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German Pages 264 Year 2019
Fabian Pettig Kartographische Streifzüge
Sozial- und Kulturgeographie | Band 29
Fabian Pettig (Dr. rer. nat.), geb. 1983, forscht und lehrt am Lehrstuhl für Didaktik der Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er studierte Biologie und Geographie für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Hamburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der bildungsphilosophischen Grundlagenreflexion des Lernens im Geographieunterricht.
Fabian Pettig
Kartographische Streifzüge Ein Baustein zur phänomenologischen Grundlegung der Geographiedidaktik
Zugl.: Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2018
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Inhalt Einleitung | 7 1.1 Forschungsanlass und Problemaufriss | 7 1.2 Forschungsfragen und Zielstellungen | 14 1.3 Vorgehen und Aufbau der Arbeit | 15 1
Teil I: Perspektiven Positionsbestimmungen | 21 2.1 Phänomenologie und Geographie-Didaktik | 21 2.2 Einordnung des Forschungsanliegens | 27 2
3
Entfaltung einer genealogischen Perspektive auf Lernen | 29
3.1 3.2 3.3 3.4
Zugangsweisen zum Phänomen des Lernens | 30 Lernen als Gegenstand phänomenologischer Pädagogik | 46 Die ästhetische Dimension der Erfahrung im Rahmen dieser Studie | 78 Zusammenfassung und Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung | 80
4
Entwicklung einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik | 83
4.1 Karten als Gegenstand geographiedidaktischer Überlegungen | 86 4.2 Kartographische Streifzüge zwischen Ortsbegegnung und Raumerkundung | 92 4.3 Zusammenfassung und Konsequenzen für den empirischen Teil | 120
Teil II: Verschränkung 5
Zur Methodologie – Ästhetische Erfahrungen sich selbst zeigen lassen | 125
5.1 Ansprüche aus der Theoriearbeit an den empirischen Teil der Arbeit | 125 5.2 Erfahrungen mittels Vignetten zum Klingen bringen | 129 5.3 Einordnung der Untersuchung in das Feld phänomenologischer Forschung | 149
Methodik der Untersuchung | 157 6.1 Verfahren der Erhebung: teilnehmende Erfahrung, Mapping | 157 6.2 Verfahren der Aufbereitung und Auswertung: Vignetten, Lektüre | 159 6.3 Gütekriterien | 167 6
Teil III: Exemplifizierung 7
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts | 175
7.1 7.2 7.3 7.4
Ziele und Intentionen | 175 Organisatorische und zeitliche Struktur | 177 Verlauf des Projekts | 178 Bausteine der didaktischen Inszenierung | 182
8
Beispiele ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht | 185
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Zur Schönheit der Autobahnbrücke über den Seilersee | 185 Die Atmosphärenkartierung von Sümmern | 195 Raumwahrnehmungen der Iserlohner Innenstadt | 202 Materialisierungen gesellschaftlicher Werte in Iserlohn-Mitte | 210 Zusammenschau: Horizontlinien ästhetischer Lernerfahrungen | 218
Teil IV: Reflexionen 9
Perspektiven für die Kartenarbeit im Geographieunterricht | 223
10
Zusammenfassung und Ausblick | 227
10.1 Implikationen für Forschung und Lehre | 231 10.2 Reflexion der Untersuchung und forschungsrelevante Leerstellen | 234 Literatur | 237
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Einleitung
Forschungsanlass und Problemaufriss Das Anliegen der vorliegenden Arbeit möchte ich entlang einer Erzählung entfalten. Ich verstehe die geschilderte Situation als einen besonderen Moment, der mein Nachdenken über das Themenfeld Lernen in institutionalisierten Kontexten maßgeblich beeinflusste. Die bewusste Einordnung der Erzählung geschieht aus heutiger Sicht heraus. Zum damaligen Zeitpunkt wurde die Situation vor allem als innere Unruhe spürbar und zeigte sich als Irritation meiner Erwartungen. Die Erfahrung, welche sich damals einen Weg bahnte, hat heute für mich große Bedeutung und steht exemplarisch für eine Reihe an Situationen, welche sich in unterschiedlichen Kontexten ereigneten und die mich motivierten, diese Arbeit zu schreiben. Als Beispiel soll sie an dieser Stelle dazu dienen, dem Leser die Position aufzuzeigen, von der aus meine Überlegungen einen Anfang finden. Vor Aufnahme meines Studiums im Sommer 2007 arbeitete ich bereits fünf Jahre in Hamburg in einem Wohnhaus für geistig und mehrfachbehinderte Menschen. Während dieser Zeit gab es eine Vielzahl an Hilfeplanungen, Zielvereinbarungen und Entwicklungsplänen, welche die tägliche pädagogische Arbeit auf unterschiedliche Weise strukturierten. Ein derartiges Ziel innerhalb einer solchen Hilfeplanung für eine der dort lebenden Klientinnen war es, ihr zu ermöglichen, sich ihr Lieblingsgetränk, einen Instant-Cappuccino, selbstständig zubereiten zu können. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten arbeiteten wir daran, es ihr zu ermöglichen, sich einen Cappuccino aufzubrühen: Das eigene Verlangen ernst nehmen, den Schrank öffnen, einen Becher wählen, den Wasserkocher mit Wasser füllen, diesen einschalten, die gewünschte Menge Pulver in den Becher füllen, die Utensilien nach Gebrauch wieder wegstellen und sich am Getränk erfreuen. Die einzelnen Momente, in denen wir arbeiteten, verlangten ein hohes Maß an Wertschätzung, Empathie und Geduld, an Feingefühl und Gespür für die Situation und das Gegenüber – von uns beiden. Und dennoch zeigte sich in den jeweiligen Situationen ein Bruch zwischen den von uns mit pädagogischer Absicht formulierten
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Zielen und den sich in der Situation zeigenden Ansprüchen der Klientin. Mehrfach wurden ihr Unmut und die Überforderung mit der Freiheit, welche die Situation bot, deutlich. Das gewohnte Verlassen auf den anwesenden Erzieher bzw. die anwesende Erzieherin wurde durch eine ungewohnte Eigenverantwortlichkeit ersetzt und erzeugte zuallererst Unbehagen, was sich häufig in aggressivem Verhalten zeigte. Es wird deutlich, dass die von den Pädagogen von außen über die Situation und die Klientin gestülpten Ziele mit ihren Gewohnheiten kollidierten. Zwar war die Freude über das fertige Getränk zweifelsfrei groß, der Weg zu diesem aber begleitet von Widerständen und Unsicherheiten, die wir nicht aufzufangen vermochten, da wir sie nicht als Ausdruck eigener Anliegen verstanden. Bei der Formulierung der Ziele verließen wir uns nämlich nur auf unsere Einschätzung und entwarfen Vorgaben entlang der Idee der Assistenz auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Das programmatische Vorgehen vernachlässigte die Klientin als Lernende und entwarf die Situation aus unserer Perspektive als Lehrende. Was in den einzelnen Lernmomenten geschah, wurde folglich auch nur aus unserer Sicht verstanden und bewertet. Wenngleich das von uns vorgegebene Ziel nach einiger Zeit erreicht wurde, blieb unverstanden, auf welchem Weg und mit welchen eigenen Ansprüchen die Lernende zum Ziel kam und ob es letztlich überhaupt ihr Ziel gewesen ist. Denn es ist ebenso gut denkbar, dass ihr die selbstständige Zubereitung des Getränks nur aus unserer Perspektive Freiheit und SelbstbestimmungsMomente ermöglichte. Ebenso lässt sich das Zubereiten als Zwang und Erfüllung von erwünschtem Verhalten verstehen. Diese für mich sehr bedeutsame Erfahrung markiert den Kern meines Nachdenkens über Lernen und Bildung. Die Eckpfeiler dieses Nachdenkens werden im Beispiel in zweierlei Hinsicht sichtbar: • Erstens geht es um Normierung und Formalisierung von Lern- und Bildungs-
momenten. In der Erzählung wird der Versuch unternommen, eine einfache Handlung in mehrere Teilschritte zu untergliedern und diese einzeln anzutrainieren, bis sie letztlich alle gekonnt und im Zusammenhang das erwünschte Verhalten ergeben. • Zweitens geht es darum, dass Lernen und Bildung ›von außen‹ gedacht wird und über die beteiligten Personen gestülpt wird. Was gelernt werden soll, ist vorher klar und fest umrissen und meist von den jeweils Lehrenden im Vorfeld definiert. Mir stellt sich soweit also die grundsätzliche Frage, wie sich das Verhältnis von Lernendem, Lehrendem und Lerngegenstand gestaltet. Offensichtlich zeigt sich in der Erzählung eine Facette des Lernens, die nicht mit dem von uns angelegten
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Verständnis einzufangen war. Die Rede ist von einer individuellen und unplanbaren Dimension des Lernens, die sich der normativen Bändigung entzieht. Diese Erzählung weist über sich hinaus, denn das hier aufgeworfene Problemfeld konturiert auch die Debatte zum Sinn und zu den Aufgaben der Bildungsinstitution Schule. Im öffentlichen und breitenwirksamen Diskurs wird Schule meist als Instanz verstanden, die junge Menschen auf die Zeit nach der Schule vorbereiten soll, das Berufsleben. Gegen dieses Verständnis richtet sich wiederum die Kritik der ansteigenden Neoliberalisierung von Bildungsinstitutionen bzw. von -inhalten und damit einhergehend die zunehmende Vernachlässigung humanistischer Bildungsideale (u. a. Rittelmeyer 2006). Der viel beschworene PISASchock als Nachwirkung der internationalen Vergleichsstudie von 2000 zog eine umfassende Neuausrichtung der Forschungsbemühungen nach sich, die sich zunehmend an den Prämissen der Quantifizier- und Messbarkeit orientierten und die Optimierung von Lehr-Lernsituationen zum Ziel hatte. Dieses Vorgehen hat in der als Hattie-Studie bekannt gewordenen Metastudie Visible Learning (Hattie 2009, 2015) vermutlich ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der Frage nach dem Sinn und den Aufgaben von Schule wurde folglich meist mit der gerade aufgezeigten Forschungslogik begegnet. Dabei erschöpft sich dieser Zustand aber nicht in der skizzierten Symptomatik. Vielmehr deutet diese auf ein tieferliegendes Problem, das sich bis in die fachdidaktischen (Forschungs-)Bemühungen hinein – in unterschiedlichem Grade – zieht. Denn meines Erachtens liegt dem zuvor umrissenen Nachdenken über Schule eine scheinbar zeitgenössische konsensuelle Kurzsichtigkeit zugrunde. Gemeint ist der scheinbare Common Sense bezüglich des den Forschungsbemühungen zugrundeliegenden Verständnisses von Lernen und Lernprozessen. Hierin drückt sich die Versteifung auf eine Interpretationslogik in Bezug auf das Themenfeld Lernen aus, welche aus der Dominanz einer pädagogisch-psychologischen Idee von Lernen, sowohl innerhalb der wissenschaftlichen als auch der öffentlichen Debatte, resultiert. Daraus ergeben sich blinde Flecken in Bezug auf das Phänomen des Lernens, die erst durch einen notwendigen Schritt zurück in den Blick gerückt und thematisierbar werden. Lernen kann erst daraufhin reflektiert begegnet werden. Wie schlägt sich die hier entfaltete Problemlage nun in der Geographiedidaktik nieder? Wie wird Lernen hier verstanden? Erstaunlicherweise findet man im Wörterbuch der Geographiedidaktik keinen Eintrag zum Stichwort Lernen1, dafür
1
Vielmehr formulieren Mönter & Schlitt (2013:161f.) zum Stichwort Konstruktivismus »Leitprinzipien des Lernens im Sinne des moderaten Konstruktivismus« (nach Vankan et al. 2007, Reinfried 2006, Reinmann & Mandl 2006). In Kurzform ist Lernen demnach
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zu Lernzielen (Hamann 2013a) oder zur Lern(ziel)kontrolle (Hamann 2013b). Hieraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass Lernen kein erklärungsbedürftiger Begriff ist und in umgangssprachlicher Bedeutung auch den Überlegungen der Geographiedidaktik zugrunde liegt. Dementsprechend scheint Lernen insbesondere von den Zielen her gedacht zu werden, was zum bereits entfalteten Common Sense passen würde. Ein Blick in etablierte Einführungswerke der Geographiedidaktik vermag eine differenziertere Antwort bzgl. des aktuell vorherrschenden Lernverständnisses innerhalb der Disziplin zu liefern: • Rinschede widmet in seiner Geographiedidaktik von 2007 den Psychologischen
Grundlagen des Geographieunterrichts ein eigenes Kapitel. Obwohl er anerkennt, dass es »keine einheitliche Lerntheorie, sondern eine Vielzahl von Ansätzen« (Rinschede 2007:59) gibt, verbleiben diese verschiedenen Ansätze – er nimmt Bezug zum Assoziativen Lernen und dem Kognitiven Lernen – selbst ohne Ausnahme innerhalb der Logik der pädagogischen Psychologie verhaftet. Dieses Vorgehen wird damit begründet, dass die »Einsichten der Lernpsychologie des assoziativen und vor allem des kognitiven Lernens […] von unmittelbarem didaktischen und methodischen Interesse im Lernprozess des Unterrichts sind« (ebd.). • Ähnlich wird in der Geographiedidaktik von Haversath von 2012 argumentiert, wenn im zweiten Kapitel Blick auf die Akteure: Lehren und Lernen Otto & Schuler die Frage danach, was man eigentlich unter Lernen verstünde, aus Sicht der pädagogischen Psychologie beantworten (ebd.:133) und sich anschließend für die Etablierung moderat-konstruktivistischer und auch problemorientierter Lernumgebungen aussprechen (ebd.:140ff.). • Auch im Metzler Handbuch 2.0 von 2013 stellt Roberts das Problemlösende Lernen im Geographieunterricht vor und versteht dessen besondere Relevanz für den Unterricht in der Passung zu einem konstruktivistischen Lernverständnis. Den Konstruktivismus versteht sie als »heutzutage weitgehend akzeptierte Lerntheorie« (ebd.:128). • In der Geographiedidaktik von Kanwischer aus dem Jahr 2013 beschreibt Uhlenwinkel im Kapitel 10 Lernen im Geographieunterricht: Trends und Kontroversen unter anderem die Pädagogischen Prozesse, die dem Lernen im Geographieunterricht zugrunde liegen. Uhlenwinkel (2013:135) postuliert, dass das Durchsetzen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie in der Fachdidaktik einer »moderne wissenschaftliche Grundlegung« von Unterrichtsformen den Weg ein aktiver, selbst gesteuerter, konstruktiver, emotionaler, situativer und sozialer Prozess (Mönter & Schlitt 2013:161). Ich werde auf diese und weitere Zugangsweisen zum Phänomen des Lernens in Kapitel 3.1 zurückkommen.
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bereitete. Wenngleich sie dabei kritisch anmerkt, dass das Verhältnis von Kompetenzorientierung und konstruktivistischer Erkenntnistheorie bisher kaum geklärt ist und plausible offene Fragen bezüglich dieses Verhältnisses formuliert, verbleibt sie in einer pädagogisch-psychologischen Tradition des Nachdenkens über Lernen (ebd.:135f.) und reflektiert diesen Standpunkt nicht mit. • In Kestlers Einführung in die Didaktik des Geographieunterrichts von 2015 macht das Kapitel Grundlagen aus der pädagogischen Psychologie etwa ein Siebtel des gesamten Werks aus. Hierin wird der Hauptzweck von Schule als »das planmäßige, zielgerichtete Lernen« identifiziert (Kestler 2015:138, Herv. i. O.). In Anlehnung an Edelmann & Wittmann (2012:208ff. zit. in Kestler 2015:138f.) werden daraufhin die »wichtigsten Lerntheorien im Überblick« dargestellt, die sich unter den zwei großen Theorietraditionen der modernen psychologischen Lernforschung subsumieren lassen: Die »Verhaltenstheorien (behavioristische Theorien) und [die] kognitivien Theorien« (Kestler 2015:138, alle Herv. i. O.). • Und in Geographie unterrichten lernen von 2015 entfaltet Reinfried im Kapitel Wissen erwerben und Einstellungen reflektieren Überlegungen und Konzepte zum Lernen ausschließlich in pädagogisch-psychologischer Perspektive. Einem konstruktivistischen Lernverständnis folgend, unterscheidet Reinfried dabei ein kognitiv-konstruktivistisches Modell des Lernens und sozio-konstruktivistische Modelle des Lernens, wobei sich beide Sichtweisen ergänzen und erweitern (Reinfried 2015b:62). Das Lernen wird dieserart vornehmlich als aktive und kognitive Bedeutungskonstruktion in soziokulturellen Kontexten verstanden (vgl. ebd.:56). Grundsätzlich scheint also auch innerhalb der Geographiedidaktik weitgehend Einigkeit darüber zu herrschen, dass Lernen in pädagogisch-psychologischer Perspektive zu verstehen sei und Lehr-Lernprozesse in zeitgemäßem Geographieunterricht unter gemäßigt-konstruktivistischen Gesichtspunkten arrangiert sein sollten. Die zugrundeliegende Lerntheorie spannt sich dementsprechend in der Traditionslinie Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus auf und versucht Aspekte der drei Strömungen sinnvoll miteinander zu vereinen. Vor diesem scheinbar allgemein anerkannten lerntheoretischen Hintergrund wird die Debatte dann schnell um die Effizienz von Lerninputs und die Steigerung der Lernoutputs geführt. Zahlreiche neuere geographiedidaktische Forschungen legen von dieser Ausrichtung eindrucksvoll Zeugnis ab (bspw. Brühne 2009, Schockemöhle 2009, Peter 2014). Es lässt sich festhalten, dass bei all den unterschiedlichen Ansätzen und Forschungen ein konsensuelles Verständnis darüber zu herrschen scheint, wie Lernen theoretisch zu verstehen sei. Dieses fachdidaktische Verständnis passt zur
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Diagnose von Meyer-Drawe (2012a:33), nach welcher die zeitgenössische Überzeugung ist, dass man wisse, was Lernen sei. Demgegenüber gibt es im sehr intensiv geführten erziehungswissenschaftlichen Diskurs auch einen genau gegenläufig orientierten Ausgangspunkt der Argumentation sowie aktueller Forschungsbemühungen. Dieser Position folgend ist »Lernen nach wie vor nur sehr dürftig verstanden« (ebd.) – ein Gedanke der, mit Blick auf die vorgestellten Lehrwerke, in der Geographiedidaktik bisweilen keine Rolle zu spielen scheint. Grundsätzlich lassen sich einerseits eine pädagogisch-psychologische und andererseits eine philosophische Traditionslinie des Nachdenkens über das Lernen unterscheiden (Faulstich 2014b:7). Wie gezeigt wurde, sind die allermeisten geographiedidaktischen Überlegungen und Forschungsbemühungen in der erstgenannten Logik verhaftet. Die zweite Traditionslinie bleibt bis auf vereinzelte Ausnahmen (u. a. Nehrdich 2015) unterrepräsentiert. Dieser Sachverhalt ist umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass das erklärte Ziel geographiedidaktischer Forschung auf der »Gewinnung und Begründung von Erkenntnissen« in Bezug auf das »Lehren und Lernen geographischer Sachverhalte« in inner- und außerschulischen Kontexten liegt (Köck 1999:52, Hemmer 2013:95). Denn dieses Ziel im Blick scheint es sinnfällig, das Verhältnis von Lehren und Lernen und die Begriffe umfassend zu verstehen. Der Blick in geographiedidaktische Grundlagenwerke macht jedoch eine Leerstelle bzgl. bildungsphilosophischer Zugangsweisen deutlich. Die beiden aufgezeigten Denktraditionen zum Lernen lassen sich nicht einfach einfangen, vielmehr ist »der wissenschaftliche Diskurs über Lernen […] zersplittert in Detailtheorien und aufgespalten in partialisierte scientific-communities« (Faulstich 2014a:11). Nun lässt sich einwenden, dass es zwar unterschiedliche Zugangsweisen zum Phänomen des (schulischen) Lernens gibt, aber die Forschungslandschaft der letzten eineinhalb Jahrzehnte eine eindeutige Richtung aufzeigt, die den bereits erwähnten Ergebnissen der berüchtigten Vergleichsstudien TIMMS und PISA geschuldet ist – und insofern kaum falsch sein kann. Aber dieses Argument greift zu kurz. Im fachdidaktischen Diskurs (gemeint sind die Didaktiken der Gesellschaftswissenschaften) scheint sich überdies inzwischen bereits eine »bildungstheoretische Wende« (Sander 2014:12) abzuzeichnen. Forschungsbemühungen zum Themenfeld Lernen wenden sich demnach wieder verstärkt philosophischen Ansätzen zu, da immer stärker (an)erkannt wird, dass sich die aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Lernens in der Bildungsinstitution Schule nicht völlig bzw. ausreichend in pädagogisch-psychologischer Logik beantworten lassen. Insofern scheint der Blick hinter den Mainstream der Lehr-Lern-Forschung nicht nur lohnend, sondern notwendig und – besonders zentral – der Sache angemessen.
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Was genau den Kern des Nachdenkens über Lernen und Lernprozesse in philosophischer Tradition auszeichnet, wird in einem späteren Kapitel zu klären sein. Soweit bleibt aber festzuhalten, dass insbesondere im Beschreiben und Verstehen des Lernvollzugs der Sinn und besondere Reiz der Perspektive begründet liegt, kurzum: Es geht um das »Wie des Lernens« (Mitgutsch 2008, 2009). Hierin liegt der grundsätzliche Unterschied zur Input-Output-Logik der pädagogisch-psychologischen Perspektive, die zumeist die Resultate des Lernens fokussiert oder nach Möglichkeiten strebt, dass »Wie der Vermittlung« (ebd.) zu optimieren. Für philosophische bzw. auch pädagogische Versuche, das Phänomen des Lernens zu erhellen, ist dabei der Begriff der Erfahrung von zentraler Bedeutung. Die Bezüglichkeit von Lernen und Erfahrung wurde insbesondere in phänomenologischer Hinsicht aufgearbeitet (vgl. Buck 1989, Meyer-Drawe 2012a). Es rückt dabei eine genealogische Perspektive auf das Lernen in das Blickfeld, welche Fragen zur Gangart der Erfahrung und zu Erscheinungsweisen des Lernens stellt. Lernen wird dabei nicht als sequentielle Abfolge zu erklimmender kognitiver Stufen, sondern als brüchiger Erfahrungsvollzug entfaltet. Indem die vorliegende Arbeit den Versuch unternimmt, bildungsphilosophische Überlegungen mit geographiedidaktischen Anliegen zu verschränken, wird ein didaktisch-genealogischer Zugang zum Lernen verfolgt. Vor dem skizzierten diffusen Hintergrund der verschiedenen theoretischen Zugänge zum Lernen in den zwei aufgezeigten Traditionen zeichnet sich die Notwendigkeit ab, sich mit der eigenen Forschung innerhalb dieser Diskurse zu positionieren und dabei deutlich zu machen, auf welche Position innerhalb der jeweiligen Tradition man sich stützt. Insbesondere für das Feld der Geographiedidaktik zeichnet sich überdies die vorgelagerte Notwendigkeit ab, den pädagogischen Diskurs wahrzunehmen und in die eigenen Bemühungen mit einzubeziehen, um nicht Gefahr zu laufen, Potentiale der eigenen Forschung aufgrund eines reduktionistischen Lernbegriffs zu unterhöhlen. Den fachspezifischen Bezugspunkt meiner Überlegungen stellt die Karte, die Kartographie bzw. die Kartenarbeit im Geographieunterricht dar. Die Relevanz des Mediums für den Geographieunterricht ist, bei aller Unterschiedlichkeit der wissenschaftlichen Reflexion der Karte, unbestritten. Aus heutiger Sicht lassen sich eine Reihe paradigmatischer Positionen zur Karte bzw. zur Kartographie bestimmen, die von der Idee, die Karte sei eine abbildhafte Repräsentation der Erdoberfläche hin zur Vorstellung, die Karte sei Mittel und Ausdruck von Raumproduktionen und -konstruktionen, reichen (vgl. Glasze 2009, 2012, 2014, 2015, Gryl 2009, 2016, Michel 2010).2 Vor diesem Hintergrund ist es ein zweites Anliegen der vorliegenden Arbeit, einen konzeptuellen Vorschlag zu erarbeiten, wie eine erfahrungsorientierte Kartendidaktik zur Gestaltung von Geographieunterricht 2
Diese unterschiedlichen Zugänge thematisiere ich in Kapitel 4.1 ausführlicher.
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aussehen kann. Konkret geht es also um den Entwurf einer Kartendidaktik, welche einen philosophisch-phänomenologischen Lernbegriff ins Zentrum stellt und ästhetische Lernerfahrungen sowie deren Reflexion im Geographieunterricht ermöglicht. Diese Kartendidaktik bezeichne ich als Kartographische Streifzüge. Der phänomenologischen Grundhaltung folgend, ist es ein drittes Anliegen der Arbeit, Erscheinungsweisen des Phänomens des Lernens im Geographieunterricht bei der Kartenarbeit in den Blick zu nehmen und hierüber Einsichten zum Vollzug ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht gewinnen zu können. Dieses Vorgehen erlaubt es, Perspektiven für die Kartenarbeit im Geographieunterricht aufzuzeigen, welche die Ermöglichung, Begleitung, Thematisierung und Reflexion ästhetischer Lernerfahrungen im Blick hat.
Forschungsfragen und Zielstellungen Die bisher entfalteten Überlegungen zu den Themenfeldern Lernen, Erfahrung und Kartographie münden in zwei ineinandergreifende Forschungsfragen: Wie zeigt sich Lernen als ästhetische Erfahrung bei der künstlerischen Kartenarbeit und inwieweit lassen sich diese Lernmomente didaktisch inszenieren? Die Forschungsbemühungen spannen sich entlang von drei miteinander verschränkten Zielen auf: (1) Es geht darum, ein phänomenologisches Verständnis von Lernen didaktisch anschlussfähig zu entfalten und dessen Wert für die Disziplin auszuloten, wobei der Fokus auf ästhetische Lernerfahrungen gelegt wird. (2) Es soll das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und kartierender Praxis differenziert verstanden werden, um Ansatzpunkte für die Konzeptualisierung einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik zu gewinnen. (3) Es ist ein Anliegen der Arbeit, Möglichkeiten zur Sichtbarmachung flüchtiger ästhetischer Lernerfahrungen und des Forschens mit ästhetischen Lernerfahrungen zu erarbeiten, welche bestehende methodische Zugangsweisen zum Phänomen aufgreifen und gegenstandsgebunden erweitern. Quer zu den herausgearbeiteten Zielen der Arbeit liegt also das grundsätzliche Anliegen, die Prozesshaftigkeit des Lernens in den Fokus zu rücken und (empirisch) beschreib- und verstehbar werden zu lassen. Damit wird eine der zentralen Fragen der jüngeren phänomenologischen Pädagogik aufgegriffen: Wie lässt sich Erfahrung empirisch begegnen? Auf den Punkt gebracht versteht sich die Arbeit
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als geographiedidaktische Studie, die sich in ihrem empirischen Teil auf das Lernfeld Schule, speziell den Geographieunterricht, bezieht und eine genealogische Lerntheorie zum Ausgangspunkt theoretischer, konzeptioneller und methodischer Überlegungen macht.
Vorgehen und Aufbau der Arbeit Die Arbeit wird zur Beantwortung der Fragestellungen und vor dem Hintergrund der zuvor formulierten Ziele wie folgt gegliedert. Im ersten Teil der Arbeit – den Perspektiven – werden die theoretischen Positionen der Forschung entwickelt. Das zweite Kapitel dient der Einordnung der phänomenologischen Position der Arbeit in das Forschungsfeld der Geographie bzw. Geographiedidaktik. Es wird aufgezeigt, welche theoretischen und methodischen phänomenologischen Hinsichten innerhalb der geographiedidaktischen Debatte soweit verfolgt werden und daraufhin herausgestellt, inwieweit die vorliegende Arbeit die bestehende Diskussion aufgreift und erweitert. Im dritten Kapitel wird das Phänomen des Lernens thematisiert. Die Aufarbeitung verschiedener Zugangsweisen zum Phänomen mündet in der Darstellung mehrerer Facetten eines phänomenologischen Lernbegriffs, der Lernen als Erfahrung beschreibt. Über die Fokussierung auf die ästhetische Dimension der Erfahrung wird das Ineinandergreifen sinnlicher und reflexiver Zugangsweisen zur Welt als konzeptueller Hintergrund für die im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Unterrichtsumgebung plausibilisiert. Im vierten Kapitel wird das Kartieren (und damit auch ›die Karte‹) als ästhetische Praxis verstanden. Somit tritt vor das Verständnis der Karte als abbildendes Medium die Einsicht, dass diese eine kontingente Darstellungsform ist. Dabei wird das künstlerische Kartieren als Teil ästhetischer Erfahrungen konzipiert. Das besondere Moment dieses Erfahrungsgeschehens lässt sich aber nicht in bloßer Ortskenntnis oder dem Wissen um verschiedene Darstellungsmodi auflösen, sondern greift tiefer: Das Kartographieren ist sinnstiftende Praxis, trägt so zur Vergewisserung des Selbst-, Welt- und Fremdverhältnisses bei. Diese Überlegungen münden in dem konzeptuellen Entwurf einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik, den Kartographischen Streifzügen, welche unter Rückgriff auf die im vorherigen Kapitel entfalteten Struktureigentümlichkeiten von Lernerfahrungen entwickelt werden. Im zweiten Teil der Arbeit – der Verschränkung – wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich ästhetische Lernerfahrungen im Rahmen Kartographischer Streifzüge ereignen können und wie sich ästhetische Lernerfahrungen als Vollzüge im Geographieunterricht zeigen. Hierzu wird im fünften Kapitel eine metho-
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dologische Grundlegung angestrebt. Die methodologische Perspektive phänomenologischer Pädagogik, die Exemplifizierung, wird als spezifische Beschreibungsform entfaltet, über welche sich ästhetische Erfahrungen dem Nachvollzug (und damit der wissenschaftlichen Reflexion) in Beispielen öffnen. Konkret werden zur Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen zwei forschungslogische Perspektiven miteinander verschränkt: (1) Die zuvor entfalteten geographiedidaktischen Überlegungen zur Kartenarbeit werden im Rahmen eines Mapping-Projekts (Busse 2008, Pettig 2016) umgesetzt und verschiedene prozessbegleitende Notationspraktiken, im Sinne von Erfahrungssplittern, formuliert, in welche sich Spuren ästhetischer Erfahrungen einschreiben können. (2) Eine aus der phänomenologisch-hermeneutischen Vignetten-Forschung (u. a. Schratz et al. 2012) inspirierte Form der »dichten Beschreibung« (Geertz 1987) wird zur Fokussierung auf ästhetische Lernerfahrungen der Lernenden genutzt. Die Annahme ist, dass über diese komplementär zu verstehenden empirischen Zugriffe die individuellen Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler zur Darstellung gelangen können. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass sich Erfahrungsprozesse nur schemenhaft konturieren und nie scharf nachzeichnen lassen. Aufgrund der phänomenologischen Theorietradition, der sich diese Studie verschreibt, geht es im empirischen Teil der Arbeit folglich nicht darum, lückenlose Protokolle didaktisch herbeigeführter Lernerfahrungen zu liefern und Lernprozesse kategoriengeleitet zu interpretieren. Vielmehr liegt der Fokus des hier verfolgten explorativen Vorgehens in der Anerkennung und Wertschätzung der Komplexität und Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungen. Daher werden Wege gesucht, die sich jeweils vollziehenden Lernmomente empirisch beschreibbar werden zu lassen, um hierüber im Nachvollzug (1) didaktische Möglichkeiten der unterrichtlichen Inszenierung aufzuspüren und (2) die Bedeutung von ästhetischen Erfahrungen für Lernen im Geographieunterricht deutlich werden zu lassen. Im sechsten Kapitel werden daraufhin die methodologischen Überlegungen auf den Fortgang der Arbeit hin zugespitzt und das entwickelte Analyseinstrumentarium zur Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen im Geographieunterricht pointiert dargestellt. Im dritten Teil der Arbeit – der Exemplifizierung – werden Beispiele für ästhetische Lernvollzüge im Geographieunterricht gegeben und die darin aufscheinenden Erfahrungen in Lektüren deutend nachvollzogen. Im ersten Schritt werden im siebten Kapitel die Konzeption und der Ablauf einer Projektwoche an einem
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Gymnasium in Nordrhein-Westfalen geschildert. Im zweiten Schritt wird im achten Kapitel ein Einblick in die Arbeitsprozesse im Zuge des Mapping-Projekts gegeben. Über mehrere Beispiele ästhetischer Lernvollzüge, verdichtet in Vignetten und angereichert durch weitere Dokumente der Arbeitsprozesse, werden ästhetische Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern, welche sich im Zuge des Projekts ereigneten, zur Darstellung gebracht. Diese Beispiele werden vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Lernbegriffs eingeordnet, um Horizonte ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht bestimmen zu können. Im vierten Teil der Arbeit – den Reflexionen – werden die Perspektiven der Arbeit für die Geographiedidaktik diskutiert. Hierzu werden im neunten Kapitel auf Grundlage der theoretischen Grundannahmen des ersten Teils und der empirischen Beschreibungen des zweiten Teils konzeptuelle Überlegungen und Folgerungen für den Geographieunterricht formuliert. Dabei ist die These zentral, dass ästhetischen Erfahrungen ein besonderes (zumeist ungenutztes da ungesehenes) Bildungspotential für die Geographie innewohnt, welches ernst genommen und in vorhandene Lehr-Lern-Überlegungen integriert werden muss. Daraufhin wird das Forschungsvorgehen reflektiert, Chancen und Grenzen der gewählten Logik werden diskutiert und die eingangs formulierten Fragen werden beantwortet. Abschließend wird die Untersuchung im zehnten Kapitel zusammengefasst, Forschungsdesiderate aufgezeigt und ein Ausblick auf nachfolgende bzw. anknüpfende Forschungsmöglichkeiten gegeben.
Teil I: Perspektiven
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Positionsbestimmungen
Wenngleich ich mich einer dezidierten erkenntnistheoretischen Debatte im Rahmen meiner Arbeit enthalten möchte, erscheint es mir notwendig, die phänomenologische Grundierung des Forschungsanliegens in die fachwissenschaftliche wie fachdidaktische Debatte der Geographie einzubetten. Aus diesem Grund werde ich in einem ersten Schritt die phänomenologische Rezeption innerhalb der Geographie-Didaktik1 skizzieren, um herauszustellen, inwieweit die vorliegende Arbeit bestehende Gedanken aufgreift bzw. forschungsmethodisch Neuland betritt. Einführend widme ich mich im vorliegenden Kapitel der phänomenologischen Rezeption innerhalb der Geographie-Didaktik, um Ansatzstellen für die Einbettung und die Anschlussfähigkeit meiner Arbeit aufzuzeigen (Kapitel 2.1). Daraufhin positioniere ich meine Arbeit vor dem Hintergrund der phänomenologischen Rezeption innerhalb der Geographie-Didaktik (Kapitel 2.2).
Phänomenologie und Geographie-Didaktik In der amerikanischen Geographie der 1970er Jahre etablierte sich die humanistic geography in gewisser Weise als kritischer Gegenentwurf zu einer traditionellen ›objektiven‹ und szientistischen Geographie (vgl. Entrikin 1976:616).2 Einige 1
Mit dieser Wortschöpfung meine ich die Geographie und die Didaktik der Geographie in eins.
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Hiermit nehme ich eine Setzung vor, die ich einordnen möchte: Manche Autoren sehen bereits in den Anfängen der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin im Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert in den Feldmethoden und -zugängen der frühen Landschaftskundler (wie bspw. Carl Ritter) Parallelen zum Anliegen und Vorgehen einer phänomenologischen Wissenschaftsphilosophie (vgl. Zahnen 2015). Diese sehr junge Diskussion wird hier nicht ausführlich aufgegriffen. Allerdings möchte ich auf diese lohnende Spur aufmerksam machen.
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zentrale Vertreter der amerikanischen humanistic geography sind Anne Buttimer, Yi-Fu Tuan und Ted Relph.3 Das Hauptanliegen dieser Bewegung liegt in der Thematisierung und Ergründung lebensweltlicher menschlicher Erfahrungen und Erfahrungsweisen, bspw. der Wahrnehmung von Natur und Landschaften, sowie den Bezügen von Menschen und Orten, welche in Bedeutungszuweisungen einen Ausdruck finden. Zentraler Bezugspunkt dabei ist die lebensweltlich orientierte Phänomenologie Heideggers und Merleau-Pontys (vgl. u. a. Tuan 1976, Relph 1977). Über diese phänomenologische Orientierung wurden philosophische und methodische Impulse für die Geographie fruchtbar gemacht. Die Zugangsweise zum Untersuchungsgegenstand der humanistic geography zeichnet sich durch partizipative (vgl. Buttimer 1976, 1984) und literarische Herangehensweisen (vgl. Tuan 1978) aus, um menschliche Erfahrungen in räumlicher Dimension hermeneutisch zu fokussieren und zu erhellen. Seit den 1980er Jahren nahm der Einfluss der humanistic geography zwar ab, aber die hier formulierten Anliegen lassen sich zum Teil auch heute erkennen, wie ich weiter unten ausführen werde. Weichhart formuliert, dass man über die humanistic geography »seit etwa einem Jahrzehnt kaum mehr etwas« hört und kommt zum Schluss, dass sie »im deutschen Sprachraum […] so gut wie gar nicht Fuß gefasst« hätte (Weichhart 2008:140). Aus diesem Grund berücksichtigte er diese Strömung in seiner Übersicht über die Entwicklungslinien der Sozialgeographie auch nicht weiter (ebd.). In der Tat lässt sich festhalten, dass eine explizite Berufung auf die Position der humanistic geography seit den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum nur marginal erkennbar ist (vgl. Jahnke 2010).4 Zumindest Buttimers Einleitungsvortrag zur Sitzung Raumbezogene Wahrnehmungsforschung auf dem 44. Deutschen Geographentag in Münster (24. - 28. Mai 1983) fand zusammen mit einigen ihrer Aufsätze in deutscher Übersetzung5 Einzug in die deutsche sozialgeographische 3
Jeder Autor lotete dabei den ‚humanistischen Gehalt‘ der Geographie mit jeweils eigenen Schwerpunkten aus. So lässt sich festhalten, dass sich im Einzelnen Unterschiede in der Auslegung der phänomenologischen Orientierung der Geographie gab. Während manche Autoren die humanistic geography als Subdisziplin der Geographie verstanden, wurde der humanistische Zugang zur Welt von anderen Autoren als Grundlage jeglicher Geographie verstanden. Diese zweite Auslegung verfolgt aktuell in der Geographie Barbara Zahnen (insb. 2015). Auf ihre Arbeiten gehe ich weiter unten ein.
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Holger Janke (2010): »Über das Vergessen – oder: Auf der Suche nach einer Humanistischen Geographie« – Vortrag im Rahmen der Neuen Kulturgeographie VII. Online ist zumindest das Abstract des Vortrags einzusehen: https://nkgeographie.files.wordpress. com/2010/09/abstractubersicht_nk7.pdf
5
Buttimer, A. (1984): Ideal und Wirklichkeit in der angewandten Geographie. Münchener geographische Hefte 51. Kallmünz/Regensburg: Lassleben.
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Debatte.6 Anschlüsse an die amerikanische Diskussion der humanistic geography erkennt Sahr (2003:241f.) in Arbeiten aus den 1980er Jahren von Peter Sedlacek, Jürgen Pohl, Benno Werlen und Peter Weichhart selbst. Wenngleich er deren Ansätze als »stark rationalistisch« einstuft, erkennt er die Nähe zur humanistic geography unter anderem in einer von ihm als »individualtheoretische Wende« bezeichneten »Besinnung auf das Subjekt in der Geographie, sowie der Einbeziehung der Handlungstheorie« (ebd.:241). Aber auch in forschungsmethodischer Perspektive lassen sich Parallelen zwischen den partizipativen und qualitativen Vorgehensweisen im Rahmen der Neuen Kulturgeographie (gemeint sind bspw. der stärkere Einbezug ethnographischer und grundsätzlich qualitativer Verfahren in Forschungsprojekte) mit den Zielstellungen der humanistic geography erkennen (Heineberg 2007:42). Was sich also abzeichnet ist, dass Weichharts pauschalem Urteil, die humanistic geography hätte im deutschsprachigen Raum keinen Fuß gefasst, bei differenzierterer Betrachtung widersprochen werden muss. Sein Urteil verwundert umso mehr, wenn man den Blick auf die phänomenologische Rezeption innerhalb der deutschsprachigen Geographie-Didaktik richtet. Denn es lässt sich festhalten, dass phänomenologische Theorieangebote seit einigen Jahren wieder vermehrt aufgegriffen und für die Geographie fruchtbar gemacht werden. Im Zuge einer »Re-Materialisierung in der Humangeographie« (Manz 2015:135) werden vermehrt Ansätze verfolgt, welche das Nicht-Repräsentationale berücksichtigen (vgl. hierzu auch Frers 2012:215). In den Blick rücken hierbei auch »performative, affektive und atmosphärische Ansätze, die sich an der Phänomenologie orientieren« (Manz 2015:135). Hervorzuheben ist in diesem Kontext Jürgen Hasse, der sich um den stärkeren Einbezug der Phänomenologie in die Geographie verdient gemacht und unter anderem mehrere empirische Arbeiten zum Thema vorgelegt und in die humangeographische Diskussion eingebracht hat. Er verfolgt z. B. Fragestellungen zur Bedeutsamkeit von Empfindungen und Gefühlen für Raumerleben bzw. das Zustandekommen von Räumlichkeit 6
Besonders lesenswert ist die schriftliche Fassung ihres Vortrags Raumbezogene Wahrnehmung: Forschungsstand und Perspektiven – Spiegel, Masken und verschiedene Milieus, in welchem sie die paradigmatische Entwicklung der Geographie von der reinen Beobachtung hin zur Partizipation als Dreischritt thematisiert. Sie stellt verschiedene geographische Zugangsweisen heraus und verdeutlicht die Unterschiede zwischen den Hauptanliegen der einzelnen Zugänge. Ihr »Drei-Phasen-Schema« ist dabei nicht als linear-chronologische Folge einander abwechselnder Paradigmen zu verstehen, sondern verdeutlicht die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zugangsweisen innerhalb der Disziplin (Buttimer 1984:20f.). Zugleich macht sie deutlich, inwieweit die dritte – partizipatorische Phase – sich nicht in subjektiver Beliebigkeit verliert, wie ihr zu der Zeit oft vorgeworfen wurde, sondern geographische Phänomene vielschichtig erhellen kann.
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oder zur affektiven Dimension des Bildes und entwirft ein phänomenologisches Atmosphärenkonzept unter Bezugnahme auf die Neue Phänomenologie (u. a. Hasse 2002, 2015a, 2015b, 2015c).7 Barbara Zahnen entwickelt seit einigen Jahren vor dem Hintergrund der Reflexion physiogeographischer Zugangsweisen zur Welt Gedanken zu einer phänomenologischen Grundlegung der Geographie (vgl. Zahnen 2003, 2011a, 2011b, 2015). Dabei unternimmt sie den Versuch, den eigenen Sinn der Geographie, das Geographische bzw. die »Geographizität der Geographie« verstehen zu lernen (Zahnen 2015:16). In einer »geographieübergreifenden Grundlagentheoriebildung« (ebd.:22f.) versucht sie das Spezifische des geographischen Denkens zu markieren, indem sie dessen Nähe zum Denken einer hermeneutisch-phänomenologischen Wissenschaftsphilosophie zur Darstellung bringt und hierüber Tragweiten des geographischen Denkens auslotet.8 Es sind in jüngerer Zeit mehrere phänomenologische Studien9 innerhalb der Geographie entstanden, so z. B.: • Werner Bischoffs (2007) wahrnehmungsgeographische Studie Nicht-visuelle
Dimensionen des Städtischen, in welcher er sich der zur olfaktorischen Wahrnehmung in Frankfurt am Main phänomenologisch nähert; • Lars Frers’ (2007) Dissertation Einhüllende Materialitäten, in der er Wahrnehmungs- und Handlungsprozessen an Bahnhöfen und Fährterminals über einen phänomenologischen Zugang nachspürt; • Simon Runkels (2014) phänomenologische Studie Klangräume der Erlebnisgesellschaft, in der er unter anderem über introspektive Verfahren zu Hörerfahrungen eine Phänomenologie des Klangraumes entwirft, oder auch
7
Da an dieser Stelle nicht näher auf die Neue Phänomenologie (auch in Abgrenzung zur Phänomenologie) eingegangen werden kann, möchte ich lediglich auf eine gelungene Einführung verweisen: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Schmitz 2007).
8
Im vorliegenden Kapitel markiere ich Titel von Publikationen der genannten Autoren kursiv.
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Aus dem Fundus der »Wahrnehmungsgeographischen Studien«, herausgegeben von Rainer Krüger und Jürgen Hasse, führe ich in dieser Liste nicht alle Arbeiten auf, sondern beschränke mich exemplarisch auf die Studien von Werner Bischoff und Simon Runkel. Unter https://www.uni-oldenburg.de/ibu/geo/wahrnehmungsgeografische-stu dien/ können weitere Arbeiten eingesehen werden. Ebenfalls führe ich nicht alle empirischen Arbeiten von Lars Frers bzw. auch Jürgen Hasse auf. In diesem Sinne erhebt die Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll exemplarisch einige aktuelle Studien sowie die Bandbreite phänomenologischer Studien innerhalb der Geographie aufzeigen.
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• Jürgen Hasses (2017) Untersuchung Die Aura des Einfachen – Mikrologien
räumlichen Erlebens, in welcher er mit Hilfe der Methode der Mikrologien (im Sinne der Beobachtung und Reflexion des Kleinen) alltägliche Situationen – wie z. B. das Warten auf unterschiedlichen Flughäfen – zum Ausgangspunkt phänomenologischer Reflexion werden lässt. Neben solch dezidiert phänomenologischen Studien gibt es auch Versuche, ethnographische und phänomenologische Zugangsweisen vor dem Hintergrund geographischer Fragestellungen zu verschränken (z. B. Frers 2012, Rothfuß 2013).10 Frers lotet grundsätzliche Potentiale einer phänomenologisch perspektivierten, ethnographischen Feldforschung für die Geographie aus. Dabei zeigt er auf, inwieweit das Hinterfragen der leiblichen Verflechtung der ethnographisch Forschenden mit der Welt – also deren sinnliche Einbindung im Feld – eine Leerstelle im sozialwissenschaftlich-ethnographischen Forschungsprozess ist, die phänomenologisch geschlossen werden kann (Frers 2012:215). Diese sinnlichen Bezüge werden für ihn insbesondere »durch die zunehmende Beschäftigung der Anthropo- bzw. Kulturgeographie mit Fragen der Materialität« bedeutsam, bspw. in Forschungen »zum Konzept der Atmosphäre« (ebd.). Rothfuß (2013:201) verdeutlicht das Potential der Verschränkung einer hermeneutischen Phänomenologie und ethnographischer Forschung eindrucksvoll über die Beschreibung und Reflexion einer nomadischen Raumkonzeption am Beispiel der Rinderhirtengesellschaft der Himba im nordwestlichen Namibia. Auch der husserlsche Bildbegriff fand Einzug in die visuelle Methodologie der Humangeographie. Dierksmeier (u. a. 2007, 2013) lotet dieses Bildverständnis aus und schlägt auf dessen theoretischer Grundlage die »reflexive Fotografie« als empirische Methode vor.11 Als Besonderheit dieser Methode betont er die Gleichzeitigkeit eines sensiblen Zugangs zu den Lebenswelten der Probanden über das Bildsujet und die Möglichkeit der wissenschaftlichen Reflexion der Bildobjekte (vgl. Dierksmeier 2007:9). Mit dem Forschungsfeld Visuelle Geographien (vgl. Schlottmann & Miggelbrink 2009, 2015) rückte jüngst die Art und Weise der Thematisierung visueller Phänomene innerhalb der Geographie und Geographiedidaktik erneut in den Fokus. Dabei geht es um einen reflexive(re)n Umgang mit geographischen Visualisierungen 10 Diese Verschränkung wird bspw. in der Soziologie bereits seit längerer Zeit verfolgt. Als richtungsweisende Publikation, die das Spektrum phänomenologischer Rezeption innerhalb aktueller soziologischer Fragehorizonte markiert, sei hier auf den Sammelband Phänomenologie und Soziologie (herausgegeben von Raab et al. 2008) hingewiesen. 11 Die Methode findet bspw. bereits in einem aktuellen geographiedidaktischen Forschungsprojekt Verwendung (vgl. u. a. Eberth 2017).
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und Visualisierungspraktiken, wobei sich die Relevanz der Phänomenologie als Bezugsdisziplin deutlich abzeichnet, indem das Bild nicht mehr nur zeichentheoretisch ausgedeutet, sondern Visualisierungspraktiken, die affizierende Dimension der Bildbetrachtung, Wahrnehmungserfahrungen und Bedeutungszuschreibungen ebenfalls in den Blick rücken.12 Innerhalb der Geographiedidaktik ist erneut auf Jürgen Hasse hinzuweisen, der unter anderem die Bedeutung der ästhetischen Bildung unterstreicht und sich der Schulung der Wahrnehmung als Aufgabe in Schule im Allgemeinen und im Geographieunterricht im Besonderen eingesetzt hat (vgl. z. B. Hasse 2001, 2007). Mirka Dickel hat in phänomenologischer Tradition den »Anspruch der Sache« thematisiert und herausgearbeitet, inwiefern sich sinnstiftende Fragen im Dialog entwickeln (vgl. Dickel 2014). Eine Kritik an der Bildungsreform aus hermeneutisch-phänomenologischer Sicht liegt ebenfalls vor (vgl. Dickel 2011b). Vereinzelt nehmen Autoren aus der Geographiedidaktik Bezug auf Vertreter der Phänomenologie bzw. phänomenologische Gedanken und versuchen sich in der Verschränkung phänomenologischer und konstruktivistischer Ideen vor dem Hintergrund geographiedidaktischer Fragestellungen (vgl. exemplarisch Daum 2011, der den husserlschen Lebensweltbegriff bei der Entfaltung seiner Subjektiven Kartographien aufgreift, oder Rhode-Jüchtern 2004, der sein Konzept Vielfältiger Wirklichkeiten unter anderem mithilfe der Phänomenologie als Bezugstheorie entwirft).13 Darüber hinaus halten phänomenologische Ideen in unterschiedlicher Tragweite Einzug in einige aktuelle Dissertationsprojekte. Eva Nöthen (2018) bezieht die Schritte der phänomenologischen Wesensschau nach Husserl in ihrer Dissertation in ein von ihr entwickeltes Analyseinstrumentarium für visuelle Medien mit ein, welches phänomenologische und semiotische Bildzugänge miteinander verschränkt. Am Standort Jena halten phänomenologische Theorieperspektiven Einzug in verschiedene aktuelle Forschungsprojekte und werden mit Bezug auf deren Bedeutsamkeit für geographiedidaktische Fragestellungen reflektiert (vgl. u. a. Reinhardt 2018). Es lässt sich insgesamt festhalten, dass die Phänomenologie zwar vereinzelt Einzug in die Geographie sowie die Geographiedidaktik gehalten hat, sich aber
12 Dies wird im Spektrum der Beiträge des 2015 erschienenen Sammelbands Visuelle Geographien eindrücklich. 13 Die Verschränkung wird dabei nicht explizit zum Gegenstand der Überlegungen gemacht, sodass die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten der Verschränkung nicht reflektiert werden. Dennoch lässt sich festhalten, dass von einigen Geographiedidaktikern phänomenologische Ideen und Impulse aufgegriffen und geographiedidaktisch gewendet werden.
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nur an wenigen Standorten als feste Bezugsgröße geographischer bzw. geographiedidaktischer Empirie bzw. Theoriebildung etabliert hat. Nichtsdestotrotz lässt sich während der letzten zehn Jahre eine intensivere Auseinandersetzung mit der Phänomenologie über mehrere Standorte hinweg erkennen.
Einordnung des Forschungsanliegens Die vorliegende Arbeit versteht sich als geographiedidaktische Unterrichtsforschung, die einen phänomenologischen Lernbegriff ins Zentrum der Überlegungen stellt. Weiterhin orientieren sich die damit verbundenen und zu entwickelnden didaktischen und methodologischen Überlegungen an Einsichten der Phänomenologie, der phänomenologischen Pädagogik und der phänomenologischen Rezeption innerhalb der Geographie-Didaktik, wie ich in weiterer Folge ausführen werde. Konkret greife ich in der Arbeit bestehende Diskussionsstränge innerhalb der Geographie-Didaktik auf, verschränke diese aber gegenstandsgebunden in Bezug auf ästhetische Lernerfahrungen. Konkret erweitere ich die phänomenologische Rezeption innerhalb der Geographiedidaktik um dreierlei: (1) Um einen phänomenologischen Lernbegriff; (2) Um phänomenologisch grundierte Überlegungen zur Gestaltung von Unterrichtsprojekten zur künstlerischen Kartographie; (3) Um qualitativ-methodische Möglichkeiten, welche die Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen im Geographieunterricht erlauben.
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Entfaltung einer genealogischen Perspektive auf Lernen »Das Ergebnis des Lernens gleicht einem ›Blitz‹ (Platon), einem Ereignis, das sich aus aktiven und passiven Momenten, aus Interaktivität und Unverfügbarkeit, aus Subjekten, Intersubjektivität und Transsubjektivität, Planbarkeit und Überraschung zusammensetzt.« Göhlich & Zirfas (2007:47)
Im vorliegenden Kapitel geht es darum, ein innerhalb der Geographiedidaktik bisher kaum reflektiertes (bzw. überhaupt wahrgenommenes) pädagogisches Verständnis von Lernen didaktisch anschlussfähig zu beschreiben und dessen Wert für die Disziplin herauszustellen. Damit verbunden sind sowohl die Offenlegung von Anschlussstellen bzw. Implikationen dieses Verständnisses für die Erarbeitung von Unterrichtsumgebungen (mit Blick auf das Kapitel 4), als auch die Erarbeitung von Ansprüchen und Möglichkeiten in Bezug auf die Formulierung des Forschungsdesigns im zweiten Teil der Arbeit (mit Blick auf die Kapitel 5 und 6). Diese Ziele im Blick wird sich in einem ersten Schritt dem Begriff Lernen differenziert genähert und es werden insgesamt fünf Zugänge zum Phänomen des Lernens unterschieden. Dabei wird aufgezeigt, dass die aktuell den gesellschaftlichen Diskurs und auch die geographiedidaktische Theoriebildung und didaktischen Handreichungen dominierende teleologisch-methodologische Perspektive auf Lernen lediglich eine Betrachtungsweise neben anderen ist. In Abgrenzung zu gängigen Perspektiven auf Lernen wird eine genealogische Perspektive auf Lernen aufgezeigt, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt (Kapitel 3.1). Konkret wird in dieser Arbeit eine phänomenologische Lerntheorie ins Zentrum des Nachdenkens über die Gestaltung von Lehr-Lernumgebungen für Geographieunterricht und die Gestaltung eines empirischen Settings zur Forschung mit sich vollziehen-
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den Lernprozessen gerückt (Kapitel 3.2). Nach der Aufarbeitung der Ideengeschichte der phänomenologischen Pädagogik, der Lerntheorie von Käte MeyerDrawe und der für dieses Theorieangebot zentralen paradoxalen Struktur der Erfahrung, wird die ästhetische Erfahrung als spezifische Dimension der Erfahrung herausgestellt und deren Bedeutsamkeit für Lernen im Geographieunterricht unterstrichen (Kapitel 3.3). Diese Facette der Erfahrung wird im Rahmen der Arbeit als Angelpunkt tiefgreifender Selbstbildungsmomente verstanden. Die Bedeutsamkeit Ästhetischer Bildung für den Geographieunterricht wird von mehreren Autoren unterstrichen (u. a. Dickel 2011a, Hasse 2007a). Bislang fehlen aber konzeptionelle wie methodische Vorschläge zur Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen im Geographieunterricht. Aus diesem Grund werden die in diesem Kapitel entfalteten Überlegungen abschließend zusammengefasst und hinsichtlich der Ansprüche an die Entwicklung eines Forschungsdesigns zur Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen im Geographieunterricht gebündelt (Kapitel 3.4).
Zugangsweisen zum Phänomen des Lernens Das Nachdenken über das Lernen beginnt bereits in der Antike in der Dichtung und Philosophie. Diese antiken Überlegungen dürfen nicht lediglich als Vorstufen eines heute differenzierteren Bildes zum Lernens verstanden werden, sondern müssen als »Ausgangs- und Anknüpfungspunkte« für das Nachdenken über das Lernen verstanden werden, die durch die Epochen hindurch in Theorie- und Deutungsversuchen Ausdruck finden (Mitgutsch et al. 2008a:12). Lernen wurde seit der Antike demnach fortwährend und immer wieder thematisiert und perspektiviert.1 Dabei kam in Abhängigkeit der jeweils angelegten Theorieperspektive Unterschiedliches in den Blick und Lernen wurde verschiedenartig konzipiert. Dies kann mit dem Umstand in Verbindung gebracht werden, dass »die unterschiedlichen Auffassungen von Lernen […] immer schon Antworten auf gesellschaftliche Konfliktlagen« waren (Meyer-Drawe 2012a:46). Blickt man auf den rezenten Diskurs, wird schnell ersichtlich, dass menschliches Lernen in vielfältiger Weise thematisiert und erörtert wird. Es lassen sich heute neben anderen neuronale, biologische, psychologische, philosophische oder auch pädagogische Versuche bestimmen, Lernen zu verstehen und zu erklären. So scheint auch heute noch
1
Lesenwerte Aufarbeitungen der historischen Entwicklungslinien seit der Antike finden sich z. B. bei Künzli (2004), Mitgutsch (2008a) und Meyer-Drawe (2012a), die einen Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Bemühungen von der Antike bis in die Neuzeit liefern, das Lernen zu verstehen.
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zu gelten, was Günther Buck (1989:7) bereits vor mehreren Jahrzehnten formulierte: »Unter allen menschlichen Leistungen scheint das Lernen seiner Natur nach zum Verborgensten und Unbekanntesten zu gehören«. Auch Meyer-Drawe (2012a) hält fest, dass das Lernen nach wie vor zu den unaufgeklärten Phänomenen gehört. Für Prange (2012:82, ähnlich auch 2009:45) ist das Lernen gar »die Unbekannte in der pädagogischen Gleichung«. Während der letzten zehn Jahre wurden innerhalb der Pädagogik eine Reihe an Arbeiten veröffentlicht, welche die Diskurse des Lernens aufarbeiten, sich pädagogischen Fragestellungen zum Lernen widmen oder auch eigene Theorieangebote formulieren, wie Lernen pädagogisch zu verstehen sei (u.a. Göhlich & Zirfas 2007, Göhlich et al. 2007, Mitgutsch et al. 2008b, Strobel-Eisele & Wacker 2009, Künkler 2011, Meyer-Drawe 2012a, Faulstich 2014c). In weiterer Folge wird unter Bezugnahme auf die genannten Publikationen zum Lernen dem Systematisierungsvorschlag von Mitgutsch (2009:7-25) gefolgt. Damit verfolge ich zwei Ziele: Zum einen ist es mir ein Anliegen, den der Arbeit zugrundeliegenden phänomenologischen Lernbegriff im breitgefächerten lerntheoretischen Diskurs zu positionieren. Zum anderen möchte ich über diese Positionierung deutlich herausstellen, inwiefern der in dieser Arbeit verfolgte Zugang zum Lernen die bisherigen lerntheoretischen Überlegungen innerhalb der Geographiedidaktik um ein bislang nicht repräsentiertes phänomenologisches Theorieangebot erweitert. Mitgutsch schlägt zur Ordnung des wissenschaftlichen Feldes fünf Perspektiven auf Lernen vor, wobei Lernen in jeder Zugangsweise different thematisiert wird. Die Theorien des Lernens werden in didaktische, teleologische, methodologische, topologische und genealogische Zugänge unterschieden. Es werden Fragen nach »den Inhalten [=didaktische Perspektive], Zielen [=teleologische Perspektive], Methoden [=methodologische Perspektive], Orten [=topologische Perspektive] oder der Genesis [=genealogische Perspektive] des Lernens« gestellt (ebd.:19). Die Systematisierung ist nicht als labormäßige Auftrennung in überschneidungsfreie Perspektiven zu verstehen.2 Interferenzen zwischen den Zugangsweisen sind ebenso verbreitet, so lassen sich z. B. auch teleologisch-topologische oder didaktisch-genealogische Zugänge zum Lernen ausmachen (ebd.:20). Für die vorliegende Arbeit ist diese Unterscheidung insofern von Relevanz, als dass es über diese möglich wird, die Fokusse der jeweiligen Zugänge ebenso wie deren blinden Flecken zu thematisieren (vgl. Kapitel 3.1.1). Hierüber
2
Des Weiteren sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht darum geht, einzelne Perspektiven konsequent gegeneinander auszuspielen, vielmehr trägt Mitgutschs Systematisierungsangebot der Vielfalt der Zugänge Rechnung, wohl wissend, dass dabei Generalisierungen innerhalb der Perspektiven zum Teil nicht vermeidbar sind.
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kann deutlich werden, welcher Mehrwert in der für die Arbeit gewählten und empirisch gewendeten didaktisch-genealogischen Perspektive auf Lernen für die Geographiedidaktik liegt (vgl. Kapitel 3.1.2). Es sei darauf hingewiesen, dass hier keine lückenlose Aufarbeitung der Diskurse angestrebt wird, sondern eine Möglichkeit der Systematisierung aus pädagogischer Sicht (mitsamt all ihrer Einschränkungen) aufgegriffen, literaturbasiert ausgeleuchtet und schlaglichtartig auf die Geographiedidaktik bezogen wird. 3.1.1 Gängige Zugangsweisen: didaktisch, teleologisch, methodologisch, topologisch Nachfolgend werden vier übliche Zugänge zum Lernen (didaktisch, teleologisch, methodologisch und topologisch)3 erläutert, einige Kritikpunkte an diesen aus einem pädagogischen Blickwinkel bestimmt und Konkretisierungen des jeweiligen Zugangs in geographiedidaktischen Überlegungen beispielhaft entfaltet.4 Im Anschluss daran wird herausgestellt, was diese Zugangsweisen von einer genealogischen Zugangsweise zum Lernen unterscheidet und inwiefern dieser Zugang von besonderer Bedeutung für die Geographiedidaktik ist. Didaktischer Zugang Kennzeichnend für didaktische Theorien des Lernens ist, dass sie das Wie und Was der Vermittlung zentral ins Blickfeld rücken und Fragen nach dem Wie, Wodurch, Wo und Was des Lernens unterordnen (Mitgutsch 2009:12). In didaktischer Perspektive geht es i. d. R. nicht darum, eine differenzierte Theorie des Lernens vorzulegen bzw. das Phänomen Lernen zu erhellen, als vielmehr auf Lernziele, Lehrinhalte und die Gestaltung von Lernumgebungen abzuheben
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Die gegenwärtige Dominanz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lernen innerhalb dieser vier Perspektiven bzw. die darin ausgedrückte Vernachlässigung der pädagogisch-genealogischen Perspektive wurde bereits an anderen Stellen herausgestellt (Göhlich et al. 2007, Göhlich & Zirfas 2007, Mitgutsch 2008, Mitgutsch et al. 2008b, Meyer-Drawe 2012a).
4
Es sei darauf hingewiesen, dass hier der Blickwinkel auf die Didaktik bzw. das Didaktische aus einer spezifischen pädagogischen Perspektive heraus geschieht, die der Breite der geographiedidaktischen Überlegungen und Thematisierungsweisen von Lernprozessen nicht gerecht wird. Da sie den Kern des Mainstreams trifft, wird sie hier dennoch zur Kontextualisierung der genealogischen Zugangsweise zum Lernen aufgegriffen und ausgeführt.
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(Göhlich et al. 2007:7). Schon in der Wortbedeutung kündigt sich diese Festlegung an, denn Didaktik bezeichnet die Kunst (oder auch das Kunst-Handwerk) des Lehrens und Lernens.5 Bezogen auf die Geographiedidaktik formuliert Köck (2012:24): Die »Geographiedidaktik [kann] nun definiert werden als die Wissenschaft von den adäquaten Zwecken und Mitteln des institutionalisierten Lehrens und Lernens geographischer Sachverhalte«. Es wird also folglich Theorien der Vermittlung in Unterricht und Erziehung besonderer Stellenwert beigemessen. Dabei geraten Lernen über dessen Zieldimension und Lehren als das Bereitstellen einer adäquaten Umgebung, in der diese Ziele erreicht werden können, in den Blick. Diese Fokussierung wird vor allem in der lehr-lerntheoretischen Didaktik (Berliner und Hamburger Modell) sichtbar, die (neben der bildungstheoretischen und konstruktivistischen Didaktik) maßgeblichen Einfluss auf die Geographiedidaktik und den Geographieunterricht ausübte und ausübt (vgl. Otto 2012:38). Das Problemfeld Lernen wird in didaktischer Perspektive nicht ausgeblendet, aber es wird in den verschiedenen didaktischen Theorien des Unterrichtens nachrangig implizit oder explizit behandelt. Für Mitgutsch (2009:13) zeichnen sich »didaktische Theorien des Lernens […] dadurch aus, dass sie Fragen des Lernens durch Antworten aus der Theorie der Vermittlung« ersetzen. Grundsätzlich wird Lerntheorien eine große aber diffuse Wirkung auf die Gestaltung von Lernumgebungen zugeschrieben (Reinmann 2011:5). Insofern werden aus didaktischer Perspektive Lerntheorien nicht als handlungspraktische Theorien verstanden, »aus denen sich Regeln für didaktische Entscheidungen ableiten lassen« (ebd.). Kestler (2015:168) sieht die weitreichendsten Einflüsse der pädagogischen Psychologie auf die Geographiedidaktik in Bezug auf die methodische Gestaltung des Unterrichts und weniger stark ausgeprägt auch bei der Gestaltung von Curricula. Hierin wird deutlich, was mehrheitlich für die Thematisierung des Lernens in der (Geographie-)Didaktik festgehalten werden kann: Didaktische ›Theorien‹ des Lernens beziehen sich nur indirekt bzw. untergeordnet auf Fragen nach dem Lernen, vielmehr wirken sie als didaktisch-pädagogische Annahmen bei der Ausweisung von Lernzielen, Bestimmung von Lehrinhalten und Gestaltung von Lernumgebungen (Mitgutsch 2009:13). Teleologischer Zugang Die teleologische Perspektive auf Lernen ist oft mit didaktischen Theorien des Lernens verschränkt. Zentral für diese Zugangsweise ist die Fokussierung auf das Ziel (altgriech. Τέλος, griech. Telos) oder das Resultat des Lernens. In teleologi-
5
Altgr. Διδάσκειν, gr. didáskein = ›lehren‹ bzw. ›unterrichten‹ aber auch ›belehrt werden‹ und ›lernen‹ (Raithel et al. 2007:74)
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scher Sichtweise wird das Lernen nur »aus Sicht des Gelernten oder zu Lernenden« (Meyer-Drawe 1986a:22) gesehen und thematisiert. Auch wenn der Ursprung dieser Perspektive bei den Sophisten gefunden werden kann (Künzli 2004:622), spiegelt sich die teleologische Perspektive in neuerer Zeit im Kontext des Behaviorismus und der klassischen und operanten Konditionierung wider (Mitgutsch 2009:15). In aktuellen Debatten lässt sich unter einem teleologischen Lernverständnis ein auf Zielkategorien und Ergebnisse fixiertes Verständnis verstehen (ebd.). Den hier skizzierten teleologischen Lerntheorien gemein ist, dass diese erst dann von Lernen sprechen, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht und hierüber in einem beobachtbaren Verhalten Zeugnis abgelegt wurde. Im Kontext Schule wird die gegenwärtige Dominanz eines teleologischen Lernverständnisses in der Lernzielorientierung und jüngst der Kompetenzorientierung deutlich (vgl. Terhart 2005:201). Im Zuge der Kompetenzorientierung wurden von der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) Bildungsstandards vorgelegt. Darin werden sechs Facetten einer »geographischen Gesamtkompetenz« formuliert, die sowohl bei der Curriculumsentwicklung als auch der Gestaltung konkreter Unterrichtsstunden leitend sein sollen.6 Erreicht wird dies über die Ausweisung von Standards, verbindlicher Ansprüche an Lehren und Lernen, deren Erreichen durch die Schülerinnen und Schüler in Testing- und Monitoringverfahren erfasst und zu Zwecken der Qualitätssicherung evaluiert werden kann (DGfG 2014:8-28). Hierin wird im Fach Geographie sichtbar, was sich grundsätzlich für teleologische Theorien des Lernens festhalten lässt: Das Ziel des Lernens wir dem Lernen selbst vorgezogen (Mitgutsch 2009:15). Methodologischer Zugang Ein methodologischer Zugang zum Lernen stellt Fragen nach den Funktionen und Prozessen, welche Lernen ermöglichen, und »wie Informationen und Wissen vom Lernenden bestmöglich verarbeitet und gespeichert werden«, ins Zentrum der Überlegungen (Mitgutsch 2009:16, Herv. i. O.). Der Ursprung des methodologischen Nachdenkens über Lernen ist in der US-Psychologie der 1950er und 1960er Jahre zu suchen, in der es während dieses Zeitraums zur »Kognitiven Wende« kam (Künkler 2011:86). Kennzeichnend für diese paradigmatische Wende ist, dass in Abgrenzung zum vorher herrschenden Behavioristischen Paradigma der 6
Erste aktuelle Studien evaluieren bereits die bundesweite Implementierung der Bildungsstandards der DGfG in die jeweiligen Curricula der einzelnen Bundesländer (vgl. z. B. Schöps’ Habilitationsvorhaben mit dem Arbeitstitel Die Bildungsstandards im Fach Geographie für den mittleren Schulabschluss – Konzeption, Implementierung, Weiterentwicklung). In dieser Logik ist nicht die Frage entscheidend, ob eine Implementierung sinnvoll ist, sondern wieweit diese schon vorangeschritten ist.
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Blick in die Black Box (hier: das lernende Subjekt) gewagt werden sollte. Dabei wurde der menschliche Geist analog zum Computer konzipiert und menschliche Kognition als selbstständige Informationsverarbeitung interpretiert (Göhlich & Zirfas 2007:24). Lernen ist in methodologischer Perspektive »stets ein Prozess der internen Verarbeitung extern aufgenommener Daten, die zumeist als Information, später häufig auch als Wissen konzeptualisiert werden« (Künkler 2011:111, Herv. i. O.). Damit wurde aus der behavioristischen Dyade (Reiz → Reaktion) eine Triade (Input → Verarbeitungsprozess → Output) (ebd.). Für methodologische Lerntheorien sind auch die kognitive Entwicklung sowie deren Einfluss auf Prozesse der Wissensaneignung und Wissensverarbeitung von entscheidender Relevanz. Dieses Forschungsgebiet ist mit den Studien von Jean Piaget in Verbindung zu bringen. Nach Piaget sind Wissensbestände in Schemata organisiert, die als semantische Netzwerke verstanden werden können, in die neue Informationen eingearbeitet werden (vgl. z. B. Piaget 1976). Diese Einarbeitung lässt sich entweder als Eingliederung neuer Informationen, Wahrnehmungen oder Ereignisse in ein bereits bestehendes Schema verstehen (Assimilation) oder als Erweiterung bzw. Anpassung eines bereits vorhandenen Schemas, um neue Informationen oder Erlebnisse nach der Modifizierung verarbeiten zu können (Akkommodation). Die Grundlage der kognitiven Entwicklung stellt dabei das Streben nach Äquilibration, also dem Gleichgewicht zwischen beiden Mechanismen der Wissensintegration, dar. Nach Piaget (1976:19f.) motivieren die dem fortwährenden Prozess der Äquilibration vorausgehenden Ungleichgewichte das Subjekt dazu, wieder einen Gleichgewichtszustand zu erreichen, womit immer eine dauerhafte Verbesserung der kognitiven Schemata verbunden ist. Jean Piagets Arbeiten dienen sowohl kognitivistischen als auch konstruktivistischen Autoren als Bezugstheorie (Göhlich & Zirfas 2007:24).7 Seit den 1990er Jahren wurden kognitivistische Überlegungen zum Lernen aber zunehmend von konstruktivistischen Positionen verdrängt. Der (radikale) Konstruktivismus gründet sich auf Arbeiten von Ernst von Glasersfeld, Heinz von Förster, Humberto Maturana und Francisco Valera, die sich vom kognitivistischen Topos der Informationsverarbeitung abwandten und den Menschen als strukturell geschlossenes selbstorganisiertes – autopoietisches – System konzeptualisierten, welches Welt subjektiv konstruiert. Ausgangspunkt der Theoriearchitektur ist die Annahme, die Welt bzw. die Wirklichkeit sei prinzipiell unzugänglich (Künkler 2011:139). Wenngleich die Existenz der Wirklichkeit im Konstruktivismus nicht kategorisch 7
Für die Conceptual-Change-Forschung innerhalb der Geographiedidaktik bspw. stellen Piagets Erkenntnisse in Hinblick auf den Wissenserwerb nach wie vor die Basis des theoretischen Rahmens – dem ›kognitiven Konstruktivismus‹ – der Forschungsbemühungen dar (Reinfried 2015a:109).
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verneint wird, wird von der Vorstellung Abstand genommen, dass diese je zu erkennen sei. Der hierin deutlich werdende Bruch zwischen Kognitivismus und Konstruktivismus ist weitaus tiefgreifender als derjenige, der mit der Kognitiven Wende, also dem Übergang vom Behaviorismus zum Kognitivismus, einherging. Denn dieser Umschlagspunkt hatte lediglich die Erweiterung der Dyade zur Triade zur Folge (ebd.:130). Obwohl dieser paradigmatische Wandel derart fundamental war, wird die hier beschriebene Neuausrichtung nicht als ›konstruktivistische Wende‹ bezeichnet. Dies liegt für Künkler (2011:130) unter anderem an den vielen Spielarten einer konstruktivistischen Position, die in je unterschiedlicher Weise die erkenntnistheoretischen Postulate der Gründerväter ausloten und deren Grenzen zum Teil verschieben.8 Es lässt sich allerdings insgesamt festhalten, dass ›der‹ Konstruktivismus ebenso einflussreich wie umstritten ist. Teilweise wurden dem Konstruktivismus gar theorieimmanente Fehlschlüsse bzw. Inkonsistenzen nachgewiesen (vgl. u. a. Terhart 1999, Pongratz 2003, 2004). In praxisorientierter Wendung hielt der (radikale) Konstruktivismus als moderater oder gemäßigter Konstruktivismus Einzug in die erziehungswissenschaftliche wie didaktische Debatte.9 In dieser Position lassen sich mehrere Prozessmerkmale des Lernens festhalten (vgl. z. B. Reinmann & Mandl 2006), welche auch
8
Neubert et al. (2001:244ff.) halten fest, dass es insbesondere vier Theorieperspektiven sind, die Lernen als konstruktiven Prozess aufzuzeigen versuchen: (1) »Piagets Konstruktivismus«, (2) »Wygotzky«, (3) »Deweys pragmatische Lerntheorie«, (4) »Jerome Bruner«. Wenngleich zwischen diesen Theorien im Detail zum Teil erhebliche Unterschiede auszumachen sind, ist ihnen gemeinsam, »dass sie ihr Augenmerk vor allem auf symbolische Konstruktionen als entscheidenden Maßstab einer Beurteilung von Lernleistungen richten« (Neubert et al. 2001:258). Damit ist gemeint, dass sie sich überwiegend an den Lerninhalten orientieren. Neue konstruktivistische Ideen betonen hingegen »stärker die Perspektive eines ›Lernens in Beziehungen‹ als notwendige Ergänzung der inhaltlichen Sicht« (ebd.). Letztlich wird hierbei aber die Beziehungsseite des Lernens lediglich als notwendige Ergänzung der Inhaltsseite des Lernens gesehen, da Lernprozesse immer von den Beziehungen, in denen sie sich ereignen, beeinflusst sind.
9
Einen ausführlicheren Einblick in die verschiedenen Theoriekontexte aus denen sich Überlegungen zur konstruktivistischen Didaktik speisen liefert Terhart (2005:172-185). Er weist vier Kontexttheorien aus: 1. Radikaler Konstruktivismus, 2. Neurobiologie des Erkennens, 3. Systemtheorien, 4. Kognitionspsychologische Lernkonzeptionen. Für die hier entwickelte Argumentation ist die wissenschaftstheoretische Genese nicht im Detail von Bedeutung, weswegen ich vereinfacht davon spreche, dass ‚der Konstruktivismus‘ praxisorientiert gewendet wurde.
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für die Geographiedidaktik im Diskurs der letzten zwanzig Jahre von großer Relevanz bezüglich der Gestaltung von Lernumgebungen sind.10 Lernen wird in praxisorientierter Wendung als aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, emotionaler, situativer und sozialer Prozess konzeptualisiert. In didaktischer Hinsicht werden instruktive und konstruktive Momente vor dem Hintergrund einer gemäßigt konstruktivistischen Position miteinander verschränkt. Hierfür schlagen Reinmann & Mandl (2006) das Konzept des problemorientierten Lernens (problem-based learning) vor und formulieren für die Gestaltung von problemorientiertem Unterricht fünf übergeordnete Leitlinien.11 In der Geographiedidaktik spielen diese seit einigen Jahren eine zentrale Rolle für die Entwicklung von Lernumgebungen und Curricula (vgl. z. B. Reinfried 2007, Rempfler 2007, Otto 2012, Rhode-Jüchtern & Schneider 2012, Roberts 2013, Rhode-Jüchtern 2013/2015). Als fachdidaktisches Prinzip hielt die Problemorientierung Einzug in verschiedene Bildungspläne der Länder für das Fach Geographie.12 Es lässt sich festhalten, dass methodologische Zugänge zum Phänomen des Lernens aktuell für die Geographiedidaktik von entscheidender Bedeutung sind und sowohl die Forschung als auch die Entwicklung von Bildungsplänen maßgeblich prägen.13 Bezogen auf die Frage hinsichtlich der Thematisierung des Lernens in den unterschiedlichen Zugängen lässt sich festhalten, dass »methodologische Zugänge des Lernens, ob kognitionstheoretisch oder konstruktivistisch, den Modus der Aneignung und die Methode der Informationsverarbeitung fokussieren« (Mitgutsch 2009:19).
10 Vgl. die eingangs herausgestellte Rezeptionsbreite einer moderat konstruktivistischen Theorie des Lernens innerhalb der aktuellen Geographiedidaktik. 11 Die fünf Leitlinien sind: (1) Situiert und anhand authentischer Probleme lernen, (2) In multiplen Kontexten lernen, (3) Unter multiplen Perspektiven lernen, (4) In sozialem Kontext lernen, (5) Mit instruktionaler Unterstützung lernen (Reinmann & Mandl 2006:640f.) 12 So wird bspw. in Thüringen im aktuellen Lehrplan des Faches Geographie explizit die Orientierung bei der Unterrichtsgestaltung am didaktischen Prinzip der Problemorientierung eingefordert (TMBWK 2012:6). 13 Vgl. hierzu auch die einleitend herausgestellte Dominanz von Theorieimporten zum Lernen aus der pädagogischen Psychologie.
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Topologischer Zugang In topologischer Perspektive werden Fragen zum Wo des Lernens gestellt:14 »Wo sind welche Denkoperationen verortet, Speicher lokalisiert oder dezentralisiert, wo sind Informationen abgelegt?« (Strobel-Eisele & Wacker 2009:8). In den letzten beiden Jahrzehnten ist eine deutliche Zunahme neurowissenschaftlicher Beschäftigung bzw. auch an neurowissenschaftlichen Erklärungsversuchen zum Phänomen des Lernens zu verzeichnen, die nach wie vor anhält (Göhlich & Zirfas 2007:28, Künkler 2011:180, Meyer-Drawe 2012a:209). Die Forschungsbemühungen verschiedener (Sub-)Disziplinen werden unter dem Sammelbegriff Neurowissenschaften zusammengefasst, welcher oftmals synonym zur Hirnforschung verwendet wird.15 Der Anspruch, der in der modernen Hirnforschung verfolgt wird, ist, Lernen dort, wo es stattfindet – ›im Gehirn‹ –, zu beobachten. Mitunter wird verheißungsvoll davon gesprochen, man könne ›dem Gehirn beim Denken und Lernen zusehen‹. Die öffentlichkeitswirksamsten Akteure der modernen Hirnforschung sind Wolf Singer, Gerhard Roth, Manfred Spitzer und Gerald Hüther, die zahlreiche Bücher zum Begriffspaar Gehirn und Lernen veröffentlichten. Dabei wird Lernen in dieser (neurobiologischen) Perspektive als Modifikation synaptischer Übertragungsstärke verstanden (Spitzer 2007:277). Wann immer gelernt wird, »nimmt die Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen zu« (ebd.). Die Bedingung des Lernens ist die Synaptogenese, also die Fähigkeit der Verbindungsbildung zwischen Nervenzellen; Eine Fähigkeit die ein Leben lang erhalten 14 Hierbei lassen sich mit Mitgutsch (2009:20f.) zwei grundsätzlich verschiedene Zugangsweisen zum Ort des Lernens unterscheiden. Während ein didaktisch-topologischer Zugang Fragen zur Bedeutsamkeit von Lehrräumen für das Lernen untersucht (vgl. aktuell z. B. Westphal 2007, Pfrang & Rauh 2017), wird in einem methodischtopologischen Zugang das Lernen im Gehirn verortet und mit entsprechenden bildgebenden Verfahren der Versuch unternommen, Lernen auf neuronaler Ebene sichtbar zu machen. In der Konsequenz formulieren manche Autoren Ableitungen aus diesen Arbeiten für die Gestaltung von Lehr-Lern-Situationen und grundsätzlich ›effektives‹ Lernen (vgl. z. B. Spitzer 2007). An dieser Stelle ist insbesondere die zweite Sichtweise von Relevanz, weshalb diese im Weiteren ausgeführt wird. 15 Künkler (2011:180) arbeitet in Anlehnung an Becker (2006) die Begriffsentwicklungen und die derzeit herrschende Begriffsvielfalt systematisch auf. Unter anderem stellt Künkler heraus, dass die Begriffe Neurowissenschaften und Hirnforschung in der gängigen Diskussion mitunter synonym verwendet werden. Ich folge in meinen Ausführungen Künklers Begriffsunterscheidung und rekurriere mit Neurowissenschaften eher auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung und mit Hirnforschung eher auf den populärwissenschaftlichen Diskurs, der von Seiten der Pädagogik vielfach Kritik ausgesetzt war und ist.
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bleibt (Singer 2010:o.S.). Diese stetigen Neu-, Auf- und Abbauprozesse von Nervenzellverbindungen beschreibt das Prinzip der Neuronalen Plastizität (vgl. Hebb 1949/2002): Die Strukturen des Gehirns sind »höchst formbar und anpassungsfähig« (MPG 2010:90). Aussagen aus Hirnforschung und Neurowissenschaften dominierten den öffentlichen Diskurs zum Lernen der letzten Jahre. Künkler (2011:180) formuliert pointiert: »Es sind die ›bunten Bilder‹ der bildgebenden Methoden, die einen direkten (Ein-)Blick ins menschliche Gehirn versprechen und damit überaus öffentlichkeitswirksam sind«. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden oftmals als »ultimative Erklärungen« (Künkler 2011:182) ins Feld geführt und oftmals auch so verstanden. Meyer-Drawe (2012a:30) bemerkt gar, dass »kaum ein Argument im lerntheoretischen Diskurs […] seit einigen Jahren ohne die Bekräftigung auszukommen [scheint], dass neuerdings die Hirnforschung dieses oder jenes bestätigt«. Allerdings wird aus pädagogischer Perspektive vermehrt die grundsätzliche Frage gestellt, ob es der Hirnforschung überhaupt möglich ist, Lernen zu betrachten, oder ob allenfalls damit einhergehende physiologische Prozesse in den Blick gerieten (Göhlich & Zirfas 2007:28), die vor dem Hintergrund der Lokalisationstheorie16 gedeutet würden. Mit den Möglichkeiten und Grenzen der gängigen bildgebenden Verfahren, mit denen versucht wird geistige Leistungen zu visualisieren, haben sich ausführlich Stern et al. (2005:35-58) auseinandergesetzt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sie mehrere methodische Einschränkungen der verwendeten Verfahren ausmachen, die i. d. R. nicht in den Forschungsarbeiten der praktizierenden Hirnforscher mitreflektiert werden.17 Auch in methodologischer Hinsicht lässt
16 In der Lokalisationstheorie wird das Gehirn in funktionale Areale unterteilt, die für spezifische Funktionen verantwortlich sind. Dieser Gedanke setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts u. a. durch die Arbeiten von Broca und Wernicke mit Aphasie-Patienten durch (vgl. Breidbach 1997:115-148). (Auch heute werden das Broca- und das Wernicke-Areal als Hauptkomponenten des Sprachzentrums verstanden.) Die Deutungsmacht der bildlichen Darstellungen der Hirnforschung fußt auf dem Verständnis, man könne einzelnen Arealen spezifische Funktionen zuschreiben, ein Gedanke, der insbesondere in jüngerer Zeit intensiv diskutiert wird und in dieser Form nicht mehr haltbar ist (vgl. die Auswertung mehrerer Studien im Rahmen der Lokalisationsdebatte von Stern et al. 2005:84f.) 17 Künkler (2011:202-204) arbeitet in Anlehnung an den Forschungsbericht von Stern et al. (2005) heraus: »Erstens messen diese nicht direkt die neuronale Aktivität, sondern verschiedene Indikatoren für diese, entweder elektrische bzw. magnetische Felder (EEG oder MEG) oder Veränderungen des Blutflusses (PET, fMRT); zweitens werden
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sich Kritik an der Aussagekraft der modernen Hirnforschung formulieren. So muss grundsätzlich die Art und Weise der Darstellung infrage gestellt werden, denn was zur Darstellung gebracht wird, ist lediglich ein statistisch verrechnetes Konstrukt von gemessenen Signalen, welches in Abhängigkeit der experimentellen Anordnung und Fragestellung in je spezifischer Weise auf ein »anatomisches Bild des Gehirns projiziert« wird (Strobel-Eisele & Wacker 2009:8). Insofern produzieren die bildgebenden Verfahren »Artefakte von Artefakten« (Meyer-Drawe 2012a:31) und keine Abbilder tatsächlicher Hirnaktivitäten. Grau (2007:170f.) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das gesamte Hirn permanent und in allen Regionen aktiv ist und die bunten Bilder der Hirnforschung dementsprechend über die Subtraktion der für die Fragestellung des Experiments irrelevanten Messwerte entstehen. Innerhalb der Geographiedidaktik ist die Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. der Erkenntnisse der Hirnforschung bislang weniger weit verbreitet als die Rezeption teleologischer und methodologischer Zugänge zum Lernen. Dem Thema »Neuroforschung und geographisches Lernen« wird 2006 eine Ausgabe von Geographie und Schule gewidmet. Gerhard Roth stellt im Vorwort des von Helmuth Köck herausgegebenen Themenheftes die neuronalen Grundlagen der Konstruktion der räumlichen Welt durch das Gehirn, mit Bezug auf die Verarbeitung von Sinneseindrücken und -wahrnehmungen, dar. Unter anderem kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die Welt, in der wir leben, eine vom Gehirn konstruierte Welt ist, die nicht identisch mit der bewusstseinsunabhängigen realen Welt ist (Roth 2006:10f.). Der Ursprung dieses Vokabulars liegt offensichtlich im Konstruktivismus. Die erkenntnistheoretische Herkunft wird im Text aber nicht mitreflektiert. Über die Forschung zur »Formbarkeit des Gehirns« wird im neurowissenschaftlichen Diskurs auch versucht, Anwendungsmöglichkeiten zu formulieren, wie das Lehren und Lernen gehirngerecht gestaltet werden kann (MPG 2010:91). diese Messungen in unterschiedlich hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung durchgeführt, alle Verfahren unterliegen mindestens auf einer dieser beiden Ebenen deutlichen Beschränkungen; drittens sind die Verfahren entweder strikt an das Labor und die Messung im Computertomographen, einer Röhre mit ca. 60cm Durchmesser, gebunden (PET, MRT, fMRT, MEG) und/oder lassen nur Rückschlüsse auf kortikale neuronale Aktivitäten zu (EEG, MEG); viertens liefern die bildgebenden Verfahren ›lediglich Momentaufnahmen neuronaler Aktivität‹ (Becker 2006:220), wobei Lernprozesse nur in den seltensten Fällen innerhalb weniger Momente ablaufen dürften; fünftens beschränkt sich die Messung neuronaler Aktivität fast ausschließlich auf einfache Aufgabenstellungen, um neuronale Aktivitäten mit kognitiven Operationen eindeutig korrelieren lassen zu können (ebd.).«
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Konkret geht es darum, Ableitungen und Empfehlungen für neurodidaktisch funktional gestaltetes Lehr- und Lernmaterial sowie für Lernumgebungen zu formulieren (vgl. z. B. Elger et. al 2004, Spitzer 2007, Herrmann 2009). Lethmate (2016:35) merkt an, dass ein »Hirngerechtes Lernen« in der Geographiedidaktik bereits seit langer Zeit einen hohen Stellenwert hat. Er kommt zum Schluss, dass die Geographiedidaktik den Neurowissenschaften grundsätzlich hohe Bedeutung und Aussagekraft für pädagogische Fragen beimisst (Lethmate 2016:40). Allerdings würden »ihre Fürsprecher […] ohne Ausnahme nur populärwissenschaftliche Arbeiten von M. Spitzer und F. Vester« zitieren (ebd.). Es lässt sich aufgrund seiner umfänglichen Literatursichtung festhalten, dass sich die Rezeption des neurodidaktischen Diskurses in der Geographiedidaktik grundsätzlich etabliert hat, eine kritische Aufarbeitung der neurowissenschaftlichen Debatte innerhalb der Geographiedidaktik soweit aber nicht zu erkennen ist. Auf den Punkt gebracht spricht Lethmate aus diesem Grund auch von den »Neuromythen der Geographiedidaktik«. Mit Bezug auf das Lernen zeigt sich, dass die Hirnforschung selbst keine eigene Theorie zum Lernen vorlegt, sondern Aussagen über die neuronalen Voraussetzungen und Bedingungen für Lernen trifft. In den neurowissenschaftlichen Texten wird wie »selbstverständlich vorausgesetzt [...], dass man weiß, was Lernen bedeutet« (Meyer-Drawe 2012a:89). Es bleibt festzuhalten, dass die moderne Hirnforschung i. d. R. mit teleologisch-methodologischen Vorannahmen über Lernen in Bezug gesetzt wird, also eine Vorstellung von Lernen vorausgesetzt wird, welche die Ziele des Lernens und die Informationsverarbeitung fokussiert (Mitgutsch 2009:31). Zusammenschau der Zugänge Soweit wurden vier differente Zugänge zum Lernen entfaltet, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen. Die skizzierten Zugänge zum Lernen sind in Hinblick auf ihren jeweils spezifischen Fokus auf das Phänomen des Lernens sowie des dieser Sichtweise zugrunde liegenden Verständnisses von Lernen als Zwischenergebnis in nachfolgender Tabelle (Tab. 3-1) zusammengetragen.
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Tabelle 3-1: Gängige Sichtweisen auf das Phänomen des Lernens Perspektive
Fokus der Zugangsweise
Lernverständnis
Didaktisch
Gestaltung und Inhalt der Vermittlung
Bezugnehmend auf teleologische, methodologische und topologische Ansätze
Teleologisch
Ziel und Resultat des Lernens
Lernen als Verhaltensänderung und als Erreichen von Zielen
Methodologisch
Modus der Aneignung und Methode der Informationsverarbeitung
Topologisch
Verortung des Lernens (Hirnareale)
Lernen als Akkomodation und Assimilation, Lernen als selbstregulierter konstruktiver Prozess Lernen als Modifikation synaptischer Übertragungsstärke; Bezugnehmend auf teleologische und methodologische Ansätze
Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Mitgutsch 2009
Verdichtet man die vorangegangenen Ausführungen zu gängigen Weisen der Thematisierung des Lernens in Bezug auf deren perspektivimmanente Fokusse, lassen sich drei konzeptuelle Grundannahmen zum Lernen festhalten, die bei der Bestimmung bzw. Entfaltung eines genealogischen Zugangs zum Lernen erneut bedeutsam werden (vgl. Kap. 3.1.2 und 3.2): (1) Lernen ist ein beobachtbarer Prozess, über dessen Ablaufen erreichte
Ziele, gezeigtes Verhalten oder auch erreichte Kompetenzniveaustufen Zeugnis ablegen. (2) Lernen ist ein steuerbarer Prozess, auf den in methodologischer und neurodidaktischer Hinsicht Einfluss genommen werden kann. (3) Lernen ist ein eigenverantwortlicher Prozess, der dem Lernenden obliegt und von diesem aktiv gestaltet werden kann. Als gemeinsamer blinder Fleck der soweit skizzierten Zugänge zum Phänomen des Lernens kann festgehalten werden, dass diese allesamt den Vollzug des Lernens ausblenden. Damit ist gemeint, dass die Frage nach der Geschehensstruktur des Lernens hinter Fragen nach der Vermittlung, nach den Zielen und Resultaten, nach Formen der Informationsaufnahme und -verarbeitung und nach den Orten des Lernens zurückgestellt wird. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt im Phäno-
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men Lernen selbst begründet: »Lernen können wir nämlich lediglich in seinen Ergebnissen erkennen, als Vollzug entzieht es sich uns vollständig« (Meyer-Drawe 2012a:30f.). In genealogischer Perspektive auf Lernen wird dennoch konsequent dessen Vollzugscharakter fokussiert, indem die Frage nach dem Wie des Lernens und dessen Vollzug gestellt wird. Die Schwierigkeit, die in dieser Sichtweise für die Thematisierung des Lernens beschrieben wird, ist, dass sich »der Vollzug ins Dunkle zurückzieht« (Meyer-Drawe 2003:508f.). Diese strukturelle Eigentümlichkeit des Lernens präzisieren Strobel-Eisele & Wacker (2009:7): »Lernen an sich lässt sich als direkter Vorgang nicht beobachten; auf Lernen kann man nicht hinweisen wie auf einen Baum oder eine physiologische Reaktion nach einer medikamentösen Behandlung; es lässt sich nur aus sekundären Anzeichen rückerschließen, etwa bei einem vor Anstrengung ›rauchenden Kopf‹, wie die Alltagsweisheit dies plastisch beschreibt […].«
Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass das Lernen in pädagogischer Perspektive als »intransparent, unsichtbar und individuell im Sinne von unvertretbar« attribuiert wird (ebd.). Lernen fokussiert in (genealogisch-)pädagogischer Perspektive anderes als das Erreichen von Resultaten oder das Feuern von Synapsen: Lernen ist leiblich verankert, vollzieht sich als Erfahrung und wird in phänomenalem Ausdruck spür- und erlebbar. Nimmt man diesen pädagogischen Befund ernst, ist es sinnfällig, dass sich eine moderne Geographiedidaktik auch in genealogischer Perspektive dem Lernen im Geographieunterricht widmen muss. Denn die vielschichtige Erhellung des Phänomens des Lernens kann dabei helfen, didaktisch-genealogische Überlegungen zur Gestaltung bzw. Durchführung von Unterricht zu formulieren, welche soweit im geographiedidaktischen Diskurs nicht vorhanden sind. Im erziehungswissenschaftlichen Feld hat sich im deutschsprachigen Raum ein pädagogisch-phänomenologischer Zugang zum Lernen als gängigste Alternative zu psychologischen und neurowissenschaftlichen Theorien mittlerweile etabliert (Künkler 2011:398). In phänomenologischer Perspektive wird Lernen als Vollzug verstanden und thematisiert und trifft damit den Kern des Anliegens eines genealogischen Zugangs. Aus diesem Grund wird die Phänomenologie als Theoriehorizont für die vorliegende Arbeit gewählt.18 18 Im Rahmen dieser Arbeit verwende ich die Bezeichnungen genealogisch, phänomenologisch und pädagogisch-phänomenologisch bzw. auch genealogischer Zugang und phänomenologische Lerntheorie synonym, da die Begriffe in der von mir im weiteren aufgearbeiteten Bedeutung auf eine Zugangsweise zum Lernen abzielen, die den Fokus auf den Vollzug des Lernens richtet. Es sei darauf hingewiesen, dass im wissenschaftlichen Diskurs eine phänomenologische Lerntheorie nicht den einzigen genealogischen
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3.1.2 Genealogischer Zugang Wurde Lernen bislang vornehmlich in Form seiner Resultate thematisiert und in diesem Sinne vom Ende her konzeptualisiert, ist in genealogischer Perspektive der Vollzug des Lernens von zentraler Bedeutung. Es wird »das Wie des Lernens und dessen Vollzug in seiner Entstehung (Genesis)« fokussiert (Mitgutsch 2009:23). Dabei wird der menschlichen Erfahrung zentrale Bedeutung für das Lernen beigemessen. Diese Verbindung kündigt sich bereits in der Wortbedeutung an. Lernen rührt vom Gotischen Lais – Ich weiß, ich bin wissend geworden, habe erfahren, habe nachgespürt – und liegt etymologisch nahe dem Leiden, dem Erleiden bzw. dem Erfahren (Pfeifer 1989a:1006). Konsequenterweise wird in genealogischer Hinsicht dem Begriff der Epagogé besonderer Stellenwert zugeschrieben, der darauf abzielt, dass jedes Lernen, Erkennen und Wissen »einen ursprünglichen Vollzug und einen Gang der Erfahrung voraus[setzt]« (Mitgutsch 2009:23). Mit Blick auf die Bedeutsamkeit der Erfahrung für Lernen in genealogischer Perspektive ist es wenig verwunderlich, dass sich insbesondere die Phänomenologie – als Philosophie der Erfahrung – intensiv mit dem Lernen auseinandergesetzt hat (vgl. Kapitel 3.2.1). In phänomenologischer Perspektive werden Fragen »nach dem Vollzug, der Gangart, der Entstehung aber auch den Widerständen und Irritationen in der Erfahrung« gestellt (ebd.). Hierin klingt an, dass mit Genealogie kein bruchloses Nacheinander, sondern eine »lückenhafte Verflechtung von Synchronem, Asynchronem, Sequenziellem und Gleichzeitigem« gemeint ist (Mitgutsch 2008:264, 2009:23). Phänomenologische Betrachtungen des menschlichen Lernens wenden sich also der Genealogie des Lernens zu und thematisieren, was mit dem Lernenden auf seinem Weg der Veränderung geschieht. Entsprechend wird Lernen dabei im Sinne eines Erfahrungsvollzugs begriffen (Meyer-Drawe 1996:85). Für ein pädagogisches Lernverständnis ist die Einsicht zentral, dass sich zwei grundsätzliche Wissensarten unterscheiden lassen: »Ein lebensweltliches Auskennen und ein wissenschaftliches Erkennen« (ebd.:88). Im lebensweltlichen Auskennen drückt sich die unauflösbare leibliche Verstrickung des Lernenden mit der Welt aus, wobei fungierendes Vorwissen unseren Umgang mit den Dingen bestimmt. Erst wenn dieses lebensweltliche Wissen an seine Grenzen stößt, wird es der Reflexion zugänglich und ergibt sich die prinzipielle Möglichkeit (unter anderem mit Hilfe Zugang darstellt und es auch im Feld der pädagogischen Phänomenologie ein breites Spektrum an Ansätzen gibt (vgl. auch Kapitel 3.2.1). Mit der phänomenologischen Lerntheorie von Käte Meyer-Drawe wird hier aber das zentralste und am breitesten rezipierte Theorieangebot einer genealogischen Perspektive auf Lernen zur Grundlage der weiteren Überlegungen gemacht (vgl. auch Kapitel 3.2.2).
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wissenschaftlichen Wissens) der Transformation von Erfahrungen. Hier sei erneut an die Epagogé erinnert, welche »die Gangstruktur der Erfahrung [bezeichnet], also deren negativen Charakter« und damit »auf den Umstand aufmerksam [macht], daß wir eine Erfahrung in vollem Sinne nur dann machen, wenn sie uns zu einer Umwendung, zu einer Umstrukturierung unseres Vorwissens nötigt« (ebd:89). In Abgrenzung zu den in der Zusammenschau bestimmten konzeptuellen Grundannahmen zum Lernen nimmt ein genealogisch-phänomenologischer Zugang einen gegenläufigen Ausgangspunkt (vgl. Meyer-Drawe 1996:85f.): (1) Lernen wird nicht vom jeweiligen Resultat her verstanden, vielmehr wird
sich konsequent dem Vollzug des Lernens gewidmet.19 (2) Lernen wird nicht als bruchloses Anhäufen von Wissensbeständen bzw. Verhaltensänderung oder Zielerreichung verstanden, sondern darüber hinaus thematisiert, was der Lernende im Lernvollzug über sich selbst (und nicht nur über die Gegenstände) erfährt. (3) Lernen wird nicht im Sinne eines planbaren Prozesses verstanden, bei dem der Lehrende »kulturelles Kapital zinsträchtig im Lernenden anlegt« (Meyer-Drawe 1996:86), sondern es wird die prinzipielle Unplanbarkeit von Erfahrungen anerkannt. Der Interaktion von Lehrendem und Lernendem kommt in phänomenologischer Sicht sinnbildende und Erfahrungen eröffnende Bedeutsamkeit zu, die sowohl für den Lehrenden als auch den Lernenden bedeutsam werden können. Damit bilden in phänomenologischer Sichtweise auf Lernen die Verflechtungen von Subjekt und Objekt, Eigenem und Fremden, von Wissen und Erfahrung ebenso wie die sich in der Erfahrung vollziehenden Widerstände und Irritationen den Fokus der Auseinandersetzung. Auf den Punkt gebracht, steht das Wie des Lernens im Zentrum der Betrachtung. Mitgutsch (2009:24) macht deutlich, dass in genealogischer Fokussierung bestimmte Aspekte, die in den vier vorangestellten Zugängen und den darunter sub-
19 Die Besonderheiten des Vollzugs werden im Laufe des Kapitels 3.2 thematisiert. Soweit kann mit Rumpf (2008:23) ein Lernen, welches als Vollzug gedacht wird, als ein Geschehen verstanden werden, in welchem das Unbekannte, Unstimmige, und zum Teil aufgrund seiner Offenheit auch Bedrohliche seine Kraft entfaltet. Lernen als Vollzug »nimmt Umwege und auch Abstürze in Kauf« und vollzieht sich als Such- und Tastbewegung (ebd).
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sumierten theoretischen Zugriffen ausführlicher thematisiert werden, weniger berücksichtigt werden. Demgegenüber treten andere Aspekte, die in den gängigen Zugangsweisen nicht betrachtet werden, aus dem Schatten hervor. In diesem Sinne verstehe ich die genealogische Perspektive auf Lernen vor allem als komplementären Zugang zu den diskursdominierenden vier Zugangsweisen, die zuvor skizziert wurden. Allerdings konnte deutlich gemacht werden, dass ein genealogischer Zugang einen gemeinsamen blinden Fleck der übrigen vier Zugänge ins Zentrum der Überlegungen rückt: den Vollzug des Lernens. Aus diesem Grund kommt der Erhellung des Phänomens des Lernens über einen genealogischen Zugang besondere Bedeutung zu. Für die Geographiedidaktik wird dieser Zugang meines Erachtens darüber hinaus auch unmittelbar unterrichtspraktisch relevant: Wenn Lernen als Erfahrung verstanden wird, bedarf es geographiedidaktischer Überlegungen, die der Prozessualität des Lernens Rechnung tragen und geeignete Lernumgebungen, die Lernen als Erfahrung ernst nehmen, berücksichtigen und Erfahrungen möglich(er) werden lassen, ohne Erfahrung dabei als operationalisierbare Größe misszuverstehen. Die Entwicklung solcher Lernumgebungen kann (und muss) dann Aufgabe der Geographiedidaktik sein. Darüber hinaus wird die Thematisierung von Lernen als Erfahrung auch für die Lehrerbildung relevant. Ein Baustein auf dem Weg zu einer Geographiedidaktik, welche sich bildungsphilosophisch – im Horizont einer phänomenologischen Pädagogik – legitimiert, soll die vorliegende Arbeit sein.
Lernen als Gegenstand phänomenologischer Pädagogik Um die Architektur und die Perspektiven einer phänomenologischen Lerntheorie anschlussfähig herleiten und nachvollziehbar entfalten zu können, werde ich in einem vorbereitenden Schritt zentrale Entwicklungslinien der phänomenologischen Pädagogik im deutschsprachigen Raum nachzeichnen, um eine Antwort auf die Frage zu liefern, was grundsätzliche Anliegen einer phänomenologischen Pädagogik sind (Kapitel 3.2.1). Daraufhin wird die zentralste Theorie der phänomenologischen Pädagogik – Käte Meyer-Drawes phänomenologische Lerntheorie – in fünf Facetten zur Darstellung gebracht (Kapitel 3.2.2). Angelpunkt ihrer Theoriearchitektur ist ein Verständnis von Erfahrung, welches diese als brüchigen Vollzug denkt (u. a. Bollnow 1974, Waldenfels 2002). Um dieses Verständnis von Erfahrung ausleuchten zu können, wird der Vollzugscharakter der Erfahrung – und damit des Lernens – mit Waldenfels aufgearbeitet, indem die paradoxale Struktur der Erfahrung genauer betrachtet wird (Kapitel 3.2.3). Im Rahmen der
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vorliegenden Arbeit wird auf die ästhetische Dimension der Erfahrung fokussiert, welche in der Geographiedidaktik zuweilen wenig Beachtung findet (Kapitel 3.2.4). 3.2.1 Entwicklungslinien der phänomenologischen Rezeption in der Pädagogik Die Beschäftigung mit und die Fruchtbarmachung von phänomenologischen Überlegungen für die Pädagogik setzt bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Seither ist die Phänomenologie eine feste Bezugsgröße pädagogischer Theoriebildung, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark rezipiert wurde. Mit der historischen Aufarbeitung der pädagogischen Rezeption der Phänomenologie beschäftigten sich bereits verschiedene Autoren unterschiedlich ausführlich (u. a. Plöger 1986, Rittelmeyer 1990, Lippitz 1993, 1996, 200320, Westphal 2015, Brinkmann 2017).21 Es geht an dieser Stelle darum, dem Leser einen Überblick über vier grobe Phasen phänomenologischer Orientierung innerhalb der Pädagogik zu geben und einige Vertreter herauszustellen, die für den argumentativen Aufbau der Arbeit relevant sind. Es werden sowohl solche Vertreter benannt, die für die Entwicklung einer phänomenologisch orientierten Pädagogik als auch ins-
20 An dieser Stelle muss auf die sorgfältigen Ausdifferenzierungen von Lippitz in drei (1993) und später vier (2003) Phasen phänomenologischer Orientierung in der Pädagogik hingewiesen werden. Lippitz (1993:13-47, 2003:27) unterscheidet: (1) »Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und zwischen den beiden Weltkriegen«; (2) »Die anthropologische Wende der Pädagogik in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts«; (3) »Die sozialwissenschaftliche Wende seit den siebziger Jahren«; (4) »Die vernunftkritische Phase bestimmter erziehungswissenschaftlicher Forschungen und Theoriediskussionen in den neunziger Jahren«. Aufgrund der wissenschaftshistorischen Perspektive, mit der Lippitz seine Phasen ausweist, erscheint mir der Fokus seiner Betrachtungen hier über den Kern des Anliegens des vorliegenden Kapitels hinauszugehen, weshalb die Strukturierung entlang von vier Phasen mit eigener Schwerpunktsetzung vorgenommen wird. 21 Dabei fokussieren die verschiedenen Autoren auf unterschiedliche Aspekte der historischen Aufarbeitung und auch hinsichtlich der Zeiträume unterscheiden sich die Einschätzungen der Autoren. Bspw. sieht Plöger (1986:9,61) den Beginn der phänomenologischen Orientierung in der Pädagogik erst im Laufe der 1950er Jahre einsetzen. Demgegenüber bestimmten Rittelmeyer (1990:12) und Lippitz (1996:431) bereits Aloys Fischer (1880-1937) als ersten Wegbereiter dieser Orientierung.
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besondere für die Entwicklung des dieser Arbeit zugrundeliegenden Lernverständnisses von Käte Meyer-Drawe (vgl. Kapitel 3.3) und der Methodik der Innsbrucker Vignettenforschung (vgl. Kapitel 4.2) von entscheidender Bedeutung sind. Damit wird das Ziel verfolgt, die bislang in geographiedidaktischen Überlegungen kaum wahrgenommene Theorie- wie Forschungsperspektive phänomenologischer Pädagogik schlüssig herzuleiten und einzubetten.22 Insofern kommt der geschichtlichen Einordnung hier neben der vorbereitenden auch eine rahmende Funktion für die nachfolgenden Teile der Arbeit im Kontext geographiedidaktischer Forschung zu. Denn aus dem Nachvollzug der Entwicklungslinien der phänomenologisch orientierten Pädagogik lassen sich historisch gewachsene Anliegen dieser Forschungsrichtung und aktueller Forschungsbemühungen verstehen, sowie deren Relevanz für die erziehungswissenschaftliche, pädagogische und damit auch didaktische Theoriebildung erkennen. Daraufhin wird es dann möglich, diese Gedanken für die geographiedidaktische Forschung fruchtbar zu machen. Es werden im Folgenden vier Phasen phänomenologischer Orientierung in der Pädagogik unterschieden: (1) Die Anfänge der pädagogischen Phänomenologie als Wesenswissenschaft (in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts); (2) Die lebens-
22 Die Theoriebildung der phänomenologischen Pädagogik wird innerhalb der Geographiedidaktik bislang nur in Jena konsequent aufgegriffen (Dickel 2011a, 2011b, 2011c und Nehrdich 2015) und hält am Standort in unterschiedlicher Weise Einzug in mehrere aktuelle Forschungsprojekte (vgl. Kapitel 2). Vereinzelt werden zwar auch von anderen Autoren der Geographiedidaktik Vertreter dieser Denkschule zitiert (z. B. Meyer-Drawes Diskurse des Lernens in Hofmann 2015:192), allerdings lässt sich dabei keine Aufarbeitung bzw. Durchdringung der Phänomenologie bzw. einer phänomenologischen Idee von Lernen erkennen. Im aufgeführten Beispiel handelt es sich lediglich um ein einzelnes Zitat, welches darauf abhebt, dass der Beginn des Lernens nicht intentional zu beeinflussen sei (ebd.). In weiterer Folge (ebd.:193f.) argumentiert sie mit Kolbs »Erfahrungsbasiertem Lernen« (1984), welchem Deweys Erfahrungsbegriff (in Tradition des Pragmatismus) zugrunde liegt, und welcher nicht ohne weiteres mit MeyerDrawes Erfahrungsbegriff (in Tradition der Phänomenologie) zu vereinbaren ist (vgl. Agostini 2016:15). Im Detail bricht sich die Vereinnahmung von Meyer-Drawes Lernverständnis durch Hofmann (2015:195) an der »hier [im Rahmen ihrer Dissertation; FP] zugrunde gelegten konstruktivistischen Auffassung von Lernprozessen«. Auch wenn die sehr moderate Auslegung des Konstruktivismus durch Hofmann in unterrichtspraktischer Konsequenz sicherlich auf den ersten Blick Anliegen aufweist, wie ein pädagogisch-phänomenologisches Verständnis von Lernen, ist die theoretische Unvereinbarkeit eklatant.
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weltliche Orientierung (seit den 1950er Jahren); (3) Die pädagogische Phänomenologie in jüngerer Zeit (seit den 1980er Jahren); (4) Die Hinwendung zur empirischen Rekonstruktion von Erfahrungen (seit den 2000er Jahren). Die Anfänge der pädagogischen Phänomenologie als Wesenswissenschaft Als einer der ersten wesentlichen Vertreter, die versuchten eine phänomenologisch grundierte Pädagogik zu etablieren, ist Aloys Fischer zu nennen. Fischers Entwurf einer Deskriptiven Pädagogik (1914) stuft bspw. Prange (2009) als »Schlüsselwerk der Pädagogik« ein. Zentral ist für Fischer der Stellenwert einer vorurteilsfreien Beschreibung, um sich pädagogischen Handlungen und besonders zentral der ›Erziehung‹ zu widmen. Für Fischer ist die Aufgabe einer Deskriptiven Pädagogik explizit die Bereitstellung eines theoretischen Fundaments für jegliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Erziehung. So ist er an der Entwicklung einer deskriptiv begründeten »Prinzipienwissenschaft von der Erziehung« interessiert (Lippitz 2003:28). Die Orientierung während dieser ersten Rezeptionsphase der Phänomenologie in der Pädagogik an »Husserls Programmatik einer deskriptiven, phänomenologisch gegründeten […] Gegenstandslehre« (Lippitz 1996:431) ist offensichtlich. Fischer verfolgt die Idee, dass sich über eine vorurteilsfreie Beschreibung das »regionalontologische Fundament wissenschaftlicher Pädagogik« formulieren ließe (Lippitz 2003:28). Die Hoffnung, die hinter dieser Zuwendung zur Phänomenologie stand, lag darin, eine »unstrittige theoretisch und begrifflich systematische Begründung« der Pädagogik als junger Universitätsdisziplin etablieren zu können (Lippitz 1996:431). Das dieserart zu entwickelnde Fundament sollte aus »Wesensbegriffen« pädagogischer Sachverhalte bestehen. In der über mehrere methodische Schritte folgenden »phänomenologischen Wesensschau« (vgl. Husserl 1913/2014) wird dann der Kern eines jeden untersuchten Phänomens bzw. Begriffs sichtbar: • die Epoché – d. h. die Ausklammerung theoretischer Vorannahmen, • der eidetischen Variation und Reduktion – d. h. der abstrahierenden, formalisie-
renden und generalisierenden systematischen Erschließung möglicher Sichtund Erfahrungsweisen (Lippitz 2003:21), • sowie der phänomenologischen bzw. transzendentalen Reduktion – d. h. die Thematisierung der impliziert fungierenden Bewusstseinsakte selbst (ebd.) Lippitz (2003:29) konstatiert, dass die regionalontologischen Bemühungen der ersten Phase phänomenologischer Rezeption innerhalb der Pädagogik wenig weitere Bedeutung gewonnen haben. Dies hängt u.a. auch mit der Weiterentwicklung
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und Abkehr des von Husserl initiierten Programms phänomenologischer Regionalontologien, also »der phänomenologischen Grundlegung der Einzelwissenschaften« (ebd.:15), durch seinen Schüler Martin Heidegger und den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zusammen. Durch die Zuwendung zur Lebenswelt (wie sie auch bereits Husserl in seinem Spätwerk – der Krisisschrift23 – anbahnte) wurde in der Phänomenologie von der Idee, es ließe sich durch Variation und Reduktion auf ein transzendentales Ich abstrahieren, Abstand genommen. Diese Wende vollzog sich (folglich) auch in der pädagogischen Rezeption der Phänomenologie, indem die Lebenswelt in den Aufmerksamkeitsfokus phänomenologisch arbeitender Pädagogen fiel. Als einer der bekannteren Vertreter einer phänomenologisch orientierten Erziehungswissenschaft ist für die Zwischenkriegszeit Friedrich Copei zu nennen. Von zentraler Bedeutung sind seine phänomenologischen Analysen zum Fruchtbaren Moment im Bildungsprozess von 1930.24 Darin geht es ihm darum, »von einzelnen, markant hervortretenden Phänomenen zu allgemein bedeutsamen seelischen Geschehensgesetzen vorzudringen« (Copei 1930:2) und die pädagogische Bedeutsamkeit dieser Momente herauszuheben. In mehreren deskriptiv-exemplarischen Studien thematisiert er das Verhältnis von lebensweltlichen und vor- bzw. außerwissenschaftlichen Erfahrungen. Nach Lippitz (2003:29) thematisiert Copei »wie aus lebensweltlichen, vor- und außerwissenschaftlichen Erfahrungen wissenschaftliche Erkenntnis entspringt, aus welcher Erfahrungsschicht die zündenden Ideen für wissenschaftliche Theorien stammen, in denen sich etwas Neues zeigt, und wie dieses dann diskursiv ausgearbeitet werden kann«. Für Copei (1930:63) wird ein Moment dann fruchtbar, wenn sich »die neu aufleuchtende Erkenntnis in der folgenden Einformung gegenüber dem Erfahrungsbestande zu behaupten und durchzusetzen weiß«. Fruchtbar sind Momente für ihn also dann, wenn sie Neues mit sich bringen und bestehende, bislang geltende Erfahrungen umzustrukturieren vermögen. Seine Ausführungen münden in Pädagogischen Folgerungen zum Lehren und Lernen, wobei ihm wichtig ist, zu betonen, dass es unmöglich ist, den fruchtbaren Moment immer und überall herbeizuführen (Copei 1930:102, 131). Copeis Überlegungen wurden unter anderem von Meyer-Drawe aufgegriffen und weitergedacht (vgl. Kapitel 3.3).
23 Husserl, E. (1962²): Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. In: Biemel, W., S. Ijsseling, H. L. van Breda & R. Bernet (Hrsg.): Husserliana Band 6. Den Haag: Nijhoff. 24 Wenngleich Copeis Werk bereits in neunter Auflage (1969) erschienen ist, beziehe ich mich nachfolgend auf die Erstausgabe, da die nachfolgenden, von Hans Sprenger herausgegebenen Auflagen, inhaltlich unverändert erschienen sind.
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Die lebensweltliche Orientierung Für Lippitz (2003:30) lässt sich in der Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg »eine zweite, stärker systematisch geprägte Rezeption der Phänomenologie […], insbesondere in ihrer sogenannten anthropologischen Wende« ausmachen. Er macht drei Hauptrichtungen der Rezeption der Phänomenologie in der Pädagogik aus (ebd.): Erstens eine wissenschaftskritische fundamentalontologische, zweitens eine hermeneutisch-deskriptive und drittens eine lebensweltlich-phänomenologische Ausrichtung pädagogischer Forschungen. An dieser Stelle sind insbesondere die beiden letztgenannten Forschungsrichtungen interessant und werden daher weiter ausgeführt. Beide sind ausdrücklich empirisch orientiert und werden in der Tübinger Schule um Otto F. Bollnow und der Utrechter Schule um Martinus J. Langeveld verfolgt (ebd.). Das Anliegen dieser beiden Hauptvertreter der pädagogischen Rezeption der Phänomenologie zu dieser Zeit lag in »einer phänomenologischen Begründung der Pädagogik« (Plöger 1986:9). In den 1960er Jahren verblasste die Phänomenologie als Ausgangspunkt pädagogischer Forschung zunehmend, da u. a. die Phänomenologie als Methode noch immer vornehmlich der Bestimmung pädagogischer Grundbegriffe diente und sich im Zuge der »realistischen Wendung« (Roth 1958/1967, 1962/1967) in der pädagogischen Forschung die Pädagogik verstärkt der empirischen Arbeitsweise verschrieb. Die seit Ende der 1970er Jahre aufgekommene Skepsis an den »Möglichkeiten einer exakten empirischen Erziehungswissenschaft und ihrer Anwendbarkeit für Erziehung und Unterricht« (Plöger 1986:9) sorgte dafür, dass die Phänomenologie als Methode für die Pädagogik wieder in den Aufmerksamkeitsfokus fiel und bis heute von (je nach betrachtetem Forschungsbereich unterschiedlich starker) Bedeutung ist. Günther Buck legte 1967 sein Werk »Lernen und Erfahrung« vor, das als wesentlicher Ankerpunkt der phänomenologischen Perspektive auf das Lernen zu sehen ist.25 Für Künkler (2011:398) ist Bucks Monographie inzwischen beinahe zum »Standardwerk« einer phänomenologisch perspektivierten Thematisierung des Lernens avanciert und von unterschiedlichen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Künkler (2011:398) sieht dies insbesondere in Arbeiten von Meyer-Drawe (1986a, 1996, 2003, 2012a), aber auch Combe & Gebhard (2007), Stieve (2008) oder Mitgutsch (2009). Plöger (1986:12) erkennt zwei Funktionen der Phänomenologie für die Pädagogik: Zum einen dient sie der Bereitstellung von Grundbegriffen »für die pädagogische Theoriebildung«, zum anderen ist sie – unter Rückgriff auf Langeveld
25 Ich beziehe mich in meiner Arbeit auf die posthum 1989 erschienene dritte Auflage des Werks, die gegenüber der vorherigen Auflage von 1969 um einen dritten – aus Manuskripten von Buck zusammengestellten – Teil erweitert wurde.
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(1981:98) – als Forschungsstil bedeutsam, welcher die Grundlage für weiterführende empirische Arbeiten bildet. Demnach ist »die sogenannte ›phänomenologische Methode‹ […] lediglich eine vorbereitende ›empirische Methode‹: […] Sie ist in ihrer Orientierung an der ›Lebenswelt‹, die sie analysiert, eine vorbereitende Arbeitsweise für die ›empirisch-analytische‹ Verifikations- und Explorations-Methodik der auf Erfahrung beruhenden (›empirischen‹) Geisteswissensschaften« (Langeveld 1981:98). Im Unterschied zur Auslegung der phänomenologischen Methode als bloße Vorstufe für eine auf ihr aufbauenden empirischen Verifikation, wird sich insbesondere in jüngster Zeit im Kontext der phänomenologischen Pädagogik intensiv mit Fragen zu den phänomenologischen Möglichkeiten einer empirisch begründeten Rekonstruktion lebensweltlicher Erfahrungen gewidmet. Diesbezüglich werden methodologische wie methodische Fragestellungen und Überlegungen verfolgt, welche die Etablierung einer empirisch arbeitenden phänomenologischen Pädagogik im Blick haben. Diese jüngste Entwicklung wird weiter unten ausgeführt. Der historische Abriss zeigt, dass sich nicht von der einen Phänomenologie bzw. der einen phänomenologischen Methode sprechen lässt. Diesbezüglich arbeitet Plöger (1986:15) in seiner Dissertationsschrift sorgfältig heraus, dass die von den unterschiedlichen Autoren verwendeten Begriffe, sowie das Verständnis der Phänomenologie als Methode in höchstem Maße unterschiedlich sind. Diesen Befund stützen mehrere Autoren in ausführlichen Aufarbeitungen der Entwicklung der Phänomenologie, der methodischen Vorgehensweise der Phänomenologie bzw. der phänomenologischen Rezeption in verschiedenen Disziplinen (vgl. u. a. Rittelmeyer 1990, Spiegelberg 1994, Zahavi 2007, Finlay 2009). Im Kern ist Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung zu verstehen. Das schillernde Forschungsspektrum der phänomenologischen Pädagogik macht es (wie grundsätzlich beim wissenschaftlichen Arbeiten und insbesondere bei der Arbeit mit phänomenologischen Positionen) notwendig, sich mit dem eigenen Forschungsanliegen transparent innerhalb dieses Forschungsstils zu positionieren.26 Phänomenologische Pädagogik in jüngerer Zeit Entscheidende Beiträge zur Entwicklung der phänomenologischen Pädagogik seit den 1980er Jahren haben Wilfried Lippitz und insbesondere Käte Meyer-Drawe geliefert (Jank & Meyer 1991:124). Lippitz hat den Lebensweltbegriff in seiner 26 Aus diesem Grund wird sowohl eine grundsätzlichere Einordnung des Forschungsanliegens in diesem Kapitel verfolgt, als auch in einem späteren Kapitel die methodologische Verortung der Untersuchung im Feld phänomenologischer Forschung reflektiert (vgl. Kapitel 5.3).
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Habilitationsschrift kritisch aufgearbeitet. Dabei verfolgt er das Ziel »die reflexiven Möglichkeiten der pädagogischen Praxis systematisch wiederzuentdecken, bevor diese wissenschaftlichen Interpretations- und Bearbeitungsprozessen unterworfen wird« (Lippitz 1980:19). In einem ersten Schritt zeigt er auf, dass es sich beim Lebensweltbegriff, wie er von den Sozialwissenschaften aufgegriffen wurde, ursprünglich um einen philosophischen Begriff handelt, den Lippitz in der Phänomenologie Husserls und in kritischer Weiterentwicklung bei Merlau-Ponty verortet. Daraufhin entfaltet er die für die phänomenologische Methode zentralen Begriffe der Beschreibung, Reduktion und Wesensschau und gelangt schließlich zu einer Konzeption des Beispiel-Verstehens als »Verfahren der Beschreibung lebensweltlicher Strukturen« (Lippitz 1980:70-77). Insofern ist seine Arbeit auch als Forschungsprogramm für eine phänomenologisch orientierte Pädagogik zu verstehen, welche um »den systematischen Einbezug vorwissenschaftlicher Erfahrungen in erziehungswissenschaftliche Forschungen« bemüht ist (Lippitz 1993:7). Die Reflexion des Beispiel-Gebens und Beispiel-Verstehens − der Exemplifizierung − als phänomenologische Methode zur Beschreibung lebensweltlicher Strukturen wird zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen und für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden (vgl. hierzu insbesondere Kapitel 5.3.2). Die Tragweite der Fruchtbarmachung des Lebenswelt-Begriffs sehen Jank & Meyer (1991:124) im zunehmenden Einfluss auf die pädagogische Theoriebildung gegeben. Sie klassifizieren drei Ansatzpunkte für pädagogische Übertragungen des Lebenswelt-Konzepts (Jank & Meyer 1991:124): • »Didaktische Überlegungen zur pädagogischen Bedeutung der Alltags- und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen heute;
• Untersuchungen der Frage, wie Kinder und Jugendliche mit den Diskrepanzen leben können, die zwischen verschiedenen Lebenswelten (Familie, Schule usw.) bestehen;
• Überlegungen zur Beziehung zwischen vorwissenschaftlich-lebensweltlichen Erfahrungsweisen und den Wissenschaften im Interesse einer ›Rehabilitierung vorwissenschaftlicher, leib-sinnlicher Erfahrung‹ (Lippitz 1980). ›Die gesetzlich geordnete Welt ist keine gelebte Welt mehr, sie ist nur durch Ideation zugänglich‹; deshalb geht MeyerDrawe von der These aus, daß die Eröffnung spezifisch wissenschaftlicher Sichtweisen ›nicht durch eine kontinuierliche Erweiterung lebensweltlicher Sichtweisen zu gewinnen ist, sondern nur durch eine krisenhafte Umstrukturierung von fungierenden Erfahrungshorizonten‹ (Meyer-Drawe 1986[b]: 508).«
Auch aktuellere didaktische Bemühungen greifen den Lebenswelt-Begriff auf und legen diesen in unterschiedlicher Weise aus. Meyer-Drawe (1986b:506) warnte
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bereits vor der vorschnellen Vereinnahmung des Begriffs in pädagogische Argumentationen und in der Tat ist zu konstatieren, dass man heutzutage zwar immer einen Unterricht mit Lebensweltbezug gut heißen würde, der darin vereinnahmte Begriff der Lebenswelt aber unzureichend aufgearbeitet bzw. reflektiert ist. Vornehmlich wird darunter nämlich verstanden, dass Unterricht an der Lebenswelt der Schüler zu orientieren sei, also solche Inhalte vom Lehrenden didaktisch aufbereitet werden sollen, die einen deutlichen Bezug zu den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler aufweisen. Hierunter fallen auch didaktische ›Verpackungen‹ für Unterrichtsinhalte, um deren Zugänglichkeit zu erhöhen. Doch in dieser Verwendung wird das oben entwickelte Lebenswelt-Konzept verkürzt. Es wird zu einem späteren Zeitpunkt auf die lebensweltliche Verstrickung der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt des Nachdenkens über Erfahrungen und damit sämtlicher Differenzierungsgeschehen (= Lernprozessen) zurückzukommen sein, denn darin liegt die genuin phänomenologische Perspektive auf die Bedeutsamkeit der Lebenswelt, welche an dieser Stelle nur angerissen werden konnte (vgl. u. a. Kapitel 3.2.2). Der Lebensweltbegriff in Anlehnung an Merleau-Ponty ist auch für die Arbeiten Meyer-Drawes von entscheidender Bedeutung. Sie hat in ihren zahlreichen Beiträgen zu einem bildungsphilosophisch geprägten Lern- und Bildungsverständnis beigetragen (Westphal 2015:97). Lernen versteht sie, wie bei Jank & Meyer im Zitat bereits anklang als Umlernen vor dem Hintergrund nichterfüllter Erwartungen, womit sie sich auch deutlich gegen ein Verständnis richtet, Lernen sei »bruchloses Anhäufen« neuer Wissensbestände (Meyer-Drawe 1996:89). Für Meyer-Drawes Lernverständnis ist der Begriff der Erfahrung zentral, von dem ausgehend sie ihre Lerntheorie entwirft. Denn sie versteht Lernen als Erfahrung: »In dieser Zuspitzung ist jedes Lernen, das eine neue Sicht eröffnet, Erfahrung« (ebd.). Folglich ist Lernen als Differenzierungsgeschehen zu verstehen, in welchem sich lebensweltliches Erfahrungswissen und wissenschaftliches Wissen gegeneinander behaupten und gleichsam einander durchdringen und zu transformieren vermögen. Dieser Idee liegt ein genuin phänomenologisches Lebenswelt-Konzept zugrunde (vgl. auch Kapitel 3.1.2). Die Hinwendung zur empirischen Rekonstruktion von Erfahrungen In jüngster Zeit hat die phänomenologische Erziehungswissenschaft u.a. im Zuge der lauter werdenden Bildungsreform-Kritik neuen Aufschwung erhalten. In diesem Kontext ist unter anderem Malte Brinkmann zu nennen, der die aktuelle Debatte unter dem Schlagwort Phänomenologische Erziehungswissenschaft in internationalen Symposien (bislang 2011, 2013, 2015, 2017) und einer Schriftenreihe
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zu bündeln sucht. Ein aktuelles Problemfeld phänomenologischer Überlegungen in der Erziehungswissenschaft ist z. B. die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten der empirischen Untersuchung aufgeworfener Fragestellungen in phänomenologischer Perspektive auf Lernen, die sich aus der Logik und dem Anspruch der Phänomenologie als philosophischer Tradition her begründen lassen. Eine Frage, die, wie oben beschrieben wurde, die Phänomenologie seit langer Zeit begleitet und der in unterschiedlichen Schulen auf verschiedene Art und Weise begegnet wurde. Dieses Spannungsverhältnis wird umso bedeutsamer, als sich das Feld in jüngster Zeit vermehrt Fragen der empirischen Rekonstruktion von Erfahrungen im Kontext pädagogischer Situationen widmet (Brinkmann et al. 2015:3, Westphal 2015:90).27 Aktuelle Forschungsfelder28 phänomenologisch grundierter erziehungswissenschaftlicher Forschung sind u.a.:29 • die frühkindliche Bildung unter dem Aspekt kultureller Bildung und ästheti-
scher Erfahrung (Mollenhauer 1996, Stenger 2002); • das Ausloten von Möglichkeiten des Sichtbarmachens von Erfahrungen mithilfe
von Lerntagebüchern unter Zuhilfenahme von und Erweiterung der Dokumentarischen Methode (Sabisch 2007); • Fragen nach Materialität und dem »Aufforderungscharakter der Dinge« (Stieve 2008); • Arbeiten im Kontext der Sinne, der Künste und der kulturellen Bildung und insbesondere auch den spezifischen Bereich des Darstellenden Spiels unter bildungstheoretischer Perspektive (Bilstein 2011, Liebau et al. 2009); • lern- und bildungstheoretisch orientierte Forschungen der Innsbrucker Schule (Schratz et al. 2012), die neuerdings auch in Brixen verfolgt werden (Baur & Schratz 2015, Agostini 2016, Peterlini 2016); 27 Im CfP zum Symposium Phänomenologische Erziehungswissenschaft 2013 in Berlin wird gar davon gesprochen, dass sich das Feld phänomenologischer Erziehungswissenschaft hin zu Methodenfragen »verschiebt« (https://www.erziehungswissenschaften .hu-berlin.de/de/allgemeine/forschung/phaenomenologie/symposion/call-for-papers_2. -internationales-symposion-phaenomenologie-paedagogik.pdf). 28 Die nachfolgende Auflistung basiert auf Westphal (2015:97-99). Ich ergänze einige Aspekte und das Forschungsfeld der Innsbrucker Vignettenforschung. Dieser Überblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber die Breite aktueller pädagogischphänomenologischer Forschungsbemühungen verdeutlichen. 29 Für die Gestaltung der vorliegenden Studie waren insbesondere die Überlegungen der Innsbrucker Vignettenforschung als auch die Auseinandersetzung mit Texten von Andrea Sabisch wegweisend.
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• Studien zur Wahrnehmung und Aufmerksamkeit von Theater, Tanz und Me-
dien, sowie Untersuchungen zu einer pädagogischen Raumphänomenologie (Westphal & Jörissen 2013, Westphal 2015). Anliegen einer pädagogisch-phänomenologischen Forschungshaltung Schaut man rückblickend auf die zuvor skizzierte etwa hundertjährige Geschichte phänomenologischer Rezeption in der Pädagogik, lassen sich mehrere Hauptcharakteristika dieses Forschungszugangs festhalten. Für Lippitz (1996:436) geht es demnach um: • »die Rückgewinnung eines vielschichtigen, die sinnlich-leibliche Fundierung betonenden Begriffs des Lernens, der Erfahrung und des Denkens;
• die Rehabilitierung konkreter pädagogischer Handlungspraxis in ihren Möglichkeiten und Grenzen reflexiver Aufklärung;
• die kritisch-konstruktive Integration anthropologischer und human- und sozialwissenschaftlicher Forschungen in die Erziehungswissenschaft mit dem Ziel einer phänomenologisch subjektorientierten und lebensweltlich verankerten Theoriebildung;
• die systematische und konkrete Erforschung des kindlichen Welt- und Selbstbildes als Grundlage für eine kindorientierte Pädagogik und als Korrektur erwachsenenzentrierter pädagogischer Handlungs- und Forschungsperspektiven;
• die ideologiekritische Klärung des lebensweltlichen Zusammenhangs von normativen Fragen, pädagogischem Handeln und Forschen.«
Im nachfolgenden Kapitel wird Meyer-Drawes Lerntheorie – als eine der zentralen Theorieangebote zum Lernen aus bildungsphilosophischer Sicht – näher beleuchtet, um den Kern des Nachdenkens über das Lernen aus pädagogisch-phänomenologischer Sicht herauszuarbeiten. 3.2.2 Facetten einer phänomenologischen Lerntheorie »Lernen ist in pädagogischer Perspektive und in strengem Sinne eine Erfahrung.« Meyer-Drawe (2012a:15, Herv. i.O.)
Käte Meyer-Drawe arbeitet in einer Reihe von Aufsätzen (1982, 1986a, 1996, 1999, 2003, 2005, 2010) und in dem Werk Diskurse des Lernens (2012a) über mehrere Jahrzehnte an einer phänomenologischen Lerntheorie. Ihr Phänomenologieverständnis stützt sich dabei maßgeblich auf Edmund Husserl und Maurice
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Merleau-Ponty (Meyer-Drawe 1996:86). Dies wird insbesondere in der Bedeutung der lebensweltlichen leiblichen Verstrickung des Menschen mit der Welt deutlich, die Meyer-Drawe betont.30 Meyer-Drawe entwickelt ihre Gedanken ausgehend von Günther Bucks Werk Lernen und Erfahrung (1989) und ist von Friedrich Copeis Dissertation Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess (1930) beeinflusst. Sie legt keine programmatische Theorie vor, sondern beschreibt das Lernen in einer Vielzahl an Texten, die sie zum Thema vorlegt, in mehreren Anläufen und in unterschiedlichen Facetten. In Diskurse des Lernens gibt sie den umfassendsten Einblick in ihr Denken über das Lernen und liefert zugleich eine präzise diskurstheoretische Analyse der Ideengeschichte des Lernens und geht darüber hinaus der Frage nach, inwieweit die jeweils dominierende Idee vom Lernen mit der herrschenden Idee vom Menschen bzw. dem Mensch-Sein verknüpft ist. Ihre Kritik an der gegenwärtigen Dominanz pädagogisch-psychologischer Ansätze zum Lernen ist vielschichtig und fundamental. Die gegenwärtige Dominanz eines naturwissenschaftlichen Denkstils wird als historisch gewachsene Gegebenheit entfaltet, wobei »plausible Alternativen und unbeachtete Problemartikulationen auf der Strecke« bleiben (Meyer-Drawe 2012a:74). Ihre Lerntheorie liegt dabei nicht als geschlossenes System vor. Vielmehr spürt sie in mehreren Anläufen dem Phänomen des Lernens nach und beleuchtet es in unterschiedlichen Facetten. Dieses Vorgehen ist wenig verwunderlich, da es einer phänomenologischen Idee der Theoriebildung entspricht, sich aber in der Konsequenz als schwierig bezüglich einer Übersetzung in forschungsmethodische und didaktische Überlegungen darstellt.31 Diesbezüglich merkt Faulstich (2009:817) an, dass Meyer-Drawe letztlich keine Theorie des Lernens entfaltet, sondern eine »Grundlegung auf phänomenologischer Basis«, also eine Wesensbestimmung über sieben Einordnungen (bezugnehmend auf die sieben Kapitel des Buches) vorlegt. Auch Mitgutsch (2009:24) formuliert, dass »aus der Perspektive didaktischer und teleologischer Lerntheorien […] dem genealogischen Zugang ein gewisser Mangel an systematischen Theorieentwürfen vorgeworfen werden« kann. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass es vermutlich nie das Anliegen einer genalogisch-phänomenologischen Zugangsweise war bzw. ist, eine geschlossene Systematik des Lernens zu formulieren 30 Während Husserl erst in seinem Spätwerk die Bedeutung der Lebenswelt für die menschliche Erfahrung betonte, widmete sich Merleau-Ponty in seinen Studien zentral der sinnlichen Erfahrung und Wahrnehmung in der Lebenswelt. 31 Wobei ich darauf hinweisen möchte, dass der vorschnelle Versuch einer Übersetzung in ein methodisches Setting hier eben nicht erfolgen soll. Erst wenn das Lernen besser verstanden ist, lässt sich über Möglichkeiten der empirischen Thematisierung des Lernens sprechen.
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(ebd.). Dieser Gedanke ist meiner Ansicht nach zentral, denn wie gezeigt wurde, ist es der Sache – Lernen in seiner Prozessualität zu thematisieren – nach schlichtweg nicht möglich, Lernen exakt zu vermessen und eine abgeschlossene Theorie des Lernens vorzulegen. Ein phänomenologisches Theorieangebot ist in diesem Sinne die Annäherung an einen phänomenologischen Begriff des Lernens. Aus geographiedidaktischer Sicht ergibt sich vor dem Hintergrund der Zielstellungen der vorliegenden Arbeit aber die Notwendigkeit, Meyer-Drawes Gedanken32 in einem ersten Schritt auf eine Weise zusammenzutragen, die es mir ermöglicht, im darauffolgenden Schritt einen konzeptuellen Entwurf für die Kartenarbeit im Geographieunterricht zu entwerfen und ein methodisches Instrumentarium zu formulieren, welches das Forschen mit ästhetischen Erfahrungen erlaubt. Ich gehe aus diesem Grund wie folgt vor: In einem ersten Schritt stelle ich heraus, was eine phänomenologische Perspektive auf Lernen auszeichnet, in der Lernen als Umlernen thematisiert wird. Anknüpfend hieran werde ich drei zentrale Facetten eines phänomenologischen Lernverständnisses bestimmen, fokussieren und ausleuchten: Erstens die Ordnungen des Lernens, zweitens die Negativität und die Anfänge des Lernens und drittens die Bedeutsamkeit der Dinge und des Anderen für Lernen.33 Die enge Verbindung von Lernen und Erfahrung, die Ausgangspunkt des Nachdenkens über Lernen in phänomenologischer Perspektive ist, wird im Anschluss differenziert betrachtet. Um eine Antwort auf die Frage liefern zu können, wie Lernen als Vollzug phänomenologisch thematisiert wird, dienen mir die unterschiedlichen Facetten als Strukturmomente, über die ich das Theorieangebot entfalten kann. Das Ziel dieses Vorgehens liegt darin, eine phänomenologische Lerntheorie anschlussfähig darzustellen und deutlich werden zu lassen, dass sich Lernen nie an sich, sondern stets als etwas zeigt. Die hier entfalteten Gedanken werden für die Gestaltung der Unterrichtsumgebung zentral werden (vgl. Kapitel 4.2) und markieren ebenso 32 Dabei basieren meine Ausarbeitungen sowohl auf der Literaturarbeit als auch dem Besuch mehrerer Vorträge und persönlicher Korrespondenz mit Käte Meyer-Drawe. 33 Da sich die Architektur der hier thematisierten phänomenologischen Lerntheorie einer programmatischen Darstellung entzieht, werden die einzelnen Facetten aufeinander aufbauen, sich gegenseitig ergänzen und einander durchdringen. Darüber hinaus changiert das Theorieangebot zwischen Überlegungen zum Lernen und erkenntnistheoretischen Überlegungen. Auch in meiner Aufarbeitung wird dieses Wechselspiel ersichtlich werden. Es sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die vorliegende Arbeit keine Aufarbeitung der erkenntnistheoretischen Implikationen der Phänomenologie anstrebt. Dennoch werde ich an geeigneten Stellen Bezug zu den aufscheinenden Implikationen herstellen, um die Überlegungen zum Lernen in ihrer Tragweite zur Darstellung zu bringen.
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wichtige Bezugspunkte bei der Formulierung der empirischen Umsetzung im zweiten Teil der Arbeit (Kapitel 5 und 6). Lernen als Umlernen »Lernen als Prozess der Erfahrung mündet immer in die Umgestaltung, in die Modifikation des Erfahrungshorizonts, in einen Wandel, nicht in eine Substitution einer Erfahrung durch andere.« Meyer-Drawe (1996:90) »Lernen beginnt zu einem wesentlichen Teil, wenn eine gewohnte Erfahrungsweise in eine Aporie gerät.« Stieve (2008:282)
Lernen ist immer nur im Verhältnis zu einem gewissen Vorwissen zu denken. Damit beginnt Lernen nie an einem Nullpunkt, sondern setzt immer an bereits vorhandenem aber bislang unbewusstem Wissen an (Meyer-Drawe 1996:87). Diesem Gedanken folgend gibt es keine voraussetzungslosen Begegnungen mit den Dingen oder anderen Menschen. Wir tragen immer bereits bestimmtes Vorwissen in die Begegnung hinein, ohne dass uns dieses Vorwissen direkt zugänglich wäre. Hier ist von einem (Vor-)Wissen die Rede, welches nicht allein im Denken, sondern ebenso in Wahrnehmungen und im Handeln bedeutsam ist. Dieses Vorwissen »konstituiert sich durch Wahrnehmungserfahrungen und umsichtiges Handeln viel eher als durch objektives, ›abständiges‹ Denken, das sich von der Eingenommenheit durch die Situation distanziert hat« (Meyer-Drawe 1986a:34f.). Die Dinge sind uns »vor jeder Thematisierung als Gegenstände physikalischer Erkenntnis z. B. in umsichtigen Gebrauch erschlossen« (ebd.:35). Wissen ist damit in phänomenologischer Hinsicht nicht allein als reflexive geistige Leistung zu verstehen, sondern drückt sich auch im leiblichen Zur-Welt-Sein aus. Dieses immer schon Mitgewusste bezeichnet Meyer-Drawe (u. a. 1986a:39, 1996:90) als das unthematisch fungierende Vorverständnis. Hierunter versteht sie »jene präreflexive Dimension des Wissens und Könnens, die das Zur-Welt-Sein (auch des Erwachsenen) leitet und bestimmt« (Meyer-Drawe 1996:90). Neues Wissen kann dann entstehen, wenn bislang fungierende Ordnungen ins Wanken geraten und vormals selbstverständliches Wissen erschüttert wird (ebd.:96). In solchen aporetischen Momenten, in denen das bisher gültige Wissen
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seinen Dienst versagt und noch keine neue Umgangsweise mit bzw. in der Situation gefunden wurde, ist man gezwungen, sich zu den Ansprüchen in Beziehung zu setzen und einen Umgang mit ihnen zu finden. In der Aporie »wird das unthematisch fungierende Vorverständnis als Widerstand zwangsläufig thematisch und damit bewußt« (ebd.:90). Über das Bewusstwerden des unthematisch fungierenden Vorverständnisses wird Lernen möglich. Lernen meint dann ein Umlernen im Sinne einer Transformation bisher gültigen Wissens angesichts einer Situation, die uns dazu auffordert, uns zu dieser in Beziehung zu setzen und bislang gültige Vorverständnisse zu modifizieren und ggf. bestehende Denkweisen zu ändern. Anders gesagt: »Lernen wird […] verstanden als Umlernen vor dem Hintergrund der Enttäuschung unangemessener Antizipation, der Negation des maßgeblichen Erfahrungshorizontes in der aktuellen Erfahrung« (ebd.:89). Das Scheitern (an einer Aufgabe, an einem Problem, in einer bestimmten Situation) ist in dieser Hinsicht kein unliebsamer Zustand, den es z. B. über immer weiter perfektionierte Lernumgebungen zu verhindern gilt, sondern genau derjenige Zustand, der im Umlernen produktiv wird (Meyer-Drawe 2012a:106). Insofern ist festzuhalten, dass die »Produktivität des Lernprozesses […] in seiner Negativität« liegt (Meyer-Drawe 1986a:34, Herv. i. O.). In phänomenologischer Sicht ist Lernen damit kein linearer Prozess, kein bruchloses Anhäufen von neuem Wissen, sondern ein brüchiger Umlern- bzw. Transformationsprozess in dem thematisch gewordenes Vorwissen modifiziert wird. Lernen ist folglich kein Integrations- sondern ein Konfrontationsprozess zwischen »unausdrücklich leitendem Vorwissen und neuer Sicht, neuer Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeit« (ebd.).34 Konfrontationen ereignen sich prinzipiell in zwei Richtungen, sowohl in Begegnung mit dem Anderen als auch mit den eigenen Vorverständnissen. Aus diesem Grund wird in phänomenologischer Hinsicht betont, dass der Lernende nicht lediglich etwas über die Sache, sondern immer auch über sich selbst erfährt: »Wer umlernt, wird mit sich selbst konfrontiert; er kommt zur Besinnung. Nicht nur gewisse Vorstellungen wandeln sich, sondern der Lernende selbst wandelt sich« (Buck 1989:47). Spätestens hier wird deutlich, dass Umlernen bzw. auch Lernen als Erfahrung mehr meint, als
34 Meyer-Drawe (1986a:34) macht an dieser Stelle einen fundamentalen Unterschied zu methodologisch-kognitivistischen Zugängen zum Lernen deutlich, wenn sie betont, dass aus phänomenologischer Perspektive der Lernprozess kein Prozess ist, in welchem Wissensbestandteile in eine vorgegebene Matrix integriert werden, wobei sich entweder das Wissen oder die Matrix ändern. Denn »Lernen zeigt sich [vielmehr] als Prozeß der Erfahrung, der Strukturierung und Modifizierung von Erfahrungshorizonten, des geschichtlich-konkreten Zur-Welt-seins, für das die logische Ordnung der Dinge nur eine mögliche Perspektive unter anderen ist« (ebd.).
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i. d. R. unter Lernen verstanden wird. Denn solch ein Lernen »verändert die spezifische Weise des Zur-Welt-seins des Lernenden, wandelt sein Wahrnehmen, Denken und Handeln« (Meyer-Drawe 1986a:38). Jedes Lernen bedarf einer Irritation, in der das unthematische Vorverständnis thematisch wird und welche die Umstrukturierung eigener Erfahrungshorizonte notwendig macht.35 Solche Irritationen lassen sich nicht bewusst herbeiführen im Sinne eines Entschlusses, den man fassen könnte, vielmehr sind sie als Widerfahrnisse zu verstehen, die uns geschehen und uns zum Antworten auffordern (vgl. Kapitel 3.3).36 Der Schwellenzustand zwischen Nicht-Mehr (greifen eines bislang gültigen Vorverständnisses) und Noch-Nicht (zur Verfügung haben eines modifizierten Verständnisses eines bestimmten Sachverhalts) markiert den Anfang des Lernens. Indem in phänomenologischer Sichtweise Lernen in seiner Prozessualität fokussiert wird, »erscheint Lernen nicht als psychologisch überprüfbares Faktenund Methodenwissen (das wäre im engeren Sinne die Lernleistung), nicht behavioristisch als eine dauerhafte Verhaltensänderung (das wäre im engeren Sinne Gewohnheit) und auch nicht kognitionstheoretisch als Aufbau eines Gedächtnisses (das wäre im engeren Sinne das In-und-Auswendiggelernte), sondern als aktive Auseinandersetzung mit Widerständen und Aporien, die in der Erfahrung mit dem Anderen einhergehen« (Göhlich & Zirfas 2007:46). Neue Betrachtungs-, Erfahrungs- und Handlungsweisen in Bezug auf bestimmte Sachverhalte sind nicht durch einmalige Irritationserlebnisse zu etablieren: »Erfahrungsgemäß fallen wir immer wieder auf vertraute lebensweltliche Erklärungsmuster zurück. Selbst wenn wir professionell Wissenschaft betreiben, beherrscht diese Sicht nicht zwangsläufig unsere alltäglichen Erklärungen« (Meyer-Drawe 1996:91). Hierin klingt an, dass die Modifikation eines fungierenden Vorverständnisses nicht mit dem Ersetzen einer Erfahrung durch eine andere verwechselt werden darf. Mit Modifikation ist die Ausdifferenzierung des Erfahrungshorizonts gemeint, die sich in der Erweiterung der Möglichkeiten und Zugangsweisen – im 35 Neben dem Umlernen, in welchem bestehendes Vorwissen umstrukturiert wird (sich also neue Horizonte eröffnen), lässt sich das Dazulernen unterscheiden, bei welchem neue Erfahrungen innerhalb eines bereits etablierten Horizonts gemacht werden (vgl. Buck 1989, Meyer-Drawe 1996). 36 Zum besseren Verständnis möchte ich bereits an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Erfahrung in der Phänomenologie (und weiteren philosophischen Denkrichtungen, wie z. B. dem Pragmatismus) als zugleich aktives und passives Geschehen verstanden werden muss. In der Phänomenologie wird aber das passive, erleidende, widerfahrende Moment der Erfahrung stärker betont als in anderen Konzeptionen der Erfahrung. Ich werde darauf in Kapitel 3.2.3 zurückkommen und diesen Sachverhalt genauer ausführen.
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Zur-Welt-sein – ausdrückt. Bislang gültiges Vorwissen wird mit einem Index versehen und ist immer noch Bestandteil des sich immer weiter ausdifferenzierenden Erfahrungsfeldes. In diesem Sinne werden Erfahrungen weder durch neue ausgetauscht, noch neue Erfahrungen lediglich zu alten hinzuaddiert, wodurch in beiden Fällen altes Wissen obsolet würde. Vielmehr werden soweit gültige Erfahrungen durch enttäuschte Antizipation in ihrer Gültigkeit in Frage gestellt und im Umlernen durchgestrichen. Dieses durchgestrichene Wissen bleibt in Erinnerung und kann durchaus in anderen Kontexten erneut zum Tragen kommen, bspw. wenn man in alte Denkweisen ›zurückfällt‹. Lernen ist dann nicht als zunehmender Abstraktionsprozess, in dem sinnliche Erfahrungsweisen überkommen und durch wissenschaftliche Erkenntnisse korrigiert werden, zu verstehen, sondern vollzieht sich als Differenzierungsgeschehen, »in dem Wissensformen auseinandertreten und unter Umständen miteinander konkurrieren« (Meyer-Drawe 2012a:96). Lebensweltliche Erfahrungen und wissenschaftliches Wissen als verschieden gelagerte, miteinander in Bezug tretende, einander durchdringende und gleichzeitig verschiedene, gleichsam Gültigkeit besitzende Formen des Bezugs zur Welt werden in einer phänomenologischen Thematisierung des Lernens unterschieden und in ihrem Zusammenspiel thematisiert. Wenngleich jedes Lernen als erfahrungsbasiertes Differenzierungsgeschehen zwischen konkurrierenden Wissensbeständen verstanden werden kann, lassen sich Unterschiede hinsichtlich der Intensität der Lernerfahrungen ausmachen. So lassen sich zwei Ordnungen des Lernens bestimmen. Ordnungen des Lernens Lernen wurde soweit als Transformation und Modifikation des Erfahrungsfeldes im Sinne der prinzipiellen Erschließung neuer Möglichkeiten, kurz als Umlernen, thematisiert. Dabei differenziert Meyer-Drawe das Lernen noch graduell aus. Sie unterscheidet ein Lernen erster Ordnung von einem Lernen zweiter Ordnung: Während das Lernen erster Ordnung einen Verständnis- und Handlungshorizont allererst eröffnet, bezeichnet das Lernen zweiter Ordnung ein Lernen innerhalb eines bereits etablierten Horizontes (Meyer-Drawe 1996:60). Das Lernen erster Ordnung ist durch seinen Risikocharakter, seine Diskontinuität und Fragilität sowie durch seine Unstetigkeit ausgezeichnet. Demgegenüber vollziehen sich die Modifikationsprozesse im Lernen zweiter Ordnung (obschon sie auch durch Diskontinuität, Fragilität und Unstetigkeit gekennzeichnet sind) weniger radikal. Die Modifikation zielt hier eher auf die Erweiterung und Vertiefung von Erfahrungsmustern und Beurteilungskriterien ab. Die beschriebene Ausdifferenzierung bereits etablierter Erfahrungshorizonte geschieht sowohl durch Erfüllung aber auch aufgrund von Enttäuschung der Antizipationen (ebd.:91). Allerdings fehlt dem
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Lernen zweiter Ordnung der Risikocharakter des Lernens erster Ordnung: »Ein bereits vertrauter Verstehenshorizont wird erweitert und vertieft, die Erfahrungen werden nicht durchstrichen, sondern korrigiert, sie geraten im Erfahrungshorizont nur in Bewegung« (ebd.). D. h. also, dass beide Ordnungen die Aneignung von Neuem und Unbekanntem auszeichnet, die Radikalität der Veränderung – zum einen Horizonte eröffnend, zum anderen Horizonte ausdifferenzierend – sich aber unterscheidet. Es lässt sich festhalten, dass sich Lernen in beiden entfalteten Ordnungen als Umlernprozess vollzieht und folglich nicht als kumulativer bruchloser Prozess der Wissensanhäufung konzeptualisiert wird. Gleichzeitig scheint die Unterscheidung in ein Lernen erster Ordnung als Umlernen (im eigentlichen Sinne) und ein Lernen zweiter Ordnung als Weiter- bzw. Dazulernen (im Sinne eines erweiterten Umlernens) auch deshalb überzeugend, weil die existentielle Seite des Lernens nicht in allem Lernen gleichermaßen enthalten ist (vgl. Meyer-Drawe 1996).37 Zur besseren Übersicht sind die Charakteristika der beiden Ordnungen des Lernens in nachfolgender Tabelle aufgetragen (Tab. 3-2). Tabelle 3-2: Ordnungen des Lernens Lernen erster Ordnung
Lernen zweiter Ordnung
neue Verständnis-, Beurteilungs- und Handlungshorizonte eröffnend (Transformation)
bereits bestehende und vertraute Verständnis-, Beurteilungs- oder Handlungshorizonte erweiternd und ausdifferenzierend (Modifikation)
durch Diskontinuität, Fragilität und Unstetigkeit charakterisiert
durch Diskontinuität, Fragilität und Unstetigkeit charakterisiert
vollzieht sich als Prozess des Umlernens
vollzieht sich als Prozess des Weiterlernens oder Dazulernens (im Sinne eines erweiterten Umlernens)
risikoreich, da im Lernen auch der Lernende selbst zur Disposition gestellt wird Quelle: Eigene Darstellung
Da sich beide Ordnungen durch die Modifikation eines bestehenden Erfahrungshorizonts auszeichnen, ist Lernen untrennbar von einer grundsätzlichen Negativität durchzogen. Denn da sich Lernen als Umlernen vollzieht, werden bislang gültige Horizonte in gewisser Weise immer auch negiert. Deshalb ist es »unausweichlich, dass Negativität zum Lernprozess dazugehört« (Meyer-Drawe 2012a:96) – 37 Auf die existentielle Seite des Lernens komme ich im folgenden Kapitel zu sprechen.
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ein Umstand auf den bereits seit der antiken Philosophie hingewiesen wurde (in jüngerer Zeit u. a. Benner 2005, Mitgutsch 2009). Die Negativität und die Anfänge des Lernens »Das Anfangen des Lernens gründet in einer Störung eines unter anderen Umständen verlässlichen Vollzuges. Diese Störung ist ein Widerfahrnis und niemals Ergebnis eines Entschlusses. Ich kann zwar wollen, nicht gestört zu werden, aber nicht, gestört zu werden.« Meyer-Drawe (2005:32)
Wie soweit herausgearbeitet wurde, bezeichnet die Negativität der Erfahrung eine Erfahrung über die Erfahrung selbst: Ein bislang leitender Erfahrungshorizont wird in seiner Gültigkeit erschüttert, die bisher fungierenden Vorstellungen werden bewusst, ohne dabei aufgelöst zu werden (Meyer-Drawe 1996:89). Indem die produktive Negativität des Lernens aber auch immer bedeutet, dass bereits Bekanntes und sicher Geglaubtes in Frage gestellt wird, wird eine existentielle und leidvolle Dimension des Lernens sichtbar. Für Bollnow (1974:20) sind alle Erfahrungen, die man macht, stets schmerzhaft und unangenehm. In Abgrenzung hierzu sind erfreuliche Ereignisse für ihn keine Erfahrungen sondern Erlebnisse (ebd.:20f.). Kennzeichnend für Erfahrungen ist, dass etwas nicht so gegangen ist, wie man es erwartet hat; oder pointiert mit Gadamer: »Jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, durchkreuzt eine Erwartung« (Gadamer 1960/2010:362). Bollnow (1974:21) geht dabei in Anlehnung an Dewey von einer dualistisch gegliederten Struktur der Umwelt aus: »Das Innere einer vertrauten, durchgehend sinnerfüllten und in diesem Sinn verständlichen Welt, in der Wir leben, und ein Draußen – relativ zu dieser verstandenen Welt –, aus dem immer wieder das Neue, Störende und darum auch Schmerzhafte in die vertraute Welt einbricht, den gewohnten Ablauf unterbricht und die in ihm begründeten Erwartungen enttäuscht.«
Auch Buck geht – wie Bollnow – von einer Erfahrungsinstanz aus, die Erfahrungen macht und Welt gegenübersteht. Meyer-Drawe hingegen vertritt nicht den Standpunkt, dass einem Subjekt eine Welt bzw. Dinglichkeit gegenüber steht. Vielmehr sind Subjekt und Welt miteinander verstrickt. Die Dinge affizieren uns, fordern uns heraus, irritieren uns und verlangen uns ab, uns zu ihnen in Beziehung
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zu setzen, was entscheidende Konsequenzen für die Anfänge des Lernens nach sich zieht. Das Lernen obliegt nicht allein einem aktiven Subjekt, sondern widerfährt ihm – womit ein weiterer fundamentaler Unterschied zu den gängigen Thematisierungen des Lernens markiert ist. Die in phänomenologischer Hinsicht fokussierten Anfänge des Lernens werden in den zuvor entfalteten Ordnungen des Lernens in zweierlei Hinsicht deutlich: (1) Im Sinne des Lernens erster Ordnung ist es nicht möglich, dies (Lernen) be-
wusst herbeizuführen. Erfahrungen, die Verstehens- und Handlungshorizonte eröffnen, entziehen sich unserer Initiative, vielmehr sind wir dem, was in der Erfahrung auf uns zukommt, ausgeliefert. Wenn davon die Rede ist, dass man eine Erfahrung macht ist damit »gerade kein Herstellen, kein Erzeugen, überhaupt keine Tätigkeit, sondern ein Erleiden« gemeint (Bollnow 1974:20). Lernerfahrungen in diesem Sinne sind von Momenten des Unerwarteten, Plötzlichen, Störenden und Schmerzhaften gekennzeichnet. Ein solches Lernen entzieht sich jeglicher Planbarkeit, bricht vielmehr plötzlich über uns herein. Für Meyer-Drawe (2012a:154f.) ist der »Anfang des Lernens […] in diesem Sinne keine Initiative, sondern eine Antwort auf einen Anspruch«, welcher von den Dingen oder auch den Anderen ausgehen kann. In der Phänomenologie wird aktuell insbesondere die brüchige Struktur der Erfahrung thematisiert (vgl. Waldenfels 2002), die auch Meyer-Drawes Überlegungen zum Lernen zugrunde liegt.38 (2) Demgegenüber ist es im Sinne des Lernens zweiter Ordnung durchaus möglich, bewusst einen Anfang zu machen, bspw. »indem wir Bücher aufschlagen, im Internet suchen, Filme anschauen oder jemandem zuhören« (MeyerDrawe 2012a:146). Was dabei gelernt wird, ist nicht zwangsläufig das, was beabsichtigt wurde, aber auf jeden Fall etwas. Einen Anfang zu machen, etwas in Erfahrung zu bringen, ist in diesem Sinne – für das Lernen zweiter Ordnung – ein bewusster Willensakt (ebd.). Wenngleich sich auch das Lernen zweiter Ordnung als Umlernen vollzieht, tritt die existenzielle Seite des Lernens gegenüber dem Lernen erster Ordnung in den Hintergrund. In der Art und Weise, wie im Lernen bzw. in der Erfahrung »die Existenz eines grundsätzlichen nicht voraussehbaren Zufalls« gegeben ist (Bollnow 1974:25f.), artikuliert sich eine prinzipielle Dimension des Erfahrungsvollzugs, die nicht in der Hand eines aktiven gestaltenden Subjekts liegt. Vielmehr entspringt Sinn immer in Begegnung des Eigenen mit dem Fremden, indem Fremdes in den eigenen 38 Auf die Brüchigkeit der Erfahrung gehe ich in Kapitel 3.2.3 näher ein.
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Sinnhorizont einbricht und auf bislang leitendes Vorwissen verweist. In diesem Sinne ist jedes Lernen von etwas immer unweigerlich auch ein Lernen durch etwas oder jemanden. Die Bedeutsamkeit der Dinge und des Anderen für Lernen »Dem Ziel, die Welt durch Erfassen zu beherrschen, steht die Möglichkeit gegenüber, die Welt zu empfangen, sich von ihr mitreißen zu lassen.« Meyer-Drawe (2012a:117) »Der Andere, das Andere und das eigene Ich sind unabdingbar aufeinander verwiesen.« Stieve (2008:290)
In einer phänomenologischen Thematisierung des Lernens, wird – wie gezeigt wurde – die Bedeutsamkeit des Anderen für Lernprozesse unterstrichen. Dieses Andere lässt sich weiter unterscheiden in das Andere und den Anderen. Während in erster Perspektive auf eine gegenständliche Andersheit abgehoben wird (im Sinne von »der Sache«, »den Dingen« oder »der Welt«), wird in der zweiten Perspektive eine personale Andersheit (im Sinne eines Gegenübers im Erziehungsprozess; also dem Lehrenden bzw. dem Lernenden) fokussiert.39 An dieser Stelle ist der Gedanke wesentlich, dass in der Art und Weise, wie in der phänomenologischen Lerntheorie Andersheit zum Thema gemacht wird, das Verhältnis von Mensch und Welt nicht im Sinne eines dualistisch getrennten Subjekt-Objekt-Verhältnisses gedacht wird.40 Diesbezüglich hält Benner (1999:316) fest, dass sich
39 Benner (1999:316) kritisiert, dass beide oben entfalteten Betrachtungsweisen i. d. R. voneinander losgelöst betrachtet werden und die Beziehung beider Varianten von Andersheit nicht reflektiert wird. Er argumentiert, dass man diese zwar getrennt betrachten könne, »sie aber nicht isoliert voneinander zur Klärung praktischer, theoretischer und empirischer Fragen« herangezogen werden könnten (Benner 1999:325). Für den Fortgang meiner Arbeit ist die Aufarbeitung dieses Verhältnisses sowie der Varianten an sich aber nicht zielführend und wird daher ausgespart. Es sei exemplarisch auf Arbeiten von Buber, Levinas oder Heydorn verwiesen, welche sich mit einer oder der anderen Variante von Andersheit auseinandersetzen (ebd.:326). 40 Wenn ich im Folgenden von Andersheit, dem Anderen oder den Dingen spreche, sind die Wortverwendungen synonym zu verstehen, da Andersheit beide zuvor entfalteten
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Welt (in phänomenologischer Betrachtungsweise) der völligen Erschließung durch ein erkennendes und handelndes Subjekt entzieht, was ich weiter unten ausführen werde. Bezogen auf Lernprozesse begegnen sich Lernender, Lehrender und Lerngegenstand mit je eigenem Sinnhorizont, treten in Beziehung, verweisen aufeinander und Neues tritt an den Bruchstellen der Erfahrung hervor, welche durch Horizontüberschreitungen markiert sind (im Sinne eines Umlernens). Jedes Lernen ist in solch ein Gefüge verstrickt. In der Art und Weise wie das Mensch-Welt-Verhältnis hier thematisiert wird und wie es Meyer-Drawes Überlegungen zugrunde liegt, wird ersichtlich, inwieweit hier andere subjekt- und erkenntnistheoretische Wege als in einem konstruktivistischen Paradigma eingeschlagen werden.41 In diesem Sinne kommt dem Anderen im Lernprozess fundamentale Bedeutung zu, da es, wie gezeigt wurde, der Horizontübersteigung durch »Anderes« bedarf, um das Vorwissen umzustrukturieren, kurz: um zu lernen. Dabei wird die Relevanz des Anderen bzw. der Dinge in phänomenologischer Tradition, anders als bspw. im Konstruktivismus, deutlich betont. Für MeyerDrawe vernachlässigen die »modernen Bildungstheorien« die »Herausforderungen durch die Dinge« (Meyer-Drawe 1999:329). Für sie kann »das Andere im Bildungsprozeß nur in den Blick kommen, wenn die Gegenüberstellung von Mensch und Welt unterlaufen und ihre Verwicklung für die Theorie zurückgewonnen wird« (ebd:332). In diesem Zusammenhang machte bereits Buck (1989:13) darauf aufmerksam, dass es »die Dinge selber sind [...], die sich uns kundtun und uns über sie belehren«. Meyer-Drawe (2012a:97) verdeutlicht diesen Aspekt der Verstrickung von Mensch und Welt, wenn sie über die Doppeldeutigkeit unserer Existenz schreibt: »Auf der einen Seite gehören wir der Welt als leibliche Wesen an, sind also auf gewisse Weise in sie eingeweiht. Auf der anderen Seite bietet sie mit ihrer Undurchdringlichkeit unserem Sehen, Denken und Handeln Widerstand.« Die Dinge bilden damit kein Gegenüber zum Menschen, sie sind »Mitwelt« (Stieve 2008:285) und werden unmittelbar erlebt. In phänomenologischer Perspektive wird also der Aufforderungscharakter der Dinge unterstrichen, womit die Beteiligung der Welt an der Sinngebung (im Gegensatz zu einer Varianten umfasst. In Abgrenzung hierzu verstehe ich das Außerordentliche als denjenigen Sinnüberschuss, den das Andere grundsätzlich bereithalten kann und der mich affiziert. 41 Beispielhaft sei hier auf Arbeiten von Künkler (2008, 2011) verwiesen, der sich detailliert mit den verschiedenen Subjektkonzeptionen auseinandergesetzt hat, die den jeweiligen Perspektiven auf bzw. Theorien vom Lernen zugrunde liegen. Für die vorliegende Untersuchung ist diese grundlagentheoretische Aufarbeitung aber nicht in Gänze von Belang und wird daher nicht weiter verfolgt.
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Welt, die lediglich Objekt der Erkenntnis eines denkenden Subjekts ist) gemeint ist (vgl. Meyer-Drawe 2012a:132f.). In dieser Logik ist eine Wende markiert: Nicht das Kind konstituiert sich abgeschirmt eine Welt, sondern es ist vielmehr den Ansprüchen ausgesetzt und angewiesen auf das, was sich anbietet und herausfordert (Stieve 2008:287). Stieve (ebd.) führt diesen Gedanken weiter aus: »So erweist sich Lernen als Beziehungsprozess, in dem die Dinge wesentlich zur eigenen Selbstdeutung beitragen. Das Andere der Dinge ist immer mehr, als kindliche Projektionen hineinlegen. Es bleibt ein unverstandener Rest, eine Unruhe, die keiner Nachricht des eigenen Leibes entspricht. Der Appell der Dinge verdeutlicht also, dass das Kind schon eine Welt hat, bevor es sich, wie Laewen schreibt, ein Bild von der Welt macht […]. Zugleich begegnet dem Kind in den Dingen mehr als eine erzieherische Absicht oder ein durch die Herstellung mit ihnen verbundener Zweck. Auch die eigene Projektion trifft auf die Widersetzlichkeit der Dinge. So offenbaren sich gleichermaßen ein Vorwissen und ein Überschuss an Erfahrungsmöglichkeiten, die in der sinnlich-leiblich bestimmten Lebenswelt des Kindes fundiert sind und sich als wesentliche Momente kindlichen Lernens darstellen.«
Diese Fokusverschiebung darf jedoch nicht lediglich als oppositäre Position missverstanden werden, indem das selbstbestimmte Subjekt des Konstruktivismus in der Phänomenologie hinter determinierende Reize der Dingwelt zurückgestellt wird. Vielmehr wird in phänomenologischer Hinsicht der Subjekt-Objekt-Dualismus zugunsten der Besinnung auf das Geschehen zwischen Mensch und Ding bzw. zwischen Mensch und Welt, unterlaufen. Damit ist gemeint, dass das Andere oder auch die Dinge im Lernprozess stets mehr als zu erkennende Objekte sind. So können uns z. B. die Dinge unseres Alltags Trost spenden, uns beruhigen oder auch erregen, sie können Erinnerungen auslösen, uns dazu reizen uns zu bewegen oder Verschiedenes auszuprobieren. Der Aufforderungscharakter des Anderen zeichnet sich dadurch aus, dass dieses keine determinierte Reaktion provoziert, sondern uns über vielfältige Apelle Möglichkeiten anbietet, die wir ergreifen aber auch ausschlagen können (vgl. Stieve 2008:138). Leichter verständlich werden die soweit entfalteten Gedanken, wenn man die Welterschließung nicht lediglich als Denkoperation begreift, sondern dem präreflexiven Zur-Welt-Sein Aufmerksamkeit schenkt. Präreflexiv meint hier ein sehendes, fühlendes, riechendes, schmeckendes und hörendes – kurz: wahrnehmendes – Zur-Welt-Sein. Die Verwicklung mit den Dingen wird hierin evident, denn das Hören bspw. geschieht uns, wir sind ihm in gewisser Weise ausgesetzt.42 Welt 42 Gleichwohl ist es selbstverständlich möglich, etwas Hören zu wollen bzw. jemandem zuzuhören, aber damit ist noch nicht bestimmt, was gehört wird, lediglich, dass etwas gehört wird, sofern ein Geräusch zugegen ist, das gehört werden kann.
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vom Hören ausgehend gedacht ist kontingent und kann sich unserer bemächtigen (Meyer-Drawe 1999:334). In solchen Situationen wird ersichtlich, dass das Verhältnis von Mensch und Welt nicht rein kognitiv-konstruierend ist, sondern sich Welt in gewisser Weise auch immer unserer Initiative verweigert. So ist es etwas anderes, sich ein Vogelgezwitscher vorzustellen, oder es tatsächlich zu hören. Auch ist es nicht willentlich herbeizuführen, einen Vogel zwitschern zu hören, wir bleiben immer darauf angewiesen, dass Vögel zwitschern und wir in diesem Moment zugegen sind. Auf den Punkt gebracht wird in phänomenologischer Perspektive von einer evozierenden Welt ausgegangen, die nicht ausschließlich über das denkende und handelnde Subjekt hervorgebracht wird. In Bezug auf das Lernen wird hierüber der Stellenwert des Anderen in zweierlei Hinsicht deutlich: (1) Es ist die, über die Grenzen der pädagogischen Intentionen und didaktischen
Inszenierungen hinaus, den Dingen inhärente Vieldeutigkeit, die uns dazu auffordern kann, unsere Vorstellungen, unsere Annahmen und damit auch immer uns selbst zu thematisieren. (2) Es ist nicht direkt möglich, die Begegnung mit dem Anderen bewusst herbeizuführen, man kann sich aber offen halten für das Außerordentliche, dass in jeder Beziehung zwischen Mensch und Welt zugegen ist. In Bezug auf das institutionelle Lehren und Lernen kommt damit dem Lehrenden auch die Aufgabe zu, den Lernenden den Weg zurück in gewohnte Denkmuster zu versperren, indem das »Aufmerken aus dem Schlummer des Gewohnten« (Meyer-Drawe 2012a:193) in Auseinandersetzung mit den Dingen als Anfang des Lernens ernstgenommen wird. Für Stieve (2008:293) wird dies dann möglich, wenn das »was der Erziehende an das Kind heranträgt, z. B. in Form einer wissenschaftlich bestimmten Erklärung, […] sich mit den Fragen verbindet, die die Dinge und Ereignisse an das Kind herantragen« und sich diese Erklärungen als sinnvoll erweisen, um die eigenen Fragen zu klären. Diese Einsicht wird bei der Formulierung der Unterrichtsumgebung für den empirischen Teil der Arbeit erneut Bedeutung erlangen (vgl. Kapitel 4.2.2). Es ist soweit deutlich geworden, dass das Andere in phänomenologischer Perspektive von fundamentaler Bedeutung für Lernen ist. Erfahrungen zu machen, setzt die Begegnung mit dem Außerordentlichen in der Welt voraus, das uns aufmerken lässt, etablierte Vorerwartungen in ihrer Gültigkeit in Frage zu stellen vermag und hierin Lern- und Bildungsprozesse einen Anfang finden können. Die enge Verflochtenheit zwischen erfahren und lernen bzw. zwischen Erfahrung und Lernen wird erneut ersichtlich. Mit dem Verhältnis beider Begriffe setze ich mich im nachfolgenden Kapitel auseinander.
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Lernen und Erfahrung »Von nun an ist die Frage nach dem Wesen des Lernens immer zugleich eine Frage nach der Geschehensstruktur der Erfahrung.« Buck (1989:3) »Vieles Wissen gibt noch lange keine Erfahrung.« Bollnow (1974:24)
Wie deutlich wurde, sind das Lernen und die Erfahrung eng miteinander verflochten. Für Buck (1989:11) ist Erfahrung »dasjenige, von woher überhaupt etwas lernbar ist, als die Voraussetzung allen Lernens«. Damit ist gemeint, dass die Erfahrung der Grund jeden Lernens ist: Nur aufgrund der bisherigen Erfahrung ist es möglich, Neues, bisher Unbekanntes (z. B. einen analogen Fall oder eine andere Erfahrung) zu verstehen. Hierin drückt sich aus, dass wir nur auf dem Grund unserer bisherigen Erfahrungen für neue Erfahrungen überhaupt empfänglich sind und Neues überhaupt nur auf diesem Grund als solches sich uns aufdrängen kann. Lernen und Erfahrung sind nicht nur lose miteinander verbunden, sondern untrennbar miteinander verknüpft: »Das Lernen gehört notwendig zur Erfahrung und […] ist eine immanente Konsequenz der Erfahrung« (Buck 1989:15). Umgekehrt bedeutet dies auch, dass eine Erfahrung nur dann wirklich Erfahrung ist, wenn wir durch sie etwas gelernt haben (ebd.). Oder anders gesagt: Man hat eine Erfahrung erst dann ›gemacht‹, wenn man aus ihr lernt. Da Erfahrungen immer nur auf dem Grund bereits gemachter Erfahrungen gemacht werden können, ist nicht nur das Lernen eine notwendige Folge der Erfahrung, sondern umgekehrt auch die Erfahrung eine notwendige Folge des Lernens: »Welche Erfahrungen ich künftig zu machen fähig bin, das hängt davon ab, ob und wie ich aus der vorhergegangenen Erfahrung gelernt habe« (ebd.:16). Gleichzeitig kann ein bestimmtes Wissen bzw. die Berufung auf bereits gemachte Erfahrungen, neue Erfahrungen verunmöglichen, indem Dinge vorschnell als bereits bekannt abgetan werden und sich Neuem gegenüber verschlossen wird (Bollnow 1974:22, Rumpf 2002:20f.). Lernen und Erfahrung sind folglich nicht voneinander zu trennen. Die Bedeutung der Erfahrung im Rahmen der Lernforschung wurde insbesondere von phänomenologischen Ansätzen unterstrichen, in denen Lernen als Umstrukturierung von Erfahrung verstanden wird (Meyer-Drawe 2012a:96). Lernen als Erfahrung meint also, Lernen als notwendige Konsequenz von Erfahrung zu verstehen, indem sich im Lernen Erfahrungsfelder ausdifferenzieren. In phänomenologischer Perspektive
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lernt man demnach nicht aus Erfahrungen, die man macht, und die einen nicht unverändert lassen, sondern es vollzieht sich das Lernen selbst als Erfahrung. Die Gangstruktur des Lernens gleicht der Gangstruktur der Erfahrung. Auch Erfahrung ist – wie Lernen – nur als Vollzug zu denken: Der Erfahrende wird von der Welt in Anspruch genommen und es wird ihm in der Erfahrung eine Antwort auf diesen Anspruch abverlangt. Dabei entzieht sich der Moment der Sinnbildung unseres Zugriffs und auch der Anspruch des Außerordentlichen wird erst im Nachhinein als solcher in Ansätzen greif- und bestimmbar. Führt man die soweit entfalteten Facetten des Phänomens des Lernens und die anschließende Betrachtung des Verhältnisses von Lernen und Erfahrung pointiert zusammen, lässt sich in genealogischer Sicht festhalten: Lernen ist immer Lernen von etwas durch jemanden bzw. etwas und vollzieht sich als Erfahrung. Mit Blick auf den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit – der Formulierung von Möglichkeiten mit ästhetischen Lernerfahrungen im Geographieunterricht zu forschen – ist es, nach der Aufarbeitung der Bedeutsamkeit von Erfahrung für Lernen in phänomenologischer Sicht, lohnend, sich dem Vollzug der Erfahrung zu widmen. Denn wie sich mit Bollnow zeigen ließ, gleichen sich die Gangstrukturen von Lernen und Erfahrung. Die Thematisierung von Erfahrung hat innerhalb der Pädagogik eine lange Tradition (vgl. Bollnow 1986). Innerhalb der phänomenologischen Diskussion hat insbesondere Waldenfels die fragile Struktur der Erfahrung betont und näher zu bestimmen versucht (vgl. vor allem Waldenfels 2002). Mit seinem Erfahrungskonzept lässt sich sowohl die Struktur von Lernerfahrungen fokussieren als auch die Momente des Außerordentlichen (welches in unseren Erfahrungshorizont einbricht) und des Antwortens auf diese Fremdansprüche, welche in Meyer-Drawes Theorie bedeutsam sind, näher beschreiben. 3.2.3 Die paradoxale Struktur der Erfahrung Wie gezeigt wurde, sollte streng genommen nur dort von Erfahrung gesprochen werden, wo Neues, Unerwartetes und Überraschendes zu Bewusstsein gelangt. Dabei kommt für Meyer-Drawe (2012a:189) nicht das Bewusstsein allein für den Sinn auf: »Es antwortet auf einen ihm fremden Anspruch, durch den es wie durch eine Ohrfeige getroffen werden kann. Bewusstsein ist nicht alles. Erfahrung meint damit die Öffnung zu einer Welt, die sich mitunter aufdrängt und fungierenden Erwartungen in die Quere kommen kann«. Auch Buck (1989:13) spricht davon,
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dass es »die Dinge selber sind […], die sich uns kundtun und uns über sie belehren«. Gleichwohl geschieht diese Belehrung nie voraussetzungslos, denn unser Inder-Welt-sein drückt sich maßgeblich über unthematisches Wissen aus. Es braucht folglich jemanden, dem sich die Dinge kundtun können, und der sich zu diesen Apellen in Bezug setzt. »Der Mensch ist in der Erfahrung wesentlich reaktiv, und erst in der Reaktion produktiv« (Bollnow 1974:22). Es lässt sich also festhalten, dass Erfahrung sowohl ein passives Moment (des Erleidens) und ein aktives Moment (des nachträglichen Einordnens und In-BezugSetzens) umspannt. Dabei unterstreicht Hentig das Ineinandergreifen beider Momente: »In allen Bedeutungen von Erfahrung steckt […] beides: eine notwendige Aktivität des Erfahrenden gegenüber den jeweiligen Phänomenen und eine unvermeidliche Passivität, in dem er es nicht in der Hand hat, was ihm wie heftig wie lange zusetzt« (Hentig 1973:21f.). Demgegenüber betont Meyer-Drawe (2010:8) in phänomenologischer Tradition den Widerfahrnischarakter noch deutlicher: »Das Bewusstsein kommt für den Sinn nicht allein auf. Es antwortet auf einen ihm fremden Anspruch, durch den es wie durch eine Ohrfeige getroffen werden kann«. Auf diese Weise wird aber nicht lediglich das Verhältnis aktiv-passiv dahingehend verschoben, dass dem passiven Moment mehr Bedeutung beigemessen wird. Vielmehr wird in der phänomenologischen Diskussion um den Erfahrungsbegriff der aktiv-passiv Dualismus unterlaufen, indem das Verhältnis zwischen Widerfahrnis und Antwort als responsives In-der-Welt-Sein konzeptualisiert wird und Erfahrung als brüchiger Vollzug bestimmt wird (vgl. Waldenfels 2002), wie bereits zuvor in der Entfaltung der phänomenologischen Lerntheorie Meyer-Drawes angeklungen ist. Künkler (2011:340) fasst diesen Gedanken präzise: »Der Begriff der Responsitvität wurde vom Leibphänomenologen Bernhard Waldenfels konzipiert, um menschliches Handeln zu beschreiben, das sich nicht in der Dualität von Aktivität und Passivität verorten lässt. Dazu räumt er der in jeder Handlungssituation existierenden Situation, dem Kontext des Handelns, eine Art Mitspracherecht ein, diese gerät ›zu einem nicht vollständig kontrollierbaren und gleichwohl in das Handeln hineinspielenden Wirkzentrum‹ (Straub 2006: 64). Durch dieses ›Wirkzentrum‹ wird das Handeln des Subjekts jedoch nicht vollständig determiniert, vielmehr eröffnet die Vielfalt der Bezüge und Zusammenhänge, die in einer Handlungssituation zusammenlaufen, einen Spielraum, in dem das Subjekt auf die Situation antworten kann. Mit Responsivität ist dieses Antwortvermögen im Gegensatz zum einseitig die Aktivität des Subjekts betonenden und auf Intentionalität beruhenden Handlungsvermögen markiert, das zugleich auf das Ineinander von Aktivität und Passivität, von Selbstbezogenheit und Fremdbezogenheit und damit auf ›eine Sphäre des Zwischen, die sich aus dem Wechselspiel von Anspruch und Antwort aufbaut‹ (Waldenfels 1987: 81), verweist.«
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Waldenfels entwirft die Struktur der Erfahrung über zwei Pole – dem Widerfahrnis (Pathos) und der Antwort (Response) – die in einem Wechselverhältnis zueinander stehen und durch eine Bruchlinie (Diastase) voneinander getrennt und gleichsam miteinander verbunden sind. Für Waldenfels markiert der Bruch nicht lediglich ein räumliches, sondern ein temporales Auseinanderstehen von Widerfahrnis und Antwort. Mit diesem Auseinanderstehen der Pole zeigt Waldenfels an, dass eine Erfahrung stets aus einem Moment des Zustoßens und Zufallens besteht, welches von einem Moment des als etwas Auffassens, Verstehens oder Abwehrens unterschieden werden muss. Dabei darf die Störerfahrung nicht »mit der nachträglichen Deutung als Störung und entsprechenden Abwehrmaßnahmen, mit denen wir unsere Fassung zurückgewinnen« verwechselt werden (Waldenfels 2002:33). Allerdings lässt sich erst dann von einer vollständigen Erfahrung sprechen, wenn ein Widerfahrnis über eine Antwort eingeordnet wird. Sabisch (2009:8) verdeutlicht dies an einem einfachen Beispiel, in welchem eine schwache Variante der Erfahrung beschrieben wird: »In dem Moment, wenn ein schriller Ton mich beim Lesen stört und mich zusammenfahren lässt, habe ich ihn noch nicht als Handyklingeln gedeutet. Für einen kurzen Moment, im Widerfahrnis, zucke ich zusammen. Aber sobald ich das Klingen als Handyklingeln deute, es also be-deute im Sinne von zuordne und in meinen Sinnhorizont einordne, antworte ich bereits. Erst danach erfolgt das Abschalten als Konsequenz dieser Auslegung. Zwischen dem Zusammenzucken in der Schrecksekunde und der Einordnung, zwischen Widerfahrnis und Antwort, noch bevor wir etwas be-deuten (d. h. etwas als etwas identifizieren), klafft eine Lücke, die sich uns entzieht: ein Bruch.«
Waldenfels unterscheidet eine starke und eine schwache Variante der Erfahrung. Als schwache Variante der Erfahrung bezeichnet er solche Erfahrungen, die sich entlang gewohnter Bahnen vollziehen und die Vorerwartungen, Wahrnehmungsbzw. Deutungsmuster bestätigen bzw. verfestigen. Die schwache Variante lässt sich nach Waldenfels (2002:31) als Habitualisierung oder Normalisierung verstehen. Demgegenüber besagt die starke Variante der Erfahrung, »daß wir Erfahrungen machen und Durchmachen, die uns und unsere Welt verändern« (Waldenfels 2002:30). Starke Konzeptionen der Erfahrung messen dem Zufall, dem Plötzlichen und Unvorhersehbaren große Bedeutsamkeit zu. Beide Varianten bewegen sich zwischen den Polen Gewöhnung und Überraschung (ebd.). Nach Waldenfels (2002:30f., Herv. i. O.) kann »die Polarisierung […] bis ins Extrem führen, so daß wir auf der einen Seite mit Klischees und Stereotypien, auf der anderen Seite mit Störungen, Verwirrungen und Erfahrungsschocks konfrontiert werden.« In weiterer Folge soll der Erfahrungsbegriff, der Meyer-Drawes Lerntheorie zugrunde
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liegt und mit Waldenfels als starke Variante der Erfahrung verstanden werden kann, genauer bestimmt werden. Damit wird das Ziel verfolgt, die bereits entfalteten Struktureigentümlichkeiten von (Lern-)Erfahrungen weiter auszudifferenzieren, um diese bei der Entwicklung der empirischen Umsetzung im zweiten Teil der Arbeit erneut Bedeutung erlangen zu lassen. Hierfür werde ich die paradoxale Struktur der Erfahrung in drei Schritten (Pathos – Diastase – Response) entfalten. Pathos | Die Unplanbarkeit der Erfahrung Als Pathos oder auch Widerfahrnis bezeichnet Waldenfels etwas, »das uns ohne unser eigenes Zutun zustößt oder entgegenkommt« (Waldenfels 2002:15). Neben dem Moment der Passivität was im Zitat anklingt, spielt für Waldenfels die »Bedeutung von ›Pathos‹ ins Widrige hinüber, sofern etwas nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten, sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und überdies in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind« (ebd.). Als einfachsten Fall von Widerfahrnissen versteht er Störungen, die unsere Intentionen durchkreuzen (ebd.:33). Aber auch inmitten des Erfahrens können Störungen auftreten, bspw. die plötzliche Blendung durch die Sonne nach einer Kurve beim Radfahren im Schatten (vgl. Sabisch 2007:34). Widerfahrnisse können uns derart einnehmen, dass sie uns im Extremfall lähmen. Dies liegt aber nicht daran, dass sie bereits als etwas gedeutet wurden, da das Pathos an sich ohne Bedeutung ist. Vielmehr entzieht sich dieses etwas, was noch nicht als etwas erscheint, dem uns geläufigen und unseren Bedeutungsrahmen »bis zu dem Punkt, wo für uns eine Welt zusammenbricht« (ebd.). Waldenfels wählt in Anlehnung an Levinas den Begriff des Getroffenseins, um das Verhältnis von etwas und als etwas genauer auszuloten. Im Getroffensein drückt sich eine eigentümliche Passivität aus, die nicht lediglich als Gegenpol zur Aktivität verstanden werden kann (ebd.:58): »Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage« (ebd.:59). Damit muss das Antworten vom Getroffensein her gedacht werden – »in der Nachträglichkeit eines Tuns das nicht bei sich selbst, sondern beim anderen beginnt, als eine Wirkung, die ihre Ursache übernimmt« (ebd.). Widerfahrnisse können also immer erst im Nachhinein berücksichtigt werden, da sie, bevor sie als etwas eingeordnet wurden, unsere Möglichkeiten übersteigen. Als Versuch, den pathischen Überschuss zu fassen, formuliert Waldenfels folgende Unterscheidungen: »Etwas, das als etwas intendiert oder in etwas erstrebt wird, ist darüber hinaus etwas, wovon wir getroffen sind und worauf wir antworten, indem wir es auf diese oder jene Weise meinen und erstreben.« (ebd.:60). Dabei bezeichnet Waldenfels den Umschlagpunkt von dem, worauf wir antworten, und dem, was wir zur Antwort geben, als »responsive Differenz« (ebd.).
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Diastase | Die Unsichtbarkeit der Erfahrung Indem Widerfahrnisse unsere Möglichkeiten überschreiten, sind an den Bruchstellen, Rissen und Bruchlinien der Erfahrung diejenigen Momente angedeutet, in denen Neues entstehen kann. Dabei entstehen neue Differenzierungen bereits bestehender Erfahrungsmuster in der neuen Erfahrung. Waldenfels (2002:174) konzeptualisiert diese Bruchlinien als Zwischen: »Zwischen mir und dem Anderen, zwischen uns und den Anderen, zwischen Eigenem und Fremdem geschieht etwas, was weder auf die Initiative und das Vermögen einzelner Individuen oder Gruppen noch auf eine vermittelnde Ordnungsinstanz, noch auf codierte Regelungen zurückgeführt werden kann. Es geschieht etwas zwischen uns, was uns aufschreckt, anrührt, angeht, anspricht, was trennend verbindet und verbindend trennt.«
Er bezeichnet dieses Zwischengeschehen als Diastase (gr. Auseinanderstehen, Auseinandertreten). Die Figur der Diastase bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in welchem das, was unterschieden wird, erst entsteht (ebd.). Dabei handelt es sich nicht lediglich um einen Akt der Unterscheidung, der das eine von dem anderen unterscheidet, sondern »um einen Prozess der Scheidung, der dem Abschied, der Abgeschiedenheit und dem Verscheiden verwandt ist« (ebd.:175). Er unterscheidet mehrere Differenzen zur Markierung der Bruchstellen der Erfahrung.43 Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist insbesondere die responsive Differenz von Bedeutung, also diejenige Bruchlinie in der Erfahrung, in welcher auf ein Widerfahrnis geantwortet wird und dieses über die Antwort bedeutet wird. In der responsiven Differenz wird deutlich, dass die Diastase mit Waldenfels als zeitliche Verschiebung gedacht werden muss. Denn das, »was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten« (ebd.:56); jede Bezugnahme auf Widerfahrnisse geschieht damit aus einem zeitlichen Abstand heraus. Der Zusammenhang zwischen Widerfahrnis und Antwort darf jedoch nicht als Kausalzusammenhang fehlinterpretiert werden, vielmehr ist der Zusammenhang von Pathos und Response gebrochen: »Das Wovon des Getroffenseins ist nicht etwas, das mit dem Worauf des Antwortens zu identifizieren wäre, so wie der Erleidende nicht schlicht der oder dieselbe ist wie der Antwortende« (ebd.:178).
43 Waldenfels unterscheidet die signifikative, die repräsentative, die appetitive und die responsive Differenz. Diese verweisen auf »den Ort, wo etwas als etwas auftritt [=signifikative Differenz, F.P.], etwas für anderes steht [=repräsentative Differenz, F.P.], etwas in anderem erstrebt [=appetitive Differenz, F.P.] oder auf etwas geantwortet [=responsive Differenz, F.P.] wird« (Waldenfels 2002:175, Herv. i. O.).
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Es zeigt sich, dass man das Widerfahrnis als solches nie bestimmen kann, da wir immer nur rückwirkend bzw. im Nachhinein auf dieses zu sprechen kommen können und es damit dessen pathischen Gehalts berauben. Anders gesagt: Das Wovon (wir getroffen werden) ist nicht zu verwechseln mit dem Worauf (wir antworten). In der Antwort schimmert das Pathische des Widerfahrnisses lediglich auf, ohne jemals gänzlich zu fassen zu sein. Response | Die Artikulationsweisen der Erfahrung Mit dem Begriff der Antwort beschreibt Waldenfels den Akt der Bezugnahme auf Fremdansprüche und wie sich Erfahrung in diesem Akt artikuliert oder auch sichtbar wird. Im Antworten erlangen wir unsere Fassung zurück, ordnen das Außerordentliche in unseren Verstehenshorizont ein (im Sinne von es bedeuten, nicht im Sinne von es assimilieren). Antworten in diesem Sinne meint mehr als eine Antwort zu geben im alltäglichen Sprachgebrauch bedeutet. Jedes Antworten ist ein In-Bezug-Setzen zu etwas, das anzieht, erregt oder anrührt. Anders gesagt: Jede Antwort ist nur in Bezug zu einem vorausgegangenen Pathos zu denken. »Der Antwortende tritt primär auf als der, dem etwas widerfährt und widerfahren ist« (Waldenfels 2002:59). Bezeichnend für Waldenfels Konzept der Erfahrung ist dabei, dass er die Art und Weise, wie sich Erfahrung artikuliert, wie sie sichtbar wird bzw. zur Darstellung gelangt, offen lässt. Damit ist eine deutliche Trennlinie zur hermeneutischen Auslegung von Erfahrung markiert, in welcher Erfahrung als zur Sprache gebrachte Erfahrung interpretiert wird (Sabisch 2007:13). In phänomenologischer Auslegung hingegen sind neben sprachlichen, situativ leibliche, aber auch aktionale oder visuelle Weisen des Antwortens grundsätzlich denkbar (vgl. Meyer-Drawe 2003:511ff, Sabisch 2007:47, Sabisch 2009:12f.).44 Der Begriff des Antwortens umspannt also kognitive Bedeutungsprozesse als Antwort auf Fremdansprüche ebenso, wie körperlich-leibliche Äußerungen, Verbalisierungen (z. B. das Fragenstellen) oder auch gerichtete Handlungen als reflexive Momente des In-Bezug-Setzens. 3.2.4 Zwischenfazit: Strukturmomente von Lernerfahrungen Indem also Lernen als Erfahrung verstanden wurde, wird verständlich, inwieweit sich Lernen nie an sich zeigt. Denn der Moment in dem Sinn entsteht − im Sinne 44 Diese Einsicht hat Sabisch dazu genutzt, das Grafieren als kunstpädagogische Methode zu etablieren, welche ihr dabei half, der Frage nachzugehen, inwieweit Aufzeichnungen ästhetische Erfahrungen reflektieren (vgl. Sabisch 2007:94). Ihre Einsicht, dass Brüche zwischen den Darstellungsmodi in Aufzeichnungen auf Lernerfahrungen verweisen können, wird in meinem Untersuchungsdesign Bedeutung erlangen (vgl. Kapitel 6.2.1).
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des Nicht-Mehr und Noch-Nicht − lässt sich mit Waldenfels als unsichtbares diastatisches Zwischen verstehen. Lernen zeigt sich stets als etwas, genauer: Es zeigt sich in der Antwort auf ein Widerfahrnis. Im Kopfschütteln, Staunen, sich ein Buch greifen usw. werden Lernanfänge im Nachhinein sichtbar und nur diffus schimmert das Pathische, also das, worauf geantwortet wurde, durch die Antwort hindurch, bspw. indem das Staunen als Antwortgeschehen auf eine vorausgegangene Irritation interpretiert wird, welche wiederum auf die Überschreitung meines Erfahrungshorizonts hinweist. Beide ineinandergreifenden Momente sind diastatisch voneinander getrennt: In der Aporie zwischen einer Irritation und dem InBezug-Setzen kann Neues entstehen, indem die Weglosigkeit auf das bislang unthematisch fungierende Vorverständnis verweist und es so möglich werden lässt, dass sich Erfahrungshorizonte modifizieren bzw. transformieren, um neue Umgangsweisen angesichts der jeweiligen Situation zu etablieren (Abb. 3-1). Abbildung 3-1: Struktur einer Lernerfahrung
Quelle: Eigene Darstellung, verändert und erweitert nach Sabisch 2009:9
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Dabei spielen in jeder (Lern-)Erfahrung aktive und passive Momente, verstanden als responsive Bezugnahme auf Widerfahrnisse, unauflösbar ineinander. Das Verhältnis beider Momente einer Erfahrung – der pathischen einerseits und der responsiven andererseits – ist als Dualität und nicht als Dualismus zu denken.45 Das Auseinanderstehen beider Pole der Lernerfahrung (Irritation und In-BezugSetzen) markiert die diastatische Kluft, in welcher – in Aporien – das Lernen seinen Anfang finden kann. Die aporetische Diastase ist also als sich uns entziehendes Moment zu verstehen, in welchem Sinn entsteht bzw. in welchem Sinn über das Antworten auf Fremdansprüche erst hervorgebracht wird: Indem ich antworte auf das, wovon ich getroffen wurde, bedeute ich das, was mir eine Antwort abverlangte. D. h., dass sich Lernen immer nur im Nachhinein zeigt, also wenn etwas gelernt wurde, und Lernanfänge nur im Nachgang thematisierbar sind, indem das Antwortgeschehen als durch ein Pathos hervorgerufen verstanden wird. Das hat entscheidende Konsequenzen, wenn man das Lernen als Vollzug zum Gegenstand wissenschaftlichen Forschens werden lassen möchte, denn wie gezeigt wurde, entzieht sich uns der Vollzug des Lernens und wird nur in Akten spür- und erlebbar, indem es sich als etwas zeigt.
Die ästhetische Dimension der Erfahrung im Rahmen dieser Studie »Von der Archaik bis heute steht dabei außer Zweifel, dass die sinnliche Wahrnehmung eine bedeutsame Quelle von Erfahrungen ist.« Meyer-Drawe (2012a:194)
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit widme ich mich im empirischen Teil der Beschreibung und Darstellung von ästhetischen Lernerfahrungen. Dabei unterscheiden sich ästhetische Erfahrungen, Fremderfahrungen, Erfahrungen mit Dingen usw. nicht fundamental voneinander. Vielmehr sind sie als Spielarten der Erfahrung zu verstehen und akzentuieren die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeitete Struktur der Erfahrung in je spezifischer Weise (z. B. indem sie einen der beiden Pole der Erfahrung akzentuieren, eine spezifische Zugangsweise zur Welt
45 Ich unterscheide hier bewusst Dualität (als Einheit aus zwei komplementären Perspektiven, ähnlich den zwei Seiten einer Medaille) und Dualismus (als ein Verhältnis zweier unvereinbarer Perspektiven).
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betonen oder ein spezifisch Anderes im Erfahrungsvollzug fokussieren). Diesem Gedanken folgend sind die möglichen Erfahrungsarten weder völlig deckungsgleich noch voneinander gänzlich verschieden. Darüber hinaus hat der Begriff der ästhetischen Erfahrung eine lange Tradition und ist entsprechend vielgestaltig. Ich rekurriere hier auf ein postmodernes Verständnis ästhetischer Erfahrung, welches den Erfahrungsbegriff wieder über Erfahrungen an und mit Kunstobjekten hinaus − wie er lange Zeit verwendet wurde − weitet. Ästhetische Erfahrungen situieren sich »im Spannungsfeld zwischen Kunsterfahrung und Alltagserfahrung« (Brandstätter 2012:174). In dieser Hinsicht kommt der sinnlichen Wahrnehmung im Zuge einer Erfahrung besonderes Augenmerk zu. Ich verstehe mit Otto (1994:56) ästhetische Erfahrungen als »Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren«, womit die Bedeutsamkeit von ästhetischen Erfahrungen für Lernen markiert ist: Ästhetische Erfahrungen sind ästhetische Lernerfahrungen, sofern sie im Vollzug Neues hervorbringen. Insofern sind sie für den Geographieunterricht unmittelbar relevant. Im Unterschied zum sinnlichen Erleben, umspannen ästhetische Erfahrungen beide zuvor entfalteten Dimensionen einer jeden Erfahrung – eine präreflexiv-sinnliche und eine reflexiv-kognitive Dimension (Peez 2003:255, Brenne 2006:198, Hasse 2007a:5ff). In diesem Zusammenhang ist der Umstand von Belang, dass die sinnlich-leibliche Dimension von Erfahrung in den Blick gerät, wenn Welt ihre Wirkung entfalten kann, und man sich wahrnehmend für Neues, bisher Undenkbares und Unvorstellbares – auch bzw. gerade in ganz vertrauten Gegenständen – öffnet (Oevermann 1996:2). Ästhetische Erfahrungen ermöglichen also differenziertere Begegnungsweisen mit dem Unvertrauten und dem Vertrauten der Welt und sind damit unmittelbar bildungsrelevant. Insofern sind ästhetische Erfahrungen immer mit dem neu Sehen verbunden, da es nicht darum geht, etwas wiederzuerkennen, sondern etwas neu zu erfahren. Ästhetische Erfahrungen lassen sich sowohl rezeptiv als auch produktiv, im Wahrnehmen und im Gestalten, machen. Sie betonen in besonderer Weise die flüchtige nicht-sprachliche Facette von Erfahrung, also die sinnlich-leiblichen Wahrnehmungen. Somit lassen sich ästhetische Erfahrungen als »Chiffre« (Sabisch 2009:7) für etwas Unsagbares verstehen, das in der Erfahrung als ein Überschuss spürbar wird, der nicht rein sprachlich zu fassen ist. Diesen Gedanken führt Brandstätter (2012:178) aus: »Ästhetische Erfahrung widersetzt sich in ihrer Bezogenheit auf die Sinnlichkeit in gewisser Weise dem sprachlichen Zugriff«. Momente, in denen man in besonderer Weise auf etwas aufmerksam wird, was nicht rein sprachlich zu fassen ist, markieren ästhetische Erfahrungen. Anders gesagt: Ästhetische Erfahrungen beginnen in Momenten des Gewahr-Werdens der Sinneseindrücke, ohne diese völlig in Sprache auflösen zu können.
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Es sind für den Fortgang dieser Arbeit zwei Gründe entscheidend, warum ich auf die ästhetische Dimension der Erfahrung fokussiere. Zum einen liegt jeder Erfahrung eine Wahrnehmung zugrunde, allerdings betone ich diese Facette jeder Erfahrung, indem ich von ästhetischen Erfahrungen spreche und setze damit einen Schwerpunkt in der empirischen Arbeit mit Lernerfahrungen, indem es mir insbesondere um solche Lernerfahrungen geht, die eine wahrnehmende sinnliche Facette der Erfahrung betonen. Dabei geht es mir bei dieser Verschiebung nicht um die völlige Abschattung anderer Facetten der Erfahrung.46 Zum zweiten kann der Geographieunterricht vor dem Hintergrund eines pädagogisch-phänomenologischen Lernverständnisses einen wichtigen Beitrag zu einer Ästhetischen Bildung47 leisten, die sich in ästhetischen Erfahrungen konkretisiert und aus ästhetischen Erfahrungen speist.
Zusammenfassung und Konsequenzen für den Fortgang der Untersuchung Im vorangegangenen Kapitel wurden mit Mitgutsch (2009) vier gängige Zugangsweisen zum Lernen unterschieden (didaktisch, teleologisch, methodologisch und topologisch) und als gemeinsamer blinder Fleck das Lernen selbst – genauer: Der Lernvollzug – herausgestellt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lernvollzügen stellt auch für die Geographiedidaktik ein Desiderat dar. Demgegenüber ließ sich zeigen, dass eine genealogische Zugangsweise zum Lernen konsequent Lernen als Vollzug thematisiert. Daraufhin wurde mit einem phänomenologischen Zugang zum Lernen eine genealogische Perspektive auf das Lernen eingenom-
46 Dies wäre auch gar nicht möglich, da sich Erfahrungen nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen, wie ich bereits ausgeführt habe. 47 Mit Westphal verstehe ich ästhetische Bildung als Auseinandersetzung mit Wahrnehmung, Ästhetik, Kunst, Technik und Medien; kurzum: »mit Fragen der Darstellung, des Ausdrucks und der Gestaltung in einer pädagogisch angelegten Perspektive« (Westphal 2014:o.S.). Ästhetische Bildung wird bestimmt als »Prozesse und Resultate derjenigen reflexiv erfahrenden Praxis […], die sich aus der Auseinandersetzung mit medialen, technischen und als ästhetisch qualifizierten Gegenständen und Formen ergeben« (ebd.). »Was wir wahrnehmen, ist dabei stets abhängig davon, wie wir etwas als etwas wahrnehmen. Ästhetische Erfahrungen gehen dann nicht in einer intendierten pädagogischen Intention auf, sondern öffnen Möglichkeitsräume.« (ebd.)
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men, die eine zentrale Gegenposition zum Mainstream der aktuellen Lernforschung markiert, um diese für die Geographiedidaktik fruchtbar zu machen. Die Skizzierung verschiedener Etappen der phänomenologischen Rezeption innerhalb der Erziehungswissenschaft erlaubte die anschlussfähige Entfaltung der phänomenologischen Lerntheorie von Käte Meyer-Drawe in fünf Facetten mit Blick auf den zweiten – empirischen – Teil der vorliegenden Arbeit. Lernen wurde mithilfe ihrer Position als Umlernen vor dem Hintergrund der Enttäuschung unangemessener Antizipationen (vgl. Buck 1989) verstanden; Lernen im strengen Sinne ist damit Erfahrung und vollzieht sich als Antwortgeschehen auf Fremdansprüche (Meyer-Drawe 2012a). Mit Waldenfels (2002) konnte die Struktur von (Lern-)Erfahrungen weiter ausdifferenziert werden: Er konzeptualisiert diese über die Pole Widerfahrnis (Pathos) und Antwort (Response). Das Verhältnis beider Pole ist durch responsive Bezugnahme gekennzeichnet und durch einen Bruch (Diastase) miteinander verbunden und gleichzeitig voneinander getrennt. Dabei wurde deutlich, dass die Diastase als der Moment verstanden werden muss, in dem Sinn im Wechselspiel von Pathos und Response hervorgebracht wird. Für die empirische Forschung mit (Lern-)Erfahrungen konnten in diesem Zuge zwei zentrale Einsichten gewonnen werden: (1) Waldenfels lässt offen, auf welche Weise man in der Erfahrung auf Widerfahrnisse antwortet. (2) Lernen zeigt sich stets als etwas, im Antworten auf ein Widerfahrnis. Mit der daran anschließenden Thematisierung der ästhetischen Dimension der Erfahrung wurde für den weiteren Fortgang der Arbeit eine Fokussierung auf sowohl das Präreflexive jeden Erfahrungsprozesses als auch die Möglichkeiten und die Bedeutsamkeit von Nicht-Sprachlichen Formen des Antwortens auf Widerfahrnisse gewählt. Es lassen sich aus der theoretischen Grundlegung und Aufarbeitung soweit einige zentrale Einsichten in Bezug auf die Fragestellung und die Zielsetzungen der Arbeit sowie daraus resultierend den weiteren Fortgang der Untersuchung festhalten bzw. ableiten: • Grundsätzlich sind ästhetische (Lern-)Erfahrungen erster Ordnung unplanbar,
unsichtbar und entziehen sich einem direkten Zugriff. Im empirischen Teil muss es dennoch Anliegen sein, einen genealogischen Lernbegriff didaktisch zu dimensionieren, indem die pädagogische Absicht einer Vermittlungssituation mit berücksichtigt wird. • Lernen zeigt sich nie an sich, sondern immer nur als etwas; daher müssen im zweiten Teil methodische Wege eingeschlagen werden, wie dies in der Forschung berücksichtigt werden kann (vorsichtige Deutungen vom als etwas auf das etwas).
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• Lernen vollzieht sich in phänomenologischer Perspektive als Antwortgeschehen
auf Fremdansprüche, wobei sich der Moment, in dem Sinn entsteht, unseres Zugriffs entzieht. Die für den empirischen Teil zu entwerfenden Erhebungsinstrumente müssen sich folglich Momenten des Antwortens nähern und gleichzeitig über Reflexionsmomente Rückschlüsse auf Widerfahrnisse erlauben. • Von einer (Lern-)Erfahrung lässt sich immer nur im Nachhinein sprechen; der Vollzug wird nur rückwirkend sichtbar, da pathisches Erleiden erst im Antwortgeschehen als solches bedeutet wird. Im empirischen Teil der Arbeit müssen Möglichkeiten gefunden werden, die Responsivität der Erfahrung zu berücksichtigen. • Ästhetische (Lern-)Erfahrungen sind vorsprachlich verankert und daher nicht direkt in Sprache zu fassen. Gleichzeitig bedarf es unter anderem der sprachlichen Darstellung, um sich über ästhetische Erfahrungen verständigen und mit ästhetischen Erfahrungen wissenschaftlich forschen zu können. • Da die Art und Weise, auf welche Weise wir auf Widerfahrnisse antworten können, nicht festgelegt ist, sind Antwortgeschehen intermedial vorstellbar. Im empirischen Teil wird der Intermedialität des Antwortens Rechnung getragen. Im nun folgenden Kapitel werde ich basierend auf den soweit festgehaltenen Einsichten die Kartenarbeit im Geographieunterricht ins Blickfeld rücken, um eine Unterrichtsumgebung für den empirischen zweiten Teil der Arbeit zu entwerfen. Dabei betone ich, dass ich das Kartieren als performative Praxis verstehe und einer künstlerisch-geographischen Kartographie sinnstiftende Bedeutung vor dem Hintergrund eines pädagogisch-phänomenologischen Lernverständnisses zukommt.
4
Entwicklung einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik
Seit etwa zwei Jahrzehnten ist es üblich, die Geographie in internationalen Diskursen als »visual discipline« (Rose 2003:212) bzw. »visuelle Wissenschaft« (Dierksmeier 2007:1) zu bezeichnen. Für Sui (2000:322) ist es beinahe überflüssig, dies explizit festzuhalten, da es so offensichtlich ist: »It sounds almost trivial to point out that geography is a quintessentially visual enterprise«. Was ist unter einer visuellen Wissenschaft zu verstehen? Über die verschiedenen Teilbereiche der Disziplin hinweg haben sich vielfältige Visualisierungspraktiken etabliert, die Geographen zur Kommunikation und Konstruktion von Wissensbeständen nutzen. Schlottmann & Miggelbrink (2009:13) erkennen zwei Facetten einer »wissenschaftlich-geographischen Praxis«: Einerseits eine des »Herstellens und Bearbeitens kartographischen und bildlichen Materials« und andererseits eine des »Anwendens und Vermittelns geographischen Wissens auf nicht-textliche Weise«. Die Bandbreite der Visualisierungen umfasst z. B. Zeichnungen, Skizzen, Karten, Diagramme, Fotos oder Satellitenbilder. Die zunehmende Erweiterung visueller Möglichkeiten und die Ausweitung visueller Praktiken auf unterschiedliche Bereiche der Disziplin steht dabei einer kaum etablierten Praxis der kritischen Reflexion dieser Praktiken gegenüber: Ein reflektierter Umgang mit den verschiedenen Formen der Visualisierung ist für die Geographie selbst im alltäglichen Umgang nicht zu erkennen (Dierksmeier 2007:2). Schlottmann & Miggelbrink (2009:13) bezeichnen die Geographie daher auch als über weite Teile hinweg in erster Linie »bildanwendende Disziplin«. Innerhalb der Humangeographie hat sich das Forschungsfeld der visuellen Geographien als Perspektive etabliert, in der Fragen
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nach den Visualisierungen und der Visualität fokussiert werden.1 Als Aufgabe einer kritisch-reflektierten Geographie-Didaktik lässt sich festhalten, dass diese sich sowohl die etablierten Visualisierungspraktiken als auch die mit den gewählten Visualisierungsformen einhergehenden Implikationen bewusst machen muss. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit fokussiere ich auf das Kartieren bzw. das Kartographieren als visuelle Praktik der Geographie. Die Karte als zentrales Medium der Geographie dient seit jeher zur Kommunikation und Konstruktion von räumlichen Wissensbeständen. Ebenso spielt sie eine fundamentale Rolle im Geographieunterricht. Die Diskurse zum Themenfeld Karte innerhalb der Geographie (vgl. Crampton 2010, Glasze 2009, 2012, 2015, Kitchin & Dodge 2007, Kitchin et al. 2009, Schellhaas & Wardenga 2007) wie auch innerhalb der Geographiedidaktik (vgl. Gryl 2009, 2016) sind bereits gut aufgearbeitet. Zur Vermeidung von Redundanzen verzichte ich auf die detaillierte Wiedergabe des Themenfeldes entlang der einschlägigen Publikationen im Rahmen meiner Arbeit. Mit Blick auf die erwähnten diskursordnenden Veröffentlichungen lässt sich allerdings konstatieren, dass sich verschiedene Paradigmen der Kartographie aus heutiger Sicht festhalten lassen.2 Auch innerhalb der geographiedidaktischen Debatte werden Karten uneinheitlich konzeptualisiert und unterschiedlich weitreichend hinsichtlich ihrer Medialität reflektiert, sodass festzuhalten ist, dass auch hier eine paradigmatische Vielfalt zu erkennen ist. Gryl (2009:32f.) kommt bei einer Literatursichtung bis 2007 zu dem Ergebnis, dass ein »Problembewusstsein für die Gemachtheit von Karten« innerhalb der jüngeren geographiedidaktischen Publikationen zwar prinzipiell zu existieren scheint, hierauf aber weder in konzeptionellen noch unterrichtspraktischen Überlegungen konsequent eingegangen wird. Demnach seien Arbeiten in der Tradition eines Kartenbegriffs, welcher in einem konstruktivistischen Paradigma verortet ist, nur vereinzelt zu erkennen (vgl. Gryl 2009). Blickt man auf die jüngsten Entwicklungen, lässt sich demgegenüber festhalten, dass sich geographiedidaktische Überlegungen, die Einsichten der Kritischen Kartographie aufgreifen und für Lehr-Lernkontexte fruchtbar machen, zunehmend häufen.3 1
Vgl. einführend in das Forschungsfeld den Artikel Visuelle Geographien – Ein Editorial (Schlottmann & Miggelbrink 2009) und weiterführend den Sammelband Visuelle Geographien (herausgegeben von Schlottmann & Miggelbrink 2015).
2
Auf diese werde ich in Kapitel 4.1 eingehen.
3
Bereits 2011 erschien der Sammelband Subjektive Kartographie (Daum & Hasse 2011), in welchem Beispiele zur kritischen Thematisierung der vermeintlichen Objektivität der Karte in sechs Beiträgen angeführt wurden. Einen guten aktuellen Überblick über die Vielfalt der aktuellen Zugangsweisen zum Themenfeld Karte im Kontext kritischer Kartographien liefert der Sammelband Reflexive Kartenarbeit (Gryl 2016), in welchem
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Auch im Kontext einer kritischen Kartographie lässt sich nicht von einem einheitlichen Verständnis von Karten bzw. von Möglichkeiten des reflexiven Umgangs mit der Karte sprechen.4 Ich verpflichte mich in weiterer Folge einem Kartenverständnis, welches die Karte als performative Praxis fokussiert (vgl. Dodge & Kitchin 2007, Kitchin et al. 2009). Konkret thematisiere ich das Kartographieren – unter Rückgriff auf die zuvor entfalteten Überlegungen zur Genealogie menschlicher Erfahrungsvollzüge (vgl. Kapitel 3.2.2, 3.2.3 und 3.2.4) – als Praktik des Antwortens auf Widerfahrnisse in Begegnung mit lebensweltlichen Orten und bin forschungsmethodisch daran interessiert, diese Erfahrungsvollzüge zu erhellen. Aus geographiedidaktischer Perspektive ist es mir ein Anliegen, einen konzeptuellen Entwurf zu erarbeiten, der diesen Gedanken fruchtbar für die Unterrichtspraxis werden lässt. Hierzu entfalte ich Überlegungen zu einer geographiedidaktischen künstlerischen Kartenarbeit. Über den Zusatz künstlerische Kartenarbeit meine ich eine Kartenarbeit, welche die Darstellungsweisen der konventionellen Kartographie überschreitet, ohne dass diese dadurch obsolet würden. Die Erweiterung der Darstellungsmöglichkeiten erlaubt vielmehr auch für dasjenige nach einem geeigneten Ausdruck zu suchen, was über die Restriktion auf herkömmliche kartographische Mittel vorschnell aus dem Lernprozess ausgeklammert würde. Aktuell lotet bspw. die Forschungsmethode Mapping die Grenzen der Karte zwischen Kunst und Wissenschaft aus. Dabei verstehe ich Mapping-Projekte aus geographiedidaktischer Sicht als Möglichkeit ästhetischen Erfahrungen an Orten Gewahr zu werden, diesen Ausdruck zu verleihen und über diese mit anderen in Austausch zu gelangen. Ein Mapping emergiert in diesem Sinne als Lösung auf relationale Probleme (vgl. Dodge & Kitchin 2007) oder besser: Ein Mapping emergiert als Antwort auf Widerfahrnisse und trägt Spuren ästhetischer Lernerfahrungen in sich. Mit der Emergenz des Mappings meine ich, dass über das Mapping immer auch Neues entsteht, was zuvor nicht zu antizipieren bzw. zu erwarten war. In meiner Forschung bin ich an der Genese des fixierten Mappings mit Blick auf die dabei aufscheinenden Modifikations- und Transformationsprozesse von Erfahrungen interessiert, welche Lernbewegungen markieren, wie ich zuvor dargelegt habe. Es ist somit mein Anliegen, eine geographiedidaktische Lernumgebung zu entwerfen, die pädagogisch-phänomenologisch grundiert ist. Die Idee dabei ist, es Schülerinnen und Schülern möglich(er) werden zu lassen, Orten
in 18 Beiträgen verschiedene Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung eines kritischen Kartenverständnisses vorgeschlagen werden. 4
Eine lesenswerte Einordnung aus fachwissenschaftlicher Perspektive liefert Michel (2010). Gryl (2016) legt eine einführende Einordnung aus geographiedidaktischer Perspektive vor.
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ihres Alltags zu begegnen und sich dabei affizieren zu lassen. Über das kartographische In-Bezug-Setzen wird dem Außerordentlichen Ausdruck verliehen und öffnen sich ästhetische Lernerfahrungen der Reflexion. Zur Entfaltung meiner Argumentation werde ich im vorliegenden Kapitel in einem ersten Schritt die Dimensionen des Kartenbegriffs innerhalb der Geographie-Didaktik in gebotener Kürze skizzieren und mein Anliegen im Kontext der post-repräsentationalen kritischen Kartographie verorten (Kapitel 4.1). Daraufhin entfalte ich mit dem Mapping didaktisch-methodische Überlegungen für den Umgang mit der Karte im Geographieunterricht entlang verschiedener geographiedidaktisch relevanter Kategorien, die den Bildungsgehalt der Methode unterstreichen (Kapitel 4.2). Das Kapitel schließt mit der Formulierung von Ableitungen für den empirischen zweiten Teil der Arbeit (Kapitel 4.3).
Karten als Gegenstand geographiedidaktischer Überlegungen Nach Crampton (2010:4) befindet sich die Kartographie als wissenschaftliche Disziplin in einer historischen Umbruchphase, in welcher eine Vielzahl unterschiedlicher Weisen der Thematisierung von Karten und des Verständnisses darüber, was Karten überhaupt seien bzw. auszeichne, konkurrieren. Einige aktuelle Spannungsfelder verdeutlicht er entlang der beiden Achsen »Critical cartography and GIS Critique – Disciplinary Knowledges« einerseits und »Technical disciplinary Respresentation – Map Art, Practices/Processual/Performativity« andererseits (Crampton 2010:5). In aller Kürze geht es um die Stellung der Kartographie zwischen objektiver Wissenschaft (Disciplinary Knowledges und Technical disciplinary Representation) und kritischer bzw. auch ästhetischer Praxis der Weltbeschreibung und -aneignung (Critical cartography and GIS Critique und Map Art, Practices/Processual/Performativity). Diese Stellung sowie das Verhältnis beider Spielarten begleitet die Kartographie seit jeher (vgl. z. B. Cosgrove 1999, 2005, 2006, Dickel 2011c, 2016, Schneider 2006). Einen Vorschlag zur Ordnung des Diskurses zum Themenfeld Karte entwirft Glasze (2012:333-341) in Anlehnung an Kitchin et al. (2009). Er identifiziert zusammenfassend vier große Paradigmen der Kartographie: (1) Karten als Abbild, (2) Karten als gesellschaftlich produziert, (3) die Konstitution sozialer Wirklichkeiten in Karten, (4) Kartographie als Assemblage von Technologien und Praktiken. Zwischen dem ersten und den übrigen drei Paradigmen besteht der fundamentalste paradigmatische Unterschied (Glasze 2012:333). Dieser Unterschied
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markiert ein Verständnis von Karten als objektiv mediale Wissensspeicher im Unterschied zum Verständnis von Karten als subjektiv gefärbte diskursiv raumproduzierende Medien bzw. Praktiken. In der fachwissenschaftlichen Debatte hat sich die Unterscheidung in eine konventionelle, essentialistische bzw. ›objektive Kartographie‹ (Paradigma 1) und eine ›kritische Kartographie‹ (Paradigmen 2, 3 und 4) etabliert.5 Diese Unterscheidung soll im Folgenden dazu dienen, die Eckpunkte der geographiedidaktischen Debatte aufzuzeigen (Kapitel 4.1.1 und 4.1.2). Ziel dieses Kapitels ist es daraufhin, mein eigenes Anliegen – die Entwicklung und Durchführung eines pädagogisch-phänomenologisch begründeten Unterrichtskonzepts zur künstlerischen Kartographie und das Forschen mit den sich im Zuge des Schulprojekts vollziehenden ästhetischen Lernerfahrungen – nachvollziehbar in der geographiedidaktischen Debatte zum Themenfeld Karte zu verorten (Kapitel 4.1.3). 4.1.1 Karten als Abbild der Wirklichkeit Es lässt sich innerhalb der geographiedidaktischen Debatte der letzten Jahrzehnte unter anderem die Vorstellung ausweisen, dass Karten Abbilder der Wirklichkeit darstellen. Nach Glasze (2009:182, 2012:334) setzte sich dieser Gedanke mit der Aufklärung durch und begleitete »die Etablierung der modernen Nationalstaaten sowie die europäische Entdeckung der Welt«. Auch in aktuellen Lehrbüchern der Kartographie bzw. Geographie ist dieses Kartenverständnis prominent (bzw. ausschließlich) vertreten (Glasze 2012:334).6 Das in den späten 1960er Jahren von Robinson entwickelte Map Communication Model (MCM) bzw. Karten-Kommunikations-Modell (s. Abb. 4-1), lässt sich als Weiterentwicklung dieses Gedankens verstehen (ebd.).
5
Dabei hat sich der Diskurs innerhalb der kritischen Kartographie seit den Anfängen in den 1990er Jahren in viele Richtungen ausdifferenziert, sodass sich auch unter dem Label kritisch eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze subsummieren lassen. Daher muss eigentlich von »Kritischen Kartografien« (Michel 2010) im Plural gesprochen werden.
6
Glasze rekurriert in seiner Argumentation auf Ausführungen von Leser et al. (2005:418) (»Kartographie: als Lehre von der maßstabsgerecht verkleinerten Abbildung der Erdoberfläche […]«) und Kohlstock (2004:15) (»Eine Karte ist ein verkleinertes, vereinfachtes und verebnetes Abbild der Erdoberfläche […]).
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Abbildung 4-1: Vereinfachtes Map Communication Model
Quelle: Crampton 2010:59
In dieser Logik rückte neben dem »map maker« nun auch der »map reader« in den Blick der Kartographie (Robinson et al. 1977:6). Die Karte fungiert zwischen beiden Akteuren als »medium of communication« (ebd.). Damit wird der Fokus der Erweiterung der Idee, dass Karten Abbilder darstellen, auf die Informationsvermittlung gelegt. Das System der kartographischen Kommunikation organisiert sich folglich zwischen einem Kartographen und einem Kartenleser mittels der Karte. Im ersten Schritt ist es der Kartograph, der Informationen aus der Realwelt entnimmt, diese entlang kartographischer Konventionen kodiert und in die Karte einträgt. Im zweiten Schritt müssen die kodierten Informationen vom Kartenleser entschlüsselt werden. Die Informationsvermittlung kann in diesem Modell entweder durch fehlerhafte Kodierung oder durch falsche Entschlüsselung gestört werden. Der Kartenleser wirkt insofern auf den Kartenautor zurück, als dass dieser sich bei der Kartenerstellung an den Ansprüchen eines (fiktiven) Kartenlesers orientiert. Oder wie Robinson et al. (1977:6) konstatieren: »In communication the psychology of the map reader should set upper and lower bounds on the cartographer‹s freedom of design«. Das Modell diente lange Zeit als Grundlage der Objektivierung der Kartographie als Wissenschaft (Glasze 2012:334). Auch innerhalb der geographiedidaktischen Debatte ist sowohl die Idee der Karte als maßstabsgerecht verkleinertem Abbild bzw. Ausschnitt der Erdoberfläche als auch die Logik des MCM nach wie vor präsent (vgl. z. B. Claaßen 1997, Flath & Wittowske 2010, Wüthrich 2013). 4.1.2 Karten im Kontext kritischer Kartographien In Kritik geraten ist die Vorstellung einer Abbildkartierung seit den 1980er Jahren (Kitchin & Dodge 2007:1f., Glasze 2015:29). Im Zuge der Kritik an der MercatorProjektion, welche durch Arno Peters bereits in den 1960er Jahren angeregt wurde, verbreitete sich die Ansicht, Karten immer nur im Kontext ihrer gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse verstehen zu können. Auf dieser Diskussion fußend etablierten sich – in deutlicher Abgrenzung zur Fokussierung auf die Karte
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als objektivem Medium der Darstellung von Wirklichkeit – in der angelsächsischen Geographie seit den 1980er/1990er Jahren die Diskussionsfelder der Kritischen Kartographie (Glasze 2009:181). Hervorzuheben sind in diesem Kontext vor allem die Arbeiten von Wood und Harley. In The Power Of Maps stellt Wood (1992) die interessengeleiteten Produktionsweisen jeglicher Karte heraus. Der Aufsatz Deconstructing the map von Harley (1989) avancierte zu einer wegbereitenden Publikation für die Kritische Kartographie. Hierin bezieht Harley den Foucaultschen Diskursbegriff auf die Idee der Dekonstruktion von Derrida. Karten versteht Harley als Texte, die aus Zeichen und Symbolen bestehen und entlang bestimmter Diskursgrenzen in ihren Aussagen zu verstehen sind. Über die Dekonstruktion der diskursiven Verwobenheit der Karte lassen sich daraufhin die Kartenproduktion und -konsumption kritisch reflektieren. Als Möglichkeit zur Dekonstruktion schlägt Harley vor, die Regelmäßigkeiten in den Karten aufzuspüren und hiervon Rückschlüsse auf die impliziten Regeln der Kartographie (im Sinne von hegemonialen Diskursen) zu ziehen. Im Kontext der Humangeographie weisen Mose & Strüver (2009:318) darauf hin, dass sich grundsätzlich zwei Weisen der Thematisierung von Karten in diskurstheoretisch orientierten Arbeiten unterscheiden lassen. Zum einen lassen sich Karten als Diskursfragmente verstehen und deren Aussagen mithilfe semiotischer Mittel interpretieren (Mose & Strüver 2009:318). Zum anderen kann die Kartographie selbst als Diskurs verstanden werden und die innerhalb dieses Systems gültigen Kartenkonventionen können reflektiert werden (ebd.:322f.). Glasze (2012: 336, 2014:124) hält in Anlehnung an Harley mehrere Fragen fest, um die Dekonstruktion von Karten (sowohl in Wissenschaft als auch in Schule) zu strukturieren: »Welche Projektionen werden genutzt? Was wird dargestellt und was wird nicht dargestellt? Was wird betont? Was wird zentriert?«.7 Mit Daum (2011:18) lassen sich weitere Fragen ergänzen: »Wer ist der Kartograph bzw. der Auftraggeber und welche Intentionen verfolgt er? Welche Kenntnisse hat der Kartograph, was lässt er unbewusst bzw. gezielt aus? Welches sind die Adressaten, welche Interessen haben sie und inwieweit sollen sie sie [sic!] durch die Karte beeinflusst werden?«. In Abgrenzung zu klassischen Überlegungen der Kritischen Kartographie, in welchen Karten weiterhin wie zuvor als repräsentationales Medium reflektiert werden, entwickelte sich in der angelsächsischen Diskussion in den letzten Jahren die Position, Karten in prozessualer Dimension zu verstehen. Diesbezüglich plädieren Kitchin & Dodge (2007:12) dafür, die Kartographie als prozessuale und nicht repräsentationale Wissenschaft auszulegen. Damit verlagern sie Fragen danach, was Karten auszeichnet bzw. was Karten machen, hin zur Frage, wie Karten 7
Fragen dieser Art werden auch in didaktischen Überlegungen zur Dekonstruktion von Karten vorgeschlagen.
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aufgrund kontingenter, relationaler und kontextabhängiger Praktiken zur Lösung raumbezogener Probleme emergieren. Vor diesem Hintergrund schlagen sie auch die Bezeichnung »emergent cartography« (Kitchin & Dodge 2007:12) vor, mit welcher sie sich deutlich sowohl von einer essentialistischen als auch konstruktivistischen Perspektive auf Karten abgrenzen. Es zeichnet sich als aktuellste Entwicklung innerhalb der Kartendiskussion eine post-repräsentationale Position ab, in welcher Karten hinsichtlich ihrer Prozessualität, ihrer Performanz, ihrer Entstehungspraktiken und bzgl. ihrer Verwendungszusammenhänge reflektiert werden (vgl. Michel 2010:9f., Glasze 2012:338). Mit Blick auf geographiedidaktische Beiträge zum Themenfeld Karte vor dem Hintergrund der Kritischen Kartographien lässt sich festhalten, dass es ebenfalls eine Reihe unterschiedlicher konzeptioneller wie unterrichtspraktischer Ansätze gibt, die unter dem Label der Kritischen Kartographie geführt werden. Gemein ist allen Ansätzen, dass sie das Medium Karte, dessen Produktionsweisen und Nutzung kritisch in den Blick nehmen. An den Beiträgen des 2016 erschienenen wissenschaftlich fundierten und unterrichtspraktischen Sammelbandes Reflexive Kartenarbeit8 (hrsg. von Gryl 2016) lässt sich das Spektrum aktueller Positionen zur Karte bzw. zum Karteneinsatz im Geographieunterricht im Sinne Kritischer Kartographien, die einen theoretischen Bezugsrahmen reflexiver Kartenarbeit darstellen, exemplarisch verdeutlichen: Zum einen steht die Dekonstruktion von bereits bestehenden Karten im Vordergrund, indem bspw. deren Informationsgehalt bzw. Aussagekraft in Bezug auf bestimmte Fragestellungen diskutiert wird. Zum anderen liegt der Fokus auf dem Erstellen von Karten, die daraufhin genutzt werden, um den Prozess der Kartenproduktion kritisch zu reflektieren.
8
Gryl (2016:8) definiert einleitend: »Reflexive Kartenarbeit ist ein durch reflexive Methoden gestützter Modus der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Kartenarbeit, der, als essenzieller Bestandteil in eine klassische Kartenarbeit integriert, diese für die unterrichtlich fachliche Erkenntnisgewinnung ebenso wie für mündiges Alltagshandeln bereichert. […] Eine reflexive Kartenarbeit beinhaltet daher das Hinterfragen eigener und fremder Karten, das Hinterfragen des eigenen Denkens und Handelns mit Karten und des kartengestützen Denkens und Handelns anderer. […] Sie basiert auf den Ideen einer kritischen Kartographie und stärkt das Bewusstsein für die Auswahl- und Gestaltungsentscheidungen im Zuge der Kartenkonstruktion, aber auch der subjektiven Rezeption durch die Kartenkonsumentinnen und -konsumenten. Ziel der reflexiven Kartenarbeit ist das mündige Handeln mit Karten auf Basis einer Entscheidung über deren Eignung für bestimmte Frage- und Aufgabenstellungen sowie der jeweiligen Bedürfnisse und Handlungen«.
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4.1.3 Einordnung und Positionierung »Eine kritische Auseinandersetzung mit Karten ist für die Geographie als einer Disziplin, die selbst aktiv Weltbilder produziert und vermittelt, eine wichtige und bislang wenig ausgefüllte Aufgabe.« Glasze (2012:338) »Im Geographieunterricht freilich hat der Gedanke einer Kartographie, die unmittelbar auf den individuellen Wahrnehmungen und Regungen des lernenden Subjekts aufbaut, bisher wenig Anklang gefunden.« Daum (2011:16)
Es lässt sich festhalten, dass sich die Perspektiven auf das Themenfeld Karte über die letzten Jahrzehnte zunehmend diversifiziert haben. Wenngleich sich in der geographiedidaktischen Debatte die Kritische Kartographie als feste Bezugsgröße didaktisch-konzeptioneller Überlegungen grundsätzlich etabliert hat, sind Ansätze, welche die Kritische Kartographie nicht bzw. kaum wahrnehmen und dem Abbild-Paradigma verhaftet sind, ebenso auszumachen. Innerhalb der vielgestaltigen kritischen Ansätze zur Karte bzw. zur Kartenarbeit in der Schule, ist ebenfalls eine Spannbreite zu erkennen. Diese reicht von der konsequenten Orientierung an der ›Diskurs-Debatte‹ seit Wood und Harley über die Betonung subjektiver Raumaneignungsprozesse mittels subjektiver Kartographien bis hin zur Idee, Karten in post-repräsentationaler Perspektive als Praktiken zu reflektieren. Die vorliegende Arbeit folgt in den weiteren Überlegungen zur Bedeutsamkeit von Mapping-Projekten für den Geographieunterricht grundsätzlich dem Ideenspektrum Kritischer Kartographien. Dabei greife ich nicht den Diskussionsstrang auf, die Karte in der Schule vorrangig als diskursmächtiges Medium zu dekonstruieren. Vielmehr ist es mir ein theoretisch begründetes Anliegen, die individuellen kartographischen Ausdrucksformen der Schülerinnen und Schüler als Momente des Antwortens auf bzw. des Sich-In-Bezug-Setzens zu Widerfahrnisse(n) zu konzeptualisieren und hierüber eine Verbindung zwischen einem pädagogischphänomenologischen Lernbegriff und der Arbeit mit Karten im Geographieunterricht konzeptuell zu etablieren. Gleichzeitig schlage ich damit eine Möglichkeit
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des Forschens mit9 ästhetischen Lernerfahrungen für die geographiedidaktische Unterrichtsforschung vor. Bezogen auf die vorangegangene Skizze zum Kartenbegriff in der Geographie-Didaktik, verorte ich die nachfolgenden Überlegungen im Kontext der post-repräsentationalen kritischen Kartographien, welche die Karte als emergentes und performatives Medium thematisieren und leiste darüber hinaus einen Beitrag zur Formulierung einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik für den Geographieunterricht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich mit der hier verfolgten phänomenologischen Grundierung der Kartenarbeit nicht lediglich um eine Anwendung bereits existierender fachwissenschaftlicher Ideen handelt, sondern um einen eigenen Zugriff, der aus einer anderen Theorietradition her argumentiert, gleichzeitig aber einen ähnlichen Fokus hat, wie aktuelle Zugänge in der fachwissenschaftlichen Diskussion zur Karte.
Kartographische Streifzüge zwischen Ortsbegegnung und Raumerkundung »Mapping doesn’t just produce maps, it is fundamental to the process of bringing order to the world.« Wood (1992:194) »Die Kartografie (Mapping) ist eine Methode, einerseits Lernbewegungen, andererseits Lebenswelten auch mit künstlerischen Mitteln zu erkunden.« Busse (2007b:224)
In weiterer Folge werde ich eine Unterrichtsumgebung formulieren, welche als Beitrag für eine erfahrungsorientierte Kartendidaktik für die Geographie zu sehen ist. Konkret entfalte ich eine geographiedidaktische Idee des Forschungsrepertoirs Mapping in mehreren Schritten. Dies orientiert sich (1) an den zuvor erarbeiteten Konsequenzen einer phänomenologischen Thematisierung des Lernens, (2) an einem post-repräsentationalen Kartenverständnis und (3) an einem prozessualen
9
Hiermit markiere ich, dass ich den Forschungsprozess selbst als ästhetische Erfahrung verstehe und zugleich über ästhetische Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler forsche.
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Raumverständnis. Im Kern zielen meine Überlegungen auf die Ermöglichung ästhetischer Lernerfahrungen an lebensweltlich bedeutsamen Orten und Räumen samt deren Gestaltwerdung über Mapping-Verfahren ab. Dabei verstehe ich den Prozess der Gestaltwerdung im Mapping als Teil der ästhetischen Erfahrung. Zu Beginn nehme ich eine terminologische Einordnung einiger zentraler Begriffe vor, die für die Entfaltung meiner Gedanken bedeutsam sind, da diese Begriffe in der (geographiedidaktischen) Diskussion unterschiedlich verwendet werden (Kapitel 4.2.1). Im Anschluss widme ich mich dem Repertoire des Mappings entlang von drei geographiedidaktisch-relevanten Kategorien, um hierüber die Sinnhaftigkeit dieses künstlerischen Forschungsansatzes als methodischer Rahmen für Geographieunterricht und für Lernprozesse im Geographieunterricht zu unterstreichen. Die gewählten Kategorien umfassen lern- und raumtheoretische Implikationen in ihrem Zusammenspiel und sind nicht explizit aus der Literatur abgeleitet. Vielmehr werden sie geographiedidaktisch relevant, indem sie Dimensionen der Mapping-Methode vor dem Hintergrund einer pädagogisch-phänomenologischen Lerntheorie und eines post-repräsentationalen Kartenverständnisses markieren und genuin um ästhetische Erfahrungen an alltäglichen Orten kreisen. Erstens thematisiere ich die Bedeutsamkeit von Ortsbegegnungen und Raumerkundungen für das Gelingen des Mappings (Kapitel 4.2.2). Zweitens bestimme ich das Mapping als Praxis des In-Bezug-Setzens, betone hierüber die performative Dimension der Karte und reflektiere auf die transformierende und organisierende Funktion des Mappings im Zuge von Lernerfahrungen (Kapitel 4.2.3). Drittens stelle ich ausgewählte raumtheoretische Reflexionsmodi vor, die bei der Gestaltwerdung von Erfahrungen im Zuge von Mapping-Projekten hilfreich sein können (Kapitel 4.2.4). Abschließend markiere ich einige theoretisch begründete Aspekte einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik zur Bündelung meiner Überlegungen (Kapitel 4.2.5). 4.2.1 Vorüberlegungen »Das künstlerische Kartieren hat seinen Ursprung im geografischen Erfassen von Gebieten und Räumen. […] Anders als bei der geografischen Erfassung ist die Allgemeingültigkeit hier aber weniger wichtig als die subjektive Annäherung. Es geht nicht darum, etwas einzunehmen, sondern darum, sich selbst dazu in Beziehung zu setzen.« Hobler (2013:17)
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Für die Entfaltung der Idee einer künstlerischen Kartographie sind mehrere Begriffe von Bedeutung. Daher bestimme ich nachfolgend den Begriff Mapping als zentrales Methodenrepertoire, um sich Orten zu nähern und Raumerfahrungen Ausdruck zu verleihen und erläutere das Zusammenspiel von Ort und Raum sowie die Relevanz dieser Unterscheidung für den Fortgang der Arbeit. Kartographische Streifzüge inszeniert als Mapping-Projekt Der Begriff Mapping wird in verschieden Kontexten aufgegriffen und vielfältig verwendet. So wird der Begriff innerhalb der Geographie fast ausschließlich zur Bezeichnung kartographischer Verfahren bzw. einfach zur Bezeichnung des Prozesses der Kartenerstellung oder des Kartenzeichnens genutzt. Im Kontext der Geographiedidaktik werden vereinzelt bestimmte Lernstrategien, wie z. B. das Mind Mapping oder das Concept Mapping, unter dem Oberbegriff Mapping zusammengefasst (vgl. Reinfried 2015b:174). Aber auch in Bezug auf die Unterrichtsmethode findet der Mapping-Begriff uneinheitlich Verwendung: Teilweise bezeichnet Mapping sowohl eine Tätigkeit als auch das Produkt eines Mapping-Prozesses, teilweise werden eigene unterschiedliche Begriffe für Tätigkeit (u. a. Mapping, mappen) bzw. Produkt (u. a. Map) gewählt. Daher ist es sinnvoll, einige terminologische Vorüberlegungen zu formulieren, um die Begriffe in weiterer Folge verständlich und eindeutig verwenden zu können. Unter Mapping verstehe ich ein intermediales Verfahren der Auseinandersetzung mit Räumlichkeiten, welches zwar kartographisch organisiert ist, aber gleichzeitig die Konventionen der traditionellen Kartographie zu sprengen vermag; Mapping ist in diesem Sinne ästhetische oder künstlerische Kartographie. Mapping ist eine »Recherchemethode für ortsspezifisches Arbeiten« (Möntmann 2004:17), bei der es darum geht, sich Kontexten und Spezifika von Orten und Räumen anzunähern und sich selbst zu diesen in Beziehung zu setzen. Die auf diese Weise entstehenden Kartographien10 lösen sich von der Idee einer vermeintlich exakten Wiedergabe des geographischen Raumes. Vielmehr »produzieren [diese Karten, F.P.] Begriffe eines sozialen Raums, der an den Rändern offen ist – für subjektive und subversive Aneignungen, die gesellschaftliche Realitäten widerspiegeln und neue schaffen können« (ebd.:22). Insofern schafft Mapping Möglichkeiten, besondere Erfahrungsschichten an Orten und in Räumen zu erschließen, die sich der konventionellen Kartographie verweigern.11 Ähnlich argumentiert auch Cosgrove (2004:35), welcher der wissenschaftlichen Kartographie – die 10 Mit dem Begriff Kartographien möchte ich deutlich machen, dass im Zuge von Mapping-Projekten nicht zwangsläufig Karten im Sinne von Landkarten angefertigt werden. 11 Das schillernde historische Wechselspiel von Kartographie und Kunst auch nur im Ansatz zu beleuchten, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Ich möchte daher
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ich hier einer künstlerischen Kartographie gegenüberstellen möchte – gar, dass diese unfähig sei, die heutige Stadt in den für sie bezeichnenden bzw. relevanten Facetten zu erfassen. Vielmehr bleibe die wissenschaftliche Kartographie »weiterhin erfolgreicher in der Planung der zukünftigen Form der Stadt als in der Wahrung der Lesbarkeit ihres Alltags« (Cosgrove 2004:44). Demgegenüber streben künstlerische Kartierungen »die Lesbarkeit der heutigen Stadt an, allerdings nicht als Mittel zur Neubearbeitung ihrer materiellen Räume, sondern als Möglichkeit der Erfahrungserweiterung des urbanen Lebensalltags« (ebd.:45).12 Mapping ist vor diesem Hintergrund zu allererst eine kreative Tätigkeit, ein fortlaufender Prozess des Sich-Einlassens auf Orte, des Aufzeichnens und des Suchens nach kartographischen (und weiteren) Ausdrucksmöglichkeiten für das, was vor Ort wahrgenommen, was räumlich spür- und erlebbar wird. Ein Mapping ist in diesem Sinne ein fortwährender Prozess und nicht mit dem Erreichen eines im Vorfeld festgelegten Ziels abgeschlossen bzw. vereinbar. Gleichzeitig lässt sich ein Mapping aber immer auch fixieren, indem ein – für die jeweils im MappingProzess formulierte und bearbeitete Fragestellung passender – Abschluss gefunden wird. Für das Produkt eines Mapping-Prozesses verwende ich daher die Bezeichnung fixiertes Mapping und mache damit deutlich, dass jedes Mapping prinzipiell auch weiter fortzuführen wäre.13 In Bezug auf die Gestaltung von Unterrichtsumgebungen muss Mapping eher als Ideenrepertoire und Impulsgeber, denn als vorgeschriebene Handlungsabfolge verstanden werden. Grundsätzlich lassen sich bei jedem Mapping-Projekt aber grob Planungs-, Durchführungs-, und Reflexions- bzw. Präsentationsphasen bestimmten, die einander durchdringen und nicht trennscharf unterschieden werden können (vgl. Pettig 2016). Aufgrund der vielfältigen Begriffsverwendungen von Mapping im Zuge vielgestaltiger Projekte – auch innerhalb der Geographiedidaktik – und der Schwer-
lediglich auf einige gelungene Einführungsartikel (Cosgrove 1999, 2004, 2006), einen lesenswerten geographiedidaktisch perspektivierten Aufsatz (Dickel 2016) und eine gleichermaßen umfangreiche wie fundierte Publikation (Schneider 2006) zur Karte im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft hinweisen. 12 Die Bedeutsamkeit der künstlerischen Annäherung an die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler für den Geographieunterricht liegt damit deutlich auf der Hand und unterstreicht die Relevanz der vorliegenden Arbeit für die Geographiedidaktik. 13 Die Bezeichnung als fixiertes Mapping zielt auf die von mir betonte konstitutive Prozessualität des Verfahrens und wird aus diesem Grund im Rahmen dieser Arbeit gewählt. Im Gegensatz hierzu verwenden manche Autoren den Begriff Map, um die Produkte eines Mapping-Prozesses zu bezeichnen (u. a. Winderlich 2008:21), der meines Erachtens nach aber im Kontext der vorliegenden Überlegungen zu statisch ist.
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punktsetzung meiner eigenen Überlegungen, nenne ich meine Unterrichtsumgebung für den Geographieunterricht Kartographische Streifzüge. Damit möchte ich zwei Aspekte einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik betonen. Erstens verdeutliche ich über das Adjektiv Kartographische die spezifisch kartographische Dimension einer solchen Kartendidaktik, womit die kartographische Praxis ebenso wie der kartographische Ausdruck wertgeschätzt wird und diese zugleich um Facetten des Künstlerischen erweitert werden. Zweitens verdeutliche ich über das Substantiv Streifzüge14 die pathische wie auch die responsive Dimension der Erfahrung ineins, da die Wortbedeutung des Streifzugs sowohl das kursorische Umherschweifen wie auch die gezielte Erkundung umspannt.15 Über das Verhältnis von Ort und Raum »Der Mensch befindet sich nicht im Raum, wie ein Gegenstand sich etwa in einer Schachtel befindet, und er verhält sich auch nicht so zum Raum, als ob zunächst etwas wie ein raumloses Subjekt vorhanden wäre, das sich dann hinterher auch zu einem Raum verhielte, sondern das Leben besteht ursprünglich in diesem Verhältnis zum Raum und kann davon nicht einmal in Gedanken abgelöst werden.« Bollnow (1963a:23) »Das künstlerische Konzept des Mappings wird inhaltlich durch das Paradigma von »Raum« und »Ort« gekennzeichnet und gegenüber weiteren künstlerischen Verfahren abgegrenzt.« Busse (2007b:262)
Im Zuge des als spatial turn bekannt gewordenen paradigmatischen Verschiebung des Erkenntnisinteresses der Sozial- und Kulturwissenschaften hin zu den räumlichen Bedingungen der Moderne, ist die Vorstellung darüber, wie Raum zu verstehen sei und inwieweit er das menschliche Dasein durchzieht, in unterschiedlichen 14 Streifzug hat lt. Duden Online zwei Bedeutungen: Zum einen »Wanderung, Fahrt, bei der ein Gebiet durchstreift, etwas erkundet wird«, zum anderen »kursorische, hier und da Schwerpunkte setzende Darlegung, Erörterung« (Dudenredaktion o. J.). 15 Inwieweit beide hier eröffneten Perspektiven im Unterricht ineinander greifen, thematisiere ich in Kapitel 4.2.2.
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Disziplinen vielfältig erweitert worden (vgl. die diskursordnenden Publikationen Dünne & Günzel 2006, Döring & Thielmann 2009, Günzel 2017). Raum wird infolgedessen nicht mehr im Sinne eines absoluten gegebenen Raumes (im Sinne von Newton) verstanden, sondern als relationales Beziehungsgefüge vielschichtig reflektiert. Die raumtheoretischen Reflexionen folgen der Leitidee: Raum ist nicht, er wird gemacht oder auch produziert. Dabei werden in Abhängigkeit der jeweils angelegten Theorieperspektive bzw. -tradition unterschiedliche raumkonstituierende Strukturen oder Mechanismen fokussiert, bspw. Materialität, Handlungen oder Diskurse. Auch innerhalb der Geographiedidaktik wird die Vielheit der Raumverständnisse intensiv diskutiert. Sowohl der Orts- als auch der Raumbegriff sind entsprechend in der Geographiedidaktik vielfältig besetzt, sodass aktuell insbesondere die Polyvalenz und Kontingenz von Raum in den Blick der geographiedidaktischen Überlegungen rückt (vgl. u. a. Dickel & Kanwischer 2006). Für den Fortgang der Arbeit sind diese Entwicklungen insofern interessant, als dass sie das grundlegende Raumverständnis konturieren, vor deren Hintergrund ich meine Ideen zum Mapping entfalte. Dabei lege ich dem Mapping keine konkrete Raumtheorie zugrunde, die mir ein kategoriales Gerüst bietet, welches ich zur Gestaltung eines Mapping-Projekts nutze, in welchem die Schülerinnen und Schüler dann Räume entlang theoretisch abgeleiteter Kategorien kartieren sollen (bspw. indem gezielt die Aufgabe gestellt wird Atmosphären, Praktiken oder Wahrnehmungen entlang vorgegebener Kriterien zu kartieren), was sich dann empirisch verifizieren und auswerten ließe. Vielmehr trage ich grundsätzlich der Prozessualität und Performativität von Raum Rechnung, die im Zuge des spatial turns betont werden, indem Raum in Mapping-Projekten zu allererst erfahren wird und die Schülerinnen und Schüler ausgehend von ihren individuellen Wahrnehmungen Fragen an diesen stellen. Insofern geht es beim Mapping also grundsätzlich nicht um die Abbildkartierung ›des Realraumes‹, sondern um die tiefgründige Auseinandersetzung mit Erfahrungen räumlicher Bedingungen an Orten des Alltags, die im Mapping Gestalt erlangen können. Auf diese Weise macht Mapping Raum erfahrbar und bringt ihn immer auch hervor, indem er erkundet und kartographisch hervorgebracht wird. Zugleich bietet die Geographie als wissenschaftliche Disziplin einen vielgestaltigen raumtheoretischen Fundus, der dazu geeignet ist, eine Sprache für all das zu finden, was im Laufe des Mapping-Prozesses an Orten auffällig wurde, wofür die Schülerinnen und Schülern aufmerksam sind, wofür ihnen aber zum Teil bislang eine Sprache fehlt. Das Mapping ist in diesem Sinne Medium der Hervorbringung räumlicher Erfahrung und wird über die raumtheoretische Reflexion der Auffälligkeiten vor Ort geographisch perspektiviert. Für das Gelingen eines MappingProjekts ist also weniger die Analyse räumlicher Systeme relevant, als vielmehr
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das Aufspüren von und die Auseinandersetzung mit Prozessen der Verräumlichung von Orten. In ähnlicher Weise entwirft de Certeau seine Gedanken zur Unterscheidung von Ort und Raum. Für ihn ist ein »Ort [...] die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden« (De Certau 1988:217f.). Ein Ort zeichnet sich durch Stabilität aus und markiert »eine momentane Konstellation von festen Punkten« (ebd.:218). Ort meint dabei durchaus mehr als die rein topographische Lokation.16 Jeder Ort zeichnet sich auch immer durch seine Historizität und seine Bedeutungen aus (vgl. Tuan 1979:387). In der Perspektive der humanistischen Geographie verkörpern Orte eben auch Sehnsüchte und Erfahrungen von Menschen (ebd.). Mit Hasse (2014:51) lassen sich Orte (im Unterschied zu Räumen) als unauflösbar mit dem individuellen Erleben verschränkt verstehen. Orte sind für ihn zwar im Raum lokalisierbar, aber erst über das konkrete sinnliche Erleben entfalten sie ihre vielschichtigen räumlichen Implikationen. Der Ortsbegriff zielt für ihn damit im Unterschied zum Raumbegriff auf das konkrete Erleben einer bestimmten Situation an einem spezifischen Ort ab. In Hasses (2014:50) Worten: »Während der Begriff des Raumes aufgrund seiner wissenschaftstheoretischen Heterogenität und ontologischen Vielschichtigkeit, vor allem aber aufgrund seiner Abstraktheit, in einem eher verdeckten als unmittelbar spürbaren Verhältnis zum individuellen Umgebungserleben steht, hat der Begriff des Ortes den methodologischen Vorzug seiner unmittelbaren Verflochtenheit mit der Situation einer sich ›verortenden‹ Person. Die im Leben eines Individuums mit Sinn verknüpften Orte sind stets symbolisch bedeutsam und darin zugleich leiblich spürbare, sinnliche Orte. Jeder Ort hat Raumcharakter, der sich im Erleben individuell aktualisiert.«
In dieser Auslegung scheint Ort dem »gelebten Raum« nahe zu stehen, der jenen »Raum, in dem wir täglich leben, in dem wir uns bewegen und den wir brauchen, um unser Leben zu entfalten« (Bollnow 1963b:499) kennzeichnet. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist demnach über »Raumbewußtsein« oder »Raumgefühl« erfahrbar (ebd.). In dieser Hinsicht wird die Verstrickung von Ort, Raum und Gefühl betont.17 Allerdings werden die systematische Bezogenheit ebenso wie die 16 Hierfür verwende ich in weiterer Folge den Begriff des spezifischen Ortes und meine damit Ort im Sinne eines topographisch lokalisierbaren Gebiets. 17 Den Zusammenhang von Raum und Gefühlen bzw. Stimmungen hat im Kontext der Neuen Phänomenologie insbesondere Hermann Schmitz (z. B. 2014) systematisch aufgearbeitet. In humangeographischer Perspektive hat Hasse hat hierauf aufbauend eine
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wechselseitige Durchdringung dieser drei Pole räumlicher Erfahrung erst aktuell als forschungsrelevante Leerstelle zwischen Raum- und Emotionstheorien wahrgenommen und in aktuellen Sammelbänden thematisiert (vgl. Lehnert 2011, Großheim et al. 2015). Dabei ist fast allen Ansätzen gemein, dass sie stark phänomenologisch ausgerichtet sind. In dieser Perspektive sind es nicht lediglich unsere Projektionen auf Dinge und Orte, die Räume hervorbringen. Hinzu kommen nach Lehnert (2011:9) bspw. auch sinnliche Erfahrungen und die einem bestimmten Raum inhärente Aura, die sich im Laufe der Zeit in ihn einschrieb (bspw. wenn Räume Vergangenheit speichern oder etwas von den Gefühlen absorbieren), oder die ihm zugefügt wurde (bspw. über die gezielte Konstruktion eines ErlebnisRaums). Diesem Gedanken folgend lässt sich festhalten, dass das abstrakte Konzept Raum an Orten einen Ausdruck für jemanden finden kann, indem Raum über jemanden in der konkreten Begegnung am Ort zuallererst hervorgebracht wird. Damit ist gemeint, dass räumliche Bedingungen an Orten spür- und erlebbar werden: Über die Sinne, als Gefühle, in Perspektiven und Strukturen. Orte entfalten räumlich Wirkung und werden von jemandem leiblich erfahren, wodurch Raum sich konstelliert. Dieser Gedanke lässt sich mit de Certeaus Überlegungen von Ort und Raum weiter ausführen.18 Für ihn ist »der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht« (De Certau 1988:218). Am Beispiel der Straße verdeutlicht er diesen Gedanken: erst durch die Gehenden wird diese in einen Raum verwandelt. Insofern entwickelt de Certeau einen performativen Raumbegriff, indem er Raum als »ein Resultat von Aktivitäten« konzeptualisiert, »die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit« zu funktionieren (ebd.). »Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird« (ebd.).19 Er interessiert sich »neben der Praxis des physischen Durchquerens […] vor allem Phänomenologie des Raumes über Atmosphären entworfen (z. B. 2015a). Auch Kazig (2015) formuliert Überlegungen zur der empirischen Untersuchung von Atmosphären, um diese als Gegenstand humangeographischer Forschung zu etablieren. 18 Insgesamt erkennt Füssel (2013:32f.), dass sich de Certeau mit seiner von der Phänomenologie inspirierten Idee von Raum nah an »vergleichbaren Konzepten von Maurice Merleau-Ponty, Henri Lefebvre oder Pierre Bourdieu« bewegt. Diese lohnende Spur kann an dieser Stelle nicht verfolgt werden. 19 Obgleich de Certeau in Kunst des Handelns (1988) einen performativen Raumbegriff entwickelt, der die Bedeutsamkeit des Gehens und der Narrationen für die Genese von Raum unterstreicht, möchte ich hier (neben den konkreten Begehungen und den narrativen Bedeutungsaufladungen von Orten) die künstlerisch-kartographischen Praktiken als performative raumproduzierende Praktiken verstehen und betonen (vgl. auch Kapitel 4.1.3).
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für die Narrativierung des Raumes. Berichte über den Raum beschreiben diesen nicht nur, sie produzieren gleichzeitig eine Handlungsgeographie, die den Raum organisiert und dabei bestimmten Prinzipien folgt« (Füssel 2013:32). Wenngleich die subjektzentrierte Unterscheidung von Ort und Raum bei de Certeau sich von der responsiven Grundhaltung phänomenologischer Zugangsweisen zum Raum unterscheidet, ist sein Raumbegriff hier interessant, weil de Certeau die Hervorbringung von Raum konsequent auf lebensweltlicher Ebene mitdenkt. Denn de Certeau folgt den »Akteuren auf gleicher Ebene, er steht nicht über ihnen, sondern folgt ihrer chaotischen Kreativität auf einer Mikroebene, die sich der Perspektive des ›Voyeur-Gottes‹ grundsätzlich versagt« (Füssel 2013:32f.). Jedes Mapping realisiert sich aufgrund eines Vor-Ort-Seins und aufgrund räumlicher Erfahrungen. Es geht folglich um das tatsächliche Erleben und Erfahren von Orten entlang deren räumlicher Implikationen. Im Geographieunterricht geht es im Rahmen von Mapping-Projekten um lebensraum- und stadtteilbezogenes Arbeiten, über welches Orte auch in (flüchtige) Räume transformiert und ständig neu hervorgebracht werden. Bezogen auf die Wirkung von Orten kann uns Mapping im Rahmen von Geographieunterricht dazu führen, Fragen zu finden, die räumliche Bedingungen an bestimmten Orten zum Anlass nehmen, sich diesen in geographisch bedeutsamer Hinsicht zu widmen, wodurch Räume immer auch entstehen. Solche Fragen lassen sich nicht ohne (theoretische) Perspektive formulieren, da uns diese überhaupt erst eine Sprache an die Hand gibt, die der Frage Gestalt verleihen und den MappingProzess organisieren kann. Insofern kommt dem Lehrenden im Rahmen von Mapping-Projekten auch die Rolle zu, die Schülerinnen und Schüler bei der Suche und der Formulierung ihrer Fragen zu begleiten und begriffliche Perspektiven auf Auffälligkeiten bereit zu stellen bzw. dialogisch im Gespräch zu entwickeln, die zur Findung der eigenen Forschungsfrage und deren Bearbeitung dienlich sind. Die Relevanz des Fragenstellens als Angelpunkt geographischer Lernprozesse wurde bereits an anderer Stelle betont (vgl. Dickel & Schneider 2013, Schneider 2013). Während sich über die Kategorie Ort also individuelle Erfahrungsweisen und Erfahrungen an Orten und in Begegnung mit Orten beschreiben lassen, lassen sich mit der Kategorie Raum Bedeutungsmuster, Narrationen und Handlungsweisen thematisieren, die Raum fortwährend und immer wieder neu performativ hervorbringen. Beide Begriffe – Ort und Raum – schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern müssen als komplementäre Bezugspunkte räumlicher Erfahrungen und eben auch einer geographischen Mapping-Idee verstanden werden, die sich pädagogisch-phänomenologisch begründet. Während ich also über den Ortsbegriff die lebensweltliche und damit vorwissenschaftliche Verstrickung mit der Welt be-
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tone, dient mir der Raumbegriff als wissenschaftliche Reflexionsfolie von bestimmten Ereignissen an einem Ort. Die Notwendigkeit der Unterscheidung beider Zugangsweisen wird gewichtig, da ich an Lernerfahrungen interessiert bin, die sich in Begegnung mit lebensweltlich bedeutsamen Orten der Schülerinnen und Schüler vollziehen. Die geographiedidaktisch relevante Kategorie Raum wird dementsprechend als Perspektive bedeutsam, die das vor Ort Erfahrene in (theoretische) Erklärungsmuster einordnen kann und dieserart Möglichkeiten der (theoretischen) Reflexion von ästhetischen Erfahrungsvollzügen im Rahmen von Geographieunterricht bietet. Lerntheoretisch lässt sich diese Unterscheidung begründen, indem sie auf Meyer-Drawes Differenzierung eines vorwissenschaftlichen und eines wissenschaftlichen Wissens rekurriert, was zuvor bereits ausgeführt wurde. Das Mapping im Geographieunterricht kreist genuin um die Differenzierungsprozesse dieser beiden Wissensformen. 4.2.2 Zwischen Ortsbegegnung und Raumerkundung »Kern des Mappings ist also eine ›Forschungsfrage‹, die sich Künstlern an und für einen besonderen Ort stellt, in den schließlich forschend-recherchierend und gestalterisch-reflexiv eingegriffen wird (was man als ›künstlerische Intervention‹ bezeichnet).« Busse (2007b:157) »Die künstlerische Arbeit dieser Kartographen bezieht sich nicht nur auf das Ziel, Freude an den Produkten dieser Projekte zu haben, sondern vor allem darauf, über die Projektergebnisse einen mitunter sinnlichen, aber auch rationalen Zugang zu Räumen und Orten bereit zu stellen.« Busse (2007b:265)
Ich unterscheide im Folgenden Ort und Raum insbesondere über die Art und Weise wie sie im Zuge von Mapping-Projekten (ästhetisch) Wirkung entfalten. In der kunstdidaktischen Debatte sind die Begriffe kaum deutlich gegeneinander abgegrenzt und so tritt i. d. R. eine handlungsorientierte Dimension von MappingProjekten im Sinne von künstlerischen Interventionen an bestimmten spezifischen Orten als Ziel des Mappings in den Vordergrund. Auch in der geographiedidaktischen Debatte wird der Mapping-Ansatz zuweilen in ähnlicher Weise ausgelegt,
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indem vornehmlich auf subjektive Raumaneignungsprozesse fokussiert und diese konstruktivistisch (sowohl in Bezug auf die raumtheoretischen als auch die lerntheoretischen Implikationen) und handlungstheoretisch legitimiert werden (u. a. Daum 2011, 2016, Hofmann & Mehren 2012, Nöthen 2016). Auch gegenüber der innerhalb der Geographiedidaktik etablierten Unterrichtsmethode der Spurensuche20 soll hier eine Einordnung meiner Überlegungen stattfinden, da zum Teil Ähnlichkeiten zwischen der Forschungspraxis Mapping und der Spurensuche erkannt werden (vgl. Hofmann 2015:147). Für Budke & Kanwischer (2007:17) ist 20 Das Spurenparadigma bzw. die Spurensuche oder das Spurenlesen wurde im Kontext der Geographie durch Gerhard Hard (1995) geprägt. Innerhalb der Geographiedidaktik wurde die Spurensuche an verschiedenen Stellen aufgegriffen und auf pädagogische Kontexte gewendet (u. a. Isenberg 1987, Dickel 2006). Obgleich Kanwischer (2014:86f.) herausstellt, dass das Spurenparadigma als »erkenntnistheoretische Grundfigur der Geographie« zu verstehen ist, lässt sich festhalten, dass es innerhalb der Geographiedidaktik als Unterrichtseinstieg (Budke & Kanwischer 2007) und insbesondere in exkursionsdidaktischen Überlegungen als Exkursionsform aufgegriffen wurde. Zum einen wird die Spurensuche dort als »stark konstruktivistische« Variante der Arbeitsexkursion thematisiert (Ohl & Neeb 2012:261), zum anderen auch als eigenständige Exkursionsform neben der Überblicks- und der Arbeitsexkursion ausgewiesen (Dickel & Scharvogel 2013:177). Das Spurenlesen ist als »Form des Zeichenlesens« (Hard 1995:66) zu verstehen. In aller Kürze bedeutet dies, dass »bestimmte Signifikanten (materielle Bedeutungsträger) [im Feld bzw. vor Ort] mittels eines Kodes mit bestimmten Signifikaten (Bedeutungen, geistigen Inhalten usf.) korreliert werden. Spurenlesen besteht entsprechend z. B. darin, daß bestimmte Signifikanten mit bestimmten Ursachen und Verursachern, Handlungen und Geschichten korreliert werden« (Hard 1995:64). Es lassen sich drei Formen des Spurenlesens unterscheiden: (1) »Subtexte finden«, (2) »Gegentexte konstruieren« und (3) »Fremdgehen« (Hard 1995:66). Dabei tritt das Fremdgehen stets in Verbindung mit dem Finden von Subtexten bzw. dem Konstruieren von Gegentexten auf (ebd.:67). Während Variante (1) darum kreist, nicht-intendierte Botschaften aus Zeichen herauszulesen, steht bei der Variante (2) das Aufschlüsseln verdeckter »Botschaften in der Botschaft« (ebd.) im Vordergrund. Bei der Variante (3) stehen die Überschreitung bestehender Kodes und die Neukodierung eines bestimmten Gebiets im Zentrum (ebd.). D. h., dass vorgefundene Bedeutungsträger nicht unmittelbar als Zeichen für einen bestimmten Tatbestand interpretiert werden, sondern über alternative Deutungen neue Kodierungen etabliert und hierüber »ganz neue Tatsachen und Tatsachenfelder erschlossen werden« (ebd.). Somit liegt der Fokus der Spurensuche auf der Deutung von Zeichen sowie der (kognitiven) Rekonstruktion von Spuren bzw. auf der Rekonstruktion der Geschichte von Orten (Kruckemeyer 1993:39, Budke & Kanwischer 2007:17).
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es »das Ziel des Spurensuchers […], sich mittels Interpretationen von Zeichen die Welt zu erschließen«. Die Spurensuche dreht sich um das Wahrnehmen von Erscheinungen, das Bewusstwerden von Zeichen und das Nachspüren deren Bedeutungsgehalts (Ströhlein 1994:126). Über unterschiedliche Grade der Offenheit (thematische bis offene Spurensuche) gilt es, physisch-materielle Dinge als Bedeutungsträger – Zeichen – zu erforschen, womit die Dingwelt sowohl als Bestandteil einer materiellen Welt als auch als Bestandteil einer Kultur in den Blick rückt. Im Kern gründet die Spurensuche auf der Semiotik und rückt die kognitive Bedeutungszuweisung von Materialität durch handelnde Subjekte zum Ausgangspunkt und Kern der (methodischen) Überlegungen. Gegenüber der oben bestimmten Auslegung des Mappings und der Spurensuche als exkursionsdidaktische Methode im Geographieunterricht lässt sich ein fundamentaler Unterschied zu meinen Überlegungen festhalten. Denn in der von mir vorgeschlagenen pädagogischphänomenologisch grundierten Kartendidaktik betone ich die ästhetischen Lernerfahrungen, die sich im Laufe des Unterrichts vollziehen. Sinn wird in dieser Auslegung nicht an die Dingwelt herangetragen, sondern entsteht zwischen dem Aufforderungscharakter der Dinge und dem Antworten seitens der Lernenden. Dieser theoretische Unterschied wird auf Kartographischen Streifzügen auch unterrichtspraktisch relevant, da diese sowohl Momente des Affiziert-Werdens als auch des In-Bezug-Setzens auf Kartographischen Streifzügen im Blick haben. Folglich findet nicht lediglich die reflexive sondern auch die präreflexive Dimension der Erfahrung im Geographieunterricht unmittelbare Berücksichtigung. Diesen Gedanken möchte ich entfalten, indem ich zwei interdependente Facetten der künstlerisch-kartographischen Annäherung und Auseinandersetzung mit Orten und Räumen im Geographieunterricht – Ortsbegegnungen und Raumerkundungen – theoretisch voneinander abgrenze und in ihrem praktischen Zusammenwirken erläutere.
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Ortsbegegnungen »Orte bergen Themen, erzählen verschüttete Geschichten, haben tiefe Spuren und gefährliche Splitter, locken zum Verweilen und Genießen, sind Treffpunkte, lösen Gefühle und Assoziationen aus, provozieren zum Handeln und Nichtstun, grenzen aus und schließen ein. Orte haben ästhetische Qualitäten, die sich auf unser Wohl- und Unwohlsein auswirken. An manchen Orten verhalten wir uns verschlossen, vorsichtig, an anderen bewegen wir uns offener und freier. Als Reisende von Ort zu Ort kommt uns das Alltägliche selbstverständlich vor. Aber es ist nicht selbstverständlich. Es versteht sich nicht von selbst.« Brohl (2006:141)
Ein Mapping ist undenkbar ohne einen Ort, dem begegnet wird. Es ist nicht das fixierte Mapping, welches als letztgültiges Ziel eines Mapping-Unterfangens verstanden wird und worin sich der Reiz der Methode erschöpft. Vornehmlich bieten Mapping-Projekte die Möglichkeit, sich bereits bekannten oder auch noch völlig unbekannten Orten auf vielfältige Weise und über vielgestaltige Darstellungsformen zu nähern, sich selbst zu verorten bzw. Material zu sammeln und anzuordnen, mit dem im weiteren Verlauf gearbeitet wird. Es geht bei Ortbegegnungen immer darum, Neues in Erfahrung zu bringen. Dies lässt sich am Begegnungsbegriff erläutern. Bollnow macht in seinen ausführlichen Überlegungen zum Begegnungsbegriff in der Pädagogik deutlich, dass zur Begegnung »immer schon das hervorgehobene Ereignis des wirklichen Zusammentreffens« angelegt ist (Bollnow 1955:15). Mit der Bezeichnung Ortsbegegnung meine ich im Kontext der künstlerischen Kartographie folglich mehr, als das (kartographische) Erschließen eines Ortes entlang vorher definierter Ziele oder die absichtsvolle künstlerische Intervention an einem bestimmten Ort. Begegne ich einem Ort, lasse ich mich immer auch auf das ein, was mir vor Ort widerfährt, nur dann ist von einer Begegnung im eigentlichen Sinne zu sprechen: »Es ist immer etwas von mir und meiner Planung Unabhängiges, das mir in der Begegnung überraschend entgegentritt, etwas Zufälliges und nicht Voraussehbares« (ebd.). Folglich tritt mir das Begegnende als etwas Forderndes gegenüber, das eine angemessene Antwort fordert (ebd.:17). Allerdings sind diese Ansprüche vielschichtig und nicht in jeder Situation direkt zugänglich. Orte können einen ganz unbewusst in Beschlag nehmen, Emotionen
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auslösen oder Stimmungen evozieren. Die Beziehung zwischen mir und Ort entfaltet sich folglich nicht als rein kognitiver Akt: Orte geben sich auf vielfältige Weise preis, sprechen uns über alle Sinne an, werden von uns wahrgenommen und erlauben es uns, mit ihnen in vielfältiger Weise in Beziehung zu treten (Arlt 1999:216). Gleichzeitig sind Ortsbegegnungen, sofern sie pädagogisch intendiert geschehen, »weder planlos noch schicksalhaft oder zufällig« (Hasse 2014:54), sie folgen aber in erster Linie keinem inhaltlich-thematisch definierten Erkenntnisziel. Vielmehr ist ihr Ziel ein methodologisches: »Einem Ort in einer Weise zu begegnen, die einen Wissenszuwachs vermitteln soll« (ebd.). Die vielfältigen Verfahren, die im Zuge eines Mapping-Projekts zum Einsatz kommen, stellen solch eine didaktisch arrangierte Weise dar, wie sie Hasse anspricht. Indem die (künstlerische) Kartographie also Ortsbegegnungen zulässt und sie zugleich pädagogisch rahmt – da es immer auch darum geht, dem auffällig gewordenen (kartographisch) Ausdruck zu verleihen – lässt sich sowohl etwas über den Ort in Erfahrung bringen als auch etwas über die Kartographie lernen und sich darüber hinaus das eigene Verhältnis zur Welt thematisieren. Teilweise wird bei didaktischen Überlegungen zu Mapping-Projekten die sorgfältige Projektplanung im Vorfeld in den Vordergrund gestellt. Damit wird betont, dass die umfangreiche Vorarbeit zur Ideenfindung und künstlerischen Umsetzung vor dem eigentlichen Feldaufenthalt es ermöglicht, vor Ort »zügig an den Einzelprojekten zu arbeiten« (Quint 2011:24). Demgegenüber erscheint es mir weitaus lohnender, den Arbeitsphasen vor Ort, die vor der Festlegung des Themas des jeweiligen Einzelprojekts liegen, größere Bedeutung für das Gelingen eines Mappings zuzuschreiben.21 Quint selbst merkt zu einem von ihm durchgeführten Mapping-Projekt an, dass »manches Vorhaben durch den Eindruck und das Erlebnis der Stadt [Florenz; F.P.] revidiert wurde und eine andere Richtung nahm« (ebd.). Es sind genau diese Momente des Erlebens und Erfahrens vor Ort, die zum Umdenken, Neu-Hinsehen und In-Frage-Stellen anregen, denen ich besondere Aufmerksamkeit schenke, wenn ich von Ortsbegegnungen spreche. Jedes Mapping verwirklicht sich an spezifischen Orten, an denen sich Situationen ereignen können, die uns zum erneuten Hinsehen anregen, die uns zum Fragen stellen verleiten und bereits Bekanntes und vermeintlich Gewusstes auf die Probe zu stellen vermögen. Damit dies gelingen kann, inkorporieren Mapping-Projekte vielfältige Dokumentations- und Aufzeichnungstechniken, um das Erlebte und Erfahrene festzuhalten bzw. zu sichern. Diese sind wiederum eingebettet in einen groben Handlungsrahmen: »Forschungsort/-feld wählen, Begehung, Ausprobieren und Experimentieren mit verschiedenen Techniken vor Ort, Entkonventionalisierung« (Hobler 2013:18). Über die letztgenannte »Entkonventionalisierung« (vgl. u. a. 21 Auch innerhalb der kunstpädagogischen Debatte wird dies an vielen Stellen betont.
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Busse 2007a:14) von Alltagssituationen werden Begegnungen didaktisch gerahmt. Dabei geht es darum neue Perspektiven auf bereits Bekanntes, Vertrautes oder auch Fremdes zu finden, bspw. über die gezielte Irritation eingeschliffener Handlungen: So wird es angeleitet, sich »z. B. auf einen seiner Sinne [zu] konzentrieren, der sonst eine untergeordnete Rolle spielt (wie das Hören oder Tasten) oder einen Weg abseits der breiten Straßen [zu] wählen« (Hobler 2013:18). Entkonventionalisierung befreit Orte von ihrer Alltäglichkeit und erlaubt es uns, mit entfesseltem Blick an sie heranzutreten (Busse 2007b:201). In gewisser Weise lässt sich das Mapping also als didaktischer Rahmen dafür verstehen, das Aufwachen aus dem Schlummer des Gewohnten (vgl. Kapitel 3.2.2) zu begleiten, indem dies methodenimmanent angelegt ist und Mapping-Projekte von hier aus ihren Anfangspunkt finden. Auf diese Weise geht es beim Mapping auch darum, Orte neu in Erscheinung zu bringen. Raumerkundungen »Raum erschließt sich nicht allein im Bereich der visuellen Eindrücke. Das drückt sich auch in dem Hinweis auf das Sich-verlieren und Versinken der Eindrücke ›in den stilleren Straßen‹ aus. Die Geräuschsphäre klingt als wichtige Dimension städtischer Eindrücke an. Die Bereiche der anderen nicht-visuellen Sinne ließen sich ergänzen.« Hasse (2003:178)
Gegenüber der Begegnung von Orten betone ich über die Erkundung von Räumen das absichtsvolle Erforschen räumlicher Bedingungen an (spezifischen) Orten. Mithilfe vielgestaltiger künstlerischer Mittel wird der Raum im Zuge von Mapping-Projekten immer auch »als Forscher, Flaneur, Entdecker oder Tourist« erkundet (Busse 2007b:153). Eng mit dem Erkunden ist also die Bewegung verschränkt, über die sich Raum aus verschiedenen Perspektiven erschließen lässt. Um Räume aktiv erkunden zu können, ist es sinnvoll, eine Idee davon zu haben, welcher räumliche Aspekt erforscht werden soll, um diesen dann in Archiven festhalten zu können. Darüber hinaus können künstlerische Kartographien dazu dienen, weitere (neue) Sichtweisen auf Räume zu kommunizieren, zu etablieren und hierüber untereinander bzw. auch mit der Öffentlichkeit in den Dialog zu treten. Die Neubewertung von Orten und Räumen im Mapping sorgt dafür, dass andere Sichtweisen auf vermeintlich alltägliche und in ihrer Bedeutung eindeutige Orte
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und Räume zum Nachdenken über Raumverhältnisse und eigene Raumbedeutungen anzuregen vermögen. Bei der Raumerkundung wird folglich nicht danach gefragt, wie der Raum ist, sondern wie er (auch) sein könnte. Über die Erkundungsmomente beim Mapping wird es möglich, Strukturen des Raums nachzuspüren und Möglichkeiten der Darstellung zu finden. Diese Ordnungsprozesse über die Darstellung in Archiven und im fixierten Mapping erlauben es, das Erlebte der Reflexion zugänglich zu machen. Indem Räume in Archiven auf vielfältige Weise festgehalten werden, wird es bspw. auch möglich, Raumgestaltungen nachzuvollziehen, darin Prinzipien zu erkennen, oder auch kulturhistorisch bedeutsame Räume kennenzulernen und in Ansätzen zu verstehen (Winderlich 2008:20). Damit haben neben Fragen individuellen Raumerlebens und deren Darstellbarkeit bspw. auch Fragen nach gezielter Inszenierung von Räumen oder nach diskursiven Deutungshoheiten einen Platz in Mapping-Projekten. »Forschende Kartographie untersucht gewachsene Räume, ihre Veränderungen und die Macht über Räume. Sie entzaubert Raumvorstellungen und macht sie zugänglich. Mapping entkonventionalisiert den Umgang mit Räumen.« (Busse 2007b:285) Räume zu erkunden ist damit ein in hohem Maße reflexives Unterfangen. Denn um die Vielfalt der Beschreibungsformen räumlicher Strukturen, räumlicher Erfahrungen und räumlichen Erlebens in ihrer Tragweite Bedeutung erlangen zu lassen, ist es wichtig, im Anschluss an die individuellen Anordnungsprozesse im Zuge der individuellen Mappings die Unterschiede der einzelnen fixierten Mappings in der Gesamtgruppe der Schüler zu reflektieren (Winderlich 2008:21). Dabei geht es sowohl darum, besondere Details hervorzuheben, als auch »die Raumverhältnisse und die Bewegungsmöglichkeiten« an einem spezifischen Ort zu verdeutlichen (ebd.). Es geht dann bei der Reflexion des Erfahrenen darum, neue und andere Blicke auf Orte und Räume zu gewinnen und zu reflektieren, die wiederum in Bezug zu den eigenen Erfahrungen und sich selbst gesetzt werden können. Die Möglichkeit der absichtsvollen Erkundung und die reflexive Aufarbeitung des fragwürdig gewordenen sind demnach integrale Bestandteile einer künstlerischen Kartographie. Das Erkunden ist dabei nicht zwangsläufig auf kartographische Verfahren festgelegt. Weitere Möglichkeiten, all das, was vor Ort auffällig wurde, festzuhalten sind sämtliche denkbaren Formen der Aufzeichnung: Sammlungen und Archive aus Skizzen, Fotos, Materialien, Interviews, Protokolle, Videos und vieles mehr. Mapping meint mehr als die bloße Kartierung des Erlebten.
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Der Begriff Mapping ist als Metapher für die künstlerische Erkundung von Räumen zu verstehen und für die Dokumentation dieser Erlebnisse und Spuren in Archiven (Busse 2007b:154).22 Im Geographieunterricht kann Mapping Gelegenheiten dazu bieten, »Möglichkeitsräume« (vgl. Davy 2002) erfahrbar zu machen, die sich gegen ein theoretisches Raumverständnis wenden, welches über eine unreflektierte Nutzung und Herstellung von Karten reproduziert wird (vgl. Kapitel 4.1).23 Der besondere Wert von Möglichkeitsräumen liegt für Davy (2002:531) in ihrer Mehrdeutigkeit, Unübersichtlichkeit oder auch Interpretationsbedürftigkeit begründet. Möglichkeitsräume verweigern sich einer klaren Grenzziehung. An der Frontier,24 wo Bekanntes auf Unbekanntes, Eigenes auf Fremdes trifft bilden sich Möglichkeitsräume (ebd.). Mithilfe von Mapping wird die Relevanz von Phänomenen, welche »am Rand der üblichen Wahrnehmung von Räumen liegen« betont (ebd.:530). D. h., dass sich über Mapping Schichten von Orten und Räumen medial in Erfahrung bringen lassen, die in einer herkömmlichen Betrachtungslogik unberücksichtigt blieben, für das Aufspüren und Verstehen der Charakteristika und Besonderheiten eines jeweiligen Ortes aber unverzichtbar sind (vgl. hierzu die phänomenologischen Raumbeschreibungen von Bollnow 1963a, Arlt 1999 oder Hasse 2015a, 2015b, 2017). Konkret sind damit Wahrnehmungsmuster, Gefühle, Stimmungen, Atmosphären und weitere Spezifika eines Ortes gemeint, die räumlich wirksam werden und ihn auszeichnen. Anders gesagt: Es geht darum, Raum im Erleben zu dem machen, der er ist. Zugleich stellt das Mapping eine Art und Weise der Annäherung an Räume dar, die den Blick auf ihn konstituierende gesellschaftliche Prozesse wirft. Für den Geographieunterricht relevante Inhalte wie z. B. Globalisierung, Migration oder eben auch die Kategorie Raum an sich werden in dieser Herangehensweise als (fach-)kulturelle Prozesse in den Blick genommen, die Veränderungen unterliegen und Räumlichkeit erst und immer wieder neu formieren. 22 Bianchi (1997) wählt für die vielgestaltigen Archive, die im Zuge von Mapping-Projekten angelegt werden, den Begriff Atlas – um Wortdoppelungen zu vermeiden, greife ich seinen Begriff nicht auf. 23 Der nachfolgende Absatz basiert auf einem Gedanken, den ich bereits 2016 im Rahmen eines Artikels entfaltet habe (vgl. Pettig 2016). Für die vorliegende Arbeit habe ich meine Überlegungen um einige Aspekte erweitert. 24 Die Frontiermetapher entlehnt Davy der amerikanischen Siedlungsgeschichte. Unter Rückgriff auf Turner (1894) hält Davy (2002:531) fest, dass unter der Frontier ein unscharfer »Grenzbereich zwischen ›Wildnis‹ und ›Zivilisation‹« verstanden wird, in welchem »sich Siedler nicht bloß Land angeeignet und ihre aus Europa mitgebrachten kulturellen Praktiken und Symbole durchgesetzt, sondern habe ein spezifischer kultureller Transformationsprozess stattgefunden«.
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Konsequenzen der Unterscheidung »Erfahrung erscheint irgendwo in der Mitte zwischen (sinnlicher) Wahrnehmung und (theoretischer) Vorstellung.« Hentig (1973:21) »Wenn ästhetische und theoretische Wege der Annäherung an urbane Räume auch kategoriale Differenzen aufweisen, so befruchten sie sich mitunter doch gegenseitig.« Hasse (2015a:7)
Bringt man die vorangegangenen Überlegungen zusammen, lässt sich zweierlei festhalten: (1) Einem Ort zu begegnen bedeutet nicht, ziel- und planlos an einem Ort herumzuirren, einem Ort zu begegnen heißt aber, sich offen zu halten für das, was sich mir vor Ort zeigt. Dies kann gelingen, indem bewusst die Perspektive geändert wird, andere Wege eingeschlagen werden, erneut hingesehen wird, verweilt wird, gelauscht wird, sich Gerüchen zugewandt wird; kurzum: indem man sich über Entkonventionalisierung und die Entfesselung des Blicks auf das einlässt was auffällig wird und dies auf vielfältige Weise dokumentiert. (2) Einen Raum zu erkunden setzt hingegen eine gewisse Perspektive voraus, die man für die Erkundung anlegt: bspw. die Erkundung von Atmosphären an einem Ort oder die Erkundung bestimmter räumlicher Strukturen, die sich u. a. über Symboliken, Praktiken oder Architektur ausdrücken. Auf den Punkt gebracht geht es darum, dass auffällig Gewordene (reflektiert) aufzuarbeiten und (theoretisch) auszudifferenzieren. Verbindet man diese Gedanken mit der zuvor entfalteten paradoxalen Struktur der Erfahrung (vgl. Kapitel 3.2.3) kann man diese Idee präzisieren. Während der Ortsbegriff darauf abzielt, die pathische Dimension jeder Begegnung mit den Dingen an konkreten Orten des Alltags zu betonen (im Sinne des erfahrungsbasierten lebensweltlichen Bezugs zur Welt), ermöglicht ein mehrdimensionaler bzw. multiparadigmatischer Raumbegriff die vielschichtige theoretische Reflexion des Zustandekommens von Raum und Räumlichkeit (im Sinne der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Welt) (Tab. 4-1).25
25 Gleichzeitig ist Begegnung kein nur passiv-rezeptiver Prozess; Begegnung ist auch aktiv im Sinne von behandeln (Hasse 2014:53).
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Tabelle 4-1: Facetten Kartographischer Streifzüge Ortsbegegnungen
Raumerkundungen
Betonung der pathischen Dimension der ästhetischen Erfahrung (im Sinne des sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens)
Betonung der responsiven Dimension der ästhetischen Erfahrung (im Sinne der reflexiven Auf- und Verarbeitung)
Begegnung als Modus, in dem Neues in Erscheinung tritt
Erkundung als Modus, dem auffällig gewordenen Ausdruck zu verleihen und dies genauer zu betrachten
explorative Zugangsweisen, in denen Widerfahrnissen Aufmerksamkeit geschenkt wird und diese Bedeutung erlangen
systematische Zugangsweisen zum Phänomen über raumtheoretische Perspektivierung
Methodologische Zielperspektive: Begegnungen mit Orten ermöglichen, die vielschichtige Erkenntnisprozesse initiieren
Inhaltlich-thematische Zielperspektive: Sensibilisierung für multiparadigmatische Raumkonzepte und Verfolgung individueller raumrelevanter Forschungsfragen, reflexive Erweiterung kartographischer Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten
Methodische Implikationen: Entkonventionalisierung und Entfesselung des Blicks
Methodische Implikationen: Sammlungen und Archive
Quelle: Eigene Darstellung
Indem ich das Zusammenspiel beider Facetten der Kartographischen Streifzüge betone, wird deutlich, dass sich im Zuge des Geographieunterrichts ästhetische Weisen der Welterschließung und wissenschaftlich orientiertes bzw. absichtsvolles Handeln aufeinander beziehen und einander ergänzen. Beide zuvor entfalteten Vorgehensweisen müssen demnach als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden, die in der künstlerischen Kartographie aufeinander verwiesen sind. So können bspw. ebenso bei der Erkundung Dinge auffällig werden und zuvor getroffene Entscheidungen oder formulierte Pläne daraufhin wieder in Frage gestellt oder auch neu gefasst werden. An dieser Stelle lässt sich die Bildungsrelevanz der künstlerischen Kartographie für den Geographieunterricht auf den Punkt bringen. Denn diese Form der Kartographie ermöglicht die Verschränkung affektiv ästhetischer Zugangs- und Ausdrucksweisen bezüglich der Beziehung von Selbst und Welt mit wissenschaftlich-theoretischen Reflexionsmomenten im Sinne einer (leit-)frageorientierten, stärker systematischen Aufarbeitung. In der praktischen Umsetzung von Mapping-Projekten werden die hier theoretisch voneinander unterschiedenen Zugangsweisen also i. d. R. zusammenfallen
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bzw. sich gegenseitig durchdringen und ineinander übergehen. Dies ist gerade auch deshalb der Fall, weil Begegnungs-, Dokumentations-, Erkundungs- und Reflexionsmomente nicht im Vorfeld exakt geplant werden können. Sie können sich zu jeder Zeit während des Projekts ereignen und müssen vom Lehrenden responsiv begleitet werden.26 Es gilt folglich, günstige Momente für Lernerfahrungen als solche zu erkennen, ernst zu nehmen und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten zu erarbeiten, dem auffällig Gewordenen Gestalt zu verleihen und im Anschluss über die Projekte zu reflektieren. 4.2.3 Mapping als Praxis des In-Bezug-Setzens | Zur Performativität der Karte »Acts of mapping are creative, sometimes anxious, moments in the coming to knowledge of the world.« Cosgrove (1999:2) »Die Empfindung der ›Differenzqualität‹ zwischen faktischer Wahrnehmung und noch nicht Sichtbarem macht den Handlungsimpuls des Mappings aus: dass es etwas gibt, das man noch nicht sieht. Wie man das zu Tage fördert, was noch nicht bekannt oder gefunden ist, und wie man das darstellen kann, was man beim Suchen wahrnimmt und dann gefunden hat, beschreiben die Methoden des Mappings.« Busse (2007b:193)
Indem Ortsbegegnungen als mögliche Lernanlässe verstanden werden, rückt das Mapping als Form der Aufzeichnung in den Fokus, die es möglich macht, dem auffällig Gewordenen Ausdruck zu verleihen. Es geht beim Mapping um zweierlei: Auf der einen Seite ist es das pädagogische Ansinnen bei der künstlerischen Kartographie, die »emotional-affektive Annäherung an Weltzusammenhänge aus der Perspektive des forschenden Individuums« (Brenne 2006:198) möglich(er) werden zu lassen. Auf der anderen Seite bieten künstlerisch-kartographische Verfahren die Möglichkeit, eigene Ausdrucksformen für das an einem Ort erlebte zu
26 Die Rolle des Lehrenden im Zuge von Unterrichtsprojekten zur künstlerischen Kartographie wird im Nachgang an das Projekt reflektiert (vgl. Kapitel 9).
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finden und Irritationen, Unsicherheiten oder auffällig Gewordenes anschaulich werden zu lassen. Die fixierten Mappings dokumentieren »einen künstlerischen Ausdruck, der Spaß findet am eigenen Fragen, Forschen, Suchen, Erkunden und Entfalten« (Bianchi 1997:17). Ein Mapping-Projekt folgt daher nicht vorher abgesteckten didaktischen Pfaden, die von den Schülerinnen und Schülern nachgelaufen werden sollen: »Mapping eröffnet einen künstlerischen Spiel- und Freiraum, der sich nicht auf bereits bekannte Ergebnisse festlegen, sondern der, im Gegenteil, etwas Neues finden und entfalten will« (ebd.). Mit der performativen27 Dimension der Karte markiere ich die Erfahrungen organisierende und auch modifizierende Facette der künstlerischen Kartographie: Erfahrungen werden im Zuge eines Mappings sowohl hervorgebracht als auch in ihren Horizonten transformiert. In diesem Sinne kann der Mapping-Prozess Lernvollzüge markieren, indem die künstlerische Kartographie eine Praxis des In-Bezug-Setzens zu Irritationen darstellt, welche sich durch Fremdansprüche in der Begegnung mit alltäglichen Orten ereignen. Das In-Bezug-Setzen ermöglicht es,
27 Die schillernde Begriffsgeschichte des Performativen soll an dieser Stelle nicht detailliert aufgearbeitet werden, dennoch soll der Begriff mit einigen Federstrichen eingeordnet und herausgestellt werden, inwieweit dieser bei der Darstellung meiner Überlegungen Wirkung entfaltet. John Langshaw Austin führte den Begriff »performativ« in den 1950er Jahren in die Sprachphilosophie ein. Er betonte mit dieser Wortschöpfung, dass verbale Äußerungen Dinge bzw. Sachverhalte nicht lediglich zu beschreiben vermögen, sondern im Vollzug Wahrheiten hervorbringen können, indem sie immer auch Handlungen sind. Am Beispiel der Eheschließung lässt sich dies verdeutlichen: Die Worte des Standesbeamten »hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau« beschreiben keinen bereits bestehenden Sachverhalt, sondern bringt diesen über das Sprechen zuallererst hervor (vgl. Fischer-Lichte 2012:38). In Arbeiten von z. B. Derrida, Chomsky, Butler oder auch Fischer-Lichte wurde diese Idee aufgegriffen und jeweils in spezifischer Weise weiterentwickelt, sodass sich die Begriffsverwendung und -bedeutung innerhalb der letzten Jahrzehnte – im Zuge des performative turn – vielgestaltig ausdifferenzierte (vgl. Hoffarth 2009:17-24). Aktuell liegen damit Ansätze aus den Kultur-, Sozial- und Kunstwissenschaften vor, die sich der Performativität widmen und die Begriffsverwendung des Performativen über die Sprache hinaus auf weitere Akte, (theatrale) Aufführungen und Inszenierungen weiteten. In der vorliegenden Arbeit dient mir der Begriff vornehmlich dazu, die transformative Kraft des Performativen als Dimension des Kartographierens herauszustellen. Das künstlerische Kartographieren bezeichnet nicht lediglich einen bestimmten Vorgang, sondern vollzieht sich selbst als Welterschließung. Der Akt des Aufzeichnens kann entsprechend Erfahrungen in die Welt bringen, die zuvor zwar spürbar aber nicht fassbar waren.
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Erfahrungen einen Ausdruck zu verleihen und über diese mit anderen in Austausch zu gelangen. Einen passenden Ausdruck für etwas, was auffällig wurde, zu finden, bedeutet also immer auch, etwas in einer Art und Weise zur Darstellung zu bringen, die dazu geeignet ist, das erlebte Phänomen (auch für andere) sichtbar zu machen (vgl. Hobler 2013:19). In gewisser Weise bedarf es also eines visuellen Mediums, welches Erfahrungen übersetzt und es möglich macht, Wahrnehmungserfahrungen und Darstellungsmodi eines Raums zu ordnen und Fragen an diesen zu stellen. Auf diese Weise wird Raum von seiner Alltäglichkeit befreit und rückt als Möglichkeitsraum in den Blick, der es erlaubt, eigene Erfahrungen und Weltbeziehungen zu thematisieren. Denn durch diese »Abstraktionsvorgänge und Übersetzungen wird Abstand zum ursprünglichen Erleben gewonnen, der neue Sichtweisen provoziert« (Haase & Heil 2008:36). Rückt man dieserart die performative Dimension der Karte ins Blickfeld, hebt man folglich auf die Bildwerdung von Erfahrungen ab. Über Mapping werden die Grenzen der konventionellen Kartographie zwar überschritten, gleichzeitig bändigt die (künstlerische) Kartographie als Verfahren aber auch die Kontingenz, die im Akt der Aufzeichnung angelegt ist. Dies resultiert aus dem Umstand, dass Mapping-Projekte immer um Fragestellungen der Schülerinnen und Schüler an einen konkreten Ort kreisen und diesen in einem erweiterten kartographischen Sinn Ausdruck verliehen wird. Die Bildwerdung darf dabei nicht als kausal-linearer Prozess fehlinterpretiert werden, denn dann wäre die Performativität der Karte unterlaufen. Mit Muhr (2012a, 2012b, 2014) lässt sich der Prozess der Bildwerdung von Erfahrung genauer verstehen. Bei der künstlerischen Kartographie ist anfangs noch gar nicht klar, was alles aufgezeichnet wird, »denn die Karte entsteht beim Zeichnen« (Muhr 2014:2). Allerdings gibt es aufgrund der für Mapping-Verfahren konstitutiven Intermedialität zwangsläufig Übersetzungsprozesse von einem Format in ein anderes, also z. B. von der Zeichnung zum Text, wenn eine Darstellungsweise an ihre Grenzen gerät. Denn die künstlerische Kartographie kreist »zwischen nach außen gerichteter Aufmerksamkeit (exkursieren, perzipieren), nach innen gerichteten Verarbeitungsprozessen (zeichnen, schreiben, erinnern) und austauschorientierten Verhandlungen (Karten zeigen, befragen, erläutern, thematisch überarbeiten)« (Muhr 2012a:426, 2012b:103). Insofern können Unstimmigkeiten und Fragwürdiges an den Grenzen der jeweiligen Ausdrucksform sichtbar werden. Die Reflexion und das Neu-Denken der eigenen Aufzeichnungen – auch im Austausch mit anderen – erlauben es, das Fragwürdige aufzuspüren. Das was eingangs nur als Auffälligkeit spürbar war, scheint dann zwischen den Formaten auf und wird, in Form von Fragen, thematisierbar. Der Mehrwert von Mapping-Projekten im Geographieunterricht ist es dann, Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, Fra-
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gen zu räumlichen Bedingungen an spezifischen Orten über ihre eigenen Erfahrungen und die damit verschränkten kartographischen Aushandlungen zu finden. Denn indem sie (vermeintlich bekannten) Orten mit forschendem entkonventionalisierten Blick begegnen, kann Raum auf vielfältige Weise entdeckt, zum Thema gemacht und hinterfragt werden, bspw. über Raumwahrnehmungen, Bedeutungszuschreibungen, räumliche Bedingungen bzw. grundsätzlich alltägliche Raum(re)produktionsmuster. Der Erkenntnisgewinn stellt sich dann nach dem Mapping in der Reflexion des Projekts auf Grundlage der Entdeckungen während des Aufzeichnens ein (Busse 2008:18). Vor die schlichte Feststellung der Andersartigkeit eines Raumes oder das rein subjektivistische künstlerische Erleben eines Raumes, tritt im Zuge von Mapping-Projekten also auch Weiteres: Es geht immer auch um das Erkunden des Anderen bislang Verborgenen im Bekannten und um das Erkennen und Strukturieren von vormals »weißen Flecken« (Schnurr 2010:29). Kurzum: Es geht um nicht weniger als die Erschließung von Welt. Insofern wird auch deutlich, inwieweit die künstlerische Kartographie performativ ist, denn über das Mapping tritt etwas zu Tage, was zuvor vielleicht spürbar, aber nicht konkret ausdrück-, fass- bzw. bestimmbar war. Mapping muss damit als performativer Vollzug verstanden werden, welcher Erfahrungen nicht abbildet bzw. festhält, sondern vielmehr an deren Genese immer auch beteiligt ist. Im Zuge eines Mappings entstehen »neue Gedanken, Assoziationen und Reflexionsmöglichkeiten, die es ohne diese Aufzeichnungs- und Präsentationsform so nicht gegeben hätte« (Heil 2008:o.S.). Für Busse (2007:163) ist die (künstlerische) Kartographie in diesem Sinne »poietisch, weil sie etwas hervorbringt, was zuvor als Sinn oder konstituierende Bedeutung nicht sichtbar ist.« In den Worten Bianchis (1997:16): »Künstler erzeugen die Wirklichkeit, die sie kartieren, indem sie sie kartieren«. Die individuelle Auseinandersetzung mit dem vor Ort Affizierenden im Mapping gleicht einem Ordnungsprozess, über welchen Erfahrungen an bestimmten Orten entlang deren räumlichen Implikationen sichtbar und damit reflektierbar gemacht werden. Diese Form der Kartographie kreist damit um die Fragen, »wie man das zu Tage fördert, was noch nicht bekannt oder gefunden ist, und wie man das darstellen kann, was man beim Suchen wahrnimmt und dann gefunden hat« (Busse 2007b:193). Das pathische Moment einer Ortsbegegnungen lässt uns das Nicht-Mehr spüren, während uns das Grübeln, »wie wir eine bestimmte Erfahrung beschreiben oder visualisieren können, […] die Vorläufigkeit des Noch-Nicht« (Sabisch 2009:22) erleben lässt. Rücken wir die Performativität der Karte in den Blick und entwerfen Unterrichtsumgebungen, die dieser Dimension der Karte(nproduktion) Rechnung tragen, kann es gelingen, ephemere Lernerfahrungen anzuregen und in Spuren festzuhalten. Achtet man hingegen nur auf die Produkte und Ergebnisse, gehen sie i. d. R. verloren (vgl. Busse 2004:9).
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Mit der Betonung der performativen Dimension der Karte ist also ein Weg gefunden, wie ästhetische Aufzeichnungsprozesse als sinnstiftende Vollzüge verstanden werden können. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Unterrichtsumgebung bietet den Teilnehmenden folglich eine Rahmung, performativ auf Widerfahrnisse antworten zu können. Damit wird der Prozessualität von Lernerfahrungen konsequent Rechnung getragen. 4.2.4 Zur Perspektivierung von Raumerkundungen »Die Verfügbarkeit gezielt entwickelter Begriffe bildet die Basis dafür, etwas Vertrautes mit anderen Augen sehen zu können.« Muhrmann (2008:198)
Die theoretische Kategorie Raum dient, wie erläutert wurde, als Referenzrahmen der Formulierung von Forschungsfragen und wird vor dem Hintergrund der zuvor entfalteten Überlegungen meines Erachtens in vielerlei Hinsicht an zentrale raumtheoretische Überlegungen innerhalb der geographiedidaktischen Debatte zum »Raum« der letzten Jahrzehnte anschlussfähig.28 Die beispielhaften Fragen, die ich zu jeder kurz skizzierten raumtheoretischen Perspektive aufzeige, sind kein erschöpfender Pool an Fragen, sondern Exempel für mögliche Thematisierungen von Auffälligkeiten vor Ort, welche für Schülerinnen und Schülern spürbar werden. Dem Lehrer kommt also die Aufgabe zu, Fragen im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern aufzuspüren, zu entwickeln und das auffällig Gewordene theoretisch zu perspektiveren. Es geht nicht darum, den Schülerinnen und Schülern aus einem Pool an richtigen Fragen, die eine geeignete und richtige Frage vorzugeben. Welche Perspektiven sich im Einzelnen anbieten, um ein geographisches Phänomen mithilfe von Mapping zu er- und bearbeiten, hängt sowohl vom Phänomen, den Schülerinnen und Schülern, der inhaltlich-thematischen Ausrichtung
28 Die hier ausgewiesenen theoretischen Zugriffe stellen lediglich eine Auswahl möglicher Zugänge dar. Dabei beschränke ich mich auf einige Theoriehorizonte, welche im Rahmen des durchgeführten Schulprojekts bedeutsam wurden, indem sie dabei halfen, die Erkundungen der Phänomene, welche den jeweiligen Schülerinnen und Schülern auffällig wurden, zu perspektivieren (vgl. Kapitel 8). An dieser Stelle wird die grundsätzliche Schwierigkeit sichtbar, die Prozessualität meiner eigenen Forschungstätigkeit im Nachhinein mit der Semantik eines stringenten Textes einzufangen. Vorgriffe, Verweise und Rückblicke innerhalb des Fließtextes müssen daher als Belege für den Forschungsprozess verstanden werden, der eben nicht strikt linear verlaufen ist.
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des Projekts, als auch der theoretischen Bezugspunkte ab, die der Lehrkraft im jeweiligen Moment zur Verfügung stehen. Die nachfolgenden Perspektiven stellen also lediglich eine exemplarische Auswahl an möglichen Hinsichten dar, welche bei der Strukturierung von Mapping-Projekten Bedeutung erlangen können. (1) Raum ließe sich im Modus seiner Produktion verstehen (vgl. Lefebvre
1974/2006, 1991, Schmid 2010), indem Bedeutungszuschreibungen, überindividuelle Wissensbestände und soziale Praktiken in dynamischem Wechselspiel Raum hervorbringen (Dickel & Scharvogel 2012:37-42). Fragen an Räume, die in dieser Perspektive untersucht werden könnten, wären bspw.: Welche Praktiken ermöglicht ein bestimmter Ort? Welche Praktiken werden verunmöglicht? Was sind angemessene Praktiken? Woran bemisst sich, was angemessen ist, was nicht? Lassen sich Praktiken, architektonische Gestaltungen oder Karten und weitere Medien ausmachen, die ›den Raum‹ gezielt entwerfen? Wie wirken sich die Gestaltungen auf das Erleben aus? Was empfinde(n) ich / meine Mitschülerinnen und Mitschüler / Passanten? (2) Ebenso ließe sich mithilfe von handlungstheoretischen Ansätzen als Grundlage alltäglicher Regionalisierungen und des Geographie-Machens Raum als Produkt des Zusammenspiels von Handlungen, Materialität und Bedeutungszuschreibungen konzeptualisieren (vgl. Werlen u. a. 1997, 1999, 2010). Fragen an Räume, die in dieser Perspektive untersucht werden könnten, wären bspw.: Inwieweit werden räumliche Strukturen über Handlungen von bestimmten Personen an einem Ort erzeugt? Welche Handlungen lassen sich beobachten? Lassen sich verschiedene Handlungen erkennen? Konkurrieren mehrere Akteure um die Deutungsmacht? Welche Handlungen ermöglicht mir der Raum? Kann ich mir den Raum über andere Handlungen erschließen, aneignen bzw. ihn umdeuten? (3) Darüber hinaus könnte »die Analyse und Identifizierung sozialer und gesellschaftlicher Einflüsse bei der diskursiven (Re-)Produktion räumlicher Zusammenhänge« fokussiert werden (Fuchs & Rolfes 2012:455). Als methodischer Bezugspunkt dieser Perspektive fungiert die Diskursanalyse (z. B. Keller 2007), welche die Untersuchung gesellschaftlicher Diskurse im Blick hat und auf der theoretischen Grundlegung der »Diskurstheorie« (vgl. Foucault 1973) fußt. Fragen an Räume, die in dieser Perspektive untersucht werden könnten, wären bspw.: Wie wird über einen bestimmten Raum gesprochen? Welche Erzählungen existieren (nebeneinander)? Gibt es alternative Deutungen? Wie ist die Historie des Ortes? Unterscheidet sich die heutige Themati-
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sierung des Raumes von früheren Erzählungen? Wer steht hinter den Erzählungen? Auf welche Weise und warum werden diese Erzählungen fortlaufend von welchen gesellschaftlichen Akteuren (re)produziert? (4) In phänomenologischer Perspektive ließe sich fokussieren, wie Raum auf vielfältige Weise Wirkungen entfaltet, die in »Gefühlen« (Lehnert 2011), »Gestimmtheiten« (Bollnow 1963a) und »Atmosphären« (Kazig 2007, Böhme 2013, Schmitz 2014, Hasse 2015a, 2015b) spürbar werden und Raumerfahrungen hierüber strukturieren. Fragen an Räume, die in dieser Perspektive untersucht werden könnten, wären bspw.: Welche Elemente entfalten auf welche Weise (räumlich) Wirkungen auf mich und andere (Licht, Gerüche, Architektur, …)? Wie lassen sich meine / die Stimmungen beschreiben, die sich bei der Begehung und auf dem Streifzug einstellen? Wie lassen sich meine Wahrnehmungen und Empfindungen an einem bestimmten Ort beschreiben? Überlagern sich mehrere Wahrnehmungen bzw. Empfindungen innerhalb der Klasse an einem Ort? Lässt sich die Atmosphäre mithilfe weiterer Elemente umdeuten? Raum wird über Mapping-Projekte also in Anlehnung an die »vier Raumkonzepte im Geographieunterricht«29 (Wardenga 2002, Curriculum 2000+ 2002, RhodeJüchtern 2009), die sich in den letzten Jahren als feste Bezugsgröße geographiedidaktischer Legitimation von Unterrichtsinhalten bzw. deren Inszenierung etabliert haben (vgl. den Sammelband von Dickel & Kanwischer 2006), insbesondere in der dritten und vierten Perspektive reflektiert. D. h., dass Räume vornehmlich »als Kategorie der Sinneswahrnehmung, als Anschauungsformen zur Einordnung von Wahrnehmungen und räumlicher Differenzierung von Handlungen sowie in ihrer sozialen, technischen und gesellschaftlichen Konstruiertheit« (Dickel & Scharvogel 2012:65) in den Blick rücken.30 Allerdings markiert die von mir herausgestellte Bedeutsamkeit des Erlebens, der Gefühle, der Wahrnehmungen, kurzum: der Wirksamkeit von Orten und Räumen auf unsere Raumerfahrungen und unser Raumerleben einen phänomenologischen Zugang zum Raum, der den
29 (1) Raum als Container, (2) Raum als System von Lagebeziehungen, (3) Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung / der Anschauung, (4) Raum als Produkt technischer, sozialer und politischer Konstruktion. 30 Zugleich sind Überschneidungen einzelner hier aufgezeigter Perspektiven denkbar und erscheinen für den Geographieunterricht lohnend, wenn z. B. die Grenzen der einzelnen Erklärungsweisen mit zum Thema der künstlerischen Kartographie gemacht wird oder gezielt die Grenzbereiche verschiedener Erklärungsmuster im Modus der Raumerkundung ausgelotet werden.
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soweit ausgewiesenen Raumkonzepten zur Seite gestellt werden muss.31 Denn diese Fokussierung lässt sich weder in der dritten (wahrnehmungsgeographischen) noch in der vierten (sozialkonstruktivistischen) Perspektive auf Raum auflösen. 4.2.5 Zwischenfazit: Überlegungen zu einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik Vor dem Hintergrund der soweit formulierten Überlegungen lassen sich einige zentrale Einsichten festhalten, die für den Fortgang der vorliegenden Arbeit von entscheidender Bedeutung sind. Ich werde die Darstellungen nachfolgend in zwei Schritten entfalten, die bei der Formulierung der konkreten Unterrichtsumgebung (Schritt I) und für das Forschen mit ästhetischen Lernerfahrungen im Rahmen dieses Projekts (Schritt II) erneut bedeutsam werden (vgl. Kapitel 5 und 6). I. Kartographische Streifzüge im Geographieunterricht Mapping als methodisches Setting für Geographieunterricht ist keine rezeptartige Anleitung für guten Unterricht. Die künstlerische Kartographie ist vielmehr eine Hilfe zur Strukturierung der pädagogischen Praxis im Geographieunterricht und somit als Sammlung offener Anregungen zu verstehen, welche für den jeweiligen Unterricht zu modifizieren und zu adaptieren sind. Dennoch lassen sich aus den vorangegangenen Überlegungen wesentliche Merkmale von Mapping-Projekten vor dem Hintergrund einer pädagogisch-phänomenologischen Idee von Lernen und einem post-repräsentationalen Kartenverständnis festhalten: • Mapping regt eine thematisch offene, individuelle Auseinandersetzung mit Or-
ten und Räumen an. • Mapping erlaubt es, eigene Fragen in Begegnung mit alltäglichen Orten und Räumen aufspüren zu lernen und bietet Möglichkeiten, diese Fragen auf vielfältige Weise zu motivieren. • Mapping schafft einen Rahmen für das In-Bezug-Setzen der Schülerinnen und Schüler zu Fremdansprüchen (vgl. Kapitel 3.2.4) und für die Reflexion des eigenen Tuns, wodurch die Kontingenz von Orten, Räumen und Bedeutungszuschreibungen in den Blick gerät.
31 In Bezug auf das gesamte Projekt ist diesbezüglich anzumerken, dass die phänomenologische Position in doppelter Hinsicht bedeutsam ist. Zum einen grundiert sie die Kartographischen Streifzüge, wie ich bereits dargelegt habe. Zum anderen ist sie an dieser Stelle auch als Theorieperspektive der Humangeographie relevant, welche sich Atmosphären in räumlicher Dimension widmet.
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• Mapping bietet den Lernenden Möglichkeiten, sich mit dem Widerständigen der
Welt auseinanderzusetzen, um hierüber sowohl etwas über Orte, Räume und die Kartographie zu lernen, als auch, mit dem Unerwarteten umgehen zu lernen. • Mapping kreist um Begegnungs-, Erkundungs-, und Reflexionsmomente und bedarf der Präsentation der eigenen Gedanken und des gemeinsamen Austausches über Erfahrungen, um Neues in Erfahrung zu bringen. • Mapping bedeutet offenes, stadtteilbezogenes Arbeiten, in dem sich auch die Lehrkraft darauf einlassen muss, sich überraschen zu lassen von dem, was sich in den jeweiligen Begegnungen und Situationen zeigt. Im Zuge dessen gilt es, das Unerwartete und Ungeplante als mögliche Lernanlässe ernst zu nehmen. II. Ästhetische Erfahrung, Aufzeichnung und Mapping Die im Zuge von Ortsbegegnungen und Raumerkundungen sich vollziehenden Erfahrungen hinterlassen im Mapping Spuren. Dabei ist es insbesondere die Intermedialität jedes Mappings, die es erlaubt, einen Umgang mit dem Widerständigen, nicht Darstellbaren zu finden und sich dem soweit nur Spürbaren über Fragen zu nähern. Orte und Räume werden über Mapping auf vielfältige Weise spür- und erlebbar und ebenso vielfältig der Reflexion zugänglich gemacht. Dabei fokussiert die Bildwerdung der Erfahrung auf mehrere in Kapitel 2 entfaltete Merkmale einer Lernerfahrung: • Das Mapping dokumentiert nicht lediglich ästhetische Erfahrungen, es ist als
Art und Weise der Aufzeichnung auch direkt an der Sinngebung beteiligt, indem es Fragen hinsichtlich der Darstellbarkeit von Erfahrungen aufwirft. Insofern ist die künstlerische Kartographie performativ. • Mapping im Geographieunterricht oszilliert zwischen affektivem Erleben und dessen (kognitiver) Vergegenwärtigung, zwischen Pathos und Response. Die kognitive Vergegenwärtigung des vor Ort Erlebten markiert den Übergang von einem sinnlichen Erlebnis zu einer ästhetischen Erfahrung. Im Mapping sind beide Dimensionen der Erfahrung unmittelbar berücksichtigt. • Im Mapping werden lebensweltliches Erfahrungswissen und wissenschaftliche Zugangsweisen zu Phänomenen in ihrem Zusammenspiel bedeutsam und hierüber die Eröffnung neuer Erfahrungshorizonte, die Modifikation bestehender Erfahrungshorizonte als auch die Differenzierung beider Wissensformen angeregt.
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Zusammenfassung und Konsequenzen für den empirischen Teil Im vorliegenden Kapitel wurde die Karte als geographiedidaktisch relevantes Medium in mehreren Dimensionen entfaltet. Es zeigte sich, dass sich insgesamt vier paradigmatische Zugangsweisen zum Themenfeld Karte unterscheiden lassen. Zugespitzt lassen sich zwei fundamental gegensätzliche Positionen festhalten. Einerseits wird die Karte als maßstäblich verkleinerte Repräsentation der Wirklichkeit verstanden. Andererseits werden – in kritischer Perspektive – ihre Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge vielschichtig reflektiert, um hierüber kartographisch (re)produzierte Weltbilder in den Blick nehmen, reflektieren und dekonstruieren zu können. In diesem kritischen Diskurs zur Karte hat sich in jüngerer Zeit die post-repräsentationale Perspektive auf Karten und die Kartographie im angelsächsischen Diskurs etabliert. In dieser Hinsicht rückt die Emergenz und Performanz der Karte in den Fokus der Auseinandersetzung. Das von mir verfolgte Anliegen lässt sich rückblickend in diese aktuelle fachwissenschaftliche Debatte einordnen, indem in beiden Hinsichten die Karte in ihrer Prozessualität – aus unterschiedlichen theoretischen Bezugsrahmen – thematisiert wird. Zur Formulierung eines konzeptuellen Entwurfs zu einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik wurde das künstlerische Forschungsrepertoire Mapping geographiedidaktisch entfaltet. Hierzu wurden das Verhältnis von Ort und Raum ebenso wie die Unterscheidung von Ortsbegegnungen und Raumerkundungen plausibilisiert. Daraufhin konnte die geographiedidaktische Relevanz der künstlerischen Kartographie verdeutlicht werden, indem gezielt das Oszillieren zwischen ästhetisch-affektiver und szientistisch-reflektierter Weltbeziehung bei diesem Forschungsstil hervorgehoben wurde. Über die Betonung der Performativität der Karte im Allgemeinen und im Zuge von Mapping-Projekten im Besonderen, ließ sich die Verbindung zum vorangegangenen Kapitel deutlich machen: Mapping wurde als Praxis des Antwortens bzw. In-Bezug-Setzens auf Widerfahrnisse konzeptualisiert. Dabei wurde deutlich, inwieweit die hier entwickelten Ideen an bestehende Konzepte in der Kunst(-pädagogik) und der Geographiedidaktik anknüpfen und auch eigenständige Wege gehen. Zuletzt wurden in einem Zwischenfazit vorläufige Überlegungen zu einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik pointiert zusammengetragen. Die soweit erarbeiteten Einsichten fließen im konzeptionellen Entwurf einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik zusammen (Abb. 4-2).
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Abbildung 4-2: Konzept einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik
Quelle: Eigene Darstellung
Aus den soweit dargestellten Überlegungen zur künstlerischen Kartographie im Geographieunterricht ergeben sich mehrere Konsequenzen für den empirischen Teil der Arbeit, welche ich nachfolgend skizziere. Es ist eine grundsätzliche Schwierigkeit mit der man sich bei der Forschung mit Erfahrungen konfrontiert sieht, dass sich Erfahrungen nicht bewusst veranlassen lassen. Es ist nicht möglich, bewusst eine bestimmte Erfahrung machen zu wollen. Und ebenso ist es unmöglich ein Unterrichtssetting zu entwickeln, in dem sich mit Sicherheit ganz bestimmte Erfahrungen vollziehen. Aber auch wenn keine Sicherheit über den garantierten Vollzug bestimmter Erfahrungen herrscht, ist es doch möglich, einen Möglichkeitsraum zu schaffen, in welchem sich mit höherer Wahrscheinlichkeit Erfahrungen ereignen können. Der didaktische Anspruch, sich im Unterricht mit einer Sache auseinanderzusetzen und diese Vermittlungssituation im Vorfeld (und im Unterrichtsgeschehen auch spontan) aufzubereiten bzw. zu inszenieren, geht damit aber nicht in der völligen Unplanbarkeit verloren. Das didaktische Anliegen der Planung verschiebt sich vielmehr dahingehend, ein Lernsetting zu arrangieren, in welchem Platz für das Unplanbare, Plötzliche und Nicht-Vorhergesehene ist. Anders gesagt, muss es im Unterricht darum gehen, sich für diese Unwegbarkeiten offen zu halten und sie nicht als Störgrößen von im Vorfeld vom Lehrenden abgesteckten Lernwegen abzutun, sondern die Unwegbarkeiten vielmehr als Lern- und Bildungsanlässe ernst zu nehmen, wie bildungsphilosophisch begründet wurde. In der vorliegenden Untersuchung ist es das Anliegen, einen solchen Möglichkeitsraum im Rahmen eines Schulprojekts zur künstlerischen Kartographie zu
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schaffen. Dahinter steht die Idee, einen möglichst offenen Rahmen für die ästhetisch-kartographischen Annäherungen und Auseinandersetzungen der Schülerinnen und Schüler mit ihren Lebenswelten sowie den sich vollziehenden Erfahrungen im Zuge des Projekts zu bieten. Dieser Möglichkeitsraum wurde im Rahmen einer Projektwoche im Mai 2014 realisiert (vgl. Kapitel 7). Den soweit entfalteten Gedanken folgend, ist also nicht bereits im Vorfeld klar, mit welchen Unwegbarkeiten sich die Schülerinnen und Schüler im Zuge des Projekts konfrontiert sehen und auch nicht, ob sie bzw. welche Erfahrungen sie im Laufe des Projekts machen. Es ist aber anzunehmen, dass sich aus der Aufgabe, sich mittels Mapping ihrem Heimartort zu nähern und aufgrund der konsequenten Offenheit des Projekts Reibungsflächen ergeben. Konkret könnten z. B. Vorerwartungen und Vorstellungen zum Projekt, zur Kartenarbeit, zur Kartographie und zum Heimatort widerständig werden, und diesem Widerständigen dann mit Hilfe des Mappings begegnet werden, wie theoretisch im vorangegangenen Kapitel hergeleitet wurde. Die besondere Situation ist es nun, dass der auf diese Weise geschaffene Möglichkeitsraum nicht quer beforscht werden kann bzw. soll, d. h. bspw. im Sinne einer Interventionsstudie die Wirksamkeit der Unterrichtsumgebung mittels Lernstanderhebungen (in einem Prä-Post-Design) beforscht wird. Vielmehr dient das Mapping-Projekt selbst der Gewinnung von Material, welches im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit ausgewertet werden kann. Denn die Schülerinnen und Schüler, die am Projekt teilnahmen, machten die ästhetischen Lernerfahrungen. Damit scheint es logisch, es den Lernenden zu ermöglichen, ihre Erfahrungen zu dokumentieren und auch mit diesen Dokumenten, statt lediglich über sich (vermeintlich) vollziehende Erfahrungen zu forschen. Im Projekt entstanden neben den fixierten Mappings auch Projektmappen, welche den einzelnen Gruppen zur Dokumentation von auffällig Gewordenem dienten, und Reflexionstexte der Teilnehmenden. Diese grundlegenden Gedanken werden im nachfolgenden Kapitel gegenstandsgebunden entfaltet, indem sowohl methodologische Überlegungen zur Forschung mit (ästhetischen) Erfahrungen dargestellt, als auch die konkrete Methodik der Untersuchung entwickelt werden. Hierüber wird es möglich, der Frage nachgehen zu können, wie sich Lernen als (ästhetische) Erfahrung bei der künstlerischen Kartographie zeigt.
Teil II: Verschränkung
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Zur Methodologie – Ästhetische Erfahrungen sich selbst zeigen lassen
Bis hierhin wurden die forschungstheoretischen Perspektiven der Arbeit aufgezeigt. D. h. konkret, dass sowohl das Verhältnis ästhetischer Lernerfahrungen und kartographischer Praxis ausgelotet wurde als auch mit den Kartographischen Streifzügen eine Möglichkeit der didaktischen Rahmung ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht konzeptualisiert wurde. Der Fokus des vorliegenden Kapitels liegt nun darin, der Frage nachzugehen, wie man sich empirisch dem Vollzug ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht widmen kann. Zur Beantwortung dieser Frage werden in einem ersten Schritt die zentralen Ansprüche der soweit erfolgten theoretischen Grundlegung zusammengestellt (Kapitel 5.1). Hieran anknüpfend wird ein methodisches Vorgehen vorgeschlagen, welches Möglichkeiten der Annäherung an ästhetische Lernerfahrungen im Rahmen des zuvor entwickelten Mapping-Projekts bietet: die pädagogisch-phänomenologische Vignettenforschung (Kapitel 5.2). Die Auswahl methodischer Annäherungen an Lernprozesse im Rahmen der künstlerisch-geographischen Kartenarbeit wird anschließend entlang von zwei wesentlichen Merkmalen dieses Vorgehens in das breitgefächerte Feld phänomenologischer Forschungspraxis eingeordnet und forschungslogisch plausibilisiert (Kapitel 5.3).
Ansprüche aus der Theoriearbeit an den empirischen Teil der Arbeit Zu Beginn des vorliegenden Kapitels werden die Ansprüche, welche sich aus den theoretischen Überlegungen an die empirische Umsetzung im Rahmen dieser Arbeit ergaben, dargestellt. Damit wird das Ziel verfolgt, die methodischen Entscheidungen eng an der phänomenologischen Grundlegung der Arbeit entwickeln zu
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können. Grundsätzlich müssen es die methodischen Überlegungen – die Forschungsfrage der Arbeit im Blick – erlauben, ästhetische Lernerfahrungen bei der Kartenarbeit zu thematisieren und differenziert zu betrachten. Dieses Anliegen untergliedert sich in vier zusammenhängende Ausgangspunkte und Ansprüche an die Entwicklung des Forschungsdesigns: (1) Das grundsätzliche Anliegen der pädagogischen Phänomenologie im Blick,
muss es das Ziel sein, lebensweltliche ästhetische Erfahrungen näher zu bestimmen und auszudifferenzieren. Ein methodisches Setting muss folglich von der Lebenswelt ausgehen und Möglichkeiten bieten, Erfahrungen zu thematisieren. (2) Ästhetische Erfahrungen sind flüchtig, unplanbar und entziehen sich einem direkten Zugriff. Folglich müssen die methodischen Annäherungen an diese Erfahrungen Möglichkeiten bieten, das Prä-reflexive thematisieren zu können und dabei gleichzeitig anerkennen, dass sich ästhetische Erfahrungen niemals in Gänze einholen lassen können. Bei der Forschung mit ästhetischen Erfahrungen kann es immer nur um die Annäherung an diese gehen. (3) Ästhetische Erfahrungen sind vorsprachlich verankert und daher nicht direkt in Sprache zu fassen. Gleichzeitig bedarf es u. a. der sprachlichen Darstellung, um mit und über ästhetische Erfahrungen wissenschaftlich forschen zu können. Demnach müssen Möglichkeiten formuliert werden, wie sowohl vorsprachliche als auch sprachliche Facetten ästhetischer Erfahrungen Einzug in die Forschung halten können. (4) Erfahrungen treten erst im Moment des Antwortens als solche zu Tage, vorher bleiben sie stumm. Somit erwächst die Notwendigkeit, sich Momenten des Antwortens empirisch zu nähern. D. h., dass insbesondere Momente des Nicht-mehr und Noch-nicht thematisiert werden und Ausgangspunkt der Reflexion sein müssen. Max van Manen (2011:o.S.) sieht die Hauptaufgabe der phänomenologischen Forschung darin, verschiedenste Beispiele gelebter Erfahrung, die auch Gefühle, körperliche Erfahrungen und Affekte umfasst (vgl. Heil 2012), zu erforschen. Insofern ist die Lebenswelt, die Sphäre der gelebten vorwissenschaftlichen Erfahrungen, sowohl die Quelle als auch das Objekt phänomenologischer Forschung (van Manen 1990:53). In phänomenologischer Forschungsperspektive geht es dabei nicht in erster Linie darum, die Erfahrungen abzubilden, um darzustellen, wie bestimmte Personen bestimmte Dinge wahrnehmen und bedeuten. Vielmehr ist es das Anliegen, Beispiele für mögliche Erfahrungen zu sammeln, um diese zur Reflexion ihnen inhärenter grundsätzlicher Strukturen zu nutzen (van Manen
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2011:o.S.). Dazu muss vorab geklärt werden, auf welche Weise Erfahrungen vermittelbar sind und wie sich mit ihnen forschen lässt. Denn der Vollzug der Erfahrung selbst ist nur sehr schwer in den Blick zu nehmen. Erfahrungen lassen sich nur im Nachhinein – modo praeterito – als solche bestimmen und rückblickend thematisieren, wie gezeigt wurde. Einen Blick auf den Moment, in dem Sinn entsteht, zu werfen, bleibt uns i. d. R. versagt. Meyer-Drawe (2012a:32) bringt dieses Problem für das Lernen auf den Punkt: »So ist Lernen eine Tätigkeit, ein Vollzug. […] Damit ist ein uraltes Problem verknüpft, wie man nämlich über Vollzüge sprechen und sie denken kann, ohne sie lediglich im Augenblick ihres Stillstands zu überraschen.« In dieser Arbeit kann es folglich nicht um die Erhebung von Lernständen oder Lernergebnissen gehen, vielmehr sollen Wege eingeschlagen werden, sich dem Vollzug von Lernerfahrungen zu nähern. Damit widme ich mich einer der ursprünglichen Fragen der Phänomenologie, nämlich ob bzw. wie es möglich ist, Erfahrungen sichtbar bzw. besprechbar werden zu lassen. Dabei muss gleichzeitig ein Umgang mit der Schwierigkeit gefunden werden, dass das Feld pädagogisch-phänomenologischer Forschung äußerst uneinheitlich ist (Lippitz 1993:39). Die Auslegung der Phänomenologie in pädagogischer Wendung reicht von der reinen Beschreibung bis hin zur konsequenten Orientierung an Husserls phänomenologischer Methode (Danner 2006:161). Insofern ist mit dem Anliegen, phänomenologisch zu arbeiten, also nicht unmittelbar eine konkrete methodische Umsetzung verbunden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde vor diesem vielgestaltigen forschungslogischen wie -methodischen Hintergrund ein eigenes Vorgehen gegenstandsgebunden formuliert und erprobt, welches methodische Überlegungen der Kunst- bzw. Geographiedidaktik und der pädagogischen Phänomenologie aufgreift, für den eigenen Gegenstand verschränkt und inhaltlich wie methodisch weiterdenkt. Die Annahme, welche die Ausformulierung des Vorgehens leitet, ist, dass Erfahrung nie direkt zugänglich, sondern nur als Ausdruck bzw. in Vollzügen thematisierbar ist. Diese Annahme ist bei der Wahl und Adaption der Methoden maßgebend, was nachfolgend entfaltet wird. Das Ziel meines Vorgehens ist es nun, ästhetischen Lernerfahrungen in zweifacher Hinsicht zu begegnen: Zum einen wird mit dem Mapping, verstanden als intermediale Aufzeichnungspraxis, ein Weg gefunden, es Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, ihren Erlebnissen und Erfahrungen während des Schulprojekts kartographisch Ausdruck zu verleihen (vgl. Kapitel 4.2.5). Diese Aufzeichnungen (Mapping, Projektmappe und Reflexionstext) tragen Spuren ästhetischer Erfahrungen in sich und sind an deren Formierung mit beteiligt, wie bereits gezeigt wurde. Über die Mappings bietet sich also die Möglichkeit der Thematisierung ästhetischer Erfahrungen im Nachgang. Zum anderen wird mit den Vignetten
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eine schriftliche Aufzeichnungspraxis gewählt, die es ermöglicht, dem Vollzug ästhetischer Erfahrungen unmittelbar beizuwohnen und diese miterlebten Erfahrungen dem Leser über die sprachliche Verdichtung vor Augen zu führen; sie ›zum Klingen zu bringen‹. Der ineinandergreifende methodenplurale Zugang1 verfolgt das Ziel, ästhetische Lernerfahrungen im Zuge der kartographischen Annäherung und Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler im Unterricht thematisierbar werden zu lassen. Beide Methoden verschränken auf einzigartige Weise wissenschaftliche und ästhetische Zugangsweisen zur Lebenswelt und werden aufgrund dieser Passung zum Anliegen und den Fragestellungen der vorliegenden Arbeit für die Untersuchung gewählt. Der Vorteil dieser Verschränkung liegt für mich darin begründet, dass es möglich wird, Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler nicht über klassische quer zur Unterrichtssituation liegenden Erhebungsverfahren auf die Spur kommen zu wollen, wie dies oft bei der Unterrichtsforschung der Fall ist. Vielmehr entsteht das Datenmaterial auch aus der Praxis heraus. Beiden Aufzeichnungsformen – Mapping und Vignette – kommt folglich gleichzeitig sinnstiftende wie auch transformative Kraft und Bedeutung zu (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.3). Die (methodische) Eigenständigkeit des Forschungsdesigns liegt darin, dass sowohl die Idee der künstlerisch-kartographischen Annäherung an Räume (Mapping) als auch die Idee der poetischen Verdichtung von Erfahrungen (Vignetten) für die vorliegende Untersuchung neu perspektiviert und miteinander verschränkt werden.2 Das verbindende Element der Zugangsweisen liegt in der geographiedidaktischen Zielsetzung der Arbeit begründet, Lernen als Erfahrungsvollzug im Rahmen der künstlerischen Kartenarbeit differenzierter verstehen zu wollen. Insofern sind beide Annäherungsweisen um die Erhellung ästhetischer Lernerfahrungen bemüht.
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Unter einem methodenpluralen Zugang wird hier die Verwendung komplementär angelegter Annäherungsweisen auf das zu untersuchende Phänomen verstanden, die sich innerhalb eines theoretischen (wie methodologischen) Bezugsrahmens bewegen.
2
Die pädagogisch-phänomenologische Vignettenforschung spielt in der Geographiedidaktik bislang keine Rolle.
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Erfahrungen mittels Vignetten zum Klingen bringen Um sich Momenten ästhetischer Lernerfahrungen im Moment ihres Werdens – in statu nascendi – annähern zu können, wird auf eine Form der dichten Beschreibung zurückgegriffen, wie sie im Rahmen des Forschungsprojekts Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen an der Universität Innsbruck entwickelt und erprobt wurde.3 Diese Form der Beschreibung gelebter Erfahrungen wird als Vignette bezeichnet. Brinkmann et al. (2015:6) konstatieren, dass Vignetten das Ziel verfolgen, »situativ im Unterrichtsgeschehen aufkommende subjektive Momente des Affizierenden nicht nur zu rekonstruieren, sondern wiederum selbst neu erfahrbar zu machen, als Indikatoren und Dokumente des Eigentümlichen, Verstörenden oder auch der produktiven Irritation«.4 Die von der Innsbrucker Gruppe
3
Die Entwicklung des Ansatzes begann 2009, erste Publikationen folgten 2011. Insgesamt wurden bislang 42 Publikationen zum Forschungsansatz veröffentlich, fünf Dissertationen im Rahmen der Projekte fertiggestellt und die Vignettenforschung durch Kooperationen mit Universitäten in Brixen und New Orleans auf weitere Standorte ausgeweitet. Aktuelle Bemühungen der Innsbrucker Gruppe sind u.a. die Implementierung der Vignettenforschung und -arbeit in die Schweizer LehrerInnenbildung. (Alle Angaben stammen aus der Präsentation eines Forschungsberichtes im Juni 2015 an der School of Education in Innsbruck im Rahmen des Symposium for Vignette and Anecdote Research, gehalten von Johanna Schwarz und Markus Ammann.)
4
Für die phänomenologische Forschung ist das Beschreiben seit jeher konstitutiv. Dabei variieren in verschiedenen Auslegungen des methodischen Vorgehens auch die Bezeichnungen für diese Beschreibungen, welche daraufhin in unterschiedlicher Weise bzw. methodischer Stringenz analysiert werden. Gängig sind z. B. die Bezeichnungen »Beispiel bzw. exemplarische Situation« (Lippitz), »Fall« (Peez), »Anekdote« (Van Manen), einfach »Beschreibung« oder eben auch »Vignette«. Dabei sind die jeweiligen Vorgehensweisen nicht deckungsgleich und in jeder Forschungsperspektive werden eigene Akzente gesetzt; die Pluralität der Bezeichnungen ist also nicht lediglich Wortklauberei. Die Differenzen sollen hier nicht näher thematisiert werden, ebenso wenig geht es um eine systematische Aufarbeitung der Forschungsansätze (ein Überblick zur schillernden Vielfalt pädagogisch-phänomenologischer Forschungsbemühungen wurde bereits in Kapitel 3.2.1 gegeben). Vielmehr soll an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass die Überlegungen der Innsbrucker Vignettenforschung im Kontext von mehreren über Jahrzehnte verfolgten Forschungstraditionen entstanden sind und sich Spuren verschiedener phänomenologischer Denkschulen in ihr spiegeln. Die Vignettenforschung erscheint für die Klärung der Fragestellungen der vorliegenden Arbeit u. a. deswegen ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein, weil die Begründungen sowie das von
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entwickelte Methode wird für die vorliegende Untersuchung gewählt, da sie vor dem Hintergrund einer phänomenologischen Idee zum Lernen entwickelt wurde und den Fokus daher nicht auf die Ergebnisse des Lernens richtet, sondern vielmehr einen Weg zu finden sucht, Lernen in seinen Vollzügen spürbar und nachvollziehbar werden zu lassen. Somit ist eine Passung zur Forschungsfrage und dem Anliegen dieser Arbeit gegeben. Die Bedeutung des Wortes Vignette ist vielfältig. Es geht zurück auf frz. vigne (Weinrebe, Weinstock, Weinberg) und dessen wortgleiche Verkleinerungsform frz. vignette (Weinrankenornament, insb. auf Möbeln und Geschirr) (Pfeifer 1989b:1912) und bezeichnet eine ornamentale oder auch bildliche Darstellung im Buchdruck ebenso wie eine Variante der Porträt-Malerei aus dem 19. Jahrhundert oder auch Etiketten auf Weinflaschen und heutzutage Autobahnmautaufkleber in Österreich. Auch die Verwendung des Wortes innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung unterscheidet sich zwischen der quantitativen und der qualitativen empirischen Sozialforschung erheblich,5 grundsätzlich wird unter einer Vignette eine der Innsbrucker Gruppe vorgeschlagene Vorgehen in Austausch mit Käte Meyer-Drawe entwickelt wurden. 5
In der quantitativen empirischen Sozialforschung wird die Vignettenforschung zu den standardisierten Verfahren gezählt. Es handelt sich beim faktoriellen Survey, den Dülmer (2014:721) auch als »Vignettenanalyse« bezeichnet, um ein »experimentelles Design, bei dem der Forscher variierende Situations- oder Personenbeschreibungen, die sogenannten Vignetten, zu einem Thema erstellt und unter einem bestimmten Gesichtspunkt beurteilen lässt«. Die Beurteilungen bestimmter in den Vignetten dargestellten Situationen werden dann statistisch ausgewertet, um Aussagen über Einflussgrößen bestimmter Variablen auf die Beurteilung der jeweiligen Situation oder Person treffen zu können (Auspurg et al. 2009:59). Diesem Verständnis nach erlauben Vignettenanalysen also »eine kausale Erklärung […] des beobachteten Urteilsverhaltens« (Dülmer 2014:721). Im Kontext der qualitativen empirischen Sozialforschung lässt sich kein einheitliches Bild des Verständnisses von Vignetten zeichnen (vgl. Meyer-Drawe 2012b:13). Es lassen sich z. B. gravierende Unterschiede bezüglich der Form, in welcher Vignetten dargeboten werden feststellen. So legen bspw. Sander & Höttecke (2014:2) den Probanden »Audiovignetten« – »kritische Entscheidungssituationen in Form gesprochener Dialoge« – vor, die als »Interviewstimuli« dienen. Stiehler et al. (2012:o.S.) weisen darauf hin, dass Vignetten auch »in verbalisierten Formen (»Geschichtenanfänge«) oder als visualisierte Abbildungen (»Bildgeschichte«) eingesetzt werden« können. Den drei Darstellungsweisen gemein ist dabei das Verständnis, mit dem die Vignetten eingesetzt werden: »Mittels einer Vignette wird also eine hypothetische Situation in Befragungen als Stimulus eingesetzt und die zu befragende Person
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kurze Erzählung oder (Fall-)Geschichte verstanden. Auch innerhalb der qualitativen Sozialforschung herrscht Uneinheitlichkeit darüber, was genau unter einer Vignette zu verstehen ist, wozu sie dient, wie sie angefertigt wird und wie sie eingesetzt wird. Zur Einordnung wird nachfolgend das Anliegen der Innsbrucker Vignettenforschung dargestellt sowie der Frage nachgegangen, was in dieser Perspektive Vignetten sind und mit welchen Ansprüchen diese verfasst werden und gelesen werden müssen. Das Vorgehen mit Vignetten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung basiert auf diesem Anliegen und folgt dem hier beschriebenen Weg, erweitert ihn aber um Momente der Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses.6 Nachfolgend wird die phänomenologische Vignettenforschung, wie sie in Innsbruck entwickelt wurde, differenziert vorgestellt und für die eigene Forschungspraxis fruchtbar gemacht. Dabei dient der Entstehungsprozess der Vignette, wie er auf Grundlage der Ausführungen der Innsbrucker Gruppe entwickelt und für die vorliegende Untersuchung adaptiert und durchgeführt wurde, der Strukturierung des Kapitels. Nach einer Einführung zum Anliegen der Vignettenforschung wird (1) ein Kurzportrait über die Vignettenarbeit gezeichnet, um einen Überblick über den Forschungsprozess mit Vignetten zu geben (Kapitel 5.2.1). (2) Als Ausgangspunkt der Arbeit mit Vignetten wird die teilnehmende Erfahrung (angelehnt gebeten, die Situation zu beurteilen und/oder eine situationsentsprechende Handlungsweise anzugeben und dies zu begründen (vgl. Schnurr, 2003)« (Stiehler et al. 2012:o.S.). Mögliche Auswertungsverfahren sind im Anschluss an die Erhebung dabei oftmals etablierte Methoden wie z. B. die Dokumentarische Methode (Bohnsack 2003) (vgl. Sander & Höttecke 2014) oder die Orientierung an der »induktiven Kategorienbildung inhaltsanalytischer Art nach Mayring (2000)« (Stiehler et al. 2012). Darüber hinaus werden Vignetten in der qualitativen Sozialforschung »mitunter als kurze Texte vorgestellt, die von den Forschenden mit unterschiedlichen Zielen verfasst werden können. Zum einen wird unter der Abfassung einer Vignette ein Forschungsschritt verstanden, welcher der Sammlung eigener Gedanken dient«, ähnlich dem »›Memo‹ in der Grounded Theory« (Meyer-Drawe 2012b:12f., Herv. i. O.). Zum anderen zeichnen sprachliche Vignetten lebhafte Bilder von Alltagssituationen, welche als Belege für Aussagen genutzt werden und »die Lesenden von ihnen überzeugen« sollen (ebd.:13). Erickson (1986:150) spitzt dieses Ziel der »narrative vignettes« im Forschungskontext weiter zu: »The vignette persuades the reader that things were in the setting as the author claims they were, because the sense of immediate presence captures the reader’s attention«. 6
Konkret werden sowohl die Feldphase und deren Bedingungen für das Gelingen der Forschung als auch das Verfahren der phänomenologischen Beschreibung selbst differenziert(er) betrachtet.
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an die ethnographische Methode der teilnehmenden Beobachtung) kurz vorgestellt und die während des Feldaufenthalts angefertigten Notizen werden als Materialfundus für die Erstellung der Vignetten verstanden (Kapitel 5.2.2). (3) Daraufhin wird das Schreiben von Vignetten thematisiert (Kapitel 5.2.3). Ein Prozess der (4) in der vorliegenden Untersuchung entlang mehrerer Merkmale einer gelungenen phänomenologischen Beschreibung strukturiert wurde (Kapitel 5.2.4). Schließlich wird (5) die Vignettenlektüre als reflexives schriftliches In-BezugSetzen des Forschenden zur Vignette erläutert und die einzelnen Vignetten als Beispiele ästhetischer Lernerfahrungen verstanden, deren Sinnhaftigkeit sich durch den intuitiven Nachvollzug durch den Leser einstellt (Kapitel 5.2.5). Zum Anliegen der Vignettenforschung Das zentrale Anliegen, mit dem die Innsbrucker Gruppe ihr methodisches Vorgehen entwirft, resultiert aus der bewussten Fokussierung auf eine Perspektive »lernseits« (Schratz 2009) von Unterricht. Dabei ist das Verhältnis der Begriffe lehrseits – lernseits analog zum Verhältnis von konvex – konkav zu verstehen; das eine ist nicht ohne das andere denkbar (Schratz et al. 2012:25, Herv. i. O.): »›Lernseits‹ setzt ein ›lehrseits‹ voraus, denn sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Werden durch das Wörtchen ›lernseits‹ die Scheinwerfer auf der Unterrichtsbühne auf das Lernen gerichtet, bleibt das Lehren im Schatten – und umgekehrt.«
Indem die Perspektive auf das lernseitige Geschehen von Unterricht gelegt wird, rücken die Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler und nicht die didaktisch-methodischen Entscheidungen der Lehrkraft in das Blickfeld der Untersuchung. Fragestellungen, denen in lernseitiger Perspektive im Zuge des Forschungsprojekts nachgegangen wurde, sind dann z. B. »Wie erleben die SchülerInnen ihre Schule in unterschiedlichen didaktischen Settings aus personaler Sicht? Welche Phänomene schulischen Lernens zeigen sich im Schulalltag? Was bedeutet dies für personale Bildungsprozesse?« (ebd.). In diesen Formulierungen klingt an, dass es darum geht, persönliche Lernerfahrungen innerhalb von didaktischen Settings ins Blickfeld zu rücken. Wird pädagogisches Handeln ›lernseits‹ des Unterrichtens thematisiert, wird »Lehren im Modus des Lernens« verstanden, wodurch »das Lernen aus dem Schattendasein ins Licht« gerückt wird (Schratz et al. 2012:27). Es geht dabei darum, Lernerfahrungen als Vollzug in den Blick zu nehmen, welcher sich insbesondere in Momenten des Nicht-Wissens oder Staunens und dem Plötzlichen zeigt und deren Verinnerlichung ein pädagogisches Umdenken nach sich zieht. In den Worten der Innsbrucker Gruppe (ebd.:29):
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»Eine lernseitige Orientierung blendet Lernschwierigkeiten und brüchige Lernerfahrungen nicht zugunsten optimierender Interventionen aus oder sucht sie zu vermeiden, sondern baut auf einen proaktiven und reflexiven Umgang mit diesen und zielt darauf ab, neue Möglichkeiten pädagogischer Praxis zu eröffnen. Lehren im Modus des Lernens betrachtet meint, taktvoll und responsiv zu handeln und in Beziehung zur Sache und zueinander zu sein. Nicht die Schüler und Schülerinnen als Objekte des Unterrichtens, sondern die zu lernenden Sachen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Lernenden und Lehrenden.«
Damit orientiert sich die Innsbrucker Gruppe konsequent an einer phänomenologischen Idee des Lernens und rückt die lernseitige gelebte Erfahrung ins Zentrum der Forschung. Wenngleich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf den Überlegungen der Innsbrucker Gruppe aufgebaut wird, lässt an dieser Stelle ein grundlegender Unterschied festhalten. Die Besonderheit der Konzeption der vorliegenden Untersuchung ist es, der lernseitigen Forschungsfokussierung, welche in der Innsbrucker Vignettenforschung angelegt ist, zwar grundsätzlich zu folgen, aber gleichzeitig den Entstehungsprozess des Unterrichtsprojekts, welches begleitet und hinsichtlich sich vollziehender Lernerfahrungen untersucht wird, mit zu reflektieren. Insofern werden die didaktisch-methodischen Entscheidungen der Lehrkraft nicht ausgeblendet, sondern beide Seiten der im Eingangszitat angeführten Medaillen-Metapher beleuchtet, da ich sie als ineinandergreifende Gelingensbedingungen von Unterricht begreife und als Geographiedidaktiker auch an der Erhellung des Verhältnisses beider Seiten interessiert bin. Vor diesem Hintergrund kann verständlich gemacht werden, was Vignetten sind und wie die Arbeit mit ihnen für den Gegenstand und die Forschungsfrage der vorliegenden Untersuchung adaptiert wird. 5.2.1 Kurzportrait der Vignettenarbeit Vignetten werden von der Innsbrucker Gruppe als »Klangkörper des Lernens« (Schratz et al. 2012:17) verstanden. Die Analogie zum Korpus eines Musikinstruments verweist darauf, dass Vignetten etwas zum Klingen bringen; sie müssen folglich als Resonanzkörper verstanden werden. Zum Klingen gebracht werden persönliche Lernerfahrungen von Schülerinnen und Schülern, denen Forschende beiwohnten und für welche diese Erfahrungen spürbar wurden. In der Vignette werden Erfahrungsmomente aus dem schulischen Alltag auf kunstvolle Art und Weise in kürzeren prägnanten Texten verdichtet ohne dabei eine eindeutige Interpretation der Situation vorzugeben. Indem die Forschungsgruppe Erfahrungsmomente in Vignetten festhält, machen sie die Erfahrung zuallererst der Betrachtung und Reflexion zugänglich. Im Rahmen des erwähnten Forschungsprojekts wurden
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verschiedene Erhebungsmethoden7 zur Datengewinnung genutzt und anschließend zu Vignetten verdichtet. Somit basieren die Vignetten auf gelebten Erfahrungen, deren »Spuren sie in einem Überschuss in sich tragen« (ebd.). Diesen Überschuss bezeichnet Meyer-Drawe (2012b:14) als Surplus, welcher zur Folge haben kann, dass die Vignette nicht einfach nur gelesen, sondern wiedererlebt werden kann, ohne dass der Lesende in der Situation anwesend war. Es ist also das Anliegen beim Verfassen der Vignetten, Erfahrung in ihrer Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit zum Klingen zu bringen. Dafür werden Vignetten »in media res und möglichst nah am Kind« (Schratz et al. 2012:17) verfasst und gehen von tatsächlichen Ereignissen aus. Mit den Vignetten ist demnach ein Weg gefunden, »ausgewählte Momente gelebter Schulerfahrung sprachlich so zu verdichten, dass ihre Vielfalt und Eigentümlichkeiten artikuliert werden und sie zugleich in ihrer Einzigartigkeit möglichst erhalten bleiben. Vignetten erfassen gelebte Erfahrung im Vollzug, in einer konkreten Handlungssituation, in der sich für Menschen Tatsächliches ereignet« (ebd:33). Folglich erschöpft sich die Vignette nicht in der Logik eines Protokolls. Sie ist vielmehr ein phänomenologischer Text, der auf Protokollen teilnehmender Erfahrung basiert (vgl. Baur & Schratz 2015:168). Die Vignette zielt darauf ab, Erfahrungen nicht über die Versprachlichung methodisch exakt einzufangen, sondern sie über die Kunst der Sprache so darzustellen, wie sie sich im Moment zeigten. Meyer-Drawe (2012b:14) bringt diese Eigenschaft der Vignette auf den Punkt, wenn sie schreibt: »Sie [die Vignette, F.P.] ist nicht präzis im Sinne definitorischer Ansprüche. Sie ist prägnant, d.h. ›trächtig‹«. Eine gelungene Vignette öffnet sich damit einer Vielzahl an Lesern und erlaubt ebenso eine Vielzahl an Lesarten und erwehrt sich dadurch einer finalen Interpretation (Schratz et al. 2013:64). Dem Verständnis der Innsbrucker Gruppe nach liegt hierin eine der großen Herausforderungen der Annäherungen an persönliche Lernerfahrungen, da sich »das sprachliche Verfassen der Erfahrung […] von der gelebten Erfahrung der Schülerinnen und Schüler [entfernt] und doch nur artikulierbar und anderen vermittelbar [ist], wenn sie in Sprache ausgedrückt wird« (Schratz et al. 2012:34). Unvermeidbar ist dabei, dass durch die Versprachlichung das Unausgesprochene,
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Es kamen folgende Methoden zum Einsatz: »Gespräche mit Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonen, Schulleitung und Erziehungsberechtigten, Protokolle gelebter Erfahrung, Shadowing seitens der Forschenden, Fotografien, Dokumente aus dem Schulalltag, Gespräche in Fokusgruppen« (Schratz et al. 2012:17).
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Spürbare, Körperliche, Miterlebte und Miterfahrene bereits einem Transformationsprozess8 unterworfen ist (Schratz et al. 2013:62). Mit der Vignettenarbeit wird dennoch ein Weg eingeschlagen, der diesem Dilemma Rechnung trägt und anerkennt, dass sich Erfahrungen einem direkten Zugriff entziehen.9 Der Ausgangspunkt ist, dass Erfahrungen im Moment spürbar sind, miterlebt werden können, und sich dieses Erfahren in den Feldnotizen niederschlägt. In den Worten der Innsbrucker Gruppe (Schratz et al. 2012:34): »Wir hatten nicht das Aha-Erlebnis ob einer gewonnenen Einsicht, stießen keinen Freudenschrei aus über eine gute Note, […] Aber wir spürten dies, erlebten es mit, protokollierten solche Momente und fassten sie sprachlich in Vignetten so, dass die Reichhaltigkeit ihrer Erfahrungen möglichst gewahrt bleiben. […] Wir spürten das Aha-Erlebnis, das sich im ganzen Leib ausdrückt, die strahlende Freude, den Stolz über Erreichtes und Gelungenes. […] Vignetten wurden zum Resonanzraum, in dem sich Lernerfahrungen, in Spuren zumindest, verkörpern, nachklingen und mitschwingen.«
Dem im Zitat angesprochene Nachklingen wird im Forschungsprozess mit der Lektüre der Vignette begegnet. Damit ist eine Form der schriftlichen Reflexion gemeint, welche im Forschungsprozess dazu dient, die beschriebenen Erfahrungsmomente zu deuten. Dabei geht es – wie gesagt – nicht um die abschließende Interpretation, sondern darum »die Reichhaltigkeit dieser Erfahrungsmomente auszudifferenzieren und in möglichst vielen Facetten zu zeigen, ohne sie sogleich zu 8
Dieser Transformationsprozess wird in wissenschaftstheoretischen Debatten seit langer Zeit thematisiert bzw. problematisiert (u. a. in der Philosophie im Rahmen der Aushandlung des Verhältnisses von Logik und Rhetorik (einführend z. B. Gabriel 2013). In diesem Zuge ist auch auf den als Dialog angelegten Text von Derrida & Ferraris (2001) hinzuweisen, in welchem u. a. die Beziehung zwischen Poesie und Philosophie kritisch diskutiert wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird van Manen (2006:720) zugestimmt, der zum Schluss kommt, dass es nicht um die Frage geht, welcher Stellenwert dem Schreiben in der phänomenologischen Ideenbildung zukommt, sondern dass phänomenologische Reflexion zuallererst eine Schreiberfahrung ist. Vor diesem Hintergrund verstehe ich phänomenologische Forschung selbst als Möglichkeit eines ästhetischen Zugangs zur Welt.
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Dieses Dilemma wurde im Zuge der vorangegangenen Kapitel bereits mehrfach thematisiert. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich die Vignettenforschung als eine Facette der Annäherungen an ästhetische Lernerfahrungen verstehe. Dem Dilemma wird vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Untersuchung aber über komplementär ineinandergreifende methodische Zugangsweisen zum Phänomen begegnet (vgl. Kapitel 6).
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kategorisieren oder zu operationalisieren« (ebd.:17). Die Lektüre des Forschenden stellt also einen möglichen Zugang zur Vignette dar, die diese nicht universell erklärt, sondern vielmehr dem Lesenden ein Angebot macht, sich mit der Deutung der Vignette vor seinem eigenen Erfahrungshorizont auseinanderzusetzen. MeyerDrawe (2012b:14) formuliert dies wie folgt: »Der Leser wird in eine Denkbewegung versetzt. Er rezipiert nicht einfach Ergebnisse. In seinem eigenen Denkakt antwortet er auf eine in ihm ausgelöste Unruhe, die konkret darin bestehen kann, dass er die Lernenden besser versteht als die Lehrenden, weil der Vignettenautor ihn Nuancen hat sehen lassen, die im Unterricht unbemerkt blieben.«
In diesem Sinne lässt sich das Nachvollziehen der Erfahrungsmomente, welche in den Vignetten nachklingen, durch den Lesenden selbst als Erfahrungsprozess verstehen, welcher unmittelbar zum Forschungsprozess dazugehört. 5.2.2 Teilnehmende Erfahrung und Feldnotizen als Grundlage der Vignettenarbeit Es drängt sich die berechtigte Frage auf, inwieweit es überhaupt möglich ist, die Erfahrungen anderer über Beobachtungen einzufangen und dann über die anschließende Versprachlichung dieser Beobachtungen kommunizierbar werden zu lassen. Dazu muss man sich dem gewählten Feldzugang genauer widmen. Hier wird die teilnehmende Erfahrung10 in Abhebung zur Methode der teilnehmenden
10 Beekman (1987:17) formuliert, »daß [obwohl] der Begriff der ›teilnehmenden Beobachtung‹ (›participant observation‹) üblicher ist, er die Bezeichnung ›teilnehmende Erfahrung‹ bevorzugt. In forschungspraktischer Konsequenz lassen sich an dieser Stelle keine fundamentalen Unterschiede zur teilnehmenden Beobachtung feststellen. Innerhalb der phänomenologischen Pädagogik (z. B. Stieve 2010, Brinkmann 2011), der phänomenologischen Soziologie (z. B. Eberle 2008), aber auch der Phänomenologie selbst (z. B. Depraz 2012) gibt es Versuche, Phänomenologie und Ethnographie zu verschränken bzw. das Verhältnis beider Zugangsweisen zu bestimmen. Auch innerhalb der Geographie gibt es den Versuch, die Ethnographie phänomenologisch zu perspektivieren (vgl. Kapitel 2). Einen differenzierten Vergleich der teilnehmenden Beobachtung und der teilnehmenden Erfahrung hat Agostini (2016) im Rahmen ihrer Dissertation unternommen. Sie kommt zum Schluss, dass sich die Verfahren der Ethnographie und der pädagogischen Phänomenologie insbesondere in Hinblick auf das jeweils zugrundeliegende Subjektverständnis unterscheiden. Im Folgenden wird der Begriff teilnehmende
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Beobachtung aus der ethnographischen Feldforschung gewählt. Die teilnehmende Erfahrung wurde bereits 1987 von Ton Beekman als Möglichkeit des Feldzugangs für den Phänomenologen vorgeschlagen.11 Für Beekman liegt der besondere Reiz der teilnehmenden Erfahrung darin, innerhalb des Untersuchungsfeldes anwesend zu sein. Diese Anwesenheit »ist zuallererst prä-reflexiv« (Beekman 1987:17), womit gemeint ist, dass neben dem reflexiven Versprachlichen des Anwesend-Seins der präreflexiven Dimension des Spürbaren im Moment besonderes Augenmerk geschenkt wird, die nur durch das Anwesend-Sein (im Gegensatz zum reinen Beobachten und Protokollieren) erlebbar wird. »Als Anwesender erfährt man unmittelbar die Stimmung, die Gestimmtheit der Situation, das Pathische des Umgangs als ständig tragenden Grund jeder Interaktion« (ebd.). An dieser präreflexiven Dimension ist die phänomenologische Forschung grundsätzlich interessiert. Daraus ergibt sich nun die praktische Konsequenz für den Forschenden, sich offen halten zu müssen für diese präreflexiven Facetten des In-der-Welt-Seins. Es geht der Phänomenologin bzw. dem Phänomenologen darum, die Wirklichkeit, wie sie sich ihr bzw. ihm bietet, zu erfassen und »nicht bloß kategorial modellierte Beobachtungen [zu] machen« (Beekman 1987:20).12 Im Forschungsprozess zeichnet sich dieser teilnehmend erfahrende Feldzugang gegenüber der distanzierten wie auch teilnehmenden Beobachtung für Schwarz & Schratz (2014:41) dadurch aus, »dass auch Mitgespürtes aufgenommen wird«. Oder anders ausgedrückt: »Das Lernen ist weniger beobachtbar als erspürbar, und das fordert unseren Spürsinn und unser Einfühlungsvermögen als Lehrende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler« (Agostini et al. 2017:326). Mit Stenger (2013:254) lässt sich dieser Gedanke ausführen, denn für sie ist in Abgrenzung zur (standardisierten) Beobachtung für die phänomenologische Beschreibung konstitutiv, dass auch die Eindrücke mit einbezogen werden, welche »der Forscher aus der Erfahrung, an der er teilgenommen hat, gewonnen hat«. Darin liegt das Anliegen begründet eben
Erfahrung verwendet, da hier die konsequente Orientierung an der Erfahrung der Schülerinnen und Schüler während des Projektkurses schon im Wortgebrauch unterstrichen und damit der Kern der Forschungsbemühungen der vorliegenden Arbeit berührt wird. 11 Die teilnehmende Erfahrung stellt für manche Autoren das wesentliche Merkmal der phänomenologischen Methode dar. Insbesondere in der Utrechter Schule wurden mehrere Arbeiten mithilfe dieses Feldzugangs in Schulen, Kindergärten und Familien angefertigt (Rittelmeyer 1990:12). 12 Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Innsbrucker und Bozener Vignettenforschung explizit von Beekmans Auslegung einer Teilnehmenden Erfahrung abwendet, in der es dem Forschenden darum gehen müsse, Freund der Beforschten zu werden (Beekman 1987:18).
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genau »die Erfahrungsformen einzufangen, die Forschungsgegenstand sind« (ebd.). Es gilt also all das, was sich in die Aufmerksamkeit des Forschenden drängt und zum Wahrnehmen auffordert, in Form von Notizen, Skizzen, Anekdoten usw. aufzuzeichnen. Die Bezeichnung für diese Aufzeichnungen variiert je nach Forschungstradition.13 Für meine Aufzeichnungen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wähle ich den Begriff der Feldnotizen.14 Meine Feldnotizen umfassen neben ausführlicheren Textpassagen auch stichwortartige Notizen bzw. einzelne Schlagworte als Gedächtnisstütze oder auch kleine Skizzen. Es wurde versucht, die jeweils miterfahrenen Situationen bereits am gleichen Nachmittag schriftlich anzureichern und aufzuarbeiten, um nicht zu viel Zeit zwischen den jeweiligen Situationen und der Verschriftlichung verstreichen zu lassen. Während des Aufenthalts in der Schule für die Zeit des Projektkurses war der Forschungsprozess von größtmöglicher Offenheit geprägt. Damit ist gemeint, dass es besonders wichtig war, sich für das, was sich im Moment ereignete, offen zu halten und Spürbares, Unerwartetes und Eigenwilliges als zentrale Momente anzuerkennen und sich in spezifischen Situationen von dem betreffen zu lassen, was sich mir zeigte. Diese Offenheit meint dabei aber nicht, sich ziellos während der Feldphase treiben zu lassen, denn da ich vornehmlich als Forschender vor Ort war, ging es vor allem darum, präreflexive Momente in Sprache zu transformieren, um sie so dem reflexiven Zugriff zugänglich zu machen. Dieses Anliegen erforderte die ständige Bereitschaft, sich vor Ort von den jeweiligen Situationen betreffen zu lassen und gleichzeitig anzuerkennen, dass niemals alles beobachtet, miterlebt und protokolliert werden könnte. Dies ist nicht als Makel der Methode, sondern als Spezifik eines teilnehmenden phänomenologischen Feldzugangs zu bezeichnen, die es anzuerkennen gilt. Die jeweils auffällig gewordenen Situationen werden über die Verschriftlichung zu möglichen Reflexionsanlässen im weiteren Forschungsverlauf. Es ist deutlich, dass sich zwischen dem teilnehmenden Vor-OrtSein und dem transformierenden Verschriftlichen ein Spannungsfeld für den Forschenden aufspannt. Für Max van Manen (1990:69) gilt es, eine besondere Haltung an den Tag zu legen, um diesem doppelten Anspruch gerecht werden zu können: 13 Während Beekman den Begriff Logbuch verwendet, wählen viele Enthographen den Begriff Feldtagebuch. Weit verbreitet sind auch die Begriffe Feldforschungstagebuch und Beobachtungsprotokoll. 14 Die Feldnotizen entstanden teilweise direkt in den Situationen, z. B. wenn ich einen Arbeitsprozess eine Zeit lang beobachten konnte, teilweise erst im Nachhinein, z. B. wenn ich direkt in eine Situation involviert war und dadurch im Moment keine Notizen machen konnte, in Form von Gedächtnisprotokollen.
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»Close observation involves an attitude of assuming a relation that is as close as possible while retaining a hermeneutic alertness to situations that allows us to constantly step back and reflect on the meaning of those situations. It is similar to the attitude of the author who is always on the look-out for stories to tell, incidents to remember.«
Die Stärke dieses offenen teilnehmenden Feldzugangs liegt darin, nicht lediglich rekonstruktiv über Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu forschen, sondern dem Vollzug beiwohnen bzw. ihn miterfahren zu können und diese Erfahrungen über Erfahrungen mit in die Forschung einbeziehen zu können. Hier wird auch ein weiterer essentieller Unterschied zur Beobachtung als erziehungswissenschaftliche Methode der Unterrichtsforschung deutlich, bei der zwar auch die prinzipielle Subjektivität der Wahrnehmung anerkannt wird, aber dennoch Erklärungsmuster für beobachtete Handlungen zu finden gesucht werden, um letztlich die Objektivierung der Beobachtungen anzustreben (vgl. z. B. Beck & Scholz 1995). 5.2.3 Das Schreiben von Vignetten – das Beispielgeben »Wie ein Kind eine Aufgabe beginnt, wann es sie abbricht, sich Hilfe holt, sie abschließt: Wir arbeiten den Kern eines solchen Erfahrungsmoments heraus, skizzieren das Geschehen, rahmen die Situation, stellen dar, lassen offen. […] Vignetten haben anekdotischen Charakter und ähneln Kurzgeschichten im Aufbau. Sie sind kurze Texte, aber das Prägende des Moments, Atmosphärisches, die Gestimmtheit der Situation ist dicht, in Fülle, ja, im Überschuss da und damit spürbar und von anderen nachzuvollziehen. In diesem Sinn sind Vignetten trächtig: Sie tragen Spuren des Durchlebten, Erfahrenen, Wahrgenommenen, Gespürten, Gehörten und Mit-Gefühlten in sinnlicher Fülle in sich.« Schratz et al. (2012:38)
Die grundsätzliche Schwierigkeit, mit der sich Forschende im phänomenologischen Schreibprozess konfrontiert sehen, ist es, dass es nicht lediglich um das exakte Protokollieren des Sicht- und Hörbaren geht, sondern darum, die Situation sprachlich so einzufangen, dass die Dimension des Spürbaren mit artikuliert wird.
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Insofern kommt der Vignette selbst ästhetische Qualität zu, die einer sorgfältigen Sprache bedarf, um (wieder)erlebbar zu sein. Erst diese besondere Qualität macht es möglich, eine Erfahrung in all ihren Dimensionen wiedererlebbar zu machen (Schratz et al. 2013:64). Denn es ist der Anspruch an die Vignette, nicht einfach eine Zusammenfassung von Protokolliertem zu sein oder lediglich über die Dinge zu schreiben. Es geht nicht um das »reinigen […] von Sinnlichem oder [das] Abstrahieren […] als distanzierte Beobachtung« (Schratz et al. 2012:37). Die Innsbrucker Gruppe führt diesen Gedanken wie folgt aus (ebd.): »Wir illustrieren und malen sprachliche Stimmungsbilder. Wir suchen nach Verben, die den Ton wiedergeben, in dem etwas gesagt wird, und den Klang, in dem es hörbar ist. […] Wir prüfen die Wörter sorgfältig, die wir verwenden. Tun sie ihren Dienst und verlebendigen sie die Erfahrung oder werden sie zum Selbstzweck eines sich poetisch-literarisch gebenden Schreibens?«
Im Zitat wird eine zentrale Herausforderung für den Schreibprozess deutlich. Es gilt eine der Situation und dem Phänomen angemessene Sprache zu finden, die sich nicht im Poetischen verliert, aber gleichzeitig Sinnüberschüsse in sich trägt, die den Lesenden berühren, ihn affizieren können und daher poetische Züge annehmen. Die im Zuge der Anfertigung gewählten Worte beziehen sich auf tatsächlich Erlebtes und geben dies in der Weise wieder, wie es im Moment miterfahren wurde. Daraus resultiert, dass die »Wörter oder Sätze«, welche in der Situation gewählt werden, »getränkt [sind] von ihrer Atmosphäre« und somit »deutliche Spuren durchlebter Erfahrung in sich [tragen]« (ebd.). Für die vorliegende Untersuchung wird auf diesen Anspruch unmittelbar mit den nachfolgend herausgearbeiteten Merkmalen einer gelungenen phänomenologischem Beschreibung geantwortet und die Vignetten unter Berücksichtigung dieser Merkmale angefertigt (vgl. Kapitel 5.2.4). Es wird deutlich, dass sich die phänomenologische Vignettenarbeit einer klaren Grenzziehung zwischen qualitativer Sozialforschung und künstlerisch-ästhetischem Weltzugang verwehrt.15 Die Anfertigung der Vignette ist als recursive writing process (Schratz et al. 2013:64) organisiert. D. h., dass die Vignette in mehreren abwechselnden Schreib15 Ich selbst versuche mit der vorgelegten Untersuchung keine Verstetigung des Dualismus Wissenschaft oder Kunst herbeizuführen, sondern versuche eine dem Gegenstand angemessene Zugangsweise zu formulieren, die sich am Methodenanspruch der qualitativen Forschung ebenso messen muss, wie an der Einsicht, dass sich mit Erfahrungen nur forschen lässt, wenn man deren präreflexiven Charakter über ästhetische Darstellungsweisen wiedererlebbar werden lässt. Der hier aufgeworfene Dualismus wird in der Philosophie unter dem Begriffspaar Logik und Rhetorik thematisiert.
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und Überarbeitungsschritten entsteht. Der erste grobe Entwurf der Vignette wird Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmern (bspw. anwesenden Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern) vorgelegt, um sicherzustellen, dass die Vignette treffend formuliert ist. Dieser erste Schritt dient der kommunikativen Validierung und wurde für die vorliegende Untersuchung mit der Lehrerin, mit welcher der Projektkurs im Co-Teaching durchgeführt wurde, durchgeführt. Lamnek (2010:139) versteht den Schritt der kommunikativen Validierung als den Versuch, »sich seiner Interpretationsergebnisse durch erneutes Befragen der Interviewten zu vergewissern«, wodurch die Gültigkeit der Analyse geprüft werden soll. Im Unterschied zu dieser Auslegung des kommunikativen Validierungsprozesses geht es im Kontext der Vignettenforschung nicht um die Überprüfung der Analyse der Vignetten. Vielmehr dient der Validierungsschritt dazu, sich zu vergewissern, ob die Verdichtung der ausgewählten Lernmomente zur Vignette geglückt ist. Dazu wird sie im Gespräch mit weiteren anwesenden Personen daraufhin reflektiert, ob sie die exemplifizierten Momente trefflich in Sprache fasst. Dieses Anliegen darf folglich nicht mit dem Versuch der Objektivierung verwechselt werden, sondern dient dazu, sicherzustellen, dass die miterlebten Erfahrungen in ihrer Reichhaltigkeit treffend und überzeugend verbalisiert wurden. Nach der ersten Überarbeitung wird die Vignette in Kleingruppen besprochen, um Hinweise darauf zu erhalten, ob die Vignette geeignet ist, Resonanzen bei den Lesenden zu erzeugen. Hierüber soll sichergestellt werden, dass die Vignette auch in einer Art und Weise formuliert ist, dass sie als Klangkörper (ästhetischer) Lernerfahrungen fungieren kann. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde dieser zweite Validierungsschritt für alle Vignetten mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführt. Daraufhin wird die Vignette überarbeitet und finalisiert. Im Kontext des gesamten Forschungsprozesses ist das Schreiben der Vignetten somit als Aufbereitungsschritt zu verstehen. Das im Feld gesammelte Material wird zur Vignette verdichtet, welche wiederum selbst Gegenstand der nachfolgenden Auswertung ist (vgl. Schratz et al. 2013:64). Die Auswahl der Situationen aus den Feldnotizen, die zu Vignetten verdichtet werden, geschieht mithilfe einiger Aufmerksamkeitsschwerpunkte, die im Kern darauf abzielen, Momente zur Darstellung zu bringen, in denen das Pathische eines Erfahrungsmoments spürbar wurde.16 Zur Bezeichnung solcher miterfahrener und in den Feldnotizen festgehaltener Momente wird der Begriff der »Fokussierungsmetapher« (Bohnsack
16 Die der Auswahl zugrundeliegenden Schwerpunkte führe ich in Kapitel 6.2.1 genauer aus.
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2010:33) gewählt.17 Hierüber wird im Rahmen der Untersuchung sichergestellt, dass die gewählten Situationen zum einen eine Passung zur Fragestellung der Arbeit aufweisen (Momente des Pathischen sind für Lernerfahrungen unabdingbar, wie in Kapitel 3.2.4 herausgearbeitet wurde) und gleichzeitig eine hohe inhaltliche Dichte aufweisen, wodurch das Verfassen möglichst trächtiger Vignetten ermöglicht wird. 5.2.4 Merkmale einer gelungenen phänomenologischen Beschreibung Es bleibt die Frage, was genau eine gelungene phänomenologische Beschreibung, in diesem Fall die Vignetten, auszeichnet und an welchen Kriterien diese orientiert sein muss, um den an sie gestellten Ansprüchen zu genügen. Max van Manen (1990:27) bestimmt eine gelungene phänomenologische Beschreibung wie folgt: »a good phenomenological description is an adequate elucidation of some aspect of the lifeworld − it resonates with our sense of lived life«. Der erste Teil des Zitats – »a good phenomenological description is an adequate elucidation of some aspect of the lifeworld« – fokussiert darauf, dass es sich bei einer phänomenologischen Beschreibung um die angemessene Verdeutlichung eines bestimmten Aspekts der Lebenswelt handelt. Wie lässt sich aber die Angemessenheit einer Beschreibung bestimmen? Hierauf liefert der zweite Teil des Zitats – »it resonates with our sense of lived life« – Hinweise, denn dieser Teil muss auf zweierlei Art und Weise verstanden werden. Zum einen geht es bei der phänomenologischen Beschreibung darum, dass diese reichhaltig an Facetten des Spürbaren und der Empfindungen sein muss, um einen Aspekt der Lebenswelt hinreichend verstehbar werden zu lassen. Zum anderen geht es darum, dass diese Facetten etwas für jemanden zum Klingen bzw. Nachhallen bringen. D. h. also, dass eine gelungene phänomenolo-
17 Bohnsack (2010:33) wählt den Begriff der Fokussierungsmetapher für Stellen »ausgeprägten Engagements der Gruppe« innerhalb der im Rahmen der Dokumentarischen Methode durchgeführten Gruppendiskussionen, »die sich durch hohe interaktive und metaphorische Dichte« auszeichnen. Im Rahmen der Arbeit mit Vignetten wählt die Innsbrucker Gruppe die Bezeichnung, um vielschichtigen Erfahrungsmomente zu markieren, welche Bedeutung im Forschungsprozess erlangen, indem sie zu Vignetten ausgearbeitet werden (vgl. hierzu auch Kap. 6). Im Unterschied zum Forschungsprozess der Dokumentarischen Methode, wird hier nicht der latente Sinn der Fokussierungsmetaphern rekonstruiert, sondern die Fokussierungsmetaphern als Ausgangspunkt für die Exemplifizierung von Lernerfahrungen über die Vignetten verstanden.
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gische Beschreibung einen bestimmten Aspekt der Lebenswelt verdeutlicht, indem die Dimensionen des Spürbaren und der Empfindungen für jemanden, der die Beschreibung liest, spürbar und nachempfindbar werden. Hier wird sowohl ein besonderer Anspruch an die gewählte Sprache für die Beschreibung zum Ausdruck gebracht als auch die Bedeutung des Lesers oder der Leserin für das Gelingen der phänomenologischen Beschreibung als wissenschaftliche Methode deutlich. Denn eine gute phänomenologische Beschreibung ist eine solche, die eine bestimmte Erfahrung in einer Art und Weise zur Sprache bringt, dass sie für einen Leser oder eine Leserin verstehbar und nachvollziehbar wird. Van Manen (ebd.) spricht in diesem Kontext in Anlehnung an Buytendijk vom phenomenological nod, also einem zustimmenden Nicken beim Lesen einer phänomenologischen Beschreibung als Indikator für eine gelungene Beschreibung. Die Beschreibung überzeugt dann, wenn wir sie als Erfahrung verstehen, die wir selbst auch in vergleichbarer Form bereits machten oder prinzipiell auch so machen könnten. Van Manen (1990:27) formuliert drei mögliche Fallstricke bei der phänomenologischen Beschreibung: »(1) A description may fail to aim at lived experience […], (2) A description may properly aim at lived experience but somehow fail to elucidate the lived meaning of that experience […], (3) A description may elucidate, but what is elucidated is not lived experience«. Um sich vor diesen Fallstricken zu wappnen, richte ich mich (neben der Prüfung auf Resonanzfähigkeit der Vignetten in Kleingruppen) beim Schreiben der Vignetten an die Qualitätsmerkmale phänomenologischer Beschreibungen nach Polkinghorne (1983:45f.). In Anlehnung an Keen (1975/2003) bestimmt Polkinghorne vier Qualitätsmerkmale phänomenologischer Texte: vividness, accuracy, richness und elegance. Es muss klar sein, dass sich das Schreiben phänomenologischer Beschreibungen nicht als operationalisierbare Schrittfolge entlang formalisierter Qualitatsstandards denken lässt. Gleichwohl erscheinen mir Polkinghornes Qualitätsmerkmale von Beschreibungen als sinnvolle Orientierungshilfe, welche die eigenen phänomenologischen Beschreibungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit strukturieren müssen. Diese Notwendigkeit resultiert aus einem Einwand, den Depraz (2012:158) formuliert, wenn sie zu bedenken gibt, dass »sich nicht jede Sprache zur phänomenologischen Deskription eignet«. Nimmt man diesen Einwand ernst, muss man sich zwangsläufig die Frage stellen, welcher Gestalt eine Beschreibung sein muss, um als phänomenologische Beschreibung gelten zu können. Die nachfolgend erläuterten Kriterien Polkinghornes skizzieren also eine Sprache, die sich zur phänomenologischen Deskription eignet.18
18 Die Ausführungen zu den vier Qualitätsmerkmalen sind eng an der eigenen Übersetzung des Originaltextes orientiert.
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• Vividness (engl. Deutlichkeit, Klarheit, Lebendigkeit) ist ein Qualitätsmerkmal,
welches sich darin ausdrückt, dass der Leser vom Text eingenommen wird und ein Gefühl der Echtheit beim Lesen des Textes verspürt. • Accuracy (engl. Genauigkeit, Akkuratesse, Sorgfalt) ist das Merkmal, welches den Text glaubwürdig macht und es dem Leser erlaubt, das beschriebene Phänomen selbst nachzuempfinden. • Richness (engl. Vielfalt, Fülle, Reichhaltigkeit) ist die Eigenschaft, eine tiefgehende Beschreibung über die Verwendung schillernder Sprache, anschaulicher Darstellung und hohem Detailreichtum, um bewusst auch die sinnlich-ästhetischen Facetten des Phänomens zur Darstellung zu bringen. • Elegance (engl. Anmut, Eleganz, Gewandtheit) drückt sich im sparsamen wohlüberlegten Wortgebrauch aus, der das Phänomens darzustellen vermag und sich durch Anmut und Trefflichkeit gleichermaßen auszeichnet. Auf den Punkt gebracht geht es im Rahmen dieser Untersuchung also darum, eine Sprache zu finden, die es zu leisten vermag, Welt und sich vollziehende Erfahrungen zum Widerhallen, Reflektieren oder Klingen zu bringen. Dazu fertige ich die Vignetten konsequent in Hinsicht auf die hier formulierten Merkmale an. 5.2.5 Grundsätze der Vignettenlektüre – das Beispielverstehen »Vieles bleibt offen und bedarf weiterer Lektüren, um es zutage zu fördern.« Schratz et al. (2012:41)
Die Lektüre der Vignette verfolgt nicht das Ziel, die beschriebene Situation letztgültig zu analysieren, zu interpretieren oder tiefgründig auszudeuten; auch geht es bei der Betrachtung nicht um die kategoriengeleitete Analyse oder die induktive Kategorienbildung aus einer Vielzahl an Vignetten (Schratz et al. 2012:38). Es sollen ebenso wenig Aussagen überindividueller Gültigkeit getroffen oder theoretisch begründete Hypothesen über die empirische Prüfung verifiziert bzw. falsifiziert werden. Damit verliert sich die Arbeit mit Vignetten aber nicht in subjektiver Beliebigkeit oder dient allein dem Selbstzweck und ist ohne wissenschaftliche Relevanz. Denn indem die Vignetten Erfahrungen zum Klingen bringen, können die hier aufgeworfenen Ziele empirischer Sozialforschung gar nicht zum Tragen kommen. Erfahrungen können immer nur selbst gemacht werden; sie ereignen sich auf dem Grund des jeweils eigenen Erfahrungshorizonts und sind dem Gegenüber doch nicht verschlossen: Erfahrungen können nachvollzogen und an ihnen etwas
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(über sich selbst, über den Gegenstand und über den Anderen) gelernt werden. In Michel Foucaults (1980/2005:58f.) Worten: »Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz allein macht und dennoch nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der reinen Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung – ich will nicht sagen: exakt übernehmen, aber sie doch kennen lernen und nachvollziehen können.«19
Damit schlägt die Vignettenforschung einen alternativen Weg pädagogischer Empirie ein, der den Wert des Beispiels in den Fokus rückt. Brinkmann (2011:11) weist darauf hin, dass sich »der Sinn eines Beispiels […] nicht als Objektivierung und Generalisierung einer allgemeinen Regel [erschließt]«. Vielmehr stellt sich der Sinn des Beispiels erst »im intuitiven Nachvollzug ein« (ebd.). Oder anders gesagt: »Beispiele sollen als Zeugnisse andersartiger Erfahrungen gelten und einen reflexiven Zugriff darauf ermöglichen« (ebd.). Auf die Bedeutung von Beispielen für pädagogische und didaktische Überlegungen wird in einem späteren Kapitel zurückzukommen sein (Kapitel 5.3.3). An dieser Stelle ist der Gedanke wichtig, dass die im Rahmen der vorliegenden Arbeit erstellten Vignetten als Beispiele für ästhetische Lernerfahrungen verstanden werden, deren Sinn sich über den intuitiven Nachvollzug des Lesers oder der Leserin und die Auseinandersetzung mit meinen schriftlichen Reflexionen der Vignette, die Lektüre, ergibt. Insofern ergibt sich ihr Sinn nur im Wechselspiel von Schreiben und Lesen. Bei der Vignettenarbeit geht es also in erster Linie darum »die Fülle und Reichhaltigkeit von Erfahrung, die sich in ihnen artikuliert, auszudifferenzieren und in möglichst vielen Facetten […] zu zeigen. Wir setzen uns als Lesende zu ihnen in Beziehung und respondieren auf die Ansprüche, die sie an uns als Menschen wie als Lehrpersonen stellen« (Schratz et al. 2012:39). Damit ist es ein Merkmal der Vignette, Lesende herauszufordern, sich zu ihr und dem eigenen Erfahrungshorizont in Beziehung zu setzen. Für van Manen (1990:21) muss ein gelungener phänomenologischer Text (hier: die Vignette) dazu einladen, mit ihm in den Dialog zu treten. Als Lesende bzw. Lesender einer Vignette – wie einer Vignettenlektüre – gerät man dann ins »Nachdenken über das, […] was uns als Lesende an den artikulierten Erfahrungen besticht, was uns anrührt und betroffen macht« (Baur & Schratz 2015:173). Die Vignettenlektüre lässt sich eher als Suchbewegung denn als Festschreibung verstehen. Dabei kreist die Lektüre stets um Phänomene, die sich von selbst an den Vignetten zeigen, und dennoch kommt in der Lektüre immer mehr zum 19 Für den Hinweis auf diese Textstelle bei Foucault möchte ich mich bei Käte MeyerDrawe bedanken.
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Vorschein als die Vignette scheinbar beinhaltet (ebd.). In diesem Sinne bringen Vignetten und deren Lektüren den Leser oder die Leserin also auf eine Spur und legen keine finale überindividuell gültige Diagnose der artikulierten Erfahrung vor. Die Lektüre ist eine mögliche Deutung20 und gleichzeitig − mit Lippitz (1993:138) gesprochen − »Aufforderung an den Leser, diese Exemplifizierung für sich nachzuvollziehen und unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen zu bestätigen, zu ergänzen, evtl. sogar zurechtzurücken«.21 Die Innsbrucker Gruppe charakterisiert den Prozess der Vignettenlektüre als gleichsam herausfordernd und besonders lohnend (Schratz et al. 2012:39):
20 Für Müller (1997:24) ist Deutung nicht dasselbe wie Diagnose. Während in einer Diagnose ein bestimmtes Wissen auf einen Fall angewendet und anschließend betrachtet wird, wie dieser Fall im Horizont des jeweiligen Wissensbestandes einzuordnen ist, hat die Deutung keinen »in diesem Sinne objektiven, sondern einen intersubjektiven Geltungsanspruch« (Müller 1997:24). Wenngleich beide Verfahren einen bestimmten Wissensbestand auf einen bestimmten Sachverhalt anwenden, ist der Anspruch der Deutung nicht, die eine objektive Wahrheit zu Tage zu fördern. Vielmehr werden »dem Adressaten nur Möglichkeiten zur Überprüfung der Sinngehalte seiner eigenen Einfälle bzw. Sichtweisen« vorgeschlagen (ebd.). Intersubjektive Gültigkeit erlangt die Deutung über die Validierung des jeweiligen Adressaten. In der vorliegenden Arbeit wird Müllers Begriff von Deutung aufgegriffen und als Anliegen der Vignettenlektüre verstanden. Wenngleich Müllers Kasuistik dem hermeneutischen Fallverstehen in Anlehnung an Schleiermacher zuzuordnen ist und insofern begrifflich und forschungstheoretisch andere Wege als die vorliegende Untersuchung einschlägt, scheint seine Begriffsunterscheidung auch hier treffend zu sein. Insofern ist die Deutung der Beispiele ästhetischer Lernerfahrungen, welche sich in den Vignetten spiegeln, das formulierte Ziel der Untersuchung. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Fall und Beispiel hier nicht dasselbe meinen. Müller selbst grenzt die Begriffe allerdings nicht voneinander ab. An dieser Stelle sind aber seine Überlegungen zum Unterschied von Diagnose und Deutung relevant, die meines Erachtens auch auf die pädagogisch-phänomenologische Beispielarbeit angewendet werden können. 21 Obwohl sich Lippitz im Zitat nicht zur Vignettenforschung äußert, formuliert er das Anliegen einer phänomenologischen Methode als die »exemplarische Deskription« (Lippitz 1993:138) und nicht die abschließende Interpretation. Mir erscheint sein Anliegen insofern passend, als er die Deskription eben nicht bloß als »ein Stück philosophischer oder pädagogischer Belletristik« versteht, sondern eine den Gegenständen adäquate Methode. Auch die Innsbrucker Gruppe selbst fußt ihre Argumentation an mehreren Stellen auf Lippitz Überlegungen.
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»Was ist im Blick, was bleibt im Schatten? Wo führt das hin, wenn wir das weiterdenken? Wenn sich Lernen als Einsicht-Gewinnen zeigt, als was zeigt es sich noch? Wenn sich Lernende als Träumende zeigen, als was zeigen sie sich noch? Diesem Mehr gehen wir nach. Das drehen und wenden wir. Das befragen und prüfen wir, ohne es eindeutig festzuschreiben, letztgültig zu erklären oder als endgültig bestimmt abzuschließen. Das ist eine große Herausforderung, aber auch ein lustvoller Prozess und ein lohnendes Unterfangen.«
Im Forschungsprozess interessiert demnach nicht was sich zeigt, sondern wie es sich zeigt. Ein und dieselbe Vignette kann mit dieser Weichenstellung unter der Perspektive einer Reihe von Blickwinkeln bzw. Fragestellungen ›gelesen‹ werden, um hierüber verschiedene Facetten der Erscheinungsweise des Phänomens freizulegen. Im Zuge der Forschung der Innsbrucker Gruppe werden die erarbeiteten Vignetten in Bezug auf verschiedene Phänomene gelesen, z. B. Unterbrechungen (Nageler-Schluga 2013), Vertrauen (Mairhofer 2014) oder Erfinden (Agostini 2016) und es wird den Fragen nachgegangen, wie sich Lernen in den jeweiligen Phänomenen zeigt. Es wird deutlich, dass »je nach Lektüre und LeserIn […] anderes zum Vorschein und in den Blick [kommt]« (Schratz et al. 2012:38f.). Es ist unabdingbar bei der Arbeit mit Vignetten, diesen Umstand zu akzeptieren und ihn als Zugeständnis an die Fülle und Reichhaltigkeit menschlicher Erfahrungen zu verstehen. Forschungsethisch ist es wichtig, sich die »(theoretische) Herkunft unserer Lesarten bewusst und für andere transparent« (ebd.) zu machen. Für die vorliegende Untersuchung werden die hier entfalteten Überlegungen in Bezug auf die Vignettenlektüre umgesetzt. Zu den im Rahmen des MappingKurses erarbeiteten Vignetten werden Lektüren angefertigt, welche die Forschungsfrage im Blick darauf fokussieren, wie sich in den Vignetten Lernen als ästhetische Erfahrung zeigt. Um dem Moment des Ästhetischen besondere Rechnung zu tragen, wird die Lektüre der Vignette dabei vor dem Hintergrund der Arbeitsprozessbeschreibungen und der Mappings selbst durchgeführt. Mapping und Vignette greifen in der Lektüre also insofern ineinander, als dass das fixierte Mapping als Ereignishorizont verstanden wird, auf den hin die Vignetten gelesen werden müssen. Anders gesagt: Die Vignette wird mit Blick auf das Werden des Mappings gelesen und auf das fixierte Mapping hin reflektiert. Dies erscheint mir notwendig, da die im Zuge des Projekts entstandenen Vignetten nicht losgelöst von den Mappings gedacht werden können, da diese im Laufe des Arbeits- und Anfertigungsprozesses entstanden sind und eben solche ästhetischen Lernerfahrungen zum Klingen bringen, die sich aufgrund der organisierenden Funktion des Map-
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pings vollzogen und damit auch als Spuren in den fixierten Mappings aufscheinen.22 Gleichzeitig begegne ich mit diesem ineinandergreifenden Vorgehen einem Kritikpunkt an der Vignettenforschung. Denn Brinkmann (2012:o.S.) gibt zu bedenken, dass Vignetten erst vor dem Hintergrund ihrer Entstehungskontexte hinreichend reflektiert werden können. Indem über die Vignetten-Kontexte verschiedene Erfahrungssplitter empirisch Berücksichtigung finden, wird es möglich, temporal verzögerte Antworten, welche in den Vignetten aufscheinen, aufzugreifen und in der Lektüre zu berücksichtigen. Gleichzeitig sieht Peterlini (2016) die Gefahr der Einengung der Vignettenlektüre über die Darstellung der Kontexte der verdichteten Situationen. Dem Prozess der reflexiven Überarbeitung der Vignetten(lektüren) in Gruppen kommt im Zuge der vorliegende Arbeit daher besondere Bedeutung zu, um den Reichtum der in den Vignetten zur Darstellung gelangenden Erfahrungen in der empirischen Aufarbeitung und Lektüre zu bewahren und nicht einseitig aufzulösen.
22 Somit wird auch auf eine gesonderte kategoriengeleitete Bildanalyse des fixierten Mappings verzichtet, wie dies häufig bei der Arbeit mit ästhetischen Produkten vollzogen wird. (Einen Überblick über gängige Bildanalysepraktiken innerhalb der qualitativen Empirie liefern u. a. Bohnsack & Krüger 2004, Faulstich 2010.) Viele Analysemethoden fußen auf den zeichentheoretischen Überlegungen des US-amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914). Bilder bzw. einzelne Bildobjekte werden dann als Zeichen verstanden und ›gelesen‹. Peirce unterscheidet ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen (Schweppenhäuser 2007:134-136, 261-264). Ihnen gemeinsam ist, dass sie auf etwas Abwesendes verweisen. Da für die vorliegende Analyse aber eben nicht vornehmlich von Interesse ist was dargestellt wurde und was das Dargestellte repräsentieren soll, sondern wie es dargestellt wurde und auf welche Weise hierin ästhetische Erfahrungen aufscheinen bzw. sich in Spuren in die Aufzeichnungen eingeschrieben haben, würde eine zeichentheoretisch begründete Bildanalyse den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung nicht treffen. Darüber hinaus müsste in einem vorgelagerten Schritt das Verhältnis von Bild und Karte (bzw. hier der künstlerischen Kartenarbeit, dem Mapping) differenziert aufgearbeitet werden, um plausibel machen zu können, dass solche Analysemethoden hier überhaupt zielführend bzw. dem Gegenstand der Untersuchung angemessen wären. Mit der Karte als Medium im Spannungsfeld von Bild und Diagramm setzt sich im Kontext der Geographie insbesondere Stephan Günzel auseinander. Seine Überlegungen kulminieren im Sammelband KartenWissen, der 2012 zusammen mit Lars Nowak herausgegeben wurde.
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Einordnung der Untersuchung in das Feld phänomenologischer Forschung »Phenomeological researchers generally agree that our central concern is to return to embodied, experiential meanings aiming for a fresh, complex, rich description of a phenomenon as it is concretely lived. Yet debates abound when it comes to deciding how best to carry out this phenomenological research in practice.« Finlay (2009:6)
Im Leitzitat klingt die Vieldeutigkeit der Phänomenologie und der phänomenologischen Forschungsbemühungen an, die bereits eingangs beschrieben wurde und als grundsätzliche Schwierigkeit und gleichzeitig zentrale Stärke phänomenologischer Forschung gesehen werden kann (vgl. Kapitel 3.2.1). Aus diesem Grund wurde das methodische Vorgehen im Rahmen der vorliegenden Arbeit gegenstandsgebunden entwickelt und wird erst im zweiten Schritt reflexiv in das Feld der phänomenologischen Forschung eingeordnet. Mit diesem reflexiven Vorgehen wird auf Finlays (2009:17) Forderung bei der Arbeit mit der Phänomenologie eingegangen: »Researchers entering the phenomenological field have to decide for themselves where they stand on questions concerning what paradigm phenomenologists embrace, what their research means, and to what extent interpretation can be involved in the basic descriptive project. They need to work out whether they are seeking normative or idiographic understandings, how to manage researcher subjectivity, and whether phenomenology should be treated as a science, an art, or both.«
Konkret werden nachfolgend zwei der von Finlay markierten Spannungsfelder phänomenologischer Forschungsbemühungen beleuchtet und jeweils auf das eigene Vorgehen bezogen, um die Positionierung der eigenen phänomenologischen Forschung innerhalb der phänomenologischen Forschungslandschaft deutlich werden zu lassen.23 Im ersten Schritt werden ein beschreibendes und ein interpre-
23 Die Auswahl der zwei Spannungsfelder, auf welche ich mich hier beziehe, geschah aus meiner eigenen Forschungspraxis heraus, da diese mich selbst mehrere Monate während des Forschungsprojekts beschäftigten. Konkret habe ich mich über einen längeren
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tatives (hermeneutisches) phänomenologisches Forschungsparadigma gegenübergestellt (Kapitel 5.3.1). Daraufhin wird die forschungstheoretische Relevanz des phänomenologischen Beispiels herausgestellt (Kapitel 5.3.2). 5.3.1 Über das Verhältnis von Beschreibung und Interpretation »Weil sich der Vollzug selbst nicht zeigt, kommt es insbesondere darauf an, wie man Akte beschreibt.« Meyer-Drawe (2012a:98)
Für Finlay (2009:10) stellen »concrete descriptions of lived situations« den Ausgangspunkt jeglicher phänomenologischer Forschung dar. Wie gezeigt wurde, sind diese Beschreibungen durch den Verzicht auf explizite theoretische Referenzrahmen und Erklärungsmuster gekennzeichnet und hüten sich vor vorschnellen Verallgemeinerungen. Der darauf folgende Schritt, in dem diese Beschreibungen analysiert werden (ebd.), zielt auf das Herausarbeiten wesentlicher Merkmale des beschriebenen Phänomens ab. In der vorliegenden Untersuchung thematisiere ich ästhetische Erfahrungen als Lernerfahrungen, indem die Arbeitsprozesse der Gruppenmitglieder beschrieben und ausgewählte Momente zu Vignetten verdichtet werden und die Mappings beschrieben und abgebildet werden. Es bleibt die Frage, inwieweit sich diese reichhaltigen Resonanzkörper ästhetischer Lernerfahrungen (Vignetten und Mappings) hinsichtlich darin aufscheinender Gemeinsamkeiten untersuchen lassen bzw. inwieweit das Herausarbeiten des Gemeinsamen aufgrund reiner Beschreibungen möglich ist. Folgt man Finlay (ebd.), ist es ein Anliegen der bzw. des phänomenologisch Forschenden »to go beyond surface expressions or explicit meanings to read between the lines so as to access implicit dimensions and intuitions«, woraus eine gewisse Unsicherheit gegenüber der Auslegung phänomenologischer Forschung als rein beschreibend agierende Wissenschaft resultiert. Denn es scheint kaum möglich, eine trennscharfe Grenze zwischen dem Herauslesen impliziter Dimensionen des Beobachteten und Gesagten einerseits und dem Interpretieren anderseits zu ziehen. Obgleich also jede phänomenologische Forschung beschreibend ist (Finlay 2009:10f.) und somit in erster Linie das Anliegen verfolgt, die Phänomene zu be-
Zeitraum mit dem Stellenwert der Beschreibung in der Phänomenologie und der Aussagekraft der gewählten Beispiele beschäftigt. Insofern umkreisen Finlays Spannungsfelder auch meine eigene Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Forschungspraxis und wurden daher hier als Strukturierungshilfe gewählt.
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schreiben und nicht, sie zu erklären, lässt sich zwischen einer »descriptive phenomenology«, welche Finlay in der Denktradition Edmund Husserls verortet, und einer »interpretive, or hermeneutic, phenomenology«, welche Finlay in der Denktradition Martin Heideggers verortet, unterscheiden. Diese Unterscheidung wird von verschiedenen Autoren vertreten, aber es gibt auch den Standpunkt, dass jedwede Beschreibung letztlich eine Interpretation ist (van Manen 1990:25). Dennoch wird von mehreren Autoren in den Geisteswissenschaften zwischen der Phänomenologie (verstanden als Beschreibung gelebter Erfahrungen) und der Hermeneutik (verstanden als verstehende Interpretation der Erfahrungen) unterschieden (vgl. z. B. Polkinghorne 1983, Silverman 1984, Danner 2006). Für Danner (2006:170) bspw. kann »das Verstehen im hermeneutischen Vorgang […] gegenüber dem Beschreiben geradezu als gegenströmige Bewegung aufgefasst werden«. Für die vorliegende Arbeit ist Finlays Ausdifferenzierung des Interpretationsbegriffs wegweisend für die Frage, wie das Verhältnis der Begriffe zu denken ist. Sie unterscheidet zwischen der Interpretation als »pointing to something« und der Interpretation als »pointing out the meaning of something« (Finlay 2009:11). Mit der ersten Auslegung ist gemeint, dass über die Interpretation herausgearbeitet wird, worauf der Gegenstand selbst bereits verweist − wodurch die Interpretation als pointing to nah bei der phänomenologischen Beschreibung Husserls und auch Heideggers ist (van Manen 1990:26). Die zweite Auslegung hingegen bestimmt die Interpretation als Verstehen einer Sache vor dem Hintergrund eines existierenden, von außen angelegten Referenzrahmens (Finlay 2009:11). Für die Verortung des hier entwickelten Vorgehens erscheint diese Ausdifferenzierung hilfreich, denn um sich dem fragilen Moment, in dem Sinn entsteht, zu nähern, werden die Vignetten als Möglichkeit verstanden, gelebte Erfahrung spürbar und (wieder-)erlebbar werden zu lassen, um das Phänomen sich selbst zeigen zu lassen (im Sinne eines pointing to). Es wird gerade nicht der Versuch unternommen, die erlebten Momente bis ins letzte Detail zu interpretieren (im Sinne eines pointing out). Die vorliegende Arbeit und das soweit entwickelte methodische Vorgehen folgen vielmehr der Idee, dass die sorgfältige Beschreibung das betrachtete Phänomen niemals in Gänze einholen kann und jeweils nur bestimmte Facetten des Gegenstandes zur Sprache bringen und für den Leser nachvollziehbar werden lassen kann. Die Beschreibung und die Interpretation (im Sinne eines pointing to) werden dabei als aufeinander verweisende Pole des Wahrnehmens, Nachvollziehens und Verstehens gelebter Erfahrungen verstanden. D. h., dass mit der Lektüre der Vignetten vor dem Hintergrund der Arbeitsprozesse und im Hinblick auf das Werden der fixierten Mappings versucht wird, dieser Gratwanderung Rechnung zu tragen,
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indem das Oszillieren zwischen Beschreibung und Interpretation über die Annäherung an ästhetische Lernerfahrungen ins Zentrum der Untersuchung gestellt wird. Beschreibung und Interpretation werden hier für die Forschungspraxis folglich als Kontinuum und nicht als antithetisches Konstrukt gedacht. Diese forschungspraktische Verschränkung sieht auch Danner (2006:185): »Auch was wir hier labormäßig trennen, nämlich phänomenologisches Beschreiben einerseits und hermeneutisches Verstehen andererseits, wird in der praktischen Reflexion sehr nahe beisammen sein.« 5.3.2 Die Relevanz des Beispiels in der pädagogischphänomenologischen Forschung Der niederländische Phänomenologe Frederik Buytendijk bezeichnete die Phänomenologie in seinen Vorlesungen einst als »the science of examples« (van Manen 1990:121). Bezogen auf die phänomenologische Pädagogik lässt sich festhalten, dass auch hier »die Dokumentation exemplarischer Situationen und das anschließende Beispielverstehen schon immer eine zentrale Säule des erziehungswissenschaftlichen Forschungsverständnisses« darstellte (Peez 2007:29). Die Idee, vor deren Hintergrund sich die Dokumentation exemplarischer Situationen verstehen lässt, ist es, dass Erfahrungsvollzüge, denen sich phänomenologische Studien widmen, nicht direkt fassbar sind (vgl. hierzu Kapitel 3.2.3). Insofern bedarf es besonderer Darstellungsweisen, um die wesentlichen Strukturmomente der Erfahrungsvollzüge, denen sich eine jeweilige phänomenologische Untersuchung nähert, erhellen zu können. Solche Darstellungsweisen sind i. d. R. sprachliche Schilderungen exemplarischer bzw. typischer Situationen, die in gewisser Weise generalisierend gedeutet werden (Lippitz 1987:122f., Lippitz 1993:138, van Manen 2017:814f.). Jede phänomenologische Beschreibung ist in diesem Sinne also ein Beispiel, das auf das Phänomen hinweist, welches über die Beschreibung zur Darstellung gebracht werden soll (van Manen 1990:122, 2017:814). Über das Beispiel soll das Phänomen also zur Selbstdarstellung gebracht werden. Anders gesagt: »every phenomenological description is in a sense only an example, an icon that points at the ›thing‹ which we attempt to describe« (van Manen 1984:64). Umso besser das Phänomen beschreibend im Beispiel zur Darstellung gebracht wurde, umso eindrücklicher wird es dem Lesenden vor Augen geführt. Diese Eindrücklichkeit zeigt sich darin, dass das Beispiel es erlaubt, tiefliegende Strukturen und Bedeutung der jeweils beschriebenen gelebten Erfahrung aufscheinen zu lassen (ebd.). Der Phänomenologie geht es um eindrückliche Situationen in der Lebenswelt, wodurch auf empirische Generalisierbarkeit der Aussagen verzichtet wird (Beekman 1987:21). Doch obwohl die Beispiele für sich
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einmalig sind, verweisen sie auf weitere ähnliche Situationen und Erfahrungen, zu denen man sich im Nachvollzug der Beispiele in Beziehung setzen kann: »Jeder von uns, der mit Kindern lebt und spricht, wird Vergleichbares erleben« schreibt Beekman (ebd.:22) über eine von ihm beschriebene Situation, welche er mit Sascha erlebte. Hier wird die Beziehung von Beispielen untereinander ebenso wie das Verhältnis des einzelnen Beispiels und des Allgemeinen, für welches das Beispiel ein Beispiel ist, angesprochen. Gabriel (2013:128) vertritt den Standpunkt, dass »die Rede vom Beispiel in eigentümlicher Weise zwischen dem Blick auf das Einzelne und dem Blick auf das Allgemeine changiert«. Für eine genauere Verhältnisbestimmung der Begriffe sind zwei Gedanken entscheidend. Den ersten Gedanken formuliert Lippitz (1987:117), wenn er auf die Eigentümlichkeit des Beispiels, »in konkreten Vollzügen zu fungieren«, hinweist. Damit ist gemeint, dass im Beispiel die konkrete aufscheinende Erfahrung von zentraler Bedeutung ist, wodurch das einzelne Beispiel nicht als »partikulärer Fall eines Gesetzesallgemeinen auftritt« (ebd.). Vielmehr ist die konkrete Erfahrung »der das Allgemeine konkretisierende und dadurch erst ermöglichende Vollzug« (ebd.). Das einzelne Beispiel lässt sich also nicht einem übergeordneten Allgemeinen unterordnen, vielmehr konkretisiert sich das Allgemeine über das Beispiel. Das, wofür das Beispiel ein Beispiel ist, scheint im Beispiel auf, aber das Beispiel vermag dies nie exakt einzufangen. Anders gesagt (Buck 1989:133, Herv. i. O.): »Wo Beispiele für die Erschließung bzw. Verständlichmachung von Begriffen notwendig sind, da handelt es sich nicht um bloße Fälle, die sich darin erschöpfen, die Besonderung eines Allgemeinen zu sein, sondern um wahrhaft ›besondere‹ Fälle, und die entsprechenden Begriffe sind, obwohl sie durch die Beispiele völlig verständlich werden, nicht erschöpfend definierbare Begriffe, sondern solche, zu denen prinzipiell die Möglichkeit weiterer Auslegung gehört.«
Den zweiten Gedanken formuliert Buck im zweiten Teil seines wegweisenden Werks Lernen und Erfahrung. In der differenzierten Aufarbeitung des Beispielbegriffs bei Aristoteles, Wolff und Kant hin zu eigenen Gedanken zum Verhältnis von Induktion und Beispiel schreibt er (ebd.:138): »So gewiß also Beispiele immer über sich hinausweisen: man verständigt [sich] an Hand von Beispielen vorzüglich über solches ›Allgemeine‹, das exakt weder bestimmt noch bestimmbar ist. Die Absicht der Beispiele kann deshalb schon erreicht sein, wenn man von ihnen aus, ohne die Vermittlung durch einen expliziten Begriff, nun über anderes, Analoges Bescheid weiß, d. h. die Beispiele in gewisser Weise verwendet. Das gilt nun aber allgemein für alle ›exemplarische‹ Verständigung: Man versteht von einem aus das andere, ohne daß
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es nötig und oft sogar möglich wäre, das Gemeinsame analytisch herauszustellen, um so, wie bei der Gesetzeskenntnis, die Fälle erst als Fälle identifizieren zu können.«
Der hier hinter liegende Gedanke besagt, dass es konstitutiv für das Beispiel ist, aus sich heraus zu funktionieren, da in ihm prinzipiell alle weiteren Beispiele angelegt sind. Dies lässt sich bspw. über den Begriff Haus veranschaulichen, zu dessen Verständnis vermutlich ein Beispiel eines Hauses reicht. Dennoch ist es, basierend auf diesem Verständnis, erlangt über die Verinnerlichung eines Beispiels, möglich, weitere Beispiele für Haus ohne Probleme zu identifizieren. Dafür muss kein minimaler Kriterienkatalog für Haus erarbeitet worden sein, mit dessen Hilfe jedes weitere Beispiel dieser allgemeinen Regel untergeordnet wird, als vielmehr die Struktur des Beispiels verstanden worden sein, um weitere Beispiele für Haus identifizieren zu können. Verschränkt man beide Gedanken, ist das Verhältnis vom Besonderen und Allgemeinen bzw. auch der Beispiele untereinander durch das übergreifende Moment der Analogiebildung bestimmt. Dieses Moment der Analogiebildung lässt sich mit Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeiten« (Wittgenstein 1945/2003, PU, §67) bestimmen. Wittgenstein entwickelt den Begriff in den Philosophischen Untersuchungen in den Paragraphen 65 bis 80 zu Beginn am Beispiel des Wortes Spiel. Der zentrale Gedanke ist, dass sich zwar nichts bestimmen lässt, »was allen [Spielen, FP] gemeinsam wäre«, dass sich aber eine ganze Reihe an Ähnlichkeiten bzw. Verwandtschaften über alle nur erdenklichen Spiele hinweg ausmachen lassen (Wittgenstein 1945/2003, PU, §66). Dabei ist nicht ein kleinster gemeinsamer Nenner aller Spiele gemeint, sondern eine Verwandtschaft über alle Spiele (Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, usw.) hinweg: Was die Brettspiele mit den Kartenspielen verbindet, muss nicht die Kartenspiele mit den Ballspielen verbinden. Dennoch stehen alle Spiele untereinander in Beziehung, und man versteht sich auf die Verwendung des Begriffs Spiel und kann sogar sagen, wenn etwas kein Spiel mehr ist, ohne, dass es sich genau definieren ließe, was ein Spiel in seinem Innersten auszeichnet. Die zentrale Erkenntnis seiner Idee der Familienähnlichkeiten ist es, dass diese als »kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen« organisiert sind (Wittgenstein 1945/2003, PU, §66). Die Spiele bilden somit eine Familie (ebd.:§67). Beekman (1987:21) greift den von Wittgenstein entfalteten Gedanken auf: Demnach »erschließen sich [Wortbedeutungen] über analogisierende Verwendung. Dass die Analogie Ermöglichende, ist kein abstrakt Allgemeines, sondern ein ›physiognomisch‹ konkret Allgemeines, vergleichbar in der Struktur mit der Familienverwandtschaft, die jedem Familienmitglied ›ins Gesicht geschrieben steht‹, ohne daß man ein einziges ideales Familiengesicht ausmachen könnte«.
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Deshalb verweisen Exempel nicht auf ein unabhängiges Allgemeines, sondern auf weitere Beispiele, durch deren Familienähnlichkeit das Gemeinsame gesichert wird. Es schließt sich hieran die Frage an, wie das Beispiel (für wen) veranschaulichend wirkt. Hierzu schreibt Buck (1989:159), dass sich die Anschaulichkeit daraus ergibt, dass sich der Lesende »in einer konkreten Situation des Verstehens« seiner eigenen unthematischen Wissensbestände bewusst wird. Diese Vergegenwärtigung unthematisch fungierender Strukturen über die Exemplifizierung lässt sich so verstehen, dass Beispiele jemanden auf eine Spur bringen, »indem sie ihn in eine Praxis versetzen« (ebd:144). Buck (ebd.) formuliert hierfür den Begriff Mitvollzug und versteht diesen als denjenigen Umstand, der das Verstehen eines Beispiels überhaupt erst ermöglicht. Denn über den Mitvollzug verweisen Beispiele den Mitvollziehenden auf etwas, »mit dem er vertraut ist, was er schon selbst kann, was er aber bis jetzt übersehen hat, weil ihm die bestimmte Weise des Erfahrungsvollzuges unthematisch geblieben ist« (Lippitz 1987:125). Lässt sich der Nachvollziehende vom Beispiel betreffen, wirkt das Beispiel veranschaulichend und belehrend durch den intersubjektiven Nachvollzug vor dem Hintergrund des jeweils eigenen Erfahrungshorizonts. Die Auswahl der Beispiele innerhalb phänomenologischer Studien obliegt dem bzw. der Forschenden und geschieht unter Maßgabe der Forschungsfrage und der persönlichen Verstrickung in die Untersuchung. Im weiteren Forschungsverlauf ist es notwendig, verschiedene Beispiele in Bezug zueinander zu setzen und »zu vergleichen, um daran die Bedeutungs- und Sinnstrukturen in den lebensweltlichen Erfahrungszusammenhängen herauszuarbeiten und an besonders prägnanten Beispielen sichtbar zu machen« (Stenger 2013:254). Beispiele für Erfahrungsvollzüge sind in unterschiedlichsten Formen vermittelt.24 Das Herausarbeiten beispielübergreifender invarianter Strukturen rekurriert auf die husserlsche Idee der Wesensschau, wird aber im Rahmen phänomenologischer Studien innerhalb der Pädagogik unterschiedlich stringent verfolgt bzw. in abgeänderter Form vollzogen (vgl. Danner 2006). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um invariante Strukturen ästhetischer Erfahrungen. Vielmehr ist es das Anliegen, verschiedene Beispiele für ästhetische Lernerfahrungen zu liefern. Diese Beispiele werden über Vignetten verdeutlicht und vor dem Hintergrund der entstandenen Mappings, in welche sich ästhetische Erfahrungen als Spuren einschrieben (die Mappings in 24 Van Manen (1990) liefert eine Übersicht über im Rahmen phänomenologischer Studien gängiger Aufzeichnungspraktiken und -formen, die Erfahrungen dokumentieren (können): »Personal Experience; Etymological Sources; Idiomatic Phrases; Experiential Descriptions for Others; Protocols; Interviews; Observing; Experiential descriptions in Literature; Biography, Diaries, Journals and Logs; Art; Phenomenological Literature« (ebd. 53-76).
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diesem Sinne also Ausdruck ästhetischer Erfahrungen sind) und weiterem im Rahmen des Projektkurses entstandenen Materials (Narrationen der Arbeitsprozesse, Projektmappen der Arbeitsgruppen, Fotos einzelner Lernmomente und persönlicher Reflexionstexte der Schülerinnen und Schüler) gedeutet. Erst die Zusammenschau dieser vielgestaltigen Dokumente von ästhetischen Lernerfahrungen erlauben es den Lesenden oder der Lesenden der Studie, sich von den Beispielen betreffen zu lassen und in Mitvollzug zu treten, der den einzelnen Beispielen ihre Wirkung über ein dialogisches In-Bezug-Setzen der Leserin oder des Lesers zu den Beispielen ermöglicht. Die Variation der Beispiele dient hier also nicht dazu, invariante Strukturen ästhetischer Erfahrungen über Reduktion offenzulegen und abschließend als Ergebnis zu postulieren. Mit Lippitz (1987:125) lässt sich mein Anliegen präzisieren: »Innerhalb der adäquaten phänomenologischen Sicht des Beispielverstehens können im Variieren der Anschauung, im Wechseln der Beispiele allgemeine Strukturen erhellt werden, ohne daß die Gefahr entstünde, sie zu hypostasieren«. Beispiele sind in dieser Logik nicht als Mittel der Beweisführung einer im Hintergrund fungierenden Theorie, sondern als Möglichkeiten zu verstehen, Neues im Phänomen zu entdecken (Depraz 2012:162). Insofern geht es nicht darum, ein theoretisches Vorverständnis über ästhetische Erfahrungen in Fallbeispielen zu rekonstruieren, sondern Neues in den Beispielen zu entdecken, um das fokussierte Phänomen zu schärfen. Es geht folglich darum, mehrere Sichtweisen auf das Phänomen im Zuge der künstlerisch-kartographischen Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit ihrer Lebenswelt zu bieten und eine Auswahl der sich im Rahmen des Projekts vollzogenen ästhetischen Lernerfahrungen zur Darstellung zu bringen. Auf Basis dieser Auswahl kann die anschließende Zusammenschau der Beispiele allenfalls Hinweise auf Strukturen liefern und dazu beitragen, sich der Familie der ästhetischen Erfahrungen sprachlich und im Mitvollzug zu nähern. In diesem Sinne ist das Beispielgeben, das Exemplifizieren, kein »indirektes Mittel der Erklärung, − in Ermangelung eines Besseren« (Wittgenstein 1945/2003, PU, §72), sondern eine der Flüchtigkeit der ästhetischen Erfahrung angemessene Methode des Vor-Augen-Führens und des Verständigens über diesen nicht exakt zu bemessenen Begriff mit verschwommenen Rändern.
6
Methodik der Untersuchung
Der im vorangegangenen Kapitel entfaltete methodologische Hintergrund der Forschung sowie das soweit plausibilisierte Untersuchungsdesign wird nachfolgend − untergliedert in die Schritte der Erhebung (Kapitel 6.1) und Aufbereitung sowie Auswertung (Kapitel 6.2) − pointiert dargestellt, um einen nachvollziehbaren Überblick über und einen konkreten Einblick in die Methodik und den Gang der Untersuchung zu liefern.1 Zusätzlich stelle ich terminologische Überlegungen zur Beschreibung an, um Begriffsunschärfen zu vermeiden. Abschließend wird das entwickelte Vorgehen vor dem Hintergrund allgemeiner Gütekriterien qualitativer Forschung sowie dem methodenspezifischen Kriterium der Resonanz reflektiert (Kapitel 6.3).
Verfahren der Erhebung: teilnehmende Erfahrung, Mapping Die Annahme, welche die Auswahl, Verschränkung und Adaption der Methoden leitete, ist, dass über die komplementär angelegten empirischen Zugänge ein möglichst vielschichtiges Bild der sich vollziehenden ästhetischen Lernerfahrungen gezeichnet werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich Erfahrungsprozesse nur schemenhaft konturieren und nie scharf nachzeichnen lassen, wie theoretisch zu Beginn der Arbeit hergeleitet wurde. Der Fokus des qualitativen Vor-
1
Ich möchte zugleich darauf hinweisen, dass die im Rahmen meiner Studie entwickelten Dokumentationspraktiken, welche das Aufspüren und Beschreiben ästhetischer Lernerfahrungen ermöglichten, im Laufe des Projekts reflexiv überarbeitet und weiterentwickelt wurden. Die im vorliegenden Kapitel pointiert dargestellte Methodik muss also auch als (Teil-)Ergebnis des Forschungsprozesses verstanden werden.
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gehens liegt folglich in der Wertschätzung der sich jeweils vollziehenden Lernmomente und in dem Versuch, ein empirisches Vorgehen zu formulieren, dass es möglich(er) werden lässt, den Vollzug dieser Lernbewegungen zu beschreiben und gleichzeitig offen zu bleiben für das, was sich im Moment zeigt. Insofern versucht die Konzeption sowohl den Ansprüchen qualitativer wissenschaftlicher Empirie als auch – insbesondere – den herausgearbeiteten Ansprüchen der Sache selbst gerecht zu werden (vgl. Kapitel 5.3). Zur Zusammenfassung und Veranschaulichung sind nachfolgend die Praktiken der Erhebung (Gespräche, teilnehmende Erfahrung, Fotodokumentation ebenso wie die Projektmappen, Mappings und Reflexionstexte) dargestellt (Tab. 6-1). Tabelle 6-1: Verfahren der Datenerhebung [I] teilnehmende Verfahren
[II] Unterrichtsprodukte
Gespräche spontan im Projektverlauf mit den Schülerinnen und Schülern sowie der anwesenden Lehrerin → Feldnotizen und Gedächtnisprotokolle
Projektmappen Aufzeichnungen, die ästhetische Erfahrungen reflektieren fungieren als Sammlung, Archiv offene und strukturierte Teile
Teilnehmende Erfahrung über den gesamten Projektzeitraum notiert wurde, was auffiel → Feldnotizen und Gedächtnisprotokolle
Reflexionstexte zwei Wochen nach dem Projekt von den Schülerinnen und Schülern angefertigt
Fotodokumentation Dokumentation der Präsenzphasen und verschiedener Lernsituationen → Bilderserien der Projektphasen
Fixierte Mappings intermediale Aufzeichnungen, die ästhetische Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler reflektieren
Quelle: Eigene Darstellung
Die während des Projektkurses miterfahrenen Lernmomente sowie die im Laufe der Arbeitsphasen – sowohl im Schulgebäude als auch während der Freiarbeit am jeweiligen Mapping-Ort – geführten Gespräche, wurden im Moment und im Nachhinein protokolliert und ergänzt durch die fotografische Dokumentation der Arbeitsprozesse. Im Zuge des Mapping-Projekts entstanden mehrere Produkte, die
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ebenfalls Bestandteil des Datenmaterials sind. Im weiteren Forschungsprozess werden sowohl das gewonnene als auch das aufbereitete Material als Erfahrungssplitter bezeichnet. • Im Zuge des Mapping-Projekts haben die Schülerinnen und Schüler Projekt-
mappen angelegt, die, neben dem Angebot Beobachtungs-, Erfahrungs- und Gesprächsprotokolle während der Vor-Ort-Zeit anzufertigen, ebenso Platz für eigene Notizen und die Sammlung von für interessant befundenen Inhalten bot. Beide Angebote wurden von allen Schülerinnen und Schülern wahrgenommen. • Das fixierte Mapping der jeweiligen Arbeitsgruppe ist sowohl als Produkt des Projektkurses als auch als integraler Bestandteil der Untersuchung anzusehen, die hier als (vorläufiges) Ergebnis der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Erlebnissen und Widerfahrnissen während der Mapping-Phasen verstanden werden. • Im Anschluss an den Projektkurs fertigten die Schülerinnen und Schüler in der darauffolgenden Woche Reflexionstexte an, die mir die Lehrerin zusandte. Das Schreiben dieses Textes wurde von einem offenen Impuls geleitet: »Der Projektkurs Mapping Iserlohn ist nun vorbei. Versuche dich an deine Gedanken und Gefühle zu Beginn des Projekts zu erinnern und beschreibe, wie du jetzt auf das Projekt schaust. Was blieb gleich, was ist neu? Besinne dich auch auf deine Aufzeichnungen in der Projektmappe«. Bis auf drei Schüler, fertigten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses einen Reflexionstext an. Der Umfang betrug jeweils eine halbe bis ganze DIN-A4 Seite.
Verfahren der Aufbereitung und Auswertung: Vignetten, Lektüre Das Vorgehen der Zusammenstellung, Aufbereitung und Auswertung des erhobenen Materials erfolgte in mehreren Schritten, welche sich im Laufe der Materialsichtung nach dem Schulprojekt im Mai 2014 vor dem Hintergrund der bis dahin bereits formulierten Überlegungen zur Methodologie ergaben. Das hier verfolgte Vorgehen wurde demnach gegenstandsgebunden, offen und im Feld entwickelt und folgt dem Erkenntnisinteresse der Forschung und wurde erst im zweiten Schritt theoretisch reflexiv weiterentwickelt. D. h. zum einen, dass die im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Schritte der Auswertung mit den ersten drei Schritten einer phenomenological method nach Spiegelberg (1994:682) verglichen wurden, um das Vorgehen im Kontext der phänomenologischen Forschung anschlussfähig
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zu entwickeln.2 Zum zweiten dienten die sieben von Peez (2007:30) entwickelten Schritte der phänomenologischen Analyse3, welche im Kontext der phänomenologisch orientierten Kunstpädagogik entwickelt wurden, im Nachgang als Folie, um das eigene Vorgehen zu reflektieren. Als zentraler Unterschied zwischen den zur Reflexion herangezogenen Ansätzen und dem hier vorgeschlagenen Vorgehen lässt sich festhalten, dass mit der vorliegenden Untersuchung weder eine strenge Wesensschau noch die Entwicklung einer Typologie ästhetischer Erfahrungen angestrebt wird. Demgegenüber werden das Beispielgeben und -verstehen (vgl. Kapitel 5.3.2) angestrebt, über welche in einer Zusammenschau unterschiedliche Horizontlinien ästhetischer Lernerfahrungen bei der künstlerischen Kartenarbeit im Geographieunterricht sichtbar werden. Das im Modus der teilnehmenden Erfahrung erhobene Material wurde zu Arbeitsprozessbeschreibungen aufbereitet, welche im weiteren Forschungsverlauf als Kontexte der Vignetten zu verstehen sind.
2
Obgleich Spiegelberg (1994:681-715) sieben Schritte einer phänomenologischen Methode ausdifferenziert, attestiert er lediglich den ersten drei Schritten (1. Investigating particular phenomena; 2. Investigating general essences; 3. Apprehending essential relationships among essences) breite Rezeption und Verwendung innerhalb der phänomenologischen Forschung (Spiegelberg 1994:682). Da die übrigen vier Schritte lediglich von einer kleinen Gruppe praktiziert werden (ebd.), berücksichtige ich lediglich die ersten drei Schritte bei der Reflexion meines Vorgehens.
3
»1. Fokussierung des zu untersuchenden Phänomens durch eine oder mehrere Forschungsfragen. 2. Exemplarische Deskription: Materialsammlung von Beispielen, die eine Klärung des Phänomens versprechen. 3. Erster Materialdurchgang, um ›den generellen Sinn des Ganzen‹ […] zu erfassen. 4. Auswahl und evtl. Neu-Zuordnung einzelner Materialstellen (Beispiele) in Bezug auf die Forschungsfrage/n. 5. Hermeneutisch orientierte Interpretation der einzelnen Beispiele […]. 6. Synthetisierende Interpretation der Beispiele durch eidetische Reduktion bzw. Variation, um zum Wesenskern des Phänomens vorzustoßen, um ›Eigenschaften und Merkmale herauszufinden, die allen Elementen dieser Klasse von Gegenständen gemeinsam sind‹ […]. 7. Zusammenfassende Formulierung der Forschungsergebnisse« (Peez 2007:30).
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Tabelle 6-2: Verfahren der Aufbereitung und Auswertung (1) Arbeitsprozessbeschreibungen Verdichtet aus den Feldnotizen, den Gedächtnisprotokollen und den Bilderserien narrative Verschriftlichung der Arbeitsprozesse und wesentlicher Momente, die im Verlaufe des Projektkurses auffällig wurden die Fragestellungen der Arbeit fokussieren die Verschriftlichung, kein erschöpfendes Protokoll (2) Vignetten Poetische Verdichtungen von Fokussierungsmetaphern aus dem gesamten Material Beschreibungen gelebter Erfahrungen (Wieder-)Erlebbar-Machen von Erfahrungsmomenten Beispiele, in denen sich ästhetische Lernerfahrungen zeigen deutende Lektüre unter Berücksichtigung weiterer Erfahrungssplitter Quelle: Eigene Darstellung
• Die Arbeitsprozessbeschreibungen wurden auf Basis meiner Aufzeichnungen
während des Projektkurses, welche an den Erfahrungen der anwesenden Lehrerin gespiegelt wurden, angefertigt. Hierbei ging es nicht darum, ein lückenloses Protokoll der Situation vorzulegen, sondern eine dichte Beschreibung, die bereits auf solche Momente fokussiert, die im Zuge des Projekts auffällig wurden. Die Beschreibungen haben daher auch narrativen Charakter. Bei der Anfertigung der Prozessbeschreibungen wurde eine Grobstruktur zugrunde gelegt, um dem Leser oder der Leserin den Einblick in den Gang des Projekts zu erleichtern. Die drei beschriebenen strukturgebenden Phasen sind: (1) Einstiegsphase und Projektplanung, (2) Arbeits-, Mapping- uns Reflexionsphasen, (3) Abschlussphase und Präsentation. • Die Auswahl der Situationen, die verdichtet wurden, orientierte sich an der Forschungsfrage der Untersuchung (vgl. Kapitel 6.2.1). Die ersten Entwürfe der Vignetten wurden mit der Lehrerin kommunikativ validiert und ggf. überarbeitet und fanden nach Prüfung auf Resonanzfähigkeit in Kleingruppen (vgl. auch Kapitel 6.3.2) Einzug in den Materialkorpus. Die Verdichtung der Situationen zu Vignetten erfolgte unter den im vorherigen Kapitel erarbeiteten Ansprüchen an das Schreiben von Vignetten sowie in Hinsicht auf die Merkmale gelungener phänomenologischer Beschreibungen (vgl. Kapitel 5.2.4). Die fünf im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Schritte zur Aufbereitung und Auswertung des Materials, welche im Rahmen des Projektkurses entstanden, werden in nachfolgender Übersicht pointiert zusammengefasst.
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Tabelle 6-3: Phänomenologische Analyse ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht (1) Sichtung Stöbern im gesamten Material um das zur Sprache kommen zu lassen, was sich in die Aufmerksamkeit des Forschenden drängt. Bestimmung inhaltlich dichter Situationen bzw. »Fokussierungsmetaphern« (Bohnsack 2010), die sich zur weiteren Verdichtung eignen. (2) Aufbereitung der Erfahrungssplitter Narration des Arbeitsprozesses, formale Deskription der fixierten Mappings, Verdichtung der Fokussierungsmetaphern im Material zu ersten Vignetten-Entwürfe unter Berücksichtigung der Qualitätsmerkmale phänomenologischer Texte (vgl. Polkinghorne 1983). (3) Beispiel-Geben »Exemplifizierung« (Lippitz 1980) der ästhetischen Lernerfahrungen über die poetische Verdichtung der Fokussierungsmetaphern zu »Vignetten« (Schratz et al. 2012). (4) Beispiel-Verstehen Deutende Lektüre der Vignetten im Sinne des »pointing to« (Finlay 2009) vor dem Hintergrund der Forschungsfrage der Untersuchung und unter Berücksichtigung weiterer Erfahrungssplitter. Horizont der Lektüre ist das Werden des fixierten Mappings. Anschließend: Dialogische Aktualisierung bzw. Erweiterung der Deutungen in Kleingruppen. (5) Zusammenschau Reduktion der Beispiele auf Horizontlinien der »Familie« (Wittgenstein 1945/2003) ästhetischer Lernerfahrungen im Zuge von Mapping-Projekten, welche in den Vignetten samt zugehörigen Lektüren zur Darstellung gebracht wurden. Quelle: Eigene Darstellung
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6.2.1 Fokusse beim Schreiben und der Lektüre der Vignetten »Lernen lässt sich demzufolge nur an den Bruchstellen von Erfahrungen als ein nichtlinearer Prozess von Krisen, Umbrüchen, Regressionen und Differenzierungen beschreiben.« Westphal (2008:161, Herv. i. O.) »Als Philosophie der Erfahrung bedeutet Phänomenologie in eminenter Weise Hingabe an die Sachen, so wie sie sich unter bestimmten Bedingungen zeigen, d.h. zu Gehör zu bringen, empfinden lassen, wie sie schmecken und riechen. Eine solche Hingabe ist nicht theoriefrei, wie auch Theorie nicht ohne Hingabe möglich ist.« Meyer-Drawe (2012a:201)
Die erste Phase der Materialsichtung – die Sichtung – diente vornehmlich dazu, ein Gefühl für das gesamte Projekt zu erhalten, sich gedanklich erneut in die Situationen zu begeben und auf Momente zu fokussieren, die als besonders zentral für mein Forschungsvorhaben aus dem Materialfundus hervorstechen. Insofern waren für die Auswahl der Feldnotizen, welche zu Vignetten verdichtet wurde, zwei Aufmerksamkeitsschwerpunkte bedeutsam: Zum einen wurden Erfahrungsmomente gewählt, in denen ein Unterbrechen eines Flusses bzw. ein Stocken spürbar wurden. Zum anderen fanden Umschlagspunkte, in denen Routinen spontan umgekehrt wurden, besondere Berücksichtigung. Was zur Vignette verdichtet wurde war folglich das, was sich mir als Forschendem in bestimmter Weise aufdrängte, indem es als erstaunlich, einprägsam, reizvoll, abschreckend miterfahren wurde und im Material im Sinne einer Fokussierungsmetapher auffällig wurde. Die Auswahl der Erfahrungsmomente, welche Einzug in den weiteren Forschungsprozess hielten, lief damit weder absolut normativ – im Sinne einer theoretisch explizierten kategoriengeleiteten Verdichtung des Materials – noch rein zufällig – im Sinne einer unreflektierten und beliebigen Auswahl – ab, sondern geschieht phänomennah. Die fünfte Phase der Materialbearbeitung – die Lektüre – geschah vor dem Hintergrund der Forschungsfrage der Untersuchung in drei Schritten: (1) Einzeldeutung, (2) dialogische Deutung in Kleingruppen, (3) Aktualisierung und ggf. Erweiterung der Einzeldeutung. Die im Zuge der Theoriearbeit entfalteten Hinsichten zum Lernen, zur Erfahrung, zur ästhetischen Dimension der Erfahrung sowie zur performativen Dimension der Kartographie (vgl. Kapitel 3 und 4) dienen
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bei der Lektüre als Beschreibungshorizonte, die dem Forschenden eine Sprache an die Hand geben, die Vignetten einer Lektüre zu unterziehen und vorsichtig zu deuten. Sowohl bei der ersten Lektüre als auch der Gruppenlektüre rahmten daher einige Fragestellungen den Analyseprozess: Wie zeigt sich Lernen als ästhetische Erfahrung in der Vignette? Welche Stimmungen, Atmosphären, Resonanzen werden in der Vignette wie spürbar? Wie wird die Erfahrung in der Vignette sichtbar? Wie greifen Sinnliches und Reflexives im Beispiel ineinander? Wie zeigen sich welche Brüche in den künstlerischen Kartographien als Spuren ästhetischer Erfahrungen? Zur Vignettenlektüre in Kleingruppen schlägt die Innsbrucker Vignettenforschung sechs Möglichkeiten vor (vgl. Schratz et al. 2012:53). Die Methoden Deep Reading4 und Freewriting5 wurden hier gewählt, um den Zugriff auf die Texte und den Austausch über das Leseerlebnis zu vertiefen und zu intensivieren (vgl. Schweighauser et al. 2014, Nakagawa 2010). Im Zuge der Arbeitswerkstätten zu den Vignetten am Lehrstuhl für Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena wurden die methodischen Schritte im Prozess adaptiert und an den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit angepasst:
4
Bewusste Verlangsamung des Lesens, um auf Unausgedrücktes zu kommen: 1.) Was zeigt sich beim ersten Lesen; 2.) Fragen zu den einzelnen Sätzen finden; 3.) Dialogische Thematisierung der Fragen.
5
Spontanes Schreiben im festgelegten Zeitrahmen, ohne den Stift abzusetzen: 1.) Fünf Minuten free writing; 2.) Gegenseitiges Vorlesen ohne Diskussion; 3.) Dialog über Gemeinsames, Unterschiedliches und Auffälliges.
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Tabelle 6-4: Impuls zur Phase des Deep Reading im Rahmen der gemeinsamen Vignettenlektüre (1) Einzeln Unterstreiche für dich besonders bedeutsame Wörter und Phrasen, die die Essenz der Erfahrung beschreiben. Welche Themen werden erkennbar? (2) In der Gruppe Versetze dich in eine der in der Vignette beteiligten Personen, beschreibe wie du die Situation erlebst. Die anderen Teilnehmer stellen der Person Fragen zur Situation und der in der Vignette beschriebenen Erfahrung. (3) Im Dialog Wie hat die Vignette über die Fragen an Klarheit gewonnen? Was bleibt im Dunkeln? Inwieweit helfen weitere Erfahrungssplitter (z. B. Auszüge aus den Projektmappen oder die fixierten Mappings) dabei, die Erfahrungsmomente in den Vignetten zu thematisieren? Quelle: Eigene Darstellung
Tabelle 6-5: Impuls zur Phase des Freewriting im Rahmen der gemeinsamen Vignettenlektüre (1) Einzeln Schreibe spontan fünf Minuten lang alles auf, was dir in den Sinn kommt, ohne dich zu fragen, ob es richtig oder falsch, sinnvoll oder belanglos ist. Wichtig ist, dass der Stift nicht abgesetzt wird, die Schreibhand immer in Bewegung bleibt. (2) In der Gruppe Erzähle von deinen Eindrücken oder lies deinen Text vor. (3) Im Dialog Was wurde auffällig? Was sind Gemeinsamkeiten / Unterschiede, die deutlich wurden? Quelle: Eigene Darstellung
6.2.2 Terminologische Anmerkungen zur Beschreibung An dieser Stelle ist es angebracht, die verschiedenen Beschreibungsformen, die für die Aufbereitung und Auswertung entwickelt wurden, zueinander in Bezug zu setzen, um Begriffsunschärfen auszuräumen. Dazu wurden in der folgenden Tabelle die verschiedenen Beschreibungsformen, welche in den Schritten 2-4 der oben ausformulierten Aufbereitungs- und Auswertungsschritte eingeführt wur-
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den, hinsichtlich ihrer Funktion im Forschungsprozess systematisiert und unterschiedlichen Textarten zugeordnet. Die sprachliche wie inhaltliche Abgrenzung der Textarten wird vorgenommen, um die Unterschiede zwischen den Beschreibungsformen herauszustellen und die phänomenologische Beschreibung (Schritt 3 und 4) deutlich gegenüber anderen Formen der Beschreibung (Schritt 2) abzugrenzen. Tabelle 6-6: Übersicht über unterschiedliche Beschreibungsarten und deren Funktionen im Rahmen der Untersuchung
Aspekt
Arbeitsprozessbeschreibung
Beschreibung des Mappings
Vignette
Lektüre
Textart
Fokussierte Narration
Formale Deskription
Phänomenologische Beschreibung
Phänomenologische Beschreibung (pointing to)
Funktion
Kontext der Vignette
Erläuterung / Begleittext zum Mapping
BeispielGeben
BeispielVerstehen
Validierung
Kommunikativ (mit Lehrperson)
-
Kommunikativ (mit Lehrperson, in Kleingruppen)
Kommunikativ (in Kleingruppen)
Quelle: Eigene Darstellung
Die Arbeitsprozessbeschreibung ist eine Narration, unter welcher hier eine Form der Beschreibung verstanden wird, welche ausgehend von den Erlebnissen während des Projektkurses und den im Zuge dessen entstandenen Feldnotizen angefertigt und mit der anwesenden Lehrerin kommunikativ validiert wurde. Die Funktion der Narrationen ist es, dem Leser Kontexte für das Nachvollziehen der Vignetten und Vignettenlektüren zu liefern und muss gleichzeitig als der Grund verstanden werden, auf welchem sich eine Vielzahl an (ästhetischen) Lernerfahrungen vollzogen. Die Beschreibung des Mappings ist als formale Deskription realisiert, worunter hier eine Form der Beschreibung verstanden wird, welche der Erläuterung des Mappings dient. Dabei geht es um eine rein formale Analyse, da Facetten des Ästhetischen, welche im Mapping angelegt sind, bei der rein zweidimensionalen
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Darstellung via Foto verloren gehen. Insofern dient diese Form der Beschreibung vor allem dazu, dem Leser das Mapping in möglichst vielen Facetten vor Augen zu führen, auch wenn dies nie die direkte Begegnung und Auseinandersetzung ersetzen kann und in der formalen Deskription die ästhetische Qualität des Mappings nie eingefangen werden kann. Die Vignette ist eine phänomenologische Beschreibung, die als ein Beispiel für das Phänomen der ästhetischen Lernerfahrung verstanden werden muss. Auch die Lektüre ist eine phänomenologische Beschreibung dessen Sinn sich im Nachvollzug durch den Leser einstellt und diesen zur Aktualisierung eigener Erfahrungen anregen kann.
Gütekriterien Die vorliegende Arbeit versteht sich als geographiedidaktische Unterrichtsforschung, die einen pädagogischen Lernbegriff ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Die begründet gewählte methodische Herangehensweise der pädagogischphänomenologischen Vignettenforschung an den Untersuchungsgegenstand – Lernen als ästhetische Erfahrung – wurde gegenstandsgebunden adaptiert und reflexiv im Feld entwickelt. Die Verschränkung methodischer Hinsichten zum Gegenstand situiert sich im Feld qualitativ-empirischer Forschung. Daher müssen sich die vorliegende Arbeit, die methodische Verschränkung und die Formulierung von Ergebnissen nicht nur am Anspruch der Sache, sondern auch an den Ansprüchen qualitativer Forschung messen. Aus diesem Grund wird die Untersuchung im Weiteren in Bezug auf geeignete Gütekriterien qualitativer Forschung reflektiert. Es gibt keinen allgemeingültigen Kanon an Gütekriterien für die qualitative Forschung, wie er bspw. für die quantitative Forschung vorliegt. Auch lassen sich verschiedene Positionen bzgl. der Formulierung geeigneter Kriterien zur Sicherung und Prüfung qualitativer Forschung ausmachen.6 Es setzt sich für die qualitative Forschung in jüngster Zeit allerdings immer mehr die Einsicht durch, dass die klassischen Gütekriterien quantitativer Forschung (insb. Validität, also ob die Messinstrumente dazu imstande sind, das zu erfassen, was erfasst werden soll,
6
Es lassen sich in der Diskussion über Gütekriterien in der qualitativen Forschung nach Steinke (2000:319-321) drei Positionen ausmachen: (1) Die Verwendung quantitativer Gütekriterien (u. a. Objektivität, Reliabilität, Validität) für qualitative Forschung, (2) Die Formulierung eigener Kriterien qualitativer Forschung (u. a. Kommunikative Validierung, Triangulation), (3) Die Ablehnung von Kriterien aus postmoderner Perspektive.
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und Reliabilität, also die Genauigkeit und Exaktheit von Vorgehen und Messung) nicht als geeignete Maßstäbe der Prüfung des qualitativen Vorgehens fungieren können. Ganz im Gegenteil: Gütekriterien der qualitativen Forschung müssen völlig neu definiert und entwickelt werden. Dabei werden diese Kriterien sowohl aus verschiedenen methodenspezifischen Überlegungen in der Zusammenschau abstrahiert als auch auf Grundlage allgemeiner Überlegungen zu wissenschaftstheoretischen, methodologischen und methodischen Besonderheiten, kurz: allgemeineren Überlegungen zur qualitativen Forschungslogik, abgeleitet (Steinke 2000:320, Mayring 2016:144). Mit Mayring (2016:142-148) wird nachfolgend zwischen »allgemeinen Gütekriterien qualitativer Forschung« und »methodenspezifischen Gütekriterien« unterschieden, entlang welcher der Gang der Untersuchung ebenso wie die Ergebnisse der Studie – die Vignettenlektüren und die Formulierung verschiedener Facetten der »Familie« ästhetischer Lernerfahrungen – nachzuvollziehen und zu prüfen sind. Konkret ziehe ich (1) einige allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung (Kapitel 6.3.1) (vgl. Steinke 2000, Mayring 2016) heran, um mein Vorgehen zu plausibilisieren und stelle daraufhin (2) die »Resonanzfähigkeit« der Vignette (Kapitel 6.3.2) (vgl. Schratz et al. 2012, Meyer-Drawe 2012b, Agostini 2016) als methodenspezifisches Gütekriterium der Vignettenforschung heraus. 6.3.1 Allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung Zentrales Anliegen des Aufbaus der vorliegenden Untersuchung lag darin, deutlich werden zu lassen, inwieweit sich das Forschungsdesign aus den theoretischen Vorannahmen und gleichzeitig dem Anspruch des zu untersuchenden Gegenstandes ergab. Zur Veranschaulichung und besseren Nachvollziehbarkeit habe ich mein Vorgehen tabellarisch aufgeführt und jeweils auf sechs allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung nach Mayring (2016:144-148) bezogen (vgl. Tab. 67).
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Tabelle 6-7: Reflexion der Studie in Hinblick auf allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung
VerfahrensDokumentation Argumentative Interpretationsabsicherung
Adäquate Aufbereitung des Vorverständnisses der Interpretationen sowie Suche und Überprüfung von Alternativdeutungen (Mayring 2016:145): Theoretische Grundlegung der Arbeit (Kapitel 3 und 4); Definition von Aufmerksamkeitsschwerpunkten in der Empirie Besprechung und Reflexion der Vignetten und Lektüren in Kleingruppen am Lehrstuhl Didaktik der Geographie in Jena im Sinne des »peer debriefing« (Steinke 2000:326) Wahrung größtmöglicher Offenheit gegenüber dem Gegenstand, ohne die Materialbearbeitung unsystematisch anzugehen (Mayring 2016:145f.): gegenstandsgebundene Methodenwahl und reflexive Adaption des Analyseinstrumentariums im Feld (vgl. insb. Kapitel 5.2 und 5.3) reflexive Überarbeitung des methodischen Vorgehens entlang von Perspektiven phänomenologischer Forschung (vgl. Kapitel 6.2) Forschung möglichst nahe an der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler anstelle von »Laborforschung« (ebd.:146): möglichst offene Feldphase im Rahmen eines Schulprojekts Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt der Untersuchung
Methodenpluraler Zugang
Kommunikative Validierung
Transparente und detaillierte Entwicklung des Untersuchungsdesigns (Steinke 2000:324f., Mayring 2016:144f.): theoriegeleitete Herleitung und Entwicklung der Untersuchungsmethode (vgl. Kapitel 3, 4, 5, 6) Darstellung des Untersuchungsganges (Kapitel 6, 7, 8)
Regelgeleitetheit
Inhalt und Umsetzung im Rahmen der vorliegenden Studie
Nähe zum Gegenstand
Kriterium
Prüfung der Gültigkeit der Interpretationen durch Dialog mit den Beforschten (ebd.:147): Validierung der Vignettenskizzen mit der anwesenden Lehrerin (vgl. Kapitel 5.2.3) vgl. auch »Argumentative Interpretationsabsicherung« Erhöhung der Qualität der Forschung durch die Verbindung mehrerer Analysegänge auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Ziel, ein »kaleidoskopartiges Bild« zusammenzusetzen (ebd.:147f.): Erhellung lehr- und lernseitiger Momente des Unterrichts-geschehens (vgl. Kapitel 4 und 5) komplementäre ineinandergreifende Methoden der Erhebung und Aufbereitung zur Vermeidung blinder Flecken (vgl. Kapitel 6)
Quelle: Eigene Darstellung
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6.3.2 Resonanz als spezifisches Gütekriterium der Vignettenforschung Wie bereits in Kapitel 5 entfaltet wurde, ist das Beispielgeben und -verstehen – die Exemplifizierung – die der Studie zugrundeliegende methodologische Perspektive. Beispiele sind in dieser Hinsicht Mittel der »dialogischen Klärung« unthematischer Strukturen der Erfahrung (Lippitz 1980:75). Die Vignetten gleichen Beispielen und der in ihnen artikulierte Erfahrungsreichtum verweist auf weitere Erfahrungen, die von der Leserin oder dem Leser intuitiv nachvollzogen werden können. Erst in diesem Nachvollzug erschließt sich der Sinn des Beispiels bzw. der Vignette. Hierin drückt sich auch aus, dass die Vignette sich intersubjektiv zu bewähren hat. Ich habe in früheren Kapiteln bereits deutlich gemacht, dass die Vignette Aufforderungscharakter besitzt und sie es der Leserin oder dem Leser abverlangt, sich zu den in ihr zur Darstellung gebrachten Erfahrungen in Bezug zu setzen (vgl. Kapitel 5.2.1 und 5.2.5). Als Lesende setzen wir uns zu Vignetten in Beziehung und »respondieren auf die Ansprüche, die sie an uns […] stellen« (Schratz et al. 2012:39). Umso plastischer die Schilderungen in der Vignette geglückt sind, umso stärker können die Ansprüche, die von der Vignette ausgehen und zum Nachvollzug auffordern, sowie die Resonanzerfahrungen zwischen Vignette und Lesendem sein. Hier wird erneut deutlich, dass die geschilderten Lernerfahrungen nie in Gänze abgebildet, sondern lediglich in Spuren zum nachklingen und mitschwingen gebracht werden können. Die Vignette protokolliert nicht, sie zeigt und enthält stets mehr, als explizit in Worte zu fassen ist (ebd.:36). Meyer-Drawe (2012b:11) zielt auf diese Eigenschaft der Vignetten ab, wenn sie schreibt, dass »Worte zwar belehren, Vignetten uns jedoch mitreißen«. Diese Momente des Berührt-, Ergriffen- oder auch Mitgerissen-seins, die uns zum Antworten auffordern, lassen sich mit Rosa (2012:6) als Momente verstehen, in denen Resonanzen spürbar werden. In dieser Perspektive organisiert sich die Beziehung von Vignettenautor, Vignette und Lesendem der Vignette als Resonanzbeziehung. Resonanz bezeichnet ein Beziehungsverhältnis zwischen zwei Körpern, welches sich dadurch auszeichnet, dass sich die Körper gegenseitig in ein Schwingungsverhältnis setzen können. Von Resonanz lässt sich also nur sprechen, wenn es keine Kopplung beider Körper gibt, welche zur Folge hätte, dass die Bewegung des einen Körpers die Bewegung des anderen Körpers linear-kausal vorgibt. Resonanz meint immer, dass »durch die Schwingung des einen Körpers die Eigenfrequenz des anderen angeregt wird [Hervorh. i. O.]« (Rosa 2016:282). Bezogen auf die Arbeit mit Vignetten bedeutet dies, dass die Vignette nicht eine eindeutige Lesart bzw. Interpretation vorgeben
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darf, sondern vielschichtig und offen sein muss und hierüber eine Vielzahl an Lesarten ermöglicht (vgl. Kapitel 5.2.5). Als durch die Vignette und die in ihr artikulierten Erfahrungen angesprochene Lesende sind wir aufgefordert zu antworten, unsere eigenen Erfahrungen an die Vignette heranzutragen und diese zu prüfen, zu bestätigen bzw. zu aktualisieren. Indem Erfahrungen nachvollzogen werden können, lässt sich an ihnen etwas über sich selbst, über den Gegenstand und über den Anderen lernen (vgl. Kapitel 5.2.5). Der Resonanzraum der Vignette öffnet sich nur, wenn sowohl die Vignette als auch die Lesenden in ein responsives Verhältnis zueinander treten. Die Resonanz bzw. die Resonanzfähigkeit muss also als methodenspezifisches Gütekriterium der Vignettenforschung verstanden werden. Eine Vignette kann dann als trefflich formuliert bzw. ›geglückt‹ gelten, wenn sie als Medium der Resonanz zwischen Erfahrungen, geschildert in Vignetten, und dem Erfahrungshorizont der Leserin oder des Lesers fungieren kann. Nur dann ist die Vignette dazu geeignet, sich als Resonanzraum zu öffnen. Wie lässt sich nun sicherstellen, dass die Vignetten, welche in der vorliegenden Arbeit entstanden, dazu geeignet sind, Resonanzen zu erzeugen? Hierfür sind zwei Schritte im Zuge des Aufbereitungsprozesses der Feldnotizen zu den Vignetten methodenimmanent angelegt. (1) Wie in Kapitel 5.2.4 dargelegt wurde, wurde für die Anfertigung der Vignet-
ten darauf geachtet, diese sprachsensibel mit einer gewissen Kunstfertigkeit anzufertigen, um hierüber Miterlebtes, Miterfahrenes und Vorsprachliches über die Darstellung zum Wiederhallen zu bringen. Sofern die Vignette also ›trächtig‹ formuliert ist, läuft sie keine Gefahr, kausale Lesarten zu implizieren und Erfahrungen hierüber in gewünschter Form zurechtzustutzen bzw. zu simplifizieren. (2) Die bereits in Kapitel 5.2.3 thematisierte Reflexion in Kleingruppen am Lehrstuhl für Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena hatte zum Ziel, weiteren, nicht am Projekt beteiligten, Personen die Vignettenentwürfe vorzulegen und hinsichtlich ihrer Resonanzfähigkeit zu prüfen, also zu prüfen, ob sie dazu geeignet sind, Resonanzen bei den Lesenden zu erzeugen. Auf die Gespräche und Diskussionen in diesen Kleingruppensitzungen hin wurden die Vignetten sprachlich überarbeitet und zum Teil mit zusätzlichen Inhalten aus den Feldnotizen sowie dem übrigen Material weiter angereichert. Dahinter stand die Idee, die geschilderten Situationen und Erfahrungen in ihrer Reichhaltigkeit – dicht – zur Darstellung zu bringen, damit sich hierüber Resonanzen möglichst einstellen.
Teil III: Exemplifizierung
7
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts
Im dritten Teil der Arbeit steht die Konzeption, Durchführung und Beleuchtung eines Mapping-Projekts an einem Gymnasium in NRW, welches im Mai 2014 im Rahmen einer Projektwoche durchgeführt wurde, im Fokus. Konkret wurde, basierend auf den vorangehend entwickelten konzeptuellen Überlegungen, Geographieunterricht durchgeführt und von mir forschend begleitet. Dabei geht es nicht um die Evaluation der Unterrichtsumgebung, sondern darum, ästhetische Lernerfahrungen der Schülerinnen und Schüler der wissenschaftlichen Reflexion zugänglich zu machen. Im vorliegenden Kapitel werden der Entwurf und die Durchführung des Schulprojekts dargestellt. In einem ersten Schritt werden die Ziele und die pädagogischen Intentionen des Projektkurses geschildert (Kapitel 7.1). Daraufhin werden die organisatorische und zeitliche Struktur des Projekts (Kapitel 7.2) sowie die Konzeption und der Ablauf des Projektkurses vorgestellt (Kapitel 7.3). Abschließend werden einige Bausteine der didaktischen Inszenierung – das Begleitmaterial, die Projektmappen und die Arbeitswerkstatt – vorgestellt und kurz erläutert (Kapitel 7.4).
Ziele und Intentionen Der Projektkurs ist bewusst explorativ und so offen wie möglich angelegt, verfolgt aber gleichzeitig Ziele und ist entlang von pädagogische Intentionen organisiert, welche nicht ungenannt bleiben sollen. Die Formulierung von Zielen und Intentionen, die dem Projekt und dessen Planung zugrunde liegen, dürfen dabei nicht missverstanden werden als normative Lernziele, über deren Erreichen bzw. NichtErreichen der folgende Erhebungs- und Auswertungsteil Rechenschaft ablegen wird. Es wird vielmehr der Standpunkt vertreten, dass die pädagogische Absicht,
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mit der das Projekt geplant wurde, einen Möglichkeitsraum an genuinen Erfahrungen eröffnet, die eng an die Sache selbst gebunden sind: den kartierenden Zugriff auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Die Formulierung von Intentionen und Zielen ist damit gerechtfertigt, sofern in der Situation dabei weiterhin die Idee der Ermöglichung genuiner Erfahrungen angelegt ist, die ins Offene vorstoßen. Da im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Fokus auf der ästhetischen Dimension der Erfahrung liegt, wurde das Projekt mit der grundsätzlichen Absicht geplant, genau solche Erfahrungen mit höherer Wahrscheinlichkeit möglich zu machen, um sich diesen beschreibend nähern zu können. Die Projektziele und lehrseitigen Intentionen auf einen Blick: (1) Es ist das Anliegen, Situationen zu schaffen, die zum Hinterfragen der eige-
nen Selbst-Welt-Verhältnisse Möglichkeiten bieten und unmittelbar von den lebensweltlichen Bezügen der Schülerinnen und Schüler ausgehen. (=sinnsuchende statt ergebnisorientierte Bearbeitung des Themas) (2) Es geht es darum, Alltäglichem mit fragendem, entfesseltem Blick zu begegnen und hierüber Alltagsroutinen in das Aufmerksamkeitsfeld zu rücken. (=Förderung der Haltung, »sich Unvertrautem und (allzu) Vertrautem anzunähern« (Hasse 2007a:6, Herv. i. O.) als Facette Ästhetischer Bildung) (3) Es sollen Möglichkeiten geschaffen werden, die es erlauben, die eigenen kartographischen Fähigkeiten (sowohl in Bezug auf die Kartenrezeption als auch die Kartenproduktion) reflexiv zu erweitern. (=Erweiterung von Wahrnehmungs- und künstlerisch kartographischen Ausdrucksformen über ein offenes lernerorientiertes Projekt) Konkret geht es im Unterrichtsprojekt also neben der Sensibilisierung für kartographische Aufzeichnungsformen und deren Aussagekraft sowohl um die Erweiterung der eigenen Kartierungsmöglichkeiten als auch um das Offenlegen und Erkennen von Raumsemantiken innerhalb eines spezifischen Ortes einer Stadt. Hierüber lässt sich ein tiefgreifendes Verständnis über die Spezifik des untersuchten Raumes jenseits klassisch-geographischer Modellbildung anbahnen. Übergeordnete Idee des Unterrichts ist es dann, den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, eine reflexive Haltung gegenüber städtischen Entwicklungsprozessen auszubilden, indem Funktionen und Funktionalisierungsmuster von Raum, sowie die eigenen Vorstellungs- und Wahrnehmungsmuster, befragt, beurteilt und reflektiert werden. Zur Anbahnung solch einer reflexiven Haltung in alltäglichen Lebenswelten eignet sich das gemeinsame Reflektieren über ästhetische Erfahrungen entlang raumtheoretischer Ansätze, was tiefgreifende Verstehensprozesse der eigenen Selbst-Welt-Fremdverhältnisse möglicher werden lässt. Geographische bzw.
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts | 177
geographiedidaktische Theorieangebote werden in dieser Logik mit den Fragestellungen der Schülerinnen und Schüler verknüpft, welche sich in Begegnung und Auseinandersetzung mit Orten ihrer Lebenswelt ergeben (vgl. hierzu auch die bereits entfalteten konzeptuellen Ideen in Kapitel 4).
Organisatorische und zeitliche Struktur Der Projektkurs Mapping Iserlohn wurde im Rahmen einer Projektwoche der neunten Klassenstufe im Mai 2014 an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Es wurden parallel mehrere Projekte angeboten, somit war die Teilnahme am hier vorgestellten Projekt freiwillig. Die Anmeldungen wurden im Vorfeld von Frau Sander, der verantwortlichen Lehrerin des Gymnasiums für diesen Projektkurs, entgegengenommen und aufgrund hoher Anmeldezahlen auf insgesamt 15 von ihr zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschränkt.1 Am Projekt nahmen sieben Schülerinnen und acht Schüler der neunten Klassenstufe im Alter von 14 bis 16 Jahren teil.2 Nach einer Einführungsphase zu Beginn der Projektwoche fanden sich vier Arbeitsgruppen (4w, 4m, 4m, 3w) zusammen, deren Aufgabe im Rahmen des Projekts es war, sich ihrem Ort über Mapping zu nähern. Die Arbeitsform in Gruppen wurde bewusst gewählt, um es den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, sich bereits gruppenintern über Ihre Erlebnisse und Auffälliges auszutauschen. Wie sich im Laufe des Projekts zeigte, ergaben sich an mehreren Stellen Brüche zwischen den Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lesarten der einzelnen Gruppenmitglieder, welche sich als äußerst produktiv für das Gelingen der künstlerischen Kartographien erwiesen (vgl. Kapitel 8). Im Vorfeld wurden vier Gebiete, die Frau Sander geeignet schienen, für die Projektarbeit ausgewählt.3 Zusätzlich wurde das Angebot formuliert, dass jede Arbeitsgruppe selbstständig ein Gebiet innerhalb Iserlohns auswählen konnte, welchem sie mit Mapping begegnen wollten. Zwei Arbeitsgruppen bestimmten ihr Untersuchungsgebiet selbst, die anderen beiden Gruppen entschieden sich für ein
1
Dieser und alle in weiterer Folge genannten Namen von am Projekt beteiligten Personen sind geändert.
2
Das Einverständnis über die Verwendung sämtlicher im Forschungsprozess entstandener Materialien im Rahmen meiner Dissertation wurde von sämtlichen Projektteilnehmern sowie deren Erziehungsberechtigten schriftlich eingeholt.
3
Die Eignung der Orte bezog sich dabei vornehmlich auf die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln.
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von Frau Sander vorgeschlagenes Gebiet.4 Sämtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten seit der fünften Klasse Geographieunterricht und wurden von Frau Sander als überdurchschnittlich interessiert am Geographieunterricht beschrieben. Insgesamt wurde das Projekt an vier Tagen innerhalb einer Woche durchgeführt (vgl. Tab. 7-1). Dabei umfasste es etwa 20 Zeitstunden, aufgeteilt in PräsenzPhasen, in denen im Schulgebäude gemeinsam an den künstlerischen Kartographien gearbeitet wurde (Arbeitswerkstatt), und Vor-Ort-Phasen, in denen die Arbeitsgruppen ihren jeweiligen Orten begegneten, Anregungen, Impressionen und Material für das Mapping sammelten und Räume erkundeten (vgl. Kapitel 4.2.2). Tabelle 7-1: Organisation und zeitlicher Ablauf des Schulprojekts 8:00 – 10:00
10:00 – 12:00
Montag
(1) Auftakt
(2) Planung
Dienstag
(3) Vor-Ort-Zeit
(3) Vor-Ort-Zeit
Mittwoch
(5) Freie Arbeitszeit
(6) Abschluss
(7) Präsentation
(7) Präsentation
13:00 – 15:00 (4) Präsenz
Donnerstag Freitag
Quelle: Eigene Darstellung
Das Schulprojekt wurde von Frau Sander durchgeführt und von mir begleitet. Es wurde bereits zu Beginn deutlich gemacht, dass ich nicht als Lehrender, sondern als Forschender anwesend bin. Daher war ich Teil des Projekts und nicht nur distanzierter Beobachter des Geschehens, wodurch es möglich war, mit den Schülerinnen und Schülern über ihre Ideen und Arbeiten im Laufe des Projekts zu sprechen und an ihrer Ideenentwicklung unmittelbar teilzuhaben.
Verlauf des Projekts Die Inhalte der einzelnen Phasen, Impulse und Fragestellungen, die im Laufe des Projekts aufkamen und bearbeitet wurden sowie Teilschritte, die in den einzelnen Phasen gegangen wurden, werden in der nachfolgenden Tabelle überblicksartig 4
Aufgrund der Befürchtung, die Schülerinnen und Schüler wären u. U. mit der Offenheit der Aufgabe überfordert, steckte Frau Sander für die vier von ihr gewählten Gebiete je ein Areal mit schwarzem Edding ab und prägte auf diese Weise einige Projekte vor.
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts | 179
ausgeführt (Tab. 7-2). Es ist zu berücksichtigen, dass sich aufgrund der Offenheit des Projekts viele Inhalte erst im Moment ergaben und inhaltsspezifische Fragen sowie geographische Theorieperspektiven zur Reflexion und zum Verstehen der einzelnen Auffälligkeiten und Fragen, die die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Mapping-Prozesse stellten, im Moment aufkamen und erst im Gespräch über besondere Erlebnisse der Vor-Ort-Zeit herangezogen wurden. Die folgende Tabelle ist somit auch als Projektergebnis zu verstehen, in dem die verschiedenen Zugangsweisen, Überlegungen und gemeinsamen Lernbewegungen festgehalten werden.
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Tabelle 7-2: Verlauf des Schulprojekts Mapping Iserlohn
(1) Auftakt
Inhalte Begrüßung und Vorstellung; Kunstprojekt mapping cities: Bildimpuls als Irritation; Vorstellung der Methode Mapping als Möglichkeit, Orten (neu) zu begegnen
Impulse / Fragen
Teilschritte
Herausstellen des explorativen und ergebnisoffenen Charakters des Schulprojekts
Formulierung einer rahmenden Forschungsfrage, für die Projektarbeit: »Auf welche Weise materialisieren sich gesellschaftliche Werte in Iserlohn?« 5
(2) Planung
Erwartungen formulieren; Pläne schmieden
Konzeption der Projekte in Gruppen; Gespräche über Ideen und Möglichkeiten der Umsetzung
Welchem Ort in Iserlohn wollen wir mit welcher ersten Frage mit Mapping begegnen? Was ist mir für dieses Projekt wichtig? Was muss im Vorfeld und während der Durchführung beachtet werden? Klärung technischer bzw. erster Materialfragen; Merkblatt Leitlinien der Feldforschung (Abb.7-1)
Anfertigung einer Mindmap der Vorerwartungen an den Ort; Ideensammlung für Einstiegsfragen, mit denen dem Ort begegnet wird; Projektplanung: Erstellen von Arbeitsplänen, Verteilung von Aufgaben; Erste Einträge in die Projektmappen als »Forschungsnotizen«
(3) Vor-Ort-Zeit
Auf Streifzug gehen; Unerwartetes aufspüren; Orten begegnen
5
Durchführung der Aufzeichnungs- und Kartierungsvorhaben; Gespräche mit den Arbeitsgruppen vor Ort und gemeinsamer Erfahrungsaustausch über die Vorhaben und Erlebnisse am jeweiligen Ort
Ortsbegegnungen & Raumerkundungen; Dinge aufspüren, die die Aufmerksamkeit fesseln; Projektmappe als Dokumentationshilfe
Eindrücke sammeln und den Ort wahrnehmen; (Auffälliges) notieren; Schreiben, Zeichnen, Fotografieren, Skizzieren
Die Forschungsfrage wurde unter Berücksichtigung des durch die Schule vorgegebenen Rahmenthemas der Projektwoche Werte im Wandel der Zeit. Eine Reise von der Antike bis in die Neuzeit gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet. Die Orientierung am vorgegebenen Rahmenthema war Voraussetzung für die Durchführung des Projektkurses. Innerhalb dieser inhaltlich-thematischen Perspektive, waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer angehalten, ihre eigenen Fragen zu finden und zu bearbeiten.
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts | 181
(4) Präsenz
Sammlungen sichten; Strukturen entdecken; Fragen finden Reflexion der ersten Vor-Ort-Phase; Zusammenstellung erster Materialien; Prüfung der Ideen im Vorfeld und Erfahrungen vor Ort; Austausch mit den anderen Arbeitsgruppen; Erweiterung und gemeinsames Überdenken der Vorhaben
Thematisierung der Auffälligkeiten; Was haben wir erwartet? Was haben wir nicht erwarten? Wie lassen sich die Auffälligkeiten verstehen? Sind unsere Erfahrungen übertragbar? Worauf verweisen unsere Erfahrungen?
Sichtung und Sortierung des Materials; Herausarbeiten und Markieren von Auffälligkeiten und Ungeklärtem; Reflexion des Vorhabens; Arbeit an der künstlerisch-kartographischen Darstellungen: Klassenzimmer als Arbeitswerkstatt; Bereitstellung von Stiften, Klebe, Scheren usw.; digitale Bildbearbeitung und Fotodruck vor Ort
(5) Freie Arbeitszeit
Ortsbegegnungen & Raumerkundungen; eigenen Fragen nachgehen zweite Vor-Ort-Phase; Reflexion der zweiten Vor-Ort-Phase; Zusammenstellung erster Materialien; Prüfung der Ideen im Vorfeld und Erfahrungen vor Ort; Überarbeitung der Mappings (erweitern, verändern, neu zusammenstellen)
s. (3) & (4)
s. (3) & (4); Arbeit am Mapping: Ergänzung und Erweiterung (Einbezug weiterer Materialien und Aufzeichnungspraktiken); Veränderung und Neuausrichtung der Mappings: Überschreiben, Überkleben, usw.
(6) Abschluss
Über Erfahrungen kommunizieren; Eigene Perspektiven etablieren gegenseitige Vorstellung der fixierten Mappings; Reflexion der Arbeitsprozesse; Gespräche über die Vor-Ort-Erfahrungen, über Unerwartetes, Auffälliges und Erwähnenswertes
Inwieweit sind MappingProjekte für die Geographie bzw. unsere Geographien relevant? Was ermöglicht Mapping bzw. was ermöglichen unsere fixierten Mappings? Was sagen unsere Arbeiten aus? Was sagen sie nicht aus?
Gemeinsame Reflexion der raumtheoretischen Implikationen der jeweiligen fixierten Mappings (z. B. Atmosphären, architektonische Gestaltung, Raumproduktion, soziale Praktiken, kollektive Bedeutungszuschreibungen, usw.)
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(7) Präsentation
In Austausch gelangen; Erfahrungen reflektieren und aktualisieren Präsentationen durch die Gruppenmitglieder und Austausch mit Mitschülerinnen und Mitschülern, und Lehrerinnen und Lehrern des Gymnasiums; Reflexion der raumtheoretischen Implikationen im Austausch mit allen Beteiligten (s. o.)
Vorstellung der fixierten Mappings durch die jeweilige Arbeitsgruppe im Rahmen der stufenübergreifenden Ergebnispräsentationen der Projektwoche
(8) Reflexionstexte
In Erinnerung rufen; Erfahrungen vergegenwärtigen; Stellung nehmen
Reflexionstexte der Teilnehmer, eine Woche nach dem Projektkurs
Schreibimpuls: Der Projektkurs Mapping Iserlohn ist nun vorbei. Versuche dich an deine Gedanken und Gefühle zu Beginn des Projekts zu erinnern und beschreibe, wie du jetzt auf das Projekt schaust. Was blieb gleich, was ist neu? Besinne dich auch auf deine Aufzeichnungen in der Projektmappe«
Quelle: Eigene Darstellung
Bausteine der didaktischen Inszenierung Das Projekt wurde über mehrere Impulse auf den Weg gebracht und methodisch begleitet, indem Vorerwartungen der Schülerinnen und Schüler in ersten Arbeitsphasen aktiviert wurden, das Forschungsrepertoire Mapping als Möglichkeit diskutiert wurde, Orte neu zu erfahren und Orten zu begegnen und die Projektmappe als Sammlung bzw. Archiv eingeführt wurde. Zur nachvollziehbaren Einsicht in den Projektverlauf werden nachfolgend verschiedene Arbeitsmaterialien, die im Unterrichtsgeschehen Verwendung fanden, aufgeführt. Dieses didaktische Material stellt eine mögliche unterrichtspraktische Inszenierung der zuvor entwickelten konzeptuellen Überlegungen zu den Kartographischen Streifzügen dar.
Konzeption und Durchführung des Schulprojekts | 183
Das Merkblatt Leitlinien der Feldforschung Als eine Möglichkeit, es den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, sich mit entfesseltem Blick ihrem jeweiligen Untersuchungsort zu widmen, wurden im Vorfeld Leitlinien der Feldforschung aufgestellt. Die Leitlinien zielten insgesamt darauf ab, Begegnungssituationen anzubahnen und die Projektteilnehmer für Unbekanntes und Unvorhergesehenes zu sensibilisieren. In Anlehnung an Smith (2011:5) wurden folgende Leitlinien aufgestellt: • • • • • • • • • • • •
Halte immer die Augen offen. (Achte auf den Boden unter deinen Füßen.) Achte alles Lebendige und Belebte. Alles ist interessant. Schau einfach genauer hin. Ändere häufig deinen Kurs. Beobachte Dinge über lange Zeiträume (und über kurze). Achte auf die Geschichten, die um dich herum passieren. Achte auf Muster. Stelle Verbindungen her. Dokumentiere deine Forschungsergebnisse (Notizen) auf alle mögliche Art und Weise. Beziehe das Prinzip Zufall ein. Beobachte Bewegung. Verfolge Dinge zu ihrem Ursprung zurück. Benutze für deine Untersuchungen alle deine Sinne.
Die Projektmappe als Sammlung & Archiv Die Projektmappe fungierte als Strukturierungshilfe der Sammlungs- und Archivierungsphasen. Jeder Arbeitsgruppe wurde eine Projektmappe zur Verfügung gestellt, die beliebig genutzt, erweitert und ergänzt werden konnte. Jede Projektmappe wurde im Vorfeld sowohl mit strukturierten Elementen (Beobachtungs-, Gesprächs-, Objekt- und Erfahrungsprotokollen6) und unstrukturierten Elementen (leere Seiten, Klarsichthüllen zur Aufbewahrung von Objekten) bestückt. Das auf den Streifzügen Gesammelte, diente sowohl der Exploration des jeweiligen Ortes als auch der nachträglichen ästhetischen Befragung bzw. systematischen Bearbeitung dieser Ortsfragmente. In Ergänzung zur analogen Sammlung in der Projektmappe dienten Digitalkameras und Internetrecherchen jeder Gruppe zur digitalen Anreicherung ihrer Archive.
6
Die verschiedenen Protokollformen ermöglichten eine strukturiertere Dokumentation des Erlebten, indem diese ein Gerüst zur Protokollierung anboten. Inhalte der Protokolle waren bspw. der Ort, der Zeitpunkt und die Dauer eines Erlebnisses und auch Erläuterungstexte, Skizzen oder Kurzkommentare.
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Das Klassenzimmer als Arbeitswerkstatt Das Klassenzimmer wurde als offene Arbeitswerkstatt eingerichtet. D. h., dass hier zu festen Zeiten gemeinsam an den Projekten gearbeitet wurde und Frau Sander und ich als Ansprechpartner zur Verfügung standen. Verschiedenes Material zur Er- und Bearbeitung war vorhanden (Stifte, Klebe, Scheren, usw.). Laptops zur Recherche und digitalen Bildbearbeitung waren vor Ort verfügbar. Zum Fotodruck wurde ein Farblaserdrucker in der Arbeitswerkstatt eingerichtet. Neben festen Arbeitszeiten, zu denen alle Projektteilnehmer, Frau Sander und ich anwesend waren, gab es am Mittwochvormittag (5) das frei wählbare Angebot, die Arbeitswerkstatt zu nutzen bzw. weiter vor Ort zu arbeiten.
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Beispiele ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht
Im vorliegenden Kapitel wird ein Einblick in die Arbeitsprozesse während des Projektkurses Mapping Iserlohn gegeben. Die Darstellung organisiert sich entlang der in Kapitel 6 entwickelten Verfahren der Aufbereitung und Auswertung des erhobenen Materials (vgl. Kapitel 6.1 und 6.2). In einem ersten Schritt beschreibe ich die Arbeitsprozesse der vier im Projekt arbeitenden Gruppen und verdichte auf ausgewählte Erfahrungsmomente einzelner Schülerinnen und Schüler mithilfe der Vignettentechnik samt der jeweiligen Lektüren in adaptierter Form (Kapitel 8.18.4). In einem zweiten Schritt arbeite ich über die Zusammenschau der Beispiele Horizontlinien ästhetischer Lernerfahrung im Rahmen der künstlerischen Kartenarbeit heraus (Kapitel 8.5).
Zur Schönheit der Autobahnbrücke über den Seilersee Die erste Arbeitsgruppe bestand aus vier Schülern: Arne, Bastian, Clemens und David. Während sich Bastian, Clemens und David als Gruppe schnell fanden, stieß Arne erst später hinzu und wurde von den dreien eher widerwillig aufgenommen. Für ihr Projekt wählten sie eines der von Frau Sander festgelegten Gebiete: den Seilersee. Bei der Wahl des Gebiets waren sich alle Schüler rasch einig. Eine Besonderheit des Seilersees ist, dass eine Autobahnbrücke (A46) quer über einen Teil des Sees gebaut ist. 8.1.1 Skizzierung des Arbeitsprozesses In einer Mindmap stellten die vier Gruppenteilnehmer zu Beginn des Projekts mehrere Ziele zusammen, welche sie vor Ort am Seilersee aufsuchen wollten, u.a.
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ein Restaurant, einen Minigolfplatz, einen Skatepark, ein Vogelhaus oder auch eine Eissporthalle (Projektmappe 1). Allen war der Seilersee bereits bekannt, da sie die vielen Möglichkeiten vor Ort, die eigene Freizeit zu gestalten, bereits öfter genutzt hatten. Im Gespräch untereinander hoben die vier Schüler insbesondere den Minigolfplatz als bekanntes und beliebtes Ausflugsziel hervor. Die Gruppe formulierte kein konkretes Arbeitsziel, vielmehr wollten sie sich vor Ort für ihr Mapping-Projekt inspirieren lassen. Erste Ideen kreisten um eine einfache Raumkartierung des Areals: Lage von See und Wegenetz, sowie der umliegenden Gebäude bzw. Institutionen. Zur nachträglichen Kartierung im Klassenzimmer wollten sie vor Ort Skizzen der Lagebeziehungen anfertigen und einige Fotos machen. Am Vormittag des zweiten Projekttages begegneten wir den vier Schülern am Seilersee, als diese den Rundweg um den See entlang spazierten und Eindrücke vom Gebiet aus unterschiedlichen Perspektiven sammelten. Die Gruppe hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige Zeit vor Ort verbracht. Sie waren sowohl gemeinsam als auch einzeln losgezogen, hatten Eindrücke gesammelt, Notizen angefertigt und mehrere Fotos gemacht, über die wir ins Gespräch kamen. David drückte eher beiläufig seine Irritation über eine Gruppe junger Mütter aus, die mit ihren Kinderwagen um den Seilersee joggten, woraufhin wir im Gespräch dieser Irritation nachgingen. Dabei sprach David über die Widersprüchlichkeit eines erholsamen Spaziergangs unter einer Autobahnbrücke. Es stellte sich heraus, dass allen vier Schülern ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen der »Natürlichkeit« und Schönheit des Seeareals auf der einen Seite und der Überformung durch die Autobahnbrücke auf der anderen Seite auf unterschiedliche Weisen auffällig geworden war, woraufhin diese Auffälligkeit Thema des gemeinsamen Mappings wurde. Die vier Schüler begegneten dem auffällig gewordenen Spannungsverhältnis im weiteren Verlauf des Projekts auf unterschiedliche und je eigene Weise, woraus ein gemeinsames fixiertes Mapping entstand. Clemens stellte in mehreren Skizzen die Schönheit der Autobahnbrücke, welche auf bauliche Symmetrie und farbige Graffiti gründet, heraus und kontrastierte diese mit der »natürlichen« Schönheit des Seilersees (Projektmappe 1, Clemens). Arne nahm auf mehreren Bänken um den Seilersee herum Platz, von welchen aus man die »Schönheit des Sees« betrachten kann und lief die Laufstrecken um den Seilersee herum ab, welche auf bestimmte Weise »die Schönheit des Seilersees zeigen« (Projektmappe 1, Arne). Bastian fertigte Detailzeichnungen von Blättern und Federn an, welche er vor Ort sammelte und stellte deren Symmetrie in Auseinandersetzung mit Skizzen heraus, in welchen Clemens die symmetrische Anordnung der Pfeiler der Autobahnbrücke nachempfand. Dabei betonte Bastian, dass Brüche zwischen Natur
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und baulicher Veränderung nicht »unbedingt als negativ aufgefasst werden« müssen, da viele Gebäude durch ihre Architektur selbst für »Freude, Entspannung und auch Schönheit« stehen können (Projektmappe 1, Bastian). David suchte das Gespräch mit Anwesenden am Seilersee und protokollierte die Gespräche sorgfältig. Unter anderem beobachtete und protokollierte er auch die Praktiken der joggenden Mütter vor Ort (Projektmappe 1, David). Bei der Präsentation ihres fixierten Mappings am letzten Projekttag legten die vier Schüler den Fokus insbesondere auf die unterschiedlichen Zugangs- und Betrachtungsweisen des Seilersees und diskutierten daraufhin die Bedeutsamkeit unterschiedlicher Praktiken vor Ort für den Raum Seilersee, bspw. das Joggen, das Flanieren, das Verweilen, das Boccia-Spielen und das Skaten. Abbildung 8-1: Austausch während der ersten Arbeitsphase (a), Arne und Bastian präsentieren ihr Mapping (b)
Quelle: Eigene Aufnahmen
8.1.2 Darstellung und Beschreibung des fixierten Mappings Das Mapping wurde auf Flipchart-Papier angefertigt, auf welchem die Autobahnbrücke A46, die Seilersee-Straße und die Mendener Landstraße eingetragen sind. Das von der Gruppe kartographierte Areal erstreckt sich über das Dreieck, welches sich aus den Straßenverläufen um den Seilersee herum ergibt, hinaus und berücksichtigt auch das nähere Umfeld des Seilersees (Abb. 8-2). Die Straßenverläufe sind mit schwarzem Edding eingezeichnet und wurden in schwarzen Lettern beschriftet. Der schwarze Edding wurde auch zur Anfertigung verschiedener Symbole, welche wiederum mit Buntstiften koloriert wurden, auf dem Mapping verwendet. Neben Symbolen ohne Maßstabsbezug – weder untereinander noch in Bezug auf den Kartenmaßstab – wurden Fotos ausgewählt und
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an mehreren Stellen auf das Flipchart-Papier geklebt. Die Symbole umfassen einen Skatepark, ein Fußballfeld, ein paar Schlittschuhe auf einer Eisscholle, einen Rettungsring, einen Weg, entlang dessen sich mehrere kleine Häuser befinden, eine Halfpipe samt Skateboard und einen Vogel in einem Käfig. Die Symbole sind in Reihenfolge der Aufzählung entgegen des Uhrzeigersinns reihum um den See angeordnet. Die Fotos sind zum großen Teil an der Bildunterseite ausgerichtet und unbearbeitet. Drei der insgesamt neun Fotos wurden zerschnitten, zwei der zerschnittenen Fotos sind nicht an der Bildunterseite ausgerichtet. Die auffälligste Bearbeitung wurde am Foto, welches sich direkt nördlich an den Seilersee anschließt, vorgenommen. Es wurde trapezförmig zugeschnitten. Die bildimmanente Perspektive entspricht auf allen Fotos der alltagsweltlichen Perspektive. Es gibt zwei Bleistiftzeichnungen, welche links und oben rechts auf dem Mapping aufgeklebt wurden. Beide sind jeweils zur Bildmitte hin auf einen Fluchtpunkt ausgerichtet und ähneln sich somit von der Bildanlage her, da beide bilateralsymmetrisch in Bezug auf die Bildanlage und rhythmisch in Bezug auf die Tiefenstaffelung des Bildobjekts organisiert sind. Sie unterscheiden sich lediglich in Bezug auf das Bildobjekt. Einmal ist es ein Sandweg, umsäumt von Laubbäumen, und einmal sind es mehrere wiederkehrende rechteckige Formen, die gezeigt werden.
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Abbildung 8-2: Zur Schönheit der Autobahnbrücke über den Seilersee
Quelle: Eigene Aufnahme
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8.1.3 Exemplifizierung: Ästhetische Lernerfahrungen als Entdecken Der für die vorliegende Vignette gewählte Moment im Arbeitsprozess der ersten Gruppe ereignete sich am Vormittag des zweiten Projekttages. Die Gruppe war morgens selbstständig zum Seilersee gefahren, um das Gebiet zu erlaufen und Informationen bzw. Material für ihr Mapping zu sammeln. Arne war bis zu diesem Zeitpunkt während der Arbeitsphasen wenig in Erscheinung getreten. Er verfolgte die Überlegungen seiner drei Mitschüler eher still und mischte sich wenig in die Diskussionen ein. Es ist ein milder Vormittag. Arne sitzt nahe des Ufers auf einer Parkbank mit Blick auf den See. Er hebt etwas auf, hält diesen kleinen Gegenstand in der Hand und betrachtet ihn ganz genau: Er streckt seinen Arm, nimmt Maß, beugt den Arm, stellt scharf, dreht ihn, fährt ihn mit seinen Fingern entlang. Dann legt er seine Hand auf der Bank ab, sein Blick schweift erneut über den See. Mehrere Minuten sitzt er so da, blickt auf den Seilersee. Nun sind wir in Sicht und die Lehrerin ruft die Gruppe zusammen. »Und wo ist eure Projektmappe?« fragt sie. »Genau hier: im Rucksack«, gibt David zur Antwort, als er die Mappe hervorholt. »Vergesst nicht, dass ihr euch Notizen machen sollt und Sachen sammelt, die für euer Mapping hilfreich sein könnten«, ermahnt Frau Sander. »Haben wir doch«, erwidert Arne und tütet den Gegenstand ein. Es ist eine Feder. Am Nachmittag des gleichen Tages berät die Arbeitsgruppe das weitere Vorgehen und bestimmt die Schönheit des Sees als Thema ihres Mappings. Im Gespräch mit der Lehrerin versuchen sie Kategorien zu finden, die dabei behilflich sein können, Schönheit kartographisch zum Thema zu machen. Unter anderem kommt die Idee auf, räumliche Strukturen in Bezug auf Symmetrien und Asymmetrien zu erkunden, bspw. bei der Anordnung von Bänken, der Anlage von Grünflächen oder bei Bauelementen der Autobahnbrücke. Arne schweigt und folgt dem Gespräch. Dann fragt er: »Was ist das… Symmetrie?« – »Na, wenn man es in der Mitte spiegeln kann«, sagt Clemens. »Guck doch, wie bei der Feder hier«, ergänzt David und verdeckt erst die eine Hälfte der Feder mit seiner Hand, dann die andere. Arne lauscht den Ausführungen und betrachtet anschließend die Feder erneut akribisch wie zuvor am Vormittag – dieses Mal mit erstauntem Blick. Lektüre Arne sitzt auf einer Parkbank und ist mit einem kleinen Gegenstand beschäftigt, den er ausgiebig studiert. Meyer-Drawe (2012a:161) formuliert: »Dinge wecken
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unsere Aufmerksamkeit«, sie können sich uns aufdrängen und vielfältige Appelle an uns richten. Arne begegnet der Gegenstand als reizvolles Untersuchungsobjekt, dem er sich ausführlich widmet. Er betrachtet ihn genau, dreht ihn nach allen Seiten, erfühlt Strukturen und Material. Was ihm auf der Bank als reizvolles Objekt entgegentritt, ist eine Feder. Was daraufhin geschieht, ist uns wohlbekannt: Man sitzt an einem See, lehnt sich zurück, blickt auf die Wasseroberfläche, lässt die Gedanken schweifen. Wohin Arnes Gedanken ihn treiben, wissen wir nicht. Das, was für Arne auf der Parkbank spürbar wird, drückt er in seinen Aufzeichnungen als »Schönheit des Sees« aus (vgl. Projektmappe 1, 07.05.14, Arne). Später am gleichen Tag greift er seine sinnlichen Wahrnehmungen auf der Bank auf, skizziert die Situation und findet Worte, um die Situation genauer zu beschreiben (s. Abb. 8-3).1 Die besondere – schöne – Atmosphäre am Seilersee ist für ihn durch eine kühle Brise, Blumenduft und eine Entenfamilie, die er genau beobachtet, vermittelt. Abbildung 8-3: »Die junge Generation der Enten«
Quelle: Projektmappe 1, Arne
1
Begleittext (06.05.14): »Auf einer Bank sitzend, betrachte ich den Seilersee. Eine kühle Brise wehte zu dieser Zeit. Es roch nach Blumen in der Gegend, diese befanden sich nahe des Seeufers. Vor der Bank befand sich eine kleine Horde von Enten, sowohl ausgewachsene als auch junge. Die Älteren weisen den Kleinen den Weg zum Ufer, schließlich befanden sie sich im Seilersee und schwommen weiter.«
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Die nach innen gerichteten Minuten auf der Parkbank zeugen von der Besinnung auf den Moment, der Besinnung auf den Ort und der Besinnung auf sich selbst. Nach Jauß (1991) sind die Ich-Erfahrung und die Welt-Erfahrung im ästhetischen Genuss unauflösbar miteinander verwoben. Der genussvolle Moment, der in der Vignette artikuliert wird, verweist auf beides: einerseits auf das Eintauchen in die besondere Atmosphäre vor Ort und andererseits auf die Vergegenwärtigung einiger Erlebensdimensionen, in denen die Atmosphäre für Arne spürbar wird – die kühle Brise und der Duft nach Blumen. Präreflexives und Reflexives entfalten im Beispiel in ihrem Bezug aufeinander Wirkung. Als die Gruppe im weiteren Verlauf ihrer Arbeit Möglichkeiten diskutiert, wie die Schönheit des Seilersees systematischer erkundet werden kann, hakt Arne beim Symmetrie-Begriff nach, der ihm unklar ist. Seine Mitschüler verdeutlichen ihm das Konzept am Beispiel der Feder. Für Arne wird diese Situation über die Begriffsklärung hinaus relevant, weil sie die ihm bereits am See bedeutsam gewordene Feder in neuem Licht erscheinen lässt. Die Entenfeder, die ihm am Vormittag als reizvolles Untersuchungsobjekt entgegentrat, eröffnet sich ihm jetzt möglicherweise über ihre symmetrische Gestalt auch als Symbol für ›das Schöne‹. Die vertraute Feder wird unvertraut. Neues wird im Bekannten entdeckt. Es macht den Anschein, dass der Gegenstand aus dem bislang gewohnten Erfahrungsumfeld herausgelöst und in einen neuen Zusammenhang hineingestellt wurde, wodurch neue Bedeutungen gestiftet werden (vgl. Duncker 1999:14). 8.1.4 Exemplifizierung: Ästhetische Lernerfahrungen als Anfangen Die zweite Vignette fokussiert eine Situation, welche sich während des Vormittags des dritten Projekttags ereignete. David war bis zu diesem Zeitpunkt mehrmals sehr lautstark in Erscheinung getreten. Dabei stellte er ein gewisses Maß an Lustlosigkeit mehrfach zur Schau, z. B. indem er sich übertrieben gelangweilt auf seinen Unterarm stütze, indem er lautstark verkündete, dass er während der ersten Vor-Ort-Zeit Minigolf spielen gehen wollte oder über den offensichtlichen und provokanten Smartphone-Gebrauch unter dem Tisch. Die folgende Vignette wurde gewählt, da sie ein eindrückliches Beispiel für die leibliche Dimension von Erfahrungen ist und gleichzeitig die Relevanz eines Gegenübers für das Hervorbringen eigener produktiver Kräfte sichtbar wird. Die ästhetische Erfahrung im Beispiel ist nicht nur leiblich verankert und wird in Davids Körperhaltungen erlebbar, sondern ist auch auf die Aushandlung mit einem Gegenüber angewiesen, um sich überhaupt erst vollziehen zu können.
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David hängt schlaff in seinem Stuhl, der Hosenboden ist halb über die Sitzfläche gerutscht. Eigentlich halten ihn nur noch die verschränkten Arme auf dem Tisch in dieser Position. Die Schülerinnen und Schüler um ihn herum sind ins Gespräch vertieft. Er selbst sitzt ein wenig abseits der Unterhaltung und starrt regungslos auf die Projektmappe, die geschlossen vor ihm auf dem Tisch liegt. Frau Sander geht auf ihn zu und fragt ihn, woran er arbeite. Frau Hoffmann, eine weitere Lehrerin, die sich heute unser Projekt ansehen will, dreht sich zu mir und flüstert hinter vorgehaltener Hand: »Den kenne ich, der ist mitten in der Pubertät. Zu viel Energie und zu wenig Lust. Der macht nie mit.« – »Ach ja!« ruft David plötzlich und richtet sich mit einem Ruck auf. Mit voller Körperspannung sitzt er nun am Tisch, öffnet die Mappe und beginnt zu schreiben. Die zweite Lehrerin schaut ihm einen Moment zu, beobachtet die Arbeit an seinen Aufzeichnungen und verkündet: »Mensch David, so kenne ich dich ja überhaupt nicht. Du bist ja wie ausgewechselt.« David antwortet nicht. Er grinst zufrieden und ist in seine Arbeit vertieft. Lektüre Davids Körper ist erschlafft. Er droht vom Stuhl zu rutschen. Seine Arme wirken dagegen, halten ihn am Platz. Sein Blick geht ins Leere, durch seine Arbeitsmappe hindurch. Waldenfels (2002:33) beschreibt das Etwas, das uns als Pathos zustößt, als überwältigend und im Extremfall gar lähmend. David wirkt gelähmt. In der Vignette drückt sich in seiner Bewegungslosigkeit auch die Unmöglichkeit aus, am Mapping weiterzuarbeiten. Was als Störerfahrung über ihn hereinbrach lässt sich nicht sagen, aber in Davids Weglosigkeit findet es einen Ausdruck, indem es ihn lähmt. Für Frau Sander wird diese Situation auffällig und sie reagiert, indem sie auf David zugeht und ihn nach seiner Arbeit fragt. Vielleicht spricht sie ihm Mut zu, will ihn an die Aufgabenstellung erinnern oder ihn auf die bevorstehende Präsentation hinweisen, die er abzuleisten hat und bis zu der er seine Aufzeichnungen fertiggestellt haben muss. Auch Frau Hoffmann fällt Davids Regungslosigkeit auf. Die Vignette zeichnet ein Bild, in welchem Frau Hoffmann diese als Lustlosigkeit deutet und entsprechend kommentiert: Der macht nie mit. Sie kennt David und hat ein Bild von ihm aus anderen Kontexten. Auch jetzt verhält sich David so, wie sie es kennt, ist lustlos und macht nicht mit. Die Situation ändert sich schlagartig, als Davids Körper ein Ruck durchfährt, ihn aufrichtet und er mit einem Ausruf die Arbeit aufnehmen kann. Was ihn hier aus seiner Lähmung befreit und ihn ins Arbeiten bringt, ist mehr als die Intention, nun mit der Arbeit zu beginnen. Etwas richtet ihn auf und verschafft ihm die Möglichkeit, der Bewegungslosigkeit zu entrinnen. Der Moment, in dem ein Impuls
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David durchfährt und die Situation durchbricht, wird leiblich spürbar, im Aufrichten aufgrund der plötzlichen Spannung die ihn durchfährt. Davids Ausruf – Ach ja! – erinnert an die überlieferte Anekdote von Archimedes und dessen freudigen Ausschrei Heureka (gr. Ich habe es gefunden), als er das heute sogenannte Archimedische Prinzip in der heimischen Badewanne entdeckte. Etwas wurde in beiden Beispielen plötzlich thematisch, was das zuvor Erfahrene in neuem Licht erscheinen ließ und in diesem Sinne auch eine plötzliche Erkenntnis markiert. Dabei kommt im Ach ja anderes zum Ausdruck als bspw. in einem Ach so. Während letzteres darauf abzielt, dass etwas verstanden wurde, was zuvor unverständlich war, zeugt ersteres auch davon, dass etwas erinnert oder (wieder)gefunden wurde, was zuvor bereits vorhanden war, aber u. U. verloren ging bzw. noch nicht deutlich einen Platz im unthematischen Erfahrungshorizont hatte. Davids plötzliche Erkenntnis gleicht einem Wiederfinden von zuvor bereits Vorhandenem, aber im Moment Unverfügbarem, im Zuge des Gesprächs mit seiner Lehrerin, Frau Sander. In der Vignette könnte es bspw. das Vertrauen in die eigenen Ideen oder die eigenen Fähigkeiten sein, die David im Moment unverfügbar waren. Situationen des Wiederfindens von bereits Erfahrenem verweisen auf vielschichtig ausdifferenzierte Erfahrungshorizonte, die nicht bruchlos angehäuft wurden und auf Transformationsprozesse, die sich nicht im Ersetzen von einer Erfahrung durch eine andere erschöpfen (vgl. Meyer-Drawe 1996, 2012a). Das Gefühl, es eigentlich besser Wissen zu müssen, beschleicht uns immer dann, wenn uns etwas in Erinnerung gerufen wird, was uns in einer jeweiligen Situation unverfügbar war und doch Teil unserer Erfahrungen ist. Auch dieses Erinnern bzw. das Wiederfinden ereignet sich als Antwort auf ein Widerfahrnis zwischen mir und dem Anderen, das mir zustößt und meine Erwartung durchkreuzt. Die Vignette zeigt, wie sich Davids Erinnern zwischen ihm und Frau Sander im Gespräch ereignet. Frau Hoffmann zeigt sich von Davids Arbeitseifer erstaunt: So kenne ich dich ja gar nicht. Er erscheint ihr wie ausgewechselt, er erscheint ihr als ein anderer David, den sie zuvor nicht kannte und der ihr Bild von ihm eventuell in Frage zu stellen vermag. Für David scheint dies keine Rolle zu spielen, während er in seine Arbeit versunken ist und das vor Ort Erlebte und Erfahrene aufzeichnet.
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Die Atmosphärenkartierung von Sümmern Die zweite Arbeitsgruppe wählte im Rahmen des Projekts den Stadtteil Sümmern aus, dem sie sich künstlerisch-kartographisch nähern wollten. Die Gruppe bestand aus vier Schülern: Arvid, Ben, Christian und Dominik. Arvid und Ben wohnten in Sümmern, Christian war der Ort, wie er selbst sagte, »gut bekannt«, da seine Großmutter dort lebte und er sie regelmäßig besuchte. Dominik war Sümmern nur vom Namen her bekannt. 8.2.1 Skizzierung des Arbeitsprozesses Zu Beginn des Projektkurses begann die Arbeitsgruppe in einem Brainstorming sämtliche Vorerwartungen an den Stadtteil zu formulieren und in einer Mindmap festzuhalten. Die breit gefächerten Erfahrungen von und Erwartungen an den Ort reichten z. B. von »bergig«, »Industriegebiet«, »unbekannt« (Projektmappe 2, Christian), über »Kindheit«, »Liebe«, »Spaß« (Projektmappe 2, Arvid), bis hin zu »ruhiger vertrauter Ort« und »Austragungsort des jährlichen Schützenfestes« (Projektmappe 2, Dominik). Als gemeinsames Arbeitsziel des Projekts wurde die detaillierte Kartierung eines Straßenzuges samt angrenzender Wohn-, Gewerbe- und öffentlicher Flächen festgelegt, wobei deutlich war, dass Arvid und Ben federführend beim Abstecken des Projekt- und Arbeitsplanes waren. Bei Google Maps wurde in einem ersten Schritt ein für die Dauer des Projekts angemessen großes Gebiet abgesteckt und auf ein Flipchart-Poster möglichst maßstabsgerecht übertragen. Als Begründung für dieses Vorgehen wurde von Ben im Gespräch angeführt, dass es im Geographieunterricht um exakte Werte und die genaue Vermessung von Räumen ginge. Daraufhin entwickelte sich ein längeres Gespräch zwischen der Gruppe und Frau Sander, bei dem mich die Schülerinnen und Schüler immer wieder miteinbezogen. Inhalte des Gesprächs waren Möglichkeiten der exakten Vermessung des Gebiets und unterschiedliche Arten der kartographischen Darstellung des gewählten Gebiets. Hierbei spielten insbesondere konventionelle Darstellungsverfahren der klassischen Kartographie eine Rolle: unter anderem Maßstab und Maßstabstreue, Projektion, Legende und Nordpfeil. Wir trafen die Gruppe am darauffolgenden Tag bevor sie mit der Arbeit vor Ort begann. Im Gespräch machten sie deutlich mit welchen Mitteln der Datenerhebung sie dem Gebiet begegnen wollten: Es ging ihnen insbesondere um das Fotografieren des von Ihnen gewählten Kartierungsgebiets, um das Zusammentragen
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von Eindrücken und Erstellen von Notizen und das Sammeln von Anschauungsmaterial, welches bei der späteren Ausarbeitung der Flächennutzungskartierung hilfreich sein könnte. Am Nachmittag desselben Tages kamen Frau Sander und ich zu Beginn der ersten Präsenz-Phase über das von der Gruppe im Vorfeld formulierte Arbeitsziel und erste Erfahrungen vor Ort ins Gespräch. Den Gruppenmitgliedern war aufgefallen, wie unterschiedlich sie dieselben Orte erlebt hatten. Mit ihrem Plan, eine reine Abbildkartierung durchzuführen, kamen sie vor Ort nicht mehr weiter und es zeigte sich im Gespräch, dass ihnen ihr anfängliches Vorhaben nun kein lohnendes Ziel mehr zu sein schien. Für die »Grundstruktur« des Mappings legte die Gruppe daraufhin neue Kriterien fest. In diesem Zuge formulierte Aspekte waren u.a. die »Farbstruktur (Eindruck ›Gefühl‹)«, »Fotos«, »Raumbeispiele durch Realien«, die »Gegenüberstellung der zwei Parteien« – was im Gespräch als die Kontrastierung der Eindrücke und Erlebnisse vor Ort präzisiert wurde – und ein »neuer Blick auf Ort: bewusste Wahrnehmung« (Projektmappe 2). Alle vier Schüler arbeiteten auf unterschiedliche Weise an der Realisierung des Mappings. Während Ben aus Fotokarton mehrere farbige Quadrate ausschnitt, fertigte Arvid aus Karton ein einfaches dreidimensionales Modell der Grundschule an. Christian und Dominik sichteten die Aufnahmen, wählten die treffendsten für ihr Vorhaben aus und sortierten sie den jeweiligen Standorten auf ihrer Skizze zu (Abb. 8-4). Die farbigen Quadrate nutzten die Gruppenmitglieder dazu, aufzuzeigen, wie sie sich an den jeweiligen Orten gefühlt haben. Bspw. machte Dominik deutlich, dass er das Schulgelände als unruhig, laut und hektisch erlebte. Arvid und Ben hingegen erschien der Schulhof vertraut, sie spielten hier selbst vor einigen Jahren. Die Bezeichnungen für die Legende entwickelten die Schüler selbst als Ausdruck für das, was für sie vor Ort spürbar wurde. In diesem Moment wurde eine Schwierigkeit artikuliert, die sich im Vorfeld noch nicht abzeichnete und die Ben im weiteren Gespräch präzisierte: Es ging um die Frage, was das alles denn überhaupt noch mit Geographie zu tun hätte. Hieraus entwickelte sich ein Gespräch zwischen Frau Sander, der Arbeitsgruppe und mir über Möglichkeiten und Grenzen von Kartierungen und die Relevanz von Atmosphären an bestimmten Orten für unser Erleben und das Zustandekommen von Räumlichkeit(en). Auch wenn die Kategorie Raum den Gruppenmitgliedern nach eigener Aussage vertraut war, waren sie erstaunt, welche weiteren Perspektiven auf Raum für die Geographie relevant waren. Die zweite Vor-Ort-Phase nutzten sie zur Komplettierung des Materials, welches sie zur Vervollständigung ihrer Atmosphärenkartierung brauchten. Während der zweiten Präsenz-Phase entwickelte sich ein Gespräch über die Fotos, welche im Zuge des Projekts an den jeweiligen Orten gemacht wurden. Für die Aufnahmen wurde eine auf einem Teleskopstab
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installierte GoPro-Kamera, welche mit einer Fisheye-Linse ausgestattet war, verwendet. Die Fish-Eye-Kamera fand in der Projektmappe besondere Aufmerksamkeit, in dem deren Auswahl und Darstellungsweise als »neue Sicht auf den Ort«, »keine originale Begegnung« und »anderer Blick auf den bereits bekannten Ort« (Projektmappe 2, Christian) attribuiert wurde. Bei der abschließenden Präsentation benannte die Gruppe ihr Mapping als Atmosphärenkartierung von Sümmern und berichtete den Mitschülerinnen und Mitschülern von den sich einander überlagernden Atmosphären mehrerer Plätze in Sümmern und wie sie diese kartographisch bestimmten. Abbildung 8-4: Christian, Ben und Dominik arbeiten am Mapping (a), Präsentation der Atmosphärenkartierung (b)
Quelle: Eigene Aufnahmen
Dabei kam die Gruppe insbesondere auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen ganz allgemein von Sümmern und im Besonderen der Schule, des Parks und des Friedhofs, ausführlich zu sprechen. Das Mapping wurde im Zuge der Präsentation als »unsere Atmosphärenkartierung von Sümmern« vorgestellt. Die Mitschüler fragten z. B. nach den kunstvollen Fotografien und den Anliegen, welche die Arbeitsgruppe mit dem Mapping artikulieren wollten. 8.2.2 Darstellung und Beschreibung des fixierten Mappings Die Gruppe fertigte ihr Mapping (Abb. 8-5) auf Flipchart-Papier an, auf dem einige Straßenverläufe des Stadtteils mit schwarzem, sowie eine Grenze – die das im Vorfeld festgelegte Kartierungsgebiet umsäumt – mit rotem Edding eingezeichnet wurden. Große Flächen wurden mit Buntstift grün bzw. grau schraffiert. Das Gebiet hat die Gruppe selbst gewählt. Wie zuvor beschrieben wurde, legten
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die vier Schüler ihrem Mapping einen Kartenausschnitt von Google Earth zugrunde. Auf den Flächen ist eine Vielzahl an Fotos platziert, die auf unterschiedliche Weise ausgeschnitten wurden: formkonform (Gebäude), grob (Straßenzüge), mit geschwungenem Schnitt (Parkbereiche) sowie geometrisch (Parkbereiche). Allen Aufnahmen gemein ist eine verzerrte Perspektive, die über eine FisheyeLinse vor der verwendeten GoPro-Kamera erreicht wurde. Die Verzerrung bezieht sich dabei nicht nur auf das jeweilige Bildobjekt, sondern ebenso auf die bildimmanente Perspektive, die nur in manchen Aufnahmen dem »Alltagsblick« nachempfunden wurde; hier wurde wie oben erwähnt mit einem Teleskopstab gearbeitet, an dem die GoPro installiert war. Es gibt eine Reihe an Symbolen, die auf der Kartierung zu finden und nicht alle selbsterklärend sind. Neben sakralen Symbolen (Kreuz, Maria-Figuren) lassen sich gezeichnete Zigaretten und Flaschen sowie ein Basketball samt Korb, zwei Fußballtore und ein Sandspiel ausmachen. Allein an zwei Stellen überschreitet die Darstellung die rote Grenzlinie, einmal in Form eines aufgeklebten Lindenblattes und einmal in Form von Fotos einer gegenüberliegenden Straßenseite unten links. Oben links ist eine an gängige Kartenkonventionen erinnernde Legende platziert, welche eine Vielzahl an Adjektiven enthält, die über farbige FotokartonQuadrate verschiedenen Bereichen im kartierten Gebiet zugeordnet wurden. Was hier erlebt wurde, war entsprechend hektisch, vertraut, belebt, dynamisch, entspannt, erstarrt und bzw. oder einsam. Eines der Gebäude – die Grundschule des Stadtteils – wurde als einfaches 3-D-Modell angefertigt und als vertraut attribuiert.
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Abbildung 8-5: Zur Schönheit der Autobahnbrücke über den Seilersee
Quelle: Eigene Aufnahme
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8.2.3 Exemplifizierung: Ästhetische Lernerfahrungen als Vergewissern Die folgende Vignette wurde aus einer Situation verdichtet, die sich während des Nachmittags des zweiten Projekttags ereignete. Ben war einer der beiden Schüler, die sich bei der Projektplanung zu Beginn des Kurses für die exakte Kartierung des gewählten Areals in Sümmern aussprachen. Es wurde während der ersten Phasen des Projektkurses deutlich, welche Idee Ben von geographierelevanten Inhalten und Themen hatte. Sämtliche Impulse und Möglichkeiten, die während des Auftaktes gegeben und eröffnet wurden, wurden dementsprechend von ihm »gelesen«. Fragte Frau Sander bspw. nach Werten, auf welchen aktuelle Gesellschaften fußen, antwortete Ben mit Längen- und Breitengraden, die über Koordinaten räumliche Verteilungsmuster aufzudecken vermochten. Ben steht am Tisch und schneidet sorgfältig bunte Quadrate aus Tonpapier aus. Er schaut auf das unfertige Mapping vor ihm auf dem Tisch, seine Stirn legt sich in Falten. Ben atmet tief ein und seufzt leise. Er dreht den Kopf zu Frau Sander und fragt, ob das denn so in Ordnung sei. Auf Frau Sanders Frage, was genau er meine, erwidert Ben, dass er unsicher sei, was genau das denn mit Geographie zu tun hätte und ob sie nicht eigentlich etwas anderes machen sollten. »Im Projekt gibt es die Möglichkeit, mal genau und anders hinzusehen. Und da fallen einem auch manchmal Dinge anders oder eben neu auf«, entgegnet Frau Sander. Ben nickt und die Stirnfalten weichen einem Lächeln. »Genau das wollten wir ja auch machen, nachdem wir dort waren«, sagt er und deutet dabei auf das Mapping vor ihm. Sorgfältig schneidet er weiter bunte Quadrate aus Tonpapier aus. Lektüre Ben ist in seine Arbeit vertieft. Sorgsam schneidet er gleichgroße Quadrate aus verschiedenfarbigem Tonpapierkarton aus, die er zur Verortung unterschiedlicher Atmosphären auf seiner künstlerischen Kartographie nutzen will. Seine akkurate Arbeit wird unterbrochen, als sein Blick auf die Arbeitsfläche vor ihm wandert, auf welcher das entstehende Mapping liegt. Etwas rührt ihn an und lässt ihn nicht mehr los. Vielleicht wird auch etwas für ihn greifbar, das ihn bereits längere Zeit begleitet, aber bislang unthematisch blieb. Im Seufzen wird dieses Etwas für ihn und im Mitvollzug für andere leiblich spürbar, Etwas, dass seine Arbeit lähmt und ihm nun seine Aufmerksamkeit abverlangt. Allein kann er diese Situation nicht lösen und so findet er Worte für seine Unsicherheit, die er an die Lehrerin richtet: Was genau das alles denn nun mit Geographie zu tun hätte. Ben stellt sich, seine
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Arbeit, vielleicht auch das ganze Projekt auf die Probe. Ist das noch Geographie? Haben bunte Tonquadrate, kunstvolle Kartenwerke und die von ihm und seinen Freunden gespürten Atmosphären überhaupt einen Platz im Geographieunterricht? Haben sie einen Platz in der Geographie? Ben kann das, was er hier tut, nicht in seinen bisherigen Erfahrungshorizont darüber, was Geographie ist, einordnen. Vielleicht haben er und seine Kameraden ja aber auch nur nicht verstanden, was genau zu tun ist. Sollten sie also nicht besser etwas anderes machen, etwas Geographisches? Frau Sander greift seine Unsicherheit auf und ermutigt Ben, auf sein Gespür zu vertrauen: Im Projekt gibt es die Möglichkeit, mal genau und anders hinzusehen. Folglich geht es auch gerade nicht darum, alles so zu machen wie immer, ausgetretene Pfade abzulaufen und sich in Sicherheit zu wiegen. Im anders Hinsehen, kann Anderes sichtbar werden, kann Neues sichtbar werden. Das Andere und Neue kann unbequem sein, wenn wir hierdurch Gewohntes in Frage stellen müssen, von uns sicher Geglaubtes verunsichert wird und wir neue Umgangsweisen mit den Dingen etablieren müssen. Dieses Andere und Neue an Bens Heimat und seiner sicher geglaubten Geographie setzen ihm zu und verlangen ihm ab, eine Antwort zu finden, wie er sich zu diesen Irritationen in Bezug setzen kann. Es wird ein doppelter Bruch spürbar. Zum einen scheint Ben seine bekannt geglaubte Heimat in der erneuten Begegnung und dem Austausch mit seinen Kameraden fremd zu werden, indem für die Freunde für Ben bislang verborgen gebliebene Atmosphären an den ihm bekannten Orten spürbar werden. Zum anderen ist das, was Ben auf dem Streifzug in seinen Wahrnehmungen sinnlich begegnet und dem, was er im Klassenzimmer als geographisch relevant erachtet, für ihn nicht ohne weiteres vereinbar: Sein Verständnis von Geographie wird unsicher. Die Möglichkeit, sich dem Unbequemen zu entziehen und dem Gewohnten zu folgen – sich also der Kartierung von Atmosphären zu verwehren und an der Flächen-NutzungsKartierung festzuhalten –, wird Ben von Frau Sander verstellt, indem sie ihn ermutigt, seinem Gespür zu vertrauen. Dabei wird die Unsicherheit nicht einfach aufgelöst, sondern eine Möglichkeit des Umgangs mit dieser aufgezeigt, die von Ben noch zu ergreifen und zu realisieren ist. Mit Blick auf das fixierte Mapping der Arbeitsgruppe um Ben zeigt sich, inwieweit erst die Verschneidung bekannter kartographischer Praxis und künstlerischen Darstellungsformen es ihnen erlaubte, die Atmosphärenkartierung Teil ihrer Geographie werden zu lassen. Ben lächelt. Er wirkt erleichtert. Genau das wollten wir ja auch machen, nachdem wir dort waren. Das, was ihm vor Ort widerfuhr, was für ihn bedeutsam wurde und was ihn und seine Kameraden ins Grübeln brachte, hatte einen Platz in der Geographie, die Frau Sander ihm eröffnete. Dass sich Ben bei Frau Sander versichert hat, dass das, was ihm auffällig und wichtig wurde, im Schulprojekt
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einen Platz hatte, bietet ihm eine Möglichkeit, wie er seiner ursprünglichen Unsicherheit begegnen kann. Im Zuge dessen eröffnet sich Ben auch eine neue Geographie, die vielleicht einen Platz in seinem Erfahrungshorizont einnehmen kann, nachdem er erfahren hat, dass seine Wahrnehmungen und sein Gespür vor Ort für ihn, für seine Freunde und für Frau Sander bedeutsam sind.
Raumwahrnehmungen der Iserlohner Innenstadt Die dritte Gruppe, die sich im Rahmen des Projektkurses fand, bestand aus Anna, Birte, Christin und Daniela. Sie wählten einvernehmlich und mit Begeisterung die, im Vorfeld von der Lehrerin als für das Projekt geeignet befundene, Innenstadt von Iserlohn für ihr Vorhaben aus. Das vorgegebene Areal umfasste den Innenstadtbereich der nördlich vom Theodor-Heuss-Ring, östlich vom Konrad-Adenauer-Ring, südlich vom Hohler Weg und westlich vom Kurt-Schumacher-Ring begrenzt wird. 8.3.1 Skizzierung des Arbeitsprozesses Nach der Wahl der Innenstadt als zu mappendes Gebiet, legten die Schülerinnen mehrere Orte fest, welche sie während der ersten Mapping-Phase aufsuchen wollten: die Bücherei am Rathausplatz, die Bauernkirche, den Marktplatz, den SanRemo 2-Platz, die Post und das Rathaus (Projektmappe 3). Dabei legten sie noch keine bestimmte Fragestellung fest, mit der sie den Orten begegnen wollten, vielmehr ging es ihnen um das Aufsuchen von »relevanten« Plätzen in der Innenstadt. Zunächst wurde eine erste grobe Skizze der Straßenverläufe auf dem FlipchartPapier angefertigt. Auffälliges vor Ort sollte dann die nächsten Schritte der Projektarbeit strukturieren. Die erste Vor-Ort-Zeit nutzten die Schülerinnen insbesondere dazu, verschiedene Wege innerhalb des Innenstadtbereichs abzulaufen und Fotos zu machen sowie Skizzen von verschiedenen »Fundstücken« anzufertigen, z. B. der alten Kirchenglocke der Iserlohner Bauernkirche oder auch des Eingangsbereichs der Sparkasse Iserlohn (vgl. Projektmappe 3). Während des Vormittags des dritten Projekttages entwickelte sich ein Gespräch über die erste Vor-Ort-Zeit, in welchem Frau Sander und mir vor allem über »Neues« berichtet wurde, was der Gruppe vor Ort auffiel. Die »neuen Erfahrungen« wurden ebenfalls in der Projektmappe festgehalten, u. a. »alte Hausfassaden«, »bunte Hauswände« oder auch »unbekannte Straßen kennengelernt« (Projektmappe 3).
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Im Gespräch kristallisierte sich heraus, dass die Schülerinnen insbesondere darüber erstaunt waren, wie wenig bekannt ihnen die Innenstadt bei erneutem bzw. bewusstem Hinsehen erschien. Anna und Daniela hatten sogar den Eindruck, sie würden »ihre Stadt kaum kennen«. Über diese ersten Auffälligkeiten thematisierten wir »Sehgewohnheiten« und diskutierten, inwiefern diese handlungsleitend sind und welche Konsequenzen dies für das Zustandekommen von Raum im Allgemeinen und das subjektive Raumerleben im Besonderen hat. Im Gespräch kamen die Schülerinnen zu dem Schluss, dass unsere Sehgewohnheiten sowohl sozial vermittelt, kulturell eingebettet, als auch individuell erfahren sind und nur dann sichtbar werden, wenn wir über Ereignisse, in denen unsere Gewohnheiten an ihre Grenzen stoßen, reflektieren. Neben der sozialen Konstruiertheit von Raum war an dieser Stelle insbesondere die subjektive Dimension des Raumerlebens Gesprächsmittelpunkt. Für Birte und Christin hatte der Besuch der Bauernkirche besondere Bedeutung. Beiden war die Kirche im Vorfeld nicht bekannt. Am Rande der Innenstadt kamen sie mit einer Person etwa 30 Minuten lang über die Kirche und Iserlohn ins Gespräch (s. Gesprächsprotokoll, Projektmappe 3) und fertigten überdies noch einige Fotos und Zeichnungen der Kirche sowie des Fritz-Kühn-Platzes an. Während der Präsentation ihres Mappings spielten die unbekannten Wege und daraus resultierenden unerwarteten Erlebnisse abseits des im Vorfeld bekannten und geplanten eine zentrale Rolle (Abb. 8-6). Jede der vier Schülerinnen gab einen Einblick in ein für sie jeweils neuen Blickwinkel auf Iserlohn, den sie im Zuge des Projekts einnahmen.
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Abbildung 8-6: Planungsphase (a); Gespräch (b); Präsentation von Birte, Daniela, Anna und Christin (c)
Quelle: Eigene Aufnahmen (a,c); E. Sander (b)
8.3.2 Darstellung und Beschreibung des fixierten Mappings Auf einem Flipchart-Papier wurden die Straßenverläufe und -namen mit schwarzem Edding eingetragen. Die Gruppe komplettierte die derart vorgezeichneten Straßenverläufe mit einem detaillierten Straßennetz mehrerer Einkaufsstraßen des Innenstadtbereichs, von dem allerdings nur zwei Straßen mit Namen versehen wurden: die Unnaer Straße und die Wermingser Straße (Abb. 8-7). Das derart Ausgearbeitete markiert das Zentrum der Ortsbegegnung, welche im Mapping artikuliert wurde. Vom Zentrum des Innenstadtbereichs her wurde die Kartographie zur Peripherie des brennglasartig gemappten Ortes hin ausgeschlichen. Nach Süden hin wurde die Bauernkirche (Sankt Pankratius) dicht gemappt. Das Mapping wurde über drei Darstellungsformen realisiert: Fotos, Zeichnungen (Symbole und
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gegenständliche Motive) und Collagen-Elemente2 (Ausschnitte aus Flyern und Gegenstände). Bis auf zwei Ausnahmen wurden die Fotos zugeschnitten. Dabei sind exakte formkonforme Zuschnitte (Häuserfassade, Kirchturm, Brunnen) ebenso zu erkennen wie grobe Zuschnitte des Bildobjekts (Statuen, Straßenszenen). Die Fotos zeigen zum großen Teil materielle Gegebenheiten vor Ort: Häuserfassaden, einen Brunnen, zwei Statuen, eine Kirche und einen Park. Zwei Fotos stehen im starken Kontrast hierzu. Zum einen werden junge Männer gezeigt, welche Lederkleidung und bunte Irokesen-Haarschnitte tragen, es handelt sich vermutlich um Anhänger der linken Szene. Das Foto der beiden Männer wurde in der Mitte zerschnitten und an unterschiedlichen Stellen auf dem Mapping aufgeklebt. Zum anderen wird der Ausschnitt einer Fassade gezeigt, auf der ein türkis-weißes Graffito aufgetragen wurde. Flankiert wird das Graffito von mehreren Tags. Lediglich zwei der insgesamt 17 verwendeten Fotos weichen von der Darstellung materieller Bildobjekte ab – in beiden Fällen sind es Aufnahmen von Wahlplakaten. Während der Ausschnitt des SPD-Slogans verhältnisweise klein ausfällt, ist der Ausschnitt des Wahlplakats der Linken übergroß abgebildet. Wenngleich die Fotos an den eingezeichneten Straßenverläufen orientiert wurden, sind sämtliche Darstellungen zur Bildunterseite hin ausgerichtet. Die Zeichnungen sind in unterschiedlicher Größe und auf unterschiedliche Weise angefertigt. Es sind mehrere kleinere Logos (H&M, Backwerk, dm, MVG) und Schriftzüge (Asia to go, Pizzeria), eine Reihe symbolischer Darstellungen (Eistüte(n), Schuhe, eine Hantel samt Gewichtheber) und auch große Darstellungen eines Cocktails und einer Shisha im Mapping enthalten. Die Darstellungen des Cocktails und der Shisha sowie der Schauburg unten links sind im Verhältnis zu den übrigen Zeichnungen übergroß und gegenständlich umgesetzt. Entlang des Hohler Weges sind mehrere farbige Buntstiftschraffuren eingearbeitet, welche im Kontrast zur vornehmlich schwarz-weißen Darstellungsform stehen, der das Mapping insgesamt auszeichnet. Neben diesen Schraffuren wurden nur die Logos und die gegenständlichen Zeichnungen koloriert. Das Mapping wird durch drei aufgeklebte Elemente komplettiert. Neben zwei Ausschnitten aus Flyern lokaler Einzelhändler bzw. Gastronomiebetriebe wurden nahe dem gezeichneten Symbol der Sparkasse ein Fünfcentstück und an der Ecke Unnaer Straße und Theodor-Heuss-Ring ein Kinder-Ticket des ÖPNV aufgeklebt.
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Wenngleich die Verwendung des Fotomaterials ebenfalls zur Collagen-Technik gezählt werden kann, wird hier bewusst zwischen Foto und Collage unterschieden.
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Abbildung 8-7: Raumwahrnehmungen der Iserlohner Innenstadt
Quelle: Eigene Aufnahme
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8.3.3 Exemplifizierung: Ästhetische Lernerfahrungen als Verstummen Der Moment der zur Vignette verdichtet wurde, ereignete sich am Nachmittag des dritten Projekttages. Birte war bis hierhin wenig in Erscheinung getreten und arbeitete eher im Stillen am Mapping. In Gesprächen wurde deutlich, wie gut sie sich in der Innenstadt auskannte, da sie sich dort oft mit Freundinnen traf und schon viele Male vor Ort war – zum »shoppen und chillen«. Die Vignette wurde gewählt, da in ihr spürbar wird, wie ästhetische Erfahrungen ins Offene vorstoßen und gleichzeitig auf Ausdrücke angewiesen sind, um thematisierbar und verstehbar zu werden. Die ästhetische Erfahrung im Beispiel organisiert sich zwischen Birtes Akkuratesse auf dem Papier und der Bedeutungsoffenheit des von ihr Erlebten. Birte sitzt an einem Tisch und hat ein DIN-A4-Blatt vor sich liegen. Daneben liegt ihre geöffnete Federtasche, eine Vielzahl an Buntstiften ist vor ihr auf dem Tisch verteilt. Mit dem Lineal nimmt sie Maß und zeichnet mehrere Linien auf das Blatt Papier. Sie wählt einen Bleistift, um eine Hausfassade zu rahmen und grenzt davon den Türbereich mit schwarzem Fine-Liner ab. »Woran arbeitest du?«, beginnt Frau Sander ein Gespräch. Birte schreckt auf. »Die Graffiti haben wir neben der Bauernkirche auf dem Platz gesehen…«, erwidert sie und hält kurz inne. »Aber warum ich die male, kann ich gar nicht genau sagen«, ergänzt sie schließlich und scheint über ihre Antwort selbst überrascht zu sein. Wieder ist sie einen Moment still, bevor sie Worte findet: »Irgendwie sind die ja schön, obwohl sie irgendwie auch überhaupt nicht dahin passen. Sehen sie mal.« Birte dreht ihre Zeichnung zur Lehrerin und fährt mit dem Fine-Liner einige Linien auf dem Papier nach. »Schön sind sie«, bestätigt Frau Sander »und komisch finde ich es auch«. Als sich die Lehrerin im Anschluss den anderen Gruppenmitgliedern widmet, vertieft sich Birte wieder in ihre Zeichnung. Dabei drückt sie die Zunge von Innen gegen ihre Wange, fährt entlang der Zähne und beginnt das Spiel auf der anderen Seite von vorn. Hochkonzentriert schraffiert sie die Gebäudefassade, koloriert das große Graffito in hellblau und komplettiert ihr Bild mit mehreren Tags um das Graffito herum, bevor sie ihre Arbeit nochmals betrachtet. Fertig. Sie klappt ihre Arbeitsmappe zu und widmet sich ihren Freundinnen.
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Lektüre Birtes Arbeitsplatz ist vorbereitet, ein Blatt Papier, mehrere Buntstifte, verschiedenfarbige Fine-Liner und ein Lineal liegen griffbereit. Die geschilderte Situation erinnert an eine Künstlerin, die eine Staffelei vor sich hat und die Mischpalette in ihrer Hand hält. Für ihr Vorhaben benötigt Birte eine Reihe an Utensilien, vielleicht mehr, als sie aktuell abschätzen kann. Das Lineal nutzt sie, um eine Hausfassade samt Türbereich akkurat auf das Papier zu bringen. Alle Umrisslinien – der untere Wandbereich, die Eingangstür, die Flügeltüren und die segmentierten Glasfenster – werden exakt auf dem Papier verzeichnet. Die einzelnen Elemente werden mit großer Sorgfalt mittig, lotrecht und symmetrisch auf dem Blatt Papier angeordnet (vgl. Abb. 8-8). Abbildung 8-8: Auf dem Weg zur Bauernkirche
Quelle: Projektmappe 3, Birte
Die Lehrerin wird auf Birtes Arbeit aufmerksam: Woran arbeitest du? Die Frage durchbricht Birtes Arbeitsfluss und weckt sie aus dem Arbeitsschlummer. Sie schreckt auf, beginnt zu beschreiben, was sie und ihre Freundinnen vor Ort gesehen haben: Die Graffiti neben der Bauernkirche. Ihre Erzählung gerät ins Stocken, denn eigentlich wisse sie gar nicht genau, warum sie dieses Bild malen würde – sie verstummt. Birte fällt es schwer, dasjenige begrifflich zu fassen, was ihr auf dem Weg zur Bauernkirche am Fritz-Kühn-Platz auffällig wurde, was sie dazu veranlasst hat, diesen Ort zeichnerisch nachzuempfinden. Ästhetische Erfahrungen sind von Unbestimmtheit gekennzeichnet, wenn sich das sinnlich Wahrgenommene nicht begrifflich fassen lässt oder nicht benannt werden kann, warum eine Erfahrung als interessant empfunden wird (Borg 2012:10). Die Vignette
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zeigt, wie Birte die Worte fehlen, um das Affizierende vor Ort näher zu bestimmen, aber auch, um dem Gegenüber und sich selbst deutlich werden zu lassen, warum eben diese Stelle als aufregend und aufzeichnungswürdig empfunden wurde. Das Unvermögen, passende Worte zu finden, um ein bestimmtes Erlebnis, eine Erfahrung oder eine Situation angemessen beschreiben zu können, ist uns nicht unbekannt. Man ringt um Worte, um jemandem oder sich selbst etwas vor Augen zu führen, ohne dies jemals zufriedenstellend erreichen zu können. Etwas, was ihr an diesem Ort begegnete, erlangt zeichnerisch Gestalt, ohne dass Birte es unmittelbar zeichnen würde. Das Affizierende wird in Birtes Zeichnung in einem Ausdruck spürbar, der auf das pathische Moment ihrer Begegnung verweist. In der Vignette wird Birtes zeichnerischer Ausdruck als Gesprächsanlass von ihrer Lehrerin ernst genommen und bringt auch Birte auf die Spur, sich zu ihrer Wahrnehmungserfahrung reflexiv in Bezug zu setzen. Denn mit ihrer Antwort auf die Frage ihrer Lehrerin überrascht Birte sich auch selbst. Frau Sander spielt Birte als Andere im Gespräch Antwortmöglichkeiten zu, von denen Birte bislang nicht wusste, dass sie sie hatte (vgl. Meyer-Drawe 2012a:190). So ringt Birte um Worte, um das Erfahrene zu fassen. Sie schweigt kurz, bevor sie erneut ansetzt: Irgendwie sind die ja schön. Obwohl die irgendwie auch überhaupt nicht dahin passen. Für Birte wurde auf dem Weg zur Bauernkirche scheinbar ein Bruch spürbar, vielleicht zwischen der Faszination der Graffiti auf der einen Seite und dem Ort, an dem ihr diese begegneten, auf der anderen Seite. In ihrer Zeichnung könnte der erfahrene Bruch als Wechsel der Darstellungsmodalitäten einen Ausdruck gefunden haben, indem die klare und begrenzende Linienführung von Fassade und Türbereich sich mit den Freihandzeichnungen der Graffiti, Tags und der weiteren Elemente vor der Fassade bricht. Der über schwarzen Fine-Liner und ein kräftig aufgetragenes dunkles Braun besonders betonte Eingangsbereich hebt sich optisch von den feinen Schraffuren der Fassade und den mit wenig Druck aufgetragenen Graffiti ab. Wo Birtes begriffliche Erklärungen an ihre Grenzen stoßen, zeigt sie. Etwas zeigt sich über das Bild und sie zeigt das Bild selbst: Sehen sie mal. Gottfried Boehm hält fest: »Zeigen geht mithin nicht in Sagen auf und Sagen nicht in Zeigen« (Boehm 2015:20, Herv. i. O.). Damit markiert er, dass das Zeigen nicht lediglich als Beiwerk des Sagens gedacht werden kann, sondern dem ästhetischen Ausdruck eine eigene Kraft bzw. Logik innewohnt, die als eigene Zugangsweise zu den Phänomenen zu denken ist (ebd.). Frau Sander kann nachvollziehen, was sich ihr in Birtes Bild zeigt und sich in diesem ausdrückt: Komisch finde ich es auch. Als Birte die Arbeit wieder aufnimmt ist sie ganz bei sich und in das Zeichnen vertieft. Ihre besinnlich anmutende Aufzeichnungspraxis findet einen Endpunkt,
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als das Bild für sie fertig ist. Sie klappt die Mappe zu und widmet sich ihren Kameradinnen. Der von Birte gewählte Bildausschnitt findet – als Foto – auch im fixierten Mapping besondere Beachtung. Es ist die einzige Nahaufnahme einer Hausfassade, neben einer Reihe an halbtotalen Blicken auf architektonisch ansprechende Fassaden im Innenstadtbereich (vgl. das fixierte Mapping der Gruppe). Im Nachgang des Projekts schreibt sie: »Zuerst dachte ich auch, dass es etwas langweilig wird, da man schon sehr oft an diesem Ort war und schon alles kennt, aber wenn man genauer guckt nicht« (Auszug aus dem Reflexionstext von Birte). Das genaue Hinsehen an vermeintlich bekannten Orten wurde im Projekt für Birte als Möglichkeit erfahrbar, Neues im Bekannten zu entdecken. Der potentiellen Unmöglichkeit, unmittelbar Worte für das Neue zu finden, konnte sie zeichnend begegnen und daraufhin im Gespräch näherkommen, ohne es sprachlich völlig aufzulösen. Die Lektüre verdeutlicht, dass Sinn im Beispiel dem zeichnerischen Ausdruck nicht vorgelagert ist, sondern sich erst im Vollzug des Aufzeichnens als Antwortgeschehen auf Etwas, das Birte vor Ort auffällig wurde, findet.
Materialisierungen gesellschaftlicher Werte in Iserlohn-Mitte Für die vierte Arbeitsgruppe fanden sich Antonia, Bea und Charlotte zusammen. Sie wählten ein kleineres Gebiet im südöstlichen Teil von Iserlohn-Mitte für ihr Projekt aus, welches ihnen nach eigener Aussage eher flüchtig bekannt war. Das an den Stadtkern angrenzende Gebiet wählten sie als Alternative zum Innenstadtgebiet aus, nachdem dieses bereits zuvor von der dritten Gruppe gewählt wurde. 8.4.1 Skizzierung des Arbeitsprozesses Das erste Brainstorming zu Beginn des Projekts resultierte in einer Mind-Map, welche die Gruppe anfertigte. In diese trugen sie zum einen verschiedene Orte ein, welche sie aufsuchen wollten, z. B. den Danzturm, die Fachhochschule, eine Parkanlage oder auch das örtliche Krankenhaus. Zum anderen wurden Praktiken notiert, die diese Orte ermöglichen bzw. die dort regelmäßig stattfinden z. B. »Schützenfest« oder »Aussicht über Iserlohn«. Die erste Vor-Ort-Phase nutzte die Gruppe vornehmlich dazu insgesamt fünf unterschiedliche kartographische Skizzen der Umgebung anzufertigen. Diese Kartographien sind jeweils verschiedenartig organisiert. Während zwei der Skizzen bestimmte Ausschnitte des Areals in sehr hohem Detailgrad aus der Vogelperspektive zeigen, ohne dabei zusammenhängend angefertigt zu sein, gibt es zwei
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Kartierungen, auf denen das Areal zusammenhängend, aber weniger detailreich dargestellt ist (Projektmappe 4). Auf der fünften Skizze sind die Hauptverkehrswege des Gebiets mit wenigen Strichen angedeutet, der Fokus bei dieser Kartierung liegt auf der Andeutung der relativen Lage verschiedener von der Gruppe definierte »Werte«, die sich vor Ort materialisieren (politische, materielle und moralische Werte). Antonia fertigte kleine Zeichnungen der Hausfassade des Seniorenzentrums und des Schildes der Kinderklinik an, welche sie mit Informationen versah (Adresse, behandelnde Ärzte usw.) und darüber hinaus hinsichtlich deren Farbgestaltung und Anmutung kommentierte: U. a. beschreibt sie »fröhliche Farben« (Projektmappe 4, Antonia). Während der Vor-Ort-Phasen fertigte die Gruppe eine Vielzahl an Fotos an und sammelte mehrere Flyer der örtlichen Fachhochschule, des Seniorenzentrums und der Kinderklinik in der Projektmappe. In den Gesprächen während der Arbeitsphasen am zweiten und dritten Projekttag kamen wir mehrmals über die Wahrnehmung von Orten ins Gespräch. Charlotte formulierte das Gefühl, oftmals »einfach nur so« durch die Straßen zu gehen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen und dabei dem Weg zwischen den Orten selbst wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Antonia hatte diese Erfahrung auch schon bei Städtereisen gemacht: Man wisse zwar, wo man ist, »doch irgendwie fehlte etwas, die persönlichen Wahrnehmungen einzuordnen und darüber ins Gespräch zu kommen«. Die Schülerinnen sprachen über die Bedeutung von (eigenen und fremden) Wahrnehmungen für das Raumerleben und darüber, wie es möglich sei, neue Sichtweisen auf bereits bekannte Orte zu erlangen. Die im gemeinsamen Gespräch zutage geförderte Frage war, inwieweit diese (neuen) Perspektiven auf (bekannte) Orte »unsere Räume« hervorbrachten und veränderten. Für Bea war hierfür insbesondere ein Erlebnis während der ersten Vor-OrtPhase von Bedeutung: Sie entdeckte auf einem Straßenstück, welches sie nach eigener Aussage schon zigmal entlang ging, kleine Kunstdrucke auf dem Asphalt, die sie noch nie wahrgenommen hatte.3 Die Präsentation nutzen die Schülerinnen dazu, die Intentionen ihrer Darstellung und die im Zuge des Projekts aufgekommenen und behandelten Fragestellungen hinsichtlich der Bedeutung von Wahrnehmung für Räumlichkeit zu thematisieren.
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Auf dieses Erlebnis wird später erneut Bezug genommen.
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Abbildung 8-9: Ideensammlung (a); Arbeitsphase (b); Bea präsentiert das Mapping (c)
Quelle: Eigene Aufnahmen
8.4.2 Darstellung und Beschreibung des fixierten Mappings Das Mapping wurde formatfüllend über das ganze Flipchart-Papier angelegt (s. Abb. 8-10). Straßen sowie Straßennamen wurden mit schwarzem Edding ins Mapping eingearbeitet. Auf den Straßen wurden Mittelstreifen eingezeichnet und Fußgängerüberwege, wie auch Parkmöglichkeiten mit Symbolen gekennzeichnet. Die beiden zentralen Darstellungsweisen des Mappings sind die Fotografie und Filzstiftzeichnungen. Die auf das Flipchart-Papier geklebten Fotografien zeigen bis auf zwei Ausnahmen Häuserfassaden oder Hausansichten. Die hiervon abweichenden Darstellungen zeigen Grünflachen. Die Fotos wurden zum großen Teil derart zurechtgeschnitten, dass sie an der jeweils entsprechenden Stelle auf dem Mapping einge-
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passt werden konnten, ohne in die umliegenden eingezeichneten Straßen hineinzuragen. Dabei ist die Ausrichtung der Fotos entlang der Straßenverläufe erfolgt. Lediglich an einer Stelle wird diese Grenzziehung unterlaufen. Im unteren Teil des Mappings ist eine Detailaufnahme des Asphalts passgenau in den kartierten Straßenverlauf eingearbeitet. Die kolorierten Filzstiftzeichnungen sind auf vier Arten realisiert. Erstens sind die Darstellungen ganz links und rechts oben Ansichten von Hausfassaden nachempfunden. Zweitens orientiert sich die Darstellung des großflächigen Areals oben an konventionellen kartographischen Darstellungsmustern. Drittens führt die große braune Fläche unten das Farbspiel der Detailaufnahme der Baumrinde fort. Viertens ist die Darstellung der Kinderklinik ganz rechts sowohl hinsichtlich des Maßstabs als auch der Realisierung besonders, da hier ein Fotozuschnitt mit einer Zeichnung verknüpft wurde. Unten rechts befindet sich eine Legende auf farbigem Karton. Es werden insgesamt vier Symbole (Kreuz, Krone, Doktorhut und Handschütteln) vier Attributen (religiöse, ästhetische, politische und moralische Werte) zugeordnet. Verschiedenen Orten bzw. Materialitäten, die auf dem Mapping Beachtung finden, wird hierüber ein Werteausdruck zugewiesen, z. B. wenn das großzügige Anwesen unten links als ästhetisch attribuiert wird.
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Abbildung 8-10: Gesellschaftliche Werte in Iserlohn-Mitte
Quelle: Eigene Aufnahme
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8.4.3 Exemplifizierung: Ästhetische Lernerfahrungen als Innehalten Der hier zur Vignette verdichtete Moment ereignete sich am Vormittag des dritten Projekttags. Bea hatte am Vortag über ihre Erlebnisse während der ersten Mapping-Phase gesprochen und deutlich werden lassen, wie überrascht sie über einige der Fundsachen ihrer Gruppe vor Ort war. Die Vignette wurde ausgewählt, da sie Beas Umgang mit einem für sie bedeutsamen Moment innerhalb des Projektkurses spürbar werden lässt. Die Situation, auf welche die Erzählung verweist, sprach sie mehrmals im Laufe des Projekts an und verlieh dieser im Mapping besonderen Ausdruck. Die ästhetische Erfahrung im Beispiel ist gekennzeichnet durch einen Moment des In-Sich-gekehrt-Seins und Besinnens vor dem Hintergrund des vor Ort Erlebten und ist zeitlich noch vor dem ästhetischen Ausdruck im Mapping angesiedelt. Bea ist in die Fotos vertieft, welche sie und ihre Freundinnen gestern während der Arbeitsphase in der Innenstadt machten. Sie sortiert die Aufnahmen und häuft dabei mehrere Stapel auf. Die Zuordnung geht ihr leicht von der Hand. Dann plötzlich verlangsamen sich ihre Bewegungen. Dieses Foto betrachtet sie ausgiebiger, mehrere Sekunden lang. Sie hat es selbst am Vortag aufgenommen. Bea stützt ihren Kopf mit der Hand auf, schaut aus dem Fenster und entspannt ihren Blick. Sie verweilt einen Moment in dieser Haltung, bevor sie erneut auf die Aufnahme schaut. Dann legt sie das Bild einzeln neben die bereits aufgetürmten Bilder und erhöht die Arbeitsgeschwindigkeit wieder, als sie die übrigen Bilder den beiden Stapeln zuordnet. Das einzelne Foto zeigt die Nahaufnahme eines Straßenbelags. Grauer Asphalt. Hierauf sind mehrere Silhouetten angeordnet, die wie kleine Tiere aussehen. Lektüre Bea sortiert Fotos, welche sie und ihre Freundinnen am Vortag in der Innenstadt aufnahmen. Dabei geht sie nach einem unbekannten System vor, bei welchem sie die Aufnahmen zwei unterschiedlichen Stapeln zuordnet. Vielleicht ordnet sie die Bilder nach der topographischen Lage des jeweiligen Bildobjekts der Kartierung zu, oder sie trennt nach eigenem Maßstab brauchbare von unbrauchbaren Bildern. Das Vorgehen wirkt versiert, die einzelnen Bilder sortiert sie ohne Mühe den beiden Stapeln zu. Ihr routiniertes System wird jäh unterbrochen, als ihr ein bestimmtes Bild in die Hände fällt, welches ihre Aufmerksamkeit fesselt. Es ist eines der Bilder, die sie selbst aufgenommen hat. Etwas ist anders als zuvor, veranlasst sie dazu, ihre Sortierarbeit auszusetzen.
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Dabei bleibt unklar, was genau den Handlungsablauf ins Stocken geraten lässt. Ist es das Bild selbst, das Bildobjekt, vielleicht auch die Situation in welcher das Bild aufgenommen wurde, die ihr über das Bild in Erinnerung gerufen wird, oder ist sie einfach überrascht, dieses Bild in diesem Stapel vorzufinden? Jedenfalls lässt sie etwas innehalten, das ihr in dem Moment entgegentritt, als ihr das Bild in die Hände fällt. In der Vignette wird ein Bild der Situation gezeichnet, in welcher Beas System, welcher Art auch immer es nun sein mag, in der Begegnung mit diesem einen Bild nicht mehr greift, ihre bislang gültigen Vorstellungen übersteigt und das Sortieren unterbricht. Indem sie innehält und sich aus der routinierten Handlung zurückzieht, etabliert sie auch eine neue Umgangsweise mit dem Bild und allen noch folgenden Bildern. Es wird ein weiterer Stapel eröffnet, der gleichberechtigt neben den bisherigen Stapeln eine Möglichkeit des Zuordnens bereithält, sofern sie im weiteren Verlauf benötigt werden sollte. Der Moment, in dem Bea das Bild nicht in ihr bislang gültiges System einordnen kann, ermöglicht es ihr, Neues im Bild zu erkennen und verlangt ihr ab, sich zum Neuen in Beziehung zu setzen. Was im Beispiel sichtbar wird, hat grundsätzliche Bedeutung: »Gerade im Unerwarteten oder im Aussetzen von Sinn [liegt] die Möglichkeit zu neuer Erkenntnis von Zusammenhängen« (Heil 2012:30). Auch im fixierten Mapping findet das Foto besondere Beachtung, indem es eine von der Gruppe im Mapping selbst angelegte Darstellungskonvention überschreitet. Die passgenaue Einarbeitung des zugeschnittenen Bildes, welches Bea beim Sortieren auffällig wurde, in den Straßenverlauf markiert die einzige Stelle, an welcher eine Straße mithilfe eines Fotos im fixierten Mapping dargestellt wird (vgl. Abbildungen 8-10 und 8-11). An allen anderen Stellen bleiben die Straßen weiße Flecken in der bunten Darstellung des Stadtteils und vielleicht auch der Wahrnehmung der Schülerinnen. Abbildung 8-11: Silhouetten
Quelle: Eigene Aufnahme
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Im Wechsel der Darstellungsmodalität findet die Bedeutsamkeit des Fotos und der damit verbundenen Erfahrungen während der Ortsbegegnung am Vortag für Bea auch in ihrer künstlerischen Kartographie einen ästhetischen Ausdruck. Dieser Kontrast deutet auch auf einen Bruch im Erleben hin: Diese eine Stelle der Straße, dieser eine Ausschnitt des Asphalts, haben Bea in besonderer Weise in Beschlag genommen, lassen sie nicht mehr los. Duncker (1999:14) formuliert, dass »das Neue und Anstößige einer [ästhetischen] Erfahrung […] erst deutlich [wird], wenn es in das Umfeld bisheriger Erfahrungen eingeordnet wird und dadurch die kontrastierenden Momente hervortreten«. Was als Diskontinuität vor Ort für Bea spürbar wurde und sich beim Zuordnen der Fotografien erneut zeigte, fand einen ästhetischen Ausdruck innerhalb des Mappings, indem es sich als Bruch der Darstellungsweise zeigt. Im Nachgang an das Projekt schreibt Bea, »dass man vorher einfach nur durch die Straßen gegangen ist, ohne sich Gedanken gemacht zu haben, was hinter einem Gebäude steckt bzw. was es ausdrückt« (Projektmappe 4, Bea). »Vielleicht«, schreibt sie weiter, »werde ich mich in Zukunft […] an das hier zurückerinnern und mir Gedanken machen, was möchte mir das genau sagen!« (ebd.). Es bleibt allerdings ungewiss, was Bea vor Ort widerfahren ist und ihre bisherige Sicht auf die Dinge in Frage stellte. Was sich jedoch in der Vignette zeigt ist, dass der Moment des Innehaltens für den Lernvollzug von Bea bedeutsam war, indem sich eine neue Umgangsweise mit dem vor Ort erfahrenen als Antwort auf einen Anspruch zwischen Bea und dem Foto finden konnte.
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Zusammenschau: Horizontlinien ästhetischer Lernerfahrungen Wie in Kapitel 5.4.3 bereits erläutert, geht es nachfolgend um die Erhellung in den Beispielen aufscheinender Horizonte der Familie ästhetischer Lernerfahrungen. Was sich in den Beispielen in unterschiedlichen Vollzügen bzw. Akten zeigte – im Entdecken, im Anfangen, im Versichern, im Verstummen und im Innehalten – verweist auf verschiedene miteinander verwobene Horizonte des Phänomens des Lernens als ästhetischer Erfahrung. Konkret möchte ich aus der vorangegangenen Beispielarbeit drei Horizonte festhalten, welche in den Beispielen eindrücklich und nachvollziehbar wurden und die sich über die Lektüren spezifischer zeigten. Diese Dimensionen ästhetischer Lernerfahrungen im Rahmen kartographischer Streifzüge stehen für sich, können aber ineinandergreifen und sich in konkreten Vollzügen überlagern. Das bedeutet, dass diese Dimensionen kein minimaler Kriterienkatalog sind, das gemeinsame Auftreten also keine notwendige Bedingung dafür ist, von ästhetischen Erfahrungen sprechen zu können (vgl. Kapitel 5.3.3). Dem Lesenden dieser Studie sollen die drei Horizonte, neben den Vignetten und den Lektüren, zum einen Orientierungs- als auch Anknüpfungspunkte zur Reflexion eigener Unterrichtserfahrungen bieten. Zum anderen können die Horizonte in geographiedidaktischer Sicht sowohl hinsichtlich der Gestaltung von Unterrichtsumgebungen als auch im konkreten Unterrichtsgeschehen bedeutsam werden. D. h., dass diese Horizonte Aspekte ästhetischer Lernerfahrungen markieren, für die man bei der Didaktisierung, dem Unterrichten und dem gemeinsamen Lernen sensibel sein muss. Oder anders: Es geht darum, diese als »günstige Gelegenheiten« (Meyer-Drawe 2010:9) verstehen zu lernen, die vom Lehrenden und vom Lernenden im Unterrichtsgeschehen zu ergreifen sind. Offenheit – Festschreibung Ästhetische Lernerfahrungen im Geographieunterricht können bei der künstlerischen Kartenarbeit an den Bruchstellen zwischen Projektplanung und unmittelbarer Ortsbegegnung einen Anfang finden. Im Zuge des Projektkurses wurden die zu Beginn formulierten Ziele der Arbeitsgruppen rasch verworfen, etwa wenn an den jeweiligen Orten Dinge auffällig wurden, die dazu anregten, sich diesen zu widmen. Indem ästhetische Lernerfahrungen am bislang Selbstverständlichen rütteln, führen sie nicht zwangsläufig zur Transformation des unthematischen Wissens, sondern sind immer der Gefahr ausgesetzt, als unliebsam und unbequem abgetan zu werden. In diesen Momenten ist es Aufgabe der Lehrkraft, im Dialog über die Sache neue Wege zu eröffnen und die Lernenden zu ermutigen, den sich eröffneten Spuren zu folgen (Vignette 3). Die Offenheit der Unterrichtsumgebung
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und der Lernprozesse müssen dabei sowohl von den Lernenden als auch den Lehrenden ausgehalten werden. Vorschnelle Festschreibung in Form von bspw. Themenvorgaben, theoretischen Hinsichten zur Strukturierung der Raumerkundungen aber auch ausufernde Offenheit, bspw. in Form von (zu) vielen (unstrukturierten) Freiphasen, können dazu führen, dass sich den Widerfahrnissen gegenüber verschlossen wird, oder Affizierendes ausgeschlagen wird, indem es nicht zu Bewusstsein gelangt, oder als unwichtig bzw. unliebsam abgetan wird. Lernen als ästhetische Erfahrung umfasst immer Momente der Verunsicherung, in denen sicher geglaubtes Vorwissen oder gefasste Pläne in Frage gestellt werden und sich Neues den Weg bahnen kann. In den Vignettenlektüren wird dies z. B. auffällig, wenn Bens Vorstellung darüber, was Geographie ist, was sie kann und was sie darf, angesichts des ihm fremd gewordenen Heimatstadtteils auf die Probe gestellt wird (Vignette 3) oder wenn David wie gelähmt wirkt und allein keinen Anfang finden kann, obwohl er schon eine Idee davon hat, was zu tun ist (Vignette 2). Wortlosigkeit – Ausdrucksmöglichkeit Lernen als ästhetische Erfahrung im Geographieunterricht kann sich in Momenten zeigen, in denen Worte fehlen, um das Erlebte, das Gespürte, das Erfahrene auszudrücken (Vignette 4). Das ästhetische Moment der Erfahrung muss als ein nicht direkt sprachlich zu fassender Sinnüberschuss verstanden werden, der aufgrund seiner Flüchtigkeit im Unterrichtsgeschehen schwer in den Blick zu nehmen ist. Sinnliches und Reflexives sind in ästhetischen Lernerfahrungen aufeinander verwiesen. Es ist diese »brüchige Beziehung unserer sinnlichen Erfahrung zur Sprache« (Meyer-Drawe 2010:10), die deutlich werden lässt, inwiefern weitere Ausdrucksformen neben der Sprache dabei helfen können, den Ansprüchen der Dinge zu begegnen und sich zu ihnen in Bezug zu setzen. Die Reflexion über den ästhetischen, künstlerisch-kartographischen Ausdruck ermöglicht es im Geographieunterricht darüber hinaus auch, Erfahrungen über die eigenen Erfahrungen zu machen und eine Sprache für die Erfahrungen zu finden. Solche Momente müssen ausgehalten werden, z. B. wenn eine bestimmte Sache zum aktuellen Zeitpunkt noch keinen Sinn ergibt (Vignette 4). Waldenfels spricht davon, dass man mitunter an die eigenen Grenzen gerät, wenn man sich dem Außeralltäglichen, dem Anspruch der ›Sachen selbst‹, hingibt (Waldenfels 2008:96). Im Arbeitsprozess aller Gruppen zeigte sich, dass in Momenten des Nicht-mehr-weiter-wissens – wie eine Auffälligkeit im Mapping umgesetzt werden kann – die geographiespezifischen Zugangsweisen zu den vor Ort entdeckten Phänomenen den Projektteilnehmern Möglichkeiten eröffneten, sich zu ihren Erlebnissen reflexiv in Beziehung zu setzen. Lebensweltliches Erfahrungswissen und wissenschaftliche Zugangsweisen zu den Phänomenen wurden produktiv miteinander verschränkt, indem sie, wie in
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mehreren Reflexionstexten anklingt, als Erweiterungen eigener Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten im Zuge des Projekts empfunden wurden. Zufall – Bereitschaft Lernen als ästhetische Erfahrung im Geographieunterricht ist nicht entlang vorher definierter Wege anzubahnen. Ästhetische Erfahrungen sind auf das Plötzliche, Unvorhersehbare und Zufällige angewiesen, das sich in der Begegnung mit den Dingen ereignen kann. Insofern sind ästhetische Lernerfahrungen niemals konkret planbar. Zugleich liegt in der prinzipiellen Möglichkeit, sich von der Welt überraschen zu lassen, die didaktische Relevanz ästhetischer Erfahrungen für den Geographieunterricht begründet. In den Lektüren der Vignetten wurde deutlich, inwieweit alltägliche Orte und Räume fremd werden können und zum erneuten Hinsehen anregen. So konnten Birte die Graffiti am ihr bereits bekannten Fritz-KühnPlatz auffällig werden (Vignette 4) oder sich Bea ein Straßenzug in Iserlohn-Mitte völlig neu eröffnen, als ihr die kleinen Tiersilhouetten auf einer ihr wohlbekannten Straße zum ersten Mal auffällig wurden (Vignette 5). Solche beiläufigen und zufälligen Erlebnisse im Rahmen von Geographieunterricht können zu Erfahrungen führen, sofern sie als lohnende Momente ernst genommen werden, über die sich unthematisches Wissen der Reflexion öffnen kann. Hieraus kann auch die Bereitschaft entstehen, sich in zukünftigen Situationen dem Bekannten gegenüber offen zu verhalten und sich empfänglich für die Apelle der Dinge in den unterschiedlichsten Situationen zu halten, kurzum geht es auch um die Schulung der Wahrnehmung. Damit wird der Zufall als Horizont ästhetischer Lernerfahrungen für den Geographieunterricht unmittelbar relevant. Denn versucht man kategorisch den Zufall aus didaktischen Settings zu verbannen, werden auch Erfahrungen verunmöglicht. Wie aus dem Projekt und den Lektüren deutlich wurde, verlangt Lernen als ästhetische Erfahrung den Beteiligten die Bereitschaft ab, sich auf Situationen, Orte und das Bekannte (erneut) einzulassen und sich auf die jeweiligen Momente zu besinnen. Diese Bereitschaft verbindet das tiefe Einlassen auf (alltägliche) Situationen und die ästhetische wie sprachliche Reflexion des Erlebten (Vignette 1). Wie in allen Schülerarbeiten des Projektkurses deutlich wurde, kann im Einlassen auf die Ansprüche der Welt Neues in Erscheinung treten und im Geographieunterricht zur systematischen Auseinandersetzung anregen, die auf den theoretischen Fundus der Geographie rekurriert und damit auch inhaltlich-thematisch an den Bildungsauftrag des Faches anknüpft.
Teil lV: Reflexionen
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Perspektiven für die Kartenarbeit im Geographieunterricht »Lehren heißt nicht übermitteln, es heißt, den ›fruchtbaren Moment‹ vorbereiten, heißt, eine lebendige Bereitschaft wecken, welche im Ringen mit dem Gegenstand den Sinngehalt in sich aufzunehmen strebt.« Copei (1930:101, Herv. i. O.)
Die im Zuge des dritten Teils der Arbeit eröffneten Horizontlinien verstehe ich als methodologische Perspektiven bei der Gestaltung und Durchführung von Geographieunterricht. Sie skizzieren eine offene und zugleich reflexive Haltung der Welt gegenüber, die in einem Geographieunterricht angebahnt werden kann, der ästhetische Lernerfahrungen und damit die ästhetische Bildung als relevante Dimension des Geographieunterrichts und des Bildungsauftrags des Fachs ernst nimmt. In weiterer Folge möchte ich, entlang der zuvor bestimmten Horizontlinien ästhetischer Lernerfahrungen, Überlegungen bzgl. einer Kartenarbeit im Geographieunterricht skizzieren, die meines Erachtens die herausgestellte offene und reflexive Haltung der Schülerinnen und Schüler anzubahnen vermag. Überlegungen zu Offenheit und Festschreibung Die primäre Aufgabe der Lehrkraft verschiebt sich im Rahmen eines Geographieunterrichts, der einen phänomenologischen Lernbegriff wertschätzt, und anerkennt, dass sich Lernen als Erfahrung vollzieht, von der reinen Planung und Gestaltung von Vermittlungssituationen mit vorab definierten inhaltlichen Zielen hin zur Organisation eines Handlungsrahmens, innerhalb dessen sich ästhetische Lernerfahrungen ereignen können und denen im Moment begegnet werden kann. Dies setzt voraus, dass sich die Geographielehrkraft auf die Situationen vor Ort und im Klassenzimmer einlässt, die zum Staunen anregen, die nicht sofort verstanden werden und die sich als sperrig erweisen. Wie sich im Unterrichtsprojekt
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zeigte, war es insbesondere das Beiläufige, das sowohl Schülerinnen und Schüler als auch die am Projekt mitwirkende Lehrerin stutzig machte und von zentraler Bedeutung für das Lernen war. Das Zufällige und Plötzliche in der Auseinandersetzung mit lebensweltlich bedeutsamen Orten und Räumen kann sich in den Fragen der Schülerinnen und Schüler zeigen und bedarf einer dialogischen Thematisierung im Unterricht, in der sich Lernende und Lehrende der Sache verschreiben. D. h., dass es um das selbstständige und das gemeinsame Suchen nach Fragwürdigem und nach Möglichkeiten der Erkundung und der Darstellung geht. Gemeint sind hier Ausdrucksmöglichkeiten, die dazu geeignet sind, die aufgespürten Phänomene angemessen in den künstlerischen Kartographien darzustellen und Erfahrungen hierüber auch der Kommunikation zu öffnen. In solch einem Geographieunterricht machen sich Lehrende und Lernende gemeinsam auf, sich überraschen zu lassen und Neues im Bekannten zu entdecken. Die geographiedidaktische Frage lautet dann nicht mehr, wie man einen bestimmten Ort bzw. Raum angemessen vermitteln kann, sondern auf welche Weise es möglich wird, dass sich die Schülerinnen und Schüler diesen in geographischen Hinsichten erschließen können, die dazu geeignet sind, ihre eigenen Fragen zu beantworten. Damit wird die Vermittlungssituation in gewisser Weise auch selbst zum Forschungsprozess (vgl. Winderlich 2009:173). Der Wissensvorsprung der Lehrperson bezieht sich bei solch einer Kartenarbeit vornehmlich auf die (raum-)theoretischen Zugriffe, die zur Einordnung von auffällig Gewordenem genutzt werden können. Die geographiedidaktische Anforderung an die Lehrkraft liegt somit vor allem darin, das Können und die Bereitschaft zu entwickeln, Phänomenen im Unterricht theoretisch mehrsprachig zu begegnen und sich der Perspektivabhängigkeit der theoretischen Position, von der aus man das jeweils auffällig werdende Phänomen thematisiert, bewusst zu sein. Lehren ist dann weniger die Vermittlung von bereits Gewusstem, als vielmehr das Unterstützen beim Suchen und Finden von Fragen, die sich den Schülerinnen und Schülern an die Gegenstände des Unterrichts stellen, sowie das Aufzeigen von Möglichkeiten des Verstehens, Einordnens und Beantwortens mithilfe fachspezifischer Perspektiven. Den Schülerinnen und Schülern wird bei solch einer Kartenarbeit abverlangt, sich auf Begegnungen mit ihnen bereits bekannten oder auch unbekannten Orten einzulassen, sich offen zu halten und treiben zu lassen und hierüber die Wahrnehmungen zu schärfen. Dabei darf Offenheit nicht mit Ziellosigkeit verwechselt werden. Denn indem es das Ziel ist, Situationen zu schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler sich betreffen lassen können und sich zu diesen Widerfahrnissen mithilfe von geographiespezifischen Hinsichten in Beziehung setzen können, ist die Fachlichkeit der Geographie nach wie vor Kern des Geographieunterrichts.
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Überlegungen zu Wortlosigkeit und Ausdrucksmöglichkeiten Mit Blick auf die Gestaltung der künstlerischen Kartographien zeigte sich im Zuge des Projekts, dass die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler von diesen zum Teil als hinderlich für das Projekt empfunden wurden, bspw. wenn verkündet wurde, dass man nicht gut zeichnen könne und der eigene ästhetische Ausdruck anfänglich jemand anderem überlassen wurde. Damit rückt für einen Geographieunterricht im Modus der ästhetischen Bildung auch das Anbahnen und Üben einer Vielzahl an ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten in den Blick, die sich nicht allein in den konventionellen Darstellungsformen einer klassischen Kartographie erschöpfen. In den Blick rücken neben dem Zeichnen also auch weitere Techniken und (kartographische) Praktiken des Antwortens: Collagen, Drucke, digitale Bildbearbeitung, GIS, geoweb, uvm.1 Im Projekt war in diesem Kontext die Prominenz der Fotografie deutlich erkennbar. An dieser Stelle eröffnet sich eine Anschlussmöglichkeit hinsichtlich der reflexiven Verwendung der Fotografie auf kartographischen Streifzügen über die es sich weiter nachzudenken lohnt.2 Die hier vorgeschlagene Idee einer erfahrungsorientierten Kartenarbeit versteht die vielgestaltigen (auch künstlerischen) Praktiken dabei nicht lediglich als Vorstufen auf dem Weg hin zu richtigen kartographischen Darstellungen, wie dies oftmals im Zuge der Debatte um die Kartenkompetenz der Fall ist (vgl. z. B. Hüttermann 2005, 2009) (vgl. Kapitel 4.2.3). Überlegungen zu Zufall und Bereitschaft Eine Kartenarbeit, welche die Bedeutsamkeit des Zufälligen, Irritierenden und Unverständlichen für Lernen anerkennt, muss als pädagogische Rahmung zur Ermöglichung von Erfahrungen verstanden werden. Gleichzeitig verunmöglicht die Struktur der Erfahrung die sichere Vorhersage, dass sich bestimmte Erfahrungen in bestimmten Momenten ereignen werden bzw. auch, dass bestimmte Ereignisse zu Erfahrungen werden, indem sich das Pathische in die Aufmerksamkeit drängt und nach einer Antwort verlangt. Dieser Umschlagpunkt – von einem Erlebnis hin zu einer Erfahrung – setzt auf Seiten der Lernenden die Bereitschaft voraus, sich offen dafür zu halten, Außerordentliches im Alltäglichen zu entdecken und ist dennoch immer an den Zufall gebunden, in dem etwas überhaupt erst auffällig wird. Dementsprechend muss auch die Lehrkraft den Geographieunterricht mit der Bereitschaft gestalten, dem Plötzlichen Raum zu geben und dies als möglichen
1
Inwieweit all diese Techniken auch der in der vorliegenden Arbeit betonten performativen Dimension der Karte gerecht werden, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden.
2
Diese Anschlussstelle führe ich in Kapitel 10.2 als Forschungsdesiderat aus.
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Lernanfang ernst zu nehmen. In diesem Sinne muss für den hier skizzierten Geographieunterricht gelten, was Sturm (2007:80) für kunstpädagogische Kontexte vorschlägt: »Es könnte darum gehen, Zeiten und Räume herzustellen, in denen sich etwas ereignen kann, oder anders gesagt, in denen das Ereignis willkommen ist […]. Zum Beispiel, wenn man etwas Unvorhergesehenes, etwas, das störend Zusammenhänge durchkreuzt nicht unverzüglich ausschließt, es weg-zu-disziplinieren sucht, sondern damit arbeitet.«
Sturm (2007:81) bezeichnet diesen Modus des Unterrichtens und Forschens als das Arbeiten »mit dem was sich zeigt«. Das von mir entwickelte Konzept kartographischer Streifzüge stellt eine geographiedidaktische Rahmung für die Kartenarbeit im Geographieunterricht zur Verfügung, der Ähnlichkeiten zu diesem Modus aufweist und zugleich die Fachlichkeit der Geographie nicht vernachlässigt, wie sich im Schulprojekt deutlich zeigte. Denn damit Neues im Phänomen entdeckt werden kann bzw. sich das Phänomen in der Wahrnehmung wandelt, braucht es im Geographieunterricht eben auch fachspezifische Hinsichten zur Raumerkundung (vgl. Kapitel 4.2.2 und 4.2.4).
10 Zusammenfassung und Ausblick
Zu Beginn der Arbeit wurde über einen Blick in die Grundlagenwerke der letzten eineinhalb Jahrzehnte zur Geographiedidaktik deutlich, dass die allgegenwärtige Dominanz pädagogisch-psychologischer Thematisierungen und Erklärungsversuche zum Lernen auch innerhalb der Geographiedidaktik den konsensuellen Rahmen für konzeptuelle Überlegungen und empirische Forschungsbemühungen darstellt. Demgegenüber wurde gezeigt, inwieweit innerhalb der erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Debatte das Phänomen des Lernens nach wie vor intensiv aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird. Mit einer phänomenologischen Perspektive, welche Lernen als Erfahrung thematisiert, wurde in der vorliegenden Arbeit eine Zugangsweise zum Lernen gewählt, die sich inzwischen als gängige Alternative zu pädagogisch-psychologischen Konzepten etabliert hat. Als Hauptanliegen der Arbeit wurde dreierlei formuliert: Erstens die lerntheoretische Debatte innerhalb der Geographiedidaktik um eine bislang unterrepräsentierte Perspektive zu erweitern, in welcher Lernen als ästhetische Erfahrung konzeptualisiert wird, zweitens eine erfahrungsorientierte Kartendidaktik zu konzeptualisieren, welche von einem einen phänomenologischen Lernbegriff ausgeht und drittens eine Möglichkeit zur Forschung mit ästhetischen Lernerfahrungen im Rahmen eines Schulprojekts zur künstlerischen Kartographie zu entwickeln. Die Forschungsfrage verschränkt dabei eine pädagogisch-phänomenologische mit einer geographiedidaktischen Perspektive auf das Phänomen des Lernens im Geographieunterricht: Wie zeigt sich Lernen als ästhetische Erfahrung bei der künstlerischen Kartenarbeit und inwieweit lassen sich diese Lernmomente didaktisch inszenieren? Zur Kontextualisierung und Situierung dieser Forschungsanliegen wurde daraufhin die Phänomenologie als Bezugsdisziplin geographischer und geographiedidaktischer Überlegungen systematisch entfaltet. Es zeichnete sich ab, dass Einflüsse der Phänomenologie bereits seit den 1970er Jahren in der angelsächsischen Geographie in der humanistic geography explizit zu finden sind. Seither hielten
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phänomenologische Positionen sowohl in theoretischer als auch forschungsmethodischer Hinsicht vereinzelt Einzug in die Geographie und auch Geographiedidaktik, stellten allerdings nicht den forschungstheoretischen Mainstream dar. Im geographiedidaktischen Kontext lassen sich u. a. einige Arbeiten ausmachen, welche phänomenologische Ideen in aktuelle Forschungsvorhaben integrieren. Das eigene Forschungsanliegen konnte vor diesem Hintergrund als geographiedidaktische Unterrichtsforschung eingeordnet werden, welche einen pädagogisch-phänomenologischen Lernbegriff ins Zentrum der Überlegungen stellt. Als spezifische Perspektive einer phänomenologischen bzw. genealogischen Thematisierung des Lernens wurde in Abgrenzung zu den übrigen Zugangsweisen zum Phänomen – didaktisch, teleologisch, methodologisch und topologisch – der Lernvollzug bestimmt. Über die Darstellung zentraler Entwicklungslinien der phänomenologischen Thematisierung des Lernens im deutschsprachigen Raum konnte mit der Lerntheorie von Käte Meyer-Drawe das bedeutendste Theorieangebot differenziert in fünf Facetten entfaltet werden. In dieser Perspektive wird Lernen als Umlernen verstanden und findet seinen Anfang in durchkreuzten Erwartungen. Jedes Lernen ist damit im strengen Sinne eine Erfahrung und vollzieht sich im Wechselspiel von Widerfahrnis und Antwort. Diese Struktureigentümlichkeit der Erfahrung konnte mit Waldenfels weiter ausdifferenziert werden. Konkret wurden die Unplanbarkeit der Erfahrung, die Unsichtbarkeit der Erfahrung und die Verschränkung von Erfahrung und Ausdruck thematisiert. Im Zuge dieser Aufarbeitung konnten für die empirische Forschung mit (Lern-)Erfahrungen die Einsichten gewonnen werden, dass die Gestalt der Antwort bei Waldenfels nicht auf die Sprache beschränkt ist und dass sich Lernen nie an sich, sondern stets als etwas zeigt. Für die vorliegende Arbeit wurde die ästhetische Dimension der Erfahrung ins Zentrum der Überlegungen gestellt. Es wurde betont, dass jede Erfahrung ästhetische Qualität besitzt, wodurch zum einen auf das Prä-reflexive Moment der Erfahrung und zum anderen auf nicht-sprachliche Formen des Antwortens auf Widerfahrnisse für den empirischen Teil dieser Arbeit fokussiert wurde. Vor diesem Hintergrund wurde es möglich, Überlegungen hinsichtlich der Konzeptualisierung einer geographiedidaktischen Unterrichtsumgebung zum Themenfeld Karte, welche pädagogisch-phänomenologisch grundiert ist und einen genealogischen Lernbegriff ins Zentrum stellt, zu entwickeln. Über die Skizzierung des aktuellen Diskurses zur Karte innerhalb der Geographie-Didaktik wurde deutlich, wie vielgestaltig die Thematisierung des Mediums ist. Vereinfacht lässt sich eine konventionelle und eine kritische Kartographie unterscheiden. Für die vorliegende Arbeit rückte die Karte in kritischer, post-repräsentationaler Perspektive in ihrer Prozessualität in den Fokus. Damit ist gemeint, dass eine erfahrungsorientierte Kartendidaktik für den Geographieunterricht entworfen wurde,
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welche beide Pole der Erfahrung über die interdependenten Modi der Ortsbegegnung und der Raumerkundung konzeptuell berücksichtigt und die Ermöglichung, Thematisierung und Reflexion von ästhetischen Lernerfahrungen im Rahmen des Geographieunterrichts im Blick hat: Die kartographischen Streifzüge. Die beschriebenen Modi wurden dabei eng an einem genealogischen Lernbegriff und dem fachlichen Anspruch der Geographie entwickelt. Es war dabei das Anliegen, die Verschränkung von ästhetisch-affektiver und szientistisch-reflektierter Weltbeziehung für die Kartenarbeit im Geographieunterricht zu konzeptualisieren. Um im nächsten Schritt dem Vollzug ästhetischer Erfahrungen in der kartographischen Praxis begegnen zu können, diesen also der wissenschaftlichen Forschung zugänglich zu machen, wurde bezugnehmend auf den in den vorangegangenen Kapiteln formulierten Ansprüchen an den empirischen Teil der Arbeit, methodologische Überlegungen der (pädagogischen) Phänomenologie entfaltet. Dies war unter anderem deshalb von Bedeutung für den Gang der Untersuchung, als dass sich der forschungslogische wie -methodische Horizont der Phänomenologie als äußerst vielgestaltig erweist. Phänomenologie betreiben zu wollen, impliziert insofern nicht eine fest definierte Vorgehensweise. Daher wurde in pädagogischphänomenologischer Tradition das Beispiel-geben und Beispiel-verstehen, die »Exemplifizierung« (Lippitz 1980), als methodologischer Hintergrund der vorliegenden Untersuchung bestimmt. Der Unsichtbarkeit ästhetischer Lernerfahrungen wurde damit insofern begegnet, als dass über die phänomenologische Beschreibung konkreter Akte das Phänomen zur Selbstdarstellung gebracht werden kann. Methodisch wurde sich an der Innsbrucker Vignettenforschung orientiert, welche Beispiele gelebter Erfahrung über Vignetten sprachlich zur Selbstdarstellung bringt. Das Vorgehen dieses Forschungsstils wurde an mehreren Stellen adaptiert, um dem eigenen Forschungsanliegen und auch dem Anspruch des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden. Erstens wurden die Kontexte der Vignette, der Gang des Schulprojekts, die Unterrichtsprodukte usw. mit in den Forschungsprozess aufgenommen, da diese Arbeit ein didaktisch-genealogisches Anliegen verfolgt. Zweitens wurden die Aufbereitungsschritte des Materials im Forschungsprozess um »Merkmale einer gelungenen phänomenologischen Beschreibung« (Polkinghorne 1984) erweitert, um die Nachvollziehbarkeit der Vignettenerstellung zu erhöhen. Drittens wurden Fokussierungen bei der Lektüre der Vignetten ausgewiesen, welche den Auswertungsprozess dahingehend erweitern, dass die den Vignetten immanenten Lernmomente vor dem Hintergrund der Kontexte der Vignette und des Werdens der Mappings gelesen werden. Dieser Entfaltung folgte die reflexive Einordnung der Arbeit in das Feld der phänomenologischen Forschung als phänomenologische Studie, welche Beispiele gelebter Erfahrung im
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Sinne des pointing to (Finlay 2009) erhellen möchte, um Horizontlinien der »Familie« (Wittgenstein 1945/2003) ästhetischer Lernerfahrungen über Beispiele zur Selbstdarstellung zu bringen, um diese dem intersubjektiven bzw. dialogischen Nachvollzug zu öffnen. Die methodologische Einordnung mündete in der konkreten Methodik der Untersuchung und der Formulierung eines Forschungsvorgehens zur Analyse ästhetischer Lernerfahrungen im Geographieunterricht, welche sich über die eigene Arbeit hinaus als Analyseinstrumentarium bewähren könnte. Die Reflexion des Vorgehens hinsichtlich allgemeiner Gütekriterien qualitativer Forschung und der Resonanz als methodenspezifisches Kriterium der Arbeit mit Vignetten, erlaubte die Anbindung der Studie an den Modus der qualitativen Sozialforschung und wahrte gleichzeitig die Verwicklung des Anliegens zwischen ästhetischer und wissenschaftlicher Forschungshaltung. Das konkrete Schulprojekt, welches vor dem Hintergrund des Konzepts kartographischer Streifzüge als Mapping-Projekt im Geographieunterricht am Märkischen Gymnasium Iserlohn realisiert wurde, war im anschließenden Teil im Fokus. Die Beschreibungen und Exemplifizierungen ästhetischer Lernerfahrungen über insgesamt fünf Vignetten, stellen die Ergebniszusammenstellung der Untersuchung dar und erlauben die Beantwortung der ersten Teilfrage der Arbeit. Lernen als ästhetische Erfahrung zeigte sich im geographischen Projektkurs als Entdecken, als Anfangen, als Vergewissern, als Verstummen oder als Innehalten. In der Reduktion der Beispiele, der Zusammenschau, ließen sich drei Horizontlinien der Familie ästhetischer Lernerfahrungen bestimmen, zwischen denen sich ästhetische Lernerfahrungen vollziehen können: Offenheit und Festschreibung, Wortlosigkeit und Ausdrucksmöglichkeit, Zufall und Bereitschaft. Diese Horizontlinien wurden daraufhin dazu genutzt, die Kartenarbeit in einem Geographieunterricht zu skizzieren, der für ästhetische Lernerfahrungen sensibel ist und Schülerinnen und Schüler für diese zu sensibilisieren vermag. Als zentrale Einsichten können festgehalten werden: (1) Der Geographieunterricht sollte als Handlungsrahmen verstanden werden, innerhalb dessen sich ästhetische Lernerfahrungen ereignen können und denen im Moment zu begegnen ist. (2) Der Geographieunterricht muss Gelegenheiten dazu bieten, eigene Fragestellungen in Begegnung mit Orten aufspüren zu lernen und diesen in künstlerischen Kartographien nachzugehen, um Antworten zu finden und gemeinsam über diese zu reflektieren. (3) Die Fachlichkeit der Geographie wird aufgrund der Unmöglichkeit, Erfahrungen bewusst zu veranlassen, nicht aus dem Unterricht ausgeklammert, sondern dient als Kompass im Übergang des Nicht-Mehr-Greifens bisherigen Wissens und des Noch-Nicht-Zur-Verfügung-Habens neuer Sichtweisen auf den Gegenstand. In Bezug auf die zweite Teilfrage der Untersuchung lässt sich somit festhalten, dass der konzeptuelle Hintergrund der kartographischen Streifzüge mit Blick auf
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das durchgeführte Schulprojekt eine lohnende Möglichkeit ist, ästhetische Lernerfahrungen im Geographieunterricht möglich(er) zu machen. Denn Kartographische Streifzüge verschränken eine Reihe methodologischer Perspektiven für den Geographieunterricht, die auf einen phänomenologischen Lernbegriff und Anliegen der Kritischen Kartographie rekurrieren: • das Gewahr-Werden auf Sinneseindrücke; • das Aufmerksam-Werden auf Fremdes an bekannten Orten; • das reflexive In-Bezug-Setzen zu Widerfahrnissen über kartographische, wie
ästhetische und sprachliche Ausdrucksweisen; • die dialogische Aushandlung zwischen Sache, Lernenden und Lehrenden; • das Finden und Formulieren von Fragen seitens der Schülerinnen und Schüler; • die systematischere Bearbeitung des auffällig bzw. fremd Gewordenen mithilfe
raumtheoretischer Zugriffe und dessen Darstellung in künstlerischen Kartographien; • der Austausch und die gemeinsame Reflexion über Inhalte und Darstellungsweisen der Kartenwerke. Abschließend werden einige Implikationen der vorliegenden Arbeit für die geographiedidaktische Forschung und Lehre formuliert (Kapitel 10.1), Chancen und Grenzen der Untersuchung aufgezeigt, sowie einige Forschungsdesiderate festgehalten (Kapitel 10.2).
Implikationen für Forschung und Lehre Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass ein phänomenologischer Zugang zum Phänomen des Lernens für den Geographieunterricht aus didaktischer Perspektive äußerst fruchtbar ist. Die Fokussierung auf die pädagogische Praxis und die Erfahrungsvollzüge, die sich im Unterricht ereignen, erlauben es, an inkrementellen Momenten des Lernens teilzuhaben, sie nachzuvollziehen und sich von ihnen betreffen zu lassen. Sie erlauben es, die eigene Unterrichtspraxis in Erinnerung zu rufen und die eigenen Erfahrungen zum Thema zu machen. Gleichzeitig erwies sich diese Zugangsweise als inspirierend für das Nachdenken über die Kartenarbeit im Geographieunterricht, sodass zusammenfassend gesagt werden kann, dass eine phänomenologische Perspektive die geographiedidaktische Konzeptbildung als auch die Unterrichtsforschung um bislang vernachlässigte Facetten der Gestaltung und Durchführung von Forschung und Unterricht erweitern kann, über die es
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sich nachzudenken lohnt. Das im Zuge dieser Arbeit entstandene Schema zur phänomenologischen Analyse ästhetischer Lernerfahrungen bei der Kartenarbeit (vgl. Kapitel 6.2) kann weitere didaktisch-genealogische Studien in der Geographiedidaktik strukturieren und ist zugleich offen genug, um dies an den jeweils fokussierten Gegenstand zu adaptieren. In Bezug auf die Ausbildung zukünftiger Geographielehrkräfte möchte ich nachfolgend drei Vorschläge machen, wie die Integration einer pädagogisch-phänomenologischen Zugangsweise zum Lernen im Allgemeinen und einer erfahrungsorientierten Kartendidaktik im Speziellen meines Erachtens gelingen kann. Beispiel-Geben und Beispiel-Verstehen im Studium ermöglichen Für die geographiedidaktische Ausbildung angehender Lehrkräfte wäre es grundsätzlich anzudenken, Momente der Sensibilisierung für die Relevanz von Erfahrungen für Lernen zu schaffen. In Innsbruck werden seit einiger Zeit Vignetten, wie sie die Innsbrucker Gruppe entwirft, in der erziehungswissenschaftlichen Lehrerbildung eingesetzt und erprobt. Soweit erweisen sich diese als äußerst fruchtbar für das Nachdenken über Lernen, Unterricht und Erziehung (vgl. Schratz et al. 2012, Peterlini 2016). Der Einbezug pädagogisch-phänomenologischer Vignetten wäre auch innerhalb der geographiedidaktischen Lehre denkbar, sofern ein Fundus an Vignetten aus dem Geographieunterricht entwickelt und für die Lehre zur Verfügung gestellt würde bzw. das Schreiben von Vignetten und das anschließende gemeinsame Reflektieren über diese mit zum Seminarinhalt gemacht wird, bspw. während des Praxissemesters oder im Rahmen von Schulpraktika während des Lehramtsstudiums. Neben poetisch verdichteten Lernerfahrungen wären auch weitere Darstellungsweisen von Beispielen gelebter Erfahrung hierzu grundsätzlich einsetzbar, bspw. Erlebnisberichte, Schülerarbeiten, Videoausschnitte (vgl. van Manen 1990). Gemein ist all diesen Vorgehensweisen, die geographiedidaktische Ausbildung angehender Lehrkräfte um Gelegenheiten des Nachvollzugs von Lernerfahrungen über Beispiele zu erweitern.1 Damit verbunden ist das Anliegen, die Studierenden für Erscheinungsweisen des Phänomens des Lernens zu sensibilisieren und zugleich eine Perspektive auf Unterricht zu etablieren, welche nicht lediglich auf die Konzeptualisierung von lerntheoretisch optimierten Unterrichtsumgebungen, den Aufbau von Kompetenzen oder die Vermittlung von abprüfbaren Inhalten fokussiert, sondern den Unterricht vorrangig als Beziehungsgeschehen zwischen Lernenden, Lehrenden und der Sache im Blick behält.
1
Überdies könnten auch die in den Beispielen zur Darstellung gelangenden Lehrerfahrungen in den Blick geraten und nachvollzogen werden.
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Für die Performativität der Karte sensibilisieren Es erscheint überdies als unabdingbar, die geographiedidaktische Perspektive auf die Kartenarbeit im Geographieunterricht über die zurzeit als Kritische Kartographie häufig verfolgte dekonstruktivistische Zugangsweise hinaus zu erweitern und die performative Dimension der Karte, die bereits Teil fachwissenschaftlicher kritischer Kartographien ist, auch innerhalb der geographiedidaktischen Ausbildung stärker zu verfolgen. Das im Zuge dieser Arbeit entwickelte Konzept Kartographischer Streifzüge kann diesbezüglich als Orientierungsrahmen zur Gestaltung von Kartenarbeit im Geographieunterricht fungieren. Diese Rahmung gilt es methodisch weiter auszudifferenzieren, ohne dabei eine der beiden Perspektiven der Streifzüge zu vernachlässigen. Neben ein Verständnis der Wichtigkeit von Raumaneignungsprozessen – wie es momentan in der kritischen Geographie und der Kritischen Kartographie sehr präsent ist – muss ein Verständnis der Wichtigkeit der Ortsbegegnung für Lernerfahrungen treten, welche sich als offener Prozess entlang einer methodologischen Zielstellung organisiert und die für Lernen von unmittelbarer Bedeutung ist. Diesem Argument folgend, müssten angehende Lehrkräfte im Rahmen der universitären Ausbildung auch für die performative bzw. transformative Kraft des kartographischen Ausdrucks als Teil von (ästhetischen) Lernerfahrungen sensibilisiert werden. Es wäre sinnvoll, Möglichkeiten der kreativen Auseinandersetzung mit dem Zufälligen und Plötzlichen mit den Studierenden zu erarbeiten und zu erproben und ihnen hierüber die Möglichkeiten zu bieten, Orten zu begegnen und Räume zu erkunden, um dies perspektivisch auch Schülerinnen und Schülern ermöglichen zu können. Die Darstellungsformen der konventionellen Kartographie würden hierüber im Studium um kreative und reflexive Ausdrucksmöglichkeiten erweitert werden und deren Bedeutsamkeit für die Erschließung von Welt bereits im Studium selbst erfahren werden. Theoretische Mehrsprachigkeit anbahnen In Bezug auf die Reflexionsmodi zur Perspektivierung der Raumerkundungen muss festgehalten werden, dass die Geographiedidaktik im Studium stärker als Ort des Nachdenkens über die Geographie in Erscheinung treten sollte. Konkret bedeutet dies, dass sich angehende Geographielehrerinnen und -lehrer auch darin üben, Phänomenen in unterschiedlichen theoretischen Hinsichten begegnen zu können und die jeweiligen Perspektiven in ihren Möglichkeiten und Grenzen verstehen zu lernen. Diese theoretische Mehrsprachigkeit anzubahnen, muss Ziel einer geographiedidaktischen Ausbildung sein, die es im Blick hat, Lehrkräften zu ermöglichen, Fragestellungen, die sich Schülerinnen und Schülern an für sie lebensweltlich bedeutsame Orte stellen, reflexiv im Unterrichtsgeschehen aufgrei-
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fen und sie bei der Beantwortung ihrer Fragen unterstützen zu können, kurz: Erfahrungswissen und wissenschaftliches Wissen im Unterrichtsgeschehen aufeinander beziehen zu können.
Reflexion der Untersuchung und forschungsrelevante Leerstellen Wenngleich im methodologischen Teil der Arbeit darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es zum phänomenologischen Forschungsstil dazugehört, anzuerkennen, dass nicht sämtliche, sich im Projekt ereignenden Erfahrungen, thematisiert werden können, soll dennoch angemerkt werden, dass nur ein kleiner Teil des Projekts in dieser Studie zur Darstellung gelangen konnte. Nachfolgend sollen einige Forschungsdesiderate aufgezeigt werden, die sich im Laufe der Untersuchung ergaben, um mögliche Anschlussforschungen aufzuzeigen. Die in der vorliegenden Untersuchung bewusst ausgelassene Dokumentenanalyse der Schülerinnen- und Schülerarbeiten könnte in weiteren Arbeiten auf die Erscheinungsweisen ästhetischer Lernerfahrungen systematisch untersucht werden. Konkret wurde im Projektverlauf der fotographische Ausdruck in jeder der vier Gruppen bedeutsam. Auch wenn dies mehrere Gründe haben kann, bleibt festzuhalten, dass eine systematischere Analyse der fotographischen Darstellungsweisen u. U. Aufschluss darüber geben könnte, inwieweit die Darstellung räumlicher Eindrücke im Foto Spuren ästhetischer Erfahrungen reflektiert. Diesbezüglich könnte die »Phänomenographie« (u. a. Hasse 2015a) theoretische Anschlussmöglichkeiten bereithalten. Hasse (vgl. 2015a) versteht das Foto als geeignetes Medium der phänomenographischen Präzisierung von Eindrücken, welche dem Wort einen visuellen Eindruck beiseite stellen und diese um einen ästhetischen Eindruck erweitern. Denn in phänomenologischer Hinsicht »bewährt sich [das Sichtbare] in der Fotografie als Medium der Kommunikation im engeren visuellen Sinne gar nicht Sichtbaren« (Hasse 2015a:127). D. h., dass das Foto leiblich Spürbares zur Anschauung bringt, ohne es schlicht abzubilden (weil es nicht abzubilden ist). Die Fotografie kann somit als Möglichkeit verstanden werden, die es Schülerinnen und Schülern erlaubt, Affektives, vor Ort gespürtes dem Nachvollzug zu öffnen und Nicht-Sagbares um fotographische Eindrücke zu ergänzen. Damit ist denkbar, dass sich über die phänomenographische Reflexion Möglichkeiten ergeben, die Wahl des Fotos als Medium der Darstellung auf Kartographischen Streifzügen aufzuarbeiten. Konkret ließe sich z. B. danach fragen, inwieweit sich den Schülerinnen und Schülern über die phänomenographische Darstellungsform Möglichkeiten der Erschließung räumlicher Eindrücke eröffnen, die in anderen
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Darstellungsweisen unberücksichtigt blieben. Mit Blick auf die Projektmappen wäre es auch denkbar, die Wechsel der Darstellungsmodalitäten systematischer zu untersuchen und in Bezug auf die Bedeutsamkeit für ästhetische Lernerfahrungen zu reflektieren (vgl. Sabisch 2007). Weitere phänomenologische Unterrichtsforschungen im Geographieunterricht wären nötig, um das Phänomen ästhetischer Lernerfahrungen in unterschiedlichen Vollzügen zu erhellen. Es ließe sich z. B. danach fragen, wie sich Lernen als ästhetische Erfahrung im Geographieunterricht in Vollzügen bzw. Akten noch zeigt. Die im Zuge der vorliegenden Studie exemplifizierten Erscheinungsweisen könnten ebenfalls in anschließenden Arbeiten weiter verfolgt und ausdifferenziert werden. Es bleibt abschließend zu sagen, dass sich die in der vorliegenden Arbeit verfolgte didaktisch-genealogische Zugangsweise zum Lernen als äußerst fruchtbar für das Nachdenken über den Geographieunterricht erwiesen hat – sowohl in Bezug auf die Gestaltung und Durchführung von Unterricht als auch in Bezug auf die Forschung zu Lernprozessen im Geographieunterricht. Es wäre wünschenswert, würden weitere Arbeiten in dieser Hinsicht innerhalb der Geographiedidaktik entstehen und den aktuell vorherrschenden einseitig verfolgten lerntheoretischen Diskurs wieder stärker für die pädagogische Praxis und die vorwissenschaftliche Erfahrung öffnen – nicht als Vorstufe des richtigen, wissenschaftlichen Nachdenkens über Unterricht, sondern als diejenige Erfahrungsebene von der aus jegliche Theoriebildung überhaupt erst stattfinden kann.
Literatur
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Kreativpolitik Über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen 2016, 388 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3405-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3405-5
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