns distinguant la production consciente de détournements extérieurs, les autres séparant l’inconscient situé, d’une part, d’une production arrogante dans sa prétention à l’inactuel, d’autre part. En effet, cette inactualité de Nietzsche lui revient, en quelque sorte, sous la forme de tardifs arraisonnements sociologiques et démocratiques qui, en retour, exposent inquisiteurs et enquêteurs aux questions généalogiques d’une doctrine nietzschéenne. Cet effondrement du présent des uns et des autres est bien, aussi, pour la conscience démocratique autoprésentée, une leçon nietzschéenne et une leçon inquiétante; une autocritique nietzschéenne de la démocratie, une exposition nietzschéenne à l’endurance démocratique. Tout ce qui s’écrit au nom de Nietzsche devra être pesé, pas une fois, pas deux fois, mais… Cette pesée de l’enseignement de Nietzsche sur la démocratie, de la Lehre nietzschéenne sur l’enseignement et la politique démocratique, pose le problème de la langue de la transmission; de la terminologie, par exemple, du génie, de la puissance, de la direction etc. Ce problème est un des fils conducteurs de Derrida dans Otobiographie, l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre 32 ; fil suivi sans complaisance pour 32 Galiléé 1984 – Oto.

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les surdités fréquentes de lectures autorisées aux échos nationalsocialistes de la terminologie nietzschéenne, sans confiance excessive pour le «dégoût» de Nietzsche à l’égard des interprétations dévoyées, sans évitement de la phraséologie de l’Entartung conçue, dans la cinquième conférence de L’Avenir de nos tablissements d’enseignement, comme hostilité à la vie. Une lecture généreuse et dure de la rhétorique de l’obéissance, de la soumission et du service, opposés aux divagations démocratiques d’un aujourd’hui désastreux parce que «führerlos», se cristallise sur une question: «Ne doit-il pas y avoir, demande Derrida, quelque puissante machine à produire des énoncés qui, dans un ensemble donné […], programme à la fois les mouvements des deux forces contraires et qui les couple, les conjugue, les marie comme la vie, la mort?»33

Cette machine, ce programme qui associe énoncés «de gauche» et «de droite», impérialistes et libertaires, ne s’oppose ni à la vie ni à l’absence de finalité et se constitue comme problème lorsque l’appel, finalement dérisoire, à l’absoluité d’une distinction entre «intentions» de Nietzsche et inconscient nietzschéen, est récusé, au nom même de Nietzsche, dont il «reste» alors que l’interprétation nazie n’en est pas impossible, n’en est pas la seule possible! Ce «restant» est alors sondé par Derrida, à l’aide des critiques nietzschéennes de l’Etat – dès l’époque de L’Avenir de nos tablissements … – et du dispositif qu’elles constituent, avec d’insistantes questions – tout au long de l’œuvre, bien au-delà de «l’avenir» – sur l’oreille (oto), la formation de l’oreille, d’oreilles qui ne soient pas la pure reproduction d’un discours instrumentaliste et banalisateur de l’Etat et de son enseignement. Il s’agirait alors, si l’on voulait prolonger les propositions derridiennes, d’éduquer l’oreille du lecteur, qui ne saurait sortir par quelque décret d’une pensée ébranlée et requise par le désastre démocratique des institutions; qui ne saurait en sortir, sauf à renoncer à la gravité démocratique en écartant celle de Nietzsche et de ses lectures. Au nom de Nietzsche, à sa bio-graphie, «reviennent», comme à celui qui veut le retour de ce qui arrive en son nom, les interprétations, revendications, travestissements ou restaurations, refondations ou détournements. Au lecteur «critique» – au lecteur! – revient la tâche d’une ouverture sur «l’essai d’auto-critique», d’une hétéro-critique des replis de la machine nietzchéenne: ainsi se joignent, par-delà Nietzsche, pour 33 p. 94 – 95.

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lire Nietzsche, science et démocratie, multiplicité et gravité requise. La «machine à produire des énoncés contraires» dispose, en dépit des ressassements mécaniques ou des épuisements possibles, un «restant» traqué par le lecteur. Ce «restant» n’est pas un feed-back de Nietzsche; il n’en est pas l’«avenir»; son revenir, si vous voulez. C’est ainsi que je reviendrai aux «larmes» qui disposent à penser les «machines»; au «cerveau» qui agence sans illusionisme la multiplicité des énoncés, qui approuve, sans anesthésie démagogique ni indifférence à la cruauté, désastres et cassures. La démocratie comme pouvoir de la multitude, comme écart politique aussi et luxe de la durée, la démocratie s’adresse Nietzsche comme auto-critique ainsi que comme critique des complaisances possibles de l’autonomie critique. La science du désastre ne se dissocie pas d’un affrontement de la «cruauté» par laquelle le caractère problématique de l’existence, l’inégalité de tout présent avec lui-même plus que la forme historiquement située de l’esclavage, est pensée jusqu’à l’ébranlement.

Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche Florian Schneider 1. Landschaft als metapoetische Metapher In seinem berühmten Aufsatz „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ von 1963 definiert der Philosoph Joachim Ritter die Landschaft folgendermaßen: „Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter gegenwärtig ist: […].“1 Damit es Landschaft geben kann, muß sich also ein ästhetisches Subjekt von der Natur entfernen, anstatt (z. B. als Bauer) an ihr zu partizipieren und damit direkt von ihr abzuhängen. Und weil umgekehrt diese Entfernung es ist, die überhaupt erst eine „Ästhetik“ – als wissenschaftliche Disziplin wie als subjektiven Modus – möglich und notwendig macht, läßt sich der Raum der Ästhetik eben als diese Distanz, als dieser Riß zwischen Mensch und Natur bestimmen. Ästhetik und Landschaft sind dabei keine überzeitlichen anthropologischen Konstanten, sondern tragen viel mehr eine historische Signatur: Sie gehören – so Ritter – „in die geschichtliche Zeit, in welcher die Natur, ihre Kräfte und Stoffe zum ,Objekt‘ der Naturwissenschaften und der auf diese gegründeten technischen Nutzung und Ausbeutung werden“2 – d. h. zunächst ins 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, und ins 19. Jahrhundert, das der Industrialisierung. Ästhetische Landschaft ist ein Phänomen der Entfremdung von Natur oder, mit Ritter, „der Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft“;3 sie wird dort sichtbar, wo die sprunghafte Vervielfältigung und Differenzierung des naturwissenschaftlichen Wissens dem Einzelnen keinen Überblick über das Ganze der natürlichen Zusammenhänge mehr ge1 2 3

Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft“ (1963), in: ders., Subjektivitt. Sechs Aufstze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 141 – 163; hier S. 150. Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 153. Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 161.

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stattet, auf den jedoch weder Individuen noch Kulturen zur Orientierung verzichten können. Und genau diesen Mangel an natürlichem Zusammenhang, den Riß, der durch das Verschwinden der ganzen Natur im Gefüge des Wissens entstanden ist, sollen nun Kunst und Literatur kompensieren. Dazu noch ein Mal Ritter: „Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Philosophie gewußt und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst, sie ästhetisch als Landschaft zu vermitteln.“4

Die Naturwissenschaften liefern nur Details, Bruchstücke, die sich vorderhand zu keiner universalen Ganzheit mehr fügen wollen, während die Metaphysik umgekehrt nur abstrakte Begriffe produziert, die jeder sinnlichen Vermittlung entbehren. Zwischen Objekten und Begriffen klafft ein Abgrund, der exakt der ästhetischen Distanz entspricht, in der sich die dichterische oder künstlerische Landschaft einrichtet. Wird die ästhetische Landschaft, wie Ritter will, den Riß füllen und verdecken, den Mangel an Ganzheit kompensieren können? Die Kunst bringt zwar aufgrund ihrer subjektiven Disposition kein objektives Wissen hervor, aber immerhin kann sie Ganzheiten imaginieren lassen, wo tatsächlich nur die Kontingenz des Mannigfaltigen herrscht. Sie kann also den Anschein einer Ordnung erwecken, ästhetisch vermitteln und in der Darstellung nachempfinden lassen. Indem aber Landschaft die ganze Natur ästhetisch repräsentiert, bezeichnet sie etwas, das zwar einmal tatsächlich präsent gewesen und auch in Zukunft wieder sein soll, im Augenblick aber als abwesend vorgestellt wird. Genau wie man Zeichen im allgemeinen dazu braucht, momentan Abwesendes anwesen zu lassen, soll es ja ästhetische Landschaft überhaupt nur geben, weil der tatsächliche Zusammenhang mit Natur verloren ist. Zeichen und Landschaft kennzeichnet somit dieselbe zeitliche Struktur der Nachträglichkeit und Vorläufigkeit in Bezug auf die Präsenz des repräsentierten Gegenstandes. Landschaft kann also den Mangel an Ganzheit deswegen nicht kompensieren, weil sie ihn selbst bezeichnet. Sie wird im Gegenteil von dem Abgrund zerrissen, den sie eigentlich verdecken sollte, tatsächlich aber gerade markiert – ja man kann sagen, nur dank ihr wird der Riß überhaupt sichtbar und das Begehren nach Ganzheit allererst geweckt, das sie doch nur scheinbar – d. h. imaginär – stillen kann. Landschaft ist 4

Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 157 f.

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daher zunächst und bis auf weiteres ein Kunstwerk, ein ikonographischer oder alphabetischer Text. Und tatsächlich wird die Ästhetik der Landschaft im 18. und 19. Jahrhundert auch von einer Metaphorik der Schrift, der Lesbarkeit und der Entzifferung begleitet,5 die zuvor die Welt oder die Natur als ganze charakterisierte und deren Geschichte Hans Blumenberg vorgelegt hat.6 Vom mittelalterlichen „Buch der Natur“, wie es Blumenbergs Metaphorologie analysiert, unterscheidet sich die ästhetische Landschaft aber insofern, als sie auf einen Sinn verweist, den sie explizit nicht benennen kann. Landschaft wird so lesbar als textuelle Chiffre der Abwesenheit von Natur und Welt im Text: als Zeichen, das mehr über die Logik von Zeichenbeziehungen sagt, als über irgendeine Wirklichkeit oder deren abstraktes Wesen. Sie funktioniert daher im Text als metatextuelle Metapher. An dieser Stelle kreuzt sich die Lektüre der Landschaft mit Nietzsches früher Sprachkritik Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne von 1873. Der „Sprachbildner“, so schreibt Nietzsche dort, „bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“7

Aus dieser Diskontinuität im Prozeß der Sprachbildung resultiert dann die berühmte Definition der Wahrheit als „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden“.8 Als spezifisch menschliche Relation zur Welt und künstlerische Kompensation des Bruches zwischen 5

6 7

8

Für das 18. Jh. vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift. Zur Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; für das 19. Jh. (exemplarisch anhand der Werke Adalbert Stifters) vgl. Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektren, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995. Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (1873), in: ders., Smtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als KGW], Bd. III/2, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 367 – 384; hier S. 373. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (Anm. 7), S. 374.

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Mensch und Wahrheit ist die Landschaft auch tatsächlich erschienen, zumindest in der Theorie. Und zwar 1860, in der Kultur der Renaissance in Italien von Nietzsches verehrtem Basler Freund und Kollegen Jacob Burckhardt, auf den sich auch Joachim Ritter beruft.9 In Burckhardts Kapitel über „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“ markiert der Abschnitt „Die Entdeckung der schönen Landschaft“ exakt die Mitte zwischen der Entdeckung der Natur einerseits und des Menschen andererseits.10 Anders als bei Burckhardt und Ritter aber fällt der Sphäre ästhetischer Vermittlung bei Nietzsche das epistemologische Hauptgewicht zu, denn, so heißt es in Ueber Wahrheit und Lge weiter: „[Z]wischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e t i s c h e s Verhalten […]. Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.“11

Die Ästhetik sollte einen Riß im epistemologischen Gefüge überdecken, eine Lücke schließen, die die unüberschaubare Expansion des naturwissenschaftlichen Wissens im Weltbezug des Menschen verursacht hat – bei Nietzsche aber wird sie selbst zur einzig möglichen Form des Weltbezugs überhaupt. Gegenüber den ursprünglichen Metaphern, den ästhetischen Relationen, die die Sprache vermittelt, sind gerade die abstrakten Begriffe der Wissenschaft und der Philosophie abgeleitet. Sie sind sekundär, weil es sich bei ihnen um verblichene Metaphern handelt, um Metaphern, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind. Ästhetik ist hier also nicht mehr epistemologisches Substitut und spät entwickeltes Organ des entfremdeten Geistes, sondern Grundlage eines Wissens, das statt auf transzendenten Wahrheiten auf physischen Nervenreizen beruht. Wenn also Welt und menschliches Dasein, wie es in der Geburt der Tragçdie heißt, ohnehin „nur als aesthetisches Phänomen gerechtfertigt“ sind;12 und wenn Nietzsche gerade nicht darauf aus ist, den Riß zwi9 Vgl. Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 141. 10 Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), herausgegeben von Horst Günther, Frankfurt am Main: Insel 1989. 11 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge (Anm. 7), S. 378. 12 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik (1872), in: ders., KGW, Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1972, S. 3 – 152; hier S. 43.

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schen Subjekt und Objekt zu verdecken, sondern ihn im Gegenteil betont und vertieft; wenn er schließlich auf einer kontingenten Mannigfaltigkeit besteht, der gegenüber alle Begriffe und erst recht alle Abstrakta nur abgeleitet sind – welchen Zweck kann dann die Mensch und Natur in Einklang bringende und die Gegensätze harmonisierende Landschaft noch haben? Konkreter: Welchen Sinn ergibt Nietzsches eigenes Festhalten an der Landschaft und ihrer Metaphorik, die sich in nahezu jeder seiner ausgearbeiteten Schriften findet? Dieser Frage gehen die beiden folgenden Abschnitte anhand zweier exemplarischer Landschaften, der Idylle und der Eislandschaft, in Nietzsches Texten nach.

2. „Et in Arcadia ego“ Wie auch immer die Antwort ausfällt, sie wird jedenfalls mit der Kindheit zu tun haben: der der Kultur und – weil die Sprachbildung Sache des Künstlers und seiner lebendigen Metaphorik ist – der der Kunst. Beides beschäftigt die literarische Tradition bereits seit der Antike in Gestalt der Idylle und innerhalb dieser vor allem des Topos des locus amoenus, wie ihn Ernst Robert Curtius skizziert hat:13 Die Szenerie zeigt den Hirten als Repräsentanten der frühesten Kultur, meist zur Mittagsstunde an einem abgeschiedenen Ort inmitten der freien Natur, gelagert im Schatten eines Baums, nahe einer kühlen Quelle, und meist mit einem idyllischen Kollegen im Wettgesang, den am Ende die Kunstfertigkeit der dargebotenen Verse entscheidet. Kurz: Die Idylle liefert das Bild eines ursprünglichen, sorglosen und poetischen Lebens inmitten einer harmonischen, bergenden und mütterlichen Natur.14 Als literarische Gattung beruft sich die Idylle auf zwei antike Vorbilder: die griechischen Idyllen des alexandrinischen Dichters Theokrit (3. Jh. v. Chr.) und die lateinischen Bucolica Vergils (ca. 40 v. Chr.). 13 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Kapitel 10, „Die Ideallandschaft“, Tübingen: Francke 111993; sowie ders., „Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter“, in: Alexander Ritter (Hrsg.), Landschaft und Raum in der Erzhlkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 69 – 111. 14 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema sei hier nur hingewiesen auf Klaus Garber (Hrsg.), Europische Bukolik und Georgik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976 (= Wege der Forschung 355), sowie Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart: Metzler 1977.

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Beiden Vorbildern ist gemeinsam, daß es sich schon bei ihnen nicht, wie Curtius meint, um die Schilderung frischer und unverstellter Natureindrücke handelt, die erst später zum literarisch-rhetorischen Topos erstarrt wären, sondern im Gegenteil um die vielleicht früheste Form städtischer Literatur überhaupt. So wenig wie Theokrits artifizielle Perioden sind auch Vergils anspielungsreiche Verse an ein naturwüchsiges Publikum gerichtet, sondern an ein höfisches, den Umgang mit avancierter Literatur gewohntes Lesepublikum.15 Schon die antiken Idyllen sind also poetische Imaginationen, nicht realistische Schilderungen eines ursprünglichen Lebens in der Natur. Und man darf davon ausgehen, daß das dem Altphilologen Nietzsche, der beide Textkorpora kannte, durchaus bewußt gewesen ist. Eine erstaunliche Renaissance erfährt die Idylle im 18. Jahrhundert, vor allem in der deutschen Literatur und namentlich in den Idyllen Salomon Geßners von 1756 – nach Goethes Werther dem erfolgreichsten deutschen Buch des Jahrhunderts –, aber auch bei Haller, Gleim, Hagedorn, Gellert, Müller und Voß bis hin zu Jean Paul, Goethe und Schiller.16 Neben die zeitliche Differenz der antiken Texte, die die Idylle als Einheit von Mensch und Natur am Ursprung der Kultur ansiedeln, tritt im 18. Jahrhundert eine Differenz, die die Idylle als aktuellen natürlichen Gegenpol der dekadenten und sittlich korrumpierten Kultur und Gesellschaft begreift. So kommt es, daß die idyllischen Hirten des 18. Jahrhunderts sich meist schnell als spärlich verkleidete Bürger beim Spaziergang in der freien Natur entpuppen – insgesamt also eine Konstellation, bei der man mit ziemlicher Sicherheit auf Nietzsches Ablehnung zählen darf. Tatsächlich lehnt Nietzsche in der Geburt der Tragçdie schon die antiken Idyllen als „alexandrinische“ Zähmung der dionysischen Naturtriebe ab;17 und in einem Nachlaß-Fragment derselben Zeit spricht er angesichts des „sentimentalischen Triebes ins Idyllische“ von einer „unhistorischen Flucht in eine phantastische Urgeschichte der Menschheit“. Weiter heißt es dort: „Daß man an diesen harmlosen Texten […] ein schwärmerisches Behagen empfand, mag man nun dreist mit der Bewunderung vergleichen, die unsere Altvordern […] für 15 Vgl. hierzu Bernd Effe und Gerhard Binder, Antike Hirtendichtung, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2001. 16 Zur deutschen Tradition der Idylle vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift (Anm. 5). 17 Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragçdie (Anm. 12), S. 53 ff, sowie S. 120 ff.

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Geßner beseelte.“18 Um so erstaunlicher also, daß der idyllische Topos in Nietzsches eigenen Texten eine wichtige, ja fast zentrale Rolle spielt. Ein Beispiel: In Aphorismus Nr. 295 aus „Der Wanderer und sein Schatten“ – dem letzten Teil von Menschliches, Allzumenschliches, geschrieben 1879 in St. Moritz – findet sich unter dem Titel „Et in Arcadia ego“ folgendes: „Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; Alles in Ruhe und Abendsättigung. […] Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, – Alles gross, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung.“19

Arkadien – das ist die griechische Provinz, in der Vergil seine Hirten angesiedelt hat und deren Name seither das Eldorado aller Schäferpoesie bezeichnet. In der Schweiz aber fand nicht nur Nietzsche sein Arkadien, sondern zuvor schon die gesamte Tradition der deutschen Idyllik, angefangen bei Haller und Geßner (die selbst Schweizer waren), bis hin zu Goethes Schweizerreisen und weit ins 19. Jahrhundert hinein. Der ganze Titel – Et in Arcadia ego – spielt aber auch auf ein berühmtes Gemälde Poussins von 1638 an, das vor idyllischer Kulisse ein paar Hirten zeigt, die erstaunt die Inschrift eines Grabsteins entziffern: „Et in Arcadia ego“ – auch der Tote war einmal in Arkadien, auch in Arkadien gibt es den Tod, Arkadien, der Tod. Ein Titel, so ist hinzuzufügen, der für Nietzsches Verwendung des Idyllen-Topos insofern programmatische Bedeutung hat, als er stets den Gedanken des Todes mit dem der Wieder- und Neugeburt verknüpft.20 18 Friedrich Nietzsche, Fragment 8/29 (Manuskript U I 5a, Winter 1870 – 71 bis Herbst 1872), in: ders., KGW, Bd. III/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1978, S. 242 f. 19 Friedrich Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (=Menschliches, Allzumenschliches II, 2; 1880), Aphorismus 295, „Et in Arcadia ego“, in: ders., KGW, Bd. IV/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1967, S. 324 f. 20 Diese Verknüpfung hat bei Nietzsche nicht zuletzt auch einen biographischen Hintergrund: Ausgehend von dem damals weit verbreiteten Irrtum, die bio-

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Doch bleiben wir vorerst noch beim „Augenblick der Offenbarung“ angesichts der idyllischen Landschaft. Kurz nachdem Nietzsche Sils Maria entdeckt hat, bezeichnet er dieses auf einer Postkarte an Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) vom 8. Juli 1881 als „lieblichsten Winkel der Erde“ und „ewig heroische Idylle“.21 Und gut einen Monat später heißt es in einem Brief, wiederum an Köselitz: „Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf den Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe […]. Ich werde wohl e i n i g e Jahre noch leben müssen. […] Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen – schon ein Paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zu viel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe.“22 logische Erbmasse erstrecke sich auch auf das individuelle Schicksal, nahm Nietzsche lange Zeit an, daß er wie sein Vater mit 36 Jahren sterben werde. Noch in Ecce Homo, lange nachdem sich diese Annahme empirisch erledigt hatte, heißt es rückblickend dazu: „Mein Vater starb mit sechsunddreissig Jahren […]. Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz […]. Dies war mein Minimum: ,Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem.“ Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888), in: ders., KGW, Bd. VI/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1969, S. 253 – 372; hier S. 262. In diesem Kontext sind auch Sätze zu verstehen, wie der unten zitierte im Brief an Heinrich Köselitz vom 14. August 1881: „Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen.“ Hierzu, wie auch zum Zusammenhang von Biographie und Philosophie überhaupt bei Nietzsche, vgl. Friedrich Kittler, „Wie man abschafft, wovon man spricht. Der Autor von ,Ecce Homo‘ “, in: ders. und Jacques Derrida, Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft wovon man spricht, Berlin: Merve 2000, S. 65 – 99, insbesondere S. 72. 21 Vgl. Friedrich Nietzsche: Postkarte an Heinrich Köselitz vom 8. Juli 1881, in: ders., Smtliche Briefe. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als KGB], Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 99 f. 22 Friedrich Nietzsche: Brief an Heinrich Köselitz vom 14. August 1881, in: ders., KGB, Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 112 – 114; hier S. 112.

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Was ist geschehen? Was hat aus dem leidenden und kranken, ja vermeintlich sterbenden Nietzsche, der nach Sils kam inzwischen den jauchzenden, singenden und vor Freude weinenden Wanderer werden lassen? Zwischen die beiden Briefe an Heinrich Köselitz fällt die Entdeckung der ewigen Wiederkunft, als deren Ankündigung sich im nachhinein schon die erste „Offenbarung“ angesichts der Idylle lesen läßt. Noch sieben Jahre später, in Ecce Homo, schreibt Nietzsche dieser Erkenntnis die grundlegende Inspiration des Zarathustra zu und skizziert anschließend Szene und Augenblick ihrer Offenbarung: „Die Grundconception des Werks [i. e. des Zarathustra; Anm. d. Verf.], der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ,6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘. Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit von Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“23

Die Offenbarung der ewigen Wiederkunft ist also eine Erfahrung der Landschaft – freilich eine andere, als sie bisher gemacht worden war. Zunächst widerspricht sie radikal dem kulturgeschichtlichen Schema, in dem das 18. Jahrhundert die Landschaft und besonders die Idylle verortet hatte: Gemäß der Zeichenstruktur von Landschaft, die eine einst präsente, jetzt verlorene, aber künftig wiederzugewinnende Einheit von Mensch und Natur bedeuten sollte, verlegte man die real existierende Idylle an den Anfang von Kultur überhaupt. Und zwar als denjenigen Augenblick, in dem Kultur und Natur gerade noch vereint, aber doch schon unterscheidbar gewesen sein sollten. Als solche markiert die Idylle den absoluten Ursprung von Kultur in Natur. Im kulturellen Fortschritt sollte sich dann die Kultur von der Natur befreien und entfremden zugleich, bis sie schließlich am Ende der Geschichte vollendet, bewußt und freiwillig zu den Gesetzen der Natur zurückkehrt, denen sie einst nur gezwungenermaßen gehorcht hätte – so in aller Kürze das teleo-

23 Nietzsche, Ecce Homo (Anm. 20), S. 333; auch die Originalnotiz hat sich im Nachlaß Nietzsches erhalten: Vgl. Friedrich Nietzsche: Fragment 11/141 (Manuskript M III 1; Frühjahr bis Herbst 1881), in: ders., KGW, Bd. V/2, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 392 – 394.

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logische Kultur- und Geschichtsmodell, wie es etwa Friedrich Schillers Elegie „Der Spaziergang“ von 1795 entfaltet.24 Nietzsches Modell hingegen biegt die Linie der idealistischen Teleologie, die vom gegenwärtigen Jetztpunkt zurück zum Ursprung und voraus zur Vollendung führt, zur Kreisfigur der Ewigen Wiederkunft zusammen: Was jetzt, in diesem Augenblick ist, muß in der Immanenz der Welt (d. h. gemäß der Kombinatorik einer begrenzten Anzahl von Elementen bei unbegrenzter Dauer) schon unzählige Male gewesen sein und sich auch in Zukunft wiederholen. Das sprengt nicht nur das teleologische Geschichtsmodell, sondern auch das zugehörige Zeichenmodell: Alles, was je sein kann, muß schon gewesen und auch in diesem Augenblick wieder möglich sein. So eröffnet sich insbesondere auch die Möglichkeit einer Präsenz der Idylle, nicht als zeichenhaftes Substitut ihrer Absenz, sondern als Bild, dem jeder Schatten der Abwesenheit mangelt, als ewig wiederkehrende Mittagsstunde der Geschichte und punktuelle Kristallisation des Seins im Werden. Damit realisiert Nietzsche eine Möglichkeit, die im Bild der Idylle schon seit jeher angelegt war. Denn genau genommen widerspricht die Konstruktion des idyllischen Augenblicks ihrer Integration in eine idealistische Teleologie: Wie nämlich könnte in der harmonischen Einheit mit der Natur, die dem Menschen von sich aus alles bietet, was er vom Leben verlangt, überhaupt ein Begehren nach etwas Anderem entstehen, geschweige denn nach einer Freiheit, die sich zunächst als schierer Existenzkampf gegen die Natur erweisen muß? Die Idylle als glücklicher Ursprung liefert dem Menschen (bzw. dem sorgen- und geschichtslosen Wesen, dessen Geschichte die des Menschen hätte werden sollen) einfach keinen Grund aus der Natur heraus- und in die Geschichte einzutreten. Mit der Idee des linearen Fortschritts fehlt der Idylle daher auch die Vorstellung einer fortschreitenden und ablaufenden historisch-kulturellen Zeit: Alles, was sie kennt, ist der natürliche Kreislauf der Tages- und Jahreszeiten. Damit ist freilich nicht jede Negativität aufgehoben – die Idylle ist trotz struktureller Ähnlichkeiten und ikonographischer Parallelen nicht das christliche Paradies – d. h. es gibt die Mitternacht als Gegenpol des Mittags, den Winter und auch den Tod, wie etwa in Poussins Gemälde. Nur ist ihnen sozusagen die Spitze abgebrochen, weil sich mit jedem Verlust zugleich die Wieder24 Die theoretische Grundlage dieses Geschichtsmodells liefert u. a. Schillers Abhandlung ber naive und sentimentalische Dichtung (ebenfalls von 1795), die auch eine detaillierte Theorie der literarischen Idylle entwickelt.

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und Neugeburt im natürlichen Rhythmus der kreisenden Zeit ankündigt. „Nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes“ – so Nietzsches „Et in Arcadia ego“ – hat daher die Idylle an sich.25 Den Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt, den die klassische Landschaft nur scheinbar im Blick des ästhetischen Betrachters aufhebt, löst Nietzsche in der absoluten Landschaft auf: Wo es nur Relationen, nur Ästhetik gibt; wo sich Bilder und Zeichen nur als Markierung von Intensitäten etablieren, die kein woher und kein wohin kennen, dort ist das Subjekt von seiner Individualität entlastet und die Welt von allen ein- und ganzheitlichen Idealen.26 Die Landschaft realisiert sich sozusagen auf Kosten des bewußten Ichs, und dabei ist sie nichts, außer einem Kräftediagramm von Triebrelationen, die Subjekt und Welt im Innersten bestimmen noch bevor irgendeine bewußte Reflexion sie trennt. Texte aber, die solche Landschaften verzeichnen, sind seismographische Protokolle und Medien ästhetischer Erregungszustände weit mehr als Kompensationen transzendentaler Mangelerscheinungen. Bei Nietzsche wird die Idylle so zum Zeichen äußerster Intensität, denn sie bildet eine Chiffre der ewigen Wiederkunft, oder besser: des Augenblicks ihrer Offenbarung. Und wie die Offenbarung der ewigen Wiederkunft nach ihrem eigenen Gesetz selbst wiederkehren muß, so kehrt auch die Idylle in Nietzsches Texten wieder: im Mittag und im Schweigen der Natur, im Gott Pan, im kürzesten Schatten, in den Hirten, Wiesen und stillen Wäldern. Die idyllische Landschaft bildet in der Immanenz des Textes ein Netz von metaphorischen Bezügen, die als Pathosformeln identischer Empfindungen funktionieren sollen, nicht als Repräsentationen kontemplativer Naturbetrachtung.

3. Eislandschaften Als Spur der ewigen Wiederkunft durchzieht die idyllische Landschaft Nietzsches Texte – leider jedoch als fremde Spur. Mag auch die ewige Wiederkunft das Bild der Idylle seinem traditionellen Kontext entreißen und umwerten, die Zeichenstruktur transformieren und gegen die 25 Vgl. Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 324. 26 Vgl. hierzu Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, aus dem Französischen übersetzt von Ronald Vouillé, München: Mathes & Seitz 1986; sowie Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991.

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idealistische Teleologie wenden – die Idylle bleibt doch literarischer Topos und damit eine Spur, der Nietzsche zwar gegen den Strich, aber dennoch folgt. Kurz: Das Bild der Idylle dementiert durch seine topische Tradition die Neuheit der Nietzscheschen Erfahrung. Und so kann sich die Erfahrung der ewigen Wiederkunft zwar der Idylle einschreiben und sich in ihr wiederholen – als gemachte Erfahrung jedoch führt sie aus ihr heraus. Der dritte Teil des Zarathustra widmet sich diesem Problem im Abschnitt „Vom Gesicht und Räthsel“, wo sich zunächst eine weitere Version der Erfahrung der Ewigen Wiederkunft findet, an die sich dann die folgende Vision Zarathustras anschließt: „Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng. Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest. […] Da schrie es aus mir: ,Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!‘ […] So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten! Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehn: – w a s sah ich damals im Gleichnisse? Und w e r ist, der einst noch kommen muss? W e r ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? […] – Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieht; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor. – Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher l a c h t e ! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie e r lachte!“27

Die „schwarze, schwere Schlange“, die hier auftaucht, ist der philosophischen und mystischen Tradition als Urobouros-Schlange bekannt: als die sich in den eigenen Schwanz beißende Schlange, die die in sich kreisende Zeit symbolisiert. Sie ist es, die dem idyllischen Hirten buchstäblich zum Halse heraushängt, ihn anekelt und in „bleiches Grauen“ versetzt. Denn schön und beglückend ist die kreisende Zeit der Idylle nur für denjenigen, der die ewige Wiederkehr lebt ohne sie zu erkennen. Für denjenigen aber, dem sie sich offenbart, wird sie zum „abgründlichen Gedanken“28 und „größten Schwergewicht“29 : Ihm 27 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III (1884), Abschnitt „Vom Gesicht und Räthsel“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 193 – 198; hier S. 197 f. 28 Nietzsche, Zarathustra III (Anm. 27), S. 195. 29 So der Titel des berühmten Aphorismus 341 der Frçhlichen Wissenschaft, der ersten von Nietzsche veröffentlichten Version der ewigen Wiederkunft; vgl. Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft (1882), in: ders., KGW, Bd. V/2,

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erzeugt das leere Kreisen der Zeit, das das Werden fesselt und keine substantielle Veränderung zuläßt, nur noch Überdruß. Wer aber dieser Schlange den Kopf abbeißt, wie Zarathustras Zuruf rät, der bricht aus der Idylle aus, wie auch aus der Welt des Menschen, die (entgegen allen idealistischen Illusionen) der Kreislauf der Zeit bestimmt. Wer daher am Ende des Zitats aufsteht und lacht wie „niemals noch ein Mensch gelacht hat“, ist nicht mehr Hirte und nicht mehr Mensch, sondern „Verwandelter“ und „Umleuchteter“ – bermensch. Tatsächlich prägt die Bewegung des Übersteigens der Idylle als Weg des Übermenschen in Nietzsches Texten auch eine Metaphorik der Vertikalität und des Aufstiegs, die spätestens 1881 mit der Arbeit an der Frçhlichen Wissenschaft (und zugleich mit dem ersten Sommeraufenthalt in Sils Maria) einsetzt und von da an einen neuen Landschaftstyp generiert. Schon der erste Teil des oben zitierten Abschnitts zeigt Zarathustra beim Aufstieg: „Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses.“30 Solche Pfade führen allemal heraus aus der Idylle und hinein in die lebensfeindlichen Regionen des Hochgebirges, in eine Welt der Kälte, des ewigen Schnees und der Gletscher, kurz: in die Eisregionen, die sozusagen der natürliche Lebensraum des Übermenschen sind. Drei kurze Beispiele für diese Landschaft, zunächst „Der Wanderer“, ein Vierzeiler aus „Scherz, List und Rache“, dem „Vorspiel in deutschen Versen“ zur Frçhlichen Wissenschaft (1882): „,Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!‘ – So wolltest du’s! Vom Pfade wich dein Wille! Nun, Wandrer, gilt’s! Nun blicke kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.“31

Aus Zarathustra II (1883), unter dem Titel „Vom Gesindel“:

herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 250. 30 Nietzsche, Zarathustra III (Anm. 27), S. 194. 31 Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft (Anm. 29), S. 31; der Titel „Scherz, List und Rache“ zitiert den eines Singspiels Goethes, das nach Philipp Christoph Kayser und E.T.A. Hoffmann auch Nietzsches Freund Heinrich Köselitz vertont hatte.

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„Denn diess ist u n s r e Höhe und unsre Heimat: zu hoch und steil wohnen wir hier allen Unreinen und ihrem Durste. […] Eishöhle würde ihren Leibern unser Glück heissen und ihren Geistern!“32

Schließlich eine Strophe des Gedichts „Aus hohen Bergen“, dem „Nachgesang“ zu Jenseits von Gut und Bçse (1886): „Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht? Ich lernte wohnen, Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet? Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?“33

Wo niemand wohnt, wo die Kälte zum Inbegriff des Glücks wird und kein Pfad mehr den Weg des Wanderers lenkt – „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit“ – wird jeder Schritt zum Wagnis, vor allem aber zur Entdeckung neuen, bisher unbetretenen Gebietes. Die dort erblickten Landschaften bescheren dem Wanderer dann tatsächlich jenen „neuen Blick“, den Nietzsche „vor allen Menschen voraus“ hat, wie er an Köselitz schreibt. Freilich nicht ganz Nietzsche selbst, denn dort, wo der Philosoph aufgrund seiner körperlichen Konstitution und seiner schlechten Augen nicht weitergehen konnte – z. B. am Rande des Gletschers im Fextal bei Sils Maria, wohin seine Spaziergänge oftmals führten –34 dort schickte er bekanntlich Zarathustra voraus. Selbstverständlich handelt es sich bei Nietzsches Eis- und Hochgebirgslandschaft – genauer: bei ihrer Ersteigung und Begehung – um eine Geste der Primarität, eine Geste der Überschreitung aller bisher betretenen Gebiete. Eine Überschreitung allerdings, die im Raum der Immanenz stattfindet: In jenem Raum nämlich, dessen absolute Grenzen die ewige Wiederkehr und der Tod Gottes bestimmen. Keinen Olymp und keinen Parnaß, kein Dantesches Paradies und keinen Gipfel der Vollendung gilt es deshalb zu erklimmen, sondern einen Raum der absoluten Einsamkeit, in dem kein Ideal und kein metaphysischer Wert mehr eine Richtung vorgeben – absolut unberührtes Territorium also, 32 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II (1883), Abschnitt „Vom Gesindel“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 120 – 123; hier S. 122. 33 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), in: ders., KGW, Bd. VI/2, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 253 – 255; hier S. 254. 34 Vgl. Andreas Hüser, Wo selbst die Wege nachdenklich werden. Friedrich Nietzsche und der Berg, Zürich: Rotpunkt 2003, S. 190; in diesem Band finden sich auch viele weitere Beispiele der Berg-Metaphorik in Nietzsches Texten.

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das hier erstmals betreten wird. Zu den Paradoxa, die Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft denkbar gemacht hat, gehört allerdings leider auch, daß es kein erstes Mal gibt, oder vielmehr: Das erste Mal ist bereits eine Wiederholung, und das heißt, das Neuland wird stets in den Spuren von Vorgängern betreten. Im Falle Nietzsches selbst gilt das zunächst für die Metaphorik seiner Eislandschaften. Curt Paul Janz vermutet in seiner monumentalen Nietzsche-Biographie, daß sie von dem seinerzeit berühmten Sils Marier Bergführer Christian Klucker stamme, dem Nietzsche begegnet sein müsse, z. B. im Hotel „Alpenrose“, wo beide regelmäßig verkehrten.35 Weit wahrscheinlicher ist jedoch, daß Nietzsche die Metaphern der Literatur seines Jahrhunderts entnommen hat. Schließlich ist es das 19. Jahrhundert, in dem nicht nur die meisten Alpengipfel erstmals bestiegen werden, sondern auch zahlreiche Expeditionen versuchen, die Pole der Erde zu erreichen. Die Zeitungsmeldungen, Reiseberichte und Biographien, die aus diesen Unternehmungen hervorgingen, waren zahlreich und äußerst populär. Sie inspirierten in besonderem Maße auch die Literatur der Zeit, man denke etwa an Lord Byrons Manfred von 1817, wo es vom Gipfel des Schweizer Berges Jungfrau heißt: „And here, on snows, where never human foot/Of common mortal trod […]“.36 Ähnliche Formulierungen finden sich aber auch in Mary Shelleys Frankenstein von 1818, in Edgar Allen Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym von 1838 oder – Nietzsche sicher näher – in Adalbert Stifters Nachsommer von 1857, wo ebenfalls eine winterliche Bergbesteigung geschildert wird. Auch im Falle der Erschließung unbetretenen Geländes samt der Gefahr und der Einsamkeit, der man sich dabei aussetzt, hat man es also mit einem literarischen Topos zu tun. Und sicherlich läßt sich die erste Spur, die der Entdecker in den Schnee legt, die Spur im reinen Weiß, in allen genannten Texten ohne weiteres als eine Metaphorik der Schrift entziffern, als Beschreibung des Unbeschriebenen im wörtlichen Sinne.37 Das wirklich Neue bei Nietzsche ist daher nicht, daß er die 35 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, Dritter Teil: „Die zehn Jahre des freien Philosophen“, München/Wien: Carl Hanser 1978, S. 310. 36 Lord George Gordon Byron, Manfred, in: ders., Poetical Works, herausgegeben von Geoffrey Cumberlege, London/New York/Toronto: Oxford University Press 1952, S. 390 – 406; hier S. 398. 37 Zum literarischen Topos der Entdeckung und Erstbegehung von Eislandschaften (am Beispiel der ebenfalls erst im 19. Jahrhundert erschlossenen Polarregionen), sowie zur Metatextualität ihrer Metaphorik und der Dekon-

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Metaphorik der Eislandschaft verwendet, sondern daß er sie auch explizit auf seine Philosophie und ihr schriftliches Medium bezieht. So z. B. im Vorwort zu Ecce Homo (1888): „Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine s t a r k e Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie viel man u n t e r sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge –“.38

Die Wirkung der „Schriften“ ist zunächst eine physische: Man kann sich an ihnen erkälten, wenn man nicht für sie geschaffen ist. Der Text ist buchstäblich die Eislandschaft, die er darstellt, und wenn sich daher hier überhaupt noch von Metaphern sprechen läßt, dann jedenfalls von solchen einer absoluten Ästhetik, die die Landschaft als Text realisiert. Es handelt sich sozusagen um einen ästhetischen Kurzschluß: Während die klassische Ästhetik auf den Gegensatz von Subjekt und Objekt angewiesen war, den sie notdürftig überbrücken sollte, sind bei Nietzsche Subjekt und Objekt überhaupt nur noch als Subjekt und Objekt der Ästhetik. Landschaft ist hier zugleich mehr und weniger als eine Metapher: weniger, weil hier alles eigentlich und wörtlich gemeint ist – mehr aber, weil hier nicht nur geistiger Sinn, sondern körperliche Innervation „übertragen“ wird. Diese Texte sollen nicht verstanden werden, sondern unmittelbar wirken, sie sind selbst jene „ungeheuren beeisten Zacken im Schleier des Sonnenduftes“ philosophischer Diskurse. Wie wörtlich das zu nehmen ist, daran läßt Nietzsche keinen Zweifel, wenn er im Zarathustra unter der Überschrift „Vom Lesen und Schreiben“ schreibt: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist. […] Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden. Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du struktion des Primaritäts-Gestus vgl. Bettine Menke, „Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2000), S. 545 – 599; dort auch zahlreiche Beispiele aus der (auto-)biographischen, wissenschaftlichen und fiktionalen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 38 Nietzsche, Ecce Homo (Anm. 20), S. 256.

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lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen gesprochen wird, Grosse und Hochwüchsige.“39

Hier gibt es nichts mehr zu interpretieren und nur noch wenig anzumerken, zumindest was die Landschaft betrifft. Während der Übermensch auf sich warten läßt, hat seine Landschaft bald Karriere gemacht: Anders als die Idylle, deren Spur zurück ins 18. Jahrhundert führt, ist die Eislandschaft zu einem Topos der klassischen Moderne geworden. Schon bald nach Nietzsches Tod haben die Avantgarden die Kälte einer von allem kulturellen Ballast befreiten Kunst für sich entdeckt.40 Die Nietzsche-Leser Benn, Jünger und Brecht, so unterschiedlich ihre Literatur auch ist – bei allen finden sich die kühlen, klaren Blicke und die heroischen Einsamkeiten der entzauberten Welt. Die Literatur und Theorie der Neuen Sachlichkeit entwickelt in den 20er Jahren soziale Verhaltenslehren der Klte – so der Titel von Helmut Lethens einschlägiger Studie zum Thema –,41 bis in die 30er Jahre werden die beliebten deutschen Bergfilme den Typus des einsamen, willensstarken Helden im Kampf mit einer lebensfeindlichen Natur zum Ideal einer ganzen Generation gemacht haben.42 Und während der anschwellende Strom von Touristen in den Bergen die Idylle sucht, bilden Eis und Fels längst das Relief der gesamten Gesellschaft. Die Antwort darauf hatte Nietzsche bereits 1880 gegeben, in einem Aphorismus aus „Der Wanderer und sein Schatten“ mit dem Titel „Vergnügungs-Reisende“: „Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es unterwegs schöne Aussichten gebe.“43

39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I (1883), Abschnitt „Vom Lesen und Schreiben“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 44 – 46; hier S. 44. 40 Vgl. Helmut Lethen, „Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden“, in: Dietmar Kamper und Willem van Reijen (Hrsg.), Moderne versus Postmoderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 282 – 324. 41 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 42 Z. B. Die weiße Hçlle vom Piz Pal (D 1929, Tonfassung 1935, Regie: Arnold Fanck, G.W. Pabst), Strme ber dem Montblanc (D 1930, Regie: Arnold Fanck), Das blaue Licht. Eine Berglegende aus den Dolomiten (D 1931/32, Regie: Leni Riefenstahl) oder Der Berg ruft (D 1937, Regie: Luis Trenker). 43 Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 279.

Penser par-delà l’homme Jean-Clet Martin Le rapport de la France à la figure si marquante de Nietzsche s’inscrit sans doute dans ce que ce dernier lui-même devait promettre en regard de ces penseurs de l’avenir qu’il ne cessa d’appeler de tous ses vœux. Cette exigence de l’avenir, pointée de multiple manière par Nietzsche, aura trouvé son écho, de l’autre côté du Rhin, sous les noms de Foucault, Deleuze, Derrida, fascinés tous trois par la fracture que le philosophe allemand leur donna à éprouver jusque dans leur propre oeuvre. Cette influence sera, pour cela même, contrastée, complexe et nuancée par le style propre à chacun. Il me semble néanmoins que, par delà cette différence de facture, la philosophie française d’après guerre a fortement ressenti la secousse de la mort comme une configuration marquante du siècle. Je n’aurai pas le temps de construire ce rapport en toute sa richesse, d’autant plus qu’il ne se déploie pas sans passer par la manière dont Hegel clôt une Histoire que Heidegger, après Nietzsche et dans ses traces, cherche au contraire à déconstruire et renouveler. Il y a sous cette triple référence de la France à l’Allemagne un souci de la mort qui envahit l’ensemble des discours sous le registre de la fin de l’homme et du monde que l’humain était censé soutenir depuis longtemps sous la juridiction de la Raison en une histoire désormais hésitante, voire impuissante. Et cela comporte assurément comme un relent de conscience malheureuse, conscience endeuillée qui explique, d’autre part, le succès croissant de Benjamin ou d’Adorno en France. Mais, malgré cette tendance fortement mélancolique, la mort au sens où Nietzsche nous l’a confiée doit s’entendre plutôt comme une bonne nouvelle, un gai savoir de ce qu’il n’y a désormais plus de savoir qui tienne devant elle. On aura compris évidemment que cette mort ne consonne plus guère avec celle que le christianisme est venu surmonter par la promesse de la rédemption. La gnalogie de la morale nous met en face d’une mort qui n’est plus du tout la figure d’un passage vers une autre rive. Contre tout ascétisme, elle marque davantage le processus d’une fin sans reste, d’un séjour dans la limite creusée par l’éternel retour qui ne donnera plus sur aucun autre monde. On dirait que la fin de l’homme ne

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s’expose plus à aucune finalité et que la bordure sur laquelle nous nous tenons n’a plus, devant elle, une face sur laquelle pourrait donner cette frontière. La limite a perdu ses côtés sans s’enfoncer vers autre chose que vers le coin de son propre vide et désespoir. Il n’y a plus, en ce sens, aucun événement pour donner à la pensée la trouée, l’échappée dont elle se nourrit depuis toujours. Manque cruellement l’air, l’appel d’air du dehors sauf à l’entendre comme Nietzsche, au sens d’une mer qui ne coule qu’en elle-même selon le cycle joyeux du retour, d’une éternité qui veut la joie. Tout commence, d’une certaine manière, avec l’annonce de la mort de Dieu qui selon Nietzsche ponctuera d’abord, mais de manière inévitable, la détresse du siècle à venir. Le christianisme avait soupçonné, depuis le début, une mort de ce genre. Le Dieu chrétien est le premier, en effet, qui ne cède à l’homme que fort peu de puissance sachant que son fils connaît pour seul réconfort l’expérience ingrate de la croix. Inventer un Dieu qui meurt, c’est assez surprenant tout de même! Pour la première fois, la gloire d’un Dieu se mesure à son tombeau qui l’engloutit pour l’interrompre d’un silence de trois jours, une nuit pendant laquelle il sombre dans le vide, à l’instar de la conception que Schelling se fait de la divinité, abandonnant le monde au jeu désordonné de ses forces antagonistes. On se trouve ainsi placé devant l’horreur que Pascal promet à un monde sans Dieu, celui là même que Nietzsche, en préférant Dionysos au crucifié, affirme comme l’alternative d’un pari qui n’a pas encore été tenté. Le Christ ressuscité, certes, renverse toute l’absurdité du vide infini qu’il prend sur soi et, en revenant, témoignera à l’homme de son éternité, lui qui s’est arraché au vide et à l’interruption des trois nuits pascales. Mais en quoi ce dernier s’est-il vraiment ressuscité? Où trouver cette promesse du retour? On ne saurait mieux comprendre son inanité que ne le fit Hegel en insistant sur l’idée que le christianisme poursuit un tombeau vide et que ce n’est pas à Jérusalem que l’homme pourra retrouver son essence perdue. Que le tombeau ne soit habité par aucun Esprit, aucune prière ne saurait en remplir le peu de consistance de sorte que le monde souffre d’un deuil irrémédiable: une conscience malheureuse qui se sent abandonnée au mouvement immonde de ses errances giratoires. Notre univers, sorti de rien comme le veut la théologie elle-même, ne laisse plus rien a attendre peut-être que son refroidissement progressif, le lent travail du négatif qui ne saurait manquer de retomber dans la nuit, fût-elle Absolue, d’un univers en expansion.

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De ce vide qui grève le tombeau du Christ, on peut cependant se réjouir de multiple manière. L’athéisme, outre la prospérité du capitalisme universel qu’il mondialise en tous sens, possède ses bonheurs et ses moments de fastes, voire une certaine ivresse devant la promotion d’un homme libéré du poids lourd de la rédemption. C’est, d’une certaine manière, le cri de Sartre qui dira que l’existence précède l’essence, qu’il faut retourner la relation entre essence et existence de sorte qu’aucune essence ne soit donnée a priori pour cloisonner l’existence dans les limites de la raison. Dieu mort, on pourra supposer que le sens du monde devienne possible en un autre sens, faisant feu de tout bois. Comment éviter alors que ce feu ne se perde pas dans la ludique profusion des objets sans cesse nouveaux qui envahissent le marché mondial dans l’illustration de notre propre insouciance devant le mort ainsi mise à distance? Sans doute ne reste-t-il rien devant nous que la consommation, la consumation sans lendemain d’une dévoration mortifère qui emportera le monde lui-même comme un champagne vidé de ses bulles. Aux confins de l’humain, nous ne savons plus exactement le sens du monde, l’orientation de sa productivité effrénée qui ne vit que de l’absurde, de l’accélération insensée de son extension, de sa mondialisation sans monde. Sartre, parce qu’il n’y a plus de sens, pensait conférer ainsi à l’homme la chance de le créer, le privilège de le produire en toute liberté, dans l’ouvrage d’une œuvre communautaire guidée par le projet seul capable de faire intervenir une essence en aval, sous le travail même d’une aventure dialectique où fusion de l’en-soi et de pour-soi advient au nom de la liberté. L’existentialisme est alors un humanisme dans le sens où Dieu aura délaissé l’existence dans un retrait qui rendra à l’homme la responsabilité de son avenir. Mais un délaissement de ce genre avait déjà été affirmé par le Christ lorsqu’il invoquait un père qui l’a abandonné, seul face à la mort, lui déléguant ainsi un courage plus humain que divin, placé pour ainsi dire au-delà du divin lui-même, au point d’occulter les autres vecteurs de la Trinité. Mais cette plainte du Christ mis en croix est susceptible de réponses multiples devant le chaos de l’intermittence, de la nuit de trois jours placée au bord du vide. A l’inquiétude déjà Pascalienne du Christ, mis en croix, sombrant dans l’abîme, il ne sert de rien d’opposer la ripaille mondialisée de celui qui se livre au sens le plus festif, de celui qui ne vivant qu’une fois, serait en charge d’en profiter avant la fin, de goûter à tout, au maximum, avalant toute la terre avant de partir. Il y a sans doute autre chose à attendre de la mort ultime de Dieu que cette naissance du fils de l’homme, de ce fils

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touche-à-tout, engloutissant avec lui le maximum d’un univers qu’il absorbera de manière effréné sous la promesse de la réussite économique et de la libre consommation. A la complainte du Christ devant son père qui l’abandonne seul au mont des oliviers, on pourrait superposer celle d’un tout autre martyr: «Mon Dieu, dira-t-il, il n’y a plus de Dieu.» Ce cri de Van Gogh, rêvant d’ailleurs de peindre la scène précitée sans y arriver jamais, en descendant dans la mine du Borinage, entre en résonance avec l’idée que le tombeau du Christ est bien vide, mais de manière irrémédiable, sans attendre de l’homme aucune relève, au sens hégélien. Certes, Dieu mort, il restait à l’homme toute latitude pour prendre sa place et produire ainsi ses nouveaux frères. Il lui restait cette place à occuper pour considérer l’existence comme un espace à conquérir. La mort de Van Gogh, le suicide du «peintre-pasteur», suffirait à montrer qu’il n’a jamais eu foi en cette place manquante de fils et qu’il était désormais impossible de spéculer sur une relève de cette nature, même si le monde partout autour de lui témoignait de son inventivité technicienne, de la cohorte naissante des ingénieurs qu’on continue de produire aujourd’hui comme autant de gens respectables. Van Gogh fou, c’est l’expérience non simplement d’un abandon, d’un délaissement. C’est la certitude que le Dieu mort ne sera relayé par aucun fils qui prendrait en main le gouvernail du monde et de l’Histoire, contrairement aux espoirs d’un Jules Verne culminant à la même époque sous la figure du capitaine Némo, pris sans doute d’une détresse très nouvelle, d’une mélancolie suffisante pour l’éloigner du monde, à plus de 20 000 lieues sous les mers. Dans l’esprit de Van Gogh, perdu à même les usines et le charbon noir, il apparaît que Dieu est lui-même devenu fou en l’homme qui lui succède. L’homme quant à lui n’est qu’un Dieu raté qui retourne contre lui-même le harpon qu’il avait jeté contre la divinité. Et d’une certaine manière notre siècle n’a pas fait autre chose que de subir à rebours ces coups de harpon, annoncés avant Nietzsche, par Melville dans son étrange tragédie sur Moby Dick. Quelles que soient les expériences de pensées pratiquées dans les différents secteurs des sciences humaines, nous avons fait l’expérience irrémédiable de ces jets de lance faisant retour sur l’homme lui-même, le plaçant au bord d’une frontière comme aux confins de l’humain. Et ces contrecoups ne résonnent pas seulement sur le mode négatif du nihilisme. Il serait insuffisant de faire le diagnostic d’un nihilisme généralisé pour caractériser les frontières de l’humain, aujourd’hui partout visibles.

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Le suicide du peintre, sa négation de soi, en réponse à la difficulté d’être, n’est cependant pas à confondre avec un quelconque sacrifice. Il n’y a rien de nihiliste dans la peinture de Van Gogh lorsqu’il cesse de peindre ses paysages en dehors de toute visée humaine, laissant place à l’œil des choses et des fleurs. On y apprendra qu’un paysage n’a pas besoin, nécessairement, d’une conscience humaine pour le révéler. La peinture nous laisse penser au contraire que c’est seulement quand la perspective du regard humain s’évanouit que les couleurs pourront s’assembler selon un autre sens, une autre configuration que celle de l’impression ou même du beau romantique souvent très sentimental. Alors les couleurs s’affectent elles-mêmes selon une sensation qui leur appartient, lorsque le violet et le jaune s’affectent mutuellement suivant en cela la logique du contraste, indépendant de l’homme autant que du rapport quantifiable aux objets. Heidegger a eu un nom pour cette indépendance des choses eu égard aux hommes. Au lieu d’invoquer la figure de la conscience pour rendre compte de certaines concrescences ontologiques, il devait au contraire en appeler contre Hegel à une différence absolue de l’Etre et des étants jusqu’à toucher à une forme de présence, de Dasein qui n’est plus seulement de l’ordre du regard humain approché par la phénoménologie. Mais il faut sans doute aller bien au-delà de Heidegger et considérer que le tournesol manifeste un Dasein aussi puissant que celui de l’homme. On dirait un œil qui regarde toute la journée par la fenêtre dira Malcolm Lowry à ce propos. Et Van Gogh, précisément, peint cet œil lorsqu’il réalise ses natures mortes. Ce n’est pas un souci écologique qui anime sa fuite vers le soleil. Le monde, pas plus qu’il n’a besoin d’un fils de l’homme pour le sauver, n’a besoin du Capitaine Némo pour le préserver comme c’est actuellement de bon ton de l’affirmer dans les milieux de l’écologie dont les propositions et exactions ne sont que l’envers de ceux de la technique. Imaginer que la nature a des droits et que, ces droits, il appartient à l’homme de les édicter, cela relève d’un humanisme des plus curieux, un anthropocentrisme dont Nietzsche ferait sans doute la figure d’un nihilisme déclinant. On se rappellera probablement que Nietzsche, à la même époque que Van Gogh, se laissant aller au même soleil, a cherché à nous faire comprendre que l’homme est quelque chose qui doit être dépassé. Il est temps, dans l’esprit de Nietzsche, de trouver une autre modalité de présence, de Dasein, à la manière de ces philosophes devenus taupes qui, nous dit l’avant-propos à Aurore, sapent, forent et minent en découvrant ainsi un labyrinthe fort étrange. Le surhomme est justement la tâche qui

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attend les générations à venir. Surhomme, bermensch, cela ne consiste pas en la pensée un peu trop moulante d’une espèce de superman, de Christ américain venu sauver la planète. ber, cela veut dire par-dessus, par delà l’homme. Comment penser par-delà l’homme, par delà le bien et le mal, en un sens extra-moral? Cette question est celle que la philosophie contemporaine hérite au moment de l’essor le plus radical des sciences humaines. C’est Michel Foucault qui la formule de la manière la plus inattendue, dès la publication de son archéologie des sciences humaines Les mots et les choses, annonçant la mort prochaine de l’homme, des catégories en lesquels il s’exprime et accède à la certitude de soi. Nous avons probablement quittés, depuis la fin du XIXème siècle, la terre de l’évidence où les choses pouvaient encore s’exposer d’un coup, au titre de phénomènes capables de se montrer, de se laisser appréhender dans l’apparition systématique et totale qui était supposée nous les donner d’un seul geste : tableaux, panoramas exhaustifs, index récapitulatifs en mesure de réaliser selon les vœux de Hegel une véritable encyclopédie. Et il ne suffirait pas de dire seulement que nous manquons d’intériorité, que le moi n’est pas une substance. Nietzsche nous apprend en vérité que la conscience n’est pas une donnée, ni substance ni sujet. Elle est trop superficielle pour valoir comme le caractère inné d’une personnalité déjà en germe, indépendante de l’expérience. Au lieu de se solidifier en une substance ou un sujet, l’âme se molécularise plutôt en une collection dont l’unité tient de l’habitude. Si le moi n’est plus qu’une croyance, Nietzsche ira bien plus loin encore en faisant des objets eux-mêmes un pur divers, une diversité dont le fond reste inconnaissable, influencé sans doute par Kant, par la Critique de la Raison Pure. Il y a comme une inconvenance de l’objet eu égard au sujet dont Nietzsche se réjouit et que la phénoménologie ne cesse de déplorer ou de combler. Et il me semble que contre cette tentation phénoménologique, Nietzsche nous garantirait que le moi ne convient plus à lui-même tandis que les choses se délitent en profils aussi affolants que le donnait à percevoir naguère le cubisme. Cela la phénoménologie l’aura bien compris, elle qui cherchera à envisager ailleurs que dans le sujet et l’objet le tissu, la chair qui raccommode les débris d’un seul et même monde. Husserl rêvera encore, pour cela même, à une science qui constituerait a priori un monde le long de donations issues plutôt du corps que du moi ou des phénomènes. Mais sans doute ce corps ne suffit-il pas à nous sauver de la mort de Dieu et du sens que Nietzsche devait proclamer lorsque le sujet et l’objet se

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tournent si violemment le dos qu’aucun corps ne pourra en assumer la suture. Peut-être alors le temps est il venu de saisir que le corps n’est pas plus une substance, une chair structurée, que ne l’était l’âme au yeux de Hume. L’analyse que Nietzsche produit du corps comme rapport de forces déborde d’avance me semble-t-il la tentative phénoménologique tout autant que l’ontologie Heideggérienne dont le Dasein promettait pourtant autre chose qu’une intentionnalité humaine. La modernité est le lieu d’une crise profonde ouverte par Nietzsche qui résiste à toute tentative de réappropriation d’une conscience intentionnelle, laquelle, si elle n’est pas innée, toute faite, rêve pourtant à une forme de constitution possible au travers de l’intersubjectivité mise en regard d’un monde habitable tout en promettant la chair au motif d’un assemblage dont nous ne sommes pas certains qu’il tienne debout, bien trop tendre pour reprendre ici l’expression de Deleuze dans le dernier chapitre de Qu’est-ce que la philosophie? Si la conscience, avec le moi en lequel elle s’indure, n’est plus envisageable comme substance peut-on croire encore aux synthèses d’un corps propre qui soit en mesure de supporter une véritable constitution réalisant soit disant l’unité de tous ces fragments d’espaces et de temps que traversent les faisceaux nombreux du chaos! Mais, il n’est pas impossible nous dirait d’avance Nietzsche que le corps soit désormais défait, dépourvu d’organisation, congénitalement impropre à toute incarnation unitaire. Et ce pronostic est entièrement visible dans la manière dont aujourd’hui les corps s’échangent, se greffent les uns aux autres en se rejetant ou s’acceptant suivant une chimie très délicate. Que dire, en effet, d’un corps qui, au lieu de donner sens au monde, se présente lui-même comme le produit de multiples dons, de multiples sensations? Que dire d’un corps qui feraient de ses visées, en même temps que de ses intentions, le résultat de greffes, de montages entre machines, électrodes et cellules nerveuses? Que dire encore de l’unité du monde, que croire de la compréhension incompréhensible d’un «univers» qui se fait de plus en plus soudainement «plurivers» quand c’est le cœur d’un autre qui bat en nos poitrines, à l’instar de cette ribambelle d’intrus qui s’agitent en nos viscères: sondes minérales et médicaments animaux pour nos veines siliconées en relation avec un cerveau qui reçoit tout du dehors… L’unité du corps propre, les donations phénoménologiques n’ont aucune idée des dons d’organes – ce don extrême que Jean-Luc Nancy thématise comme Intrus – quand l’œil qui nous sert à voir provient d’un autre et que son rythme cardiaque continue de battre en nous, laissant se

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déployer des empreintes, des inscriptions, des traces de mondes qui n’ont plus rien à voir avec l’unité du corps naturellement envisagé comme une forme d’a priori. Ce que la greffe nous apprend, c’est que peut être tout organe est déjà malséant, déplacé, même quand il est naturellement posé là, en relation avec l’unité organique que vient forcément menacer son intrusion. Tout organe est en situation de se rendre incompréhensible et comme étranger à l’organisme, de devenir gênant, de réaliser un inconvénient majeur Le cœur le plus propre possède sans doute à jamais son étrangeté pour l’oreille qui, la nuit, l’entend battre sous la peau, réveillée par lui comme par un autre. Un organe se place en situation d’intrus dès qu’il se modifie, soupçonné par l’ensemble de l’organisme dès qu’il en déplace les repères et manifeste des compétences nouvelles. L’ensemble de nos organes n’impose une synergie qu’au titre d’un équilibre fragile où menacent sans cesse le rejet et le bricolage d’une unité illusoire, au point que le mal gronde très souvent de l’intérieur, suivant une guerre intestine faisant de nous des mutants. Chose que la science fiction dit aujourd’hui avec une virulence que ne connaissaient guère les fictions littéraires du passé, pourtant prolifiques en monstruosités. Le corps est forcément déjà en lui-même le lieu d’une multiplicité de processus qui, loin de réaliser l’unité du monde, s’avère finalement engendrer une impropriété essentielle. Impossible de le considérer comme une substance. Ce n’est pas seulement le moi, rendu problématique sous la critique radicale de l’empirisme, qui défaille à maîtriser ses propres associations, c’est le corps qui se démembre en une place sans cesse déplacée, incapable de réaliser la synthèse d’une chair, d’une carnation d’univers. «Plurivers» est le corps autant que le monde qui le borde dans l’enchâssement de ses nombreux bords, côte à côte détournés, contournés, exemplifiés sans origine assignable. Comprendre un tel corps, cela ne se fera plus sous l’autorité d’une sagesse issue de la seule conscience et de la seule maîtrise de soi. Cette compréhension passera bien plus par une intuition de l’étrange, de l’étrangeté qui habite chaque geste et le porte à s’associer avec des machines, des robots et des monstres. Le temps du monde, et de son corps, touche ainsi à sa fin, entraînant les idées et les choses en un mélange pluriversel (nous créons ici ce mot pour marquer notre opposition aux processus jugés universels), une fusion inconvenante en laquelle rien ne convient à sa place, tout étant toujours déplacé, différé, mis en retard par rapport à sa fonction organique ou même logique, selon cette dissémination intégrale que

Penser par-delà l’homme

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Derrida avait pensée sous le nom de diffrance et que Deleuze appelle une multiplicit. Les choses, les corps, pas moins que les âmes auront donc cessé de convenir aux modèles de la rationalité moderne, à ses démonstrations mécaniques et à son anatomie sans faille. Le règne des substances touche à son terme au profit des flux et des turbulences, des interférences et des ensembles statistiques d’événements qui font bien l’homme, mais un homme inconvenant, très peu saillant à la définition qu’on attendait de lui. En cela il n’y nulle désolation à faire valoir et nul regret à formuler. Les corps et les pensées se groupent désormais sous des rythmes et périodes qui concernent précisément ce que Nietzsche attendait de l’éternel retour. Ce brassage créateur de période est peut être illustré au mieux par un dessin de 1922, réalisé par Paul Klee, intitulé La machine  gazouiller. Il s’agit en fait d’un engin hautement inutile, dont le résultat paraît nul par rapport à l’économie des moyens mis en place. Mais, en réalité, lorsqu’on s’y arrête un peu plus, l’objet inconsommable que cet engin nous propose possède une toute autre destination. La machine à gazouiller ressemble, de fait, à une espèce de tournebroche dont l’axe est extrêmement perturbé, courbé par endroits, avec des oiseaux placés aux différents faîtes de cette barre tordue. Une petite manivelle permet de la faire tourner, leur arrachant des cris, à hauteur de la secousse éprouvée, plus intenses lorsque l’animal se trouve au sommet de la courbe dessinée par la ligne en mouvement où ils se disposent de façon irrégulière. Le mouvement de la manivelle induit donc un retour, une répétition des gazouillis qu’on qualifiera de ritournelle, ritornello signifiant précisément le petit retour périodique d’un chant, d’un refrain. Mais, cette répétition n’est pas tout à fait envisageable sur le mode de la rime calculée. Il s’agit plutôt d’un rythme qui se décale en fonction de la vitesse des tours impulsés au manche de cette étrange machine. La rime calculée, l’ode n’est pas ce qui s’impose à cette ritournelle. On dirait davantage que son retour sera périodique, constituant ainsi une période très spéciale. Péri/ ode veut dire que l’odyssée, le grand retour revenant exactement au point de départ, est impensable. La période n’est pas le rythme circulaire où l’on retrouverait sur la ligne d’arrivée les conditions initiales comme Ulysse l’expérimente d’ailleurs par son retour en Ithaque, devenu méconnaissable. La machine à gazouiller, comme nos corps, constitue un éternel retour qui trace la spirale d’une période mouvante. Péri/ode signifie ainsi un rythme qui, au lieu de rimer parfaitement le long de l’ode, se faussera à la périphérie. Peut-être le Bolro de Ravel, timide d’abord sous l’avancée d’une petite flûte inaudible, traduit-il au mieux

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ce mouvement d’enrichissement de la répétition capable d’envahir l’univers, de croître par les bords? Le périodique se confond alors avec le périphérique, avec le péril de ce qui advient à la limite, sur les bords centrifuges où les oiseaux, sans cesse, risquent de décrocher et se mettent à piaffer selon une intensité nouvelle. Et le priphérique de la péri/ode, charrie avec lui le pril d’une expérience comprise comme ex-periri, mouvement de traversée incertaine qui suppose un décalage ou un piratage (pirats) de l’ode. Cela dit, dans cette turbulence de l’expérience, une allure durable se met pourtant en place à même cette frontière périodique que Klee rejoue sous un autre tableau qui porte finalement le titre d’Equilibre chancelant. Equilibre chancelant est un jeu de construction, une disposition de pavés récurrents qui s’emboîtent selon un certain retour, une répétition poussée jusqu’au point de son effondrement. Cela se laisse aborder un peu comme un montage de morceaux de sucre, lorsque, enfant, on s’amuse à les empiler en frisant l’écroulement de la structure obtenue. On commencera par poser un bloc sucré sur un plan, le surmontant d’un second, légèrement décalé vers la droite. Pour compenser cette irrégularité, il faudra lui superposer un troisième, cette fois-ci déplacé vers la gauche, compensant par ce nouveau décalage le déséquilibre produit sous l’effet du premier. Et on répétera cette structure le plus loin possible, montant de plus en plus haut, jusqu’à toucher aux limites de la période que Klee symbolise par d’épaisses verticales noires en exprimant ainsi la poussée vers le bas et l’instabilité générée vers le haut. Equilibre chancelant découvre qu’un ordre n’a de stabilité que sur une période définie, entre des limites qui s’imposent à l’ensemble du dispositif devenu chancelant. Ainsi en va-t-il du sens du monde que Nietzsche confie au moulinet de l’éternel retour, au constructivisme du contemporain dont la forme est décidemment placée par delà l’humain et le trop humain. Mais dans la montée de cette période instable vers la joie, l’éternité n’est pas hors de portée de nos vies, de ces vies que Nietzsche avait le souhait de confier à la puissance.

Zu den Autorinnen und Autoren Christian Benne, geb. 1972; Associate Professor für Germanistik und Komparatistik am Institut für Literatur, Kultur und Medien der Süddänischen Universität in Odense; deutscher Honorarkonsul im Amtsbezirk Fünen; Germanic Editor von Orbis Litterarum (Oxford); Publikationen u. a. Nietzsche und die historische-kritische Philologie, Berlin und New York 2005; (Mithrsg.) „… andersteils sich in fremden Gegenden umschauend“: Schweizerische und dnische Annherungen an Robert Walser, Kopenhagen 2007; (Mithrsg.) Richard Hçnigswald: Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft, Göttingen 2008; Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, zur Begriffs- und Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Autobiographieforschung; zahlreiche Lemmata in der Brockhaus-Enzyklopädie. Georg W. Bertram, geb. 1967; W2-Professor für Philosophie (Schwerpunkt: Philosophische Ästhetik) auf Zeit an der Freien Universität Berlin; Publikationen: Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstitution der Moderne, München 2000; Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002; Kunst. Eine philosophische Einfhrung, Stuttgart 2005, Turin 2008; Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006; Aufsätze zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Sozialontologie und Ästhetik, zu Herder, Hegel, Heidegger und zur analytischen, hermeneutischen und neostrukturalistisch-phänomenologischen Gegenwartsphilosophie. Christine Blttler; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Potsdam, Leiterin der Projektgruppe „Vitalität – élan vital – Lebendigkeit“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin; Publikationen: Kunst der Serie. Serienmuster in den Knsten (Hrsg.), Berlin 2009; „Social Dissatisfaction and Social Change“, in: Cambridge History of Nineteenth Century Philosophy, hg. v. Allen Wood, Cambridge und New York (im Erscheinen); Aufsätze zu Kultur- und Sozialphilosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts, u. a. zu Kant, Fourier, Démar, Nietzsche, Benjamin.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Ivan Broisson, geb. 1981; Doktor der Philosophie und Forschungsbeauftragter an der Universität Namur (Belgien). Er ist Autor von Nietzsche et la vie spirituelle, Paris 2003, sowie mehrerer Aufsätze zum Denken Nietzsches. Thomas Brobjer; unterrichtet am Departement für Wissenschafts- und Ideengeschichte der Universität Uppsala. Zahlreiche Publikationen zu verschiedenen Aspekten von Nietzsches Denken, insbesondere zu seiner Bibliothek und seinen Lektüren, zuletzt zwei einschlägige Bücher: Nietzsche’s Philosophical Context: An Intellectual Biography, Urbana und Chicago: University of Illinois Press 2008, und Nietzsche and the ,English‘: The Influence of British and American Thinking on his Philosophy, Amherst, New York: Prometheus Books 2008. Ernani Chaves, geb. 1957; Professor für Philosophie am Institut für Philosophie und Geisteswissenschaften der Bundesuniversität von Pará (Brasilien); Publikationen: Foucault und die Psychoanalyse, Rio de Janeiro 1988; Studien ber Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin, Belém 2003; zahlreiche Aufsätze zu Nietzsche in Brasilien, Deutschland und Frankreich; Publikationen zu Foucault, Walter Benjamin, Adorno und Freud. Knut Ebeling; Professor für Medientheorie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Lecturer an der Stanford University Berlin. Zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Kunst, Theorie und Ästhetik, zuletzt: Die Aktualitt des Archologischen – in Wissenschaft, Medien und Knsten (Mithg.), Frankfurt am Main 2004; Das Archiv brennt (gemeinsam mit Georges Didi-Huberman), Berlin 2007; Stadien. Eine knstlerisch-wissenschaftliche Raumforschung (gemeinsam mit Kai Schiemenz); Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Knsten (gemeinsam mit Stephan Günzel), Berlin 2009. Jean-Marc Hmion, geb. 1957; Philosoph, Autor und Herausgeber; Publikationen u. a.: Alliances et Mobilisation – La Philosophie hglienne du mariage, Presse Universitaires du Septentrion 1997; „Absolution, Traduction, Shekhina“, in: L’Autre: cration et mdiation, Berne 2008. Tilo Klaiber, geb. 1958; Lehrer am Wilhelmsgymnasium StuttgartDegerloch, Fachreferent Philosophie/Ethik am Regierungspräsidium Stuttgart, Dozent für Fachdidaktik Philosophie/Ethik an der Universität Stuttgart; Publikationen: Ce triste Systme. Anthropologischer Entwurf und

Zu den Autorinnen und Autoren

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poetische Suche in Rousseaus autobiographischen Schriften, Tübingen 2004; Aufsätze zu Rousseau, Nietzsche, John Stuart Mill, Kant. Gnter Krause; Professor (MC) am Germanistischen Institut der Universität Nantes/Frankreich; Publikationen: Zur Originalitt des literarischen Signifikanten, Frankfurt am Main 1985; Literalitt und Kçrperlichkeit/ Littralit et corporalit, Tübingen 1997; (Hrsg.) L’Autre: cration et mdiation, Berne 2008; (Mithrsg.) Heiner Mller et Alexander Kluge – arpenteurs de ruines, Paris 2004; zahlreiche Aufsätze zu E. T. A. Hoffmann, Adam Müller, J. G. Fichte, Georg Trakl, Heiner Müller, Peter Handke, Rolf Dieter Brinkmann, Werner Schwab, Friedrich Nietzsche, „Europäische Identität“, Pop-Kultur, zum Theater (Der Tod auf der Bühne, Die Sprache auf der Bühne, Theater und Politik) und zur Oper (Kafka/von Einem, Lenz/Gurlitt/Zimmermann, Büchner/Gurlitt/Berg, Strauss/Hofmannsthal); Theater-Inszenierungen in Nantes, La Roche sur Yon, Angers, Paris, Toulouse, Rostock, Düsseldorf, Saarbrücken, Graz, Veszprém/Ungarn und Cluj/Rumänien. Philippe Lepers, geb. 1959; Lektor an der Katholischen Universität Leuven (Belgien); Studium der Religionswissenschaften und Philosophie an der Universität Leuven; Mitarbeiter des Nietzsche-Wçrterbuchs an der Universität Nimwegen; Publikationen: Genie vs. God. Religie en Christendom in het vroege werk van Friedrich Nietzsche in de context van zijn ,Kosmodicee‘, Maastricht 2004; Publikationen zu Nietzsche und Baudrillard. Anatoly Livry, geb. 1972; Professor für französische Literatur an der Lomonossov-Universität Moskau, Forscher am Zentrum für Vergleichende Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Paris IV – Sorbonne; Publikationen: La Mditerrane de Nietzsche dans l’œuvre de Nabokov, Slavica Occitania, Toulouse 2002; Andr Gide et „le socialisme ternellement fminin“, Slavic Almanach, Pretoria 2002; L’avenir de l’homme socratique chez Tourgueniev, Bulletin Guillaume Bud, l’Association d’Hellnistes et de Latinistes franÅais, Paris 2003; Nabokov le nietzschen, Aletheia, Saint-Pétersbourg 2005; Chants des soldats des Tsars, livret et traductions, France-Productions, Paris 2008; Nietzsche und Nabokov und ihre dionysischen Wurzeln, Der Europer, Basel 2008; Tête d’Or et Hlios Roi, la rupture du Cercle de l’Eternel Retour, Paris 2008.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Catherine Malabou, geb. 1959; Professorin (MC) für Philosophie an der Universität Paris Nanterre, Visiting Professor an der University at Buffalo (New York); Publikationen: L’Avenir de Hegel. Plasticit, temporalit, dialectique, Paris 1996; mit Jacques Derrida: La Contre alle, La Quinzaine litttraire, Paris 1999; Le Change Heidegger, Paris 2004; Que faire de notre cerveau, Paris 2004, deutsche Übersetzung unter dem Titel: Was tun mit unserem Gehirn?, Berlin 2006; La plasticit au soir de l’criture, Paris 2005; Les Nouveaux Blesss, Paris 2007; Ontologie de l’accident, Paris 2008. Jean-Clet Martin; Philosoph, Schriftsteller, Literaturkritiker; Publikationen: Variations. La philosophie de Gilles Deleuze, Paris 1993; Borges. Une biographie de l’ternit, Paris 2006, Une intrigue criminelle de la philosophie – Lire la „Phnomnologie de l’Esprit“ de Hegel, Paris 2009; La chambre, Paris 2009 (Roman). Michael Platt; Professor für Politik, Literatur und Philosophie am George Wythe College (Cedar City, Utah, United States); Humboldt-Stipendiat, Aufenthalte an der Universität Heidelberg (1982 – 83 bei HansGeorg Gadamer) und an der Universität Greifswald; Publikationen: Rome and Romans According to Shakespeare, Lanham 1983; Aufsätze und Beiträge zu Nietzsche u. a. in Nietzsche-Studien. Clemens Pornschlegel; Professor für Neuere Deutsche Literatur an der LMU München; Lehrtätigkeit an den Universitäten Tours, Montréal, Besançon; Publikationen (u. a.): Penser l’Allemagne. Littrature et politique aux XIXe et XXe sicles, Paris 2009; zahlreiche Aufsätze zu Fontane, Büchner, Goethe, Brecht, Hofmannsthal, Heine. Renate Reschke, geb. 1944; Professorin für die „Geschichte des ästhetischen Denkens“ am Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin; Vorstandsmitglied der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft; stellv. Direktorin der Friedrich-Nietzsche-Stiftung; Publikationen: Denkumbrche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000; Zeitenwende – Wertewende (Hrsg.), Berlin 2000; sthetik. Ephemeres und Historisches (Hrsg.), Hamburg 2002; Nietzsche – Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer? (Hrsg.), Berlin 2004; Aufsätze zu Nietzsche, Winckelmann, Hölderlin, Hegel, zur Antikerezeption, Kulturkritik und allgemeinen Ästhetik.

Zu den Autorinnen und Autoren

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Marc Rçlli; Vertretungsprofessur für Theoretische Philosophie an der TU Darmstadt 2009. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der philosophischen Anthropologie, französische Philosophie des 20. Jahrhunderts, Wissenschaftstheorie und -geschichte der Biologie und Eugenik, Politische Philosophie der Moderne, Phänomenologie und Pragmatismus. Veröffentlichungen u. a.: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien 2003; (Hrsg.) Ereignis auf Franzçsisch, München 2004; (Mithrsg.) Heinrich Heine und die Philosophie. Wien 2007. Marc Sagnol, geb. 1956, Germanist, Philosoph, Schriftsteller, zur Zeit Kulturattaché an der französischen Botschaft in Moskau. War 2000 bis 2004 Gastwissenschaftler an der Universität Potsdam, 2004 bis 2007 französischer Kulturbeauftragter in Sachsen-Anhalt. Zahlreiche Publikationen über Benjamin, Simmel, Foucault, Celan, Bruno Schulz sowie literarische Reiseberichte über Orte in Mittel- und Osteuropa (Böhmen, Galizien, Wolhynien, Bukowina). Wichtigste Buchveröffentlichung: Tragique et tristesse. Walter Benjamin, archologue de la modernit, Paris 2003. Letzte Veröffentlichung auf Deutsch: „Leopold von SacherMasochs Blick auf das Judentum in Galizien“, in Jean-Marie Valentin und Jean-François Candoni (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, „Germanistik im Konflikt der Kulturen“, Bern 2007, Bd. 12, S. 295 – 302. Florian Schneider, geb. 1975; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München; Publikationen: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2004; Aufsätze zu Freud, Lacan, Nietzsche und zur Mediengeschichte des ,deutschen Waldes‘; Artikel „Idylle“, in: Metzler Literaturlexikon, Stuttgart und Weimar 2007 (3., völlig neu bearbeitete Auflage). Angelika Schober, geb. 1953; ordentliche Professorin am Deutschen Institut der Universität Limoges; Publikationen: Ewige Wiederkehr des Gleichen? 110 Jahre franzçsische Netzscherezeption/ Eternel retour du mÞme? Cent-dix ans de rception franÅaise de Nietzsche, Presses Universitaires de Limoges 2000; (Hsrg.) Le christianisme dans les pays de langue allemande. Enjeux et dfis, Pulim 1997; zahlreiche Aufsätze und Beiträge zu Sammelbänden in Frankreich, Deutschland, Ägypten, Belgien, Großbritannien zu Nietzsche, Goethe, Max Weber, Feuchtwanger, Hork-

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Zu den Autorinnen und Autoren

heimer/Adorno, Raoul Hausmann, Karl Kraus, Karikatur, Diderot, d’Alembert. Andreas Spohn, geb. 1972; Lacanianische Psychoanalyse und Philosophische Praxis, Deutsch-als-Fremdsprache-Trainer; Leitung der Deutsch-Japanischen Community Düsseldorf; Publikationen: „Zur Herr-Knecht-Dialektik im japanischen Mythos“ ( jap.), Tokyo-Waseda 2001; „Die Gewalt des Anderen“, in: Christian Kupke Hg.): Lvinas. Ethik im Kontext, Berlin 2005; Doktorarbeit zur Gedankenvaterschaft bei Nietzsche und Lacan. Martin Stingelin, geb. 1963 in Binningen (Schweiz); Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dortmund; Hrsg. der IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Nietzsche (zusammen mit Marie-Luise Haase), „Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription“; Publikationen: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996; Das Netzwerk von Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin 2000; Aufsätze zur Literaturtheorie, zur Literatur- im Verhältnis zur Rechts- und Psychiatriegeschichte, zu Dürrenmatt, Freud, Glauser, Goethe, Kraus, Laederach, Lichtenberg, Nietzsche, Schreber, Wölfli u. a.; Übersetzungen aus dem Englischen (Salman Rushdie, Thomas Pynchon) und Französischen (Mikkel Borch-Jacobsen, Georges Didi-Huberman, Michel Foucault). Slaven Waelti, geb. 1976; seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut d’tudes franÅaises et francophones der Universität Basel; Forschungsaufenthalt in Paris 2007, Forschungsaufenthalt in Berlin 2008; Publikationen „Virgile moderne et inactuel: la traduction de l’Énéide par Pierre Klossowski“, in: Creliana (no 6) 2006; „Nietzsche/Klossowski: Pour une sémiotique pulsionnelle“, in: Zeichen setzen – Konvention, Kreativitt, Interpretation. Tagungsband zum 24. Nachwuchskolloquium der Romanistik 2008. Isabelle Wienand, geb. 1970; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement der Philosophie der Universität Fribourg (Schweiz) und der Radboud Universität Nimwegen (Niederlande); Mitarbeiterin am Nietzsche-Wçrterbuch, Berlin 2004 ff.; Publikationen: Significations de la

Zu den Autorinnen und Autoren

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Mort de Dieu chez Nietzsche d’Humain, trop humain Ainsi parlait Zarathoustra, Bern 2006; (Hrsg.) Neue Beitrge zu Nietzsches Moral-, Politik-, und Kulturphilosophie, Fribourg 2009; Aufsätze im Bereich der Moralphilosophie (insbes. der Philosophie des Glücks), zu Nietzsche, Descartes, und Spinoza.