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German Pages [443] Year 2017
Manuel Stetter
Die Predigt als Praxis der Veränderung Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 92
Manuel Stetter
Die Predigt als Praxis der Veränderung Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 5 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-1242 ISBN 978-3-666-62443-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt
Läßt sich, was man einmal in Worte gefaßt hat, weiterleben wie bisher? Oder ist die stille Beschäftigung mit Worten die wirkungsvollste Art, das Leben zu verändern – wirkungsvoller als die lauteste Explosion? Pascal Mercier, Der Klavierstimmer
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil A: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Annäherungen: Zur transformativen Dimension der Religion . . 1.1 Henning Luther über den Weltbezug religiöser Subjektivität 1.2 Paul Ricœur über das Verstehen religiöser Texte . . . . . . . 1.3 Bruno Latour über die Wirkung religiöser Rede . . . . . . . 1.4 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Bestätigung und Veränderung. Zum Begriff der Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Überschreitung und Rekurs. Zur Struktur der Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Selbstdeutung und Selbstentwurf. Zum Gegenstand der Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Sondierungen: Zur transformativen Dimension der Predigt . . . 2.1 Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen rhetorisch-kommunikationswissenschaftlicher Zugänge innerhalb der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen ästhetisch-rezeptionsästhetischer Zugänge innerhalb der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen sprechakttheoretisch-performativer Zugänge innerhalb der Homiletik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Strukturierungen: Zur Konzeption der Studie . . . . . . . . . . 3.1 Fragestellung und Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Methodik und Aufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Teil B: Praktiken der Kritik. Kritiktheoretische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kritische Praxis und Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Michael Walzers Konzeption kritischer Praxis . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Dialektik von Immanenz und Transzendenz . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Immanenzaspekt der critical force . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Der Transzendenzsaspekt der critical force . . . . . . . . . . 2.1.3 Die dialektische Struktur der critical force . . . . . . . . . . 2.2 Spezifikation des Immanenzaspekts. Zur Begründung, Bedeutung und Funktion der rekursiven Dynamik transformativer Praxis . . 2.2.1 Das Argument der Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das Argument der Dichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Das Argument der Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Spezifikation des Transzendenzaspekts. Zur Begründung, Bedeutung und Funktion der transgressiven Dynamik transformativer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Das Argument der Inkohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das Argument der Interpretativität . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Zwei Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Resümee: Kritische Praxis als komplexe Spiegelungskunst . . . . 3 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil C: Praktiken der Kunst. Ästhetische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ästhetische Praxis und Transformation . . . . . . . . . . . . . . . 2 Victor Turners Konzept der Liminalität . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Typische Dimensionen des Rituellen . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Transformative Praxis im Zeichen der Liminalität . . . . . . . 2.2.1 Außeralltäglichkeit und Transformativität . . . . . . . . 2.2.2 Reflexivität und Ludizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Resümee: Auf dem Weg zu einer ästhetischen Konzeption der Transformativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Erika Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung . . . . . 3.1 Theoretische Hintergründe des Performativitätsbegriffs . . . . 3.2 Transformative Praxis im Zeichen der Performativität . . . . . 3.2.1 Mediale und materiale Bedingungen . . . . . . . . . . . 3.2.2 Unvorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Transformativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Resümee: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung . . .
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Inhalt
4 Gottesdienst und Predigt im Horizont von Fischer-Lichtes Performativitätskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Perspektiven der Fiktionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Zwei Ebenen fiktionaler Kommunikation . . . . . . . . 5.1.1 Fiktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Fiktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Charakteristische Rezeptionspotenziale fiktionaler Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Vergegenwärtigung von Daseinsmöglichkeiten . . 5.2.2 Exemplifikation von Erfahrungsschemata . . . . . 5.2.3 Gewährung von Probehandeln . . . . . . . . . . . 5.3 Resümee: Zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil D: Praktiken der Persuasion. Rhetorische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Persuasive Praxis und Transformation . . . . . . . . . . . . . . 2 Verständnistypen der Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rhetorik als Stillehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rhetorik als Theorie persuasiver Praxis nach Josef Kopperschmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Intentionalität und Transformativität . . . . . . . . . . 2.2.2 Modale Strukturen persuasiver Praxis . . . . . . . . . . 2.2.3 Resümee: Überzeugen versus Überreden . . . . . . . . 2.3 Rhetorik als Theorie persuasiver Praxis nach Joachim Knape 2.3.1 Oratorzentriertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Transformativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Modale Strukturen persuasiver Praxis . . . . . . . . . . 3 Vertiefungen des Persuasionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grade der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Intentionalität der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Grundprinzip der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ethik der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Aneignungstauglichkeit als Kriterium transformativer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Aneignung als rational-emotionaler Prozess . . . . . . 3.4.3 Aneignung als rekursionsbasierter Prozess . . . . . . . 3.4.4 Die Predigt zwischen Wirkungsinteresse und Autonomieanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Teil F: Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Leithorizont: Die Predigt als Reflexionspraxis . . . . . . . . . . . . .
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4 Ausgewählte Prozeduren der Persuasion . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Anfänge der rezenten Argumentationsforschung . . . . . 4.1.2 Basisanforderungen an überzeugungskräftige Argumente 4.1.3 Transformative Potenziale der Argumentation . . . . . . 4.1.4 Resümee: Analogische Argumentation als Beispiel . . . . 4.2 Reframing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Rahmen als erfahrungsgenerierende Perspektiven . . . . 4.2.2 Metaphern als Rahmungsmedien . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Rahmung und Persuasion . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil E: Dynamiken der Diversität. Soziokulturelle Kontextualisierungen der transformativen Dimension der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . 1 Vielfalt und Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Religionssoziologische Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Drei Haupttheoreme und ihr Verhältnis zur Pluralitätsdiagnose 2.1.1 Pluralität im Rahmen des Säkularisierungstheorems . . . . 2.1.2 Pluralität im Rahmen des Individualisierungstheorems . . 2.1.3 Pluralität im Rahmen des Markttheorems . . . . . . . . . 2.1.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Formen und Effekte der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Differenzierungen im Blick auf den Begriff der Pluralität . 2.2.2 Differenzierungen im Blick auf die Ebenen der Pluralität . 2.2.3 Differenzierungen im Blick auf die Effekte der Pluralität . 2.2.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Charles Taylors Phänomenologie moralisch-spiritueller Selbsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Terminologische Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Individualisierung und Pluralisierung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Effekte der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Ausgewählte empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ebenen der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Effekte der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Anschlussreflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Problemaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zum strukturellen Problemaspekt: Die Dialektik von Transgression und Rekursion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zum begrifflichen Problemaspekt: Jenseits der Sensationen der Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zum technischen Problemaspekt: Die Predigt als Integrationstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zum konditionalen Problemaspekt: Die Signifikanz des Predigtsubjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zum modalen Problemaspekt: Die Intentionalität der Predigt . 2.6 Zum ethischen Problemaspekt: Das Kriterium der Aneignungstauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Zum kontextuellen Problemaspekt: Die Predigt als Teil einer dynamischen Kultur moralisch-spiritueller Selbstverständigung 2.8 Zum konzeptionellen Problemaspekt: Die Predigt als rhetorischer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Schluss: Die Predigt als Aneignungspraxis . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 2015 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen und 2017 mit dem Promotionspreis ausgezeichnet. Auf dem Weg ihrer Entstehung haben mich viele Menschen begleitet. Dafür bin ich sehr dankbar. Zunächst und zumeist danke ich Prof. Dr. Birgit Weyel. Von der ersten vagen Idee bis zur Fertigstellung hat sie meine Arbeit unermüdlich unterstützt. Für die vielen ermutigenden Worte, sachkundigen Hinweise und das Glück, wissenschaftliches Arbeiten als Vollzug von Freiheit erleben zu dürfen, danke ich ihr von Herzen. Ich kann nicht zurückgeben, was ich durch die Möglichkeit, an ihrem Lehrstuhl arbeiten zu dürfen, erhalten habe. Für die Erstellung des Zweitgutachtens und das große Interesse an meiner Arbeit danke ich herzlich Prof. Dr. Gerald Kretzschmar. Dass ich Teile der Untersuchung mit Prof. Dr. Ursula Roth intensiv besprechen durfte und Prof. Dr. Dietmar Till mir bei manch rhetorikbezogener Frage aufhalf, war mir ein großer Gewinn. Ich danke beiden von Herzen. Mein Dank gilt zudem Prof. Dr. Peter Zimmerling, der einst vielleicht als erster in den Voten eines unbedarften Studenten ein praktisch-theologisch brauchbares Denken herauszuhören glaubte. Im Promotionsverbund Heilige Texte. Sakralisierung der Literatur und Literarisierung der Religion durfte ich meine homiletischen Erwägungen im Horizont literatur- und kulturwissenschaftlicher Überlegungen diskutieren und erweitern. Prof. Dr. Klaus Antoni, Prof. Dr. Matthias Bauer, Prof. Dr. Jan Stievermann und Prof. Dr. Birgit Weyel danke ich sehr für die Aufnahme in den Verbund. Vielfältige Impulse verdanke ich meinen Mitdoktorandinnen und Mitdoktoranden und allen anderen, die an den Sozietäten von Prof. Dr. Birgit Weyel teilgenommen haben. Von den Projektbesprechungen und inhaltlichen Diskussionen habe ich sehr profitiert. Voller Dank blicke ich auch zurück auf meine Zeit in der Sozietät von Prof. Dr. Christof Landmesser. Hier wurde nicht nur mein Blick auf die Frage der Hermeneutik, sondern überhaupt meine Sicht auf Welt nachhaltig geprägt. Ohne die Zeit damals wäre die Arbeit heute eine andere.
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Vorwort
Wertvoll war mir der regelmäßige Austausch mit meinen Studienfreunden Dr. Frank Dettinger und Dr. Jeremias Gollnau. Sie halfen meinem Denken auf die Sprünge – genauso wie die vielen Personen, mit denen ich immer wieder über Themen der Arbeit im Gespräch sein durfte. Namentlich nennen möchte ich: Dr. Johannes Beck, Dr. Claudia Gruhn, Dr. Katharina Krause, Friederike Portenhauser sowie im Besonderen PD Dr. Kristin Merle. Für die gemeinsame Zeit am Lehrstuhl und den fachlichen wie freundschaftlichen Austausch danke ich ihr von Herzen. Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, Prof. Dr. Franz Karl Praßl und Prof. Dr. Anne M. Steinmeier sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie. Namentlich Dr. Bernhard Kirchmeier gilt mein Dank für die ausgezeichnete und freundliche Betreuung der Publikation. Finanziell unterstützt wird die Veröffentlichung durch die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, die Evangelische Kirche in Württemberg sowie die Calwer VerlagStiftung. Herzlichen Dank dafür! In Hinblick auf das Korrekturlesen war mir Dr. Stephanie Schmitt eine unentbehrliche Hilfe. Zuletzt gilt mein Dank meiner Familie: Zuallererst meiner Frau, Rebekka Stetter, für ihre Fähigkeit, so leidenschaftlich mit anderen mitfiebern zu können, ihre Energie, gerade wo sie mir abhanden kam, vor allem aber ihre Klugheit in den vielen Gesprächen über die Arbeit, die Welt und das Leben. Sie ist mir meine liebste Kritikerin! Sodann meinen Eltern, Edeltraud und Rudolf Stetter, auf deren Unterstützung ich überall und immer zählen darf. Ohne sie hätte ich den Weg der Theologie nicht betreten. Ihnen widme ich dieses Buch. Stuttgart, im August 2017
Dr. Manuel Stetter
Teil A: Einführung
Predigen verändert Welt. In einem elementaren Sinne wird man dieser Aussage ohne größere Vorbehalte zustimmen können. Wie jedes Handeln fügt auch ein Predigtakt der Summe all dessen, was geschieht, ein neues Ereignis hinzu; mit ihm nimmt sich das Gefüge der Welt anders aus. Ob durch ihn auch die Sicht auf Welt eine Erweiterung erfährt, ist ungleich fraglicher. Wir erleben es täglich: Nicht jedes Handeln zeitigt Wirkungen, die einen Unterschied in unserem Denken, Fühlen oder Wollen machen; nicht mit jedem Gegenstand machen wir eine Erfahrung im anspruchsvollen Sinne des Wortes.1 Folglich wird man auch im Blick auf die Predigt zögern, sie ohne Weiteres als einen solchen Gegenstand anzusprechen. Bezogen auf das Subjekt und seine affektiv bestimmte und praktisch virulente Sicht auf Welt besitzt ihre transformative Wirksamkeit lediglich den Status einer Möglichkeit. In der Geschichte des homiletischen Nachdenkens nimmt diese Möglichkeit einen prominenten Platz ein. Seit die Reformatoren die Kanzelrede in das Zentrum der kirchlichen Praxisvollzüge rückten, womit sich bei aller Betonung der Unverfügbarkeit glaubensstiftender Verkündigung ein massives Vertrauen in die Kraft sprachlicher Unterredung verband, ist ihre transformative Wirksamkeit bis in die gegenwärtigen Reflexionszusammenhänge hinein ein Moment der homiletischen Selbstverständigung geblieben.2 Dass die Predigt als „counter
1 Zu einem solch gehaltvollen Verständnis von Erfahrung vgl. prominent etwa Gadamer, Wahrheit, 329–344. Für Hans-Georg Gadamer zeigt sich die eigentliche Struktur von Erfahrung in der „Erfahrung, die man ‚macht‘“; als solche ist sie von den „Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen“, zu unterscheiden und impliziert insofern ein transformatives Moment (vgl. a. a. O., 335f). Vgl. dazu ausführlicher C.1. 2 Zur Predigt im Kontext der Reformation vgl. einführend Conrad/Weeber (Hg.), Predigtlehre, 39–80; Hermelink, Predigt; Müller, Homiletik (1996), 45–75 sowie dezidiert zur transformativen Dimension des reformatorischen Predigtverständnisses insbesondere aus rechtfertigungstheologischer Perspektive Bieler/Gutmann, Rechtfertigung, 16–24; Lütze, Absicht, 22ff; Rolf, Studie, 376–392. Unter Verweis auf die reformatorische Auszeichnung der viva vox bezeichnet Philipp Stoellger das Christentum – wohl etwas zu pointiert – als die „rhetorische
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Teil A: Einführung
speech“3 ergeht, in der die Hörer etwas vernehmen sollen, das sie „in Bewegung bringt“4, ihr Wissen und Erfahren „verändert“5 und „festgefahrene[-] Deutungsmuster in Frage stellt“6, gilt über die Grenzen verschiedener Ansätze hinweg als genuiner Bestandteil der Predigtaufgabe. Freilich prägt die Frage nach der transformativen Funktion der Predigt den homiletischen Diskurs eher nach Art einer ‚Hintergrundmelodie‘. Sie klingt in diversen Erörterungen notorisch an; seltener wird sie explizit zum Thema und eingehender bedacht.7 Ziel der vorliegenden Studie ist es, auf solch eine detailliertere Betrachtung hinzuarbeiten: Die folgenden Untersuchungsgänge visieren einen Beitrag zur Vermessung der transformativen Dimension christlicher Predigt an.8 Sowohl der Begriff der Dimension als auch der Begriff der Transformation9 weisen offenkundig ins Ungefähre. Tatsächlich fungiert die Gegenstandsbezeichnung zunächst als Passepartout. Sie soll diejenigen Aspekte des Predigtgeschehens einkreisen, die auf die eine oder andere Weise in einer relevanten Beziehung mit seiner Kapazität stehen, einen irgendwie gearteten Unterschied im Denken, Fühlen oder Wollen der Adressaten zu machen. Im Folgenden ist diese Bestimmung zu präzisieren. Die genauere Fragestellung und der Ansatz der Untersuchung sowie ihr methodisches Profil und der
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Religion par excellence, vielleicht gar die Religion der Rhetorik, sofern Rhetorik vom Vertrauen solo verbo lebt“ (Ders., Rhetorik, 547). Vgl. Brueggemann, Poet, 3. Vgl. Otto, Predigt, 50. Vgl. Hermelink/Müske, Predigt, 365. Vgl. Roth, Predigt, 109. Die dezidiert mit der Transformativität der Predigt befassten Erörterungen liegen primär in Form von Einzelbeiträgen oder eingelassen in breiter interessierte Abhandlungen vor. Systematischer ansetzende Ausarbeitungen der Frage nach der Veränderungsfunktion der Predigt existieren m.W. nicht. Ohne den Predigtbegriff darauf behaften oder die Homiletik in ihrem Gegenstandsbereich darauf einschränken zu wollen, wird ‚Predigt‘ im Folgenden primär als der rhetorische Akt eines Subjekts vor einem zum Gottesdienst versammelten Auditorium unterstellt. Diese pragmatische, nicht programmatische Eingrenzung schließt Adaptionen der erarbeiteten Einsichten auf andere Predigt- oder predigtähnliche Formate nicht aus, sollte gegenüber vorschnellen Erkenntnistransfers jedoch vorsichtig stimmen. Dies gilt auch für etwaige Übertragungen auf Predigt- oder predigtähnliche Formate anderer religiöser Traditionen. Auch sie sind selbstredend möglich; gleichwohl gehen in die Analysen spezifische Vorverständnisse und Predigtattribute ein, die im Erkenntnistransfer zu berücksichtigen wären. Zu denken wäre möglicherweise an den Textbezug, das liturgische Setting, den Stellenwert, den die Predigt innerhalb desselben einnimmt, leitende Glaubensverständnisse u. a.m. Die tastenden Bemerkungen zeigen, dass eine dezidiert interreligiöse Homiletik besonders in Hinsicht auf aktuelle Phänomene weitgehend noch aussteht. ‚Transformation‘ ist ein „wissenschaftliches Allerweltswort“, das sowohl im Bereich der Naturals auch im Bereich der Kulturwissenschaften in kaum einer Disziplin fehlt und mal mehr, mal weniger konzeptualisiert Verwendung findet (vgl. Kollmorgen u. a., Transformation, hier 11; Böhme, Einladung, 7).
Teil A: Einführung
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Bearbeitungsgang sollen dabei nicht kurzerhand vorgegeben, sondern sukzessive aus der Auseinandersetzung mit rezenten Zugängen zur transformativen Dimension der Predigt heraus entwickelt werden. Nur so ist es gewährleistet, dass die Untersuchung wirklich einen Beitrag zur aktuellen Debatte leistet – diese also weder reproduziert, noch ihr beziehungslos gegenübertritt.10 Der Sondierung predigttheoretischer Erwägungen, die sich auf die protestantische Homiletik im deutschsprachigen Raum konzentriert, Anschlüsse vor allem aber auch an die US-amerikanische New Homiletic sucht und ebenso ausgewählte Beiträge katholischer Provenienz aufruft, werden Überlegungen zur transformativen Dimension des Religiösen vorangestellt. Eine solche Annäherung liegt insofern nahe, als in der Geschichte des Nachdenkens über religiöse Kommunikation dem Veränderungspotenzial der Predigt am grundsätzlichsten nicht unter Verweis auf die strukturelle Eigenart des Predigtgeschehens oder durch Anspielung auf die Komplexität der Bedingungen, unter denen sich unsere Meinungen, Empfindungen und Haltungen bilden, widersprochen wurde; tiefreichender geriet der Vorbehalt dort, wo schon der religiöse Charakter der Predigt gegen ihr Veränderungspotenzial namhaft gemacht wurde. Versammelt man das religiöse Bewusstsein auf ein „transzendentes Sicherheitsbegehren“, muss auch die religiöse Rede als eine Agentur der Affirmation zu stehen kommen.11 Gegenüber solchen Profilierungen des Religiösen sind wiederholt Korrekturen angemahnt worden. Im Folgenden stehen dafür drei Beispiele ein. Ihre Auswahl verdankt sich primär heuristischen Motiven. So bereiten Henning Luthers Beschreibung des Weltbezugs religiöser Subjektivität, Paul Ricœurs Explikation des Verstehens religiöser Texte sowie die Erwägungen von Bruno Latour zur Wirkung religiöser Rede der Reflexion auf die transformative Predigtdimension dahingehend einen ersten Boden, als sie maßgebliche, die Untersuchung leitende Problemaspekte kenntlich zu machen erlauben. Ferner arbeiten sie dem methodischen Raster der Studie vor. Sie theoretisieren den Zusammenhang von Religion und Transformation nicht formal, sondern beleuchten 10 Da auch diese Studie wie jeder komplexere Forschungsprozess auf einer wiederholt zirkulierenden Erarbeitungsdynamik beruht, die nun im Medium eines Textes in eine lineare Abfolge zu bringen ist, gehen in die Erörterung des Diskussionsstands schon Fokussierungen und Reflexionsperspektiven ein, die durch die später dargebotenen Überlegungen erst gewonnen wurden. Insofern besitzt das Einführungskapitel einen dezidiert rekonstruktiven Charakter, der nicht nur aus notwendig vorgenommenen Selektionen resultiert, sondern sich einem spezifisch eingestellten und informierten Sensorium verdankt, mittels dessen die für diese Studie interessanten Aspekte aus dem Material häufig erst zum Vorschein gebracht werden können. 11 Vgl. Siller/Keller, Editorial, 1. Im Zusammenhang der Religionskritik hat den Affirmationsvorbehalt am prominentesten wohl Karl Marx artikuliert, wenn er Religion als „Trost- und Rechtfertigungsgrund“ der bestehenden Verhältnisse interpretiert, die als „Opium fürs Volk“ veränderungsinteressiertes Engagement zugunsten einer Fügung ins Gegebene stillstellt (vgl. Ders., Kritik, 30f).
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Teil A: Einführung
ihn anhand konkreter Praxisvollzüge, wobei sie locker schon auf Referenzdiskurse hinweisen, die die Kapitel B, C und D organisieren werden.12 Zuletzt bieten sich die drei Zugänge dadurch an, dass sie den homiletischen Diskurs nicht von außen treffen, sondern aufgrund ihrer besonderen Gegenstände predigtaffine Züge tragen, die homiletisch auch schon fruchtbar gemacht worden sind.13
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Annäherungen: Zur transformativen Dimension der Religion
1.1
Henning Luther über den Weltbezug religiöser Subjektivität
Im Zusammenhang der Praktischen Theologie hat sich mit Nachdruck Henning Luther um die Entwicklung eines Beschreibungsvokabulars bemüht, das das religiöse Bewusstsein in seiner subversiven Valenz darzustellen vermag. In der Formel vom „Weltabstand“14 schafft er sich einen begrifflichen Ausgangspunkt, um die kritische Kapazität der Religion zu fassen. Genauer plädiert Luther nicht für eine Ergänzung einseitig auf Effekte der Stabilisierung ausgerichteter religionstheoretischer Zugänge; er setzt eine alternative Privilegierung ins Werk. Religion findet in Dynamiken der Entsicherung, Aufstörung und Beunruhigung ihre eigentlichen Bestimmungsmomente. Als Weltabstand wird in der religiösen Erfahrung ein Widerwille ausdrücklich, sich mit dem, was das Leben so ‚mit sich bringt‘, zu bescheiden. Wo der Mensch sich mit dem Gang der Dinge nicht konformistisch arrangiert, sondern ein Mehr reklamiert, hebt die Bewegung der Religion an. Sie versetzt das Bewusstsein in eine Differenz zum vermeintlich Gegebenen. Diese Differenz kann eine doppelte Gestalt annehmen. In Form der „Welt-Abwendung“15 erhält sie einen eskapistischen Zug. In ihr tendiert die Distanznahme auf einen Verlust der Bezugnahme, womit sie im Blick auf ihren Effekt konformistischen Einstellungen gleicht, büßt der Weltabstand als Weltflucht doch seine subversiven Rückwirkungschancen 12 Wenn Luther Intuitionen der Kritischen Theorie aufruft, Ricœur Prozesse auch literarischer Rezeption fokussiert und Latour auf die Entwicklung eines wirksamen religiösen Diskurses reflektiert, werden die Reflexionskontexte der Kritiktheorie (Teil B), der Ästhetik (Teil C) sowie der Rhetorik (Teil D) vorgezeichnet. 13 Hat Luther sein Religionsverständnis selbst homiletisch appliziert (vgl. etwa Ders., Einleitung, 9ff; Ders., Grenze, 59; Ders., Spätmodern predigen, 16), finden sich predigttheoretische Rekurse auf die Ricœursche Hermeneutik u. a. bei Pape, Scandal; Latours Abhandlung Jubilieren ist aufgenommen in Gräb, Predigtlehre, etwa 290f. 14 Unter dem Titel „Religion als Weltabstand“ firmiert die Auftaktstudie von Luthers posthum erschienenem Band Religion und Alltag. In ihr formuliert er eine Art Grundverständnis des Religiösen aus, das er dann in den folgenden Analysen an unterschiedlichen Gegenständen ausbuchstabiert, variiert und anreichert. 15 Zu den beiden Ausprägungen religiöser Weltdistanz vgl. Luther, Weltabstand, 28f.
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auf die Situation, aus der er anhob, ein. Normativ besehen favorisiert Luther daher die zweite Variante der Differenz. In ihr ist der Weltabstand dialektisch verfasst. Merklich geschult durch Überlegungen aus der Tradition der Kritischen Theorie, begreift ihn Luther nach dem Modell einer „bezugnehmenden Differenz“.16 Distanz und Rekurs verschränken sich zu einem Weltverhältnis, das sich weder einvernehmlich in das Gegebene fügt, noch in ein beziehungsloses Exterieur abgleitet. Erst in dieser Form bereitet es dem Subjekt einen kritischen Standpunkt, der nicht in einer anderen, sondern in dieser Welt liegt, aber so, dass diese von ihm aus anders zur Wahrnehmung kommt.17 Nach Maßgabe seines Verständnisses Praktischer Theologie, das sich den beiden empirischen Turns vor und nach der dialektisch-theologischen Epoche verpflichtet weiß und deren Ansätze zu einem konsequent subjektorientierten und alltagssensiblen Entwurf fortzuschreiben versucht, kann Luther diese Grundstruktur des religiösen Weltverhältnisses nicht lediglich gedanklich explizieren, sondern muss sie am konkreten Lebensvollzug des Individuums ausweisen.18 In der Reihe der Beobachtungen, die Luther zu diesem Zweck anstellt, nehmen die Analysen lebensweltlicher Grenz- und Schwellenphänomene einen zentralen Rang ein.19 Von dramatischen Grenzerfahrungen mit großer existenzieller Wucht über den synchronen Zusammenprall verschiedener Sphären der Alltagswelt und die diachronen Übergänge im Lebensverlauf bis zu der Begegnung mit alteri im sozialen Austausch – stets handelt es sich um Erlebnisorte, an denen das Bewusstsein über das vermeintlich Gegebene hinausversetzt wird. Dadurch bergen Grenz- und Schwellenerfahrungen disruptives Potenzial: Bewährte Deutungen büßen an Selbstverständlichkeit ein; verfestigte Wertungen werden gelockert; alternative Verhaltensoptionen kommen in Sicht. Diese in die lebensweltliche Erfahrung eingelassene Dynamik kann auch die Selbstthematisierungsvollzüge des Subjekts nicht unberührt lassen. Über die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Identitätsdiskurs gelangt Luther zu einem weiteren Feld der Lebenspraxis, das er auf seine Transzendierungsbewegungen hin befragt.20 Im Zentrum der Überlegungen steht ein Konzept von
16 Vgl. Luther, Schwellen, 215f, hier 215 [Hervorhebung i. Orig.]; Ders., Weltabstand, 25.28f. Gerade auch in Religion als Weltabstand rekurriert Luther wiederholt auf Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Herbert Marcuse, die als Protagonisten der Kritischen Theorie am Anfang einer Tradition stehen, in der das dialektische Verhältnis von Distanzierung und Rekursion im Zentrum kritiktheoretischen Nachdenkens steht (vgl. Teil B). 17 Zum Motiv des Neu-Sehens vgl. Luther, Weltabstand, 28f; Ders., Grenze, 47.57. 18 Zu Luthers praktisch-theologischem Ansatz vgl. exemplarisch Fechtner/Mulia (Hg.), Impulse sowie das Themenheft der Theologia Practica In Memoriam Henning Luther aus dem Jahr 1992. 19 Vgl. dazu Luther, Grenze; Ders., Schwellen. 20 Zu Luthers Auseinandersetzung mit dem Identitätsgedanken vgl. Ders., Fragment; Ders.,
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Identität, das Vorstellungen von Umfassendheit und Kontinuität mit großer Skepsis gegenübersteht. Luther akzentuiert die Unvollständigkeit und Wandelbarkeit des Selbstverständnisses. Im Licht seiner Metapher des Fragments kann kein Bestimmungsakt den Anspruch erheben, das Selbst voll- und damit letztgültig zu artikulieren. Er bleibt notorisch auf ein Mehr bezogen. Im Bewusstsein meldet sich dieser Überschuss etwa in sozialen Interaktionen an; er scheint aber auch im Rückblick auf unentdeckte, nicht ergriffene oder verspielte Lebensmöglichkeiten auf; prospektiv präsentiert er sich in Gestalt von Wünschen und Plänen.21 Folglich gerät das Selbst auch im Prozess der Identitätsbildung fortwährend in Distanz zu vermeintlichen Gegebenheiten. Luthers Beschreibungen laden zu einer für die weiteren Untersuchungen nicht unwesentlichen Differenzierung ein. So eröffnen etwa soziale Interaktionen neue Selbstbeschreibungen, die sowohl das Verständnis des Gewordenseins des Subjekts umfassen als auch die Deutung seiner Zukunft einschließlich seiner Wünsche und Pläne. Zwischenmenschliche Kontakte können zur Umstrukturierung aller Facetten des Selbstkonzepts führen. Demgegenüber zeigt Luthers Hinweis auf eben jene Wünsche und Pläne, dass den Akten der Selbstverständigung schon abgesehen von ihrer sozialen Einbettung ein Distanzierungsmoment eingezeichnet ist. Im Medium seiner Wünsche und Pläne sowie ihrer diversen Ausprägungen in Gestalt von Begierden, Sehnsüchten, Hoffnungen oder Vorsätzen bringt sich das Subjekt in Distanz zum Begriff seiner vorfindlichen Lage. Es übersteigt das Verständnis seines aktuellen Soseins und stellt sich in den Horizont intendierter oder erträumter Möglichkeiten. Über die Analysen der Selbstthematisierungsvollzüge wie der Grenz- und Schwellenphänomene findet die Struktur des Weltabstands mehrfache Anhaltspunkte am Ort konkreter Lebenspraxis. Dezidiert religiösen Charakter gewinnen die Distanzierungserfahrungen dort, wo ihr subversives Potenzial realisiert wird. Wo sich das Subjekt von ihnen nicht entsichern, aufstören und beunruhigen lässt, oder die irritativen Effekte stillstellt, bevor es zu Verflüssigungen der sedimentierten Deutungen und Wertungen und Revisionen des Selbstverständnisses kommt, büßen sie ihre religiöse Valenz ein.22 Als Sicherungsmedium Identität sowie die damit zusammenhängenden Texte zur Subjektivitätsthematik Ders., Ich; Ders., Subjektwerdung. 21 Vgl. dazu Luther, Fragment, 168–171. Zu den Bewusstseinsregungen des Wünschens, Sehnens und Hoffens als Formen der Distanznahme vgl. auch Ders., Weltabstand, 26; Ders., Schmerz, 248–251. 22 Luther lässt es letztlich im Ungefähren, ob die distanzprovokativen Ereignisse zwar als Verunsicherung erlebt, dann aber reaktiv beruhigt werden, oder ihre destabilisierenden Effekte erst gar nicht zur Erfahrung kommen. Wird Religion – gerade auch in Gestalt ihrer institutionalisierten Praktiken, Kulte und Symbole – für derartige Beruhigungsreflexe gebraucht bzw. als präventives Schutzorgan in Dienst genommen, verpasst sie nach Luther ihren Begriff. Auch die professionell verantworteten religiösen Vollzüge sollen den Sinn für die Stö-
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21
muss Religion nach diesem Verständnis ausfallen. Sie ist abonniert auf transformative Effekte.
1.2
Paul Ricœur über das Verstehen religiöser Texte
Aus einer anderen Perspektive rückt Paul Ricœur das Transformationspotenzial der Religion in den Blick. Gegenstand seiner Erwägungen ist nicht das religiöse Bewusstsein überhaupt, sondern die Erfahrung, die durch das Verstehen biblischer Texte eröffnet wird. Auf Basis seiner philosophischen Hermeneutik gelangt er zu einer Explikation der Bibelinterpretation, die den Effekt der Veränderung akzentuiert. Ricœur geht in der Entwicklung seiner Hermeneutik vom Problem des Textverstehens aus.23 ‚Text‘ wird als „schriftlich fixierte[r] Diskurs“24 aufgefasst. Mit dieser Bestimmung schreibt Ricœur seinem Verstehensbegriff schon die entscheidenden Pointen ein. Als Diskurs gehört der Text nicht auf die Seite des kontextenthobenen Sprachsystems (langue); er trägt alle Merkmale aktueller Rede im Sinne des lebensweltlichen Sprachgebrauchs (parole): Er vollzieht sich in der Zeit, als intersubjektiver Akt der Kommunikation und unter Verweis auf eine diskursexterne Wirklichkeit. Damit muss jedes Verstehen eines Textes über das Unternehmen einer rein strukturalen Analyse hinausgehen. Als Phänomen der parole griffe eine Bestimmung allein der diskursimmanenten Zeichenrelationen zu kurz – wenngleich die Verstehensbewegung eine solche Explikation des ‚Sinns‘25 konstitutiv mit umfasst. Die hermeneutische Relevanz strukturaler Analysen resultiert aus der Schriftlichkeit des Diskurses. Durch sie erhalten seine rungspotenziale lebensweltlicher Erfahrung schärfen, nicht abstumpfen, die Grenzen und Schwellen als disruptive Erlebnisorte ausgestalten, nicht kleinarbeiten, und die Fragmentarität des Selbst als lebbare Option ausweisen, nicht zur Abrundung bringen (vgl. Luther, Grenze, 53–60; Ders., Schwellen, 220.222f; Ders., Fragment, 171–182). 23 Gegenüber den Entgrenzungen der Hermeneutik im Zuge von Martin Heideggers Daseinsanalytik, in der das Verstehen als ein „Grundmodus des Seins des Daseins“ aufgefasst wird (vgl. Ders., Sein, 142–148, hier 143 [Hervorhebung i. Orig.]), ruft Ricœur die Untersuchung des Verstehens in gewisser Weise zu ihrem historischen Ausgangsproblem zurück. Die Konzentration auf die Interpretation von Texten versteht Ricœur dabei jedoch nicht als Einschränkung des Vollzugsbereichs der hermeneutischen Bewegung. In der Frage des Textverstehens erkennt er vielmehr eine Problemstellung, deren Bearbeitung zentrale Strukturen des Verstehens überhaupt aufzuhellen vermag (vgl. Ricœur, Hermeneutik, 24– 27). Ausführlicher zu Ricœurs hermeneutischem Ansatz vgl. Beck, Verstehen; Messner, Paul. 24 Ricœur, Text, 80. Vgl. zum Folgenden a. a. O. sowie Ders., Hermeneutik; Ders., Modell. 25 Ricœur differenziert terminologisch zwischen ‚Sinn‘ – als des Was, das durch einen Text gemäß seiner internen Zeichenbezüge ausgesagt wird – und ‚Referenz‘ – im Sinne dessen, worüber er etwas in der außersprachlichen Wirklichkeit auszusagen beansprucht. Vgl. dazu auch Ders., Hauptproblem, 112f.
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Merkmale eine besondere Ausprägung, was dazu nötigt, zwischen dem Verstehen von Texten und dem Verstehen mündlicher Diskurse zu unterscheiden. Schriftliche Diskurse sind durch eine dreifache Autonomie gekennzeichnet: Anders als im Fall mündlicher parole fällt ihre Bedeutung nicht einfach mit der Intention des Urhebers zusammen, dehnt sich ihr Adressatenkreis auf die virtuelle Gemeinschaft aller zur Lektüre Befähigten aus, womit zuletzt auch die Verweisungsbezüge des Diskurses ihren Anhalt in der den kopräsenten Gesprächspartnern gemeinsamen situativen Wirklichkeit verlieren. Diese Autonomisierungen setzen strukturale Analysen ins Recht. Sie machen den Text als gleichsam abgeschlossenes System lesbar. Fände freilich die Rezeption eines Textes mit der Explikation seiner internen Zeichenrelationen schon ihren Abschluss, verpasste sie seinen Diskurscharakter. Denn sosehr der Verweisungsbezug zwar seine ostensive Eigenart verliert und die Adressierung ihr konkretes Gegenüber, sowenig büßt ein Text doch überhaupt seine Referenz auf die diskursexterne Wirklichkeit ein und verstummt gegenüber seinen Rezipienten. Die Erläuterung dieser beiden Aspekte – der spezifischen Referenz eines Textes und ihrer Erfassung durch den sich als Adressat einsetzenden Rezipienten – führt Ricœur zum Ausweis der transformativen Kapazität hermeneutischer Erfahrung. Um den spezifischen Verweisungsbezug schriftlicher Diskurse zu konturieren, gebraucht Ricœur seine berühmte Metapher von der ‚Welt vor dem Text‘. Texte verweisen nicht ‚hinter‘ sich: auf Intentionen ihrer Urheber und empirische Gegebenheiten einer konkreten Situation. Sie entfalten ‚vor‘ sich eine Welt als Inbegriff aller die Ursprungssituation übergreifenden Verweisoptionen. Besonders deutlich wird dieser Referierungsmodus am Beispiel fiktionaler Texte. Sofern diese von vornherein nicht auf die Bezeichnung gegebener Wirklichkeit abzielen, bilden sie einen besonders markanten Fall nichtostensiver Referenz. So bringt etwa ein Roman zwar keine realen Ereignisse zur Darstellung. Gleichwohl vermag er etwas über Wirklichkeit auszusagen. Er schildert Wirklichkeit im Modus ihrer Möglichkeit. Er präsentiert mögliche Formen, als Mensch zu leben, sein Selbst und die Wirklichkeit zu sehen und sich handelnd in ihr zu bewegen. Entsprechend kann Ricœur im Anschluss an Heidegger die ‚Welt vor dem Text‘ auch als Entwurf möglicher Seinsweisen bestimmen: Ein Text eröffnet bestimmte Möglichkeiten, in der Welt zu sein.26 So besehen zeigt sich der Akt des Verstehens als Vorgang des Erfassens möglicher Seinsweisen. Um die Struktur dieses Vorgangs zu beleuchten, bedient 26 Vgl. dazu Ricœur, Hauptproblem, 127f; Ders., Hermeneutik, 31f; Ders., Modell, 195ff. Analog sieht Rudolf Bultmann in den „Möglichkeiten des menschlichen Seins“ das adäquate Woraufhin der Deutung vor allem poetischer, philosophischer und religiöser Texte; und wie für Ricœur im Folgenden nachzuweisen, werden dem Interpreten auch bei Bultmann mit diesen Möglichkeiten transformative Erweiterungen – resp. „Ergänzung[en]“ – seines Selbst zuteil (vgl. Ders., Problem, 226).
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sich Ricœur der Idee des hermeneutischen Zirkels. Sie nötigt dazu, das Erfassen der Welt des Textes zwischen zwei Extremen zu verorten: einem bloß objektiven Registrieren einerseits und einer rein subjektiven „Projektion“27 andererseits. Das Subjekt, das sich als Adressat des Textes einsetzt, ist im Sinne des Vorverständnisses konstitutiv am Akt des Verstehens beteiligt. Es bringt sich, seine Form, zu leben, sein Selbst und die Wirklichkeit zu sehen und sich in ihr handelnd zu bewegen, in die Bestimmung der Welt des Textes mit ein. Aufgrund der eigentümlichen Struktur dieser Welt erfährt das investierte Selbstverständnis dabei aber zugleich eine Restrukturierung. Es wird verändert. Der Zentralbegriff, mit dem Ricœur diese zirkuläre Struktur des ‚subjektiven‘ Erfassens der ‚objektiven‘ Textwelt reflektiert, ist der Begriff der Aneignung. Entgegen vermeintlichen Assoziationen, die an einen einseitigen Prozess der Assimilation eines Fremden an das Eigene denken lassen, meint er genau den wechselseitigen Prozess, in dem sich Aneignung des Fremden zugleich als Verfremdung des Eigenen vollzieht: Das verstehende Subjekt ‚verwandelt‘ sich, gewinnt ein „erweitertes Selbst“28. Diese transformative Potenz hermeneutischer Erfahrung reklamiert Ricœur auch für das Verstehen der biblischen Texte. Dabei besteht die Pointe darin, dass die Interpretation der Bibel nicht nur ein Beispiel für die verändernde Kraft des Textverstehens ist, sondern ihr Paradigma darstellt. Für Ricœur liegt die besondere transformative Auszeichnung des Verstehens der Bibel in der Eigenart ihres Weltentwurfs begründet, kulminiere dieser doch in der Präsentation eines „neuen Seins“.29 Die biblischen Texte nehmen die generelle Leistung schriftlicher Diskurse, nicht ostensiv auf das Vorfindliche zu verweisen, die sich dann im Fall fiktionaler Texte als Vermögen überhaupt der Transzendierung gegebener Wirklichkeit ausnimmt, in den Dienst, um eine Möglichkeit des In-der-WeltSeins auszusagen, die sich ‚aus der Welt‘ nicht einfach nahelegt. Ihre Aneignung versetzt das Subjekt in die Lage, sich immer wieder neu auch in denjenigen Erfahrungen auszulegen, die sein gewöhnliches Erleben sprengen, in denen es sich als ‚unbedingt Angegangenes‘ und ‚schlechthin Abhängiges‘ bewusst wird 27 Ricœur, Hauptproblem, 129. 28 „Was ich mir schließlich aneigne, ist ein Entwurf von Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt. Daher heißt Verstehen Sich-Verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. […] Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginativen Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt im Spiel ist auch die spielerische Verwandlung des Ich“ (Ricœur, Hermeneutik, 33 [Hervorhebung M.S.]; vgl. ferner Ders., Gott, 177; Ders., Hauptproblem, 129; Fluck, Erfahrung, 19 u. ö.; Rorty, Roman). 29 Vgl. Ricœur, Hermeneutik, 39–43, hier 40.43.
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Teil A: Einführung
oder ein Vertrauen empfindet, das sich allen „Widerlegungen der Erfahrung zum Trotz“ durchhält.30 Religion in der spezifischen Variante, die sie im christlichen Glauben als ein auf die biblischen Texte bezogenes Weltverhältnis annimmt, kennzeichnet damit im Kern ein transformativer Impuls.
1.3
Bruno Latour über die Wirkung religiöser Rede
Von einer dritten Seite steuert Bruno Latour das Terrain der Religion an. Wie der Titel seiner 2002 erschienenen Studie Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse anzeigt, reflektiert er analog zu Ricœur auf den religiösen Diskurs, stellt nun aber nicht mehr Texte und ihr Verstehen ins Zentrum, sondern legt den Schwerpunkt auf die mündliche parole und vor allem auf die Frage, wie ihr in der Gegenwart ein angemessener Ausdruck zu verschaffen sei.31 Dabei skizziert Latour ein Bild religiöser Rede, dessen Hauptmotiv das Ereignis einer ergreifenden Erschütterung ist. Spürbar orientiert am Christentum stellt sich das religiöse Sprechen für Latour als eine eminent überlieferungsgesättigte Praxis dar. Sie bewegt sich im Horizont geprägter Wendungen, etablierter Symbole und überkommener Geschichten. Entsprechend bildet der Traditionsbezug eines der Hauptprobleme religiöser parole. Denn weit davon entfernt, den religiösen Ausdruck aus seiner Verstrickung in die überlieferten Vokabulare herauslösen zu wollen, erkennt Latour in seiner Traditionsgebundenheit doch auch ein potenzielles Handikap: Sie wird zum Hemmnis dort, wo die mit ihr gesetzte Übersetzungsanforderung verweigert oder nicht gemeistert wird.32 Dabei bedeutet Übersetzung im Wort30 Vgl. Ricœur, Gott, 180; Ders., Hermeneutik, 43f, hier 43. Ricœur geht davon aus, dass diese Erfahrungen zwar nicht vollständig sprachabhängig seien, gleichwohl ihrer sprachlichen Ausdeutung aber auch nicht schlicht vorauslägen. „Das, was mich unbedingt angeht, bliebe stumm […]. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bliebe schwach und unbestimmt [und die] Hoffnung, das unbedingte Vertrauen, wäre leer“, würde es nicht fortwährend im Kontext konkreter Überlieferungstraditionen interpretativ artikuliert (vgl. ebd. [i. Orig. teils hervorgehoben]). 31 Im Untertitel der deutschen Übersetzung („Über religiöse Rede“) geht der mehrdeutige Hinweis auf die ‚Qualen‘ eines solchen Unternehmens verloren. Tatsächlich inszeniert sich Latour in seinem Werk als Rezipient und Produzent religiöser Rede, der sich um ihren aktuellen Ausdruck sorgt, unter den Defiziten ihrer Realisierungen leidet und zugleich die Mühsal der Suche nach gelingenden Formen empfindet. Die in dieser Mühsal angezeigten Schwierigkeiten, zu einem der Gegenwart angemessenen religiösen Sprechen zu gelangen, bilden sich dabei im tastenden, stockenden und immer wieder neu ansetzenden Gestus der Studie ab. Zu einer konzisen Zusammenfassung der formalen wie inhaltlichen Pointen von Jubiler vgl. die Rezension von Michaela Schmitz Wie ein Liebesgespräch. 32 Um das Misslingen religiöser Rede zu benennen, kann Latour auch von „Übersetzungsrückstände[n]“ sprechen. Als Hörer der Verkündigung und Besucher des Gottesdienstes sieht er sich geradezu mit einer „Flut schlecht angeeigneter Worte“ konfrontiert, denen er keinen
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sinn Version, nicht Iteration. Religiöse Rede ist eine Kunst der kreativen Fortschreibung überlieferter Vokabulare. Sie verlangt kein Genie, das das Feld religiöser Erfahrung sprachlich gänzlich neu auszumessen hätte, verfehlte aber auch in der Hervorbringung bloßer Duplikate ihren Begriff. Sie bedarf stattdessen einer Sprache, die den geprägten Formeln einen gewissen „Dreh“, „Wink“ oder „Stoß“ zu verpassen vermag, die Entwicklung von „Elaboraten“, die steril gewordenen Wendungen wieder Potenz verleihen.33 Genauerhin besteht diese Potenz in der Kraft zu verändern. Religiöse Rede bestimmt sich für Latour durchweg über das Vermögen, ihre Hörerschaft zu „erschüttern“ und zu „verwandeln“.34 Sie ist nicht ein Akt der Information, sondern ein Akt der Transformation. Das Modell für ein derart auf Umschwung getrimmtes Sprechen gibt ihm der Diskurs zweier Liebender.35 Kommunizieren sie als Liebende miteinander, zielen ihre Worte nicht auf den Austausch von Informationen über Liebe, sondern auf die Hervorbringung – resp. Vertiefung, Erneuerung und Wiederherstellung – von Liebe. Ihr Sprechen vollzieht sich als performativer Diskurs. Es soll wirksam etabliert werden, worum es in ihrem Gespräch geht. Ganz analog vollzieht sich auch das religiöse Sprechen. Es sinnt auf „Worte, die bewirken, was sie sagen“: auf Worte, die Religion hervorbringen, vertiefen, erneuern, wiederherstellen.36
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34 35 36
gegenwartsrelevanten Sinn beizumessen in der Lage ist (vgl. etwa Ders., Jubilieren, 25–30.85– 88, hier 30.86). Vgl. Latour, Jubilieren, 101–113, hier 102.111ff. Im Begriff der „Elaboration“ versucht Latour, die Dialektik zwischen dem Rekurs auf Tradition und ihrer Innovation zu fassen: „Die Tradition wird tatsächlich wiederaufgegriffen, aber so gewendet, daß sie von neuem Gegenwart erzeugt“ (a. a. O., 112). Der Bestimmung dieser Dialektik dient auch die Differenzierung zwischen einer „Wiederholung des Wiederkäuens“ und einer „Wiederholung des Erneuerns“, in der sich vitale Tradition erst zu ereignen vermag (vgl. a. a. O., 106 [i. Orig. hervorgehoben]). Vgl. Latour, Jubilieren, 34.41.49f.53f.60.77.91.157.246. Vgl. zum Folgenden Latour, Jubilieren, 39–43. Latour, Jubilieren, 186.219.240. In diesem Sinne kann Latour den religiösen Diskurs auch als „sakramental“ bezeichnen (ebd.). Zur Verknüpfung zwischen dem sprechakttheoretischen Gedanken der Performativität und der liturgischen Kategorie der Sakramentalität vgl. auch Lütze, Absicht, 22–27. Sie findet sich freilich schon bei John L. Austin vorgeprägt, wenn er die Praktiken der ‚Taufe‘ und der ‚Trauung‘ als Standardfälle performativer Äußerungen bedenkt (vgl. Ders., Theorie, 25–34). Nimmt man das Modell des Liebesgesprächs, wie es Latour beschreibt, für den religiösen Diskurs ernst, kommt man zu einem Begriff der Religion, der diese überhaupt als durch Sprechakte konstituiert auffasst. Religion existiert lediglich im Medium des Sprechens, ist in ihrem Dasein abhängig von einem glückenden religiösen Diskurs – und insofern ein fragiles Gebilde. Denn wie die Liebe für die Liebenden schon durch „ein falsches Wort“ an Präsenz und Elan einbüßt, so droht auch der Religion ihre vitale Präsenz am Ort des Subjekts abhanden zu kommen, wo die religiöse Kommunikation misslingt. Entsprechend entsubstanzialisiert Latour auch die Rede von Gott. Auch sie bezeichnet nicht einfach eine diskursexterne Entität, sondern eine Erfahrung, die sich in Abhängigkeit von „der passenden Aussage, ja vom Tonfall, von der Aussprache“ einstellt (vgl.
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Teil A: Einführung
In Anlehnung an die sprechakttheoretischen Anspielungen seiner Ausführungen stellt Latour ein solches Sprechen unter fünf „Bedingungen des Glückens“ bzw. „Mißglückens“.37 Es hat erstens verständlich zu sein. Am Mythos von Pfingsten verdeutlicht Latour, dass religiöse Rede bestenfalls so verfasst ist, dass sie ihrer Adressatenschaft keine Übersetzungsanstrengungen aufbürdet, sondern sich in ihrer „eigenen Sprache“ an sie wendet.38 Zweitens muss sie es mit ihrer Adressatenschaft inhaltlich zu tun bekommen. Sie muss sie in ihrer momentanen Situation treffen, einen Resonanzraum ausbilden für Themen, die ihren Hörerinnen und Hörern aktuell etwas bedeuten, so dass sie merken: ‚Ich bin gemeint‘.39 Drittens darf sie nicht in einen informierenden Stil abgleiten. Religiöse Rede ist für Latour das Andere der Belehrung, bringt die Vermittlung von Kenntnissen über eine Sache diese doch noch nicht zur Erfahrung. Damit verbindet sich die vierte Bedingung: Der Diskurs der Religion ist ein wirksamer Diskurs. Wo mir Worte abständig vorkommen, äußerlich bleiben, keinen spürbaren Einfluss auf meine Lebenssituation nehmen, an ihr also gleichsam abperlen40, wäre für Latour noch nicht religiös gesprochen. Als inhaltliches Zeichen dieser Wirksamkeit gilt ihm gemäß seiner Religionsauffassung schließlich fünftens vor allem die Konstitution humaner Gemeinschaft. Es ist deutlich, dass diese Gelingenskriterien auf einer formaleren Stufe ein Dreierschema bilden. Das dritte und fünfte Kriterium stellen Näherbestimmungen der Wirksamkeitsanforderung dar: Sie explizieren den genaueren Vollzugsmodus wirksamer Rede (Kriterium 3) und präzisieren den Gehalt ihres Effekts (Kriterium 541). So besehen unterliegt der Diskurs der Religion als einer
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Latour, Jubilieren, 75–79, hier 76). Sosehr Latour damit zu Recht – wie schon Luther – einer Behaftung des religiösen Bewusstseins auf eine metaphysische Hinterwelt und einer Verdinglichung religiöser parole widerspricht (vgl. a. a. O., 46ff), sosehr verlieren seine Überlegungen dort an Triftigkeit, wo sie der religiösen parole überhaupt das Vermögen abzusprechen scheinen, etwas über Welt auszusagen (vgl. a. a. O., 31–34). Hier wäre – mit Ricœur – auf die Unhintergehbarkeit der Referenzialität intersubjektiver Kommunikation zu verweisen, die auch für den Diskurs der Liebenden in Geltung steht: Gleichwohl sie pragmatisch nicht auf Information zielen, besitzt ihr Gespräch doch eine propositionale Dimension. Vgl. Latour, Jubilieren, 80–85. Bekanntlich hat Austin in der Entwicklung seiner Theorie der Sprechakte von ‚Unglücksfällen‘ und ‚Glückensbedingungen‘ performativer Äußerungen gesprochen (vgl. etwa Ders., Theorie, 35–45). Vgl. Latour, Jubilieren, 62ff, hier 62 (i. Orig. hervorgehoben). Latour klagt dabei eine Beschreibungskunst ein, die sich in der „verbissene[n] Suche nach adäquaten Begriffen“ weder in zu „eitlen Komplikationen“ verliert, noch mit voreiligen Simplifikationen zufrieden gibt (vgl. a. a. O., 15). Vgl. Latour, Jubilieren, 50.236. Klassisch rhetorisch formuliert, geht es um das Prinzip des ‚Tua res agitur‘. Vgl. Latour, Jubilieren, 83 („wie Regentropfen an einer Windschutzscheibe“). Über den das fünfte Kriterium bestimmenden Gedanken hinaus, dass Religion Menschen zu Mitmenschen macht (vgl. Latour, Jubilieren, 192.218.220), könnte man die Überlegungen Latours auch mit einer etwas anderen Akzentsetzung reformulieren. So zeigt schon der
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transformativen Rede drei konstitutiven Konditionen: Verständlichkeit, Bedeutsamkeit und Wirksamkeit – eine Triade, die vonseiten der Homiletik im Hauptwerk der Predigtreformbewegung ein berühmtes Analogon besitzt. Im zweiten Band seiner Studie Wie predigen wir dem modernen Menschen? expliziert Friedrich Niebergall die Predigtaufgabe als die Entwicklung einer Rede, die als „verständlich“, „interessant“ und „wirksam“ empfunden werden kann.42 Und in der Tat scheinen diese Bedingungen notwendig für jeden Diskurs, der nicht „über die Welt informieren“, sondern die „Bewohner der Welt verändern“ möchte – was im Fall von Latour das Wesen religiöser parole ausmacht.43
1.4
Anschlussreflexionen
1.4.1 Bestätigung und Veränderung. Zum Begriff der Transformation Im Licht der skizzierten Erwägungen erscheint Religion als ein Komplex von Erfahrungen, Praktiken und Diskursen, die das Subjekt verändern. Religion wird nicht auf ihre affirmative Funktion beschränkt, sondern in ihrer transformativen Valenz erschlossen. Konzeptionell am weitesten geht dabei Luther, wenn er Religion überhaupt als Destabilisierungsinstanz beschreibt. Dadurch muss er eine Reihe von Phänomenen aus dem Kosmos der Religion ausschließen. Zumindest können Vergewisserungsbedürfnisse, Rituale der Kontingenzbewältigung, komplexitätsreduzierende Situationsauslegungen oder der eskapistische Ausbruch ohne alltagspraktische Folgen lediglich als religiöse Depravationen in Betracht gezogen werden. Dieser nun wiederum einseitige Blick wurde praktisch-theologisch vor allem im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Alltag kritisch angefragt. So sprach sich etwa Heinz Streib für eine Betrachtungsweise aus, die die alltagszersetzenden und alltagssichernden Funktionen religiöser Vollzüge nicht gegeneinander ausspielen muss, sondern zu kombinieren weiß – wobei es freilich zur „hermeneutischen Behutsamkeit praktisch-theologischer Ansatz, von den Kommunikationen her das religiöse Feld zu bestimmen, dass es in der Religion und im religiösen Sprechen nicht um die Konstituierung einer ‚Privatreligion‘ geht, sondern um Akte, die versuchen subjektiv Überzeugendes publik und allgemein zu machen. Die religiöse parole ist als Adressierungsakt zwar auf die subjektive Anverwandlung der Überlieferung durch den Sprecher angewiesen; diese kann aber nur dann befriedigen, wenn der eigene Begriff auch Anderen mitgeteilt wird (vgl. a. a. O., 86). 42 Vgl. Niebergall, Wie predigen, Bd. 2. In der Kategorie des Interesses bzw. der Interessantheit dokumentiert sich im Rahmen der Predigtreformbewegung eine Reflexionsbemühung, die zentrale Aspekte des Gedankens der Bedeutsamkeit resp. Relevanz adressiert. Zu der hier vorgeschlagenen Reduktion der Latourschen Gelingensbedingungen auf ein Dreierschema vgl. auch Gräb, Predigtlehre, 290f. 43 Vgl. Latour, Jubilieren, 50.
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Wahrnehmung“ gehöre, beide Wirkungsmodi voneinander zu unterscheiden.44 Folgt man Streib, erhält man einen dualen Begriff religiöser Pragmatik: Sie zeitigt transformative wie affirmative Effekte.45 Den für eine Untersuchung der transformativen Dimension religiöser Praxis spannenderen Fingerzeig gibt Streib in seiner Begründung einer solchen Doppelperspektive. In ihr deutet er an, dass Veränderung und Bestätigung nicht zwei alternative Wirkungsoptionen der Religion darstellen, sondern vollzugsmäßig miteinander verkoppelt sind. Zumindest was die Destabilisierungseffekte anbelangt, reklamiert Streib ein integrales Verhältnis von Transformation und Affirmation, demzufolge subversive Praktiken konstitutiv Reflexe der Vergewisserung, Kontinuierung und Bekräftigung einschließen.46 Wem diese Intuition nicht unplausibel erscheint, wird sogleich fragen, ob Entsprechendes nicht auch umgekehrt gilt, also auch Stabilisierungseffekte transformative Dynamiken involvieren. Versuche, hierauf eine befriedigende Antwort zu finden, müssen früher oder später eine Präzisierung des Begriffs ‚Transformation‘ vornehmen. So ist beispielsweise fraglich, ob Phänomene wie Trost oder Vergewisserung einfach als affirmative Ereignisse gedeutet werden können. Wandelt Trost nicht die Empfindung der Trauer? Zersetzt ein Vergewisserungsakt nicht den Grund des Zweifels? Und wie ist damit umzugehen, dass Latour die transformative Valenz religiöser parole gerade nicht allein unter Verweis auf initiale Hervorbringungen und kontrastive Kehren expliziert, son44 Vgl. Streib, Alltagsreligion, hier 43. Zu Luthers Verhältnisbestimmung von Religion und Alltag vgl. auch Erne, Rhetorik, 45–57; Heimbrock, Interesse; Merle, Alltagsrelevanz, 115–145. Zur Debatte steht dabei nicht nur die Frage nach der Wirkungsweise religiöser Vollzüge. Umstritten ist zudem Luthers Charakterisierung des Alltagsbewusstseins. Eine Reihe von Luthers Beschreibungen vermittelt ein eher negativ konnotiertes Bild des Alltags. Konformismus, Konventionalität oder Reflexionsabwehr erscheinen als die maßgeblichen Strukturmomente der alltäglichen Welteinstellung. Je nach Beurteilung des Status der von Luther beschriebenen Grenz- und Schwellenphänomene – als entweder konstitutive Komponenten der alltäglichen Erfahrung oder doch ‚nur‘ das Andere des Alltags im Alltag – könnte man seine Analysen aber auch auf ein stärker ambiges Alltagsverständnis hin auslegen. Demnach bliebe es im Letzten „offen“, ob Alltag den „Ort der Entfremdung des Subjekts von sich selbst bezeichnet, oder ob Alltag vielleicht doch gerade als Ort des Subjekts auch zwangsläufig dessen Entfaltung und potentielle Eigentlichkeit individualisierend (mit-)konstituiert“ (Merle, Alltagsrelevanz, 130 [Hervorhebung i. Orig.]). 45 Konzentriert auf die praktische Funktion „religiöser Ideen“ und ihrer Auslegung und Umsetzung in verschiedenen christlichen Sozialitäten streicht auch Ferdinand Sutterlüty die Doppeldeutigkeit religiöser Effektivität heraus. So treten christliche Kirchen und Strömungen als Legitimationsinstanzen des status quo ebenso in Erscheinung, wie sie als gesellschaftskritische Akteure am Neuarrangement bestehender Ordnung arbeiten (vgl. Ders., Kirchen). Zur zivilgesellschaftlichen Rolle der Religion etwa im Zusammenhang von Protestbewegungen vgl. Nolte, Religion; Pettenkofer, Protest, 209–248. 46 Vgl. Streib, Alltagsreligion, 45–48. Ähnliches deutet Erne, Rhetorik an, wenn er den Prozess der „Veralltäglichung“ als notwendiges Gegenstück von Kommunikationen veranschlagt, die in Frage stellen, aufstören und frische Sichtweisen einspielen (vgl. a. a. O., 109).
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dern auch Prozesse der Vertiefung, Erneuerung und Wiederherstellung zu ihren Veränderungseffekten zählt? Für eine Untersuchung der transformativen Dimension der Predigt zeichnet sich hier ein erster Fragehorizont ab, dessen Klärung allem Anschein nach über ein krudes Gegenüber von Affirmation und Transformation hinausführen muss – ohne freilich bestenfalls an ‚hermeneutischer Behutsamkeit‘ einzubüßen und beides in einem distinktlosen Konglomerat aufgehen zu lassen. 1.4.2 Überschreitung und Rekurs. Zur Struktur der Transformation Es wird sich zeigen, dass eine Präzisierung des Verhältnisses zwischen Affirmation und Transformation mit der Aufhellung einer zweiten Relation korreliert, die in allen drei skizzierten Entwürfen an zentraler Stelle aufscheint. So schimmert Luthers dialektischer Begriff einer bezugnehmenden Differenz auch in Ricœurs Konzept der Aneignung durch, beschreibt er dieses doch als zirkuläre Bewegung zwischen Akkommodation und Assimilation, Eigenem und Fremdem; sofern Latour den Diskurs, der seine Adressaten über ihr aktuelles Sosein hinauszuführen vermag, gerade auf ein Vokabular behaftet, das ihre eigene Sprache abbildet und thematisch ihre momentane Lage trifft, zeichnet sich auch bei ihm ein Zusammenspiel von Bezugnahme und Distanznahme ab. Es scheint, dass Erfahrungen, Praktiken und Diskursen der Veränderung strukturell ein Ineinander zweier gegenläufiger Dynamiken innewohnt. Im Verlauf der Studie wird sich bestätigen, dass mit der Dialektik von Überschreitung und Rekurs ein Kernproblem transformativer Praxis aufgerufen ist, das es seiner inneren Struktur nach präziser zu entfalten gilt. 1.4.3 Selbstdeutung und Selbstentwurf. Zum Gegenstand der Transformation Zuletzt fällt auf, dass im Zuge der Explikation der Transformativität des Religiösen alle drei Entwürfe konsequent auf die Instanz des Subjekts zugehen. Ob als Träger lebensweltlicher Erfahrung, Rezipient schriftlicher Überlieferung oder Adressat aktueller Verkündigung – jeweils steht das Individuum im Mittelpunkt der Erwägungen, um die subversiven Effekte der Religion auszuweisen. Während bei Latour der Gegenstand der Veränderung nicht weiter präzisiert wird, beziehen sich Luther wie Ricœur exakter auf das Selbstverständnis des Subjekts. Bei beiden kommt die verändernde Kraft der Religion als das Vermögen zu stehen, die Selbstthematisierungsvollzüge einer Person zu affizieren. Dem ist im Folgenden ausführlicher nachzuspüren, verspricht eine Annäherung47 an den Pro47 Die Komplexität des Gegenstands verbietet es, das Problem des Sichselbstverstehens im Folgenden in extenso zu behandeln. Die Überlegungen kommen über die Skizzierung einiger
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zess der Selbstverständigung doch Aufschlüsse, sowohl was den Status der Veränderung im Lebensvollzug des Subjekts anbelangt als auch hinsichtlich der Rolle, die die Predigt als religiöse Rede darin zu spielen vermag. Im Problem des Sichselbstverstehens lassen sich – so die These – Bezüge zwischen der religiösen Praxis der Predigt, der Frage der Veränderung und dem Lebensvollzug des Subjekts herstellen und aufhellen. In der Kategorie des Selbstverständnisses reflektiert sich die heute breit akzeptierte Einsicht, dass das Wesen, das wir Mensch nennen, am besten so zu begreifen sei, dass es sich nicht unmittelbar gegeben ist, sondern sein Leben im Modus eines verstehenden Verhältnisses zu sich selbst vollzieht. Diese Reflexivität ist nicht nach Art eines Additums zu verstehen, das einer vorgängigen Größe sekundär zukäme. Nach Maßgabe von Erwägungen im Kontext der interpretativen Wende in Philosophie, Sozialforschung und Kulturwissenschaft besteht vielmehr das menschliche Sein in einem Sichselbstverstehen; der Mensch ist ein self-interpreting animal.48 So besehen stößt ihm sein Leben nicht im Sinne eines Bündels gleichsam objektiver Tatbestände zu; es widerfährt ihm als ein immer schon Vorverstandenes, zu dem er sich fragend und klärend verhält und dabei ein Verständnis seiner selbst ausbildet. Um die Eigenart dieser Selbstinterpretation prägnanter zu fassen, können dem vielschichtigen Diskurs um das Selbst einige Näherbestimmungen entnommen werden. (1) Wie im Rekurs auf Luther schon angedeutet, ist der Selbstinterpretation eines Subjekts ein „Doppelcharakter“ zu eigen, den man in Aufnahme eines Begriffsvorschlags von Rahel Jaeggi als „Wechselverhältnis“ von „Deutung“ und „Entwurf“ bestimmen kann. Demnach versteht sich eine Person einerseits als jemand, der sie ist („Selbstdeutung“), und andererseits als jemand, der sie sein möchte („Selbstentwurf“).49 Entsprechend wird auch im Horizont der Identitätstheorie die Grundfrage des Menschen nach sich selbst regelmäßig als Dopweniger Gesichtspunkte nicht hinaus. Ihre Auswahl verdankt sich ausschließlich dem Interesse an der transformativen Dimension der Predigt und ihrer Verankerung im Lebensvollzug des Subjekts. Fragen im Umkreis des ‚Selbst‘, der ‚Selbstverständigung‘ oder ‚Identitätsarbeit‘ werden durch alle Kapitel hindurch immer wieder aufgegriffen. 48 So Charles Taylors prominente Formulierung, mit der er Heideggers Bestimmung des Verstehens als eines Grundmodus’ des menschlichen Daseins nachvollzieht: „To say that man is a self-interpreting animal is not just to say that he has some compulsive tendency to form reflexive views of himself, but rather that as he is, he is always partly constituted by selfinterpretation, that is, by his understanding of the imports which impinge on him“ (Taylor, Animals, 72). Zu Taylors anthropologischem Gesamtansatz vgl. Rosa, Praxis, 57–180; überhaupt zum sog. interpretative turn vgl. Bachmann-Medick, Turns, 58–103 sowie die Sammelbände Hiley u. a. (Hg.), Turn; Rabinow/Sullivan (Hg.), Science. 49 Vgl. Jaeggi, Entfremdung, 153f. Übereinstimmend notiert Angehrn, Selbstverständigung, 47: „Sich über sich verständigen heißt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wer man ist und wer man sein will.“ Zur Auseinandersetzung um den Dual von ‚Deutung‘ und ‚Entwurf‘ vgl. Thomä, Lebensgeschichte, 62–72.273 mit Anm. 189.
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pelfrage expliziert. Indem ich meine Identität bestimme, reagiere ich sowohl auf die Frage, wer ich bin, als auch auf die Frage, wer ich sein will.50 Daher trägt ein Selbstbild stets ‚deskriptive‘ wie ‚normative‘ Züge und umfasst in seiner aktuellen Gestalt Vergangenes wie Zukünftiges – wobei beide Dimensionen nach Jaeggi nicht trennscharf nebeneinander, sondern reziprok ineinander liegen: Wie ich mich im Blick auf meine Zukunft entwerfe, wird entscheidend von meiner Deutung bisheriger Lebenserfahrungen mit bestimmt; zugleich deute ich zurückliegende Ereignisse, erspürte Wünsche oder Eigenschaften, die ich mir beimesse, immer auch im Licht meines Selbstentwurfs.51 (2) Die Unterscheidung zwischen Deutung und Entwurf signalisiert zugleich die praktische Relevanz des Selbstverständnisses. So reflektiert sich das Subjekt im Entwurf seines Selbst im Blick auf Fragen des Guten und Gerechten. Es entwirft Bilder gelingenden Lebens, vermittelt sich Vorstellungen, worin sein Wohlergehen und Glück besteht, bestimmt sich aber auch in seinen moralischen Grundsätzen und kreiert somit einen Rahmen von Werten und Normen, innerhalb dessen sein künftiges Handeln Gestalt gewinnt. Namentlich Charles Taylor hat diese praktische Funktion der Selbstinterpretation herauszustellen versucht, wenn er einen engen Nexus „zwischen Selbst- und Moralvorstellungen – zwischen der Identität und dem Guten“ reklamiert.52 Demzufolge geben wir in der Bestimmung unseres Selbst Auskunft darüber, was für uns „von ausschlaggebender Bedeutung“53 ist; sich der Identität einer Person anzunähern heißt, ein Gespür dafür zu entwickeln, was ihr wichtig ist. Wir erahnen, wozu sie sich Anderen gegenüber moralisch verpflichtet weiß, wovon sie denkt, es verleihe ihrem Leben Sinn und Wert, und was ihrer Ansicht nach ein Leben ausmacht, das in den Augen der Anderen Achtung und Respekt verdient.54 In diesem Sinne 50 Vgl. exemplarisch Abels, Identität, 249–254; Rosa, Weltbeziehungen, 225; Straub/Renn, Identität, 14; Straus/Höfer, Entwicklungslinien, 282ff; Tugendhat, Selbstbewußtsein, 282– 292. Dass im Horizont der Selbstverständigung auch von ‚Identität‘ gesprochen werden kann, versteht sich keineswegs von selbst. Tatsächlich ist ein Begriffsgebrauch, der dies rechtfertigt, ein relativ junges, wenngleich gängig gewordenes Phänomen. Von dieser Bedeutung zu unterscheiden wäre die sog. numerische Identität, die in Mathematik und Logik die Selbigkeit ‚zweier‘ Gegenstände aussagt, bzw. die qualitative Identität, wonach zwei Gegenstände einander in ihren Eigenschaften gleichen. Vgl. dazu Henning, Identität; eine leicht abweichende Terminologie gebraucht etwa Rosa, Identität. 51 Genau genommen lässt sich die Zeitdimension nicht eins zu eins auf die beiden Komponenten des Selbstverständnisses aufgliedern. So kann sich meine ‚deskriptive‘ Selbstdeutung durchaus auch auf die Zukunft beziehen, wenn sich mir etwa aus einer bestimmten Auffassung meines Soseins ein Bild von mir in der Zukunft nahelegt, das ich gleichwohl geringschätze. Entsprechend kann sich auch mein ‚normativer‘ Selbstentwurf auf die Vergangenheit beziehen, etwa wenn mich eine zurückliegende Verhaltensreaktion ärgert. 52 Taylor führt diesen Zusammenhang im Grundlagenkapitel seiner Quellen des Selbst aus (vgl. Ders., Quellen, 13–204, hier 9). 53 Taylor, Quellen, 55. 54 Zu diesen drei Dimensionen bzw. „Achsen“ vgl. Taylor, Quellen, 35. Ihre Verschränkung leitet
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besteht die Identität einer Person in einem Set qualitativer Unterscheidungen zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘, ‚besser‘ und ‚schlechter‘, ‚lohnend‘ und ‚vergeblich‘, ‚erfüllend‘ und ‚sinnlos‘ etc., das ihrer Lebensführung eine spezifische Form verleiht. Ausdrücklich wird dies in Sätzen wie ‚Ich verstehe mich als‘ – z. B.: ‚als Europäerin‘. Die Sprecherin gibt dadurch nicht einfach Hinweise über ihre faktische nationale Zugehörigkeit, sondern ruft ein mehr oder weniger bestimmtes Wertgefüge auf, das sie dem ‚Europäersein‘ zuschreibt und sie in der Gestaltung ihres Lebens prägen soll.55 (3) Nun sollte dieses Beispiel nicht dazu verleiten, mit der Kategorie des Selbstverständnisses allein solch explizite und anspruchsvolle Interpretationen zu assoziieren. Als was sich ein Subjekt versteht, vermittelt sich nicht exklusiv in Selbstbeschreibungen, die etwa im partnerschaftlichen Gespräch, im Tagebucheintrag oder in der medialen Selbstpräsentation eine dezidiert verbale Gestalt annehmen. Selbstinterpretationen können auch in Form ‚verkörperter‘ Artikulationen auftreten: in Mustern emotionaler Reaktionen, in der Teilnahme an bestimmten kulturellen Veranstaltungen, der Einrichtung des Wohnraums etc.56 Taylor zur Prägung seines Doppelbegriffs des Moralisch-Spirituellen. Denn um den Konnex zwischen Fragen des Selbst und der Moral, der Identität und des Guten zu erhellen, sind außer den im engeren Sinne moralischen „Vorstellungen und Reaktionen in bezug auf Probleme, die die Gerechtigkeit sowie die Achtung vor dem Leben, dem Wohlergehen und der Würde der anderen betreffen“, ebenso „Fragen darüber, wodurch unser Leben Sinn erhält oder Erfüllung findet“, wie auch die „nach unserem Gefühl vorhandenen Grundlagen des Empfindens der eigenen Würde“ in die Reflexion miteinzubeziehen (vgl. a. a. O., 16f). Demnach konstituieren ‚Moralvorstellungen‘, ‚Sinndeutungen‘ und ‚Selbstwertempfinden‘ den dreidimensionalen Raum des Moralisch-Spirituellen, dessen genauere Spezifik wesentlich darin besteht, dass in ihm die strong evaluations einer Person vorgenommen werden. Damit sind diejenigen Wertsetzungen gemeint, die von ihr als in sich wertvoll empfunden werden und folglich Maßstäbe bilden, an denen sie ihre ‚faktischen‘ Bedürfnisse, Wünsche, Eigenschaften oder Erfahrungen beurteilt. Unsere ‚starken Wertungen‘ markieren das, was für uns ‚von ausschlaggebender Bedeutung‘ ist und bringen damit „zum Ausdruck oder definieren, was für eine Art von Person wir sein möchten und welche ‚Seinsweise‘ wir in der Welt verkörpern wollen“ (vgl. Rosa, Praxis, 98–126, hier 108 [Hervorhebung i. Orig.]; Joas, Entstehung, 200– 208). Angezeigt ist damit auch die Nähe zu Thomas Luckmanns Rede von den ‚individuellen Systemen letzter Relevanzen‘ (vgl. Ders., Religion) oder Paul Tillichs Begriff des ‚ultimate concern‘ (vgl. Ders., Religion). Vgl. dazu ausführlicher E.3. 55 Zur Praxisrelevanz der Selbstinterpretation vgl. auch Angehrn, Sinn, 357–371; Henning, Identität, 28–36; in gewisser Weise auch Figal, Verstehen, 345–352 und auf den Punkt Henrich, Leben, 17: „Die Art, wie wir uns selbst verstehen, hängt mit der Weise, in der wir uns verhalten, ganz unmittelbar zusammen.“ Teilt man gewisse pragmatistische Intuitionen, ließe sich das Streben nach Erkenntnis auch überhaupt praktisch fundieren. Demnach verdankt sich unser Bemühen um Verständnis, Wissen und Theorie den Herausforderungen, vor die uns unsere Lebensführung stellt (vgl. dazu etwa Wohlrapp, Begriff). 56 Vgl. dazu bes. Rosa, Weltbeziehungen, 112–116; Hahn, Identität, 130–136. Übereinstimmend notieren auch Renn/Straub, Identität, 15, dass die „Bildung und Präsentation personaler Identität […] nicht nur eine sprachliche, diskursive und reflexive, sondern auch und zuvorderst eine praktische Angelegenheit“ sei.
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Und auch der Aussageanspruch unserer Selbstthematisierungen bezieht sich nur selten auf unser ‚ganzes‘ Personsein. Häufiger werden wir uns in konkreten Einzelsituationen zum Thema, in denen wir mit der Klärung besonderer Fragen beschäftigt sind, beispielsweise mit einer kritischen Bemerkung eines Arbeitskollegen kämpfen, uns mit Freunden über einen passenden Studienort beraten oder eine bestimmte Anschaffung rechtfertigen. Selbstthematisierungen sind insofern zuallererst situative Akte, die auf spezifische Erfahrungen reagieren und spezielle Lebensthemen bearbeiten.57 (4) Gleichwohl vollzieht sich der Prozess der Selbstverständigung stets in Form von Artikulationen – und folglich unter Inanspruchnahme kulturell verankerter Bedeutungsregime und sozial geprägter Praktiken.58 Allgemeiner formuliert: Zu Interpretationen seines Selbst gelangt ein Subjekt nicht in der Abgeschlossenheit monologischer Introspektion, sondern vermittels externer Relationen; Selbstverständigung ist ein soziales Phänomen. Dieser Sachverhalt wurde in vielerlei Hinsicht konkretisiert, etwa mit Hinweis auf den Stellenwert von Anerkennungsbeziehungen59, in der Beschreibung des Einflusses gesellschaftlich vordefinierter Rollenmodelle60, der Abhängigkeit subjektiver Interpretationsakte von kulturell verfügbarbaren Institutionen der Selbstthematisierung61, der Bedeutsamkeit konkreter Einzelpersonen für die kindliche Entwicklung und darüber hinaus62 sowie der Virulenz des Universums kultureller Objektivationen für die
57 Vgl. dazu etwa das Modell der „alltäglichen Identitätsarbeit“ der Arbeitsgruppe um Heiner Keupp, an dessen Basis „situationale Selbstthematisierungen“ angesiedelt sind (Keupp u. a., Identitätskonstruktionen, 189–271, bes. 218; Straus/Höfer, Entwicklungslinien, bes. 273ff). 58 Es existieren keine – um eine Wendung Ludwig Wittgensteins zu variieren – Privatartikulationen. Die diskursiven wie praktischen Formen, in denen das Subjekt sich selbst interpretiert, greifen stets auf überindividuell konstituierte Sprachen und Praktiken zurück. 59 Exemplarisch wäre auf die einschlägigen Überlegungen in Taylor, Politik; Honneth, Kampf zu verweisen. 60 Vgl. etwa Jaeggi, Entfremdung, 91–124. 61 Auf diese ‚institutionellen‘ Vorgaben des Sichselbstverstehens hat insbesondere Alois Hahn aufmerksam gemacht (vgl. Ders., Identität). Leitend ist der Grundgedanke, dass der „Hang, sich selbst zum Thema zu machen, […] keinesfalls einem ‚natürlichen‘ Instinkt“ entspringe, sondern „auf institutionellen Veranlassungen“ beruhe (127). Hahn prägt hierfür den Begriff der „Biographiegeneratoren“. Diese ermöglichen und motivieren nicht nur Selbstrekurse, sondern bestimmen zudem (1) deren Funktion und Pragmatik, (2) die biographische Reichweite und damit den Grad der Kohärenzanforderung an die Selbstthematisierung sowie (3) deren semantische Fokussierung, ob also die Selbstinterpretation z. B. auf Handlungen, Motive oder Emotionen Bezug nimmt. Traditionelle Biographiegeneratoren sind das Beichtgespräch oder das Verhör. Zu denken wäre ferner an die psychotherapeutische Interaktion, den Tagebucheintrag, Talkshows, autobiographisches Schreiben, videographische Selbstdokumentationen, das Forschungsinterview, private Homepages, das Facebookprofil etc. 62 Anknüpfend an George Herbert Mead spricht Taylor von webs of interlocution, in denen ein Subjekt nicht nur im Zuge seines Heranwachsens, sondern auf Dauer sein Selbst in Kom-
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Konstitution des Selbst. Wie gesehen ist es für Ricœur gerade dieses Universum, das den Individuen identitätsproduktive Rekurse ermöglicht. Das Sichselbstverstehen verläuft über das Verstehen kultureller Zeichen – und insofern konstitutiv über einen „Umweg“.63 Neben diesen diversen Aspekten der Externität der Selbstinterpretation definieren kulturelle wie soziale Faktoren auch überhaupt den Status, den Deutungen und Entwürfe des Selbst einnehmen, sowie die generelleren Bedingungen, unter denen sie zustande kommen. Im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche, die seit Mitte des 20. Jh. zu verzeichnen sind und unter den Chiffren der Individualisierung, Subjektivierung, Vervielfältigung oder Beschleunigung zeitdiagnostisch aufzuklären versucht werden, kam es dabei zu einem Doppelphänomen.64 Zum einen erhalten Praktiken der Selbstthematisierung innerhalb des Lebensvollzugs der Individuen ein stetig größeres Gewicht. Wo die Entscheidung über die Art zu leben in immer mehr Bereichen der persönlichen Verantwortung zugerechnet wird und Individualität wie Authentizität zu elementaren Kulturwerten avancieren, steigen die Anforderungen, sich Klarheit über seine Eigenschaften, Kompetenzen, Chancen, Bedürfnisse oder Wünsche zu verschaffen. Entsprechend hat man von einer „Demokratisierung und Veralltäglichung“ der Selbstbefragung gesprochen65 und gar einen ‚Zwang‘ zur Aufmerksamkeit auf sich selbst reklamiert.66 Zum anderen wurde im Licht der pluralisierenden und akzelerativen Dynamiken zunehmend fraglich, ob sich im Geschehen subjektiver Selbstverständigung überhaupt noch ein homogenes und stabiles Bild einzustellen vermag. Diese Skepsis führte im Horizont der Identitätstheorie zu einem intensiven Streit um die Auffassung aktueller Selbstbildungsprozesse, der bis zur Forderung reichte, den Gedanken der Identität gänzlich preiszugeben. Als einstweiliges Ergebnis dieser Debatte wird man festhalten müssen, dass radikale Absagen an Kohärenz und Kontinuität weithin als Überdramatisierungen gelten,
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munikation mit ‚signifikanten Anderen‘ deutet und entwirft (Taylor, Quellen, 69–81). Vgl. dazu auch Merle/Weyel, Sinn, 140–143. Die Einsicht, dass Textverstehen ein Sichselbstverstehen involviert, hat Ricœur in eine Theorie des Selbst umgesetzt, nach der dieses sich „nicht unmittelbar [erkennt], sondern nur indirekt, über den Umweg über verschiedene kulturelle Zeichen“, die ihm als ‚Laboratorien‘ der Selbstidentifikation dienen (vgl. Ders., Identität, 222f sowie ausführlich Ders., Selbst). Zur Umweglichkeit des Selbstverständnisses vgl. auch Angehrn, Sinn, 375ff. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung besonders mit den Theoremen der Pluralisierung, Individualisierung und Subjektivierung vgl. Teil E. Vgl. Schroer, Selbstthematisierung, 41 sowie überhaupt die Beiträge in Burkart (Hg.), Ausweitung. Die Intensivierung von Selbstverständigungsprozessen gilt dabei als eine von drei Kernmerkmalen der Individualisierung. Sie resultiert aus der faktischen und zugeschriebenen Autonomisierung der Individuen und den damit verknüpften Prozessen der Ausdifferenzierung bzw. Appellen an Einzigartigkeit (vgl. Burkart, Einleitung, 8–11). Vgl. Rosa, Selbstthematisierungszwang.
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‚Identität‘ heute aber gleichwohl Konzepte erfordert, die in der Lage sind, Diversität und Wandelbarkeit als Integrale der Selbstinterpretation auszuweisen.67 (5) Folglich gilt die Bestimmung des Selbst heute als ein permanentes Geschehen. In tendenzieller Abkehr von Modellen, welche die Selbstsuche auf umgrenzte Entwicklungsphasen des Subjekts konzentrieren,68 herrscht aktuell Einhelligkeit darüber, dass Identität als ein lebenslanges und unter endlichen Bedingungen unabschließbares Projekt aufzufassen sei. Selbstverständigung wird auf Dauer gesetzt – und Subjektsein folglich als ‚Sein im Werden‘ begriffen. Damit verbindet sich der schon von Henning Luther hervorgehobene Gedanke einer prinzipiellen Unausschöpfbarkeit des Selbst. In unseren Selbstartikulationen bleiben wir uns immer auch entzogen, vermögen uns nicht umfassend auf den ‚Begriff‘ zu bringen.69 Mag man dieser Selbstintransparenz aus theologischen wie philosophischen Gründen den Rang einer anthropologischen Konstante beimessen, erhält sie unter pluralisierten und dynamisierten Gesellschaftsbedingungen einen erfahrungswissenschaftlich ausweisbaren Anhalt in der Le67 Mit je unterschiedlichen Graden der Abgrenzung sowie divergenter Terminologie und Akzentuierung ging aus der Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Infragestellungen des Identitätskonzepts eine Reihe von Entwürfen hervor, die sich gewissermaßen im Zwischenraum der Alternativen einer – vermeintlich – starren ‚modernen‘ Identitätsvorstellung und ihrer ‚postmodernen‘ Auflösung positionieren. In Konzepten einer ‚balancierenden‘ (Krappmann, Identität), ‚transitorischen‘ (Straub/Renn, Identität; Straub, Identität) oder ‚situativen‘ Identität (Rosa, Beschleunigung, 352–390; Ders., Identität; Ders., Weltbeziehungen, 224–265) wird versucht, der Dynamik und Vielfalt personaler Selbstartikulation Rechnung zu tragen, ohne dabei die Gelingenskriterien von Stetigkeit und Zusammenhang aufzugeben; auch in Keupps ‚Patchwork‘-Ansatz bleiben Vorstellungen von Kontinuität und Kohärenz virulent (vgl. Keupp, Suche; Ders., Identitätskonstruktionen; Ders., Identität). Vgl. dazu auch Jaeggi, Entfremdung, 183–235; Joas, Entstehung, 227–251; Schroer, Selbstthematisierung. 68 Die Überlegungen von Erik H. Erikson geben hierfür das Paradigma. Um allzu einfachen Abgrenzungsschemata zu entgehen, sollten freilich auch die Unbestimmtheiten und Differenziertheiten im Œuvre von Erikson im Blick behalten werden – ganz abgesehen davon, dass der Adoleszenz auch in Ansätzen, die die Permanenz der Identitätsbildung betonen, selbstverständlich ein zentraler Stellenwert beigemessen wird. Zum Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung mit Erikson vgl. Krappmann, Identitätsproblematik; Straub, Identität sowie aus religionspädagogischer Perspektive Schweitzer, Lebensgeschichte, 71–91. 69 Entsprechend konstatiert Straub, Identität, 94, dass das „Moment des Selbstentzugs in keiner Theorie personaler Identität fehlen darf und […] zumindest in den heute noch anschlussfähigen komplexen Ansätzen auch tatsächlich nirgends unterschlagen wird. Ich würde sogar sagen, dass das – freilich mehr oder weniger klare – Bewusstsein eines uneinholbaren Selbstentzugs zu den konstitutiven Elementen einer jeden anspruchsvollen Theorie personaler Identität gehört, und zwar seit Anfang der Debatte in den modernen Sozial- und Kulturwissenschaften, einschließlich der Psychologie“ (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu ebenfalls Taylor, Quellen, 68f; Angehrn, Selbstverständigung, 64; Ders., Sinn, 345.366.373f und aus psychologischer Perspektive Loch, Deutungs-Kunst, 85: „Wir sollten […] nie glauben, daß das Interpretieren, daß hermeneutische Anstrengungen jemals zu einem Ende gelangen, weder im Hinblick auf die Natur und noch weniger im Hinblick auf den Menschen“.
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benswelt. Angesichts diverser Rollenübernahmen, der Berührung mit einer Mehrzahl von Konzeptionen des Guten wie Gerechten, prekärer beruflicher Karrieren etc. muss der Anspruch auf eine profunde Ausleuchtung des Selbst insoweit an Plausibilität einbüßen, als die Subjekte damit zu rechnen haben, stetig neue Facetten an sich zu entdecken bzw. immer wieder Neukonzeptionen von sich hervorzubringen. Die Permanenz der Selbstverständigung zeigt sich somit als die Permanenz eines stetigen Umbaus des Selbst; weniger besteht sie in der Aufrechterhaltung eines einmal erworbenen Selbstbilds von hoher interner Konsistenz.70 Dass dabei – selbst im Fall radikalerer Transformationen – Vorstellungen von Kontinuität und Kohärenz dennoch in Rechnung zu stellen sind, wurde empirisch wie normativ verschiedentlich entfaltet. Interessanterweise spielt diesbezüglich das schon von Ricœur gebrauchte Konzept der Aneignung eine nicht unerhebliche Rolle. So hat etwa Jaeggi einen „Aneignungsbegriff des Selbst“ vorgeschlagen, um die Aspekte der Vielfalt resp. Veränderung mit den Aspekten der Kohärenz resp. Kontinuität miteinander in Kontakt zu halten.71 Im Zentrum steht der Gedanke, dass synchrone wie diachrone Brüche nicht über ein essenzialistisches Kernselbst oder ein Set von rigiden Bindungen an einmal etablierte Einstellungen überbrückt werden, sondern das Selbst mittels Praktiken der Aneignung Zusammenhang und Beständigkeit erlangt. Formal betrachtet setzt Aneignung – ganz im Sinne von Ricœur – Fremdheit voraus. Damit ist festgehalten, dass das Subjekt ernstzunehmende Erfahrungen der Vielfalt und Veränderung machen kann. So mag sich eine Person im Blick auf eine Lebenssituation aus der Vergangenheit geradezu als ‚ein anderer Mensch‘ erscheinen. Das zurückliegende Bild mutet ihr ‚fremd‘ an; aus der momentanen Situation heraus kann sie sich nicht in ihm wiederfinden; es hat mit ihr ‚nichts‘ zu tun, bleibt unbezüglich. Entsprechend besteht die Aneignungsprozedur in der Herstellung einer irgendwie gearteten Relation zur aktuellen Sicht ihres Selbst – etwa im Entwurf einer Erzählung, in der die Diskrepanz sinnhaft rekonstruiert wird. Somit wird Kontinuität nicht über eine simple Gleichsetzung gewonnen, sondern über eine für das Subjekt kognitiv wie emotional nachvollziehbare Geschichte, die es über seine Veränderung zu erzählen vermag.72 70 Im Horizont einer ästhetischen Konturierung der Identitätsbildung beschreibt Zygmunt Bauman die Bestimmung des Selbst als den performativen Prozess einer „kreative[n] Destruktion“. In der permanenten Umstrukturierung des Selbst verschränken sich der ‚Abbau‘ bestehender Selbstbilder und der ‚Aufbau‘ neuer Identifikationen (vgl. Ders., Lebenskünstler, 118f). 71 Vgl. zum Folgenden Jaeggi, Entfremdung, 187–235, hier 188; Dies. Aneignung sowie analog auch Bieri, Zeiterfahrung; Ders., Handwerk, 379–430. 72 Auf ähnliche Weise erläutert auch Tim Henning die Frage einer radikalen lebensgeschichtlichen Zäsur. Am Beispiel einer Person, die „einfach eines Morgens unvermittelt mit einem komplett veränderten System von Vorlieben und Wünschen aufwacht“, versucht er deutlich
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Demnach ist Aneignung erstens ein aktiver Vorgang. Sie widerfährt einer Person nicht, sondern ruht auf einer hermeneutischen Leistung auf. Zusammenhang und Beständigkeit sind nicht etwas Vorausgesetztes, sondern Resultate einer Tätigkeit.73 Freilich impliziert Aneignung zweitens stets einen Rekurs auf ,Vorgegebenes‘: auf erinnerte Erfahrungen, frühere Selbstinterpretationen oder sonstige ‚Dokumente‘ der Vergangenheit. Mithin ist durchaus Skepsis angebracht gegenüber Entwürfen, die ein gleichsam heroisches Subjekt in Anschlag bringen und von einem durchweg freien Verfügen über die eigene Biographie, einer nach Belieben offene Konstruierbarkeit des Selbst oder seiner souveränen Optimierung ausgehen. Und doch bedeutet Aneignung drittens nicht einen Akt bloßer Duplikation. Wie Ricœur interpretiert auch Jaeggi Aneignungsvollzüge als wechselseitige Transformationen, die den Aneignenden sowie das Angeeignete betreffen. Das einstige Selbst wird im Licht der Gegenwart restrukturiert, erinnerte Erfahrungen selegiert, gewichtet, zurechtgeschnitten, wie auch das Bild des aktuellen Selbsts in der aneignenden Tätigkeit Modifikationen erfährt.74 zu machen, welche Struktur ein tiefgreifender Wandel besitzen muss, um die Identität eines Subjekts nicht zu gefährden. So hätte diese Person „allen Grund, sich selbst als Schauplatz fremdartiger neuer Kräfte und Antriebe zu betrachten“; ihr altes und ihr neues Selbst bleiben unbezüglich. Dies ist dann nicht der Fall, wenn die Person dem radikalen Wandel einen, wie Henning sagt, „biographischen Grund“ zuzuweisen vermag, was heißt: die Person führt die Kehre nicht einfach auf irgendwelche kausalen Ursachen zurück, sondern kann eine Erfahrung namhaft machen, die sie als bedeutsam und sinnhaft erlebt und damit in der Lage ist, den radikalen Wandel für die Person „verständlich zu machen“ und „nahe zu legen“ (vgl. Ders., Identität, 33f [Hervorhebung M.S.] sowie ausführlicher Ders., Lebensgeschichte). Dezidiert zur Rolle des Narrativen für die Integration von Diskontinuität und Kontinuität, Vielfalt und Einheit vgl. Ricœur, Identität. 73 In einer mehrperspektivischen Analyse hat ebenfalls Barbara Keddi Kontinuität als Resultat einer dauernden Praxis herausgestellt; sie ist Personen nicht einfach mitgegeben, sondern wird durch sie hergestellt (vgl. Dies., Continuity). 74 Alle drei Aspekte finden sich ebenfalls in den Ausführungen von Peter Bieri zur identitären Funktion der Aneignung. Wie Jaeggi verwirft auch er damit ein essentialistisches Verständnis des Selbst, wonach dieses in einem „stabilen Kern“ gründe oder das Subjekt einen „Standpunkt außerhalb dieser Geschichten“ einnehmen könnte. Die „Folge von wechselnden Aneignungsgeschichten [ist] das Einzige […], was wir als Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ haben“ (vgl. Ders., Zeiterfahrung, 272–281, hier 276 [Hervorhebung i. Orig.]). Die Pointe eines solchen Zugangs lässt sich mithilfe einer bestimmten Version der identitätstheoretisch vielfach variierten Metapher des ‚Umbaus eines Schiffs‘ illustrieren. Selbstverständigung gleicht dem Umbau eines Schiffs auf hoher See. Sowenig das Schiff – außerhalb seiner Tour, im Dock auf stabilem Grund – ad hoc komplett renoviert werden kann, sosehr ist es doch erneuerbar, im Prinzip sogar rundum – nur dass auf seiner Tour jede einzelne Planke allein sukzessive und partiell ersetzt werden kann. So etwa Otto Neurath: „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können“ (Ders., Protokollsätze, 206; vgl. dazu auch Jaeggi, Entfremdung, 148; Bieri, Handwerk, 408–415; Ders., Wie wollen wir, 14: „Der innere Umbau, in dem diese Art von Selbstbestimmung besteht, geschieht nicht von einem inneren Hochsitz aus, der den Fluß des seelischen Leben hoch und unberührt überragte. Der
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Insofern zeigt sich Selbstverständigung im Licht eines ‚Aneignungsbegriffs des Selbst‘ als ein dynamischer Prozess, dessen Konturierung sowohl die Problematik einer starren Identität sowie die Problematik allzu forscher Forderungen nach Selbsttranszendierung, Transformation und Multipliziät zu berücksichtigen weiß. Bezogen auf das Selbst kehrt hier in gewisser Weise das Miteinander von Transformation und Affirmation wieder.75 Der Blick auf diese fünf Konturen der Selbstverständigung mag verständlich machen, weshalb Gesellschaften Praktiken hervorbringen, die von ihren Mitgliedern in Gebrauch genommen werden, um sich zu befragen und zu bestimmen. Wenn der Mensch kein unmittelbares Verhältnis zu sich unterhält, sondern im Medium deutender und entwerfender Vollzüge existiert; wenn diese – zumal unter aktuellen Voraussetzungen – nicht zum Abschluss gebracht werden können, sondern eine permanente Lebensaufgabe stellen; wenn sich die Interpretationen des Selbst nicht in monologischer Introspektion, sondern auf ‚Umwegen‘ einstellen – dann wird die kulturelle Etablierung von Praktiken, die der Selbstverständigung dienen, plausibel. Man kann sie im Anschluss an Georg Bertram als „Reflexionspraktiken“ bezeichnen.76 Ganz im Sinne der bisherigen Standpunkt, von dem aus ich mich beurteile, ist Teil dieses Flusses und beruht selbst wieder auf bestimmten Gedanken, Wünschen und Gefühlen“). 75 Eine zu leichtfertige Priorisierung und zu vollmundige Feier des Veränderungsaspekts hat mit scharfen Worten Jürgen Straub angeprangert. Seine ‚Mahnung‘ sollte auch Reflexionen auf die transformative Dimension der Predigt mindestens zu denken geben, weshalb sie an dieser Stelle etwas ausführlicher zitiert wird: „Vor einer Glorifizierung jener Formen der Selbstentgrenzung und Selbstranszendenz, die fast jede Gewalt gegen sich und andere in Kauf nehmen, nur um das Subjekt außer sich, über sich selbst hinaus (und damit in einem doch fragwürdigen Sinn ‚zu sich‘) bringen zu können, kann man wohl mit guten Gründen warnen. Ich sehe keinerlei Anlass, sich von propagandistischen Artikulationen des gewalttätigen Exzesses, der schonungslosen Selbstüberschreitung und Selbstentgrenzung derartig faszinieren zu lassen, dass für die ‚Identität‘ nur noch beißender Spott und Verachtung übrig bleibt […]. Die normative Bedeutung des Identitätsbegriffs verdankt sich letztlich der schmerzlichen Erfahrung der massiven Identitätsdiffusion und des radikalen Identitätsverlusts. Raum und Zeit sowie die aus Werten, Normen und Regeln geflochtene Matrix menschlicher Angelegenheiten sowie die Praxis selbst geraten aus den Fugen, sobald diese Erfahrung überdauert und die Oberhand gewinnt. Damit geht, psychologisch betrachtet, weit mehr verloren als nur die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit einer Person für die Interaktionspartner und für die womöglich anonymen disziplinarischen Mächte, die in einer Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft wirksam sein mögen. Wer unter einer massiven Identitätsdiffusion oder der Auflösung seiner Identität leidet, leidet unter dem Verlust seiner Orientierungs-, Handlungs-, Interaktions- und Beziehungsfähigkeit, kurzum: er leidet unter der massiven Bedrohung seiner als Selbstständigkeit und Selbstbestimmung begriffenen Freiheit, seiner Würde und seines sozial vermittelten Wohlbefindens. Subversiv ist an diesem Verlust nichts“ (Ders., Identität, 108f [Hervorhebung i. Orig.]). 76 „Menschen sind das, was sie sind, nicht von Natur aus. Sie sind auch nicht schlicht aus einer Tradition heraus in dem bestimmt, was sie ausmacht. Menschen haben das, was sie sind, vielmehr auch immer wieder neu zu bestimmen. Was der Mensch ist, ist er immer auch dadurch, dass er Stellung nimmt, und zwar zu sich, und dieses Stellungnehmen ist als ein
Annäherungen
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Überlegungen hält Bertram fest, dass von Reflexionspraktiken affirmative wie transformative Effekte zu erwarten sind: Sie fungieren als Instanzen der Selbstvergewisserung ebenso, wie sie in der Lage sind, „kritische Anstöße“ freizusetzen und Erweiterungen des Selbst anzuregen.77 M.E. kann nun auch die Predigt als eine solche ‚Reflexionspraxis‘ begriffen werden – zumindest wenn man mit Luther und Ricœur der Intuition etwas abzugewinnen vermag, dass Religion nicht abseits der Selbstverständigungsvollzüge der Subjekte zu verorten ist. Schon im Denkhorizont stärker substanziell gefasster Religionskonzepte dürfte dies weitgehend der Fall sein, degenerierte Religion ansonsten doch zu einem System von Behauptungen über eine transzendente Wirklichkeit, ohne dass etwas über den pragmatischen Rang dieses Wissens ausgesagt werden könnte. Der Bezug einer Person auch zu theologischen Aussagen ließe sich dann höchstens im Sinne einer formellen Bejahung oder Verneinung explizieren; ihre subjektive Bedeutsamkeit, existenzielle Valenz und lebenspraktische Brisanz bliebe außerhalb der Reflexionsreichweite.78 Darüber hinaus entfalten gerade formalere Ansätze das Religiöse wiederholt in identitätsbezogenem Vokabular. In dieser Perspektive gewinnen die Akte der Selbstverständigung per se an religiöser Valenz, befragt und bestimmt sich eine Person in ihnen doch dahingehend, was für sie von ‚ausschlaggebender Bedeutung‘ und ‚letzter Relevanz‘ ist, worin sie den Sinn ihres Lebens erblickt, sich Glück, Halt und Zusammenhang verspricht.79 Auf Basis dieser engen Verbindung von Religion und Selbstverständigung erscheint es als legitim, auch die religiöse Praxis praktisches Geschehen zu begreifen. Das heißt: Die kontinuierliche Neubestimmung des Menschen geht wesentlich von Praktiken aus, die zur Gattung der reflexiven Praxisformen gehören“ (vgl. Bertram, Kunst, 11–21, hier 13). 77 Vgl. Bertram, Kunst, 139–146.211–219, hier 215. 78 Im Kontext protestantischer Theologie hat neben vielen anderen prominent Bultmann auf den inneren Zusammenhang von Gottesrede und menschlicher Selbstverständigung hingewiesen, insofern ein „Reden von Gott“ nur möglich sei als ein „Reden von uns“. Entsprechend seien auch die biblischen Texte recht verstanden erst, wo sie nicht einfach als Bezeichnung transzendenter Realitäten gelesen, sondern „existenzial“ – also hinsichtlich der in ihnen „aufgedeckten Möglichkeiten menschlichen Seins“ – interpretiert werden. Ausgehend von seinem „vorläufigen Verständnis menschlichen Seins“, der „Frage nach dem ‚Heil‘, nach dem ‚Sinn‘ des persönlichen Lebens oder nach dem ‚Sinn‘ der Geschichte, nach den ethischen Normen des Handelns, der Ordnung der menschlichen Gemeinschaft und dgl.“ vermitteln sie dem Rezipienten ein „Verständnis seiner selbst, der eigenen Möglichkeiten“ (vgl. Bultmann, Sinn, hier 33; Ders., Problem, hier 228 [Hervorhebung i. Orig.]; ausführlich dazu Landmesser, Wahrheit, 253–313 sowie in homiletischer Perspektive Gräb, Predigtlehre, 123–144). 79 Vgl. dazu in je unterschiedlicher theoretischer Ausprägung Luckmann, Religion; Oevermann, Modell; Nassehi, Religion; Ders., Kompetenz; Knoblauch, Spiritualität; Ders., Religion; Schnell, Religiosität; Dies., Wege. In allen Entwürfen vermittelt sich neben stärker grundsätzlichen Erwägungen ein dezidiert gegenwartsbezogenes Religionsverständnis, demzufolge das Subjekt und seine Selbstthematisierungsvollzüge gerade unter individualisierten Bedingungen auf diversen Ebenen für die Theoretisierung des Religiösen an Bedeutung gewinnen. Dazu ausführlicher Teil E.
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Teil A: Einführung
der Predigt als eine Reflexionspraxis in Anschlag zu bringen. Sie wäre dann als ein Medium der Selbstverständigung zu begreifen – und folglich, wie gesehen, immer zugleich auch als ein Medium der Selbsterweiterung. Zum Abschluss dieses Passus soll den Erwägungen zur Relation von Selbst und Religion im Blick auf die Frage der Transformation zumindest noch eine kurze historische Reminiszenz angefügt werden. In einem anderen diskursiven Milieu und unter anderen kulturellen Voraussetzungen hat Friedrich Schleiermacher in seinen Monologen und Reden ein Verständnis der Bildung des Selbst skizziert, das die Externität der Selbstwerdung zentral setzt. Als permanenter Prozess der Bestimmung dessen, was mir eigen ist (und eigen werden soll), und dessen, was mir fremd ist (und fremd bleiben soll), geschieht Bildung im Rekurs auf Alterität. Genauer differenziert Schleiermacher zwei Formen, in denen sich das Subjekt mit Anderem konfrontiert: In der Phantasie imaginiert es, in der Sozialität erlebt es alternative Seinsmöglichkeiten.80 In dieser Umweglichkeit der Selbstbildung verankert Schleiermacher auch die Geselligkeit der Religion. Dabei markiert er zwei tiefer liegende Motive, die das Subjekt in der Erkundung seines Selbst über es hinausführen.81 Zum einen sei es eine Art Grundbestreben des Menschen, das, was ihn bewegt, was ihn unbedingt angeht und für ihn von ausschlaggebender Bedeutung ist, „auch außer sich an Anderen anzuschauen“ – genauer, „um sich vor sich selbst zu legitimieren“, zur Vergewisserung, „daß ihm nichts als menschliches begegnet“. Die Präge- und Bindekraft seiner höheren Werte nötigt den Menschen gewissermaßen zur intersubjektiven Prüfung, „ob es keine fremde und unwürdige Gewalt sei“, die ihn hier in seinem Lebensvollzug bestimmt. Zum anderen führe ihn die Unausschöpfbarkeit des Selbst in den Dialog mit anderen. Sie zeigt sich insbesondere auf Ebene der Frage nach dem Grund und der Ganzheit des Selbst82 – mithin auf Ebene der Religion: „Bei keiner Art zu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftes Gefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit ihren Gegenstand jemals zu erschöpfen, als bei der Religion.“ Aus diesem Grund, „intereßirt ihn jede Äußerung derselben, und seine Ergänzung suchend, lauscht er auf jeden Ton den er für den ihrigen erkennt“. Schleiermacher fundiert den religiösen Diskurs damit nicht nur in der Bildungsdynamik des Subjekts, sondern schreibt ihm zugleich zwei Funktionen ein: Er dient der prüfenden, womöglich auch kritischen Selbstvergewisserung wie der Eröffnung neuer Perspektiven der Selbsterkundung. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch von Schleierma-
80 Vgl. Schleiermacher, Monologen, 32.36ff.59.77. Zur Rolle der Externität in Schleiermachers Auffassung des menschlichen Lebensvollzugs vgl. auch Ebeling, Beobachtungen. In ihr und in der Zeitlichkeit identifiziert er die beiden Grundfaktoren jeder Veränderung des Subjekts: „Für jedes Selbstbewußtsein sei außer dem Ich noch etwas anderes vorausgesetzt, woher die Bestimmtheit desselben stammt und ohne welches das Selbstbewußtsein nicht gerade dieses wäre. Diesen mit der Zeit zusammenwirkenden Veränderungsfaktor könnten wir auch als Externität bezeichnen. […] Etwas, was mit sich schlechterdings identisch wäre und jeder Beziehung zu anderem entbehrte, könnte gar nicht als veränderlich gedacht werden. Veränderung läßt wohl anderes eintreten, setzt aber auch vor und neben dem zu Verändernden selbst anderes bereits voraus“ (vgl. a. a. O., 107 [Hervorhebung i. Orig.]). 81 Zu den folgenden Zitaten vgl. Schleiermacher, Reden, 135f (Hervorhebung M.S.). 82 Vgl. dazu auch Angehrn, Sinn, 372–375.
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cher her die Predigt als Reflexionspraxis ausweisen, in der sich die Hörenden im Blick auf ihr Selbstverständnis zu erproben, bestätigen und erweitern in der Lage wären.
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Sondierungen: Zur transformativen Dimension der Predigt
Als ein Medium der Selbsterweiterung kommt die Predigt auch im Horizont aktueller Homiletik in Betracht. Wie angedeutet ist der predigttheoretische Diskurs dabei von einer gewissen Spannung durchsetzt. Werden der Predigt notorisch und mit großer Selbstverständlichkeit transformative Funktionen zugeschrieben, bleiben bewusste und vor allem eingehendere Reflexionen darauf eher selten. Im Folgenden sollen einige Grundzüge solcher dezidierter auf die transformative Predigtdimension abstellenden Erwägungen herausgearbeitet werden. Als Einstieg dienen die homiletischen Überlegungen Henning Luthers, hat er sein auf Entsicherung, Aufstörung und Beunruhigung ausgerichtetes Religionskonzept doch auch für das Nachdenken über die Predigt fruchtbar gemacht und in diesem Zuge Aspekte notiert, die für den rezenten Diskussionszusammenhang überhaupt prägend sind. In der Einleitung seiner Predigtsammlung Frech achtet die Liebe das Kleine fundiert Luther die Praxis der Predigt ausdrücklich in seiner Religionsauffassung. Als religiöse Rede ziele sie auf die Provokation von „Verunsicherungen“ und Artikulationen der „Frage nach dem Anderen“: Sie „beunruhigt eher als zu bestätigen“, irritiert die „alltäglichen Selbstverständlichkeiten“ und sabotiert konformistische Haltungen zugunsten eines transzendierenden Sinns. Eine solch „unterbrechende Rede“ stellt für Luther die zeitgemäße Antwort auf eine pluralisierte Gesellschaft dar, in der fraglos geltende Evidenzen – zumal christlicher Provenienz – nicht mehr vorauszusetzen seien und jeder „Ton autoritativer Gewißheit“ als Missklang im Akkord öffentlicher Selbstverständigung empfunden werde.83 Schon diese knappen Andeutungen rufen diverse Problemkonstellationen auf, die den rezenten homiletischen Diskurs auch in der Frage nach der transformativen Predigtdimension wenigstens implizit bestimmen. Da wäre zunächst der ethisch konnotierte Vorbehalt gegenüber allen repressiv anmutenden Predigtweisen. Indem Luther die unterbrechende parole abseits autoritärer Deklarationen platziert, bindet er das veränderungsinteressierte Reden an einen Sprachgestus, der die Adressaten als autonome Subjekte involviert.84 Sodann
83 Vgl. Luther, Einleitung, 9ff. 84 Ausführlicher traktiert findet sich die ethische Frage nach der Wirkung der Predigt bei Luther in Ders., Handlung, 231–235. Er argumentiert über die Kategorie der Zustimmung und bindet die intendierten Predigteffekte an die Akzeptanz der Hörenden zurück. Dies verlangt von der
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Teil A: Einführung
klingt im Verweis auf Ausdifferenzierung und Traditionsabbruch eine kultursensible Homiletik an, die in liberaler Tradition die Predigt im Kontext ihrer gesellschaftlichen Bedingungen zu bedenken versucht. Und endlich wirken in beiden Tendenzen noch die Debatten der 1960er und 1970er Jahre nach, in denen durch die kritische Auseinandersetzung mit der dialektisch-theologisch inspirierten Homiletik die praktischen Fragen konkreter Predigttätigkeit neue Aufmerksamkeit erfuhren. Für das Nachdenken über den Wirkungsaspekt der Predigt kann diese Zäsur kaum hoch genug veranschlagt werden. Die transformativen Effekte lassen sich nicht mehr allein unter Hinweis auf das göttliche Handeln eruieren, sondern rücken in den Verantwortungsbereich menschlicher Redetätigkeit ein und werden der Reflexion durch kommunikationstheoretische Disziplinen zugänglich.85 Luthers homiletische Darlegungen sind diesbezüglich insofern interessant, als sie die wesentlichen kulturwissenschaftlichen Reflexionshorizonte, in denen über die letzten Jahrzehnte die Veränderungsfunktion der Predigt erkundet worden ist, bündeln bzw. vorprägen. Seine beiden Hauptschriften zur Homiletik nähern die Predigt in ihrer Wirkung seitens der Rhetorik an, spielen ästhetische Erwägungen ein und nehmen, indem sie beide Theorieressourcen mit sprechakttheoretischen und theaterbezogenen Vokabularen verknüpfen, wichtige Stichworte aktueller performativer Konzipierungen vorweg.86 Die Rekonstruktion zentraler Züge veränderungsbezogener Erörterungen soll folgend durch diese drei Konzeptionshorizonte strukturiert werden.87 Predigerin, sich nicht nur selbst über ihre Wirkabsicht Klarheit zu verschaffen, sondern diese zudem auch ihrem Publikum transparent zu machen. Kritisch dazu Lütze, Absicht, 26f.34. 85 Vgl. dazu Luther, Predigt, 396 sowie etwa Bastian, Problemanzeigen, 336 („Die Semiotik versetzt die Theologie in die Lage, nicht nur die semantische, sondern auch die pragmatische Verantwortung für die kirchliche Rede zu übernehmen. […] Für die Informationstheologie ist das nicht mehr möglich, die theologische Verantwortung auf den theoretischen Bereich vor der Predigt zu begrenzen und die Pragmatik Gott zu überlassen.“); Josuttis, Idealbilder, 143 (In der Homiletik können sich Rhetorik und Theologie „begegnen und miteinander kooperieren, weil [beide] gemeinsam menschliche Arbeit an und mit sprachlichen Symbolen wissenschaftlich reflektieren. Sie müssen in der Homiletik sachnotwendig aufeinander bezogen werden, weil auch die religiöse Rede im Akt der Predigt den allgemeinen Gestaltungsund Wirkungsbedingungen menschlicher Arbeit an und mit Sprache unterliegt.“); für die USamerikanische Homiletik Rose, Word, 60 („Kerygmatic theory emphasizes God’s responsibility in the sermon’s becoming an event. The preacher’s task is simply to preach the kerygma; if the kerygma is truly preached, an encounter with God occurs. [The New Homiletic] emphasizes more the preacher’s responsibility in the sermon’s becoming an event.“). 86 Vgl. Luther, Predigt; Ders., Handlung. Luthers Akzentuierung der Predigt als Handlung, die einer Absicht folgt und auf „Wirkung bedacht“ ist (vgl. a. a. O., 224), dürfte sich nicht zuletzt seiner intensiven Beschäftigung mit der Praktischen Theologie Niebergalls verdanken, der die Predigt in relativer Abkehr von Schleiermacher durchweg als wirksames Handeln aufgefasst hat (vgl. etwa Ders., Wie predigen, Bd. 2, 133). Zu den rhetorischen Anleihen sowie ästhetischen und performativen Anregungen Luthers vgl. detailliert Fechtner, Predigt. 87 Sosehr die Rekonstruktion auch unter gewissen chronologischen Gesichtspunkten erfolgt, sowenig stellen die Konzeptionshorizonte einander de facto ablösende oder de jure aus-
Sondierungen
2.1
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Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen rhetorisch-kommunikationswissenschaftlicher Zugänge innerhalb der Homiletik
Dem Versuch einer Darlegung des subversiven Charakters kirchlicher Verkündigung verdankt das theologiegeschichtliche Motivgedächtnis die Figur des Pfarrers, der es den Leuten recht macht. In einer 1916 erstmals publizierten Predigt entwirft sie der junge Karl Barth als Antipode des wahren Predigers. Der „Pfarrer, der es den Leuten recht macht“ – man wird in ihm den idealtypischen Repräsentanten der kulturprotestantischen Predigttradition erkennen sollen – ist ein „Angestellter der Menschen“, „vermeidet gewandt allen Anstoß“, „will sich und die Anderen nicht zu stark stören“; er ist der „falsche Prophet“ – denn geht es ‚richtig‘ zu, dann heißt „einen Pfarrer im Dorf haben […] eine ewige Unruhe im Dorfe haben“, dann ist es eine „gefährliche Sache“, schlägt er die Bibel auf, dann treten die „lebendigen Gotteskräfte […] wie ein Strom über ihre Ufer, tragen überall hin Zerstörung, aber auch Fruchtbarkeit, stürzen überall ein Altes und wollen überall ein Neues schaffen“.88 Was hier im Predigtjargon formuliert ist, kann als Kernmoment Dialektischer Predigttheorie angesehen werden. Im Rekurs auf die Schrift eröffnet die Predigt „eine neue Welt“89; sie führt an einen „fernen, […] entlegenen Ort […] außerhalb unseres Selbst“, so dass wir von uns „weggerufen“ werden „hin zu etwas anderm“.90 Dieses Andere ist theologisch qualifiziert: Die Predigt zeugt nicht von etwas Anderem, sondern vom ganz Anderen und erschließt ihrem Auditorium somit die Chance einer radikalen Transzendierung.91 Sie ist eigentlich nicht
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schließende Alternativen dar. Ihnen sind in den meisten Fällen ebenso keine Einzelpositionen exklusiv zuzuordnen. Vgl. Barth, Pfarrer, 196–199. Für eine Nachzeichnung der Veröffentlichungshistorie der Predigt sowie ihre theologiegeschichtliche Einbettung vgl. Drehsen, Predigt. „[I]n der Bibel steht eine neue Welt, die Welt Gottes. […] [W]enn wir überhaupt dem Inhalt der Bibel näher treten wollen, müssen wir es wagen, weit über uns selbst hinauszugreifen. […] Die Bibel sagt uns bei gewissen ‚Auffassungen‘, die wir uns von ihr machen, bald sehr deutlich und sehr freundlich: So, das bist du, aber nicht ich. Das ist nun das, was dir vielleicht in der Tat sehr gut paßt: zu deinen Gemütsbedürfnissen und Ansichten, in deine Zeit und in eure ‚Kreise‘, zu euren religiösen oder philosophischen Theorien! Sieh nun hast du dich spiegeln wollen in mir und hast wirklich dein eigenes Bild in mir wiedergefunden! Nun aber geh und suche auch noch mich! Suche, was dasteht! Die Bibel selbst ist’s […], die uns über uns selber hinaustreibt“, so Barth in einem Gemeindevortrag aus demselben Jahr der Predigterstpublikation (vgl. Ders., Welt, 21f [Hervorhebung i. Orig.]). Vgl. Thurneysen, Grundregeln, 484f. Sosehr die Nestoren der Dialektischen Theologie nicht hinter die Einsichten der historischen Kritik zurückgehen und den biblischen Kanon als zeitgeschichtliches Dokument anerkennen, sowenig liegt für sie der neuralgische Punkt der ‚Ferne‘ der Schrift in ihrer historischen Abständigkeit. Bedeutsam ist sie als ontologische Distanz, als Differenz zwischen der alten Welt des Menschen und der neuen Welt Gottes.
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Teil A: Einführung
Medium der Selbsterweiterung, sondern der Selbstnegation, einer totalen Erneuerung. Entsprechend geht es auf den Kanzeln um „Alles oder nichts“92, „Glauben oder Unglauben“93 – Transformation im großen Maßstab. Darin impliziert ist ein Modell der Veränderung, das in der Tendenz auf ein dualistisches Schema hinausläuft. Das ‚Neue‘ wird auf die Seite ‚Gottes‘, der ‚Schrift‘, des ‚Evangeliums‘ oder des ‚Glaubens‘ geschlagen, während die Wirklichkeit des Menschen, seine Erfahrungen, Bedürfnisse, Wünsche und Sichtweisen das zu Wandelnde repräsentieren. Veränderungen im Glauben, im Gottesbild, in der praxis pietatis müssen nach diesem Modell außen vor bleiben.94 Auf Basis dieser dualen und totalen Konturierung der Transformation ist es nur konsequent, dass ihr Eintreten auch „kein vom Menschen herbeizuführendes oder auch nur dirigierbares Ereignis“ sein kann; es entzieht sich der Verantwortungssphäre menschlicher Kommunikationstätigkeit, womit auch deren genauere methodische Erhellung zur Marginalie werden muss.95 Im Zuge der empirischen Wende, die sich im Bereich der Homiletik in gewisser Weise auch als „rhetorische Wende“ interpretieren lässt,96 kommt es in diesem knapp skizzierten dialektisch-theologischen Syndrom der Transformation zu Neubestimmungen. Dies setzt voraus, dass es überhaupt etwas ‚gibt‘, das neu bestimmt werden kann, die subversive Funktion der Predigt also nicht preisgegeben wird. Dass ein solches Verständnis der homiletischen Reformen um die 92 Barth, Pfarrer, 199. 93 Barth, Welt, 29. 94 Dass dieses tendenziell dualistische Transformationsmodell nicht allein in der Dialektischen Predigttheorie angelegt ist, sondern auch die predigtpraktische Vorbereitungsliteratur affiziert, hat Birgit Weyel in einer Analyse zu den Göttinger Predigtmeditationen nachgewiesen (vgl. Dies., Ostern, 211–240). 95 Vgl. Thurneysen, Grundregeln, 474; Ders., Aufgabe, 105–108; Barth, Wort, passim. Dass mit der programmatischen Verschiebung des homiletischen Erkenntnisinteresses auf die Ebene der prinzipiellen Fragen – „[W]as heißt predigen? und – nicht: wie macht man das? sondern: wie kann man das?“ (Barth, Not, 103 [Hervorhebung i. Orig.]) – die methodischen Fragen nicht exklusiv in die Latenz einer der Predigtpraxis selbst impliziten „praktischen Predigtlehre“ entschwinden (vgl. Rössler, Problem), sondern noch in der Absage an überkommene Verfahrensmaximen – „[K]eine Beredsamkeit!“ Kein „Eingehen auf das […] Bedürfnis des Hörers“! „Keine Abwechslung in der Predigt!“ (vgl. Thurneysen, Aufgabe, 111–117 [i. Orig. teils hervorgehoben]) – via negationis methodische Kunstregeln aufscheinen, hat Grözinger, Homiletik, 67ff angemahnt. 96 Vgl. Luther, Handlung, 225. Dies ist dann möglich, wenn Rhetorik nicht auf eine bestimmte rhetorische Konzeptionsvariante beschränkt wird, rhetorisches Denken auch in Ansätzen identifiziert wird, die nicht explizit im Rahmen rhetorischer Erörterungen ausformuliert sind – so hat etwa Gert Otto den Entwurf von Ernst Lange als implizit rhetorisch gewürdigt (Ders., Kritik, 1f) – und die Genese der jüngeren Kommunikationswissenschaft nicht einfach abseits der unter der Chiffre ‚Rhetorik‘ laufenden Theoriebildung platziert wird – was angesichts des Fortlebens klassischer rhetorischer Einsichten innerhalb der Kommunikationsforschung sowie der Einarbeitung kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse in aktuelle Rhetorikentwürfe auch gar nicht möglich ist.
Sondierungen
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Jahrhundertmitte keineswegs als selbstverständlich gelten kann, belegen die Einlassungen Rudolf Bohrens zur Predigttheorie von Ernst Lange. Lange zielte auf ein homiletisches Verfahren, das die Predigenden in die Lage versetzen sollte, verständlich und bedeutsam zu reden.97 Tatsächlich bilden die ersten beiden Glückensbedingungen, die Latour für den religiösen Diskurs veranschlagt, das Zentrum, von dem her sich Langes Nachdenken über die Predigt organisiert. Was prima facie als bloß ergänzende Wiedergewinnung praktischer Fragen zum Ziel der Steigerung der Kommunikativität der Predigt erscheinen könnte, stellt sich bei genauerer Betrachtung als ein paradigmatischer Wechsel dar, der das Predigtgeschehen in einen neuen Denkrahmen einfügt. Mit Wilhelm Gräb könnte man ihn als Wechsel von einem „Verkündigungsparadigma“ hin zu einem „Deutungsparadigma“ bezeichnen, erfordern die Kriterien der Verständlichkeit und Bedeutsamkeit doch einen konsequenten Anschluss an die Lebenswelt der Adressaten:98 Die Kenntnis der Themen, die sie beschäftigen, der Sprachen, in denen sie sich auslegen, und der Einstellungen und Projekte, die sie anspornen, erschließt nicht nur den Zielpunkt der Verkündigung eines vorab anderenorts gewonnenen Kerygmas, sondern den Gegenstandsbereich einer christlich konturierten Deutungspraxis, an dem sie ab ovo anhebt und in dem sie ihre bleibende Erschließungsaufgabe besitzt. Bohren wertet diesen konsequenten Anschluss als affirmative Anpassung. Als Deutung der Lebenswelt entbehre die Predigt jeder Möglichkeit, die Situation ihrer Hörer zu überschreiten, kritisch zu distanzieren und somit transformativ anzuregen. Konsequenter Situationsbezug und subversive Situationsdistanz schließen sich für ihn aus.99 Nun unterschreitet eine solche Interpretation freilich den Eigenanspruch von Langes Entwurf, wie Bohren selbst einräumt. Lange weist der Predigt durchgängig die Aufgabe zu, die Situation zu „klären“, was im Kern ihre „Veränderung“ meint.100 Mit seinem Ansatz steht folglich die Behauptung eines Modells der transformativen Predigtdimension im Raum, das sich außerhalb des Verkündigungsparadigmas im Zeichen der Deutung organisiert. Dass 97 Vgl. exemplarisch Lange, Versuch; Ders., Theorie; Ders., Aufgabe. 98 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 147–169; Ders., Sinnfragen, 187–191; Stetter, Relevanz, 204ff.217.221f sowie überhaupt zum Ansatz Langes etwa Drehsen, Predigtlegitimation; Hermelink, Situation, 156–222. 99 Vgl. Bohren, Differenz, 422–425; Ders., Predigtlehre, 443–464: „Die entscheidende Anfrage an Lange wird die sein, ob nicht der Hörer und seine Situation heimlicherweise zum Gesetz der Predigt wird. Wird die Predigt verstanden als Reaktion auf eine Hörersituation, läuft sie Gefahr, re-aktionär zu werden. Sie reagiert auf Vorhandenes, orientiert sich an einem Bedürfnis“ (450). Analog etwa auch Mildenberger, Predigtlehre, 20.25f. Dass der Ruf nach Relevanz neben den Vorbehalten der Diversität und der Trivialisierung durchaus typischerweise auch dem Einwand der Affirmation ausgesetzt ist, habe ich anzudeuten versucht in Stetter, Relevanz, 218–221. 100 Vgl. Lange, Theorie, 25ff sowie a. a. O., 11.18.49; Ders., Aufgabe, 63.67.
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Bohren ein solches – wenn man so will: interpretatives – Modell der Transformation nicht überzeugen konnte, hat durchaus Gründe, die in Langes Schrifttum selbst verankert sind. Lange konstatiert dieses Modell eher, als dass er seine Möglichkeit systematisch nachwiese. Nur hier und dort deutet er die Intuition an, dass wirksame Veränderung notwendig auf eine Dynamik der Bezugnahme angewiesen ist und im Horizont der im Anschluss an Luther, Ricœur und Latour angedeuteten dialektischen Struktur von Überschreitung und Rekurs der Ausgang bei der Lebenswelt der Hörer seinem nichtaffirmativen Ansinnen nicht nur nicht widerspricht, sondern dieses einen solchen sogar erfordert.101 Die Bohren-Lange-Episode signalisiert exemplarisch das anhaltende Interesse an einer veränderungsprovokativen Predigt, deren Reflexion sich jedoch nicht mehr in den überkommenen Bahnen der Wort-Gottes-Theologie bewegt. Neben ersten Fingerzeigen auf die rekursiven Aspekte kritischer Praxis,102 kommt es dabei zu Verschiebungen auch hinsichtlich der Rolle der Schrift. Wie gesehen bildet der Bezug auf die Bibel im dialektisch-theologischen Syndrom der Transformation die bestimmende Transzendierungsinstanz. Dies gilt weitgehend auch für die Überlegungen Langes. Allerdings ist es nun nicht mehr allein die ontologische Distanz, welche die Überschreitung der bestehenden Lage der Hörer verbürgt. Transzendierungschancen entfaltet der Rekurs auf die biblischen Texte primär aufgrund ihrer historischen Abständigkeit. Als Niederschlag vergangener Kommunikationssituationen sind sie zunächst einmal unerheblich für das hic et 101 Noch am ausführlichsten spielt Lange auf diese Dialektik an in seinem Vortrag Von der Anpassung der Kirche – Versuchung und Aufgabe, dessen erster Teil in Lange, Kirche, 161– 176 veröffentlicht ist. 102 Dass der Gedanke einer Verschränkung von Überschreitung und Rekurs auch den WortGottes-Theologen nicht fremd war, kann die schon zitierte Predigt Barths verdeutlichen: „So behaglich und mit Genuß kann man sie [sc. die „Geschichten und Sprüche“ der Bibel] anhören, so ruhig dabei innerlich weiterschlummern, weil das ja vor unendlich langer Zeit unendlich weit weg von hier gesagt und passiert ist und uns im Grunde – nichts angeht. Ihr hört gerne etwas Anders neben dem, was ihr gewöhnlich hört und darum kommt ihr ja trotz Allem von Zeit zu Zeit immer wieder hierher. Aber das Andre soll nun so sein und hoch schweben über dem Gewöhnlichen wie ein rosenrotes Abendwölklein und beileibe ihm nicht zu nahekommen, weil es sonst Unruhe geben könnte. Ihr seid ganz einverstanden damit, daß es einen Himmel und eine Hölle gibt und laßt euch gerne den Himmel golden und die Hölle schwarz malen unter der Bedingung, daß beide weit weg und nicht im wirklichen Leben sind. Denn daß der Himmel und die Hölle, beide! etwas Gegenwärtiges sind, daß der Himmel und die Hölle, beide! in … sind, auf der Straße, in den Häusern und oft unter dem gleichen Dach, in den Fabriken, in der Kirche, auch hier beide! in euren Herzen, daß es jetzt und hier zu wählen gilt zwischen beiden, das wollt ihr nicht hören, das soll nicht gesagt werden dürfen“ (vgl. Ders., Pfarrer, 198 [Hervorhebung M.S.]; analog auch Thurneysen, Grundregeln, 485). Wie die Kontroverse mit Emil Brunner oder Bultmann um die Frage der „Anknüpfung“ beweist, wird diese Intuition dann freilich auch auf generellerer Ebene nicht in eine ihr entsprechende Form der Theologie bzw. Predigt umgemünzt. Vgl. dazu Engemann, Einführung, 276–280; mit größeren Sympathien für die Position Barths Grözinger, Anknüpfung.
Sondierungen
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nunc und hermeneutisch nicht direkt zugänglich; was ihnen an Gegenwartsrelevanz und Sinn zukommt, ist ihnen nicht „ab[zu]lesen“103, sondern durch Verstehensarbeit im Zirkel zwischen Text und Situation abzuringen. Gerade diese Bemühung um Aktualität eines Vergangenen engagiert die Predigerin für einen Prozess, in dem sie sich nicht mit dem ohnehin schon Verstandenen und als wichtig Erachteten begnügt, sondern die vermeintlichen Gewissheiten in der Artikulation des Glaubens „verfremdet“ und irritiert werden. Der Text wird als geschichtlich ‚ferner und entlegener Ort‘ zur Instanz der Transzendierung.104 Über diese Variation der transgressiven Kraft des Textes hinaus kommt es im Rahmen des empirischen Turns zugleich zu Ergänzungen auf Ebene der Transzendierungsinstanzen. Als einschlägiges Beispiel kann hierfür der rhetorische Ansatz Gert Ottos gelten. Wie Lange insistiert Otto auf die transformative Aufgabe der Predigt: „Der Hörer soll etwas erfahren, was ihn in Bewegung bringt; was er noch nicht gewußt hat und ihm nun eine neue Perspektive ermöglicht; was ihm verborgen war und jetzt aufgedeckt wird – der Hörer soll etwas erfahren, was ihn zu einem andern macht, als er zuvor war“.105
Prägnanter als Lange bringt Otto das Ineinander von Bezugnahme und Distanznahme zum Ausdruck: „Der Redner will den Hörer weiterbringen; das ist sein aufklärerisches Interesse. Gerade deswegen muß er beim jeweiligen status quo ansetzen und nicht beim noch nicht erreichten Ziel. Andernfalls ist seine Rede bereits überflüssig.“106 103 Thurneysen, Grundregeln, 478. 104 Vgl. Lange, Theorie, 40–43; Ders. Aufgabe, 65f. 105 Vgl. Otto, Predigt, 50–53; ferner etwa a. a. O., 37.72; Ders., Gemeinde, 135; Ders., Mensch, 500; Ders., Rede, 9–13. Neben Otto hat sich früh vor allem Manfred Josuttis um eine Wiedergewinnung des rhetorischen Nachdenkens in der Predigtlehre bemüht, um dabei insbesondere den Nexus zwischen Form und Inhalt zu profilieren (vgl. Ders., Homiletik). Auf wesentliche Wandlungen in der Homiletik bereits zurückgreifend und nochmals kritisch am Werk von Barth und Thurneysen ansetzend hat rhetorischerseits dann Walter Jens den „Entwurf einer evangelischen rhetorica nova“ propagiert (vgl. Ders., Predigt, hier 19), so dass Albrecht Grözinger 1979 die Wiederaufnahme des Gesprächs zwischen Homiletik und Rhetorik konstatieren kann (vgl. Ders., Verständnis). Skeptisch dazu Bohren, etwa in Ders., Prophetie, 193–198. Für den Anschluss an die Rhetorik in der katholischen Predigtlehre vgl. die frühen Schriften von Ottmar Fuchs (Ders., Sprechen; Ders., Predigt) sowie Müller, Homiletik (1994), 179–204; eher rudimentär Zerfaß, Grundkurs, 29–44. 106 Otto, Predigt, 51 (Hervorhebung M.S.). Otto verankert diese Dialektik in einem pädagogischen Frame, den er als Basisstruktur auch der rhetorischen Reflexion veranschlagt: „Das ist die didaktisch-aufklärerische Dimension der Rhetorik. Beim Hörer ansetzend, reflektiert sie Inhalte, Mittel und Wege, oder aber, wenn es nicht zureichend geschieht, geht der Inhalt verloren, weil der Hörer nicht erreicht wird. Didaktisch gedacht, und darin rhetorisch: kein Inhalt, es sei denn er wird aufgenommen“ (ebd.). Der Aufruf pädagogischer Erwägungen lässt sich in der Reflexion auf die transformative Predigtdimension häufiger nachweisen. So hat Godwin Lämmermann die Wandlungsaufgabe religiöser Rede überhaupt bildungs-
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Die Rolle, Neues in die Selbstverständigungsprozesse der Hörer einzuspielen, übernimmt in Ottos Entwurf nun vor allem die Sprache der Predigt, präziser: ihr „poetischer“ Gebrauch. Poetizität wird in einem „weiten Sinn“ verstanden. Sie meint die bewusste Formung der elocutio, die Entfaltung ihres Anschaulichkeitspotenzials, mithin die kreative Umgestaltung der Sprachformen, die wir im Alltagsvollzug in Dienst nehmen, um uns über Wirklichkeit zu verständigen. Der poetische Umgang mit Sprache leistet ein Neuarrangement geläufiger Diskursmuster, wodurch die umgangssprachlich getragenen „Denkschablonen des Vorhandenen, des Gegebenen […] durchkreuzt, durchstoßen, zerbrochen oder überstiegen werden“; allein so gewinne die Predigt „transzendierende, d. h. die Hörer weiter-bringende Sprachkraft“ und entgehe der „Gefahr, nur zu verdoppeln, was ist“.107 Nicht sosehr der Text als vielmehr die Sprache der Predigt fungiert als Transzendierungsinstanz. Ganz im Sinne der rhetorischen Denktradition erscheint Sprache dabei nicht als bloßes Repräsentationsorgan. Sie kommt als Wirkungsmedium in Betracht, so dass die Präsentation neuer Perspektiven nicht lediglich der Informierung dient, sondern Einwirkung intendiert.108 In einem theologie- und kulturgeschichtlichen Kontext, in dem Fragen der Einflussnahme nicht nur wieder als theoretisch begründet; und analog zu Otto überführt er den bildungstheoretischen Zugang didaktisch in eine Redepraxis, die „den schmalen Pfad zwischen freier, d. h. willkürlicher Assoziation und autoritärem, affirmativem Gehorchen, zwischen Autarkie und heteronomer Bestimmung, zwischen bloßer Selbstbestätigung und abstrakter Irritation, zwischen Retardierendem und Neuem“ zu erkunden habe. Höchst komprimiert klingt hier ein Zusammenhang an, der im Verlauf der Studie ausführlicher zu bedenken sein wird: der Zusammenhang zwischen der Dialektik rekursiver und transzendierender Dynamiken, dem Verhältnis transformativer und affirmativer Effekte sowie der auch ethisch relevanten Frage nach der Relation von Rezipientenlenkung und Rezipientenautonomie (vgl. Ders., Predigen, hier 150). Dass didaktische Perspektiven nicht allein rhetorisch integriert, sondern in der Explikation des Veränderungsinteresses der Predigt auch ästhetisch ausgelegt werden können, beweist Michael Meyer-Blanck, wenn er unter Aufnahme der Formel des neuen Sehens von Viktor Sˇklovskij auf die Konturierung einer Predigt sinnt, „die darauf zu zielen [habe], dass die Zuhörenden sich selbst neu im Licht des Glaubens sehen lernen, indem sie Neues an einem biblischen Text sehen lernen, welcher im Gottesdienst unter der impliziten Voraussetzung von Gottes Gegenwart zur Sprache gebracht wird“, und dazu didaktische mit literaturtheoretischen Motiven verschränkt (vgl. Ders., Reden, hier, 136 [Hervorhebung i. Orig.]). 107 Vgl. Otto, Predigt, 24f.53–57, hier 25.53; Ders., Kritik, 5–8, hier 6; Ders., Gemeinde, 143f; Ders., Komponenten, 356; Ders., Mensch, 491; Ders., Kunst, 14–25. Ein Bezugspunkt der Überlegungen ist dabei das homiletisch wiederholt zitierte Differenzkonzept von Johannes Anderegg, das zwischen einem instrumentellen und einem medialen Sprachgebrauch unterscheidet (vgl. Ders., Sprache). Vgl. dazu auch Grözinger, Toleranz, 222–244; Ders., Homiletik, 225–231; Conrad, Plädoyer, 146–150. 108 Im Gegensatz etwa zu einer idealistisch geprägten Ästhetik grenzt Otto Kunst nicht gegenüber intentionalen Kommunikationsformen ab. Für ihn sind Rhetorik wie Poetik „einander in der Kategorie des Wirkenwollens verbunden“ (vgl. Ders., Predigt, 38 u. ö.; ferner Ders., Kritik, 7; Ders., Kunst, 99–104; Ders., Wahrheit, 536f; Ders., Komponenten).
Sondierungen
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praktische Fragen diskutierbar werden, sondern zugleich ein ausgeprägter Sinn für Phänomene autoritärer und manipulativer Kommunikationsakte die Diskurslage prägt, muss ein solcher Ansatz die mit der Rhetorik von Beginn an verknüpfte ethische Frage aufwerfen.109 Otto beantwortet sie durch ein Plädoyer für ein nichtinstrumentelles Rede- und Predigtverständnis. Demzufolge ist das oratorische Engagement nicht überhaupt auf Erfolg getrimmt. Es stellt seine bezweckten Effekte unter bestimmte Bedingungen: Auf inhaltlicher Ebene bindet Otto die Predigt an Ziele, die ethisch verantwortbar sind; auf methodischer Ebene spricht er sich für einen modus operandi aus, der die Autonomie der Adressaten anzuerkennen vermag.110 Mit diesem Versuch, an der Wirkabsicht der Predigtpraxis festzuhalten bei gleichzeitiger Abwehr ethisch suspekter Redeformen, hebt er einen basalen Problembezug der Transformationsthematik an die Oberfläche: Sind veränderungsinteressierte Kommunikationen überhaupt zu rechtfertigen? Sind sie an bestimmte qualitative Zwecke gebunden? Auf welche Verfahren wären ihre Subjekte zu behaften? Während Otto ein normativ zugeschnittenes Rhetorikkonzept favorisiert, das die transformative Dimension von vornherein unter ethischen Gesichtspunkten mitreflektiert, knüpft eine Reihe von Autoren jener Jahre an Forschungsstränge an, welche die Frage nach der Wirkung zunächst einmal unter deskriptiver Warte anvisiert. Im Rekurs auf die psychologisch informierte und empirisch ausgerichtete Kommunikationswissenschaft primär US-amerikanischer Provenienz zielen Ende der 1960er Jahre diverse Beiträge auf die Ausarbeitung einer Heuristik, die es erlaubt, die maßgeblichen, die Effekte der Predigt empirisch bestimmenden Faktoren zu sondieren.111 Getreu dem kommunikationswissen109 Als prägnantes Beispiel für die Popularität der Problematik ethisch suspekter Kommunikationen kann auf die ZDF-Fernsehreihe Manipulation und wie man ihr entkommt verwiesen werden, die im Jahr 1979 in sechs Teilen im Sonntagnachmittagsprogramm ausgestrahlt wurde; vgl. unter gleichnamigem Titel auch den Begleitband von Hellmuth Benesch und Walther Schmandt. 110 Vgl. Otto, Predigt, 38–41; Ders., Kunst, 99–106; Ders., Wahrheit sowie Ders., Kritik, 4f, wo Otto sich gegen Einwände von Ulrich von den Steinen zu Wehr setzt, der am Ende seines Beitrags Rhetorik – Instrument oder Fundament christlicher Rede? in der Tat in einen kruden Instrumentalismus verfällt, wonach dem Prediger für die „Mitteilung und Durchsetzung von Wahrheit“ „jedes rhetorische Gestaltungsmittel recht sein“ solle und „weder Räsonnement noch Diskussion“ bedürfe (vgl. a. a. O., 126). Zu Recht lenkt Von den Steinen freilich den Blick auf eine offene Frage in Ottos Ansatz: Wie genau sind Einwirkungsinteresse und Autonomiebeanspruchung zusammen zu denken? In Teilen scheint es so, dass sich der Redner nach Otto allzu sehr von einer subjektiven Überzeugung distanzieren muss, so dass nicht mehr gänzlich plausibel werden kann, woher sich sein oratorischer Überzeugungswille eigentlich begründet; vgl. dazu etwa Ders., Wahrheit, 538f, wo Otto für den Prediger lediglich eine Art Moderatorenrolle vorzusehen scheint. 111 Vgl. etwa Bastian, Verfremdung; Dahm, Hören; Schneider, Voraussetzungen; Stählin, Elemente sowie etwa auch Sleeth, Preaching. Zur kritischen Auseinandersetzung Ottos mit der zeitgenössischen Kommunikationsforschung vgl. Ders., Aufgabe, 29–34; Ders., Predigt, 41–
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schaftlichen state of the art jener Zeit basieren die Überlegungen auf einer Wirkungsauffassung, die an einem erweiterten Stimulus-Response-Modell orientiert ist. In der Pionierphase der Kommunikationsforschung konzipierte man die Effekte kommunikativer Akte auf Grundlage eines aus heutiger Perspektive zu simpel gedachten behavioristischen Mechanismus: Sie gehen unmittelbar auf einen kausalen Reiz zurück, der in sich univok bestimmt ist und sonach bei diversen Rezipienten vergleichbare Reaktionen evoziert. Im Fortgang der Theoriegeschichte wird dieser Mechanismus zunehmend komplexer angelegt. Nach wie vor an einer einlinigen Wirkungsrichtung (Sender → Medium → Rezipient) und dem Ideal eines verlustlosen Informationstransfers resp. einer Identität von intentionalem Reiz und faktischer Reaktion orientiert, wird nun ein reichhaltiges Bündel von Faktoren in Rechnung gestellt, das die Wirkungen kommunikativer Akte bedingt. Ohne dass die Instanz des Rezipienten schon als dezidiert aktive oder gar kreativ aneignende und sinndeutende Größe erschiene, geraten dabei doch auch erste Verarbeitungsleistungen in den Blick; diese werden freilich im Sinne psychologischer Grundprozeduren interpretiert und ‚negativ‘ als Störpotenziale aufgefasst.112 Ebenfalls für die Predigtrezeption wurden dabei wiederholt zwei psychologische Gesetzmäßigkeiten namhaft gemacht: einerseits das in Leon Festingers cognitive dissonance theory ausgewiesene Grundbedürfnis mentaler Stimmigkeit und andererseits eine über das Begehren nach sozialer Anerkennung begründete Konformitätstendenz. Beides führe im Hören der Predigt zu Selektionen, Umdeutungen oder Delegitimationen von Aussagen, die den bestehenden Orientierungen widersprechen. Man gelangte zu skeptischen Einschätzungen, was die transformativen Potenziale der Predigt anbelangt. Zumindest gelte dies in Bezug auf radikalere Veränderungen, welche die basic beliefs einer Person tangieren.113 Wo moderatere Veränderungen in Aussicht gestellt werden, deutet sich einmal mehr das Erfordernis der Bezugnahme an. So müsse das ‚Neue‘ mit dem System 49; Ders., Gemeinde, 138ff; ebenso Grünberg, Homiletik, 87–101 und im homiletikhistorischen Rückblick Grözinger, Homiletik, 80–87. Während in der deutschsprachigen Homiletik die Rekurse auf die empirische Kommunikations- und Persuasionsforschung weitgehend abgebrochen sind, ist sie in der angelsächsischen Homiletik ein Bezugspunkt geblieben (vgl. dazu exemplarisch Hogan, Persuasion; Meyers, Ears; Overstreet, Preaching; Wilson, Practice, 63–81). 112 Vgl. dazu wie überhaupt zur historischen Genese der kommunikationswissenschaftlichen Forschung Jäckel, Medienwirkungen, 56–106; Schenk, Medienwirkungsforschung, 1–73. 113 Vgl. Dahm, Hören, 235ff.239–244; Schneider, Voraussetzungen, 247–251; Stählin, Elemente, 299ff. Zu Festingers Theorem kognitiver Dissonanz, das einen etablierten Referenzpunkt auch aktueller Debatten der Persuasionsforschung bildet, dabei jedoch gerade für die Erhellung transformativer Vollzüge herangezogen wird vgl. etwa Harmon-Jones, Dissonance; O’Keefe, Persuasion, 77–100; Perloff, Dynamics, 236–257. Ebenfalls zur Beschreibung subversiver Dynamiken, nun aber aus kritiktheoretischem Blickwinkel, bezieht sich Robin Celikates auf Festinger (vgl. Ders., Kritik, 217–225).
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der etablierten Einstellungen vermittelt werden, verlangten kritische Anstöße eine Verankerung in den existierenden Regimen der Meinungen, Wünsche und Normen, um überhaupt verständlich und bedeutsam zu werden.114 Hervorzuheben ist, dass im Rekurs auf die kommunikationswissenschaftlichen Einsichten gerade das antike Redner-ἦθος neue Aufmerksamkeit erfährt. Als basaler Wirkungsfaktor beeinflusst das rezipierte Bild der Predigerin ganz entscheidend auch die Erweiterungskraft religiöser Rede: „Ist das ‚Image‘ des Pfarrers schlecht, dann bestehen auch für die beste Predigt nur geringe oder gar keine Chancen, etwas Neues, Veränderndes, Weiterführendes zu vermitteln.“115 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es im Zuge kommunikationstheoretischer Reflexionen auf die transformative Predigtdimension zu einer Art Ermäßigung des Veränderungsgedankens kommt. Am subversiven Anspruch der Kanzelrede wird zwar festgehalten; Transformationen im großen Maßstab indes werden als zu überambitioniert zurückgewiesen – was etwa auch für Langes Entwurf gilt, wenn er zwar nach wie vor den Glauben ins Zentrum rückt, diesen nun aber nicht mehr im Sinne eines radikalen Entweder-Oder perspektiviert, sondern eher im Sinne einer immer wieder angefochtenen Sinnorientierung, die nicht überhaupt hervorzubringen, sondern angesichts diverser Infragestellungen im Prozess zu bilden ist.116 Befördert wird diese Tendenz auf „Entdramatisierung“117 durch eine humanwissenschaftliche Differenzierung der Transformationsebene. Mit der Unterscheidung zwischen kognitiven und emotiven Aspekten, der Rede von Überzeugungen, Einstellungen und Handlungsmotiven lassen sich die mentalen Bezugsebenen der Veränderung subtiler beschreiben. Dass im Rahmen einer solchen Ermäßigung dennoch stärkere Transformationsansprüche Bestand halten, zeigt dann nur die notorisch vorgetragene Forderung, die einlinig operierende Predigt durch Kommunikationsformate zu flankieren, die eine aktivere Beteiligung der Subjekte ermöglichen. Gemeint ist: eine ausdrücklich werdende Aktivität, die sich im expliziten Feedback, in Diskussionsrunden, Predigtvorbereitungsgruppen oder -nachgesprächen manifestiert. Bestimmt durch den Wandel der öffentlichen Kommunikationskultur ist es ein Topos damaliger 114 Vgl. Dahm, Hören, 234: „Eine auf Beeinflussung gerichtete Absicht muß […] versuchen, jene Stelle im Bezugssystem des Partners zu finden, die es diesem ermöglicht, das Neue in der vertrauten Einrichtung seines Bezugssystems unterzubringen und schrittweise mit dieser zu vermitteln.“ Vgl. dazu auch Stählin, Elemente, 296f; Bastian, Verfremdung, 98–101. Um die Kopplung transgressiver und rekursiver Dynamiken auszusagen, hat Bastian selbst auf das Brechtsche Konzept der Verfremdung zurückgegriffen (vgl. a. a. O., 101ff; dazu auch Deeg, Wort, 414–420; Müller, Homiletik [1994], 99f; Reschke/Thiele, Predigt, 165–181). 115 Dahm, Hören, 237; vgl. ferner Schneider, Voraussetzungen, 251. 116 Auch in Langes Überlegungen bleibt ein gewisser Dualismus bestehen, wenn ‚Glaube‘ und ‚Verheißung‘ immer wieder „im Gegenüber zur Situation“ Kontur gewinnen (vgl. Hermelink, Situation, 213). 117 Meyer-Blanck, Übergang, 274.
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Homiletik, dass letztlich allein durch einen solcherart aktiven Partizipationsmodus tiefer reichende Einstellungsrevisionen erschwinglich werden.118 Unter Verweis auf die in ihrer Subversivität herausgestellte Rhetorik Jesu hat Karl-Heinz Bieritz die skeptische Einschätzung der Animationspotenziale monologischer Rede problematisiert. Ergänzend beruft er sich auf eine Erwartungshaltung, die aufseiten des Auditoriums zu unterstellen sei: die „Hoffnung: Daß da einer auftritt, der etwas wirkliche Neues anzusagen hat. Der nicht nur bestätigt, was wir insgeheim schon wissen, wünschen oder befürchten. Einer, der uns aus der Bahn wirft und uns gerade so überraschende Aus-Wege zeigt.“119
Dass diese Mutmaßung empirisch nicht gänzlich ohne Anhalt ist, zeigen die Untersuchungen etwa von Uta Pohl-Patalong sowie Helmut Schwier und Sieghard Gall. Pohl-Patalong benennt in ihrer auf typische Erlebenslogiken abhebenden Gottesdienststudie als erstes der von ihr rekonstruierten Spannungsfelder das tensionale Verhältnis zwischen „Zuspruch und Veränderungsimpulsen“. Demnach reflektieren die Befragten ihr gottesdienstliches Erleben nicht allein nach der Logik erfahrener Tröstung, sondern auch im Blick auf Anstöße, Irritation und Variation.120 Analog machen Schwier und Gall in ihrer Predigtrezeptionsstudie den Wunsch nach Anregung namhaft, wobei diese hier primär auf die Initiierung einer Überlegungsbewegung bezogen ist, die über den Predigtvollzug hinaus anhält.121 118 Vgl. etwa Dahm, Hören, 243f; Ders., Kommunikationsprobleme, 324; Schneider, Voraussetzungen 254–257; auch Lange sah in der Etablierung von Predigtvor- und nachgesprächen ein wichtiges Reformelement der zeitgenössischen Predigtkultur (vgl. Ders., Theorie, 46f); kritisch dazu Otto, Aufgabe, 20f und später Daiber, Predigt, 201–207. 119 Bieritz, Predigt, 128. 120 Vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst, 193–198. In ihrem Datenmaterial identifiziert Pohl-Patalong genauerhin drei Varianten, in denen die transformative Logik aufgerufen wird: Aussagen, die den Gottesdienst primär als Medium von Veränderungsimpulsen beschreiben, Aussagen, die den Gottesdienst in seinen Veränderungs- wie Tröstungseffekten thematisieren, sowie Aussagen, die beide Wirkungen nach Maßgabe des situativen Bedürfnisses ansprechen. 121 Vgl. Schwier/Gall, Predigt, 241f.247f. Im Blick auf die kommunikationsethische Problematik transformativer Praxis ist die Dissoziation von Paternalismus und Anregung relevant: Für die Befragten geht das Animationsansinnen mit der „Ablehnung einer Bevormundung“ (ebd.) einher. An anderer Stelle und im speziellen Zusammenhang der Rezeption von Traupredigten hat Konrad Merzyn auf die Relevanz der Transzendierung hingewiesen. Zumindest was die Erinnerbarkeit der Predigt anbelangt, folgert Merzyn aus der Analyse seiner Interviewdaten, dass die partielle und nuancierte Irritation von Vorerwartungen, bei „gleichzeitig grundsätzlicher Bestätigung“ derselben, einen wesentlichen Faktor darstellt; ein zweiter Faktor ist dann freilich gerade die „Anschlussfähigkeit“ der Predigt an die elokutionären Muster des Paares sowie ihre Lebens- bzw. Paargeschichte (vgl. Ders., Spiel). Im Versuch, diejenigen Dimensionen herauszuarbeiten, die an der Predigtpraxis im Licht von Beschreibungen der Praxisteilnehmer als religiös zu qualifizieren sind, bringt auch Peter Meyer Material bei, das in verschiedenen Hinsichten von der Erfahrung wie Erwartung
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Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen ästhetisch-rezeptionsästhetischer Zugänge innerhalb der Homiletik
Einmal für das Reflexionsangebot außertheologischer Disziplinen geöffnet, konnte ein Wechsel der Gesprächspartner auch die Beschreibung der transformativen Predigtdimension nicht unberührt lassen. Als besonders wirkungsvoll sollte sich die Hinwendung der Homiletik zur Ästhetik erweisen, die den Diskurs um die Predigt bis in die Gegenwart hinein bestimmt. Programmatische Gestalt gewinnt sie in Gerhard Marcel Martins Marburger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1983. In kritischer Sondierung der kommunikationstheoretisch inspirierten Ansätze ist es im Kern das einlinige, am Ideal verlustfreien Datentransfers ausgerichtete Modell, das Martin einen „Koalitionswechsel der Homiletik von der Kommunikationswissenschaft zur Ästhetik“ anmahnen lässt, wobei Ästhetik zunächst konkreter Rezeptionsästhetik meint.122 Folglich wird auch die Frage der Predigtwirkung nicht mehr senderorientiert, sondern rezeptionsseitig anvisiert. Damit ist eine Perspektive gewonnen, in der die Verarbeitungsleistungen der Hörer nicht mehr nur als Reflexe sozialpsychologischer Dispositionen erscheinen, sondern als Vollzüge einer eminent aktiven, kreativ aneignenden und sinndeutenden Subjektivität aufgefasst werden konnten; ebenfalls kommen sie nicht länger als bloßes Hemmnis intendierter Effekte zu stehen, sondern sind als unhintergehbares Medium jeder Predigtwirkung im Blick und auch und gerade dort zu würdigen, wo sie nichtkalkulierte Effekte freisetzen. Für Martin ist es exakt diese Offenheit, welche die transformative Dimension der Predigt überhaupt ausmacht. Das heißt, dass die durch die Predigt angestoßenen Erweiterungen sich nicht nur nach dem ästhetisch ausgewiesenen Modus der Wirkung vollziehen, sich also keinem eindeutig bestimmten Stimulus verdanken, sondern in der aktiven Beteiligung der Hörer konstituieren.123 Vielzeugt, Gottesdienst und Predigt mögen Raum für ein Erleben geben, das die den Alltag sonst bestimmenden Modi des Erfahrens überschreitet, um eine alteritäre, besondere und distante Qualität zu erlangen (vgl. Ders., Predigt, 498–512). 122 Vgl. Martin, Predigt, hier 49. Den genaueren Bezugspunkt für Martins Überlegungen gibt Umberto Ecos Poetik des offenen Kunstwerks (vgl. Ders., Kunstwerk), die nicht nur seine eigenen Weiterführungen inspiriert hat (vgl. Martin, Liturgie; Ders., Kunstwerke), sondern gleichsam zur Stichwortgeberin eines homiletischen Programms avancierte (vgl. Garhammer/Schöttler [Hg.], Predigt); eine der elaboriertesten predigttheoretischen Durcharbeitungen der Ecoschen Überlegungen leistet Engemann, Homiletik. Dass ästhetische Anleihen selbstverständlich auch rhetorisch ansetzenden Entwürfen nicht fremd sind, haben die Ausführungen zu Otto gezeigt (vgl. ferner Josuttis, Homiletik, 22–28); und auch die aus der Tradition der Dialektischen Theologie heraus argumentierende Homiletik Bohrens trägt markante ästhetische Züge, wie spätestens seine von Martin Nicol herausgegebene Vorlesung Auslegung und Redekunst aus dem Wintersemester 1976/77 belegt. 123 Man kann sagen, dass beide, rezeptionsästhetisch wie kommunikationswissenschaftlich ansetzende Erörterungen, die These teilen, dass rednerisch induzierte Selbsterweiterungen
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mehr verweist die Kategorie der Offenheit zugleich auf die inhaltliche Struktur des transformativen Effekts. So stehe das ‚Evangelium‘ als Raum der Mehrdeutigkeit der ‚Welt‘ als Raum der Eindeutigkeit gegenüber und eröffne damit eine Sichtweise, die eindimensionale Realitätsdefinitionen zugunsten mehrdimensionaler Lesarten aufbreche. Diese ästhetische Relecture theologischer Kategorien indiziert eine Affinität, die dem Verhältnis zwischen Kunst und Religion, Vokabularen der Ästhetik und Vokabularen der Theologie regelmäßig unterstellt wird und die homiletische Rezeption ästhetischer Theoreme entscheidend befördert haben dürfte. Zumindest liegt, so betrachtet, eine ästhetische Rahmung des Predigtgeschehens näher als ein Rückgriff auf die Beschreibungssysteme der Rhetorik. Philipp Stoellger führt diese „Koketterie mit der Kunst“ auf „theologisch tiefer sitzende“ Vorbehalte zurück, wonach der Rhetorik das „Odium des Menschengemachten“ anhafte, inklusive „Betrugs- und Manipulationsverdacht“, während „Poetik und Kunst […] unter Inspirationsverdacht“ stünden.124 Er deutet damit eine auch ethisch konnotierte Auszeichnung des Ästhetischen an, die seine Indienstnahme für die Explikation der transformativen Predigtfunktion immer wieder motiviert; in der Ästhetik vernimmt die Homiletik das Versprechen, eine Form der transformativen Einwirkung konzeptionell ausweisen zu können, die den Autonomieanspruch der Adressaten nicht hintergeht.125 Auch Martins Text atmet diesen Geist, wenn sich die Sprengkraft der Predigt nicht in der ‚penetranten Durchsetzung‘ eines ‚bestimmten‘ Predigtziels vermittelt, sondern im Medium ‚freier Reaktion‘ und ‚aktiver Rezeption‘ vollzieht, ohne die Hörerschaft am Gängelband allzu ‚einschränkender‘ Diktate zu führen.126 Festzuhalten ist allerdings, dass Martin die Lenkungs-, Steuerungs-, ja Kontrolltätigkeit des Sendersubjekts keineswegs preisgibt. Die intentionale Einflussnahme der Predigerin auf die Rezeptionen der Hörerschaft behält ihren Ort im Predigtgeschehen.127
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der Bedingung aktiver Partizipation unterliegen. Unterschieden sind sie in der Einschätzung des Hörvorgangs. Erkennen Karl-Wilhelm Dahm, Hans-Dieter Schneider u. a. darin ein primär passives Geschehen, das durch ausdrücklich aktive Beteiligungsformen zu ergänzen ist, erscheint er im Licht der Rezeptionsästhetik selbst als eminent tätiger Vollzug. Stoellger, Rhetorik, 580 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. exemplarisch Brueggemann, Poet, 141f; Craddock, Authority, 43–62; Engemann, Homiletik, 178f; Garhammer, Ästhetik, 24f; Hoffmann, Grundlagen, 61f; Meyer-Blanck, Reden, passim; Nicol, Bild, 21–28; Rose, Word, 4–7 sowie Grözinger, Theologie, 128–131, der in der ästhetischen Erfahrung, wie sie nach dem Modell des offenen Kunstwerks beschrieben werden kann, die Manifestation eines ‚herrschaftsfreien Diskurses‘ erkennt und die in ihr wirksamen Kräfte auf die Formel einer „erbittende[n] Wirkung“ bringt, die sich im Sinne eines ‚zwanglosen Zwangs‘ realisiere (vgl. auch Ders., Homiletik, 160f; Ders., Toleranz, 25ff). Vgl. Martin, Predigt, 49.54.56. Vgl. Martin, Predigt, 53.
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Vage bleibt, wie der Grad dieser Einflussnahme genauer zu bestimmen ist.128 Ausgemacht scheint nur, dass sie nicht in der Ausarbeitung eines Applikationsangebots besteht. Die Rezeptionsaktivität der Hörerinnen wird so ausgelegt, dass sie in der Lage sind, den Bezug des Gesagten zu ihrer lebensweltlichen Situation selbst herzustellen.129 Damit deutet sich ein dem ästhetischen Denken nicht fremder Zug an. Während im Reflexionszusammenhang der Rhetorik die Frage der Bezugnahme einen etablierten Ort besitzt, nach Maßgabe des Persuasionsansinnens als Kernaufgabe des Kommunikators gilt und transformative Dynamiken vor allem über ihre Anschlusskraft an Bestehendes erörtert werden, steht im Horizont der Ästhetik eher die immanente Struktur eines Gegenstands im Fokus, der – als nicht auf konkrete Publika berechneter – zunächst einmal eine „Welt für sich“130 darstellt, kraft seines eigentümlichen Arrangements Aufmerksamkeit erregt und zur Erkundung dessen einlädt, was er mir zu sagen vermag. In diesem Sinne hat Albrecht Grözinger in mehreren Beiträgen auf die „eigene Plausibilität“ verwiesen, die ein gelungenes Kunstwerk mit sich führe und bestenfalls auch die Predigt aus sich heraus freisetze. Das Neue, das sie auszusagen sucht, gewinnt seine Geltungskraft aus der inneren Qualität seiner Thematik und Formensprache, weniger aus der Anknüpfung an die etablierten Überzeugungsressourcen des Publikums.131 Damit ist der rekursive Aspekt nicht gänzlich außer Acht. Das Neue bedarf, um überhaupt in Erscheinung treten zu können, je 128 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Rezeptionsautonomie und Rezeptionsbestimmung – oder „Offenheit und Eigensinn“ – ist eine Frage, die in der rezeptionsästhetischen Homiletik immer wieder aufkommt und im Blick auf ihre theoretische Ausformung wie predigtpraktische Konzipierung ganz unterschiedlich beantwortet werden kann (vgl. dazu Bieritz, Offenheit). Als weiterführend hat sich m. E. erwiesen, mit Engemann zwischen einer „taktischen“ und „faktischen“ Offenheit bzw. Ambiguität zu differenzieren. Denn damit ist nicht nur die Inadäquatheit eines behavioristisch gedachten Erzeugungsmodells der Effektivität festgehalten, ohne dabei die Möglichkeit, ‚bestimmter‘ oder ‚unbestimmter‘ verfasster Redeformen zu leugnen; zugleich schwingt im Begriff des Taktischen mit, dass auch ‚offener‘ gehaltene Kommunikationen strategisch organisiert sind und auf Absichten beruhen (vgl. Ders., Homiletik, 173ff; Ders., Einführung, 195–203). 129 Diese Schlussfolgerung aus der Aktivität der Rezipienten ist überhaupt eine zentrale Pointe rezeptionsästhetisch argumentierender Homiletik (vgl. Weyel, Textauslegung, 120). Martin selbst richtet sie mit ethischem Unterton gegen den auf eine konsequente Anschlussbewegung abstellenden Entwurf Langes: „Etwas pointiert: Predigt als offenes Kunstwerk räumte den Hörern selbst die Gelegenheit ein, ihre Situation in das Predigtgeschehen einzubringen. Es wäre dann nicht mehr primär die Aufgabe des Predigers, die Situation anderer und für andere zu klären. Die Suche nach der homiletischen Großwetterlage und der Lage vor Ort würde damit nicht gegenstandslos, wohl aber entdramatisiert; theologisch-meteorologische Institute in Stuttgart, Darmstadt und anderswo könnten ihre Etats senken“ (Ders., Predigt, 49f; mit demselben Unterton auch Nicol/Deeg, Texträume, 36f). 130 Martin, Predigt, 51. 131 Vgl. Grözinger, Gnade, 220–223, hier 220 (Hervorhebung M.S.); Ders., Anknüpfung; Ders., Homiletik, 162–173; Ders., Theologie, 92–96.
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der Indienstnahme vertrauter Zeichen. Wie Grözinger an der Offenbarungsgeschichte aus Ex 3 aufzeigt, ist es gerade das innovative Spiel mit dem Bekannten, das die Adressaten für sich in Beschlag nimmt. Entsprechend gibt die „Spannung“ von ‚Eigenem und Fremdem‘, „Vertrautem und Nicht-Vertrautem“ auch eine Art Grundprinzip der Homiletik Grözingers, das in der Erhellung der transformativen Predigtaufgabe wiederholt aufscheint.132 Konzeptionell ausgeführt wird es unter anderem mittels der Theorie des impliziten Lesers. Wie ein literarischer Text kraft seiner strukturellen Eigenart einen Entwurf seines Lesers präsentiert, der den empirischen Leser nicht verdoppelt, sondern übersteigt, so unterbreitet auch jede Predigt ihrem Hörer ein Bild seines Selbst, das die geläufigen Selbstverständnisse erweitert. Als Bild seines Selbst vermag der Leser/ Hörer den Entwurf gleichwohl erst dort wahrzunehmen, wo er Momente seines eigenen Erfahrungsvorrats in ihn einzutragen vermag, was eine Sprachgestalt erfordert, die analog zur Gleichnisrede Jesu „vertraute Elemente der Alltagswelt“ aufnimmt, um sie zu einer die „Vertrautheit der Alltagswelt“ gleichwohl sprengenden Textur umzuarbeiten.133 Die rekursive Dynamik besitzt damit einen präzise angebbaren Doppelort: Aus rezeptionsästhetischer Warte ist sie – analog zu Martin – Eigenleistung des Hörers; aus produktionsästhetischer Warte vollzieht sie sich in der Spracharbeit der Predigerin. Nicht sosehr geht es um die Suche nach diskursiven Anschlüssen an die Plausibilitätsstrukturen der Hörerschaft denn – analog zu Otto – um die Aufnahme alltagsweltlich eingeübter Diskursmuster zum Zwecke ihrer ‚poetischen‘ Weiterbildung. Womöglich könnte man auch sagen: Die Frage der Bezugnahme ist primär eine Frage der ästhetischen ‚Wahrnehmbarmachung‘ des Neuen, nicht seiner argumentativen ‚Nachvollziehbarmachung‘; Plausibilität erzeugt die Predigt aus der Anmutungsqualität ihres Form-Inhalt-Zusammenhangs selbst.134 Wie der Rekurs auf die Theoreme des offenen Kunstwerks sowie des impliziten Lesers exemplarisch zeigen, führte die ästhetische Reflexion religiöser Rede zu einer zunehmend detaillierteren Beleuchtung konkreter transformativer Wirkungsmechanismen. In diese Reihe fügen sich auch die Arbeiten von Jan Hermelink ein, in denen er gemeinsam mit Eberhard Müske ein Explikationsmodell für die Funktionsweise von Veränderungsprozessen vorstellt und predigtanaly132 Vgl. hier und zum Folgenden Grözinger, Homiletik, 109–122.162–196, hier 114. 133 Vgl. Grözinger, Homiletik, 114; zur Idee des impliziten Lesers Iser, Akt. Anhand der neutestamentlichen Gleichnisliteratur, die man als Königsreferenz ästhetisch argumentierender Predigtlehre ansehen kann, erläutert auch Luther, Schwellen, 216f die transformative Dialektik von Überschreitung und Rekurs. 134 Zugespitzt formuliert: Die Predigt bewegt sich – anmutend – auf die Hörer zu, nicht – konsequent anschließend – aus ihnen heraus (vgl. dazu Kopperschmidt, Idee, 240; Teil D). Zu Grözingers Konzept der Anmutung vgl. Ders., Gefühl, 322–325; Ders., Gnade, 221ff; Ders., Homiletik, 236–242; Ders., Toleranz, 215–244.
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tisch erprobt.135 Wiederum am Vorbild der Text-Leser-Relation ist es nun das Konzept des mentalen Bildes das die Wandlungsdynamiken der Predigt beschreiben soll. Kehren hier die schon angesprochenen Dialektiken zwischen Situationsbezug und Situationsdistanz sowie Rezeptionssteuerung und Rezeptionsautonomie wieder,136 ist es gerade die äußerst feingliedrige Nachzeichnung des Prozessgeschehens zwischen Text und Rezipient, welche die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes ausmacht. Es dürfte unter anderem an diesem Detaillierungsniveau liegen, dass hier auch eine Stufung der Transzendierungsleistung kommunikativer Akte benannt wird. Sie manifestiert sich als graduelle Differenz zwischen ‚Konkretisierungen‘, ‚Umstrukturierungen‘ und ‚Transzendierungen‘ eines ursprünglich aktivierten „mentalen Modells“.137 Damit deutet sich eine differenziertere und dynamischere Perspektive auf transformative Prozesse an, als sie die vereinfachende Rede von ‚Veränderung‘ und ‚Bestätigung‘ einzunehmen erlaubt. Weiterführend ist zudem der Hinweis, dass nicht allein die biblischen Texte als Quelle des Fremden, Distanten und Neuen in Betracht zu ziehen sind, sondern auch sie zum Aufbau durchaus konventioneller mentaler Modelle reizen, die durch Rekurs auf lebensweltliche Situationen irritiert werden. Insofern ist hier einer noch bei Lange merklichen dualistischen Tendenz bewusst entgegengearbeitet, der die homiletische Transformationsreflexion auch im Zeichen der Ästhetik immer wieder zu erliegen droht.138 Insgesamt besehen bildet jedoch auch im Horizont ästhetisch orientierter Zugänge die ‚Bibel‘ – neben der ‚Sprache‘ – die zentrale Transzendierungsinstanz. Ihren Texten wird „semantisches Störpotenzial“139 und „dangerous power“140 zuerkannt, die Funktion, bewährten „Ansichten zu widersprechen“, „mir etwas zu zeigen, was ich mir nicht selbst ersehen habe“141, die Erschließung eines 135 Vgl. Hermelink/Müske, Predigt; Hermelink, Ausmalen; Ders., Modelle. Zur Analyse ethischer Predigt übernimmt Fritz, Ethos diesen Ansatz; eine knappe Rekonstruktion bietet Bieritz, Offenheit, 204ff. 136 In der „Dialektik von Aufnahme der gegenwärtigen Erfahrung und ihrer kreativen Überschreitung“ erkennt Hermelink ein Zentralmoment ästhetischer Praxis (vgl. Ders., Ausmalen, 37). Wie die bisherigen Annäherungen gezeigt haben und in Folge detaillierter nachzuweisen ist, bildet diese Dialektik die Grundstruktur überhaupt transformativ potenter Kommunikationen und bestimmt damit auch nicht dezidiert ästhetisch organisierte Praktiken der Selbsterweiterung. 137 Vgl. Hermelink/Müske, Predigt, 375f. 138 Vgl. Hermelink/Müske, Predigt, 384–387. Häufig wohl gegen die eigene Absicht ergibt sich eine dualistische Drift immer dort, wo das Fremde, Distante und Neue zu schnell und zu unspezifisch mit der Rede von ‚Bibel‘, ‚Gottesdienst‘, ‚Evangelium‘ oder ‚Gott‘ verknüpft wird, während das Vertraute, Nahe und Alte auf Ebene der Rede von der ‚Situation‘, des ‚Alltags‘, der ‚Lebenswelt‘ oder des ‚Menschlichen‘ zu stehen kommen. Formale transformationsbezogene Kategorien werden dann eindimensional theologisch verrechnet. 139 Grözinger, Gnade, 219. 140 Brueggemann, Poet, 8. 141 Engemann, Text, 114.
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exterritorialen Raumes, in dem sich die Hörerinnen „verändert vorfinden können“142. Die kunsttheoretischen Bezüge erlauben nun freilich auch in der Konzeption des Überschreitungspotenzials der Bibel neue Akzentsetzungen. Ihre Distanz vermag nicht mehr allein ontologisch oder historisch ausgesagt zu werden; sie erscheint ästhetisch. Entsprechend avanciert der Begriff der Fremdheit unter ästhetischem Vorzeichen zur Standardvokabel der homiletischen Schriftreflexion. Beispielhaft dafür, dass diese drei Explikationsvarianten keine exklusiven Alternativen darstellen, sondern diverse Koalitionen eingehen können, mögen abschließend Überlegungen von Wilfried Engemann stehen. Während einerseits primär rezeptionsästhetisch geprägte Literaturtheorien in ein „Kooperationsmodell“143 der Bibeltextlektüre überführt werden, in dem das Wechselspiel zwischen intentio operis und intentio lectoris auf seinen diversen Ebenen subtil entziffert wird und dabei auch simplifizierende Inanspruchnahmen eines mutmaßlichen Ursprungssinns der kritischen Begutachtung anheimfallen, bleiben die Texte doch durchgängig als historische Gebilde im Blick, die ganz im Sinne Langes „nicht für uns heute geschrieben worden sind“ und sonach erst unter der Bedingung eines „exegetisch-hermeneutischen Verfremdungs- und Aneignungsprozess[es]“ Gegenwartsrelevanz und Sinn entfalten.144 Zugleich geben die Erwägungen Engemanns ein Beispiel dafür, dass die den Sondierungen zugrunde gelegte Rekonstruktionssystematik in erster Linie eine Frage verschieden organisierter Reflexionszugänge darstellt, die sich im Zusammenhang eines homiletischen Entwurfs durchaus zu verschränken vermögen. Dies gilt insbesondere für die idealtypische Differenzierung zwischen ‚ästhetischen‘ und ‚performativen‘ Konzeptionsformen. So hat Engemann in seiner wirkungsbezogenen Studie Predigt als Schöpfungsakt die Wandlungsfunktion religiöser parole nicht nur vor dem Hintergrund des theologischen Schöp142 Nicol/Deeg, Texträume, 38. Im Rahmen der Ricœurschen Hermeneutik hat Gräb das Transzendierungspotenzial des Bibelbezugs unterstrichen, insofern die biblischen Texte mit einer „anderen, fremden Sinnwelt“ konfrontieren, in deren Interpretation das Subjekt „auf neue Weise vor sich selbst“ gebracht wird (vgl. Ders., Predigtlehre, 123–141, hier 135; Ders., Bibel). 143 Vgl. Engemann, Einführung, 123–141; Ders., Text. 144 Vgl. Engemann, Autorität, 104. Es mag mit dieser Berücksichtigung der Historizität der biblischen Texte zusammenhängen, dass die „Frage nach dem Situationsbezug“ von Engemann als eigenständige homiletische Reflexionsperspektive veranschlagt und ausgiebig bedacht wird (vgl. Ders., Einführung, 255–326). Anders als in bestimmten Ausprägungen der ‚ontologisch‘ oder ‚ästhetisch‘ interpretierten Transzendierungskraft der Bibel, kann der Hörer in dieser Perspektive nicht als einer beschrieben werden, der schon ‚im Text stecke‘. So etwa Bohren, Predigtlehre, 443–473; Nicol/Deeg, Texträume; kritisch dazu Weyel, Hörer. Sowohl Bohrens Ansatz als auch der diesen in gewisser Weise fortschreibende Ansatz der Dramaturgischen Homiletik von Martin Nicol und Alexander Deeg stehen dabei exemplarisch gerade für eine Korrelierung ‚ontologischer‘ wie ‚ästhetischer‘ Perspektiven auf die Bibel.
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fungsgedankens entfaltet, sondern zugleich rezeptionsästhetische und pragmatische Perspektiven miteinander kombiniert, um die Strukturen einer Predigt zu konturieren, die „zum Ausgangspunkt neuer Geschichten“145 werden soll.
2.3
Die transformative Dimension der Predigt im Zeichen sprechakttheoretisch-performativer Zugänge innerhalb der Homiletik
Der Ausweis eines sprechakttheoretisch-performativen Frames der transformativen Predigtdimension verdankt sich dem neuerdings häufiger propagierten Ideal einer Predigt, „unter der sich auch ereignet, wovon sie handelt“146. Dieser schon bei Latour aufgenommene Gedanke der klassischen Sprechakttheorie gibt einen Grundbaustein auch des kulturwissenschaftlich breiter fundierten Performativitätsdiskurses, der durch seine theaterwissenschaftlichen Theorieimplikate einen ausgeprägten ästhetischen Zug besitzt. In diesem Gravitationsfeld kommen die Überlegungen zu einer Dramaturgischen Homiletik zu stehen, wie sie Martin Nicol und Alexander Deeg vorgestellt haben. Dem kunsttheoretischen Paradigma verpflichtet, steht mit dem Begriff des Ereignisses das Wirkungspotenzial der Predigt in einer performativen Zuspitzung im Zentrum dieser Homiletik: „Nicht über die Dinge reden, sondern machen, dass die Dinge selbst geschehen (to make things happen): Das wäre die Devise einer Homiletik, die sich standhaft weigert, das Schöne am Ende doch zusammenzufassen.“147 Der Schluss des Zitats spielt auf eine Verfahrenspointe an. Zur Entfaltung ihrer Wirkung gelangt die Predigt nicht über Praktiken des Räsonnements, der gedanklichen Persuasion, der Argumentation. In Anlehnung an eine durch Fred B. Craddock in den homiletischen Diskurs eingeführte Grundsatzunterscheidung 145 Engemann, Predigt, 81. 146 Engemann, Predigt, 72 (im Orig. hervorgehoben). Auf den Begriff einer „performativen Homiletik“ hat auch Kristian Fechtner eine Reihe aktueller predigttheoretischer Entwürfe gebracht, deren „Fluchtpunkt“ er gleichfalls im Postulat einer Predigt erkennt, die „nicht nur über eine Wirklichkeit“ spricht, sondern sich als „wirklichkeitsschaffende Rede“ realisiert (vgl. Ders., Homiletik, 88f). 147 Nicol, Bild, 32; Ders., Gott, 263: „Mir liegt alles daran, dass die Predigt nicht länger ein Vortrag sei über den Glauben, sondern ein Ereignis im Glauben“ (Hervorhebung i. Orig.). Das Lexem des Ereignisses umfasst dabei mehrere semantische Nuancen: Neben der sprechakttheoretisch geprägten Bedeutung einer Predigt, die in actu das Mitgeteilte hervorruft, verweist sie zweitens auf die ästhetische Dialektik von Form und Inhalt, dialektischtheologisch drittens auf das Ereignis des Wortes Gottes sowie viertens auf die rhetorische actio bzw. theaterwissenschaftliche performance, also den aktuellen Vollzug der Predigt (vgl. exemplarisch Ders., Bild, 26f.114–117). Zur Wiedergewinnung der Körperberedsamkeit innerhalb der performativ orientierten Homiletik vgl. auch Childers, Word; Dies./Schmit (Hg.), Performance.
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hafte einer solcherart organisierten Predigt ein ‚deduktiver‘ Gestus an, was konkret heißt, dass sich in ihr ein latenter Autoritarismus Geltung verschaffe, starre Dispositionsschemata reproduzierten und die Buntheit der Lebenswirklichkeit im trüben Spiegel abstrakter Terminologien reflektiere. Folglich vermag sie auch bestenfalls Informationen über den Glauben zu transferieren, nicht aber den Glauben selbst zur Erfahrung zu bringen. Dazu bedarf es bildkräftiger und narrativer Redeweisen, der kreativen Erkundung neuer Aufbauvarianten, der Inszenierung spannender Dramaturgien und anderen aus dem Kosmos der Künste angeregten stilistischen Prozeduren.148 Zielpunkt dieser Sprachbemühung sind die biblischen Texte, die im Medium der Predigt so zur Aufführung gebracht werden sollen, dass sie den Hörerinnen als fremde, widerständige und sperrige gleichwohl nahe kommen und sie dadurch in ein potenziell transformatives Spiel verwickeln. Ist damit einmal mehr das Ineinander von ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘, ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ aufgerufen, nimmt die genauere Charakterisierung dieser Dialektik ein besonderes Gepräge an. Nicol erläutert sie anhand der filmwissenschaftlichen Figur des Cut sowie der Funktionsweise einer Metapher. Die fremde Welt der Bibel ist mit der vertrauten Welt der Hörer zu schneiden, zu überblenden; gleich einer Metapher, die einen Primär- und Sekundärgegenstand zusammenschweißt, hat die Predigt zwei Welten unvermittelt zu verschränken – wodurch Neues entsteht: „Text und Leben, Alt und Neu, Himmel und Erde, Fremdes ebenso wie Vertrautes“ kommen zusammen – ein „aufregendes Geschehen, wundersam – und nicht eindeutig zu identifizieren. Wo die einen sagen, hier sei eben ein alter Text wieder einmal neu verstanden worden, sprechen die anderen vom ‚Ereignis‘ und meinen damit, dass im Medium niemals alter Texte unsere alte Welt ins Licht neuer Schöpfung getaucht wurde“.149
So verstanden basiert der transformative Effekt nicht nur nicht auf einem diskursiven Anschluss an die Überzeugungsstrukturen des Publikums. Das ‚Neue‘ 148 Vgl. Nicol, Bild, 24f.31f.44ff u. ö.; Craddock, Authority, 43–125, bes. 43–62. Mag die antithetische Gegenüberstellung von deductive und inductive preaching zur strategischen Beförderung einer homiletischen Trendwende dienlich sein, sollte sie dennoch nicht überhaupt zu einer Predigtalternative hochstilisiert werden. In diesem Sinne hat etwa Paul Scott Wilson die krude Abhebung propositionaler Predigtweisen von narrativen kritisiert, in die er auch die Craddocksche Differenz von ‚deduktiv‘ und ‚induktiv‘ einbezieht. Durch solch simplifizierte und zugleich normativ aufgeladene Antithesen würde die innere Vielfalt der mit ihnen assoziierten Redeformen ausgeblendet sowie Überlappungszonen und Kombinationsoptionen künstlich ausgespart (vgl. Ders., Practice, 205–219). Zudem wird mit der terminologischen Verknüpfung des ‚Deduktiven‘ mit dem ‚Argumentativen‘ ein Argumentationsverständnis prolongiert, das hinter dem state of the art aktueller Argumentationstheorie zurückbleibt, geht diese doch gerade nicht mehr einfach von einer formalen und deduktiven Logik aus (vgl. dazu Stetter, Predigt sowie D.4.1). 149 Vgl. Nicol, Botschaft, 277f.
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ist mit dem ‚Alten‘ auch nicht hermeneutisch zu vermitteln. Die Dynamik der Bezugnahme reduziert sich auf die Herstellung von spannungsgeladenen Überblendungsszenen; das Ineinander von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ stellt sich im Kern nach Art eines collageartigen Nebeneinanders dar. In der Entwicklung seiner Dramaturgischen Homiletik hat Nicol auf Einsichten aus der US-amerikanischen Predigtforschung zurückgegriffen. Es ist sein großes Verdienst, den deutschsprachigen Diskurs auf die Neuerungen aufmerksam gemacht zu haben, die hier seit den 1960er Jahren Fuß fassten und unter dem Titel einer New Homiletic nach und nach Gestalt gewannen. Die vielförmigen Modellentwicklungen, die sich unter diesem Titel im Lauf der Zeit versammelt haben, können hier selbstredend nicht aufgerufen werden.150 Für unseren Zusammenhang relevant ist jedoch das Zusammentreffen fast aller jener Entwürfe in eben der Kategorie des event, die ausgehend vom Begriffsgebrauch der Dialektischen Theologie und der Sprachtheologie eines Gerhard Ebeling oder Ernst Fuchs zugleich mit sprechtakttheoretischem Vokabular sowie Ästhetiken unterschiedlicher Couleur ausgedeutet wird. Pointierter als in der Dramaturgischen Homiletik wird durch eine Reihe von Autoren das Ereignis, auf das die Predigt zielt, als ein explizit transformatives Geschehen begriffen. Beispielhaft sei auf Walter Brueggemanns Beecher Lectures verwiesen, in denen er den Prediger nicht nur als Poeten insinuiert, sondern dem Evangelium im Kern einen „urge to transformation“ abliest, dem die Kanzelrede darin zu entsprechen habe, dass sie allsonntäglich als „counter speech“ ergehe, die von einer alternativen Welt zeuge und ihrem Auditorium damit die Möglichkeit eröffne, sich als καινὴ κτίσις wahrzunehmen.151 Es sind Äußerungen wie diese, die Lucy Rose in ihrer Rekapitulation der angelsächsischen Homiletikgeschichte dazu veranlasst haben, die Ansätze der New Homiletic überhaupt im Begriff der Veränderung zu bündeln:
150 Zu Genese, Ansätzen und Pointen der New Homiletic vgl. Nicol, Preaching; Ders., Art; Lowry, Sermon, 15–28; Ottoni-Wilhelm, Hermeneutic; Wilson, Homiletic. Als frühes, die Bewegung miteinleitendes Werk gilt in der Regel H. Grady Davis’ Design for Preaching aus dem Jahr 1958. Spätestens aber mit Craddocks 1971 publiziertem Band As One Without Authority tritt sie dann werkgeschichtlich markant in Erscheinung. 151 Genauer figuriert Brueggemann den Prediger als „poet/prophet“, koinzidieren das Poetische und Prophetische doch in ihrem subversiv-transformativen Impetus (vgl. Ders., Poet, bes. 1–11, hier 1.3f.112). In gewisser Weise schrieb schon Craddock der New Homiletic den Wandlungsaspekt ins Stammbuch, wenn er die Erneuerung der Predigtkultur in den Dienst einer veränderungsprovokativen Kanzelrede stellt: „We will know power has returned to the pulpit when and where preaching effects transformation in the lives of people and in the structures of society“ (Ders., Authority, 19f). Craddock und Brueggemann verdeutlichen dabei, dass, wie im Rahmen der empirischen und ästhetischen Wende in der deutschsprachigen Predigtforschung, ebenso im Kontext der New Homiletic die biblischen Texte sowie ein ästhetisch inspirierter Sprachgebrauch als dominante Transzendierungsinstanzen veranschlagt werden. Vgl. dazu auch Wilson, Preaching, 7–72.
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Sie bezeichnet sie als „transformational voices“152. Der Transformationsbegriff wird dabei nicht in einem konzeptionellen Sinn verwendet, sondern parallel zu Attributen wie ‚poetisch‘, ‚narrativ‘ oder ‚imaginativ‘ als eher unspezifische Sammelkategorie, die ansetzend am Predigtzweck gleichwohl das breit in der New Homiletic verankerte Wandlungsansinnen erfasst: „I have chosen the term ‚transformational‘ because it conveys the commonly held belief that a sermon should be an experience that transforms the worshippers.“153 Mit der Zentralstellung der Ereigniskategorie und dem Appell an die Erfahrung verbinden sich weitere Aspekte, die zum Teil ebenfalls schon im Horizont kommunikationswissenschaftlicher und rezeptionsästhetischer Erwägungen angeklungen sind, nun aber pointierter herausgestellt werden. So gewinnt zunächst die Qualität der transformativen Effekte eine entschieden ganzheitliche Signatur. Als erfahrungsevokative Größe soll die Predigt nicht nur die kognitiven Vermögen ihrer Adressatenschaft ansprechen, sondern auch emotive Resonanzen erzeugen. Ohne an die lange rhetorische Tradition der emotionspsychologisch informierten Redegestaltung anzuknüpfen, kommt es zu einer Renaissance der pathischen Kommunikation, in der auch die körperlichen Reaktionen mit in den Blick genommen werden.154 Dergestalt in ihren Erlebnis- und Empfindungsmomenten pointiert lässt sich die Predigt sodann auch nicht mehr einfach als der das Denken engagierende Part von den primär Körper, Gefühl und Stimmung affizierenden Ritemen liturgischer Kommunikation abheben. Sie
152 Vgl. Rose, Word, 59–85. 153 Rose, Word, 59–62, hier 59. Einen analogen Status besitzt der Transformationsbegriff in David M. Browns als „transformational preaching“ bezeichneten predigttheoretischen Entwurf. Auch hier steht das Adjektiv einerseits für einen programmatischen Zuschnitt ein, demzufolge die Predigt ihre Kernfunktion in der Eröffnung einer „life-transforming experience“ besitze; andererseits dient es der Bündelung einer Reihe weiterer Bestimmungsattribute wie experiential, congregational, monological, oral, biblical und persuasive, die mit einem bestimmter gefassten Konzept der Veränderung nur vage in Verbindung stehen (vgl. Ders., Preaching, bes., 7–42, hier 22.28f). Explizit verwiesen sei an dieser Stelle ferner auf den rezenten Entwurf einer Rhetoric of Folly von Charles Campbell und Johan Cilliers. Theologisch beim paulinischen Motiv der Kreuzestorheit ansetzend verdichten sie die Predigt auf ein eminent disruptives Ereignis, das die bestehenden Orientierungsregime nicht abzustützen habe, sondern zugunsten alternativer Identitätsentwürfe und Weltverständnisse bestenfalls aufsprenge. Als „agents of change that matters“ werden die Predigenden auf eine ‚unterbrechende‘ Rede behaftet, die den status quo auf spielerische Weise mit transgressiven Wirklichkeitsbeschreibungen herausfordert und neue Erfahrungsspielräume offeriert (vgl. Dies., Fools, hier 155 sowie auch Campbell, Predigt; Ders., Word; dazu knapp auch Deeg, Predigt, 246.249). Den performativen Frame tangiert ihr Entwurf nicht zuletzt insofern, als mit dem Gedanken der Liminalität eine Explikationsfigur die Erörterungen leitet, die durch Victor Turner und dann auch Erika Fischer-Lichte einen prägenden Einfluss auch auf den Performativitätsdiskurs genommen hat (vgl. dazu Teil C). 154 Vgl. etwa Deeg, Erlebnis; Gutmann/Bieler, Rechtfertigung, 16–24; Roth, Predigt.
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wird emphatisch als „integrales Element der Liturgie“155 in den Vordergrund gerückt. Entscheidend ist, dass im Licht performativitätstheoretischer Einsichten das gottesdienstliche Ritual nicht mehr exklusiv als Agentur der Affirmation begriffen, sondern selbst als transformative Praxis interpretiert wird. Als alltagssistierende Kultursphäre eröffnet es aparte Erlebnisse, alternative Perspektiven, „neue, Körper wie Geist bewegende Erfahrungen“156. Somit kommt es auf Ebene der Transzendierungsinstanzen wiederum zu einer Ergänzung: Als Quelle des Anderen fungiert nicht allein der biblische Bezug oder die poetisch modellierte Sprache; ebenfalls die Aufführungsqualität ihres rituellen Kontexts verleiht der Predigt Transgressionspotenzial.157 Schließlich geht mit der Betonung des Ereignishaften und Erfahrungsmäßigen eine gewisse Ambivalenz einher, was die angezeigte Ermäßigungstendenz in der Rede von Veränderung anbelangt. So kann zwar einerseits ganz im Jargon der Dialektischen Theologie vom „Einbruch der Gotteswirklichkeit“158, „the transforming work of the Holy Spirit“159 o.Ä. gesprochen werden; freilich vermag schon in dieser Beschreibungsperspektive 155 Nicol, Bild, 38. Die programmatische Abkehr von stärker argumentativ und diskursiv strukturierten Redeweisen begründet Nicol unter anderem durch diese Einholung der Predigt in den liturgischen Gesamtvollzug (vgl. a. a. O., 41.45). Im Praxisbuch zur Dramaturgischen Homiletik scheint diese Sicht leicht korrigiert (vgl. Ders./Deeg, Wechselschritt, 161). Die Tendenz auf eine intensivere Verknüpfung homiletischer und liturgischer Perspektiven dokumentiert sich auch in der Gottesdienstlehre von Michael Meyer-Blanck, welche die theoretische Betrachtung von Rede und Ritus miteinander zu entfalten sucht – die Differenzen zwischen beiden Kommunikationsgenres dabei aber gerade nicht einebnen möchte (vgl. Ders., Gottesdienstlehre, 1–3; ferner auch Bieritz, Ritus). Zu einem eigenen Versuch der Verhältnisbestimmung von ‚Predigt‘ und ‚Liturgie‘ vgl. Stetter, Reden; Ders., Pfarrer, 101ff. 156 Roth, Theatralität, 269. Entsprechend wird der Gottesdienst als „transformative Performanz“ (ebd.), „transitorischer Ritus“ (Weyel, Gottesdienst, 181), „ritualisierte Performanz der Konversion“ (Plüss, Gottesdienst, 110f) oder Ausdruck einer „Anti-Struktur, die dem Glauben Veränderungen abringt und dem Leben im Glauben Veränderungen anempfiehlt“ (Nord, Realitäten, 242) beschrieben. Vgl. dazu auch Stetter, Pfarrer, 97–100 sowie Teil C. 157 In seinem Kirchentagsreferat Was nützt uns der Gottesdienst? hat bereits Lange die Transzendierungskraft des gottesdienstlichen Rituals pointiert beschrieben: „Die Welt der Religion ist keine Hinterwelt und keine Überwelt, jedenfalls nicht notwendig, aber sie ist Gegenwelt, wenigstens ein Stück weit. Und also erlaubt sie Distanz, Kritik und Selbstkritik, Überholung des Alltäglichen, wenigstens im liturgischen Spiel, in der symbolischen Begehung“ (a. a. O., 87). Mit den Verweisen auf das Spielerische, Experimentelle oder Antizipative (vgl. a. a. O., 89f), aber auch der dramatisierenden Aufführung gängiger Tätigkeiten (vgl. a. a. O., 87f) ruft Lange zentrale Motive auch kuranter ästhetischer und performanztheoretischer Erläuterungen der gottesdienstlichen Transzendierungsinstanz auf. Thurneysen erkannte in der Besonderheit des Gottesdienstraums zumindest ein „Zeichen“ für die Überschreitungsdynamik des in der Predigt proklamierten Kerygmas: „Es ist nicht zufällig, sondern es hat seinen tiefen Sinn, daß wir wirklich unser Haus verlassen und über die Straße treten müssen, um zur Predigt zu gelangen“ (Ders., Grundregeln, 484f). 158 Nicol, Botschaft, 267. 159 Wilson, Preaching, 67.
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offen zu bleiben, in welcher empirischen Intensität sich ein solcher ‚Einbruch‘ am Ort des Subjekts darstellt. Andererseits hat sich etwa Ursula Roth in aufführungstheoretischer Perspektive dafür ausgesprochen, die Transformativität der Predigt zunächst einmal in Bezug auf ihren intrinsischen Charakter zu bedenken: Nicht die über den Predigtakt hinaus fortdauernden Effekte seien zu fokussieren, sondern der in actu eröffnete Wirkungsraum selbst. Die Beschreibung der subversiven Predigtfunktion erscheint so nicht nur in qualitativer, sondern auch in temporaler Hinsicht in einer entdramatisierten Gestalt.160 Durchaus im Sinne dieser Ermäßigungstendenz kann auch die Studie Absicht und Wirkung der Predigt von Frank M. Lütze gelesen werden. Innerhalb des sprechakttheoretisch-performativen Frames am konsequentesten an die pragmatische Linguistik anknüpfend zielt Lütze auf die Erhellung einer „Predigt, die Rechtfertigung nicht primär als darzustellenden Inhalt der Predigt begreift, sondern als ihr Ziel; es geht um eine im Vollzug rechtfertigende Predigt.“161 Klingt in dieser Bestimmung zunächst ein beträchtlicher Anspruch an, zeigen die Erläuterungen im Folgenden, dass die mit der Predigt im Protestantismus einhergehenden theologischen Ambitionen in instruktiver Weise rednerisch ‚handhabbar‘ gemacht werden. So lässt sich vor dem Hintergrund der sprechakttheoretischen Tradition zum einen plausibel machen, dass wirklichkeitskonstituierende Effekte mitnichten Ereignisse nur extraordinärer Art darstellen, sondern ein generelles Potenzial sprachlicher Unterredung sind.162 Darin darf die
160 Vgl. Roth, Predigt, 108; zur Unterscheidung zwischen vollzugsinternen und vollzugsexternen Predigteffekten vgl. auch Preul, Wirkung, bes. 106. Roths Überlegungen, die im Gespräch mit Fischer-Lichtes Performanzkonzept begrifflich präzise durchgearbeitet sind, zeugen zugleich von der qualitativen Kohibition, wenn der Predigt zwar das Potenzial zugeschrieben wird, „Menschen [zu] verwandeln“, dies aber „im Regelfall keine spektakuläre Erleuchtung oder Offenbarungserfahrung“ sein wird, „sondern ganz schlicht ein ungewohnter, schräger, manchmal auch unbequemer Blick auf die Wirklichkeit, der gleichwohl manch eingeschliffenes und festgefahrenes Deutungsmuster in Frage stellt“ (Dies., Predigt, 108f). 161 Lütze, Absicht, 21. Gleichfalls am Motiv der Rechtfertigung ansetzend haben Andrea Bieler und Hans-Martin Gutmann einen Entwurf vorgelegt, der den performativen Charakter des Predigtgeschehens ins Zentrum stellt und die Wandlungsfunktion der Kanzelrede unterstreicht. Werden auch hier die biblischen Texte, der rituelle Kontext und metaphorische Redeweisen bzw. symbolische Kommunikation als Transzendierungsinstanzen angedeutet und die transformative Dimension anhand von sprechakttheoretischen, performance-bezogenen sowie ästhetischen Vokabularen konzipiert, besitzt ihr Ansatz darin eine besondere Note, dass energetische Erwägungen zur Explikation des Erweiterungspotenzials religiöser parole hinzugezogen werden (vgl. Dies., Rechtfertigung). 162 In Bezug auf die transformative Kraft ritueller Performanzen hat Josuttis in analoger Weise darauf hingewiesen, dass „mehr oder weniger große[-] Konversionen“ Implikate nicht nur unseres Lebenslaufs, sondern auch unseres gewöhnlichen Tageslaufs darstellen. Sosehr er diese in den Horizont einer spezifisch energetischen Betrachtung stellt, sosehr zeigt er durch seine Illustrationen doch je die Alltäglichkeit transformativer Erfahrungen auf: „Ein Gesicht
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Pointe mitgehört werden, dass das transformative Vermögen der Predigt nicht allein auf ästhetisch inspirierte Redeweisen reduziert werden sollte. Zwar nehmen auch in den von Lütze vorgestellten Predigthandlungsmustern erzählerische, bildhafte und andere präsenzprovokative Sprachformen eine besondere Stellung ein. Sie greifen aber doch über diese auch hinaus, wenn etwa argumentative Prozeduren oder expressive, den Rednerbezug zur Sache fokussierende Modi im Blick sind.163 Zum anderen leistet eben jener Fokus auf die Handlungsmuster einer Predigt eine Art kommunikative Verflüssigung des Rechtfertigungsanspruchs. ‚Rechtfertigung‘ kommt nicht als lebensgeschichtliche Radikalzäsur in den Blick, sondern als ein diskursiv je und je ‚wahrscheinlich gemachter‘164 Wirkungseffekt, der sich in diversen Formen der ‚kritischen Unterbrechung lebenshemmender Spiele‘ und ‚kreatorischen Eröffnung alternativer Lebensmöglichkeiten‘ konkretisiert. Mit dieser, den reformatorischen Topos von Gesetz und Evangelium übersetzenden, Basisunterscheidung, bilden sich in Lützes Studie implizit zwei Grundoptionen veränderungsinteressierter Praxis ab: Sie kann – ‚destruktiv‘ – am vorausgesetzten status quo ansetzen oder – ‚konstruktiv‘ – am angestrebten status novus.165 Wie der Titel der Studie anzeigt, fasst Lütze diese kritisch-kreatorische Dynamik als absichtsvolles Geschehen auf. Mithin rückt in der transformativen Dimension das intentionale Moment in den Vordergrund, das Lütze als „unverzichtbare[s]“ Korrektiv gegenüber manchen ästhetisch orientierten Entwürfen namhaft macht, in denen die „Frage nach der Absicht keine nennenswerte Rolle spielt oder sogar explizit als unangemessen zurückgewiesen wird.“166 Ohne enger an die rhetorische Tradition anzuschließen, schimmert damit am Ende dieses – freilich konstruierten – Durchgangs ein erneuter Zug in Richtung Rhetorik durch, der sich rudimentär aber vielleicht doch auch ‚historisch‘ nachweisen lässt. Jedenfalls scheinen sich aktuell die Stimmen zu vermehren, die wieder intensiver nach Anschlussmöglichkeiten an das rhetorische Reflexions-
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kann uns glücklich machen. Ein Buch kann uns packen. Ein Fußballspiel kann uns begeistern. Ein Gespräch kann uns niederdrücken“ (vgl. Ders., Wort, 176). Vgl. etwa Lütze, Absicht, 133–179.250–267. Der Bezug auf typische Handlungsmuster macht auch deutlich, dass in Predigten in der Regel geprägte und konventionalisierte Strategemata in Gebrauch genommen werden, die gleichwohl Wirkungen zu entfalten vermögen. Auch transformative Effekte sollten daher nicht exklusiv an dezidiert kreative und originelle Predigtverfahren gebunden werden (vgl. dazu auch Lütze, Forma; Fechtner, Homiletik, 94). Vgl. Lütze, Absicht, 32. Vgl. Lütze, Absicht, 50–64; vgl. dazu auch Otto, Predigt, 51. Lütze, Absicht, 32f. Lütze geht es dabei genauer um die Auslotung eines Raumes „zwischen Intentionalität und Offenheit“, die Extrempositionen zu vermeiden vermag: Predigt besitzt Ereignischarakter, bleibt indes eine Gestaltungsaufgabe; sie ist ein performatives Geschehen, setzt aber die kooperative Tätigkeit des Publikums voraus; sie trägt ästhetische Züge, vollzieht sich jedoch zweckgerichtet (vgl. a. a. O., 30–37, hier 30 [Hervorhebung M.S.]).
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angebot suchen – womit eine stärker rhetorisch basierte Erläuterung auch der transformativen Predigtdimension mit auf dem Plan stünde.167
2.4
Anschlussreflexionen
Bevor auf Basis der Sondierungen und Annäherungen der weitere Gang dieser Studie zu skizzieren ist, sollen die rekonstruierten Züge einer homiletischen Adressierung der transformativen Predigtdimension knapp gebündelt werden. Deutlich ist, dass die Aufgabe, das Auditorium in Bewegung zu bringen, Vorausgesetztes aufzulockern und zu bereichern, als eine Elementarfunktion religiöser Rede rangiert, wobei die genauere Transformationsebene in der Regel unspezifiziert bleiben kann. Eine Art Konsens dürfte darin bestehen, auch affektive Reaktionen in die Reflexion miteinzubeziehen. Ohnehin wird Veränderung nirgends mit einer bloßen Wissenszufuhr identifiziert: Sosehr Veränderung Informierung einschließen mag, sowenig geht sie darin auf; stets geht es um das Verhältnis, das die Predigthörerin zum Mitgeteilten unterhält.168 Auffallen muss dennoch, dass argumentative Procedere weitgehend weder als eigene Verfahrensoption noch als theoretische Erhellungschance veränderungsinteressierter Praxis in Betracht gezogen werden. Gilt dies schon für rhetorisch perspektivierte Entwürfe wie etwa Ottos Homiletik, mag die Abblendung des Argumentativen auch der Dominanz ästhetischer Bezüge geschuldet sein.169 In der Tat nehmen in der Transformationskonzipierung ästhetische Reflexionsformen gegenwärtig den ersten Rang ein: Die Frage nach dem Neuen erscheint zunächst und zumeist als „Frage der Ästhetik“170. 167 Vgl. dazu in variierender Ausprägung, Intensität und Wertung Gräb, Predigtlehre; Dober, Grundlegung; Conrad, Plädoyer; Kretzschmar, Mensch; Meyer-Blanck u. a. (Hg.), Präsenz; Schlag, Grundperspektive und insbesondere Weyel, Textauslegung; Dies., Religion. 168 In Bezug auf die Predigt als einer religiösen Rede muss dies nicht überraschen; eine Aussparung der Dimensionen subjektiver Bedeutsamkeit, existenzieller Valenz oder lebenspraktischer Brisanz dürfte die Eigenart des Religiösen gemeinhin verpassen. Sosehr, formal besehen, der Veränderungsbegriff auch auf eine bloß quantitative Erweiterung persönlicher Wissensbestände bezogen werden kann, sosehr geht es in den geläufigen Praktiken, die wir mit einem Interesse an Transformation assoziieren, doch um mehr. Ob das therapeutische Gespräch, der sozialkritische Kommentar, die pädagogische Kommunikation, die persuasive parole oder das Kunstwerk – stets dürfte das ‚Mitgeteilte‘ darauf zielen, zu einem mehr oder weniger relevanten Faktor unseres theoretischen oder praktischen Weltzugangs zu werden. 169 Wie gesehen kann dies programmatisch erfolgen, mag aber auch unwillkürlich geschehen. In jedem Fall steht zu vermuten, dass dann ein relativ kruder Argumentationsbegriff präsupponiert ist, der Emotionalität, elokutionäre Kreativität oder die Kunst sprachlicher Vergegenwärtigung ausschließt. 170 Vgl. Grözinger, Gnade, 220; analog auch Hermelink/Müske, Predigt, 365f.
Sondierungen
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Ohne exklusiv darauf zurückgeführt werden zu können, ist diese Dominanz entscheidend durch eine ethische Prämierung der Kunst motiviert, verspricht sie doch eine Form der Transformation, die der Freiheit des Publikums Rechnung trägt – und folglich eine Antwort auf eine Grundproblematik subversiver Praxis.171 Dass dabei externe Stimulierung, Bestimmung und Steuerung selbstverständlich zu berücksichtigen sind, ist durchweg im Blick, wenngleich die Frage nach dem Grad dieser Einflussnahme sowie ihrer Intentionalität unterschiedlich beantwortet werden kann. Unter ästhetischem Vorzeichen kommt es zudem zu Verschiebungen auf Ebene der Transzendierungsinstanzen. Gilt im dialektisch-theologischen Syndrom der Transformation der Bibelbezug als privilegierte Quelle transgressiver Perspektiven, reiht sich durch eine Neuauslotung der Poetisierungsspielräume der elocutio die Sprachgestalt in den Reigen der Überschreitungsfaktoren ein, der schließlich im Horizont einer Ästhetik des Performativen durch das gottesdienstliche Ritual komplettiert wird. Ferner wird die Eigenart des Distanzierungspotenzials der biblischen Texte nicht mehr nur ontologisch oder historisch, sondern ästhetisch ausweisbar. Obgleich die Thematik der Transformation sprachlich wie konzeptionell häufig mit der Bewegung der Transzendierung kurzgeschlossen wird und in der Rede von neuen Sichtweisen, Gegen-Welten oder Fremdheit aufgeht, geben die Sondierungen eine Reihe von Beispielen für die Intuition, dass Effekte der Veränderung ebenso mit der gegenläufigen Bewegung der Rekursion zu tun haben und auf einer irgendwie gearteten Dialektik von Distanz und Nähe beruhen. Diese Struktur der Transformation wurde in der Rekonstruktion immer wieder in den Fokus gerückt und damit in den Entwürfen zum Teil auch überhaupt erst sichtbar gemacht, wobei verschiedene Ausprägungen derselben zutage traten. Die Konzentration der Sondierungen auf diese Transformationsstruktur verdankt sich der Relevanz, die ihre genauere Bestimmung für diverse Gesichtspunkte subversiver Praxis besitzt: – Wie partiell in den dargestellten Erläuterungen schon angeklungen und im Fortgang der Studie noch eingehender nachzuweisen, korreliert sie erstens mit der Beschreibung des Verhältnisses von Affirmation und Transformation. Vereinfacht formuliert: Je intensiver die Bezugnahme, desto ausgeprägter das Moment der Bekräftigung – weshalb Bohren auch von einem konsequenten Anschluss auf eine affirmative Anpassung folgern konnte.
171 Ähnlich urteilt Lütze, wenn er in der Abwehr manipulativer Redeverfahren einen Beweggrund dafür vermutet, „dass die wirklichkeitsverändernde Wirkung der Predigt in jüngeren Publikationen nicht mehr mit Hilfe sprachpragmatischer, sondern mit Hilfe ästhetischer Kategorien beschrieben wird“ (Ders., Absicht, 27).
68
Teil A: Einführung
– Dies muss dann als Fehlschluss gelten, wenn nicht nur die Notwendigkeit einer Dialektik von Distanz und Bezug akzeptiert, sondern auch ihre Variabilität gesehen wird. Insofern tangiert die Transformationsstruktur zweitens die Möglichkeit, verschiedene Transformationsstufen voneinander abzuheben. Womöglich könnte über die Art des Zusammenspiels transgressiver und rekursiver Dynamiken eine graduelle Typologie der Transformation gewonnen werden. – Mit dem Gedanken einer Stufung stehen drittens auch kohibitive Artikulationen der erhofften Effekte im Raum. Besonders was die qualitative Ermäßigungstendenz anbelangt, gibt die Einsicht in das rekursive Moment der Transformation Anlass zur Fokussierung subtilerer Irritationen – oder führt überhaupt zu einer Temporalisierung bzw. Momentanisierung der Predigtwirkung. – Viertens tangiert die Bestimmung der Wandlungsstruktur die Frage nach dem materialen Ansatzpunkt transformativer Praxis, also der Relation von Destruktion und Konstruktion. Brauchen beide Strategien den Bezug auf Bestehendes, um verstanden, relevant und wirksam zu werden, zeigt sich die Dynamik der Rekursion im Fall dezidiert subversiver, also primär nicht über die (positive) Präsentation eines status novus, sondern die (negative) Delegitimation des status quo operierender Praxis nochmals in einer anderen Funktion. – Fünftens steht sie in Zusammenhang mit der ethischen Problematik veränderungsinteressierter Rede. So sah Martin in Langes auf einen konsistenten Situationsbezug abstellenden Entwurf die Gefahr einer autoritativen Bevormundung durch allzu dicht bestimmte Applikationsofferten. Umgekehrt versetzt etwa für Grözinger eine gewisse elokutionäre Anpassung die Hörenden allererst in die Lage, sich als aktiv Beteiligte im Predigtgeschehen wahrzunehmen. – Sechstens – und die bisherigen Zusammenhänge aufnehmend – steht die Bestimmung der Nähe-Distanz-Relation im Zentrum der Frage nach der Möglichkeit eines interpretativen Modells der Transformation: Lassen sich auch im Paradigma der Deutung transformative Predigtfunktionen begründen und konsistent ausweisen? Nicht zuletzt im Horizont eines solchen interpretativen Ansatzes ist eine Homiletik entstanden, die im Anschluss an die liberale Predigttradition ein Sensorium für die soziale und kulturelle Einbettung religiöser Rede zu kultivieren sucht. Vor diesem Hintergrund sticht am Ende hervor, dass in der Adressierung der transformativen Dimension der Predigt die Frage nach ihrem soziokulturellen Kontext nahezu ausfällt. Zumindest gilt dies im Blick auf Fragen, die ihre Notwendigkeit oder Relevanz, ihre Möglichkeit, Stellung und Eigenart o. dgl.
Strukturierungen
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betreffen.172 Dass das kulturelle Klima, der öffentliche Diskurs und die sozialen Verhältnisse selbstredend auch die Reflexion der transformativen Dimension mitbestimmen, sei wenigstens noch erwähnt.173
3
Strukturierungen: Zur Konzeption der Studie
3.1
Fragestellung und Ansatz
Auf Basis der Annäherungen und Sondierungen ist das Erkenntnisinteresse der Studie nun nochmals pointierter herauszustellen sowie seine methodische Umsetzung vorzuzeichnen. Die eingangs notierte Zielsetzung, einen Beitrag zur Vermessung der transformativen Dimension christlicher Predigt leisten zu wollen, kann dabei vierfach präzisiert werden. (1) Die Frage der Transformation wird nicht als logisches Problem bedacht, sondern als praktisches Problem begriffen. Wie sich Veränderung konsistent denken lässt, was Veränderung ihrem allgemeineren Begriff nach bedeutet, unter welchen exakten Bedingungen der Gedanke des Neuen gerechtfertigt wäre174 – eine solch prinzipielle Theoretisierung kann in dieser Untersuchung – und sei es als Propädeutikum – nicht geleistet werden. Sie fragt nach Transformation als Effekt einer lebensweltlich situierten Praxis und insofern nach kommunikativen Verfahrensweisen, situativen Bedingungsfaktoren, typischen Wirkungsattributen175 sowie sozialen und ethischen Aspekten der Veränderung. 172 In Bezug auf die Gehalte veränderungsprovokativer Predigt hat beispielsweise Grözinger die Globalisierungs- und Individualisierungstendenzen gegenwärtiger Gesellschaften interpretativ ausgewertet (vgl. Ders., Gnade, bes. 213–216; vgl. dazu etwa auch Engemann, Freiheit; Gräb, Predigtlehre, 15–32). 173 Im Sinne sehr vager Fingerzeige wäre etwa für die dialektisch-theologische Explikation der transformativen Predigtdimension auf die Rolle des Neuen in der expressionistischen Literatur zu verweisen, das hier artikulierte Bewusstsein von der Hinfälligkeit des alten Äons, die Sehnsucht, einer resonanzlosen Welt zu entfliehen und ein Wort zu vernehmen, das unbedingt angeht, gänzlich einnimmt, neu ausrichtet (vgl. etwa Anz, Literatur, 44–49). Für die Ansätze im Kontext des empirischen Turns müsste die kritisch bewegte counter culture berücksichtigt werden mit ihren Attacken auf überkommene Autoritäten, ihrer Erprobung stärker dialogisch ausgerichteter Kommunikationsformate, ihrem Insistieren auf subjektive Partizipation. Die Initiationsphase des ästhetischen Paradigmas fällt in eine Zeit, in der das von Andreas Reckwitz so genannte „Kreativitätsdispositiv“ seine kulturelle Vormachtstellung antritt: Die Figur des Künstlers wird zum Modell für eine ganze Reihe anderer Berufe und Selbstpraktiken; weniger der argumentative, auf Entscheidung fokussierte Diskurs, denn das freie Spiel sinnlicher Wahrnehmungen rückt ins Zentrum der Lebensvollzüge; die Angleichung von Produzenten und Rezipienten kultureller Zeichen schreitet voran (vgl. Reckwitz, Erfindung, 9–19). 174 Vgl. dazu etwa Mortensen, Change. 175 Für die Medienwirkungsforschung hat Michael Jäckel neun typische „Dimensionen“ einer
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Teil A: Einführung
(2) Es stehen Veränderungen im Fokus, die dezidiert die Subjekte der Hörerschaft betreffen. Als Standardfall der Veränderung wird die subjektive Transformation veranschlagt; es geht nicht um sozialen, politischen oder kulturellen Wandel. Wie das Beispiel sozialkritischer Praxis zeigt, ließe sich die transformative Predigtdimension auch konzentriert auf faktische oder intendierte Veränderungen der Gesellschaft hin untersuchen. Sosehr die Predigt ebenfalls als Organ der Gesellschaftskritik Veränderungen der Subjekte impliziert – insofern diese von der Korrekturbedürftigkeit bestehender Praktiken und Institutionen zu überzeugen sind, für die Vision eines alternativen Modells des Zusammenlebens gewonnen und zum praktischen Engagement für dasselbe motiviert werden sollen – sosehr besitzt sie ihre eigentliche Zielebene doch im überindividuellen Bereich der sozialen Verhältnisse. Entsprechend differenziert Maeve Cooke zwischen einer „cognitive“ und einer „social transformation“.176 Letztere wird in dieser Untersuchung ausgeklammert. Die Predigt wird als Medium der Selbst-Erweiterung akzentuiert – wobei die Analysen zum Selbstverständigungsbegriff gezeigt haben, dass der Anregung neuer Möglichkeiten der Selbstinterpretation immer auch Praxis- und Sozialrelevanz zukommt. (3) Der Begriff der Predigt bezeichnet ein Geschehen, das als Interaktion zu bestimmen ist. Was spätestens über die rezeptionsästhetische Einsicht in die bedeutungskonstitutive Aktivität des Lektors nachhaltigen Eingang in das homiletische Bewusstsein gefunden hat, lässt sich im Rahmen performanzbezogener Konzepte wohl noch adäquater ausweisen, treffen Text-Leser-Modelle entscheidende Pointen des Genres einer Rede doch gerade nicht. Die für das ganze Verständnis der Predigt nicht unwichtigen Merkmale der Simultaneität von Oratortätigkeit und Hörertätigkeit sowie ihre ‚leibhafte Kopräsenz‘ geben dem interaktionalen Charakter des Predigtgeschehens ein Gepräge, das über die Rezeption schriftlicher Diskurse hinausreicht.177 In jedem Fall bedeutet das Wirkungsbeschreibung ausdifferenziert: „Art“, „Stärke“, „Zeit/Dauer“, „Entwicklung“, „Richtung, Verlauf“, „Objekt“, „Zielebene“, „Wirkungsweise“ sowie „Vorsatz/Absicht“ (vgl. Ders., Einführung). Auch in dieser predigtbezogenen Studie wurden sie nahezu komplett schon adressiert. 176 Vgl. Cooke, Society, 13 u. ö. Aufgrund der kognitiven resp. subjektiven Komponente des sozialkritischen Unternehmens versprechen die mit ihm befassten Theorien freilich durchaus relevante Einsichten auch für die hier perspektivierte Zielebene transformativer Praxis; und auch nicht auf kritische Interventionen abgestellte Theorien sozialen, politischen und kulturellen Wandels bergen fruchtbare Problembeschreibungen und Differenzierungskategorien. 177 „Die Predigt ist […] weder der vorab erarbeitete schriftliche Text noch der mündliche Kanzelvortrag. Die Predigt ist aus performativitätstheoretischer Perspektive die Aufführung, die einzig im Wechselspiel von Aktion und Reaktion zu erfassen ist“ (Roth, Predigt, 107). Nicht unter Verweis auf das Zusammenspiel zwischen Akteur und Zuschauer, sondern zwischen den Akteuren selbst, bedient sich interessanterweise schon Heinrich Schott in seinem großen, ganz der Rhetorik verpflichteten, 1815 publizierten Homiletikentwurf
Strukturierungen
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Kürzel ‚Predigt‘ ein komplexes Zusammenspiel von Predigerin und Auditorium; die Praxis der Predigt ist ein interaktionales Gebilde. Als solches wird sie in dieser Arbeit jedoch vorwiegend aus der Perspektive der Predigenden in den Blick genommen. Im Fokus steht der Beitrag, den sie für die Interaktion ‚Predigt‘ leisten. Dieser senderseitige Ansatz schließt Überlegungen, die die Tätigkeit der Hörer betreffen, sowie Einsichten überhaupt in die vielfältigen Faktoren, die das Predigtgeschehen beeinflussen, nicht aus. Sie kommen aber nicht als eigenständiges Erkenntnisobjekt zu stehen, sondern als Bedingungsgefüge, in dem die Predigenden als kommunikative Akteure operieren. Für eine Untersuchung der transformativen Dimension der Predigt sind unter diesem Blickwinkel klare Grenzen gesetzt. Er erlaubt keine Aussagen über faktische Effekte, vermag Transformation lediglich im Sinne einer Wirkungsfunktion oder eines Wirkungsinteresses, einer Wirkungsoption oder eines Wirkungspotenzials anzusprechen. (4) Innerhalb des so abgesteckten Rahmens sind nun die konkreteren Problemaspekte zu benennen, auf die hin die Untersuchung ausgerichtet ist. Sie resultieren aus den bisher in den Annäherungen und Sondierungen angestellten Überlegungen und liegen als Aspekte nicht trennscharf nebeneinander, sondern bedingen sich in vielfacher Weise gegenseitig: – Der strukturelle Aspekt der transformativen Predigtdimension: Die Dialektik von Transgression und Rekursion hat sich bis dato als ein Kernproblem transformativer Praxis erwiesen, das mal mehr, mal weniger bewusst, gleichwohl notorisch adressiert wird. Sie soll in ihrer Relevanz, Komplexität und Funktion präziser herausgearbeitet werden, entscheidet sich an ihr doch nicht zuletzt auch die Möglichkeit eines interpretativen Modells veränderungsprovokativer Kommunikation. – Der begriffliche Aspekt der transformativen Predigtdimension: Die Kompetenz, affirmative und transformative Wirkungsmodi religiöser Praxis zu unterscheiden, wurde mit gutem Grund für eine ‚behutsame‘ Praktische Theologie eingeschärft, um nichtsdestoweniger eine krude Entgegensetzung zu hinterfragen. Diese Spur ist im Blick auf die Predigt weiterzuverfolgen, an deren Ende graduellere und dynamischere Beschreibungsoptionen in den Blick kommen. – Der technische Aspekt der transformativen Predigtdimension: Als praktisches Problem kommt Veränderung stets auch als Verfahrensfrage zu stehen. Liegt dabei der Akzent nach Maßgabe des ästhetischen Paradigmas primär auf theatraler Einsichten, um den Interaktionscharakter einer Rede auszuweisen. So sei die „Beredsamkeit“ exakt dahingehend „mit der dramatischen Poësie“ verschwistert, als die Rede eine „Handlung zwischen dem Redner und seinem Publicum“ darstelle und sich daher wie ein Drama allererst über die „Wechselwirkung“ mindestens zweier Subjekte aufbaue (vgl. Ders., Theorie, Bd. 1, 136–163, hier 136.140 [Hervorhebung M.S.]).
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einem poetisch inspirierten Sprachgebrauch, deuten einzelne Entwürfe doch auch ein reicheres Methodenspektrum an. Sie laden zur intensiveren Erkundung weiterer Prozeduren ein, unter denen ein besonderes Augenmerk auf der Praxis der Argumentation liegen soll, erscheint diese doch – nicht nur bezüglich ihrer Anregungskraft – häufig eher als degenerierter Predigtmodus.178 Der konditionale Aspekt der transformativen Predigtdimension: Vor allem im Dialog mit der empirischen Kommunikationswissenschaft in den 1960er und 1970er Jahren wurde homiletisch der Versuch unternommen, eine Heuristik relevanter Bedingungsfaktoren der Predigtwirkung zu erarbeiten. Stand dabei ihr hemmender Einfluss im Vordergrund, zeigt die Erweiterung der Transzendierungsinstanzen, dass wesentliche Komponenten des Predigtgeschehens durchaus auch als Ferment transformativer Effekte gedeutet werden können. Zumindest in Auswahl ist die Rolle diverser Bedingungsfaktoren genauer zu erörtern. Der modale Aspekt der transformativen Predigtdimension: Unter diesem Gesichtspunkt sollen typische Möglichkeiten der Näherbestimmung des Wirkungseffekts transformativer Praxis zum Vorschein kommen. Wie der kohibitive Zug gezeigt hat, kann der Wirkungseffekt der Predigt etwa in temporaler Hinsicht verschieden fokussiert werden und auch in qualitativer Hinsicht variierende Beschreibungen erfahren. Als folgenreich wird sich zudem erweisen, ob das Wirkpotenzial der Predigt auf die Absicht eines Akteurs zurückgeführt oder das intentionale Moment zurückgenommen wird. Der ethische Aspekt der transformativen Predigtdimension: In nahezu allen Rekursen auf die Veränderungsfunktion der Predigt bilden ethische Gesichtspunkte einen wenigstens rudimentären Referenzpunkt. Während die grundsätzliche Legitimität kommunikativer Interventionen in die Selbstverständigungsprozesse eines Subjekts kaum in Frage steht179 und die Sozialverträglichkeit des Inhalts der Predigtziele gemeinhin vorausgesetzt wird, konzentriert sich die ethische Problematik auf den Verfahrensmodus der Kanzelrede. Wie weit hier die Lösungsangebote eines ästhetischen Frameworks reichen und welche Perspektiven andere Zugänge eröffnen oder verschließen ist eine zentrale Frage auch dieser Untersuchung. Der kontextuelle Aspekt der transformativen Predigtdimension: Nach Maßgabe der Erfordernis, die Praxis der Predigt immer auch im Horizont ihres sozialen und kulturellen Zusammenhangs zu bedenken, wird der Versuch
178 Ein Blick auf Verfahren birgt immer auch Erkenntnispotenziale, was die genauere Funktionsweise transformativer Prozesse angeht. Insofern sind von argumentationstheoretischen Einsichten auch diesbezüglich Beiträge zu erwarten und mit den bisher dominierenden literaturwissenschaftlichen Analysen ins Gespräch zu bringen. 179 Angesichts der beschriebenen Externität und Sozialität des Sichtselbstverstehens ist dies auch nur schwer möglich.
Strukturierungen
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unternommen, ihre Veränderungsfunktion soziokulturell zu kontextualisieren. Werden die Antezendenzbedingungen religiöser Kommunikation bisher – wenn überhaupt – lediglich für die inhaltliche Signatur der transformativen Dimension ausgewertet, soll ihre Relevanz auch für andere Aspekte untersucht werden. – Der konzeptionelle Aspekt der transformativen Predigtdimension: Die homiletische Rückgewinnung außertheologischer Reflexionsperspektiven im Laufe des 20. Jh. prägte auch das Nachdenken über ihre Veränderungskapazität. Während es dabei, zumindest was die dominanten Bezüge anbelangt, zu einer Marginalisierung des Gesprächs mit der Rhetorik gekommen ist, zielt die Untersuchung bewusst auf eine Erprobung auch ihrer Reflexionsangebote. Dass neben der Ästhetik und Rhetorik auch andere Theorietraditionen fruchtbare Perspektiven versprechen, soll exemplarisch die Integration kritiktheoretischer Erwägungen zeigen. Eine solche Weitung des Beschreibungsvokabulars der transformativen Predigtdimension erscheint mir insofern nicht unbedeutsam, als die jeweilige konzeptionelle Rahmung die Erörterung aller hier benannten Problemaspekte entscheidend beeinflussen dürfte.
3.2
Methodik und Aufriss
Zur Bearbeitung der skizzierten Problemaspekte soll ein mehrperspektivischer Reflexionsraum eröffnet werden. Die transformative Dimension der Predigt wird zunächst in drei Reflexionskontexte eingestellt. Sie beruhen auf Theorietraditionen, die sich der Erhellung kulturell etablierter Praktiken widmen, denen gemeinhin Veränderungsfunktion und Wandlungspotenzial zugeschrieben wird: Praktiken der Kritik, Praktiken der Kunst und Praktiken der Persuasion. Diese Praktiken werden in Gebrauch genommen, um Einfluss auf andere zu nehmen oder sich selbst zu animieren und in seinem Denken, Fühlen und Handeln zu erweitern. Von den mit ihnen klassischerweise befassten Disziplinen – der Kritiktheorie, der Ästhetik und der Rhetorik – sind daher Anregungen zu erwarten, was die Veränderungsfunktion und das Wandlungspotenzial auch der Predigt anbelangt. Die Auswahl der Reflexionskontexte verdankt sich neben ihrer Vorprägung durch die in den Annäherungen dargestellten Entwürfe180 und ihrer An180 Man kann die drei Entwürfe, wie gesehen, so lesen, dass Luther auf den kritischen Aspekt aufmerksam macht, Ricœur durch Konzentration auf Rezeptionsprozesse und seine literaturtheoretischen Anleihen wichtige ästhetische Aspekte adressiert und Latour die wirkungsinteressierten Produktionsprozesse der Rede und insofern rhetorische Aspekte akzentuiert.
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Teil A: Einführung
schlussfähigkeit an den homiletischen Diskurs – zumindest was das aktuelle Standing der Ästhetik sowie die traditionelle Relevanz der Rhetorik betrifft – vor allem dem Ansinnen, die transformative Dimension der Predigt nicht formal zu theoretisieren, sondern als praktisches Problem zu behandeln. Nicht Transformation, sondern transformative Praxis ist das Thema der Kritiktheorie, der Ästhetik und der Rhetorik. Ferner sind mit dieser Trias divergente Rahmungen transformativer Praxis gesetzt. Sofern jeder Frame Bestimmtes ins Licht rückt und Anderes ausblendet, erlaubt die Differenz der Reflexionskontexte zum einen unterschiedliche Züge der transformativen Predigtdimension zu beleuchten und zum anderen den skizzierten Problemaspekten unterschiedliche Bestimmungen zu geben. Alle drei Bezugstheorien stellen selbstverständlich auch in sich keine homogenen Gebilde dar; sie versammeln eine Vielfalt an Traditionen und Konzeptionsvarianten. Aus diesem Grund kann der Aufbau der drei Reflexionskontexte nur über die Auseinandersetzung mit bestimmten Entwürfen erfolgen. Dies ist ebenso deshalb unabdingbar, als die Überlegungen erst dadurch an hinreichender Subtilität und Substanz gewinnen sowie kritikabel gehalten werden können.181
Wie deutlich werden wird, sind die Reflexionskontexte nicht so disparat, dass keine Anschlusschancen zwischen ihnen bestünden. Besonders die kritiktheoretischen und rhetorischen Erwägungen treffen sich in manch Grundentscheidung, was insofern nicht ungewollt ist, als hinsichtlich des konzeptionellen Aspekts eine Erweiterung der homiletisch dominierenden ästhetischen Zugänge angestrebt wird. Zuletzt liegen die drei Reflexionskontexte dadurch nahe, dass sie nicht notwendig auf eine Serie transformativer Praktiken angelegt sind; ihre Überlegungen lassen sich auf punktuelle Handlungsereignisse beziehen. Tatsächlich wird in dieser Untersuchung der serielle Aspekt transformativer Praxis weitgehend ausgespart, wodurch die Analyse um eine relevante Frageebene beschnitten ist – vielleicht aber auch empirischen Einsichten in die Logik des Gottesdienstbesuchs Rechnung getragen wird.182
181 Im Zentrum des kritiktheoretischen Kapitels (Teil B) steht die Konzeption von Michael Walzer; das ästhetische Kapitel (Teil C) beruht vor allem auf Überlegungen von Victor Turner und Erika Fischer-Lichte; das rhetorische Kapitel (Teil D) wird von den Ansätzen von Josef Kopperschmidt und Joachim Knape her aufgerollt. Zur Begründung dieser Referenzen vgl. die Kapiteleinführungen. 182 Zum Befund einer sporadischen Gottesdienstteilnahme vgl. exemplarisch Kerner, Ordnung, 9f. Trotz dieser Selektionsmotive erfolgt eine solche Auswahl stets auch unter pragmatischen Gesichtspunkten und muss ihre Fruchtbarkeit letztlich im Vollzug erweisen. In der Tat wäre eine Reihe weiterer potenzieller Referenzdiskurse denkbar: allen voran die Pädagogik und therapeutische Reflexionen; aber auch die Innovationsforschung versammelt interessante Perspektiven auf die Dynamiken der Veränderung. In die Untersuchung fließen sie im Folgenden sporadisch ein.
Strukturierungen
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Um den kontextuellen Problemaspekt zu beleuchten, werden die drei auf klassische transformative Praktiken bezogenen Reflexionsperspektiven durch einen vierten Zugang komplettiert. Im Zentrum steht dabei die religionssoziologische These einer Pluralisierung der kulturell verfügbaren und zunehmend auch subjektive Relevanz gewinnenden moralisch-spirituellen Selbstinterpretationsoptionen. Die Konzentration auf Dynamiken der Diversität beruht auf der schon im Rahmen der Überlegungen zum Begriff der Selbstverständigung anklingenden inneren Zusammenhänge zwischen ‚Vielfalt‘ und ‚Veränderung‘.183 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Gang der Untersuchung schematisch wie folgt darstellen (Abb. 1); gemäß dem methodischen Ansatz vollzieht sich seine Fortschrittsbewegung eher im Sinne sich sukzessive anreichernder Schleifen, weniger nach einer linearen Logik, wonach die einzelnen Problemaspekte nacheinander abschließend erörtert werden könnten.
Abb. 1: Arbeitsschema der Untersuchung
Mit der Fragestellung und Methodik sind auch die Grenzen dieser Untersuchung gesetzt. Sie vermag keine Aussagen über faktische Wirkungen der Predigt zu 183 Auch der vierte Reflexionskontext wird entscheidend über die Auseinandersetzung mit einem konkreten Einzelentwurf organisiert. Es handelt sich dabei um die religionsanalytischen Erwägungen Charles Taylors.
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Teil A: Einführung
treffen: Sie erforscht die transformative Dimension der Predigt im methodologisch spezifischen Sinne nicht empirisch, sondern verfolgt im Modus einer ars combinatoria eine kulturwissenschaftliche Erhellung ihrer Veränderungsfunktionen und Wandlungspotenziale.184 Sie gibt ferner keine Antworten auf materiale Fragen: Die Analyse vollzieht sich insofern formal, als die Frage, welche inhaltlichen Anstöße von einer Predigt zu erwarten wären, ganz in das Ansinnen der predigenden Akteure gestellt wird – obschon die religiöse Thematik mit einer homiletischen Studie natürlich gesetzt ist und die Arbeit ihren protestantischen Charakter im Sinne eines basalen Hintergrunds sicherlich nicht verbergen kann. Ebensowenig ist von der Untersuchung ein konkreter Praxisleitfaden veränderungsinteressierter Predigt zu erwarten. Auch wo der technische Problemaspekt besprochen wird, stehen ‚prinzipiellere‘185 Erwägungen im Vordergrund – wenngleich diesen bestenfalls ihre Praxisrelevanz anzumerken ist. Zuletzt bleiben historische Erörterungen randständig: Sind in den Sondierungen kurzgreifende Rückblenden notiert und werden im Zuge der einzelnen Reflexionskontexte auch relevante geschichtliche Positionen immer wieder aufgerufen, bleibt eine eigenständige historische Rekapitulation der Reflexion wie Praxis veränderungsinteressierter Predigt außen vor. Nichtsdestotrotz, so steht zu hoffen, gelingt es der Studie, ausgerichtet an den skizzierten Problemaspekten und im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Kombinatorik, einen relevanten Beitrag zur Vermessung der transformativen Dimension der Predigt zu leisten und ein wacheres Verständnis für die Predigt als Medium der Selbsterweiterung zu befördern.
184 Zum Gedanken der Kombination bzw. ‚Vernetzung‘ als Modell der Kulturforschung vgl. Wirth, Vorüberlegungen. 185 Legt man die klassische Dimensionierung des homiletischen Unterfangens durch Alexander Schweizer bzw. die von Michael Meyer-Blanck vorgeschlagene Dreifach-Typologie praktisch-theologischer Forschung zugrunde, wird die Untersuchung wohl am ehesten als „prinzipiell“ bzw. „systematisch“ klassifiziert werden müssen (vgl. Schweizer, Homiletik; Meyer-Blanck, Forschungen).
Teil B: Praktiken der Kritik. Kritiktheoretische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt
1
Kritische Praxis und Transformation
‚Kritik‘ rangiert heute weithin als ein „Verpflichtungsbegriff“1. Unkritisch zu sein, gilt in der Regel als sozial unerwünscht und wer sich als kritikresistent erweist, läuft Gefahr, sich nicht nur im beruflichen Miteinander zu disqualifizieren. Die Forderung, zumindest in denjenigen Angelegenheiten, die für ein Subjekt von Belang sind, eine kritische Haltung einzunehmen, und die Erwartung, sich gegenüber Einwänden nicht abzuschotten, indizieren zwei Bedeutungsvarianten, die das Wortfeld der Kritik in unserer Sprache annehmen kann. Zum einen kann die Tätigkeit der Kritik im Sinne eines Prüfens verstanden werden. So besehen besteht eine kritische Haltung in der Weigerung, einen Gegenstand als Selbstverständlichkeit zu behandeln, im Versuch, ihn genauer zu erkunden und zu untersuchen. Zum anderen – und umgangssprachlich weiter verbreitet – meint die Tätigkeit der Kritik einen Akt der Evaluierung: die in erster Linie negative Beurteilung eines Gegenstandes, welcher dabei implizit als veränderbar vorausgesetzt wird. „Es gibt keine Kritik von Sonnenuntergängen oder von Mücken, auch wenn wir die ersten großartig, die zweiten ärgerlich finden mögen. Wir sprechen von Kritik nur, wo es um Menschen, ihr Tun und die Produkte dieses Tuns geht.“2
1 Röttgers, Kritik (1990), 889. 2 Bittner, Kritik, 137. Häufig besteht der kritische Akt freilich gerade im Aufweis der Veränderbarkeit eines Gegenstands, sozusagen in der ‚Denaturalisierung‘ eines sich ‚natürlich‘ gebenden Sachverhalts. Zur Etymologie, Konzeptgeschichte wie Semantik des Kritikbegriffs vgl. auch Sonderegger, Kritik; Röttgers, Kritik (1982) sowie die historischen Untersuchungen in Koselleck, Kritik; Von Bormann, Ursprung; Röttgers, Praxis oder auch Benjamin, Begriff. Der Sinn des Prüfens spielt eine prominente Rolle im Begriffsgebrauch Kants. Was er als ‚Kritik der reinen Vernunft‘ bezeichnet, meint nicht ein Werturteil, sondern die „Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen“ derjenigen „Erkenntnisse, zu denen sie [sc. die Vernunft], unabhängig von aller Erfahrung, streben mag“ (Ders., KrV, 13 [Hervorhebung M.S.]).
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Teil B: Praktiken der Kritik
Diese Präsupposition deutet an, dass die Praxis der Kritik einem ambitionierteren Verständnis nach über den reinen Vollzug negativer Beurteilung hinausreicht. Im Kontext der Kritiktheorie kommt sie vorwiegend als veränderungsinteressierte Tätigkeit zu stehen, in welcher der Aufweis von Defiziten nicht sich selbst genügt, sondern auf einem transformativen Impetus beruht. In dieser Perspektive erscheint Kritik als „Modifikationspraxis“3, von der sich soziale Akteure die Restrukturierung eines veränderbaren Gegenstands versprechen. Innerhalb des Spektrums der dabei in Betracht kommenden Objekte hat sich unter dem Titel der Gesellschaftskritik eine reflexionsreiche Tradition formiert, der das Verständnis kritischer Praxis instruktive Problembeschreibungen und Differenzierungskategorien verdankt. Die Produktivität der gesellschaftsbezogenen Kritikreflexion dürfte nicht zuletzt aus dem Projekt einer ‚Kritischen Theorie‘ herrühren, in deren Horizont der Kritikbegriff zum Bestandteil der wissenschaftstheoretischen Selbstexplikation avancierte.4 Freilich bedenken nicht alle auf den Gegenstand der Gesellschaft konzentrierten Kritikansätze ‚Kritik‘ primär als Moment der Theorie. Als einer der anregendsten und kontrovers diskutierten Entwürfe können dabei die Überlegungen Michael Walzers gelten.5 Tatsächlich zielt sein Nachdenken eher auf das Verständnis lebensweltlich situierter Praktiken der Sozialkritik, denn dass ‚Kritik‘ als Funktion eines theoretischen Unternehmens in Betracht gezogen würde. Dies ist ein Grund, weshalb sein Ansatz im Folgenden ausgiebiger reflektiert werden soll. Zudem bringt er den Akt der Kritik nicht nur mit Nachdruck als veränderungsprovokative Intervention zur Geltung, sondern begründet seinen Entwurf im Kern über die transformative Aufgabe kritischer Tätigkeit. Ausschlaggebend für die Konzentration auf Walzer ist letztlich aber sein Plädoyer für einen sog. connected critisicm. Walzers Nachdenken kreist um das Problem der Position des Kritikers: Nimmt er gegenüber der von ihm erkundeten Gesellschaft einen ‚internen‘ oder ‚externen‘ Standpunkt ein? Entwirft er seine kritische Perspektive von ‚innen‘ oder von ‚außen‘? Beruft er sich auf Maßstäbe, die dem Selbstverständnis seiner Adressaten ‚immanent‘ oder ‚transzendent‘
3 Richter, Grenzen, 237. Zum Verständnis der Kritik als einer transformativen Tätigkeit vgl. ferner etwa Cooke, Society, 9–24; Iser, Empörung, 7–18; Jaeggi, Ideologiekritik, 285–293; Konersmann, Kulturkritik, 27–32.46; Saar, Genealogie, 302–305.314–318; Stahl, Kritik, 19–26; Wesche, Reflexion, 199–203. 4 Einführend zum Projekt der kritischen Gesellschaftstheorie im Horizont der Frankfurter Schule vgl. etwa Celikates/Jaeggi, Theorie; Geuss, Idee; Honneth, Gesellschaftskritik; Ders. (Hg.), Schlüsseltexte; Horkheimer, Theorie. 5 Einen auf die empirischen Alltagspraxen der Kritik fokussierten Ansatz vertritt auch die sog. Soziologie der Kritik, wie sie von Luc Boltanski u. a. ausgearbeitet worden ist. Vgl. dazu Ders./ Thévenot, Rechtfertigung; Ders., Soziologie; Ders./Honneth, Soziologie sowie darauf reflektierend Celikates, Kritik, 99–157.
Michael Walzers Konzeption kritischer Praxis
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sind? Spricht er zu ihnen aus einer Position der ‚Nähe‘ oder der ‚Distanz‘?6 Mit seiner Figur des connected critic scheint Walzer in diesen Fragen eindeutig Stellung zu beziehen. Er propagiert eine Idee kritischer Praxis, die das Moment der Nähe, des Innen, der Immanenz hervorhebt. Übersetzt in die bisherige Terminologie akzentuiert er die Bewegung der Bezugnahme und sieht sich damit dem – der Skepsis Bohrens gegenüber Lange ähnelnden – Einwand ausgesetzt, einem allzu affirmativen Kritikkonzept das Wort zu reden. Walzers Verteidigung seines Ansatzes verspricht daher fruchtbare Einsichten in den strukturellen Problemaspekt der transformativen Predigtdimension; und gemäß der Zentralität dieses Gesichtspunkts sind Klärungschancen auch für andere Dimensionen der Fragestellung zu erwarten – zumal Walzer die Praxis der Kritik primär als linguistische Praxis vor Augen steht und damit kommunikationsstrukturelle Parallelen zur Predigt bestehen. Anhand von Walzers Konzeption kritischer Praxis wird im Folgenden zunächst der grundlegende Verschränkungscharakter transformativer Praxis markiert und sodann sukzessive vertieft. Walzers Begründung seines Ansatzes bietet dabei die Möglichkeit, die genauere Bedeutung und Funktion sowie das Zusammenspiel rekursiver und transgressiver Dynamiken herauszuarbeiten. Wie in allen der folgenden Kapitel werden die Überlegungen am Ende rekapituliert und auf die Problemaspekte der transformativen Dimension der Predigt hin reflektiert.
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2.1
Die Dialektik von Immanenz und Transzendenz
Einem breiteren Publikum wurde Walzer durch den Band Spheres of Justice bekannt.7 Darin legt er ein Gerechtigkeitskonzept vor, das alsbald auf Vorbehalte stoßen sollte. Unter anderem wurde seinem Entwurf ein affirmativer Zug un6 Zur Relevanz des Problems der Position der kritischen Akteurin sowie die darin implizierte Frage nach dem Verhältnis zwischen Subjekt, Gegenstand und Adressat der Kritik vgl. Jaeggi/ Wesche, Einführung, 8f. 7 Die Rezeption Walzers stand in der deutschsprachigen Philosophie zunächst ganz im Zeichen der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte, in der sein Nachdenken für die kommunitaristische Seite einstand. Im Zuge der intensiveren Beschäftigung mit seinen Überlegungen wurde einer solch pauschalen Zuordnung in der Folgezeit vermehrt widersprochen – und vor allem auch die Breite seines Œuvres entdeckt. In ihm gibt sich Walzer nicht nur als Forscher und Theoretiker zu erkennen, sondern ebenso als engagierter Intellektueller, der sich in den politischen Gegenwartsdiskurs einzubringen versucht. Vor diesem Hintergrund dürften seine Erwägungen zur Praxis der Kritik zentrale Facetten auch seines eigenen Selbstverständnisses als zivilgesellschaftlicher Akteur zum Ausdruck bringen. Walzers kritiktheoretische Refle-
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terstellt; auf Basis seines Ansatzes sei der konsistente Aufbau einer kritischen Perspektive nicht möglich.8 Auf diesen Vorwurf reagiert Walzer 1987 mit der Veröffentlichung von Interpretation and Social Criticism. Der Band führt die schon 1984 im Rahmen der Tanner Lectures on Human Values begonnene Fokussierung kritikbezogener Fragen fort. Genauerhin zielt er auf die Erarbeitung eines „philosophical framework for the understanding of social criticism as a social practice“9. Methodisch unternimmt Walzer dazu einen Vergleich dreier moralphilosophischer Pfade, die er auf ihr kritisches Leistungsvermögen – ihre critical force – befragt.10 Die Pointe seiner Erwägungen liegt in der Einsicht, dass Kritik zwei Bedingungen unterliege, die zugleich erfüllt sein müssen. Um kritische Kraft zu entwickeln, hat ein Moralentwurf zum einen Maßstäbe auszuweisen, die seinen Rezipienten nicht äußerlich bleiben, die in einem nachvollziehbaren Bezug zu ihren subjektiven Wertvorstellungen stehen und ihren Orientierungsystemen insofern immanent sind. Um kritische Kraft zu entwickeln, darf er diese zum anderen jedoch auch nicht einfach nur reproduzieren; er muss imstande sein, sie ebenso zu transzendieren.11 Folglich umfasst der Begriff der critical force beides: Nähe und Distanz, Immanenz wie Transzendenz. Beide Momente sind nicht als
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xionen finden sich primär in den drei Monographien Interpretation and Social Criticism (1987), The Company of Critics (1988) und Thick and Thin (1994) sowie den beiden auf Deutsch erschienenen Aufsätzen Mut, Mitleid und ein gutes Auge (2000) und Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie (2009). Zu einer breiter angelegten Annäherung an das Denken Walzers vgl. Benbaji/Sussmann (Hg.), Walzer; Haus, Philosophie; Kallscheuer, Gesellschaftskritiker; Krause/Malowitz, Walzer; Nusser (Hg.), Freiheit. Theologische Rekurse auf Walzers Nachdenken finden sich vor allem in der Systematischen Theologie, so etwa in BäderButschle, Interpretation; Schürmann, Kritik oder Seibert, Ethik. Walzers Beiträge zum Verständnis des Religiösen zielen im Kern auf das Verhältnis von Religion und Politik, das er als jüdischer Intellektueller wiederholt durch Interpretationen der hebräischen Bibel und ihrer Rezeptionsgeschichte zu bedenken versucht hat (vgl. dazu etwa Ders., Exodus; Ders., Shadow und einführend Krause/Malowitz, Kraft). So muss es nicht überraschen, dass Walzer auch im Rahmen seiner Kritikreflexion auf die Prophetie des alten Israel rekurriert und ihre Protagonisten als „inventors of the practice of social criticism“ würdigt (vgl. Ders., Interpretation, 66–94, hier 71). Vgl. exemplarisch die Rezensionen von Joshua Cohen (Ders., Review) und Ronald Dworkin (Ders., To Each His Own). Walzer, Interpretation, vii. Der Begriff der critical force wird von Walzer nicht konzeptionell eingeführt. Gleichwohl repräsentiert er sein „zentrales Erkenntnisinteresse in Interpretation and Social Criticism“ und kann daher als „Leitfaden der Rekonstruktion“ seiner dortigen Erwägungen fungieren (vgl. Haus, Philosophie, 25). Auch für Walzer steht fest: „Criticism requires critical distance.“ Fraglich ist freilich, welches genauere Ausmaß an Distanz kritische Distanz zulässt resp. benötigt (vgl. Ders., Interpretation, 36).
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Alternativen zu verstehen. Es geht um die Frage ihrer adäquaten „Verschränkung“12. Vor dem weiteren Gang der Darstellung ist es sinnvoll, die hier in Anschlag gebrachte Rede von ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ in ihrem Sinngehalt zu präzisieren. Dazu sind zunächst zwei Unterscheidungen aufzurufen. In seiner praxeologisch inspirierten Studie zur Sozialkritik hat Titus Stahl zwei pragmatische Grundformen der Gesellschaftskritik voneinander abgehoben. So setze jeder sozialkritische Akt zwar die Veränderbarkeit seines Bezugsgegenstandes voraus; indes müsse nicht jeder sozialkritische Akt die Kritisierten selbst adressieren, von der Veränderungswürdigkeit bestimmter sozialer Phänomene überzeugen und zur praktischen Veränderung derselben motivieren. Erst im zweiten Fall sei von Gesellschaftskritik „im engeren Sinne“ zu sprechen. Gesellschaftskritik „im weiteren Sinne“ setze dagegen keine Überschneidung von Gegenstand und Adressat der Kritik voraus.13 Diese Differenzierung hilft, sich einer zweiten, kritiktheoretisch vielfach zitierten Leitunterscheidung anzunähern: der Distinktion zwischen interner und externer Kritik.14 Im Wesentlichen geht es dabei um die Frage, ob die Maßstäbe, an die ein sozialkritischer Akt appelliert, von den Kritisierten selbst akzeptiert sein müssen oder nicht.15 Während interne Kritik in der Regel so verstanden wird, dass sie Überzeugungen aufruft, die von den Kritisierten schon geteilt werden, stützt externe Kritik ihre Argumentation auf Gründe, die abseits der Orientierungssysteme der Kritisierten liegen. Nun erweist sich die Distinktion in dieser Fassung als nur bedingt erschließungskräftig, was konkrete kritische Kommunikationen anbelangt. Demnach könnte allein Kritik im weiten Sinne dezidiert extern verfahren. De facto dürften jedoch auch Akteure, die sich auf Maßstäbe beziehen, die nicht einfach dem Selbstverständnis der Kritisierten zugehören, häufig – wenigstens implizit – damit rechnen oder darauf hoffen, dass ihre Argumentation auch den Subjekten zugänglich ist, die an den kritisierten Verhältnissen partizipieren. Und umgekehrt ist es zwar ein alltagspraktisch durchaus verbreitetes Verfahren, Personen, Gruppen oder Gesellschaften an ihren ausdrücklich anerkannten normativen Ansichten zu bemessen. Die meisten Kritikkonzepte, die üblicherweise unter dem Titel einer internen Kritik firmieren, 12 Jaeggi/Wesche, Einführung, 17; vgl. auch Wesche, Reflexion, 203ff. Christoph Seibert hat diese Frage als den „Dreh- und Angelpunkt“ der Walzerschen Reflexion auf die Praxis der Kritik bezeichnet; in ihr besitzen sie ihren „thematischen Schwerpunkt“ (vgl. Ders., Ethik, 267f). 13 Vgl. Stahl, Kritik, 21–26. Als Beispiel einer die Kritisierten nicht adressierenden Kritik nennt Stahl das Gespräch zweier Gleichgesinnter über eine von ihnen als defizitär beurteilte Praxis aus einem historisch, sozial wie kulturell abständigen Kontext, das intentional nicht auf eine Veränderung dieser Praxis ausgerichtet ist, sondern der Selbstvergewisserung der Dialogpartner dient (vgl. a. a. O., 22); in diesem Fall zielt Kritik weder auf eine cognitive noch auf eine social transformation (vgl. A.3.1). 14 Zu einer Diskussion dieser Differenzierung vgl. etwa Allen, Perspektiven; Celikates, Kritik, 160–166; Iser, Gesellschaftskritik; Jaeggi, Kritik, 261–276; Stahl, Kritik, 26–30. 15 So etabliert diese Distinktion ist, so vielfältig sind die Konnotationen, die sich mit ihr in diversen Entwürfen verbinden. In ihre Explikation gehen regelmäßig Überlegungen ein, welche etwa die Frage nach der Kontextabhängigkeit moralischer Normen betreffen, die Frage nach der Eigenart von Geltungsansprüchen oder nach der Möglichkeit und Notwendigkeit einer rational zu rechtfertigenden Kritik (vgl. dazu etwa Cooke, Argumentation; O’Neill, Gesellschaftskritik; Saar, Genealogie, 311f; Stahl, Kritik, 27f).
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bleiben jedoch nicht bei diesem simplen Fall stehen, sondern stellen in Rechnung, dass der Rekurs auf das Selbstverständnis der Kritisierten komplexer strukturiert ist.16 Für diesen Zwischenbereich jenseits der Alternative einfach extern oder einfach intern operierender Kritik hat sich unter Ansätzen, die sich der Tradition der Kritischen Theorie verpflichtet wissen, die Rede von der immanenten Kritik eingebürgert.17 Im Zentrum dieses Kritikverständnisses steht der Gedanke, dass der kritische Akteur seine Sicht auf die Dinge nicht durch Gründe propagieren kann, die mit dem Selbstverständnis der Kritisierten nichts zu tun haben, gleichzeitig aber auch nicht ausschließlich auf explizite Komponenten desselben Bezug zu nehmen hat, sondern seine Maßstäbe im Modus einer Rekonstruktion aus den in Praktiken und Institutionen verkörperten wie diskursiv artikulierten Selbstinterpretationen gewinnt. Damit ist deutlich, dass im Akt immanenter Kritik das Selbstverständnis der Kritisierten berührt wie überschritten wird, sich also „‚immanente‘ und ‚transzendierende‘ Motive verbinden“18. Funktional betrachtet steht der Aspekt der Immanenz folglich dafür ein, das Auditorium der Kritik zu erreichen, den Kritisierten die subversive Perspektive zugänglich zu machen, ihnen die Chance zu eröffnen, die Kritik selbst zu rechtfertigen und dadurch anzuerkennen. Dem Aspekt der Transzendenz kommt dagegen die Aufgabe zu, etwas bis dato Übersehenes, so noch nicht Gesehenes, Neues in die Selbstverständigungsprozesse der Kritisierten einzuspielen.19 In diesem Sinne soll im Folgenden von ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ die Rede sein. Es geht nicht um eine theologisch-ontologische Differenzkategorie, sondern um eine auf die Selbstinterpretationen eines Subjekts bezogene kommunikative Bewegung, der verschiedene pragmatische Funktionen zukommen. Da im Zuge der weiteren Überlegungen ‚Kritik‘ immer dezidierter als ein lebensweltlich verankerter sprachlicher Kommunikationsakt in Betracht gezogen wird, wird sich zeigen, dass die Dialektik von Immanenz und Transzendenz nicht allein auf Ebene der Maßstäbe, der Sachargumentation oder der Rechtfertigungsstruktur kritischer Praxis eine Rolle spielt, sondern auch darüber hinausreichende Kommunikationsfaktoren tangiert.
2.1.1 Der Immanenzaspekt der critical force Walzer beschreibt zunächst das von ihm als path of discovery bezeichnete moralphilosophische Modell.20 Ob in der religiösen Variante auf Basis göttlicher Offenbarung oder mittels der Einnahme eines von subjektiven Voreingenom16 Dies gilt auch für Walzers Theorie. Für gewöhnlich der internen Kritik zugerechnet, wird im Folgenden deutlich werden, dass auch in seiner Konzeption das Subjekt der Kritik nicht naiv auf akzeptierte Wertvorstellungen rekurriert und allein ihre praktische Anwendung einfordert, sondern diese in der Regel allererst rekonstruktiv zu erheben hat, auf spezifische Art und Weise deutet und ihr Verständnis interpretativ fortentwickelt (vgl. Stahl, Kritik, 29f). 17 Vgl. dazu Celikates, Kritik, 187–247; Cooke, Society, 37–71; Fink-Eitel, Transzendenz; Honneth, Gesellschaftskritik; Iser, Empörung, 7–22; Jaeggi, Kritik, 277–309; Klein, Überschreitungen, 165–183; Stahl, Kritik, 43–51. 18 Forst, Grund, 163. 19 Vgl. Wesche, Reflexion, 199–205. 20 Zu Walzers Erörterung der drei im Folgenden angesprochenen Pfade vgl. Ders., Interpretation, 1–32. Seine Differenzierung findet sich vielfach rekapituliert, so beispielsweise in
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menheiten und partikularen Kontextabhängigkeiten bereinigten Standpunktes reklamiere dieses Modell einen Zugang zu einer vorgegebenen Sphäre objektiver Werte, die als Maßstäbe kritischer Praxis veranschlagt werden können. Das Leistungsvermögen einer so profilierten Kritik schätzt Walzer gering ein. Denn so radikal sie den status quo im Prinzip in Frage zu stellen vermag, so fraglich bleibt, ob sie in der Lage ist, eine Sicht auf das Leben ihrer Adressaten zu entwickeln, die denselben de facto auch nachvollziehbar erscheint. Indem sie an Grundsätze appelliert, die abseits der Erfahrungszusammenhänge ihres Auditoriums verortet sind, droht sie entscheidende Zustimmungsressourcen einzubüßen: Walzer zufolge wird es ihr schwer fallen, ihre Erzählung überhaupt verständlich zu halten, ein Gefühl für die Bedeutsamkeit ihres Anliegens zu vermitteln, vor allem aber auch einen Argumentationsgang auszuarbeiten, der von ihren Rezipienten als plausibel gewertet werden kann. Im Grunde adressiert Walzer damit das „Problem der Motivation“; nach Walter Reese-Schäfer besteht es in der Frage, warum eine soziale Akteurin einer bestimmten Norm überhaupt Folge leisten solle.21 Für Walzer kann eine auf dem path of discovery konzipierte Kritik darauf keine befriedigende Antwort geben. Aufgrund ihrer fehlenden Immanenz verschafft sie den von ihr Angesprochenen keine überzeugenden Gründe, ihre subversive Botschaft anzunehmen. Dasselbe Verdikt trifft auch die Ansätze des zweiten moralphilosophischen Typus. Walzer rechnet sie dem path of invention zu, negieren sie doch die Existenz einer ontologisch vorgegebenen Moralordnung. Die Prinzipien eines gedeihlichen Miteinanders sind hier Resultat einer Konstruktion, die in ihrer ambitionierteren Variante quasi ex nihilo verfährt und Richtlinien entwirft, an denen letzten Endes jede Person und jede Gesellschaft evaluiert werden können. In ihrer moderateren Variante bleibt sie an einen konkreten sozialen Kontext zurückgebunden. Indem sie die in ihm ausgeprägten normativen Intuitionen in idealtypische Modelle abstrahiert, von historischen Entstehungskonstellationen, privaten Interessen und sonstigen Verzerrungen bereinigt, löst sich auch diese Version von den dicht bestimmten Erfahrungszusammenhängen ihres AuditoHonneth, Gesellschaftskritik, 60–63; Iser, Empörung, 38ff; Kellerwessel, Moralphilosophie, 14–49; Krause/Malowitz, Walzer, 105–115; Stahl, Kritik, 54–57; zu seiner dabei im Hintergrund stehenden ‚metaethischen‘ Position vgl. Sussmann, Introduction, 3–6.9f. Nachstehend wird kein Urteil über die Fruchtbarkeit seiner Unterscheidung und die Angemessenheit seiner Darstellung der dabei aufgerufenen Einzelentwürfe – etwa von Thomas Nagel, John Rawls oder Jürgen Habermas – beabsichtigt; im Fokus steht allein die von Walzer in Anschlag gebrachte Argumentationsfigur in ihrer Konsequenz für seine Auffassung der critical force. 21 Für seine Analyse ethischer Konzeptionen hat Reese-Schäfer fünf grundlegende Problembezirke abgesteckt: das Problem der Begründung, der Applikation, der Institution, der Ausdifferenzierung bzw. Reintegration sowie das Problem der Motivation (vgl. Ders., Grenzgötter, 23–26, hier 25). Zur Rolle des Motivationsproblems im Nachdenken Walzers vgl. auch Haus, Philosophie, 23–26.
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riums und etabliert ihnen gegenüber ein kritisches Korrektiv. Dem Leistungsvermögen dieses Korrektivs steht Walzer ebenfalls skeptisch gegenüber. Wiederum argumentiert er über die Akzeptanzbedingungen, die insbesondere die stärkere Version des inventiven Pfades nur unzureichend zu erfüllen imstande sei. So blieben die erfundenen Prinzipien dem Selbstverständnis der Kritisierten letztlich äußerlich. Sie erzeugen keinen Widerhall in den Sprachen, mit denen sie sich für gewöhnlich über ihre moralischen Verpflichtungen, den Sinn und Wert ihres Lebens oder seine Achtbarkeit aufzuklären versuchen. Die Adressaten können sich mit den Kriterien, anhand derer sie beurteilt werden, nicht identifizieren, wodurch der kritischen Verlautbarung ihre Stoßkraft abhanden kommt.22
2.1.2 Der Transzendenzsaspekt der critical force Den dritten Typus chiffriert Walzer als path of interpretation. Er beschreibt ihn als den Königsweg. Die moralischen Prinzipien werden hier nicht aus einer entfernten Sphäre dauerhafter Werte enthüllt; sie werden auch nicht mithilfe einer abstrahierenden Prozedur entworfen; sie werden ‚vorgefunden‘. Sie sind Teil einer kontingent gegebenen moralischen Welt, die ihren Bewohnern nicht äußerlich ist. Sie durchsetzt ihre Wirklichkeitskonzepte, gibt den Rahmen, in dem sich ihre subjektiven Überzeugungssysteme und Relevanzregime aufbauen, markiert den Praxiskontext, innerhalb dessen die Fragen ihrer Lebensführung aufbrechen, Bedeutung gewinnen und thematisiert werden. Als Teil dieser Welt bestimmen die moralischen Prinzipien immer schon den Erfahrungszusammenhang ihrer Adressaten mit.23 Auf dem path of interpretation sind die Akzeptanzbedingungen folglich leichter zu erfüllen. Im Modus der Interpretation bezieht sich die Kritikerin auf Maßstäbe, denen sich ihre Rezipienten schon zugehörig fühlen. Sie bringt Werte in Anschlag, die das Selbstverständnis ihres Gegenübers prägt. Daher ver22 Walzer fasst diesen Gesichtspunkt in ein suggestives Bild: Die erfundenen Prinzipien glichen einem ‚Hotelzimmer‘, das auf Zeit zwar bewohnbar sei, auf Dauer jedoch unvertraut und fremd bliebe. Ein ‚Zuhause‘ und das damit einhergehende Gefühl der Zugehörigkeit könne es nicht ersetzen (vgl. Ders., Interpretation, 14ff). 23 Vgl. Walzer, Interpretation, 21: „Our categories, relationships, commitments, and aspirations are all shaped by, expressed in terms of, the existing morality.“ Entsprechend stellen wir uns die Frage nach dem rechten Tun nur in den seltensten Fällen in einer abstrakten Form. Sie spezifiziert sich vielmehr im Sinne der „Vorzugswürdigkeit von bestimmten Handlungsoptionen“ und setzt damit „mindestens viererlei voraus: erstens eine geschichtliche Gesamtszene, in der verschiedene Handlungsoptionen gegeben sind. Diesen Optionen kommen zweitens bestimmte Bedeutungen zu, die drittens immer Bedeutungen für ein konkretes Handlungssubjekt (Individuum/Kollektiv) sind, dessen Wahlverhalten viertens Konsequenzen für das eigene zukünftige Sein hat“ (Seibert, Ethik, 255 [Hervorhebung M.S.]).
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pflichten sie: weil sie Faktoren der Deutung und des Entwurfs unseres Selbst sind und damit existenziellen Charakter besitzen. Sie sind „authoritative for us because it is only by virtue of its existence that we exist as the moral beings we are“24. Anders als im entdeckenden und erfindenden Paradigma der Kritik, eröffnet das interpretative Modell eine solide Motivationsbasis. Freilich sind die Bedingungen der critical force dadurch nur ‚zur Hälfte‘ erfüllt. Walzer muss zeigen, dass sein Deutungsansatz ebenfalls Distanzierungschancen bereithält. Anders erläge er dem Affirmationsvorwurf seiner Kritiker. In Anlehnung an die Texthermeneutik fragt er demgemäß: „Given that every interpretation is parasitic on its ‚text‘, how can it ever constitute an adequate criticism of the text?“25 Eine solche Kritik ist möglich, weil Interpretationsakte ihre Gegenstände nicht abbilden. Das ‚Vorfinden‘ moralischer Prinzipien vollzieht sich für Walzer in einem anspruchsvollen Sinn: „[T]hey have to be ‚read‘, rendered, construed, glossed, elucidated, and not merely described“; „[i]nterpretation does not commit us to a positivistic reading of the actually existing morality, a description of moral facts as if they were immediately available to our understanding.“26
In diesem kreatorischen Charakter der Interpretation liegen ihre Transzendierungspotenziale beschlossen. Er eröffnet die Möglichkeit, im Rekurs auf einen Gegenstand, diesen zugleich zu überschreiten: ihn neu zu lesen („newreading“), ein altes Verständnis auszuräumen („seizing upon some[thing] previously misunderstood“), ausgetretene Erschließungswege zu verlassen („re-explaining“) und ihn damit zu hinterfragen („challenge“)27. Wie Reese-Schäfer zu Recht feststellt, kann der interpretative Pfad daher „keineswegs ganz auf Konstruktion und Erfindung verzichten, denn der Philosoph soll die moralische Wirklichkeit nicht unbefragt hinnehmen, sondern aus ihren Vorgaben ein besseres Modell fortentwickeln“28.
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Walzer, Interpretation, 21. Walzer, Interpretation, 18. Vgl. Walzer, Interpretation, 29. Vgl. Walzer, Interpretation, 30. Reese-Schäfer, Grenzgötter, 360. Die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Deutung und Kritik ist nicht zuletzt aufgrund der Debatte zwischen Gadamer und Habermas ein Topos des neueren hermeneutischen Diskurses (vgl. etwa den Diskussionsband Hermeneutik und Ideologiekritik). In je eigener Manier haben – gerade auch was das vieldiskutierte Ricœursche Konzept einer ‚Hermeneutik des Verdachts‘ anbelangt – Joachim Küchenhoff (vgl. Ders., Mitspieler), Emil Angehrn (vgl. Ders., Hermeneutik) und Günther Figal (vgl. Ders., Verstehen) die kritische Valenz des Verstehens herauszuarbeiten versucht. Zur Affiliation zwischen Hermeneutik und Kritik – freilich im Zusammenhang der Philologie – vgl. schon Schleiermachers von Manfred Frank edierte Vorlesung Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament.
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2.1.3 Die dialektische Struktur der critical force Walzers Ausführungen in Interpretation and Social Criticism können als Replik auf den Vorbehalt der Affirmation verstanden werden. Er verteidigt seinen Ansatz mit einer Doppelthese, die er im Begriff der critical force verdichtet: Sein interpretatives Kritikkonzept eröffne nicht nur „inhaltlich umfassende Kritikmöglichkeiten“; es verspreche zudem „motivational höchste Wirksamkeit“.29 Es leiste dies, weil es Momente der Nähe und Momente der Distanz zu verschränken vermag. Da interpretative Kritik direkt an den Konstituenten der Selbstbilder ihrer Adressaten arbeitet, verschafft sie sich die notwendige Immanenz. Da sie diese Konstituenten nicht abbildet, sondern reinterpretiert, erzeugt sie die notwendige Transzendenz. Sie konstituiert sich auf diese Weise als ein „Ineinander von eher rekursiven und eher innovatorischen Elementen“30. Dies ist im Folgenden zu vertiefen.
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Spezifikation des Immanenzaspekts. Zur Begründung, Bedeutung und Funktion der rekursiven Dynamik transformativer Praxis
Walzer unterstreicht den Aspekt der Immanenz. Er votiert gegen die geläufige Auffassung, wonach ein kritischer Akt zunächst und zumeist über das Vermögen bestimmt sei, Distanz aufzubauen und eine Außenperspektive zu etablieren. Seine Überlegungen geraten dadurch unter Rechtfertigungsdruck. Um seinen Ansatz zu plausibilisieren, hat Walzer diverse Argumente entwickelt, unter denen er insbesondere drei Begründungswege wiederholt beschreitet. In Anlehnung an Mattias Iser können sie als Argument der Effektivität, der Dichte und der Symmetrie bezeichnet werden.31 Ihre Rekonstruktion erlaubt es, die Bedeutung und Funktion der rekursiven Dynamik veränderungsinteressierter Praxis subtiler herauszuarbeiten.
29 Vgl. Haus, Philosophie, 24 (Hervorhebung i. Orig.). 30 Bäder-Butschle, Interpretation, 73. 31 Vgl. Iser, Spiegel, 595ff; Ders., Empörung, 40–43. Neben diesen drei Argumenten wäre mindestens noch ein weiteres zu nennen. Es betrifft die Motivation des kritischen Subjekts. Walzer rekurriert mehrfach auf die Intuition, dass die Formierung eines Veränderungsinteresses, welches das Engagement der Kritikerin allererst zu erklären erlaube, ein persönliches involvement oder irgendeine Form subjektiver ‚Betroffenheit‘ voraussetze. Sie basiere auf einer durch Erfahrung oder Kenntnis vermittelten Verbindung mit den kritisierten Gegenständen (vgl. Ders., Company, 6.16.19–24.139.150).
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2.2.1 Das Argument der Effektivität Die Praxis der Kritik bedenkt Walzer durchgängig im oben angesprochenen engeren Sinne. Sie wird als ein Kommunikationsakt vorausgesetzt, der sich an Personen richtet, die in die kritisierten Verhalte in irgendeiner Form involviert sind, und folglich sozialen wie subjektiven Wandel intendiert.32 Diesen transformativen Impetus chiffriert Walzer zweifach: durch den Begriff der Möglichkeit sowie durch den Begriff der Zukunft. Als veränderungsinteressierte Praxis beruht Kritik auf einem „sense of possibility“33. Sie rückt ihren Gegenstand in den Horizont seiner Möglichkeiten, fokussiert seine virtuelle Dimension. In der Perspektive des Kritikers geht die Wirklichkeit nicht in bloßer Faktizität auf. Sie erscheint im Licht ihrer uneingelösten und überschüssigen Momente. Der Aufweis solcher Momente dient der Zukunft. Als veränderungsinteressierte Praxis ist Kritik „oriented toward the future“; präziser wäre zu formulieren: Sie ist ausgerichtet auf eine andere und bessere Zukunft: „[T]he critic must believe that the conduct of his fellows can conform more closely to a moral standard than it now does or that their self-understanding can be greater than it now is or that their institutions can be more justly organized than they now are“.34
Eine streng rückwärtsgewandte Kritik wäre für Walzer eine contradictio in adiecto. Sie verfehlte ihren Begriff. Sie gliche einer Art „retributive punishment for past crimes“35, stellte also Missstände lediglich fest, behaftete darauf, eröffnete aber keine Zukunft. Entsprechend lässt sich Kritik auch für Walzer nicht auf die (negative) Evaluierung bestehender Zustände reduzieren. Sofern ein Urteil über den Wert einer Sache sich selbst genügt, kann es in verschiedene Funktionszusammenhänge eingespannt werden. Im individuellen Protest gegen unabänderliche Schicksalsschläge etwa dient es der Klage. In zwischenmenschlichen Konflikten kann es auf die Diffamierung des Gegners ausgerichtet sein. In beiden Fällen wird ein Gegenstand in seinem Wert bestimmt, ohne dass an ihm zugleich Veränderungspotenziale aktiv erschlossen würden oder im Hintergrund aufleuchten könnten. Folglich bleibt der Akt der Evaluierung rückwärtsgewandt. Die Objekte der Klage und der Diffamierung sind bzw. werden auf ihren status quo fixiert und damit nicht auf eine andere und bessere Zukunft hin entworfen. In beiden Fällen fehlt ein transformativer Impetus.
32 In der Hoffnung auf Veränderung erkennt Walzer das gemeinsame Merkmal der vielgestaltigen Ausprägungen kritischer Kulturpraktiken (vgl. Ders., Company, 17). 33 Walzer, Company, 19. Vgl. dazu auch C.5.2.3. 34 Vgl. Walzer, Company, 17 (Hervorhebung M.S.). 35 Walzer, Company, 18.
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Auf Basis dieser Zweckbestimmung zeigt sich das kritische Unternehmen als eine eminent wirkungsintentionale Praxis. Fragen der Effektivität treffen sie nicht von außen, sondern adressieren ein zentrales Moment ihrer internen Struktur.36 Folglich bilden Wirksamkeitserwägungen durchaus veritable Bezugspunkte kritiktheoretischer Überlegungen. Dies macht sich Walzer zunutze, wenn er seine Akzentuierung des Immanenzaspekts im genuin kritischen Anspruch auf Einflussnahme verankert. Tatsächlich entspringen letztlich alle seine Begründungslinien dem transformativen Wirkungsinteresse kritischer Praxis, so dass das Effektivitätsargument als Basisargument fungiert.37 Wie in der Hinführung unter B.2.1 angedeutet, erläutert Walzer den genaueren Zusammenhang zwischen Effektivität und Rekursivität maßgeblich über die Kategorie der Zustimmung. Seine These lautet, dass im Paradigma der Deutung die Praxis der Kritik ihre Akzeptanzchancen zu steigern vermag. Zwei Beispiele können dies konkretisieren. In The Company of Critics interpretiert Walzer unter anderem die kritische Tätigkeit von Albert Camus.38 Genauer setzt er sich mit dessen Engagement im Kontext des Algerienkriegs auseinander. Camus repräsentiere hier den Prototyp eines verbundenen Kritikers: „a social critic who emerges out of his own society. Someone who is inside, connected, emotionally close“39. Konkret besteht diese Nähe in der Kenntnis der kulturellen Identität seiner Adressaten, ihrer selbstbildrelevanten Bedeutungen, Werte und Normen. Das versetzt ihn in die Lage, auf Wissensordnungen Bezug zu nehmen, die dieser Kultur nicht äußerlich sind, sondern ihr einwohnen. Exakter formuliert sind Wissenselemente gemeint, die ihr nicht irgendwie einwohnen, sondern ihre ‚Natur‘ ausmachen, sie also konstituieren. Getreu seinem Ansatz denkt Walzer dabei nicht an ein ahistorisches 36 Vgl. exemplarisch Walzer, Argument, 52f; Ders., Interpretation, 64.91; Ders., Company, 63.207 und pointiert a. a. O., 233: „[Critics] hope to be effective; it is the natural form of their ambition.“ 37 So auch Iser, Spiegel, 595ff; Ders., Empörung, 40.43. Dem entspricht, dass Walzers Kritikreflexion überhaupt notorisch um die „Bedingungen der Möglichkeit ‚treffender‘ Kritik“ kreist (vgl. Haus, Philosophie, 26), worin sich ein Gesamtzug seines philosophischen Schaffens niederschlägt, setzt eine Beschäftigung mit dem Nachdenken Walzers doch voraus, „sich auf dessen durch und durch politischen, das heißt auf praktische Wirksamkeit hin angelegten Charakter einzulassen“ (vgl. Krause/Malowitz, Kraft, 330). Zum Gedanken der Effektivität in Walzers Kritikauffassung vgl. auch Allen, Perspektiven, 558; Buchstein/Schmalz-Bruns, Gerechtigkeit, 379; Honneth, Idiosynkrasie, 72; Ders., Universalismus, 1051; Jaeggi, Kritik, 268; Kallscheuer, Gesellschaftskritiker, 134; Ders., Pluralismus, 224; Stahl, Kritik, 60; Sussmann, Introduction, 11. 38 The Company of Critics stellt ein auf Konkretion bedachtes Komplement zur stärker begrifflich arbeitenden Abhandlung Interpretation and Social Criticism dar. Durch eine Analyse von insgesamt elf prominenten kritischen Akteuren kreiert Walzer „eine Art Panorama von Formen der Gesellschaftskritik“ im 21. Jh. (Honneth, Universalismus, 1051). Zu Camus vgl. die S. 136–152. 39 Walzer, Company, 139.
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Wesen ‚hinter‘ oder ‚über‘ den empirischen Kulturvollzügen. Ihm stehen „the principles of ordinary life“40 vor Augen: Die konstitutiven Prinzipien sind eingelassen in die Praktiken, Institutionen und Diskurse des sozialen Alltagslebens. Den Gedanken eines kruden Gegensatzes „between art, philosophy, and moral value, on the one hand, and ordinary life, mundane concern, ‚bourgeois society‘, on the other“ deklassiert Walzer als „romantic idea“.41 Demnach erzeugt der kritische Akteur Nähe durch Kenntnis und Gebrauch von Prinzipien, die der Lebenswelt seiner Hörer (1) immanent sind, diese (2) zentral bestimmen und (3) in ihrer empirischen Konkretheit prägen. Damit steigert er die Akzeptanzchancen seiner Mitteilung. Er setzt an Bedeutungen, Werten und Normen an, mit denen sich seine Adressaten identifizieren können und vermag sie so auf ihr Selbstverständnis anzusprechen. Sein Text erzeugt einen Resonanzraum, in dem identitätsrelevante Aspekte des Auditoriums anklingen können. In den Worten Walzers: Sein Text rührt an das Bewusstsein der Rezipienten und wird dadurch wirksam.42 Das zweite Beispiel gibt Walzers Rekurs auf John Lockes Letter Concerning Toleration.43 Er entstand in Lockes holländischem Exil. Wie schon im Fall von Camus dürfe diese äußerliche Abstandnahme nicht mit einer inwendigen Distanzierung identifiziert werden oder gar mit der Einnahme eines unvoreingenommenen Standpunkts. Dagegen spreche die Substanz des Lockeschen Arguments. An entscheidender Stelle seines Begründungswegs rekurriert er nicht auf eine den religiösen Diskurs transzendierende Idee, sondern greift tief in den religiösen Traditionsbestand ein. Er interpretiert ein verbreitetes Verständnis des christlichen Erlösungsgedankens: den Topos unvertretbarer Erlösungserfahrung. „But after all, the principal consideration, and which absolutely determines this controversy, is this: although the magistrate’s opinion in religion be sound, and the way that he appoints be truly evangelical, yet if I be not thoroughly persuaded thereof in my own mind, there will be no safety for me in following it. […] I cannot be saved by a religion that I distrust, and by a worship that I abhor. It is in vain for an unbeliever to take up the outward show of another man’s profession. Faith only, and inward sincerity, are the things that procure acceptance with God. […] In a word, whatsoever may be doubtful in 40 Walzer, Company, 144. 41 Walzer, Company, 144. Für Walzer kursiert das selbstbildrelevante Wissen nicht allein in Gestalt diskursiver Artikulationen; es existiert ebenso in Form „‚praxische[r]‘ Handlungen“ (Renn/Straub, Identität, 15), ist „‚verkörpert‘“ in „sozialen Institutionen und Praktiken“ (vgl. Rosa, Weltbeziehungen, 104–111, hier 109). Zur Frage des Charakters kollektiven Wissens und seines Verhältnisses zu den sozialen Praxisvollzügen vgl. einführend etwa Reckwitz, Status. 42 Vgl. Walzer, Company, 151 und in analoger Diktion Ders., Shadows, 87: „He [sc. der prophetische Sprecher] has to use language in a way that engages the minds and touches the hearts of his listeners; he has to remind them of what they know, evoke their historical memories, play on the nerves of their commitment, their guilt, their hopes for the future.“ 43 Vgl. dazu Walzer, Interpretation, 52–56.
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religion, yet this at least is certain, that no religion, which I believe not to be true, can be either true of profitable unto me. In vain, therefore, do princes compel their subjects to come into their church-communion, under pretence of saving their souls. If they believe, they will come of their own accord; if they believe not, their coming will nothing avail them. How great, soever, in fine, may be the pretence of good-will and charity, and concern for the salvation of men’s souls, men cannot be forced to be saved whether they will or no: and therefore, when all is done, they must be left to their own consciences.“44
Locke fundiert sein Plädoyer für religiöse Toleranz nicht in einem außerreligiösen Reflexionskontext. Er verankert sein Argument im religiösen Bedeutungssystem selbst. Für Walzer ist klar, dass Locke seine Begründung auch durchgängig „in the new language of natural rights“ zu artikulieren vermocht hätte; in Anbetracht der negativen Potenziale religiöser Überzeugungen, wie sie sich im Religionskrieg dokumentierten, läge eine solche Legitimation der Toleranz sogar nahe.45 Freilich: Sosehr es Locke zwar möglich war, aus der Distanz heraus Gründe zu gewinnen, die seine Position zu stützen vermochten, sowenig hätte ihm eine von den religiösen Reflexionszusammenhängen unabhängig konstruierte Argumentation die Möglichkeit eröffnet, Gründe zu entwickeln, die zur Akzeptanz seiner Position motivierten.46 Lockes Fundierung seiner Argumentation im religiösen Bedeutungssystem dient damit der persuasiven Kraft seiner Position. Er entwirft seinen Beweisgang im Blick auf die Zustimmungsbedingungen seiner Adressaten und steigert so die Akzeptabilität seiner Sicht der Dinge. Durch Rekurs auf ein verbreitetes Verständnis religiöser Erlösung bietet er argumentative Ressourcen, die seinen Adressaten zugänglich sind. In den beiden Beispielen präzisiert Walzer sein Verständnis wirksamer Kritik. Effektivität meint zunächst Akzeptabilität. Die Wirkung kritischer Praxis ist über die Zustimmung der Adressaten vermittelt. Als ihr Hauptmedium fungiert sodann das Verfahren der sachlichen Argumentation. Es geht primär um die Frage, wie einem kritischen Text plausible Begründungsstrukturen eingeschrieben werden können. Die Pointe, die Walzer dabei gegenüber den aus seiner Sicht stärker ‚entdeckend‘ bzw. ‚erfindend‘ verfahrenden Kritiken setzt, ist die Forderung eines strengen Adressatenbezugs. Kritiker haben ihre Argumente auf die Überzeugungsregime ihres Publikums abzustimmen und von hierher zu entwickeln. 44 Locke, Brief, 52.54. 45 Vgl. Walzer, Interpretation, 54. 46 Vgl. Walzer, Interpretation, 55: „Detachment might provide a (distanced) reason for endorsing that position, it does not provide a reason […] for taking it up.“ In diesem Fall ist die deutsche Übersetzung bei entsprechender Betonung sehr glücklich gelungen, wenn es heißt: „Der Abstand könnte zwar ein (distanziertes) Argument für diese Position liefern; er gibt uns jedoch keinen Grund […] dafür, diese Position einzunehmen“ (vgl. Walzer, Kritik, 67 [Hervorhebung M.S.]).
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Die Argumentationsrichtung, die Walzer in den beiden Beispielen einschlägt, weist Analogien zu Überlegungen von Charles Taylor auf. In seinem Aufsatz Sprache und Gesellschaft setzt sich Taylor mit den Begründungspotenzialen formaler Verfahrensethiken auseinander. Taylor hält diese für limitiert. Ihre Grenze indiziert die „radikale Warum-Frage“47. Sie bezieht sich auf die impliziten oder expliziten Prämissen prozeduraler Modelle. So liege etwa der Diskursethik das Postulat rationaler Verständigung zugrunde. Sosehr nun diese Forderung „in der menschlichen Sprechsituation strukturell angelegt“ sein mag und rationale Verständigung eine „angemessene Weise, Störungen in der Gemeinsamkeit eines ‚Wir‘ zu überwinden“, sosehr vermag ein Akteur im Horizont seiner vielfältigen konkreten Interessen doch immer noch die Frage zu stellen: „Warum soll gerade dieses Ziel eine Sonderstellung einnehmen?“ Warum soll rationale Verständigung „allen anderen Zwecken vorgezogen werden“?48 Die Antwort auf diese Frage liegt für Taylor auf der Ebene starker Wertungen (vgl. A.1.4.3): Wer nach der Fundierung der Prämissen formaler Verfahrensethik fragt, dringt in die Sphäre der identitätsbestimmenden Selbstinterpretationen vor. So setze die Diskursethik ein Selbstkonzept voraus, in dessen Licht rationale Verständigung als hervorragendes Gut erscheint. Erst eine solche Verankerung rationaler Verständigung im Identitätsentwurf eines Akteurs, mache den Vorzug derselben vor anderen Interessen wahrscheinlich.49 Taylors Reflexion auf die ‚radikale Warum-Frage‘ impliziert zwei Gesichtspunkte, die auch in Walzers Explikation des Effektivitätsarguments von Belang sind. Taylors Überlegungen spitzen (1) die Begründungsproblematik ethischer Entwürfe zu. Eine Moraltheorie hat nicht nur zu zeigen, dass ihre Aussagen in einem rational nachvollziehbaren Fundierungszusammenhang mit den vorausgesetzten und bestenfalls transparent gemachten Grundannahmen stehen. Sie hat zudem Gründe auszuweisen, in deren Licht diese Basisannahmen inklusive der Norm rationaler Nachvollziehbarkeit selbst als anzustrebende Ideale erscheinen können. Damit wird die Frage der Motivation in die Begründungsproblematik einbezogen. Für Taylor kann sie einer Moraltheorie nicht äußerlich bleiben; sie ist Teil ihrer Rechtfertigungsanforderung.50 Diese Integration der Motivationsfrage ist nicht willkürlich. Sie wird notwendig für jede Theorie, die nicht sich selbst genügen kann, sondern auf Wirksamkeit zielt. Moraltheorien stehen vor der Herausforderung, die Praxissubjekte in ihren empirischen Handlungskontexten zu erreichen. Wollen sie nicht folgenlos bleiben, sind sie abhängig von der Akzeptanz konkreter Akteure. Sie sehen sich also einer „Grundanforderung praktischer Argumentation“ gegenüber: dem Anspruch, „einem
47 Taylor, Sprache, 46. Vgl. dazu auch Haus, Philosophie, 24f; Kühnlein, Religion, 96f. 48 Vgl. Taylor, Sprache, 45f. 49 Vgl. dazu auch Taylor, Motive. Ähnlich argumentiert Reese-Schäfer, Grenzgötter, 100: „Die Bereitschaft, in Diskurse einzutreten und diese trotz aller Unzulänglichkeiten der Mißverständnisse und der Selbstjustiz über längere Zeit in Gang zu halten bzw. sie nach Phasen der gegenseitigen Sanktionierung wieder zu beginnen, muß als die Tugend angesehen werden, deren die Diskurslehre bedarf. […] Der Prozeduralismus der Diskursethik setzt die immer noch recht außeralltägliche Bereitschaft zum Zuhören und zur Unterwerfung unter das Diskussionsergebnis voraus.“ 50 Zugespitzt formuliert: Die Begründung eines ethischen Entwurfs findet ihren Abschluss erst dort, wo das Begründetsein selbst als ein wertvolles Feature ausgewiesen wird.
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Handelnden einen ihn selbst überzeugenden Grund für die Annahme eines Vorschlags, einer Aufforderung oder einer Kritik zu liefern.“51 Damit ist (2) die Relevanz der Praxissubjekte für moraltheoretische Überlegungen angedeutet. Tendiert die Begründung eines ethischen Entwurfs im Letzten auf die Überzeugung konkreter Akteure, gewinnen deren spezifische Akzeptanzverhältnisse an Gewicht. Der Anspruch, Handelnden sie selbst überzeugende Gründe zu eröffnen, verlangt eine Reflexion auf die lebensweltlichen Bedingungen, unter denen sie die ethische Forderung trifft. Im Rahmen des Taylorschen Zugangs lässt sich die Reflexion auf diese Bedingungen doppelt perspektivieren. Mit der Verortung der Beantwortung motivationaler Fragen auf der Ebene starker Wertungen rücken zunächst die subjektiven Selbstthematisierungsvollzüge der Akteure in den Blick: Welche Wertsetzungen nehmen sie vor? Wovon versprechen sie sich Erfüllung? Was verleiht ihrem Leben Sinn? Etc. Sodann lenkt der Hinweis auf die Ebene der starken Wertungen den Blick auf die Kontexte, innerhalb deren sich das Selbstverständnis der Akteure formiert. Sofern die individuellen Deutungen und Entwürfe des Selbst überindividuelle „Sprachen der Selbstverständigung“52 voraussetzen, sind die durch soziale Praktiken, Institutionen und Diskurse getragenen kulturellen Bedeutungen mitzuberücksichtigen.53 Die Erarbeitung von Gründen, welche die Praxissubjekte selbst zu überzeugen vermögen, verlangt einen Rekurs auf ihre Selbstverständnisse und damit auf deren soziokulturellen Formierungskontexte.
Walzers Portrait von Camus und Locke entspricht in seinen Pointen den Überlegungen Taylors. Was Taylor im Blick auf die Begründungsanforderungen ethischer Entwürfe ausführt, bezieht Walzer auf den Problemkreis kritischer Praxis. Wie Taylor fokussiert er „in besonders eindringlicher Weise“ die Frage der Motivation und macht sie „für das Verständnis von Gesellschaftskritik fruchtbar“.54 Damit konzentriert Walzer die Kritiktheorie auf die Problematik der Akzeptanz. Von ihr aus werden die kritikbezogenen Fragen durchdacht. So erfahren 51 Vgl. Haus, Philosophie, 24f (Hervorhebung i. Orig.). 52 Taylor, Quellen, 71. 53 Die Relation zwischen den soziokulturellen Hintergrundsprachen und den subjektiven Selbstinterpretationen beschreibt Taylor über das von ihm so genannte ‚Struktur/PraxisPrinzip‘, das er in Anspielung auf die Saussuresche Differenz von langue und parole entfaltet. Demnach gehen die Hintergrundsprachen (‚Struktur‘) den Selbstinterpretationen (‚Praxis‘) einerseits voraus; sie sind Bedingung ihrer Möglichkeit. Andererseits existieren die soziokulturellen Sinnmuster allein im Medium der konkreten Praktiken der Selbstverständigung, wodurch ihr Wandel verständlich gemacht werden kann. Die „Normen und Gebräuche einer Gesellschaft“ werden den Subjekten nicht „einfach eingeprägt“ gemäß einer „Theorie der Internalisierung“; vielmehr kann die „gesellschaftliche Tradition […] nur in dem Maße durch die Individuen hindurch wirken, in dem sie ständig von ihnen erneuert wird – so wie alle Stukturen [sic] setzt sie sich nur in der Praxis fort. Und in dieser Praxis erfährt sie notwendigerweise Veränderungen, sei es durch kreative Leistungen und absichtliche Neuerungen, sei es unter dem Druck der ökologischen, wirtschaftlichen, politischen Bedingungen, sei es schließlich aus einem anonymen Geschehen heraus.“ Vgl. Taylor, Sprache, 35–39, hier 37. Zur Rolle der Kultur in Taylors Nachdenken vgl. ausführlich Rosa, Praxis, 126–144. 54 Vgl. Haus, Philosophie, 24.
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auch die klassischen Begründungsdiskurse eine zustimmungsorientierte Wendung – wobei Zustimmung stets die Zustimmung konkreter Subjekte meint, also von Personen, die ihre Meinungen, Überzeugungen und Relevanzen in sozial und kulturell spezifischen Kontexten aufbauen.55 Sie sind „the effective authority“, wie Walzer notiert; „we hold up our interpretations for their approval.“56 Kritischer Praxis geht es damit weniger um den Aufweis allgemeinverbindlicher Prinzipien als um die Entwicklung adressatenspezifischer Gründe. Ihr logos ist so zu gestalten, dass ihr konkreter Adressatenkreis instand gesetzt wird, ihr beizupflichten. „Nicht ein Zweiter oder Dritter, sondern der von der Kritik Betroffene muss nachvollziehen und entscheiden können, ob und, falls ja, warum die Kritik gerechtfertigt ist.“57 In dieser Fokussierung der Akzeptanzfrage wurzelt Walzers Emphase des Immanenzaspekts. Zustimmungseffekte werden dort wahrscheinlich, wo Kritik auf Kenntnis und Gebrauch zentraler Faktoren des Selbstverständnisses ihrer Adressaten und deren soziokulturellen Formierungskontexten aufruht. Entsprechend fordert Walzer, dass die Adressaten sich im Text des Kritikers wiedererkennen müssen: „It is a necessary, though not a sufficient, sign of a successful interpretation that such people be able to recognize themselves in it.“58 Insofern zeichnet Walzers Kritikkonzeption ein konsequenter Adressatenbezug aus. Der Rekurs auf die kontextuell situierten Selbstinterpretationen der von der Kritik Betroffenen ist integraler Bestandteil schon der Erarbeitung der argumentativen Grundlagen der Kritik. Ab ovo wird die Begründung im Blick auf die lebensweltlich spezifischen Zustimmungsbedingungen der Adressaten entworfen. Damit kommt die rekursive Dynamik nicht einfach als Vermittlungsproblem in Betracht, das sich erst ex post facto stellt. Fragen der Adressatenrelativität und Akzeptanz geben von Beginn an den Horizont, innerhalb dessen sich ein kritischer Vollzug konstituiert. Vor diesem Hintergrund kann die Struktur von Walzers Effektivitätsargument wie folgt resümiert werden. Ausgangspunkt ist der transformative Impetus der Kritik; als Modifikationspraxis zielt sie auf Veränderung. Darin gründet ihre Wirkungsintentionalität. Von Walzer wird sie als Akzeptanzinteresse interpretiert und – bis dato – primär durch sachliche Argumentationsverfahren realisiert. In dieser Zustimmungserwartung wurzelt die Notwendigkeit der Immanenz. Kritik muss ihren Adressaten insofern nahe kommen, als sie sich zu bestimmten Momenten ihrer Selbstinterpretationen in Beziehung zu setzen weiß und ihre Gründe von dort aus entwickelt; Kritik reflektiert bestenfalls relevante Züge der 55 56 57 58
Zum Begriff des konkreten Subjekts vgl. auch Ueding/Steinbrink, Grundriß, 8f.279f. Vgl. Walzer, Interpretation, 30. Wesche, Reflexion, 200. Walzer, Interpretation, 30, Anm. 21 (Hervorhebung M.S.).
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Identitätsentwürfe der von ihr Betroffenen. Ohne explizit auf Walzer einzugehen, fasst Tilo Wesche diesen Gedankengang in nuce zusammen: „Das Ziel der Kritik ist die Korrektur des Falschen und Schlechten. Wer kritisiert, will nicht nur interpretieren, sondern verändern. Das Falsche und Schlechte soll nicht bloß diagnostiziert und analysiert, sondern durch Kritik überwunden werden. Mit dem korrektiven Ethos rückt das Problem ins Zentrum, wie Kritik ihren Adressaten auch tatsächlich erreicht: das Problem des Praktischwerdens der Kritik. Der Zugänglichkeit für Kritik wir durch ihr immanentes Verfahren Rechnung getragen“59.
2.2.2 Das Argument der Dichte Walzers zweites Argument kann mit dem Begriff der Dichte bezeichnet werden. Schon in Interpretation and Social Criticism gebraucht er die Formel der thick description, die er später explizit auf Clifford Geertz’ gleichnamigen Aufsatz zurückführt.60 Während Geertz die Formel für ein ethnologisches Verfahren reserviert, bezieht Walzer das Konzept der thickness auf einen bestimmten persuasiven Modus. Dichte Argumentationen seien „richly referential, culturally resonant, locked into a locally established symbolic system or network of meanings“61. Für Walzer vollzieht sich Kritik bestenfalls in dieser Weise. Sowohl was ihre sachliche Argumentationsstruktur anbelangt als auch im Blick auf ihre elokutionäre Ausgestaltung hat sie an die eigentümlichen Sinnwelten ihres Auditoriums anzuschließen und erhält dadurch historischen Bezug sowie inhaltliche und formale Spezifik. Hauke Brunkhorst hat in dieser Betonung des Besonderen einen „Grundgedanken“ Walzers erkannt.62 In der Formulierung des Dichtearguments 59 Wesche, Reflexion, 202. Dass die an Marx’ elfter Feuerbach-These orientierte Distinktion zwischen Interpretieren und Verändern wesentliche Pointen des Walzerschen Ansatzes verpasst, wird unter B.2.3.2 deutlich werden; für Walzer vollziehen sich Transformationen gerade im Medium der Deutung. Zum Zusammenhang zwischen Effektivität resp. Akzeptabilität und Rekursivität vgl. exemplarisch auch Celikates, Kritik, 217f; Cooke, Society, 17f; Geuss, Idee, 77f oder Saar, Kunst, 45, der dabei das Individuum als Adressat auch der Sozialkritik markant herausstellt und insofern ihre subjektive Veränderungsdimension: „Sozialkritik versucht, die Selbstverständnisse und Selbstverhältnisse der Mitglieder einer Gemeinschaft zu transformieren. Dies kann sie nur tun, indem sie sich an Subjekte richtet, die sich entweder als je einzelne provozieren, herausfordern und zur Revision von bisher scheinbar natürlichen Urteilen und Haltungen auffordern lassen oder deren Diskriminierungserfahrung nun eine artikulierte Fassung erhält, die den hegemonialen Erzählungen standhalten kann. Dies gibt den (intersubjektiven) Akten der Kritik etwas irreduzibel Subjektives, denn sie müssen Subjekte erfolgreich erreichen“ (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu ausführlicher Ders., Genealogie, 293–346. 60 Vgl. Walzer, Interpretation, 20; Ders., Argument, xi, Anm. 1; Geertz, Beschreibung. 61 Walzer, Argument, xi, Anm. 1. 62 Vgl. Brunkhorst, Gesellschaftskritik, 154. Brunkhorst sieht darin eine Verbindung zu Theodor Adornos Akzentuierung des ‚Nichtidentischen‘: „Das Nichtidentische je besonderen
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kommt er voll zur Geltung. Genauer buchstabiert Walzer das Argument in dreierlei Hinsicht aus: Ein dicht gestalteter kritischer Text erfülle das Postulat der Verständlichkeit, biete seinen Rezipienten die Möglichkeit, das Gesagte als relevant zu werten, und helfe, eine differenzierte Perspektive auf seinen Gegenstand zu entwerfen. (1) Für Walzer ist Kritik primär eine linguistische Praxis. Insofern hat eine Theorie der Kritik nicht nur die Ebene der argumentativen Rechtfertigung, sondern immer auch die Ebene der sprachlichen Darstellung zum Thema.63 Auch die Frage der Immanenz lässt sich auf dieser Ebene reflektieren. Walzer adressiert den strukturellen Problemaspekt transformativer Praxis wiederholt als ein sprachliches Problem. Dabei gilt: Je konsequenter ein kritischer Akteur seinen Text an die vertrauten Ausdrucksweisen seiner Adressaten adaptiert, desto höher der Grad seiner Immanenz. Für Walzer knüpft Kritik bestenfalls an die Diktion ihrer Rezipienten an. Sofern sie sich nicht an ein exklusives Publikum richtet, sondern eine breitere Öffentlichkeit intendiert, ist der alltagssprachliche Diskurs nicht durch fachsprachliche oder poetisch pointierte Sondervokabulare zu ersetzen. Die Sprache der Kritik bleibt eine Version der Umgangssprache. Variiert wird sie, um ihre Ausdruckskraft und argumentative Triftigkeit zu steigern: „The primary or natural language of criticism is that of the folk; the best critics simply take hold of that language and raise it to a new pitch of intensity and argumentative power“64. Begründet wird diese Auffassung durch das Intelligibilitätspostulat. Die Wirkungsbezogenheit ihrer Tätigkeit nötigt die Kritikerin dazu, sich gegenüber Leidens und je besonderer Unterdrückung in einer unverwechselbaren Kultur entwindet sich immer von neuem dem reifizierenden Blick des zugreifenden Allgemeinen. So jedenfalls ließe sich Walzers Grundgedanken in Adornos Worten paraphrasieren“ (Hervorhebung i. Orig.). 63 Zur argumentativen Relevanz der elocutio vgl. D.4.1. Zur Frage einer Stilistik der Kritik, gerade auch was dezidiert ästhetische Arrangements der Subversion anbelangt, vgl. exemplarisch Bohrer, Phänomenologie; Cooke, Argumentation, 98–105; Dies., Society, 152–160; Honneth, Idiosynkrasie, 231f; Ders., Möglichkeit; Saar, Genealogie, 130–142; Ders., Kritik, passim; Ders., Kunst, 48; Sonderegger, (Ideologie-)Kritik, 70–80; Wesche, Reflexion, 211ff; Ders., Narrativität. 64 Vgl. hier und zum Folgenden Walzer, Company, 9–12.233–238, hier 9. Am Beispiel der altisraelitischen Prophetie zeigt Walzer, dass die Sprache der Kritik für ihn durchaus künstlerische Züge annehmen kann: „Prophecy is a special kind of talking, not so much an educated as an inspired and poetic version of what must have been at least sometimes, among some significant part of the prophet’s audience, ordinary discourse“ (Ders., Interpretation, 75; Ders., Shadow, 72–88). Sie bleibt als solche aber stets eine Version der geläufigen Redeweisen; sie ist nicht ihr Substitut. Daher grenzt Iser Walzer in dieser Hinsicht auch klar von Richards Rortys kritischem Programm ab, wonach sozialkritische Interventionen „sich langfristig nicht auf die Autorität überkommener Werte, sondern auf die Kreativität, ja, Radikalität produktiver Neuschöpfungen stützen“ und insofern ohne einen „interpretativen Bezug auf“ bzw. eine „zumindest partielle Anschlussfähigkeit“ an die etablierten Vokabulare auskommen (vgl. Ders., Empörung, 51–65).
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ihren Adressaten verständlich zu machen. Walzer steht stärker hermetisch anmutenden Formen der Kritik skeptisch gegenüber. Wo Kritik durch hochspezialisierte Diskursarrangements esoterische Züge annimmt und nur mit großem hermeneutischen Aufwand zu entschlüsseln ist, sieht er die Wirkungschancen kritischer Praxis gefährdet. Deshalb hat die Kritikerin ihre Rede auf den Sprachgebrauch ihrer Adressatenschaft abzustimmen. Sie verleiht ihr bestenfalls eine populäre Gestalt. Bleibt der Begriff der Verständlichkeit so weit noch unreflektiert, kann Walzer den Verweis auf das Intelligibilitätspostulat auch in einer anspruchsvolleren Fassung vortragen. Dabei rekurriert er auf das semantische Kontextprinzip. Bedeutungen sind für Walzer keine absoluten, sondern kontextabhängige Größen. Bestimmbar werden sie erst in ihren Sprach- und Praxiszusammenhängen.65 Begriffe wie ‚Unterdrückung‘ erhalten ihren Sinn vor dem Hintergrund von konkreten Erfahrungen, die durch ein kulturelles Set an Konzepten, Bildern und Narrativen bestimmt sind. So ließe sich aus der Botschaft der Propheten durchaus die auf Allgemeinheit tendierende Regel ‚Unterdrückt die Armen nicht‘ abstrahieren und auf andere Zusammenhänge anwenden. Was diese Regel allerdings für die Prophetie des Alten Israel besagt, was für sie Oppression bedeutete und wie sie erfahren wurde, erhellt sich erst im Licht der spezifischen historischen, sozialen und kulturellen Kontexte.66 Für den kritischen Akteur folgt daraus die Maxime, von den Sprach- und Praxiszusammenhängen seines Publikums nach Möglichkeit nur geringfügig zu abstrahieren. Um die Verständlichkeit seiner Erzählung zu gewährleisten, hat er sie von diesen Kontexten her zu entwerfen. Ansonsten bliebe sie uniformativ. (2) Vom Problem der Verständlichkeit zu unterscheiden ist die Frage der Bedeutsamkeit. Sie wird von Walzer kaum einmal explizit angesprochen, geschweige denn systematisch eruiert, zeigt sich vielmehr ‚zwischen den Zeilen‘ und markiert doch einen wichtigen Gesichtspunkt, was die Funktion der Immanenz anbelangt. Diese Hintergründigkeit mag auch mit der Äquivokation des 65 Georgia Warnke hat nicht zuletzt aus diesem Grund Walzer in der klassisch hermeneutischen Tradition der Sozialphilosophie verortet. Auch für ihn gelte: „Words have the meanings they have in a language because of their relations to other words, because of their contrasts and affinities and because of the thick historical and social vocabulary they help to constitute and to which they belong. But they also have the meanings they have because of their relations to contexts of possible action and social practice“ (Dies., Justice, 17); und Otto Kallscheuer sekundiert: Walzer legt „großen Wert auf ‚lokal‘ oder kulturelle spezifische Erfahrungen, Traditionen und ‚Gesprächsnetze‘ (Charles Taylor), aus denen heraus sich erst die Bedeutung ergibt, die dieses oder jenes soziale Gut für Männer und Frauen aus ganz bestimmten Gruppen, Gemeinschaften oder Nationen erhalten kann. Auch eine universalistisch ausgerichtete Sozialkritik kann nur im Horizont einer jeweils spezifischen moralischen Sprache verstanden werden“ (Ders., Pluralismus, 224). 66 Vgl. Walzer, Interpretation, 91–94; Walzer, Argument, 6–9.
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Bedeutungsbegriffs zusammenhängen. Sein Changieren zwischen einer hermeneutischen Kategorie zur Bezeichnung interpretativ bestimmbarer Semantiken und einer evaluativen Kategorie zur Bezeichnung dessen, was für jemanden oder etwas in einer bestimmten Hinsicht und auf eine bestimmte Art und Weise Relevanz besitzt, hat auch bei Walzer zur Folge, dass die Frage der Bedeutsamkeit nur mitunter in den Vordergrund rückt.67 Gleichwohl unterstellt Walzer, dass ein Kritikverfahren, das sich von den konkreten Sprach- und Praxiskontexten seiner Rezipienten distanziert, Relevanzchancen verspielt. Wo weder im Blick auf die elocutio noch im Blick auf die argumentative Sachlogik konsistente Bezüge auf ihren Erfahrungsraum – die Themen, die sie beschäftigen, die Sprachen, in denen sie sich verstehen, oder die Motive, die sie anspornen – erkennbar werden, werden die Adressaten der Kritik kaum Gewicht beimessen. Es bleibt fraglich, was der kritische Text mit ihnen ‚zu tun hat‘. Er gerät nicht „substantiell genug, um von Interesse zu sein und motivierende Kraft entfalten zu können“68. Eine so geartete Kritik scheint Walzer schlechterdings „easy to shrug off“69. (3) Zuletzt wird das Argument der Dichte über den Gedanken der Differenziertheit vorgetragen. Walzer gilt als Theoretiker der Differenz. Er ist ein Verfechter pluralistischer Verhältnisse. Der „Idee [einer] organischen Ganzheit und […] einheitlichen Veränderung der Gesellschaft als Ganze“ steht er skeptisch gegenüber.70 So überrascht es nicht, dass die Motive der Nuance, des Sublimen oder Akkuraten in seinen kritiktheoretischen Schriften breiten Raum einneh67 Zu einer ausführlicheren Reflexion auf das Konzept der Relevanz und ihrer Rolle im Rahmen kommunikativer Praxis vgl. Stetter, Relevanz sowie Merle, Alltagsrelevanz. Zur Äquivokation des Bedeutungsbegriffs vgl. Geuss, Philosophie, 174f, der am Konzept des Sinns eine analoge Doppeldeutigkeit kenntlich macht und zwischen einem „theoretischen (bzw. erkenntnistheoretischen)“ und einem „eher existentiell-praktischen“ Sinnbegriff unterscheidet. 68 Iser, Empörung, 41; vgl. auch Ders., Spiegel, 595. Zum Gedanken, dass Kritik – sofern sie Wirkung intendiert – nicht nur verstanden werden, sondern auch angehen muss und – sofern sie einen Beitrag zur Erweiterung des Selbstverständnisses ihrer Adressaten leisten möchte – genauerhin existenziell angehen muss, vgl. Saar, Genealogie, 138f.305–311 u. ö.; Ders., Kritik, 249–256. Zur Verbindung von Spezifik und Relevanz vgl. auch Latour, Jubilieren, 91. 69 Walzer, Company, 188; vgl. auch a. a. O., 152.237. In gewisser Weise argumentiert Walzer hier ähnlich wie in der Frage der Motivation des kritischen Akteurs. Wie aus der Beziehungslosigkeit zwischen Subjekt und Gegenstand der Kritik kritisches Engagement kaum verständlich gemacht werden kann, vermag ein Text, in dem ich mich in meinen Belangen nicht wiedererkenne, nur schwerlich meine Bereitschaft gewinnen, mich aufmerksam und intensiv mit ihm auseinanderzusetzen. Im Übrigen dürfte dabei durchaus ein Zusammenhang bestehen zwischen dem Engagement, das ein Sprecher für eine Sache aufbringt, und der Bereitschaft der Hörer, sich auf seinen Diskurs einzulassen. Zumindest befördert der Rezeptionseindruck, jemand redet über Dinge, die ihm selbst irrelevant erscheinen, das Interesse an seiner Mitteilung nicht (vgl. dazu D.3.2). 70 Vgl. Reese-Schäfer, Grenzgötter, 339. Vgl. dazu exemplarisch auch die Debattenbeiträge in Benbaji/Sussmann (Hg.), Walzer, 109–172.
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men. Besonders in seiner Beschäftigung mit Herbert Marcuse formuliert er sie prägnant aus. Im Zentrum seines Einspruchs gegen Der eindimensionale Mensch steht Marcuses Gegenstandsanalyse. Seiner Beschreibung fehle es an Wirklichkeitsgehalt. Sein Bild der amerikanischen Gesellschaft sei wenig belastbar und ließe sich mit den konkreten Verhältnissen in keinen konsistenten Zusammenhang bringen.71 Der Grund für diese verzerrte Sicht liegt für Walzer in Marcuses Distanzierung vom Alltagsleben. Walzer unterstellt ihm ein mangelndes Interesse an den lebensweltlichen Vollzügen der Personen, über die er schreibt. Sein Entwurf beruhe nicht auf „empirical research“72, „sociological perception“73 und einer „ethnographic curiosity“74, die auch die Selbstinterpretationen der Alltagsakteure in die Analyse miteinbeziehen würde. Er gerate daher „far too thin and pliable“75, als dass er seinen Gegenstand hinreichend subtil zu erfassen vermochte. Als Konsequenz ergibt sich, was Walzer ‚Großkritikertum‘ oder „total critique“ nennt.76 Wo die Kritikerin sich weigert, die Komplexität und Vielschichtigkeit ihres Gegenstandes wahrzunehmen, gerät dieser schnell unter Generalverdacht. Das Urteil der Kritikerin trifft ihn nicht partiell, sondern in toto. Dabei verpasse ein solch pauschalisierender Blick meist nicht nur die Realität, sondern schneide sich zugleich von produktiven Transformationsressourcen ab: „It fails to acknowledge or come to grips with those aspects of our world that are still open, workable, valued by our fellow citizens“77; er übersieht „the immanent value or potential of everyday life“78. Daher plädiert Walzer für eine Kritik, die partiell, nuanciert und präzise ausformuliert wird. Auf Basis einer differenzierten Diagnose hat sie veränderungswürdige von akzeptablen Wirklichkeitsmomenten abzuheben und in Gebrauch der zustimmungsfähigen gegen die defizitären zu argumentieren. Radikale Transformationen im großen Maßstab werden damit unwahrscheinlich. Lediglich in längerfristigen Prozessen sind sie erschwinglich. „Sozialer Wandel ist immer nur gradualistisch denkbar. Ein völliger Bruch ist von dieser Denkweise her ausgeschlossen“; es geht um „schrittweise Veränderung“.79 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. Walzer, Company, 170–190. Walzer, Company, 171. Walzer, Company, 180. Walzer, Company, 179. Walzer, Company, 178. Vgl. Walzer, Company, 172.227ff. Walzer, Company, 237. Walzer, Company, 190. Vgl. Reese-Schäfer, Grenzgötter, 368; ferner Allen, Perspektiven, 558f. Lose an Walzer anknüpfend hat Karl Heinz Bohrer für eine Kritik plädiert, die perzeptorisch ebenfalls auf das „individuell Besondere[-]“ zielt, durch einen „phänomenologisch begabten Blick[-]“ menschliche Zustände in ihrem Facettenreichtum erschließt und eine „existenziell sensible[-]
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In seinem jüngsten Text zur Gesellschaftskritik Mut, Mitleid und ein gutes Auge hat Walzer den Gedanken der Differenziertheit nochmals wiederholt. Er benennt zwei Gütekriterien kritischer Praxis: das rhetorische καιρός-Motiv der Rechtzeitigkeit sowie Präzision. Letzteres führt er im Sinne des beschriebenen Differenziertheitsargumentes aus. Gute Kritik beruhe auf einer phänomeninteressierten Verstehensanstrengung. Walzer geht es dabei weniger um die Erläuterung einer hermeneutischen Methodik als vielmehr um die Einforderung einer personalen Haltung. Er behaftet den kritischen Akteur auf „Offenheit der ‚realen Welt‘ gegenüber“, Bereitschaft, „auf die Welt zu sehen und zur Kenntnis zu nehmen, was sie sehen“, kurzum: eine „Art realistischer Aufrichtigkeit“.80 Walzer fällt dabei nicht in eine naive Epistemologie zurück. Ein unmittelbarer Zugang zur Wirklichkeit existiert auch für ihn nicht.81 Der Wirklichkeitsentwurf des Kritikers wird aber bestenfalls nicht aus abstrakten Prinzipien konstruiert, sondern auf Basis einer empirischen Analyse konkreter Phänomene und mit einem „Sinn für das Detail“. Erst so wird die Gefahr pauschaler kritischer Urteile vermindert und eine differenzierte Kritik mit „Distinktion, Nuance und Zurückhaltung“ wahrscheinlich.82 So besehen braucht ein guter Kritiker nicht allein Möglichkeitssinn, sondern ebenso sehr Realitätssinn. Walzers Verteidigung seines Ansatzes über die Kriterien der Differenziertheit, Bedeutsamkeit und Verständlichkeit zeigt, dass die Bündelung dieser Argumentationsgänge unter dem Begriff der thickness und Walzers Anspielung auf das ethnologische Konzept der dichten Beschreibung durchaus plausibel sind. Mindestens drei Charakteristika des Geertzschen Programms lassen sich auch bei Walzer nachweisen.
Begrifflichkeit“ kultiviert. Sehr viel intensiver als bei Walzer hat der Kritiker dazu aber das Gespräch mit der Literatur zu suchen. Der differenzierte Blick der Kritik ist bei Bohrer ein poetischer (vgl. Bohrer, Phänomenologie, hier 47.49). 80 Vgl. Walzer, Mut, 716f; Ders., Gesellschaftskritik, 604. 81 Vgl. Walzer, Mut, 716; Ders., Gesellschaftskritik, 604: Eine „unvermittelte Erfahrung der Realität“ gibt es nicht. „Wir bringen alle möglichen Arten mentaler Ausrüstung mit in unsre Alltagserfahrung ein. Unsere Wahrnehmungen werden stets strukturiert durch Theorien der ein oder anderen Art“. Vgl. dazu auch B.2.3.1. 82 Walzer, Mut, 715f; Ders., Gesellschaftskritik, 603. Wie der Verweis auf das Kontextprinzip gezeigt hat, ist sich Walzer der Gefahr einer Überstrapazierung dieser Tendenz auf das Besondere durchaus bewusst; ein adäquates Verständnis des kritisierten Gegenstandes bedarf immer auch der Wahrnehmung des „größeren Kontext[es]“ und einer Theorie, welche die „Fixierung kontextualer Grenzen“ ermöglicht (vgl. Ders., Mut, 717; Ders., Gesellschaftskritik, 605). Einen anders gelagerten Blick zumindest auf bestimmte Facetten des ‚Großkritertums‘ werfen Martin Saar und Axel Honneth, wenn sie seine Radikalität als rhetorische Geste interpretieren. So sei Kritik immer auch eine „Kunst der Übertreibung“, die sich durch spezifische Simplifikationen, Drastik in der Deskription oder begriffliche Überpointierungen subversives Gehör zu verschaffen suche (vgl. Honneth, Idiosynkrasie, 231f; Saar, Genealogie, 130–142, hier 140; ferner Van den Brink, Gesellschaftstheorie).
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(1) Die Bestimmung der Bedeutung eines Symbols83 verlangt für Geertz die Erfassung seines Kontextes. Diese These vertrat schon Gilbert Ryle, dem Geertz den Begriff der thick description verdankt. Ryle veranschaulicht die Virulenz des Kontextes an seinem prominenten Beispiel der Augenlidbewegung.84 Das ‚unbeabsichtigte Zucken‘ eines Lids, das ‚verräterische Zuzwinkern‘, eine ‚Parodie dieses Zuzwinkerns‘ und das ‚Üben einer solchen Parodie‘ lassen sich aus rein behavioristischer Warte nicht als divergente Akte ausweisen; sie müssen schlicht als ‚Bewegung des Augenlids‘ beschrieben werden. Ryle nennt eine solche Deskription ‚dünn‘. Um die Spezifik der Akte zu erfassen, braucht es ein „thickening, often a multiple thickening“85. Es muss Wissen um die jeweiligen Kontexte der Augenlidbewegung beigebracht werden. Für Geertz ist dieses Wissen letztlich eine Kenntnis der vielschichtigen kulturellen Zusammenhänge.86 (2) Gewonnen wird diese Kenntnis durch einen Ansatz beim Besonderen: „[V]on der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her“87 hat der Ethnologe sein Verständnis der kulturellen Zusammenhänge zu entwickeln. Medium der Erforschung dieser Miniaturen ist das Verfahren der dichten Beschreibung. „Dichte Beschreibungen sind mikroskopische Untersuchungen. Sie setzen an besonderen Praktiken oder Ereignissen an und versuchen, anhand des örtlich und zeitlich begrenzten Geschehens das Ganze der Kultur interpretativ zu erschließen“88. (3) Anders als Geertz zunächst selbst vermuten lässt, geht die ethnologische Wissenschaftspraxis nicht in der Erarbeitung solcher thick descriptions auf; sie vollzieht sich immer auch als ‚Diagnose‘89. Der Differenz zwischen dichter Beschreibung und Diagnose korrespondiert die von Heinz Kohut adaptierte Gegenüberstellung von ‚erfahrungsnahen‘ und ‚erfahrungsfernen‘ Terminologien. Unter erfahrungsnahen Begriffen versteht Geertz
83 Geertz arbeitet mit einem weiten Symbolbegriff. Symbole sind „konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen.“ Insofern kann alles als Symbol fungieren, sprachliche Einheiten ebenso wie „Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen“ (vgl. Ders., Religion, 49). 84 Vgl. Ryle, Thoughts, 495–498. Zum Konzept der thick description bei Ryle vgl. ferner Ders., Thinking. 85 Ryle, Thoughts, 504. Damit ist deutlich, dass Handlungen „zweckmäßigerweise nicht mit den sie exemplifizierenden Körperbewegungen zu identifizieren [sind], sondern diese müssen gedeutet werden, damit sie überhaupt als Handlungen erfaßt werden und eine angemessene Reaktion hervorrufen […]; sie sind Interpretationskonstrukte, Deutungen von meist beobachtbaren Körperbewegungen und entstehen durch eine kontextbezogene, situationsabhängige, rezipientenbezogene, also pragmatische Interpretation“ (Lenk, Philosophie, 171 [Hervorhebung i. Orig.]). 86 Vgl. Geertz, Beschreibung, 9–20. 87 Geertz, Beschreibung, 30. 88 Mörth/Fröhlich, Spurensuche, 18. Gerhard Fröhlich und Ingo Mörth bezeichnen Geertz daher als einen „Verteidiger des Details“ und „Anwalt der Vielfalt“, dem eine „Lust an Komplexität und Differenzierung“ eigne (vgl. a. a. O., 10.15). 89 Geertz versteht darunter eine stärker theoriegeleitete Durchdringung der durch dichte Beschreibungen gewonnen Erkenntnisse, die umfassendere Aussagen über die gesellschaftlichen Strukturen und „darüber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen“ erlauben. Diese makrotheoretischen Überlegungen sind für Geertz nach dem Modell des klassischen hermeneutischen Zirkels freilich beständig zurückzubinden an die dicht beschriebenen „kleinsten lokalspezifischen Details“ (vgl. Ders., Beschreibung, 39; Ders., Perspektive, 307).
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ein Vokabular, das einer Person vertraut ist und zur Artikulation ihres Selbstverständnisses gebraucht wird. Es handelt sich um Begriffe, „die ein Mensch – ein Patient, eine bestimmte Person, in unserem Fall ein Informant – natürlich und mühelos verwenden kann, um zu bestimmen, was er oder seine Mitmenschen sehen, denken, sich vorstellen und so weiter, und die er mühelos verstehen kann, wenn sie in derselben Weise von anderen angewandt werden.“90 Alle drei Charakteristika – Orientierung an lebensweltlich eingespielten Vokabularen, Wertschätzung detailsensibler Analysen und Einsicht in die sinngenerierende Funktion historischer, sozialer und kultureller Kontexte – prägen auch Walzers Argument der Dichte.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Walzers Ansatz wiederholt als Antwort auf die Frage der applicatio interpretiert wurde.91 Klassischerweise besteht die Anwendungsproblematik im „Spannungsverhältnis zwischen der Formulierung genereller Normen und deren Anwendung auf einen jeweils konkreten Einzelfall mit ganz spezifischen Eigenarten und Bedingungen“92. Anwendung ist ein Prozess der Konkretisierung und Spezifizierung. Durch sie werden narrative Schlüsselszenen, Rechtssätze oder Idealvorstellungen auf bestimmte Situationen bezogen mit dem Ziel, ihnen innerhalb derselben eine wirklichkeitsbestimmende Kraft zu verleihen. Entsprechend beschreibt HansJörg Sigwart das Applikationsproblem auch als „Problem der ‚Verwirklichung‘“93. Auf dieses Problem reagiert Walzers Kritikkonzept nun insofern, als es den Anwendungskontext zum Ausgangspunkt der kritischen Operation erhebt. Von vorneherein hat der Kritiker seinen Text im Licht des Applikationszusammenhangs zu entwerfen; von Beginn an bilden die lebensweltlichen Kontexte, innerhalb derer sein Text verstanden, relevant und akzeptiert werden soll, den Erarbeitungshorizont der kritischen Erzählung.
90 Geertz, Perspektive, 291; vgl. dazu auch Gottowik, Konstruktionen, 259. 91 Vgl. etwa Haus, Philosophie, 23–26; Reese-Schäfer, Grenzgötter, 359–371 sowie zum Folgenden auch Sigwart, Denken. 92 Reese-Schäfer, Grenzgötter, 24. 93 Vgl. Sigwart, Denken, 176. Impliziert ist dabei stets ein Verständnis der Schlüsselszene etc. Anwendungsakte sind Verstehensakte. Im Bezug einer Größe auf eine bestimmte Situation bestimmt sich ihre Bedeutung je mit. Auf dieses Miteinander von Interpretation und Applikation hat auch Hans-Georg Gadamer verwiesen. Ihm war es freilich weniger darum zu tun, die hermeneutische Struktur eines Applikationsaktes herauszustellen, als die applikative Struktur eines hermeneutischen Aktes. Dabei hält er jedoch fest, dass ein Applikationsakt nicht als „nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden würde“, aufzufassen sei (vgl. Ders., Wahrheit, 323). Applikation ist dem Verstehen nicht nachgeordnet; beide sind miteinander verschränkt. Zur Korrespondenz zwischen der hermeneutischen Problematik der applicatio und Walzers immanentem Ansatz vgl. Sigwart, Denken, 198, Anm. 184.
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Damit ist deutlich, dass Walzer nicht allein Fragen der Motivation und Akzeptanz mit begründungsbezogenen Überlegungen koppelt, sondern zugleich auch Fragen der Anwendung und Verwirklichung. Über die Plausibilität einer subversiven Deutungsintervention entscheidet für Walzer immer auch ihre ‚Anwendbarkeit‘, also ihr Potenzial, auf die lebensbestimmende Situation des Publikums appliziert zu werden und sich darin als lebenspraktisch virulent zu erweisen. Ihr eignet sozusagen ein Verwirklichungsindex.94
2.2.3 Das Argument der Symmetrie Die Rekonstruktion der Argumente der Effektivität und Dichte hat bisher drei Ebenen kritischer Praxis kenntlich werden lassen, auf denen Walzer das rekursive Moment spezifiziert: die Ebene der Argumentationslogik, der Sprachgestalt sowie der Gegenstandsbeschreibung. Mit dem Symmetrieargument rückt eine weitere Dimension in den Fokus: das Subjekt der Kritik bzw. präziser sein Selbstkonzept. Walzer geht davon aus, dass die Art und Weise, in der eine Kritikerin sich selbst versteht, ihre Praxis entscheidend mitbestimmt; ihr Selbstbild prägt die Struktur ihres kritischen Engagements. Nach Maßgabe seines Erkenntnisinteresses konstatiert Walzer ferner, dass das Selbstkonzept der Kritikerin gerade auch das Verhältnis, das sie zu ihren Adressaten und zu ihrem Gegenstand einnimmt, organisiert. Zuletzt attestiert er den Selbstbeschreibungen kritischer Akteure ein hohes Maß an kultureller Bedingtheit; sie sind immer auch beeinflusst durch öffentliche Codes, die bestimmte views of criticism bereithalten.95 Auf Basis dieser drei Annahmen versucht Walzer den Nachweis zu führen, dass ein Selbstkonzept, das die Kritikerin programmatisch von ihren Adressaten und Gegenständen abrückt, der Praxis der Kritik autoritäre Züge verleiht und daher ethisch betrachtet suspekt erscheint. Diese These kann in einem Zweischritt nachvollzogen werden. Steht zunächst Walzers tugendethische Fassung des Symmetriearguments im Vordergrund, ist sodann zu zeigen, dass die bisher als problematisch beschriebenen Distanzierungsdynamiken auf den Ebenen der 94 Vgl. Sigwart, Denken, 201. Nach Erläuterung der Argumente der Effektivität und Dichte ist deutlich, dass Walzer seine Emphase der Immanenz nicht allein mit der faktischen Begrenztheit epistemologischer Vollzüge begründet. Selbst wenn es möglich wäre, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, von dem aus kontextinvariante Maßstäbe bestimmt oder ein Verfahren existierte, mit dessen Hilfe universale Maßstäbe generiert werden könnten, hätte ein kritischer Text aufgrund der Motivations- und Anwendungsproblematik stets kontextvariant und partikular kreiert zu werden. Durch seinen transformativen Impetus ist er angewiesen auf Akzeptanz vonseiten seiner Adressaten einerseits und andererseits auf seine Verwirklichung in konkreten Sprach- und Praxissettings. 95 Vgl. hier und zum Folgenden Walzer, Company, 12–16.225–229; Ders., Argument, 50–53.
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Argumentationsstruktur, der Sprachgestalt und Gegenstandsbeschreibung auch unter sittlichen Gesichtspunkten prekär anmuten. (1) Walzer identifiziert ein verbreitetes Standardbild kritischer Akteure: „the picture of the critic as hero“96. Vermittelt über tradierte Deutungen prominenter historischer Gestalten hätte sich ein Modell etabliert, wonach das Engagement eines Kritikers am besten verstanden wäre, wenn man ihm heroische Züge attribuiere. In einer Art Charaktertypologie kehrt Walzer drei solcher Züge hervor. Der heroische Kritiker sei erstens geprägt durch Trotz (‚defiance‘). Er zeichnet sich durch Standpunkttreue, Entschlossenheit und Beharrungsvermögen aus; auch gegen Widerstände hält er seinen Veränderungswillen aufrecht. Zweitens sei der heroische Kritiker bestimmt durch ein Bewusstsein der Gefahr (‚danger‘). Im „heroic image“97 vermischen sich Sendungsbewusstsein und Risikobereitschaft zu einer Art Märtyrerpathos; Einwände oder Ablehnung müssen ihn nicht verunsichern, sondern bestätigen die Wahrheit und Richtigkeit seiner Botschaft. Sind in beiden Zügen Dynamiken eines inneren Rückzugs und der Selbstisolierung schon angelegt, werden diese Dispositionen durch das dritte Attribut explizit und forciert. Im Paradigma des Heroismus modelliert sich das Subjekt der Kritik in einer vielförmigen Distanz gegenüber seinem Wirkkontext (‚detachment‘).98 In diesem Standardkonzept des kritischen Selbst erkennt Walzer eine ‚snobistisch-bornierte‘ Tendenz oder wie Iser formuliert: eine „arrogant-kontemplative Abgrenzung von ‚der Masse‘ und der ‚schnöden Wirklichkeit‘“, eine Art „Überlegenheitsdünkel“.99 Walzer selbst spricht von „intellectual pride and vanguard presumption“100 bzw. einer fehlenden „curiosity about the day-to-day life of ordinary men and women“101. (2) Was in der Sprache moralischer Eigenschaften noch etwas vage anmutet, kann in Hinsicht auf die aus einem heroic image resultierende Diskurspraxis 96 Walzer, Company, 14. 97 Walzer, Company, 14. 98 Vgl. Walzer, Company, 13: „[Here] the critical enterprise was said to require that one leave the city, imagined for the sake of the departure as a darkened cave, find one’s way, alone, outside, to the illumination of Truth, and only then return to examine and reprove the inhabitants. The critic-who-returns doesn’t engage the people as kin; he looks at them with a new objectivity; they are strangers to his newfound Truth. The pursuit of Truth at the expense of his own familial or civic connections marks off the critic, and the Truth he discovers through detachment and departure gives to his criticism its special authority. Criticism is different from common complaint because the critic stands, even after his return, outside the city. The return is only physical, the standing moral and intellectual“. 99 Vgl. Iser, Empörung, 42. Zu Walzers ethischer Plausibilisierung der Immanenz vgl. auch Allen, Perspektiven, 553.558; Haus, Philosophie, 37.61–64; Honneth, Gesellschaftskritik, 57f; Owen/Johansson, Interpretation, 579; Stahl, Kritik, 60. 100 Walzer, Company, 129. 101 Walzer, Company, 178.
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präziser und kriteriologisch kontrollierbarer ausgesagt werden. Dabei gilt es, die bisher dreifach spezifizierte Immanenz der Kritik auf ihre ethischen Implikationen zu befragen. Was auf personaler Ebene mit Charakterbegriffen wie ‚Borniertheit‘, ‚Arroganz‘ oder ‚Überheblichkeit‘ beschrieben werden kann, ist im Zusammenhang der sachlichen Argumentationsstruktur, der stilistischen Ausgestaltung und der Qualität der Wirklichkeitsrepräsentation nachzuzeichnen. Walzer zufolge forciert ein heroisches Selbstbild auf allen diesen Ebenen Momente der Distanz: Es disponiert zu einer Praxis, die argumentativ nur schwerlich Gründe anzubieten hat, mit denen sich die Adressaten identifizieren können, die elokutionär Gefahr läuft, sich gegenüber den Adressaten hermetisch abzuschotten und auf Ebene der Gegenstandsbeschreibung schnell einen holistischen Charakter gewinnt und so fruchtbare Überzeugungsressourcen übersieht. Damit büßen die Adressaten Chancen ein, sich in der Kritik wiederzufinden. Sie hat mit den Idealen, denen sie sich verpflichtet fühlen, den Sprachen, in denen sie sich auslegen, und der Welt, in der sie leben, nur wenig zu tun. Der kritischen Praxis kommt der Adressatenbezug abhanden. Es ist exakt diese Rückbildung des Publikumsbezugs, der für Walzer ein asymmetrisches Gefälle102 zwischen Subjekt und Adressat der Kritik etabliert. Ein detached criticism konstituiert zwischen Kritiker und Kritisierten ein ethisch prekäres Ungleichgewicht – dies in doppelter Hinsicht. Der Kritiker ist erstens nicht wirklich in der Lage, sein Auditorium in einen Prozess der Überzeugung zu verwickeln. Ihm fehlen persuasive Ressourcen – eine intelligible Sprache, Argumente, die man sich zu eigen machen kann, die Fähigkeit, Themen Dringlichkeit zu verleihen. Sofern Kritik ihrem transformativen Impetus treu bleibt, führt dieses Defizit an persuasiver Substanz aber nur allzu schnell zu einem Ausgriff auf andere Einflussmittel, die Walzer mit den Vokabeln der ‚manipulation‘, ‚coercion‘ oder ‚compulsion‘ umschreibt.103 Ein erst sekundär an die lebensweltlichen Kontexte seiner Rezipienten anschließender oder eine solche Anknüpfung generell ablehnender Diskurs repräsentiert zweitens nicht selten eine Reserve gegenüber den epistemischen Vermögen der Hörerschaft. In der Weigerung, ihre Sprache zu sprechen, sich argumentativ auf ihr Selbstverständnis einzulassen und der Komplexität ihrer Lebenswelt Rechnung zu tragen, dokumentiert sich für Walzer der Anspruch auf ein „superior knowledge“104. 102 Zur Asymmetrieproblematik vgl. etwa Jaeggi, Ideologiekritik, 293ff; Celikates, Kritik, 225– 229; ferner mein Diskussionspapier Stetter, Change, 381f. Gegen einen prinzipiellen „Bruch“ zwischen der Perspektive der Kritisierenden und der Perspektive der Kritisierten hat Robin Celikates ausführlich argumentiert und dabei insbesondere auch die Einsichten der sich interpretativ verstehenden Sozialwissenschaft und Ethnologie in die deutende und kritische Reflexivität der Alltagsakteure ins Feld geführt (a. a. O., 76–94). 103 Vgl. Walzer, Interpretation, 64; ferner Ders., Company, 100.234f. 104 Walzer, Company, 43; vgl. ferner a. a. O., 13.
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Beide Aspekte der Asymmetrie lassen sich auf eine Differenzierung beziehen, die Maeve Cooke für die Evaluierung kritischer Sozialtheorien angemahnt hat. Cooke hebt zwei Arten von Autoritarismus voneinander ab.105 Von einem ethical authoritarianism sei dort zu sprechen, wo die Rechtfertigung von Geltungsansprüchen vom Räsonnement konkreter Subjekte abgekoppelt wird. Die Gültigkeit der propagierten Sicht auf Welt, der eingespielten Argumente, der Gegenstandsbeschreibungen wird nicht von der Zustimmung empirischer Akteure abhängig gemacht, sondern anderweitig ausgewiesen und insofern kommunikativ immer schon vorausgesetzt. Möchte ein Kritiker diesem Verdacht entgehen, hat er seinen Adressaten gute Gründe zu offerieren. Gute Gründe sind für Cooke eigene Gründe. Die Rechtfertigung der kritischen Perspektive muss von den Perzipienten selbst vollzogen werden können. „From the point of view of autonomous agency, having good reasons implies, among other things, that the human subjects concerned make them their own good reasons – reasons that make sense to them in the context of their intuitions, expectations, commitments, convictions, and experiences as a whole. In other words, to see something as a good reason, human subjects must be capable of integrating it into the affectively imbued constellations of reasons that are formative of their identities. Failure to establish a connection with the most stable elements in these constellations would result in a lack of coherence; jettisoning all the other elements in order to make room for it would result in a lack of depth.“106
Von einem epistemological authoritarianism sei dagegen dort zu sprechen, wo die kritische Erzählung auf einen privilegierten Wirklichkeitszugang zurückgeführt wird. In diesem Fall wird ein vermeintlich neutraler und unbedingter Erkenntnisstandpunkt reklamiert, von dem aus sich die Dinge in ihrem eigentlichen Sein und Sollen erschließen. Um dem Verdacht eines so gearteten Autoritarismus zu entgehen, hat ein Kritiker den Deutungscharakter seiner Sicht herauszukehren, die historische, soziale und kulturelle Bedingtheit seiner Weltwahrnehmung zu respektieren und ihrer Strittigkeit Rechnung zu tragen.107 105 Vgl. hier und zum Folgenden Cooke, Society, 9–24; Dies., Authoritarianism; Dies., Rationalität, 122ff. 106 Cooke, Society, 17. Entsprechend notiert Wesche, Reflexion, 204: „Soll Kritik nicht in einem autoritären Appell verpuffen, dann muss dem Kritisierten selbst ihre Rechtfertigung möglich sein“; und aus psychotherapeutischer Perspektive auf den Kritikprozess hält Küchenhoff, Mitspieler, 316f fest: „Ohne die Bewegung der Internalisierung [sc. Immanenz] bliebe die Entwicklung der Identität aus, es entwickelte sich bestenfalls eine Pädagogik, schlimmstenfalls eine therapeutisch verbrämte Ausübung von Macht, die zwar Effekte zeitigt, an der Entwicklung der Selbsterkenntnis aber vorbeiginge, weil sie das Selbst nicht berücksichtigte.“ 107 Die Perspektive einer kritischen Akteurin „must be seen as situated in a historically specific socio-cultural context and as essentially contestable“ (Cooke, Authoritarianism, 383), weshalb Saar die Praxis der Kritik auf eine selbstkritische Haltung behaftet, um nicht einem „Phantasma des prinzipiellen Besserwissens“ aufzusitzen (vgl. Saar, Kunst, 49).
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So besehen lässt sich Walzers Argument der Symmetrie als doppelter Autoritarismusvorbehalt lesen. Die fehlende Immanenz eines detached criticism schmälert zum einen die subjektiven Rechtfertigungschancen der Kritisierten. Wo die Rezipienten den kritischen Text nicht hinreichend ‚kohärent‘ und ‚tief‘ mit ihren emotionalen und kognitiven Orientierungsystemen verbinden können, baut sich zwischen Subjekt und Adressat der Kritik ein ethisch-autoritäres Verhältnis auf. Transformationen müssten durch ethisch suspekte Beeinflussungsmechanismen ins Werk gesetzt werden. Zum anderen befördert die fehlende Immanenz eines detached criticism Immunisierungstendenzen. Wo die Verbindungen zu den Erfahrungskontexten der Kritisierten ausdünnen, wird die Kritik der Kritik erschwert. Sie büßt an Kritikabilität ein, wird unanfechtbar und damit epistemologisch-autoritär.108 Anders formuliert könnte man auch sagen, dass dem ethical authoritarianism eine Minimierung des Immanenzaspekts entspricht, während mit dem epistemological authoritarianism eine Übersteigerung des Transzendenzaspekts einhergeht.
2.3
Spezifikation des Transzendenzaspekts. Zur Begründung, Bedeutung und Funktion der transgressiven Dynamik transformativer Praxis
Durch die Argumente der Effektivität, Dichte und Symmetrie versucht Walzer, die Praxis der Kritik mit Nachdruck als eine Kunst der Bezugnahme auszuweisen. Zielt ein Kritiker auf eine transformative Perspektive, die ihren Gegenstand differenziert zu beschreiben in der Lage ist und von ihren Adressaten nicht blind übernommen, sondern auf Basis eigenen Verstehens, subjektiver Relevanz und persönlicher Rechtfertigung akzeptiert wird, hat er seinen Diskurs ab ovo aus den Erfahrungskontexten des Publikums heraus zu entwickeln – dies im Blick auf seine argumentative Logik wie sein stilistisches Arrangement. Gesteuert wird eine solch immanent ansetzende Praxis durch ein Selbstkonzept, das den Kritiker mit seinem Gegenstand wie seinen Adressaten zu assoziieren weiß.
108 Im Fokus auf politische Implikationen nehmen Hubertus Buchstein und Reiner SchmalzBruns diese Überlegungen auf, wenn sie Walzers Ansatz ganz im Licht des Symmetriearguments auslegen. Sie vertreten die These, dass Walzers interpretatives Kritikkonzept geradezu als ein „egalitär-demokratisches Lehrstück“ gelesen werden könne, das das Verhältnis zwischen Kritiker und Kritisierten resp. ‚Experten‘ und ‚Laien‘ nicht nach dem asymmetrischen Modell einer „wiederholenden Aneignung autorativen [sic] Wissens“ vorsehe, sondern einen sozialen Diskurs voraussetze, der keine privilegierten Erkenntnisstandpunkte kenne und sich daher im permanenten Streit um Plausibilitäten vollziehe, ohne durch den Appell an vermeintlich unhintergehbare Evidenzen stillgestellt werden zu können (vgl. Dies., Gerechtigkeit, 382–386, hier 385; vgl. dazu auch Kallscheuer, Gesellschaftskritiker, 144).
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Um diesen Ansatz zu verteidigen, genügt es freilich nicht, die Betonung der Immanenz zu plausibilisieren. Walzer muss nachweisen, dass sein Kritikkonzept ebenso Dynamiken der Distanzierung zu begründen vermag. Beruht Kritik tatsächlich auf einem transformativen Impetus, muss sie in der Lage sein, auch Neues in das kommunikative Spiel einzubringen. So fundiert das Veränderungsinteresse der Kritik nicht allein ihren Immanenz-, sondern zugleich auch ihren Transzendenzaspekt. Im Folgenden sind die Transzendierungschancen eines connected criticism nachzuzeichnen. Inwiefern vermag ein die Anforderung der Bezugnahme so stark machender Ansatz der Anforderung der Distanznahme zu genügen?109 Um die „subversiveness of immanence“110 nachzuweisen, verfährt Walzer zweifach: Er argumentiert einerseits über die Struktur des Gegenstands der Kritik und andererseits über die Eigenart des Modus der Kritik. Beide Begründungswege sind zum Abschluss zu präzisieren.
2.3.1 Das Argument der Inkohärenz Um die Praxis der Kritik in ihrer transgressiven Bewegung verständlich zu machen, beruft sich Walzer auf die inkohärente Verfasstheit ihrer Gegenstände. Ihnen wohnen die Distanzen als ‚immanente Transzendenzen‘ sozusagen selbst schon ein, die im Modus der Kritik dann interpretativ gehoben, rhetorisch inszeniert und argumentativ durchgearbeitet werden. Fokussiert auf die Praxis der Gesellschaftskritik entwickelt Walzer diesen Überlegungsgang primär in Bezug auf das soziale Zusammenleben. Da er die sozialkritische Tätigkeit an verschiedenen Stellen aber in Analogie zu Vorgängen entwirft, die stärker auf das Individuum bezogen sind, bieten seine Erörterungen durchaus Ansätze, das Argument der Inkohärenz auch auf subjektive Transformationsprozesse anzuwenden – dies umso mehr als die Struktur individuellen Selbstverstehens für Walzer gar nicht unter Absehung der Struktur der sozial kursierenden Sprachen der Selbstverständigung betrachtet werden kann, beide vielmehr in einem Verhältnis der Interdependenz stehen. (1) Für Walzer sind Gesellschaften keine vollintegrierten Gebilde. Die Dynamik des sozialen Geschehens provoziert Spannungen, Divergenzen und Widersprüche. Diese Inkohärenzen markiert Walzer als Ansatzpunkte einer konnektiven Kritik. Zur Begründung dieser These erinnert er zunächst an die Marxsche Beschreibung des Dilemmas der herrschenden Klasse in der Deutschen Ideolo109 Für Reese-Schäfer ist Walzers Antwort auf diese Frage der „schwierigste und komplexeste“ Punkt in seinem Denken, der „am meisten mißverstanden“ werde (vgl. Ders., Grenzgötter, 360). 110 Walzer, Argument, 47.
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gie.111 Um ihren Führungsanspruch zu rechtfertigen, müssen die Oberen ihre partikularen Interessen als allgemeine darstellen und sich selbst als Schützer des Gemeinwohls inszenieren. Solche Legitimationen tendieren auf ein Set an Vorstellungen und Idealen, in denen sich auch die anderen Gesellschaftsmitglieder in einer hinreichenden Weise wiederfinden können. Damit kommt es zur Etablierung von Maßstäben, welchen die Herrschenden nur schwerlich gerecht werden können. Zwischen ihrer auf partikularen Belangen beruhenden Praxis und ihrer auf Allgemeinheit tendierenden Rechtfertigung brechen Widersprüche auf. An diesen setzt Kritik an. Sie fokussiert den Hiatus zwischen ‚Idee‘ und ‚Wirklichkeit‘ und bringt ihn zur Sprache. Noch ganz im Rahmen marxistischer Beschreibungssysteme zeigt Walzer im Anschluss an Antonio Gramsci eine zweite Grundmöglichkeit kritischer Initiative an. Der Kritiker vermag nicht nur existierende Diskrepanzen zwischen vorgegebenem Anspruch und tatsächlicher Praxis aufzudecken. Vielmehr vermag er solche Diskrepanzen auch allererst zu erzeugen. Modus einer solchen Erzeugung ist der reinterpretierende Eingriff in das Ideensystem selbst.112 Durch Pointierung und Reframing werden innerhalb bestehender Relevanz- und Sinnzusammenhänge „Verschiebungen“113 lanciert. Walzer exemplifiziert diesen Vollzugsmodus kritischer Praxis am Beispiel des Prinzips der Gleichheit. Einmal in das Ideensystem der herrschenden Klasse aufgenommen, kann ein Kritiker die konkrete praktische Anwendung dieses Prinzips hinterfragen und eine inklusivere Verwirklichung vorschlagen. Er deutet damit den Begriff der Gleichheit neu und rückt ihn gegenüber anderen Werten womöglich in den Vordergrund.114 Was mit Marx und Gramsci bisher im Kontext der Klassenlehre vorgeführt wurde, generalisiert Walzer.115 In den westlichen Gesellschaften der Gegenwart 111 Walzer, Interpretation, 40f. 112 „[A] process of differentiation and change in the relative weight that the elements of the old ideologies used to possess. What was previously secondary and subordinate […] is now taken to be primary and becomes the nucleus of a new ideological and theoretical complex“ (Antonio Gramsci, zit. n. Walzer, Interpretation, 42). 113 So der sachlich durchaus richtig eingefügte Begriff in der deutschen Übersetzung durch Otto Kallscheuer (vgl. Walzer, Kritik, 53). 114 Vgl. Walzer, Interpretation, 43. Walzer weist damit kritischer Praxis eine ähnliche Funktion zu wie Axel Honneth der kritischen Theorie. Kritische Gesellschaftstheorie besitzt für Honneth unter anderem die Aufgabe, darauf zu insistieren, „dass die Prinzipien der Anerkennung stets weiter gehenden und radikaleren Interpretationen offenstehen. Den Prinzipien kommt im Verhältnis zur existierenden Ordnung immer eine Art Mehrwert zu. Die im Namen eines dieser Prinzipien institutionalisierte Ordnung ist immer defizient, denn was Liebe, Gerechtigkeit etc. bedeuten, ist nicht abschließbar – es können stets neue Aspekte ins Spiel gebracht werden, die noch nicht berücksichtig sind. Die Theorie muss auf diesen Mehrwert, das nicht ausgeschöpfte normative Potenzial, aufmerksam machen, und zwar auf eine visionäre Weise“ (vgl. Boltanski/Honneth, Soziologie, 99f). 115 Vgl. Walzer, Interpretation, 46ff.
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sehe sich jedes Individuum Legitimationszwängen unterstellt. Die Pointe liegt dabei in der Externität des Rechtfertigungspostulats. Der Vollzug unserer Existenz ist angewiesen auf die Anerkennung durch andere. Prozesse der Selbstvergewisserung über unseren Lebensentwurf besitzen intersubjektiven Charakter. Sie führen in reale oder imaginierte Diskurse mit anderen. In ihnen wird der eigene Lebensvollzug mit Gründen versehen, Erwartungen werden formuliert und Enttäuschungen artikuliert. So konstituieren sich sukzessive soziale Werte, intersubjektiv anerkannte Normen und geteilte Verständnisse. Diese pluriformen Orientierungssysteme eröffnen Sozialkritik. Der Kritiker vermag Widersprüche zwischen der faktischen Organisation einer Gesellschaft und ihrer normativen Infrastruktur zu erschließen oder aber in das System der Werte, Normen und Verständnisse reinterpretativ zu intervenieren, um solche Widersprüche zu evozieren. (2) Was Walzer auf Makroebene in Bezug auf die Verfasstheit von Gesellschaften darlegt, prägt auf Mikroebene auch seine Beschreibung des Individuums. Auch ein Subjekt ist keine vollintegrierte Entität. Sein Selbstverständnis durchziehen diverse Spannungslinien. Walzer versucht sie auf zwei Wegen herauszuarbeiten: Zum einen verweist er auf den oben mit Jaeggi eingekreisten Doppelcharakter der Selbstinterpretation (vgl. A.1.4.3); zum anderen kehrt er die Diversität der Quellen der Selbstinterpretation hervor. Wiederholt vergleicht Walzer die Tätigkeit einer Kritikerin mit dem Vorhalten eines Spiegels.116 Dem Spiegel eignet eine zweifache Funktion: Er lenkt den Blick auf das, was wir ‚wirklich sind‘, sowie auf das, was wir ‚sein möchten‘. Wer in den Spiegel schaut, erkennt sich in einer kontrastreichen Doppelperspektive. Er wird in eine Auseinandersetzung verwickelt, sowohl was das Verständnis seines Selbstseins anbelangt als auch was das Verständnis seines Selbstideals betrifft, also seiner Wünsche, Werte, Hoffnungen und Visionen seines Selbst. Insofern macht sich die Praxis der Kritik den Doppelcharakter der Selbstinterpretation zu nutze; sie arbeitet an der Spannungslinie zwischen ‚Deutung‘ und ‚Entwurf‘, die die Prozesse unserer Selbstthematisierung durchzieht. Weitere potenzielle Tensionen resultieren aus der Diversität der Quellen, aus denen sich unser Selbstverständnis speist. Walzer ordnet sie auf drei Ebenen an.117 Die Selbstinterpretation eines Subjekts ist abhängig von den Rollen, die es einnimmt. Es sieht sich diversen Verhaltenserwartungen gegenüber, die den Kontakt mit der sozialen Formation, in der es lebt, steuern oder zumindest
116 Vgl. Walzer, Argument, 42; Ders., Company, 229–233. Vgl. dazu auch Iser, Spiegel; Haus, Philosophie, 49–56; Rosa, Weltbeziehungen, 106ff; Schürmann, Kritik, 146–155; Seibert, Ethik, 142f. 117 Vgl. zum Folgenden Walzer, Argument, 85–104. Zu Walzers Verständnis der Pluralität des Selbst vgl. auch Schürmann, Kritik, 124–128; Seibert, Ethik, 281–287.
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prägen. Die zweite Ebene markiert Walzer durch den Begriff der Identität118. Das Selbst identifiziert sich durch Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften, durch Aneignung bestimmter Traditionsbestände sowie durch Auseinandersetzung mit Geschlecht, Familie oder Nation. Zuletzt verweist Walzer auf die Ebene der Orientierungen. Ein Selbst bestimmt seine Lebensführung in Bezug auf unterschiedliche Ideale, Prinzipien, Zwecke und Werte. Die drei Ebenen liegen nicht trennscharf nebeneinander. Sie durchdringen sich wechselseitig und konstituieren das Selbst insofern als eine „complex entity“119: Das Selbstverständnis formiert sich im Horizont dreier Ebenen sowie mehrerer und divergenter Rollen, ‚Identitäten‘ und Orientierungen. Walzer zufolge vermag sich das moderne Subjekt damit nur noch als innerlich ausdifferenzierte Größe wahrzunehmen; es erfahre sich nicht als Monolith, sondern als durch plurale interne Relationen bestimmt, die spannungsvoll aufeinander bezogen sind und sein Selbstverhältnis in Dynamik versetzen. Walzer spricht von einem „divided self“120. Im Licht dieser Beschreibung sucht Walzer das Phänomen der Selbstkritik zu erhellen. Dabei weist er zunächst zwei Erklärungsfiguren zurück. Im ‚psychoanalytischen‘ Modell gibt das ‚Über-Ich‘ und insofern eine soziokulturell bedingte Instanz das Subjekt der Kritik; Objekt der Kritik ist das ‚Es‘, also eine Art ‚natürliches‘ Selbst. Im ‚philosophischen‘ Modell erscheint dagegen nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Kritik als soziokulturell bedingte Größe; das Subjekt der Kritik ist das ‚wahre‘ Selbst, dem Einsicht in allgemein gültige Moralprinzipien eröffnet ist. Beide Modelle lehnt Walzer ab. Zu unterkomplex, einlinig und hierarchisch fassten sie das Selbstverhältnis einer Person.121 Um zu einer adäquateren Beschreibung vorzudringen, pluralisiert Walzer die Instanzen der Selbstkritik und bezieht sie reziprok aufeinander.122 Im Bild eines Zirkels
118 Der Identitätsbegriff ist hier evidenterweise enger veranschlagt als in den Erläuterungen unter A.1.4.3. 119 Walzer, Argument, 85. 120 Vgl. Walzer, Argument, 85. 121 Vgl. Walzer, Argument, 91–98. Walzer verweist etwa auf die Erfahrung stärker intuitiven Handelns. Von bisherigen Mustern abweichende oder zu Handlungen in anderen Lebenskontexten in Widerspruch stehende Akte verdanken sich nicht notwendig einer expliziten kritischen Reflexion, sondern vollziehen sich häufig spontan. Personen folgen dann sozusagen „critical instincts“. Außer Acht blieben ferner Erfahrungen innerer Unbestimmtheit. Solche Erfahrungen seien für ein divided self konstitutiv. Die Vielfalt und Verschiedenheit seiner Rollen, ‚Identitäten‘ und Orientierungen verhinderten eine einfache Hierarchisierung. Sie führen in prekäre Prozesse permanenter Umordnung und Restrukturierung. Zu ihnen gehören „moments of doubt and division when it is radically unclear which part is our best part, which roles, identities, or values are fundamental“ (a. a. O., 91f). 122 Vgl. Walzer, Argument, 96: „I am in fact assaulted by different critics making different claims on behalf of different and often inconsistent notions of a more perfect self. […] Perhaps I
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illustriert er diese Vorstellung: Die innere Ausdifferenzierung des Selbst stellt sich als ein Kreis von Selbstkritikern dar; sie bevölkern die Innenwelt des Subjekts und erheben ihre Stimme im Namen unterschiedlicher Erwartungen, Zugehörigkeiten, Verpflichtungen, Wünsche, Hoffnungen, Zielvorstellungen etc. Dieser Kreis ist das Selbst; es formiert sich als ein polyphoner, kritischer Diskurs.123 So betrachtet ist das Subjekt selbst kritisch verfasst. Sein Selbstverständnis baut sich nicht als harmonisch integrierte, wohlgefügte Einheit auf, sondern stellt sich als ein von diversen Spannungslinien durchsetzter Zusammenhang dar.124 (3) Walzers Darlegung der Struktur von Gesellschaft und Subjekt zielt darauf, interne Spannungslinien zu identifizieren. Auf Ebene der Gesellschaft indiziert er mögliche Divergenzen zwischen ihrer faktischen Organisation und ihrer normativen Infrastruktur. Analog verweist er auf Ebene des Individuums auf den potenziell konflikthaften Doppelcharakter subjektiven Selbstverstehens. Zudem schreibt die Diversität der Quellen der Selbstinterpretation den Deutungen und Entwürfen des Selbst Inkonsistenzen ein. Die Diversität dieser Quellen unterliegt dabei sozialen und kulturellen Konditionen. Die Pluralisierung der Rollen, ‚Identitäten‘ und Orientierungen setzt ein in sich differenziertes Setting voraus; die subjektive Selbsterfahrung einer ‚inneren‘ Teilung ist Reflex der Komplexität eines ‚äußeren‘ soziokulturellen should picture my self-critics as critics not only of me but of one another. I am an object of attack and also an observer of the critical wars.“ 123 Das Selbst ist „a confabulation of critics“ (vgl. Ders., Argument, 98). Vgl. dazu aus rhetorischer Perspektive auch Oesterreich, Selbsterfindung, 91–95. 124 Walzers Beschreibung nähert sich damit Motiven an, die innerhalb des postmodernen Subjektivitätsdiskurses mit Nachdruck zur Geltung gebracht wurden. Wie unter A.1.4.3 gesehen ist eine vollständige Preisgabe des Gedankens der Kontinuität wie des Gedankens der Kohärenz konzeptionell freilich kaum sinnvoll auszusagen. Zwei unterschiedliche Zustände können nur insofern als Veränderung beschrieben werden, als sie derselben Entität zukommen. Es bedarf einer Größe, über die sie in Verbindung gebracht werden können. Nur so sind sie als Transformationsphänomen überhaupt ansprechbar. Eine Radikalisierung der Vielgestaltigkeit führt in analoge Aporien. Das radikal multiple Selbst ist nicht durch eine Vielfalt von Rollenerwartungen, Identifikationshandlungen und Orientierungsbezügen bestimmt, sondern fragmentiert. Es zerspringt in Einzelaspekte, die ihrerseits selbstständige Einheiten bilden. Eine derartige Beschreibung mag womöglich zur Erhellung pathologischer Phänomene dienlich sein. Die durchschnittlichen Erfahrungen interner Pluralität werden dadurch eher überstrapaziert. Walzer scheint dies zu sehen. Zumindest deutet er an, dass er (1) unter der Teilung des Selbst nicht seine Zersplitterung verstanden wissen möchte: „The self is indeed divided, but it isn’t (except in pathological cases) utterly fragmented. […] Without a coherent self, an ego, a me, the point of self-criticism is […] lost“ (Ders., Argument 98). Ferner unterliegt das Selbst auch für ihn (2) einer gewissen Dauerhaftigkeit: „At its center, the self is what it is, ‚perdurable,‘ […] though its configuration changes over the course of its endurance“ (a. a. O., 100f). Insofern fasst Walzer das Selbst als den dauerhaften Zusammenhang verschieden inhaltlich bestimmter Rollen, ‚Identitäten‘ und Orientierungen; und gerade aufgrund dieser Kontinuität und Kohärenz vermögen sie als spannungsvolles und konfliktbehaftetes Netz erfahren werden.
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Strukturzusammenhangs.125 Walzer legt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aber nicht exklusiv in dieser Richtung an. Schon seine oben umrissene Fortentwicklung der Erwägungen von Marx und Gramsci deutet an, dass er dem Bedingungsgefälle auch einen umgekehrten Index verleihen kann. Er unterstellt, dass subjektive Selbstvergewisserungsbedürfnisse soziale Praktiken motivieren; die Suche nach subjektiv plausiblen Lebensentwürfen führt in intersubjektive Verständigungsprozesse. Diese Richtung aufnehmend rechnet er in seiner Erörterung des divided self dem Individuum die Fähigkeit zu, sich zu den soziokulturellen Einflüssen zu verhalten. Es vermag zwischen seinen die sozial und kulturell bestimmten Rollenerwartungen, Identifikationsobjekten und Orientierungsbezügen figurierenden internen Kritikern zu manövrieren.126 Mit dieser Reziprozitätsannahme kommt Walzer dem Struktur/Praxis-Prinzip von Taylor sehr nahe (vgl. B.2.2.1). Die soziokulturellen Strukturen eröffnen und prägen die Selbstinterpretationspraxis der Subjekte, ohne von ihnen einfach identisch internalisiert zu werden. In diesem Sinne begreift auch Walzer das Selbst konsequent als soziale Größe. Er setzt nicht bei einem aus seinen intersubjektiven Relationen herausgelösten Individuum an, sondern beschreibt das Innenverhältnis einer Person als komplex mit ihren Außenbeziehungen vermittelt. Ein ‚natürliches‘ oder ‚wahres‘ Selbst, das sich jenseits dieser Außenbeziehungen ausbilden könnte, existiert nicht. Erst in Bezug auf die sozial konstituierten Rollen-, Identifikations- und Orientierungsangebote versteht das Selbst, was es ist und was es sein möchte. Nimmt man diese Ausführungen ernst, ist deutlich, dass analog zur Ebene des Individuums auch auf Ebene der Gesellschaft Spannungslinien nicht nur zwischen ihrer faktischen Organisation und der in ihr zirkulierenden gemeinsamen Werte, intersubjektiv anerkannten Normen und geteilten Verständnisse verlaufen, sondern ebenso zwischen denselben. Reflektiert die plurale Struktur subjektiver Selbstverständnisse einen pluralen Vorrat an soziokulturellen Rollen-, Identifikations- und Orientierungsofferten, kann Walzer auch die kollektiven Werte, Normen und Verständnisse nicht einfach als einen in sich homogenen Komplex verstanden wissen. Zu fragen ist, ob dieser Gedanke geteilter und doch inhomogener Werte, Normen und Verständnisse nicht logisch inkonsistent ist? Wie eine genauere Analyse des Konzepts der shared understandings zeigt, ist dies nicht zwangsläufig der Fall.
125 Vgl. Walzer, Argument, 101. 126 Vgl. Walzer, Argument, 100. Begründet sieht Walzer diesen Spielraum in der Idee der Individualität, die ansonsten obsolet würde. Zum Interdependenzverhältnis zwischen ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Pluralität vgl. auch Schürmann, Kritik, 127; Seibert, Ethik, 285.
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Walzer zufolge liegt die soziale Welt den Subjekten nicht objektiv vor. Sie wird kognitiv erzeugt, ist Produkt interpretativer Konstruktionsvollzüge. Exemplarisch zeigt dies Walzers Gütertheorie, wie er sie den Ausführungen in Spheres of Justice voranstellt.127 Walzer bestimmt Güter128 als semantische Gebilde. Sie existieren nicht als bruta facta, sondern sind mit Bedeutungen durchsetzt. Diese sind nicht rein subjektiver Natur. Ersinnung („conception“) und Erzeugung („creation“) der Güter verdanken sich breiter und langfristiger sozialer Prozesse. Folglich haben ihre Bedeutungen den Charakter von „shared meanings“: Sie sind auf ein kollektives Verständnis bezogen, werden sozial konstruiert.129 In Objectivity and Social Meaning führt Walzer diesen Gedanken weiter aus. Er differenziert verschiedene Komplexitätsgrade der Sinnkonstruktionen. So ruhe etwa die Bedeutung ‚Tisch‘ auf rudimentären Konstruktionsprozessen auf. Die Bedeutung ‚Altar‘ dagegen sei weitaus vielschichtiger aufgebaut. Sie ist Teil eines dichten semantischen Systems. Zu nennen wären etwa folgende Komponenten: „socially meaningful occasions (holy days), spaces (churches), officials (priests and bishops), performances (religious services), texts (scriptures, prayers, homilies, catechisms), beliefs (theologies or cosmologies)“. Folglich ist die Bedeutung ‚Altar‘ nicht als Einzelentwurf zu begreifen, sondern „as one feature of a more complex whole, a cultural system or a way of life“.130 Mit dem Komplexitätsgrad der Bedeutung eines Gegenstandes korrespondieren zwei weitere Aspekte. Zum einen besitzen Semantiken stets gewisse normative Implikationen. So verlangt ein Altar – je nach Kontext – einen adäquaten Umgang (Ehrfurcht), die Anerkennung seiner exponierten Werthaftigkeit (Heiligkeit) oder ein bestimmtes Verteilungsreglement (Beschränkung der Zugänglichkeit auf eine spezifische Personengruppe). Für Walzer verhalten sich Stärke und Spezifik dieser Gebrauchs-, Wert- und Verteilungsnormen proportional zum Komplexitätsgrad der Bedeutung, aus der sie resultieren. Je höher der Komplexitätsgrad, umso kräftiger und dichter der normative Anspruch. Umgekehrt proportional zum Komplexitätsgrad einer Bedeutung verhält sich dagegen ihr Akzeptanzradius. Je vielschichtiger die Bedeutung eines Gegenstandes aufgebaut ist und umso stärker und spezifischer dadurch seine Normativität gerät, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mehrzahl von Personen der semantischen Bestimmung und den damit einhergehenden praktischen Konsequenzen subjektiv zustimmen. Komplexe Bedeutungen befördern Meinungsverschiedenheiten („disagreement“).131 Die Möglichkeit eines nicht harmonistischen Begriffs geteilter Verständnisse entscheidet sich nun an der Verhältnisbestimmung zwischen diesen disagreements und den shared meanings. Während für Dworkin etwa beide auf ein und derselben Ebene liegen und sich insofern ausschließen,132 hat Walzer dieser Deutung widersprochen und seine Sicht 127 Vgl. Walzer, Spheres, 6–30. Zu Stellenwert und Interpretation von Walzers Gütertheorie vgl. Krause/Malowitz, Walzer, 66–74; Seibert, Ethik, 198–205; Haus, Philosophie, 228–239. 128 Walzer pflegt einen weiten Güterbegriff. Er ist bezogen nicht nur auf die Existenzweise des ‚Habens‘, sondern ebenso auf die Existenzweisen des ‚Seins‘ und ‚Tuns‘. So ist die Sphäre der Güter nicht allein durch stärker materielle Größen wie Nahrung oder Unterkunft bestimmt. Zu ihr gehören ebenso identitäts- und praxisrelevante Aspekte wie Zugehörigkeit, Status, Wissen, Liebe, Anerkennung, Arbeit und Freizeit (vgl. Walzer, Spheres, 3). 129 Vgl. Walzer, Spheres, 6ff; Walzer, Argument, 28. 130 Vgl. Walzer, Objectivity, 42. 131 Vgl. Walzer, Objectivity, 40f; Walzer, Argument, 6. 132 Vgl. Dworkin, To Each His Own, 3.
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präzisierend die Differenzierung zwischen Dissensen innerhalb einer kulturellen Tradition und zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen angemahnt.133 Die Meinungsverschiedenheiten erster Art liegen dabei auf einer anderen Ebene als das, was Walzer mit dem Begriff der shared understandings zu bezeichnen sucht. Sie beziehen sich auf abweichende Ausdeutungen der geteilten Verständnisse und ihrer normativen Implikationen, auf disparate Ansichten bezüglich ihrer Anwendung in konkreten Einzelsituationen oder auf differente Auffassungen ihr Verhältnis zu anderen Bedeutungen betreffend. Sie liegen gewissermaßen auf einer Interpretationsebene zweiter Ordnung und werden insofern durch die shared understandings (erster Ordnung) erst ermöglicht: „This kind of disagreement displays rather than denies the existence of shared meanings“134. Demgegenüber erschweren Dissense der zweiten Art gerade qualifizierte Auseinandersetzungen. Fehlt ein gemeinsamer Sinnhorizont oder gerät dieser nur sehr dünn, wird Dissensen der ersten Art der Boden entzogen. Gemeinsame Bezugspunkte, welche die Konflikthaftigkeit und Strittigkeit einer Frage erst zu konstituieren vermögen, müssten hier durch einen langwierigen und aufwendigen hermeneutischen Prozess zunächst herausgearbeitet werden. Insofern besitzt die Notwendigkeit von geteilten Verständnissen im Sinne eines gemeinsamen semantischen Universums für die Entstehung von disagreements einen ähnlichen Charakter wie auf Ebene des Subjekts die Notwendigkeit einer gewissen Einheit für die Erfahrung von konfliktären Rollen-, Identitäts- und Orientierungskonstellationen.135
2.3.2 Das Argument der Interpretativität Bisher wurde Walzers Versuch nachgezeichnet, das Transzendierungspotenzial seines Ansatzes über den Gegenstand der Kritik zu begründen. Ergänzend argumentiert Walzer über den Modus der kritischen Praxis selbst. Ihr Kernvollzug besteht in der Interpretation. Der konzeptionellen Zentralstellung des Motivs der Deutung folgt Walzer nicht mit einer entsprechenden systematischen Durcharbeitung desselben. Folglich müssen die Struktur der Interpretation sowie ihre Gütekriterien aus verstreuten Voten erhoben werden. (1) Mit der Emphase des interpretativen Moments lässt sich Walzer in der hermeneutischen Tradition der Sozialphilosophie und Politiktheorie verorten. Wie gezeigt begreift er die soziale und kulturelle Welt nicht als Kumulation 133 Vgl. Walzer/Dworkin, Exchange. 134 Walzer/Dworkin, Exchange; Walzer, Critique, 191: „It is not the case, obviously, that people agree on this or that policy, but they must agree at a deeper level on the rough contours of a way of life and a view of the world. Some things they must understand together or else their disagreements will be incoherent and their arguments impossible.“ Vgl. dazu Warnke, Interpretation, 205–210; Dies., Justice, 15–20 sowie Bäder-Butschle, Interpretation, 67–71; Haus, Philosophie, 41–49; Seibert, Ethik, 260–264. 135 Mit dieser Skizzierung der shared understandings kommt Walzer Taylors Begriff der „intersubjective meanings“ und „common meanings“ sehr nahe. Auch diese konstituieren eine Matrix überindividueller Sinnbezüge, die Auseinandersetzung, Dissens und Spaltung nicht ausschließen, sondern erst ermöglichen (vgl. Taylor, Interpretation, 28–40).
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bloßer Tatsachen. Sie besteht wesentlich in Bedeutungen. Die Sozial- und Kulturwissenschaften sind damit auf eine Wirklichkeit bezogen, die in sich immer schon interpretiert ist. Was sie zu verstehen suchen, „is itself an interpretation; a self-interpretation which is embedded in a stream of action“, wie Taylor es ausdrückt.136 Eine Pointe des Walzerschen Ansatzes besteht darin, dass die Praxis der Kritik ein konstitutiver Bestandteil dieser permanenten Interpretationsprozesse darstellt. Walzer geht nicht von einem genuin kritischen Akt aus, an dem dann auch interpretative Aspekte erschlossen werden können. Er setzt bei der allgemeinen Interpretationstätigkeit an, vermittels derer die Akteure an ihrer sozialen und kulturellen Welt teilhaben, und weist an dieser kritische Implikationen auf. Kritik ist somit eine irreduzible Ingredienz der umfassenderen Aktivität sozialer Interpretation.137 Dieser haftet ihr „kritisches Potential weder zufällig an, noch muss es als ein zweites Moment dem eigentlichen Interpretationsvollzug hinzugefügt werden, sondern es ist ihr selbst immanent: Die Interpretation vollzieht sich als eine aus sich selbst heraus kritische Bewegung.“138
Wie gesehen führt Walzer die kritische Kraft der Interpretation auf ihren kreatorischen Charakter zurück. Deutung ist ein produktiver Akt: Sie bekommt ihren Gegenstand nicht im Modus der Abbildung zu fassen, sondern muss ihn in einem anspruchsvollen Sinne lesen, übersetzen, auslegen, erläutern und verdeutlichen.139 Epistemologisch verweist der Interpretationsbegriff damit auf die Unmöglichkeit unmittelbarer Erkenntnis. Ein Gegenstand imponiert sich nicht einem passiven Erkenntnissubjekt, sondern wird durch dessen mentale Aktivität bestimmt. Konkret denkt Walzer an die dem Subjekt eigenen epistemische Fähigkeiten, seine spezifischen Erkenntnisinteressen sowie die begrifflichen Schemata, mit denen es operiert.140 Insofern trägt das erkennende Subjekt not136 Vgl. Taylor, Interpretation, 26; dazu auch Rosa, Weltbeziehungen, 104. 137 Walzer kann sie auch als Nebenprodukt derselben bezeichnen: „Social criticism must be understood as one of the more important by-products of a larger activity – let us call it the activity of cultural elaboration and affirmation“ (Ders., Interpretation, 40). Mit Emil Angehrn formuliert, geht es Walzer also um das „kritische[-] Potential im Hermeneutischen, das heißt in unserem Umgang mit Sinn, unserem Verstehen der Welt und unserer selbst“; freilich arbeitet Walzer an vielen Stellen ebenso an der „komplementäre[n] Fragerichtung […], die gegenläufig zum kritischen Potential der Hermeneutik nach der hermeneutischen Dimension der Kritik, der Angewiesenheit der Kritik auf Hermeneutik fragt“ (vgl. Ders., Hermeneutik, 321). Entsprechend, wenn auch anders ansetzend, hat Celikates die Gesellschaftskritik als Integral gesellschaftlicher Selbstverständigung zu explizieren versucht (vgl. Ders., Kritik, 250). 138 Seibert, Ethik, 265. 139 Vgl. Walzer, Interpretation, 29. 140 Vgl. Walzer, Objectivity, 38f.
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wendig eine orginell verfasste Perspektive in seine Interpretation ein, die bei hinreichender Pointierung das Verständnis anderer auch wahrnehmbar zu transzendieren vermag und kritisch herausfordert.141 (2) Wie die Frage nach der Struktur des interpretativen Aktes wird auch das kriteriologische Problem der Interpretation von Walzer nur in rudimentärer Weise behandelt. Insbesondere die Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit einer kritischen Deutung bleibt im Hintergrund. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Positionierung des Kritikers und die Erörterung seiner Relationen zu den Gegenständen und Adressaten. Diese Zurückhaltung in Fragen des Wahrheitsbezugs der Kritik dürfte aber nicht nur seinem Frageinteresse geschuldet sein. Wiederholt begründet er sie unter Verweis auf eine vermeintliche unterschwellige Tendenz solcher Klärungsversuche: Oftmals liefen sie auf die Etablierung einer letztgültigen Entscheidungsinstanz hinaus, die den empirischen Interpretationskonflikten enthoben sei und aus einer solchen deutungsunabhängigen Warte „once and for all“142 über die Richtigkeit der interpretativen Ansprüche bestimmen solle. Demgegenüber plädiert Walzer für die Unabschließbarkeit des Interpretationsprozesses. Zumindest dürfe die Kriteriendebatte nicht so geführt werden, als ob die Deutungskontroversen zu einem prinzipiellen Abschluss gebracht werden könnten, ist den sozialen Akteuren unter endlichen Bedingungen eine „final and definitive interpretation“143 doch unerschwinglich. Freilich muss lebensweltlich vielfach über Deutungsansprüche entschieden werden. Da wir zum Handeln herausgefordert sind, sind Urteile zu fällen, die den Interpretationsprozess zwar nicht grundsätzlich, aber doch auf Zeit zu einem Ende führen.144 Um die Möglichkeit solcher Urteile sinnvoll voraussetzen zu können, muss auch Walzer zwischen stärkeren und schwächeren Interpretationen differenzieren. Er deutet folgende Gütekriterien an.145 Den ersten Maßstab gibt das Interpretandum – also eine soziale Praxis oder Institution, in ihnen verkörperte oder diskursivierte Selbstbilder, lebensweltliche Erfahrungen etc. Bei genauerer Betrachtung kann Walzer dabei drei Aspekte des Gegenstandsbezugs einer Interpretation unterscheiden. Zunächst besitzt eine gute Interpretation Darstellungskraft. Sie verschafft ihrem Gegenstand Präsenz. Wie gesehen leitet Walzer daraus eine auf Konkretion zielende Deskriptions141 Vgl. Seibert, Ethik, 265: „Der interpretierenden Haltung ist also immer auch ein kreativer Impuls inne, von dem ausgehend sich eine bestimmte Deutung des Bestehenden so einstellt, dass sie ihre kritischen Aspekte gerade durch die eigene Deutungsbestimmtheit bezieht.“ Vgl. dazu auch Buchstein/Schmalz-Bruns, Gerechtigkeit, 385; Krause/Malowitz, Walzer, 122. 142 Walzer, Interpretation, 50. Vgl. dazu auch a. a. O., 31f.88; Ders./Dworkin, Exchange. 143 Walzer/Dworkin, Exchange. 144 Walzer, Interpretation, 49: „It has […] temporary stopping points, moments of judgement.“ Vgl. auch Ders./Dworkin, Exchange. 145 Vgl. zum Folgenden auch Haus, Philosophie, 58–60; Seibert, Ethik, 277–281; Sussmann, Introduction, 9f; Warnke, Interpretation, 210–217; Dies., Justice, 20–31.
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praxis ab. Gegenwärtig wird ein Gegenstand im Bewusstsein der Adressaten durch eine dichte Beschreibung, die ihn in der Spezifik seiner Bezügen zu explizieren versteht.146 Sodann eignet einer guten Interpretation Präzisionsstärke. Sie bringt ihren Gegenstand nicht allein in plastischer, sondern ebenso in differenzierter Weise zu Gesicht. Wie schon deutlich gemacht wurde, schreibt Walzer der Praxis sozialer Interpretation daher einen empirischen, durch einen ethnographischen Sinn ausgezeichneten Zug ein. Zuletzt braucht eine gute Interpretation Erhellungsvermögen. Sie steht vor der Aufgabe, ihren Gegenstand in überzeugender Weise sinnhaft zu erschließen, ihrem Publikum einen „Zugewinn an Selbsttransparenz“ zu vermitteln.147 Was das in concreto heißt, gibt Walzer nicht an. Fest steht, dass sie ihren Gegenstand nicht nur exakt zu erheben und konkret zu präsentieren hat, sondern ihn auch hermeneutisch zugänglich machen muss. Dazu gehörte dann unter anderem, dass sie möglichst viele seiner Aspekte zu integrieren wüsste. Eine Interpretation gerät umso stärker, je konsistenter sie die diversen Teile und Facetten ihres Objekts in Beziehung zu bringen vermag. Das Integrationspostulat bezieht sich nicht nur auf die internen Momente des Gegenstandes, sondern ebenso auf seinen Kontext. Die Güte einer Deutung bemisst sich zweitens an ihrer Fähigkeit, Interpretationen auch anderer, mit ihrem Objekt relevant verbundener sozialer Entitäten in ihren eigenen Entwurf miteinzubeziehen. Umso stimmiger sich ihr Verhältnis zu akzeptierten Verständnissen anderer Institutionen, Praxen und Diskursen ausnehmen, desto plausibler erscheint ihr eigener Gehalt. Sofern Walzer „deep and inclusive accounts of our social life“148 einfordert und Deutungen bevorzugt, die mit anderen Verständnissen relevanter Werte kohärent dargestellt werden können149, spricht er das Kontextkriterium an.150 Teil des Kontextes sind drittens die Adressaten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse, muss es wenig überraschen, dass Walzer auch in der Kriterienfrage die Rolle der Rezipienten besonders hervorhebt. Er reflektiert die Praxis der Kritik durchweg als Kommunikationsereignis, womit seine Klärungsversuche den Hörerbezug immer schon notwendig zum Thema haben; sofern es ihm dabei ganz wesentlich um Fragen der Wirksamkeit zu tun ist, 146 Eine interpretierende Äußerung unterscheidet sich für Walzer von einer bloß feststellenden („a mere assertion“) durch ihre Spezifität: Sie rubriziert ihre Gegenstände nicht allein unter dünnen Terminologien, sondern arbeitet sie in ihren dichten lebensweltlichen Bezügen aus („reference and specificity“) (vgl. Ders., Interpretation, 93). 147 Vgl. Iser, Empörung, 41; Walzer, Interpretation, 30. 148 Walzer/Dworkin, Exchange. 149 Vgl. Walzer, Interpretation, 28. 150 Vgl. dazu Warnke, Interpretation, 210–213, hier 211: „[T]he adequacy of interpretation depends upon the extent to which it makes sense of a given meaning as part of a larger context so that it illuminates this context and is in turn directed by it.“
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gewinnt die Instanz des Publikums noch einmal eigens an Gewicht. Entsprechend bindet Walzer die Beurteilung einer Interpretation in letzter Instanz an den Adressatenkreis zurück: „The readers, I suppose, are the effective authority: we hold up our interpretations for their approval.“151 Akzeptabilität wird somit zu einem zentralen Maßstab der Interpretation. Georgia Warnke erkennt darin eine Art pragmatische Wendung der Frage um die Richtigkeit einer Deutung: „The relevant question is not whether he presents the only possible interpretation of our social meaning, but whether he offers one that we would like to adopt. It is arguable that the relevant criteria here are pragmatic: How well does a specific interpretation cohere with other values, norms, and self-interpretations we hold? How well does it suit our conception of what we are and would like to be? Certainly we can have debates about this, but they might prove more fruitful than debates over which interpretation social meaning is ‚objectively‘ right.“152
Dieser pragmatische Zug wird insofern bestätigt, als Walzer im Blick auf das Subjekt der intendierten Zustimmung nicht an den ideellen Sprecher einer abstrakt konzipierten universalen Öffentlichkeit denkt oder das professionell gebildete Mitglied eines Expertengremiums, die den akzeptierten Sachverhalten die Autorität eines rationalen Verfahrens bzw. einer profunden Expertise verleihen könnten. Walzer steht vielmehr der soziale Alltagsakteur – das „konkrete Subjekt“ – vor Augen.153 Seine Auffassung von der Leserschaft einer kritischen Deutung präzisierend notiert er: 151 Walzer, Interpretation, 30. 152 Warnke, Interpretation, 217. Im Horizont seines psychotherapeutisch orientierten Zugangs zur Praxis der Kritik formuliert Küchenhoff ähnlich: „Jede Deutung ist ein Deutungsangebot, das nicht auf Wahrheit zielt, sondern auf die Erweiterung der Selbstinterpretation; ihre Richtigkeit ermisst sich daran, ob sie ein Nachdenken anstößt […]. Aus der Frage nach der Wahrheit wird eine Frage nach der Verwertbarkeit der Deutung für den eigenen identitätskritischen Prozess des Analysanden, also ein pragmatisches Kriterium“ (Ders., Mitspieler, 315). Zu klären wäre hier freilich, was unter ‚Wahrheit‘ genauerhin verstanden sein soll; Küchenhoff scheint hier ebenfalls an eine objektiv feststellbare Gültigkeit zu denken. 153 Gert Uedings und Bernd Steinbrinks Rede vom ‚konkreten Subjekt‘ kann als Kommentar zu den folgenden Überlegungen Walzers aus A Critique of Philosophical Conversation gelesen werden: „Dem Menschen der sokratischen Belehrsamkeit oder (mit Hegel zu sprechen) ‚Verstandesallgemeinheit‘ setzt die Rhetorik seit ihrem Auftreten im Griechenland des 5. Jahrhunderts das konkrete Subjekt entgegen, das von seinen Gewohnheiten, Überzeugungen, Stimmungen und Affekten nicht zu trennen ist (als gleichsam gereinigte Fassung), d. h. immer schon voreingenommen ist. Die Rhetorik gewinnt daraus zwei Klassen von Überzeugungsgründen, die Aristoteles als ethos und pathos systematisiert hat. Das ist die anthropologische Seite der Rhetorik, ihr entspricht eine handlungstheoretische Einsicht, die von der konkreten Situation ausgeht, nicht von einer ideal oder rational abstrakten Problemlage. Richtige und kluge Entscheidungen entstehen also nicht durch abstrakt-rationalistische Erörterung, sondern dadurch, daß die strittige Frage der Konkurrenz oder dem Streit der Meinungen ausgesetzt wird. Dabei bilden Logos, Ethos und Pathos die drei Dimensionen, in deren Lichte die Frage geprüft, bewertet und entschieden wird – ein Ver-
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„I mean readers in the widest sense, not only interpreters, professionals, and adepts of one sort or another, members of what has been called the interpretative community. These people, though perhaps the most stringent readers, are only an intermediate audience. The interpretation of a moral culture is aimed at all the men and women who participate in that culture – the members of what we might call a community of experience.“154
Walzer platziert die Erarbeitung, Rezeption und Beurteilung einer Deutung in der Sphäre des von ihm so genannten „real talk“155. Damit sucht er die empirischen Kommunikationen konkreter Öffentlichkeiten aufzurufen, die dem Einfluss einer Vielzahl divergenter Variablen unterstehen. Sie sind bestimmt durch spezifische Interessen, affektive Lagen, ungleiche Informationsverteilungen, Prestige- und Imagefragen, situative Handlungszwänge etc. Die in der Sphäre des real talk situierten Zustimmungen und Zurückweisungen einer Interpretation basieren für Walzer demzufolge nicht exklusiv auf der Triftigkeit der vorgebrachten Sachargumente. Sie werden immer schon mitbestimmt durch ein Bündel weiterer Faktoren. Vor diesem Hintergrund wird auch ein viertes Kriterium guter Interpretationen verständlich: der καιρός oder die „Rechtzeitigkeit“.156 Sobald davon ausgegangen wird, dass Akzeptanzprozesse nicht ausschließlich von logisch konsistenten Schlüssen und sachlich korrekten Beschreibungen abhängen, gerät die Situationalität einer kritischen Deutung in den Blick. Um die Zustimmungspotenziale seiner Kritik einzuschätzen, muss ein Kritiker das komplex bestimmte Setting, aus dem heraus er seine Interpretationsofferte entwirft und in das hinein er sie adressiert, mitbeachten. So verstanden ist ein Kritiker immer auch als Hermeneut der aktuellen Lagen, Umstände und Tendenzen zu begreifen. Er hat nicht nur grundlegende Sozialpraktiken und institutionelle Arrangements, explizit artikulierte Verständnisse oder praktische Missstände zu interpretieren; er muss auch die situativen Konstellationen seiner kritischen Praxis auslegen.
2.3.3 Zwei Präzisierungen Zum Abschluss soll die Rekonstruktion der Walzerschen Reflexion auf die Transzendierungspotenziale eines connected criticism zweifach präzisiert werden. Dazu ist zunächst ein Problem zu eruieren, das unter anderem Matthias Iser fahren, das zu sehr viel glaubhafteren Ergebnissen kommt als die streng rationale Argumentation allein. Auch dies übrigens ein Grund für das schon von Hannah Arendt angesprochenen Mißtrauen gegen alles bloße Expertenwissen, dem sich die Betroffenen dann oftmals mit fassungsloser Entgeisterung konfrontiert sehen“ (Dies., Grundriß, 9). 154 Walzers, Interpretation, 30, Anm. 21. 155 Vgl. Walzer, Critique, passim. 156 Vgl. Walzer, Mut, passim.
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namhaft gemacht hat und das dazu geeignet ist, den graduellen Aspekt transformativer Praxis zu umreißen. Sodann soll der Blick nochmals auf die Inkohärenzunterstellung Walzers fallen, um diesbezüglich einen systematischeren Zugriff zu erlangen. (1) Wie dargelegt kreist Walzer zwei basale Optionen kritischer Praxis ein. Eine Kritikerin vermag bestehende Divergenzen aufzudecken; sie kann sie im Modus eines Reframings aber auch allererst erzeugen. Mit Recht hat Iser darauf hingewiesen, dass Walzer diese beiden Möglichkeiten nicht hinreichend differenziert.157 Für Iser besteht ihr Unterschied im Charakter der Deutung sowie im Grad der Transzendierung. Im Folgenden ist zu zeigen, dass allein das zweite Merkmal fähig ist, die beiden Formen kritischer Praxis voneinander abzuheben, da sich sowohl die ‚Aufdeckung‘ als auch die ‚Erzeugung‘ von Divergenzen im Modus der Interpretation vollziehen. Iser zufolge sei mit der ersten Form kritischer Praxis „die Sphäre der Interpretation noch gar nicht betreten“; sie müsse „erst noch zu einer ‚interpretativen‘ werden.“158 In der Tat scheint Walzers Terminologie an manchen Stellen diesem Verständnis Vorschub zu leisten – so etwa wenn er die Erfassung des status quo mit der Tätigkeit eines Photographen illustriert, der Bestehendes lediglich abbilde.159 Freilich schreibt Walzer schon in diesem Zusammenhang der kritischen Bewegung einen interpretativen Zug ein, dürfe sie doch bei einem bloßen Insuffizienzaufweis nicht stehen bleiben, sondern müsse simultan auch die kontrafaktischen Hoffnungen und Ideale deuten. Insofern besitzt schon die erste Form kritischer Praxis Interpretationscharakter.160 Erhärtet wird diese Sicht dadurch, dass Walzer an anderen Stellen einen deutungsfreien Zugriff auf Welt überhaupt explizit negieren kann. In Interpretation and Social Criticism hält er fest, dass sich auch die defizitäre Wirklichkeit nicht unmittelbar erschließe, sondern dem Kritiker erst im Modus der Interpretation zugänglich werde161 und in Objectivity and Social Meaning bezieht er sich, wie gesehen, affirmativ auf stärker konstruktivistische Epistemologien, die nicht perspektivisch verfasste Wirklichkeitszugänge ausschließen. Vor diesem
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Vgl. Iser, Empörung, 46f. Vgl. Iser, Empörung, 46. Vgl. Walzer, Company, 231. So auch Haus, Philosophie, 52: „Das Vorhalten des Spiegels ist ein interpretatorischer Akt, weil nicht einfach nur der ‚ideologische Schleier‘ weggerissen wird, sondern die gesellschaftlichen Ideale, deren Verwirklichung in Frage gestellt wird, erst einmal gedeutet werden müssen“ (Hervorhebung i. Orig.). 161 Vgl. exemplarisch Walzer, Interpretation, 43: „He [sc. der Kritiker] shows the rulers the idealized pictures their artists have painted and then the lived reality of power and oppression. Or, better, he interprets the pictures and the reality, for neither one is straightforwardly revealed.“
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Hintergrund entfällt der Deutungscharakter als Differenzkriterium zwischen ‚Erzeugung‘ und ‚Aufdeckung‘; beide sind interpretative Akte.162 Sehr plausibel ist dagegen Isers Hinweis auf den heterogenen Distanzierungsgrad, der beiden Formen kritischer Interpretation zu eigen ist. Sie unterscheiden sich durch ihre je spezifische Organisation der Relation von Immanenz und Transzendenz. Ivo Bäder-Butschle hat bei Walzer genauerhin drei Interpretationstypen identifiziert, bei denen sich dieses Verhältnis jeweils anders darstellt.163 Den ersten Typus bezeichnet er als ‚konventionelle‘ Interpretation. Er entspricht der ‚Aufdeckung‘ bestehender Spannungen. Der Immanenzaspekt ist hier verhältnismäßig stark ausgeprägt. Der Kritiker rekurriert auf zentrale Elemente des Selbstverständnisses seiner Adressaten und legt sie in der Spur eingespielter und unstrittiger Deutungsmuster aus. Das innovatorische Moment wird lediglich dadurch realisiert, dass diese Elemente auf spezifische Realitätszustände bezogen werden; der Kritiker assoziiert konkrete Situationen mit den Orientierungen seiner Adressaten und deutet sie insofern als ‚Anwendungsfälle‘ derselben. Freilich darf nicht übersehen werden, dass die Herstellung von Applikationsbeziehungen hermeneutische Prozesse impliziert (vgl. B.2.2.2). Der Bezug einer Norm auf einen konkreten Fall bestimmt ihren Sinn mit. Insofern setzt auch der ‚konventionelle‘ Deutungstyp die Bedeutungssysteme seiner Adressaten nicht einfach voraus, sondern arbeitet an ihrer Bestimmung mit.164 Vollzieht sich diese Arbeit hier eher indirekt oder implizit in Form von applikativen Akten, fällt sie beim zweiten Typus direkter aus. Bäder-Butschle nennt ihn ‚umstrittene‘ Interpretation. Der Kritiker stellt den Sinn eines zentralen Elementes des Selbstverständnisses der Adressaten infrage und schlägt eine Neubestimmung vor. Damit erhöht sich der Transzendierungsgrad seiner In162 Im Kontext der Ideologiekritik geht auch Rahel Jaeggi auf die Frage des Wirklichkeitszugangs kritischer Praxis ein. Dabei plädiert sie dafür, der ‚Aufdeckung‘ bestehender Widersprüche eine „‚konstruktivistisch-performative‘ Wende“ zu geben. Damit soll einerseits dem Phänomen Rechnung getragen werden, dass sich in unserer Wahrnehmung Inkonsistenzen oftmals „irgendwie ‚melden‘“ und nicht „frei heraus“ konstruierbar sind. Andererseits dürften sie aber nicht kurzschlüssig einer „interpretationsunabhängig[en]“ Sphäre zugeschrieben werden. Sie liegen nicht losgelöst „von Interpretationen, Selbstverständigungsprozessen und den von diesen inspirierten Handlungsketten und -verkettungen“ vor und können somit auch nicht einfach „‚entdeckt‘“ werden. Entsprechend gibt kritische Praxis immer schon ein Miteinander von ‚Aufdeckung‘ und ‚Erzeugung‘. Sie wird „Probleme und Widersprüche immer gleichzeitig analysieren und hervorbringen“. Im Licht einer konstruktivistisch-performativen Betrachtungsweise sind die Übergänge hier fließend und vollziehen sich konsequent im Rahmen der Interpretation (vgl. Dies., Ideologiekritik, 290– 293). 163 Vgl. zum Folgenden Bäder-Butschle, Interpretation, 72–83. 164 Vgl. dazu auch Jaeggi, Institution, 543, die den kreativ-modifikatorischen Zug applikativer Akte hervorkehrt.
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terpretation. Indem er sein Verständnis des Elementes jedoch durch einen Rekurs auf andere von seinen Adressaten akzeptierten Vorstellungen zu legitimieren versucht und insofern den Anspruch erhebt, durch seine Neubestimmung deren Bedeutungssystem in einen konsistenteren Gesamtzusammenhang gebracht zu haben, wird der Immanenzaspekt seiner Deutung nicht getilgt. Für Bäder-Butschle finden wir in der umstrittenen Interpretation vielmehr „ein mehr oder weniger ausgeglichenes Ineinander von allgemein anerkannten und individuell verfochtenen Werten.“165 Der dritte Typus ist die ‚radikale‘ Interpretation. Hier wird nicht nur ein unstrittiges Element des Selbstverständnisses der Adressaten auf eine konkrete Situation hin ausgelegt oder seine Bedeutung im Horizont anderer Überzeugungen und lebenspraktischer Fragen innovativ umgedeutet. Es steht der größere Zusammenhang des Selbstverständnisses selbst zur Debatte. Der Kritiker fokussiert einzelne Elemente des Selbstverständnisses seiner Adressaten und arbeitet deren inhaltliche Bedeutung und hierarchische Relevanz in einer Weise heraus, dass es mit den anderen Elementen nicht mehr hinreichend konsistent in Beziehung gesetzt werden kann und insofern tiefer greifende Restrukturierungen notwendig macht.166 Diese typologische Triade verweist auf den graduellen Charakter kritischer Interpretation. Es existieren „verschiedene Stufen der Kritik“, auf denen Immanenz und Transzendenz je unterschiedliche Konstellationen ausbilden.167 In praxi wird sich Kritik nur selten auf einer der Stufen bewegen, sondern im kommunikativen Spiel vielfältig zwischen ihnen changieren. Vor dem Hintergrund der psychotherapeutischen Gesprächssituation hat Joachim Küchenhoff
165 Bäder-Butschle, Interpretation, 82. Für Walzer spielen auch im Kontext dieses Deutungstyps lebensweltliche ‚Fakten‘ eine Rolle. Der Kritiker hat seine Interpretation nicht nur in einen konsistenten Zusammenhang mit anderen Semantiken, Werten und Normen seiner Adressaten zu bringen. Er hat sie zudem an ihrer konkreten situativ verfassten Lebenspraxis zu bewähren. Erhellt sie die Praxissituation, erweist sie sich als hinreichend orientierungskräftig, erschließt sie Handlungsoptionen etc.? 166 Zu Walzers Sicht auf die nicht allein ‚reformistischen‘, sondern ‚radikalen‘ resp. ‚revolutionären‘ Potenziale eines connected criticism vgl. bes. Ders., Argument, 41–47. Zur Differenz zwischen reformistischen und revolutionären Logiken der Veränderung vgl. auch Deines, Herkunft. Analog zu Walzer hält Deines fest, dass auch Praktiken, die nicht bereit sind, den Immanenzaspekt preiszugeben, und hier den Akzent setzen, keineswegs auf eine Modifikation der Zustände nur innerhalb eines unangetastet bleibenden und permanent mitreproduzierten Rahmens abonniert sind. Auch wenn sie diesen Rahmen nicht en bloc „gleichsam von außen“ zu transformieren vermögen, reichen ihre Effekte – wenigstens potenziell – doch an Komponenten desselben heran und erlauben ihn dadurch zu irritieren und umzustrukturieren. Ihr subversives Wirken gleicht damit Neuraths Schiff-Allegorie (vgl. A.1.4.3; vgl. Deines, Herkunft, 110.114.119). 167 Bäder-Butschle, Interpretation, 83. Entsprechend spricht Wesche, Reflexion, 204 von „unterschiedlichen Konstellationen zwischen Innen und Außen.“
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eine solch agile Auffassung des graduellen Charakters umrissen.168 ‚Immanenz‘ und ‚Transzendenz‘ bezeichnen für ihn Dynamiken. Die Praxis der Kritik sei bestimmt durch eine Doppelbewegung: die „Bewegung der Internalisierung“ und die „Bewegung der Externalisierung“. Insofern vollzieht sich die kritische Interpretation nicht in einem fixen Verhältnisgrad von Immanenz und Transzendenz. Sie erlaubt vielmehr, innerhalb ein und desselben Aktes dieses Verhältnis dynamisch zu variieren. Kritik verschränkt im Wortsinn rekursive und transgressive Dynamiken.169 (2) Die zweite Präzisierung betrifft die Spannungslinien, die Walzer auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene kenntlich zu machen sucht. Um sie stärker systematisch in den Blick zu bekommen, erweist sich ein Modellvorschlag von Hartmut Rosa als hilfreich.170 Rosa geht mit Walzer davon aus, dass die soziale Welt in Deutungsakten besteht: Sie konstituiere sich aus „Selbstinterpretationen“, aus einem Gewebe an Bedeutungen, das „diskursiv und durch kulturelle Praktiken erzeugt und reproduziert“171 wird, den sozialen wie subjektiven Vollzügen Sinn verleiht und unser Wirklichkeitsverständnis umfasst, also „wer wir als menschliche Wesen sind, was die Gesellschaft ist, auf welche Weise wir als Individuen in die Gesellschaft gestellt sind, aber auch einen je spezifischen Begriff von Wahrheit, Zeit und Ewigkeit sowie eine (und sei sie auch noch so vage) Konzeption des gelingenden Lebens.“172
Um diese Semantiken gezielt rekonstruieren zu können, umrandet Rosa vier Dimensionen. Selbstinterpretationen existieren in expliziten und impliziten sowie kollektiven und individuellen Formaten. Folglich lassen sich vier Grundtypen voneinander abheben: Der explizit-kollektive Typ repräsentiert artikulierte Selbstinterpretationen in Gestalt etwa von wissenschaftlichen Theorien,
168 Vgl. zum Folgenden Küchenhoff, Mitspieler, 316ff. 169 Davon geht auch Bäder-Butschle aus, wenn er die „Übergänge“ zwischen den drei Interpretationstypen „in der Praxis“ als „fließend“ unterstellt (vgl. Ders., Interpretation, 74). Entsprechend notiert Seibert, Ethik, 273f: „Insgesamt darf dieses Verhältnis zwischen Nähe und Distanz, das Walzer als ‚kritische Verbundenheit‘ bezeichnet, nicht so verstanden werden, als wäre damit ein Standpunkt bezeichnet, der, einmal eingenommen, zu einem fixen Ausgangspunkt aller Lagebeurteilungen dem Kritiker zur Disposition stünde. Mit dieser Verhältnisbestimmung versucht Walzer vielmehr eine Bewegung zu beschreiben, die sich keineswegs an einer Stelle fixieren lässt, sondern stets neu zu vollziehen ist. Die Rede von der ‚kritischen Verbundenheit‘ bezeichnet deshalb eine Aufgabe, die der Kritiker immerfort neu zu bewältigen hat und deren Lösung daher ständig in der Gefahr steht, die Spannung zwischen beiden Polen dadurch aufzulösen, dass entweder die kritische Distanz oder die gänzliche Hingabe an die Verhältnisse Oberhand gewinnt.“ 170 Vgl. zum Folgenden Rosa, Weltbeziehungen, 104–129. 171 Rosa, Paradigma, 158. 172 Rosa, Weltbeziehungen, 110.
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Rechtstexten oder Werken der Literatur; der explizit-individuelle Typ umfasst die von den sozialen Akteuren vertretenen Überzeugungen und ihre reflexiven Wirklichkeitsauffassungen; unter den implizit-kollektiven Typ fallen die in sozialen Praktiken und Institutionen verkörperten Realitätsauslegungen; der implizit-individuelle Typ bezieht sich schließlich auf die Gefühlswelten und Körperpraktiken der Einzelpersonen.173 Für Rosa stehen alle vier Typen in einem Verhältnis „wechselseitiger Interdependenz und partieller Autonomie“174. Dadurch entstehen zwischen ihnen potenziell Disharmonien, Konflikte und Divergenzen. Die soziale Welt gibt keine vollintegrierte Einheit; sie ist ein „komplexes, vielschichtiges, teilweise selbstwidersprüchliches Gewebe von miteinander verknüpften Selbstinterpretationen“.175 Im Schema von Rosa verlaufen die von Walzer postulierten Spannungslinien also zunächst zwischen den explizit-kollektiven, explizit-individuellen, implizit-kollektiven und implizit-individuellen Selbstinterpretationen. Wird ferner die von Walzer angedeutete und in den Überlegungen Jaeggis auf den Begriff gebrachte Doppelstruktur der Selbstinterpretation berücksichtigt, lässt sich dieses Modell möglicher Spannungslinien noch komplexer fassen. So können nicht nur zwischen den vier unterschiedlichen Sinngebungsformen Divergenzen auftreten. Sofern Selbstinterpretationen Deutungs- wie Entwurfsleistungen integrieren, sind sie zugleich auch in sich selbst konfliktträchtig. Sowohl in ihren expliziten und impliziten als auch in ihren kollektiven und individuellen Formen verknüpfen sie rekonstruktive Zugriffe auf die Sphäre des Bestehenden und kreative Ausgriffe auf die Sphäre des Wünschenswerten. Wie Walzer in seiner Figur des divided self aufzeigt, sind zuletzt die Deutungsaspekte und Entwurfsdimensionen wiederum ihrerseits tensional strukturiert. So könne gerade unter pluralisierten Bedingungen nicht einfach davon ausgegangen werden, dass Selbstinterpretationen einen durchweg homogenen Begriff des gesellschaftlichen Soseins oder eines erstrebenswerten Selbstideals ausbilden. Vielmehr sei auch hier mit Disharmonien, Konflikten und Divergenzen zu rechnen. Aus der Perspektive Walzers präsentiert sich die soziale Wirklichkeit damit als ein vielfach spannungsvoller Komplex (vgl. Abb. 2). Nicht das „geschlossene Kunstwerk der Wirklichkeit“ gibt den Ansatz seiner Hermeneutik, sondern eine „Welt der Brüche“.176 Dem immanent ansetzenden Kritiker eröffnet sie dadurch verschiedene Möglichkeiten, seinem Text durch interpretative Praktiken der 173 Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass Walzer im Zuge seiner Beschreibung der sozialen Wirklichkeit lediglich die drei ersten Typen adressiert. Für eine Zusammenfassung exemplarischer Belegstellen vgl. Rosa, Weltbeziehungen, 107f, Anm. 184–188. 174 Rosa, Weltbeziehungen, 115. 175 Vgl. Rosa, Weltbeziehungen, 110.112.119.121, hier 110. 176 Vgl. Reese-Schäfer, Grenzgötter, 367.
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‚Aufdeckung‘ oder ‚Erzeugung‘ Transzendierungen unterschiedlichen Grades einzuschreiben.
Abb. 2: Modell potenzieller Spannungslinien
2.4
Resümee: Kritische Praxis als komplexe Spiegelungskunst
Zum Abschluss des Reflexionsgangs soll der Blick erneut auf das Bild des Spiegels gerichtet werden, in das Walzer die Praxis der Kritik fasst, erlaubt es doch, den Grundzug seines Ansatzes nochmals auf den Punkt zu bringen. Das Vorhalten eines Spiegels erscheint prima facie als ein simpler Akt. Dass Walzer damit ein komplexes Geschehen illustriert wissen möchte, verdeutlichte der Hinweis auf die Doppelaufgabe, die der Spiegel simultan zu erfüllen hat: dem Betrachter ein Bild seiner realisierten Existenz zu vermitteln und seine darüber hinaus reichenden Aspirationen, Hoffnungen und Ideale zu artikulieren. Wurde diese Doppelaufgabe bis dato als ein Fingerzeig auf die Zweidimensionalität des Sichselbstverstehens gedeutet, bringt sie zugleich zwei Ansatzop-
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tionen transformativer Praxis zu Gesicht. Im Prinzip können Veränderungen von zwei Seiten her initiiert werden: vonseiten des als veränderungsbedürftig eingeschätzten status quo sowie vonseiten des als wünschenswert beurteilten status novus. Sowohl am ‚Ausgangspunkt‘ als auch am ‚Zielpunkt‘ des intendierten Wandels vermag die Kritikerin anzusetzen.177 So könnte man z. B. die Restrukturierung eines bestimmten Gottesbildes durch Aufweis seiner ‚Defizite‘ zu erreichen suchen – etwa indem die psychischen Belastungen expliziert werden, die aus einem mit Kontrolle und Sanktion assoziierten Gottesverständnisses resultieren. Die kritische Bewegung setzte hier negativ an. Eine Irritation des Gottesbildes könnte freilich auch durch Aufweis eines alternativen Gotteskonzepts versucht werden – etwa indem das Gleichnis vom verlorenen Sohn ausgelegt und die darin beschlossenen Möglichkeiten der Gottesrelation erschlossen werden. In diesem Fall verfährt Kritik positiv.178 Die Pointe des Walzerschen Zugangs besteht nun in der mit Nachdruck eingeforderten Immanenz der Artikulation sowohl des status quo als auch des status novus. Besonders deutlich wird dies im Blick auf Letzteren. Positiv verfahrende Kritik arbeitet nicht mit radikal innovativen und utopischen Semantiken; sie verbalisiert die empirischen Aspirationen, Hoffnungen und Ideale ihrer Adressaten. Unterstellt ist damit ein Bild des menschlichen Lebens, das sich ganz wesentlich im Horizont imaginierter Möglichkeiten vollzieht. Der Mensch lebt immer auch im Medium der Phantasie, durch die er sich normativ ausgezeichnete Zustände vermittelt, die über die angenommene aktuelle Lage hinausreichen. Mit Ernst Bloch gesprochen, ist er „nicht dicht“, sondern „wallt utopisch auf“.179 Diese virtuelle, antizipative Dimension hat Kritik ernst zu nehmen und ihre positiven Gegenbilder von den tatsächlichen Aspirationen, Hoffnungen und Idealen ihrer Adressaten her zu entwerfen. Gegenüber Darstellungen des status novus, die sich streng aus Quellen abseits der Selbstentwürfe des Auditoriums speisen, bleibt Walzer skeptisch.180
177 Vgl. dazu auch Kollmorgen u. a., Transformation, 11. 178 Zum Verhältnis von Positivität und Negativität als einer kritiktheoretischen Grundproblematik vgl. exemplarisch Jaeggi/Wesche, Einführung; Bittner, Kritik; ferner mein Diskussionspapier Stetter, Change, 382f. 179 Vgl. Bloch, Prinzip, 224f; analog Seel, Regeln, 258: „Die Vorstellung, dass das eigene Leben anders sein könnte, als es ist, ist eine wesentliche Bedingung der Bewusstheit dieses faktischen Lebens.“ Zur eminenten Rolle der Phantasie für unsere Selbstwahrnehmung als autonome Subjekte vgl. Bieri, Handwerk, 281–290; ferner Marcuse, Philosophie, 244ff. 180 Vgl. Walzer, Company, 231: „I don’t mean to exclude utopia from social criticism, only to stress that the hopes and ideals have an actual location – in our ‚souls,‘ in our everyday consciousness of the moral world.“ ‚Material‘ der utopischen Ausgestaltung der Kritik ist der dem Selbstverständnis der Adressatenschaft immanente „idealism“ (vgl. Ders., Argument, 42). Entsprechend argwöhnisch betrachtet Walzer durch religiöse Eschatologie, im ästhetischen Spiel oder aus theoretischer Konstruktion ersonnene Sphären des Ganz An-
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Ohne sich hier genauer zu verorten, bewegt sich Walzer damit in den Bahnen einer Konturierung des utopischen Denkens, das um dessen transformative Kraft weiß und seine Wandlungsfunktion herauskehrt, einen „bad utopianism“181, der den Kontakt mit den konkreten, lebensweltlich verorteten, sozusagen topischen Utopien seiner Rezipienten aufkündigt, allerdings zurückweist. Im Horizont des Utopiekonzepts lassen sich dann auch einige pragmatische Funktionen positiver Kritik genauer umreißen. So kann ein positives Gegenbild als Modell praktischer Verwirklichung fungieren. Je nach Auffassung des Modellcharakters gewinnt die Konstruktion des Neuen in dieser Funktion stark direktive Züge. Sie vermittelt dann konkrete blueprints für ein gelingendes Leben, ein angemessenes Verständnis des Selbst o. dgl. Diese Fallrichtung dürfte einer der Hauptgründe sein, weshalb nicht wenige Theoretiker gegenüber positiv verfahrender Kritik eine skeptische Haltung eingenommen haben. Sie fürchten, dass den Adressaten ein allzu dicht bestimmtes Lebensmodell paternalistisch vorgegeben wird.182 Ein positives Gegenbild kann sodann als ein Medium der Motivation betrachtet werden. In dieser Perspektive bleibt das genauere Verhältnis zwischen Modell und Realisation unwichtig. Der Fokus liegt allein auf dem Ansporn attraktiver counter stories. Ihnen wird ein „affective pull“ zugeschrieben, der ein bestimmtes Streben evoziert oder spezifische Wünsche erschließt, die unser Handeln orientieren.183 Positive Gegenbilder können ebenfalls als Medien der Reflexion verstanden werden. Die Begegnung mit überraschenden Ideen oder innovativen Szenarios bietet Anstoß, bisherige Ansichten zu überdenken.184 Schließlich vermag ein positives Gegenbild auch als ein Medium der Simulation aufgefasst zu werden. Die Aufgabe positiver Kritik wird dann primär unter ästhetischen Vorzeichen interpretiert. Die Beschreibung alternativer Zustände erscheint als fiktionales Gebilde, das ihren Rezipienten analog zu literarischen Größen Möglichkeiten eröffnet, sich mit anderen Seinsweisen experimentell zu identifizieren. Auf Zeit und auf
181
182 183 184
deren, die in ihren Bezügen zu den Lebensvollzügen der Perzipienten nicht mehr verständlich dargelegt werden können. Vgl. Cooke, Society, 160–188; Dies., Rationalität, 118f. Unter einem „schlechten Utopismus“ versteht Maeve Cooke einen kritischen Entwurf, bei dem die „Kluft zwischen der leitenden Vorstellung von der guten Gesellschaft und den tatsächlichen normativen Erwartungen [seiner] Adressaten so groß [ist], dass [seine] gesellschaftsverändernde Motivationskraft zu verschwinden droht“ (ebd.). Analog notiert Bloch, Prinzip, 226: „Es kann Einspruch gegen schlechte Utopien ergehen, das heißt gegen abstrakt ausschweifende, schlecht vermittelte, jedoch gerade die konkrete Utopie hat in der Prozeßwirklichkeit ein Korrespondierendes: das des vermittelten Novum“ (i. Orig. teils hervorgehoben). Cooke spricht in diesem Fall von einer finalistischen Auffassung positiver Kritik (vgl. Dies., Society, 162; Dies., Rationalität, 118). Vgl. dazu auch Ricœur, Ideologie, 147ff; Watzlawick u. a., Lösungen, 184ff. Vgl. Cooke, Society, 88; Dies., Rationalität, 119f; Jaeggi/Wesche, Einführung, 8. Vgl. etwa Wesche, Reflexion, 205ff, hier 206: „Das Außen kommt in der reflexiven Kritik als Alterität zur Geltung und besteht darin, das Wissen für einen anderen Blick zu öffnen. Alterität steht für die Andersheit oder das Neue einer Perspektive ein, die dennoch nicht außerhalb einer Gesamtheit von Überzeugungen steht, sondern zu diesem Ganzen gehört. Sie wirkt als Sprengkraft, Überzeugungen von innen heraus infrage zu stellen, etwa durch Darstellungsvariationen, die Blickwinkel verschieben und neue Zugänge eröffnen“ (i. Orig. teils hervorgehoben).
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Probe unterstellen sie sich imaginativ den Bedingungen einer möglichen Welt und vermögen so neue Realitätsbezüge zu simulieren.185
Alle Funktionen kommen letztlich darin überein, den „Bereich des Möglichen offen[zu]halten.“186 Um sicher zu stellen, dass dieser insofern ein für die Adressaten ‚wirklicher‘ Bereich darstellt, als er ihrer „Gegenwart auf die Sprünge helfen soll“ und damit vor deren Hintergrund verstehbar, relevant und womöglich auch „erreichbar“ bleibt,187 votiert Walzer dafür, ihn an die eigenen Utopien des Publikums anzuschließen. Dass diese im Spiegel der Kritik dabei nicht als Duplikate erscheinen, hat der Verweis auf sein interpretatives Wesen klar gemacht. Gemäß der Typendifferenzierung von Bäder-Butschle können sie – ebenso wie die Auffassungen über die aktuelle Lage, das Verständnis des status quo, die Selbstdeutungen – in unterschiedlichen Graden und Dynamiken transzendiert werden. So besehen stellt sich das Vorhalten des Spiegels als eine diffizile Aufgabe dar. Er muss so gestaltet sein, – dass der Betrachter sich darin in seinen Selbstdeutungen und Selbstentwürfen wiederzuerkennen vermag (Immanenz), – dass er sich in ihnen dabei zugleich in einem anderen oder neuen Sinn ansichtig werden kann (Transzendenz), – dass er bestimmte Momente seiner durch Deutung und Entwurf konstituierten Wirklichkeit als veränderungsbedürftig begreift (Negativität) – und dass ihm die Idee oder das Bild einer darüber hinausgehenden, wünschenswerten Existenzweise vor Augen steht (Positivität).
185 Vgl. dazu Cooke, Society, 118ff; Dies., Rationalität, 119. 186 Vgl. Ricœur, Ideologie, 149: Die „Utopie ist das, was den Erwartungshorizont daran hindert, mit dem Bereich der Erfahrung zu verschmelzen.“ Vgl. dazu auch Koselleck, Erfahrungsraum, passim. 187 Vgl. Seel, Regeln, 258.264. Seel bestimmt drei „Regeln für Utopisten“: Das utopische Narrativ müsse denkbar, nicht nur vorstellbar, erfüllbar, nicht nur wünschbar – das heißt: der präsentierte Zustand muss als Gegenstand unseres Wollens in Frage kommen können – und in einem rudimentären Sinne erreichbar sein, wobei das letzte Kriterium eher für politische Utopien gelte: „Je privater ein utopischer Gedanke, desto eher darf er alle Grenzen der Realisierbarkeit überschreiten.“ Auch ein solcher Gedanke, der jede Chance auf Umsetzung entbehrt, kann freilich die aktuellen „Möglichkeiten der Existenz bereichern.“ So schärft er etwa die Wahrnehmung für bestimmte Vorschattungen seiner selbst, hebt aus dem Strom des Erlebens bestimmte Ereignisse ab, die ansonsten, ohne ihn, unbemerkt, konturlos geblieben oder anders empfunden worden wären, mit ihm jedoch in einem spezifischen Sinn zu Bewusstsein kommen, eben als Vorschattung eines erträumten Unerreichbaren, die dann womöglich „für einen Augenblick“ auch so ausgelebt werden können, als ob dieses „für einen Augenblick“ da sei (vgl. a. a. O., 267).
Anschlussreflexionen
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Anschlussreflexionen
Die Rekonstruktion des Walzerschen Entwurfs hat diverse Problemaspekte veränderungsinteressierter Praxis kenntlich werden lassen und auf spezifische Weise erhellt. Im Folgenden sollen einige Pointen nochmals versammelt und auf die transformative Dimension der Predigt bezogen werden. Im Reflexionskontext der Kritiktheorie zeigt sich veränderungsinteressierte Praxis als eine doppelte Kunst. Als „Kunst, Abstand zu nehmen“188, zielt sie darauf, das Selbstverständnis ihrer Adressaten zu überschreiten. Will sie ihre Hörer transformativ anregen, muss sie ihnen einen ‚Zugewinn an Selbsttransparenz‘ ermöglichen, Neues in die Kommunikation einspielen, eine Sprache sprechen, die ihr aktuelles Befinden, vertraute Sichtweisen oder bestimmende Motive nicht einfach dupliert. Erst ein Vokabular, dass mich transzendiert, eröffnet Spielräume der Veränderung. Dieses Vokabular muss mich jedoch auch erreichen. Ich muss es mir zu eigen machen können. Als Kunst, Bezug zu nehmen, zielt veränderungsinteressierte Praxis auf Erfüllung dieser Bedingung. Mit Walzer kann sie dreifach konkretisiert werden: Um die Hörer zu erreichen, braucht es Diskurse, die intelligibel sind, als relevant empfunden und plausibel gewertet werden können. Damit macht er Anforderungen geltend, die bei Latour schon angeklungen und homiletikgeschichtlich prominent etwa bei Niebergall erörtert sind (vgl. A.1.3).189 Folglich bestehen transformative Praktiken in einer Doppelbewegung: Sie verschränken transgressive und rekursive Dynamiken, sind durch eine Dialektik von Immanenz und Transzendenz strukturiert. Martin Saar hat dieses Ineinander konzis auf den Punkt gebracht, wenn er notiert, dass ein subversiver Text an eine Leserschaft gerichtet ist, die sich „in einem ver-
188 Vgl. Saar, Kunst, passim (Hervorhebung M.S.). Zum Folgenden vgl. auch Stetter, Change, 380f. 189 In Niebergalls homiletischem Ansatz bildet sich der innere Zusammenhang zwischen einem Interesse an Wirkung und der Bewegung der Bezugnahme ganz grundsätzlich ab: Indem er seine predigttheoretische Reflexion auf die „zwei Voraussetzungen“ gründet, erstens die Frage der „Einwirkung“ zu fokussieren und zweitens eine „‚Homiletik von unten‘“, also „vom Standpunkt des Hörers aus“ zu betreiben, organsiert sich sein homiletisches Nachdenken von der inneren Verbindung von Immanenz und Effektivität her (vgl. Ders., Wie predigen, Bd. 2, 133). Dass er dabei die Wirksamkeit religiöser Rede im Sinne einer einfachen Stufung auf ihrer Interessantheit resp. Relevanz fußen lässt, die ihrerseits wiederum Verständlichkeit voraussetzt, muss im Licht neuerer Erkenntnisse gerade der Relevanztheorie als eine Überstrukturierung gelten. Ihnen zufolge steuern Relevanzzuschreibungen den Rezeptionsprozess sprachlicher Mitteilung von Grund auf und durchgängig. Insofern sollten auch die drei hier umrissenen Immanenzfunktionen nicht im Sinne eines Aufeinanders bzw. Nacheinanders interpretiert werden; sie greifen wechselseitig und komplex ineinander (vgl. Schütz, Problem; Sperber/Wilson, Relevance sowie Merle, Alltagsrelevanz, 188–207; Stetter, Relevanz).
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fremdenden Sinn wiedererkennen soll“190. Entsprechend greifen Wendungen und Konzepte, die Veränderung allein mit den Stichworten der Distanz, des Anderen, Neuen oder Fremden assoziieren, zu kurz. Der Transformationsbegriff würde halbiert.191 Zu ihm gehört ebenso konstitutiv der Aspekt der Nähe mit seiner Funktion, Verstehen zu sichern, Relevanzen hervorzurufen und Plausibilitäten zu stiften, um damit Aneignungsprozesse zu lancieren. Indem Walzer für ein Konzept argumentiert, das den Immanenzaspekt akzentuiert, eröffnet er eine Perspektive, in der Predigt auch dann in ihrem transformativen Potenzial nicht nur behauptet, sondern plausibilisiert werden kann, wenn sie im ‚Paradigma der Deutung‘ zu stehen kommt. Nicht trotz, sondern aufgrund ihres konsequenten Adressatenbezugs vermag sie Spielräume der Veränderung zu etablieren: Dass sie die situativ verfassten Erfahrungskontexte ihres Auditoriums nicht allein als Zielpunkt begreift, sondern als Ausgangspunkt und permanenter Gegenstandsbereich ihrer interpretativen Tätigkeit, disqualifiziert sie als Medium der Selbsterweiterung nicht; es setzt sie als solches ins Werk. Folgt man Walzer, hat Predigt dabei die ‚virtuelle Realität‘ bzw. ‚reale Virtualität‘ ihrer Hörer ernst zu nehmen. Ihr eignet bestenfalls ein Sinn für die lebensweltlich kursierenden Ideale und Werte, Aspirationen und Hoffnungen. Sie ‚entdeckt‘ ihre Hörer demnach nicht nur in dem, was sie sind, sondern auch in dem, was sie sein möchten, ‚erfindet‘ sie nicht aus der Distanz heraus, sondern von den topischen Utopien und immanenten Transzendenzen ihrer Lebenswelt her.192 Mithin wäre Predigt ganz wesentlich als ein Beitrag zur Arbeit am Selbstentwurf zu verstehen. Sie hätte den semantischen Überschuss in den Sprachen der Selbstverständigung aufzuspüren, zu artikulieren und zu reprojizieren.193 Als Deutungsinstrument präsentiert der ‚Spiegel‘ der Predigt dabei 190 Saar, Genealogie, 139 (Hervorhebung M.S.). 191 So auch Bormann, Zwischenräume, 83 im Blick auf Prozesse der Innovation. 192 Das Begriffspaar der „Entdeckung“ und „Erfindung“ gebraucht Grözinger, um die empirisch orientierte Erkundung der Hörer in ihren aktuellen Lebenssituationen von einer Beschreibungsperspektive abzuheben, die an den Hörern „mehr“ zu entdecken erlaubt, als „das, was gegenwärtig der Fall ist“ und sie in ihrer unterstellten Vorfindlichkeit zu transzendieren vermag. Mit der Bindung der Entdeckung an das ‚Faktische‘ und der Erfindung an ein darüber hinaus reichendes ‚Mehr‘ wird möglicherweise übersehen, dass die Hörer ihr aktuelles Sosein immer auch schon selbst überschreiten. Sie erfinden sich gewissermaßen selbst. Diese entdeckten Erfindungen hätte eine Predigt im Sinne Walzers aufzunehmen, zur Darstellung zu bringen und interpretativ fortzuentwickeln. Vgl. Grözinger, Homiletik, 101– 116, hier 109. 193 Auf die religiöse Valenz dieser Überschussphänomene und ihre homiletische Bedeutsamkeit hat, wie gesehen, Henning Luther verwiesen (vgl. A.1.1). Als Arbeit am Selbstentwurf kommt die religiöse Praxis auch in Nord, Realitäten zu stehen; vgl. dazu ferner Bieler/Gutmann, Rechtfertigung, 94–101; Engemann, Einführung, 244ff; Grözinger, Theologie, 32–37; Heimbrock, Feier, 190ff; Josuttis, Idealbilder; Lütze, Absicht, 267–290.
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durchaus ein Bild, in dem sich die Hörer auch in ihren Selbstentwürfen nicht nur einfach, sondern in einem verfremdeten Sinn wiederzuerkennen vermögen. Hält sich die Predigerin in ihrem subjektiven Weltzugang nicht heraus und steht zur Perspektivität ihrer Interpretation, vermittelt die Predigt nicht ein Abbild, sondern ein bestenfalls produktives ‚Zerrbild‘.194 Wie gesehen kann diese reinterpretative Fortentwicklung in ihrem Verfremdungsgrad variieren. Je nach Arrangement des Zusammenspiels rekursiver und transgressiver Dynamiken reicht das Spiegelbild über das Selbstbild der Adressaten hinaus. Walzer zufolge vermögen dabei allerdings auch radikalere Interpretationen keine Transformationen zu lancieren, die sich im Sinne eines Bruchs oder einer Ad-hoc-Revolution vollziehen. Sein Kritikkonzept lädt dazu ein, den Blick auf die moderaten, sukzessiven, partiellen, sublimen, leicht zu übersehenden Übergänge zu richten.195 Abseits der Sensationen der Veränderung soll der Raum zwischen den Extremen vermeintlich reiner Affirmation und vermeintlich reiner Transformation ausgeleuchtet werden. Tatsächlich zeigt sich im Licht der dialektischen Struktur veränderungsinteressierter Praxis das Verhältnis von Affirmation und Transformation eher als ein relationales Kontinuum, als dass es als krude Alternative in Erscheinung tritt. Dieser aufgefächerten Sicht auf den Begriff der Veränderung korrespondiert die Forderung, die Hörer in ihren Lebenskontexten differenziert wahrzunehmen und eine Beschreibungspraxis zu kultivieren, die der Komplexität der Wirklichkeit Rechnung trägt. Eine transformativ anregende Predigt beruhte nach Walzer auf einem subtilen Realitätssinn und realisierte sich technisch als Detaillierungskunst, die ihre Gegenstände genau und nuanciert zur Darstellung bringt.196 Dadurch verschafft sie sich die Möglichkeit, argumentativ zu verfahren. Erst ein differenzierter Blick, der die Selbstinterpretationen ihres Auditoriums nicht en bloc unter ein negatives Vorzeichen stellt, ist in der Lage, Meinungen, Annahmen, normative Erwartungen oder Wertungen einzukreisen, auf welche die herausfordernde Sicht argumentativ zurückgeführt werden kann. In der Tat stehen Walzer transformative Praktiken ganz wesentlich als argumentative Praktiken vor Augen. Darin entspricht er der für die Kritiktheorie generell 194 Im Zusammenhang ihres im Motiv der Torheit fundierten Homiletikentwurfs verwenden auch Campbell und Cilliers die Spiegelmetapher zur Erläuterung von Praktiken, die einen Wechsel der Wahrnehmung intendieren (vgl. Dies., Fools, 80–87). 195 In Aufnahme einer Formulierung von Taylor könnte veränderungsinteressierte Praxis daher auch als proposition of transitions bezeichnet werden (vgl. Ders., Explanation, 53). Zur Differenz der Transformationsfiguren des ‚Bruchs‘ und des ‚Übergangs‘ vgl. auch Jaeggi, Kritik, 321–446; Dies./Wesche, Einführung, 8; Deines, Herkunft, passim. 196 Vgl. dazu exemplarisch auch Engemann, Einführung, 284–287; Grözinger, Homiletik, 106f; Müller, Homiletik (1994), 105f; Wagner-Rau, Wirklichkeit und ausführlich Weyel, Ostern, 211–241.
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charakteristischen Perspektive, derzufolge der Absicht auf Veränderung eine Pflicht zur Begründung korrespondiert. Die Adressaten der Kritik werden als denkende, verstehen wollende, nach Gründen fragende Subjekte unterstellt. Interessiert an lebensweltlich situierten Kommunikationen in der Sphäre des real talk gibt Walzer dieser Rechtfertigungsanforderung eine zustimmungsorientierte Wendung. Nicht irgendein Forum hat über die Plausibilität der propagierten Sicht auf Welt zu befinden, sondern das konkret adressierte Auditorium. Transformative Praxis operiert als adressatenspezifische Argumentation, nicht als Allgemeinverbindlichkeit beanspruchende Beweisführung. Über die Techniken der kreativen Reinterpretation, detaillierenden Darstellung und sachlichen Argumentation hinaus, aber auf einer elementareren Ebene angesiedelt, kommt im Horizont der Kritiktheorie ein weiterer Verfahrensaspekt transformativer Praxis zum Vorschein: die Differenz zwischen einem negativen Ansatz am status quo und einem positiven Ansatz am status novus. Die ethisch begründeten Vorbehalte gegenüber einer Inszenierung alternativer Seinsweisen haben dabei nicht nur zu einer Ausdifferenzierung möglicher Funktionen positiver Kritik geführt, sondern auch ein potenzielles Problem von um Konkretion bemühter Beschreibungspraxen benannt. Sie erscheinen dann bedenklich, wenn sie die detailliert ausstaffierten Szenen des Guten als rigide Vorgaben der Verwirklichung einsetzen. Die Gegenbilder gewinnen dann den Charakter einer paternalistischen Direktive, die individuelle Aneignungsspielräume beschränken. Dass die positive, antizipative, utopische Aufgabe transformativer Praxis auch anders verstanden werden kann, haben die weiteren Funktionsmöglichkeiten sowie Seels Verweis auf die perzeptive und praktische Relevanz per se unrealisierbarer Imaginationen gezeigt. Selbstredend bleiben auch Diskurse, die sich konstruktiver Perspektiven enthalten und Veränderungsimpulse allein über Insuffizienzaufweise zu setzen suchen, evaluative Akte. Im kritiktheoretischen Blickwinkel erscheint transformative Praxis als ein normativ wertendes Unterfangen, das mindestens einen bestehenden Zustand als veränderungswürdig behauptet und womöglich auch alternative Zustände als besser auszeichnet.197 Die Markierung dieser evaluativen Komponente leistet für das Verständnis der transformativen Dimension der 197 Dies geht schon aus dem alltagssprachlichen Sinngehalt des Kritikbegriffs als einer vor allem negativen Evaluierung hervor. Freilich könnte man sich kritische Vollzüge vorstellen, die weder bestimmte Alternativen als besser noch bestimmte Phänomene als veränderungswürdig beurteilen, sondern überhaupt den Konstruktcharakter sozialer Wirklichkeit aufzeigen möchten, um sie damit der Aura der Natürlichkeit zu entkleiden und zunächst einmal einfach als veränderbar darzustellen. Wie Jaeggi zeigt, sind jedoch auch diese Vollzüge normativ nicht unbedeutsam, eröffnen sie doch „Handlungsalternativen […] und damit die Bedingungen dafür, ‚praktische Fragen‘ überhaupt erst stellen zu können“ (Dies., Ideologiekritik, 281).
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Predigt einen anregenden Beitrag. Denn die homiletisch durchaus geläufigen und auch in der vorliegenden Arbeit immer wieder verwendeten Formulierungen von der ‚Ermöglichung eines neuen Sehens‘, der ‚Eröffnung überraschender Perspektiven‘, der ‚Erschließung alternativer Möglichkeiten‘ oder den ihrem assoziativen Gehalt nach eigentlich etwas anstößiger anmutenden, meistens aber ästhetisch gerahmten und dadurch in einem attraktiveren Sinn hörbaren Vokabeln der ‚Unterbrechung‘, ‚Destabilisierung‘, ‚Verfremdung‘, ‚Verstörung‘ oder ‚Irritation‘ eingeübter Verstehens- bzw. Verhaltensmuster tendieren dazu, den evaluativen Aspekt zu kaschieren. Dass mit der transformativen Funktion der Predigt ein normativ bedeutsamer Anspruch einhergeht, tritt in der Perspektive der Kritiktheorie markant hervor. Stellt man in Rechnung, dass Affirmation und Transformation ein relationales Kontinuum bilden, muss freilich sogleich hinzugefügt werden, dass auch die Bestätigung eines Selbstverständnisses keinen normativ irrelevanten Akt darstellt. Auch hier kann stets die Frage gestellt werden, weshalb genau diese Sicht auf Welt vergewisserungswürdig ist. Insofern erginge vonseiten der Kritiktheorie an Predigende der Appell, sich dem evaluativen Anspruch ihres Tuns zu versichern, ihn zu reflektieren und kommunikativ angemessen umzusetzen. Walzer hat dazu einmal mehr einen konnektiven Ansatz vorgeschlagen. Dem Anspruch sei darin zu entsprechen, dass die Adressaten in die Lage versetzt werden, die propagierte Sicht auf Welt subjektiv nachzuvollziehen. Sie müssen sie im Horizont ihrer eigenen Bedeutungssysteme verstehen, im Horizont ihrer eigenen Relevanzregime als bedeutsam empfinden und im Horizont ihrer eigenen Überzeugungssysteme als plausibel werten können. Zudem ist der Anspruch nicht auf einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt zurückzuführen. Bestenfalls wird die propagierte Sicht auf Welt in ihrem Deutungscharakter kenntlich und insofern als ein perspektivisches und kritikables Interventionsangebot rezipierbar. So besehen verlangte auch die Predigtpraxis eine Form, in der sich die Hörer als Selber-Verstehende und Mündig-Urteilende wiederfinden können. Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass Walzer eine Reihe verschiedener Bedingungsfaktoren transformativer Praxis adressiert. Zu nennen wäre ihr logos im Sinne ihrer sachlichen Argumentationsstruktur; aufgerufen wird zudem ihre stilistische Ebene; sofern er die Rolle des Selbstkonzepts des kritischen Akteurs unterstreicht, verweist er auf die Instanz ihres Subjekts; die Adressaten kommen in den Blick; und da diese nicht als solipsistische Entitäten verstanden werden, wird auch das soziokulturelle Makrosetting transformativer Praxis thematisch. In Bezug auf den konditionalen Problemaspekt der transformativen Predigtdimension sind dabei insbesondere die Überlegungen zu Subjekt und Adressat der Kritik weiterführend, macht sie Walzer doch als Transzendierungsinstanzen namhaft. Als divided self sind die Adressaten über sich selbst immer auch schon hinaus. Ihr Selbstverständnis bildet keine vollintegrierte Einheit; durch diverse
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Spannungslinien durchsetzt ist es Quelle immanenter Transzendenzen. Als Deutungsakt nimmt sich die kritische Praxis zudem als eine eminent subjektiv bestimmte Tätigkeit aus. Sie präsentiert ihre Sicht auf Welt nicht auf Basis eines neutralen und unbedingten Standorts; sie ist Reflex spezifischer erkenntnisleitender Interessen, eigentümlicher Ausdruck dessen, was einer Person in einer bestimmten biographisch geprägten Situation wichtig erscheint, abhängig von persönlichen Plausibilitätsannahmen, organisiert durch stilistische Präferenzen und andere individuelle Charakteristika. Aufgrund dieser idiosynkratischen Perspektivität kommt der Deutungsofferte eine „unverwechselbare Eigensprache“, ein „Idiolekt“ und „Eigensinn“ zu, der das Auditorium herauszufordern vermag.198 Indem ein Ausschnitt meiner Erfahrung, ein Gegenstand, der mir etwas bedeutet, eine bewährte Ansicht etc. im Spiegel einer spezifischen Subjektivität Darstellung und Deutung gewinnt, ist es nicht unwahrscheinlich, darin mit einer alterierenden Beschreibung meines Selbst konfrontiert zu werden. Für eine Reflexion der transformativen Predigtdimension, die den Beitrag der Predigenden für das Interaktionsgeschehen ‚Predigt‘ fokussiert, sie als „Aktionszentrum“199 dieses multifaktoriellen Kommunikationszusammenhangs voraussetzt und die aus dieser Perspektivierung zugänglichen Klärungschancen zu erschließen versucht, ist der Walzersche Fingerzeig auf die Transzendierungsleistung der Senderinstanz besonders fruchtbar. Denn im Rahmen dieses Zugangs können die homiletisch bisher eingekreisten Transzendierungsinstanzen des biblischen Textes, einer poetisch variierten Sprache und des rituellen Settings sowie die von Walzer angemerkten der Hörerschaft selbst immanenten Überschreitungspotenziale nicht als unmittelbare Einflussgrößen betrachtet werden. Sie wirken in der Predigt nicht abseits der perzeptiven, interpretatorischen, sprachlichen und körperaktionale Tätigkeit der Predigerin; sie sind durch sie vermittelt, so dass das Predigtsubjekt zur maßgeblichen Transzendierungsquelle avanciert. Damit ist keine vorab fixierte Subjektivität unterstellt, an der sich die verschiedenen Predigtfaktoren widerstandslos brächen. Vielmehr bildet sich die Subjektivität der Predigerin in der Auseinandersetzung mit ihnen immer auch 198 Vgl. Bieritz, Offenheit, 201–204 u. ö.; Engemann, Homiletik, 186–198. Wie Engemann zu Recht anmerkt, deckt sich die Frage nach dem Idiolekt einer Predigt natürlich nicht mit der Frage nach dem subjektiven Verhältnis, das eine Predigerin zu ihrer Predigt unterhält. Eine anregende Eigensprache entfalten auch Predigten, die nicht auf Basis persönlicher Überzeugung oder eigentümlicher Relevanzsetzungen des Predigtsubjekts beruhen. Für Walzer ist es jedoch gerade die besondere Perspektivität einer für eine Sache subjektiv engagierten Sprecherin, die einem Redeakt einen bestimmten Zuschnitt verleiht. Entsprechend erklärt er das Überschreitungspotenzial kritischer Praxis auch weniger über eine spezielle ästhetisch arrangierte Sprachform, hinter der das kritische Subjekt zurücktreten kann. Transzendenz gewinnt die Darstellung vielmehr als Ausdruck einer spezifischen Subjektivität – die sich freilich nur kommunikativ vermitteln kann. 199 Gräb, Predigtlehre, 83.
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mit. Sie gewinnt neue Einsichten, wird emotional spezifisch gestimmt, in dem, was ihr bis dato relevant erschien, herausgefordert etc. Als Niederschlag eines solchen Aneignungsprozesses kommt die Predigt dann als eminent subjektiv bestimmter Diskurs zu stehen, der in seiner besonderen Perspektivität die Hörer zu transzendieren vermag. Die im Rekurs primär auf Walzers Konzeption kritischer Praxis gewonnenen Perspektiven sollen in den folgenden Kapiteln weiterverfolgt, vertieft und verfeinert, aber auch variiert und ergänzt werden. Dabei schließt insbesondere die ästhetische Betrachtung der transformativen Predigtdimension eine markante Lücke. So finden zwar poetologische und performative Überlegungen auch innerhalb des Kritikdiskurses zunehmend Aufmerksamkeit. Bei Walzer bleiben sie aber weitgehend außen vor und werden teils auch skeptisch beurteilt. Es ist zu untersuchen, welche genaueren Reflexionspotenziale damit ausgespart bleiben, welche Bestimmung die Problemaspekte im ästhetischen Zugriff erfahren und wo dieser eine Präzisierung der bisherigen Überlegungen erlaubt. Zu denken wäre an eine genauere Durcharbeitung der Darstellungsfunktion transformativer Praxis oder eine fiktionstheoretische Vertiefung ihrer utopischen Komponente. Neu in den Reflexionsgang einbezogen werden kann das rituelle Setting der Predigt und sehr viel markanter als bisher wird auch der modale Problemaspekt zum Vorschein kommen. Obwohl Walzer sein Konzept nirgends explizit auf die rhetorische Theorietradition stützt, ist offensichtlich, dass ihm eine Reihe rhetorischer Implikationen zu eigen ist. Allen voran entspricht seine Emphase der Immanenz einem topischen Denken, das an den Überzeugungsressourcen des Auditoriums ansetzt; überhaupt klingt in der konsequenten Adressatenrelativität des Walzerschen Entwurfs ein rhetorisches Grundmotiv an. Sodann deutet Walzers Berücksichtigung sowohl der sprachlichen Qualität transformativer Praxis als auch ihrer argumentativen Struktur das Zusammenspiel zwischen Stilistik und Logik an, das das Nachdenken der Rhetorik seit ihren Anfängen kennzeichnet. Und schließlich findet das rhetorische Interesse an lebensweltlich konkreten, peristatisch komplex beeinflussten und konkrete Subjekte involvierenden Kommunikationspraxen einen Widerhall in Walzers Verortung transformativer Praxis in der Sphäre des real talk. Folglich vermag der rhetorische Reflexionskontext recht breit an die bisherigen Erwägungen anzuschließen, erlaubt dabei aber weitaus subtilere und dezidiert auf einen Redeakt abgestimmte Durcharbeitungen. So ist etwa das Verfahren der Argumentation in seiner transformativen Rolle zu präzisieren, die Funktionsweise von Reframingprozessen zu vertiefen oder die Kategorie der Zustimmung bzw. Akzeptanz differenzierter zu erörtern. Eine weiterführende Durcharbeitung verspricht der rhetorische Zugang auch für die Rolle des Subjekts transformativer Praxis. Ferner wird eine bei Walzer implizite Spannung explizierbar, die den ethischen Problemaspekt betrifft, die Frage
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nämlich, ob sich wirksamkeitsbezogene und ethische Erwägungen so einfach im Prinzip der Rekursivität harmonisieren lassen, oder ob hier ergänzende Bestimmungen notwendig werden. In Teil E wird schließlich der auch von Walzer unterstellte Konnex von Pluralität und Transformativität einer eingehenderen Reflexion unterzogen. Sofern Walzer das Transzendierungspotenzial eines konsequent an die Hörer anschließenden Diskurses ganz wesentlich über das Argument der Inkohärenz plausibilisiert, sind die soziologischen Verweise auf eine Pluralisierung der religiösen Selbstverhältnisse in ihren subjektiven Konsequenzen zu untersuchen. Bei alledem wird die in diesem Kapitel herausgearbeitete Dialektik von Immanenz und Transzendenz einen leitenden Gesichtspunkt darstellen. Als nicht fixierte, sondern in ihrem Grad und ihrer Dynamik variable Konstellation soll sie tentativ auch für den ästhetischen, rhetorischen und soziokulturellen Reflexionskontext vorausgesetzt und in ihrer Validität und Erschließungskraft überprüft werden.
Teil C: Praktiken der Kunst. Ästhetische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt
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Ästhetische Praxis und Transformation
In der Homiletik wird die transformative Predigtdimension aktuell vorrangig unter Rekurs auf ästhetische Theoreme reflektiert. Dies liegt insofern nahe, als Praktiken der Kunst weithin das Vermögen zugeschrieben wird, Erfahrungen zu provozieren, in denen wir „über die Gewissheiten und Gewohnheiten unseres Denkens und Fühlens hinaus[-]gelangen“ und von der „Fixierung auf ein festgefahrenes Selbstbild“ befreit werden.1 Akzentuiert wird dieses Veränderungspotenzial im Konzept ästhetischer Erfahrung von Erika Fischer-Lichte. Das Vermögen, vertraute Denkstrukturen und eingeübte Gefühlsreaktionen zu irritieren und Facetten alternativer Selbstbilder zu erschließen, avanciert hier zum Definiens ästhetischer Erfahrung: Sie gibt einen „Modus der Erfahrung, der zu einer Transformation desjenigen führen kann, der die Erfahrung durchlebt.“2 Aus diesem Grund eignen sich FischerLichtes Überlegungen in besonderer Weise dazu, Strukturen veränderungsprovokativer Praxis, wie sie im Licht der Ästhetik sichtbar werden, zu untersuchen. Der Rekurs auf Fischer-Lichte ist zudem dadurch motiviert, dass sie ihr Konzept ästhetischer Erfahrung aus einer Analyse kultureller Aufführungen gewinnt und insofern ein Genre reflektiert, dem auch der Gottesdienst zuzurechnen ist. Der Reflexion auf die transformative Predigtdimension erwächst so die Möglichkeit, das liturgische Setting mitzuberücksichtigen.3 1 Vgl. Seel, Sequenz, 193f. Vgl. dazu aus unterschiedlicher Perspektive exemplarisch auch Anderegg, Das Fiktionale, 164f; Bertram, Kunst, 139–146.170–178.211–219; Jauß, Erfahrung, 31– 44.127f.170; Lang, Wirklichkeitsbezüge oder Fluck, Erfahrung. 2 Fischer-Lichte, Erfahrung, 347. 3 Dies gilt umso mehr, als zentrale Pointen des Fischer-Lichteschen Ansatzes in den liturgischen Diskurs bereits eingearbeitet worden sind und die aufführungstheoretische Erkundung gottesdienstlicher Fragen über die letzten Jahre an Intensität gewonnen hat. Vgl. dazu bes. Roth, Theatralität sowie ferner auch Plüss, Textinszenierung; Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 374– 387; Mildenberger u. a. (Hg.), Gottesdienst; Weyel, Gottesdienst sowie ferner Grözinger, Theologie, 193–208 oder Ulrich, Theater.
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Um den folgenden Reflexionsgang in einen weiteren Horizont einordnen zu können, sind vorab drei Grundfragen ästhetischer Erfahrung knapp zu umreißen. (1) Es ist zu klären, was im Begriff ästhetischer Erfahrung der Term ‚Erfahrung‘ besagen kann. Mindestens drei Verständnisse wären zu nennen.4 Dem ersten Verständnis zufolge bezeichnet ‚Erfahrung‘ lediglich „Episoden phänomenalen Bewusstseins“5. Der Erfahrungsbegriff verweist auf das Gewahrsein sinnlich vermittelter oder imaginierter Gegenstände, ohne dass das erfahrende Subjekt dabei eine Erkenntnisleistung vollbringt. Einen solch epistemischen Aspekt impliziert das zweite Verständnis. ‚Erfahrung‘ bezeichnet dann „bestimmte Akte des Wissenserwerbs“. Gemeint ist ein Kenntniszuwachs, der durch eine „besondere Direktheit“ charakterisiert ist und sich nicht auf Basis inferenzieller Prozesse vollzieht.6 Ein gehaltvolleres Verständnis bietet drittens der als ‚existenziell‘ qualifizierbare Begriff von Erfahrung. Da nach diesem Verständnis ‚Erfahrung‘ immer schon ein transformatives Moment einschließt, ist es ausführlicher darzustellen. Nach Gadamer ist die „eigentliche Erfahrung […] immer eine negative“7. Sie irritiert eingespielte Orientierungen. Wer eine Erfahrung macht, modifiziert die Erfahrung, die er hat, also die aus den bisherigen Erfahrungen gebildeten Muster, auf eine Situation zu reagieren. Die Modifikation dieser Muster erfolgt nicht allein im Modus der Negation. Da die „Negativität der Erfahrung […] einen eigentümlich produktiven Sinn“8 besitzt, verbucht das Subjekt im Medium einer Erfahrung stets auch neue Orientierungen. Seiner Struktur nach beschreibt ein Erfahrungsvollzug demnach einen Veränderungsprozess, in dem die Aspekte der Negativität und Positivität ineinander verschränkt liegen. Gadamers Modell fortführend hat Martin Seel ein Konzept ‚existenzieller‘ Erfahrung entwickelt, das den transformativen Aspekt noch detaillierter zu beschreiben erlaubt.9 Dazu ist es hilfreich, zunächst die Muster, die den Umgang 4 Vgl. zum Folgenden den Überblick bei Deines u. a., Kunst, 10–17. 5 Deines u. a., Kunst, 12 (i. Orig. hervorgehoben). 6 Den einfachsten Fall einer solchen Erfahrung geben „Akte der Wahrnehmung, dass etwas der Fall ist“ (vgl. Deines u. a., Kunst, 13f [i. Orig. teils hervorgehoben]). Sinnliche Perzeptionen fallen unter beide bisher notierten Verständnisse: Zu sehen, dass es schneit, impliziert ein phänomenales Bewusstsein von fallenden weißen Flocken. Darüber hinaus ist aber auch ein nichtinferenzieller Erwerb von Wissen vorstellbar, der sich nicht zugleich als eine phänomenale Erfahrung darstellt. So vermag man etwa aus dem Hörensagen Kenntnisse zu gewinnen, die nicht auf schlussfolgernden Akten beruhen müssen (vgl. a. a. O., 14, Anm. 10). 7 Wie Gadamer im Anschluss an Hegel ausführt, kommt es in ihr zu einer ‚bestimmten Negation‘ und insofern zu einer Revision bisherigen Wissens (vgl. Ders., Wahrheit, 329–344, hier 335f; Hegel, Phänomenologie, 68–81). Einen starken Begriff von Erfahrung hat im Zusammenhang seiner Ästhetik auch John Dewey expliziert (vgl. Ders., Kunst, 47–71). 8 Gadamer, Wahrheit, 336. 9 Vgl. zum Folgenden Seel, Entzweiung, 73–127. Zu Rekonstruktionen des Seelschen Erfahrungskonzepts vgl. Düwell, Erfahrung, 75–85; Kleimann, Weltverhältnis, 21–41.
Ästhetische Praxis und Transformation
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mit Situationen organisieren und durch den Vollzug einer Erfahrung restrukturiert werden, genauer zu bestimmen. Seel subsumiert diese Muster unter den Begriff der Einstellung: Erfahrung-Haben bedeutet, auf die Situationen, in die wir geraten oder die wir aufsuchen, eingestellt zu sein. Was uns in ihnen begegnet, wird mit Bedeutungen versehen, als relevant oder irrelevant ausgezeichnet und auf Handlungsoptionen hin sondiert, wobei die Pointe darin liegt, dass dies ohne merklichen Reflexionsaufwand geschieht. Einstellungen versammeln implizite Orientierungen. In ihrem Licht erscheinen uns Situationen als vertraute Bedeutungs-, Relevanz- und Praxiszusammenhänge. Die impliziten Orientierungsleistungen sind vierfach dimensionierbar. Gemäß ihrer kognitiv-deskriptiven Dimension stellen sie fest, worum es in einer Situation geht. Als Beispiel mag das Warten an einer Bushaltestelle dienen. Ohne merklichen Reflexionsaufwand weiß ich, dass das Gestell aus Holz und Stahl zum Sitzen dient, die weißen Linien an der Bordsteinkante den späteren Stand des Busses markieren und das eingefasste Blatt Papier den Fahrplan zugänglich macht. Gemäß ihrer kognitiv-evaluativen Dimension werden die mit diesem Wissen angezeigten Handlungschancen im Horizont internalisierter moralischer Normen und habitualisierter persönlicher Werte hierarchisiert. So wird der eine unwillkürlich von der Bank aufstehen, sobald sich der Senior aus dem Nachbarhaus nähert, während der anderen die Möglichkeit, ihren Sitzplatz freizugeben, erst gar nicht als Handlungsoption präsent wird. Gemäß ihrer emotiven Dimension organisieren die einstellungsmäßigen Orientierungen die Gefühlsreaktionen auf die in der Situation begegnenden Ereignisse. Wie gewohnt empfindet der Senior Ärger, während er neben der sitzenden jungen Frau steht. Gemäß ihrer volitiven Dimension schließlich legen die impliziten Orientierungsleistungen eine Situation in Hinblick auf die in ihnen zu erreichenden Zwecke aus. Einstellungsmäßig sind diese Zwecke, sofern sie „nicht beliebig momentane Absichten, sondern nur generalisierte Intentionen“10 darstellen. So wird allen an der Haltestelle Versammelten das pünktliche Eintreffen des Busses ein unhinterfragt bejahtes Bedürfnis sein. Vor dem Hintergrund dieser vierfachen Perspektivierung lässt sich die Veränderung, die ein Subjekt im Vollzug von Erfahrungen durchlebt, präziser beschreiben. Transformiert wird sein Set deskriptiver, evaluativer, emotiver und volitiver Orientierungen. Erfahrungen-Machen bedeutet, dass die eingespielten Deutungen, Bewertungen, Befindlichkeiten und Absichten, die uns eine Situation als spezifischen Zusammenhang auslegen, nicht mehr greifen und insofern destruktiv irritiert und konstruktiv ergänzt werden.11 10 Seel, Entzweiung, 93. 11 Zur Vierfachperspektivierung der impliziten Orientierungen vgl. Seel, Entzweiung, 93–99; Kleimann, Weltverhältnis, 24f. Seel betont, dass die vier Dimensionen nicht nach- oder
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Den Grad dieser Veränderung legt Seel auf einer sehr breiten Skala an. Nur in seltenen Fällen wird eine Erfahrung „Umsturzcharakter“12 besitzen. Die „meisten Erfahrungen revolutionieren nicht unsere Stellung in der Welt“; sehr viel häufiger geben sie ihr ganz im Sinne Walzers lediglich „einen Stoß, eine Nuance, eine Schattierung“.13 Neben diesen gemäßigteren oder radikaleren Erneuerungen weist Seel nun ebenso der „Bekräftigung“ einer Einstellung einen Platz auf seiner Transformationsskala zu: Er interpretiert auch Vergewisserungsprozesse als Veränderungsprozesse. Man könnte sagen, dass in diesem Fall eine Einstellung nach innen hin überschritten wird. Der Transzendenzaspekt der Transformation ist inwärts gerichtet. So besehen macht auch derjenige eine Erfahrung, dessen Einstellung im Umgang mit einer Situation nicht nur eine „routinemäßige Bestätigung[-] oder Aktualisierung[-]“ erfährt, sondern vertieft wird.14 Die transformative Dimension einer Erfahrung lässt sich resümierend und in heuristischer Absicht folglich dreifach stufen: Einstellungen können durch eine Erfahrung revolutioniert, in einem gemäßigteren Sinne umgestellt oder intern vertieft werden. In jedem dieser Fälle wird die Einstellung des Subjekts in Konfrontation mit einer Situation nicht lediglich routinegemäß bestätigt oder aktualisiert, sondern verändert.15
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nebeneinander liegen, sondern ineinandergreifen. Damit tritt der Unterschied zwischen dem existenziellen und dem phänomenalen bzw. epistemischen Erfahrungsbegriff nochmals deutlich zutage. In ihrem existenziellen Verständnis geht Erfahrung nicht im Gewahrsein von sinnlich vermittelten bzw. imaginären Gegenständen oder einem nichtinferenziellen Wissenszuwachs auf. Erworben werden vielmehr neue Einstellungsmuster bzw. Aspekte solcher. Wer eine Erfahrung macht, registriert nicht nur Empfindungseindrücke (das Braun des Holzes der Bushaltestellenbank). Er kommt auch nicht nur zu einer mehr oder weniger unaufwendigen Erkenntnis über einen Tatbestand (‚Hier steht eine Bank‘). Ihm legt sich vielmehr eine Situation in ihren deskriptiven, evaluativen, emotiven und volitiven Bezügen neu aus. Seel, Entzweiung, 82. Vgl. Seel, Entzweiung, 89. Daher stellen sich Veränderungen im Regelfall auch erst mit einer Serie von Erfahrungen ein; die Etablierung neuer Einstellungen ist für gewöhnlich bedingt durch einen Erfahrungsprozess. Vgl. Seel, Entzweiung, 90. Kleimann hält dieses weite Konzept von Veränderung in Bezug auf den Erfahrungsbegriff für problematisch, werde so doch der mit ihm „verbundene Sinn einer Ausbildung von neuen Stellungnahmen, die sich ihrem Gehalt, nicht nur ihrer Intensität nach von den bisherigen unterscheiden“ verwischt. Eine Differenz zwischen einem „bloßen routinierten Bewältigen von Situationen“ und einem Situationsumgang, der bestehende Einstellungen vertieft, sieht allerdings auch er; und auch eine Interpretation der Bekräftigung als Veränderung hält er prinzipiell für möglich (vgl. Ders., Weltverhältnis, 26 [Hervorhebung i. Orig.]). Ohne Seels terminologische Differenzierung zwischen ‚Bestätigung‘ und ‚Bekräftigung‘ nachzuvollziehen, fasst auch Neumann, Erzählen, 290, Anm. 53 „Bestätigung und Verstärkung als gewissermaßen quantitative ‚Veränderungen‘“ auf. Im Horizont der Walzerschen Überlegungen entspricht dem revolutionären Moment die radikale Interpretation, während der moderateren Umstellung sowohl die konventionelle als auch die umstrittene Interpretation zuzurechnen wären (vgl. B.2.3.3).
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(2) Sofern ästhetische Erfahrung an den Strukturen jeglicher Erfahrung partizipiert, ist zu klären, worin sich ihre Spezifität bekundet. Unter den diversen Vorschlägen, die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung zu bestimmen, soll im Folgenden ein Merkmal herausgegriffen werden, das in der Diskussion notorisch wiederkehrt: ihre Selbstzwecklichkeit.16 Wer eine ästhetische Erfahrung macht, verweilt in ihr um ihrer selbst willen und widmet sich ihrem Gegenstand um seiner selbst willen. Die perzeptiven, interpretativen und praktischen Vollzüge, durch die sich eine ästhetische Erfahrung aufbaut, dienen keinem anderen Zweck als eben diesem Aufbau selbst. Den darin angezeigten „intrinsischen Wert“17 hat Kant bekanntlich in seiner Bestimmung des ästhetischen Wohlgefallens als eines „reinen uninteressierten“ und „freie[n]“ zum Ausdruck gebracht.18 Wer einen Gegenstand ästhetisch beurteilt, klammert seinen theoretischen und praktischen Nutzen ein. „Wer sich ästhetisch an der gefälligen Rundung eines frischen, roten Apfels freut, der betrachtet ihn nicht als griffiges Wurfgeschoß, willkommene Speise oder Reminiszenz an die biblische Erbsünde und ist auch nicht an seiner biologisch-klassifikatorischen oder chemischen Analyse interessiert.“19
Freilich ist Kants Rede von der reinen Interesselosigkeit dahingehend zu korrigieren, dass man ein Interesse an der ästhetischen Erfahrung selbst voraussetzen muss, um die Produktion von Kunst oder die Einnahme einer ästhetischen Haltung gegenüber Natur- und Alltagsdingen überhaupt plausibel machen zu können. Dieses Interesse kann als ästhetisches beschrieben werden. Als solches bleibt es von nichtästhetischen freilich weiterhin abzuheben.20 Aufgrund dieser Einklammerung der den Alltag leitenden nichtästhetischen Interessen des Handelns und Erkennens kommt dem Vollzug ästhetischer Erfahrung ein sistierendes und transzendierendes Potenzial zu. Wer sich ihr aussetzt, wird zwar ebenfalls zu Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsleis16 Damit ist nicht unterstellt, dass es sich bei der Selbstzwecklichkeit schon um ein hinreichendes Differenzmerkmal handelt. In der Regel werden ihm weitere Attribute beigestellt. Da der selbstzweckhafte Charakter des Ästhetischen gegenüber Konzeptionen der Transformation, wie sie im Zusammenhang kritischer und persuasiver Praktiken erarbeitet werden, jedoch besonders hervorsticht, soll er im Folgenden im Fokus stehen. Zu einer knappen Übersicht über mögliche Bestimmungen der differenciae specificae ästhetischer Erfahrung vgl. Deines u. a., Kunst, 17–22; Reicher, Einführung, 34–55. Zum Merkmal der Selbstzwecklichkeit vgl. Düwell, Erfahrung, 96–101; Kleimann, Weltverhältnis, 77–83; Seel, Aisthetik, 46– 58 sowie im Horizont kritiktheoretischer Fragestellungen Wesche, Reflexion, 209–213. 17 Kleimann, Weltverhältnis, 77. 18 Vgl. Kant, KdU, 117.123. 19 Kleimann, Weltverhältnis, 80. 20 Vgl. Kleimann, Weltverhältnis, 79f; Reicher, Einführung, 46–53. Zur Diskussion um die Idee des interesselosen Wohlgefallens vgl. auch Bertram, Kunst, 62–70; Danto, Verklärung, 46ff; Jauß, Erfahrung, 82–85.
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tungen herausgefordert. Anders als im Zusammenhang alltäglicher Lebensvollzüge sind diese aber nicht auf über sie hinausweisende Zwecke abgestellt. Sie zielen weder auf „moralisch gültige Einsichten“, die mich als solche auch in meiner außerästhetischen Lebenspraxis verpflichteten, noch auf „richtige Aussagen über Sachverhalte in der Welt“, für die ich mich auch in meiner außerästhetischen Lebenspraxis zu rechtfertigen hätte.21 Von außerästhetischen Bereichen unterscheidet sich der Vollzug ästhetischer Erfahrung durch eine gewandelte „Verbindlichkeitsstruktur“22. Die Orientierungen, die dem ästhetisch erfahrenden Subjekt erschlossen werden, entbehren der Nötigung, auch vollzugsextern, lebenspraktisch übernommen zu werden. Ästhetische Erfahrung spart dadurch einen kulturellen Raum aus, um „neue Weltsichten und Handlungsmöglichkeiten spielerisch und genießend auszuprobieren“23. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass ästhetische Erfahrungen auch externe Effekte zeitigen können. Dennoch: „Für den Vollzug ästhetischer Erfahrung sind diese nichtästhetischen Konsequenzen […] nur kontingente Begleiterscheinungen, die nichts daran ändern, daß das Telos des ästhetischen Interesses im selbstzweckhaften Wahrnehmungsvollzug beschlossen liegt.“24
(3) Mit Seel können drei Grundformen ästhetischer Erfahrung eingekreist werden. In seiner Ästhetik der Natur unterscheidet er zwischen kontemplativen, korresponsiven und imaginativen Erfahrungstypen.25 Im Modus der Kontemplation bezieht sich die ästhetische Erfahrung auf einen Gegenstand in seinem phänomenalen Sosein. Er wird aus seinen praktischen und epistemischen Be21 Vgl. Düwell, Erfahrung, 109. Analog notiert Jauß, Erfahrung, 44.88: „Gerade daß die Kunst keine Zwangsgeltung in Anspruch nehmen und daß ihre Wahrheit weder durch Dogmen widerlegt noch durch Logik ‚falsifiziert‘ werden kann, macht ihre eminent gesellschaftliche Funktion aus.“ Ästhetische Erfahrung vermag „den Betrachter [Zuschauer, Zuhörer, Leser etc.] aus den praktischen Interessen und Verstrickungen seiner Alltagswirklichkeit zu lösen, um ihn durch Selbstgenuß im Fremdgenuß in die ästhetische Freiheit seines Urteils zu versetzen.“ 22 Düwell, Erfahrung, 109. 23 Der Begriff des Spiels trifft für Düwell den Kern der Selbstzwecklichkeit ästhetischer Erfahrung (vgl. Ders., Erfahrung, 63.97). Auch Jauß gebraucht ihn, um die spezifische Verbindlichkeitsstruktur ästhetischer Erfahrung herauszustellen: Das Spiel bestimmt sich als die Möglichkeit, „freiwillig tun zu können, was man sonst im Ernst tun muß“ (vgl. Ders., Erfahrung, 29.34.44.226). 24 Kleimann, Weltverhältnis, 82; vgl. auch Düwell, Erfahrung, 97ff. 25 Seel erarbeitet diese ausführlich am Beispiel der Wahrnehmung von Naturgegenständen (vgl. Ders., Ästhetik, 38–233), fasst sie dann aber als „Grundmöglichkeiten ästhetischer Wahrnehmung“ überhaupt zusammen (vgl. a. a. O., 234–247, hier 235). Als solche sind sie nicht streng voneinander abzugrenzen. Zwar können sie für sich vorkommen, oftmals werden sie aber miteinander realisiert. Eine Fortentwicklung dieser drei Typen bietet Kleimann, Weltverhältnis, 91–144.
Ästhetische Praxis und Transformation
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zügen gänzlich herausgehoben. Die rezeptive Aufmerksamkeit widmet sich exklusiv seiner sinnlichen Erscheinungsform. So mag ein kurzes Innehalten am Schreibtisch den Blick freigeben für die besondere Formung, Musterung und Färbung meines Notebooks. Sein Gebrauchswert und womöglich auch seine identitäre Bedeutsamkeit, die ich ihm normalerweise zuschreibe, werden abgeblendet zugunsten einer reinen ‚Hingabe‘ an seine phänomenalen Qualitäten. Aufgrund der vollständigen Einklammerung der Funktionen, die es für mein Erkennen und Handeln besitzt, kann der kontemplative Modus als „die reinste und in gewissem Sinne radikalste Form ästhetischer Erfahrung“ gelten; praktische und epistemische Interessen treten hier radikal in den Hintergrund.26 Im Modus der Korrespondenz bezieht sich die ästhetische Erfahrung auf einen Gegenstand als Ausdruck und Teil einer Daseinsmöglichkeit, die mir korrespondiert. Der Begriff der Korrespondenz ist dabei missverständlich. Er legt positive Entsprechungen nahe, wobei Seel auch negative Korrespondenzen miteinschließt.27 Daher bezeichnet Kleimann diesen Modus ‚neutraler‘ als existenziellen Modus. Am einfachsten lässt er sich etwa am Beispiel eines Films verdeutlichen. Die fiktive Welt eines Films bringt Einstellungen, Ideale, Aspirationen, Handlungsweisen, Befindlichkeiten etc. zur Anschauung. Mit ihnen vermag der Rezipient die Deutung und den Entwurf seines Selbst in Kontakt zu bringen – sei es, dass er sich einfach in ihnen wiederfindet, sei es, dass er sich in den veranschaulichten Seinsweisen verfremdet wiedererkennt oder sie ihn abstoßen. Dabei geht Seel davon aus, dass die Entsprechung zwischen den zur Darstellung gebrachten Seinsweisen und den Selbstdeutungen und Selbstentwürfen des Rezipienten nicht nur im Modus des Als-ob vollzogen wird, sondern es zu „alltäglichen Korrespondenzbildungen“ kommen kann: es ist „durchaus zweierlei, ob ich im Kino eine fiktive Welt wahrnehme, in der Leute wie Humphrey Bogart die Helden sind oder ob ich die tatsächliche Welt so ansehe, wie (ich meine, daß) Humphrey Bogart in seinen filmischen Rollen die Welt ansieht […]. Im ersten Fall sehe und erlebe ich eine Humphrey-Bogart-Welt; im zweiten Fall sehe und erlebe ich mich selbst als jemanden in einer Humphrey-Bogart-Welt: der Stil des Films wird zu meinem Stil.“28 26 Vgl. Kleimann, Weltverhältnis, 94. Fischer-Lichte wird die Interpretation dieses Erfahrungsmodus als einer vollständig bedeutungslos und „sinnfremd[-]“ (Seel, Ästhetik, 39 [Hervorhebung M.S.]) sich vollziehenden Erfahrungsform kritisieren und eine andere Deutung der Kontemplation vorschlagen (vgl. C.3.2.3). 27 Vgl. etwa Seel, Ästhetik, 94.109. 28 Vgl. Seel, Ästhetik, 240f (Hervorhebung i. Orig.). Auf den zweiten Fall bezieht sich die Rede vom Teil-Sein eines ästhetisch erfahrenen Gegenstandes an einer Existenzmöglichkeit, die mit mir – im zitierten Fall: positiv – korrespondiert. Es können nicht nur Kunstgegenstände korresponsiv bzw. existenziell rezipiert werden. Auch Natur- und Alltagsdinge vermögen als Ausdruck und Teil von Existenzmöglichkeiten erfahren werden. So vermag etwa ein bestimmter Platz am Rand des Waldes unlängst meines Herkunftsortes als Teil eines – ehe-
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Teil C: Praktiken der Kunst
Im Modus der Imagination bezieht sich ästhetische Erfahrung primär auf Kunstgegenstände. Sie werden als Zeichen rezipiert, die im Medium einer künstlerischen Form einen Inhalt darstellen. Im imaginativen Modus vollzieht sich ästhetische Erfahrung daher wesentlich als hermeneutische Tätigkeit. Für Seel zeichnen sich künstlerische Zeichen dadurch aus, dass ihre Form in einer gesteigerter Weise gegenüber ihrem Inhalt nicht beliebig ist. Anders als bei einer Gebrauchsanleitung etwa ist die Art der Darstellung in allen ihren Einzelheiten konstitutiv für den dargestellten Inhalt. Daher präsentiert Kunst seinen Rezipienten nicht allein einen Inhalt, sondern immer zugleich auch eine bestimmte Sichtweise auf diesen Inhalt. „Kunstwerke [sind] Zeichen […], deren Sinn es ist zu zeigen, wie sie zeigen, was sie zeigen. Man kann auch sagen, ein Kunstwerk präsentiert die Form, in der es seinen Inhalt präsentiert.“29 In der Auslegung künstlerischer Zeichen begegnet dem Rezipienten immer auch eine Perspektive auf Welt bzw. einer ihrer Ausschnitte, die ihn „in eine Distanz zur eigenen Sicht, die ihm (anders die radikale Abstinenz der Kontemplation) den Spielraum ihrer experimentierenden Erkundung und kommunikativen Mitteilung gewährt.“30 Auf Basis dieser Vorüberlegungen wird im Folgenden Fischer-Lichtes transformatives Konzept ästhetischer Erfahrung rekonstruiert. Da es auf ritualtheoretischen Erwägungen fußt und insbesondere Victor Turners Konzept der Liminalität adaptiert und vor dessen Hintergrund erst angemessen verständlich gemacht werden kann, ist zunächst die spezifische Kontur seines Ritualverständnisses nachzuvollziehen; die Verankerung der Überlegungen dieses Kapitels im Kontext liturgischer Reflexion kann dadurch noch vertieft werden. Für den Gang der Arbeit besitzt die Untersuchung folglich zwei Hauptfunktionen: Die Problemaspekte der transformativen Predigtdimension sollen aus ästhetischer Perspektive bedacht und ihr rituelles Setting in seiner transformativen Valenz eruiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass der Überlegungsgang wiederholt Fragestellungen und Denkfiguren passiert, die im Zusammenhang der Diskussion um das Fiktionale bzw. das Fiktive einen zentralen Ort einnehmen. Daher soll die Frage transformativer Praxis zum Abschluss ins Gespräch mit fiktionstheoretischen Erörterungen gebracht werden. Die Orientierung am
maligen und heute erinnerten – guten Lebens an ihm wahrgenommen werden. Oder aber er wird aufgrund seiner lieblichen Lage und des warm auf ihn fallenden Abendlichts für einen anderen „zur Chiffre eines ersehnten, gegenwärtig aber unerreichbaren Lebens fernab vom hektischen Getriebe der Großstadt“ (Kleimann, Weltverhältnis, 114). 29 Seel, Ästhetik, 147. Vgl. dazu auch Danto, Verklärung, 227: Kunstwerke sind „zusätzlich zu dem, daß sie über irgendetwas sind, auch darüber […], wie sie über dieses Etwas sind“ – sie haben „sozusagen Inhalte erster und zweiter Ordnung“. Zu diesem Aspekt von Kunst vgl. ferner Bertram, Kunst, 113–121. 30 Seel, Ästhetik, 150.
Victor Turners Konzept der Liminalität
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Genre der performance kann damit durch eine stärker literaturwissenschaftliche Perspektive ergänzt werden.
2
Victor Turners Konzept der Liminalität
2.1
Typische Dimensionen des Rituellen
Die Verknüpfung von rituellen, ästhetischen und transformativen Gesichtspunkten, die für den Verlauf dieses Kapitels bestimmend ist, versteht sich nicht von selbst. Während ein Zusammenhang zwischen Praktiken der Kunst und Erfahrungen der Veränderung nicht umstritten ist, liegt ein ästhetisch orientiertes und auf transformative Effekte abstellendes Verständnis ritueller Praktiken weniger nahe. Lange Zeit dominierten Auffassungen, die Rituale als Kreativität einschränkende Handlungskomplexe herausstellten, ihre entscheidende Funktion in der Stabilisierung subjektiver Selbstverständnisse und der Reproduktion sozialer Ordnungen sahen und dabei von eher rigiden Wirkungsweisen ausgingen, die spielerische, ausprobierende Aneignungsvollzüge ausschließen. Dass solche Auffassungen heute als einseitig und reduktiv gelten können, verdankt der Ritualdiskurs nicht zuletzt den Studien Victor Turners. Als Vorreiter einer alternativen Betrachtungsweise arbeitete er an einem Beschreibungsvokabular, das ästhetische Reflexionsfiguren in die Analyse des rituellen Handlungstyps integriert und ihn auch in seinen transformativen Potenzialen kenntlich zu machen vermag.31 In den ritual studies führte dies überhaupt zu einer zurückhaltenderen Bestimmung des Rituellen. Um der Komplexität der Ritualpraxis und ihrer historischen wie soziokulturellen Spezifik Rechnung zu tragen und die Theoriekonzepte für Veränderungen der Ritualkultur offen zu halten, wird der Ritualbegriff aktuell vornehmlich polythetisch gefasst. Er ruft kein eindeutig umgrenztes Set notwendiger Eigenschaften auf, sondern versammelt eine Mehrzahl potenzieller Merkmale.32 Als Beispiel mag Jan Platvoets ritualtheoretischer Zugang dienen. Er 31 Zu einem knappen Aufriss der Geschichte der Ritualforschung vgl. etwa Brosius u. a., Ritualforschung, 10ff; Dücker, Rituale, 177–219; Fischer-Lichte, Performativität, 15–18; Wulf/ Zirfas, Welten, 9–17; ferner Kreinath u. a. (Hg.), Rituals. 32 Vgl. dazu etwa Brosius u. a., Ritualforschung, 13–16; Platvoet, Ritual; Snoek, Rituals; Stollberg-Rilinger, Rituale, 7–17. Wie Barbara Stollberg-Rilinger betont, ermöglicht ein mehrdimensionaler Reflexionsansatz, die Ambivalenzen der rituellen Wirklichkeit nicht vorschnell zu vereindeutigen: „Viele schlechthin unentscheidbare Debatten entzünden sich an Fragen, die auf einfache, pauschale Antworten zielen und damit an der Komplexität der Phänomene vorbeigehen. Solche falsche Alternativfragen lauten etwa: Sind Rituale statisch oder dynamisch? Eindeutig oder mehrdeutig? Haben sie eine eigene Wirkmacht oder nicht? Werden sie rational geplant oder folgen sie blinder Routine? Stiften sie Ordnung oder lösen sie Konflikte
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Teil C: Praktiken der Kunst
schlägt ein heuristisches Konzept vor, das eine Reihe typischer ‚Dimensionen‘ umfasst, und erlaubt so, eine erste Idee ritueller Praxis zu fassen.33 Als erste Dimension nennt Platvoet Interaktivität. Demgemäß sind Rituale eine Form sozialen Handelns. Streng ichbezogene, zwanghaft und rein triebgelenkt vollzogene Praktiken, wie Sigmund Freud etwa sie beschrieben hat,34 fallen für Platvoet nicht in den Gegenstandsbereich der Ritualwissenschaft. Aus dem Interaktionsaspekt resultiert die zweite Dimension: Rituale sind kollektive Phänomene. Sie umfassen mindestens zwei, häufig mehrere Teilnehmer. Zu ihnen rechnet Platvoet nicht nur sichtbare menschliche Personen, sondern auch „putative beings“35 wie Gottheiten, Ahnengestalten etc. Die Dimension des Gewohnheitsmäßigen bezieht sich auf den repetitiven Charakter des Rituellen. Ein präskriptiv durchgesetztes oder konventionell etabliertes Reglement eröffnet einen in formaler Hinsicht relativ identischen Vollzug von Handlungen, der zu Stereotypie, Formalismus und Rigidität tendieren kann.36 Dass Ritualpraktiken dadurch nicht zu unveränderlichen Größen werden, holt die Dimension der Innovativität ein. Die Faktoren ritueller Erneuerungen sind vielfältig. Zu nennen wäre die grundsätzliche Unmöglichkeit einer vollständig kongruenten Wiederholung einer Handlung. Die Individualität der Akteure, die situative Einbettung des Handlungsvollzugs und die Kontingenzen produzierende Interaktivität leiblich kopräsenter Ritualteilnehmer37 verhindern gänzlich identische Nachahmungen. Stanley Tambiah spricht im Blick auf iterative Akte daher auch von recreations.38 Weitere Faktoren bilden ritualkritisches Engagement, Ritual-
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37 38
aus? Dämmen sie Gewalt ein oder rufen sie Gewalt hervor? Transportieren sie eine Bedeutung oder nicht? Rituale haben einen höchst ambivalenten Charakter, sodass manchmal das eine, manchmal das andere oder auch beides zugleich der Fall sein kann, je nach Perspektive“ (a. a. O., 167). Entsprechend habe ich in Stetter, Pfarrer versucht, das rituelle Feld als Spannungsfeld zu beschreiben: „zwischen Kontinuität und Wandel“, „Skript und Aufführung“, „Alltagsdistanz und Alltagsbezug“ sowie „Affirmation und Transformation“. Der Dimensionsbegriff integriert dabei Eigenschaften wie Funktionen, sind beide häufig doch nur schwer voneinander abzuheben. Vgl. zum Folgenden Platvoet, Ritual, 27–37. Vgl. etwa Freud, Zwangshandlungen. Platvoet, Ritual, 27f; vgl. dazu auch Dücker, Rituale, 48ff. Dem iterativen Moment kommt unter den diskutierten Attributen ritueller Praxis ein zentraler Rang zu. Vgl. exemplarisch Brosius u. a., Ritualforschung, 14; Dücker, Rituale, 42f; Fugger, Symbol, 416f; Stollberg-Rilinger, Rituale, 9; Tambiah, Approach, 131–137; Wulf/ Zirfas, Welten, 19f. Fischer-Lichte stellt diesen Aspekt in das Zentrum der medialen Bedingungen von Aufführungspraktiken und konzipiert ihn mithilfe des Begriffs der feedback-Schleife (vgl. C.3.2.1). Vgl. Tambiah, Approach, 141. Das innovierende Potenzial der Wiederholung akzentuieren auch Gunter Gebauer und Christoph Wulf in ihrer performativen Fassung des Mimesiskonzepts. Als ‚mimetisch‘ gelten ihnen „nicht Prozesse der bloßen Reproduktion oder Imitation, sondern Handlungen […], in denen unter Bezug auf andere Menschen, Situationen oder Welten etwas noch einmal gemacht wird, und in denen dadurch etwas entsteht, das sich vom Bezugspunkt der Handlung unterscheidet“ (Wulf, Mimesis, 257; vgl. ferner Ders./Gebauer, Mimesis; Dies., Spiel).
Victor Turners Konzept der Liminalität
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transfers und Phänomene des Ritualdesigns – Faktoren, auf die insbesondere der im Jahr 2000 installierte Heidelberger Sonderforschungsbereich Ritualdynamik aufmerksam gemacht hat.39 Als fünfte Dimension nennt Platvoet Expressivität. Rituale bilden soziale Beziehungen ab. Durch räumliche Positionierungen oder Rollenzuweisungen werden die zwischen den Teilnehmerinnen existierenden Relationen öffentlich ausdrücklich gemacht. Die Mitteilungsdimension verweist auf die kommunikative Funktion ritueller Praxis. Explizit und implizit werden Bedeutungen generiert, die auf diverse Weisen rezipiert werden, wobei die Spanne von schlichter Indifferenz über blinde Akzeptanz bis zu kritischer Auseinandersetzung reichen dürfte.40 In Ritualstudien häufig beschrieben wird ferner die symbolische Dimension. Platvoet unterstreicht dabei den Gebrauch sog. „core or pivotal symbols“41. Bei ihnen handelt es sich um ambiguitäre, affektbesetzte Verdichtungen zentraler Sinnelemente einer sozialen Formation. In Ritualen werden diese Schlüsselsymbole durch eine Vielzahl an Medien aufgeführt. Die Dimension der Multimedialität verweist auf die morphologische Komplexität ritueller Praxis. Orientiert an Inszenierungsregeln verknüpfen sie Sprache, Musik, Dinge, Architektur, Technik und Körper zu divers gearteten, synästhetischen Handlungseinheiten; Rituale sind „multimediale Amalgame“42. Mit dem Begriff der performance signalisiert Platvoet den spezifisch darbietenden Charakter rituellen Handelns. Durch Verfahren der Stilisierung, Verfremdung, der dramaturgischen Anordnung und der Setzung rahmender „cues“43 werden Handlungen aus ihren alltäglichen Funktionskontexten herausgelöst, in neue Bedeutungsgefüge eingesetzt und mit Aufmerksamkeitssignalen versehen. In dieser Dimension wird rituelles Handeln zu „conspicuous behaviour“44. Von 39 Vgl. www.ritualdynamik.de; ausführlicher dazu Stetter, Pfarrer, 88f. 40 Damit wendet sich Platvoet gegen Ritualbeschreibungen, wie sie prominent etwa von Frits Staal vertreten wurden und von der semantischen Irrelevanz ritueller Praxis ausgehen. Für Staal sind Rituale „pure activity, without meaning or goal“ (Ders., Meaninglessness, 9). Zur Debatte vgl. Fugger, Symbol, 405–408; Michaels, Bedeutung; Stollberg-Rilinger, Rituale, 200f. 41 Platvoet, Ritual, 32. Pointiert hat Thomas Luckmann Rituale als „Handlungsmodus der Symbole“ bestimmt (vgl. Ders., Nachtrag, 177; ferner Ders./Berger, Konstruktion, 106f). 42 Jäger, Logik, 304. 43 Claus Ambos und Jan Weinhold bezeichnen mit dem Begriff ‚cue‘ diejenigen expliziten und impliziten Kommunikationssignale, die Handlungen einen bestimmten Frame verleihen, der ihre Interpretation anleitet. Im Fall eines Rituals wäre etwa an geprägte Räume, ein spezifisches Dekor, besondere Kleidung, prosodische Eigenarten etc. zu denken (vgl. Dies., Rahmen, 92ff; ferner Handelman, Framing; Jungaberle/Weinhold, Einführung). 44 Platvoet, Ritual, 33. Den Aspekt der Auffälligkeit stellt auch Fischer-Lichte heraus: Performances seien als „Modell des Lebens“ zu verstehen, „insofern sie [die Prozesse des Lebens] in besonderer Intensität und Auffälligkeit vollzieh[en], so daß die Aufmerksamkeit der an ihr Beteiligten sich auf sie richtet und sie so ihrer gewahr werden“ (Dies., Ästhetik, 359). Analog erkennt Burckhard Dücker eine wesentliche Funktion ritueller Praxis in ihrer Fähigkeit, Implizites sichtbar zu machen (vgl. Ders., Rituale, 52–57; ferner Stollberg-Rilinger, Rituale, 10f).
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der performance-Dimension zu unterscheiden ist der performative Aspekt. Nach Platvoet fokussiert dieser die wirklichkeitskonstituierenden Effekte des Rituals, die sich zweifach aufgliedern lassen. In einem engeren Sinne bewirken rituelle Praktiken bestimmte Transformationen, die sich sowohl auf den sozialen Status eines Subjekts beziehen können – in den klassischen Passageriten etwa – als auch den kognitiven, emotiven und volitionalen Apparat des Subjekts betreffen. In einem weiteren Sinne erzeugen Rituale durch ihren iterativen Vollzug überhaupt gesellschaftliche Strukturen, indem sie, wie unter der expressiven Dimension beschrieben, soziale Beziehungen öffentlich zum Ausdruck bringen.45 Mit der ästhetischen Dimension verbindet Platvoet das rituelle Postulat, Praktiken nicht allein ‚korrekt‘ oder ‚traditionsgemäß‘ zu vollziehen, sondern auch ‚wohlgeformt‘ und ‚gefällig‘ aufzuführen. Ihre so verstandene Ästhetizität sei eine der wesentlichen Bedingungen, um Aufmerksamkeit zu wecken, kommunikativ zu wirken und die performativen Ziele zu erreichen. Die zwölfte Dimension chiffriert Platvoet als strategische Dimension. Darunter fasst er die affirmative Kraft rituellen Handelns, kontingente Ordnungen mit der Aura des ‚Natürlichen‘ und ‚Notwendigen‘ zu umgeben. Jenseits diskursiver Überzeugungs- und kritischer Infragestellungsprozeduren werden ‚Gegebenheiten‘ instanziiert. „Die Realität wird […] bestätigt nicht nur als das, was sie ist, sondern zugleich als das, was sie zu sein hat, um zu sein, was sie ist, und folglich als etwas, das nicht anders sein kann als so, wie es ist.“46 Zuletzt notiert Platvoet die integrative Dimension. Indem in Ritualen das soziale Gefüge und die für einen kollektiven Zusammenhang zentralen Sinnfiguren bearbeitet und öffentlich dargeboten werden, beziehen sie Individuen in Gruppen und Gemeinschaften ein und grenzen sie
45 Deutlich wird hier, dass Platvoet unter Expression keine bloße Abbildung von etwas vorab Existierendem versteht, sondern Ausdruckshandeln performativ fasst. Zur Frage der Wirksamkeit ritueller Praxis vgl. auch Dücker, Rituale, 61–66; Fugger, Symbol, 403f; Rao/Köpping, Wende; Sørensen, Efficacy; Stollberg-Rilinger, Rituale, 11ff.201–207; Töbelmann, Wirksamkeit sowie die beiden Sonderhefte des Journal of Ritual Studies 24/1 (2010), 1–77 und 24/2 (2010), 1–80. Darin schlagen Johannes Quack und Paul Töbelmann ein sechsgliedriges Fragenset zur Analyse ritueller Wirksamkeit vor: Wer oder was ist das Subjekt einer Wirkung? Wer oder was ist das Objekt einer Wirkung? Auf welcher explanativen Ebene sind die Wirksamkeitszuschreibungen verortet? Durch welche Medien wird eine Wirkung vollzogen? Welchen Bedingungen unterliegt eine Wirkung? Und zuletzt: Von wem werden die Antworten jeweils gegeben? Insofern plädieren Quack und Töbelmann nicht nur für eine möglichst differenzierte Wahrnehmung der rituellen Wirksamkeitsdimension, sondern zugleich für eine Offenlegung ihrer Zuschreibungslogiken: „an effect of a ritual is that which is asserted as causally linked to the ritual by its performers, participants, witnesses and/or researchers“ (vgl. Dies., Efficacy, 13–28, hier 16 [Hervorhebung i. Orig.]). 46 Vgl. Boltanski, Soziologie, 127ff, hier 128; vgl. dazu auch Krieger/Belliger, Einführung, 18–31; Wulf, Ritual; Ders., Genese, 153–163.
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zugleich von anderen Sozialitäten ab: „[R]ituals are normally strongly unitive ad intra and weakly divisive ad extra.“47 Die Vielfalt der für rituelle Phänomene tentativ in Rechnung zu stellenden Dimensionen, die Platvoet notiert, zeigt, dass Deutungsansätze, die das Rituelle auf bloßen Formalismus, einen rein affirmativen Modus der Wirklichkeitssetzung und streng veränderungsresistenten Handlungskomplex fixieren, der seine Teilnehmer von ihren ‚höheren‘ geistigen Vermögen wie Verstehen, Kritik, Kreativität oder ästhetischem Empfinden distanziert, diverse Ritualaspekte marginalisieren, wenn nicht ausblenden müssen. So wurden Rituale im Zusammenhang der 1960er und 1970er Jahre in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – zum Teil – primär „unter den Aspekten der Stereotypie, Rigidität und Gewalt thematisiert“48. Freilich würden die theoretischen Positionen und praktischen Vollzüge um ‚68‘ nur verkürzt wahrgenommen, wollte man sie auf einen exklusiv ritualkritischen Gestus abonnieren. Die 1960er und 1970er Jahre sind zugleich bestimmt durch Ritualtransfers, rituelle Neuerungen und Reritualisierungen sowie innovative ritualtheoretische Konzepte.49 Als einer ihrer prominentesten Vertreter gilt Turner. Mit seinem Wechsel in die USA kommt er in Kontakt mit den gegenkulturellen Entwürfen der beat generation und der entstehenden Hippie-Bewegung und bezieht sie in seine Theoriebildung ein.50 Entstanden ist daraus ein Reflexionsinventar, das Rituale auch als Modifikationspraktiken lesbar macht, die Räume der kreativen Erweiterung kultureller Symboliken, des spielerischen Experimentierens mit Alternativen und der kritischen Betrachtung bestehender Wirklichkeitsmodelle etablieren.
47 Platvoet, Ritual, 36 (Hervorhebung i. Orig.). Rituale „bilden ein Scharnier zwischen Individuum und Gemeinschaft“ (Stollberg-Rilinger, Rituale, 13). 48 Vgl. Wulf/Zirfas, Welten, 7. 49 Vgl. Dücker, Rituale, 179–185, hier 184; Brosius u. a., Ritualforschung, 11f; Fischer-Lichte, Ritualität, 26. 50 Vgl. Bräunlein, Aktualität, 49–61. Bräunlein markiert dabei die reziproken Bezüge zwischen Turners Theorie und den gegenkulturellen Bewegungen: „Das Interessante an Victor Turners Denken ist nicht nur der Umstand, dass er aus diesem Geist der Zeit Inspiration für seine Kulturtheorie schöpft. Bemerkenswert ist auch, dass seine Texte umgekehrt Rückwirkungen auf gesellschaftliche Experimente, rituelle Praktiken und utopische Modelle zeitigen“ (a. a. O., 56). Zur engen Verflechtung zwischen Turners theoretischen Innovationen und seinem biographischen Werdegang vgl. auch Deflem, Ritual.
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Teil C: Praktiken der Kunst
Transformative Praxis im Zeichen der Liminalität
2.2.1 Außeralltäglichkeit und Transformativität Die von Ronald Grimes als „Turnerian turn“51 der Ritualforschung bezeichnete Hervorhebung der kreativ-spielerischen und kritisch-transformativen Potenziale ritueller Praktiken wurde maßgeblich durch Arnold van Genneps Studie Les rites de passage beeinflusst. Bereits 1909 publiziert, wird sie 1960 ins Englische übersetzt und für die angelsächsische Ethnologie rezipierbar.52 Sie zielt auf den Nachweis, dass eine Vielzahl von Ritualen dazu diene, Übergänge diverser Art zu gestalten. Mithilfe einer Sequenzanalyse präpariert Van Gennep ein triadisches Strukturmuster heraus, das unabhängig von der Spezifik der Übergänge, die Ritualdramaturgie leite; an allen Passagenritualen ließen sich drei funktionsanaloge Phasen aufweisen.53 Die Trennungsphase distanziert einen oder mehrere Ritualteilnehmer vom Alltagsleben. Die liminale oder transformative Phase konstituiert einen Raum für alltagsdistante Erfahrungen, in dem die vormals im Alltag ausgelebte Sozialposition schon verlassen, die zukünftig im Alltag auszulebende Sozialposition aber noch nicht bezogen ist. Die Angliederungsphase reintegriert den oder die Ritualteilnehmer in das Alltagsleben. In seiner Rezeption der Überlegungen von Van Gennep fokussiert Turner die mittlere Phase. An ihr erarbeitet er ein Konzept von Liminalität, das in Folge weit über den ritualtheoretischen Diskurs hinaus Beachtung finden sollte. Nach wie vor grundlegend ist dabei sein 1964 publizierter Aufsatz Betwixt and Between. Alle einschlägigen Gesichtspunkte auch späterer Ausarbeitungen liegen hier in nuce vor. (1) Als Untersuchungsgegenstand wählt Turner Passagenrituale der Initiation.54 Wie alle Rituale interpretiert er auch sie als Symbolpraktiken.55 Dabei 51 Grimes, Ritual, 268. 52 Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Les rites de passage vgl. Schomburg-Scherff, Nachwort. 53 Vgl. zum Folgenden Van Gennep, Übergangsriten, 21. Basierend auf dem Begriff der Handlung universalisiert Dücker die Van Gennepsche Dreierfigur. Zwar seien selbstverständlich nicht alle Rituale Übergangsrituale im Sinne Van Genneps. Aufgrund ihres Handlungscharakters entfalteten sie sich aber stets „von einem Ausgangszustand (was) durch eine Aufführungsphase (wie) zu einem vorab definierten intentionalen Zielzustand (wohin)“ (vgl. Ders., Rituale, 39). 54 Konkret rekurriert Turner auf Material seiner zwischen 1950 und 1954 durchgeführten Feldforschungen bei den Ndembu im heutigen Zambia (vgl. dazu Bräunlein, Aktualität, 33– 42). 55 Turners symboltheoretische Leitlinien können hier nur knapp angedeutet werden: (1) Symbole sind die basalen Bausteine eines Rituals, wobei Riteme aller möglichen medialen Ausprägung als Symbole fungieren können: materiale Objekte, körperliche Gesten, relationale Positionen, räumliche Arrangements, schriftliche Texte, verbale Äußerungen etc. (2) Symbole werden kognitiv und sinnlich erfasst. Insofern besitzen sie einen ‚ideologischen‘ und
Victor Turners Konzept der Liminalität
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unterstreicht er den konstituierenden Charakter symbolischer Handlungen. Der liminale Raum, den Initiationsrituale aufspannen, ist ein symbolisch konstituierter Raum. Er liegt nicht einfach vor, sondern wird durch die Verwendung von Symbolen hervorgebracht. (2) Als Beispiel nennt Turner den Gebrauch von zwei adversativen Symbolreihen. Durch Symbole des Todes, der Verwesung etc. einerseits und Symbole der Schwangerschaft, Geburt etc. andererseits werden die Initianden als „‚transitional-being‘“ bzw. „‚liminal persona‘“ markiert.56 Signalisiert die degenerative Symbolreihe das Verlassen der alten, nicht mehr gültigen Sozialposition (z. B. ‚Knabe‘), so die generative Symbolreihe die Einnahme der neuen, noch nicht gültigen Sozialposition (z. B. ‚Krieger‘). Der liminale Raum wird zu einem ambiguitären Zwischenraum. Als transitional-beings und liminal personae bewegen sich die Initianden betwixt and between ihres alten und neuen sozialen Status’. Die Besetzung einer Sozialposition denkt Turner dabei komplex. Sie räumt einer Person Rechte ein, verpflichtet sie auf bestimmte Werte und Normen, sie geht mit der Aneignung von praktischem Wissen einher und prägt die Ausbildung spezifischer kognitiver und emotiver Muster. Daher ist die liminale Phase für Turner immer auch als ein Raum zu begreifen, in dem eingewöhnte Strukturen des Denkens, Fühlens und Handelns irritiert werden. In ihm sind die Initianden „divested of their previous habits of thought, feeling, and action.“57 (3) Auf diese Weise den etablierten Klassifikationen enthoben, die innerhalb des Alltagslebens das gemeinschaftliche Arrangement bestimmen, werden den Initianden neue soziale Möglichkeiten zuteil. Den Bindungen, die unter ihnen entstehen, schreibt Turner die Attribute der Kameradschaft, Freundschaft, Solidarität und Vertrautheit zu. Während ihre Beziehungen außerhalb des Rituals durch Distinktionen und Hierarchien geregelt sind, begegnen sie sich im Raum der Liminalität ‚auf Augenhöhe‘, in einem Bewusstsein elementarer Gleichheit. Turner wird diese Beziehungsqualität später als communitas beschreiben.58 ‚orektischen‘ Pol. (3) Symbole sind semantisch relativ offene, polyseme Einheiten. Sie sind nicht auf nur eine Bedeutung zu fixieren. (4) Symbole sind dynamische Systeme. Ihre Semantik prozessiert mit dem Wandel ihrer lebensweltlichen Kontexte und der Deutungsarbeit derer, die sie gebrauchen. (5) Symbole sind expressiv und effektiv. Sie stellen vorgängige Bedeutungen, Werte und Empfindungen nicht nur dar, sondern konstituieren sie immer auch mit. (6) Symbole sind dreischrittig zu analysieren: Ihre ‚exegetische‘ Bedeutung erschließt sich aus der Befragung von Ritualexperten; ihre ‚positionale‘ Bedeutung erschließt sich aus den systemischen Relationen zu anderen Symbolen; ihre ‚operationale‘ Bedeutung erschließt sich aus ihrem praktischen Gebrauch durch die Ritualakteure. Eine ausführliche Darstellung von Turners Symboltheorie bietet Bräunlein, Aktualität, 63–91. 56 Vgl. Turner, Betwixt and Between, 95. Vgl. hierzu auch Brunotte, Ritual, bes. 359–363, die Turners Liminalitätskonzept für moderne Initiationsphänomene fruchtbar zu machen sucht. 57 Turner, Betwixt and Between, 105. Vor dem Hintergrund der unter C.1 notierten Überlegungen Seels könnte man in gewisser Weise von einer Veränderung der Einstellung sprechen. 58 Vgl. Turner, Betwixt and Between, 99ff.110; Ders., Process, 94–165. Zur Kategorie der com-
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(4) Neben der konstituierenden, besitzen die Symbole auch eine kommunikative Funktion. Turner deutet die von ihm untersuchten Initiationsrituale als eine Art Elementarisierungspraxis. In ihnen wird der kulturelle Zusammenhang auf zentrale Komponenten konzentriert. In Form symbolischer Verdichtung werden den Initianden die „basic building-blocks of culture“59 zugänglich gemacht. An der Machart der dabei zum Einsatz kommenden Symbole markiert Turner ein weiteres Merkmal der liminalen Phase: ihre Kreativität. Präziser wäre von ihrer künstlerischen Kreativität zu sprechen. Die Symbole beruhen auf Praktiken der Entkontextualisierung, Stilisierung, Verfremdung und Neukombination von alltäglichen Gegenständen: Gebrauchsobjekten, tierischen und menschlichen Körpern u. a.m. Dabei werden die aus der Alltagserfahrung vertrauten Funktions- und Formgesetze bewusst irritiert. In der Herstellung von disproportionalen Figurinen und Masken, die Mensch-Tier-Hybride darstellen, erkennt Turner Beispiele einer kreativ-künstlerischen Überschreitung alltäglicher Perzeptionsmuster, die in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften im Bereich der Ästhetik kultiviert werden. (5) Interessant ist Turners Deutung der Funktion solcher Überschreitungen. Ein Gros der Ausführungen in Betwixt and Between dient der Plausibilisierung der These, dass die liminale Sphäre einen Reflexionsraum eröffne. Durch die Dissoziation der Initianden aus dem Gefüge der etablierten Sozialpositionen und die damit einhergehende Störung vertrauter Denk-, Gefühls- und Praxismuster sowie die Konfrontation mit Symbolen, welche die alltäglichen Wahrnehmungsgewohnheiten transzendierenden, kommt es zu einer Irritation des Selbstverständlichen: „Liminality […] breaks […] the cake of custom“. Dieser ‚Bruch‘ generiert Möglichkeiten der Reflexion. Die Ritualteilnehmer erfahren einen Impuls, über die vermeintlich fraglos gegebenen Momente ihrer Lebenswelt, ihre sozialen wie kosmischen Vorstellungsschemata sowie die darin verankerten basic building-blocks ihres kulturellen Selbstverständnisses nachzudenken: entweder um sich ihrer zu vergewissern oder sie zu hinterfragen und neuzufassen.60 Liminalität markiert für Turner immer auch ein Medium, um über das Bestehende hinauszudenken, alternative Ideen zu entwickeln und so das Set der Selbstinterpretationen innovativ zu bearbeiten. munitas vgl. auch Alexander, Victor, 33–44; Bräunlein, Aktualität, 49–61; Deflem, Ritual, 14f; Wagner-Willi, Liminalität, 228–238. Anders als die von Platvoet als expressiv beschriebene Dimension von Ritualen, reproduziert für Turner die liminale Phase der Initiationsriten die bestehenden sozialen Beziehungen nicht; sie unterläuft sie. Freilich darf nicht vergessen werden, dass für Turner zwischen den Initianden und ihren Lehrern ein streng asymmetrisches Gefälle besteht; Turner spricht von „complete authority and complete submission“ (a. a. O., 99). 59 Turner, Betwixt and Between, 110. Turner bezeichnet sie auch als „factors of reality“ resp. „factors of existence“ (a. a. O., 105f). 60 Vgl. Turner, Betwixt and Between, 102–110, hier 106.
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„Ritual […] is not, in essence, as is commonly supposed in Western culture, a prop for social conservatism whose symbols merely condense cherished cultural values, though it may, under certain conditions, take on this role. Rather does it hold the generative source of culture and structure, particularly in its liminal stage. […] New signifieds can be added by collective fiat to old signifiers. Moreover, individuals may add personal meaning to a symbol’s public meaning, either by utilizing one of its standardized modes of association to bring new concepts within its semantic orbit (metaphorical reconstruction) or by including it within a complex of initially private fantasies.“61
(6) Betreffen die bisher rekonstruierten Charakteristika vor allem die liminale Phase selbst bzw. die Erfahrungsmöglichkeiten, die den Ritualteilnehmern innerhalb ihres Verlaufs in actu eröffnet werden, fokussiert das letzte Merkmal die längerfristigen, externen Effekte des Initiationsrituals. Das Initiationsritual transformiert die Initianden. Im Durchgang durch die liminale Phase werden aus Knaben Krieger. Die Initianden werden in eine neue Sozialposition eingesetzt, die sie – unter der Bedingung, dass das Ritual sozial als ordnungsmäßig vollzogen anerkannt wird – über das Ritual hinaus irreversibel bekleiden.62 Unter Verweis auf emische Deutungen der Wirksamkeit von Initiationspraktiken spricht Turner von einer „ontological transformation“. Es gehe nicht allein um symbolische Zuschreibungen oder die Aneignung von Wissen, sondern um einen „change in being“.63 Diese Merkmale zeigen, dass Turners Konzept der Liminalität im Wesentlichen auf zwei Überlegungen beruht: Liminalität kennzeichnet kulturelle Praxissphären, die alltägliche Vollzüge sistieren und transzendieren (Außeralltäglichkeit64) und dadurch Veränderungsmöglichkeiten konstituieren (Transformativität). Im Blickwinkel der Liminalität ist die Frage nach der transformativen Dimension kultureller Praktiken intern mit der Frage verknüpft, inwiefern diese Praktiken in einem Setting verankert sind, das sich – „as a time apart“ – von den Vollzügen, die den Alltag bestimmen, abzuheben vermag.65 Erzeugt wird diese Abständigkeit in der Regel nicht mittels kategorial differenter Handlungen, sondern durch Formalisierung und Stilisierung der aus dem 61 Turner, System, 171. 62 Bezüglich der transformativen Dimension von Ritualen hebt Fischer-Lichte das Doppelkriterium der „sozialen Akzeptanz“ und der „Irreversibilität“ hervor. Rituale seien primär auf Veränderungen bezogen, die einerseits durch die soziale Formation, durch die sie vollzogen werden, anerkannt werden müssen und andererseits nicht wieder rückgängig gemacht werden können. Das unterscheide sie von Veränderungen, die durch ästhetische Werke und Ereignisse provoziert werden (vgl. exemplarisch Dies., Einleitung, xvf). 63 Vgl. Turner, Betwixt and Between, 102. 64 Zum Motiv der Außeralltäglichkeit im Zusammenhang ritualtheoretischer Überlegungen vgl. Dücker, Rituale, 51f; im Blick auf die Theateraufführung vgl. dazu Rapp, Handeln, 202–219. 65 Vgl. Loxley, Performativity, 155: Turner „does not claim that ritual is simply part of the everyday, recognising instead its distinctiveness as a time apart.“ Zum folgenden Reflexionsgang vgl. auch Stetter, Pfarrer, 94ff.
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Alltagsleben vertrauten Vollzüge, ihrer Rahmung durch spezifische cues sowie den Einsatz künstlerisch-kreativ bearbeiteter Gegenstände. Dadurch werden liminale Praktiken symbolfähig. Ihre Handlungen und Gegenstände vermögen über sich hinaus zu weisen auf die basic building-blocks eines kulturellen Zusammenhangs, also die Bedeutungen, Ideale und Visionen, die die Selbstinterpretationen einer sozialen Formation bestimmen. Mit Dücker könnte man auch sagen, dass sie der ‚Sichtbarmachung von Werten‘ dienen; liminale Räume sind „wertexplizite Erfahrungssituationen“.66 Sie überführen die zentralen Faktoren des Selbstverständnisses in sinnliche Anschauung, wodurch sie kognitiv ins Bewusstsein gebracht und synästhetisch erfahrbar werden. Sofern es sich dabei um ‚Werte‘ handelt, die unseren Alltag implizit orientieren – oder orientieren sollen – und unserer Lebensführung Sinn und Richtung geben, verbindet sich mit dem Motiv der Außeralltäglichkeit zugleich ein alltagsrekursives Moment. Genauer kommt die Sistierung und Transzendierung des alltäglichen Lebens als Ermöglichungsgrund einer strukturell veränderten Bezugnahme zu stehen: Das Alltägliche wird auf seine impliziten Orientierungsmuster hin transparent und dem Räsonnement und der sinnlichen Wahrnehmung dargeboten. So besehen können liminale Praktiken mit einem Begriff von Luc Boltanski als ein „metapragmatisches Register“ interpretiert werden; sie versetzen die an ihnen partizipierenden Akteure in die Lage, für einen Moment von ihrem alltäglichen Tun ‚abzusehen‘, um es gleichwohl ‚anzusehen‘ – in Hinblick nämlich auf seine Wertfundierung, Sinnrichtung und inhaltliche Bestimmtheit.67 Während für Boltanski diese Perspektivierung der „Bestätigung“ wie der „Kritik“ 66 Vgl. Dücker, Rituale, 52–59, hier 58. Leicht variierend formuliert Fugger, Symbol, 419: Rituale bieten einen „Weg, um aus abstrakten Ideen, Werte werden zu lassen“. Auf die Bedeutung der Affektivität in diesem Prozess hat vor allem Émile Durkheim aufmerksam gemacht. Kulturelle Performanzen vermögen nicht nur den Grad kognitiver Reflexivität und sinnlicher Plastizität von Werten zu steigern. Durch die – bei Durkheim in der Erfahrung von Kollektivität verbürgte – Stimulation subjektiver Erregung (‚Efferveszenz‘) befördern sie die Revitalisierung oder initiale Erzeugung von Wertbindungen gerade über emotionsbasierte Bedeutungsaufladung. Vgl. Ders., Formen, 307–319 sowie dazu Joas, Entstehung, 87–109; Pettenkofer, Protest, 209–228. 67 Vgl. Boltanski, Soziologie, 82–130, bes. 106f. Für Boltanski kann die Welt des Handelns als eine sich in zwei Registern vollziehende begriffen werden. Während die Akteure im praktischen Register an der Bewältigung konkreter Aufgaben orientiert sind, unter der Prämisse handeln, als ob sie und/oder andere „mehr oder weniger wüßten, worum es geht“ und Widersprüchlichkeiten in der Situationsdeutung zugunsten einer Betonung der Selbstverständlichkeit eines gegebenen Kontextes pragmatisch ausblenden (vgl. a. a. O., 99), zeichnet sich das metapragmatische Register durch „ein gehobenes Reflexionsniveau“ aus, „ein Niveau, auf dem die Aufmerksamkeit der Teilnehmer sich von der zu bewältigenden Aufgabe weg auf die Frage verlagert, wie das, was abläuft, zu qualifizieren bzw. zu kennzeichnen sei“ (vgl. a. a. O., 106 [i. Orig. teils hervorgehoben]). Eine Handlungssequenz wird hier zugunsten der Klärung ihrer inhaltlichen Bestimmtheit, ihrer Wertigkeit und ihrer Sinnhaftigkeit sistiert.
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dienen kann, akzentuiert Turner die subversiven Potenziale liminaler Praktiken: Sie sind ein Ort auch der kritischen Hinterfragung und kreativen Erweiterung der lebensbestimmenden Semantiken.68 Dieses transformative Moment lässt sich in modaler Hinsicht doppelt annähern. Turner beschreibt einerseits externe Effekte. Im Fall eines Initiationsrituals sind diese offensichtlich. Es zielt auf die Ausprägung von Dispositionen, die das Denken, Fühlen und Handeln des Initianden unter der Bedingung der gesellschaftlichen Anerkennung seines neuen sozialen Status außerhalb des Rituals bleibend bestimmen. Oftmals wird Turners Analyse ritueller Liminalität auf diese längerfristigen Veränderungen reduziert. Unterbestimmt bleiben dann die transformativen Potenziale der liminalen Erfahrung selbst. Schon Turner schreibt den von ihm untersuchten Ritualen innovative Möglichkeiten der Sozialität, Perzeption und des Räsonnements zu, die nicht notwendig auf die außerrituellen Lebensvollzüge Einfluss nehmen müssen. Transformation kommt bei ihm in zweifacher Perspektive in Betracht: als in actu eröffnete Erfahrungsmöglichkeit liminaler Praktiken selbst und als das Wirklichkeitsverständnis und -verhältnis der Ritualteilnehmer auch außerhalb des Rituals prägende, externe Wirksamkeit. Mit dem Motiv der Außeralltäglichkeit stellt sich die Frage nach dem Alltagsbegriff. Für Turner ist er mindestens dreifach bestimmt: Er bedeutet das ‚praktisch Eingewöhnte‘, das ‚mental Selbstverständliche‘ und das ‚sozial Strukturierte‘. ‚Alltag‘ bezeichnet primär ein Tun, das durch Kontinuitäten geprägt ist. Durch wiederholte Abfolgen erhält es die Qualität des Eingespielten und Routinierten. Als solches vermag es von der grundsätzlich auf Dauer gestellten Anforderung individueller und kollektiver Situationsklärung zu entlasten. Die Frage, was ich bei einem Vollzug überhaupt mache, welcher Wert ihm im Zusammenhang meines Selbstverständnisses zukommt und worauf er eigentlich abzielt, bleibt unthematisch. Ferner schreibt Turner dem Alltag ein soziales Ordnungsmoment zu. In ihm erscheint Gesellschaft als „structured, differentiated, and often hierarchical system of politico-legal-economic positions“.69
68 Vgl. Boltanski, Soziologie, 98. Anders als Turner misst Boltanski rituellen Praxiszusammenhängen in klassischer Manier vor allem eine affirmative Funktion bei (vgl. a. a. O., 127ff). Zum Ineinander von Alltagsdistanz und Alltagsbezug ritueller Performanzen als Bedingung gerade ihrer transformativen Kapazität vgl. auch Loxley, Performativity, 156: „[T]he relationship between ritual process and the everyday is a complicated one: it stands apart, like the non-serious interludes of play, but it also has the function of enacting changes in status which relate directly to the everyday world. At the same time, it not only discharges this function but also hints at possible changes and transformations of the society in which it works, and here it manifests some of the radical freedom from responsibility associated with play. Ritual performance is therefore itself something of a liminal entity: it is ‚both earnest ans playful‘ […], preserving the apartness and openness of the non-serious while also managing to make a difference in the the world of the everyday.“ 69 Vgl. Turner, Process, 96. Mit der Anwendung des Liminalitätskonzeptes auf moderne Gesellschaften, wird diese Trias durch ein weiteres Merkmal ergänzt. Alltag zeigt sich hier vor
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Im Licht der neueren Alltags- und Lebensweltforschung greift dieses Verständnis sicherlich zu kurz.70 So ist nicht allein die Möglichkeit einer expliziten Reflexion auf den Wert, Zweck und die Qualität meines Tuns im Alltag permanent mitgesetzt; sie wird hier auch immer wieder realisiert. Der Vollzug des Korrigierens einer Seminararbeit etwa vermag jeden Augenblick umzuschlagen in eine Thematisierung seiner inhaltlichen Bestimmtheit, seiner Wertigkeit und Sinnhaftigkeit: ‚Verdient das, was ich gerade tue, überhaupt die Bezeichnung einer Korrektur?‘ ‚Bin ich aufmerksam, gründlich und fair genug?‘ ‚Und warum sollte mich dies überhaupt kümmern?‘ ‚Gehört die Praxis des Korrigierens nicht zu den belangloseren Aufgabenfeldern meines Berufs?‘ ‚Oder berührte eine laxere Umsetzung der Korrekturregeln gerade mein berufliches Selbstverständnis?‘ Die alltäglichen Vollzüge bieten durchgängig die Möglichkeit einer solchen gesteigerten, ausdrücklichen Reflexivität und realisieren sie auch; sie treten nicht nur abseits des Alltags auf.71 Und sosehr die sozialen Relationen, in denen ich mich alltäglich bewege, durch festere Strukturen organisiert sind, sosehr bietet das Alltagsleben selbst doch auch notorisch Situationen, in denen vermeintlich fixierte Verhältnisse aufgebrochen und verflüssigt werden.72
2.2.2 Reflexivität und Ludizität Im Anschluss an Betwixt and Between hat Turner das Liminalitätskonzept weiter entfaltet. Dabei löst er es sukzessive von seinem ursprünglichen Entdeckungszusammenhang. Liminalität wird zu einer tendenziell universalen Struktur, die kulturellen Phänomenen unterschiedlicher Art zukommt. Turner identifiziert sie nicht allein in Initiationsritualen. Er schreibt sie auch sozialen Außenseiterfiguren, chiliastischen Bewegungen, mönchischen Orden, religiösen Pilgerreisen, karnevalesken Praktiken, gegenkulturellen Lebensentwürfen oder ästhetischen Genres zu.73 Im Folgenden liegt der Fokus auf Letzteren.
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allem als Ort der Arbeit. Er wird durch das erwerbstätige Leben bestimmt, dem die Sphären der Freizeit gegenüber stehen (vgl. Turner, Play; Ders., Frame). Vgl. dazu aus praktisch-theologischer Perspektive exemplarisch Failing/Heimbrock, Religion; Merle, Alltagsrelevanz; Streib, Alltagsreligion. Selbst wenn man Boltanskis Differenz zwischen einem praktischen und metapragmatischen Register auf die Differenz von Alltag und Ritual anwenden möchte, bliebe zu bedenken, dass bei ihm die Unterscheidungslinie nicht zwischen Reflexionslosigkeit und Reflexion, sondern zwischen Reflexion und gesteigerter Reflexion verläuft. Zu Konturen einer ritualwissenschaftlich orientierten Theorie des Alltags vgl. Dücker, Rituale, 122–127. Diese Einwände scheint Turner selbst hier und dort zu sehen (vgl. etwa Ders., Frame, 49). Vgl. Turner, Process, 108–113; Ders., Frame; Ders./Turner, Image. Diese Universalisierung des Liminalitätskonzepts ist nicht unproblematisch. Fraglich ist, ob Turner die historische und soziokulturelle Spezifik dieser vielfältigen Phänomene noch einzufangen vermag. Um diese Problematik abzuschwächen, wäre sein Liminalitätsbegriff als ein heuristisches Instrumentarium zu interpretieren, das es erlaubt, vermeintlich alltagsdistanzierende und transformative Kultursphären tentativ aufzuspüren, um sie im Licht ihrer konkreten Beschaffenheit und in ihrer historischen, sozialen und kulturellen Dichte induktiv auf ihre
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In seiner Reflexion auf ästhetische Praktiken als liminale Gebilde interessiert Turner vor allem das Theater.74 Tatsächlich hatte er schon in seiner Dissertationsschrift Schism and Continuity mit dem theatralen Konzept des Dramas operiert. Das soziale Leben weise notorisch eine dramatische Struktur auf: Immer wieder werde das reibungslose Miteinander gestört („breach“), woraus sich krisenhafte Zustände entwickelten („crisis“), die Bewältigungspraktiken evozierten („redressive means“); diese führten entweder zur Reintegration der Konfliktparteien („reconciliation“) oder zu ihrer permanenten Trennung („consensual recognition of irremediable breach“).75 Im Verlauf des ‚sozialen Dramas‘ kommt der Phase der Bewältigung eine besondere Bedeutung zu. Häufig wird sie rituell gestaltet. Diesen Bewältigungsritualen schreibt Turner wiederum die Funktion der Reflexion zu.76 Während in Betwixt and Between der reflexive Aspekt vor allem auf den kognitiven Prozess des überlegenden und nachdenkenden Umgangs mit Gegenständen verwies, steht nun die weitere Bedeutung im Vordergrund, wonach ‚Reflexion‘ ganz allgemein eine Bewegung der Selbstreferenz bezeichnet; im Modus der Reflexion wird ein Individuum oder ein Kollektiv sich selbst zum Gegenstand.77 Damit werden die mit Dücker und Boltanski in die Analyse eingebrachten Gesichtspunkte durch Turners eigene Terminologie ausdrücklich gedeckt. Eine durch eine im Alltag selbst auftretende Krise und/ oder durch eine alltagsunterbrechende Praxis Gestalt gewinnende Sistierung provoziert Selbstreflexion:78 Sie führt eine soziale Formation in die Erkundung ihrer aktuellen Lage, lässt sie sich ihre normative Infrastruktur, ihre Werte, Ideale, Aspirationen und Hoffnungen vergegenwärtigen und etabliert insofern
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liminalen Effekte zu befragen. Eine Zusammenfassung der Kritik an Turners Theoriebildungen bietet Bräunlein, Aktualität, 144–163. In der Einführung zu seinem Sammelband From Ritual to Theatre begründet Turner dieses Interesse biographisch über die Schauspieltätigkeit seiner Mutter (vgl. Ders., Introduction, 7f). Neben dem Theater rechnet Turner auch Sportereignisse, Musikkonzerte, Kunstaustellungen, Film, Literatur usw. zu den modernen Formen kultureller Liminalität. Er versammelt sie unter dem Begriff der „leisure genres“ (vgl. Ders., Play, 55 u. ö.). Vgl. Turner, Anthropology, 92 (im Orig. teils hervorgehoben); ausführlicher Turner, Dramas. Vgl. dazu auch Bräunlein, Aktualität, 33–42; Fischer-Lichte, Einleitung, x. Vgl. Turner, Anthropology, 92; Ders., Introduction, 11. Dieser Selbstbezug behält für Turner seine kognitiv-begrifflichen Komponenten. Der reflexive Aspekt wird auf diese aber nicht enggeführt. Zu verschiedenen Bedeutungsnuancen der Reflexivitätsvorstellung und ihrer Funktion in der Ritualforschung vgl. Simon, Reflexivität. In gewisser Weise kehrt hier der schon unter B.2.3.3 beschriebene Zusammenhang von ‚Aufdeckung‘ und ‚Erzeugung‘ wieder. Die reflexionsprovokative Störung meldet sich einerseits lebensweltlich an, kommt andererseits jedoch nicht interpretationsunabhängig zum Vorschein. Analog zu einem kritischen Akt ‚reagiert‘ die liminale Praxis auf eine ‚Störung‘ – und ist damit Teil der durch sie provozierten Reflexionsbewegung; und zugleich ‚provoziert‘ sie eine ‚Störung‘ – und ist damit Teil des reflexionsprovokativen Anstoßes. Zur Logik der Irritation als Anlass einer reflexiven Explikation vgl. auch Jaeggi, Kritik, 127–130; Wohlrapp, Begriff, 63–70.
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einen Raum, in dem sie sich gedanklich, sinnlich wie emotional mit sich selbst auseinanderzusetzen vermag. Turner vertritt die These, dass das moderne Theater seinen Ursprung in der rituell gestalteten Bewältigungsphase des ‚sozialen Dramas‘ besitzt.79 Entsprechend erkennt er auch in Theateraufführungen ein reflexives Medium. Er interpretiert sie als „modes of self-understanding“80, „Instrumente der Selbstprüfung“81 und in Anschluss an Geertz als „social metacommentaries“82. Gesellschaft wird in ihnen insofern reflexiv, als (1) die in ihr gemachten Erfahrungen interpretativ erschlossen und die basic building-blocks ihres Selbstverständnisses sichtbar gemacht werden, (2) beides aufeinander bezogen wird und somit Deutungen der bestehenden Wirklichkeit im Licht der aufgeführten Bedeutungen, Werte und Utopien evaluierbar und kritisierbar werden und (3) auf diese selbst produktiv und verändernd eingewirkt und an Entwürfen wünschenswerter Wirklichkeit gearbeitet wird.83 Mehr intuitiv als systematisch erörtert kehren hier Vollzugsformen kritischer Praxis wieder, die im Zusammenhang von Walzers Überlegungen detaillierter beschrieben wurden (vgl. B.2.3). Kulturelle Performanzen wie das Theater exemplifizieren Diskrepanzen zwischen ‚Selbstdeutung‘ und ‚Selbstentwurf‘ und leisten kreative Neuinterpretationen der darin zur Geltung gebrachten Verständnisse. Zur Illustration dieser Vollzugsformen operiert Turner ebenfalls mit der Spiegelmetapher.84 Wie bei Walzer erstellen Theateraufführungen keine 79 80 81 82
Vgl. exemplarisch Turner, Introduction, 11f. Turner, Dramas, 79. Turner, Einführung, 14. Turner, Acting, 104. Vgl. auch Ders., Frame, 47; Ders., System, 163–166. In seiner prominent gewordenen Untersuchung des balinesischen Hahnenkampfes bezeichnet Geertz das Hahnenkampfritual als „metasozialen Kommentar“. Er versteht darunter eine „Geschichte, die man einander über sich selbst erzählt“. Insofern eignet dem ‚metasozialen Kommentar‘ eine „interpretierende“ Aufgabe. In ihm reflektiert eine soziale Formation auf sich selbst und verleiht ihren Erfahrungen deutend Sinn (vgl. Geertz, Play, 252–260, hier 252). 83 Vgl. Turner, Anthropology, 92. Das heißt, dass die rituelle Sichtbarmachung der sozialen Bedeutungen, Werte und Normen den Ritualteilnehmern nicht nur Maßstäbe zur Kritik des status quo an die Hand gibt, sondern auch zu einer Kritik und transformierenden Bearbeitung dieser Bedeutungen, Werte und Normen selbst führen kann. Rituale bieten „codes or presentation and expression, which enable participants and spectators to realize just how far they have fallen short of or transgressed their own ideals standards, or even, in some kinds of ritual, to call those very ideals into question under conditions of sharp social change“ (vgl. Ders., Frame, 34). Unter Einbeziehung Bourdieuscher Terminologie leistet Raybin, Aesthetics, 22–27 eine ausführliche Rekonstruktion dieser reflexiven Vollzugsmodi. 84 Vgl. zum Folgenden Turner, Acting, 104–108. Zur Spiegelmetapher als Interpretament ästhetischer Praxis vgl. auch Danto, Verklärung, 25–32, wobei Danto den in seiner Trivialität schlagenden Gedanken notiert, dass in Spiegeln „Dinge zu sehen [sind], die wir ohne sie nicht sehen können, nämlich wir selbst. […] Spiegel und, verallgemeinernd gesagt, Kunstwerke, geben uns nicht wieder, was wir auch ohne ihre Hilfe erkennen können, sondern sie dienen vielmehr als Werkzeug der Selbstenthüllung“ (a. a. O., 28 [Hervorhebung M.S.]). Damit ver-
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Abbilder, sondern entwickeln im Modus der Entkontextualisierung, Stilisierung, Verfremdung und Neukombination produktive ‚Zerrbilder‘, die diejenigen, die sich in ihnen wiedererkennen zum Nachdenken anregen und Veränderungsimpulse wecken sollen. Und wie bei Walzer ist im Horizont einer plural strukturierten Gesellschaft nicht von der Möglichkeit eines einheitlich beschaffenen ‚Spiegels‘ auszugehen, sondern von der Realität eines vielseitigen ‚Spiegelsaals‘, in dem sich eine Gesellschaft mit diversen ‚Metakommentaren‘ konfrontiert. Wie gesagt, wird der komplexe Vollzugsmodus eines solchen Metakommentars im Unterschied zu Walzer nicht eingängiger reflektiert. Der Zusammenhang von Interpretation, Kritik und Transformation wird vorausgesetzt, nicht entfaltet und plausibilisiert. Einen über Walzers Überlegungen hinausreichenden Gesichtspunkt notiert Turner in der Ausarbeitung der ludischen Dimension liminaler Praktiken. Er verdankt sich der Zentralstellung ästhetischer Formen in Turners Theoriebildung und knüpft an die kreativ-künstlerischen Merkmale ritueller Symbolarbeit an. Der Begriff des Spiels bezeichnet die Art und Weise, in der liminale Praktiken wie das Theater ihre kritischen und transformativen Potenziale aufbauen und verwirklichen. Dabei bleibt seine Semantik relativ offen. Der Spielbegriff wird nicht definitorisch eingeführt oder theoretisch fundiert, sondern über ein Feld sich wechselseitig erläuternder Konzepte wie ‚Konjunktiv‘, ‚Hypothese‘, ‚Experiment‘, ‚Fiktion‘, ‚Phantasie‘, ‚Wunsch‘, ‚Möglichkeit‘ umrissen. Einzig der wiederholte Rekurs auf Johan Huizingas Studie zum Phänomen des Spiels deutet einen elaborierteren Theoriebackground an.85 Huizinga bestimmt das Spiel als ein „freies Handeln“. Als Handeln, das nicht durch „physische Notwendigkeit“ oder „sittliche Pflicht“ geleitet ist, eignet ihm der Charakter der Freiwilligkeit. Es wird in der autonom vom Subjekt gestalteten „‚Freizeit‘ gespielt.“86 Ferner markiert die ludische Sphäre eine Unterbrechung des „‚gewöhnliche[n]‘ oder […] ‚eigentliche[n]‘ Leben[s].“ Es bildet ein „Intermezzo im täglichen Leben“ und steht damit „außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden“.87 Als alltagssistierende und -transzendierende Form bildet das Spiel einen abgeschlossenen und begrenzten Zeit-Raum aus. Es besitzt einen zeitlichen Anfang und einen zeitlichen Abschluss und wird durch einen räumlichen Rahmen eingehegt. Spiele „sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.“88 Qualitativ wird der abge-
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weist er auf die von Ricœur herausgestellte Umweglichkeit des Sichselbstverstehens (vgl. A.1.4.3). Vgl. Turner, Dramas, 85; Ders., Frame, 35; Ders., System, 160. Vgl. Huizinga, Homo, 16 (i. Orig. teils hervorgehoben). Vgl. Huizinga, Homo, 16f (i. Orig. teils hervorgehoben). Vgl. Huizinga, Homo, 18f.
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schlossene und begrenzte Zeit-Raum unter anderem durch ein sog. „Minderwertigkeitsbewußtsein“ konstituiert. Spiel ist verbunden mit einem ‚Bloß-soTun‘ – man könnte ergänzen: bloß so tun ‚als ob‘. Um des Vergnügens des Spiels teilhaftig zu werden, unterwerfen sich die Spielenden durch ein „gewisses Element von ‚make-believe‘“ freiwillig den das Spiel konstituierenden Regeln. Wissend um das „Bloß“ des Spiels, machen sie sich seine Welt fakultativ glauben. Oder wie Huizinga lapidar notiert: „[M]an will der Betrogene sein“.89 Obwohl Turner nur allgemein auf Huizinga verweist und seine formalen Ludizitätsmerkmale nicht zitierend oder im Sinne einer expliziten Auseinandersetzung in seine Theorie des Liminalen integriert, sind alle beschriebenen Momente in Turners am Spielbegriff orientierter Ausdeutung liminaler Praktiken nachweisbar: das Freiwilligkeitsmoment, das Attribut der Außeralltäglichkeit, die symbolisch konstituierte räumliche und zeitliche Rahmung und die makebelieve-Vorstellung.90 Bei Turner fungiert ‚Spiel‘ zunächst als Interpretament der produktionsbezogenen kreativ-künstlerischen Möglichkeiten liminaler Praktiken. Verfahren der Entkontextualisierung, Stilisierung, Verfremdung und Neukombination erlauben die Erzeugung von Signifikanten und Semantiken, die über das Repertoire der die Alltagswirklichkeit prägenden Ausdrücke und Bedeutungen hinausreichen.91 Theater eröffnet einen Raum, in dem das, was von der Alltagswirklichkeit abweicht, dargeboten werden kann. Evident ist dies im Blick auf die aufgeführten stories. Sie sind fiktiv, also „nicht darstellend oder berichtend auf ein Geschehen in der Alltagswirklichkeit bezogen“92. Entsprechend kann Turner die ludische Eigenart des Liminalen auch über die linguistische Differenzierung zwischen Indikativ und Konjunktiv erläutern. Geht es im indikativischen Modus um eine Darstellung, die beansprucht, etwas zum Ausdruck zu bringen, das faktisch existiert oder existiert hat, geht es im konjunktivischen Modus um die Artikulation von Möglichkeiten: unbestätigten Vermutungen, nicht realisierten Wünschen oder mit der Alltagswirklichkeit prinzipiell nicht kompatiblen utopischen
89 Vgl. Huizinga, Homo, 16f.33 (Hervorhebung M.S.). Zur Figur des make-believe vgl. C.5. 90 Da Huizinga zur Plausibilisierung der Kulturbedeutung des Spiels immer wieder sowohl auf rituelle als auch theatrale Praktiken zurückgreift (vgl. Ders., Homo, 22–37.158ff), bietet bzw. böte seine Studie auch im Blick auf den materialen Phänomenbezug vielfältige Anknüpfungspunkte für Turners Liminalitätskonzept. Im ‚poetischen‘ Bereich markiert für Huizinga gerade das Drama diejenige Kulturform, die bis in die Gegenwart hinein „seinen festen Zusammenhang mit dem Spiel“ bewahrte (a. a. O., 159). Zu Turners Adaption der Spielterminologie auf die Ritualpraxis vgl. auch Loxley, Performativity, 155f; Wagner-Willi, Liminalität, 235f. 91 Turner spricht von einem „play of symbol-vehicles“ und einem „play of meanings“ (vgl. Ders, Dramas, 85 [im Orig. teils hervorgehoben]; ferner Ders., Frame, 33; Ders., Play, 27ff.40). 92 Zipfel, Fiktion, 76.
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Vorstellungen.93 Liminale Praktiken operieren in der „Möglichkeitsform“94. Ihr ludischer Charakter zeigt sich damit auf Ebene der dargebotenen Gehalte. Ästhetische Formen wie das Theater bilden kulturelle Sphären, die es erlauben, das Publikum mit ‚Welten‘ zu konfrontieren, die nicht dem Zwang der Realitätsprüfung unterliegen. Sie vermögen die alltäglichen Erfahrungen und zugänglichen Wissensbestände ihrer Rezipienten bis in die Aufführung von fantastisch anmutenden Ereignissen, Orten und Zeiten hinein zu transzendieren und stellen damit alternative und innovative Denk-, Gefühls- und Handlungsmodelle zur Verfügung. Der Begriff des Spiels fungiert sodann zur Beschreibung der Rezeption solcher Modelle. Auch das Publikum vermag mit den aufgeführten Bedeutungen zu ‚spielen‘. Auf rezeptiver Ebene verweist das ludische Moment vor allem auf den Aspekt der Freiwilligkeit. Unter anderem in Auseinandersetzung mit dem Theaterkonzept von Jerzy Grotowski unterstreicht Turner wiederholt, dass der Kunstform des Theaters bestenfalls ein selbstbestimmtes Sicheinlassen entspricht.95 Verlangt die ‚indikativische‘ Form vom Rezipienten, das Dargestellte zu glauben, stellt ihm die ‚konjunktivische‘ Form frei, das Dargestellte als „as if“96 zu betrachten. Ihm steht frei, ob er sich den präsentierten Welten vorübergehend im Glauben, dass sie wahr sind, unterstellt. Ihre Rezeption erhält damit den Charakter eines Experiments. Sie vollzieht sich im Modus ‚spielerischer Erprobung‘97. In der theatralen Aufführung wird das Publikum mit alternativen Weltentwürfen, Existenzweisen und Lebenshaltungen konfrontiert, mit denen es sich tentativ zu identifizieren vermag, um dadurch auf Probe Erfahrungen der Selbsttranszendenz zu machen. Durch Verweis auf die ludische Dimension liminaler Praktiken gewinnt Turner eine ästhetische Fassung ihrer kritischen und transformativen Potenziale. Indem er lediglich auf Versatzstücke der Ästhetik zurückgreift – ‚as if‘, ‚makebelieve‘, ‚Möglichkeit‘, ‚Probehandeln‘, ‚Freiwilligkeit‘ – leistet er zwar keine anspruchsvolle und theoriebasierte Konzeption ästhetischer Transformation. Er rückt sein Liminalitätskonzept aber in einen deutlich ausgewiesenen ästhetischen Zusammenhang,98 der ihm dazu dient, den Aufbau und die Verwirklichung kritischer und transformativer Potenziale nachvollziehbar zu machen. Er be93 Vgl. Turner, Acting, 115; Ders., Dramas, 83–87; Ders., Play, 27; Ders., System, 164. 94 Turner, Dramen, 132.134.137f; Ders., Theaterspielen, 184. 95 Vgl. Turner, Frame, 52ff; Ders., Acting, 116–122. Zur wirkungsrelevanten Rolle des Sichbestimmen-Lassens vgl. auch Fischer-Lichte, Performativität, 88–92; Seel, Begriff. 96 Turner, Acting, 122; Ders., Dramas, 83. 97 Vgl. Bräunlein, Aktualität, 123. 98 Vgl. dazu auch die einführenden Erläuterungen zur Selbstzwecklichkeit ästhetischer Erfahrung: ‚Freiwilligkeit‘, ‚Alltagsdistanz‘, ‚Spielcharakter‘, ‚Experiment‘ waren auch dort die wesentlichen Vokabeln, um ein zentrales Merkmal ästhetischer Erfahrung in seinen Strukturen und Konsequenzen zu artikulieren (vgl. C.1).
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gründet damit zum einen den für transformative Praktiken konstitutiven Transzendenzaspekt. Durch die ästhetische Einklammerung des Anspruchs auf Realitätsprüfung vermögen liminale Praktiken die Alltagswirklichkeit bis zu einem Höchstmaß an Abweichung zu überschreiten. Zum anderen erlaubt ihm die ästhetische Ausdeutung der Liminalität eine Antwort auf den ethischen Problemaspekt. Da ästhetische Wirkungen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen und ein selbstbestimmtes Sicheinlassen der Rezipienten voraussetzen, vermag er sich manipulativ-autoritären Vorbehalten gegenüber zu verwahren.99
2.3
Resümee: Auf dem Weg zu einer ästhetischen Konzeption der Transformativität
Der Weg zu einer ästhetischen Fassung des Liminalitätskonzepts führt Turner vom klassischen Initiationsritual zum modernen Theater. Die Modifikationen, die das Liminalitätskonzept dabei erfährt, kann Turner auch durch eine begriffliche Unterscheidung markieren: der Unterscheidung zwischen ‚liminalen‘ und ‚liminoiden‘ Praktiken. Zwischen beiden bestehen Differenzen wie Gemeinsamkeiten, weshalb man auch von einem Verhältnis struktureller Analogie sprechen kann.100 Im Nachvollzug dieses Verhältnisses lassen sich abschließend einige der Überlegungen Turners nochmals zusammenfassen. Liminale wie liminoide Praktiken sind Aufführungen. Durch die Amalgamierung verschiedener Medien und kommunikativer Genres schaffen beide einen symbolischen Raum, der das gewöhnliche Leben unterbricht und eine Distanz zur Alltagswirklichkeit aufbaut. Im Modus der ‚Elementarisierung‘ machen sie die basic-building blocks des kulturellen Selbstverständnisses einer sozialen Formation sichtbar und auffällig. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf zentrale Bedeutungen, Werte, Normen und Aspirationen. Indem sie diese nicht duplizieren, sondern interpretieren und durch Verfahren der Entkontextuali99 Im Anschluss an Turner stellt Raybin, Aesthetics, 26f den nichtautoritären und nichtmanipulativen Charakter ästhetischer Wirksamkeit heraus: „[T]he work of art doesn’t ordinarily belabor its audience. Typically, the work of art speaks in symbols and forms, and therefore speaks discreetly, generally nonthreateningly, often hiding the implications and power of its message. […] Art need not dictate; it need not impose; it need not state in any direct form that ‚such‘ is the way the world should be“. 100 Vgl. Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, 240f. Zum Folgenden vgl. Turner, Frame, 50ff; Ders., Play, 52–55. Turners Unterscheidung zwischen ‚liminal‘ und ‚liminoid‘ hat sich forschungsgeschichtlich letztlich nicht durchgesetzt. Dies dürfte unter anderm daran liegen, dass nicht nur Turners Beschreibungen liminaler und liminoider Formen in ihren maßgeblichen Pointen übereinstimmen, sondern sich beide Formen auch kulturgeschichtlich nicht eindeutig voneinander abgrenzen lassen; für Turner koexistieren ‚Liminales‘ und ‚Liminoides‘ (vgl. Ders., Frame, 52; Wagner-Willi, Liminalität, 237f).
Victor Turners Konzept der Liminalität
163
sierung, Stilisierung, Verfremdung und Rekombination in neue Zusammenhänge stellen, eröffnen sie ihren Teilnehmern einen Erfahrungsraum, der kritische und transformative Prozesse auszulösen vermag. Dabei schreibt Turner liminoiden Praktiken größere Möglichkeiten der Devianz zu. Die Rituale einfacherer, tribaler Gesellschaften sind Komponenten des gesellschaftlichen Gesamtprozesses. Sie bilden Reaktionen auf prekäre Ereignisse, die kollektiv gestaltet werden. Sie antworten auf Jahreswechsel, kontingent auftretende soziale Konflikte oder im Fall der Initiationsriten auf unregelmäßig wiederkehrende Veränderungen im gesellschaftlichen Statusgefüge. Damit bleiben sie trotz ihrer subversiven Potenziale letztlich auf den Erhalt der bestehenden Ordnung bezogen, womit ihren Abweichungsoptionen Grenzen gesetzt sind. In ausdifferenzierteren Gesellschaften haben sich die subversiven Potenziale verselbstständigt. Sie bilden eine relativ autonome kulturelle Sphäre abseits etwa politischer und ökonomischer Funktionsbereiche, wodurch ihnen gesteigerte Möglichkeiten der Variation zuwachsen. Im Fall des Theaters lassen sich diese fiktionstheoretisch präzisieren. Durch die Einklammerung der Realitätsgeltung kann hier ein hohes Transzendierungsniveau erreicht werden. Liminoide Praktiken sind sodann nur bedingt kollektiver Natur. Zwar werden auch sie, wie das Beispiel des Theaters zeigt, oftmals gemeinschaftlich vollzogen. Anders als die tribalen Rituale eignen ihnen aber primär subjektive Funktionen, was an der Freiwilligkeit ihrer Teilnahme ausdrücklich wird. Die Partizipation an liminoiden Praktiken ist nicht über die Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft oder einer ihrer Teilformationen obligatorisch vorgeschrieben, sondern grundsätzlich individualisiert. Sie verdankt sich nicht gesellschaftlichen, sondern subjektiven Bedürfnissen.101 Wiederum lässt sich dieser Aspekt am Beispiel des Theaters fiktionstheoretisch spezifizieren. Da das Theater nicht darstellend oder berichtend auf die Alltagswirklichkeit bezogen ist, steht es den Rezipienten frei, ob sie sich den präsentierten Welten im simulierten Glauben, dass sie wahr sind, auf Zeit und auf Probe unterstellen und damit ihren kritischen und transformativen Wirkungen aussetzen. Die durch Turner gelegte Spur einer ästhetischen Fassung kritischer und transformativer Praktiken wird über die Konzeption ästhetischer Erfahrung von Fischer-Lichte weiter verfolgt. Unter Rekurs auf Turner interpretiert sie ästhetische Erfahrung als eine „moderne Variante liminaler Erfahrung“: Ästhetische 101 Das heißt nicht, dass die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse nicht auch im gesellschaftlichen Interesse sein könnte. Die Erweiterung selbstinterpretativer Möglichkeiten, das Experimentieren mit alternativen Lebensmodellen oder die reflexive Auseinandersetzung mit geteilten Verständnissen kann durchaus von allgemeinerem Belang sein. Im Rahmen der liminoiden Kultursphäre können solche Bedürfnisse aber nicht institutionell diktiert werden, sowohl was ihre generelle Befriedigung als auch deren inhaltliche Bestimmtheit angeht. Im Topos von der ‚Autonomie der Kunst‘ wird dies ausdrücklich.
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Teil C: Praktiken der Kunst
Erfahrung ist „Schwellenerfahrung“. Wie bei Turner gibt das Veränderungspotenzial die zentrale Qualität dieser Erfahrung: „Schwellenerfahrung meint einen Modus der Erfahrung, der zu einer Transformation desjenigen führen kann, der die Erfahrung durchlebt.“102
3
Erika Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung
Fischer-Lichtes Konzept ästhetischer Erfahrung ist eingebettet in den größeren Zusammenhang einer Ästhetik des Performativen. Damit sind ihre Überlegungen Teil eines Diskurses, der über die letzten beiden Jahrzehnte einer Reihe geisteswissenschaftlicher Disziplinen neue Reflexionsperspektiven zuspielte und durch Begriffe wie ‚performance‘, ‚Performanz‘, ‚performativ‘, ‚Theatralität‘ oder ‚Inszenierung‘ markiert wird.103 Dieser Diskurs ist in sich sehr vielgestaltig. Er bildet „kein geschlossenes Forschungsprogramm“, sondern repräsentiert eher ein „Feld [von] Theorien“104 bzw. „Theoriekernen“105, weshalb sich die Semantik des Performativitätskonzepts nur schwer konsensgetragen konturieren lässt. Um eine erste Orientierung zu erhalten, werden zunächst drei wirkmächtig gewordene Theoriehintergründe knapp skizziert und einige semantische Differenzierungen vorgenommen. Auf dieser Grundlage ist sodann Fischer-Lichtes Reflexion auf das Performative zu rekonstruieren, um ihre darin verankerte Vorstellung ästhetischer Erfahrung als transformative Schwellenerfahrung herauszuarbeiten.106
102 Vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, hier 347; Dies., Ästhetik, 305–314.332–350; Dies., Performativität, 112–129; Dies., Theater. 103 Fischer-Lichte war als Sprecherin des einflussreichen, zum 31. 12. 2010 eingestellten Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen zentral an der Entwicklung und Profilierung dieses Diskurses beteiligt. Zu theoretischen Hintergründen, phänomenbezogenen Analysen und konzeptionellen Entwürfen des Performativen vgl. Fischer-Lichte/Kolesch (Hg.), Kulturen; Fischer-Lichte/Wulf (Hg.), Theorien; Dies. (Hg.), Praktiken; Fischer-Lichte, Erfahrung; Dies., Performativität; Hempfer/Volbers (Hg.), Theorien; Kertscher/Mersch (Hg.), Performativität; Loxley, Performativity; Wirth (Hg.), Performanz; Wulf u. a., Grundlagen. 104 Vgl. Hempfer/Volbers, Vorwort, 8 (i. Orig. teils hervorgehoben). 105 Fischer-Lichte, Performativität, 38. 106 Speziell für den homiletischen Bereich hat Ursula Roth eine präzisere „Klärung der Begriffe des Performativen und der Performance“ eingefordert, um nicht bei „vagen Andeutungen und metaphorischen Annäherungen“ zu verbleiben (vgl. Dies., Predigt, 105). Tatsächlich stehen hinter den unter A.2.3 angesprochenen predigttheoretischen Zugängen nicht immer konzeptionell breiter durchgearbeitete Terminologien, so dass die diversen Sinnvarianten und unterschiedlichen Theorietraditionen des Performativitätsbegriffs oftmals ineinander übergehen, ohne klar markiert zu werden.
Erika Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung
3.1
165
Theoretische Hintergründe des Performativitätsbegriffs
Das Adjektiv ‚performative‘ wurde von John Austin im Zusammenhang seiner sprachphilosophischen Vorlesungen How to do things with words geprägt.107 Er bezeichnet mit ihm sprachliche Äußerungen, die nicht bestehende Sachverhalte konstatieren, sondern noch nicht existente Sachverhalte konstituieren. Ein Satz wie ‚Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Queen Elizabeth‘ erzeugt einen neuen Tatbestand; er greift transformierend in den Wirklichkeitszusammenhang ein. Dabei liegt die Pointe nicht einfach in der Feststellung, dass sprachliche Äußerungen weltverändernde Wirkungen besitzen können, sondern in der besonderen Art und Weise, in der performative Äußerungen einen neuen Tatbestand evozieren. Sie erzeugen ihn im Moment ihres Vollzugs. In ihnen kommt es zu der simultanen „Verbindung einer sprachlichen mit einer ‚anderen‘ Handlung, wobei die ‚andere‘ Handlung durch die sprachliche Handlung konstituiert wird“108. Der Akt der Äußerung des Satzes ‚Ich taufe dieses Schiff etc.‘ koinzidiert mit dem Akt der Taufe des Schiffes. Daher weist Klaus Hempfer performativen Äußerungen eine „autoreflexive Semantik“ zu: Indem sie vollzogen werden, konstituieren sie zugleich, den Akt, den sie bedeuten.109 Bekanntlich hat Austin seine ursprüngliche kategorische Unterscheidung von konstativen und performativen Diskursen im Fortgang seiner Vorlesungen – in gewisser Weise110 – aufgegeben und den pragmatischen Aspekt von Sprache im Begriff der Illokution zu einer Dimension jeder Äußerung erklärt. Dadurch wurde die Prägnanz des autoreflexiven Charakters sprachlicher Wirklichkeitserzeugung eingebüßt. So vollzieht auch die Äußerung eines Satzes wie ‚Ich spiele Fußball‘ gemäß seiner illokutionären Dimension einen Akt und greift dadurch transformierend in den Wirklichkeitszusammenhang ein. Dass aber exakt das durch diesen Satz Bezeichnete konstituiert wird, indem ein Sprecher ihn äußert, tritt weit weniger klar vor Augen. Anders als der Akt der Schiffstaufe wird der Akt des Fußballspielens nicht durch die Satzäußerung erzeugt. Im Blick auf den theoretischen Kontext 107 Austin führt das Adjektiv als einen Neologismus ein: „Ich habe ein neues Wort gewählt, dem wir vielleicht nicht von vornherein eine bestimmte Bedeutung anhängen, wenn auch seine Etymologie eine gewisse Rolle spielen dürfte“ (vgl. Ders., Theorie, 30). 108 Hempfer, Performance, 23. 109 Vgl. Hempfer, Performance, 24. Da es nicht einfach um die Gleichzeitigkeit von Äußerung und Wirklichkeitskonstitution geht, sofern diese auch in einem „beliebige[n] ‚Nebeneinander‘“ bestehen könnte, spricht Hempfer von einer „‚indem‘-Relation“ (vgl. a. a. O., 23; so ebenfalls König, Bausteine, 46, Anm. 4). 110 Austin konstatiert, dass die „alte Unterscheidung zwischen primär und explizit performativen Äußerungen den Übergang von der performativ-konstativ-Unterscheidung zur Theorie der Sprechakte unbeschädigt überstehen“ wird (Ders., Theorie, 167 [Hervorhebung i. Orig.]). Insofern hält er am besonderen Gepräge der ‚klassischen‘ Performativa wie ‚Ich taufe dieses Schiff etc.‘ fest.
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Teil C: Praktiken der Kunst
der Austinschen Sprechakttheorie verweist der Performativitätsbegriff also auf eine spezifische Art sprachlicher Wirklichkeitskonstituierung: die autoreflexive Hervorbringung von Sachverhalten im Vollzug sprachlicher Äußerung.111 Ebenfalls aus dem Bereich der Linguistik stammend prägte eine weitere Theorie das Wortfeld des Performativen. In Anlehnung an die Saussuresche Differenz zwischen langue und parole unterscheidet Naom Chomsky zwischen competence und performance. Während ‚Kompetenz‘ die „Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache“ bedeutet, verweist die Performanzvokabel auf den „aktuelle[n] Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen“.112 Das Begriffsfeld des Performativen bezieht sich in diesem Zusammenhang also nicht wie bei Austin auf einen bestimmten Modus sprachlicher Wirklichkeitskonstituierung, sondern auf die Akte der Sprachbenutzung. Daher wäre im Rahmen von Chomskys generativer Grammatik das englische ‚performance‘ und seine Eindeutschung ‚Performanz‘ am besten mit dem Begriff der Ausführung wiederzugeben. Das Performative bezieht sich auf die in einem konkreten Raum und in einer spezifischen Zeit verankerte Ausführung von sprachlichen Kompetenzen im Unterschied zu ‚dahinter‘ oder ‚zugrunde‘ liegenden überzeitlichen und transhistorischen Schemata, Mustern und Regeln.113 Einen dritten einflussreichen theoretischen Background geben schließlich ritual- und theaterwissenschaftliche Erwägungen. Beide Theorietraditionen können hier insofern zusammengefasst werden, als Vertreter der Ritualwissenschaft auf theaterbezogene und Vertreter der Theaterwissenschaft auf ritualbezogene Reflexionszusammenhänge immer wieder ausgegriffen haben, um rituelle wie theatrale Gebilde nicht nur hermeneutisch zu durchringen und konzeptionell zu orientieren, sondern zudem die Eigenart ihrer Praxisform in ihrer kulturprägenden Relevanz herauszustellen.114 Wie bei der Rekonstruktion von Turners Überlegungen deutlich wurde, kann diese Eigenart als performanceCharakter beschrieben werden. Ritual wie Theater sind „genres of cultural performances“115. Anders als in Chomkys generativer Grammatik bezeichnet der 111 Wie Hempfer, Performance, 32 zu Recht bemerkt, handelt es sich beim Begriff des Performativen, wird er anhand der expliziten Performativa erläutert, um eine eigentümliche Weise der Wirklichkeitssetzung, die nicht ohne Weiteres auf jede sprachliche Äußerung übertragen werden kann. 112 Vgl. Chomsky, Aspekte, 14. 113 In ihrer Auseinandersetzung mit sprachtheoretischen Positionen des 20. Jh. unterscheidet Sybille Krämer zwischen den Dimensionen „Schema/Muster/Regel“ (z. B. langue, Kompetenz) und „Gebrauch/Aktualisierung/Anwendung“ (z. B. parole, Performanz) (vgl. Dies., Sprache, 263 u. ö.). 114 Zum (historischen) Verhältnis von Ritual- und Theaterwissenschaft vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 9–23; Dies., Performativität, 9–33.45–52; Loxley, Performativity, 139–166; Rao/ Köpping, Wende. 115 Turner, Acting, 103 u. ö. (i. Orig. teils hervorgehoben). Den Begriff der cultural performances prägte vor allem Milton Singer (vgl. Ders., Tradition).
Erika Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung
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Begriff der performance dabei nicht die räumlich und zeitlich situierte Ausführung einer Kompetenz, sondern eine Aufführung, die wie sportliche Wettkämpfe, politische Versammlungen, Konzerte oder Feste durch die Interaktion mehrerer Akteure vollzogen wird und durch die Integration diverser Medien bestimmt ist. Mit den drei referierten Reflexionskontexten erhält das Konzept des Performativen verschiedene Bedeutungsvarianten, die nicht ohne Weiteres in eins fallen. Im Zusammenhang der Austinschen Sprechakttheorie bezieht sich das Performative auf eine spezifisch autoreflexive Art sprachlicher Wirklichkeitserzeugung. Im Zusammenhang von Chomskys generativer Grammatik meint das Performative die aktuelle und situative Ausführung sprachlicher Kompetenzen. Im Zusammenhang ritual- und theaterwissenschaftlicher Überlegungen bezeichnet das Performative eine durch mehrere Akteure und Medien konstituierte Aufführung. In der Ausarbeitung aktueller Theorien des Performativen werden diese Bedeutungsvarianten auf unterschiedliche Weise fruchtbar gemacht, miteinander verzahnt und innovativ ausgebaut.
3.2
Transformative Praxis im Zeichen der Performativität
Als Theaterwissenschaftlerin setzt Fischer-Lichte bei der Ausarbeitung ihres Konzepts des Performativen beim Begriff der Aufführung an. In ihre Konturierung des Aufführungsbegriffs, die sie primär über die theatertheoretischen Überlegungen von Max Hermann und eine Analyse aktueller Formen sog. Performance-Kunst und experimenteller Theaterpraxis gewinnt, fließen freilich von Beginn an Aspekte auch der an Austin und Chomsky kenntlich gemachten Sinnaspekte ein. Aufführungen – zumal künstlerische – werden damit zu einem exemplarischen und heuristischen Modell für das Performative. Da in ihnen seine es „kennzeichnenden Qualitäten […] nicht nur besonders stark ausgeprägt“ seien, sondern zugleich auf sie reflektiert und so ausdrücklich die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt“ werde, eigneten sie sich in herausragender Weise für eine Erläuterung performativer Merkmale.116 3.2.1 Mediale und materiale Bedingungen Im Zentrum von Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff steht die Feststellung, dass alle an einer Aufführung teilnehmenden Personen sich im Modus „leiblicher KoPräsenz“ begegnen.117 Während einer Aufführung sind sich Schauspielende und 116 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 71f; Dies., Modell. 117 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik, 58–126; Dies., Performativität, 54–85; Dies., Theaterwissenschaft, 25–32.
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Zuschauende leibhaft gegenwärtig. Dieser Sachverhalt prägt die charakteristische Medialität einer Aufführung. Während bei einem Gemälde oder einer CD-Aufnahme die Akte der Produktion und die Akte der Rezeption zeitlich voneinander abgekoppelt sind, fallen im Theater – oder auch bei einer Action-Painting-Session oder einem Konzert – die Produktions- und Rezeptionsprozesse zeitlich in eins. Es entsteht die von Fischer-Lichte so genannte ‚Feedbackschleife‘. Die Akte der Schauspieler – und alles, was an ihnen körperlich wahrnehmbar wird – und die Akte der Zuschauer – und alles, was an ihnen körperlich wahrnehmbar wird – nehmen wechselseitig aufeinander Einfluss, interagieren und bringen in dieser Reziprozität die Aufführung hervor. Um diese besondere Medialität zu kennzeichnen bezeichnet Fischer-Lichte Performanzen nicht als (Kunst-)Werke, sondern als (Kunst-)Ereignisse.118 Als Ereignisse sind sie „ephemer“ oder „transitorisch“.119 Aufführungen sind „nach ihrem Ende unwiederbringlich verloren; sie [lassen] sich niemals wieder als genau dieselbe[n] wiederholen.“120 Diese Flüchtigkeit affiziert auch die vermeintlich starren materiellen Bestandteile einer Aufführung. Zwar existieren der Raum, die Objekte und die menschlichen Körper einer Aufführung schon vor ihr und überdauern sie, in ihrer aufführungsaktuellen Form und Wahrnehmbarkeit bestehen sie aber exklusiv im Vollzug der performance selbst. In diesem Sinne werden sie „performativ hervorgebracht“121. So unterscheidet Fischer-Lichte etwa zwischen dem Raum als einer „architektonisch-geometrische[n]“ Größe und dem „Aufführungsraum“, der erst durch den „Gebrauch“ der Schauspielenden und Zuschauenden konstituiert wird.122 Insofern markiert die passagere Flüchtigkeit der Aufführung ihre spezifische Materialität. Aufführungen existieren auch in ihrer Räumlichkeit, Objekthaftigkeit und Körperlichkeit allein in actu. In den besonderen medialen und materiellen Bedingungen, denen Aufführungen unterliegen, wurzeln zwei weitere Strukturmerkmale, die in einem engen Zusammenhang mit den Bedeutungsvarianten stehen, die der Performativitätsbegriff bei Austin und Chomsky erhalten hat.
118 In diesem Sinne radikalisiert die Idee der Aufführung die rezeptionstheoretische Einsicht in die aktive Beteiligung der Rezipienten bei der Bedeutungsgenerierung. Während hier die Aktivität der Rezipienten allein die Konstitution des Inhalts eines in materialer Hinsicht schon ‚fertig‘ gestellten Kunstwerks betrifft, beeinflusst sie in einer Aufführung schon den Prozess der materialen Herstellung selbst. 119 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik, 129–238; Dies., Performativität, 58–65; Dies., Theaterwissenschaft, 32–54. 120 Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, 32. Das heißt freilich nicht, dass eine Aufführung von ihren Teilnehmern nicht als Wiederholung erlebt werden könnte (vgl. dazu Dücker, Rituale, 42f; Stetter, Pfarrer, 91, Anm. 23). 121 Fischer-Lichte, Ästhetik, 127. 122 Vgl. Fischer-Lichte, Theaterwissenschaft, 32f.
Erika Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung
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3.2.2 Unvorhersehbarkeit Das erste Strukturmerkmal besteht in der „Unvorhersehbarkeit“123. Aufführungen – auch nicht dezidiert künstlerischer Art wie sportliche Wettkämpfe oder politische Versammlungen – werden vorbereitet. Sie werden geplant und geprobt. Für den „intentionale[n] Prozeß“, im Verlauf dessen die Strategien, mit denen die Aufführung gestaltet werden sollen, entworfen und voraussichtliche Entwicklungen der Aufführung kalkuliert werden, reserviert Fischer-Lichte den Begriff der Inszenierung.124 In historischer Perspektive können zwei Inszenierungsverständnisse voneinander abgehoben werden. Nach dem ersten Verständnis bedeutet ‚Inszenierung‘ ein Ensemble von „Darstellungsstrategien“. Es wird etwas in Szene gesetzt, das an anderer Stelle bereits existiert, etwa „im literarischen Text des Dramas oder im Reiche ästhetischer Ideen“.125 Inszenierung plant und erprobt Strategien, die einen zugrunde liegenden Text oder dahinter stehende Ideen auf einer ‚Bühne‘ lediglich abbilden und durch die Handlungen, das Sprechen, die Körper der Schauspieler und ihren Gebrauch von Objekten und Räumen Präsenz verleihen. Nach dem zweiten Verständnis meint ‚Inszenierung‘ ein Ensemble von „Erzeugungsstrategie[n]“126. Die Inszenierungstätigkeit wird dabei insofern aufgewertet, als sie als eine schöpferische Tätigkeit begriffen wird, die nicht nur ein Zugrundeliegendes oder Dahinterstehendes in einer anderen medialen Form darstellt und abbildet, sondern etwas Neues erzeugt. Fischer-Lichte favorisiert dieses zweite Verständnis. Wichtig ist nun die Einsicht, dass der intentionale Prozess der Inszenierung auch im Sinne einer Erzeugungsstrategie vom Ereignis der Aufführung deutlich zu unterscheiden ist. Zwar schafft er wichtige Maßgaben, die den Verlauf der Aufführung wesentlich mitbestimmen. Vollständig zu kontrollieren vermag die Inszenierung ihn allerdings nicht. Gerade durch die Feedbackschleife bleibt die Aufführung
123 Vgl. zum Folgenden vor allem Fischer-Lichte, Performativität, 75–85. 124 Zu Fischer-Lichtes Inszenierungsbegriff vgl. Dies., Ästhetik, 318–332, hier 325; Dies., Theaterwissenschaft, 232ff. Weitere Reflexionen zum Inszenierungsbegriff versammelt Früchtl/Zimmermann (Hg.), Ästhetik. Zum Grundbegriff der Liturgik avanciert der Inszenierungsbegriff bei Plüss, Textinszenierung. Wenn bei Plüss Inszenierung „als Performance“ verstanden wird, wird zwischen ihr und der aufführungsmäßigen „Live-Situation“ anders als bei Fischer-Lichte konzeptuell nicht unterschieden (vgl. a. a. O., 99). Insgesamt betrachtet kann zwischen drei Aufführungsdimensionen differenziert werden: dem Skript als Inbegriff der Vorgaben, auf deren Basis eine Aufführung vollzogen wird, der Inszenierung als Inbegriff der Vorbereitungsprozeduren, die auf dem Weg zu einer Aufführung durchgeführt werden, sowie schließlich der Aufführung selbst als einem aktuell-situativen Vollzugsgeschehen (vgl. dazu Stetter, Pfarrer, 90–94). 125 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 322. 126 Fischer-Lichte, Ästhetik, 324.
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eine „offene Situation“, in der sich „Nicht-Geplantes, Nicht-Inszeniertes, NichtVorhersagbares […] ereignen kann“.127 Aus der eingeschränkten Kontrollierbarkeit einer Aufführung zieht FischerLichte weitreichende Konsequenzen, die auch den ethischen Problemaspekt transformativer Praxis betreffen. Während Turner fiktionsbezogen argumentiert und aus der Freiwilligkeit des spielerischen Sich-Einlassens auf die performativ erzeugten fiktiven Welten des Theaters ein symmetrisches Verhältnis zwischen Produzenten und Rezipienten ableitet, erkennt Fischer-Lichte in der aufführungstheoretischen Unterscheidung zwischen Inszenierung und performance eine spezifische Ermächtigung des Publikums. Da eine Aufführung nicht als alleiniges Produkt inszenatorischer Kalküle zu verstehen ist, sondern erst aus der Interaktion aller Anwesenden resultiert, können auch die Rezipienten nicht einfach als passive Empfänger beschrieben werden. Sie werden nicht durch ‚heteronome‘ oder ‚manipulative‘ Verfahren beeinflusst. Als Teil der Feedbackschleife bringen sie die Aufführung selbst aktiv mit hervor und tragen dafür eine „Mitverantwortung“.128 Im Verhältnis zwischen denjenigen, denen Inszenierungsmacht zukommt, und denjenigen, die auf die geplanten und geprobten Strategien reagieren, bestehen Symmetrien. Indem Fischer-Lichte das Ereignis der performance von den Inszenierungsprozessen unterscheidet und diese als Erzeugungsstrategien interpretiert, distanziert sie die Aufführung in doppelter Weise von einem ihr zugrunde liegenden Text oder einer hinter ihr stehenden Idee. Dadurch rückt die an Chomsky kenntlich gemachte Bedeutungsvariante des Performativen in den semantischen Horizont von Fischer-Lichtes Aufführungsbegriff ein. Zwar spielt „nicht das von Chomsky beschriebene Verhältnis zwischen Kompetenz und Performanz eine Rolle“, wohl aber „die Unterscheidung selbst, und zwar unter genauer Umkehrung der hierarchischen Ordnung zwischen Kompetenz und Performanz, wie sie in der generativen Grammatik Chomskys postuliert wird.“129
Mit der Betonung der Selbstständigkeit der Aufführung gegenüber einer sie bedingenden inszenatorischen Vorbereitung und „‚anderswo‘“130 fixierten Bedeutungen kommt es zu einer klaren Priorisierung aktueller, in einer konkreten Situation verankerter Praxisvollzüge. Mit König könnte man dies eine „Rehabilitierung der Oberfläche“ nennen.131 127 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 327. 128 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 55–58, hier 58; Dies., Ästhetik, 287; Dies., Theaterwissenschaft, 232f. 129 Vgl. König, Bausteine, 51. 130 Fischer-Lichte, Ästhetik, 322. 131 Vgl. König, Bausteine, 53. Für König ist diese ‚Rehabilitierung der Oberfläche‘ der „allgemeine[-] Kern des Performativbegriffes“. In ihr dokumentiere sich eine Umkehrung „der Wirkungsrichtung zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur, zwischen Regel und An-
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3.2.3 Transformativität Das zweite Strukturmerkmal, das in den medialen und materiellen Bedingungen der Aufführung wurzelt, ist ihre „transformative Kraft“132. Theater- und andere kulturelle Aufführungen sind „transformative Performanzen“133. Sie besitzen Potenziale, auf die an ihnen partizipierenden Subjekte verändernd einzuwirken. Es ist offensichtlich, dass damit semantische Aspekte des Austinschen Performativitätsbegriffs in die Explikation des Aufführungskonzeptes einfließen. Die spezifische Autoreflexivität der Wirklichkeitskonstitution durch performative Äußerungen wird von Fischer-Lichte dabei insofern mitberücksichtigt, als Aufführungen zum einen, wie gezeigt, nicht einfach auf ein zugrunde liegendes Skript oder dahinter stehende Ideen zurückführbar sind, sondern in der Zeitspanne ihres Vollzugs einen eigenständigen Erfahrungsraum hervorbringen, der nur für diese Zeitspanne Bestand hat, und zum anderen diejenigen transformativen Effekte fokussiert und analysiert werden, die im Erleben dieses Erfahrungsraumes eröffnet werden. Insofern besteht auch hier eine Simultaneität – präziser: eine ‚indem‘-Relation – zwischen den Akten der Aufführung und ihren Wirkungen. Von Austin übernimmt Fischer-Lichte ferner den Gedanken, dass die transformative Kraft performativer Äußerungen spezifischen Gelingensbedingungen unterliegt.134 Aufführungen realisieren ihr Veränderungspotenzial nicht ‚automatisch‘, sozusagen ex opere operato. Es müssen Konditionen erfüllt sein, die es je nach Art der Aufführung „im Einzelfall“ zu klären gilt.135 In Frage kommen subjektive, soziokulturelle, institutionelle, inszenatorische und andere Bedingungen. Von besonderer Relevanz ist für Fischer-Lichte die Bedingung der Liminalität, wie sie von Turner beschrieben wurde. Theater und andere kulturelle Aufführungen besitzen transformative Kraft, sofern sie den an ihnen beteiligten Subjekten Schwellenerfahrungen zu eröffnen vermögen.136 Im Folgenden sollen
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136
wendung oder zwischen Text und Aufführung“ oder zumindest ihre Ersetzung „durch eine bidirektionale Dynamik“ (vgl. ebd.). Vgl. zum Folgenden vor allem Fischer-Lichte, Performativität, 113–129; Dies., Ästhetik, 305– 314.332–35; Dies., Erfahrung, 347–363; Dies., Theater. Vgl. exemplarisch Fischer-Lichte, Ritualität, 27f. Fischer-Lichte adaptiert den Begriff der transformativen Performanz von Ursula Rao und Klaus Peter Köpping (vgl. Dies., Wende, 7– 11). Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 38f; Austin, Theorie, 36ff sowie A.1.3. Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 113f, hier 114. Im ritualwissenschaftlichen Zusammenhang weist Dominik Fugger darauf hin, dass manche performanztheoretisch argumentierenden Ansätze zu einer deterministischen Sicht auf die Effektivität ritueller Praktiken tendieren, wenn sie ihre Wirkmächtigkeit ganz im ordnungsmäßigen äußeren Vollzug fundieren und die sozialen Hintergrundkonsense und subjektiven Deutungen aus den Gelingensbedingungen performativer Wirksamkeit ausklammern (vgl. Ders., Symbol, 403f). Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 113ff; Dies., Theaterwissenschaft, 236. Fischer-Lichte
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fünf Modi rekonstruiert werden, in denen nach Fischer-Lichte durch Aufführungen „ein Zustand von Liminalität entsteht und damit die Möglichkeit einer Transformation für denjenigen, der in ihn versetzt wird.“137 Es geht also um eine präzisere Beschreibung von Arten und Weisen, in denen Performanzen ihre liminalen und transformativen Potenziale aufbauen. (1) Liminale und transformative Potenziale erzeugen Aufführungen dadurch, dass sie als Aufführung Alltagsvollzüge unterbrechen. Durch Formalisierung und Stilisierung wie bestimmte Rahmungsprozeduren werden die in ihnen vollzogenen Praktiken vom ‚gewöhnlichen oder eigentlichen Leben‘ abgehoben. Sie sind „aus dem Alltag herausragende Ereignisse“138. In diesem Sinne wird die Aufführung insgesamt „als eine Schwellen- und Transformationsphase“ interpretierbar, wobei ihrem Anfang und ihrem Ende im Blick auf die Markierung des alltagsdistanten Erfahrungsraumes eine besondere Relevanz zukommt.139 Spielt für den ersten Konstitutionsmodus die genauere Qualität dieses Erfahrungsraumes noch keine Rolle, stehen im Folgenden vier inhaltliche Strukturen im Fokus, die abbreviatorisch durch die Chiffren ‚Interpretation‘, ‚Identifikation/Immersion‘, ‚Assoziation‘ und ‚Oszillation/Ambivalenz‘ aufgerufen werden können. (2) ‚Interpretation‘: Fischer-Lichte kann die Liminalität und Transformativität von Aufführungen in zwei theoretisch unterschiedlich zugespitzten, sich aber nicht ausschließenden, sondern ergänzenden Reflexionszusammenhängen erörtern: im Rahmen einer semiotischen Ästhetik und im Rahmen einer Ästhetik des Performativen.140 Im Rahmen einer semiotischen Ästhetik sind Aufführungen als Zeichensysteme zu beschreiben, die ihre Rezipienten dazu herausfordern, hermeneutisch tätig zu werden.141 In ihrer frühen Studie zum Begriff der Bedeutung hat Fischer-Lichte die Eigenart interpretativer Prozesse herauszuarbeiten versucht, die das Verstehen literarischer Kunstwerke zum Ziel haben.142 In
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unterscheidet nicht durchgängig zwischen Liminalität und Transformativität im Sinne eines Bedingungsgefüges. Wie schon bei Turner selbst erscheinen beide Dimensionen häufig als gegenseitige Explikationen. Wo dies der Fall ist, hält sie allerdings stets fest, dass sich auch liminale Erfahrungen nicht automatisch einstellen, sondern durch ein Set weiterer Präsuppositionen bedingt sind. Fischer-Lichte, Ästhetik, 307. Fischer-Lichte, Performativität, 114. Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 310f, hier 311. Vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 349.355f. Wie Fischer-Lichte betonen auch Kertscher/Mersch, Einleitung, 7, dass das Modell des Performativen „die Frage nach dem Symbolischen, dem Medium und der Medialität“ nicht ablöst, sondern „ergänzt“. Ästhetische Erfahrung zeigt sich hier in der von Seel als ‚Imagination‘ beschriebenen Grundform (vgl. C.1). Vgl. Fischer-Lichte, Bedeutung; dazu resümierend auch Dies., Erfahrung, 51–64. Obwohl Fischer-Lichte ihre Beschreibung der Deutung ästhetischer Zeichen zunächst an literarischen Kunstwerken erarbeitet hat, erkennt sie in ihr ein allgemeines Konzept, das sich auch
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Auseinandersetzung mit Umberto Eco, Adam Schaff und Alfred Lorenzer legt sie ein semiotisch informiertes Konzept von Bedeutung zugrunde, das sich aus drei konstitutiven Dimensionen aufbaut: der syntaktischen (Zeichen-Zeichen-Relationen), der semantischen (Zeichen-Gegenstand-Relationen) und der pragmatischen (Zeichen-Interpret-Relationen). Im Anschluss an Jan Mukarˇovský erkennt Fischer-Lichte die Besonderheit ästhetischer Zeichen in der Unterbestimmtheit der semantischen Dimension: Ästhetische Zeichen besitzen keine konventionell stabilisierte Denotation oder augenfällige Referenz auf einen konkreten Wirklichkeitsausschnitt. Daher wird die für sämtliche Zeichen vorauszusetzende Abhängigkeit der semantischen Dimension von den syntaktischen und pragmatischen Bezügen im Fall ästhetischer Zeichen potenziert. Der Interpret vermag nicht auf eine relativ „‚eigenständige‘“143 semantische Dimension Bezug zu nehmen, um sie in seine Deutung zu integrieren, sondern ist mit Nachdruck an die Erfassung der syntaktischen Strukturen und die Einbringung seines subjektiven „geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingte[n] Bedeutungssystem[s]“ verwiesen.144 Im Blick auf die liminalen und transformativen Potenziale der Rezeption ästhetischer Zeichen liegt die Pointe in der „Umstrukturierung“145, die das Bedeutungssystem des Interpreten im Vollzug der Deutung erfährt. Das Verstehen ästhetischer Zeichen lässt das Bedeutungssystem des Verstehenden nicht unverändert. Sofern ästhetische Zeichen durch die Unterbestimmtheit der semantischen Dimension routinierte Sinnzuschreibungen erschweren, fordern sie den Rezipienten heraus, seine eigenen Bedeutungen versuchsweise einzusetzen und iterativ zu ersetzen, bis sich ihm ein verstehbarer Sinn ergibt. Bislang eingeübte und bewährte Sinnkonstellationen können sich dabei als unproduktiv erweisen. Die Rezeption ästhetischer Zeichen provoziert dann die Ausbildung neuer Konstellationen und/oder die Einbeziehung überhaupt neuer Bedeutungen.146 Es kommt zu einer Umstrukturierung des Bedeutungssystems.
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auf andere Kunstformen – unter anderem Aufführungen – anwenden lässt (vgl. Dies., Erfahrung, 351). Fischer-Lichte, Bedeutung, 145. Fischer-Lichte, Erfahrung, 349. Aus diesem Grund ist die Bedeutung eines ästhetischen Zeichens „in erhöhtem Maße Veränderungen unterworfen. […] Der spezifische Unterschied zwischen den Zeichen generell und dem künstlerischen Zeichen besteht […] vor allem in einer Potenzierung der Veränderbarkeit des Resultates der Semiose, der Bedeutung“ (vgl. Fischer-Lichte, Bedeutung, 145f; dazu auch Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 46f). Vgl. Fischer-Lichte, Bedeutung, 76 u. ö.; Dies., Erfahrung, 350 u. ö. Fischer-Lichte ist sich bewusst, dass nicht nur die Rezeption ästhetischer Zeichen eine Umstrukturierung des Bedeutungssystems des Rezipienten bewirken kann. Der alltägliche Umgang mit der sozialen Mitwelt und der physikalischen Umwelt verlangt fortwährend hermeneutische Praktiken, in denen wir unser Bedeutungssystem „für Prozesse der Kommunikation, zum Handeln und Problemlösen“ einsetzen. Auch dabei wird es verändert. Anders als im Umgang mit ästhetischen Zeichen vollzieht sich diese Veränderung aber
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Vor diesem Hintergrund erscheint nicht mehr die Aufführung insgesamt als Schwellen- und Transformationsphase, sondern die interpretativen Rezeptionsprozesse, die sie eröffnen, werden in ihren liminalen und transformativen Potenzialen beschreibbar. Sie zeigen sich als „Schwellen- bzw. Transformationsphase, die der Rezipierende im Hinblick auf sein Bedeutungssystem durchläuft“147. Wichtig ist dabei die Einsicht, dass das Bedeutungssystem eines Subjekts nicht allein ein Medium seines kognitiven Weltzugangs darstellt, sondern intern mit den emotionalen und praktischen Dimensionen seines Weltverhältnisses verknüpft ist. Es ist Medium auch seiner affektiven Gestimmtheit und praktischen Lebensführung.148 Zur Veranschaulichung des Zusammenhangs zwischen Bedeutungen, Affekten und Handlungen rekurriert Fischer-Lichte auf die Phänomene der Phobie und des Tabus.149 Beide Beispiele zeigen, dass Gefühle nicht als unmittelbare Reflexe auf objektive Reize zu verstehen sind, sondern vermittelt über das Bedeutungssystem eines Subjekts hervorgerufen werden. So wird ein Schlangensymbol für denjenigen, der aufgrund seiner persönlichen Lebensgeschichte eine Schlangenphobie ausgebildet hat, etwas anderes bedeuten als für denjenigen, der ein affektuell neutraleres Verhältnis zu Schlangen besitzt oder sie aufgrund ihrer Klugheit und Eleganz sogar bewundert, und dadurch andere Gefühlsreaktionen auslösen. Und innerhalb einer sozialen Formation, in der ein Set geteilter Verständnisse bestimmte sexuelle Praktiken tabuisiert oder zumindest in ihrer Akzeptabilität herabsetzt, wird die Darstellung oder Andeutung eben dieser Praktiken beim Publikum andere Emotionen provozieren als in einer sozialen Formation, in der solche Praktiken als ‚normale‘ Formen sexueller Entfaltung codiert sind. Die Phänomene der Phobie und des Tabus erhellen zugleich den inneren Konnex zwischen dem durch Bedeutungen strukturierten Orientierungssystem eines Subjekts und seinem praktischen Weltverhältnis. Phobien und Tabus bestimmen die Lebensführung. Sie verschließen praktische Möglichkeiten; sie geben Handlungsoptionen den Status einer Herausforderung (die Phobie, die es endlich zu überwinden gilt); sie statten Handlungsoptionen mit spezifischen meistens nur „unmerklich“. In der Rezeption von Kunst wird diese Veränderung verdichtet, intensiviert und beschleunigt erfahren (vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 350). 147 Fischer-Lichte, Erfahrung, 350. Zur transformativen Dimension interpretativer Akte vgl. auch die Rekonstruktion der Überlegungen von Ricœur unter A.1.2. 148 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik, 262–269; Dies., Bedeutung, 98–116; Dies., Erfahrung, 355ff. Vgl. dazu auch nochmals Seels Einstellungsbegriff (vgl. C.1). 149 Das Phänomen der Phobie repräsentiert die individuelle Prägung des Bedeutungssystems eines Subjekts, die sich aus seiner persönlichen Biographie ergibt; das Phänomen des Tabus verweist auf die stärker kulturelle Bestimmtheit seines Bedeutungssystems, das auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Formation und die in ihr kultivierten geteilten Verständnisse basiert (vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 264f).
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Reizen aus (das Tabu, das gebrochen werden will). In allen Fällen nehmen sie Einfluss auf die Lebenspraxis.150 Insofern organisiert das Bedeutungssystem eines Subjekts nicht nur sein kognitives, sondern zugleich auch sein emotionales und praktisches Weltverhältnis. Bedeutungen, Emotionen und Handlungen sind reziprok aufeinander bezogen: Bedeutungen sind verankert in Gefühlen und prägen diese und sie sind „Produkt bisheriger Praxis“ und „Produzenten bzw. Produktionsmittel zur Gestaltung einer neuen Wirklichkeit“151. Entsprechend eröffnet eine Umstrukturierung des Bedeutungssystems zugleich auch neue emotionale und praktische Möglichkeiten. (3) ‚Identifikation/Immersion‘: Eine weitere Art und Weise, in der Aufführungen ihre liminalen und transformativen Potenziale erzeugen, signalisieren die Begriffe der Identifikation und Immersion. Während sich die hermeneutische Tätigkeit prinzipiell auf alle Strukturmomente des ästhetischen Zeichens richten kann, setzen Identifikationsakte und Immersionsprozesse Figuren bzw. Atmosphären voraus. Wenn auch theoretisch nicht in derselben Intensität und Präzision durchgearbeitet wie die interpretativen Vorgänge der Rezeption ästhetischer Zeichen, weist Fischer-Lichte wiederholt auf die liminale und transformative Dimension von Identifikationen und Immersionen hin.152 Sie gebraucht den Immersionsbegriff zunächst, um das ‚Eintauchen‘ des Publikums in die Atmosphäre einer Aufführung zu beschreiben. Vermöge der sinnlichen Wahrnehmung des Raumes, also seiner Ausdehnung, seiner Objekte, Gerüche und Laute, seines Lichts etc., werden die Zuschauenden in einen Erlebniszustand versetzt, der sich je nach Beschaffenheit der Atmosphäre mehr oder weniger von den Stimmungen unterscheidet, die durch die Umgebungen, in denen sie sich normalerweise aufhalten, hervorgerufen werden. Die Atmosphäre wird so zu einem Medium der Liminalität. Vermittelt über die Übertragung auf andere Kunstformen wie das Lesen eines Romans oder das Sehen eines Films vermag der Begriff der Immersion aber auch das ‚Eintauchen‘ in die durch Aufführungen präsentierten Welten zu bezeichnen, das wesentlich über die Identifikation mit den fiktiven Figuren organisiert wird. Indem sich die Rezipienten auf die „Identifizierungsangebote“ der Aufführung auf Zeit und auf 150 Fischer-Lichte konkretisiert diesen Zusammenhang an Lorenzers Erklärung der durch Freud berühmt gewordenen Pferdephobie des ‚kleinen Hans‘. Für Lorenzer entsteht die Phobie dadurch, dass affektuell negativ besetzte Bedeutungselemente aus dem semantischen Horizont des Vaterbegriffes ausgegrenzt und dem Begriff des Pferdes attributiert werden. Indem die Therapie diese Sinnzuschreibungen offenlegt und versucht rückgängig zu machen, arbeitet sie an einer Reorganisation des Bedeutungssystems des Analysanden. Gelingt sie, werden ihm neue praktische Möglichkeiten erschlossen (vgl. Fischer-Lichte, Bedeutung, 105f; Lorenzer, Sprachzerstörung, 93–103; Freud, Analyse). 151 Fischer-Lichte, Bedeutung, 115. 152 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik; Dies., Performativität, 118.125ff.138.142.145.
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Probe einlassen, vermögen sie mit neuen Selbstentwürfen zu experimentieren, sich tentativ im Medium eines anderen Bedeutungssystems zu interpretieren, das, wie gesehen, integral mit spezifischen Handlungsoptionen und Gefühlsmodellen verknüpft ist.153 Insofern markieren die immersiven Prozesse und identifikatorischen Akte, die Aufführungen ermöglichen, einen weiteren Konstitutionsmodus ihrer Liminalität und Transformativität. (4) ‚Assoziation‘: Vor allem am Beispiel von Inszenierungsstrategien, die im Theater seit den 1960er Jahren erprobt wurden, erläutert Fischer-Lichte eine dritte Möglichkeit aufführungsbezogener Bedeutungskonstitution. Folgen die bisher beschriebenen Prozesse der Interpretation und Identifikation einer „Ordnung der Repräsentation“, beschreibt Fischer-Lichte mit dem Stichwort der Assoziation die Entstehung von Bedeutungen nach der Logik einer „Ordnung der Präsenz“.154 Seit Mitte des 20. Jh. kommt es im Theater zunehmend zum Einsatz von Elementen, die inszenatorisch nicht in einen übergeordneten Kontext, eine „Handlungs- und Psychologik“ oder eine sonstige „Art von kausaler Verkettung“ eingefügt werden; sie „tauchen […] im Raum auf, stabilisieren sich für eine Weile – von je unterschiedlicher Dauer –, teilweise bei ständiger Transformation, und verschwinden irgendwann wieder, ohne daß sich für Erscheinen und Verschwinden eine nachvollziehbare Begründung oder eine spezifische Motivation angeben ließen.“155
Werden diese Elemente gemeinhin als desemantisierte Gebilde beschrieben, vertritt Fischer-Lichte die These, dass auch sie etwas bedeuten: Sie bedeuten sich selbst. Räume, Objekte, Körper etc., die sich einer Interpretation auf die dargestellte Geschichte hin verweigern, werden als selbstreferentielle Elemente wahrgenommen und treten so in ihrem „phänomenalen Sein“ hervor.156 Dadurch eröffnen sie zwei Reaktionsoptionen. Zum einen kann auf sie in der Art einer „kontemplative[n] Versenkung“ reagiert werden, in der die „Frage nach weiteren Bedeutungen, nach potentiellen Funktionen und Verwendungsweisen oder auch 153 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 141–142, hier 145. Es kommt zu einer „Übernahme und [einem] probeweisen Ausagieren neuer Identitäten“, die „so zur Modellierung des Selbst, seines Verhaltens und seiner Einstellungen beitragen“ (a. a. O., 144; vgl. auch Dies., Ästhetik, 336; Dies., Einleitung, xii.xx). Zum Immersionsgedanken hinsichtlich literarischer Rezeption vgl. auch Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 122f. 154 Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik, 240–280, hier 258 u. ö.; Dies., Multistabilität. 155 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 243. 156 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 244. Fischer-Lichte wendet sich durch diese bedeutungsbezogene Interpretation der Wahrnehmung eines Gegenstandes in seiner bloßen Erscheinungsweise gegen Seels Explikation derartiger Perzeptionen. Während Seel den kontemplativen Modus ästhetischer Erfahrung als Wahrnehmung eines sinnfremden, desemantisierten Gegenstandes auffasst (vgl. C.1), besteht er für Fischer-Lichte in einer spezifischen Form der Bedeutungsgenerierung.
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nach einem anderen Kontext ihres Erscheinens“ ausgeschlossen bleibt und etwa ihre spezifische Stofflichkeit den Fokus der Wahrnehmung bestimmt.157 Zum anderen können selbstreferentielle Elemente zur Basis von „Assoziationen“ werden. Die Fülle potenzieller Gedanken, Bilder oder Gefühle, die durch die selbstreferentiellen Elemente ausgelöst werden, unterteilt Fischer-Lichte in regressive Assoziationen, die „als Erinnerungen“ Momente zurückliegender Erfahrungen, aus Gelerntem und Gelesenem etc. aktualisieren, und in Assoziationen, die solche Momente auf innovative Weise verknüpfen und „als plötzliche Intuition, neue Ideen [oder] so vorher noch nie gedachten Gedanken auftauchen“.158 Wie die Akte der Interpretation und Identifikation vermögen solche Assoziationen die Bedeutungssysteme der Rezipienten umzustrukturieren, indem sie die bestehenden Bedeutungen ergänzen, in Frage stellen oder in modifizierte Konstellationen einfügen. Der Unterschied liegt in der Intentionslosigkeit assoziativer Prozesse. Während in den interpretativen und identifikatorischen Prozessen allen Elementen der Aufführung orientiert am Aufbau eines hinreichend konsistenten Sinns versuchsweise und iterativ ersetzend Bedeutungen attributiert werden, erscheinen die assoziativen Gedanken, Bilder oder Gefühle unwillkürlich, „ohne daß sie gerufen oder nach ihnen gesucht“ worden wäre.159 Sie markieren eine dritte Variante der Umstrukturierung der Bedeutungssysteme der Rezipienten und beschreiben damit eine weitere Art und Weise, in der Aufführungen ihre liminalen und transformativen Potenziale erzeugen. (5) ‚Oszillation/Ambivalenz‘: Am Verhältnis zwischen der ‚Ordnung der Repräsentation‘ und der ‚Ordnung der Präsenz‘ lässt sich ein letzter Konstitutionsmodus nachzeichnen. Beide Wahrnehmungsregister bilden keine Alternative. In ein und derselben Aufführung und im Blick auf ein und dasselbe Element können sie sich abwechseln. Fischer-Lichte erörtert diese oszillierende Dynamik zwischen beiden Ordnungen wiederholt am Beispiel des Körpers der Schauspieler.160 In der ‚Ordnung der Repräsentation‘ wird der Körper eines Schauspielers als ein „semiotischer Körper“ wahrgenommen: Er bedeutet den dargestellten Charakter (Hamlet); seine Beschaffenheit und seine Bewegungen werden auf die Konstitution einer fiktiven Figur hin interpretiert, die als Identifikationsangebot fungiert. In der ‚Ordnung der Präsenz‘ wird der Körper des Schauspielers als ein „phänomenaler Leib“ wahrgenommen: Er bedeutet insofern sich selbst, als er als Körper der schauspielenden Person (Lars Eidinger) rezipiert wird. Während prinzipiell in jeder Theateraufführung ein ‚Umspringen‘ von der einen in die andere Rezeptionsordnung möglich ist, wird seit den 1960er Jahren 157 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 246. 158 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 247f. Die selbstreferentiellen Elemente führen so zu einer „Pluralisierung von Bedeutungsmöglichkeiten“ (a. a. O., 244). 159 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 248ff, hier 248. 160 Vgl. exemplarisch Fischer-Lichte, Multistabilität.
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mit Inszenierungsverfahren experimentiert, die ein solches Umspringen bewusst zu provozieren versuchen. Es wird ein „Zustand der Instabilität“ angestrebt, in dem sich die beiden Ordnungen immer wieder gegenseitig irritieren. Die dadurch provozierte Erfahrung deutet Fischer-Lichte als eminente Schwellenerfahrung.161 Die Dynamik der Oszillation exemplifiziert Fischer-Lichte anhand einer Reihe weiterer Phänomene.162 Ein Beispiel soll abschließend herausgegriffen werden. Es betrifft die Selbstmalträtierung von Marina Abramovic in ihrer Performance Lips of Thomas.163 Zum Höhepunkt einer sukzessiven Steigerung der Selbstquälung ritzt sich Abramovic einen Stern in den Bauch, den sie auf einem Kreuz aus Eisblöcken liegend durch einen Heizstrahler zum Bluten bringen lässt. Durch die Tortur, der sich Abramovic aussetzt, rückt ihr Körper zunehmend als phänomenaler Leib in den Blick. Eine Deutung ihrer Handlungen auf eine durch sie repräsentierte symbolische Ordnung hin, wird durch die realen Schmerzen der Künstlerin irritiert. Gegenüber dem jederzeit möglichen Umspringen der Wahrnehmung in die ‚Ordnung der Präsenz‘ innerhalb einer gängigen Theateraufführung gelingt es Abramovic‘ Performance die praxisleitenden Implikationen von Wahrnehmungsordnungen offen zu legen. Die Zuschauenden stehen nicht einfach zwischen zwei perzeptiven Optionen. Sie stehen zwischen zwei Handlungsoptionen: Sollen sie aktiv in die Performance eingreifen, um der Tortur ein Ende zu bereiten, und damit gegen die Regeln künstlerischer Freiheit verstoßen? Oder sollen sie die Szene weiterhin als symbolische interpretieren und damit gegen die Regeln der Humanität verstoßen? In diesem Sinne konstituiert Abramovic‘ Performance einen „Zustand des Zwischen“164.
Diesen Oszillationen und Ambivalenzen, auf die Theaterinszenierungen und Kunstaktionen seit Mitte des 20. Jh. verstärkt zielen, kommt in Fischer-Lichtes Theoriebildung eine zentrale Bedeutung zu. In ihnen wird die Liminalität und Transformativität nicht durch die Außeralltäglichkeit der Aufführungen insgesamt erzeugt oder durch einen interpretatorischen und identifikatorischen Umgang mit der dargestellten Welt, durch assoziative Bedeutungskonstitutionen oder Immersionen in distinkte Atmosphären. Verbleiben die Prozesse der Interpretation, Identifikation, Assoziation und Immersion innerhalb einer Wahrnehmungsordnung, beschreibt der letzte Konstitutionsmodus die Destabilisierung rezeptiver Logiken. Das Publikum gerät zwischen verschiedene Wahrnehmungsregister, die sich wechselseitig irritieren. In diesem Sinne könnte man von einer Radikalisierung der Liminalität sprechen.165 Der Zuschauer erfährt eine 161 162 163 164 165
Vgl. Fischer-Lichte, Multistabilität, hier 129.137. Vgl. Fischer-Lichte, Theater. Vgl. zum Folgenden Fischer-Lichte, Ästhetik, 9–12; Dies., Theater, 134–137 u. ö. Fischer-Lichte, Theater, 137. In Abramovic’ Performance wird mit dem ästhetischen Code des Als-ob gespielt. Um es in der Diktion von Huizinga auszudrücken: das ‚Minderwertigkeitsbewußtsein‘ und der Charakter des ‚Bloß‘, das dem Spiel wie der ästhetischen Erfahrung zu eigen ist und denen, die sie machen, die eigentümlichen Möglichkeiten der Erprobung von Identitäten und des
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gravierende „Verunsicherung“, indem er sich in einer Situation wiederfindet, in der die „bisher geltenden Normen, Regeln und Sicherheiten außer Kraft gesetzt zu sein scheinen“ und neue „gefunden und erprobt“ werden müssen. Die darin wurzelnde „Destabilisierung von Selbst- und Weltwahrnehmung“ artikuliert sich „nicht nur als eine kognitive Irritation, sondern auch und vor allem als eine Veränderung des somatischen Zustandes“. Sie ist durchsetzt mit „physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Reaktionen“.166
3.3
Resümee: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung
Durch die beschriebenen Modi eröffnen Aufführungen den an ihnen partizipierenden Subjekten Erfahrungen, die Fischer-Lichte im Anschluss an Turner als Schwellenerfahrungen deutet. In ihnen besteht Fischer-Lichtes Begriff ästhetischer Erfahrung. In ihr erlebt das Subjekt die Veränderungen, denen sein Bedeutungssystem, seine Wahrnehmungsgewohnheiten, seine Praxisorientierung und sein körperlich-affektiver Zustand im alltäglichen Umgang mit der Um- und Mitwelt fortwährend unterliegen, im Modus gesteigerter Intensität, Geschwindigkeit und Bewusstheit.167 Da Fischer-Lichte dieses Konzept ästhetischer Erfahrung primär am Modell des Theaters und anderen künstlerischen Aufführungen entwickelt, stellt sich die Frage nach seiner Reichweite in zweierlei Richtung: Gilt der Begriff (1) auch für Kunstformen ohne performance-Charakter? Und lässt er sich (2) auch auf Aufführungen außerhalb der Institution der Kunst anwenden? ludischen Umgangs mit Sichtweisen, Weltverhältnissen und Gefühlsmodellen eröffnet, werden – innerhalb des institutionellen Rahmens der Kunst, in dem diese Wahrnehmungsordnung gemeinhin erwartet und gewohntermaßen eingenommen wird – irritiert und auf eine Wahrnehmungslogik hin durchbrochen, die das außerästhetische, praktische Alltagsleben prägt. Zugespitzt formuliert: Die ästhetische Erfahrung besteht hier gerade in einer Störung der ästhetischen Erfahrung. Dass diese Störung als kognitive und somatische Irritation erlebt werden kann, muss sie freilich auf den ästhetischen Code bezogen bleiben. Aus diesem Grund können auch diejenigen Rezipienten, die sich durch die Störung in ‚Verunsicherung‘ haben bringen lassen, ihre dabei gemachten Erfahrungen im Nachhinein als ästhetische deuten, die ‚lediglich‘ in einem Modus des Als-ob vollzogen wurden. Auch ihnen bleibt die Möglichkeit, mit ihnen „spielerisch um[zu]gehen“ (Fischer-Lichte, Erfahrung, 354 [Hervorhebung M.S.]). Fischer-Lichte ist sich dieser Rückbezogenheit bzw. Angewiesenheit einer ästhetischen Erfahrung im Sinne der ‚Oszillation/Ambivalenz‘ auf eine ästhetische Erfahrung im Sinne des Als-ob und des Spiels bewusst, wenn sie notiert, dass die „Autonomie der Kunst“, die durch die „Institution der Kunst garantiert ist“, auch durch eine „Ästhetik des Performativen […] nicht ernsthaft in Frage zu stellen, geschweige denn aufzuheben“ ist (Dies., Ästhetik, 355). Vgl. dazu auch Danto, Verklärung, 46ff. 166 Vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 354f; Dies., Theaterwissenschaft, 63. 167 Vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 357.
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Teil C: Praktiken der Kunst
In ihrer Einführung in den Performativitätsbegriff erkundet Fischer-Lichte Möglichkeiten, ihr Konzept ästhetischer Erfahrung auf Kunstformen zu beziehen, deren Medialität und Materialität nicht durch die aufführungsspezifischen Merkmale der leiblichen Ko-Präsenz und Flüchtigkeit bestimmt sind. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass auch die Rezeption von textlichen (z. B. Roman), bildhaften (z. B. Gemälde) und dinglichen (z. B. Skulptur) Kunstformen, ästhetische Erfahrungen als Schwellenerfahrungen ermöglichen.168 Lässt die Anwendung des Begriffs ästhetischer Erfahrung auf solche Kunstformen seine Konturen im Wesentlichen unberührt, erfährt er in Auseinandersetzung mit Aufführungen, die außerhalb der Institution der Kunst verortet sind, eine wichtige Präzisierung.169 Für Fischer-Lichte eröffnen auch politische Versammlungen, Passagenrituale und Feste Schwellenerfahrungen. Grundsätzlich sind die damit verknüpften Transformationen jedoch auf äußere Ziele gerichtet: auf die Legitimation von Macht etwa, die Herstellung eines neuen Sozialstatus oder die Erneuerung von Gemeinschaftsgefühlen. Mit diesen Zielsetzungen verlagert sich der Fokus zweifach. Er liegt zum einen auf externen – im Sinne von temporal externen, die Aufführungen selbst also überdauernden, längerfristigen – Effekten und zum anderen auf externen – im Sinne von qualitativ externen – Wirkungen, bei denen nicht die Schwellenerfahrung selbst anvisiert wird. Demgegenüber reserviert Fischer-Lichte das Prädikat ‚ästhetisch‘ für Schwellenerfahrungen, bei denen „der Weg das Ziel ist“: „Bei ästhetischer Erfahrung geht es […] um die Erfahrung der Schwelle, des Übergangs, der Passage als solcher, den Prozess der Verwandlung selbst, bei nicht-ästhetischen Schwellenerfahrungen dagegen um den Übergang zu etwas, die Transformation in dieses oder jenes.“170
Ästhetische Schwellenerfahrung besitzt einen eminent selbstzweckhaften Charakter. Entsprechend liegt der Schwerpunkt auf den – in temporaler sowie qualitativer Hinsicht – internen Effekten von Aufführungen. In der Perspektive ästhetischer Erfahrung wird die Frage nach der inhaltlichen Bestimmtheit der Veränderung sowie ihrer Fortdauer eingeklammert. Sosehr die Möglichkeit nicht bestritten werden kann, dass ästhetische Erfahrungen auch nachhaltige Wirkungen zeitigen, sowenig bestimmt sich ihr Begriff über sie. Auf diese Weise präzisiert sind ästhetische Erfahrungen nicht pauschal künstlerischen Genres vorbehalten. Zum einen können auch nicht der Institution der Kunst zugehörige Aufführungen ästhetisch rezipiert werden und zum an-
168 Zu ihrer Argumentation vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 130–178. 169 Vgl. zum Folgenden u. a. Fischer-Lichte, Ästhetik, 348ff; Dies., Erfahrung, 362f; Dies., Theater, 141; Dies., Theaterwissenschaft, 64f.220ff.226. 170 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 349 (Hervorhebung i. Orig.).
Gottesdienst und Predigt im Horizont von Fischer-Lichtes Performativitätskonzeption 181
deren sind auch Erfahrungen, die spezifisch künstlerische Praktiken eröffnen, als zielgerichtete erlebbar: „Es hängt von der Wahrnehmung jedes einzelnen Zuschauers ab, ob er sich auf den liminalen Zustand konzentriert, in den ihn seine Wahrnehmung versetzt hat, oder ob er ihn als Übergang zu einem bestimmten Ziel erachtet und durchlebt.“171
Wo immer ästhetische Erfahrungen gemacht werden, besitzen die durch sie vermittelten Transformationen aufgrund ihrer Selbstzwecklichkeit einen experimentellen Charakter. Vor dem Hintergrund der Überlegungen von Turner könnte man sagen, dass sie nach Muster eines ‚Spiels‘ oder einer ‚Fiktion‘ erlebt werden. Das gilt auch für Veränderungen, die durch die Destabilisierung rezeptiver Logiken bedingt sind. Zwar wird hier der „Als-Ob-Pakt“172 gerade instabil. Das Publikum setzt sich aber auch den dadurch hervorgerufenen Transformationen nur auf Zeit und auf Probe aus. Auch die Störung von ästhetischer Erfahrung bleibt ästhetische Erfahrung. Ob die „Erfahrung der Destabilisierung, des Verlusts aller gültigen Normen und Regeln, tatsächlich zu einer Neuorientierung des betreffenden Subjektes, seiner Wirklichkeitsund Selbstwahrnehmung führt und in diesem Sinne zu einer andauernden Transformation“,
bleibt offen. Mit ihm wird ein „Spiel gespielt“, mit dem er selbst „spielerisch umgehen kann“.173 In diesem Sinne sind ästhetische Schwellenerfahrungen Erfahrungen, „denen man sich nach Belieben entziehen kann, wenn der Vorhang fällt.“174
4
Gottesdienst und Predigt im Horizont von Fischer-Lichtes Performativitätskonzeption
Unter dem Begriff der Theatralität hat Ursula Roth wesentliche Pointen des Performativitätsverständnisses Fischer-Lichtes in den liturgischen Diskurs eingearbeitet und für eine Hermeneutik des Gottesdienstes fruchtbar gemacht.175 Dabei wird die Transformativität kultureller Aufführungen mitberücksichtigt: Auch der Gottesdienst ist als eine ‚transformative Performanz‘ zu beschreiben.176 171 172 173 174 175 176
Fischer-Lichte, Ästhetik, 349. Fischer-Lichte, Performativität, 55. Vgl. Fischer-Lichte, Erfahrung, 354f (Hervorhebung M.S.). Rao/Köpping, Wende, 17. Vgl. dazu vor allem die 2006 erschienene Studie Die Theatralität des Gottesdienstes. Vgl. Roth, Theatralität, 62–70.269–284.292f. Überhaupt hat sich im Anschluss an die Entwürfe von Turner und Fischer-Lichte in der rezenten gottesdiensttheoretischen Debatte ein Interpretationsstrang herauskristallisiert, der den Gottesdienst in seinen transformativen
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Als solcher zielt er auf die Erschließung eines Erfahrungsraums, „in dem – mindestens für die Dauer des Geschehens selbst – Wirklichkeit anders zur Ansicht kommen und sich das Welt- und Selbstverhältnis der Einzelnen neu justieren kann“177. Im Blick auf die transformative Dimension der Predigt führt dieses Gottesdienstverständnis zunächst zu einer Relativierung, die positiv als ‚Entlastung‘ interpretiert werden kann. Als transformative Performanz kommt nicht einzelnen Stücken des Gottesdienstes Veränderungspotenzial zu; vielmehr fordert ihr Ensemble – „der Gottesdienst insgesamt“ – „dazu heraus, ungewohnte, gegenläufige Sichtweisen auf die Wirklichkeit einzunehmen und den eigenen Standpunkt innerhalb des neu vermessenen Horizontes auszutesten.“178 Eine Delegierung transformativer Funktionen exklusiv an die Predigt ließe wertvolle Potenziale des Liminalitätskonzepts von Turner und des Performativitätskonzepts von Fischer-Lichte ungenutzt, wonach die transformative Kraft einer performance gerade dem Arrangement ihrer Teilvollzüge zuzuweisen ist. Als ein Element der liturgischen Aufführung sind der Predigt umgekehrt transformative Potenziale freilich nicht vorzuenthalten. So bezieht Roth den Veränderungsaspekt des Performativen nicht nur auf den Gottesdienst im Allgemeinen, sondern auch auf die Predigt im Speziellen.179 Ohne auf die unterschiedlichen Konstitu-
Dimensionen zu akzentuieren versucht. Er wird nicht nur als ‚transformative Performanz‘, sondern ebenso als „transitorischer Ritus“ (Weyel, Gottesdienst, 181), „ritualisierte Performance der Konversion“ (Plüss, Gottesdienst, 110f) oder Ausdruck einer „Anti-Struktur, die dem Glauben Veränderungen abringt und dem Leben im Glauben Veränderungen anempfiehlt“ (Nord, Realitäten, 242) beschrieben. Dass es sich dabei um Potenziale handelt, gottesdienstlichen Ritualen auch stärker affirmative Funktionen zukommen können und ihre Deutung als transformative resp. affirmative Praktiken perspektivisch bedingt ist, habe ich in Stetter, Pfarrer, 97–100 anzudeuten versucht. Zur diesbezüglichen „Ambivalenz“ des Gottesdienstes vgl. auch Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 49ff. 177 Roth, Theatralität, 293. 178 Roth, Theatralität, 283 (Hervorhebung M.S.). Zur Problematik übersteigerter Erwartungen an die Predigt als Konsequenz einer Degradierung der übrigen Gottesdienstelemente zu einem bloßen Rahmen für das ‚eigentliche‘ Hauptstück ‚Predigt‘ vgl. Hertzsch, Predigt, 327f. Überhaupt zur Diskussion um das Verhältnis von Predigt und Liturgie vgl. ferner etwa Bartow, Performance; Bieritz, Ritus; Deeg, Wort, bes. 505ff; Dinkel, Gottesdienst, 225–240; Fechtner, Predigt, 124ff; Grethlein, Messe; Josuttis, Wort; Meyer-Blanck, Predigt; Ders., Gottesdienstlehre, bes. 10–13; Nicol, Bild, 38–46; Ders., Weg, bes. 65–89; Schröder, Predigt; Schwier, Sonntagsgottesdienst; Stetter, Reden; Ders., Pfarrer, 101ff. 179 Dies liegt insofern nahe, als die Predigt denselben medialen und materialen Bedingungen unterliegt wie Aufführungen. Als eine Rede besitzt sie performance-Charakter: Ihre mediale Struktur ist bestimmt durch die leibliche Ko-Präsenz von Predigerin und Hörer und den damit einhergehenden simultanen Rückkopplungsprozessen zwischen Akten der Produktion und Akten der Rezeption; und hinsichtlich ihrer Materialität stellt sie ein ephemeres Geschehen dar (vgl. Roth, Predigt). Wie gesehen wäre es freilich auch ohne diese Übereinstimmungen möglich, das Performativitätskonzept von Fischer-Lichte für die Predigt
Gottesdienst und Predigt im Horizont von Fischer-Lichtes Performativitätskonzeption 183
tionsmöglichkeiten transformativer Potenziale zu rekurrieren, schreibt Roth auch der Predigt die Fähigkeit zu, „mittels der Sprache solche Erfahrungsräume zu errichten, in denen sich Zuhörende nicht nur mit ihren eigenen Erfahrungen wiederfinden und wiedererkennen können, sondern auch konfrontiert werden mit fremden Erfahrungen – solchen, die einen anrühren, mitnehmen, bewegen, oder auch solchen, die einen bedrücken, abschrecken oder verstören“; sie kann „bereichern, bestärken und erneuern, aber auch kritisch hinterfragen und neu orientieren“; „[w]ie jede Aufführung kann auch die Predigt Menschen verwandeln.“180
Bis dato diente der Rekurs auf den Begriff des Performativen zum bloßen Aufweis der transformativen Dimension von Gottesdienst und Predigt. Im Horizont der Überlegungen Fischer-Lichtes kann Roth die Struktur der transformativen Dimension aber auch schärfer konturieren. Genauer arbeitet sie die im Ästhetischen verankerte Selbstzwecklichkeit in ihren liturgischen und homiletischen Begriff der Transformativität auf spezifische Weise ein. Zum einen vollzieht Roth die Einklammerung externer Zielsetzungen in temporaler Hinsicht nach. Der Fokus der Gottesdienst- und Predigtgestaltung liegt auf dem hic et nunc des Gottesdienst- und Predigtvollzugs selbst: Der Rekurs auf den Begriff des Performativen „zwingt dazu, den eigenen Blickwinkel ganz auf die Zeitspanne der Predigtaufführung zu reduzieren und zu konzentrieren“181 und „befreit von unrealistischen Erwartungen an die dauerhafte Wirkung des Gottesdienstes“182. Damit verbunden ist zum anderen der experimentelle Charakter des durch Gottesdienst und Predigt eröffneten liminalen Erfahrungsraums. In ihm können „Facetten eines anderen Selbst- und Weltverständnisses erprobt“ und „Standpunkt[e] innerhalb [eines] neu vermessenen Horizontes aus[ge]test[et]“ werden.183 Insofern vollziehen sich auch die Transformationen, die liturgische und homiletische Praktiken ihren Besuchern und Zuhörern eröffnen, im Modus einer Aneignung auf Zeit und auf Probe – was zugleich heißt, dass sie sich den so vollzogenen Transformationen entziehen können, ‚wenn der Vorhang fällt‘. Trotz dieser Konvergenzen mit Fischer-Lichtes Beschreibung von Schwellenerfahrungen heben die Ausführungen Roths die Struktur der transformativen Dimension liturgischer und homiletischer Praxis von ästhetischer Schwellenerfahrung nochmals ab. Dies wiederum in doppelter Hinsicht. Zum einen werden
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fruchtbar zu machen, weitet sie den Begriff des Performativen doch selber auf Texte, Bilder oder Dinge aus. Vgl. Roth, Predigt, 108f. Roth, Predigt, 108. Roth, Theatralität, 284. Vgl. Roth, Theatralität, 269.283. Dass die Predigt nicht spektakuläre Überschreitungen stimuliert, sondern zu kleinen Transzendierungen auf Zeit und auf Probe einlädt, merkt auch Meyer-Blanck, Übergang, 271–274 an.
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die externen Zielsetzungen zwar in temporaler, nicht aber in qualitativer Hinsicht eingeklammert. Während es ästhetischer Erfahrung um die Erfahrung der Schwelle selbst geht und sie damit auch in qualitativer Hinsicht ihren Zweck in sich selbst besitzt, sind die Erfahrungen, die Gottesdienst und Predigt eröffnen, inhaltlich in den „Gesamtzusammenhang der christlichen Religion“184 eingebunden. Gottesdienst und Predigt zielen erstens nicht auf das Durchleben einer Veränderungserfahrung um ihrer selbst willen und zweitens nicht auf das Durchleben irgendeiner Veränderungserfahrung.185 Auch dort, wo die liturgische und homiletische Gestaltung von einer mehr oder weniger deutlich umrissenen positiven Zielperspektive absieht und streng negativ verfährt, bleibt ein mindestens vage inhaltlich bestimmter Zielhorizont erhalten und den eröffneten Veränderungen in diesem Sinne eine mindestens diffuse Gerichtetheit eingeschrieben, wollen Gottesdienst und Predigt als „Ausdruck des christlichen Glaubens“186 verstanden werden können. Zum anderen besitzt der liturgisch und homiletisch konstituierte liminale Erfahrungsraum zwar einen experimentellen Charakter, da die Gottesdienstbesucher und Predigthörer sich auch ihm auf Probe aussetzen können. Für Roth wird dieses spielerische Verhältnis aber auf eine eigentümliche Art und Weise ermöglicht. So vollzieht sich auch der Gottesdienst „im Modus des Als-ob“, dies aber „in einem anderen Sinn als das Theater. Das liturgische Als-ob ist allem voran ein auf den (heilsgeschichtlichen) Zeithorizont bezogenes Als-ob.“187 Die im Gottesdienst dargestellte Welt fällt zwar nicht einfach mit der Alltagswirklichkeit zusammen, sondern übersteigt sie. Diese Transzendierung wird allerdings „nicht mittels der Darstellung einer fiktiven Handlung“ erzeugt. Die Entgrenzung der Alltagswirklichkeit vollzieht sich stattdessen „anamnetisch“ über die rhetorische und rituelle Einblendung von Szenen der „Geschichte Christi“, deren „Historizität“ für Gottesdienst und Predigt nicht ohne Belang ist, und „prospektiv-imaginierend“ über den Vorgriff auf die „Vollendungsgestalt des christlichen Glaubens“. Der „Gottesdienst wird vollzogen, als ob das wirksame Handeln an sein Ende gekommen wäre.“188 Für Roth leistet der Gottesdienst dadurch eine nichtfiktionale Überschreitung der Alltagswirklichkeit, die seinen Besuchern dennoch ein Verhältnis der spieleri184 Roth, Theatralität, 284. 185 Mit Fischer-Lichte kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, das Gottesdienstbesucher und Predigthörer Veränderungserlebnisse als solche fokussieren, genießen oder sich durch diese ins Nachdenken bringen lassen (vgl. C.3.3). 186 Roth, Theatralität, 284. 187 Vgl. Roth, Theatralität, 286. 188 Vgl. Roth, Theatralität, 284.286f (Hervorhebung i. Orig.). Das letzte Zitat spielt auf Schleiermachers Gottesdienstbegriff an, wonach im Gottesdienst die „symbolische Idee des ewigen Lebens“ zur Aufführung kommt, „in welcher alles verbreitende und alles reinigende Handeln als vollkommen abgeschlossen gesezt wird, so daß nur das darstellende Handeln übrig bleibt“ (vgl. Schleiermacher, Sitte, 600).
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schen Erprobung ermöglicht, das durch die Einklammerung der externen Zielsetzung in temporaler Hinsicht nochmals unterstrichen wird. Mit den Ausführungen von Roth rücken die im Rahmen der bisherigen Überlegungen wiederholt angeklungenen Bezüge auf das fiktionstheoretische Reflexionsinventar nochmals in den Blick. Tatsächlich nehmen hier die Kategorien des Als-ob, des make-believe, des Spiels, des Ausprobierens oder der Überschreitung einen zentralen Rang ein. Insofern verspricht ein konzentrierterer Rekurs auf das Nachdenken über fiktionale Kommunikation diesbezüglich weitere Klärungen. Dabei wird sich zeigen, dass auch andere Stränge der bisherigen Untersuchung unter der Warte fiktionsbezogener Überlegungen zusammenfinden und eine Präzisierung erfahren können: etwa Aspekte der Ricœurschen Hermeneutik (vgl. A.1.2), die Figur der Umweglichkeit des Sichselbstverstehens (vgl. A.1.4.3), das Verständnis positiver counter stories als Medium der Simulation oder Walzers Idee kritischer Praxis als einer Spiegelungskunst (vgl. B.2.4), die oben im Begriff der Reflexivität wiederkehrte (vgl. C.2.2.2).189
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Perspektiven der Fiktionstheorie
5.1
Zwei Ebenen fiktionaler Kommunikation
5.1.1 Fiktivität Um sich auf dem Feld der Fiktion zu orientieren, ist es sinnvoll, zwischen dem Konzept des Fiktiven und dem Konzept des Fiktionalen zu unterschieden. Bezieht sich Ersteres auf den erzählten Gehalt, markiert Zweiteres den Text der Erzählung: „Ein Roman ist fiktional, seine dargestellte Welt fiktiv.“190 Für gewöhnlich wird die Frage der Fiktion über die Ebene des Fiktiven angenähert. Der fiktionstheoretischen Standardauffassung zufolge besitzen fiktionale Texte keine Referenz auf tatsächlich stattgefundene Ereignisse. Einer 189 Der Fiktionsbegriff wird im Folgenden literaturwissenschaftlich perspektiviert. Dieser Zugang liegt für eine an der Predigtpraxis interessierte Studie nahe, da die Frage der Fiktion im literaturwissenschaftlichen Zusammenhang kommunikationsorientiert gestellt werden kann (vgl. Zipfel, Fiktion, 30–49). Fokussieren philosophische Abhandlungen häufig logische, referenzsemantische oder ontologische Probleme (vgl. exemplarisch Künne, Fiktion), eröffnet ein literaturwissenschaftlicher Zugang eine Untersuchung der Eigenart von Fiktionsrezeptionen. Ohne davon auszugehen, dass ein literaturwissenschaftlich konturierter Fiktionsbegriff pauschal auch auf Aufführungsgenres übertragen werden kann, wird sich zeigen, dass die nachstehenden Überlegungen für die spezifischen Fragen, die sich im Rahmen der Überlegungen von Turner und Fischer-Lichte stellten, durchaus Klärungspotenziale besitzen. 190 Schmid, Elemente, 26. Vgl. ferner Kablitz, Kunst, 166; Martínez/Scheffel, Einführung, 13; Zipfel, Fiktion, 19.
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fiktiven Welt liegen keine real existierenden Begebenheiten zugrunde, auf die sie darstellend verweist. Sie basiert auf Erfindung. Geht man davon aus, dass das ‚Tatsächlich-Stattgefundene‘ und ‚Real-Existierende‘ nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern stets nur interpretativ erschlossen werden kann, gilt es zu präzisieren, worauf exakt sich das Fiktive nicht darstellend bezieht. Frank Zipfel gebraucht hierfür den Begriff der „Alltagswirklichkeit“191. Mit Peter Berger und Thomas Luckmann kann sie als die „oberste Wirklichkeit“ beschrieben werden, der eine gewisse „Vorrangstellung“ zukommt, insofern sich unsere Lebensvollzüge zunächst und zumeist in ihr bewegen.192 Die Alltagswirklichkeit ist kein ontisch abgrenzbarer Bezirk. Sie verdankt sich vielmehr einem spezifischen Erlebensmodus.193 In ihm wird das räumlich und zeitlich Begegnende als selbstverständlich und „keiner zusätzlichen Verifizierung“ bedürftig erfahren; es ist „einfach da“ und „[i]ch weiß, daß [es] wirklich ist.“ Der Begriff der Alltagswirklichkeit beschreibt Welt, wie sie in der natürlichen Einstellung erlebt wird. Skepsis und Zweifel sind in ihr pragmatisch eingeklammert.194 Zu Recht konstatiert Zipfel, dass unsere natürliche Einstellung nicht streng gegenüber Wissensmomenten abgeschottet ist, die in theoretischer Einstellung gewonnen werden. Was gemeinhin als wirklich erfahren wird, ist mitbestimmt durch „Expertenwissen“, das über diverse Kanäle in das Alltagswissen einsickert, sich dort sedimentiert und so die alltäglichen Wahrnehmungen mitbeeinflusst. ‚Alltagswirklichkeit‘ als diejenige Version von Welt, die einem Subjekt als ‚tatsächlich‘ und ‚real‘ gilt, ist damit immer auch abhängig von theoretisch erarbeiteten Einsichten, zumindest wenn sie in das Wissensreservoir einer sozialen Formation Eingang gefunden haben und die Vokabulare, derer sich das Subjekt in seinen alltäglichen Vollzügen bedient, mitbestimmen.195 191 Vgl. Zipfel, Fiktion, 69–76. 192 Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 24. In Schütz/Luckmann, Strukturen, 57 wird sie als „Urtypus der Realitätserfahrung“ vorgestellt. 193 Im Anschluss an Schütz und Luckmann spricht Merle, Alltagsrelevanz, 160 von einem „Erlebnis- und Erkenntnisstil“, der sich über die „Aspekte des Grads der Wachheit, der vorherrschenden Form der Spontaneität, der besonderen Epoché, der spezifischen Form der Sozialität, der spezifischen Form der Selbsterfahrung und unter dem Aspekt der Zeitperspektive“ bestimmt. 194 Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 24.26 (Hervorhebung i. Orig.); Merle, Alltagsrelevanz, 160. Das heißt nicht, dass in der natürlichen Einstellung Welt schlechthin unproblematisch erschiene. In der Alltagswirklichkeit wird eine Fülle von Problemen bearbeitet. Im Regelfall sind diese aber auf der Grundlage meines „Alltagswelt-Wissen[s]“ lösbar, sofern es mir die Lösungswege vorzeichnet, die es zu erkunden gilt, und auf Wissensvorräte verweist, die ich mir aneignen und „in die Routine meines Alltags integrieren kann“ (vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion, 26f, hier 27). 195 Auf den Einfluss, den theoretische – und auch religiöse und ästhetische – Symbolsysteme auf die „Allerweltserfahrung“ nehmen, verweisen auch Berger und Luckmann. Der Sprache kommt dabei die zentrale Vermittlungsaufgabe zu. Sie besitzt „die Kraft, nicht nur fern der Allerweltserfahrung Symbole zu bilden, sondern sie umgekehrt auch wieder in die All-
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Vor diesem Hintergrund gilt eine Welt dann als fiktiv, wenn sie nicht darstellend auf Ereignisse und Begebenheiten der Alltagswirklichkeit rekurriert.196 Dieses Grundverhältnis, das das Fiktive zur Alltagswirklichkeit einnimmt, ist in dreifacher Hinsicht zu präzisieren. (1) Die fiktive Welt kann prinzipiell auf zwei Arten von der Alltagswirklichkeit abweichen. Sie kann „nach der geltenden Wirklichkeitskonzeption“197 als eine mögliche oder als eine nichtmögliche Welt erscheinen. Entsprechend lassen sich zwei Varianten der Fiktivität unterscheiden. In der ‚realistischen‘ Variante präsentiert die fiktive Welt ein Szenario, das dem Rezipienten als möglich gilt. Exemplarisch wäre auf Aristoteles’ berühmtes Diktum zu verwiesen, wonach es „nicht Aufgabe des Dichters [sei], mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“198 In der ‚phantastischen‘ Variante hingegen rekurriert die fiktive Welt auf Sachverhalte, die „nicht bloß nicht bestehen, sondern in der wirklichen Welt nach unserer Erfahrung auch gar nicht bestehen können.“199 (2) Eine fiktive Welt kann wirkliche Gegenstände enthalten. Auch dort, wo nicht darstellend auf die Alltagswirklichkeit Bezug genommen wird, können historische Personen, Orte und Zeiten vorkommen. Mit Terence Parsons kann daher heuristisch zwischen native und immigrant objects unterschieden werden, wobei Erstere in genuiner Weise der erfundenen story angehören (Sherlock Holmes), uns Letztere dagegen –
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tagswelt ‚zurückzuholen‘ und dort als objektiv wirkliche Faktoren zu ‚präsentieren‘“ (Dies., Konstruktion, 42). Dass unsere Normalitätsannahmen nicht allein auf selbstgemachten Erfahrungen beruhen, sondern gewissermaßen enzyklopädisch mitverbürgt sind, notiert ebenso Umberto Eco, wenn er von einer „gesellschaftlichen Teilung des Wissens“ spricht, in der ich die „Kenntnis von neun Zehnteln der realen Welt anderen überlasse, um mir die unmittelbare Kenntnis eines Zehntels vorzubehalten. […] Ich habe gelernt, daß ich mich bei vielen Dingen in der Vergangenheit auf das Wissen anderer verlassen konnte, ich behalte meine Zweifel einem speziellen Ausschnitt des Wissens vor, und für den Rest verlasse ich mich auf die Enzyklopädie. Mit ‚Enzyklopädie‘ meine ich die Gesamtheit des Wissens, von der ich nur einen Teil besitze, aber zu der ich, wenn nötig, Zugang habe, da sie so etwas wie eine riesige Bibliothek darstellt, mit allen Büchern der Welt und allen gesammelten Zeitungen und handgeschriebenen Dokumenten aller Zeiten“ (Ders., Wald, 120). Indem für den Ausweis des Fiktiven auf die so gefasste Alltagswirklichkeit Bezug genommen wird, bleibt die Differenz fiktiv/real auch unter den Bedingungen des Konstruktivismus gültig. Damit geht freilich einher, dass diese Differenz nicht objektivistisch festgestellt werden kann. Sie ist abhängig von der je leitenden Wirklichkeitsauffassung. Vgl. dazu auch Gabriel, Logik, 123f: „Das Festhalten an der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen darf […] weder als wissenschaftstheoretischer Szientismus noch als metaphysischer Realismus gedeutet werden. ‚Das Gegebene‘ gibt es genausowenig wie die ‚nackten Tatsachen‘. Tatsachen sind in dem Sinne ‚gemacht‘, daß an ihrer Konstitution das erkennende Subjekt wesentlich beteiligt ist. Konstituieren und Fingieren sind aber verschiedene ‚Mach‘-Arten.“ Zipfel, Fiktion, 80. Aristoteles, Poetik, 29. Fricke, Norm, 51 (i. Orig. teils hervorgehoben).
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potenziell – auch aus unserer Alltagserfahrung bekannt sind (London).200 (3) Die Alltagswirklichkeit ist nicht allein über die aus ihr entlehnten Objekte in der fiktiven Welt präsent, sondern partizipiert zudem als ständiger Rezeptionshintergrund an ihrem Aufbau. Anders könnte die fiktive Welt gar nicht verstanden werden. „Die Fluchtlinien der Fiktion und ihrer Welt laufen immer zusammen in einer Welterfahrung, die der Rezipient als eine elementare Voraussetzung auch dann noch ins Spiel bringt, wenn die Fiktion sich ihr völlig zu entziehen scheint. Wäre alles in der Fiktion prinzipiell anders als in unserer Erfahrung von der Wirklichkeit, wäre also die Fiktion einem Wirklichkeitsbegriff gar nicht mehr zuzuordnen, so wäre sie weder sprachlich artikulierbar noch in der Rezeption konstituierbar.“201
Insofern ist die Devianz auch phantastischer Welten niemals absolut. Auch für ihre im Verlauf der Rezeption erfolgende Konstitution kann das „Realitätsprinzip“202 in Rechnung gestellt werden, wonach alle Momente unseres alltagsweltlichen Wissens auch im Rahmen der fiktiven Welt als gültig vorauszusetzen sind, solange sie nicht explizit negiert werden. Im Blick auf die Frage der Transformation lassen sich diese Überlegungen wie folgt deuten. Indem fiktive Welten nicht darstellend auf die Alltagswirklichkeit bezogen sind, eignet ihnen ein genuines Transzendierungspotenzial. Sie „überschreiten, verändern […] und kontrastieren“ die Alltagswirklichkeit.203 Alle prägenden Konstituenten unseres alltagsweltlichen Wirklichkeitszugangs vermögen sie zu variieren: physikalische Gesetzmäßigkeiten, logische Regeln, soziale Ordnungen, eingespielte Interpretationen, Relevanzsetzungen etc. Insofern eröffnen Fiktionen einen Freiraum für die Produktion von Alterität. Als kultu200 Vgl. Parsons, Objects. Neben den native und immigrant objects lassen sich noch „pseudoreale“ – auch surrogate objects genannte – Gegenstände beschreiben, die zwar aus unserer historisch-empirischen Welt entlehnt, aber merklich verfremdet sind. Zu Fragen, die sich hinsichtlich der immigrant und surrogate objects stellen, vgl. Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 127–131; Zipfel, Fiktion, 92–102. 201 Stierle, Rezeption, 378; ferner Currie, Nature, 7; Zipfel, Fiktion, 82. 202 Vgl. Zipfel, Fiktion, 84–88, hier 85. Eco spricht vom parasitären Charakter der Fiktivität: Auch „die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist. Dies aber bedeutet: Die fiktiven Welten sind Parasiten der wirklichen Welt“ (vgl. Ders., Wald, 102–127, hier 112). Zum Realitätsprinzip vgl. ferner Kablitz, Kunst, 173ff; Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 131. 203 Vgl. Benkel, Welt, 18. Entsprechend unter anderem Anderegg, Das Fiktionale, 156; Martínez/ Scheffel, Einführung, 19; Ricoeur, Function, passim; Weidacher, Texte, 142f; Iser, Akte, 125– 135. Isers prominent gewordene Überführung des Duals real/fiktiv in die „Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären“ (Ders., Akte, 122) muss dabei nicht nachvollzogen werden. Schon früh hat Ströker die Probleme benannt, die sich mit Isers Konzept des Imaginären stellen, und die Vermutung geäußert, ob die Triade „nicht am Ende [wieder] in eine neu verstandene Opposition von Fiktivem und Realem einzuschmelzen wäre“ (vgl. Dies., Das Imaginäre, hier 478).
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relles Reservoir von Alternativen rücken sie die Alltagswirklichkeit in den Horizont ihrer Möglichkeiten und halten so einen Überschuss an Weltdeutungen präsent.204 Exakt auf dieses Potenzial verweist Turner mit der ersten Komponente seines Spielbegriffs, wenn er aufseiten der Produktion liminaler Praktiken in den Verfahren der Entkontextualisierung, Stilisierung, Verfremdung und Neukombination kreativ-künstlerische Möglichkeiten der Erzeugung von Signifikanten und Semantiken erkennt, die über das Repertoire der die Alltagswirklichkeit prägenden Vokabulare hinausreichen.205 Neben dem Transzendenzaspekt des Fiktiven wird auch sein Immanenzaspekt fiktionstheoretisch adressiert. Wie gesehen liegt der Akzent dabei primär auf der ersten der von Walzer beschrieben Funktionen der Immanenz: Verstehen zu ermöglichen (vgl. B.3). Im Realitätsprinzip erfährt diese Funktion eine beachtenswerte Entproblematisierung. Indem fiktionstheoretisch davon auszugehen ist, dass der Rezipient eines fiktionalen Textes die in ihm präsentierte Welt quasi instinktiv nach Maßgabe seines alltagsweltlichen Wissens konstituiert, erscheint weniger die Inskription immanenter Aspekte als Herausforderung als vielmehr die Realisierung des Transzendierungspotenzials. Im Realitätsprinzip ist der Variationsdynamik des Fiktiven eine Art Widerlager eingebaut, das die Transzendierung des alltagsweltlichen Wissens zur unwahrscheinlichen Option macht, die nur durch explizite Aussagen und widerständige Strukturen realisiert werden kann. Im Rahmen der Fiktionstheorie fällt so überhaupt ein anderes Licht auf die Dialektik von Immanenz und Transzendenz als im Zusammenhang kritiktheoretischer – und auch persuasionsorientierter – Überlegungen. Erscheint dort die Etablierung transzendierender Perspektiven als Problem, kommt hier die Etablierung immanentisierender Perspektiven als Herausforderung zu stehen. Diese Perspektivendifferenz ist nicht verwunderlich, besitzen Praktiken der Kritik und Persuasion doch eine andere Verbindlichkeitsstruktur als fiktionale Kommunikationen. Indem das Transformationsinteresse bei kritischen und persuasiven 204 Entsprechend bestimmt Kablitz Literatur „aufgrund ihrer Fiktionalität“ als „Kunst des Möglichen“. Sie „überführt die Wirklichkeit in die Vielfalt ihrer Möglichkeiten“ (Ders., Kunst, 198.203 [i. Orig. teils hervorgehoben]). Ähnlich Benkel, Welt, 21.23: Fiktionen vermitteln „Wirklichkeit im Modus der Möglichkeit“, liefern „über den Umweg der Imitation, Variation oder Negation dessen, was sich an erfahrbarer Wirklichkeit abspielt […], Einsichten in Möglichkeitsvarianten der Realität“ (i. Orig. teils hervorgehoben). Im Anschluss an das Aristotelische Prinzip der Wahrscheinlichkeit klammert Benkel die phantastischen Varianten der Abweichung dabei freilich aus. 205 Einen Zusammenhang zwischen dem Transzendierungspotenzial des Fiktiven und der Kategorie des Spiels stellt auch Sigmund Freud her, wenn er das dichterische Vermögen der Phantasie als Surrogat kindlichen Spiels interpretiert (vgl. Ders., Dichter, 171ff). Zum Spielbegriff als Interpretament des Abweichungscharakters der Fiktion vgl. ferner Barsch, Fiktion/Fiktionalität, 201. Zum Spielbegriff als Deutungskategorie für die Prozesse der Rezeption von Fiktionen vgl. C.5.1.2.
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Praktiken in der Regel mehr oder weniger gerichtet ist und sie sich daher gegenüber der konkreten Aneignungsweise der präsentierten Alternativen nicht indifferent verhalten, rückt die Frage der Zustimmungswürdigkeit in den Fokus. Dass die Rezipienten den Diskurs auf bestimmte Weise verstehen, als relevant empfinden und plausibel werten, gerät zu einem ausgezeichneten Telos, das in der Konzeptions- wie Vollzugsphase des kommunikativen Aktes eingelöst werden muss. 5.1.2 Fiktionalität Für einen literaturwissenschaftlichen Begriff der Fiktion ist eine Bestimmung über die fiktive Ebene nicht zureichend. Das wird schon dadurch deutlich, dass auch die Phänomene der Lüge, des Irrtums und der Täuschung fiktive Gehalte implizieren. Da wir uns zu diesen aber gänzlich anders verhalten als zu ästhetischen Fiktionen, sind weitere Bestimmungsmerkmale in den Blick zu nehmen.206 Damit rücken die Akte der Produktion und Rezeption fiktionaler Texte in den Fokus. Eine der populärsten Antworten auf die Frage der Fiktion auf der Basis eines produktionsorientierten Ansatzes stammt von John Searle. Man kann sie als pretense theory bezeichnen.207 Nach Searle simuliert ein Autor fiktionaler Texte Behauptungssätze. Er tut so, als ob er Behauptungen formuliert. Zwar produziert er der Form nach tatsächlich einen Behauptungssatz; die damit verbundene assertative Illokution gibt er aber nur vor. Aus diesem Grund ist er den Regeln, die für Behauptungsakte gemeinhin gelten, wie das subjektive Überzeugtsein von der Wahrheit des geäußerten Sachverhalts und die Bereitschaft für diesen Wahrheitsanspruch rechtfertigend einzustehen, entbunden.208 Searles Überlegungen wurden verschiedentlich kritisiert. Ein zentrales Defizit ist die Nichtbeachtung der narratologischen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler, wodurch Searles Position für einen literaturwissenschaftlichen Begriff der Fiktion Hempfer zufolge schon „im Ansatz falsch ist“.209
206 Vgl. Kablitz, Kunst, 166: Literatur teilt „das Fiktive mit einer Fülle anderer Texte […]. Ausgedachtes, Erfundenes, Hypothetisches, Simuliertes oder Erlogenes gibt es bekanntlich allenthalben, fiktional aber ist allein die Literatur selbst“. Insofern ist der Sachverhalt zu klären, dass „Romane“ für uns „keine Lügen sind, obwohl sie von Personen und Ereignissen handeln, die nicht existieren und niemals existierten“ (Esposito, Fiktion, 8). 207 Vgl. Currie, Nature, 12–18; Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 125; Zipfel, Fiktion, 185–195. 208 Vgl. Searle, Status. 209 Vgl. Hempfer, Fiktionstheorie, 110. Für Zipfel, Fiktion, 190f bekommt Searle die Autor/ Erzähler-Differenz deshalb nicht in den Blick, weil seine Sprechakttheorie auf Satz- und nicht auf Textebene operiert: „Im Rahmen einer solchen auf die Kategorien Autor und Satz fixierten Theorie tut man sich mit der Integration eines Erzählers schwer, weil die Be-
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Analog zu Searle setzt auch Gregory Currie beim Autor an. Ein Text sei dann fiktional, wenn er auf einem „act of fiction-making“ beruhe, der sich über spezifische Intentionen des Autors – die sog. „fictive intentions“ – bestimme.210 Im Unterschied zu Searle deutet Currie die Fiktionsproduktion allerdings nicht als pretense eines assertativen illokutionären Aktes. Der Autor eines fiktionalen Textes beabsichtigt nicht die Simulation einer Behauptung. Seine Intention richtet sich vielmehr auf die Rezeptionshaltung seiner Leserschaft. „What the author of fiction does intend is that the reader take a certain attitude toward the propositions uttered in the course of his performance.“211 Die Haltung, welche die Leserschaft einnehmen soll, bezeichnet Currie mit dem Begriff des makebelieve: Anders als im Fall einer Behauptung sollen die Rezipienten die geäußerten Inhalte nicht glauben; sie sollen sie sich glauben machen.212 Eine Explikation der make-believe-Haltung zeigt signifikante Übereinstimmungen mit der zweiten Komponente von Turners Spielbegriff. Bezeichnet die erste Komponente – auf Produktionsebene – den Freiraum, Konstituenten unserer Alltagswirklichkeit spielerisch zu modifizieren, um dadurch andere und neue Weltentwürfe zu generieren, markiert die zweite Komponente – auf Rezeptionsebene – das spielerische Sich-bestimmen-Lassen von diesen Entwürfen. Rezeptionen, die aus einer Haltung des make-believe heraus vollzogen werden, lassen sich als ein solches spielerisches Sich-bestimmen-Lassen verstehen. Dies zeigt sich zunächst daran, dass der Spielbegriff explizit als Interpretament des make-believe-Konzeptes fungiert: „The reader of fiction is invited by the author to engage in a game of make-believe“.213 Dieser Einladung Folge zu leisten und sich auf das Spiel einzulassen, bedeutet, „für die Zeit der Lektüre“ seinen „Unglauben“, der gegenüber den fiktiven Inhalten „eigentlich geboten wäre“, freiwillig einzuklammern.214 In diesem Sinne werden die Kriterien, die normalerweise den Unglauben bzw. Glauben leiten – wie „historische Wahrhaftigkeit“215
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213
214 215
schreibungsebene Text gar nicht in den Blick kommen kann“ (a. a. O., 190 [Hervorhebung i. Orig.]). Zur Kritik der pretense theory vgl. auch Currie, Nature, 12–18. Vgl. Currie, Nature, 11 (Hervorhebung i. Orig.). Currie, Nature, 18 (Hervorhebung M.S.). Vgl. Currie, Nature, 21.70: „What distinguishes the reading of fiction from the reading of nonfiction is […] the attitude we adopt toward the content of what we read: make-belief in the one case, belief in the other.“ „[T]he author attempts to elecit a certain response from his audience; the desired response is that the audience make believe the story told by the author.“ Vgl. Currie, Nature, 70–73, hier 71; ferner Walton, Mimesis, passim; Ders., Furcht, passim; Zipfel, Fiktion, 214–228.248–261. Nicht in Bezug auf das make-believe-Konzept, aber allgemein zur Erläuterung von Fiktionsrezeptionen gebraucht auch Eco, Wald, 117.174 die Kategorie des Ludischen. Vgl. Zipfel, Fiktion, 248. Vgl. dazu auch Samuel Coleridges prominente Formulierung von der willing suspension of disbelief. Martínez/Scheffel, Einführung, 15.
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oder „empirische Überprüfbarkeit“216 – im make-believe-Spiel vergleichgültigt.217 Treffender wäre vielleicht zu formulieren: Der Rezipient soll „für sich selbst so tun, als ob“ diese Kriterien erfüllt wären; er soll „für sich selbst so tun, als ob er der Erzählung glaubt.“218 Insofern wechselt die Kategorie des Als-ob von der Ebene der Fiktionsproduktion auf die Ebene der Fiktionsrezeption. Simuliert im Rahmen der Überlegungen von Searle der Autor Behauptungssätze, so im Rahmen der Überlegungen von Currie der Rezipient ein Für-wahr-Halten.219 In Analogie zu Turners Beschreibung der Rezeption liminaler Praktiken ist damit auch das Konzept des make-believe durch ein spielerisches Sich-Einlassen auf eine präsentierte Welt charakterisiert. Die Kategorie des Ludischen ist fiktionstheoretisch erhellend, weil sie der Doppelstruktur des make-believe Ausdruck zu verleihen vermag. Für Huizinga ist jedes Spiel ein Bloß-so-Tun. Mit jedem Spiel verbindet sich das ‚Minderwertigkeitsbewußtsein‘ eines einschränkenden Bloß. Dadurch verweist das Spielkonzept auf den Simulationscharakter des Für-wahr-Haltens im Rahmen der make-believe-Haltung. Indem der Rezipient bloß so tut, als ob er den geäußerten Inhalten Glauben schenkt, entpflichtet220 er den Autor, die Wahrheit der geäußerten Inhalte subjektiv für überzeugend zu halten und rechtfertigend für sie einzustehen. Zudem stellt er sein Für-wahr-Halten unter einen dreifachen Vorbehalt. Es verdankt sich zunächst einem freiwilligen Entschluss; es orientiert sich nicht an den geläufigen Geltungskriterien. In temporaler Perspektive ist es sodann auf die Zeit der Rezeption begrenzt; aus ihm resultieren keine begründeten Verpflichtungen für die Zeit nach der Lektüre. Dadurch besitzt es zuletzt einen experimentellen Charakter; es ist der Art nach lediglich ein Versuch, der jederzeit abgebrochen werden kann und ein „probeweise[s] Durchspielen von Situatio-
216 Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 117. 217 Vgl. dazu auch Kablitz, Kunst, 175: „Denn ‚Fiktionalität‘ besagt ja nichts anderes, als daß ein Text von der anderweitig geltenden Verpflichtung befreit ist, wahre Aussagen machen zu müssen – daß seine Behauptungen also den Tatsachen zu entsprechen haben“; Stierle, Rezeption, 356: „Fiktion ist prinzipiell nicht durch eine genauere Kenntnis der Sachverhalte zu korrigieren, auf die sie Bezug nimmt. Während jeder behauptende Text von der Wirklichkeit korrigiert werden kann, ist der fiktionale Text nur dann fiktionaler Text im eigentlichen Sinne, wenn mit der Chance der Abweichung vom Gegebenen, und zwar der nicht korrigierbaren, sondern nur interpretierbaren oder kritisierbaren Abweichung, zu rechnen ist.“ 218 Vgl. Zipfel, Fiktion, 217. 219 Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen den Kategorien des Als-ob und des makebelieve wird Letztere in Reicher (Hg.), Fiktion durchgängig mit „so tun als ob“ bzw. nominalisiert mit „So-tun-als-Ob“ übersetzt (vgl. a. a. O., 40). 220 Bezogen auf die Ebene des Textes formuliert Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 121: „Fiktionale Texte handeln […] im Modus ‚entpflichteter Rede‘“.
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nen“ eröffnet, „die in der Realität kein Ausprobieren erlauben, sondern nur im Ernstfall begegnen“221. Indem der Rezipient aber eben ein Für-wahr-Halten simuliert, verschafft er den geäußerten Inhalten gleichwohl Geltung. Ohne sie blieben die freiwillig, auf Zeit und auf Probe gemachten Erfahrungen ohne inhaltliche Bestimmtheit und unsere emotionalen Reaktionen auf Fiktionen unverständlich. Der Leser lässt sich auf etwas ein und von einer bestimmten Welt bestimmen. In der Kategorie des Ludischen spiegelt sich dieser Aspekt insofern, als das „‚bloße Spielen‘ mit dem größten Ernst vor sich gehen kann, ja mit einer Hingabe, die in Begeisterung übergeht und die Bezeichnung ‚bloß‘ zeitweilig vollkommen aufhebt. Jedes Spiel kann jederzeit den Spielenden ganz in Beschlag nehmen. Der Gegensatz Spiel-Ernst bleibt stets schwebend.“222 Mit Zipfel kann diese Doppelstruktur des make-believe auf die narratologische Differenz zwischen empirischem Autor und fiktivem Erzähler bzw. empirischem Leser und fiktivem Adressaten abgebildet werden. „Zum einen kann man sagen: der Rezipient hält die fiktive Geschichte ebensowendig für wahr, wie der Autor sie als wahre Geschichte behauptet. Zum anderen gilt: der fiktive Adressat liest die Geschichte ebensosehr als wahr, wie der fiktive Erzähler sie als eine in der fiktiven Welt tatsächlich passierte erzählt.“223 In der makebelieve-Haltung nimmt der Leser den Standpunkt des fiktiven Adressaten ein, ohne dabei seinen empirischen Standpunkt vollständig verlassen zu können, was sich daran zeigt, dass er sein alltagsweltliches Wissen nur insofern einklammert als es von der fiktiven Welt explizit negiert wird. „Der fiktive Adressat bezieht […] das zur Rezeption notwendige sprachliche und enzyklopädische Wissen aus dem Wissensschatz des Lesers, der ja den fiktiven Adressaten mit seinem Fleisch und Blut bzw. besser seinem Verstand und Gefühl versieht. Somit ist der Hintergrund der in gewisser Weise fiktiven Rezeption des Adressaten die reale Welt des Lesers (soweit diese nicht von der fiktiven Welt negiert wird).“224
Am Beispiel von Curries Fiktionstheorie wurden bisher zwei Komponenten fiktionaler Kommunikation in Betracht gezogen: der ‚Sender‘ (Produktion) und der ‚Empfänger‘ (Rezeption). Ein Defizit der Currieschen Überlegungen besteht 221 Neumann, Erzählen, 286. Den Konnex insbesondere zwischen Spiel, Freiwilligkeit und zeitlicher Begrenztheit stellt im Horizont der Theatertheorie auch Rapp, Handeln, 202–206 heraus. 222 Huizinga, Homo, 17. Dieser schwebende Charakter des Spiels kann auch als Simultaneität von Engagement/Partizipation und Distanzierung beschrieben werden bzw. als „Zusammen von Sich-Einlassen-auf-das-Spiel und Bewußtsein, daß gespielt wird“; der make-believeHaltung ist diese ludische Doppelsignatur zu eigen, worin für Zipfel gerade der Reiz der Fiktionsrezeption, ihr spezifisches „Vergnügen“ besteht (vgl. Ders., Fiktion, 257–261, hier 261). Ähnlich zeichnen sich für Neumann, Erzählen, 294 „[n]arrative Vorgänge“ durch eine „einzigartige Mischung aus emotionaler Beteiligung und kognitiver Distanz aus“. Vgl. dazu ferner Harding, Prozesse, 76; Walton, Duality, 153f; Rapp, Handeln, 203. 223 Zipfel, Fiktion, 248. Zur Verdopplung der Kommunikationssituation bei fiktionalen Erzählungen vgl. a. a. O., 115–122; Hempfer, Fiktionstheorie, 120. 224 Zipfel, Fiktion, 252.
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in der Ausblendung der Komponente des Textes bzw. Paratextes. Sofern die fictive intentions des Autors auf eine spezifische Rezeptionshaltung des Lesers zielen, müssen sie ihm auf irgendeine Weise kenntlich sein. Vermittelt über die Textstruktur oder paratextuelle Indikatoren muss dem Rezipienten angezeigt werden, dass er die Haltung des make-believe einnehmen soll.225 Unter den diversen als Fiktionssignal in Betracht kommenden Merkmalen soll im Folgenden mit der „Darstellung fremder Innenwelt“ lediglich ein besonders charakteristisches herausgegriffen werden.226 Es gehört zur „Verfügungsmächtigkeit“227 eines fiktiven Erzählers, dass ihm ein unmittelbarer Zugang zum eigentlich unzugänglichen Seelenleben der Figuren zukommt. Fiktionale Kommunikation besitzt die Lizenz, die Psyche anderer Personen zu schildern, ohne dass diese Schilderung unter den Vorbehalt einer Vermutung gestellt oder durch Angabe äußerer Anzeichen wie Körperregungen, Handlungen oder sprachliche Mitteilung belegt werden müsste. Indem „fremdes Erleben“ ganz selbstverständlich „als beobachtbare Tatsache ausgewiesen wird, muß es fiktiv wirken.“228
5.2
Charakteristische Rezeptionspotenziale fiktionaler Kommunikation
5.2.1 Vergegenwärtigung von Daseinsmöglichkeiten Mit der Lizenz zur Ausgestaltung personaler Innenwelt kommt ein Kernpotenzial fiktionaler Kommunikation in den Blick: die Vergegenwärtigung von Daseinsmöglichkeiten.229 Diese werden im Rahmen fiktionaler Kommunikation 225 Vgl. Zipfel, Fiktion, 221f. Auf solche materialisierte Fiktionssignale sind auch Ansätze verwiesen, die fiktionale Kommunikation primär über einen konventionellen Fiktionsvertrag oder -pakt gesteuert sehen, „denn schließlich muß dem Leser ja in irgendeiner Weise kundgegeben – signalisiert – werden, wann er die entsprechenden Konventionen anzuwenden habe“ (Hempfer, Fiktionstheorie, 121). Der Hinweis auf die Konventionalität fiktionaler Kommunikation zeigt dabei freilich zu Recht an, dass der „Begriff der literarischen Fiktion […] als ein relativer oder auch relationaler“ verstanden werden muss. „Fiktional ist ein Text […] nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext, d. h. er ist fiktional für ein Individuum, eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Epoche“ (vgl. Martínez/Scheffel, Einführung, 15). 226 Vgl. Schmid, Elemente, 34–37. Dieses Merkmal findet sich schon in Käte Hamburgers die Debatte um Fiktionssignale maßgeblich beeinflussender Studie Die Logik der Dichtung. Eine systematisierende Auflistung verschiedener Fiktionssignale versucht Zipfel, Fiktion, 232– 247. 227 Hempfer, Fiktionstheorie, 129. 228 Kablitz, Kunst, 168. Vgl. dazu ferner Genette, Fiktion, 75–79; Gregory, Fictions, 29f; Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 119.123f; Martínez/Scheffel, Einführung, 16. 229 Vgl. zum Folgenden auch nochmals die Überlegungen zu Ricœur (A.1.2), zur Struktur des Sichselbstverstehens (A.1.4.3) sowie Seels korresponsiver Form ästhetischer Erfahrung
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nicht allein über ihre äußere Gestalt zugänglich. Der Erzähler vermag durch den direkten Zugriff auf die Psyche seiner Figuren Existenzformen zugleich von innen her auszuleuchten. Insofern erlaubt fiktionale Kommunikation die Inszenierung von Subjektivität: Sie kann nicht nur ein Subjekt, sondern Subjektsein zur Darstellung bringen.230 Der rezeptive Bezug auf diese Daseinsmöglichkeiten wird häufig über den Begriff der Identifikation erläutert. Gemeint ist damit eine Art „Probeleben“231: ein mentales ‚Eintreten‘ in die Subjektivität einer Figur, um deren „Weltwahrnehmungen und Lebensentwürfe tentativ durch[zu]spielen“232. Mit Recht wurde darauf verwiesen, dass die Rede von ‚Identifikation‘ Gefahr läuft, die vielseitigen Varianten eines solchen ‚Eintretens‘ zu verdecken. Ein wesentliches Manko liegt m. E. in der Nichtbeachtung zweier bis dato wiederholt aufgerufener Unterscheidungen: der Differenz zwischen Selbstdeutung und Selbstentwurf wie der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Identifikationsprozessen. Im Licht dieser Differenzierungen sollen im Folgenden einige Typen der Identifikation herausgearbeitet werden.233
230
231 232 233
(C.1): Als Darstellungsmedien bestimmter Möglichkeiten, in der Welt zu sein, versetzen gerade auch literarische Texte – gemäß der Umweglichkeit der Selbstinterpretation – ihre Rezipienten in die Lage, sich deutend und entwerfend über sich zu verständigen. Was es bedeutet, ein Subjekt zu sein, wird erst verständlich, wenn dessen Innenwelt in Betracht kommt. Entsprechend beschreibt etwa Peter Bieri das Subjekt als ein „Zentrum des Erlebens“. Menschen sind „körperliche Wesen mit einer Innenperspektive, einer Innenwelt“, die sich in mehrere Dimensionen auffächert: körperliche Empfindungen, sinnliche Erfahrungen, Gefühle, Wünsche, Gedanken. Auf dieser Innenwelt beruhen unsere Handlungen und in ihrer Artikulation entsteht unser Selbstbild als ein Bild davon, „wie wir sind“ (‚Selbstdeutung‘) und „wie wir sein möchten und sein sollen“ (‚Selbstentwurf‘) (vgl. Ders., Art, 20–23 [i. Orig. teils hervorgehoben]). Vgl. Panzer, Glauben, 270ff. Schmid, Elemente, 36. Zur Metapher des Eintretens vgl. Harding, Prozesse, 80. Schmid spricht vom ‚Hineinschlüpfen‘ „in eine fremde Subjektivität“ (vgl. Ders., Elemente, 36). Harding, Prozesse hat früh auf die Problematik des Identifikationsbegriffs für die Erörterung der rezeptiven Bezüge auf fiktionale Erzählungen hingewiesen und in detailsensiblerer Einstellung versucht, verschiedene Formen der Partizipation an fiktiven Charakteren prägnant zu bestimmen. Letztlich hält Harding den Identifikationsbegriff für unbrauchbar, um eine „adäquate Darstellung der Einstellung des Lesers zu einer fiktionalen [besser: fiktiven] Person“ zu beschreiben: „Wir erreichen nichts, wenn wir sie alle mit einem Begriff wie Identifikation verdecken“ (vgl. a. a. O., 82). Wird beachtet, dass (1) neben dem identifikatorischen Bezug auf die dargestellten Daseinsmöglichkeiten noch weitere Rezeptionsweisen bestehen, und (2) Identifikationsprozesse verschiedene Typen ausbilden, die ihrerseits realiter jeweils in kaum zu systematisierender Weise konkretisiert werden, kann m. E. am Begriff der Identifikation festgehalten werden. Die folgende Typologie ist selbstverständlich nicht als ein umfassendes Schema zu begreifen. Es verdankt sich ganz dem Interesse, die transformativen Dimensionen der Identifikation in den Blick zu bekommen. Zu einem Versuch das Identifikationskonzept in sich auszudifferenzieren und historisch zu konkretisieren vgl. Jauß, Erfahrung, 244–292. Jauß bestimmt fünf identifikatorische Grundmuster: Assoziation, Admiration, Sympathie, Katharsis, Ironie.
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(1) Ein Rezipient kann Ähnlichkeiten oder partielle Übereinstimmungen – mit Seel könnte man auch von ‚Korrespondenzen‘ sprechen (vgl. C.1) – zwischen sich und der Figur erkennen. Im Licht der zwei genannten Unterscheidungen tritt die Komplexität eines solchen Sich-im-anderen-Wiedererkennens vor Augen. Zum einen kann es sich sowohl auf der deskriptiven Ebene (‚Deutung‘) wie auf der normativen Ebene des Selbstbildes (‚Entwurf‘) einstellen. Zum anderen kann es sich in positiver Weise (‚so bin ich‘ bzw. ‚so will ich sein‘) und in negativer Weise (‚so bin ich nicht‘ bzw. ‚so will ich nicht sein‘) vollziehen. So lässt sich beispielsweise die admirative Identifikation, in der ein Rezipient in der Figur eine Art „Vorbild“ erkennt, das er „mehr oder weniger erfolgreich nach[zu]ahmen“ sucht, als ein negatives Sich-Wiederfinden auf Ebene der Selbstdeutung bei gleichzeitiger positiver Identifizierung auf Ebene des Selbstentwurfs interpretieren. Der Rezipient erfährt eine Bestätigung seiner Ideale, die sich in einen Impuls umsetzt, seine Lebensführung neu zu gestalten oder seine Selbstsicht zu überdenken. Wo dieser Impuls gewissermaßen ins Leere läuft, weil ihm eine Daseinsmöglichkeit erstrebenswert erscheint, „die aber so verschieden von ihm ist, daß er keinerlei Möglichkeiten sieht, ihr auch nur annähernd zu gleichen“, kann anstelle von „Nachahmung“, von „Bewunderung“ gesprochen werden.234 (2) Über das Erkennen von Ähnlichkeiten und partiellen Übereinstimmungen hinaus reichen Formen der Identifikation, die produktiv auf das Selbstbild der Rezipienten bezogen sind. Man könnte hier von dezidierten Selbsterweiterungen sprechen, davon, dass ich mich tatsächlich in einem verfremdeten Sinn wiederfinde.235 Im tentativen Durchspielen anderer Daseinsmöglichkeiten vermag ich Aspekte meiner Selbstinterpretation nicht nur wiederzuerkennen. Sie können Modifikationen erfahren: indem Komponenten meines Selbstbildes neu arrangiert werden, bisher rudimentär gebliebene oder wieder verkümmerte Facetten an neuer Prägnanz und Relevanz gewinnen oder überhaupt noch nicht in Erwägung gezogene Möglichkeiten der Selbstinterpretation zugänglich werden. Angesichts der Doppeldifferenz von Selbstdeutung/Selbstentwurf einerseits und positiver/negativer Identifikation andererseits kann auch diese produktive Identifikation ganz unterschiedliche Varianten ausbilden. Im mentalen Durchschreiten dargestellter Seinsweisen können meine normativen Orientierungen und aspirativen Muster Erweiterungen erfahren, beispielsweise, wenn beim Lesen eines Romans zum ersten Mal meine Sehnsucht nach Veränderung geweckt wird. Es kann sich aber auch die Sicht auf mein bisher gelebtes Leben ändern, wenn mir plötzlich neue Beschreibungskategorien zur Verfügung stehen und Facetten ausdrücklich werden können, die bisher gar nicht im Blick waren. Sowohl auf Ebene der Selbstdeutung als auch auf Ebene des Selbstentwurfs können solche 234 Vgl. Harding, Prozesse, 81; ferner Jauß, Erfahrung, 264–270. 235 Zum Begriff der Selbsterweiterung im Zusammenhang literarischer Rezeption vgl. A.1.2.
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Erweiterungen dabei durch negative Identifikationen oder positive Identifikationen provoziert werden. (3) Es wurde deutlich, dass schon im Zusammenhang der Entdeckung von Ähnlichkeiten und partiellen Übereinstimmungen Aspekte von Selbsterweiterung eine Rolle spielten. Im Licht der Unterscheidung zwischen Deutung und Entwurf kann das Phänomen, dass sich ein Rezipient in einer Figur wiederfindet, nicht als ein Geschehen kruder Selbstaffirmation interpretiert werden. Die Entdeckung von Korrespondenzen auf der Ebene des Selbstentwurfs ist transformativ relevant. Dies zeigt an, dass zwischen Erfahrungen des Sich-Wiederfindens und Erfahrungen einer dezidierten Selbsterweiterung keine trennscharfe Grenze, sondern ein komplexer Übergangsbereich existiert. Gestützt wird diese Einsicht durch ein ästhetisches Phänomen, das man als „Evidenz des Wiedererkennens“236 bezeichnen kann. Etwas-Wiedererkennen ist nicht einfach gleichbedeutend mit Etwas-schon-Bekanntes-zum-wiederholten-Male-Registrieren. Der Akt des Wiedererkennens produziert keine informationelle Verdopplung.237 Äußerungen wie ‚Das wusste ich alles schon‘ oder ‚Der erzählt doch immer nur das Gleiche‘ reagieren auf andere Erfahrungen, als wir sie im Akt des Wiedererkennens machen. Entsprechend vollzieht sich auch im Akt des Sich-Wiedererkennens mehr als ein erneutes Registrieren von Kenntnissen, die ich im Verlauf meiner Lebensgeschichte über mich erworben habe. Dieser Mehrwert, den wir der Erfahrung des Sich-Wiederfindens beimessen, lässt sich anhand diverser Gesichtspunkte verständlich machen, die mit dem „Vorgang des Zur-Darstellung-Bringens“238 in Zusammenhang stehen. Im Mich-Wiederfinden in einer dargestellten Daseinsmöglichkeit begegnet mir ein Ausschnitt meiner Realitätserfahrung. Aus den „unendlichen Verflechtungen“ meiner Lebenswirklichkeit wird ein „endliches Ganzes“ ausgrenzt und fokussierbar. Das Zur-Darstellung-Bringen rahmt bestimmte Segmente meines Selbstbildes ein und stellt sie als überschaubaren Bezugspunkt aus.239 236 Jauß, Erfahrung, 756. 237 Die einfachste Form informationeller Verdopplung liegt vor, wenn Gewusstes repetiert wird: Ich weiß, dass mein Flug um 18.15 Uhr geht – mein Sekretär weist mich darauf hin, dass mein Flug um 18.15 Uhr geht. 238 Düwell, Erfahrung, 123. 239 Vgl. Neumann, Erzählen, 292. Die Metapher des Selbstbilds suggeriert, dass sich das Selbstverständnis einer Person primär aus konturierten und geformten Segmenten aufbaut, auf die sie sich, indem sie sich in einer dargestellten Daseinsmöglichkeit wiedererkennt, lediglich genauer konzentrieren kann. De facto dürfte uns unser Selbstverständnis aber nicht als ein konturiertes und geformtes ‚Bild‘ vorliegen. Es ist uns häufig eher als eine Art unscharfer Hintergrund präsent, der nur hier und da, je nach Anforderung, scharf gestellt wird. Insofern kann ein Sich-Wiederfinden auch als ‚Formung‘, ‚Konturierung‘ oder ‚Scharfstellung‘ erlebt werden, in der ein Bestimmtes entsteht, sichtbar und auffällig wird.
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Indem mir dieser Ausschnitt nicht im Medium abstrakter Ideen und dünner Terminologien entgegentritt, sondern in Form der Inszenierung einer Daseinsmöglichkeit, wird er nicht nur überschaubar, sondern zugleich anschaulich.240 Durch den direkten Zugriff auf die Psyche der dargestellten Figur bezieht sich diese Anschaulichkeit auch auf die Welt der inneren Vollzüge. Oftmals dürfte der Akt des Sich-Wiederfindens mit der Erfahrung verbunden sein, sich in seinen Empfindungen, Gefühlen, Motiven, Wünschen und Gedanken anschaulich geworden zu sein – eine Erfahrung, die sich von der wiederholten Registrierung schon bekannter innerer Regungen abhebt. Die inszenatorische Form des Zur-Darstellung-Bringens ermöglicht nicht nur Anschaulichkeit. Sie vermag uns auch mit einem neuen Beschreibungsvokabular auszustatten. Zur Erfahrung des Sich-Wiederfindens gehört häufig die Einsicht, dass man die eigenen Empfindungen, Motive, Gefühle, Wünsche und Gedanken nicht in gleicher Weise zum Ausdruck oder ‚auf den Punkt‘ hätte bringen können. In der Überschreitung des subjektiven Vorrats an Metaphern, Narrativen und sonstigen Selbstbeschreibungsformularen verbindet sich der Akt des Sich-Wiederfindens ganz offensichtlich mit einer Form der Selbsterweiterung. Die inszenatorische Form des Zur-Darstellung-Bringens rückt ferner einen Rezeptionseffekt in den Blick, den man vielleicht mit den Begriff der Verklärung andeuten könnte. Wie Harding treffend beschreibt, liegt ein wesentlicher Reiz der Lektüre eines Romans (oder des Schauens eines Films) darin, dass wir in ihm alltäglich vertrauten Tätigkeiten, Situationen, Erfahrungen so „wiederbegegnen“, dass sie auch im Zusammenhang unseres Alltagslebens „eine gesteigerte Bedeutung gewinnen können“ – so etwa, wenn „die Samstagsabendparty romanhaften Glanz gewinnt, oder wenn die Entschlossenheit eines Pasteur oder Cézanne unsere tägliche Zähigkeit angesichts ständiger Rückschläge verklärt, oder wenn der gewöhnliche Mangel an Mut einen Lord Jim in unserer Persönlichkeit offenbart.“241
Durch die besondere Ausmalung einer Szene oder die Einbettung in den „überhöhenden Zusammenhang“ einer „Lebensform“, die wir besonders wertschätzen, können Tätigkeiten, Situationen und Erfahrungen, die wir aus unserem ganz alltäglichen Leben kennen, eine Auratisierung und Bedeutungsaufladung erfahren.242 Im Akt des Sich-Wiederfindens vollzieht sich damit mehr als die Verdopplung von Vertrautem. In ihm wird das Vertraute in einer neuen Bedeutsamkeit und emotionalen Gestimmtheit erfahrbar.
240 Vgl. Neumann, Erzählen, 291: „Die Leistung des Narrativen liegt […] vor allem in der Reduktion von Komplexität durch Anschaulichkeit.“ 241 Vgl. Harding, Prozesse, 86. 242 Vgl. Harding, Prozesse, 86.
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Sowohl die Erfahrung, Aspekten des eigenen Selbstbildes in einer innovativen Beschreibung inne zu werden, als auch die Erfahrung, sie im Licht einer gelungenen Szene oder einer attraktiven Lebensform über ihre Gewöhnlichkeit hinausgehoben zu erleben, stehen in engem Zusammenhang mit zwei Komponenten des korresponsiven bzw. existenziellen Modus ästhetischer Erfahrung. Zum einen verweisen sie auf den „gestaltgebende[n] Teil“ künstlerischer Darstellung. Sie verhilft ihren Gegenständen nicht allein zum Ausdruck; sie bestimmt sie auch, ‚stellt sie her‘ oder ‚verleiht ihnen Kontur‘. Entsprechend führt uns ein neues Beschreibungsvokabular Faktoren unserer Selbstinterpretation allererst zu und können dargestellte Daseinsmöglichkeiten zu „Stimulantien einer alltäglichen Korrespondenzbildung“ und „Wahrzeichen der subjektiven Wirklichkeit meines Lebens“ werden.243 Zum anderen machen sie deutlich, dass künstlerische Darstellungen nicht nur Inhalte präsentieren, sondern immer zugleich auch bestimmte Sichtweisen auf Inhalte. Indem ich mich in einer dargestellten Daseinsmöglichkeit wiederfinde, finde ich mich in einer spezifischen Sichtweise wieder.
Zuletzt eröffnet der Vorgang des Zur-Darstellung-Bringens die Möglichkeit der Distanzierung. Indem ich mich in einer veräußerten Daseinsmöglichkeit wiedererkenne, werde ich in die Lage versetzt, zu mir auf Distanz zu gehen und eine reflexive Haltung einzunehmen. „Die Vertrautheit veräußert wiederzuentdecken, ist eine Möglichkeit der Gewinnung eines reflektierten Selbstverhältnisses“244. Auch daher ist der Akt des Sich-Wiederfindens mehr als eine informationelle Verdopplung. Er behaftet mich nicht auf schon bekannte Facetten meiner Selbstinterpretation, sondern macht sie reflexiv zugänglich. Wenn Harding die Erzählkunst als „Technik des Diskutierens von Existenzmöglichkeiten“ begreift, so bringt sich der Rezipient im Akt des Sich-Wiederfindens mit seinen eigenen Existenzmöglichkeiten in diese Diskussion ein.245 Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass zwischen produktiven Identifikationen, in denen ein Subjekt Modifikationen seines Selbstbildes erfährt, und Akten des Sich-Wiederfindens keine klare Grenze gezogen werden kann. Auch dort, wo der Rezipient im Durchspielen dargestellter Daseinsmöglichkeiten sich sowohl in seiner Selbstdeutung als auch in seinem Selbstentwurf wiedererkennt, birgt der Darstellungscharakter Potenziale, sich auf neue Weise ins Verhältnis zu sich zu setzen. Entsprechend notiert Düwell: „Durch den Vorgang des ZurDarstellung-Bringens geschieht eine Veräußerung, die ein Moment des Befremdenden und des Wiedererkennens zugleich aufweist“246. Oder in der bis243 Seel, Ästhetik, 240f. 244 Düwell, Erfahrung, 123. 245 Harding, Prozesse, 79. Mit Uri Rapp kann konstatiert werden, dass auch dort, wo diese ‚Diskussion‘ zu einem „Festhalten“ an den bisherigen Deutungen und Entwürfen des Selbst führt, diese dennoch „modifiziert“ werden. Es sind nun Deutungen und Entwürfe, die die „Probe der Diskussion bestanden haben“; ihnen eignet der „Charakter der Reflektiertheit“ (vgl. Ders., Handeln, 54). 246 Düwell, Erfahrung, 123.
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herigen Terminologie formuliert: Schon hier vermag ich mich in einem verfremdenen Sinn wiederzufinden, verschränken sich Transzendenz und Immanenz. Zuletzt bleibt anzumerken, dass das ‚Eintreten‘ in die dargestellten Daseinsmöglichkeiten nicht nur über die Identifikation mit einer Figur oder mehreren Charakteren erfolgen kann. Häufig beruhen die Reaktionen des Rezipienten auf einer Wahrnehmung der erzählten „Situation in ihrer Gesamtheit“.247 Der Leser nimmt einen betrachtenden Standpunkt ein. Er agiert in der Rolle eines Beobachters, der sich in den Schicksalen der Protagonisten nicht dezidiert wiederfindet und dennoch für sie hofft, mit ihnen leidet oder sich an ihrem Verhalten stört. Er gewinnt eine Einstellung „ihnen gegenüber“248, nicht vollzieht er ihre Einstellung nach.
Abb. 3: Sich-Wiedererkennen in einer Darstellung
5.2.2 Exemplifikation von Erfahrungsschemata Neben den Identifikationsoptionen, die fiktionale Kommunikation eröffnet, gilt die Exemplifikation als besondere Leistung literarischer Fiktion.249 Seit Aristoteles250 kommt dem Wechselspiel zwischen Besonderem und Allgemeinem in der Theorie der Dichtung eine zentrale Bedeutung zu. Fiktionale Erzählungen präsentieren konkrete Ereignisse; sie handeln von unverwechselbaren Figuren, führen spezifische Orte und Zeiten vor Augen. Im Gegensatz zur Historiographie 247 Vgl. Harding, Prozesse, 87. „Die Zuschauerreaktion auf die Gesamtsituation geht weit über die bloße Identifikation mit einem der Charaktere hinaus. Das ist eine so banale Feststellung, daß man sich für sie entschuldigen müßte, würde sie nicht regelmäßig von denen ignoriert, die über erzählende und dramatische Literatur psychologisieren“ (ebd.). Auch für Zipfel, Fiktion, 256, Anm. 93 wird die „Identifikation mit einer oder mehreren Figuren der Handlung allgemein überschätzt […] zuungunsten der ‚Identifikation‘ mit der Beobachterperspektive, aus der erzählt wird.“ 248 Harding, Prozesse, 88. 249 Zum Begriff der Exemplifikation vgl. Goodman, Sprachen, bes. 59–63; Zipfel, Fiktion, 267– 277. Kablitz, Kunst verwendet nicht den Begriff der Exemplifikation, geht den damit bezeichneten Sachverhalten aber ausführlich nach (vgl. etwa a. a. O., 154–165.219–229). 250 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 9.
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beanspruchen sie für diese Figuren, Orte und Zeiten aber keine Referenzialisierbarkeit. Ihre Besonderheit kann nicht auf tatsächliche Ereignisse zurückgeführt werden. Unterstelle ich einem Autor die Absicht, reale Begebenheiten wiederzugeben, erklärt sich die Spezifik des Dargestellten aus der Spezifik der zugrunde liegenden Ereignisse. Unterstelle ich einem Autor in der Haltung des make-believe dagegen fictive intentions, verlieren die dargestellten Ereignisse ihre referierende Funktion. Sie verweisen nicht „unter sich“ – auf historisch konkrete Begebenheiten oder empirisch einzigartige Situationen. Sie weisen „über sich hinaus“.251 Damit werden die dargestellten Ereignisse zu einem Beispiel-für-etwas. Sie referieren nicht, sondern exemplifizieren. In ihrer Spezifik verkörpert sich ein Allgemeines, das über sie hinaus reicht. Die Feststellung dieses Allgemeinen vollzieht sich interpretativ. Da es nicht vorliegt, sondern über das Besondere erst deutend zu erschließen ist, lässt sich seine Bestimmung auch als Akt der ‚reflektierenden Urteilskraft‘ begreifen. In der Rezeption fiktionaler Texte ist nicht ein Besonderes unter ein gegebenes Allgemeines zu subsumieren, sondern das gegebene Besondere als Exemplifikation eines Allgemeinen auszulegen.252 Karlheinz Stierle interpretiert das Allgemeine als „Erfahrungsschemata“: Fiktionale Texte exemplifizieren Muster der Strukturierung von Erfahrung; sie stellen nicht Welt dar, sondern „Organisationsmöglichkeit[en] von Erfahrungskomplexen“.253 Entsprechend werden den Rezipienten fiktionaler Texte Deutungsmodelle zugänglich, die sie sich aneignen können und so auch ihre eigenen 251 Vgl. Gabriel, Bedeutung, 10f. Gabriel bezeichnet diese Eigenart fiktionaler Kommunikation als „Richtungsänderung des Bedeutens“. Er geht von „drei Arten des Meinens oder Bedeutens“ aus. Texte teilen (1) etwas mit. Sie besitzen einen Inhalt: etwa dass Person A, an Ort B, zur Zeit C, D tut („Mitteilungsfunktion“). Mit diesem Inhalt können sie (2) auf etwas ‚unter sich‘ verweisen. Sie referieren dann auf reale Gegenstände in unserer empirisch zugänglichen Welt („Verweisungsfunktion“). Mit diesem Inhalt können sie (3) etwas aufweisen. Sie weisen dann ‚über sich hinaus‘ auf ein Allgemeines; ihr Inhalt erlangt über seine wörtliche Bedeutung hinaus einen spezifischen „Sinn“ („Aufweisungsfunktion“). Fiktionale Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Richtung ihres Bedeutens vom Verweisen auf das Aufweisen umgekehrt. Entsprechend notiert Iser, Akte, 143: „Diese Herabstufung des Bezeichnens im Dienste des Verweisens besagt […], daß die dargestellte Welt, sofern sie etwas bezeichnet, nur den Charakter des Analogons hat, durch das die Welt in Form einer bestimmten Welt exemplifiziert wird. Dadurch vermag eine bestimmte Welt, die zwangsläufig individuell ist, zum Paradigma für ein Allgemeines, und dieses durch den individuellen Charakter dargestellter Welt zu einer bestimmten Erfahrung zu werden.“ Vgl. dazu auch Stetter, Überlegungen, 164–167. 252 Vgl. Kant, KdU, 87: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine […] gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend“ (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu auch Gabriel, Bedeutung, 11; Stierle, Rezeption, 366. 253 Vgl. Stierle, Rezeption, 373.375.
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Lebensvollzüge sinnhaft einzuordnen erlauben. Die Fiktion wird dergestalt zum „Horizont der Welt“254. Sie liefert Interpretamente, in deren Licht sich die Rezipienten in ihrer Alltagserfahrung neu verstehbar werden können und sich ihr alltagsweltliches Erleben zu neuen Sinnfiguren sammeln lässt. Im Blick auf unsere Erfahrungen der Liebe konstatiert Elena Esposito – wohl etwas zu apodiktisch: „Akteure bzw. Leser interpretieren Gefühle und reale Liebesaffären auf der Grundlage der Geschichten, die sie in der Literatur kennengelernt haben – nicht auf der der Ereignisse, die sie in ihren eigenen Familien oder Bekanntenkreisen beobachten können.“255
Der exemplifikatorische Charakter fiktionaler Kommunikation bietet so die Gelegenheit, auch neue Erfahrungsschemata zu gewinnen. Wie im identifikatorischen Eintreten in die dargestellten Existenzformen, erschließen sich auch im deutenden Ausschreiten der Exemplifikationen Optionen der Selbsterweiterung.
5.2.3 Gewährung von Probehandeln Um die Leistung fiktionaler Kommunikation zu bestimmen, wird häufig auf das Konzept des Probehandelns zurückgegriffen.256 Gegenüber den rezeptiven Chancen, die mit der Vergegenwärtigung von Daseinsmöglichkeiten und der Darstellung von Erfahrungsschemata eröffnet werden, formuliert das Konzept des Probehandelns kein weiteres Potenzial. Es interpretiert die Prozesse der Identifikation und der Exemplifikationsdeutung. Der Begriff ‚Probehandeln‘ geht auf Freud zurück, der damit den Akt des Denkens bezeichnet. Im Denken vermögen wir Handlungssituationen probeweise durchzuspielen, ohne dabei physische Kräfte zu investieren oder physische 254 Stierle, Rezeption, 383. 255 Esposito, Fiktion, 56. Im Blick auf die erfahrungsorganisierenden Potenziale der Fiktionsrezeption notiert Eco, Wald, 117: „Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder. Kinder spielen, sei’s mit Puppen, mit Schaukelpferden oder mit Drachen, um sich mit den physischen Gesetzen der Welt vertraut zu machen und sich in den Handlungen zu üben, die sie eines Tages im Ernst vollführen müssen. In gleicher Weise ist das Lesen fiktiver Geschichten ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen werden, einen Sinn zu geben. Dies ist die therapeutische Funktion der erzählenden Literatur und der Grund, warum die Menschen seit Anbeginn der Menschheit einander Geschichten erzählen. Und ebendies ist auch die Funktion der Mythen: dem Wust der Erfahrung eine Form zu geben.“ Durch „die narrative Fiktion üben wir Erwachsene unsere Fähigkeit, in die Erfahrung der Gegenwart wie der Vergangenheit eine Ordnung zu bringen“ (a. a. O., 174). 256 Vgl. exemplarisch Barsch, Fiktion/Fiktionalität, 201f; Klausnitzer, Literaturwissenschaft, 121.218.233.379–384; Neumann, Erzählen, 286–291.
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Folgewirkungen in Kauf nehmen zu müssen.257 In Anwendung auf die Rezeption literarischer Fiktion wird dieses Verständnis einerseits eingeschränkt und andererseits ausgedehnt. Eingeschränkt wird es insofern, als die Kategorie nicht mehr die Differenz zwischen psychischer und physischer Aktivität überhaupt bezeichnet, sondern ein spezifisches ‚Denken‘ meint: dasjenige, welches in der Rezeption fiktionaler Texte vollzogen wird.258 Ausgedehnt wird es, da die Kategorie des Probehandelns – aus der kognitivistischen Engführung befreit – überhaupt die psychischen Vermögen umgreift, also auch Stimmungen, Gefühle und Wünsche umfasst. Im Kontext der Fiktionstheorie bezeichnet das Konzept des Probehandelns also ein die Kognitionen, Emotionen und Volitionen involvierendes Ausprobieren, der durch literarische Fiktionen eröffneten Rezeptionsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen betrifft dies die grundlegende Einnahme des Standpunkts des fiktiven Adressaten in der Haltung des make-believe sowie die dadurch eröffneten Möglichkeiten des ‚Eintretens‘ in die durch den Text vergegenwärtigen Daseinsmöglichkeiten sowie die Aneignung der durch ihn exemplifizierten Erfahrungsschemata. Das Konzept des Probehandelns impliziert zwei Merkmale, die den spezifischen Charakter des make-believe und der darauf basierenden Vollzüge der Identifikation und Exemplifikationsdeutung zu interpretieren helfen: die Erschließung von Möglichkeiten bzw. Möglichkeitssinn und die Freiheit der spielerischen Erprobung. Beide Aspekte sind in den bisherigen Erläuterungen notorisch angeklungen und sollen nun nochmals gebündelt formuliert werden. (1) Robert Musils prominente Rede vom Möglichkeitssinn beschreibt das Vermögen, den Blick über die „reale Realität“259 hinaus zu richten auf eine „mögliche Wirklichkeit“260. Der Möglichkeitssinn repräsentiert ein spezifisches Kontingenzbewusstsein, das allem, was einem Subjekt als wirklich gilt, ein „es könnte wahrscheinlich auch anders sein“261 entgegenhält und so noch nicht realisierte Alternativen262 ins Bewusstsein nimmt.
257 Vgl. Freud, Formulierungen, 20: Die „Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt […] Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten, unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben“; Ders., Folge, 524: „Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen, ähnlich wie die Verschiebungen kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt.“ 258 Neumann, Erzählen, 293f unterscheidet zwischen einem „agierende[n] Probehandeln“ – wie etwa das Spiel – und einem „mentale[n] Probehandeln“, wie es das Erzählen eröffnet. 259 Esposito, Fiktion, 15. 260 Musil, Mann, 17. 261 Musil, Mann, 16f. 262 Musil spricht von „noch nicht geborene[n] Wirklichkeiten“ (Ders., Mann, 17).
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Im Probehandeln vollzieht sich ein solches Vermögen.263 Fiktionale Kommunikation besitzt die Lizenz, Fiktives zur Darstellung zu bringen; sie vermag noch nicht und getreu dem geltenden Wirklichkeitskonzept überhaupt nicht erreichbare Möglichkeiten zu inszenieren. Im Probehandeln eignet sich der Rezipient diese Möglichkeiten subjektiv an. Indem er sich spielerisch auf sie einlässt und sich ihnen auf Zeit aussetzt, nimmt er über die reale Realität hinausreichende Situationen ins Bewusstsein. Dabei bleibt offen, ob auch die in den fiktiven Situationen exemplifizierten Erfahrungsschemata und die in den fiktiven Daseinsmöglichkeiten inszenierten Selbstbildaspekte die reale Realität transzendieren.264 Wie schon die Erfahrung des Sich-Wiederfindens zeigt, ist dies nicht notwendig der Fall. Die Überlegungen zum Akt des Sich-Wiederfindens haben freilich zugleich gezeigt, dass durch den Darstellungscharakter auch dann noch Potenziale der Selbsterweiterung realisiert werden können, wenn die Erfahrungsschemata dem Rezipienten wohl vertraut sind und sich sein Selbstbild in den Daseinsmöglichkeiten spiegelt. (2) Probehandeln besitzt eine spezifische Verbindlichkeitsstruktur. Bei Freud charakterisiert es das Denken, weil das Denken einen Raum eröffnet, in dem Handeln mental simuliert werden kann. Die Simulation erlaubt das Durchspielen einer Handlungskonstellation, ohne dass daraus physische Konsequenzen entstehen. Die realen Handlungsfolgen sind ausgeklammert. Auch die Rezeption fiktionaler Texte ist mit einem Ausklammern von Konsequenzen verbunden, das sich einem Simulationsgeschehen verdankt. Da sich die Rezeption fiktionaler Texte nicht aus einer believe-, sondern einer makebelieve-Haltung heraus vollzieht, simuliert ihr Subjekt zunächst ein Für-wahrHalten. Wie bei Freud das Subjekt des Denkens nur so tut, als ob es handelt, tut der Leser nur so, als ob er der Erzählung glaubt. An dieser – wenn man so will: grundlegenden – Simulation partizipieren alle Erfahrungen, die auf der Basis des make-believe gemacht werden. Sei es, dass in der Identifikation mit einer zur Darstellung gebrachten Figur, Facetten des eigenen Selbstbildes wiedererkannt und neu reflektiert wurden, sei es, dass im Ausschreiten der Exemplifikationen ein Erfahrungsschemata angeeignet wurde – alle Erfahrungen, die im Eintreten in die darstellten Daseinsmöglichkeiten oder im Zuge der Exemplifikationsdeutungen gemacht werden, sind „Als-ob-Erfah-
263 Genauer vollzieht sich im Probehandeln der Möglichkeitssinn nicht nur; er wird in ihm auch erschlossen. Im Probehandeln „entdeckt“ der Mensch das „Reich des Möglichen“ (Neumann, Erzählen, 286). In Anlehnung an eine Formulierung von Stierle wird der Möglichkeitssinn im Umgang mit fiktionalen Texten gewissermaßen ‚trainiert‘ (vgl. Ders., Rezeption, 366). Zur Verbindung von Fiktion und Möglichkeitssinn vgl. auch Scheffel, Erzählen, 134: Das „fiktionale Erzählen wie alle Poesie [ist] dem ‚Möglichkeitssinn‘ verpflichtet.“ 264 Vgl. dazu auch Zipfel, Fiktion, 272f.
Perspektiven der Fiktionstheorie
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rungen“265. Sie verdanken sich einem freiwilligen Entschluss, werden lediglich auf Probe und daher zunächst einmal auf Zeit vollzogen. Aus ihnen resultieren keine Folgeverpflichtungen. Sie sind kündbar – sobald ‚der Vorhang fällt‘. Insofern ist das Probehandeln ein spielerisches Ausprobieren. Es ist ein Spiel, weil es dem Ernst von Folgekosten enthoben ist.266 Die in ihm gemachten Erfahrungen können jederzeit dem ‚Minderwertigkeitsbewußtein‘ übereignet und als bloßes ‚Bloß‘ disqualifiziert werden.267
5.3
Resümee: Zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Kommunikation
Mit den Begriffen der Identifikation und Exemplifikation wurden charakteristische, nicht aber exklusive Rezeptionspotenziale fiktionaler Texte markiert. Auch nichtfiktionale Texte vermögen Daseinsmöglichkeiten zu vergegenwärtigen und Erfahrungsschemata zu spezifizieren. Zwar besteht zwischen fiktionalen Texten und identifikatorischen Prozessen eine gewisse Affinität. Begründet ist sie in der Lizenz, das Innenleben auch anderer Personen souverän zu schildern und nicht nur Subjekte, sondern Subjektsein zu inszenieren. Auch scheinen fiktionale Texte besonders geeignet, Exemplifikationsdeutungen zu provozieren, da sie aufgrund der Marginalität ihrer Verweisungsfunktion nur bedingt auf eine empirisch zugängliche Wirklichkeit referieren und insofern eine Interpretation auf das ‚Allgemeine‘ ab ovo nahe legen. Identifikationen und Exemplifikationsdeutungen sind aber nicht exklusiv an fiktionale Texte gebunden.268 Entsprechend sind auch die an ihnen beschriebenen transformativen Aspekte nicht auf die Rezeption fiktionaler Texte zu beschränken. So erlauben z. B. auch die von Roth benannten rhetorisch oder rituell inszenierten ‚Anamnesen‘ bzw. ‚prospektiven Imaginationen‘, die Gottesdienstbesucher mit Anderem und Neuem in Kontakt zu bringen und Möglichkeitssinn zu erschließen. Anders verhält es sich mit dem experimentellen Charakter des make-believe. Zwar nehmen wir eine spielerische Haltung nicht nur gegenüber fiktionalen Texten ein. Rezeptionen alternativer Sichtweisen, die durch nichtfiktionale Kommunikationen präsentiert werden, basieren in der Regel allerdings auf anderen Verbindlichkeitsvoraussetzungen als unsere Reaktionen auf fiktionale Größen: Wir unterstellen, dass der Kommunikator auf unseren Glauben zielt und nicht eine Simulation unseres Glaubens intendiert; wir setzen voraus, dass er von der Plausibilität seiner Botschaft subjektiv überzeugt ist und halten es nicht für 265 266 267 268
Harding, Prozesse, 86. Anderegg, Das Fiktionale, 167 bezeichnet die Fiktion als „folgenlose[s] Spiel“. Wie gesehen gilt das natürlich auch schon im Vollzug. Vgl. zum Problemzusammenhang Anderegg, Das Fiktionale; Gabriel, Bedeutung, 10f; Hempfer, Fiktionstheorie, 113–118; Kablitz, Kunst, 214–219; Zipfel, Fiktion, 270–277.
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irrelevant, welches Verhältnis er selbst zu ihr unterhält; wir verpflichten ihn, auf Anfrage für das Gesagte rechtfertigend einzustehen, eine Autorin aber für die Weltsicht ihres Romanhelden zur Verantwortung zu rufen, erschiene uns als absurd; wir haben die alternative Sichtweise als ein von einem lebensweltlichen Akteur vertretenes Deutungsangebot in Rechnung zu stellen und können uns nicht nach Belieben unter Berufung auf das ‚Bloß‘ des fiktionalen Spiels von ihm dispensieren, ohne – in welcher Weise auch immer – dazu Stellung zu nehmen oder uns der Ignoranz verdächtig zu machen. Was daraus für die Predigt folgt, ist nun im Zuge der Anschlussreflexionen zu erörtern.
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Anschlussreflexionen
Die Rekonstruktion von Turners Konzept der Liminalität sowie Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung ermöglicht es, die Predigt als ein Element des Gottesdienstes in den Blick zu nehmen. In den Fällen, in denen ihr kommunikatives Setting gottesdienstlich organisiert ist, markiert der rituelle Zusammenhang einen entscheidenden Faktor ihrer Wirkung. In den Beschreibungen von Turner und Fischer-Lichte wird das Gottesdienstritual dabei als ein Ferment transformativer Effekte akzentuiert. Von zentraler Bedeutung ist in dieser Beziehung die Figur der Unterbrechung: Das Gottesdienstritual sistiert mittels seiner aparten Form lebensweltlich geläufige Vollzüge. Dadurch eröffnet es Chancen der Distanznahme. Kraft seiner Außeralltäglichkeit spart es „Suspensionsprovinzen“269 aus, in denen seine Teilnehmer in deviante Atmosphären einzutauchen vermögen, sich mit gegenläufigen, ihre aktuelle Lage transgredierenden Perspektiven konfrontieren und in ihren Selbstverhältnissen erweitern können. In diesem Sinne kommt die Liturgie, wie unter A.2.3 bemerkt, in performativ orientierten Ansätzen als eine Instanz der Transzendierung in Betracht. Besonders die Auseinandersetzung mit Turner hat indes deutlich werden lassen, dass diese Überschreitungsdynamik die Bewegung der Bezugnahme nicht aussetzt. Die rituelle Außeralltäglichkeit behält eine rekursive Dimension. Verstanden nach dem Modell des ‚metapragmatischen Registers‘ provoziert die Sistierungskraft kultureller Aufführungen gerade Reflexivität. Als liminale Größe kommt es somit auch im Gottesdienstritual zu einer Liaison von Überschreitung und Rekurs. Auf Basis der im vorigen Kapitel ausgewiesenen dialektischen Struktur veränderungsprovokativer Praxis lässt es sich auch nur in dieser Verschränkung mit Fischer-Lichte insgesamt als ‚Transformationsvollzug‘ begreifen.270 269 Richter, Grenzen, 220. 270 Mithilfe der Deutungskategorie des Festes hat prominent Schleiermacher die gottes-
Anschlussreflexionen
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Im Übrigen ist diese dialektische Struktur auch schon mit Van Genneps Dreiphasenmodell aufgerufen. Man kann sagen, dass er in seiner Beschreibung der Passageriten die Verschränkungslogik der Veränderung periodisiert. Während die Trennungsphase den transgressiven Aspekt repräsentiert, verweist die Angliederungsphase auf den rekursiven Aspekt. Die liminale/transformative Phase käme dann – so könnte gefolgert werden – als ein Ineinander beider zu stehen. Mit dieser Periodisierung verweist er zugleich auf die schon unter B.2.3.3 reklamierte agile Auffassung der Immanenz und Transzendenz. Sie bezeichnen im Wortsinn Dynamiken, die sich über die Spanne eines rhetorischen oder eben auch rituellen Aktes erstrecken und sich im Zeitverlauf 271 in ihrem Verhältnis variieren lassen. So besehen bilden Passageriten – und nach Turner und FischerLichte alle liminalen Praktiken – Transformationsprozesse äußerlich ab. Ob diese innerlich mitvollzogen werden, ist kontingent.272 Gegenüber Ansätzen, welche dazu tendieren, die Effektivität ritueller Praktiken reduktiv in ihrer korrekten Durchführung zu verankern, ist mit der Freilegung der Feedbackschleifenstruktur ein starkes Motiv gegen eine deterministische Ausdeutung des Wirkpotenzials auch des Gottesdienstes gewonnen. Sosehr der Gottesdienst auf eine Reihe von Vorgegebenheiten fußt und maßgeblich durch Inszenierungskalküle bestimmt ist, sowenig ist seine aktuelle Aufführung restlos kontrollierbar. Die Lenkungskapazität der Ritualverantwortlichen ist kein Produktions-, sondern ein Provokationsvermögen, das, gleichwohl es am „eigenen Gelingen orientiert ist“, dasselbe doch nicht „garantieren“ kann.273 Als Interaktionsgedienstlichen Vereinigungen als „Unterbrechungen des übrigen Lebens“ bestimmt. Indem er betont, dass sie dadurch einen lediglich „relative[n] Gegensatz“ zu den alltagspraktisch eingeübten Vollzügen ausprägen, hält er die Einsicht in das Ineinander von Überschreitung und Rekurs fest. Wie das Fest ist auch der Gottesdienst weder bloße Negation noch bloße Funktion des übrigen Lebens; er ist seine Irritation (vgl. Ders., Theologie, 70). Analog hat Odo Marquard in seinem gleichnamigen Essay vom Fest als einem „Moratorium des Alltags“ gesprochen. Insofern koinzidieren in der Idee der Sistierung drei etablierte Interpretamente des Gottesdienstes: das Fest, das Spiel, das Ritual. Zur Kategorie der Unterbrechung vgl. ebenfalls Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 26–34.348f.393–396 sowie im Blick auf das Fest Albrecht, Fest. Zur Spannung zwischen Alltagsdistanz und Alltagsbezug aus empirischem Blickwinkel vgl. Pohl-Patalong, Gottesdienst, 198–203.219. 271 Die klassisch in der Frage nach der Predigtdisposition bedachte Temporalität des Predigtaktes wurde besonders in der New Homiletic neu entdeckt und zu einem Hauptbezugspunkt der homiletischen Erörterung gemacht. Predigt wird dezidiert als ein „event-in-time“ bedacht, das als solches auch bewusst auszugestalten sei (vgl. Lowry, Sermon, 54–89, hier 59; exemplarisch ferner Ders., Time; Buttrick, Homiletic; Craddock, Authority, 43–62; Nicol, Bild, 102–113; Wright, Word, 56–61). 272 Konkret mutet das gottesdienstliche Ritual seinen Teilnehmern etwa körperlich ausagierte Rollen zu. Sie ‚werden‘ zu Betenden, Klagenden, Lobenden. Schon in actu können sie sich davon freilich innerlich distanzieren; es steht ihnen prinzipiell frei, sie im Sinne eines ‚performativen Widerspruchs‘ zu bekleiden. 273 Vgl. Bertram, Kunst, 154. Im Zuge der Kritik an einer behavioristischen Ausdeutung der
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schehen sind die beabsichtigten Effekte sowohl des Gottesdienstes im Allgemeinen als auch der Predigt im Speziellen nicht notwendige, sondern kontingente Effekte. Sie verhalten sich zum Akt des Gottesdienstes bzw. der Predigt nicht wie das ‚Nasswerden‘ zum ‚Schwimmen‘.274 Im Zuge der Näherbestimmung der transformativen Eigenart dieser Effekte ist die Untersuchung an zwei Stellen entscheidend vorangeschritten. Zum einen wurde die bis dato eher behauptete als ausgewiesene Vielschichtigkeit auf Gegenstandsebene genauer beschrieben. So brachte der Seelsche Einstellungsbegriff vier Dimensionen zum Vorschein, denen zufolge sich Veränderungen nicht nur auf die Welt unserer deskriptiven und evaluativen Überzeugungen beziehen, sondern auch Stimmungen und Gefühle sowie Wünsche und Absichten betreffen. Wie mit Fischer-Lichte gezeigt werden konnte, bilden diese Dimensionen keine ‚Inseln‘, sondern involvieren einander, womit einmal mehr die Komplexität subjektiver Veränderung aufscheint: Aus Erfahrungen des Trostes können neue Handlungsintentionen erwachsen; die Bekräftigung einer Einsicht kann den Gehalt unserer Aspirationen variieren; freilich kann ein vertrautes Deutungsmuster auch den Keim einer veränderten Empfindung ersticken oder eingespielte Antipathien die Akzeptanz einer mir eigentlich plausibel erscheinenden Überlegung erschweren oder verwehren. Zum anderen wurde in Bezug auf den begrifflichen Problemaspekt der graduelle Charakter der Transformation nicht nur bestätigt, sondern um einen Erweiterungsvorschlag ergänzt. Nach Seel lassen sich auf der Transformationsskala nicht nur unter den Chiffren eines radikaleren Umsturzes (‚Revolution‘) und einer moderateren Umstellung (‚Reform‘) idealtypische Verdichtungspunkte einkreisen; auf ihr kommen auch Erfahrungen der Vertiefung oder Vergewisserung zu stehen, in denen sich Überschreitungen quasi intransitiv vollziehen. Folgt man diesem Vorschlag, löst sich die Entgegensetzung von Affirmation und Transformation vollends in das Verhältnis eines relationalen Kontinuums auf, auf dem allenfalls noch routinemäßige Bestätigungen und Aktualisierungen oder informationelle Verdopplungen ‚transformationsfreie‘ Phänomene darstellen. Dass in Sachen transformativer Effekte in jedem Fall ein nuancierter Blick vonnöten ist, hat die Analyse der Erfahrung des Sich-Wiederkennens gezeigt. Die schon hier identifizierbaren Erweiterungspotenziale bestätigen die Hinfälligkeit einer kruden Gegenüberstellung von affirmativen und transformativen Wirkungsmodi.
Wirkungsproblematik schärft Bernhard Waldenfels die Unterscheidung zwischen der ‚Produktion‘ und der ‚Provokation‘ von Effekten ein (vgl. Ders., Aufmerksamkeit, 244). Vgl. dazu in variierender Terminologie auch Gräb, Predigtlehre, 289; Grözinger, Toleranz, 220; Luther, Predigt, 407; Lütze, Absicht, 32; Meyer-Blanck, Erlebnis, 185; Schlag, Grundperspektive, 61. 274 Vgl. zu diesem Beispiel Lowry, Sermon, 36.
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Über die exemplarische Ausleuchtung der Grauzonen der Transformation hinaus erlaubt die Analyse des Sich-Wiedererkennens, Walzers Idee der Kritik – und dadurch zugleich die Transformativität einer im Paradigma der Deutung verstandenen Predigtpraxis – nochmals zu bekräftigen, auch zu verfeinern und mit weiteren Fäden der bisherigen Untersuchung zu verknüpfen. Dass Kritik als komplexe Spiegelungskunst zu begreifen ist, die nicht einfach Anderes, sondern mich zur Sprache bringt, aber so dass ich mich darin anders wiederfinde, erhält über die Analyse des Akts des Zur-Darstellung-Bringens an Triftigkeit. Sofern eine Darstellung, mich mir in Facetten meiner Selbstdeutung wie meines Selbstentwurfs und ihrer potenziellen Spannung transparent macht, bestimmte Selbstbildaspekte und Erfahrungen selegiert, verdichtet, aus dem Strom des Erlebens heraushebt, sichtbar und auffällig macht, ich mir und meiner Erfahrung darin in einem plastischen Bild begegne, mir Begriffe, Vergleiche, Allegorien, Narrative oder sonstige Formulierungen geboten werden, durch die plötzlich etwas ‚auf den Punkt‘ gebracht erscheint, ich Züge meines Selbstverständnisses und Aspekte meiner Erfahrung in einer gelungenen Szene, attraktiven Beschreibung oder einem anderweitig bedeutungsvollen Zusammenhang entdeckte und sie hinfort in dieser produktiven Verklärung erlebt werden können und mir zuletzt mein Selbst überhaupt veräußert begegnet und mir dadurch ein reflexives Verhältnis dazu eröffnet, verdoppelt die Darstellung mich nicht, sondern eröffnet ein neues Selbstverhältnis. So besehen ist die Predigt als Kunst der detaillierenden Darstellung von Möglichkeiten, in der Welt zu sein, schon auf diesem geringen Transzendierungsniveau durchaus als ein Medium der Selbsterweiterung anzusprechen. Sie bietet einen der vielen möglichen Umwege zu mir selbst, auf die das Sichselbstverstehen nach Ricœur angewiesen ist; sie fungiert als einer der vielen möglichen Spiegel, ohne die wir uns nach Danto nicht selbst zu Gesicht bringen könnten – und ist dabei in der Lage, immer auch ein „Neues Sehen“275 und frische Optionen der Selbstinterpretation zu erschließen.276 Unter ästhetischer Warte lässt sich Walzers Beschreibung der Kritik als Spiegel sowie sein Plädoyer für detaillierte Darstellungen in Aufnahme der Einsicht in die Umweglichkeit des Sichselbstverstehens insofern pointieren, als transformative Praxis dezidiert als eine Kunst der Präsentation von Seinsweisen verstanden werden kann; zur Darstellung kommen nicht
275 Meyer-Blanck, Reden, passim. 276 Vgl. dazu auch Preul, Aktualität, 103f, der in der Hervorkehrung der für diese Studie leitenden Einsicht, dass Veränderung der Wirklichkeit nicht in der Veränderung der ‚objektiven‘ Verhältnisse aufgeht, sondern die „in jedem Subjekt ablaufenden Prozesse des Denkens, Fühlens, Imaginierens und Wollens“ einschließt, konstatiert, dass ein Beschreibungsakt, dem es gelingt, seinen Rezipienten „die Wirklichkeit – die des Subjekts und seiner natürlichen und sozialen Umwelt – in bestimmter Weise vorstellig zu machen“, sie zu „faszinieren, ihre Einbildungskraft zu beflügeln, ihr Gefühl zu affizieren, sie auf neue Gedanken zu bringen“, die Realität eben nicht nur beschreibe, sondern transformiere.
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irgendwelche Phänomene in der Welt, sondern diese in der Bedeutung, die sie für unseren Selbstvollzug besitzen. Lässt sich damit das Anregungspotenzial schon des darstellenden Handelns ausweisen, wäre von Walzers kritiktheoretischem Ansatz zu lernen, dass dieses durchaus auch als intentionales, wirkungsinteressiertes Handeln realisiert werden kann und dass es seine Transzendierungsqualität ferner nicht allein aus dem Akt des ZurDarstellung-Bringens selbst bezieht, kraft dessen sich die Rezipienten veräußert wahrnehmen können, sondern die Überschreitungskraft durch die idiosynkratische Weltsicht des darstellenden Subjekts mitbedingt ist, das diese in seine Beschreibung engagiert miteinfließen lässt.277
Wie deutlich geworden ist, erhalten die Veränderungspotenziale des Darstellens in der ästhetischen Perspektive eine ganz spezifische Eigenart, die den kunsttheoretischen Zugang für das homiletische Nachdenken besonders unter ethischen Gesichtspunkten über die letzten Jahre so attraktiv erscheinen ließ.278 Transformativen Impulsen, die uns im Modus ästhetischer Erfahrung erreichen, 277 Die hier anklingende Schleiermachersche Differenz zwischen einem ‚darstellenden‘ und einem ‚wirksamen‘ Handeln bedürfte einer eigenständigen Erörterung. Der mit ihr verbundenen Abwehr einer außerreligiösen Verzweckung religiöser Kommunikation ist m. E. unumwunden zuzustimmen. Auch der in ihr ausdrücklich werdende Vorbehalt gegen ein bestimmtes Verständnis ‚missionarischer‘ Rede, wonach den Adressaten etwas von außen her ‚einzupflanzen‘ wäre, korrespondiert mit dem Paradigma der Deutung, das bis dato wiederholt bekräftigend aufgerufen wurde. Wie in der folgenden Reflexion auf die Verbindlichkeitsstruktur der Predigt und dann präziser noch im nächsten Kapitel deutlich werden wird, würde m. E. ein Begriff der Predigt als darstellendes Handeln jedoch dort problematisch, wo ihr – auch in Sachen ihrer Veränderungseffekte – kein intentionaler Charakter mehr zuerkannt werden könnte. In Anlehnung an Schleiermachers berühmtes Diktum, wonach „vielleicht […] die Sache dadurch wieder zu Stande […] kommt, daß man sie voraussezt“ (Ders., Zueignung, 9), das ja durchaus von einem Veränderungsziel – und je nach Verständnis des Satzes ein wohl zu hoch gestecktes – zeugt, würde ich die Behaftung der Predigt auf einen Darstellungsvollzug als Ruf nach einem bestimmten Modus der Umsetzung des Wirkungsinteresses interpretieren, der seine Grenzen dort besitzt, wo die Angeredeten sich in der Predigtinteraktion nicht mehr als Mündig-Urteilende und SelberVerstehende erfahren können. Im Hintergrund steht dabei ein dynamischer Begriff der Religion als Modus des Sichselbstverstehens, die nicht einfach vorliegt oder nicht, die man nicht einfach hat oder nicht, die nicht einfach in der Latenz verbleibt oder einen Faktor des Lebens abgibt, sondern immer wieder neu im Vollzug des Lebens durch eine Vielfalt von Einflüssen situativ geweckt, geprägt, gebildet, vertieft, umgestellt, revolutioniert etc. wird. Zu Schleiermachers Differenzierung zwischen darstellendem und wirksamem Handeln vgl. Ders., Sittenlehre, 55–63; Bogun, Handeln; Conrad, Kirchenbild; Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 25–40 und in gewisser Hinsicht als Gegenentwurf dazu Nieberball, Wie predigen, Bd. 2. 278 Diese Attraktivität deutet Peter Sloterdijk in einem anderen Zusammenhang treffend an: „Das Kunstwerk darf sogar uns […] noch etwas ‚sagen‘, weil es ganz offensichtlich nicht die Absicht verkörpert, uns zu beengen. […] Im ästhetischen Simulationsraum, der zugleich der Ernstfallraum für Gelingen und Mißlingen des künstlerischen Gebildes ist, kann die machtlose Superiorität der Werke auf Beobachter einwirken, die ansonsten empfindlich darauf achten, keinen Herrn über sich zu haben, keinen alten und keinen neuen“ (Ders., Leben, 37).
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eignet ein spielerischer Charakter. Wir setzen uns ihnen im Bewusstsein der Freiwilligkeit, auf Zeit und auf Probe aus, ohne dass uns daraus etwaige Folgeverpflichtungen erwachsen würden. In ihnen begegnet uns kein Anspruch auf lebenspraktische Aneignung. Jederzeit können sie dem ‚Bloß‘279 des Spiels anheimgestellt bleiben. Spätestens wenn ‚der Vorhang fällt‘, vermögen wir uns ihnen ‚nach Belieben‘ zu entziehen. Inwieweit diese in der Kategorie der Selbstzwecklichkeit oder im Fall der Fiktionalität über den make-believe-Gedanken zum Ausdruck gebrachte besondere Verbindlichkeitsstruktur auch auf das Predigtgeschehen bezogen werden kann, ist m. E. fraglich.280 Zunächst einmal ist natürlich auch die Predigt wie jeder Gegenstand prinzipiell offen, im beschriebenen Sinne spielerisch rezipiert zu werden. Wer könnte und wollte diese Möglichkeit ausschließen! Sodann kann sie nach Maßgabe ästhetischer Gestaltungsprinzipien erarbeitet werden, sich von den Macharten künstlerischer Zeichen inspirieren lassen, fiktionale Erzählpassagen ausarbeiten, literarische Versatzstücke aufnehmen u.v.a.m.281 Und doch dürfte die Predigt konventionell als ein Kommunikationsakt zu stehen kommen, dem eine andere Verbindlichkeitsstruktur zu eigen ist: In der Regel dürften wir die Predigt als eine Diskurspraxis voraussetzen, die insgesamt besehen auf unseren belief zielt, von deren Mitteilung wir ohne größere Vorbehalte auf die Überzeugungen ihres Subjekts schließen, für die die Verteidigungsregel gilt, wonach ihr Subjekt bereit sein sollte, auf Anfrage für das Gesagte wie auch immer rechtfertigend einzustehen und die somit Sichtweisenangebote präsentiert, von denen wir uns nicht nach Gutdünken unter Berufung auf das ‚Bloß‘ des ästhetischen oder fiktionalen Spiels dispensieren. Angedeutet wird dies auch im Doppelhinweis von Roth, dass die transformativen Erfahrungen, die die gottesdienstliche Aufführung gewährt, inhaltlich in den spezifischen Gesamtzusammenhang der christlichen Religion eingebunden sind und ihr Als-ob-Charakter im Rahmen einer nichtfiktionalen Explikation des christlichen Heilshorizonts zu stehen kommt. Wo dieser Sachverhalt in einer simplen Adaption ästhetischer Kategorien auf das Gottesdienst- und Predigtgeschehen übersehen würde und dessen eigentümliche Verbindlichkeitsstruktur in der theoretischen Reflexion unberück279 Um Missverständnissen vorzubeugen, ist daran zu erinnern, dass sich der Begriff des ‚Bloß‘ – ganz im Sinne von Huizinga – nicht auf die Wirkungskraft ästhetischer Erfahrung bezieht; selbstverständlich machen wir im Zusammenhang der Kunstrezeption intensive und prägende Erfahrungen. Der Begriff des ‚Bloß‘ verweist auf den spezifischen Verbindlichkeitsmodus, in dem diese Erfahrungen gemacht werden. 280 Vgl. zum Folgenden auch Stetter, Überlegungen, 168–173. 281 Fiktionstheoretische Erwägungen hat besonders Grözinger für die homiletische Reflexion fruchtbar gemacht, wobei weniger ihre spezifische Rezeptionslogik im Vordergrund steht als vielmehr ihr Überschreitungspotenzial (vgl. Ders., Welten; Ders., Homiletik, 321–236). Vgl. dazu ferner Smith, Pulpit.
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sichtigt und in der praktischen Gestaltung uneingelöst bliebe, drohte die Gefahr einer „Funktionalisierung“ resp. „ideologische[n] Vereinnahmung“ der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeit; tatsächlich bietet diese sich aufgrund ihrer reizvollen rezeptiven Binnenlogik an, inhaltlich dichtere „Zielvorstellungen guten Lebens […] suggestiv [zu] vermitteln […] und sie gegen kritische Reflexion zu immunisieren“.282 Vor diesem Hintergrund erweist sich in der Reflexion auf die transformative Predigtdimension der kritiktheoretische Zugang als ein fruchtbares Supplement, bringt er doch den normativ bedeutsamen Anspruch veränderungsprovokativer Praxis markant zum Vorschein und trägt damit der spezifischen Verbindlichkeitsstruktur der Predigt Rechnung. Er regt die predigtpraktische Selbstreflexion dazu an, aufmerksam zu prüfen, ob ästhetische Gestaltungsmittel, wo sie denn eingesetzt werden, tatsächlich in ihren Autonomiepotenzialen zur Geltung gebracht oder implizite Normativitäten nicht lediglich kaschiert werden und der kritischen Auseinandersetzung intransparent und unzugänglich bleiben. Wie gezeigt führt die Erfassung dieser Verbindlichkeitsstruktur in Hinblick auf den strukturellen Problemaspekt zu einer auffälligen Perspektivendifferenz zwischen einer kritiktheoretischen und einer ästhetischen Betrachtung transformativer Praxis. So wird zwar im Zusammenhang der Turnerschen Erwägungen die Alltagsbezüglichkeit liminaler Größen adressiert, eine profunde Durcharbeitung der rekursiven Bewegung findet sich aber auch hier nicht. Damit dürfte er symptomatisch für einen breiteren Strang ästhetisch orientierter Reflexion stehen. Sofern in der ästhetischen Erfahrung kein Anspruch auf lebenspraktische Aneignung ergeht, ästhetische Zeichen in ihrer Idealgestalt natürlich nicht beliebige, aber wohl doch eher offene Deutungsspiele evozieren wollen und sich die Künstlerin folglich gegenüber den tatsächlich realisierten Aneignungen eine gewisse Indifferenz erlauben kann, überrascht es nicht, dass sich die Reflexion ästhetischer Praxis in der Regel auf den Transzendenzaspekt konzentriert. Dementsprechend stellt innerhalb des homiletischen Diskurses die Vorstellung, dass die Hörer und Hörerinnen sich selbst in das Predigtgeschehen involvieren, einen Leitgedanken der ästhetisch ausgerichteten Zugänge dar.283 Im Gegensatz dazu ist die Frage der Bezugnahme im Kontext des kritiktheoretischen 282 Vgl. Düwell, Erfahrung, 128f, hier 249 sowie Jauß, Erfahrung, 44. 283 Vgl. dazu kritisch auch Kretzschmar, Mensch, 449: „Beim Blick auf den homiletischen Diskurs der vergangenen Jahre entsteht der Eindruck, als verliere die Frage nach der homiletischen Situation und damit nach der Situation der Hörerinnen und Hörer an Bedeutung. Insbesondere das Feld ästhetischer und dramaturgischer Predigttheorie legt diesen Eindruck nahe. Unter den Bedingungen mediatisierter Kommunikation ist eine nachrangige oder ausbleibende Berücksichtigung der Hörersituation unter Umständen ein Hörhindernis – auch wenn die Predigt literarisch kunstvoll ausgeführt ist. Ohne eine qualifizierte Thematisierung ihrer lebensweltlichen Situation werden die Hörerinnen und Hörer keinen Zugang zu ihr finden.“
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– und wie zu zeigen sein wird: auch des rhetorischen – Nachdenkens ein genuiner Topos, der ausgiebig erörtert wird. Indem hier Veränderung als Effekt einer Praxis vorausgesetzt wird, die sich einer inhaltlich näher spezifizierten Absicht verdankt, welche einem lebensweltlichen Akteur beigemessen wird und einen Anspruch auf lebenspraktische Aneignung mit sich führt, erscheint der Akt der Bezugnahme als eine Kardinalaufgabe des Kommunikators; die Rezipienten sollen den Diskurs auf bestimmte Weise verstehen, als relevant empfinden und plausibel werten. Folgt man dem Überlegungsgang bis hierher, ist auch die Einklammerung der externen Zwecke in temporaler Hinsicht nochmals zu befragen. Sosehr diese Schwerpunktsetzung den liturgischen und homiletischen Diskurs dadurch produktiv bereichert, dass sie nachdrücklich dazu anstiftet, Gottesdienst wie Predigt als einen aktuellen Erfahrungsraum zu bedenken, der beide insbesondere auch in ihren agendarischen oder sonstigen Vorgaben oder ihren inszenatorischen Vorbereitungsstufen wie dem Predigtmanuskript nicht aufgehen lässt, sosehr könnte sie dazu führen, die rekursive Dimension von Gottesdienst und Predigt aus dem Blick zu verlieren. Eine programmatische Eingrenzung der Überlegungen auf die vollzugsinternen Effekte könnte möglicherweise zur Folge haben, die vollzugsexternen Themen, Sprachen, Projekte und Plausibilitätsmuster der Gottesdienstbesucher und Predigthörer zu marginalisieren; Gottesdienst wie Predigt kämen dann als ‚Welt für sich‘ in Betracht, in denen das Andere, Fremde und Neue Raum gewinnt, ohne dass in ihrer Gestaltung die alltagspraktisch virulenten Sprach-, Relevanz- und Überzeugungsregime berücksichtigt werden müssten, in deren Licht das Dargestellte erst verstanden, als relevant empfunden und plausibel gewertet werden könnte. Der Verweis auf die Immanenzfunktion der Plausibilisierung deutet an, das speziell auch argumentative Predigtverfahren im Blickwinkel einer auf die vollzugssimultanen Effekte des Gottesdienstes konzentrierten Betrachtung nur erschwert begründet werden können. Argumentationen zielen auf die Stiftung von Plausibilitäten, die über ihren Akt hinaus sichtweisen- und handlungsrelevant sind.284 Wie überhaupt in Bezug auf nachgängige, längerfristige Wirkungen gilt selbstverständlich auch hier, dass für diese kein unterkomplexes Kontinuitätsmodell vorausgesetzt werden sollte. Sie halten sich nicht einfach durch, sondern werden durch vielfältige Faktoren – nicht zuletzt durch sozialen Austausch285 – weiterentwickelt. ‚Bleibende‘ Wirkungen sind Fortwirkungen, Effekte, die in der Weite der vollzugsexternen Lebenspraxis ihre Fortbestimmung erfahren.286 284 So auch Müller, Homiletik (1994), 183 bezogen auf „Überzeugungsarbeit“ allgemein. 285 Zur kaum zu überschätzenden Relevanz der sozialen Netzwerke für die religiöse Kommunikation vgl. den Ansatz der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (vgl. Weyel u. a., Kommunikation; Weyel, Kirchenmitgliedschaft, 105ff; Dies., Praxis; Dies./Hermelink, Vielfalt, 20–23 sowie E.4.1). 286 Vgl. dazu im Fokus auf die Kunstrezeption Bertram, Kunst, 142f, im Blick auf Medienwirkungen Jäckel, Einführung, 153–160 sowie im Horizont der Ritualtheorie Dücker, Ri-
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Die hier für das Predigtgeschehen unterstellte Verbindlichkeitsstruktur sowie die damit in Verbindung stehenden Merkmale der Gerichtetheit, Intentionalität, des prägnanten Verweisungsbezugs auf ihr Subjekt sowie der ausgeprägten Rekursivität nehmen auch im folgend zu untersuchenden Reflexionskontext der Rhetorik einen zentralen Rang ein. Dabei wird bestenfalls plausibler werden, dass diese Aspekte für das Genre der Predigt tatsächlich in Rechnung zu stellen sind. Zugleich erlaubt die rhetorische Erörterung, diese Aspekte nicht nur weiter zu verfeinern, sondern auch maßgebliche Komponenten dieses Kapitels in der Erhellung der transformativen Predigtdimension präsent zu halten. Zumindest versprechen drei Charakteristika der rhetorischen Denktradition eine solche Integration. Erstens behaftet das rhetorische Nachdenken die Rednerin nachdrücklich auf eine Wahrnehmung des kommunikativen Settings. Im Fall der gottesdienstlichen Predigt hat sie daher ihren rituellen Vollzugskontext zu berücksichtigen. Zweitens kommt die Rede im Horizont des rhetorischen Nachdenkens immer schon im Zwischenreich von Logik und Poetik zu stehen. Mit Peter Oesterreich ist sie als „Integrationstypus“ zu bestimmen: „Der Integrationstypus rhetorischer Rede, der aus einer jeweiligen Synthesis rationaler und imaginativer Logik entspringt, vereinigt in sich Elemente bildhafter Sinnkonstitution und rationaler Sinnrechtfertigung. […] Die rhetorische Rede verfu¨ gt sowohl u¨ ber das poesiseaffine Vermögen der orationalen Evokation von phänomenalen Präsenzen als auch u¨ ber die Potenz des distanzierten begriffssprachlichen Thematisierens. [Sie ist] ein Reden u¨ ber [wie] ein redendes Präsentieren von.“287
Insofern ermöglicht die rhetorische Theorie, ästhetische Erkenntnisse auf bestimmte Weise mitzubedenken. Drittens harmoniert der rhetorische Zugang mit einer Reihe performativitätstheoretischer Grundeinsichten. Zu nennen wäre nur die Einsicht in den Handlungscharakter sprachlicher Zeichen oder die Akzentuierung der ‚Oberfläche‘, also des aktuellen Vollzugs kommunikativer Akte (actio).
tuale, 30. Zu Beispielen dafür, dass von der Predigt durchaus Reflexionsanstöße über den Gottesdienst hinaus erwartet werden, vgl. Schwier/Gall, Predigt, 241f. 287 Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 125; ferner Gabriel, Logik, 13–14. Vgl. dazu aus homiletischer Perspektive ausführlich auch die rhetorisch fundierten Predigtlehren von Franz Theremin und Schott, die die Predigt – gerade als religiöse Rede – auf den „denkenden“ wie „fühlenden“ Menschen behaften (vgl. Schott, Theorie, etwa 98–108, hier 107f: „Die Beredsamkeit liegt also zwischen der eigentlichen, belehrenden, Prosa und der Poësie mitten inne, und vereinigt die Klarheit, Deutlichkeit, Bestimmtheit, Gründlichkeit, mit welcher die eigentliche Prosa Begriffe und Sätze darstellt, entwickelt und begründet, und die lebendige Anschaulichkeit, die Fülle, die Kraft der Dichtung zu einem eigenen Ganzen, in den bestimmten Grenzen, welche der rednerischen Darstellung durch ihren Zweck bezeichnet werden“; Theremin, Beredsamkeit, 3–26).
Teil D: Praktiken der Persuasion. Rhetorische Perspektiven auf die transformative Dimension der Predigt
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Persuasive Praxis und Transformation
In der Geschichte des Nachdenkens über kulturelle Praxisformen, von denen sich soziale Akteure Veränderungen versprechen, nimmt die Rhetorik einen zentralen Rang ein. Als Theorie persuasiver Kommunikation steht ein transformatives Geschehen im Zentrum ihrer Reflexion. Mit dem Begriff der Persuasion rekurriert sie auf Mitteilungsakte, die sich einer Veränderungsintention verdanken: Ihr Vollzug zielt auf Wirkungen, die einen Unterschied im Denken, Fühlen oder Handeln der Rezipienten machen.1 Der Transformationsaspekt gibt nicht in allen Konzeptionsvarianten der Rhetorik den zentralen Organisationspunkt der Theoriebildung. Ein Bezugspunkt rhetorischen Nachdenkens ist er aber von Beginn an. In der antiken Debatte um ihre Eigenart, Funktion und Relevanz verwies Aristoteles die Rhetorik auf die Sphäre des sozialen und kulturellen Handelns und damit auf den Bereich der Kontingenz. Rhetorische Praxis hat das Andersseinkönnen der Welt zur Voraussetzung.2 Sie bewegt sich im praktischen Raum der Wirklichkeitsgestaltung, in dem verschiedene Beweggründe, divergierende Zielvorstellungen und strittige Sichtweisen aufeinandertreffen, vor anderen vertreten und mit anderen ausgehandelt werden müssen. Veränderlichkeit gehört damit in zweifacher 1 Vgl. Simons/Jones, Persuasion, 23. 2 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1357a; Ders., Ethik, 1139b. Die „Erschließungskraft des rhetorischen Logos“ bezieht sich „auf eine Seinsregion, die durch prinzipielle Potentialität – d. h. eine unaufhebbare Möglichkeit des Andersseinkönnens – ausgezeichnet ist. Die Lebensweltwirklichkeit macht – gerade als Gebiet unberechenbarer menschlicher Freiheit – durch die existentielle Problematik eines ständigen Andersseinskönnens der Dinge und Andersdeuten-, -entscheiden und -handelnkönnens der Personen die situationsklärenden persuasiven Argumentationen notwendig und ruft so das Phänomen des Rhetorischen hervor“ (Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 6). Vgl. dazu ferner Kopperschmidt, Anfragen, 364–369; Ders., Resonanz, 40; Ders., Überzeugungsarbeit, 17–20; Ders., Rhetorik, 12.101–105, hier 12: „Rhetorik setzt als allgemeinste Bedingung ihrer Möglichkeit voraus, daß sich mit Sprache nicht nur Wirklichkeit bewältigen, sondern auch verändern läßt.“
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Teil D: Praktiken der Persuasion
Perspektive zu den Möglichkeitsbedingungen rhetorischer Praxis. Als Bedingung überhaupt des Handelns konstituiert sie die ontologische Sphäre, in der sich rhetorische Kommunikation vollzieht. Als Voraussetzung heterogener Motivationen, Zwecksetzungen und Deutungen bedingt sie die Notwendigkeit spezifisch rhetorischen Handelns als eines Versuchs, Dissens in Konsens zu überführen. Wo sich die Welt dagegen nicht als Resultat menschlicher Einflussnahme einsichtig machen lässt, sondern als dauernder und notwendiger Zusammenhang in der philosophischen Schau lediglich erkennend hingenommen werden kann, endet der Gegenstandsbereich der Rhetorik. Im Zeichen epistemologischer Skepsis hatte vor Aristoteles die antike Sophistik diesen Gegenstandsbereich provokativ ausgedehnt. Indem sie den Realitätsgehalt der Welt von den beweglichen Ansichten über sie abhängig sein ließ, weitete sie den Raum des Veränderlichen und damit auch aktiv Veränderbaren radikal aus. Entsprechend musste das Medium, in dem diese Ansichten zirkulieren, in dem sie gebildet, vertieft und variiert werden, eine enorme Aufwertung erfahren. Die Rede als der lebensweltlich verankerte Gebrauch von Sprache rückt in das Zentrum des menschlichen Weltbezugs. Dabei dient sie weniger der Abbildung von Wirklichkeit. Sie fungiert nicht als Artikulationsform der in theoretischer Kontemplation erfassbaren ‚zeitlosen Wahrheiten‘ oder ‚definitiven Gewissheiten‘. Vielmehr markiert sie ein performatives Organon der Weltkonstitution. Als Medium der δόξαι, über die sich die menschliche Realitätserfahrung aufbaut, bringt sie die Welt hervor.3 In diesem Horizont wurde die gedankliche Durchdringung und praktische Beherrschung rednerischen Handelns zu einem prioritären Geschäft.4 Redekompetenz versprach Chancen der Einflussnahme auf Welt. Ihre in den beweglichen δόξαι begründete Veränderlichkeit konnte durch fachkundige Redepraxis nutzbar gemacht werden, wenn es dem Redenden gelang, auf die Vor3 „[N]ur in der Sprache existiert die Welt, in der wir leben, und nur durch die Sprache teilen wir das mit, was wir zu sagen haben. Wenn die Dinge nichts sind, wird die Sprache alles. Der Kampf um die Sprache wird zu einem Kampf um die Existenz der Dinge“ (Andersen, Garten, 166). Zum Moment der Welterzeugung in der sophistischen Sprachauffassung vgl. auch Hetzel, Rede; Ders., Wirksamkeit. 4 Vgl. Fuhrmann, Rhetorik, 18. Dieses Bemühen vollzog sich primär in einer empirischen Einstellung. Als téchne versammelt die sophistische Rhetorik ein Wissen, das von der Beobachtung konkreter Kommunikationspraxis ausgeht, um über die systematische Durchklärung der gewonnenen Einsichten künftiges Redehandeln anzuleiten. Dieser erfahrungsbezogene Ansatz hält sich bis in gegenwärtige Konzeptionen der Rhetorik hinein, was freilich begrifflich orientierte Verfahren und grundlagentheoretische Sprachreflexion nicht ausschließt. Schon die sophistischen Theoretiker wurden über die Klärung praktischer Problemstellungen an weiterreichende linguistische, anthropologische und ontologische Fragen herangeführt. Vgl. Baumhauer, Rhetorik, 200–206; Knape, Rhetorik, 9–22; Ottmers, Rhetorik, 6–13; Ueding/ Steinbrink, Grundriß, 1–10 sowie Kopperschmidt, Versuch, 37, der Rhetorik pointiert als „erste empirisch interessierte Sozialwissenschaft“ bezeichnet.
Persuasive Praxis und Transformation
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stellungsregime seiner Zuhörerschaft Einfluss zu gewinnen. Es waren diese Wirkungsoptionen, die die Sophisten interessierten: „Sprechen als Handeln, der lógos als ‚Sprechakt‘“5. Im Kern verdichtet sich dieses Interesse in der Frage, wie Zustimmung kommunikativ evoziert werden kann. Gemäß den epistemologischen Prämissen der Sophistik konnte die Struktur dieser Zustimmung nicht einer Anerkennung apodiktisch geltender Sachverhalte gleichkommen. Zustimmung wurde vielmehr als eine Akzeptanzreaktion verstanden, die auf einem situationsabhängigen, subjektspezifischen Plausibilitätsempfinden beruht. Entsprechend erklärt später Aristoteles das Wahrscheinliche bzw. Glaubenerweckende und nicht das Wahre und logisch Zwingende zum Definitionselement der Rhetorik.6 Nicht durch Wahrheitsdemonstration, sondern durch Plausibilisierungsverfahren intendiert Persuasion Zustimmung. Sofern es solcher Beglaubigungstechniken bedarf, besteht der Akt der Zustimmung nicht in einer Wiederholung bereits bestehender Ansichten. Im Reflexionszusammenhang der Persuasionsidee ist Zustimmung stets Ausdruck einer wie auch immer gearteten Veränderung: Niederschlag eines Meinungswechsels, eines Stimmungswandels, einer vertieften Werthaltung, einer gewisser gewordenen Handlungsoption etc. Insbesondere mit der Figur des Gorgias von Leontinoi verbindet sich – zumindest wirkungsgeschichtlich – ein äußerst emphatisches Vertrauen in diese transformative Kraft der Rede. Sie gilt ihm als ein machtvolles Einflussmedium, durch das tendenziell jeglicher Gegenstand akzeptabel kommuniziert werden könne. Sein überkommenes Bild wird freilich stark durch Platons sophismuskritischen Gorgias-Dialog mitgeprägt.7 Über die konkrete Auseinandersetzung mit der sophistischen Denkart und den von Platon mit ihr korrelierten und als Missstände identifizierten Orientierungsmustern seiner Gesellschaft hinaus ging dieser Text als ein frühes Symbol für die speziell philosophisch motivierte Kritik an der Rhetorik überhaupt und ihrer ethischen Ambivalenz in die geisteswissenschaftliche Episteme ein. In der Gestalt des Sokrates’ interpretiert er das rhetorische Unternehmen als ein in der Tat wirkmächtiges Projekt, das seine Effektivität jedoch durch eine Tilgung sachbezogener Erkenntnischancen erkaufe. Rhetorischer Praxis ginge es nicht um ‚Belehrung‘, nicht um Vermittlung fundierter Kenntnisse. Sie provoziere Zustimmung allein durch wirkungsorientierte, auf ‚Anbiederung‘ beruhender ‚Schmeicheleien‘. So wird der beredte 5 Vgl. Baumhauer, Rhetorik, 35. 6 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1355b: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen. Denn dies ist die Funktion keiner anderen Theorie“ (Hervorhebung i. Orig.). Zur Orientierung an der Wahrscheinlichkeitskategorie vgl. auch Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 51–55. 7 Vgl. Platon, Gorgias. Zur Auseinandersetzung Platons mit der sophistischen Rhetorik vgl. Baumhauer, Rhetorik, 22–91; Andersen, Garten, 169–181; Ueding/Steinbrink, Grundriß, 18– 23.
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Dilettant überzeugender sprechen als der unberedte Experte – zumindest vor der als unwissend begriffenen Masse. Mit dieser am relativistischen Zug der sophistischen Rhetorik ansetzenden und in gewisser Weise auch demokratieskeptischen Kritik verbindet sich ein machtkritischer Vorbehalt. Der Rhetor wird mit der Sozialfigur des ‚Tyrannen‘ assoziiert, dem es nicht um die Förderung allgemeiner, sondern die Durchsetzung eigennütziger Interessen geht. Er degradiert die Angesprochenen zum „Umschlagplatz [der] Verwirklichung [seiner] Ziele“8. Zeichnet diese Kritik sicherlich ein verzerrtes Portrait der sophistischen Redepraxis und -theorie, verbergen sich hinter ihren polemischen Spitzen durchaus ernst zu nehmende Topoi, denen sich transformative Praktiken gegenübersehen – speziell, wenn sie, wie im Fall der Persuasion, als dezidiert teleologische Handlungsformen begriffen werden. Entsprechend bildet die Auseinandersetzung mit der Legitimität intentionaler Einflussnahmen und die Frage nach der Sozialverträglichkeit der dabei eingesetzten Mittel und anvisierten Ziele einen notorischen Bezugspunkt der Rhetoriktradition. Die aktuelle Rhetorikforschung steht nach wie vor im Zeichen einer als ‚Renaissance‘ beschriebenen Entwicklung, die im 20. Jh. anhebt. Sie dürfte nicht unwesentlich mit einer gesteigerten Plausibilität sophistischer Intuitionen verknüpft sein. Die Vermitteltheit des menschlichen Wirklichkeitsbezugs durch Sprache und andere semiotische Systeme, die Einbettung kommunikativer Prozesse in konkrete pragmatische Kontexte, die sich mit einer Kritik an rein repräsentationalistischen Sprachauffassungen verbindende Wiederentdeckung illokutionärer und perlokutionärer Fragestellungen, Vorbehalte gegenüber der Ausweisbarkeit letztgültiger Gewissheiten und die damit einhergehende Aufwertung sozialer Zustimmung als dem entscheidenden Bewährungsprinzip markieren zentrale Momente gegenwärtiger Episteme und geben einen günstigen Resonanzboden für rhetorische Fragestellungen.9 Der wiedererstarkte Anschluss an die Theorieangebote der rhetorischen Tradition vollzog sich im Kontext diverser Disziplinen. Entsprechend pluriform nehmen sich die Verständnisformate des Rhetorischen aus. Der Begriff der Rhetorik ist heute mehr denn je vieldeutig.10 Rekurse auf ‚die‘ Rhetorik verlangen 8 Bieri, Handwerk, 418. 9 Vgl. dazu Hetzel, Wirksamkeit, 21–28 und Kopperschmidt, Anthropologie; Ders., Verleumdung; Ders., Bemerkungen, der sich im Ausweis der rhetorikaffinen Verbreitung sophismusanaloger Denkschemata primär auf Überlegungen von Hans Blumenberg stützt (vgl. Blumenberg, Annäherungen). Die Rede von ‚sophistischen Intuitionen‘ ist bewusst vage gehalten. Sie soll (1) kein einheitliches Bild aktuellen Wirklichkeitsverstehens suggerieren und dieses (2) nicht auf agnostische Einstellungen festlegen. „Auch wenn die Rückkehr der Rhetorik mit einem Abschied von einem Absolutismus der Wahrheit einhergeht, eine Rückkehr aus dem Geiste des Skeptizismus muß sie deshalb nicht sein“ (Gabriel, Logik, 18). 10 Selbstverständlich stellt sich das rhetorische Nachdenken auch in seinen antiken Ursprüngen und Entwicklungsstufen sowie seiner späteren Geschichte nicht als konforme Größe dar. „Die
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daher eine präzisere Klärung, was unter diesem Titel genauer begriffen sein soll, an welche konkreten Konzeptionsvarianten angeknüpft wird und welche spezifische Perspektive damit auf Prozesse der Kommunikation eigentlich eingenommen ist, das heißt welche Erkenntnischancen und Reflexionspotenziale in den Blick kommen. Daher werden im Folgenden zunächst – primär zwei – aktuelle Konzeptionen der Rhetorik vorgestellt. Auf dieser Grundlage kann sodann das Moment des Persuasiven detaillierter konturiert werden sowie die eigentümliche Form, die transformative Prozesse im Rahmen rhetorischer Überlegung erhalten, einschließlich der darin beschlossenen Reflexionsangebote, was die Problemaspekte der transformativen Predigtdimension anbelangt. Orientiert an Walzers Bestimmung transformativer Praxis als Kunst der Argumentation wie kreativen Reinterpretation werden zuletzt zwei ausgewählte persuasive Prozeduren genauer betrachtet, um diesbezüglich zu einer feineren Beschreibung zu gelangen.
2
Verständnistypen der Rhetorik
Wie jede traditionsreiche Disziplin hat auch die Rhetorik im Verlauf ihrer Theoriegeschichte eine Reihe von Verständnistypen hervorgebracht, die hier selbstredend nicht umfassend zur Darstellung gebracht werden können.11 Stattdessen soll der Fokus auf einige markante konzeptionelle Alternativstellungen gelegt werden.12 Sie werden primär an zwei aktuellen Entwürfen erhellt: dem Rhetorikverständnis von Josef Kopperschmidt sowie dem Rhetorikverständnis von Joachim Knape. Beide haben sich um die Konturierung einer allgemeinen, nicht bereichsspezifischen Rhetorikkonzeption bemüht, die wesentlich auf den Begriff der Persuasion fußt.13 Da dieser in je verschiedener Weise profiliert wird, vermögen beide Konzeptionen einen fruchtbaren Reflexionsrahmen für persuasive Prozesse abzugeben. lange Geschichte der Rhetorik hält […] genug Varianten ihrer theoretischen Formation bereit […]. Es macht schon einen erheblichen Unterschied, ob man sein Verständnis von Rhetorik aus Texten eines Platon oder eines Aristoteles, eines Cicero oder einer deutschen Frühaufklärung, eines italienischen Humanismus oder eines Nietzsche gewinnt“ (Kopperschmidt, Ende, 8). Vgl. auch Till, Transformationen, 96: „‚Die‘ Rhetorik […] war nie eine homogene und unangefochtene ‚Bildungsmacht‘ […]: Pluralität (die auch innerhalb des officia-Systems durchaus möglich war) ist eines ihrer entscheidenden Merkmale“ (Hervorhebung i. Orig.). 11 Zu einem ersten Überblick über die Theoriegeschichte der Rhetorik vgl. Göttert, Einführung, 75–218; Knape, Stationen; Kennedy, Rhetoric; Ottmers, Rhetorik, 1–6; Ueding/Steinbrink, Grundriß, 13–206. Eine detaillierte Rekonstruktion der signifikanten Umbrüche, die das Lehrsystem der Rhetorik im 17. und 18. Jh. erfahren hat, bietet Till, Transformationen. 12 Für wertvolle Hinweise zur Anlage dieses Kapitels danke ich Prof. Dr. Dietmar Till. 13 Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik; Knape, Stationen; Ders., Rhetorik.
220 2.1
Teil D: Praktiken der Persuasion
Rhetorik als Stillehre
Mit dem Namen Petrus Ramus verbindet sich rhetorikhistorisch ein Theoriestandpunkt, der durch seine pointierte Neubestimmung der überkommenen enzyklopädischen Wissenschaftssystematik für eine Betrachtungsweise der Rhetorik einsteht, die man mit den Begriffen der „Eloquenzrhetorik“ oder „Stilrhetorik“ bezeichnen kann.14 In kritischer Auseinandersetzung mit den antiken rhetorischen Autoritäten grenzt Ramus drei der traditionellen partes artis – die inventio, dispositio und memoria – aus dem Zuständigkeitsbereich der Rhetorik aus und beschränkt sie auf die Reflexion der sprachlichen Ausgestaltung (elocutio) sowie des praktischen Vortrags (actio) – wobei der Klärungszusammenhang der actio bei Ramus selbst kaum weiter ausgeführt wird. Die Bewegung, die darin zum Ausdruck kommt, lässt sich in der Konzeptionsgeschichte der Rhetorik wiederholt belegen. Gérard Genette versah sie sogar mit einem sich über Jahrhunderte hinweg erstreckenden Vektor, der auf eine etappenweise Schrumpfung des rhetorischen „Kompetenzbereich[s]“ und „Aktionsfeld[es]“ verweise, an deren Ende eine „restringierte Rhetorik“ stehe, die nur noch auf Fragen der λέξις, der Figuren und Tropen, mithin rein textimmanenter Problemstellungen bezogen sei.15 In der Tat verbindet sich mit dieser Restriktion nicht einfach eine Ausgliederung traditionell der Rhetorik zugehöriger Reflexionsbereiche. Sie steht für eine tiefgreifende Transformation des Verständnisses des rhetorischen Theorieansatzes, das zudem mit einem ganz bestimmten Bild von Sprache einhergeht.16 Indem das rhetorische Projekt vor allem auf die Kunst der ‚guten‘, ‚schönen‘ oder ‚angemessenen‘ Formulierung abgestellt wird, wird ihr Gegenstand aus den pragmatischen Zusammenhängen lebensweltlicher Kommunikation herausgelöst. Einzelwörter, Syntagmen und Texte erscheinen als in sich abgeschlossene Sinnsysteme, deren Analyse von Intentionen, Funktionen, Wirkungen und überhaupt der Interaktion sprachlicher Gebilde mit situativen Rahmenbedingungen abzusehen hat. ‚Rhetorik‘ erscheint dann bestenfalls als Titel einer strukturalistisch inspirierten Textwissenschaft oder einer ästhetisch kultivierten Ausdrucksweise, schlechtestenfalls als Chiffre einer pedantischen Inventarisierung figuraler Muster oder aussageloser ‚Wortspielerei‘. Als Reflexionsgestalt einer vitalen, „sozial vernetzte[n] Überzeugungskunst“17, 14 Vgl. etwa Knape, Persuasion, bes. 877f; Kopperschmidt, Kritik, 67ff, hier 69. 15 Vgl. Genette, Rhetorik, hier 228. Müller, Rhetorik, 625 spricht analog von einer „amputierte[n]“ Rhetorik. 16 Vgl. dazu Ortak, Persuasion, 37–44. 17 Knape, Persuasion, 877. Im Blick auf den Unterschied zwischen einer auf textinterne Strukturen konzentrierten Stilrhetorik und einer die pragmatischen Kontexte mitreflektierenden „Persuasionsrhetorik“ spricht Knape auch von einem „intrinsischen“ und „extrinsischen Rhetorikansatz“ (ebd.).
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die nach intendierten und faktischen Funktionen lebensweltlich verankerter parole fragt, kann sie so nicht in den Blick kommen. Oder wie Chaim Perelman im Blick auf eine Wiedergewinnung der rhetorischen Tradition unter argumentationstheoretischen Gesichtspunkten formuliert: „Werden Figuren außerhalb ihres Kontextes wie getrocknete Blumen in einem Herbarium dargestellt, dann gerät dadurch die dynamische Rolle der Figuren aus dem Blick; sie werden insgesamt zu Stilfiguren. Abgelöst von einer als Kunst der Überredung und Überzeugung angelegten Rhetorik werden sie von Figuren der Rhetorik zu bloßen Schmuckformen, die nur die Form der Rede betreffen: eine Erneuerung, selbst auch nur einer Rhetorik der Figuren, läßt sich daher außerhalb des argumentativen Kontextes nicht wirklich ins Auge fassen.“18
Freilich sind es gerade der Wirkungsbezug der rhetorischen Fragestellung und ihr Interesse an intentionalen und funktionalen Vollzügen, die eine Engführung der Rhetorik auf Probleme der Stilistik und Eloquenz immer wieder befördert haben. Exemplarisch stehen dafür die prominenten rhetorikskeptischen Passagen aus Kants dritter Kritik. Die Differenz zwischen einer vor allem an textinternen Gesichtspunkten orientierten Rhetorik elokutionärer Strukturen und einer pragmatisch interessierten Rhetorik persuasiver Praxis spiegelt sich hier in der Unterscheidung zwischen „Beredtheit“ oder „Wohlredenheit“ einerseits und der davon pejorativ abgesetzten „Rednerkunst“, „Kunst zu überreden“ oder „ars oratoria“ andererseits. Während Kant Erstere zur „schönen Kunst“ rechnet und insofern in das zweckfreie Spiel mit der Einbildungskraft einbindet, schließt er Zweitere mit einer auf egoistischen Motiven basierenden, unaufrichtig verfahrenden Täuschungspraxis kurz, die ihren Adressaten das autonome Urteil raubt.19 Kants Vorbehalte gegenüber persuasiven Kommunikationen beruhen 18 Perelman, Reich, 8. Vgl. dazu auch Ders./Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 200–260. In einer Vielzahl von Einzelanalysen spüren Perelman und Olbrechts-Tyteca hier den argumentativen Funktionen nicht nur der rhetorischen Figuren (zu diesen vgl. bes. a. a. O., 236–253), sondern überhaupt der elokutionären Aspekte von Texten nach. Zum ‚extrinsischen‘ Ansatz der Nouvelle Rhétorique vgl. auch Amossy, Publikum. 19 Vgl. Kant, KdU, § 53: „Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d.i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), und nicht bloße Wohlredenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, die von der Dichtkunst nur so viel entlehnt, als nötig ist, die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu benehmen; kann also weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angeraten werden.“ Und anmerkend dazu: „Ich muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen verstehet, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen
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damit wesentlich auf einer ihr eigenen ‚Vermengung‘ rational-logischer und emotional-ästhetischer Operationen: „Einerseits berührt sie sich [sc. die Rhetorik verstanden als ars oratoria] – als ‚schöne Rede‘ – mit dem Ästhetischen, andererseits bleibt sie einer rationalen Zweckhaftigkeit verpflichtet, die eine Einbuße an Schönheit bedeutet. Und umgekehrt berührt sie sich einerseits – als rationale Überzeugungstechnik – mit dem Logischen, doch andererseits bedient sie sich eben auch affektischer, nicht-logischer Persuasionsmittel.“20
Als ein solcher „Zwitter“21 ist sie im kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext einer zunehmenden Autonomisierung des Ästhetischen und seiner unter dem Aspekt der Zweckfreiheit firmierenden Profilierung nicht nur moralisch suspekt, sondern auch enzyklopädisch nur schwerlich zu verorten. Zugleich legt das 18. Jh. mit der Heraufkunft der Ästhetik als einer akademischen Disziplin und der Ausdeutung der künstlerischen Sphäre als einem durch ‚Interesselosigkeit‘ und ‚Selbstzwecklichkeit‘ bestimmten Raum den Grundstein für spezifisch ästhetische Konzipierungen auch transformativer Dynamiken. Wie in Teil C gezeigt, verspricht eine solche Betrachtung, transformative Praktiken als im Grundsatz ‚unverdächtige‘ Erfahrungsräume auszulegen, die auf freiwilligexperimenteller Teilnahme an einer immer schon als „bloßes Spiel“ durchschauten Praxis beruhen.22
(diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würden“ (i. Orig. teils hervorgehoben). Eine Herausarbeitung der Genese dieses Urteils und seiner Einbettung in den theoriestrategischen Zusammenhang der dritten Kritik bietet Till, Transformationen, 549–566. 20 Ottmers, Rhetorik, 51. Zur strittigen Relation zwischen Logik, Poetik und Rhetorik vgl. auch Gabriel, Logik, hier 14f: „Wie die Geschichte der Rhetorik zeigt, haben wir es mit einem Dreiecksverhältnis zu tun, das durch wechselnde Allianzen bestimmt ist. Zeitweilig geht die Rhetorik mit der Logik einher und verbindet sich mit dieser zur Dialektik. Dann wird sie von der Poetik angezogen, bzw. – von der Logik verstoßen – in deren Arme getrieben. Schließlich wird sie von beiden verschmäht, sobald sich die Gegensätze Logik und Poetik kompensatorisch anziehen und – etabliert als Wissenschaft und Dichtung – eine bürgerliche Ehe der wohlwollenden Duldsamkeit eingehen, in der jeder seiner Wege geht“ (Hervorhebung i. Orig.). 21 Ottmers, Rhetorik, 51. 22 Vgl. Kant, KdU, § 53: „Sie [sc. die Dichtkunst] spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel, welches gleichwohl vom Verstande und zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden kann.“
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2.2
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Rhetorik als Theorie persuasiver Praxis nach Josef Kopperschmidt
In Abgrenzung von einem entpragmatisierten Begriff der Rhetorik als Stillehre erkennen sowohl Kopperschmidt als auch Knape in persuasiven Kommunikationen den spezifischen Bezugspunkt des rhetorischen Nachdenkens. Dabei variiert ihr jeweiliges Verständnis der Persuasion und der damit einhergehenden Beschreibung der Aufgaben der Rhetorik nicht unwesentlich dadurch, in welcher Weise die von Kant – oder auch Platon – vorgebrachten rhetorikkritischen Einwände eingeschätzt und in die Theoriebildung integriert werden. Kopperschmidt erblickt die differencia specifica des rhetorischen Ansatzes in einem bestimmten „Frageinteresse“.23 Damit geht die Vermutung einher, dass eine breitere institutionelle Wiederformierung der Rhetorik als selbstständige akademische Disziplin unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum zu erwarten steht. Das eigentümlich rhetorische Frageinteresse werde vielmehr in diversen disziplinären Kontexten in je variierender Weise verfolgt. Dennoch ließe es sich im Sinne einer „Minimalidentität“ umkreisen und als Ankerpunkt eines „allgemeinen Begriffs von Rhetorik“ explizieren.24 Kopperschmidt bestimmt es als das Interesse an „Sprache als einem in der Rede kommunikativ funktionalisierten Medium möglicher Verständigung“ bzw. als Inblicknahme von „Sprache unter den Bedingungen konsensstiftender Überzeugungskraft“,25 die sich zu einer systematischen Rekonstruktion der „multifaktoriellen Bedingungen überzeugungskräftiger Rede“ und einer „Klärung der soziokommunikativen Funktionen, die eine um Zustimmung werbende Rede in Abhängigkeit von der jeweiligen Gesellschaftsformation pragmatisch spielt“, ausprägen lässt.26 Diese gedrängten Formulierungen verweisen auf mindestens Zweierlei. Zum einen identifizieren sie sprachliche Überzeugungsprozesse – die Kopperschmidt auch als Persuasionen adressieren kann27 – als den zentralen Bezugsgegenstand rhetorischer Reflexion: „[Ü]berzeugend/nicht überzeugend“ lautet der die rhetorische Erkenntnisbewegung orientierende „Binärcode“.28 Zum anderen vermitteln sie schon eine Idee von dem charakteristischen Profil, das Kopperschmidt diesen persuasiven Vollzügen verleiht. So erinnern die Termini ‚Konsens‘ und ‚Verständigung‘ nicht zufällig an Jürgen Habermas’ Diskurstheorie. Tatsächlich markiert sie für Kopperschmidts Rhetorikkonzeption einen maßgeblichen Referenzzusammenhang, in dessen Licht Persuasionsakte als auf Verstän23 24 25 26 27
Vgl. exemplarisch Kopperschmidt, Ende, passim; Ders., Länder, passim. Vgl. Kopperschmidt, Ende, 11. Vgl. Kopperschmidt, Ende, 11.13. Vgl. Kopperschmidt, Länder, 147; Ders., Ende, 18; Ders., Verleumdung, 15. Vgl. Kopperschmidt, Ende, 16; Ders., Resonanz, 31 sowie vor allem Ders., Rhetorik, bes. 65– 100. 28 Vgl. Kopperschmidt, Bemerkungen, 26, Anm. 48; Ders., Verleumdung, 15, Anm. 60.
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digung zielende, am Prinzip der Vernunft orientierte und – zwar nicht ausschließlich, aber doch vor allem – im Medium sachbezogener Argumentation verfahrende Kommunikationspraktiken begriffen werden. Diese Konzeptionierung ist im Folgenden in ihren Hauptlinien zu entfalten.
2.2.1 Intentionalität und Transformativität Kopperschmidt entwickelt sein Persuasionsverständnis im Horizont einer ‚nachmetaphysischen‘ Epistemologie, die er mit Hans Blumenberg auch als spezifisch moderne Anthropologie zu explizieren vermag (vgl. D.1). In Anlehnung an die eingangs notierte These von der sophistischen Imprägnierung aktueller Erkenntnistheorie hält er den Ausweis absoluter Geltungen für anthropologisch nicht erschwinglich, wodurch intersubjektive, im Medium der Sprache sich vollziehende Verständigungspraxen zur alleinigen Geltungsressource avancieren: Nicht spekulativ erzielte Evidenz, sondern kommunikativ evozierter Konsens gibt unter erkenntniskritischen Bedingungen das Geltungsansprüche legitimierende Prinzip. Vor diesem Hintergrund bezeichnet ‚Persuasion‘ genau diejenigen Kommunikationsvollzüge, die auf einen solchen Konsens ausgerichtet sind, die auf Akzeptanz und Zustimmung zielen.29 Damit eignet ihr eine intentionale Struktur. Es geht nicht einfach um ‚zufälligerweise‘ sich ereignende Prozesse der Überzeugung, sondern um ein bezwecktes, angestrebtes Einverständnis, für dessen Erreichung kommunikative Mittel eingesetzt werden. Sofern sich dieses Einverständnis stets auf etwas Bestimmtes bezieht, gehört zur grundsätzlichen Gerichtetheit persuasiver Praxis auch je ein inhaltlich mehr oder weniger deutlich explizierbares Anliegen. Persuasion zielt auf einen Konsens über etwas.30 Dabei setzt ein solches persuasives Anliegen voraus, dass – mindestens aus Sicht der Rednerin – Akzeptanz allererst erreicht werden muss und folglich ein Dissens vorliegt. Persuasive Kommunikation beruht auf der Annahme von konfligierenden Interessen, einer Meinungsdivergenz etc., mithin auf der subjektiven Wahrnehmung einer irgendwie gearteten mentalen Differenz zwischen zwei oder mehreren sozialen Akteuren. Aus diesem Grund erscheint das Phänomen der Akzeptanz aus dem Blickwinkel der Persuasionstheorie als ein dynamischer Akt. Sie ist Ausdruck einer Veränderungsbewegung – und Persuasion demzufolge eine genuin transformative Praxis im Sinne einer auf Wandel zie29 Vgl. exemplarisch Kopperschmidt, Rhetorik, 18: „Der Versuch, argumentativ […] Konsens herzustellen, läßt sich mit dem […] Begriff überzeugen beschreiben und entsprechend eine so orientierte Kommunikation als überzeugende bzw. […] als Persuasive Kommunikation kennzeichnen“ (Hervorhebung i. Orig.). 30 Zur Intentionalität persuasiver Praxis vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, 50–69.98ff.
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lenden Kommunikationshandlung.31 Dabei hält Kopperschmidt fest, dass ‚Verändern‘ „nicht nur den möglicherweise gelingenden Einstellungswandel eines Kommunikationspartners aufgrund überzeugungskräftiger Rede, sondern […] beide Partner [umfasst], insofern der Diskurs in der Regel die wechselseitige Problematisierung von Geltungsansprüchen zur Voraussetzung hat, die erst auf einer ganz neuen Reflexionsebene im gelingenden Konsens zurückgenommen wird.“32
Diese Kopplung von Intentionalität und Transformativität kann Kopperschmidt in anderer Terminologie auch stärker anthropologiebezogen entfalten. Am Beispiel der forensischen Situation, die er in genetischer Perspektive als den „originären Ort der Rhetorik“ auffasst, und der er in analytischer Perspektive eine „heuristische Modellfunktion“ zuweist,33 rekonstruiert er den „homo rhetoricus“34 als ein Subjekt, das nach „sozialer Selbstbehauptung“35 trachtet. In rhetorischer Perspektive erscheint das menschliche Dasein als ein durch Selbstsorge bestimmtes Sein: Dem Menschen liegt an seiner Existenz. Über dieses basale Selbstinteresse bauen sich lebensgeschichtlich konkrete Einzelinteressen auf – Themen, die uns angehen, Deutungen, die uns wichtig sind, Projekte, an denen uns liegt – die sich à la longue zu konstanteren Bedeutsamkeitsstrukturen verfestigen. Unsere Beziehung zur Welt ist dadurch nie neutral bestimmt, sondern über Regime der Relevanz organisiert. Wir stehen der Welt nicht gleichgültig gegenüber, sondern erfahren uns für bestimmte Fragen, Sinngehalte und Ziele ‚parteilich‘ eingenommen. ‚Selbstbehauptung‘ kann dann als der Versuch interpretiert werden, diesen subjektiv relevanten Themen und Bedeutungen Geltung zu verschaffen, und die Projekte, die einer Person etwas bedeuten, Realität 31 32 33 34
Zur Transformativität persuasiver Praxis vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, 50–69.98ff. Kopperschmidt, Rhetorik, 43. Vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, 208. Kopperschmidt, Anthropologie, passim. Der Begriff des homo rhetoricus meint den Menschen, wie er in der Perspektive der Rhetorik kenntlich wird, genauerhin die interpretativ zu hebenden impliziten anthropologischen Vorstellungen vor allem antiker Rhetoriktheorie. Die dabei zum Vorschein kommenden Bestimmungen deutet Kopperschmidt nicht essentialistisch aus, sondern fasst sie als partielles Deutungsangebot, das alternative interpretative Zugänge nicht ausschließt (vgl. Ders., Bemerkungen, 22–26). Einen primär an den fünf Produktionsstadien antiker Rhetorik orientierten Rekonstruktionsversuch einer ‚fundamentalrhetorischen Anthropologie‘ unternimmt Oesterreich, Fundamentalrhetorik. 35 Vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, 211 u. ö.; Ders., Bemerkungen, 15 u. ö. Wie die folgenden Erläuterungen deutlich machen werden, stelle ich Kopperschmidts Rede von der ‚sozialen Selbstbehauptung‘ in einen Explikationsrahmen, der von Heideggers Daseinsanalyse (vgl. pointiert Ders., Sein, 12; ausführlich dazu Tugendhat, Selbstbewußtsein, 164–244) und Alfred Schütz’ Relevanztheorie (vgl. Ders., Problem; dazu auch Merle, Alltagsrelevanz, 188–207; Stetter, Relevanz) inspiriert ist. Kopperschmidt selbst stellt diese Bezüge nicht her. Sie scheinen mir aber den Sinn seiner Ausführungen recht genau zu treffen und bereiten damit die Überlegungen zur ἦθος-Komponente persuasiver Praxis unter D.3.2 vor.
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werden zu lassen. Als soziales Wesen vollzieht sich diese Selbstbehauptung nicht in monadischer Isolation, sondern in einem „Netzwerk interaktiver Beziehungen“36. Sie bedarf der Etablierung von Kooperationen mit anderen, der Anerkennung durch andere, der Verantwortung vor anderen und folglich: der Überzeugung von anderen. Insofern resultiert aus der Selbstsorge vermittelt über die Sozialität menschlicher Existenz ein spezifisch persuasiver Impuls.37 2.2.2 Modale Strukturen persuasiver Praxis Neben den Kennzeichen der Intentionalität und Transformativität sind im Folgenden die modalen Strukturen persuasiver Praxis näher zu erkunden. Auf welche Art und Weise realisieren sich persuasiv angestrebte Veränderungsziele? Für Kopperschmidt erlaubt auch hier das Modell der Gerichtssituation erste produktive Einblicke, steht sie doch für die bewusste Suspendierung nichtsprachlicher Einflussakte, mithin für die „Notwendigkeit einer strikt gewaltfreien […] Konfliktlösung“38. Persuasionen besitzen ihren Ort dort, wo physische Einwirkungsoptionen faktisch abgebaut sind oder normativ für obsolet erklärt werden. Die Differenz ‚sprachlich/nichtsprachlich‘ und vor allem ihre Korrelierung mit der Differenz ‚gewaltfrei/gewalthaltig‘ ist freilich idealtypischer Natur und zeigt zugleich, dass die Frage nach den modalen Strukturen der Persuasion von Beginn an ethische Implikationen aufweist. So macht eine Gegenüberstellung von Sprachgebrauch und Gewaltanwendung dann Sinn, wenn unter Gewalt eine bestimmte Art physischer Interessendurchsetzung gemeint ist. Sobald der Gewaltbegriff weniger eng umgrenzt wird, ist auch mit einer ‚gewalthaltigen‘ Sprachverwendung zu rechnen, wodurch das Verhältnis zwischen Rede und
36 Kopperschmidt, Anthropologie, 211. 37 Wie mit Cooke in der Terminologie von cognitive und social transformations beschrieben, besitzt dieser Impuls auch für Kopperschmidt eine Doppeldimension. Persuasive Kommunikationen intendieren Weltveränderung im Sinne mentaler Einflussnahmen. Dem Gesprächspartner soll eine bestimmte Sicht auf Welt vor dem Hintergrund seiner situativ zugänglichen Überzeugungen und Stimmungen plausibel gemacht werden. Im Fall unserer handelnden Selbstverwirklichung ist diese mentale Einflussnahme nicht Endzweck, sondern Medium der Umsetzung eines darüber hinausreichenden praktischen Ziels. Im Medium der Persuasion wird um Kooperationen geworben, die die Realisierung einer gemeinsamen Weltveränderung – nun im Sinne einer praktischen Transformation – möglich machen sollen. Im Blick auf den Transformationsbezug persuasiver Kommunikation sind folglich zwei Dimensionen auseinanderzuhalten: die mit ihnen intrinsisch verbunden mentalen Veränderungsabsichten und die mit ihnen extrinsisch verbundenen praktischen Veränderungsabsichten (vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, 50–70). 38 Kopperschmidt, Anthropologie, 210.
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Gewalt sehr viel subtiler zu vermessen ist und Vorstellungen wie Zwang, Aggression oder Manipulation in die Überlegungen integriert werden müssen.39 Herrscht bezüglich der Eingrenzung persuasiver Handlungen auf sprachliche Operationen unter Persuasionstheoretikern weitgehend Konsens,40 ist die Frage nach einer näheren Qualifizierung des Persuasionsaktes notorisch strittig. Kopperschmidt bezieht in dieser Frage einen relativ engen Standpunkt. Unter Persuasionen versteht er sprachliche Akte, die maßgeblich durch argumentative Verfahren bestimmt sind.41 Das heißt: Nicht jede linguistische Form der Kommunikation, die einen irgendwie gearteten transformativen Einfluss bezweckt, ist als persuasive Kommunikation anzusprechen. ‚Bitte‘, ‚Befehl‘ oder ‚Warnung‘ etwa sind nach Kopperschmidt aus dem Kosmos des Persuasiven auszuklammern.42 Zwar stellen auch sie durchaus probate Mittel dar, um einem subjektiven Anliegen soziale Akzeptanz zu verschaffen. Allerdings schließen sie die Möglichkeit nicht aus, dass diese Akzeptanz rein ‚äußerliche‘ Züge trägt. Einem durch ‚Bitte‘, ‚Befehl‘ oder ‚Warnung‘ kommunizierten Anliegen vermag eine Adressatin auch unter der Bedingung zu entsprechen, dass sie von seiner sachlichen Legitimität ‚innerlich‘ gerade nicht überzeugt ist. So mag ein Jugendlicher die Beziehung zu seiner Clique abbrechen, nicht weil er die Bedenken seiner Eltern ihr gegenüber inhaltlich teilt, sondern weil er die dauerhafte Kürzung seines Taschengeldes fürchtet. Insofern bindet Kopperschmidt den Begriff der Persuasion an die spezifische Struktur der Akzeptanz, auf die sie zielt: Die Art des Konsenses, die Kommunikationen eröffnen, und die besonderen Bedingungen, 39 Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, 70ff; Ders., Anthropologie, 218–229 sowie ferner die hilfreichen Differenzierungen bei Knape, Gewalt. 40 Vgl. exemplarisch Ortak, Persuasion; Perloff, Dynamics, 11–19; Schönbach, Verkaufen, 25– 28; Simons/Jones, Persuasion, 22–27. 41 Vgl. Kopperschmidt, Argumentation; Ders., Argumentationstheorie; Ders., Methodik; Ders., Prinzip; Ders., Rhetorik. Besonders in späteren Schriften betont Kopperschmidt die multifaktorielle Abhängigkeit persuasiver Prozesse, die nicht auf die Dimension sachbezogener Argumentation eingeschränkt werden dürfe. Die Überzeugungskraft einer Rede ist immer auch mitbestimmt mindestens durch ihre elokutionäre Gestalt, ihr affektives Wirkvermögen sowie den Verweisungsbezug auf ihr Subjekt. Sofern Persuasionen aber nicht irgendwelche Zustimmungen intendieren, sondern Zustimmungen, die in persönlicher und rational ausweisbarer Sacheinsicht gründen, sind diese Faktoren als funktional auf die Sachargumentation bezogen zu deuten und nicht zu verselbstständigen (vgl. Ders., Rhetorik, 156). Freilich: Wird diese Bezogenheit nicht nur in Richtung auf die argumentative Dimension normativ eingefordert, sondern überhaupt als empirischer Sachverhalt veranschlagt, sind auch Argumente selbst nie als rein sachrational wirkende Größen zu betrachten: „Auch im so genannten ‚Raum der Gründe‘ […] gelten, entgegen allem vordergründigen Schein, nicht nur Gründe. Zumindest beziehen die in diesem ‚Raum‘ allein als Währung zugelassenen Gründe ihre Überzeugungskraft […] nicht ausschließlich aus dem argumentativen Charakter ihres ‚zwanglosen Zwangs‘, sondern auch hier resultiert die Überzeugungskraft von Argumenten aus einer Vielzahl überzeugungsrelevanter Faktoren“ (vgl. Kopperschmidt, Überzeugungskraft, 25; Ders., Anfragen, 372; Ders., Sozialtechnologie, 1234f; Ders., Versuch, 22–36). 42 Vgl. etwa Kopperschmidt, Rhetorik, 67.
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die sie für Zustimmungsreaktionen bereitstellen, entscheiden über ihre persuasive Qualität. Die Art des Konsenses kann als persönliche Einsicht paraphrasiert werden. Persuasive Praxis zielt nicht auf eine irgendwie charakterisierte Übernahme eines Interpretationsangebots, sondern auf das subjektive Überzeugtsein von seiner Plausibilität. Die vorgeschlagene Sicht auf Welt muss auf Basis eigener Gründe als einleuchtend gewertet werden können; ihre Rechtfertigung muss für den Adressaten möglich sein. Deshalb bildet die Qualifizierung eines Kommunikationsbeitrags als ‚überzeugend‘ „ausschließlich das Urteil des Hörers, nicht des Redenden ab“.43 Dabei erkennt Kopperschmidt in Habermas’ berühmten Oxymoron vom „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“44 ein fruchtbares Explikat, um die spezifische Struktur eines solchen Konsenses offenzulegen. Das Subjekt, das einer sozial auferlegten Weltdeutung im Horizont seines persönlichen Überzeugungssystems beipflichtet, empfindet eine Zustimmungsnötigung, die nicht extern verbürgt ist. Sie basiert auf Gründen, mit denen sich das Subjekt zu identifizieren vermag. Sie entspringt quasi ‚aus ihm selbst‘ und trägt damit den Charakter einer „Selbstnötigung“: das Subjekt sieht „sich zur Zustimmung in einer Weise gezwungen […], die [es] nicht als Fremdbestimmung empfinde[t], sondern als Vollzug eigener Freiheit, weil die sich in einer die Zustimmungsbedingungen selbst bestimmenden Bindung realisiert statt in ‚un-bedingter‘ Willkür.“45
Zugespitzt formuliert: Überzeugungsprozesse sind recht eigentlich als Selbstüberzeugungsprozesse zu verstehen.46 Um die Bedingungen zu erzeugen, unter denen solche Zustimmungsreaktionen möglich werden, hat ein persuasiv eingestellter Akteur an die argumentative Infrastruktur seiner Kommunikationspartner anzuschließen. Kopperschmidt erkennt im „Prinzip des Anschließens“ das Grundprinzip der Persuasion, mithin der Rhetorik überhaupt: Überzeugungsarbeit ist „Anschlussarbeit“, das „Sich-Anpassen-Können“ das „Betriebsgeheimnis jeder erfolgreichen Rhetorik“47 – womit die rekursive Dynamik ins Zentrum persuasiver Praxis einrückt. 43 Vgl. Kopperschmidt, Anfragen, 369. Kopperschmidt verweist dabei auf Aristoteles’ relationale Bestimmung des Überzeugenden als pithanon tini – „Es ist nun aber so, daß das, was in der Lage ist, Glauben zu erwecken, dies in Beziehung auf irgendjemanden tut“ (Ders., Rhetorik, 1356b) – sowie auf Ludwig Wittgensteins glückliches Diktum aus seiner Gewissheitsschrift: „Was ein triftiger Grund für etwas sei, entscheide nicht ich“ (Ders., Gewißheit, 173). Vgl. dazu auch Kopperschmidt, Argumentation, 110; Ders., Verleumdung, 11; Ders., Topik, 669. 44 Habermas, Wahrheitstheorien, 161. 45 Vgl. Kopperschmidt, Resonanz, 41; Ders., Argumentation, 111f; Ders., Bemerkungen, 32. 46 Vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, 222; Ders., Idee, 239.242. 47 Vgl. Kopperschmidt, Bemerkungen, 11; Ders., Idee, 239–247; Ders., Resonanz, 48; Ders., Überzeugungsarbeit, 24. Vgl. dazu auch Ders., Anthropologie, 219–230, hier 228: „Wer, um
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Den Zielpunkt der Anpassungsbewegung bilden die kognitiven Regime der Adressaten. Von ihnen her hat ein Redner seinen argumentativen Text zu entwerfen. „Denn Argumentieren-Können meint ja genau die Fähigkeit, sich an die materialen Überzeugungen von Argumentationspartnern so sehr anzupassen, dass sich aus deren Geltungsunterstellung Gründe für die überzeugungskräftige Stützung problematisierter Geltungsansprüche gewinnen lassen, die für die Ermöglichung kooperativen Handelns und seiner normativen Fundierung unerlässlich sind.“48
Im ‚Prinzip des Anschließens‘ artikuliert sich damit eine dialogische Vollzugslogik.49 Überzeugungen lassen sich nicht monologisch transferieren, sondern entstehen dort, wo es einem Sprecher gelingt, sein persuasives Anliegen in den Bezugsraum schon bestehender Meinungen und Ansichten seiner Kommunikationspartner einzustellen. Insofern setzt jeder argumentative Text die Erkundung der Überzeugungsregime derjenigen voraus, für die er Plausibilität gewinnen soll. Mehr noch: Er hat diese Regime auch materialiter abzubilden. Bestenfalls finden sich seine Rezipienten in ihm wieder, indem er einer Auswahl der von ihnen geteilten und sie mehr oder weniger zentral prägenden Sichtweisen Ausdruck verleiht. Als markanter traditionsgeschichtlicher Bezugspunkt einer solchen dialogischen Auffassung des rhetorischen Procedere gelten gemeinhin Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit, in denen er das Wesen der Rede im Gespräch erblickt: „[I]n dem Munde des einen Redners sprechen notwendig zwei, er und sein Gegner.“50 Daher kann „niemand […] größerer Redner sein als Hörer“; die
sich sozial zu behaupten, andere durch Reden für sich gewinnen muß, weil ihm keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, der kann nicht ignorieren, was diese Anderen für plausibel halten, wh.: der muß an deren Plausibilitätspotentiale anschließen“. Den Begriff des Anschließens entlehnt Kopperschmidt aus Niklas Luhmanns Systemtheorie (vgl. Kopperschmidt, Anthropologie, 223, Anm. 33; Ders., Idee, 245; Ders., Resonanz, 34–40). Unter dem Titel ‚Adaption‘ nimmt die Anschlussbewegung auch in der Argumentationstheorie von Perelman und Olbrechts-Tyteca eine Zentralstellung ein und wird von Helmut Schanze ebenfalls in den Horizont konstruktivistischen Denkens gerückt (vgl. Ders., Anpassungen). Paradigmatisch in Szene gesetzt findet Kopperschmidt das Prinzip des Anschließens in der lukanischen Überlieferung der paulinischen Aeropagrede in Act 17 (vgl. Ders., Anthropologie, 228; Ders., Überzeugungsarbeit, 26). 48 Kopperschmidt, Überzeugungsarbeit, 26. 49 Die Betonung liegt dabei auf ‚-logik‘. Es geht nicht darum, die monologische Eigenart einer Rede und die damit einhergehenden Kommunikationschancen wie -grenzen zu nivellieren. Der Gedanke der Dialogizität bezieht sich vielmehr auf eine spezifische Hörerorientierung in der Vorbereitung, Gestaltung und – so wäre zu ergänzen – Performanz einer Rede, die freilich von der einen Rednerin verantwortet und realisiert wird. Zur Differenzierung zwischen ‚Rede‘ und ‚Gespräch‘ im Sinne zweier morphologisch divergierender Kommunikationsweisen vgl. Knape, Rhetorik des Gesprächs. 50 Müller, Reden, 47. Zur Ausdeutung des Anschlussprinzips unter Bezug auf Müller durch
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Rede beruht auf einer „Kunst des Hörens“ als einer „Kunst des Innewerdens fremder Naturen“, die es erlaubt, die Plausibilitätssysteme der Adressaten interpretativ zu erschließen und rednerisch zu artikulieren.51 Erst durch eine solche ‚Anschlussarbeit‘ kann es gelingen den Zuhörer auf einen „gemeinschaftlichen Boden herüber[zu]ziehn, über sich [sc. den Redner] und ihn den gemeinschaftlichen Himmel [zu] wölben, beide in eine und dieselbe Luft [zu] versetzen [und] einen Grundakkord zwischen beiden an[zu]ordnen“52
– kurzum ein grundlegendes „Verständigtsein“53 sprachlich in Szene zu setzen, dessen es bedarf, um Konsense nach der Art persönlicher Einsicht zu ermöglichen. Tatsächlich behaftet auch Müller das rhetorische Projekt auf eine Form der Akzeptanz, die als Vollzug subjektiver Freiheit erlebt werden kann, und deren Voraussetzungen eben durch rednerische Anpassungsverfahren geschaffen werden: „Genügt es mir, wenn ich rede, daß sich jedes meiner Worte in dem Hörer eindrückt und abformt, wie das Siegel in dem Wachs, und daß jede Wendung meiner Rede ihn bewußtlos und durch eine kalte Notwendigkeit stellt und richtet, wie die Wetterfahne der Wind? Ich verlange ja eine Antwort, ich will ja Freiheit gegen mir über, und Selbstbestimmung; keine Maschine, die zu regieren es ja noch mechanische Kräfte in der Welt gibt, und wozu nicht die Wunderkraft des Wortes erst auf eine lächerliche Weise gemißbraucht werden darf. Sie sollen ja nicht verstummen, sondern sie sollen hören!“54
Womöglich spielt der Terminus ‚Maschine‘ in Müllers Notiz auf Kants Einspruch gegen eine als ars oratoria verstandene Rhetorik an. Sicher ist, dass Kopperschmidt selbst mit der Behaftung persuasiver Praxis auf Akzeptanzreaktionen, die auf persönlicher Einsicht in die sachliche Legitimität eines Weltdeutungsanspruchs beruhen, der Skepsis gegenüber rein effektorientierten Rhetorikver-
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Kopperschmidt vgl. etwa Ders., Bemerkungen, 32; Ders., Idee, 241f; Ders., Überzeugungsarbeit, 24. Vgl. Müller, Reden, 64. Müller, Reden, 59; vgl. ferner a. a. O., 52ff. Vgl. Kopperschmidt, Prinzip, 88ff. Vgl. dazu auch Kopperschmidt, Bemerkungen, 10f: Persuasionen setzen eine geteilte „Lebenswelt“ als ein „dichtes Netz von ‚Selbstverständlichkeiten‘, ‚Verläßlichkeiten‘, ‚Üblichkeiten‘“ voraus. Allgemeiner lässt sich die rhetorische Anschlussarbeit daher auch über den „Binärcode ‚vertraut/unvertraut‘“ explizieren: In ihr spezifiziert sich der Vollzug, „Unvertrautes durch systematisches Anbinden an Vertrautes vertraut zu machen“ als das „Grundprinzip menschlicher Selbstvergewisserung überhaupt“ zum Zwecke der Überzeugungsevokation (vgl. Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 80– 86, hier 86). Müller, Reden, 73. Die Idee einer Ermöglichung von Akzeptanz als Ausdruck persönlich gegründeter Einsicht durch Prozesse des Anschließens findet sich pointiert und verdichtet auch in a. a. O., 46: „Die Beredsamkeit will ergreifen, aber durch Reiz, durch Motive, die in der Brust dessen liegen, auf den sie es absehn: sie will ihre Beute nicht tot haben wie der gemeine Eroberer, aber im vollen Sinne des Wortes lebendig. Sie will eine freie Seele bezaubern und beherrschen“.
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ständnissen Rechnung zu tragen versucht. Wie der dezidiert geltungstheoretische Rahmen, in dem Kopperschmidt seine Persuasionsauffassung ausformuliert, anzeigt, kann er den Verweis auf das ‚Prinzip des Anschließens‘ freilich noch nicht als hinreichende Erwiderung gegenüber solcherart rhetorikkritischen Vorbehalten werten. Ein ambitioniertes Verständnis von Geltung kann sich mit der bloß subjektiven Ratifikation einer vorgeschlagenen Perspektive auf Welt nicht begnügen. Im Extrem illustrieren dies etwa gemeinhin als ‚opportunistisch‘ oder ‚populistisch‘ bewertete Kommunikationsstrategien, die ebenfalls als anpassungsorientierte Praktiken lesbar sind. Aus diesem Grund versucht Kopperschmidt Vollzüge des ‚Anschließens‘ konzeptionell bestimmter zu fassen und von Vollzügen der ‚Angleichung‘ kriteriologisch abzuheben.55 Den Differenzmaßstab erkennt er dabei in der geltungstheoretisch inspirierten Maxime der Universalisierung: Während rednerische Angleichungspraxen auf ein ‚partikulares Publikum‘ zielen und insofern an einer ‚partikularen Zustimmung‘ interessiert sind, adressieren rednerische Anschlusspraxen ein ‚universales Publikum‘ und visieren insofern eine ‚universale Zustimmung‘ an.56 Selbstverständlich sind Redende faktisch stets auf konkrete Publika bezogen. Der kognitiven Ausrichtung an einer allgemeinen Öffentlichkeit eignet demnach der Status einer regulativen Idee, die den Argumentationsentwurf bestenfalls kritisch orientiert. Sie verhindert, die persuasiven Verfahren exklusiv auf faktische Zustimmungserfolge bei einem bestimmt umrissenen Adressatenkreis abzustellen – seien diese auch durch persönliche Einsicht motiviert. Sie verlangt vielmehr, den rednerischen Erarbeitungsprozess für die Frage offen zu halten, ob dem persuasiven Anliegen auch vor anderen Publika Geltung verschafft werden könnte, ob mit ihm also eine „transsubjektive, im Prinzip universalisierbare Zustimmungsfähigkeit“ einklagbar wäre.57 Wo in Orientierung an dieser regulativen Idee der „Selbstanspruch auf Universalität“ aufrechterhalten wird, erscheinen die jeweils 55 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kopperschmidt, Überzeugungsarbeit, 27–30. 56 Mit dem Rekurs auf den Gedanken der Universalisierbarkeit als Rationalitätsmaßstab bewegt sich Kopperschmidt in Kantischer Tradition. Konkret knüpft er an Habermas’ prozeduralistische Weiterführung des Universalisierungsgedankens an, der er eine „theoriestrategische Nähe“ zu Perelmans argumentationstheoretischen Überlegungen unterstellt (vgl. Kopperschmidt, Verleumdung, 11; Ders., Resonanz, 40–44; Ders., Überzeugungsarbeit, 28f sowie vor allem Ders., Idee; Ders., Versuch). In der Tat versucht Perelman über die ‚Reichweite‘ der Hörerschaft, bezüglich welcher ein Geltungsanspruch vertreten wird, ein Vernünftigkeitskriterium zu gewinnen, das freilich nicht scharf zwischen ‚rational‘ und ‚irrational‘ zu trennen vermag, sondern beide Bestimmungen eher graduell ins Verhältnis zu setzen in der Lage ist (vgl. Ders., Logik, 92–95; Ders., Reich, 23–29; Ders./Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 35–47). Zur Idee des universellen Auditoriums in der Argumentationstheorie von Perelman und Olbrechts-Tyteca vgl. auch Eggs, Theorie, 144–154; Wohlrapp, Begriff, 365–374. 57 Vgl. Kopperschmidt, Versuch, 48. In Anlehnung an Habermas beschränkt Kopperschmidt die Universalisierungsdynamik auf den Kreis der vom Diskurs ‚Betroffenen‘ und der von ihm tangierten Interessen.
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adressierten konkreten Publika als Stellvertreter einer allgemeinen Öffentlichkeit, und erhält sich die überzeugungsinteressierte Rede die Chance auf Vernünftigkeit.58 2.2.3 Resümee: Überzeugen versus Überreden Rückblickend grenzt Kopperschmidt intentional an Veränderung interessierte sprachliche Praktiken in einem Doppelschritt ein, um zu seinem Begriff persuasiver Kommunikation zu gelangen. Diese Eingrenzung vollzieht sich primär über eine Qualifizierung des Zwecks der Persuasion, genauer der Art der Zustimmung, auf die sie zielt, und der Bedingungen, unter denen diese Art der Zustimmung wahrscheinlich wird. In einem ersten Schritt werden Persuasionen auf Akzeptanzreaktionen behaftet, die in einer subjektiven Einsicht in das kommunizierte Anliegen gründen. Persuasives Handeln stellen sie vor die Aufgabe, nach Maßgabe des Anschlussprinzips zu operieren. In einem zweiten Schritt werden Persuasionen auf Akzeptanzreaktionen behaftet, die nicht nur in einer subjektiven, sondern zugleich in einer als vernünftig ausweisbaren Einsicht gründen. Persuasives Handeln stellen sie vor die Aufgabe, nach Maßgabe eines bestimmten Verständnisses des Anschlussprinzips zu verfahren: Anschluss im Sinne einer durch die Universalisierungsmaxime orientierten und dadurch von Angleichungsvollzügen abgegrenzten Bewegungslogik. Zur Auszeichnung dieses doppelt präzisierten Persuasionskonzepts bedient sich Kopperschmidt wiederholt der Unterscheidung zwischen ‚Überzeugung‘ und ‚Überredung‘.59 Verbinden sich mit der Vorstellung des Überredet-Werdens schon umgangssprachlich Intuitionen, wonach die daraus resultierende Konvergenz nicht notwendig einem authentischen Überzeugtsein von der verhandelten Sache gleichkommt, stellt eine semantisch ausgefeiltere, epistemisch interessierte Explikation dieser Differenz auf den spezifischen Rationalitätsunterschied beider Begriffe ab. Einschlägig hierfür ist Kants Terminologie, die ‚Überzeugung‘ und ‚Überredung‘ als zwei Modi des Fürwahrhaltens im Blick auf ihren Geltungscharakter voneinander abhebt: „Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstande, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfodert. Wenn es für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdenn Überzeugung. 58 Vgl. Kopperschmidt, Versuch, 49; Ders., Überzeugungsarbeit, 28; Ders., Verleumdung, 11. 59 Vgl. stellvertretend für viele weitere mögliche Verweise Kopperschmidt, Argumentation, 115– 121; Ders., Kritik, 77ff; Ders., Methodik, 116–120; Ders., Prinzip, 81–84; Ders., Resonanz, 40– 44; Ders., Überzeugungsarbeit, 24–30. Vgl. dazu auch Hügli, Überzeugen. Eine alternative Differenzierung zwischen ‚Überzeugen‘ und ‚Überreden‘ schlägt Ortak, Persuasion, 47–89 für die Bestimmung persuasiven Sprechens vor.
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Hat es nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt. […] Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also, äußerlich, die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden“60.
Entsprechend begreift Kopperschmidt persuasive Praktiken als Überzeugungsvollzüge und grenzt sie gegen Phänomene der Überredung ab. Es ist evident, dass durch eine solche Abgrenzung ein stark normatives Moment in das Persuasionskonzept eingetragen wird. Kopperschmidt vertritt ein Rhetorikverständnis, das die Reflexion auf die Zwecke persuasiver Rede nicht einfach in die Verantwortung der sozialen Akteure stellt, sondern selbst ein normatives Raster zu begründen versucht, innerhalb dessen in struktureller Hinsicht legitime von nichtlegitimen Redezielen zu unterscheiden sind. Ein solch „hermeneutisches“ Verständnis stellt er einer als „instrumentell“ oder „sozialtechnologisch“ markierten Auffassung der Rhetorik gegenüber, der zufolge sich das rhetorische Nachdenken gegenüber der Qualität persuasiver Anliegen letztlich indifferent verhält und lediglich nach den faktischen Gelingensbedingungen erfolgreicher Zustimmungsprovokation gefragt wird.61 In Aufnahme der aristotelischen Differenzierung zwischen πρᾶξις und ποίησις bzw. Hannah Arendts Kontrastierung von ‚Handeln‘ und ‚Herstellen‘ schreibt Kopperschmidt Letzteren einen Reflexionsrahmen zu, der nicht nur Wirkungsfragen über Geltungsfragen stellt, sondern überhaupt die Eigenart kommunikativer Prozesse erzeugungstechnisch missversteht.62 Beispiele einer solchen instrumentellen Rhetorikauffassung sieht Kopperschmidt nicht nur in der antiken Sophistik, sondern auch in der primär angelsächsisch geprägten empirischen Persuasionsforschung.63 Eine Aufreihung der – sicherlich zugespitzten – Einwände, die Kopperschmidt gegenüber diesem Forschungsansatz geltend macht, vermag
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Kant, KrV, 687f (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. exemplarisch Kopperschmidt, Rhetorik, 12–17; Ders., Kritik; Ders., Sozialtechnologie. Vgl. Kopperschmidt, Rhetorik, 33–36; Aristoteles, Ethik, 1140a; Arendt, Vita, 161–317. Gemeint sind die unter A.2.1 angesprochenen, im ersten Drittel des 20. Jh. sukzessive aufkommenden Ansätze einer empirisch verfahrenden und psychologisch informierten Kommunikationswissenschaft, die sich in ihren Ursprüngen etwa mit den Namen Gordon Allport, Carl Hovland, Paul Lazarsfeld oder Harold Lasswell verbinden. Wie schon angemerkt und auch die folgende Liste der Einwände Kopperschmidts verdeutlicht, stand dieser Forschungsstrang in seinen Anfängen im Zeichen des aufkeimenden Behaviorismus, was auch manch aktuellere Publikation nicht verbergen kann – vgl. etwa Robert Cialdinis prominent gewordener Band Influence (dt.: Die Psychologie des Überzeugens) – im Licht der neueren Einsichten in die Komplexität kommunikativer Prozesse aber auch kritisiert wird (vgl. z. B. Simons/Jones, Persuasion, 210–240). Zu einem Überblick über aktuell diskutierte Modelle, Theoreme und Forschungsschwerpunkte vgl. a. a. O.; Dillard/Pfau, Handbook; Gass/Seiter, Persuasion; O’Keefe, Persuasion; Perloff, Dynamics.
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abschließend das Profil seiner eigenen Persuasions- und Rhetorikkonzeption ex negativo nochmals bündig zu umreißen:64 – Der empirischen Persuasionsforschung geht es nach Kopperschmidt nicht um den Ausweis sozialer Kommunikationsregeln, sondern um die naturwissenschaftlich inspirierte Bestimmung kommunikativer Wirkgesetze, auf deren Basis relativ sichere Prognosen über die Effekte bestimmter rednerischer Mittel möglich werden. – Wo dieses prognostische Wissen dem praktischen Gebrauch zugänglich gemacht oder bewusst anempfohlen wird, erhält die Kategorie der Wirkung poietische Züge. Rhetorische Forschungsarbeit wird dann weniger als Erhebung und reflexive Begründung von Bedingungen nur möglicher oder wahrscheinlicher Effekte begriffen. Eher suggerieren ihre Resultate im Grundsatz die Herstellbarkeit und Erzeugbarkeit kommunikativer Wirkungen. – Mit diesem Wirkungsbegriff korrespondiert (1) ein spezifisches Bild des Adressaten. Er erscheint nicht als aktiver, selbstbestimmter und gleichberechtigter Kommunikationspartner, sondern als eine Art „Akklamationsorgan“65, dessen Reaktionen den Charakter eines determinierbaren Verhaltens und nicht eines sinnhaften Handelns besitzen. – Mit diesem Wirkungsbegriff korrespondiert (2) ein spezifisches Bild der Rednerin. Sie erscheint als handlungsmächtige Akteurin, der es primär um die erfolgreiche Durchsetzung eines vor Kommunikationseintritt feststehenden Anliegens geht. Ihre Vernünftigkeit besteht in der zweckrationalen Erkundung der für die Realisierung ihres Anliegens günstigen Strategien und Mittel, nicht in der geltungsinteressierten Reflexion auf die Legitimität dieses Anliegens selbst, die sich gegenüber möglichen Einwänden der Kommunikationspartner offen und irritierbar zeigt und damit den Kommunikationsprozess selbst als Chance gesteigerter Erkenntnisbildung interpretieren kann. – Insofern korrespondiert mit diesem Wirkungsbegriff (3) auch ein spezifisches Bild von Sprache. Sie kommt als „Instrument der Verhaltenssteuerung“ in Betracht, nicht als „Medium der Verständigung“.66 – Insgesamt erscheinen Kommunikationen dadurch als asymmetrisch strukturierte, unidirektionale Verläufe. In Anlehnung an das klassische StimulusResponse-Modell produzieren rednerische Akteure mittels sprachlicher Zeichen Reize, denen die Angesprochenen letztlich unmittelbar ausgesetzt sind und darauf stimulusadäquat reagieren. – Zuletzt erlaubt dieser Forschungsansatz keine normativ begründete Kritik an den Zielen persuasiver Rede. Die Frage nach der Wirkung, dem Erfolg, der 64 Vgl. zum Folgenden Kopperschmidt, Kritik, 69–72. 65 Ortak, Persuasion, 32. 66 Vgl. Kopperschmidt, Kritik, 77.
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Durchsetzung wird von der Frage nach der Geltung, Wahrheit oder Rationalität abgekoppelt.
2.3
Rhetorik als Theorie persuasiver Praxis nach Joachim Knape
Analog zu Kopperschmidt zielen auch die Überlegungen Knapes auf eine Auszeichnung der differenziellen Struktur des rhetorischen Reflexionsansatzes. Sosehr Rhetorik Kommunikationen und präziser sprachliche Kommunikationen bedenkt, sowenig ist sie einer generellen Kommunikationstheorie oder Sprachwissenschaft gleichzusetzen. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf einen besonderen Fall kommunikativ funktionalisierter Sprache, den Knape definitorisch als den „rhetorischen Fall“67 festlegt. Er besteht im Kern in einem persuasiven Vollzug und qualifiziert die Rhetorik als eine „ars persuadendi“.68 Die folgende Rekonstruktion wird zeigen, dass Knapes Zugriff auf das Phänomen der Persuasion von Kopperschmidts Ansatz abweicht und einen alternativen persuasionstheoretischen Zugang offeriert. 2.3.1 Oratorzentriertheit Eine richtungweisende Differenz offenbart schon der Ansatzpunkt, den Knape zur Qualifizierung des ‚rhetorischen Falls‘ wählt. Er nimmt die persuasive Situation streng vom kommunizierenden Subjekt her in den Blick: Der Redner ist der „archimedische Punkt der Rhetoriktheorie“, die „Oratorperspektive“ ihre „maßgebliche Zentralperspektive“.69 Der Orator wird dabei als absichtsvoll 67 Vgl. exemplarisch Knape, Rhetorik, 64; Ders., Fallacies, 23–35. 68 Vgl. Knape, Persuasion, 877; Ders., Rhetorica, 23; Ders., Rhetoric, 5. „Von Rhetorik kann man nur sprechen, wenn ein Persuasionsvorgang gegeben ist. Das Persuasionskriterium erlaubt den rhetorischen Fall unter den zahlreichen möglichen Betrachtungsweisen menschlicher Kommunikation zu isolieren“ (Ders., Gewalt, 75). Die Bestimmung dieses ‚Falls‘ ist dabei nicht essentialistisch misszuverstehen. Er ist nicht auf einen bestimmten Sektor lebensweltlicher Kommunikationsereignisse beschränkt, sondern erlaubt die spezifisch rhetorisch perspektivierte Reflexion auch prima facie ‚nichtrhetorischer‘ kultureller Größen wie Musik, Bild oder Film (vgl. Ders., Rhetoric, 16f). Zu einem ähnlichen Ansatz einer in sich streng konturierten Perspektive, die gleichwohl auf eine Vielzahl kommunikativer Phänomene angewendet werden kann, vgl. auch Simons/Jones, Persuasion, 76–117. 69 Knape, Rhetorik, 33.35. Rhetorik reflektiert auf die kommunikative Welt „sub specie oratoris“ (a. a. O., 69). Vgl. dazu auch Ders., Orator, 49; Ders., Rhetoric, 4; Ders., Stationen, 15. Dabei bezeichnet der Begriff des Orators zunächst einmal nicht einfach bestimmte lebensweltlich agierende Personen, sondern markiert ein „theoretisches Konstrukt“, das im Gespräch mit unterschiedlichen Disziplinen auszubuchstabieren ist und erst dann tentativ konkreten sozialen Akteuren zugeschrieben werden kann mit dem Ziel, die Situation, in die sie handlungsmäßig involviert sind, rhetorisch zu erschließen (vgl. Ders., Rhetorik, 33). Zu einer
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handelnder Akteur verstanden, wodurch Kommunikationsverhältnisse im Licht der Rhetorik als entschieden teleologisch strukturierte Konstellationen erscheinen. In ihrem Zentrum steht ein Sprecher, der mittels kommunikativer Verfahren versucht, ein Ziel zu erreichen, für das er sich affektiv-kognitiv eingenommen weiß und an dessen Erreichen ihm daher subjektiv liegt. Dieser auch bei Kopperschmidt angemerkte intentionale Aufbau der persuasiven Situation erfährt bei Knape dahingehend eine variierende Ausprägung als er den Zweckbezug einer Rede nicht über den Modus der Zielrealisierung aufseiten der Zuhörerschaft reflektiert, sondern konsequent produktionstheoretisch verhandelt. Das Telos, das der Orator verfolgt, bestimmt Knape über den Begriff des „Zertums“. Obwohl dessen Bestimmung im Letzten etwas vage bleibt, birgt er mindestens zwei belangvolle Pointen. Das Zertum bedeutet eine inhaltlich irgendwie geartete „feste, innere Überzeugung“ im Sinne einer subjektiven „Gewissheit“, aus der sich ein Geltungsanspruch speist, der dem Orator berechtigt erscheint und den er daher sozial zu etablieren sucht.70 Das Zertum bildet damit die Voraussetzung, um persuasiv tätig zu werden. Die Frage nach der ‚Wahrheit‘ oder ‚Richtigkeit‘ eines Sachverhalts hat sich für den Sprecher schon vor Kommunikationseintritt hinreichend geklärt – wobei ‚hinreichend‘ meint, dass er im Kontext einer bestimmten Problemlage zu einer Auffassung gelangt ist, die für ihn persönlich so plausibel erscheint, dass er sich in die Lage versetzt fühlt, dafür überredend-überzeugend einstehen zu können oder zu müssen. Die Frage nach der Genese dieser Gewissheit klammert Knape aus dem Gegenstandsbereich der Rhetorik aus. Das rhetorische Erkenntnisinteresse setzt erst dort ein, wo sich eine solche Gewissheit bereits ausgebildet hat und ein Akteur auf ihrer Basis persuasiv in seine Mitwelt zu intervenieren versucht. Damit erhält Rhetorik einen eminent instrumentellen Zug. Ihr geht es um die Reflexion der Vermittlung einer Einsicht, nicht ihrer Ermittlung.71 Folglich müssen auch die Handlungsaspekte des Strategischen und Taktischen eine Aufwertung erfahren; zumindest erscheinen sie nicht als Pejorativa.72 Persuasionen sind keine skriptbasierten Praktiken. Der ‚rhetorische Fall‘ setzt die Störung eingeübter Kommunikationszüge voraus, wodurch Persuasionen mit einem gesteigerten Reflexionsniveau einhergehen, das sich in vorbereitenden
Fokussierung des Redners als maßgebliche Instanz persuasiver Praxis vgl. auch Robling, Redner. 70 Vgl. Knape, Rhetorik, 76f; Ders., Orator, 50; Ders., Predigt, 47. 71 Die Frage nach der Geltung ist auf Rednerseite geklärt. Dem Redner geht es mit Eintritt in das Kommunikationsgeschehen nicht um die Findung von ‚Wahrheit‘ und ‚Richtigkeit‘, sondern um ihre Rechtfertigung und Plausibilisierung vor anderen. Entsprechend spricht Knape auch von einem „hermeneutische[n] Missverständnis“ der Rhetorik (vgl. Ders., Predigt, 46f). 72 Vgl. Knape u. a., Strategie; ferner Ortak, Persuasion, 246–251.
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Kalkulationen äußert.73 In dieser Entwurfsphase bezeichnet der Begriff der Strategie die Ausarbeitung einer Art „Gesamtplan“74, der in Berücksichtigung aller situativ relevanten Einflussfaktoren die mutmaßlich zweckadäquaten Kommunikationsverfahren eruiert und in ein rednerisches Vollzugskonzept überführt. Demgegenüber bezeichnet der Begriff der Taktik Überlegungen, die im Kommunikationsverlauf selbst unternommen werden, um auf strategisch nicht vorhergesehene Verhalte zu reagieren. Auch Taktiken gehören damit der Planungs- und nicht der Umsetzungsebene an, nur dass sie nach und nicht vor Kommunikationseintritt unternommen werden. Sie bilden sozusagen ‚Minikalkulationen‘, mit denen der Gesamtplan im Zusammenhang seiner Umsetzung spontan auf das situative Geschehen angepasst wird.75 Sodann verweist der Gedanke des Zertums auf das spezifische Verhältnis, das ein Sprecher zu seinem persuasiven Ziel einnimmt. Der Zertumsbegriff legt nahe, dass persuasive Kommunikationen keine ‚Scheindiskurse‘ darstellen, auf authentischen Bestrebungen beruhen. In ihnen geht es um die Vermittlung von Sichtweisen, die von den jeweiligen Sprechern persönlich geteilt werden, die sie vor dem Hintergrund ihres situativ zugänglichen Wissensvorrats für wahr und richtig und insofern persuasionswürdig halten. Kontrastiv zuspitzend formuliert: Während Kopperschmidt die persönliche Einsicht, das subjektive Plausibilitätsempfinden aufseiten der Adressaten, zu einem zentralen persuasionstheoretischen Konzeptionsmoment erklärt, organisiert es im Ansatz von Knape auf Produzentenseite die Persuasionsauffassung mit. Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass mit der Akzentuierung der Senderperspektive ein bestimmtes Bild des Orators einhergeht. Knape begreift ihn als ein erfolgsorientiertes Subjekt, das auf Basis einer detaillierten Situationsanalyse in zweckrationaler Einstellung ein strategisches Gesamtkonzept entwirft und taktische Minikalkulationen vornimmt, mit deren Hilfe er kommunikative Mittel festlegt, um einem als subjektiv plausibel gewerteten Anliegen soziale Akzeptanz zu verschaffen. Mit Knapes Profilierung des Orators liegt eine ‚starke‘ Subjektkonzeption vor.76 In der Rolle des Orators erscheint das Subjekt im Wortsinn als sozialer Akteur: weniger als ein ‚Produkt bedingender Strukturen‘, denn als ein reflektiert agierender Träger von Intentionen, die er kalkulierend umzusetzen versucht, um gestaltend auf seine Mitwelt Einfluss zu gewinnen und „unter den determinierenden Bedingungen der Welt durch Ausagieren kom-
73 Vgl. Knape, Fallacies, 29; Ders., Persuasion, 875f. 74 Knape u. a., Strategie, 154. 75 In der Terminologie von Fischer-Lichte gehört das Strategische der Phase der Inszenierung an, während das Taktische inszenatorische Momente im Verlauf der Aufführung beschreibt (vgl. C.3.2.2). 76 Vgl. Oesterreich, Selbsterfindung, 90f.
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munikativer Handlungsmacht wenigstens für einen Moment informationelle Souveränität zu erlangen.“77 Der Verweis auf die Akzentuierung der Oratorinstanz ist dahingehend zu präzisieren, dass sie bei Knape nicht zu einer simplifizierenden Sicht auf persuasive Ereignisse führt. Ihm ist es darum zu tun, die rhetorische Theoriebildung für die Mannigfaltigkeit der persuasionsrelevanten Faktoren sensibel zu halten. Exemplarisch zeigt dies der Aufbau seines Rhetorikentwurfs, der nach grundsätzlicher gehaltenen Klärungen die Reflexionsperspektiven der Situation („Kasualrhetorik“), des Mediums („Medialrhetorik“) sowie des Textes („Textrhetorik“) entfaltet. Dabei fragt die Kasualrhetorik nach den „konkreten rhetorischen Handlungsbedingungen“78 – mithin der komplex bestimmten Situation des Persuasionsvollzugs, zu dessen wichtigsten ‚Komponenten‘ das Publikum gehört. Aber auch alle weiteren situativen Faktoren sind in Betracht zu ziehen: so etwa die Kommunikationstopographie, der temporale Zusammenhang, das institutionelle Setting u. a.m. Im Blick auf diese Umstände erscheint der Redner als „Hermeneut“, der „zunächst einmal sein Verstehen der praktischen Lage sichern muss“:79 sowohl der personalen Aspekte wie den Bedeutungsregimen, Stimmungsmustern und Erwartungsstrukturen der Adressaten als auch der nichtpersonalen Faktoren des „kommunikativen Settings“80. Demgegenüber rückt in den medium- und textbezogenen Perspektiven das kommunikative Instrumentarium des Redners in den Fokus. Im Blick auf die medialen Konstituenten persuasiver Praktiken hebt Knape drei Ebenen voneinander ab.81 Während „primärmediale“ Kommunikationen auf ‚leiblicher Ko-Präsenz‘ beruhen und damit den unter C.3.2.1 beschriebenen Aufführungsbedingungen unterliegen,82 reduziert sich die perzeptive Präsenz des Redners in „sekundärmedialen“ Kommunikationen auf Visualität und Auditivität. „Tertiärmediale“ Kommunikationen spitzen diese Reduktionsbewegung
77 Knape, Rhetorik, 76; ferner a. a. O., 33: „Rhetorik ist die kommunikative Möglichkeit des Menschen, einem von ihm als berechtigt angesehen Anliegen […] soziale Geltung zu verschaffen und sich selbst damit, wenigstens im Moment des kommunikativen Erfolgs, aus sozialer Determination zu befreien. Rhetorik war von Beginn an der Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, und der rhetorische Imperativ lautet: Perorare aude. – Habe Mut, dich deiner eigenen Ausdrucksfähigkeit offen zu bedienen!“ (Hervorhebung i. Orig.) 78 Knape, Rhetorik, 87. Vgl. zum Folgenden a. a. O., 87ff. 79 Knape, Rhetorik, 87. Vgl. dazu im Blick auf die antike Rhetorik auch Hetzel, Wirksamkeit, 238f: „Die antiken Rhetoriker tragen dem Stellenwert, den sie dem Hier und Jetzt geben, dadurch Rechnung, dass sie eine komplexe Situationsphänomenologie entfalten. Wer überzeugend sprechen will, muss zunächst die Situation verstehen, aus der heraus und in die hinein er spricht.“ 80 Knape, Rhetorik, 86. 81 Vgl. zum Folgenden Knape, Rhetorik, 90–106. 82 Eine rhetoriktheoretische Konturierung der Performanzvorstellung versucht Knape in Ders., Performanz. Vgl. dazu auch Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 128–132.
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schließlich „auf ein einziges semiotisches System“83 zu, sofern der Redner nur noch über seinen schriftlichen Ausdruck rezipierbar wird. Die Textrhetorik schließlich fokussiert die in einem bestimmten Medium vollzogenen, primär sprachlichen Ausdrucksprozeduren und damit alle „informationellen, textlinguistischen und ästhetischen Phänomene, insbesondere auch die stilistischen.“84 Der Orator ist dabei auf die schon klassisch verhandelte Frage verwiesen, wie er die mit einer bestimmten Kultur vorgegebenen syntaktischen, dispositionellen und elokutionären Optionen für die Erzeugung von Bedeutungen und der Kennzeichnung ihrer pragmatischen Rolle nutzbar zu machen vermag.
Im Licht dieser Reflexionsperspektiven tritt das persuasive Handeln des Redners als ein komplex bestimmtes zum Vorschein. Er agiert nicht in einem ungebundenen Raum, sondern unter diversen Bedingungen, die aus den Instanzen der Situation, des Mediums und des Textes mit ihren jeweiligen Eigenlogiken resultieren. Im Gegensatz zu allgemein ansetzenden kommunikations- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen treten diese Bedingungen unter rhetorischen Gesichtspunkten jedoch nicht an und für sich in Betracht, sondern in einer dezidiert funktionalen Perspektivierung. Sie werden im Blick auf ihre persuasive Rolle thematisch und damit im Blick auf die Frage, welche Chancen und Grenzen sie für die Realisierung des oratorischen Anliegens besitzen. Diese funktionale Hinordnung auf die Intention der Rednerin zeigt sich prägnant darin, dass Knape die situativen, medialen und textuellen Konstituenten als „Widerstände“ interpretiert.85 Sie werden nicht ‚neutral‘ als Kommunikationsfaktoren betrachtet, sondern vom Standpunkt des persuasiv engagierten Orators aus gedeutet. So besehen stehen sie seiner Selbstbehauptungsdynamik ‚entgegen‘ und sind als solche in sein Wirkungskalkül reflexiv miteinzubeziehen. Durch die Wahrnehmung dieser ‚Widerstände‘ muss der dabei vorausgesetzte Wirkungsbegriff deutlich von den behavioristisch geprägten Konzeptionen der früheren Persuasionsforschung abweichen. Die Wirkung von Kommunikationen kann nicht einfach monokausal auf intentional gesetzte Stimuli zurückgeführt werden, sondern bestimmt sich über das verzweigte Netz der situativen, medialen und textuellen Faktoren mit. Besonders die nach dem klassischen Modell lediglich als ‚Receiver‘ vorgestellte Instanz der Adressaten ist gemäß aktueller kommunikationswissenschaftlicher Einsicht weitaus komplexer zu fassen: als eine in kommunikative Verläufe stets aktiv eingebundene, Bedeutungen mitgenerierende und überhaupt auf Basis eigener Deutungs- und Stimmungsmuster prozessierende Größe. Damit vollzieht sich auch „rhetorische Wirkung […] nicht 83 Knape, Rhetorik, 102. 84 Knape, Rhetorik, 108. Vgl. zum Folgenden a. a. O., 107–135. ‚Text‘ wird dabei semiotisch nicht auf schriftliche Medien reduziert, sondern im weiteren Sinne auf alle Verfahren der Bedeutungsinstanziierung bezogen. 85 Vgl. Knape, Rhetoric, 7ff; Ders., Rhetorik, 58–63.
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nach Art simpler physikalischer Hebelwirkung“86. Vielmehr sind einwegorientierte und von einer gewissen Unmittelbarkeit ausgehende Effektivitätsannahmen zugunsten interaktionaler und multifaktoriell sensibler Modelle zu ersetzen. Für eine produktionsorientierte und an ihrem Wirkungsinteresse festhaltende Disziplin wie die der Rhetorik schlägt Knape daher ein kompetenzlogisches Selbstkonzept vor. Ihr geht es nicht um die naturwissenschaftsanaloge Aufdeckung von Kausalitäten und Gesetzmäßigkeiten, auf deren Grundlage die Vermittlung eines sicheren Wissens um effektive Kommunikationsstrategien anheben könnte, das die Praxissubjekte nur noch anzuwenden brauchten. Rhetorisches Wissen besitzt vielmehr den „Charakter eines Möglichkeitswissens“87. Durch empirische Beobachtung und theoretische Reflexion erarbeitet sie lediglich Effektivitätspotenziale, die durch die lebensweltlichen Akteure auf Basis eigener Überlegung kreativ umzusetzen sind. Ihr dabei konkret entwickeltes Wirkungskalkül ist immer nur ein „Wahrscheinlichkeitskalkül[-]“88. Insofern knüpft Knape an die von Aristoteles vorgenommene Bestimmung der Rhetorik als Untersuchungsinstanz des „möglicherweise Glaubenerweckende[n]“89 an. Was sie „an Prinzipien, Regeln, Maßgaben und Strukturmodellen“ ableitet, „muß als Theorieangebot an den Orator für kommunikative Problemlösungen in der Welt kontingenter Situationen angesehen werden.“90 Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass Knapes streng senderorientierter Persuasionsansatz zwar ein ‚starkes‘ Bild rhetorischer Subjektivität impliziert, dem nach Maßgabe der zentralen Stellung, die der Gedanke der Intentionalität einnimmt, ein instrumentell ausgerichtetes Verständnis von Sprache und überhaupt aller persuasionsrelevanter Faktoren korrespondiert, damit aber gerade kein reduktionistischer Wirkungsbegriff nach Art eines „naiven sozialtechnologischen Glauben[s] [als eines] Glauben[s] an schlichte Stimulus-ResponseMechaniken“91 einhergeht, sondern die Komplexität persuasiver Prozesse gewahrt bleibt. 86 Knape, Rhetorik, 90. „Kommunikation ist immer wechselseitig, und der kommunikative Impuls des Senders hat im Kommunikationsvorgang am Ende immer genau die Wertigkeit, die ihm die Reaktion des Empfängers einräumt“ (a. a. O., 91, Anm. 2). Zur Kritik an behavioristisch geprägten Persuasionszugängen vgl. auch Ders., Persuasion, 880–884. 87 Vgl. Knape, Persuasion, 885. In der Sphäre sozialer Kommunikation stellen „[n]aturwissenschaftliche Vorstellungen von Kausalität und Gesetzmäßigkeit“ einen „nomothetischen Irrtum“ dar (vgl. ebd.). 88 Knape, Persuasion, 885. 89 Aristoteles, Rhetorik, 1355b (Hervorhebung M.S.). Paraphrasierend dazu Heidegger, Grundbegriffe, 117: Rhetorik ist „die ‚Möglichkeit zu sehen‘, und zwar zu sehen περὶ ἕκαστον, jeweils in dem, was sich gerade in einer bestimmten Situation des Miteinanders bietet, dasjenige, was für eine Sache, die gerade zur Verhandlung steht, die im Gespräch ist, spricht.“ 90 Knape, Persuasion, 885. 91 Knape, Rhetorica, 25.
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2.3.2 Transformativität Das persuasive Geschehen selbst interpretiert Knape ähnlich wie Kopperschmidt als transformatives Geschehen. Es gehört zum Genre der „Beeinflussung“ im Sinne von „kommunikative[n] Handlungen, die auf Änderung von Verhältnissen irgendwelcher Art gerichtet sind“.92 Genauerhin zielt der persuasive Modus der Beeinflussung auf einen „Standpunktwechsel“93. Damit sind Änderungen angesprochen, die nicht in einer bloßen Modifikation des Informationsstandes einer Person bestehen. Die lediglich quantitative „Zunahme, Abnahme oder Umschichtung von Wissen“ markiert für Knape noch keine persuasive Situation; erforderlich ist dafür eine Modifikation des Verhältnisses, das ein Subjekt zu bestehendem oder neuem Wissen unterhält. Es geht um Transformationen in Bezug auf Urteile.94 Diese können in eher kurzfristigen ‚Meinungen‘ bestehen, in längerfristig virulenten ‚Haltungen‘ resp. ‚Einstellungen‘ oder in praktischen ‚Handlungen‘ zum Ausdruck kommen.95 Neben der Frage nach dem anthropologischen Bezugsbereich persuasiver Praxis geht Knape auf ihre temporale Dimension näher ein. War bisher häufiger und in einem terminologisch unambitionierten Sinn von persuasiven ‚Prozessen‘ die Rede, hält Knape dazu an, zwischen ‚Persuasionsereignis‘ und ‚Persuasionsprozess‘ analytisch zu unterscheiden.96 Dabei eröffnet die prozessuale Perspektive einen Blickwinkel, in dem der Vorschlag von Seel, auch Erfahrungen der Vertiefung und Vergewisserung als transformative Phänomene zu interpretieren, gestützt wird. Sobald Persuasion nicht nur im Sinne eines punktuellen Einzelkommunikationszusammenhangs verstanden, sondern zeitlich zerdehnt als Serie von mehreren Kommunikationsereignissen begriffen wird, muss ihre transformative Eigenart komplexer gedacht werden. So zielen beispielsweise längerfristige Marketingkampagnen nicht einfach auf einen Standpunktwechsel,
92 Vgl. Knape, Gewalt, 61.75, hier 61. 93 Knape, Persuasion, 874; ferner Ders., Predigt, 29.43; Ders., Zwang, 56. 94 Vgl. Knape, Persuasion, 874f, hier 875. Die Urteilskategorien sind dabei divers: „etwas ist so und nicht anders“, „wahr/falsch“, „wahrscheinlich/unwahrscheinlich“, „gut/schlecht“, „schön/häßlich“, „gilt/gilt nicht“, „zu lieben/zu hassen“, „zu tun/nicht zu tun“ (ebd.). Vgl. dazu auch Simons/Jones, Persuasion, 23f. 95 Wie unter D.2.2.1 gezeigt ist der Bezug auf (konkrete) Handlungen für Persuasionen nicht konstitutiv. „Der nach dem mentalen Wechsel auftretende Zustand der Gewißheit kann, muß aber nicht notwendig eine Verhaltensänderung […] nach sich ziehen“ (Knape, Persuasion, 875). Eine Differenzierung des Gegenstandsbereichs persuasiver Transformationen nach dem Schema opinion/attitude/behaviour – auch verbunden mit anderen Terminologien wie belief, value oder action – gibt innerhalb der Persuasionsforschung einen etablierten und breit diskutierten Theoriesektor, wobei dem Einstellungsbegriff eine gewisse Zentralstellung zukommt. Vgl. dazu exemplarisch Perloff, Dynamics, 40–122; Shavitt/Nelson, Role; Simons/ Jones, Persuasion, 39–75. 96 Vgl. Knape, Persuasion, 876f; Ders., Zwang, 58–67.
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sondern auf eine Standpunktbekräftigung im Sinne einer Stärkung der Bindung an eine einmal getroffene Entscheidung oder der Ausräumung potenziell aufkommender Bedenken. Die Pointe der Überlegungen Knapes besteht darin, dass diese Bekräftigungsabsichten das transformative Verständnis persuasiver Praxis nicht sprengen, sondern in dieses integrierbar sind. Dazu bedient er sich des Duals von ‚Gewissheit‘ und ‚Zweifel‘: Persuasive Praxis hat grundsätzlich das „Ziel, einen Bewußtseinszustand der Ungewißheit oder des Zweifels (Dubium) […] in einen Bewußtseinszustand der Gewißheit (Certum) zu überführen. Auf einen langen Zeitraum bezogen heißt dies, daß permanente P[ersuasion] mit einer Kette auftretender Zweifel zu kämpfen hat, die immer wieder in neue Gewißheiten und das heißt zugleich in erneuerte stabile Bindung überführt werden müssen.“97
Insofern sind Vergewisserungsprozesse als Veränderungsprozesse lesbar. Indem sie makroperspektivisch in die Grunddynamik von Ungewissheit zu Gewissheit eingespannt sind, kann den Erfahrungen, die wir in der Vertiefung einer Meinung, der Bekräftigung einer Haltung oder der Festigung eines Verhaltensmusters machen, ein transformatives Moment zugeschrieben werden. Eine solche Betrachtungsweise impliziert vier weitere Gesichtspunkte. Erstens kann Knape den Gedanken permanenter Persuasion auch gesellschafts- bzw. kulturtheoretisch einbetten. Gerade eine liberal verfasste Gesellschaft fordert auf Dauer gestellte Überzeugungspraktiken. Da hier soziale Bindungen, aber etwa auch Wertbindungen, nicht oder nur kaum organisatorisch reglementierbar sind, bedürfen sie der wiederholten Plausibilisierung. Dies gilt umso mehr, als der Abbau institutioneller Regulative Pluralisierungsdynamiken freisetzt, die einmal eingegangene Bindungen mit einem ständigen Konkurrenzangebot konfrontieren. Insofern motiviert ein liberal organisiertes und plural strukturiertes Gemeinwesen die Perpetuierung persuasiver Praxis und damit eine Verquickung von Wechsel- und Bekräftigungsdynamiken.98 Rednerbezogen drückt sich ein solches Gemeinwesen in einer Pluralisierung der Besetzung der Oratorrolle aus. Im Sinne der ‚Meinungsfreiheit‘ steht prinzipiell jedem Mitglied das Recht zu, den ihm gewiss gewordenen Sinn in sein Gemeinwesen persuasiv einzuspielen. Die Ermöglichung einer „rotierende[n] oder zirkulär wechselnde[n] Übernahme der Oratorrolle“ gehört in normativer Hinsicht zu den Definitionsmerk97 Knape, Persuasion, 877. 98 Vgl. Knape, Zwang, 58–67. Beschränkt auf die Frage argumentativer Plausibilisierung erkennt analog auch Kopperschmidt in dem durch Pluralisierungsprozesse evozierten ‚Zwang zur Häresie‘ die soziokulturelle Basis für die Revitalisierung des Interesses an argumentationstheoretischen Überlegungen. Denn – so Kopperschmidt lapidar: „Je mehr Optionen, desto mehr argumentativer Entscheidungs- und Rechtfertigungsbedarf“ (Ders., Argumentationstheorie, 22–33, hier 23). Was Knape und Kopperschmidt hier im Blick auf rhetorische Prozesse andeuten, wird in Teil E religionssoziologisch präziser entfaltet und auf (sozial-)psychologische Konsequenzen hin genauer zu beschreiben versucht.
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malen freiheitlicher Gesellschaften bzw. ihr Faktum in deskriptiver Hinsicht zur Realität pluraler Lebenskontexte.99
Die prozessuale Perspektive auf Persuasion stellt damit zweitens noch markanter als ein auf Einzelkommunikationen konzentrierter Ansatz heraus, dass unsere Urteile nicht einfach nachträglich in die kommunikative Welt eingespeiste Repräsentationen substanziell verankerter Lebensinteressen sind. Analog zu Latours Verständnis religiöser Selbstverhältnisse (vgl. A.1.3) bestehen sie vielmehr in Kommunikationen. Wie wir uns und unsere Welt sehen, was unsere Lebensführung motiviert und ihr Sinn und Richtung verleiht, drückt sich nicht nur in Kommunikationen aus, sondern resultiert auch aus ihnen. ‚Meinungen‘, ‚Ansichten‘, ‚Einstellungen‘, ‚Haltungen‘, ‚Pläne‘, ‚Projekte‘, mithin ‚Überzeugungen‘ sind kommunikative Begriffe, wodurch sie einen dynamischen Zug erhalten. Sie sind nicht einfach fix, sondern abhängig von kommunikativen Vergewisserungs- und Destabilisierungprozessen. Dabei hält die rhetorische Betrachtung dazu an, diese Kommunikationen nicht als neutrale Wissenzirkulationen zu interpretieren. Sie sind stets auch als ein agonal strukturierter Austausch engagierter Subjekte in den Blick zu nehmen, denen an ihrem Weltzugang persönlich liegt und die daher im Sinne der Selbstbehauptung andere mindestens von der Anerkennungswürdigkeit ihres Weltzugangs zu überzeugen versuchen.100 Dadurch gibt sich drittens auch die Kategorie der Akzeptanz als ein bewegliches Phänomen zu verstehen. Die situative Zustimmung zu einem Diskursbeitrag ist nicht als ein temporales Absolutum misszudeuten, sondern punktueller Ausdruck einer komplexeren Erfahrungsgeschichte, die auf vorgängigem Erleben aufruht und in nachgängigen Erfahrungen mit sich, der Mit- und Umwelt „Verifikationsproben“101 untersteht. Analog unterscheidet Harald Wohlrapp eine durch einen Einzelkommunikationsakt gewonnene Einsicht von einem „Begreifen“, das „vom Fühlen, Erleben und dessen Verarbeitung“ belebt ist; die Einsicht markiert als „ein neues, und junges Verstehen“ lediglich einen „Anfang“, der sich „[t]ypischerweise […] richtig und bereichernd an[fühlt]“, sich im Kontext anschließender Lebensführung aber allererst zu einer tiefer verwurzelten und bewährten Orientierung auswachsen muss – oder aber restrukturiert oder gänzlich obsolet wird.102 99 Vgl. Knape, Rhetorik, 81–86, hier 82. 100 In diesem Sinne erkennt Knape in rhetorischer Praxis „einen der großen Bewegungsfaktoren der Kultur“ (Ders., Rhetorik, 82; vgl. auch Ders., Orator, 52). Im Medium persuasiver Kommunikation bilden sich individuelle und soziale Bedeutungen, werden kritisch angefragte oder brüchig gewordene Orientierungen bekräftigend zu verteidigen gesucht, aber auch „neue Geschichten“ begonnen, um von der „Last alter Erzählungen“ zu befreien (vgl. Hetzel, Wirksamkeit, 9). 101 Knape, Zwang, 61. 102 Vgl. Wohlrapp, Begriff, 145.341, hier 341.
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Viertens tritt mit der Ausdeutung persuasiver Transformation als Vergewisserungsdynamik nochmals das unter B.2.4 kritiktheoretisch ausgewiesene Verhältnis von Positivität und Negativität zum Vorschein. Sofern sich Überzeugungsprozesse zwischen zwei Polen – Dubium und Zertum – bewegen, ergeben sich daraus formal besehen zwei grundsätzliche Gestaltungsvarianten. So können Praktiken der Vergewisserung ‚negativ‘ bei der Entkräftigung von ‚Zweifeln‘ oder ‚positiv‘ bei der Bekräftigung von ‚Gewissheit‘ ansetzen. Vom Standpunkt der Vergewisserungserfahrung aus dürften beide auf operationaler Ebene analytisch zu unterscheidende Dimensionen freilich als in sich vielfältig verschlungen erlebt werden, da sie resultativ auf denselben Effekt ausgerichtet sind und sowohl die Entkräftigung eines ‚Dagegen‘ bekräftigende Reflexe als auch umgekehrt die Bekräftigung eines ‚Dafür‘ entkräftigende Reflexe auszulösen vermag. 2.3.3 Modale Strukturen persuasiver Praxis Im Gegensatz zu Kopperschmidt pocht Knape in der genaueren Beschreibung der Persuasionsverfahren nicht auf den Primat des Argumentativen. Die Bekräftigung eines Standpunktes ist nicht auf ‚Pro‘-Argumentationen zu fokussieren, genauso wenig wie die Entkräftigung eines Standpunktes in ‚Contra‘Argumentationen aufgeht. Zweifelsohne stellt das auf unsere dezidiert rationalen Vermögen abgestellte λόγον διδόναι eine zentrale persuasive Technik dar. Das Geschehen der Überzeugung ist aber bewusst auch für andere mögliche Persuasionsmittel offen zu halten. „Persuasionstheoretisch gesehen steht das sachliche Argumentieren nicht ohne weiteres in der Hierarchie der rhetorischen Essentials voran. Jede einseitige Überbetonung der argumentativen Rationalität nimmt zu wenig Rücksicht auf die kommunikative Wirklichkeit. Selbstverständlich bleibt die rational ausgefeilte Argumentation die stabilste und hilfreichste kognitive Brücke zwischen Orator und Auditorium. Und wenn das Argumentieren zum rhetorischen Zug kommt, muss man darauf die größte Sorgfalt verwenden. Die hohe Gewichtung aller übrigen Kommunikationsfaktoren bleibt aber dennoch ein Gebot für jeden Orator.“103
Wie das Zitat zeigt, wendet sich Knape gegen eine Verabsolutierung des argumentativen Persuasionsmodus mit dem Hinweis auf die Empirie der Kommunikation. In erkennbarer Distanzierung von Habermas’ diskursethischen Über-
103 Knape, Rhetorik, 99f; vgl. dazu ferner Ders., Kommunikation, 176f; Ders., Persuasion, 874; Ders., Zwang, 57: „Die persuasiven Mittel sind die große kommunikative Variable, denn ihre Arten und Mengen sind unbegrenzt. […] Die Argumentation im engeren Sinn, also der Versuch, Gründe auf rationalem Weg zur Geltung zu bringen, ist dabei nur eines der unendlich vielen rhetorischen Überzeugungsmittel.“
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legungen behaftet er das rhetorische Projekt auf die lebensweltlich konkreten Persuasionsakte mit ihren pluralen Bedingtheitsdimensionen: „Für Rhetorik gibt es grundsätzlich keine ideal bereinigten Kommunikationssituationen. Wir müssen uns prinzipiell-methodisch den rauhen Kommunikationsrealitäten stellen. Wir müssen immer von der psychischen Verfaßtheit der konkreten Menschen ausgehen, der biologischen und sozialen Bedingtheit, unserem kommunikativen Ausgeliefertsein an die anderen Menschen, an die Welt der Zeichen, über die allein wir nur kommunizieren können, an die Muttersprache, die uns spricht, weil kein Mensch sie wählen kann, und an die weiteren, später erworbenen Sprachen. In der Welt konkreter Kommunikation ist die Persuasion zu Hause, und sie ist unvermeidlich. Rhetoriker wissen: Schon ein einziges zu lautes Wort kann die Zwanglosigkeit des besseren Arguments beim Gegenüber in einen Zwang zum Widerstand verwandeln. Und was ist, wenn einer immer nur zu laut oder immer nur zu leise spricht oder immer ungeschickt schreibt, obwohl er gute Argumente hat?“104
An diese Einholung der argumentativen Prozeduren in das situativ, medial und textuell bestimmte Universum des Walzerschen real talk knüpft sich eine Herauslösung der Persuasionsauffassung aus einem geltungstheoretischen Rahmen. Knape stellt das Konzept der Persuasion nicht auf einen philosophisch ambitionierten Begriff vernünftiger Verständigung ab. Interessiert an den konkreten Praktiken kommunikativer Einflussnahme würde eine normativ auf das Universalisierungsprinzip oder andere geltungskriteriologische Maßstäbe ausgerichtete Persuasionsauffassung den Gegenstandsbereich des Rhetorischen über Gebühr beschneiden. Folglich sei auch eine Unterscheidung zwischen ‚Überzeugung‘ und ‚Überredung‘ hinfällig.105 Vollzieht Knape damit Kopperschmidts zweiten persuasionstheoretischen Eingrenzungsschritt nicht nach, stellt sich das Verhältnis seines Ansatzes zu Kopperschmidts erster Präzisierung komplexer dar. Wie gesehen kann Knape zur Qualifizierung der persuasiv erhofften Akzeptanzreaktion auf die schon sprecherseitig in Anschlag gebrachte Kategorie des Zertums zurückgreifen. Verstanden als „innere Gewissheit“106, die in Form von Meinungen, Einstellun-
104 Knape, Zwang, 55f. In derselben Stoßrichtung formulieren Ueding/Steinbrink, Grundriß, 9: „Dem Menschen der sokratischen Belehrsamkeit oder (mit Hegel zu sprechen) ‚Verstandesallgemeinheit‘ setzt die Rhetorik seit ihrem Auftreten im Griechenland des 5. Jahrhunderts das konkrete Subjekt entgegen, das von seinen Gewohnheiten, Überzeugungen, Stimmungen und Affekten nicht zu trennen ist (als gleichsam bereinigte Fassung), d. h. immer schon voreingenommen ist. Die Rhetorik gewinn daraus zwei Klassen von Überzeugungsgründen, die Aristoteles als ethos und pathos systematisiert hat. Das ist die anthropologische Seite der Rhetorik, ihr entspricht eine handlungstheoretischen Einsicht, die von der konkreten Situation ausgeht, nicht von einer ideal oder rational abstrakten Problemlage“ (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu ferner a. a. O., 279. 105 Vgl. Knape, Zwang, 55, Anm. 8. 106 Knape, Rhetorik, 76.
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gen und Handlungen lebensweltlich wirksam wird, erscheint die persuasiv intendierte Zustimmung damit nicht als bloß ‚äußerliche‘ Reaktion. Sie besitzt die Struktur eines persönlich gegründeten Einverständnisses: Zustimmung soll von ihrem Subjekt als authentischer Vollzug erlebt werden können; es soll sich in ihr wiederfinden. Freilich: Konzentriert Kopperschmidt diese Zustimmung auf die rationale Einsicht des Subjekts in die sachliche Legitimität des kommunizierten Anliegens, legt Knape die Motivationsbasis einer als authentisch erlebbaren Zustimmung breiter an und bezieht auch stärker affektive Qualitäten mit ein. Auch das Vertrauen, das ein Adressat gegenüber seinem Kommunikationspartner verspürt, ein womöglich diffus bleibendes Unwohlsein evoziert durch die Infragestellung einer eingespielten Auffassung, die sprachliche Kargheit der vorgetragenen Rede, die das ästhetische Empfinden des Zuhörers stört u.v.a.m. vermögen Zustimmungs- oder Verweigerungsreaktionen einen Rahmen zu verschaffen, in dem sie als stimmig erfahren werden können, auch wenn unter streng rationalen Gesichtspunkten eine je andere Reaktion erwogen werden müsste. In diesem Sinne macht Knape mit der Einsicht ernst, dass die mentalen Grundlagen, auf denen wir uns mit einer Reaktion zu identifizieren vermögen, sich nicht auf streng rationale Strukturen beschränken, sondern einen Komplex von Überzeugungen, affektiv durchsetzten Wertvorstellungen und Stimmungen abbilden, der sich situativ ausprägt. Um Akzeptanzreaktionen zu ermöglichen, in denen sich die Angesprochenen wiederzufinden vermögen, behaftet auch Knape persuasive Praktiken auf das Anschlussprinzip. Die persuasive Grundbewegung, ab ovo beim Auditorium anzusetzen und von hierher die kommunikativen Verfahren zu entwickeln, um diese auf jenes abzustimmen, reflektiert er im Begriff des ‚Adressaten- und Instrumentariumskalküls‘. „Rhetorische Kompetenz besteht […] in der Fähigkeit zu projektiven (einfühlenden) und antizipatorischen (vorwegnehmenden Adressaten- und Instrumentariumskalkülen.“107 „Was ist mit diesem umständlichen Begriff gemeint? Für den Orator sind kommunikative Mittel Instrumente, sie stellen sein Organon dar, mit dem er sehr bewusst umgehen muss. Der Orator kann sich mithilfe eigener projektiver Vernunft in sein Gegenüber hineinphantasieren, sich so auf die spezifische Strukturdeterminiertheit von Kommunikationspartnern einstellen und versuchsweise kalkulieren, welche Reaktion die von ihm eingesetzten Mittel der Beeinflussung beim Gegenüber selegieren können.“108
Gemäß der Komplexität der Akzeptanzbedingungen richtet sich der rekursive Prozess des Anschließens dabei auf kognitive wie emotive Strukturen. Da deren Träger als ‚konkrete Subjekte‘ perspektiviert werden, sind zudem überhaupt die 107 Knape, Rhetorica, 27. 108 Vgl. Knape, Rhetorik, 55.
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situativen Umstände in das Adressaten- und Instrumentariumskalkül miteinzubeziehen. Insofern bezieht sich die persuasive „Eichung“109 auf das „äußere Aptum“110 in Gänze. Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass Knape im Vergleich zu Kopperschmidt ein in normativer Perspektive schwächeres Persuasionskonzept entwirft. Unter Verweis auf die Empirie der Überzeugungspraxis wird ihr Begriff von geltungstheoretischen Anforderungen entlastet und über rationalitätszentrierte Verfahren hinausgeführt. Lediglich in der Zertumsvorstellung erscheint bis dato eine Art normatives Gestaltungskriterium, das persuasive Kommunikationen auf die Eröffnung von als authentisch erlebbaren Reaktionen behaftet. Als Teil der sozialen Mitwelt kann sich freilich auch nach Knape das rhetorische Nachdenken nicht von ethischen Gesichtspunkten dispensieren.111 Sie betreffen (1) die Legitimität überhaupt persuasiver Beeinflussung, (2) die Legitimität der persuasiv verfolgten Ziele und (3) die Legitimität der eingesetzten persuasiven Verfahren. In Bezug auf Ersteres verweist Knape lapidar auf die Unhintergehbarkeit „[r]hetorische[r] Intervention“, gibt sie doch einen „wesentliche[n], wenn nicht gar [den] wichtigste[n] Impulsgeber jeder Art kulturellen Wandels“.112 Zu erinnern wäre ferner an das elementare Selbstbehauptungsinteresse menschlicher Subjekte, das unter Bedingungen der Sozialität zwangsläufig persuasive Impulse freisetzt und gerade im Kontext obrigkeitlich nur eingeschränkt regulierter, demokratisch und plural verfasster Gemeinwesen keinem seiner Mitglieder zu verwehren ist. Die ethische Evaluation der inhaltlichen Ziele persuasiven Handelns klammert Knape aus dem Zuständigkeitsbereich der Rhetorik aus. Als empirisch ausgerichtete Theorie, die auf die Erhellung der Strukturmomente persuasiver Vollzüge zielt und primär deren Verfahrensmöglichkeiten reflektiert, vermag sie keine qualitativen Zielvorgaben zu begründen.113 Für einen instrumentellen Ansatz relevanter wird indes die Frage nach der Vertretbarkeit der persuasiven Mittel. Im Rekurs auf die pragmatische Linguistik von Herbert Paul Grice grenzt Knape das persuasive Verfahren grundsätzlich von manipulativen Beeinflussungsoperationen ab. Grice’ allgemeinkommunikatives Kooperationsprinzip gilt auch dem Orator als prioritäre Richtschnur.114 Die darin einge109 Vgl. Knape, Image, 117; Ders., Pathosbegriff, 26; Knape spricht auch von „Tuning“ (vgl. Ders., Persuasion, 887.889). 110 Vgl. Knape, Predigt, 39f, hier 39. Zu Kategorie des aptum vgl. D.3.3. 111 Sofern sich das rhetorische Unternehmen nicht auf textimmanente Stilfragen beschränkt, sondern als Theorie der Persuasion auf sozial virulente Praktiken bezogen weiß, werden ethische Fragestellungen erheblich (vgl. Knape, Persuasion, 889). 112 Vgl. Knape, Persuasion, 888. 113 Vgl. Knape, Rhetorik, 77–81. 114 Vgl. Knape, Predigt, 37 und ferner Ders., Fallacies, 34; Ders., Gewalt, 61; Ders., Image, 119– 122; Ders., Zweifel, 542 u. ö. Zu Grice’ Kooperationsprinzip und den daraus abgeleiteten Maximen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität vgl. Ders., Logik.
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schlossene Qualitätsmaxime der Aufrichtigkeit verwehrt „Täuschung, Verstellung und Lüge“ – kommunikative Verfahren, auf denen Manipulationen notwendig aufruhen.115 Unter stärker rhetorikspezifischen Gesichtspunkten wird das Aufrichtigkeitspostulat durch Nachhaltigkeitserwägungen gestützt. In der Perspektive eines prozessualen Persuasionsansatzes ziehen Kommunikationsbeiträge „empirische Verifikationsproben und Erfahrungsbewertungen“ nach sich, in deren Licht „unaufrichtig eingesetzte Überzeugungsmittel riskant“ erscheinen müssen.116 Mögliche weitere normative Eingrenzungen persuasiver Verfahren entlässt Knape aus dem rhetoriktheoretischen Bereich. Sie haben ihren Ort im ethischen Diskurs einer sozialen Formation, an deren rechtlich fixierte oder zivilgesellschaftlich etablierte Normen und Werte der in ihr tätige Orator so viel oder so wenig gebunden ist wie jedes andere ihrer Mitglieder. Rhetorik kann damit pragmatisch als „kommunikative Beeinflussung mit Hilfe sozial akzeptierter Verständigungsmittel“ bezeichnet werden.117 Die Frage nach der modalen Struktur persuasiver Praxis führt damit nochmals die zentrale Differenz zwischen den Ansätzen von Kopperschmidt und Knape vor Augen: Während Kopperschmidt den Begriff der Persuasion selbst konsequent im Horizont normativer Fragestellungen konzipiert und verständigungsethisch durchstrukturiert, treffen bei Knape die moralischen Regulative den Persuasionsbegriff eher ‚akzidentiell‘ in Gestalt der jeweils vorfindlichen sozialen Orientierungsregime und dem überhaupt für kommunikative Praktiken geltenden Kooperationsprinzip. Dass dabei nicht intersubjektive Geltungsfragen im Vordergrund stehen, sondern der Akzent klar auf der Aufrichtigkeitsmaxime liegt, entspricht nur dem auf die Oratorinstanz zentrierten Ansatz.
115 Vgl. Knape, Persuasion, 889. Knape kann in dieser Frage auch auf Kants Transparenzprinzip verweisen, wonach „[a]lle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, […] unrecht“ sind (Kant, Frieden, 68). Vgl. Knape, Rhetorik, 80; Ders., Rhetoric, 18. Zur kritischen Bewertung populistischer Verfahren im Licht der Griceschen Kommunikationsmaximen vgl. Knape, Zweifel, 542. 116 Vgl. Knape, Zwang, 61f; Ders., Predigt, 37f. 117 Vgl. Knape, Zweifel, 540; Ders., Orator, 52; Ders., Rhetoric, 6; Ders., Persuasion, 875 u. ö. Aus genuin rhetorischer Perspektive legt sich eine Bindung an die gesellschaftlich anerkannten Normen und Werte insofern nahe, als das Anschlussprinzip eine Abstimmung der kommunikativen Verfahren auf die Orientierungsmuster der Adressaten verlangt (vgl. Ders., Persuasion, 889).
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3
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Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
Im Folgenden werden die rekonstruierten Zugänge im Horizont der Frage nach der transformativen Dimension der Predigt diskutiert. Dabei sollen die spezifisch rhetorischen Reflexionspotenziale transformativer Praxis nochmals schärfer konturiert und ins Gespräch mit den bisherigen Überlegungen gebracht werden.
3.1
Grade der Persuasion
Unbestritten ist, dass der Persuasionsbegriff auf transformative Praktiken verweist. Wer Überzeugungsarbeit betreibt, setzt eine irgendwie geartete mentale Differenz voraus. Ob diese Differenz real besteht, ist dabei zweitrangig. Es genügt, dass eine Sprecherin von ihr subjektiv ausgeht. M. E. ist die Frage nach der Faktizität noch weiter zu relativieren. So muss die Sprecherin selbst nicht einmal davon überzeugt sein, dass eine Divergenz faktisch vorliegt, dass also die von ihr Angesprochenen in praxi ‚Vorbehalte‘ gegenüber ihrem Anliegen hegen. Vielmehr reicht es zu, dass solche ‚Vorbehalte‘ denkbar sind – weil sie im öffentlichen Diskurs zirkulieren, weil die Sprecherin durch die Erfahrungsgeschichte mit ihren Mitsubjekten außerhalb der aktuellen Kommunikationssituation auf sie aufmerksam geworden ist oder sie sich durch eigene Überlegung aufdrängen. Dass die Sprecherin den von ihr kommunizierten Sinn nicht als einen Beitrag wertet, der sich von selbst versteht, sondern prinzipiell strittig erscheint, kann als hinreichendes Motiv persuasiver Praxis angesehen werden. Wenn man so will, erhält die Überzeugungsarbeit so besehen einen projektiven Charakter. Sie setzt eine mentale Differenz in Szene, arrangiert mittels persuasiver Verfahren einen transformativen Verlauf zu deren Schließung und unterbreitet ihren Adressaten damit ein Überzeugungsangebot, wobei offen bleiben kann, mit welcher ‚Seite‘ der inszenierten Differenz sie sich zu Anfang identifizieren – ob sie im Fall der Aneignung des Angebots also entweder die Erfahrung einer transitiven Veränderung oder einer intransitiven Vertiefung ihres Standpunktes machen. Wie insbesondere Knapes prozesssensible Betrachtungsweise gezeigt hat, ist der Transformationsbegriff in der Tat nicht einfach auf scharf konturierte Wechselereignisse zu reduzieren. Er umfasst auch nuanciertere Umstellungen unseres Weltzugangs und bezieht Erfahrungen der Vergewisserung mit ein, in denen ein Standpunkt nach innen hin überschritten wird. Gestützt wird dieses weite Verständnis der Transformation durch Gerald Millers klassische Typologie, wonach Überzeugungserfahrungen dreifach differenzierbar sind.118 Nach 118 Vgl. zum Folgenden Miller, Distinctions, 6–12. Dabei handelt es sich um eine idealtypische Unterscheidung: „[S]ome overlapping must be granted (the three outcomes are not always
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geläufiger Auffassung zielen Persuasionen primär auf einen Wechsel (‚responsechanging‘). Wohl häufiger dürften ihre intendierten Effekte aber in der Bestärkung eines Urteils liegen (‚response-reinforcing‘); übereinstimmend mit Knape werden diese gerade in einer Verlaufsperspektive markant.119 Idealtypisch davon abgehoben sind schließlich Bildungsprozesse, in denen Praktiken der Überzeugung nicht auf den Wechsel oder die Bestärkung eines schon etablierten Urteils tendieren, sondern ein solches allererst zu prägen suchen (‚response-shaping‘). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Thema bisher zwar bekannt war, aber nicht als relevant genug erschien, um sich darüber eine eigene Auffassung zuzulegen, oder wenn mit einem persuasiven Anliegen ganz neue Perspektiven eröffnet werden, zu denen erst ein urteilendes Verhältnis zu finden ist. Insofern wären die beiden oben beschriebenen Akzeptanzreaktionen auf das persuasive Angebot um eine dritte Variante zu ergänzen: Im Fall der Aneignung eines inszenierten Überzeugungsverlaufs vermögen wir nicht nur die Erfahrung des Wechsels (changing) oder der Bekräftigung (reinforcing) unseres Standpunktes zu machen, sondern auch die Erfahrung seiner primären Formierung (shaping).
3.2
Intentionalität der Persuasion
Gegenüber ästhetischen Konzipierungen tritt im Rahmen der Persuasionstheorie das intentionale Moment transformativer Praxis markant zum Vorschein. Besonders Beschreibungsansätze, die die Selbstzwecklichkeit ästhetischer Erfahrung betonen, nehmen die teleologische Ausrichtung transformativer Praxis in mutually exklusive)“ (a. a. O., 7). Vgl. dazu auch Perloff, Dynamics, 24f, der die drei Effekttypen dezidiert als transformative Typen auslegt: „[P]ersuasion typically involves change. […] This can involve shaping, molding, or reinforcing attitudes“ (a. a. O., 14). 119 Vgl. Miller, Distinctions, 9: „The response-reinforcing function underscores the fact that ‚being persuaded‘ is seldom, if ever, a one-message proposition; instead, people are constantly in the process of being persuaded“ (Hervorhebung i. Orig.). Den Aspekt der Bekräftigung markieren auch Perelman und Olbrechts-Tyteca, wenn sie das Telos argumentativer Diskurse notorisch doppelt bestimmen: als ein ‚Wecken‘ und ‚Steigern‘ der Akzeptanzbereitschaft des Publikums. Zustimmung wird damit nicht auf einen punktuellen Vollzug reduziert, der die Relation einer Person zu einer Sichtweise auf Dauer fixiert. Zustimmung rückt eher als ein dynamisches Verhältnis in den Blick, das tief in die Lebenspraxis und die intersubjektiven Kommunikationserfahrungen eingelassen ist und sich dort zu bewähren hat. In einer argumentationstheoretischen Nobilitierung der Epideixis sehen sie gerade im genus demonstrativum die Vergewisserungsfunktion überzeugenden Redens repräsentiert, welche die „Intensität der Zustimmung“ zu „verstärken“ sucht (vgl. Dies., Rhetorik, Bd. 1, 70). Dabei können sie die Vergewisserungsfunktion in einen durchaus transformativen Rahmen integrieren (vgl. a. a. O., 75). Zum Ganzen vgl. a. a. O., 61–81 u. ö. sowie auch Coenen, Argumentieren, 36ff.
Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
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der Regel auf eine unbestimmtere Dynamisierungsabsicht zurück. Dagegen erscheinen transformative Praktiken in rhetorischer Perspektive als ein „gerichtete[s] Reden“120, das auf einem material deutlich konturierten Anliegen beruht. Daraus folgt Dreierlei: Transformative Praxis ist (1) orientiert an Akzeptanz, (2) nachdrücklich bezogen auf sein Subjekt sowie (3) konsequent adressatenrelativ. Im Folgenden werden zunächst die ersten beiden Konsequenzen umrissen. Der Aspekt der Adressatenorientierung wird sodann unter D.3.3 bedacht. Die inhaltliche Prägnanz ihres Zielhorizontes verleiht transformativer Praxis ein dezidiertes Zustimmungsinteresse. Sie zielt auf belief. Folglich geht es transformativer Praxis, sofern sie im Rahmen der Rhetorik konzipiert wird, nicht einfach um die mitteilende Darstellung von Deutungen, in deren Licht die Rezipienten sich selbst zu transzendieren vermögen. Ihr geht es um die Plausibilisierung dieser Deutungen. Als Orator ist ihr Subjekt nicht ein expressives Organ, das Möglichkeiten der Selbsterweiterung in die kommunikative Welt einspielt. Aristotelisch formuliert reflektiert es diese Möglichkeiten vielmehr auf ihr πιθανόν, um sie zustimmungstauglich machen. Rhetorisch besehen ist transformative Praxis wie bei Walzer Überzeugungsarbeit. Gegenüber der Aufnahme der von ihm entwickelten Interpretationsofferte verhält sich der Orator nicht gleichgültig. Aus seiner Sicht sind Rezeptionsvollzüge bestenfalls Akzeptanzakte, weshalb er seinen kommunikativen Entwurf ab ovo persuasiv durchstrukturiert. Wird das Anliegen des Orators mit Kopperschmidt vor dem weiteren Hintergrund des Selbstbehauptungsgedankens reflektiert oder mit Knape über den Begriff des Zertums ausgelegt, rückt der Intentionsträger mit Nachdruck in den Reflexionszusammenhang der Transformation ein. Der Überzeugungsakt tritt in seinem Subjektbezug markant zum Vorschein.121 Dabei sind mehrere Gesichtspunkte zu unterscheiden. Zunächst erscheint im Licht der Persuasionsforschung der Zielhorizont transformativer Praxis nicht nur inhaltlich bestimmt, sondern trägt als Anliegen stets eine spezifische Relevanzsignatur. Der Zweck der Transformation entspricht einem subjektiven Interesse. Dem Kommunikator liegt an ihm. Insofern steht er den Wirkungen seiner kommunikativen Verfahren nicht indifferent gegenüber. Im Verhältnis zu allgemeinen Kommunikationstheorien, die die Bedeutsamkeit des Senders für den Kommunikationsverlauf grundsätzlich ausweisen, perspektiviert die Rhetorik den Subjektbezug sodann dezidiert funktional. Er wird sozusagen in seinem Transformationspotenzial bedacht. Im Kern geht es 120 Knape, Rhetorik, 71. 121 Traditionell wird der Subjektbezug unter dem Titel des ἦθος bedacht (vgl. Mouchel u. a., Ethos); in der angelsächsischen Persuasionsforschung wird meist von source factors gesprochen (vgl. etwa Gass/Seiter, Persuasion, 74–95; O’Keefe, Persuasion, 181–213; Perloff, Dynamics, 155–183).
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um das Vertrauen des Auditoriums, das über den Eindruck von Glaubwürdigkeitssignalen evoziert wird. Damit ist offensichtlich, dass auch die Instanz des Sprechers in seiner Rolle als Überzeugungsmedium – wie alle πιστεις – relationalen Charakter besitzt. Glaubwürdigkeit ist kein absoluter, sondern ein perzeptiver Wert: „[C]redibility is a receiver-based construct“122. Aus welchen Erfahrungszusammenhängen sich Glaubwürdigkeitszuschreibungen konkret aufbauen, ist prinzipiell offen. Fokussiert auf einzelne Persuasionsereignisse hat Aristoteles auf den Kommunikationsakt selbst verwiesen. Demnach reflektiert der ἦθος-Aspekt vor allem das in actu wahrgenommene „Sichgeben“123 des Redners. Man könnte auch vom „Moment-Image“124 sprechen. In diesem Sinne ist Glaubwürdigkeit eine kommunikative Variable, auf die der Redner durch sein rhetorisches Handeln Einfluss nimmt. In prozessorientierter Perspektive rücken dagegen auch die vielfältigen einzelkommunikationsexternen Image-Faktoren in den Blick, die die Sicht der Rezipienten auf den Redner vorprägen. Die Relevanz, als glaubwürdiger Sprecher wahrgenommen zu werden, begründet sich über den epistemologischen Status der rhetorisch verhandelten Sachverhalte. Sofern sich Persuasionen im Reich des real talk bewegen, mithin im weiten „Feld des nichtformalisierten Denkens“125 platziert sind, vermögen auch streng rationale Argumentationsgänge „keine letzte Gewißheit“126 zu erschließen und bedürfen der Indikation zusätzlicher Überzeugungsressourcen. „Sofern es sich handelt um βουλεύεσθαι, um πρακτόν und sofern es sich handelt um ἔνδοξον, sofern geredet wird über allgemeine Meinungen gegen allgemeine Ansichten zum Zwecke der Ausbildung einer bestimmten Ansicht, stellt sich dieses Reden nicht in den Bereich des διαλέγεσθαι. Bei diesem Reden, wo es sich um solche Gegenstände handelt, sind der Sprechende und derjenige, zu dem gesprochen wird, in fundamentaler Weise wichtig. Bis zu einem gewissen Grade ist es dagegen beim διαλέγεσθαι gleichgültig, zu wem gesprochen wird, und gleichgültig ist es, wer ich bin“127.
Hinsichtlich der Wahrnehmungswerte, welche die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit konkret befördern, hat Aristoteles drei Gesichtspunkte unterschieden. Als glaubwürdig erscheint der Redner zunächst dort, wo er als sachlich 122 Gass/Seiter, Persuasion, 77 (i. Orig. teils hervorgehoben). Robert Gass und John Seiter weisen dabei zu Recht darauf hin, dass Glaubwürdigkeit durch ihren relationalen Charakter zugleich ein dynamischer Zug eingeschrieben ist: „[C]redibility is dynamic; it fluctuates from audience to audience, from situation to situation, and from time to time“ (a. a. O., 78 [i. Orig. teils hervorgehoben]). Vgl. dazu auch Perloff, Dynamics, 166f; Ortak, Persuasion, 17–20. 123 Heidegger, Grundbegriffe, 165. 124 Knape, Image, 116. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1356a. 125 Perelman, Reich, 163. 126 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1356a: „[D]enn den Tugendhaften glauben wir lieber und schneller – im allgemeinen schlechthin –, ganz besonders aber da, wo keine letzte Gewißheit ist, sondern Zweifel herrscht.“ 127 Heidegger, Grundbegriffe, 161. Vgl. dazu auch Till, Pathos, 648.
Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
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kompetenter Gesprächspartner wahrgenommen wird (φρόνησις). Sodann weckt er Vertrauen, wenn er sich als aufrichtig zu präsentieren weiß – oder wie Heidegger paraphrasiert: als einer, der „seine eigene Stellung und Ansicht zu der Sache“ nicht „verschleiert“, sondern zeigt, dass es ihm „recht Ernst damit [ist], was er seinen Hörern sagt“ (αρετή). Schließlich wirkt derjenige Redner glaubhaft, dem Wohlwollen attestiert werden kann; der Eindruck, dass der Gesprächspartner mir gegenüber positiv eingestellt ist, an meiner Situation interessiert und fähig, an ihr empathisch teilzuhaben und sie in ihrer Spezifik zu verstehen, stiftet Vertrauen (εὔνοια).128 Eine instruktive Reinterpretation der Aristotelischen Glaubwürdigkeitsfaktoren unternimmt Knape, wenn er sie in den Horizont der Griceschen Kommunikationsmaximen stellt. So entspreche die φρόνησις der Maxime der Quantität (‚Sei informativ!‘), die αρετή der Maxime der Qualität (‚Sei wahrhaftig!‘) sowie die εὔνοια der Maxime der Relation (‚Sei relevant!‘).129 Durch diese Korrelierung lässt sich die eigentümliche Funktion der Subjektinstanz nochmals exakt umranden: Sie sichert den kooperativen Modus der Persuasion. Gelingt die Vertrauensevokation durch eine glaubhafte Inszenierung der Rednerperson wird das Veränderungsanliegen in den gemeinschaftlichen Rahmen eines kommunikativen Zusammenspiels eingeholt. Reformuliert in der bisherigen Terminologie: In ihrer persuasiven Rolle übernimmt die Subjektinstanz die Funktion der Immanenz. Sie qualifiziert die Relation zu den Angesprochenen als eine Beziehung der ‚Nähe‘, aus der heraus ein ihre Selbstinterpretationen transzendierendes Moment erst akzeptabel wird. Dadurch plausibilisiert sich vonseiten der Rhetorik das Gewicht, das Walzer der Reflexion auf das Subjekt der Kritik beimisst, und weshalb er es als seinen Adressaten verbundenes entwirft: Als con128 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1378a. Die Erläuterungen orientieren sich an Heidegger, Grundbegriffe, 165ff, hier 166 (i. Orig. teils hervorgehoben). Alle drei Glaubwürdigkeitswerte spielen auch in der aktuellen persuasionstheoretischen Debatte eine zentrale Rolle (vgl. Gass/Seiter, Persuasion, 78–82; O’Keefe, Persuasion, 181–184; Perloff, Dynamics, 167f). Heidegger stellt sie dabei nicht als alternative Momente dar, sondern erschließt sie in ihrem inneren Zusammenhang, wonach das eine Moment je der Flankierung durch die beiden anderen bedarf, um sein volles Potenzial zu entfalten. Mit Recht wurde darauf verwiesen, dass sich in den Glaubwürdigkeitswerten die klassischen persuasionsrelevanten Faktoren in gewisser Weise nochmals spiegeln. Demnach verweist die φρόνησις auf den Sachbezug der Rede, die αρετή auf das Verhältnis des Sprechers zur Sache und die εὒνοια auf die pathische Dimension; sofern nach Aristotelischem Verständnis alle drei Werte im Text sprachlich ausdrücklich werden müssen, wäre auch der Gesichtspunkt der λέξις eingeholt. Vgl. dazu Niehues-Pröbsting, Ethos, 347; Eggs, Theorie, 139: Glaubwürdigkeit kann bei Aristoteles als „optimale Synthese von Logos, Ethos und Pathos“ verstanden werden. 129 Vgl. Knape, Image, 119–122; Grice, Logik. Dabei liegt die letzte Äquivalenzbeziehung wohl am wenigsten nahe. Knape stellt sie dadurch her, dass er die Bereitschaft, „in der Sache die für [die Adressaten] wirklich wichtigen und relevanten Dinge“ zu sagen, als ein Akt des Wohlwollens deutet (vgl. a. a. O., 122).
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nected critic kann der Kritiker als kundiger, aufrichtiger und wohlwollender Gesprächspartner erfahren werden und die Zustimmungstauglichkeit seiner propagierten Sicht auf Welt steigern.130 Damit wird zugleich deutlich, dass das Subjekt transformativer Praxis beides sein kann: Instanz der Nähe wie der Transzendierung. Denn, wie gesehen, ist es für Walzer gerade auch der perspektivisch strukturierte Weltzugang eines Individuums, der – sofern er kommunikativ zur Geltung gebracht wird – die Zuhörer mit Neubeschreibungen bereichern kann. Abschließend sei noch auf eine weitere Vertiefungschance verwiesen, die Knapes Reformulierung der Reliabilitätsfaktoren eröffnet. Knape interpretiert die Gricesche Relevanzmaxime über die Kategorie der εὔνοια und holt sie dadurch in den Problemkontext der Vertrauensevokation ein. Zu fragen wäre, ob mit dieser Verknüpfungslinie der Gesichtspunkt der Relevanz im Zusammenhang der Frage nach dem Subjektbezug transformativer Praxis schon ausgeschöpft ist. Der Relevanzbegriff verweist auf eine zentrale Bedingung überhaupt gelingender Kommunikation; Diskurse werden über Relevanzregime rezipiert, hermeneutisch verarbeitet und persönlich angeeignet, wobei Relevanzzuschreibungen von einer Vielzahl verschiedener Faktoren abhängen.131 Unter anderem dürfte dem Verhältnis, das ein Sprecher zu seinem Beitrag unterhält, eine entscheidende Rolle zukommen. Wo ein Sprecher von der verhandelten Sache nicht nur persönlich überzeugt ist, sondern ihm an der Sache auch subjektiv liegt, sie ihm also nicht nur ‚wahr‘ und ‚richtig‘, sondern auch ‚wichtig‘ erscheint, werden Relevanzen auch für die Adressaten markiert.132 Insofern ließe sich die spezifische Intentionalität persuasiver Praxis für das Persuasionsgeschehen fruchtbar 130 Vgl. Knape, Image, 122: „Der persuasive Text soll das Kompetitive durchaus artikulieren und den Meinungswechsel evozieren helfen, die Image-Konstruktion hingegen soll gleichzeigt das Kooperative zum Vorschein bringen und damit die Argumentation in einen gewollten Orientierungsrahmen stellen. […] Das Image dient […] als psychologische Stütze, die besagt: Auch wenn der Textinhalt bzw. seine Argumentationen für dich als Adressaten widerständig, ja unangenehm sein sollten, weil sie deine vertrauten Vorstellungen aus den Angeln heben und dich bewegen wollen, den Wechsel zu einer neuen mentalen Position zu wagen […], kann dich das mittels eines situativ hervorgerufenen Images induzierte oder auch auf Prestige- oder Reputationszuschreibungen bauende Framing beruhigen, weil es dir signalisiert: Der Orator will und kann auf jeden Fall mit dir kooperieren.“ In eigenständiger Terminologie wird hier die Dialektik von Immanenz und Transzendenz zum Ausdruck gebracht. 131 Vgl. Merle, Alltagsrelevanz; Stetter, Relevanz sowie Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 110– 115. 132 Wie Ernst Lange festhält, kann das „persönliche[-] Engagement“ die Relevanz der Predigt für die Hörer selbstverständlich nicht garantieren (vgl. Ders., Aufgabe, 56f). Es wäre aber doch zu überlegen, ob der Eindruck, dass hier jemand von Dingen redet, die ihm selbst etwas bedeuten, nicht doch mindestens eine wesentliche Vorbedingung oder auch ein zentrales Ferment dafür gibt, dass die Hörer das Gesagte auf seine Bezüge zu ihrer Lebenssituation hin erkunden. Zu dieser Intuition vgl. auch Niebergall, Wie predigen, Bd. 2, etwa 60.78–81.
Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
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machen. Wo es dem Sprecher gelingt, sein Kommunikationsziel als authentisches Anliegen, für das er sich subjektiv eingenommen weiß, zu präsentieren, werden Relevanzen markiert, die potenziell auch aufseiten der Adressaten Aufmerksamkeit und Interesse wecken, womit ein Beitrag zur zweiten Immanenzfunktion geleistet würde. Vor diesem Hintergrund unterstreicht die persuasionstheoretische Perspektive nicht nur überhaupt die Intentionalität transformativer Praxis im Sinne einer inhaltlich bestimmten Gerichtetheit, sondern verweist gegenüber ästhetischen Zugängen zugleich auf die Akzeptanzorientierung sowie auf die Bedeutsamkeit des Personbezugs transformativer Praxis – sei es als Ressource der Vertrauensevokation, sei es als Quelle der Aufmerksamkeitsattraktion.
3.3
Grundprinzip der Persuasion
Wie die Rekonstruktion der Ansätze von Kopperschmidt und Knape gezeigt hat, ist der Immanenzaspekt nicht auf die Rednerinstanz zu beschränken. Am deutlichsten dürfte er im Prinzip des Anschließens hervortreten. Terminologisch reich als ‚Anpassung‘, ‚Adaption‘, ‚Adjustierung‘, ‚Reduktion‘, ‚Eichung‘ oder ‚Tuning‘ adressiert, behaftet es transformative Praktiken generell auf eine rekursive Dynamik im Sinne einer konsequenten Adressatenorientierung. ‚Konsequent‘ meint dabei, wie auch schon anhand von Walzer verdeutlicht, dass die Zuhörer persuasionstheoretisch nicht als Zusatzinstanz firmieren, die erst im Horizont von Vermittlungsfragen an Relevanz gewinnen, um die Kommunikativität eines vorgefassten Textes zu sichern. Sie erscheinen als die „grundsätzlich richtunggebende Instanz“133, die den Prozess der Vorbereitung, Erstellung und Aufführung des Textes ab ovo durchgängig mitbestimmen – oder in den Worten von Kopperschmidt: Das Prinzip des Anschließens markiert eine „Redehaltung […], die den rhetorisch obligatorischen Publikumsbezug operationalisiert und insofern ein Reden spezifiziert, das nicht bloß zu einem Publikum oder gar bloß vor einem Publikum redet, sondern gleichsam aus ihm heraus“134.
Die Anschlussdynamik entfaltet sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen.135 Entscheidend ist zunächst die von Kopperschmidt akzentuierte diskursive Ebene 133 Ueding/Steinbrink, Grundriß, 222. 134 Kopperschmidt, Idee, 240 (Hervorhebung i. Orig.). 135 Vgl. dazu in einem anders gelagerten Reflexionskontext auch Angehrn, Kultur, 101: „Als innovatorische Sinnbildung sind Änderungen Teil eines Prozesses, dessen Basis das Anschließen ist, welches in unterschiedlichsten Modalitäten stattfindet, die als Moment einer Sinngeschichte immer Bezug auf Früheres nehmen“ (Hervorhebung M.S.). Um Missverständnissen vorzubeugen, gilt es dabei zu unterstreichen, dass Anschlussakte stets Deutungsakte darstellen. Der ‚Bezug auf Früheres‘ resp. die Wahrnehmung der Angesprochenen
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Teil D: Praktiken der Persuasion
der Argumentationsstruktur. So liegt das Wesen einer nicht formallogisch, sondern rhetorisch operierenden Argumentation in der Übertragung einer den „Prämissen“ schon eingeräumten Zustimmung auf die daraus geschlossenen „Folgerungen“; der Entwurf eines überzeugenden argumentativen Textes bedarf der Adaption an die Realitätsannahmen und Wertregime der angesprochenen Rezipienten.136 Wie insbesondere Knape unterstreicht, bestimmt sich der persuasive Text sodann über die affektive Struktur des Publikums. Im Zusammenhang der Rhetorik steht bezüglich der pathischen Dimension gemeinhin der Transzendenzaspekt im Vordergrund, also der Versuch einer Emotionalisierung im Sinne der Provokation eines die bestehende Gefühlslage überschreitenden Stimmungsgehalts.137 Freilich setzt schon dieses Evokationsinteresse mindestens ein Wissen, wenn nicht die Artikulation der vermeintlich aktuellen Affektstruktur voraus. Dass die persuasive Anpassungsbewegung auch die Befindlichkeit der Adressaten umfasst, wird vollends deutlich, wenn die Realitätsannahmen und Wertregime des Publikums nicht dualistisch von seiner emotionalen Beschaffenheit abgehoben werden. Wie mit Seel und Fischer-Lichte gezeigt, sind Ansichten und Präferenzen als emotional durchsetzte Größen zu interpretieren, womit deren Berücksichtigung affektive Aspekte einschließt.138 Zuletzt richtet sich die Anschlussdynamik auf die dispositionelle und elokutionäre Ebene der Persuasion. Wie schon im Zusammenhang der Walzerschen Überlegungen deutlich wurde, zielt die Anpassung an die sprachlichen Codes des Auditoriums zunächst einmal auf eine Absicherung der Verständlichkeit. Diese prima facie einleuchtende Bestimmung stellt sich komplexer dar, sobald einervollzieht sich nicht unmittelbar, sondern verdankt sich einem interpretativen Entwurf, eben einem ‚Kalkül‘, das auch scheitern kann. Zur Konstruktivität der Adressatenorientierung vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 25–31. 136 Vgl. Perelman, Reich, 30: „Um durch seine Rede wirksam handeln zu können, muß sich der Redner auf sein Publikum einstellen. Worin besteht eine solche Anpassung als spezifische Voraussetzung der Argumentation? Wesentlich darin, daß der Redner zum Ausgangspunkt seiner Darlegung nur solche Thesen wählt, für die er bei seiner Zuhörerschaft auf Zustimmung rechnen kann. Denn das Ziel der Argumentation liegt anders als beim Beweis nicht darin, die Wahrheit der Schlußfolgerung von der Wahrheit der Prämissen ausgehend zu beweisen, sondern die den Prämissen eingeräumte Zustimmung auf die Folgerungen zu übertragen“ (i. Orig. teils hervorgehoben). Perelman unterteilt die in Frage kommenden ‚Prämissen‘ dabei in Sichtweisen, die das „Wirkliche“, und Sichtweisen, die das „Wünschenswerte“ betreffen, auf, womit nochmals die auf das Selbstbild bezogene Differenz zwischen Deutung und Entwurf angesprochen ist (vgl. a. a. O., 32–39). Vgl. zum Ganzen auch Ders., Logik, 85–103; ausführlich Ders./Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 17–160. 137 Vgl. etwa Hetzel, Wirksamkeit, 434; Knape, Pathosbegriff, 25; Till, Pathos, 646f. 138 Vgl. Simons/Jones, Persuasion, 138f; Till, Pathos, 662–666: „Eine kontextlose Kommunikation gibt es in der Rhetorik nicht, vielmehr sind die Stimmungen des Publikums als Ausgangsbasis für Schlussfolgerungen ebenso wichtig wie das Image des Redners im Sinne der Ethos-Kategorie“ (a. a. O., 650).
Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
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seits die λέξις nicht nur als äußerer Garant einer möglichst reibungslosen Rezipierbarkeit verstanden und andererseits der Verständlichkeitsbegriff in seiner facettenreichen Semantik berücksichtigt wird. Er schwankt mindestens zwischen den durch Kant in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft wegweisend notierten Aspekten: „Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, zuerst die diskursive (logische) Deutlichkeit, durch Begriffe, denn aber auch eine intuitive (ästhetische) Deutlichkeit, durch Anschauungen, d.i. Beispiele oder andere Erläuterungen, in concreto zu fordern.“139
Diese Differenz zwischen ‚Klarheit‘ und ‚Anschaulichkeit‘ deutet die Bandbreite der mit dem Begriff der Verständlichkeit aufgerufenen Gesichtspunkte an, die sich begriffsgeschichtlich dadurch noch unübersichtlicher ausnimmt, als etwa das Konzept der Anschaulichkeit seinerseits eine Reihe von Bedeutungsvarianten umfassen kann: Sie ist „Mittel der Belehrung“, „Gegenpol von Abstraktheit“, eine „durch Metaphern und Vergleiche“ hervorgebrachte Textqualität; sie wird verstanden als „evidentia“ (Vergegenwärtigung), „enérgeia“ (Lebhaftigkeit) u. a.m.140 Mit dieser Ausweitung hinein in den ‚ornamentalen‘ Bereich des sprachlichen Ausdrucks lagern sich nun aber um die Aufgabe der Verständlichmachung noch andere elokutionäre Funktionen an: So hat Perelman in seiner Nouvelle Rhétorique nachdrücklich die Rolle der λέξις für die Argumentation herausgestellt, die er in der Fähigkeit konzentriert, einem Gegenstand mentale „Präsenz“ zu verleihen, ihn thematisch relevant zu machen;141 in der modernen Metaphernforschung werden metaphorische Aussagen und allegorische Passagen nicht als bloße Konkretisierungsmedien reflektiert, sondern als kognitive Instrumente angesehen, denen epistemische und evaluative Funktionen eignen;142 als Gemeinplatz rhetorischer Figurenlehre kann die Einsicht in die affektive Virulenz des sprachlichen Ausdrucks gelten, wonach unterschiedliche Darstellungsweisen ganz unterschiedliche emotionale Effekte zu provozieren vermögen.143 Insofern bündeln sich die verschiedenen persuasiven Dimensionen des Argumentativen, Epistemischen, Evaluativen und Emotionalen in der Elokution nochmals, womit sie rhetorisch besehen nicht nur der Verdeutlichung, Klarmachung, Veranschaulichung, mithin der Verständlichkeit dient, sondern 139 Kant, KrV, 16 (Hervorhebung i. Orig.). 140 Vgl. dazu Asmuth, Anschaulichkeit; Ders., Beitrag. Eine zentral auf Evidenzevokation perspektivierte Deutung rhetorischen Handelns propagiert Stoellger, Rhetorik, wobei er diverse Bedeutungsnuancen der Anschaulichkeit unter dem Begriff der Evidenz zusammenfasst. 141 Vgl. etwa Perelman, Reich, 41–48; dazu auch Stetter, Predigt, 172f sowie D.4.1. 142 Vgl. etwa Black, Metapher; Lakoff/Johnson, Leben; Lakoff/Wehling, Sohlen, 13–31; Ricoeur, Metapher; Simons/Jones, Persuasion, 177–209 sowie D.4.2. 143 Vgl. etwa Till, Pathos, 658–662.
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Teil D: Praktiken der Persuasion
als eminentes Überzeugungsmittel in den Blick rückt. Die Adaption an die sprachlichen Codes der Adressaten reicht insofern über die Funktion der Sicherung eines oberflächlich verstandenen Verstandenwerdens hinaus. Eine Orientierung am Prinzip des Anschließens setzt folglich eine in sich vielschichtige rekursive Dynamik in Gang mit dem unter B.3 beschriebenen Ziel, die Adressaten zu erreichen, um sie in die Lage zu versetzen, das propagierte Anliegen anzueignen, es also zu verstehen, als relevant zu erfahren und plausibel zu werten.144 Als transformativer Vollzug bedarf es freilich zugleich der gegenläufigen Dynamik der Transgression, wird durch sie ein aktueller Standpunkt – nach innen hin oder nach außen hin – doch erst überschreitbar. Um beide Bewegungen gemäß ihrer Simultaneität miteinander zu vermitteln, bietet das rhetorische Reflexionsinventar nun ein produktives Theoriemoment an: das aptum. Es kann als das „grundlegende regulative Prinzip der Rhetorik“145 bezeichnet werden, da es dazu anleitet, alle persuasionsrelevanten Gesichtspunkte aufeinander zu beziehen und in einen konsistenten Redeauftritt zu überführen. Damit erscheint die Anschlussbewegung nicht als verselbstständigter Prozess, sondern wird auf das persuasive Anliegen assoziierbar, das eine alternative Sicht auf Welt stark zu machen sucht. Argumentationsbezogen formuliert: Die vertraute Prämisse (Immanenz) wird auf die strittige Aussage (Transzendenz) zurückbezogen. Analog wären auf allen Ebenen, auf denen die Anschlussdynamik bisher beschrieben wurde, die Aspekte der Immanenz und Transzendenz über das Aptumprinzip zu vermitteln. Getreu der Einsicht in die Gradualität des Immanenz-Transzendenz-Verhältnisses kann freilich eine Ebene schwerpunktmäßig auch nur einen Aspekt besetzen, so dass die Organisation des Gesamtverhältnisses von Nähe und Distanz einer Rede dezidiert über die Koordination der kommunikativ relevanten Einzelfaktoren verläuft. So könnte beispielsweise – sehr grob gesprochen – ein vor dem Hintergrund der eingeschätzten Lage des Auditoriums als ‚anstößig‘ beurteilter Bibeltext, von dessen vernommener Aussage sich die Predigerin gleichwohl zu ihrem Redeanliegen hat inspirieren 144 Ausgebaut zu einem persuasionstheoretischen Ansatz findet sich das Anschlussprinzip in den Überlegungen von Herbert Simons und Jean Jones. Sie bezeichnen ihn als „coactive approach“: „Coactive persuasion is an umbrella term for the ways that persuaders work toward persuadees psychologically so that they will be moved, in turn, to accept the persuaders’ position or proposal for action“ (vgl. Dies., Persuasion, 121–146, hier 123). Dabei buchstabieren sie das Anschlussprinzip auf den beschriebenen Ebenen – λέξις, πάθος, λόγος – exemplarisch durch, integrieren den ebenfalls schon in ihrer Immanenzfunktion dargestellten ἦθος-Aspekt und ergänzen die Dimensionen analog zu Knape um den Gesichtspunkt der Situation, der in gewisser Weise als Basisperspektive fungiert, sofern die Realitätsannahmen, Wertvorstellungen, Stimmungen, kommunikativen Erwartungshaltungen etc. der Adressaten im Sinne von ‚konkreten Subjekten‘ stets situativ bestimmt sind. 145 Ueding/Steinbrink, Grundriß, 221. Zur Idee des aptum vgl. auch Asmuth, Angemessenheit.
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lassen, durch eine breit angelegte Argumentation, in die mehrere bei den Hörern als plausibel unterstellte Ansichten eingearbeitet werden, und durch den Versuch, potenzielle Vorbehalte empathisch zu antizipieren oder eigene Zweifel und Anfragen zu artikulieren, predigend umgesetzt werden. Umgekehrt könnte die „harte Rede“ eines Textes (Joh 6,60) auf Basis einer spezifischen Sicht auf die Gottesdienstbesucher, in der ein bestimmtes liturgisches Element (Abendmahl) vor allem als routinemäßig vollzogener Akt beurteilt wird, durch Wahl einer besonderen Bildsprache (Verspeisung des Grenouille aus Das Parfüm) und Verweigerung differenzierender oder ironisierender Relativierungen auch provokativ zugespitzt werden. In beiden Fällen ordnet die spezifische Einschätzung und rhetorische Ausgestaltung einzelner Predigtfaktoren diesen schwerpunktmäßig Immanenz- oder Transzendenzfunktionen zu und organisiert sich deren Gesamtverhältnis über die Koordination der Faktoren.
Stellt man ferner nicht nur den graduellen Charakter des Immanenz-Transzendenz-Verhältnisses in Rechnung, sondern bezieht auch dessen Variabilität im temporalen Verlauf mit ein, sieht sich die Rednerin auch in dieser Hinsicht mit Gestaltungsspielräumen konfrontiert, die sie über das Aptumprinzip auszuhandeln hat.146 So zeigt sich die Dialektik von Immanenz und Transzendenz als ein in diversen Hinsichten variables Ineinander, das unter Berücksichtigung aller für die Kommunikationswirkung relevanten Bedingungsfaktoren je neu rhetorisch zu inszenieren ist. Sie gibt nicht eine starre Strukturvorgabe, sondern eine Gestaltungsaufgabe147, die in einen komplexen Abstimmungsprozess einweist. Dabei birgt das Aptumprinzip die – so ebenso schon von Walzer herausgekehrte – Pointe, dass das Auditorium „den letzten […] Bezugspunkt ab[gibt], der allen anderen Faktoren der Angemessenheit vorhergeht.“148
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Ethik der Persuasion
3.4.1 Aneignungstauglichkeit als Kriterium transformativer Praxis Der Gedanke einer Gewährung von Chancen des Sich-Wiedererkennens gibt m. E. einen fruchtbaren Ausgangspunkt, um die ethischen Fragen, die mit dem Anschlussprinzip verknüpft sind und von Kopperschmidt und Knape in je un146 Am Beginn der Rede trägt traditionell der rekursive Aspekt den Akzent: Die Sprecherin sucht, sich als ihren Adressaten verbundene Gesprächspartnerin zu inszenieren und das Thema ihres Diskurses als ein für die Zuhörer belangvolles darzustellen (tua res agitur), um Aufmerksamkeit zu erregen (attentum parare). Die Funktion der Aufmerksamkeitsattraktion zeigt zugleich, dass auch stärker transgressive Gesichtspunkte für den Redeanfang leitend sein können, wenn das Interesse des Auditoriums etwa über ein irritierendes Moment zu wecken versucht wird (vgl. Wessel, Attentum parare). 147 Vgl. dazu auch nochmals Seibert, Ethik, 273f. 148 Ueding/Steinbrink, Grundriß, 222.
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terschiedlicher Weise beantwortet werden, zu diskutieren. Um dafür nochmals einen detaillierteren Rahmen zu gewinnen, soll im Folgenden auf Peter Bieris kritische Analyse der Manipulationsvorstellung Bezug genommen werden. Genauerhin geht es um eine Rekonstruktion der Erfahrungen, die wir mit dem Konzept der Manipulation zu bedenken versuchen.149 In der ethischen Beurteilung transformativer Praxis nimmt das Kriterium der Selbstständigkeit einen zentralen Rang ein. Um sich als selbstständig zu erleben, ist es dabei nicht erforderlich, sich grundsätzlich gegenüber sozialen Einflüssen abzuschotten. Als relationale Wesen dürfte uns dies nicht nur faktisch unmöglich sein. Vielmehr gehört es gerade zu unserer „Freiheit, daß man mit anderen Personen Erfahrungen macht, und das heißt: durch sie verändert wird“150; unserem Leben fehlte ein gutes Maß an Schwung, zögen wir es aus den Sphären sozialer Anregung ab. Folglich richtet sich eine Ethik der Transformation nicht auf das Dass externer Beeinflussung, sondern auf ihren Modus und präziser auf die Frage, wie Einwirkungsakte gestaltet sein müssen, dass sie unser Selbstbestimmungsempfinden nicht bedrohen, beanspruchen wir doch „eine gewisse Autorität, wenn es darum geht, uns zu verändern.“151 In seiner nuancierten Beschreibung diverser Erfahrungen, in denen einem Subjekt das Gefühl für diese Autorität abhanden zu kommen droht, schlägt Bieri vor, die Erfahrung des ‚Dabeiseins‘ oder ‚Beteiligtseins‘ als basale Bedingung für Transformationsprozesse zu unterstellen, die das Erleben von Selbstständigkeit nicht gefährden, sondern aufrechterhalten.152 Die Rede vom ‚Dabeisein‘ und ‚Beteiligtsein‘ versucht einerseits der Einsicht Rechnung zu tragen, dass wir in der Erfahrung einer Umstrukturierung unserer Selbstinterpretation keine absolute Steuerungshoheit beanspruchen, um sie als Vollzug persönlicher Freiheit erleben zu können, ein solches Erleben andererseits aber ein durchaus aktives Involviertsein zur Grundlage hat, um uns selbst nicht lediglich als Spielball externer Kräfte deuten zu müssen.
149 Vgl. zum Folgenden vor allem Bieri, Handwerk, 417–423; Ders., Wie wollen wir; Ders., Art, 95–156. 150 Bieri, Handwerk, 419. „Autonomie […] kann nicht heißen, daß wir wie Burgbewohner in einer inneren Festung leben, in einer Zitadelle, die es insgesamt gegen äußere Einflüsse zu verteidigen gilt“ (a. a. O., 423). 151 Bieri, Art, 135 (i. Orig. teils hervorgehoben). Bieri sieht in der Frage, was den „Einfluß, den wir als Manipulation empfinden“, von einem „Einfluß, der die Selbstbestimmung nicht bedroht, sondern fördert“, unterscheidet, die „tiefste und schwierigste politische Frage, die man aufwerfen kann“ (vgl. Ders., Wie wollen wir, 32). Diese Einschätzung sollte vor allzu schnellen Klärungen des Problems bewahren, weshalb auch die folgenden Überlegungen eher den Charakter einer reflexiven Annäherung besitzen, denn dass sie eine Lösung beanspruchen. 152 Vgl. Bieri, Art, 135.
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‚Aktives Involviertsein‘ bedeutet zunächst, die Veränderung wahrnehmen zu können. Erneut geht es nicht darum, eine „vollständig bewußte Übersicht über das Beeinflussungsgeschehen“153 zu erlangen. Einen Grad an Wachheit jedoch, der den Vorgang der „inneren Umgestaltung“154 zu bemerken in der Lage ist und ein bewusstes Verhältnis dazu ermöglicht, setzt der Maßstab des Dabeiseins voraus. Entsprechend verschließen Manöver der Täuschung, Verstellung und Lüge Möglichkeiten tätiger Teilnahme. Die Einnahme eines bewussten Verhältnisses eröffnet sodann Optionen einer interpretativen und evaluativen Stellungnahme, also die Chance, eine „innere Distanz bei[zu]behalten, wenn wir die Sicht auf uns selbst verändern.“155 Ein Mitwirken am Geschehen der Transformation im Sinne eines solchen ‚prüfenden‘ Verhältnisses bedarf keiner radikalen hermeneutischen Aufhellung. Wo sich in uns aber ein Wunsch meldet, ein Empfinden formiert oder ein Bedeutungselement Geltung verschafft, welchem wir im Horizont unseres Selbstverständnisses keinerlei Sinn zuschreiben können und wir uns nicht imstande fühlen, uns auf die Umstrukturierung unserer Selbstinterpretation einen Reim zu machen, drohen wir aus dem Veränderungsverlauf ‚herauszufallen‘.156 Er geschieht dann ‚an‘ uns, aber nicht ‚mit‘ uns. Und dasselbe dürfte der Fall sein, wenn sich uns neue Wünsche, Empfindungen und Bedeutungen einfach faktisch imponieren, ohne dass wir in der Lange wären, zu ihnen einen Wertungsbezug aufzubauen. Auch in diesem Fall verbleibt Veränderung ein pures Widerfahrnis, das sich ohne unser Zutun abspielt. Zuletzt – und wohl am unnachgiebigsten – zerbricht unser Selbstbestimmungsempfinden im Gefühl, ‚ausgenutzt‘ worden zu sein. Wo sich im Verlauf der Kommunikation selbst oder im Nachgang ein derartiges Gefühl einstellt, erscheinen wir nicht mehr als aktiv Involvierte, sondern fühlen uns zu Instrumenten eines fremden Beeinflussungswillens degradiert. Gerade im Fall einer retrospektiv notwendig gewordenen Zuschreibung streng egoistischer Interessen an den Gesprächspartner wird die Erheblichkeit eines solchen Gefühls augenscheinlich. So mag es sein, dass ich mich in einem Interaktionszusammenhang ursprünglich durchaus als selbstständig im oben beschriebenen Sinne erleben konnte: Ich 153 154 155 156
Bieri, Handwerk, 420 (i. Orig. teils hervorgehoben). Bieri, Wie wollen wir, 45 u. ö. Bieri, Art, 135. Umfang und Tiefe der hermeneutischen Erschließung dürften dabei abhängig sein von der Relevanz, die ein Subjekt dem thematischen Bereich zuschreibt, auf die sich die Veränderung bezieht. So wird eine Person, die sich für Politik interessiert und ihrem politischen Tun im Rahmen ihres Selbstbildes einen zentralen Platz einräumt, der Entstehung einer Wahlpräferenz eine größere Aufmerksamkeit widmen und der Formierung einer politischen Meinung hermeneutisch weitaus sensibler nachspüren, als dies eine Person tut, für deren Selbstverständnis das Politische nur eine marginale Rolle spielt. Zu dieser Relevanzbedingtheit von Verstehensprozessen vgl. auch Schütz, Problem; Sperber/Wilson, Relevance; Merle, Alltagsrelevanz; Stetter, Relevanz.
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sah mich in der Lage, wahrzunehmen, dass mit mir etwas geschieht, vermochte diesen Wandel deutend hinreichend nachzuvollziehen und als wertvoll zu würdigen. Und doch beginnt diese primäre Erfahrung zu erodieren, sobald in mir rückblickend der Verdacht aufkeimt, lediglich ‚instrumentalisiert‘ worden zu sein. Zwar vermag ich die Veränderungserfahrung nicht einfach rückgängig zu machen. Ich ziehe mich aber gewissermaßen aus ihr zurück: Ich bin in ihr nicht mehr „richtig anwesend“157; sie wird mir fremd; ich vermag mich, in ihr nicht mehr ohne Weiteres wiederzukennen.
Insofern bildet die Wahrnehmung, mein Kommunikationspartner handle nicht aus schierem Eigennutz, sondern zeige sich an meinem Wohl mitinteressiert, die basale Bedingung der Erfahrung von Selbstständigkeit.158 Zugleich wird auch noch einmal die Ambivalenz intendierter Transformationen offensichtlich. Die Zuschreibung von Eigennützigkeit basiert notwendig auf der Unterstellung eines absichtsvollen Handelns; und doch vermögen wir mutwilliger Veränderung nicht per se eigennützige Interessen beizulegen, was Bieri am Beispiel der Arbeit mit Coaches, Lehrern oder Therapeuten veranschaulicht.159 Das Kriterium des ‚Dabeiseins‘/‚Beteiligtseins‘ kann Bieri terminologisch prägnanter auch über sein Konzept der Aneignung entfalten. Am Gegenstand des Willens erläutert er die elementare Rolle, die Aneignungsvollzüge für das Empfinden von Freiheit, Autonomie und Selbstständigkeit spielen. Kurz gesagt: Ein freier Wille ist ein angeeigneter Wille.160 Akte der Aneignung sind dabei Akte der Identifikation. Was ich mir aneigne, mit dem identifiziere ich mich. Das heißt: Ich ‚ergreife dafür Partei‘, ‚rechne es mir an‘, erkläre es ‚mir zugehörig‘; es erscheint nicht (mehr) als etwas, das mit mir ‚nichts zu tun hat‘, das mir „‚fremd‘, ‚abgespalten‘ und ‚äußerlich‘ vorkommt“161; ich erkenne mich in ihm wieder. Aneignung vollzieht sich im Wortsinn als Akt. Genauerhin geht es um ein Bündel von Tätigkeiten, die komplex ineinander greifen: ‚Artikulieren‘, ‚Verstehen‘, ‚Billigen‘.162 Im Vollzug der Artikulation erhält der Wille eine semanti157 Bieri, Wie wollen wir, 32. 158 Die Kautelen ‚schier‘ und ‚mit–interessiert‘ verdanken sich der Einsicht, dass wir in der kommunikativen Erfahrung mit anderen in der Regel nicht eine absolute Uneigennützigkeit voraussetzen, um uns in unserer Selbstständigkeit anerkannt zu wissen. Vgl. dazu auch Kants zweite Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Ders., Grundlegung, 54f [Hervorhebung M.S.]). Was wir voraussetzen, ist – um es mit Kants beispielhaften Erläuterungen der zweiten Formulierung auszudrücken –, dass wir in die Art, in der gegen uns verfahren wird, „einstimmen“ können (vgl. a. a. O., 55) bzw. unsere Zwecke ‚berücksichtigt‘ werden (vgl. Tugendhat, Ethik, 146). 159 Vgl. Bieri, Handwerk, 420; Ders., Art, 143–148. 160 Vgl. zum Folgenden Bieri, Handwerk, 84–126.381–430. 161 Bieri, Handwerk, 382. 162 Vgl. Bieri, Handwerk, 384. Auf diese dezidiert aktive Struktur der Aneignung wurde unter A.1.4.3 schon mit Jaeggi aufmerksam gemacht.
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sche Kontur. Er wird bestimmter. Auch tritt er dem Träger in seinem Inhalt gegenüber. Man kann jetzt an ihm ‚arbeiten‘: ihn befragen, präzisieren, revidieren. Im Vollzug des Verstehens wird ein Wille „seinem Gehalt nach“ in das sonstige „Wunschprofil“ einer Person einzuordnen versucht, um ihn als hinreichend kohärenten Bestandteil des Selbst auffassen zu können.163 Im Vollzug der Billigung findet der Aneignungsakt seinen Abschluss. Der Wille wird evaluiert: Will ich den Willen wirklich haben – weil er sich funktional in das System meiner Wünsche einfügt oder in einem ambitionierteren Sinn „zu der Art paßt, wie ich mich sehe“?164 Vor diesem Hintergrund lässt sich das ethische Problem persuasiver Praxis in die folgende Frage umformulieren: Sind die Adressaten in der Lage, am Überzeugungsvollzug aktiv teilzunehmen? Erfahren sie seine Wirkungen auf eine Weise, die es ihnen erlaubt, sich als Beteiligte zu deuten? Oder prägnanter: Erscheint ihr Zustimmungsakt als Aneignungsvollzug? 3.4.2 Aneignung als rational-emotionaler Prozess Wenn sowohl von Kopperschmidt als auch von Knape Zustimmung als authentisch erlebbare Reaktion beschrieben wird, ist diese Frage für beide Konzeptionen im Grundsatz zu bejahen. In beiden Ansätzen lancieren Persuasionen bestenfalls Veränderungen, die den Angesprochenen nicht nur äußerlich zustoßen, sondern innerlich mitvollzogen werden. Dabei akzentuiert Kopperschmidt die rationale Komponente eines solchen Mitvollzugs. Indem er emphatisch auf den zwanglosen Zwang eines Grundes setzt, mit dem sich ein Subjekt zu identifizieren weiß, und dessen Bindungskraft daher nicht als Fremdkompulsion, sondern als Selbstnötigung empfunden wird, stellt er die hermeneutische Dimension von Aneignungsvollzügen heraus. Er lenkt den Blick auf den Adressaten als räsonierendes Wesen, das in seinem Nachdenken nicht übergangen werden möchte, sondern auf das Geben guter Gründe insistiert.165 Demgegenüber verweist Knape m. E. zu Recht mit Nachdruck auf die komplexen Bedingungen, unter denen sich ein Subjekt mit einem Argument zu identifizieren vermag. Im Reich des real talk beeinflussen das persönliche Image 163 Vgl. Bieri, Handwerk, 391. 164 Vgl. Bieri, Handwerk, 398f, hier 399. Die Paradoxie dieser Formulierung ist freilich eine nur scheinbare, deutet aber die Komplexität der Struktur eines Selbst an, das nicht auf einen eigentlichen Wesens- oder Identitätskern fixiert werden kann, sondern als eine in sich dynamisch und prozessual verfasste Größe zu verstehen ist (vgl. a. a. O., 400–415; A.1.4.3). 165 Bieri illustriert an Franz Kafkas Der Proceß die entwürdigenden Effekte kommunikativer Situationen, in denen einem Subjekt die Möglichkeit genommen wird, das, was mit ihm geschieht, denkend und verstehend nachzuvollziehen, indem Erklärungen, Begründungen, Rechtfertigungen verweigert werden (vgl. Ders., Art, 121–126; ferner Ders., Handwerk, 90– 93).
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der Sprecherin, ihr sprachlicher Stil, ihre aktionale Performanz sowie die situationsaktuellen Emotionen des Publikums die Einschätzung von Gründen stets mit. Insofern sind persuasive Praktiken nicht auf rein rationale Prozesse zu reduzieren. Das heißt nicht, dass das λóγον διδóναι überzeugungstheoretisch zu degradieren wäre. Es bleibt ein unhintergehbares, wenn nicht das belangvollste Verfahren – nur dass es im Rahmen lebensweltlicher parole nicht exklusiv wirkt, sondern im Verbund mit Affekten diverser Art.166 Eine Berücksichtigung solch emotionaler Strukturen dürfte nicht nur dem Subjektbegriff Bieris167 entsprechen, sondern wird zudem durch den hohen Rang nahe gelegt, den er der Empfindung zuweist, der Gesprächspartner sei an meinem Wohl interessiert. Rhetorisch firmiert diese Wahrnehmung, wie gesehen, unter dem Aristotelischen Begriff der εὒνοια und gehört damit dem Zusammenhang der Vertrauensgefühle an. Mit Bieri geben sie die grundlegende Voraussetzung, um sich im Überzeugungsvollzug als selbstbestimmter Akteur erfahren zu können. Der Verweis auf die Affektivität persuasiver Praxis ruft sodann auch nochmals die Überlegungen von Cooke zur Idee eines guten Grundes in Erinnerung (vgl. B.2.2.3). Demnach ist ein ‚guter‘ Grund ein ‚eigener‘ insofern, als er im Kontext nicht nur meiner Kognitionen, sondern meiner „experiences as a whole“ Sinn macht: „[T]o see something as a good reason, human subjects must be capable of integrating it into the affectively imbued constellations of reasons that are formative of their identities.“168 3.4.3 Aneignung als rekursionsbasierter Prozess Sofern das Anschlussprinzip auf das Geben solcher Gründe abzielt, kann es als ein Prinzip verstanden werden, das Aneignungschancen eröffnet. Über die Bewegung der Bezugnahme werden die Adressaten in die Lage versetzt, das kommunikative Anliegen vor dem Hintergrund der eigenen kognitiven und emotionalen Systeme hermeneutisch zu verarbeiten und evaluativ zu ratifizieren. Da der persuasive Text zugleich in seinen elokutionären Dimensionen auf das Publikum abzustimmen ist, wird sichergestellt, dass die Artikulationsfähigkeiten 166 So ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass auch streng auf die rationalen Vermögen der Adressaten orientierte Kommunikationen emotionale Eindrücke mitvermitteln. Die Inszenierung von Sachlichkeit, reflexiver Distanz, Unvoreingenommenheit und nüchterner Beurteilung stellen ihrerseits affektbesetzte Werte dar, die spezifische Gestimmtheiten zu provozieren vermögen und gerade auch die Vertrauensrelation gegenüber der Rednerin tangieren (vgl. Ortak, Persuasion, 57; Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 213f; Ueding/Steinbrink, Grundriß, 280). 167 Vgl. Bieri, Art, 20–23. 168 Vgl. Cooke, Society, 17.152 (Hervorhebung M.S.). Damit ist auch deutlich, dass manipulative Techniken nicht einfach über das Kriterium der Emotionalität zu bestimmen sind (vgl. dazu etwa Ortak, Persuasion, 243ff).
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der Angesprochenen nicht hintergangen werden, sondern der intendierte Transformationsprozess im Horizont des eigenen Ausdrucksuniversums zu stehen kommt. Dadurch gewinnt der Überzeugungsakt eine reflexive Struktur: Er vollzieht sich als Selbst-Überzeugung. Er wird nicht von außen instanziiert, sondern bewegt sich auf Basis von Vokabularen, Bedeutungen, Werten und Stimmungen, mit denen man sich selbst zu identifizieren weiß.169 Damit tritt auch nochmals das Defizit eines poietisch verkürzten Wirkungsbegriffs vor Augen. Wer Persuasionen nach dem Muster eines physikalischen Reiz-Reaktions-Mechanismus interpretiert, kann die reflexive Überzeugungstätigkeit der Adressaten auf sich beruhen lassen. In sein Wirkungskalkül muss er die sinnhaften Verarbeitungsvollzüge, die sie auf Basis ihrer biographisch geprägten und situativ bestimmten Orientierungssysteme unternehmen, gerade nicht miteinbeziehen. Es genügte, an – als mehr oder weniger allgemein unterstellte – psychische Gesetzmäßigkeiten anzuschließen und die kommunikativen Stimuli auf diese abzustimmen.
Ganz analog trat die Bewegung der Bezugnahme im Rahmen der Überlegungen Walzers als asymmetriekritisches170 Prinzip zum Vorschein. Sie steht einer Ausdünnung konsistenter Bezüge zu den Erfahrungskontexten der Adressaten entgegen, womit eine maßgebliche Bedingung erfüllt ist, um ‚ethische‘ und ‚epistemologische‘ Autoritarismen zu unterlaufen – man könnte nun auch sagen: um die Adressaten als Aneignende einzusetzen. Über den Aneignungsbegriff lässt sich nun auch die Unterstellung Walzers besser nachvollziehen, dass im Prinzip der Rekursivität sowohl dem Wirkungsinteresse des kritischen Akteurs (Argument der Effektivität) als auch dem Autonomieinteresse des kritisierten Adressaten (Argument der Symmetrie) Rechnung getragen werden kann. Sofern in der Aneignungsvorstellung der Gedanke mitschwingt, dass ein Diskursbeitrag nicht ‚verpufft‘, sondern zu einem Faktor der Selbstverständigung wird, korrespondiert die Aneignungsprozesse ermöglichende rekursive Dynamik dem senderseitigen Anliegen, Einfluss zu nehmen; sie ist das ‚Betriebsgeheimnis‘ erfolgreichen Sprechens. Sofern in der Aneignungsvorstellung verstanden mit Bieri ein Rezeptionsvorgang im Blick ist, 169 Vgl. dazu auch Perloff, Dynamics, 13f; B.2.2.1. Diese reflexive Struktur des Überzeugungsprozesses hat Robin R. Meyers in den Mittelpunkt seiner homiletischen Überlegungen gestellt; das Predigtgeschehen wird vom Gedanken der „Self-Persuasion“ her entfaltet. Im Anschluss an neuere persuasionstheoretische Erwägungen und in Abkehr von behavioristischen Kommunikationsmodellen fasst er den Prozess des Überzeugtwerdens als etwas auf, das einem Subjekt nicht von einem anderen her geschieht: Wir werden nicht von anderen überzeugt, sondern überzeugen uns selbst anhand der Mitteilungen anderer; „persuasion is finally a self-generated, rather than an other-generated phenomenon“ (vgl. Ders., Ears, bes. 7–16, hier 12). 170 Terminologisch deuten darauf schon die Begriffe ‚Kooperation‘ und ‚coaction‘, mit deren Hilfe einerseits Knape die Immanenzfunktion der ἦθος-Komponente, andererseits Simons und Jones ihren am Anschlussprinzip orientierten Persuasionsansatz auslegen.
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der dem Selbständigkeitsanspruch der Rezipienten dient, korrespondiert die solche Rezeptionen ermöglichende rekursive Dynamik dem Autonomieinteresse der Adressaten. In der Bewegung der Bezugnahme lassen sich beide Interessen zusammen denken.171 Freilich: Wie Kopperschmidt nachdrücklich geltend macht und auch in Bieris Erwägungen deutlich wurde, braucht es dazu einer Zusatzbestimmung, kann ein exklusiv auf das Anschlussprinzip abgestelltes Überzeugungsverfahren von Diskurspraxen, die Aneignungsprozesse hemmen oder sabotieren, doch noch nicht hinreichend abgehoben werden. Neben der Einstimmung auf die kognitiven und emotionalen Regime der Adressaten ist der Sprecher auf die kommunikative Aufrichtigkeits- bzw. Wahrhaftigkeitsregel zu behaften, deren Geltung auch der Lügner oder Täuscher implizit unterstellt, wenngleich er ihr performativ widerspricht.172 Um solchen praktischen Kontradiktionen zu entgehen, vermag der Sprecher an sein Auditorium immer nur soweit anzuschließen, als er den aus einer solchen Adaptionsdynamik entwickelten Text auch vor seinen eigenen kognitiven und emotionalen Regimen verantworten kann. Eine solche reflexive Blickrichtung mag man dann auch zu der allgemeineren – ethisch freilich subjektivistisch argumentierenden – pragmatischen Faustregel fortführen, wonach eine persuasiv eingestellte Rednerin sich bestenfalls mental an die 171 Die Möglichkeit, im Gedanken der Aneignung das senderseitige Wirkungsinteresse und das rezipientenseitige Autonomieinteresse in Kontakt zu halten, ist fundiert in der durch Ricœur und Jaeggi ausgewiesenen transformativen Reziprozität der Aneignung: Ein Aneignungsgeschehen lässt den Aneignenden nicht unverändert – auf ihn wirkt etwas ein; ein Aneignungsgeschehen lässt aber auch das Angeeignete nicht unverändert – der Aneignende erfährt sich selbst nicht als ein passiver Spielball externer Beeinflussung, sondern als aktiv Involvierter. Im Horizont religionsbezogener Überlegungen hat Joachim Ringleben exakt dieselbe Struktur an Søren Kierkegaards Theologie nachgewiesen: „Indem Aneignung beschrieben werden kann als ein das Selbst verwirklichendes Wirksamwerdenlassen des Gegenstandes für es, bei ihm und durch es, ist sie verändernd. [Sie] ist immer ein fruchtbarer Vorgang. Aneignung ist – pointiert gesagt – die Weise, wie ein Gegenstand subjektive Folgen aus sich freisetzt.“ Diese Folgen resultieren aber eben durch ein „[k]onstruktives Nachschaffen“ des Gegenstandes; „Aneignung schmilzt das Angeeignete immer auch um“ (vgl. Ders., Aneignung, 97–155, hier 115–117). Homiletisch adaptiert findet sich dieser Gedanke in Haizmann, Homiletik; vgl. dazu auch Deeg, Fragen. 172 In der argumentationstheoretischen Forschung wird auf diese Regel mit dem traditionellen Trugschluss des argumentum ad hominem verwiesen, wonach der Argumentierende sich auf Prämissen stützt, „die er selbst nicht gelten lassen würde, von denen er aber annimmt, daß der Adressat sie gelten läßt“ (Coenen, Argumentieren, 64). Von diesem pejorativen Sinn des argumentum ad hominem zu unterscheiden ist sein positiver Bedeutungsgehalt, demzufolge „[ j]edwede Argumentation […] eine Argumentation ad hominem oder ex concessis“ darstellt, insofern sie Gründe ins Spiel zu bringen hat, mit denen sich das Auditorium identifizieren kann (vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1). Ganz entsprechend differenziert Taylor zwischen einem „ad hominem mode of practical reasoning“ und seinem als „apodictic“ qualifizierten Widerpart, wobei Ersterer den Argumentierenden auf das Prinzip des Anschließens behafte (vgl. Ders., Explanation, passim).
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Stelle ihres Gegenübers zu setzen hätte mit der Frage: Operiere ich mit Überzeugungsverfahren, die ich, würden sie in einem Kommunikationsakt eingesetzt, deren Adressatin ich selbst wäre, guthieße?173 Darüber hinausreichende Forderungen, wonach persuasive Praktiken an philosophisch ambitionierte geltungstheoretische Maßstäbe gebunden wären, scheinen m. E. aus persuasionstheoretischer Perspektive normativ zu weitreichend.
3.4.4 Die Predigt zwischen Wirkungsinteresse und Autonomieanspruch Freilich verlangt eine Integration allgemein gehaltener persuasionstheoretischer Überlegungen in die Reflexionszusammenhänge spezifischer Kommunikationskasus nochmals eine gesonderte Betrachtung – nicht weil damit die Sphäre der allgemeingültigen kommunikativen Bedingungen verlassen wäre, sondern weil die besondere Situation eines Redevollzugs nicht nur vom Praxissubjekt selbst zu berücksichtigen ist, sondern auch von der Theoriebildung, die sich diesem Redevollzug widmet. Es macht einen Unterschied, ob sich das Nachdenken auf massenmediale Wirkungen, Marketing-Kommunikationen, politische Kampagnen, die therapeutische Interaktion oder den akademischen Fachvortrag richtet. Entsprechend bedarf auch eine Adaption persuasionstheoretischen Wissens auf die religiöse Rede einer homiletischen Reflexion. Zu bedenken ist dabei m. E. primär die Frage der Erfolgsorientierung. Zugespitzt formuliert: Zielt die Predigt auf die Durchsetzung eines Anliegens der Predigerin? Bei der Entwicklung einer Antwort auf diese Frage scheinen mir zwei Perspektiven zentral.174 (1) Zunächst gilt es, den intentionalen Charakter der Predigt positiv zu würdigen. Knapes Emphase der Senderseite kommunikativer Prozesse bietet dem rezeptionsästhetisch geprägten homiletischen Diskurs ein fruchtbares Anregungspotenzial. Sie lenkt den homiletischen Blick mit Nachdruck auf das Handeln der Predigerin, das die Rezeption ihres Beitrags nicht poietisch zu erzeugen vermag, gleichwohl wesentlich beeinflusst. Gestützt wird diese Akzentsetzung durch die im vorigen Kapitel skizzierte Verbindlichkeitsstruktur der Predigt. Sofern wir das Verhältnis, das die Predigerin zu ihrer Mitteilung einnimmt, in der Regel nicht für irrelevant halten, und sie für das Gesagte verantwortlich zeichnen, besitzt die Predigt einen prägnanten Verweisungsbezug auf ihr Subjekt. Dieser wird verstärkt, wenn die Predigt aufführungstheoretisch als aktueller Vollzug in Betracht gezogen wird, in dem uns 173 Vgl. Simons/Jones, Persuasion, 34: „Should we be forgiving ourselves as persuaders for practices we would condemn as persuadees?“ 174 Vgl. zum folgenden Reflexionsgang auch Stetter, Überlegungen, 169–173.
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ihr Subjekt personal gegenübertritt und leibhaft präsent wird. Anders als beim schriftlichen Diskurs nehmen wir die Bedeutung des Gesagten unter dieser Bedingung ohne größere Vorbehalte als Ausdruck des von ihm gemeinten Sinns.175 Demnach ist die Predigt ein eminent subjektiv bestimmter Kommunikationsakt, in dem sich ein lebensweltlicher Akteur in seiner Sicht auf Welt zu verstehen gibt. Da uns diese Sicht auf Welt nicht im Modus freier Expression, sondern direkter Adressierung begegnet, messen wir ihrem Subjekt eine doppelte Intention bei. Zumindest gemäß der linguistischen Pragmatik wird im Akt der Adressierung erstens eine kommunikative Absicht manifest, die zweitens ihrerseits einen je nach Situation spezifizierten inhaltlichen Sprachhandlungswillen anzeigt.176 Wer sich als Angesprochener erfährt, schließt auf einen Sprecher, der etwas kommunizieren möchte bzw. durch seinen Kommunikationsakt etwas zu erreichen sucht. Als Form direkter Adressierung signalisiert die Predigt demnach ein Subjekt, das doppelt intentional agiert: Es beabsichtigt Kommunikation mit dem Ziel, einem bestimmten Anliegen Geltung zu verschaffen. Hinsichtlich der Bestimmung dieses Anliegens unterscheidet die Homiletik traditionell zwei Reflexionsebenen. Auf prinzipieller Ebene wird das Praxissubjekt in generellere Zieldiskurse eingebunden. Auf Basis der Wahrnehmung aktueller soziokultureller Entwicklungen zielt die prinzipielle Homiletik auf die Bereitstellung von Reflexionsperspektiven, mit deren Hilfe ein homiletisches Selbstkonzept erarbeitet werden kann, das immer auch Vorstellungen über die grundsätzlicheren Teloi der Predigt mitumfasst. Auf praktischer Ebene spezifizieren sich diese Vorstellungen in situativ konkrete Einzelzwecke. Im Prozess der Predigtvorbereitung formiert sich die Zielperspektive, die mit dem anstehenden Predigtakt verfolgt werden soll und stets zweifach dimensioniert ist: Es geht um die Festlegung auf ein Thema sowie die Bestimmung seiner pragmatischen Funktion.177
Dass die Predigerin die erfolgreiche Umsetzung gerade auch dieser pragmatischen Zielsetzungen anstrebt, entspricht nicht nur der angenommenen Verbindlichkeitsstruktur der Predigt, sondern kann aus stärker normativer Warte auch als durchaus wünschenswert behauptet werden – zumindest wenn sich die Predigerin auf die Aufrichtigkeitsmaxime verpflichtet weiß und die beschriebene Anliegen-Struktur persuasiver Intentionen in die Reflexion miteinbezogen wird. In der Tat erscheint der Gedanke der Selbstbehauptung auch normativ besehen für den Zusammenhang der Predigt insofern produktiv, als er den Blick auf das Verhältnis, das Predigende zu ihrer Rede unterhalten, lenkt. 175 Vgl. Ricœur, Text, 193ff. 176 Vgl. Sperber/Wilson, Relevance, 28–31. 177 Vgl. etwa Bukowski, Predigt, 48f. Die formal gehaltenen Ausführungen über die Ausbildung des Predigtziels sollen der Einsicht Rechnung tragen, dass auch die Homiletik den Praxissubjekten sowohl in prinzipieller als auch in konkreter Hinsicht keine inhaltlichen Vorgaben unterbreiten kann. Sie bietet bestenfalls fruchtbare Argumentationsperspektiven für die eigenständige Reflexion und selbstverantwortete Wahl der Zwecke.
Vertiefungen des Persuasionsbegriffs
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So wurde homiletisch wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass es der Predigt nicht um eine desengagierte Darstellung, Vermittlung oder Erörterung religiösen Wissens gehe, sondern Predigende bestenfalls eine Sicht auf Welt präsentieren, von der sie selbst überzeugt sind, mit der sie sich zu identifizieren vermögen und an der ihnen subjektiv liegt: „[W]hat is suggested […] is that preachers participate in their own sermons, not just deliver them.“178 Berührt ist damit der weitere pastoraltheologische Problemzusammenhang mit seiner Leitfrage nach der Relation von ‚Amt‘ und ‚Person‘. Mit der Akzentuierung der Idee des Anliegens sowie der Maxime der Wahrhaftigkeit kommt das Predigtgeschehen weniger als ein institutioneller Akt zum Vorschein denn als subjektiv verantworteter Kommunikationsvollzug; die Predigerin agiert nicht als ‚Funktionärin‘ einer Organisation, sondern präsentiert einen Sinn, der ihr persönlich plausibel und relevant erscheint und den sie insofern auch vor anderen als solchen ausweisen möchte. Vor dem Hintergrund der sozialen und kulturellen Transformationen auch des religiösen Feldes ist ein solcher Akzent m. E. kein Nachteil und zu Recht auch konzeptionell immer wieder propagiert worden.179 Darüber hinaus dürften sich überhaupt Kommunikationen, die wir als lebendig, interessant und anregend erfahren, häufig dort entwickeln, wo ein Gesprächspartner sich ‚positioniert‘ und für eine Sicht, die sich ihm als sinnig und wichtig erschlossen hat, persuasiv einsteht.180 Wo Aussagen dagegen nicht per178 Meyers, Ears, 15 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. dazu unter explizitem Verweis auf die rhetorische Tradition aktuell etwa auch Gräb, Predigtlehre, 39–44.273–281; Meyer-Blanck, Entschieden predigen; Schlag, Grundperspektive, 87–92; Wilson, Practice, 27–32. Unter dem zeitgenössisch einschlägigen Begriff der Persönlichkeit avancierte das Verhältnis der Predigt zu ihrem Subjekt zu einem zentralen homiletischen Bezugspunkt insbesondere im Kontext der Predigtreformbewegung um 1900 (vgl. etwa Baumgarten, Predigt-Probleme, 61–81; Niebergall, Wie predigen, Bd. 1, 131ff sowie zusammenfassend Wintzer, Homiletik, 165–170 und konstruktiv daran anknüpfend Luther, Handlung, 236ff). Dass dabei u. a. Authentizitätsvorstellungen im Hintergrund stehen, die heute im Wissen um die Konstruktivität sprachlicher Inszenierung als überzogen zu bewerten sind, ist evident. Demgegenüber gilt es, die oben notierte rhetorische Einsicht herauszustellen, dass das ἦθος als kommunikative Variable anzusprechen ist und insofern als verfahrensinduzierte Größe zu stehen kommt (vgl. dazu auch Gräb, Predigtlehre, 275). 179 Vgl. dazu exemplarisch und im Blick auf den Strukturwandel, den das Pfarramt mit der Heraufkunft der Moderne erfasst hat, Weyel, Pfarrberuf, 643: „Die Reflexion auf die Person des religiösen Berufsträgers ist vielmehr als produktive Reaktion auf einen umfassenden Modernisierungsprozess zu verstehen, in dem der Zugang zur Religion grundsätzlich individualisiert und der Pfarrer zum gesellschaftsöffentlichen symbolischen Repräsentanten gelebter Religion wurde“. Den herausfordernden Zusammenhang zwischen einer institutionell verankerten und professionell wahrgenommenen Auftragsrede und der Aufrichtigkeitsregel stellt auch Kopperschmidt, Rhetorik, 88 heraus, wenn er „besonders institutionelle Vertreter dem Verdacht ausgesetzt“ sieht, „entsprechend institutionelle Positionen zu vertreten (‚Ich in meiner Eigenschaft als …‘), anstatt eigene und damit auch subjektiv verantwortbare Positionen zu beziehen.“ 180 Vgl. Engemann, Einführung, 15.
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sönlich durchgearbeitet und angeeignet sind, drohen Kommunikationsbeiträge fade zu werden – und im Extremfall sogar an ‚Heuchelei‘ zu grenzen, dann nämlich wenn etwa aus Traditionsgründen Ansichten kommuniziert werden, denen man selbst eigentlich gar nicht zuzustimmen in der Lage ist. So besehen wäre nicht nur der Verbindlichkeitsstruktur der Predigt entsprochen, sondern auch die damit einhergehende Stärke des Kommunikationsgenres ‚Predigt‘ zur Geltung gebracht, wo Predigende „ihre Rolle als religiöse Redner und Rednerinnen annehmen [und] den Gehalten des christlichen Glaubens in Entsprechung zu den Lehrgrundlagen ihrer Kirchengemeinschaft einen persönlich überzeugten und auf den Gewinn persönlicher Überzeugung zielenden Ausdruck geben.“181
(2) Wurde die teleologische Struktur des homiletischen Aktes bis dato vom Standpunkt seines Subjekts aus bedacht und über die positive Qualifizierung einer authentischen Kommunikationshaltung und unter Vorbehalt der Aufrichtigkeitsregel stark gemacht, hat eine Beurteilung der Frage nach der Erfolgsorientierung des Weiteren die Rezipientenseite mitzuberücksichtigen. Einem radikal auf den Zustimmungserfolg ausgerichteten Redner kann es letztlich gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen sich dieser einstellt; die Faktizität der Akzeptanz erfüllt seine Zielsetzung. Wenn vor allem Kopperschmidt, aber auch Knape ein persönlich gegründetes Einverständnis fordern, dann greift eine solch krude Perspektive schon persuasionstheoretisch zu kurz. Im Blick auf das Predigtgeschehen gilt es darüber hinaus, ihr – wenn man so will – Grundthema mitzuberücksichtigen. Als rednerische Form religiöser Kommunikation hängt eine Bestimmung der durch die Predigt zu eröffnenden Rezeptionsbedingungen immer auch am Religionsbegriff, den Predigende grundlegen. Die Auffassung davon, womit es die religiöse Dimension unseres Lebens auf sich hat, dürfte die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich Predigtreaktionen bestenfalls ereignen, wesentlich beeinflussen. Sofern man mit guten Gründen dafür argumentieren kann, dass der Religionsvollzug gerade in der protestantischen Tradition an Werte wie Mündigkeit, Selbstbestimmung, persönliche Einsicht, subjektiv empfundene Stimmigkeit etc. gebunden ist, hätte der homiletische Akt auf den Aufbau von Bedingungen zu zielen, unter denen Reaktionen möglich werden, die diesen Merkmalen entsprechen.182 Teilt man
181 Gräb, Predigtlehre, 276. Zur Predigt als einem intentionalen, wirkungsinteressierten Sprechen vgl. mit je unterschiedlicher Akzentsetzung und variierenden Theoriebezügen ferner Weyel, Textauslegung; Dies., Religion; Bukowski, Predigt, 36–76; Conrad, Plädoyer; Engemann, Predigt; Fuchs, Predigt, 12–45; Luther, Handlung; Lütze, Absicht; Meyer-Blanck, Entschieden predigen; Ders., Gottesdienstlehre, 467–478; Müller, Homiletik (1994), 179– 204; Otto, Predigt, 38–41. 182 Vgl. dazu ausführlicher Teil E.
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diese Auffassung, gehört es gewissermaßen zum Erfolg der Predigt, dass sich die Adressaten im Rezeptionsprozess als selbstständige Subjekte erleben können. Sie wären als Aneignende vorzusehen, die sich zu einem Selberverstehen ermächtigt erfahren und in der Lage sind, sich mit den im Akt der Rezeption empfundenen Emotionen zu identifizieren.183 Vor diesem Hintergrund wäre der oben notierte Gedanke des Engagements nochmals präziser zu konturieren. Wird unter Engagement nicht nur ein Verweis auf die subjektive Relevanz und Plausibilität des gefassten Anliegens verstanden, sondern ein Involviertsein, das jedwede Distanzierung verhindert, dann wäre auch im Zusammenhang der Predigt allenfalls von einem gebrochenen Engagement zu reden. Denn die Anerkennung des Hörers als aneignendes Subjekt ist Ausdruck einer Distanzierung, die sich konkretisiert in der Anerkennung individueller Verarbeitungen, selektiver Übernahmen, möglicher und faktischer Einwände und damit der grundsätzlichen Fallibilität der eigenen Ansicht. Mit Knape äußert sich dies darin, „dass der Hörer seine Reservationes mentales als innere Reaktionen aufrechterhalten können muss, und dass der Prediger dem Hörer Spielraum zum Selberdenken und -fühlen oder zum inneren Mitgehen lassen soll.“184 Die Gebrochenheit des Engagements steigerte sich allerdings dort zu seiner Erosion, wo sich der Prediger überhaupt von seinem Anliegen distanzierte und als neutraler Informant lediglich Optionen skizzierte, die von keiner subjektiven Einschätzung mehr getragen sind und deren Präsentation damit den Charakter persönlich motivierter Rede einbüßten. Der Gedanke des gebrochenen Engagements ließe sich deshalb auch als eine spezifisch strukturierte Dialektik von Engagement und Distanzierung explizieren,185 aus der heraus eine Idee von Kommunikation formulierbar wird, in der ein Subjekt für sich 183 Zur „Aneignungstauglichkeit“ als homiletischem Kriterium vgl. insbesondere Gräb, Leben, 216.220; Ders., Predigtlehre, 23.69 u. ö., hier 285. 184 Knape, Predigt, 47 (Hervorhebung i. Orig.). 185 In diesem Sinne bezieht Harald Wohlrapp im Anschluss an Norbert Ilias im Reflexionszusammenhang der Argumentationstheorie Engagement und Distanzierung aufeinander: „Indem ich nun diese Meinung als These setze, entlasse ich sie aus meiner Verfügung. Sie wird ein selbstständiges Ding, das sich in der kommunikativen Sphäre der Welt bewähren muss. Zwar behält sie meine Unterstützung – das ist eben das unter der Distanzierung fortdauernde Engagement – aber ich akzeptiere, dass sie nun aus anderen Perspektiven betrachtet wird und daher mit anderen Teilen von Wissen und Doxa konfrontiert wird als die, mit denen ich sie ausstatten konnte. Mein distanziertes Engagement für die These besteht darin, eine Begründung für sie zu konstruieren und diese gegen Einwände zu verteidigen, sie zu ergänzen, sie ggf. zu reformulieren, kurz, alles zu tun, um die These in einer argumentativ reflektierten Form als Konklusion zurückzubekommen“ (vgl. Ders., Begriff, 177–183, hier 181; Ilias, Engagement; entsprechend auch Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 20f). Unter dem Titel „Toleranz und Leidenschaft“ sucht Grözinger für die Predigt eine ähnliche Dialektik zu entfalten, wobei er interessanterweise gerade zu einem Nachvollzug der drei rhetorischen ἦθος-Komponenten der φρόνησις, αρετή und εὔνοια gelangt, ohne diesen Bezug freilich explizit zu markieren (vgl. Ders., Toleranz, 174–181).
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selbst als sinnig und wichtig empfundene Ansichten tatsächlich vertreten kann, ohne dabei in einen verkrampften Selbstabschluss zu verfallen – sei es, dass es sich in der Erarbeitung der Redeabsicht gegenüber widerständigen Perspektiven vorschnell immunisiert, sei es, dass es sich im Nachgang potenziellen Fortführungsdiskursen entzieht, sei es, dass es die Redeabsicht im Vortrag abwägungsfrei und begründungslos vorsetzt. Als probates Mittel einer kommunikativen Einlösung dieser Dialektik kann dabei die Kenntlichmachung der Subjektivität der vertretenen Ansicht gelten.186 Sie erlaubt zum einen engagierte Fürsprache und eröffnet zum anderen den Hörern einen Raum für selbstbestimmte Stellungnahmen; senderseitiges Wirkungsinteresse und rezipientenseitiges Autonomieinteresse kämen so zusammen. Bleibt die Frage, ob unter diesen Bedingungen zum angestrebten Reaktionsspektrum der Predigt notwendig die Zustimmung gehört? Vermutlich entspricht es dem Selbstkonzept vieler Predigenden, dass ihr Predigtvortrag auch dann zu einem Ziel gekommen ist, wenn die Adressaten auf Basis ihrer kognitiven und emotionalen Regime die von ihnen angebotene Deutungsperspektive nicht einfach zu teilen vermögen. Im Blick auf diesen Standpunkt scheinen mir abschließend drei Erwägungen sinnvoll: – Zum einen gilt es festzuhalten, dass Zustimmungsintentionen keineswegs ausschließen, auch auf Zurückweisung zu stoßen. Stellt man die beschriebene Dialektik von Engagement und Distanz in Rechnung, muss man Ablehnung nicht intendieren, um sie als Effekt eines Plausibilisierungsversuchs gleichwohl anerkennen und wertschätzen zu können. – Sodann dürfte der Akzent des Standpunkts auf der Kautel ‚nicht einfach‘ liegen. Kritische Reserven gegenüber dem propagierten Anliegen werden wohl nur dann als ‚Erfolg‘ bewertet, wenn sie auf einem Auseinandersetzungsprozess beruhen, der als solcher voraussetzt, dass die vertretene Sicht auf Welt nicht überhaupt irrelevant und unplausibel erscheint, sondern mit den eigenen Fragen, Themen, Projekten und Empfindungen zumindest etwas zu tun hat und vor ihrem Hintergrund wenigstens als so plausibel empfunden wird, dass sie zur Elaboration anregt.187 – Damit gilt es zuletzt auch nochmals die Eigenart von Akzeptanzreaktionen in den Blick zu nehmen. Versteht man unter Zustimmung ein Nullsummenspiel, wonach ein Predigtbeitrag entweder akzeptiert oder abgelehnt wird, oder als temporales Absolutum, wonach punktuelle Akzeptanzreaktionen Ansichten 186 Vgl. dazu ausführlicher Panzer, Glauben, 183ff; Stetter, Überlegungen, 181f. 187 An dieser Stelle sei an Rapps Bemerkung erinnert, dass die Auseinandersetzung mit einem Sichtweisenangebot auch dann als ‚modifizierend‘ gelten kann, wenn das Angebot ‚ausgeschlagen‘ und an den „eigenen ‚Überzeugungen‘“ festgehalten wird – insofern nämlich, als meine Sicht auf Welt im Bestehen der „Probe der Diskussion“ den „Charakter der Reflektiertheit“ gewinnt und sozusagen vertieft wird (vgl. Ders., Handeln, 54).
Ausgewählte Prozeduren der Persuasion
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auf Dauer feststellen, dürften Zustimmungsintentionen mit Recht als überzogen gelten. Wird Zustimmung dagegen als dynamisches Phänomen interpretiert, das in sich flexibel auf Diskursbeiträge reagiert sowie im Kontakt mit über den Einzelkommunikationsakt hinausreichenden Erfahrungen mit sich, seiner Mit- und Umwelt stetig modelliert wird, werden Zustimmungsintentionen gewissermaßen entdramatisiert und als durchaus geläufige Zwecke innerhalb des Kommunikationsuniversums auch der Predigt lesbar.
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Ausgewählte Prozeduren der Persuasion
Die Idee der Zustimmung als das persuasionsspezifische Telos kommunikativer Handlungen lässt sich im Horizont der bisherigen Überlegungen bündig nochmals vierfach konturieren. Sie ist (1) Reflex einer Restrukturierung des Bewusstseins, die variierende Grade annehmen kann; sie ist (2) Ausdruck einer Plausibilitätserfahrung, nicht Reaktion auf unmittelbare Evidenz oder strikten Beweis; sie ist (3) Momentum einer komplexeren Erfahrungsgeschichte und nicht Widerhall eines per se veränderungsresistenten Zustandes; sie ist (4) Resultat einer Aneignungstätigkeit, die im Rahmen behavioristischer Erklärungsansätze nicht hinreichend zu erfassen ist; sie wird allenfalls ‚provoziert‘, nicht ‚produziert‘. Wie mehrfach angedeutet verdanken sich solche Akzeptanzvollzüge rhetorisch besehen einer Vielzahl von Faktoren. Stilbildend wurde der Versuch der aristotelischen Rhetorik, sie in einem triadischen Modell zu systematisieren. So beziehe die Rede ihre Überzeugungskraft aus der Vertrauenswürdigkeit ihres Subjekts (ἦθος), der Geneigtheit ihrer Adressaten (πάθος) sowie der Glaubhaftigkeit ihres Gegenstandes (λόγος), die ihrerseits von der Nachvollziehbarkeit seiner gedanklichen Struktur und der Wirksamkeit seiner elokutionären Darbietung abhängt.188 Vermutlich weil diese Modellierung nicht nur die drei basalen Konstituenten kommunikativer Praxis reflektiert (‚Sprecherin‘, ‚Mitteilung‘, ‚Rezipientin‘), sondern zudem kognitive wie emotive Aspekte integriert,189 hat sie sich bis in die gegenwärtige Theoriebildung hinein als ein fruchtbares Reflexi188 Zur aristotelischen Pististrias und ihrer Weiterbildung in der römischen Rhetorik vgl. Schirren, Redeabsicht. 189 In der römischen Tradition wurden die pathos- wie die ethos-Komponente unter emotionalen Gesichtspunkten bedacht. So notiert etwa Quintilian in seiner Institutio: „Doch wenn ich das Wesen der Sache selbst betrachte, so scheint es mir, als seien mit dieser Bezeichnung [sc. ἦθος] nicht so sehr die Sitten überhaupt gemeint als vielmehr etwas, was ihnen besonders eigentümlich ist. Vorsichtigere haben deshalb lieber den Sinn des Wortes umschrieben als die Benennung übersetzt. Sie haben also gesagt, πάθος seien erregte Gefühle, ἦθος sanfte und ruhige“ (Ders., Ausbildung, 701). Vgl. dazu auch Till, Pathos, 651–654.
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onsinstrument durchgehalten und besitzt auch für das Feld transformativer Praktiken Strukturierungspotenziale.190 Dabei sollte man von einfachen Kontinuitätsannahmen absehen. Je nach anthropologischem, epistemologischem, ethischem oder kommunikationstheoretischem Background variieren die Bestimmung der einzelnen Faktoren und das Verständnis ihres Zusammenspiels, kommt es zu diversen Hierarchisierungen oder Abblendungen und rücken neue Einflussmomente in den Blick191. Empirisch sensitive Ansätze werden dabei sicherlich die Komplexität der Persuasionsfaktoren hervorzukehren haben und reduktionistische Beschreibungsvokabulare aufzusprengen suchen – seien dies streng stimulusfokussierte Zugänge, im Rahmen derer die Verarbeitungsaktivität der Rezipienten und die Situationsbedingtheit kommunikativer Erfahrungen
190 Exemplarisch sei hier auf das im Rahmen der angelsächsischen Persuasionsforschung entwickelte, vielfach genutzte und breit diskutierte Elaboration Likelihood Model von Richard Petty und John Cacioppo verwiesen, das den Charakter des Überzeugungsgeschehens über die Modalität der Informationsverarbeitung zu bestimmen sucht, in deren Medium es sich vollzieht. Unterschieden werden zwei Prozessierungsformen: die ‚central route‘ sowie die ‚peripheral route‘. In der ersten Form wird ein Diskursbeitrag sachbezogen elaboriert; unter hohem kognitiven Aufwand werden die vorgebrachten Argumente sorgfältig bedacht und mit den situativ zugänglichen Elementen des eigenen Wissensvorrats kritisch abgeglichen. In der zweiten Form richtet sich die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf den gedanklichen logos des Diskursbeitrags; in seiner Verarbeitung machen sich vielmehr eingespielte Heuristiken und mit dem Informationsgehalt nicht unmittelbar verknüpfte Gesichtspunkte geltend: etwa die Anzahl der Argumente nach dem Topos der Quantität, Vertrauensgefühle und Sympathieregungen gegenüber dem Gesprächspartner oder der atmosphärische Stimmungsgehalt des Settings. In Abhängigkeit von der Prozessierungsform variieren die Effekte eines glückenden Überzeugungsgeschehens. So gelten Sichtweisen, die sich einer Verarbeitung über die central route verdanken, als tiefer und systematischer mit den subjektiven Orientierungskomplexen verknüpft und damit als robuster. Durch diverse Experimente haben Petty, Cacioppo und ihre Nachfolger zudem versucht, die Bedingungen zu präzisieren, unter denen die jeweiligen Verarbeitungsmodi wahrscheinlich werden, wobei sie zwischen Motivations- und Fähigkeitsfaktoren differenzieren. Im Blick auf die motivationalen Voraussetzungen zeigt sich dabei unter anderem der Grad der empfundenen Bedeutsamkeit als einschlägig. Kurz gesagt: Je relevanter ein Diskursbeitrag persönlich beurteilt wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, seine Gehalte intensiv zu elaborieren. Sofern Relevanz nicht als ein rein kognitives Konstrukt interpretiert wird, sondern als eine immer auch emotiv imprägnierte Größe, erscheint daher auch die sachorientierte Verarbeitung als affektiv mitbestimmt. Überhaupt entwirft das Elaboration Likelihood Model die beiden Prozessierungsformen weniger als schroffe Alternativen denn als idealtypische Extrema eines Kontinuums, die realiter variationsreich ineinander wirken. Vgl. ausführlich Petty/Cacioppo, Communication und zu einem Überblick Dies., Model; Booth-Butterfield/Welbourne, Model; O’Keefe, Persuasion, 137–167; Schenk, Medienwirkungsforschung, 259–269. 191 So brachte etwa der mediale Wandel die Abhängigkeit persuasiver Prozesse von der Eigenart des jeweils gebrauchten Mediums nachdrücklich ins Bewusstsein und die Pluralisierung der Lebenswelt schärfte den Sinn für die Erheblichkeit der spezifischen Kommunikationssituation (vgl. D.2.3.1).
Ausgewählte Prozeduren der Persuasion
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nicht recht in den Blick zu kommen vermögen, seien dies einseitige Restriktionen auf die Affektdimension, die stilistischen Muster oder die Inferenzstrukturen. Wenn daher im Folgenden der Fokus auf zwei konkrete sprachliche Prozeduren gerichtet wird und die λόγος-Komponente in den Vordergrund rückt, ist dies nicht als programmatische Akzentsetzung misszuverstehen. Nachdem in Teil C die Darstellung als Verfahren veränderungsinteressierter Praxis eingehender analysiert wurde, sollen nun vielmehr die beiden weiteren von Walzer als transformativ bedeutsam propagierten Techniken der kreativen Reinterpretation und sachlichen Argumentation genauer erkundet werden; besonders mit Betrachtung der Letzteren kann dabei einem homiletischen Desiderat begegnet werden.192 Auch im Blick auf argumentative Prozeduren sind allerdings die multifaktoriellen Bedingungen rednerischer Kommunikation stets bewusst zu halten.
4.1
Argumentation
Wird Akzeptanz als Aneignungsvollzug aufgefasst, kommt der hermeneutischen Verarbeitung eines kommunizierten Anliegens ein zentraler Rang zu. Um die Umstrukturierung meiner Sicht auf Welt als ein Ereignis wahrzunehmen, das nicht ‚an‘, sondern ‚mit‘ mir geschieht, hat es sich im „Medium des Verstehens“193 zu vollziehen. Als ein wesentliches Moment einer solchen hermeneutischen Verarbeitung gilt gemeinhin die Erfassung und Beurteilung von Gründen, die für das Anliegen sprechen. Insofern besitzen argumentative Verfahren eine bedeutsame Funktion für überzeugungsinteressierte Kommunikation.
192 Das heißt nicht, dass die Relevanz argumentativer Rede homiletischerseits nicht adressiert würde; die Anforderung, nicht im Modus bloßer Behauptung zu verfahren, wird immer wieder angezeigt (vgl. etwa Bukowski, Predigt, 64–67; Engemann, Einführung, 153f; MeyerBlanck, Gottesdienstlehre, 475f). Eine ähnlich intensive und profunde Betrachtung wie sie etwa für narrative und bildhafte Sprechweisen Standard sind, findet die Argumentation allerdings nicht. Dies dürfte Ursache zugleich wie Folge nicht zuletzt davon sein, dass mit dem Stichwort der Argumentation häufig nicht eine lebensweltlich konkrete, kreative Alltagspraxis assoziiert wird, sondern bestenfalls das Genre des Fachvortrags, schlechtestenfalls die formalisierten Schemata deduktiver Schlussketten. Dass damit ein verzerrtes Bild des Argumentativen vorliegt, wird im Folgenden deutlich zu machen versucht. Zu ausführlicheren homiletischen Reflexionen auf die Argumentation vgl. Conrad, Plädoyer, 137– 146; Engemann, Einführung, 239–243; Hoffmann, Grundlagen, 85–115; Rothermund, Argumentieren; Ders., Predigen sowie bes. Roth, Beerdigungsansprache, 339–384. Vgl. dazu auch Stetter, Predigt; Ders., Überlegungen, 173–179. 193 Bieri, Handwerk, 408.
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Teil D: Praktiken der Persuasion
4.1.1 Anfänge der rezenten Argumentationsforschung Um den Begriff der Argumentation hat sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts ein breit gefächerter Diskurs formiert, der aus verschiedenen disziplinären Quellen schöpft und divers an die traditionell mit dem Phänomen begründender Rede befassten logischen, dialektischen und rhetorischen Entwicklungsstränge anknüpft. Als Initium der jüngeren Historie der Argumentationstheorie kann das Jahr 1958 gelten, in dem die modernen Klassiker von Stephen Toulmin (The Uses of Argument) sowie Perelman und Olbrechts-Tyteca (La nouvelle Rhétorique. Traité de l’argumentation) erscheinen.194 Beiden geht es um die Erschließung eines Terrains jenseits logisch stringenten Folgerns, auf dem die sozialen Akteure gleichwohl mit dem Geben und Nehmen von Gründen befasst sind, um Deutungsalternativen und Handlungsoptionen plausibel zu machen. Argumentieren zeigt sich als eine kontextuell komplex situierte Lebenspraxis, zu deren Erhellung das Wissen formaler Logik zwar nicht unnütz, aufs Ganze gesehen aber unzureichend erscheint, da sich die argumentativen Verfahren des real talk gegenüber strikt logischen Rationalitätsstandards nur als defizitär erweisen können, ein reines Interesse an Folgerungsbeziehungen mit der Abblendung wichtiger weiterer Faktoren argumentativer Realität einhergeht und der Reichtum empirischer Argumentationstechniken nicht abgebildet wird.195 Bekannt geworden ist Toulmin insbesondere durch sein vielfach rezipiertes Mikroschema der Argumentation,196 wonach eine Behauptung (claim) durch 194 Gängig ist zudem der Verweis auf Arne Naess und Rupert Crawshay-Williams, die in der ersten Hälfte des 20. Jh. mit Fragen der Diskussion und Kontroverse befasst waren. Zu Historie, Positionen und Strängen des rezenten Argumentationsdiskurses vgl. Van Eemeren, Argumentationstheorie; Ders. u. a. (Hg.), Handbook; Wohlrapp, Begriff, 8–42; Ders., Einleitung, 11–27. 195 Zum Verhältnis zwischen Logik und Argumentationstheorie vgl. etwa Bayer, Argument; Coenen, Argumentieren; Eggs, Theorie; Gil, Argumentationen, 37–48; Kienpointner, Argumentationstheorie, 704–713; Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 19–22; Mihajlovic, Argumentation, 131–178; Wohlrapp, Logizismus. 196 Argumentationstheoretisch wird zwischen mikrostrukturellen Schemata, die die konstitutiven Elemente einer Einzelargumentation in ihrer Beziehungsordnung anzeigen, und makrostrukturellen Perspektiven, die komplexere argumentative Netze analytisch zugänglich zu machen suchen, unterschieden (vgl. Kienpointner, Argumentationstheorie, 708ff; Kopperschmidt, Methodik, 122–228; Van Eemeren/Grootendorst, Theory, 4f). Da lebensweltlich situierte Argumentationen mannigfache Formen aufweisen, einzelne Komponenten wie Prämissen, Schlussregeln, Einwände oder Behauptungen oftmals lediglich implizit andeuten und ihre innere ‚Logik‘ durch Indikatoren an der Textoberfläche selten eindeutig abbilden, ist ihre Analyse ein dezidiert rekonstruktives Geschäft, das neben Übung einer methodisch angeleiteten interpretativen Phantasie bedarf. Schon die aristotelische Beschreibung des Enthymems machte darauf aufmerksam, dass rhetorische Argumentationsakte unterschiedliche Explikationsgrade besitzen können, und die Ausfaltung aller logischen Schritte praktisch besehen unnötig ist und sogar hinderlich sein kann. Zum Begriff des Enthymems vgl. exemplarisch Hoppmann, Rhetorik, 632–638; Ottmers, Rhetorik, 74–80.
Ausgewählte Prozeduren der Persuasion
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Verweis auf bestimmte Daten (data) legitimiert wird, wobei eine Schlussregel (warrant) den Übergang von den Daten zur Behauptung ermöglicht und deren legitimatorisches Potenzial ausweist. Vervollständigt wird das Schema durch Hinweis auf einen bereichsspezifischen Wissenskomplex, in dem die Schlussregel ihrerseits wurzelt (backing), die Angabe des Gewissheitsstatus, den das Begründungssystem der Behauptung zu verleihen in der Lage ist (qualifier), sowie die Nennung möglicher Ausnahmekonditionen, unter denen der Schluss von den Daten auf die Behauptung nicht greift (rebuttal).197 Über die Entwicklung dieses Schemas hinaus zielen Toulmins Überlegungen in The Uses of Argument primär auf den Nachweis der Begrenztheit ‚analytischer‘ Folgerungen, bei denen die Prämissen die Konklusionen bereits implizieren und insofern in der Lage sind, deren Geltung zu garantieren. Als Ideal logischer Stringenz dürfe diese Form des Schließens nicht einfach auf Argumentationen übertragen werden, bei denen Thesen gegenüber ihren Gründen einen Informationsgewinn verzeichnen. Toulmin bezeichnet sie als ‚substanzielle‘ Folgerungen und markiert sie durch einen sog. ‚Typensprung‘ – so etwa wenn von Verhalten auf Empfindung, von Einzelnem auf Allgemeines oder von Vergangenheit auf Zukunft geschlossen wird. Das Gros unserer lebenspraktischen Problemlagen bearbeiten wir durch solche substanziellen Argumentationen und erhalten dadurch hinreichende Orientierung, ohne dass uns ihr Mangel an analytischer Gültigkeit ‚stören‘ würde. Im Gegenteil: Eine Vielzahl unserer Fragen sind im Medium analytischer Deduktion nicht einmal zugänglich.198 Anders als Toulmin erarbeiten Perelman und Olbrechts-Tyteca kein prototypisches Strukturmodell der Argumentation. Im Zentrum ihrer Studie steht die Sammlung und Rubrizierung einer Reihe verbreiteter Begründungsmuster, die sie grob auf zwei Hauptformen bringen: Verfahren der Assoziation und Verfahren der Dissoziation. Der Schwerpunkt liegt dabei deutlich auf Ersteren, die ihrerseits dreifach untergliedert werden: Die erste Gruppe umfasst Muster, die formallogischen Folgerungsbeziehungen ähneln; die zweite Gruppe sammelt Muster, die sich anerkannte Annahmen über bestehende Realitätsstrukturen zu nütze machen; die dritte Gruppe beschreibt Muster, die Realitätsstrukturen nicht voraussetzen, sondern durch Verweis auf Beispiele oder Analogien zu begründen suchen.199 Gerahmt wird diese Typologie durch eine merklich rhetorisch inspi197 Vgl. Toulmin, Gebrauch, 86–98. Wie vielfach bemerkt erinnert Toulmins Schema an das von Cicero überlieferte Epicheirem mit seinen fünf Komponenten assumptio, assumptionis approbatio, propositio, propositionis confirmatio, complexio (vgl. dazu etwa Ottmers, Rhetorik, 80–83). 198 Zur Differenz zwischen substanziellen und analytischen Argumentationen vgl. Toulmin, Gebrauch, 111–130 sowie die Kap. 4 und 5. 199 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 263–652. Wie wiederholt angemerkt worden ist, ermöglichen die Gliederungsprinzipien von Perelman und Olbrechts-Tyteca
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rierte Explikation des Argumentationskonzepts.200 Während Toulmins Untersuchung ganz auf die inferenzielle Struktur der Argumentation konzentriert bleibt, beschreiben Perelman und Olbrechts-Tyteca Argumentation als einen Akt verbaler Kommunikation, der auf die Evokation von Zustimmung resp. ihrer Bekräftigung ausgerichtet ist. Entsprechend werden Fragen nach dem argumentierenden Subjekt, seinen Adressaten und ihrer Interaktion virulent; die klassisch rhetorischen Problemsphären der elocutio und dispositio werden argumentationstheoretisch anverwandelt; und die argumentative Relevanz schon der Auswahl der Prämissen aus dem kulturellen Gewebe geteilter Weltinterpretationen und Wertorientierungen wird detailliert bedacht. Damit rücken Gesichtspunkte in die argumentationstheoretische Aufmerksamkeitssphäre, die in der logischen Reflexion außen vor bleiben, das „weite Feld des nichtformalisierten Denkens“201 freilich im Kern betreffen. 4.1.2 Basisanforderungen an überzeugungskräftige Argumente Argumentationen bezwecken die Plausibilisierung eines Standpunkts, der als fraglich vorausgesetzt wird, durch die Artikulation von Propositionen, die als unfraglich gelten.202 Die Fraglichkeit bezieht sich nicht auf ein Wissensdefizit, das keine präzise Abgrenzung der beschriebenen Typen argumentativer Technik. In Folge kam es daher zu diversen Modifizierungsvorschlägen, zu deren etabliertesten die Typologie von Manfred Kienpointner zählt (vgl. Ders., Alltagslogik; Ders., Argumentationsmuster; Ders., Regeln). 200 Das rhetorische Gepräge der Argumentationstheorie von Perelman und Olbrechts-Tyteca ist unbestritten. In der Rezeption der rhetorischen Theoriebestände kommt es freilich auch zu Transformationen, die sich unter anderem auf den Bereich affektbezogener Reflexion beziehen. So hält Perelman in seinem Band Das Reich der Rhetorik zwar fest, an einer „allgemeine[n] Theorie des persuasiven Diskurses“ zu arbeiten, „der auf die intellektuelle wie emotionale Zustimmung einer Öffentlichkeit abzielt“ (a. a. O., 163). In der Ausarbeitung der Theorie bleibt die affektive Dimension jedoch eigentümlich blass (vgl. dazu Plantin, Demonstration, 283–290; Eggs, Theorie, 137–144). Zur Rolle des Gefühls im Zusammenhang der Argumentation vgl. etwa Walton, Place, der die klassischen logischen Trugschlüsse auf ihre Überzeugungskraft hin untersucht und emotionale Appelle nicht per se aus dem Feld argumentierender Kommunikation ausschließt, sondern zwischen ihrem ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Gebrauch differenziert. 201 Perelman, Reich, 163. 202 In dialogischen Argumentationszusammenhängen kann die Fraglichkeit eines Standpunkts manifest werden durch ein Subjekt, das in der Rolle des Opponenten agiert. In monologischen Argumentationszusammenhängen tritt sie in „indirekterer Form“ auf. Hier argumentiert ein Orator häufig „prophylaktisch“; entweder er vermutet konkret bestehende Einwände oder aber er antizipiert mögliche Einwände, „die realiter vielleicht nie erhoben oder explizit gemacht werden, die er aber zu berücksichtigen hat, wenn er seine Zuhörer und Leser sachlogisch überzeugen will“ (vgl. Ottmers, Rhetorik, 70f; Van Eemeren/Grootendorst, Theory, 59f). Um die Dialogizität auch – im morphologischen Sinne – monologischer Argumentationspraktiken zu unterstreichen, bestimmt Wohlrapp drei argumentative
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durch die Beibringung zusätzlicher Information behoben werden könnte, sondern auf die Legitimität des Standpunkts. Wie das persuasive Handeln überhaupt reagiert auch seine argumentative Gestalt nicht auf eine epistemisch verstandene Warum-Frage. Diese kann durch die Mitteilung von Motiven, die zu einer Handlung bewogen haben, oder Ursachen, die einen Sachverhalt erklären, beantwortet werden. Die Warum-Frage, die das Geben von Gründen provoziert, zielt dagegen auf den Aufweis der Gültigkeit des propagierten Standpunkts, die für ein Auditorium beansprucht wird, soll es von ihm überzeugt werden.203 Um als Gründe fungieren204 zu können, haben die kommunizierten Propositionen bestimmten Anforderungen zu genügen. Zunächst müssen sie von den Adressaten als haltbar bewertet werden. Wie notiert dürfen sie ihnen nicht als fraglich erscheinen; zumindest sollten sie mit einer höheren Plausibilität rechnen können als der durch sie zu legitimierende Standpunkt. Zudem müssen sie in der Lage sein, argumentativ auf den strittigen Standpunkt bezogen zu werden. Diese Anforderung signalisiert Toulmin mit seinem Konzept des warrant. Die in der Alltagskommunikation selten explizierte Schlussregel rechtfertigt den Transfer der den Gründen eingeräumten Zustimmung auf die in Frage stehenden Thesen. Sodann müssen Argumente zur interpretativen Rahmung des Problemzusammenhangs, in Bezug auf welchen ein Standpunkt vertreten wird, stimmen. So kann die Überzeugungskraft vorgebrachter Gründe nicht nur über ihre Unhaltbarkeit oder ihren mangelnden gedanklichen Konnex mit den Thesen zurückgewiesen werden; sie kann ferner durch Verweis auf die Unangemessenheit des gewählten Problemzugangs hinterfragt werden – etwa wenn ein Proponent Auslandseinsätze der Bundeswehr unter Rekurs auf die mit ihnen einhergehenden finanziellen Kosten ablehnt, die Angesprochenen diese ökonomische Perspektivierung jedoch als irrelevant abweisen, da sie das Problem als ein moralisches rahmen.205 „Grundoperationen“: „Behaupten“ als die Darbietung einer These, „Begründen“ als der Einlösungsversuch des mit der These gesetzten Geltungsanspruchs sowie „Kritisieren“ als das Vorbringen von Einwänden (vgl. Ders., Begriff, 185–245). Zum Status der Strittigkeit bzw. mentalen Differenz vgl. auch D.3.1. 203 Vgl. Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 34–50; Ders., Methodik, 54–77; Toulmin, Gebrauch, 187ff. 204 Kopperschmidt bestimmt den Begriff des Arguments als eine „Funktionskategorie“; Argumente besitzen keine formalen oder inhaltlichen Attribute, wodurch sie von nichtargumentativen Aussagen unterschieden werden könnten. Entscheidend ist die Rolle, die sie im Kontext eines Argumentationsaktes übernehmen (vgl. Ders., Argumentationstheorie, 59). 205 Zu den drei Anforderungen vgl. Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 62–67; Ders., Methodik, 109–113. Häufig wird vor allem auf die beiden ersten Bedingungen mit den Begriffen ‚Haltbarkeit‘ und ‚Relevanz‘ rekurriert (vgl. etwa Bayer, Argument, 86; Coenen, Argumentieren, 114; Kienpointner, Argument, 901). Sofern mit der Einnahme eines Standpunkts implizit immer schon eine bestimmte Rahmung des fraglichen Problems einhergeht, könnte man die beiden letzten Bedingungen tatsächlich zusammenfassen.
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Wie gesehen wurden die drei im engeren Sinne argumentationstheoretischen Bedingungen, unter denen Propositionen die Rolle von Argumenten zu übernehmen vermögen, konsequent adressatenrelativ entfaltet. Damit ist dem kommunikativen Charakter argumentativer Praxis entsprochen, die auf die Akzeptanz eines Auditoriums zielt und daher über Haltbarkeit, Thesenbezug und Problemadäquanz der vorgelegten Gründe nicht ex cathedra entscheiden kann. Wird dieser kommunikative Charakter ernstgenommen, lässt sich eine Vielzahl weiterer argumentationsrelevanter Anforderungen beschreiben, die die sachliche Struktur des Begründungshandelns zwar nicht mehr ‚direkt‘ tangieren, die persuasive Kraft argumentativer Plausibilisierungsverfahren aber immer dann entscheidend mitbestimmen, wenn diese als konkrete Akte aufgefasst und nicht aus ihrem kommunikativen Zusammenhang abstrahiert werden. In der Abhandlung haben Perelman und Olbrechts-Tyteca versucht, solche weiteren Konditionen zu beleuchten. Sie fokussieren etwa die argumentierende Person.206 Dabei muss auffallen, dass das rhetorische Konzept des ἦθος nicht systematisch in die argumentationstheoretischen Überlegungen eingearbeitet wird, sondern vor allem hinsichtlich seiner technischen Aspekte zu stehen kommt. Beispielsweise reflektiert die Abhandlung auf kommunikative Verfahren, durch welche der Eindruck des ‚Intendierten‘, ‚Strategischen‘ und ‚Methodischen‘, der die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit potenziell gefährdet, abgemindert werden kann.207 Konzeptionell tiefer im Ansatz der Nouvelle Rhétorique verankert ist dagegen die soziale Relation zwischen Redner und Adressat, die unter dem starken Begriff der communion verhandelt wird. Perelman und Olbrechts-Tyteca deuten den für jede kommunikativ interpretierte Rechtfertigungspraxis konstitutiven Kontakt zwischen Redner und Adressat als einen basalen argumentativen Einflussfaktor aus, gibt er doch das Medium, in dem sich die Argumentation unhintergehbar vollzieht. Wo der Argumentierende in der Lage ist, nicht nur künstlich an die Plausibilitätsressourcen seiner Zuhörerschaft anzuschließen, sondern sie als geteilte Wirklichkeitsannahmen und Wertvorstellungen zu präsentieren, erhöht sich die Überzeugungskraft seiner Argu-
Verloren ginge dabei freilich eine differenzierte Sicht gerade auf die kritischen Einwände, die gegen eine vorgetragene Argumentation namhaft gemacht werden: Richten sie sich auf die Schlussregel, die im Hintergrund einer konkreten Begründung steht, oder auf den hermeneutischen Problemzugang, der gewählt wird? 206 Als vierte Anforderung zählt auch Kopperschmidt die Subjekte der Argumentation im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit zu den grundlegenden Bedingungsfaktoren überzeugungskräftiger Begründungspraxis (vgl. Ders., Argumentationstheorie, 67f). 207 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 638–652. Perelman und Olbrechts-Tyteca knüpfen hier gewissermaßen an den klassischen Topos der dissimulatio artis an (vgl. dazu auch Till, Verbergen).
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mentation.208 Er spricht dann unter dem von Müller so genannten „gemeinschaftlichen Himmel“ (vgl. D.2.2.2), unter dem die Transzendenz des von ihm propagierten Standpunkts doppelt ‚abgefedert‘ ist: durch seine sachliche Rückführung auf die materialen Plausibilitäten des Auditoriums sowie durch die empfundene soziale Zugehörigkeit dessen, der ihn vertritt. Insoweit spiegeln sich hier einige der Facetten, die Walzer in der Figur des connected critic bedenkt, wobei Perelman und Olbrechts-Tyteca sehr viel stärker den Konstruktcharakter der Verbundenheit herausstellen, wenn sie etwa „Figuren der Vergemeinschaftung“ benennen, in denen sich nicht einfach eine bestehende Gemeinschaft abbilden muss, sondern durch den Redeakt selbst eine solche hergestellt oder suggeriert wird.209 Neben dem Subjekt der Argumentation geht die Abhandlung auch ausführlich auf ihre dispositionelle Struktur ein.210 Im Gegensatz zu den logischen Beweisschemata zeichnet sich argumentatives Handeln durch ein „hohes Maß an syntagmatischer Arbitrarität“211 aus. Umfang und Reihenfolge der Argumente sowie ihr Arrangement mit den vertretenen Thesen und unterstellten Einwänden können nicht zu peripheren Fragen degradiert werden. Sie betreffen die Argumentativität zentral. Dies liegt vor allem an der Interaktionalität eines Begründungsnetzwerks. Seine Einzelrelationen wirken nicht solitär, sondern zusammen und reziprok. Zudem vollzieht sich argumentative Praxis in der Zeit. Bei einem Begründungsnetzwerk handelt es sich genau genommen nicht nur um ein strukturales Gefüge, sondern auch um einen temporalen Fortgang. Gerade im Medium der Mündlichkeit lässt sich dieser nicht allein auf das Muster von ‚Zugrundeliegendem‘ und ‚Daraufaufbauendem‘ bringen, sondern ist immer auch im Sinne eines ‚Zuvor‘ und ‚Danach‘ zu deuten.212 Zuletzt stellt sich Perelman und Olbrechts-Tyteca argumentierendes Handeln ganz wesentlich als eine Formulierungskunst dar. Interessanterweise orientieren sie dabei ihre Ausführungen weniger an der argumentationstheoretisch häufig angemahnten ‚Klarheit‘ des Ausdrucks als an der Idee der ‚Anschaulichkeit‘ (vgl. 208 In diesem Fall kommt es sozusagen zu einer gelungenen Koinzidenz zwischen ‚Aufrichtigkeit‘ und ‚Anpassung‘. 209 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 250–253, hier 250. Zur Idee der communion in der Abhandlung vgl. Eggs, Theorie, 137–144. 210 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 653–722. 211 Knape, Stationen, 310. 212 Neben Interaktionalität und Temporalität als argumentationsbestimmenden Faktoren der dispositio, bringen Perelman und Olbrechts-Tyteca auch das Problem der Pluralität des Publikums mit der Frage nach dem Arrangement in Kontakt. In der Aufgabe, einer in sich ausdifferenzierten Hörerschaft gerecht zu werden, erkennen sie eine „Kunst“, die sich argumentationstheoretisch darin erweist, dass für ein und denselben Standpunkt unterschiedliche Begründungsformate angeboten werden, ohne – so wäre zu ergänzen – dass der argumentative Entwurf auseinanderzufallen droht (vgl. Dies., Rhetorik, Bd. 1, 28; Rhetorik, Bd. 2, 677f).
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D.3.3). Auf sie spielen sie mit ihrem Konzept der présence an, dem sie eine „herausragende Rolle“ für die Belange der Argumentation attestieren.213 Präsenzprovokative Verfahren adressieren die Phantasie der Hörer. Sie soll angeregt werden, Gegenstände zu „vergegenwärtigen“, die „in Wirklichkeit nicht vor Augen steh[en]“, jedoch für den Argumentationsvollzug „als wichtig erachtet“ werden, oder „bestimmte Elemente, die dem Bildgedächtnis bereits einprägsam angeboten wurden, durch eine stärkere Vergegenwärtigung aufzuwerten.“214 Als konkrete Vergegenwärtigungsmethoden wird in der Abhandlung eine Reihe sprachlicher Techniken diskutiert und vor allem auch das überkommene Set rhetorischer Figuren auf ihre Präsenzerzeugungspotenziale hin reflektiert, wobei detaillierenden Verfahren wie der amplificatio ein besonderer Stellenwert zukommt.215 Die Funktion der présence wird nicht systematisch eruiert, eher in stetig neuen Anläufen andeutend umrissen. Dabei wird deutlich, dass es um eine Besetzung des Bewusstseins der Adressaten geht, um die Attraktion ihrer Aufmerksamkeit, das Wecken ihres Interesses, die Steigerung der Erheblichkeit eines Gegenstandes oder seine Hervorhebung.216 Kurzum: Es geht um das, was Schütz als „thematische Relevanz“ bezeichnet hat und Verhalte meint, die aus der Fülle der Wahrnehmungen, Erinnerungen und Vorstellungen, die uns zugänglich sind, ‚hervorstechen‘.217 Entsprechend hat Robert Tucker den présence-Gedanken der Nouvelle Rhétorique ausgelegt, wobei er nicht an den Relevanzdiskurs anknüpft, sondern die Figur-Grund-Konstellation der Gestaltpsychologie zum theoretischen Ausgangspunkt wählt, um die „standing-out-ness“ als Kernmoment der présence zu beleuchten.218 So verstanden überschreitet die Idee der Vergegen213 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 162f, hier 200. Damit bringen sie den von Oesterreich benannten Integrationscharakter rhetorischer Rede zur Geltung, wonach diese immer schon im Zwischenreich von Logik und Poetik operiert, was sie, wie gesehen, für Kant so suspekt erscheinen ließ (vgl. D.1). Überhaupt zur Argumentationsstilistik vgl. Kienpointner, Regeln, 185–260. 214 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 164. 215 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 236–253. 216 Vgl. etwa Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 164f.200–203; Perelman, Reich, 43f, hier 44: „Denn die Leistung des Redners ist beachtlich, wenn er durch seine Darstellungsgabe Ereignisse in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rückt, die ohne ihn unberücksichtigt geblieben wären. Was uns gegenwärtig ist, beschäftigt unser Bewußtsein und wird wichtig. Was an Bedeutung verliert, wird durch einen eigentümlichen psychologischen Effekt damit zugleich abstrakt und nahezu inexistent.“ 217 Vgl. Schütz, Problem, 90–97; Schütz/Luckmann, Strukturen, 258–272; Merle, Alltagsrelevanz, 194ff; Stetter, Relevanz, 209f. Da im Zusammenhang der Nouvelle Rhétorique der Verfahrensaspekt im Mittelpunkt steht, wäre auch auf die Überlegungen von Bernhard Waldenfels zu verweisen, der von „Aufmerksamkeitspraktiken“ spricht (vgl. Ders., Phänomenologie, 228–260). Zur Rolle der Aufmerksamkeit in der Rhetorik vgl. Möller, Rhetorik; Seebert, Aufmerksamkeit; Wessel, Attentum parare. 218 Vgl. Tucker, Figure. Dabei kann Tucker durchaus an die phänomenologische Tradition etwa eines Edmund Husserls anspielen, der bekanntlich auch Schütz verpflichtet ist.
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wärtigung den Aspekt der Anschaulichkeit und vertieft ihn zugleich – dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen generieren sich thematische Relevanzen nicht nur über die demonstratio ad oculos als einer spezifischen Variante der Aufmerksammachung. Zum anderen heben thematische Relevanzen Gegenstände nicht als bruta facta hervor, sondern bringen sie immer schon als interpretierte zu Bewusstsein.219 Beide Erweiterungen sind den Perelmanschen Überlegungen nicht einfach übergestülpt. Denn erstens wird die Vorstellung der Präsenz zwar wiederholt mit der Vorstellung der Anschaulichkeit kurzgeschlossen. Zugleich tauchen aber ebenfalls andere stilistische Techniken in ihrem Assoziationsfeld auf, so dass der Begriff der présentation gleichsam ein Synonym für sämtliche elokutionäre Techniken darstellt.220 Und zweitens erkennt Perelman in diesen sprachlichen Darstellungsformaten nicht lediglich kommunikative Vermittlungsformate, sondern hermeneutische Erkenntnisformate.221 In ihnen werden Gegenstände nicht abgebildet, sondern ‚begrifflich ausgefeilt‘ und interpretativ ‚aufbereitet‘.222 Das heißt: In der Artikulation eines Standpunkts, der ihn stützenden Gründe und möglicher Einwände wird ihr Gehalt stets als etwas aufgefasst; aus dem semantischen Spektrum werden bestimmte Facetten in den Vordergrund gehoben, andere dagegen in den Hintergrund gerückt. Argumentationstheoretisch interessant ist diese Einsicht, da durch sie kenntlich wird, dass schon mit dem Setzen einer These, dem Aufstellen von Prämissen oder der Benennung potenzieller Einreden ‚argumentiert‘ wird, nicht erst wenn sie sachlogisch verknüpft werden.223 Zwei Beispiele können dies illustrieren. (1) In einer Predigt zu Mt 12,33–37 zielt Fulbert Steffensky auf eine Plausibilisierung der christlichen Idee der Buße. Dabei schildert er in 219 Philipp Stoellger hält zu Recht fest, dass dies auch für die anschauliche Präsenz gilt. Eine „immediate Evidenz“ existiert nicht. Entsprechend verteidigt er auch die sozial auferlegten, rhetorisch induzierten Evidenzen vor dem Vorwurf des bloßen Gemachtseins: „Daher ist auch die Evidenzerzeugung durch Rede (oder Bilder) zwar so vermittelt wie täuschungsanfällig, aber damit nicht unter prinzipiell anderen kritischen Verdacht zu stellen, als alle übrigen Medialisierungen. Es ist nicht die Frage, ob Evidenz medial erzeugt wird, sondern wie, wozu und von wem“ (Ders., Rhetorik, 567 [Hervorhebung i. Orig.]). 220 Dieses Changieren zwischen einem weiten und einem engen Verständnis der Präsenz dürfte sich dem etymologisierenden Spiel mit den Begriffen ‚présence‘ und ‚présentation‘ verdanken, wobei Ersterer eher Assoziationen der Anschaulichkeit hervorruft, während Zweiterer überhaupt für die sprachliche Darbietung stehen kann (vgl. dazu auch Knape, Stationen, 307). 221 Vgl. dazu auch Gabriel, Logik, 18. 222 Einen Gutteil der Reflexion auf die Fragen argumentativer Formulierung widmet die Abhandlung dieser Deutungsfunktion. Ausführungen dazu durchziehen die gesamten Kap. 2 und 3. (Die Termini des „begrifflichen Ausfeilens“ und der „Aufbereitung“ finden sich etwa auf den S. 168.177.) Vgl. dazu auch Perelman, Logik, 103ff; Ders., Reich, 41–54. 223 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 1, 209.216.
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seiner narratio, der er eine Textstelle aus Joel 2 zugrunde legt, das in Frage stehende Problem wie folgt: „Ein merkwürdiges Ansinnen: sich von sich selbst zu verabschieden; das Herz, das Innerste des Menschen also, zu zerreißen. Also gerade nicht die Kontinuität und die Wiederholung retten, sondern der Bruch und die Umkehr.“ Durch die antithetische Kontrastierung der Umkehr (resp. des Bruchs) durch Vorstellungen von Kontinuität und Wiederholung, stellt er den Bußgedanken ab ovo in einen spezifischen hermeneutischevaluativen Frame, der ihn durch die mutmaßlich eher negativ konnotierten Repetitionsvorstellungen nicht nur aufwertet, sondern den folgenden Ausführungen auch schon ihre argumentative Richtung einschreibt. Denn in concreto versucht Steffensky, seinen Standpunkt unter anderem auf den materialen Topos der Freiheit, zu deren Facetten er das „Recht“ auf Wandel rechnet, zurückzuführen – ein Begründungsgang, der durch die Gestalt der Problemexplikation schon vorbereitet und nahegelegt wird.224 (2) Am Beispiel zweier vermeintlich synonymer Thesen – ‚Er ist intelligent‘ / ‚Er ist nicht dumm‘ – veranschaulicht Ekkehard Eggs ein weiteres argumentatives Moment der Sachverhaltsdarstellung. So nimmt sich je nach Thesenformulierung die „argumentative Beweislast“ anders aus. Die Plausibilisierung der ersten Behauptung wird weitaus mehr argumentativen Aufwand erfordern, als der Nachweis der Gültigkeit der zweiten.225
Das argumentationstheoretische Gewicht der elocutio lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen bündeln: Wie für jedes andere auf Kommunikation ausgerichtete Sprachhandeln auch fungieren die Verfahren der Formulierung für das Argumentieren als Techniken der Relevanz. Sie suchen das Bewusstsein der Adressaten für die argumentativ belangvollen Gegenstände einzunehmen. Als Techniken der Deutung wirken sie dabei selbst argumentativ, indem sie die dargestellten Gegenstände dem Bewusstsein nicht nur vermitteln, sondern hermeneutisch erschließen und so Begründungsgänge vorzeichnen und Beweislasten festlegen. Insofern bezieht sich die von Kopperschmidt angesprochene Frage nach der Rahmung nicht nur auf den Problemzugang, sondern auf die stilistische Ausarbeitung des argumentativen Textes in allen seinen Teilkomponenten – bzw.: vollzieht sich die Perspektivierung des Problembereichs ganz wesentlich im Medium der konkreten Textgestaltung. 4.1.3 Transformative Potenziale der Argumentation Streng vereinfacht zeichnen sich alle Argumentationen durch die „Grundformel ‚p gilt, weil q gilt‘“ aus, wobei p eine Sicht auf Welt benennt, die fraglich (zweifelhaft, strittig, ungewiss etc.) ist, während q Urteile umfasst, die als nicht fraglich (unzweifelhaft, unstrittig, gewiss etc.) erscheinen.226 Sofern der Gewissheitsstatus 224 Zur Predigt vgl. https://www.thomaskirche.org/r-2011-predigten-a-3433.html (25. 10. 2015). 225 Vgl. Eggs, Theorie, 197f. 226 Vgl. Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 31f.53–59.80–92, hier 58; Ders., De Argumentis, 64–68; Ders., Methodik, 93–109. Kopperschmidt sieht diese Basisstruktur in exemplarischer Prägnanz bei Quintilian formuliert. Ihm zufolge besteht das „Wesen aller
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von p und q nicht objektiv feststeht, sich vielmehr auf die – zumindest unterstellte – Sicht der Adressaten bezieht, repräsentiert die argumentative Grundformel in nuce das persuasive Grundprinzip des Anschließens: Um ihren Standpunkt plausibel zu machen, bezwecken Argumentierende einen Anschluss an Orientierungen, die bei ihren Adressaten als unstrittig gelten (oder zumindest als unstrittiger), die von ihnen also schon akzeptiert sind (oder zumindest einen höheren Grad an Akzeptanz genießen).227 Im Fall der Argumentation lässt sich somit die transformative Dialektik von Transzendenz und Immanenz relativ klar markieren: Als strittige These übersteigt die propagierte Sicht auf Welt die vertrauten Orientierungen der Gesprächspartner und bildet dadurch den Transzendenzaspekt ab; demgegenüber repräsentieren die angeführten Gründe den Immanenzaspekt, sofern sie eben aus den Systemen der vertrauten Orientierungen der Gesprächspartner zu gewinnen sind, sollen sie nicht in einen infiniten Begründungsregress führen.228 Beweise“ im „Prinzip […] mittels sicherer Tatsachen zweifelhaften zur Glaubwürdigkeit zu verhelfen“. Und weiter: „Da nun also ein Beweis-Argument eine vernünftige Überlegung darstellt, die der Beweisführung Beweiskraft liefert, wodurch etwas durch etwas anderes erschlossen und etwas Zweifelhaftes durch etwas Unzweifelhaftes in seiner Gewißheit bestärkt wird, muß es etwas in einem Fall geben, das keinen Erweis nötig hat. Andernfalls wird es ja nichts geben, womit wir einen Beweis führen könnten, wenn es nicht gibt, was wahr ist oder scheint, so daß daraus das Zweifelhafte Glaubwürdigkeit gewinnt“ (Ders., Ausbildung, 551ff). In anderer Terminologie behandelt auch Harald Wohlrapp diese Basisstruktur, wenn er die Praxis des Begründens als „Geflecht von Schritten und Schrittfolgen“ expliziert, mittels welcher ein „Übergang“ von einer ‚epistemischen Basis‘ zu ‚neuen Orientierungen‘ nachvollziehbar gemacht werden soll, wobei die ‚epistemische Basis‘ Orientierungen umfasst, die sich in der Stützung von Lebenspraxis bereits hinreichend bewährt haben, daher als gewiss erfahren werden und sich insofern als Anschlussressourcen für die noch nicht in gleicher Weise bewährten neuen Sichtweisen eignen. Für Wohlrapp erfüllt die gelungene Anbindung einer These an die ‚epistemische Basis‘ dabei eine doppelte Funktion: Sie legitimiert die innovative Sicht auf Welt nicht nur, sie motiviert auch dazu, sie als Faktor des eigenen Weltzugangs anzueignen: „Sie biete [sic] die Legitimation dafür, die These als Neue Orientierung anzunehmen und in Neuen Handlungen bzw. Praxiserweiterungen oder -veränderungen zu realisieren. Und sie nährt die Motivation, das zu wagen, indem sie durch Stützung auf die bewährte Theorie das Vertrauen bildet, das für Forschungsaktivitäten […] nötig ist“ (vgl. Ders., Begriff, 43.128f.201–213 u. ö.; ‚Theorie‘ und ‚Forschung‘ sind für Wohlrapp nicht allein wissenschaftliche Begriffe; sie bilden Momente auch des alltäglichen Lebensvollzugs.). 227 Entsprechend notiert Perelman, Reich, 30: „Denn das Ziel jeder Argumentation liegt anders als beim Beweis nicht darin, die Wahrheit der Schlußfolgerung [p] von der Wahrheit der Prämissen [q] ausgehend zu beweisen, sondern die den Prämissen [q] eingeräumte Zustimmung auf die Folgerungen [p] zu übertragen“ (i. Orig. teils hervorgehoben). 228 Die Aporie eines infiniten Begründungsregresses wurde von Hans Albert im Bild des Münchhausen-Trilemmas bedacht und zur Abkehr von der Vorstellung positiver Begründung zugunsten eines negativen Kritizismus bemüht. Argumentationstheoretisch wäre ihr im Sinne des philosophischen Pragmatismus zu begegnen, wonach soziale Akteure sich immer schon in einem Gewebe vertrauter Gewohnheiten und bewährter Gewissheiten vorfinden, das nicht en bloc, sondern nur partiell bezweifelt werden kann – oder wie
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Damit ist deutlich, dass Transformationen im Modus der Argumentation nur moderate Transzendenzspannen eröffnen. Indem Argumentationen die Plausibilisierung eines Standpunkts anstreben, vermag dieser nur soweit über die bewährten Bedeutungssysteme hinauszugehen, als er auf sie nachvollziehbar zurückführbar bleibt. Er bildet sozusagen lediglich eine Fortkonstruktion des ‚Alten‘, die gleichwohl – zumindest wenn man Argumentationen nicht auf analytische Deduktionen reduziert, sondern im Sinne Toulmins als informativ und substanziell auffasst – hinein in eine „neue Welt“ zu reichen vermag.229 Ferner können Transformationen argumentativer Gestalt den Bestand an Vertrautem immer nur partiell in Frage stellen. Mit ihnen ist kein radikaler Neubeginn zu machen, setzen sie doch „immer schon mehr an Gewissheiten voraus, als sie ihrerseits methodisch [zu] sichern“230 in der Lage sind. Bezogen auf kulturelle Veränderungen erkennt daher auch Stefan Deines im Motiv der „Akzeptierbarkeit“ eine der „Grenzen revolutionären Wandels“: „Eine kulturelle Transformation hat nicht bereits dann stattgefunden, wenn sich ein Subjekt ein paar neue Begrifflichkeiten oder eine neue Redeweise ausgedacht hat […]. Damit sich der kulturelle Wandel tatsächlich vollzieht, ist es notwendig, dass ein Vokabular auch Sprecher findet, dass es also akzeptiert wird und sich möglicherweise gegen andere Diskursalternativen durchsetzt. Dazu müssen einige Vorbedingungen erfüllt sein: Der Erfinder des Vokabulars muss als rationaler Sprecher anerkannt werden, der als kompetent und berechtigt gilt, ein alternatives Vokabular überhaupt vorzuschlagen. Und auch das Vokabular muss Bedingungen erfüllen – es muss sich als für andere akzeptabel präsentieren.“231
Trotz der geringeren Transzendenzspannen, die reformistische Modifikationspraxen – wie sie Argumentationen darstellen, wenn sie nicht im Modus der
Wittgenstein in Über Gewißheit pointiert formuliert: „Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente“ (a. a. O., 141). Das heißt nicht, das bestimmte Elemente dieses Systems axiomatisch gegenüber kritischen Anfragen immunisiert oder per se vor irritierenden Erfahrungen gefeit wären. Es heißt lediglich, dass das System nicht holistisch infrage gestellt werden kann, sodass sämtliche argumentativen Anschlussressourcen erodierten (vgl. dazu auch nochmals Neuraths Schiff-Allegorie unter A.1.4.3). Damit sind zugleich Versuche endgültiger Begründung obsolet. Argumentationen vermögen Geltungsansprüche lediglich bis auf weiteres einzulösen; sie legitimieren keinen „ultimate resting point of inquiry“ (Taylor, Explanation, 54). Vgl. zum Ganzen Joas, Kreativität, 188ff; Kopperschmidt, De Argumentis, 66ff; Ders., Methodik, 103ff; Wohlrapp, Begriff, 233ff. 229 Vgl. Wohlrapp, Begriff, X.127ff. 230 Kopperschmidt, Argumentationstheorie, 80. 231 Vgl. Deines, Herkunft, 120f. Zur Frage nach der argumentativen Erschließbarkeit des Neuen vgl. auch Cooke, Argumentation; Dies., Society, 129–160.
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Bekräftigung wirken – eröffnen, geht Deines analog zu Walzer davon aus, dass ihre Wirkungen nicht auf Veränderungen der Zustände nur „innerhalb eines reglementierenden Handlungsrahmens“ abonniert sind; auch wenn sie diesen Rahmen nicht en bloc „gleichsam von außen“ zu transformieren vermögen, reichen ihre Effekte zumindest potenziell doch an Komponenten desselben heran und erlauben ihn dadurch umzustrukturieren.232 Diesen Aspekt gilt es abschließend für die Praxis der Argumentation noch deutlicher aufzuzeigen. Bisher wurden die Aspekte der Transzendenz und Immanenz in Form eines relativ simplen Musters auf die Argumentationselemente ‚These‘ und ‚Argument‘ verteilt. Im Hintergrund entsteht dann ein recht statisches Bild besonders der Argument-Komponente; sie erscheint in der Rolle einer festen Größe, die dem vorgegebenen Rahmen des Bewährten lediglich entnommen wird. Schon die Ausführungen von Perelman und Olbrechts-Tyteca müssen diese Sicht irritieren. Argumente verdanken sich einer Aufbereitung der als akzeptabel unterstellten Publikumsorientierungen. In ihnen bilden sich diese Orientierungen nicht einfach ab. Sie werden begrifflich ausgefeilt und dadurch interpretiert. Wie unter B.2.3.2 ausgeführt birgt ein solch deutender Zugriff transformative Potenziale, so dass sich schon hier die Frage nach dem Ineinander von Immanenz und Transzendenz stellt und die Prämissen nicht ohne Weiteres dem Aspekt der Immanenz zuzuschlagen sind. Dasselbe Ergebnis zeitigt eine genauere Betrachtung auch des warrant, der den Übergang von q zu p ja erst möglich macht. Dieser gibt eine mehr oder weniger allgemeine Regel, die als Bestandteil der bewährten Orientierungssysteme vorausgesetzt und im Akt der Argumentation auf einen spezifischen Einzelfall angewandt233 wird. Wie unter B.2.2.2 gesehen sind auch solche Applikationen Ausdruck einer Interpretation und damit potenziell transformativ.234 Sofern sich der Anschluss an die Plausibilitätsressourcen der Adressaten zur Gewinnung überzeugungskräftiger Argumente bzw. Schlussregeln deutend vollzieht, stellt sich das Verhältnis zwischen beiden also als ein dynamisches dar, das seinerseits mindestens kleine Transzendierungen impliziert.235 232 Vgl. Deines, Herkunft, 114.119 (Hervorhebung M.S.). 233 Vgl. Kopperschmidt, Methodik, 110. 234 Vgl. auch Deines, Herkunft, 108, der den transformativen Gehalt von Applikationen ebenfalls an Überlegungen von Gadamer nachweist. 235 Einen etwas anders gelagerten Aspekt der Umstrukturierung auch der Plausibilitätsressourcen, an die eine These argumentativ angeschlossen wird, benennt Wohlrapp. Er hängt dabei eher mit der aufmerksamkeitsevozierenden Funktion der Prämissenaufbereitung zusammen. „Überall wo im Argumentieren etwas vollbracht wird, was die klassische Ansicht zu stützen scheint, liegt das daran, daß die zugrundliegende doxastische Theorie (bzw. theoretische Basis) verändert wird. In der Regel werden Prämissen hinzugefügt: Man wird an etwas erinnert, woran man nicht dachte oder wird über etwas informiert, was man nicht wußte. Diese neue oder wieder aktivierte Information ist es dann, die die Einsicht bringt, an
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Aber auch das Verhältnis zwischen Argument (resp. warrant) und These ist nicht als unbeweglich misszuverstehen. In seinen Überlegungen hat Wohlrapp wiederholt dafür plädiert, den Akt der Argumentation nicht als einen eingleisigen Übergang zwischen einer fixen epistemischen Basis zu einer neuen Orientierung auszulegen. Mit dem Konzept der „Retroflexibilität“ nimmt er vielmehr ein „wechselseitiges Stützungsverhältnis“ zwischen beiden an: „Insofern […] die These akzeptiert wird, stützt sie rückwirkend die Argumente ab, ebenso wie diese die These stützen.“236 Folglich wirken sich Argumentationen nicht nur auf die Thesen, sondern auch auf die Argumente und insofern den Rahmen des Bewährten aus. Die Akzeptanz einer neuen Orientierung fügt dem bestehenden Bedeutungssystem nicht nur additiv ein neues Element hinzu, lässt es ansonsten aber unverändert. Sie führt potenziell zu seiner Umstrukturierung. 4.1.4 Resümee: Analogische Argumentation als Beispiel Zum Abschluss der Reflexion auf argumentative Praktiken soll ihre transformative Dimension am Beispiel des Analogieschlusses nochmals exemplifiziert werden. Analogien gelten gemeinhin als Musterfälle substanzieller Argumentation, da der Typensprung zwischen Prämisse und Behauptung eine „Bereichsunterscheidung“237 umfasst und sie somit auch Thesen, die einen relativ hohen Transzendierungsgrad aufweisen, zu plausibilisieren vermögen. der es vordem haperte. Die begründende Kraft rührt also dabei nicht aus der Logik, sondern aus der zusätzlichen Theorie, die eingebracht wurde“ (Ders., Logizismus, 29). Übersetzt heißt das: Im Akt der Argumentation werden durch die Entwicklung von Argumenten nicht einfach manifeste, situativ präsente Elemente des Wissensvorrats der Adressaten aufgegriffen. Eher bringt die Artikulation von Gründen Vergessenes, in den Hintergrund Geratenes, rudimentär Gebliebenes oder Verkümmertes wieder zu Bewusstsein oder fügt neue Wissenselemente an, ohne dass sie argumentativ legitimiert werden müssten. Hier zeigt sich auch, dass das Beheben von Wissensdefiziten zwar nicht die Kernfunktion von Argumentationen gibt, in ihrem Kontext freilich dennoch häufig praktiziert wird. 236 Vgl. Wohlrapp, Tendenz, 407ff, hier 408; Ders., Begriff, 313–316. Vgl. dazu auch Mengel, Überraschungen, 150f, der das dynamische Verhältnis zwischen den einzelnen Argumentationskomponenten überhaupt nochmals pointiert zum Ausdruck bringt: „Die Vorstellung, man könne aus festen Anfängen mit Hilfe von sicheren Schlußregeln zu festen Ergebnissen kommen, ist für die meisten Orientierungsprobleme eine pure Wunschvorstellung. Jeder, der seine Argumentationspraxis einigermaßen aufrichtig reflektiert, wird sich klar darüber sein, wie selten Argumentieren diesen Gang nimmt, jedenfalls wenn es um lebenspraktisch relevante Probleme geht“ (a. a. O., 148). 237 Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 534. Diese Bereichsunterscheidung hebt analogische Argumentationen von (induktiven) Beispielargumentationen ab, bei denen von mehreren Einzelfällen auf einen allgemeineren Sachverhalt geschlossen wird, der derselben Realitätssphäre angehört. Auch bezieht sich der Analogieschluss zumeist auf einen und nicht mehrere Einzelfälle (vgl. Kienpointner, Alltagslogik, 384; Mengel, Analogien, 72). Ottmers hält freilich zu Recht fest, dass uns oftmals auch schon der Verweis auf ein Beispiel ausreicht, um eine Sache als plausibel zu bewerten, dann nämlich, wenn das Beispiel aus
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Perelman und Olbrechts-Tyteca beschreiben Analogien in ihrer Grundform als eine Ähnlichkeit von Relationen: „A verhält sich zu B, wie C zu D“ – wobei sie die Relation zwischen A und B als „Analogiethema“, die Relation zwischen C und D als „Analogieträger“ bezeichnen.238 Der Analogieträger – bzw. der Bereich, aus dem er stammt – gilt dabei als vertrauter, geläufiger, vielleicht auch nur anschaulicher als das Analogiethema und ermöglicht so, dieses argumentativ zu erschließen. Um sich der Funktionsweise von Analogien anzunähern, gehen Perelman und Olbrechts-Tyteca davon aus, dass es zwischen Thema und Träger zu einer „Wechselwirkung“239 kommt. Um diese Wechselwirkung zu erhellen, erweist es sich als produktiv, einen kurzen Blick auf die Metapherntheorie von Max Black zu werfen, der die Struktur einer solchen Interaktionsbeziehung weitaus präziser als die Abhandlung herausarbeitet.240 Black wendet sich gegen sog. Substitutionstheorien, wonach metaphorische durch nichtmetaphorische Aussagen ersetzt werden könnten, ohne dass dabei Entscheidendes ‚verloren‘ ginge. Nach diesem Verständnis besitzen metaphorische Aussagen lediglich ornamentale Funktionen, sind ansonsten aber entbehrlich. Demgegenüber propagiert Black eine interaktionistische Betrachtungsweise, derzufolge Bildempfänger („Primärgegenstand“; bei Perelman: „Thema“; z. B.: „der Herr“) und Bildspender („Sekundärgegenstand“; bei Perelman: „Träger“; z. B.: „mein Hirte“) ein Wechselwirkungsverhältnis eingehen, das eine sprachliche Einheit generiert, deren Aussagekraft durch andere Vokabulare gerade nicht eingeholt werden kann.241
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unserer eigenen Erfahrung stammt oder eine lebendige und anschauliche Präsenz gewinnt (vgl. Ders., Rhetorik, 85; Baumhauer, Rhetorik, 139f; Perloff, Dynamics, 190ff). Unter anderem aus diesem Grund entfalten Narrationen häufig eine große persuasive Kraft. Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 529f. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 542. Im Rekurs auf Black zur Explikation der Wechselwirkung zwischen Thema und Träger der Analogie folge ich Mengel, Analogien, 72–80. Dieser Rekurs erlaubt zudem, den folgenden Ausführungen zu persuasiven Framingprozeduren schon vorzuarbeiten. Dabei gilt es zu beachten, dass Black Metaphern deutlich von Analogien abheben möchte. Zwar beruhe jede Metapher auf einer irgendwie gearteten analogischen Relation zwischen ihren Komponenten. Das heiße aber nicht, dass Metaphern als Analogien explizierbar seien, ließe sich so doch die „charakteristische Macht und Wirkung einer guten Metapher“ nicht adäquat beschreiben (vgl. Ders., Metapher, 396f, hier 397). Perelman und Olbrechts-Tyteca gehen hingegen davon aus, dass eine metaphorische Aussage als „komprimierte Analogie“ darstellbar sei, „die aus der Verschmelzung […] eines Elements des Analogieträgers mit einem Element des Analogiethemas hervorgeht“ (Dies., Rhetorik, Bd. 2, 568). Sofern es im Folgenden aber lediglich um die Charakteristik der Wechselwirkung zwischen sprachlichen Elementen, die auf unterschiedliche Realitätssphären verweisen, geht, dürfte der Rekurs auf Blacks Metaphernverständnis – auch aus seiner eigenen Sicht – gerechtfertigt sein. Darüber hinaus wäre zu überlegen, ob die auf dem Begriff der Analogie beruhenden Überlegungen zur Metapher, wie sie in der Abhandlung vorgetragen werden, nicht schon zentrale Einsichten der neueren Metaphernforschung vorzeichnen, weshalb Eggs es geradezu einen „Skandal“ nennt, dass sie hier nicht oder kaum Eingang gefunden haben (vgl. Ders., Theorie, 191). Black geht realistischer Weise davon aus, dass Metaphern durchaus auch lediglich orna-
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Die Struktur der Wechselwirkung wird dabei wie folgt konturiert: Der Sekundärgegenstand bedeutet nicht ein Einzelding, sondern birgt ein „System von Beziehungen“, das Black auch „Implikationszusammenhang“ nennt. Aus diesem „Implikationszusammenhang“ werden bestimmte Prädikate auf den Primärgegenstand „projiziert“, wodurch dieser bestimmt wird: Spezifische Aspekte des Primärgegenstandes werden „selegiert, betont, unterdrückt“. Im Prozess der Projektion entfaltet sich simultan auch eine gegenläufige Qualifizierung. So wird nicht nur das semantische Spektrum des Primärgegenstandes durch den Sekundärgegenstand „organisiert“, sondern umkehrt auch das semantische Spektrum des Sekundärgegenstandes durch den Primärgegenstand. Nach Maßgabe des Primärgegenstandes kommt es im Vollzug der Projektion zu einer spezifischen Strukturierung auch seines Implikationszusammenhangs, so dass sich beide Komponenten wechselseitig beleuchten.242
Abb. 4: Funktionsweise der Metapher nach Max Black
Um die spezifische Leistung solcher Wechselwirkungen zu bestimmen, rekurriert Black auf die hermeneutische Als-Struktur. Metaphern erlauben, einen Gegenstand als etwas in den Blick zu nehmen, ihn sozusagen in bestimmter Weise zu rahmen, um so Aspekte wahrnehmen zu können, die ohne diesen Frame nicht zu Gesicht gekommen wären. Insofern besitzen metaphorische Aussagen nicht bloß eine Veranschaulichungsfunktion. Sie bilden „kognitive Instrumente“, die epistemische Aufgaben erfüllen. Wie die Erfindung der
mental verwendet werden können. Nicht in jedem pragmatischen Kontext werden metaphorische Aussagen so gebraucht, dass sie nicht durch andere Ausdrücke adäquat ersetzt werden könnten. Black spricht dann von nicht-‚emphatischen‘ Metaphern. Vgl. hierzu und zum Folgenden Ders., Metapher, 390–393. 242 Das „Vorhandensein des Primärgegenstandes reizt den Zuhörer dazu, einige der Eigenschaften des Sekundärgegenstandes auszuwählen; und […] fordert ihn auf, einen parallelen ‚Implikationszusammenhang‘ zu konstruieren, der auf den Primärgegenstand paßt; und umgekehrt […] wiederum parallele Veränderungen im Sekundärgegenstand bewirkt“ (Black, Metapher, 393).
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Zeitlupentechnik eine neue Perspektive auf einen Gegenstand gewährt und dabei bisher noch nicht bekannte Strukturen offen legt243 und erkundbar macht, so eröffnen auch Metaphern einen neuen Blick auf Welt und erschließen bis dato Unbekanntes.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Vollzugsform analogischer Argumentation nachvollziehen. Zur Illustration soll dazu eine prominent gewordene Analogie von Epiktet dienen: „Wenn ein Kind seinen Arm in eine enghalsige Vase steckt, um daraus Feigen oder Nüsse zu holen, und sich mit diesen die Hand füllt, wie wird es ihm dann ergehen? Es wird sie nicht mehr herausziehen können und anfangen zu weinen. ‚Laß’ einige davon los‘, wird man ihm nun zurufen, ‚und du kannst deine Hand wieder herausziehen‘. Mache es also genauso mit deinen Wünschen: Wünsche nur wenig und du wirst es bekommen.“244
Wollte man dieses Beispiel in das klassische Muster aus Argument, Schlussregel und Konklusion bringen, müsste man es wohl etwa wie folgt rekonstruieren: Argument:
Die Hand eines Kindes kann aus einer enghalsigen Vase nur wenige Gegenstände ziehen. Schlussregel: Die Hand eines Kindes verhält sich zu Gegenständen in einer enghalsigen Vase wie ein Mensch zu seinen Wünschen. Konklusion: Wünsche nur wenig!
Es ist deutlich, dass diese Rekonstruktion den Argumentationsakt Epiktets nur begrenzt zu erhellen vermag. Ausgeblendet bleibt das Interaktionsverhältnis zwischen Träger und Thema der Analogie. Indem eine spezifische Relation aus dem Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt auf eine spezifische Relation aus dem Bereich der mentalen Innenwelt projiziert wird, kommt es zu einer Organisation vor allem der Aspekte der Letzteren. Das komplexe Thema meines Wünschens wird im Licht des Implikationszusammenhangs des Trägers auf bestimmte Weise erhellt. Es wird in einen Rahmen gefasst, der mich mein Wünschen in einer spezifischen „Sehweise“245 wahrzunehmen erlaubt. War es 243 Gerade der Vergleich mit der Erfindung der Zeitlupentechnik hält Black dazu an, die epistemische Kraft von Metaphern nicht nur auf die Offenlegung von schon vorher existenten Sachverhalten zu beschränken. Denn anders als die „andere Seite des Mondes“, von der man mit guten Gründen behaupten kann, dass sie schon existiert habe, bevor sie jemand zu Gesicht bekommen hat, ist „das, was im Zeitlupenfilm zu sehen ist“ nicht ohne Weiteres vor diesem Sehen existent. Es wird gewissermaßen erst durch die Entwicklung des Sehinstrumentes „zu einem Bestandteil der Welt“. Als „kognitive Instrumente“ gleichen Black zufolge Metaphern solchen Sehinstrumenten (vgl. Ders., Metapher, 404–409, hier 407f; zur Als-Struktur vgl. a. a. O., 398–401; zur kreativen Kraft metaphorischer Aussagen vgl. auch Lakoff/Johnson, Leben, 167ff). 244 Zitiert nach Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 542. 245 Vgl. Mengel, Analogien, 183–188; Ders., Überraschungen, 146f.
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Black primär um die epistemische Leistung eines solchen Rahmens (resp. Sehweise) zu tun, können ihm auch evaluative Funktionen zugeschrieben werden. Entsprechend heben Perelman und Olbrechts-Tyteca über die neuen Verständnismöglichkeiten, die der Träger gegenüber dem Thema eröffnet, hinaus auch den Gesichtspunkt der „Wertübertragung“ hervor, die der Analogieschluss Epiktets vornimmt: „Hier kommt ein normativer Schluß auf das Verhalten einer Person, die sich mehr wünscht, als sie bekommen kann, lediglich durch die Übertragung jenes Wertes auf den Fall dieser Person zustande, der im Urteil über das kindische Betragen des Knaben, dem es nicht gelang, seine zu volle Hand aus der Vase herauszuziehen, enthalten ist.“246
Die Pointe des Plausibilisierungsversuchs Epiktets liegt also darin, dass er nicht allein eine sachlogische Folgerungsbeziehung zwischen selbstständigen propositionalen Elementen herstellt, sondern es über ihr analogisches Abhängigkeitsverhältnis zu semantischen und evaluativen Wechselbestimmungen kommt, auf deren Grundlage die Argumentation erst Sinn macht. Aus diesem Grund schreibt Peter Mengel analogischen Legitimationen eine Doppeldimension zu: Sie bestehen aus einer „metaphorischen“ und einer „Schlußkomponente“, „die erst in ihrem Zusammenwirken ein Analogieargument sowohl als Analogie als auch als Argument verständlich werden lassen.“247 Der Argumentationsakt kreiert erst den semantischen und evaluativen Raum, in dem er Geltung zu erlangen hofft. Analogieschlüsse führen damit in markanter Weise zentrale Facetten der vorhergehenden Ausführungen über die argumentative Gestalt der Persuasion nochmals vor Augen: – Als Musterfall substanzieller Argumentation zeigen sie „Elend“ und „Glanz“248 einer lebensweltlich situierten, kommunikativ strukturierten Begründungspraxis: In ihr müssen wir von Erfahrungen des Denkens absehen, in denen uns Behauptungen über uns, unsere Mit- und Umwelt als logisch zwingend erscheinen. Wer fühlte sich durch den Hinweis auf das kindliche Betragen (denkerisch) genötigt, seine Sehnsüchte zu beschränken!249 Zugleich versetzt 246 247 248 249
Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 542 (Hervorhebung M.S.). Vgl. Mengel, Analogien, 215f. Vgl. Mengel, Überraschungen, 148. Angegriffen werden Analogieargumente häufig nicht, weil ihre Haltbarkeit bezweifelt wird, sondern weil die in Anspruch genommene Schlussregel oder ihre Problemadäquanz nicht zu überzeugen vermag (vgl. Kienpointner, Regeln, 178f). In der hier gewählten Zugangsweise heißt das: Der Interaktionsprozess zwischen Thema und Träger misslingt bzw. wird – wie Mengel rekurrierend auf unsere Erfahrungen mit analogischen Argumentationen beschreibt – im Nachhinein als unproduktiv bewertet: „Wir finden eine Analogie zunächst schlagend, kommen dann aber doch zu der Einsicht, daß sie uns nicht überzeugt. Eine Art ‚Aha-Erlebnis‘ signalisiert uns die Sehweisenintegration, welche dann aber als fiktiv erkannt wird“ (Ders., Überraschungen, 147).
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sie uns jedoch in die Lage, auch in das weite Feld der Fragen unserer Lebenspraxis argumentierend vorzudringen und ihre Gestaltung nicht allein auf Geheiß von Intuitionen zu bewerkstelligen. – Toulmins Rede vom ‚Typensprung‘ macht deutlich, dass uns dadurch auch Problemzusammenhänge zugänglich sind, in denen frische Orientierungen in Frage stehen und neue Standpunkte vertreten werden. Wie der Verweis auf die ‚Bereichsunterscheidung‘ als konstitutives Merkmal analogischer Argumentation zu exemplifizieren vermag, können diese Standpunkte durchaus Deutungen in Spiel bringen, die den Rahmen unserer eingespielten und bewährten Auslegungssysteme relativ weit transzendieren.250 – Im analogischen Modus tritt in besonders gedrängter Form zu Tage, dass die transformative Struktur argumentativer Praxis sich nicht allein dergestalt modellieren lässt, dass ein bis dato nicht zum bestehenden Wissensvorrat gehöriges Element (Transzendenzaspekt) durch Anschluss an Elemente desselben mithilfe einer Schlussregel, die ebenfalls zu ihm gehört (Immanenzaspekt) zur Zustimmung gebracht werden soll. Durch den analogischen Wechselwirkungszusammenhang stellt sich das Verhältnis zwischen Transzendenz und Immanenz komplexer dar. So wird dem Adressaten zugleich ein neuer interpretativer wie evaluativer Blickwinkel vorgeschlagen, dessen Akzeptanz die Plausibilität der Argumentation bedingt. Der Integration des neuen Elementes in den bestehen Wissensvorrat, wodurch dieser umstrukturiert wird, geht insofern schon eine Umstrukturierung desselben voraus. Damit vollzieht sich durch analogische Argumentationen in verdichteter Form, worauf Perelman und Olbrechts-Tyteca mit dem Gedanken des begrifflichen Ausfeilens verwiesen haben: dass ein Argumentationsakt den Wissensvorrat nämlich schon unabhängig von der Akzeptanz des Standpunkts nicht einfach reproduziert, sondern deutend aufbereitet. – Zuletzt zeigt das Epiktetbeispiel auch noch einmal die Vergegenwärtigungsfunktion der sprachlichen Gestaltung argumentativer Kommunikation auf, die in diesem Fall dezidiert über Techniken der Veranschaulichung zu realisieren versucht wird. Vermöge der plastischen Schilderung des kindlichen Handelns, die durch die wörtliche Rede in ihrer Evokationskraft noch gesteigert wird,251 wird das Argument geradezu vor dem inneren Auge aufgeführt.
250 Wo Innovationen nach dem Modell einer starken „Diskontinuitätstheorie des Neuen“ verstanden werden, wonach wir „über keine Vergleichsmöglichkeit zwischen ‚Alt‘ und ‚Neu‘ verfügen“, kommen freilich auch analogische Argumentationen an ihre Grenze (vgl. Hetzel, Metapher, 78f [i. Orig. teils hervorgehoben]). 251 Unterscheidet man im Bedeutungsspektrum der Anschaulichkeit mit der klassischen Rhetorik zwischen enárgeia (Bildhaftigkeit) und enérgeia (Lebhaftigkeit), erhält das Portrait
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Reframing
4.2.1 Rahmen als erfahrungsgenerierende Perspektiven Im Zuge der argumentationsbezogenen Ausführungen war wiederholt von Rahmungsprozessen die Rede: Sie spielten eine Rolle bei der Frage nach der Problemadäquanz von Argumenten, der begrifflichen Aufbereitung unterstellter Plausibilitätsressourcen sowie der Funktion analogischer bzw. metaphorischer Aussagen. In allen drei Fragezusammenhängen verwies die Kategorie des Rahmens auf einen Deutungsakt: Etwas wird als etwas ausgelegt.252 Tatsächlich gilt in der reichhaltigen Literatur, die mit der Kategorie des Rahmens operiert, seine hermeneutische Funktion als Fixpunkt der Überlegungen.253 Insofern bietet die Reflexion auf Verfahren des Framing resp. Reframing eine Möglichkeit, Walzers Rede von der Interpretation resp. Reinterpretation nochmals zu detaillieren. Im Hintergrund der Deutungsfunktion von Rahmungstechniken steht die Einsicht, dass uns unsere Außenwelt wie Innenwelt nicht unmittelbar zustoßen, sondern nur vermittels interpretativer Vollzüge zugänglich sind. Das Framekonzept lenkt dabei den Blick auf die Perspektive, aus der heraus ein Gegenstand Teil des Bewusstseins wird, und dadurch festlegt, als was er thematisch wird. Entsprechend werden Rahmungsprozesse häufig am Beispiel visueller Perzeptionen illustriert – so etwa an Ludwig Wittgensteins berühmter Kippfigur des ‚Enten-Hasen-Kopfes‘254 oder im Fall von Black an der Figur des Davidsterns255. Je nach Perspektive wird die Zeichnung entweder als ‚Ente‘ oder als ‚Hase‘ gesehen – bzw. entweder als zwei gleich große gleichseitige Dreiecke, die verschränkt über einander gelegt sind, oder als regelmäßiges Sechseck, dem auf jeder seiner Kanten ein gleichseitiges Dreieck aufsitzt. Analog eröffnen auch nichtikonische Gegenstände variante perspektivische Zugänge, nach Maßgabe derer sie ‚als etwas‘ bewusstseinsförmige Präsenz erlangen. Im Diskurs um Rahmungsprozesse werden diese Zugänge vielfach dergestalt aufgefasst, dass sie Gegenstände nicht sogleich en détail bestimmen, sondern eher spezifische Prä-
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der Handlungsszene durch die wörtliche Rede gewissermaßen ein vitalisierendes Moment (vgl. dazu Asmuth, Anschaulichkeit, 163–170). Zur hermeneutischen „Struktur des Etwas als Etwas“ vgl. Heidegger, Sein, § 32, hier 149 (Hervorhebung i. Orig.). Schon in Gregory Batesons frühen Überlegungen zum Rahmenbegriff, wie er sie in seinem 1955 erschienen Beitrag A theory of play and fantasy vorgetragen hat, werden Frames als hermeneutische „Anweisungen oder Hilfen“ aufgefasst: „Jede Mitteilung, die explizit oder implizit einen Rahmen definiert, gibt dem Empfänger ipso facto Anweisungen oder Hilfen bei seinem Versuch, die Mitteilungen innerhalb des Rahmens zu verstehen“ (vgl. Ders., Theorie, 255 [Hervorhebung i. Orig.]). Zur Rezeption des Reframing-Gedankens im Kontext der Homiletik vgl. vor allem Campbell/Cilliers, Fools, passim. Vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, 228; Tucker, Figure, 400f; Wohlrapp, Begriff, 254f. Vgl. Black, Metapher, 398f.
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dikationsspektren offerieren, innerhalb welcher diverse semantische Möglichkeiten zur Erkundung bereit stehen. Die Gegenstände werden sozusagen unter bestimmte Oberbegriffe – ‚Klassen‘, ‚Kategorien‘, ‚Gattungen‘ – subsumiert: „So läßt sich tatsächlich ein und derselbe Vorgang als der Sachverhalt des Anziehens einer Schraube, des Zusammenbaus eines Autos, des Verdienens des Lebensunterhalts und des Förderns des staatlichen Außenhandels beschreiben.“256
Sofern, wie erläutert, Verstehen und Verhalten keine voneinander unabhängigen Vollzüge darstellen, sondern sich wechselseitig bedingen, organisiert die Perspektivierung eines Gegenstandes nicht nur sein Bedeutungsspektrum, sondern immer auch seinen Gebrauch. Sie eröffnet Handlungsoptionen – und verschließt andere.257 Folglich werden Rahmungsprozessen häufig nicht nur epistemische, sondern zudem emotive, evaluative und eben praktische Konsequenzen beigemessen. Sie bestimmen überhaupt den Modus, in dem etwas erfahren wird: als was es thematisch wird, mit welchen Empfindungen es besetzt wird, welche Wertigkeiten ihm zukommen und wie mit ihm umzugehen ist.258 4.2.2 Metaphern als Rahmungsmedien Wie der Exkurs zu Black gezeigt hat, können auch Metaphern als Rahmungsmedien beschrieben werden. Als Organe der Veranschaulichung oder Fermente ästhetischer Behaglichkeit bleiben sie unterbestimmt. Gerade starke Metaphern fungieren als ‚kognitive Instrumente‘, indem sie A im Licht von B zu verstehen geben und somit einen Rahmen entwerfen, der bestimmte semantische Optionen zu erkunden nahe legt, andere dagegen abblendet. Die Spezifik metaphorischer Rahmungsprozesse liegt dabei in der Fähigkeit, A und B als Gegenstände divergierender Bereiche aufeinander zu beziehen. Der Frame, in den der Primär256 So ein Beispiel von Perelman und Olbrechts-Tyteca in Dies., Rhetorik, Bd. 1, 170. Vgl. dazu auch Watzlawick u. a., Lösungen, 141f; Wohlrapp, Begriff, 252. 257 So wird etwa derjenige, der Wittgensteins ‚Entenhasen‘ als Ente auffasst, die Figur in einer anderen Art und Weise ausmalen als diejenige, die in ihm einen Hasen erblickt. Die jeweilige Perspektive prägt die Deutung der Figur und damit den praktischen Umgang mit ihr. Das Beispiel zeigt damit zugleich zweierlei: Es signalisiert zum einen, dass Praktiken Perspektiven und Deutungen zu artikulieren vermögen. Handeln kann zum Zeichen von Sehweisen und der in ihnen vorgenommenen Interpretationen werden, wobei nicht vorausgesetzt werden muss, dass diese Sehweisen und Interpretationen vorab bewusst vollzogen und danach praktisch umgesetzt werden. Oftmals können über die Reflexion von Handlungen, die ihnen impliziten Rahmungsprozesse überhaupt erst expliziert werden. Zum anderen verweist das Beispiel auf den Sachverhalt, dass Praktiken zu einer Art Stabilisierung von Perspektiven und Deutungen führen können. Einmal als Ente ausgemalt ist es schwieriger, den ‚Entenhasen‘ wieder als Hasen ins Bewusstsein zu bringen. Folglich wäre anzunehmen, dass Handlungen Sehweisen und Interpretationen sozusagen einleben können. 258 Vgl. exemplarisch Simons/Jones, Persuasion, 180.186; Watzlawik u. a., Lösungen, 138.140; Wohlrapp, Begriff, 243–245.
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gegenstand eingefügt wird, baut sich durch ein Bezugssystem auf, das einer anderen Realitätssphäre abstammt. Ganz ähnlich fassen George Lakoff und Mark Johnson in ihrer wegbereitenden Studie zu einer kognitiven Linguistik die Rolle von Metaphern auf. In Metaphors We Live By erkennen sie das „Wesen der Metapher […] darin, daß wir durch sie eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren können.“259 Dabei entfaltet sie einen Doppeleffekt: Sie ‚beleuchtet‘ und sie ‚verbirgt‘; im Begriff von B werden bestimmte Aspekte von A in den Vordergrund gespielt, andere dagegen in den Hintergrund versetzt.260 Wie das Supplement ‚und erfahren‘ andeutet, legen Lakoff und Johnson die Wirkungssphäre von Metaphern von Beginn an komplex an: Sie haben Einfluss nicht nur auf „unsere Art zu denken“, sondern überhaupt auf „unser Erleben und unser Alltagshandeln“261. Anders als Black geht es ihnen dabei weniger um eine Untersuchung konkreter sprachlich manifester metaphorischer Aussagen. Sie zielen auf den Nachweis, dass die Orientierungssysteme, in deren Medium wir unser Leben leben, „im Kern und grundsätzlich metaphorisch“ organisiert sind.262 Im Folgenden seien einige Facetten dieser metaphorischen Organisation an zwei Beispielen nachgezeichnet. (1) Als erstes Beispiel mag der Begriff der Theorie dienen. Wie Lakoff und Johnson aufzeigen, wird er häufig im Licht des Sekundärgegenstandes ‚Gebäude‘ strukturiert. Die Metapher ‚Theorien sind Gebäude‘ schlägt sich dabei in einer Vielzahl alltäglicher Ausdrücke nieder: „Ist das das Fundament Ihrer Theorie? Die Theorie muß besser untermauert werden. […] Die Theorie stützt sich noch auf weitere Fakten. […] Sie brachten seine jüngste Theorie zu Fall.“ Etc.263 Das Beispiel zeigt zunächst, dass konkrete metaphorische Einzelaussagen wiederholt auf eine Art Basismetapher zurückgeführt werden können, der sie zugehören. Sodann wird deutlich, dass die metaphorische Organisation eines Konzepts die Anwendung diverser Ausdrucksweisen aus dem Bereich des Sekundärgegenstandes eröffnet. Häufig sind sie 259 Lakoff/Johnson, Leben, 13 (i. Orig. hervorgehoben). Vgl. dazu auch Lakoff/Wehling, Sohlen, bes. 13–31. 260 Vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 18–21. Entsprechend wirken Rahmungen „exklusiv“ und „inklusiv“: „[D]adurch, daß gewisse Mitteilungen (oder sinnvolle Handlungen) in einen Rahmen eingeschlossen sind, werden andere ausgeschlossen“ – und umgekehrt (vgl. Bateson, Theorie, 254). 261 Vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 11. 262 Vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 11. Lakoff und Johnson sprechen vom „alltägliche[n] Konzeptsystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln“ (ebd.). 263 Vgl. mit weiteren Beispielen Lakoff/Johnson, Leben, 59 (Hervorhebung i. Orig.). Mit Black wären solche Konkretisierungen als Explikationen des sekundärgegenständlichen Implikationszusammenhangs zu beschreiben. Lakoff und Johnson bezeichnen sie auch als „Netzwerk von Ableitungen“, die eine Basismetapher eröffnet (vgl. Dies., Leben, 162).
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konventionalisiert und in den geläufigen Sprachgebrauch eingesickert.264 Schließlich umfassen diese Ausdruckweisen nicht den kompletten Implikationszusammenhang des Sekundärgegenstandes, sondern repräsentieren lediglich eine Auswahl desselben. Lakoff und Johnson nennen diese Auswahl seinen „‚benutzten‘ Teil“, während anderen Komponenten ‚unbenutzt‘ bleiben. Wird auf diesen „‚unbenutzten‘ Teil“ zugegriffen, haben wir in der Regel den Eindruck, einer frischen Metapher zu begegnen, die ein gesteigertes Aufmerksamkeitspotenzial freisetzt und den Primärgegenstand nochmals in einem anderen Licht zeigt.265 (2) Das zweite Beispiel stammt aus einem religiösen Kontext. Die biblische Tradition bietet eine Fülle von ‚Sekundärgegenständen‘, um den Bereich des Göttlichen aussagbar zu machen. Dass diese nicht allein auf einen Veranschaulichungsbedarf reagieren, der mit der Idee eines schlechthin Unanschaulichen mitgesetzt ist, sondern als kognitive Instrumente auch emotionale, evaluative und praktische Wirkungspotenziale bergen, kann anhand der Metapher ‚Gott ist Richter‘ illustriert werden. Mit Black kann sie als „resonant“ beschrieben werden, da ihr ein reiches Spektrum an „Hintergrundimplikationen“ zu eigen ist,266 die etwa in folgendem ‚Netzwerk von Ableitungen‘ explizierbar sind: ‚Gott‘ erscheint im Bezugssystem ‚Richter‘ als eine Größe, die urteilt, die Sachverhalte aufmerksam prüft, die gerecht ist, die sich gegenüber Bestechungsversuchen resistent erweist, die interesselos agiert, die ohne Ansehen der Person jedem das Seine zuteilt, die sich nicht durch Empfindungen leiten lässt, die sich an Gesetze gebunden weiß, die ein untrüglicher Blick leitet, die Verbrecher bestraft, die Unschuldige freispricht, vor der nicht ‚Bitten und Flehen‘, sondern Beweise zählen, die Gnade vor Recht ergehen lässt, vor der man im Angeklagtenstatus auftritt, vor der ein anwaltlicher Fürsprecher das Wort ergreift, die eine Autorität darstellt etc. Je nach Vorverständnis dessen, was einen ‚Richter‘ ausmacht, aber auch der Merkmale, die bis dato dem Gottesbegriff beigemessen worden sind, werden bestimmte Facetten aus diesem Spektrum selegiert und zur Prägung des Gottesbildes herangezogen. Damit gehen Affektbesetzungen und Wertattribuierungen einher. So mag die Idee einer untrüglich urteilenden Richterautorität Regungen der Ehrfurcht evozieren, die als bedeutsame Momente eines erfüllten 264 In der Metapherntheorie werden sie variierend als ‚ruhende‘, ‚schlafende‘ oder ‚erloschene‘ metaphorische Aussagen bezeichnet, deren Metaphorizität nicht mehr auf den ersten Blick wahrgenommen wird. 265 Vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 66f. Als Beispiele nennen sie etwa „Seine Theorie hat tausend Kämmerchen und lange, labyrinthische Flure“ oder „Er liebt schaurige Monumentaltheorien, die mit Fratzen verziert sind“. Aus dem Phänomen der Selektion nur bestimmter Aspekte aus dem Implikationszusammenhang hatte Black auf den interaktionellen Charakter der Metapher geschlossen, wonach auch der Primärgegenstand den Sekundärgegenstand organisiert. 266 Vgl. Black, Metapher, 390.
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religiösen Lebens wertgeschätzt werden. Bei einer anderen Person schürt eine solche Sicht dagegen eher Empfindungen der Angst.267 Womöglich leitet ihn eine Verknüpfung der Aspekte ‚Prüfen‘ und ‚Interesselosigkeit‘ zu einem anderen Metaphernsystem über, in dem ‚Gott‘ als ‚Kontrolleur‘ erscheint mit den damit einhergehenden Implikationen wie Mit-kühlem-Blick-Analysieren, DefiziteAufspüren, Von-kleinsten-Fehlern-Notiz-Nehmen o. ä.268 Nach Maßgabe dieser Affektbelegungen und Wertattribuierungen sind dann auch praktische Konsequenzen vorstellbar. Das Gottesverhältnis wird entsprechend eingerichtet, das religiöse Leben demgemäß gestaltet.
4.2.3 Rahmung und Persuasion Auf Basis dieser Erläuterungen lässt sich nun die Bedeutung von Rahmungsprozessen für die Praxis der Persuasion umreißen. Dabei soll der Schwerpunkt auf zwei Aspekten liegen. (1) Nach Lakoff und Johnson sind metaphorische Frames tief in unseren alltäglichen Lebensvollzügen verankert. Metaphern und ihre Ableitungsnetzwerke bilden einen festen Bestandteil unserer eingeübten ‚Konzeptsysteme‘, mit deren Hilfe wir uns deutend, wertend und handelnd gegenüber Welt verhalten. Kulturell besehen geben sie ein Repertoire vertrauter Rahmungsprozeduren, die situativ aktiviert werden, um Orientierung zu gewinnen. Sie markieren damit eine Art topischen Background, auf den zurückgegriffen werden kann, um einem persuasiven Anliegen Immanenz zu verleihen. Wer versucht, einen Standpunkt mit solchen etablierten Frames ins Spiel zu bringen, setzt auf die Vertrautheit bewährter Sehweisen und den damit gesetzten Plausibilitätspotenzialen. Im Anschluss an von Lakoff und Johnson besprochene „Orientierungsmetaphern“, die nach dem räumlichen Strukturmodell ‚oben/unten‘ organisiert sind und zumindest in unserem Kulturkreis konkreteren Ausdruck finden etwa in ‚gut ist oben; schlecht ist unten‘, ‚mehr ist oben; weniger ist unten‘, ‚Verstand ist oben; Gefühl ist unten‘; ‚Gesundsein ist oben; Kranksein ist unten‘, konstruiert Dietmar Till folgendes Beispiel für einen Versuch, auf diese kulturell etablierten metaphorischen Orientierungen anzuspielen: „Die deutsche 267 Die interpretativen, emotionalen, evaluativen und praktischen Reaktionen, die eine Metapher evoziert, sind selbstverständlich keine rein stimilusinduzierten Effekte. Ihr „Resultat […] kommt im Denken des Sprechers und Zuhörers zustande: sie sind es, die zum Selegieren, Organisieren und ‚Projizieren‘ veranlaßt werden“ (Black, Metapher, 393). Die subjektiven Reaktionen sind dabei mitbedingt durch den kulturellen Kontext wie die persönliche Lebensgeschichte (vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 164f). 268 Metaphorische Systeme sind häufig nicht trennscharf gegeneinander abgeschottet, sondern überlagern sich partiell, wobei bestimmte Elemente der Ableitungsnetzwerke Übergänge ermöglichen. Die Verschränkung zweier Systeme kann dabei mehr oder weniger kohärent ausfallen. Sie können sich ergänzen und verstärken, im Blick auf ihre Implikationszusammenhänge aber auch Widersprüche fabrizieren (vgl. Lakoff/Johnson, Leben, 103–124).
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Wirtschaft ist jetzt gesund, wie das gestiegene Bruttoinlandsprodukt zeigt. Bald werden wir wieder Vollbeschäftigung haben. Das liegt unter anderem daran, dass die Politiker vernünftig gehandelt haben.“269
(2) Im Diskurs um Prozesse der Rahmung spielt sodann der Hinweis auf die Möglichkeit neuer Rahmenentwürfe eine zentrale Rolle. Da Rahmen Konstrukte darstellen, die ihren Gegenständen nicht einfach ‚natürlich‘ aufsitzen und kraft ihres Doppeleffekts zudem immer nur eine Auswahl an Aspekten zu beleuchten in der Lage sind, während andere verborgen werden, verweisen sie auf Chancen, alternative Rahmungen vorzunehmen, um frische Sehweisen zu etablieren und die Spielräume unserer ‚Erfahrung mit der Erfahrung‘ zu erweitern. Solche Reframingprozeduren270 sollten in ihrem transformativen Potenzial freilich nicht überschätzt werden. Da sich gerade bewährte Rahmungen durch fortwährende Reifizierung tief in die kulturellen und subjektiven Orientierungsinventare eingelagert finden, eignet ihnen häufig eine Aura des ‚Selbstverständlichen‘, ‚Objektiven‘ und ‚Natürlichen‘, womit sie sich gegenüber einer „Kunst des Umdeutens“ als resistent erweisen können.271 Die bisherigen Ausführungen haben aus dem Spektrum möglicher Reframingverfahren einige Optionen bereits vorgezeichnet, die zum Abschluss im Sinne einer offenen Liste notiert werden sollen: – Nahe liegt zunächst, einen tatsächlich alternativen Frame zu entwickeln. So mag der Primärgegenstand des Göttlichen nicht nur über das Ableitungsnetzwerk der Richtermetaphorik zugänglich gemacht werden. Ein differentes Trägersystem könnte andere Aspekte in den Vordergrund spielen, um so eine 269 Vgl. Till, Rhetorik, 5 (Hervorhebung M.S.). Er schließt: „Wer dem Argument wiederstehen möchte, der muss seinem habitualisierten Metaphernsystem widerstehen, und das ist schwierig, weil das Konzeptsystem auf einer noch grundlegenderen kognitiven Ebene angesiedelt ist als etwa die in der Persuasionsforschung untersuchten Einstellungen (attitudes).“ Simons/Jones, Persuasion, 186ff erkennen in aphoristischen Aperçues, Sentenzen und Maximen Versatzstücke kulturell kursierender Frames. 270 Vgl. zu solchen Reframingprozeduren aus Sicht der systemischen Therapie auch Von Schlippe/Schweitzer, Interventionen, 76–82; Dies., Lehrbuch, 312–317. 271 Vgl. Watzlawick u. a., Lösungen, 135–156, hier 140: „Wirklich ist, was eine genügend große Zahl von Menschen wirklich zu nennen übereingekommen ist – nur ist die Tatsache des Nennens […] längst vergessen, die übereingekommene Definition wird reifiziert (das heißt verdinglicht) und wird so schließlich als jene objektive Wirklichkeit ‚dort draußen‘ erlebt, die nur ein Verrückter nicht oder anders sehen kann“ (Hervorhebung i. Orig.). Entsprechend kann als bedeutsame Wirkung eines gelingenden Reframings die kritische Denaturalisierung eingespielter Rahmungen gelten. Der Aufweis alternativer Frames lässt die etablierte Sehweise als Sehweise erscheinen – und nicht als immediater Effekt objektiver Sachverhalte. „Was die Umdeutung zu einem so wirksamen Werkzeug von Veränderungen macht, ist die Tatsache, dass wir, sobald wir einmal die Möglichkeit auch anderer Klassenzugehörigkeiten eingesehen haben, nicht mehr so leicht in die Angst und die Ausweglosigkeit einer frühen Wirklichkeitsauffassung zurückfallen können“ (a. a. O., 144). Zur Latenz von Rahmungen vgl. auch Wohlrapp, Begriff, 245–248.
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„neue Sicht“272 auf das Thema zu gewähren. Im Licht beispielsweise des Bedeutungszusammenhangs, den der Begriff des Hirten impliziert, werden andere interpretative Bestimmungsmöglichkeiten sondierbar und damit zugleich auch alternative Affektbesetzungen, Wertattribuierungen und Handlungskonsequenzen nahe gelegt. Außer einem solchen Wechsel auf ein Metaphernsystem, das historisch, kulturell oder subjektiv schon vorgegeben ist, sind freilich auch überhaupt neue metaphorische Aussagen prägbar. Um sich bestimmte Ausschnitte unserer Erfahrung auf innovative Art und Weise anzueignen, sind der kreativen Phantasie im Grunde keine Grenzen gesetzt.273 – Eine zweite Möglichkeit des Reframings markieren Verfahren, die am ‚benutzten Teil‘ eines Ableitungsnetzwerks ansetzen. In diesem Fall wird nicht ein tatsächlich alternativer Rahmen kommunikativ eingespielt, sondern der Implikationszusammenhang eines etablierten Trägers bearbeitet, wobei vielfältige Prozeduren vorstellbar sind. Geläufig dürfte der Versuch sein, den Reichtum potenzieller Ableitungen präzisierend einzuschränken. Durch Betonung und Verstärkung nur bestimmter Aspekte oder den expliziten Ausschluss möglicher Konnotationen soll dem Rahmen eine semantisch geschlossenere Form und potenziell neuartige Kontur verliehen werden. Dann wird ‚Gott‘ etwa dezidiert als ‚gerechter Richter‘ oder ‚guter Hirte‘ in den Blick genommen, um die Ausdeutung des Implikationszusammenhangs in bestimmte Bahnen zu lenken.274 Weiter vermögen auch Reinterpretationen bestimmter Ableitungen Rahmenmodifikationen zu evozieren. Einschlägig wäre hier die in der Psalmliteratur oder bei DtJes anhebende Umdeutung der Gerechtigkeitsvorstellung, wonach ‚Gerechtigkeit‘ im Blick auf Gott gerade nicht eine iustitia distributiva meint, die auf Basis einer akkuraten Analyse menschlicher Lebensführung ‚jedem das Seine‘ zuteilt, sondern als iustitia salutifera das Heil ‚unverdientermaßen‘ schafft. Der Gerichtsframe wird hier nicht ersetzt, aber reinterpretierend umgearbeitet. Sodann vermögen Reframingprozeduren auch negativ anzusetzen. Nachgewiesen werden dann etwa Spannungen oder Widersprüchlichkeiten innerhalb eines Ableitungsnetzwerks, die zur Basis einer präzisierenden Einschränkung oder der Umdeutung bestimmter Komponenten genommen werden können oder überhaupt zur Aufgabe des Frames und seiner Ersetzung motivieren sollen.275 – Nicht selten liegen derlei Inkonsistenzen weniger im ‚benutzten Teil‘ des Implikationssystems, sondern werden durch Zugriff auf seinen ‚unbenutzten 272 Lakoff/Johnson, Leben, 166. Vgl. dazu auch Simons/Jones, Persuasion, 179. 273 In solchen starken metaphorischen Innovationen erkennen Lakoff und Johnson ein wesentliches Moment kulturellen Wandels (vgl. Dies., Leben, 168; ferner Tucker, Figure, 407ff). 274 Wie jedes sprachliche Unternehmen können freilich auch solche Präzisierungsoperationen die Assoziationsläufe der Rezipienten nicht poietisch determinieren. 275 Vgl. dazu auch Wohlrapp, Begriff, 270f.
Ausgewählte Prozeduren der Persuasion
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Teil‘ hervorzurufen versucht. Ein solcher von Perelman und Olbrechts-Tyteca als „Weiterführung“ oder „Entwicklung“ bezeichneter Zugriff wird dann zu einem „Mittel der Widerlegung“.276 Kreative Fortschreibungen in den ‚unbenutzten Teil‘ hinein bieten aber nicht allein negative Möglichkeiten des Reframings. Sie erlauben, an einem Gegenstand neue Aspekte in den Vordergrund zu spielen, um eine variierende Deutung vorzuschlagen.277 Die Beschreibung dieser Verfahrensoptionen bleibt offensichtlich holzschnittartig und vermag die vielschichtigen Produktionsoperationen und Rezeptionsvollzüge, die dabei wirksam sind, nur vage anzudeuten; zudem korrelieren sie in praxi häufig. Dennoch erlauben sie exemplarisch auf die transformativen Möglichkeiten der (Re)Interpretation aufmerksam zu machen und ihre Funktionsweise zu konkretisieren. Walzers Überlegungen entsprechend besitzen auch die beschriebenen Reframingprozeduren dabei variierende Potenziale der Transzendierung und Immanentisierung. Während die mit den benutzten und unbenutzten Teilen arbeitenden Verfahren an vertrauten Frames ansetzen und von innen her novellierende Perspektiven zu entwickeln suchen, müssen dezidierte Alternativrahmungen auf anderem Wege an die Plausibilitäten ihres Publikums anschließen – im einfachsten Fall durch einen Wechsel auf ein ebenfalls schon etabliertes Rahmungssystem. Im Fall von überhaupt innovativen Rahmengebungen setzen metaphorische Verfahren auf die vorgängige Vertrautheit mit der Trägerkomponente oder zumindest den Bereichen, aus denen sie entnommen sind.278 276 Vgl. Perelman/Olbrechts-Tyteca, Rhetorik, Bd. 2, 548–558.567–584, hier 550. 277 Aus diesem Grund erkennen Perelman und Olbrechts-Tyteca gerade in ruhenden Metaphern ein reiches Persuasionspotenzial: „Uns scheint es nun so, daß schlafende Metaphern vor allem für die Argumentation außerordentlich wertvoll sind wegen der großen Überredungskraft, die sie besitzen, wenn man sie mittels des einen oder anderen Verfahrens wieder rege macht. Diese Kraft resultiert daraus, daß ihre Wirkungen von einem analogischen Material stammen, welches leicht akzeptiert wird, da es nicht nur bekannt ist, sondern auch durch die Sprache zur Kulturtradition gehört“ (Dies., Rhetorik, Bd. 2, 576f). 278 Auf die Relevanz der Immanenzdimension für gelingende Reframingprozeduren verweisen auch Paul Watzlawick, John Weakland und Richard Fisch, wenn sie konstatieren, „dass erfolgreiche Umdeutungen immer die Ansichten, Erwartungen, Gründe, Annahmen – kurz, das Begriffssystem – derer berücksichtigen müssen, denen sie gegeben werden. Verwende, was dir der Patient selbst bringt, ist eine der grundlegenden Regeln Eriksons für die Lösung menschlicher Probleme. Dieser Grundsatz steht in scharfem Widerspruch zu den Lehren der meisten tiefenpsychologischen Schulen, die entweder dazu neigen, ein und dieselbe Prozedur auf die verschiedenartigsten Fälle anzuwenden, oder aber es für nötig halten, dem Hilfesuchenden zuerst eine neue begriffliche ‚Sprache‘ beizubringen, ihn zu lehren, sich mit seinem Problem in dieser Sprache auseinanderzusetzen, und die schließlich eine Lösung innerhalb des Kommunikationsrahmens dieser Sprache versuchen. Im Gegensatz dazu setzen wirkungsvolle Umdeutungen voraus, dass der Therapeut die Sprache des Patienten erlernt (sein In-der-Welt-Sein, wie es die Existenzialisten wahrscheinlich nennen würden),
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Teil D: Praktiken der Persuasion
Anschlussreflexionen
Im Licht der Rhetorik erscheinen veränderungsprovokative Praktiken als absichtsvoll organisierte Diskurse. Entsprechend der kritiktheoretischen Erörterung und im Unterschied zu ästhetischen Zugängen tritt das Moment der Intentionalität markant in den Vordergrund. Wie zu zeigen versucht wurde, korrespondiert das rhetorische Reflexionsangebot damit der pragmatischen Struktur der Predigtsituation und eröffnet ihrer Durchklärung anregende Perspektiven. Folgt man dieser Einschätzung, ist das Predigtgeschehen als ein gerichtetes Reden zu verstehen, das „auf Zustimmung zielt“279. In ihm geht es weniger um die expressive Darstellung von Möglichkeiten der Selbstinterpretation als vielmehr um eine persuasive Mitteilung derselben, die Akzeptanz intendiert – wobei es die notierten Näherbestimmungen, was das Zustimmungskonzept anbelangt, zu beachten gilt. Aufgrund dieses Akzeptanzinteresses steht rhetorischerseits der Immanenzaspekt im Zentrum der Reflexion. Ob ihr Beitrag in bestimmter Weise verstanden, als relevant empfunden und plausibel gewertet wird, kann persuasiv eingestellten Akteuren nicht gleichgültig sein, womit sie gemäß des Anschlussprinzips auf eine rekursive Dynamik verwiesen sind, um nicht nur vor oder zu, sondern aus ihrem Auditorium heraus zu sprechen. Persuasion ist eine Kunst der Bezugnahme.280 Noch stärker als im Rahmen der Walzerschen Erörterung, erschließt der rhetorische Zugang die Vielschichtigkeit der Rekursion. Letztlich können sämtliche kommunikationsrelevanten Faktoren auf ihr rednerisches Anschlusspotenzial befragt werden. Unter der Bedingung, dass Persuasionen erst dort sinnvollerweise virulent werden, wo eine mentale Differenz vonseiten einer Sprecherin entweder als faktisch unterstellt oder auch nur projektiv inszeniert wird, impliziert Überzeugungsarbeit zugleich ein transzendierendes Moment. Auch diesbezüglich können alle den Diskurs bedingenden Größen rhetorisch ausgemünzt werden. Demnach ist die Rede von Transzendierungsinstanzen, auch der biblischen Texte etwa, oder Instanzen der Nähe niemals eine absolute. Sie werden dazu in der und dies lässt sich viel rascher und billiger erreichen als umgekehrt“ (vgl. Dies., Lösungen, 150 [Hervorhebung i. Orig.]). Ebenso votieren Simons/Jones, Persuasion, 200f, die Reframingprozeduren in ihren coactive approach einbeziehen und von Überzeugungsverfahren abgrenzen, die streng externalistisch operieren. 279 Vgl. Weyel, Religion, 231. 280 Vgl. dazu auch Kretzschmar, Mensch, 454. Das Anschlussprinzip bildet auch in den großen rhetorisch inspirierten Predigtlehren des 19. Jh. eines Schott, Theremin oder Alexandre Vinet einen zentralen Topos. So behaftet etwa Theremin die Predigt auf ein mehrschichtiges ‚Anpassen‘, ‚Anschmiegen‘ und „Anschließen“ an den Hörer, um diesen gleichsam „von Innen heraus [zu] bilde[n]“, indem sie seine „eigenen Ideen“ entwickelt, nicht aber von außen her konfrontiert (vgl. Ders., Beredsamkeit, 55–68.140–170, hier 57f; ferner Vinet, Homiletik, 1–45; Schott, Theorie, etwa 136–163).
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interpretativen Einschätzung des jeweils konkreten Gesamtzusammenhangs der anstehenden Predigtaufgabe und der praktischen Reaktion auf seine Faktoren und ihrer rednerischen Bearbeitung. Um in diesem Komplex die Dynamiken der Rekursion und Transgression nach Maßgabe ihrer Simultaneität zu verschränken und in ihrem Verhältnis auszuhandeln, bietet das Theorieinventar der Rhetorik im Gedanken des aptum eine konstruktive Reflexionsfigur. Festgehalten ist damit nicht nur die prinzipielle Variabilität des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz, wonach sich dieses in verschiedene Konstellationen ausbalancieren lässt; vielmehr zeigt sich diese Variabilität als ein rhetorischer Gestaltungsakt, der im Blick auf jeden Einzelfaktor, bezüglich ihres Arrangements sowie in temporaler Verlaufsperspektive je neu zu vollziehen ist. Was schon bei Walzer angeklungen ist, lässt sich im Reflexionskontext der Rhetorik somit noch sehr viel nachdrücklicher aussagen: Die Dialektik von Transgression und Rekursion ist eine vielfach variierbare kommunikative Gestaltungsaufgabe, die auf der interpretativen Einschätzung eines multifaktoriellen Gesamtzusammenhangs aufruht. Dass dabei gemäß des aptum die Adressaten ab ovo und durchgängig die richtunggebende Instanz markieren, entspricht dann nur den Walzerschen Überlegungen. Auch persuasionstheoretisch zeigt sich, dass die Wirkungen, die im Zuge der Umsetzung dieser Aufgabe potenziell evoziert werden, nach dem Schema einer kruden Polarität von Affirmation und Transformation nur unzureichend beschrieben wären. Das subtilere, gegenüber unseren Erfahrungen selbstverständlich abstrakte und allein idealtypisch zu verstehende Modell, das sich bisher herauskristallisierte, wurde durch die vorhergehenden Überlegungen weiter verfeinert. Auf der Transformationsskala sind nicht nur Erfahrungen zu unterscheiden, in denen etablierte Urteile ‚revolutioniert‘, ‚reformiert‘281 oder im Sinne des reinforcement ‚bekräftigt‘ und ‚vertieft‘ werden; mit Miller wären darauf auch Formierungseffekte einzukreisen, in denen ein Urteil sich initial ausbildet und in den Selbstverständigungsprozess eingeht. Wie immer man die Fruchtbarkeit solcher typologischer Modelle einschätzen mag, lösen sie doch das Verständnis auch der Wirkungsweisen der Predigt aus der Affirmation/Transformation-Dichotomie heraus und geben den Blick für nuanciertere Beschreibungen frei. So zeigte sich schon in Teil C das Sich-Wiederkennen in einer Darstellung nicht als ein schlechterdings affirmativer Prozess; und auch die genauere Analyse der Verfahren der Argumentation und des Reframings vermochte gewissermaßen in die Grauzonen der Transformation 281 Wie gesehen kann Walzer in der Lesart von Bäder-Butschle im Blick auf den reformistischen Typ mit dem Hinweis auf ‚konventionelle‘ und ‚umstrittene‘ Interpretationen nochmals Unterdifferenzierungen vornehmen. Eine im Interesse an kulturellen Wandlungen formulierte, sehr viel feinere, 14-stellige Typologie entwerfen Lutz Bergemann u. a., Transformation, 47–54.
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Teil D: Praktiken der Persuasion
vorzustoßen und die häufig übersehenen Transzendierungschancen auch konsequent adressatenrelativer Diskurse kenntlich zu machen. Mit Abschluss dieses Kapitels konnten damit alle drei von Walzer als für transformative Praktiken relevant erachteten Operationen präziser untersucht und in ihren Erweiterungspotenzialen beschrieben werden. Wie insbesondere am Beispiel der Argumentation deutlich wurde, sind die drei Verfahren rhetorisch besehen dabei nur bedingt als Alternativen zu verstehen.282 Indem argumentative Praxis immer auch als eminente Kunst der Vergegenwärtigung und Rahmung zu stehen kommt, spielen interpretative, darstellende und argumentative Techniken zusammen – was mit Oesterreichs Beschreibung der rhetorischen parole als Integrationstypus nicht überraschen muss. Nicht zuletzt deshalb ist mit dem Begriff der Argumentation ein durchaus vitaler Kommunikationsmodus angezeigt, der nicht auf formalisierte Schlussketten innerhalb definitorisch stabilisierter Sprachsysteme oder am Ideal logischer Stringenz oder auch nur emotionsbereinigten Sprechens ausgerichteter Rede abonniert ist, sondern unter kreativer Indienstnahme des gesamten Stilrepertoires und seiner Arrangierungsmöglichkeiten im nur interpretativ zugänglichen Raum des real talk nach auch rational überzeugungskräftigen Gründen sucht. So besehen sollten argumentative Verfahren als genuine Verfahren ebenfalls der Predigt in Betracht kommen können.283 Außer den drei von Walzer aufgerufenen Verfahren verweist die rhetorische Tradition auf eine weitere für veränderungsinteressierte Praktiken eminent wichtige Operation. Indem das Subjekt transformativer Praxis im Reflexionskontext der Rhetorik nicht nur wie bei Walzer überhaupt in ihrer Bedeutsamkeit herausgestellt, sondern über die Kategorie der Glaubwürdigkeit operationalisiert wird, avanciert die ἦθος-Präsentation zu einem vierten transformationsrelevanten Verfahren. War es bei Walzer primär das Selbstkonzept des kritischen Akteurs, an dem sich die Verbundenheit des Redners mit den Adressaten entscheidet, zeigt sich diese Verbundenheit in der rhetorischen Betrachtung als ein im Akt der Kommunikation selbst verfahrensmäßig Hervorzurufendes – wobei sich Walzers Rede von attachment, closeness und connectedness auf Ebene der Beziehung zwischen Kritiker und Kritisierten primär im Wahrnehmungswert der εὔνοια abbilden dürfte.284 282 Selbstverständlich ist ihre Unterscheidung zur Herausarbeitung ihrer spezifischen Leistungen und Klärung der mit ihnen jeweils gestellten Probleme obligat; und dass Kommunikationen etwa ihre argumentative Orientierung deutlich hervorkehren und sprachlich markieren können, während in anderen die Darstellungsfunktion leitend ist, ist ebenfalls unbestritten. Dennoch sollte dies nicht zu dem Fehlschluss verleiten, die Verfahren als prinzipielle Gegensätze aufzufassen, die kommunikativ nicht koalieren könnten und dies predigtpraktisch häufig tun. 283 Zur Andeutung einiger Potenziale der Argumentationstheorie für die Homiletik vgl. Stetter, Predigt, 175f. 284 Dass die Art und Weise, in der sich ein Sprecher in der Rolle, in der er kommunikativ auftritt, interpretiert, das Bild, das er von sich und seiner Relation zur Hörerschaft entwirft und
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Gemäß der beschriebenen Doppeldeutigkeit der einzelnen Kommunikationsfaktoren in Hinsicht auf die Aspekte der Nähe und Distanz, kann das Subjekt transformativer Praxis nicht nur in der Funktion der Immanenz in Erscheinung treten. Gerade dort, wo sich der Prediger in seinem perspektivischen Weltzugang nicht aus dem Predigtgeschehen herauszuhalten versucht, sondern seinen Beitrag auf einer subjektiven Durcharbeitung beruhen lässt, durch die der präsentierte Sinn zum Ausdruck eigenen Verstehens, persönlicher Relevanz und subjektiver Überzeugung wird, gewinnt die Predigt einen ‚Eigensinn‘, der das Auditorium herauszufordern vermag. Dass der Aufbau eines solch ‚eigensinnigen‘ Charakters nicht notwendig unter Rekurs auf das subjektive Verhältnis, das der Prediger zu seinem Beitrag einnimmt, expliziert werden muss, wurde gezeigt (vgl. B.3). Das besondere Potenzial, das einer Predigt zu eigen ist, in der ihr Idiolekt etwas von der Spezifik des idiosynkratischen Weltzugangs ihres Subjekts mitteilt, tritt im Licht der vorhergehenden Überlegungen freilich klar zutage. Kurz gesagt besteht es in der Verquickung von Transzendenz und Immanenz, die ein Einbringen der eigenen Subjektivität in die Predigt in sich erlaubt: Sofern die Predigt im Zuge ihrer Vorbereitung und Aufführung so gestaltet wird, dass die Rezipienten den Eindruck gewinnen, hier vertritt jemand seine Ansicht und Stellung zur Sache, erhält sie nicht nur einen ‚eigensinnigen‘, transzendierungsrelevanten Zuschnitt, sondern schreibt ihr erstens simultan einen Zug der Aufrichtigkeit ein, der als Glaubwürdigkeitsfaktor der Gesamtfunktion der Immanenz dient, die präsentierte Sicht auf Welt zustimmungstauglich zu machen; und zweitens wird die Predigt dadurch zugleich als ein für sein Subjekt selbst bedeutsamer Diskursbeitrag wahrnehmbar, der, wie vermutet, zum Relevanzempfinden auch der Adressaten beiträgt und insofern der zweiten Immanenzfunktion dient. Zuletzt lässt sich das besondere Potenzial einer Predigt, in der ihrem Verweisungsbezug auf das Predigtsubjekt bewusst entsprochen ist, in einer dritten Perspektive entfalten. Sie tangiert den ethischen Problemaspekt. Aufgrund des intentionalen Charakters, den veränderungsprovokative Praktiken im Rahmen der Rhetorik erhalten, trat der ethische Problemaspekt in Teil D in zugespitzter Form auf den Plan: Muss ein dezidiertes Wirkungsinteresse auf Rednerseite das Autonomieinteresse der Adressaten nicht konterkarieren? Wie vorgeschlagen muss dies dann nicht der Fall sein, wenn ein Diskursbeitrag am Kriterium der Aneignungstauglichkeit ausgerichtet bleibt. Im Anschluss an Bieri wäre dazu erforderlich, dass die Adressaten imstande sind, sich im Predigtgeschehen als überhaupt die Haltung, in der er seinen Beruf, sofern zu ihm die Redetätigkeit gehört, ausübt, sein Reden maßgeblich beeinflusst, ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Vgl. dazu homiletischerseits Schlag, Prediger; Ders., Grundperspektive, 87–92; knapp dazu auch Stetter, Überlegungen, 182f.
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aktiv Beteiligte zu erfahren, sich in ihrem Wahrnehmen, Verstehen und Urteilen nicht hintergangen, sondern involviert finden. Unter dieser Voraussetzung verlieren auch intendierte Wirkungen den Charakter eines bloßen Widerfahrnisses, das an, aber nicht mit uns geschieht. Dass damit nach Maßgabe des Religionsbegriffs ein genuin homiletisches Interesse angesprochen ist, wurde angedeutet und ist im folgenden Kapitel ausführlicher zu entfalten. Um auf Rezeptionsbedingungen hinzuarbeiten, die Reaktionen nach Art der Aneignung ermöglichen, bedarf es einer in sich vielschichtigen rekursiven Dynamik, die dem rationalemotionalen Doppelcharakter der Aneignung Rechnung trägt285 und ihre Grenze in der Aufrichtigkeitsmaxime besitzt. Exakt hierin zeigt sich nun das ethische Potenzial einer Predigt, in der sich ein Subjekt in seinem perspektivischen Weltzugang zur Geltung bringt. Gelingt es der Predigerin ihren Beitrag so zur Aufführung zu bringen, dass sein rezipierter Sinn als Ausdruck des von ihr Gemeinten gedeutet wird, dass er Sichtweisen vermittelt, die ihr plausibel und relevant erscheinen, mit denen sie sich identifiziert und für die sie sich engagiert weiß, stützt sie die Aufrichtigkeitsbedingung der Aneignung. Gleichzeitig grenzt das Aneignungskriterium dieses Engagement auf einen präzisen Sinn ein. Denn wäre damit ein Involviertsein verstanden, das mehr meint, als dass eine Rednerin von der Plausibilität einer Sache überzeugt ist und sie als bedeutsam empfindet, mithin ein Engagement, das jedwede Distanzierung verhindert, könnten die Adressaten nicht als Aneignende vorgesehen werden. Denn Aneignung erfordert einen Aktivitätsspielraum, der per se individuelle Verarbeitungen, selektive Übernahmen, kritische Einwände oder Ablehnung als Reaktionsmöglichkeiten miteinschließt. Insofern wäre die Predigt in den Rahmen einer Dialektik von Engagement und Distanzierung einzusetzen. Aus ihr ließe sich eine Idee der Kanzelrede gewinnen, in der ein religiöser Akteur Sichtweisen entwickelt, die sich einer eigenen hermeneutischen Durcharbeitung verdanken, die ihm wichtig sind und von deren Plausibilität er subjektiv überzeugt ist, für die er folglich Partei ergreift und nicht nach dem Modell eines neutralen Informanten oder expressiven Organs operiert, gegenüber deren Rezeptionsweise er sich deshalb nicht indifferent verhält und folglich Verstehen, Relevanz und Akzeptanz intendiert, mit denen er gleichwohl nicht so identifiziert ist, dass er nicht in der Lage wäre, sie in den Raum der Aneignung zu entlassen.
285 Das heißt zum einen, dass wir Rezeptionen auch dort als Vollzug persönlicher Freiheit erleben können, wo wir emotional stimuliert werden, zum anderen jedoch exklusiv auf emotionale Appelle getrimmte Beiträge, die uns als denkende, verstehen wollende und nach Gründen fragende Wesen übergehen, Aneignungsprozesse hemmen oder sabotieren.
Teil E: Dynamiken der Diversität. Soziokulturelle Kontextualisierungen der transformativen Dimension der Predigt
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Vielfalt und Veränderung
Die zurückliegenden Kapitel dienten der Erkundung dreier Theorietraditionen, die mit der Erhellung kulturell etablierter Praktiken befasst sind, von denen sich soziale Akteure Veränderungen versprechen: Die Problemaspekte der transformativen Predigtdimension wurden in die Reflexionskontexte der Kritiktheorie, der Ästhetik und der Rhetorik gestellt. Mit dem folgenden Überlegungsgang wird die Perspektive verschoben. Der Blick richtet sich auf die sozialen und kulturellen Zusammenhänge des Predigtgeschehens, womit der kontextuelle Problemaspekt in den Vordergrund tritt. Dieser wurde im Verlauf der Erörterung wiederholt adressiert: Mit Nachdruck hat etwa Walzer auf die Heterogenität der soziokulturell kursierenden Semantiken verwiesen, um die Adressaten der Kritik als Instanzen der Transzendierung zu konstatieren; in Turners terminologischer Abhebung des ‚Liminoiden‘ vom ‚Liminalen‘ spiegelte sich die funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaften sowie der individualisierte Zugriff auf die sozial verfügbaren Reflexionspraktiken; und Knape wie Kopperschmidt hatten aus der Tendenz auf Pluralisierung einen gesteigerten Bedarf an Überzeugungsvollzügen abgeleitet, sofern die Präsenz von Alternativen die Selbstverständlichkeit gelebter Orientierungen potenziell erodiert. Dass der soziokulturelle Kontext im Zusammenhang der Reflexion auf veränderungsprovokative Praktiken dabei insbesondere in Hinsicht auf Diversitätsphänomene in Betracht kommt, muss vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen nicht überraschen, stellt die Zugänglichkeit eines ‚Anderen‘, ‚Fremden‘ oder ‚Neuen‘ doch eine wesentliche Bedingung transformativer Prozesse dar. Prägnant kam dieser Konnex zwischen Vielfalt und Veränderung im Horizont des Selbstverständigungsgedankens zum Vorschein. Die Skepsis gegenüber der Erfordernis wie Möglichkeit, ein homogenes Selbstbild zu entwickeln, ist hier intern mit Vorbehalten gegenüber überzogenen Kontinuitätserwartungen verknüpft, wobei es gerade die Wahrnehmung eines sozialen und kulturellen Strukturwandels war, der zu dieser modifizierten Sicht auf den
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Prozess der Selbstverständigung führte: Unter der Voraussetzung einer sich zunehmend als pluralisiert darstellenden Gesellschaft musste die Einheitlichkeit und Veränderungsresistenz auch der subjektiven Deutungen und Entwürfe des Selbst an Plausibilität einbüßen. Entsprechend steht im Folgenden die Frage der Diversität im Zentrum der Reflexion: Der kontextuelle Problemaspekt wird nicht allgemein, sondern unter dem Gesichtspunkt der Pluralitätsdiagnose erörtert. Das Erkenntnisinteresse kann zusätzlich in drei Hinsichten profiliert werden: Getreu der bisherigen Fragerichtung bleiben Fragen der materialen Homiletik weitgehend im Hintergrund.1 Eher geht es um die Stellung, die das Predigtgeschehen als veränderungsprovokative Praxis in seinen sozialen und kulturellen Kontexten einnimmt; dadurch können die bis dato versammelten Überlegungen zu den übrigen Problemaspekten weiter vertieft werden. Sodann zielt der Reflexionsgang primär auf Pluralitätseffekte; leitend ist die Frage nach den potenziellen Konsequenzen, die plurale Lebensbedingungen für das Selbstverhältnis der Individuen besitzen. Orientiert an der Predigtinteraktion liegt der Fokus schließlich auf der Wahrnehmung religiöser Vielfalt, die freilich komplex in die gesamtgesellschaftlichen Dynamiken der Diversität eingebunden ist. Pluralisierungsprozesse werden für diverse Bereiche reklamiert: Im Bereich des Arbeitslebens werden zunehmend heterogene Erwerbsformen identifiziert; die Milieuforschung beschreibt die Ausprägung pluraler Lebensstile und -modelle; die politische Debatte um die Frage einer Leitkultur oder der Entstehung von Parallelgesellschaften verweist auf kulturelle Diversität; im medialen Sektor vermehren sich die Möglichkeiten, Informationen zu beziehen und mit anderen in Kommunikation zu treten. Auch in der Religionssoziologie avancierte die Untersuchung von Pluralisierungsprozessen über die letzten Jahre zu einem eigenständigen Forschungsbereich.2 Der Fokus verlagerte sich dabei auf die Erforschung der subjektiven und sozialpsychologischen Effekte religiöser Pluralität. Topographische Beschreibungen wurden durch die Erforschung des Umgangs mit religiöser Vielfalt und ihrer Konsequenzen ergänzt.3 1 Zu inhaltlichen Potenzialen der Predigt im Kontext pluralisierter Lebensbedingungen vgl. etwa Engemann, Freiheit; Grözinger, Gnade, bes. 213–216; Gräb, Predigtlehre, bes. 23–27. 2 Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 27. Im Blick auf die religiöse Lage in Deutschland markieren Gert Pickel und Kornelia Sammet die Erforschung religiöser Vielfalt als eine der religionssoziologischen „Grundfragen“ (vgl. Dies., Einleitung, 14) und Christof Wolf konstatiert: „In der Religionssoziologie war keine Debatte der letzten 15 bis 20 Jahre so fruchtbar wie die Diskussion um die Ursachen und Folgen religiöser Pluralisierung. Über die theoretischen Lager hinweg besteht Einigkeit, dass die religiöse Vielfalt in Europa und den USA zugenommen hat. Über die Ursachen und Folgen dieses Prozesses gehen die Ansichten jedoch weit auseinander“ (Ders., Konzepte, 18). 3 Vgl. etwa Hero/Krech, Pluralisierung, 27.34–37; Hero, Ende; Krech, Exklusivität; Pollack/
Vielfalt und Veränderung
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Dieses gesteigerte akademische Interesse an Fragen religiöser Pluralisierung ruht auf einem öffentlichen Diskurs auf, in dem religiöse Differenz verstärkt als Herausforderung adressiert wird. In Deutschland scheint vor allem die Präsenz des Islam in Sachen Religion einen neuen Bedarf an politischer und zivilgesellschaftlicher Selbstverständigung zu markieren. Dies lassen zumindest die rezenten Debatten um das Tragen des Kopftuchs, den Bau von Moscheen, die Beschneidung von Jungen, den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union oder den Zusammenhang zwischen Religion und Terrorismus vermuten. Die Konzentration auf den Islam sollte freilich nicht den Blick auf die diversen Facetten religiöser Vielfalt verstellen.4 So verweisen schon die Faktoren, die für die aktuelle Pluralität des religiösen Feldes diskutiert werden, auf verschiedene Erscheinungsformen. Entscheidend sind zunächst die Immigrationsströme seit Mitte des 20. Jh. Galten die westeuropäischen Staaten über große Teile der Moderne hinweg als Auswanderungsgebiete, werden sie seit den 1950er Jahren zu Zentren der Einwanderung.5 Relevant sind ferner Faktoren, die unter anderem in Verbindung mit Individualisierungsprozessen stehen: die Ausprägung heterogener Milieus innerhalb der etablierten Religionsgemeinschaften, das Auftreten institutionell ungebundener Religiosität, das Selbstverständlichwerden von Konfessionslosigkeit oder die Genese neureligiöser Bewegungen und GemeinFriedrichs, Wahrnehmung; Pollack, Pluralisierung; Pickel, Religionen, 62–70. Dabei zeichnet sich die gegenwärtige Debatte vor allem durch ein höheres Maß an analytischer Vorsicht und Differenziertheit aus. Besonders die in den 1990er Jahren aufflammende Debatte um die vitalisierenden oder säkularisierenden Effekte religiöser Pluralität wird aktuell sehr viel diskreter und zurückhaltender geführt (vgl. Hero/Krech, Drei-Länder-Vergleich, 135ff). 4 Baumann, Religionspluralität, 123 weist darauf hin, dass die öffentliche Debatte um den Islam nicht nur die Präsenz auch anderer Religionsgemeinschaften zu verdecken droht, sondern gerade auch die innerislamische Pluralität nur unzureichend abzubilden vermag; beim Thema religiöser Diversität in Deutschland gehe es zumeist zunächst einmal um „‚den‘ Islam“. Freilich dürften hier aktuell Differenzierungsfortschritte zu verzeichnen sein. Konzentriert auf die Evangelische Kirche in Deutschland haben Jan Hermelink und Birgit Weyel ebenfalls für eine Wahrnehmung des Facettenreichtums pluralisierender Dynamiken votiert: Sie verweisen auf die Vervielfältigung der „Sozial- und Arbeitsformen“ jenseits der klassischen Ortsgemeinden, den Ausdifferenzierungsprozess, der das „ortsgemeindliche Leben selbst“ erfasst hat und etwa zu distinkten Angebotsstrukturen und einer Diversität an Beteiligungsmodi führte, sowie insgesamt auf das gestiegene Bewusstsein für die Heterogenität der kirchlichen Geselligkeitsstrukturen, die Aspekte der „Gemeinschaft“, der „Organisation“, der „Institution“ wie der „Bewegung“ simultan umfassen und nicht auf ein Interpretament resp. Idealbild reduziert werden sollten (vgl. dazu auch Hermelink, Organisation, 89–123; Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 117–219). Durch den Ansatz der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bei den sozialen Relationen, in denen Akteure stehen und aus denen heraus sie religiös kommunizieren, zeigt sich die Vielfältigkeit der Geselligkeitsstrukturen auch noch in einer anderen Dimension: Kirche wird als ein weit verzweigtes, in sich heterogenes Netzwerk lesbar, das im Medium zwischenmenschlicher Bezüge diverse Orte und Gelegenheiten in Beziehung setzt (vgl. Hermelink/Weyel, Vielfalt, 17–20). 5 Vgl. Casanova, Immigration, 59f.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
schaften.6 Die notierten Faktoren werden schließlich durch Veränderungen begünstigt, die seit gut 20 Jahren unter dem Stichwort der Globalisierung reflektiert werden. Primär Innovationen in den Bereichen der Kommunikations- und Transporttechnologie brachten vormals räumlich und zeitlich getrennte kulturelle Sphären in reziproke Einflussverhältnisse. Dadurch werden auch die religiösen Felder der global vernetzten Gesellschaften in einen pluraleren Bezugsrahmen gestellt.7 War der Begriff der Globalisierung aus der Perspektive des Subjekts dabei lange Zeit mit Abläufen verknüpft, die „‚dort draußen‘“ stattfinden und folglich mit den konkreten Lebensvollzügen des Subjekts vor Ort nur marginal in Beziehung stehen, hat sich dies aktuell verändert. Globalisierung sei, so Ulrich Beck, als ein Prozess zu interpretieren, der sich immer auch „‚im Inneren‘“ vollziehe: im Inneren „des Nationalen, des Lokalen, […] der eigenen Biographie und Identität“.8 Indiziert ist damit die Näherung des Anderen und Fremden. Alterität und Alienität erscheinen unter pluralen Bedingungen nicht mehr allein in „standardisierten“ Rollen, „wie dem auswärtigen Händler, dem Eroberer, dem fremden Weisen, dem fremden Künstler, dem Flüchtling oder dem Heimkehrer, bei denen weitgehend sozial geregelt war, was man voneinander zu halten hatte und was jeweils in welcher Bedeutung als ‚fremd‘ gelten konnte. Wie kompliziert wird hingegen der Alltag, wenn das Zusammenstoßen getrennter Sinnwelten nicht mehr durch Sonderrollen ausgewiesen ist, so daß man immer seltener auf universelle Modi zurückgreifen kann.“9
Diese ‚Kompliziertheit‘ soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Im Zentrum steht der Versuch von Charles Taylor, die Folgen religiöser Pluralisierung auf die Selbstverständigungsakte des Subjekts auszubuchstabieren. In A Secular Age hat er hierzu einen Vorschlag unterbreitet, der durch sein pointiertes Profil geeignet ist, auf relevante Dimensionen subjektiver Pluralitätseffekte aufmerksam zu machen. Die Rekonstruktion dieses Vorschlags wird flankiert durch einen religionssoziologischen Anlauf, der zu einem differenzierteren Verständnis von
6 Vgl. Krech, Lage, 220; Krech, Bewegungen, 25; Hero/Krech, Pluralisierung, 27. 7 Zu den pluralisierenden Effekten von Globalisierungsprozessen vgl. etwa Beyer, Religion; Simojoki, Religion. 8 Vgl. Beck, Gott, 94; ferner Ders., Globalisierung, 132; Knoll u. a. Globalisierung. 9 Schäffter, Modi, 13. Unter Rekurs auf die Akzelerationsthese beschreibt Giesen, Entgrenzung, 174 die Komplexität der aktuellen soziokulturellen Strukturen als Simultanisierung von Unterschiedlichkeit: Wir erfassen heute „Variation nicht mehr – wie noch im 19. Jahrhundert – über Geschichtlichkeit oder zeitliches Nacheinander, sondern über das Nebeneinander kultureller Vielfalt“. Vor allem durch die neue Medienkultur „konvertiert sich Bewegung zu Vielfalt. Differenzen, die zuvor zeitlich geordnet wurden und nur im Ausnahmefall in einer Lokalität zusammentrafen, erscheinen gleichzeitig und nebeneinander. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und das Nebeneinander des Unvereinbaren werden dann zu einer alltäglichen Erscheinung“ (a. a. O., 181).
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Pluralität beitragen soll, sowie durch die Vorstellung einiger ausgewählter empirischer Befunde, um den Reflexionsgang zu konkretisieren.
2
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2.1
Drei Haupttheoreme und ihr Verhältnis zur Pluralitätsdiagnose
Der gegenwärtige religionssoziologische Diskurs ist durch drei dominante Theoreme bestimmt: das Säkularisierungstheorem, das Individualisierungstheorem sowie das Markttheorem.10 Zwar wird des Öfteren angedeutet, dass der Begriff der Pluralisierung einen alternativen Zugang gegenüber den durch die Säkularisierungsidee angeleiteten Ansätzen erschließe; auch scheint eine besondere Affinität zwischen Diagnosen der Pluralität und Theoremen des Marktes zu bestehen. Tatsächlich beanspruchen aber alle drei Konzepte, Phänomene religiöser Vielfalt wahrnehmen und in ihre Deutungs- und Erklärungsmodelle integrieren zu können. Daher sollen die drei Ansätze im Folgenden in ihren Grundlinien skizziert und ihr spezifisches Verhältnis zu Prozessen religiöser Diversifikation nachgezeichnet werden. 2.1.1 Pluralität im Rahmen des Säkularisierungstheorems Der Begriff der Säkularisierung entstammt ursprünglich dem kanonischen und staatlichen Rechtssystem und wurde später zu einem der prägenden kulturhistorischen Deutungskonzepte abendländischer Gesellschaften.11 Religionssoziologisch reicht das Säkularisierungsparadigma bis in die Anfänge der Disziplin zurück. So bilden etwa Max Webers Analysen nach wie vor einen wichtigen Referenzkontext der Säkularisierungsdebatte. Insbesondere seine Nachzeichnung der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wertsphären, seine Rückführung säkularisierender Prozesse auch auf christentumsinterne Faktoren sowie seine
10 Vgl. Huber, Perspektiven; Pickel, Religionssoziologie, 135–225; Ders., Religionen, 41–45. Diverse Beiträge zu den drei Interpretationsansätzen sind versammelt in Pollack/Olson (Hg.), Role. Selbstverständlich vermögen diese Theoreme den komplexen religionssoziologischen Diskurs nicht in Gänze zu strukturieren. Es existiert eine Reihe von Deutungs- und Erklärungsansätzen, die sich nicht eindeutig einer der drei Interpretationstraditionen zuordnen lassen und in ihrem Begriffsbestand über sie hinausreichen. Dennoch dürften die drei Betrachtungsweisen basale Reflexionslinien umfassen und so einen hilfreichen Zugang zur aktuellen Debattenlage eröffnen. 11 Vgl. zur Begriffsgeschichte des Säkularisierungskonzepts Conze u. a., Säkularisation; Lübbe, Säkularisierung; Marramao, Säkularisierung; ferner Borutta, Genealogie.
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Rede von der ‚Entzauberung der Welt‘ präparieren zentrale Ideen auch späterer Arbeiten.12 Aktuell wird die Säkularisierungsthese kaum mehr in ihrer starken Version vorgetragen.13 Dass Religion in einem mehrstufigen, aber einlinigen und unumkehrbaren Prozess, zunächst an sozialer und darauf an subjektiver Relevanz verlieren wird, um letztlich vollständig zu verschwinden, gilt heute auch im Kreis der Säkularisierungstheoretiker als überzogen. Stattdessen werden moderatere Säkularisierungskonzepte ausgearbeitet. Einerseits wird versucht, den Prozess der Säkularisierung komplexitätssensibler zu interpretieren; es werden Gegenentwicklungen vorgesehen, historische wie kulturelle Pfadabhängigkeiten angenommen und multifaktorielle Erklärungen entwickelt. Andererseits gibt die gänzliche Destruktion der religiösen Sphäre nicht mehr notwendig den Zielpunkt des Säkularisierungsprozesses; häufig begnügt man sich mit dem Verweis auf den sozialen Relevanzverfall von Religion.14 Unbesehen dieser Verfeinerungsstufen eint die unterschiedlichen Säkularisierungsansätze ein Dreifaches: Sie beruhen (1) auf einem Verlustprinzip. Säkularisierung wirkt auch in moderateren Interpretationen grundsätzlich religionsdegenerierend. Diese Depotenzierungen gelten (2) nicht als „konjunkturelle Schwankungen“, sondern als Prozessgeschehen.15 Generiert wird dieses (3) durch die Heraufkunft dessen, was gemeinhin mit dem Begriff der Moderne bezeichnet wird. Im Zentrum des Säkularisierungstheorems steht die Annahme einer konfliktiven Relation zwischen ‚Religion‘ und ‚Moderne‘. Je nach Modernitätsauffassung werden dabei unterschiedliche Entwicklungen akzentuiert. Eine Übersicht bietet etwa Gert Pickel: Er notiert die Prozesse der Rationalisierung, der funktionalen Ausdifferenzierung, der Industrialisierung, der Demokratisierung, der Bürokratisierung, der Urbanisierung, der Wohlstandssteigerung sowie der Erhöhung des Individualitäts- und Pluralitätsgrades.16 Damit ist deutlich, dass im Deutungsrahmen des Säkularisierungsansatzes Dynamiken der Diversität als religionsdegenerierende Faktoren firmieren. 12 Zu den prominentesten Vertretern der Säkularisierungsthese dürften aktuell Bryan Wilson, Karel Dobbelaere, Steve Bruce und im deutschsprachigen Raum etwa Detlef Pollack gehören. 13 Vgl. zum Folgenden Huber, Perspektiven, 73; Krech, Sinn, 570f; Pickel, Religionssoziologie, 172–176. 14 Vgl. zu diesen Modifikationen exemplarisch die Erwägungen von Bruce in Ders., God; Ders. Secularization. In Bezug auf den Zielpunkt des Säkularisierungsprozesses notiert er in Auseinandersetzung mit Wilson: „I would […] argue that the decline in the social significance of religion, in turn, reduces the number of people interested in religion. That is, the connection is causal rather than a matter of definition. But, even in my more radical view, there is no expectation that religion will disappear“ (Ders., God, 41). 15 Vgl. Krech, Sinn, 571. 16 Pickel, Religionssoziologie, 139–142; ferner exemplarisch die Beiträge in Willems u. a. (Hg.), Moderne.
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Nachhaltig in den Diskurs eingebracht wurde diese Auffassung durch die frühen Schriften Peter Bergers.17 Berger konstatiert einen engen Konnex zwischen säkularisierten und pluralisierten Strukturen. Durch die permanente öffentliche Präsenz heterogener Sinndeutungen werden ihre institutionellen Träger zu „Wettbewerbsanstalten“18. Auf das Plausibilitätspotenzial der vertretenen Wirklichkeitsinterpretationen und Wertorientierungen wirkt dieser Wettbewerb zersetzend. Wird in weltanschaulich homogen strukturierten Gesellschaften die Überzeugungskraft der dominierenden Sinndeutungen durch gemeinsam geteilte Praktiken gestützt, werden solche sozialstrukturellen Fundamente in pluralisierten Gesellschaften prekär. Die existenziellen Überzeugungen der Individuen vermögen sich hier nicht mehr in den kollektiv vollzogenen Ritualen und öffentlichen Symbolsprachen und Diskursen zu spiegeln. Ihre Akzeptanz wird nicht mehr durch die gesellschaftliche Außenwelt verbürgt, sondern verdankt sich ganz einem inneren Akt des einzelnen Subjekts. Für Berger fällt damit der Plausibilitätsgrad der Überzeugungen. Was vormals den Status selbstverständlicher und veränderungsträger ‚Wahrheiten‘ besaß, wird zu fraglichen ‚Meinungen‘ und beweglichen ‚Präferenzen‘ degradiert. Insofern verliert Religion unter pluralisierten Bedingungen an Bindungskraft: Der „sogenannte ‚Pluralismus‘ ist […] ein soziostrukturelles Korrelat zur Säkularisierung des Bewußtseins“19. Spätestens seit der Jahrtausendwende ist das Säkularisierungstheorem verstärkt unter Druck geraten. So führte nicht zuletzt die Verarbeitung des 09/11 zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Persistenz der Religion – sowohl im globalen Maßstab als auch auf Ebene der konkreten Gesellschaften wie im Nahbereich der alltäglichen Lebensvollzüge.20 Alternative Ansätze zur Deutung und 17 Vgl. Berger, Dialektik; Ders., Zwang. Bezog sich Berger zunächst affirmativ auf die Annahmen der Säkularisierungstheorie, hat er sich davon später bekanntlich distanziert (vgl. Ders., Desecularization). 18 Berger, Dialektik, 132. Vgl. zum Folgenden a. a. O., 122–146. 19 Berger, Dialektik, 122. Zur Rezeption dieses Gedankens in den rezenten säkularisierungstheoretischen Erörterungen vgl. exemplarisch Bruce, Secularization, 131: „Diversity […] called into question the certainty that believers could accord their religion […]. Ideas are most convincing when they are universally shared. The elaboration of alternatives provides a profound challenge. Believers need not fall on their swords when they find that others disagree with them. Where clashes of ideologies occur in the context of social conflict or when alternatives are promoted by people who need not be seriously entertained, the cognitive challenge can be dismissed […]. Nonetheless proliferating alternatives removes the sense of inevitability. When the oracle speak with a single clear voice, it is easy to believe it is the voice of God. When it speaks with twenty different voices, it is tempting to look behind the screen.“ 20 Für Markus Hero und Volkhard Krech gibt generell die Pluralisierung des religiösen Feldes einen der Hauptgründe für das gesteigerte Interesse an religiösen Phänomenen: „Die ‚Wiederkehr der Religion‘ kann […] als Begleiterscheinung, wenn nicht sogar als Effekt ihrer Pluralisierung verstanden werden, als eine gesteigerte Reflexion und einen verstärkten Dis-
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Erklärung der religiösen Lage fanden gesteigerte Resonanz. Während im Kontext der europäischen Religionssoziologie besonders das Individualisierungstheorem als Gegenmodell zur Säkularisierungstheorie fungiert, gibt im Kontext der nordamerikanischen Religionssoziologie das Marktheorem das primäre Alternativkonzept.
2.1.2 Pluralität im Rahmen des Individualisierungstheorems Innerhalb der Religionssoziologie ist der Individualisierungsansatz genetisch vor allem mit den Arbeiten von Thomas Luckmann verknüpft.21 Terminologisch verwendet Luckmann den Begriff der Privatisierung, assoziiert damit aber semantische Facetten, die im Zentrum des seit Mitte der 1980er Jahren anhebenden sozialwissenschaftlichen Individualisierungsdiskurses stehen.22 Umstritten ist, was unter Prozessen der Individualisierung exakt verstanden werden soll. Eine instruktive Annäherung erlaubt das Deutungsmodell von Monika Wohlrab-Sahr.23 In seinem Zentrum steht der Gedanke, dass der Individualisierungsbegriff nicht notwendig auf faktische Autonomiegewinne und ihre soziale Realisierung durch die Individuen verweist, sondern einen Selbstdeutungsmodus beschreibt, der Entscheidungen den Subjekten attribuiert und als solcher sozialstrukturell und kulturell fundiert ist.24 Grundsätzlich sind dabei zwei Bedeutungsebenen voneinander abzuheben. Auf der ersten Ebene bedeutet Individualisierung einen Prozess der Differenzierung. Dieser eröffnet den Subjekten je nach Differenzierungsgrad die Möglichkeit, sich aus vorgegebenen Lebensläufen sowie segment-, schicht-, klassen-, milieu- oder geschlechtsspezifischen Regimen herauszulösen und davon abweichende Lebensformen auszubilden. Entsprechend kommt es zu einer Pluralisierung von Lebensmodellen
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kurs über Religion, der vor allem über die Medien in Gang gesetzt wird“ (vgl. Dies., Pluralisierung, 27). Zur Religionstheorie Luckmanns vgl. exemplarisch Drehsen, Reprivatisierung; Knoblauch, Verflüchtigung; Merle, Alltagsrelevanz, 234–263; Schnettler, Luckmann. Am Beginn dieses Diskurses stehen vor allem die Arbeiten von Ulrich Beck (vgl. Ders., Stand; Ders., Risikogesellschaft). Zu einem Überblick über die diversen soziologischen Individualisierungskonzepte vgl. Schroer, Individualisierung. Vgl. zum Folgenden Wohlrab-Sahr, Individualisierung. So ist es für individualisierte Gesellschaften kennzeichnend, dass auch unbeeinflussbare Zwänge und das Fehlen von Gestaltungsoptionen häufig „individuell zugerechnet und als subjektives Versagen“ gedeutet werden (vgl. Wohlrab-Sahr, Individualisierung, 30f [Hervorhebung i. Orig.]). Übereinstimmend sprechen Michael Krüggeler und Peter Voll von einer strukturellen Individualisierung, die den Einzelnen nicht aus der Abhängigkeit der soziokulturellen Prozesse entlässt, sondern von diesen gerade getragen und ermöglicht wird (vgl. Dies., Individualisierung; Wohlrab-Sahr/Krüggeler, Individualisierung).
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sowie zu einem gesteigerten Distinktionsbewusstsein.25 Auf der zweiten Ebene bedeutet Individualisierung einen Modus der Zurechnung. Gemeint sind damit interpretative Muster, die Lebenszustände kausal den Individuen beimessen und insofern die Momente der „Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und SelbstSteuerung“ in den Vordergrund rücken.26 Diese Muster können auf drei Stufen angesiedelt sein: Sie können (1) überhaupt kulturell kursieren, (2) subjektiv verankert sein und (3) institutionell repräsentiert werden.27 Die Vertreter des religionssoziologischen Individualisierungstheorems machen geltend, dass auch das religiöse Feld durch diesen Zurechnungsmodus bestimmt und von Diversifikationstendenzen durchsetzt ist. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die analytische Entkopplung von subjektiver Religiosität und institutionell verfasster Religion ein. Die Differenzierung erlaubt es, Veränderungen auf dem religiösen Feld nicht einlinig als Subtraktionsprozesse28 zu interpretieren, sondern als Transformation des Religiösen zu untersuchen, die verschiedene Facetten impliziert. (1) Auf dem religiösen Feld kommt es zunächst zu Deinstitutionalisierungstendenzen.29 Damit ist nicht die Auflösung religiöser Institutionen gemeint, sondern eine Reduktion ihrer Prägekraft bezüglich der einzelnen Subjekte. Dies impliziert, dass die Zugehörigkeit zu Institutionen zunehmend zu einem Fall persönlicher Entscheidung avanciert bzw. dieser attributiert wird.30 Zudem geht 25 Dieser Beschreibung entsprechen die von Günter Burkart so genannten Aspekte der ‚Freisetzung‘ und ‚Einzigartigkeit‘ (vgl. Ders., Einleitung, 10). 26 Vgl. Wohlrab-Sahr, Individualisierung, 28. 27 Sofern der Zurechnungsmodus für individualisierte Gesellschaften konstitutiv ist, verbinden sich Individualisierungsprozesse zwar notwendig mit Pluralisierungsprozessen, Pluralisierungsprozesse umgekehrt aber nicht notwendig mit Individualisierungsprozessen. Wie Wohlrab-Sahr anmerkt, sind heterogene Gesellschaften denkbar, in denen Handlungen und Zustände nicht den Individuen attributiert werden: „Es geht also bei Individualisierung nicht allein um Varianz und individuelle Verschiedenheit als solche, sondern auch um die Frage, wie diese Varianz erklärt und zugerechnet wird. So kann in einer Gesellschaft im Extremfall eine Pluralität von Lebensformen bestehen, die aber in den Bereichen, in denen sie jeweils anzutreffen sind, nahezu ausschließlich den äußeren Verhältnissen zugerechnet werden, denen Subjekte zwangsläufig unterworfen sind: seien es Normen, Klassenlagen, Schicksalsmächte, Naturbedingungen oder anderes“ (Dies., Individualisierung, 27f). 28 Zum Begriff der Subtraktion vgl. E.3. 29 Vgl. Wohlrab-Sahr, Religion, 177f. 30 Vgl. dazu etwa Davie, Believing, 173: „I am […] beginning to wonder whether a significant and this time authentically Europaen mutation might be taking place, both inside and outside the historic churches. The mutation in question takes the form of a gradual shift away from an understanding of religion as a form of obligation and towards to an increasing emphasis on consumption. In other words, what until moderately recently was simply imposes […], or inherited […] becomes instead a matter of personal choice“. Hilfreich ist Davies Unterscheidung zwischen zwei Wahllogiken: opting in und opting out. Während die Zugehörigkeit etwa zu freikirchlichen oder denominationellen Gemeinschaften de jure von vorneherein auf einer Entscheidung für einen Eintritt beruht, besteht die Zugehörigkeit zu einer Staats- oder
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damit die Einsicht einher, dass Religion auch außerhalb institutioneller Zugehörigkeiten praktiziert wird. Grace Davie hat hierfür die prominente Formulierung eines believing without belonging geprägt.31 (2) Der Rückgang an institutioneller Prägekraft zeigt sich nicht nur in Sachen Zugehörigkeit, sondern auch auf semantischer Ebene.32 Der Fokus richtet sich dann auf die Differenz zwischen subjektiven Auffassungen und offiziell codierten Lehrgehalten. Häufig wird diese Differenz durch den Begriff des Patchworks expliziert, der die souveränen Aneignungsleistungen der Subjekte indiziert.33 Nicht immer wird dabei zwischen drei typischen Varianten unterschieden. Der ersten Variante zufolge wählt das Subjekt bestimmte Sinnelemente aus einer homogenen religiösen Tradition aus und erstellt daraus eine individuell gefärbte Bricolage. In der zweiten Variante greift das Subjekt auf heterogene religiöse Traditionen zurück. Religionswissenschaftlich werden diese Amalgamierungen als Synkretismus beschrieben. Dabei wird in der Regel vorausgesetzt, dass dem Subjekt die Ursprungskontexte der einzelnen Sinnelemente bewusst sind. Mit Recht hat Hubert Knoblauch darauf hingewiesen, dass unter den Bedingungen der Gegenwart dies nicht mehr ohne Weiteres unterstellt werden kann. Daher gestalten sich nach einer dritten Variante Patchworkprozesse unter Rückgriff auf eine Vielzahl an kulturell frei flottierenden Sinnelementen, deren traditioneller Herkunftsort vonseiten des Subjekts nicht mehr eindeutig erkennbar ist.34
(3) Die bisherigen Aspekte zeigen, dass auch auf dem religiösen Feld Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen eng miteinander verwoben sind. Indem die institutionelle Zugehörigkeit sowie die semantische Struktur des Wirklichkeitsverständnisses der persönlichen Entscheidung zugerechnet werden, entsteht ein Raum sehr viel distinkterer und damit pluralerer Zugehörigkeits- und Sinndeutungsmuster. Diese Muster sind ihrerseits zugleich abhängig von der sozialen und kulturellen Zugänglichkeit diverser religiöser Gemeinschaften, Gruppen und Bewegungen. So erscheint im Rahmen des Individualisierungstheorems Pluralisierung als „Korrelat“ – zugleich Bedingung wie Effekt – der Individualisierung.35 Um den Individualisierungsansatz nicht verkürzt zu skizzieren, sind abschließend noch zwei weitere Aspekte anzumerken. (4) Auch im Rahmen dieses Ansatzes ist unbestritten, dass der Prozess der Individualisierung keinesfalls notwendig eine ‚Atomisierung‘ des religiösen Lebens zur Folge hat: Sie führt nicht in „Strukturlosigkeit, sondern zu neuen
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Volkskirche in der Regel auf einer im Nachhinein getroffenen Entscheidung gegen einen Austritt (vgl. Davie, Europe, 68f). Vgl. Davie, Religion. Vgl. Wohlrab-Sahr, Religion, 178f. Luckmann sprach von einer „subjektive[n] Bricolage“ oder „religiöse[r] Fleckerlteppichnäherei“ (Ders., Bemerkungen, 475). Vgl. Knoblauch, Religion, 25f; ferner Nassehi, Kompetenz, 120. Vgl. Krech, Sinn, 582; beide stehen in einem Verhältnis „enger ‚Wahlverwandtschaft‘“, wie Gabriel, Entkirchlichung, 50 notiert.
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(mitunter fundamentalen) Umstrukturierungen“ der Sozialformen.36 Diese beruhen häufig auf gelockerten Zugehörigkeitsregimen, die Freiwilligkeit und Kündbarkeit akzentuieren und dadurch fluidere und passagerere Gestalten annehmen. So spricht etwa Markus Hero im Blick auf Partizipationsmuster im Kontext spiritueller Angebots- und Nachfragebeziehungen von einer Accesslogik: „An die Stelle von Zugehörigkeitsbeziehungen treten Zugangsbeziehungen. In der neureligiösen Szenerie sind religiöse Mythen, Bilder, Rituale etwas, auf das man, je nach situativer Lage, zugreift. Dauerhafte Mitgliedschaft jedoch, der einstige Kern des religiösen Lebens, wird für die Adepten neuer Religiosität immer unbedeutender.“37
(5) Ein wichtiger Topos des Individualisierungstheorems bezieht sich zuletzt auf die Sachdimension der Religion. Schon Luckmanns Privatisierungsthese berührte wesentlich diesen Aspekt. Demnach rückt das Selbst in den Gegenstandsbereich der Religion ein. Fragen der Identität, ihrer Bestimmung, Darstellung und Verwirklichung sowie der persönlichen Autonomie werden zu Bezugsproblemen religiöser Kommunikation.38 Logisch davon zu unterscheiden, empirisch aber häufig damit verbunden ist die Betonung des Erfahrungsaspekts, wonach religiöse Kommunikation mit einer Art Authentizitätsimperativ verbunden ist. Religiöses Reden besitzt dann insofern einen subjektiven Vektor, als Selbsterfahrenes kommuniziert werden soll – oder zumindest, wie Armin Nassehi ausführt, religiöse Kommunikation dadurch gekennzeichnet ist, dass Personen in ihr nicht in einer von sich selbst abstrahierenden Manier sprechen, sondern in ihrem Selbstverständnis präsent werden: Wer religiös redet, redet von sich.39
36 Vgl. Gebhardt, Transformation, 12. Vgl. dazu exemplarisch auch Heiser/Ludwig (Hg.), Sozialformen. 37 Vgl. Hero, Kommune, 51ff, hier 52. Hinsichtlich der kirchlichen Großinstitutionen primär im europäischen Raum hat Davie das Konzept der vicarious religion entworfen, um die fortwährende Bedeutsamkeit institutionell verfasster Religion zu explizieren. Demnach halten die organisierten Religionsgemeinschaften unter anderem ein Wissen und rhetorische, symbolische und rituelle Expertisen kulturell vorrätig, das in persönlichen oder kollektiven Krisen- und Übergangserfahrungen abgerufen werden kann (vgl. Dies., Europe, 64–67). 38 In der Terminologie Luckmanns kann dieser Wandel in der Sachdimension auch als ‚Schrumpfung der Transzendenz‘ oder „‚Sakralisierung‘ des Subjekts“ beschrieben werden (vgl. Ders., Nachtrag, hier 181; ferner Knoblauch, Verflüchtigung, 28–33; Hero, Kommune, 37f; Krech, Sinn, 585f). Innerhalb eines stärker systemtheoretisch orientierten Rahmens hat analog Armin Nassehi die „Individualität von Individuen“ als „dominantes Bezugsproblem“ moderner Religion bestimmt. Unter modernen Bedingungen bearbeiten religiöse Kommunikationen nicht mehr die Kohärenz der Gesellschaft, sondern die Kohärenz des Subjekts: „die Einheit der Differenz gesellschaftlich verordneter Dividualität und persönlicher Individualität“ (Ders., Religion, 117 [i. Orig. teils hervorgehoben]; ferner Ders., Kompetenz). 39 Vgl. Nassehi, Kompetenz, 121ff, hier 121: „Wer im Medium des Glaubens spricht, setzt sich selbst in eine Position des authentischen Sprechers.“ Vgl. ferner Knoblauch, Religion, 271.
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Vor diesem Hintergrund werden Individualisierungsprozesse als Subjektivierungsprozesse beschreibbar. M. E. sind dabei drei Aspekte analytisch voneinander abzuheben.40 Die moderne Kultur bringt (1) Kommunikationsformen hervor, in denen die Subjekte als Individuen adressiert werden. Durch die Ausbreitung ökonomischer Konsumbeziehungen und die Genese nicht zuletzt der digitalen Medien erfährt sich das moderne Subjekt als „individualisierte[r] Adressat[-]“41 (Adress-Aspekt). Wie beschrieben lagert sich (2) das Selbst der Subjekte in den Gegenstandsbereich religiöser Kommunikation ein (SachAspekt). Sofern damit eine Reduktion der Transzendenzweite einhergehen kann, aber nicht muss, wäre (3) ein Modus-Aspekt zu benennen. So reklamiert etwa Taylor auch für den Ausgriff auf große Transzendenzen unter individualisierten Bedingungen einen unhintergehbaren subjektiven Vektor. Auch wo das Subjekt sein Sinn- und Wertsystem über Sprachen auslegt, die auf das Göttliche rekurrieren, müsse es sich in diesem Vokabular mit seinen Erfahrungen authentisch wiederfinden können.42
2.1.3 Pluralität im Rahmen des Markttheorems Das Marktheorem wurde primär im Kontext der nordamerikanischen religionssoziologischen Debatte ausgearbeitet und beruht merklich auf einem USamerikanischen Erfahrungshintergrund. Als initiatorisches Werk gilt Rodney Starks und William Bainbridges A Theory of Religion aus dem Jahr 1987.43 Für die Bedeutsamkeit dieses Modells spricht, dass es inzwischen häufig als new paradigm adressiert und dem Säkularisierungstheorem alternativ gegenübergestellt wird.44 Im Rahmen des Markttheorems kommt das religiöse Feld als ein ökonomisches System zu stehen. Wie jeder ökonomische Zusammenhang wird es durch Angebot und Nachfrage geregelt, wobei das religionssoziologische Marktmodell die Angebotsseite akzentuiert, weshalb es oftmals auch als supply-side-approach chiffriert wird. Die religiösen Anbieter gelten als das zentrale Movens der religiösen Sphäre. Sie werden als einflusskräftige Akteure hervorgehoben, die sich soziokulturellen Makroentwicklungen nicht nur passiv gegenübersehen. Dem40 Die folgenden Überlegungen schließen an Knoblauchs Begriff einer „doppelten Subjektivierung“ an (vgl. Ders., Religion, 265–273) und führen ihn quasi zu einer triadischen Subjektivierung weiter. 41 Hero, Kommune, 53. 42 Taylor spricht von einer „Verflechtung des Subjektiven mit dem Transzendenten“ (vgl. Ders., Quellen, 854). 43 Vgl. Lehmann, Choice, 181. Als weitere profilierte Vertreter des Markttheorems wären Roger Finke, Laurence Iannaccone oder Stephen Warner zu nennen. 44 Prominent etwa von Warner (vgl. Ders., Work).
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gegenüber finden der soziokulturelle Kontext und seine historischen Transformationen in der Analyse der religiösen Situation nur eingeschränkt Beachtung.45 Der gesellschaftliche Rahmen kommt lediglich insofern in Betracht, als der Grad der staatlichen Regulierung des religiösen Marktes ein wesentliches Bezugsproblem dieses Ansatzes darstellt. Funktional noch nicht oder nur begrenzt ausdifferenzierte Gesellschaften produzieren religiöse Monopole. Die Verquickung der Religion mit politischen, wirtschaftlichen und bildungsbezogenen Institutionen46 konstituiert eine religiös homogen strukturierte Gesellschaft, die Marktprozesse zum Erliegen bringt.47 Für Markttheoretiker wirken solche Monopole und Homogenitäten religionsdegenerierend. Sie vertreten damit eine der Bergerschen Deutung religiöser Pluralität diametral entgegengerichtete Position: Die Erosion eines die sozialen Strukturen insgesamt überwölbenden uniformen sacred canopy hemmt die Akzeptanzchancen religiöser Sinnelemente nicht; im Gegenteil stimulieren Diversifikationsprozesse die religiöse Praxis gerade.48 Während das Säkularisierungstheorem von einer „pluralism/decline expectation“ ausgeht, behauptet das Markttheorem eine „pluralism/vitality correlation“.49 Der Konnex zwischen religiöser Vielfalt und religiöser Vitalität wird mithilfe des Wettbewerbsprinzips erklärt. Tatsächlich bildet nicht so sehr das Faktum der Vielfalt als vielmehr der Konkurrenzgedanke das Kernelement der Markttheorie. Nur insofern Vielfalt Wettbewerb erzeugt, kommt es unter pluralisierten Bedingungen zu einer Vitalisierung der religiösen Sphäre.50 Begründet liegt dies in der die Anbieter aktivierenden Wirkung einer kompetitiven Situation. Die 45 Hier zeigt sich die Abhängigkeit des Markttheorems von rational-choice-Theorien, wird in der Fokussierung von subjektiven Kosten-Nutzen-Kalkulationen der Einfluss überindividueller Faktoren doch relativiert (vgl. knapp Iannaccone, Markets, 124 sowie Ders., Consequences). Neuerdings wird auch im Rahmen des Markmodells der demand-side eine wichtigere Rolle für die Deutung religiöser Pluralisierung beigemessen (vgl. etwa Scheitle/Finke, Pluralism). 46 Stark und Finke bezeichnen diese Nichtdifferenzierung auch als „sacralization“: „Sacralized means that there is little differentiation between religious and secular institutions and that the primary aspects of life, from family to politics, are suffused with religious symbols, rhetoric, and ritual“ (Dies., Acts, 199 [i. Orig. hervorgehoben]). 47 Die Bestimmung des genaueren Verhältnisses von Marktstrukturen und Pluralität wird innerhalb des Marktmodells unterschiedlich vorgenommen. Während etwa Stark und Finke konstatieren, dass Marktstrukturen Pluralität erzeugten, geht Warner von mehreren Pluralitätsfaktoren aus; Marktstrukturen böten der Erscheinung von Pluralität lediglich Raum (vgl. Warner, Progress, 9). 48 Zu einem Vergleich der theoretischen Grundannahmen und der daraus resultierenden evaluativen Bestimmungen der Pluralitätskonzepte von Berger und des Marktmodells vgl. Stolz, Pluralität; ferner Joas, Kontingenz. 49 Vgl. Warner, Progress, 12. 50 Vgl. Stark/Finke, Acts, 201: „Notice our theoretical emphasis on competition. Religious pluralism […] is important only insofar as it increases choices and competition, offering consumers a wider range of religious rewards and forcing suppliers to be more responsive and efficient.“ Vgl. zur Zentralität des Konkurrenzprinzips auch Pickel, Religionssoziologie, 209.
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Markttheorie geht davon aus, dass dort, wo religiöse Zugehörigkeit nicht mehr als gesichert und selbstverständlich erscheint, die Vertreter der religiösen Organisationen zu einem gesteigerten Engagement motiviert werden. Monopolinstitutionen gelten als ‚träge‘ und ‚bequem‘.51 Im Zuge engagierterer Aktivität wird an der Qualität der Angebote gearbeitet. Dies impliziert Prozesse der Kundenorientierung, Spezialisierung und Werbung. Vermittelt über diese Prozesse eröffnen sich den Subjekten verbesserte und auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Möglichkeiten religiösen Engagements. Der Grad religiösen Commitments erhöht sich.52 Im Vergleich zu der im Rahmen des Säkularisierungstheorems vertretenen Deutung der Konsequenzen religiöser Pluralität ergibt sich folglich ein genau entgegengerichteter Interpretationsansatz: „Herein lies the key distinction between the old and new paradigm. We argue that the founders were entirely wrong about the harmful effects of religious competition. Rather than eroding the plausibility of all faiths, competition results in eager and efficient suppliers of religion just as it does among suppliers of secular commodities, and with the same results: far higher levels of overall ‚consumption‘“53.
2.1.4 Resümee Die Skizzierung der drei Theoreme zeigt, dass das Säkularisierungskonzept zwar seinen Alleinanspruch auf die Deutung und Erklärung der religiösen Gegenwart eingebüßt hat, mindestens in seinen moderateren Varianten innerhalb des religionssoziologischen Diskurses jedoch nach wie vor Plausibilität beansprucht. Die soziologische Beschreibung religiöser Wirklichkeit hängt dabei maßgeblich an den vorausgesetzten Religionskonzepten und den damit einhergehenden methodischen Operationalisierungen.54 Während im Rahmen des Säkularisierungstheorems primär ein quantitatives Instrumentarium Anwendung findet 51 Vgl. Iannaccone, Markets, 128; Warner, Progress, 12. 52 Hierbei gilt es eine anthropologische Basisthese des Markttheorems zu beachten: Seinen Vertretern gilt der Mensch als eine qua Existenz auf Religion angelegte Entität; insofern kann durchgängig ein religiöses Bedürfnis vorausgesetzt werden, das durch bestimmte „Rahmenbedingungen und Angebotsstrukturen“ aktiviert wird und sich auch sozial Geltung verschafft (vgl. Pickel, Religionssoziologie, 199f). 53 Finke/Stark, Dynamics, 102. Ein empirisches Problem bereitet den Vertretern des Markttheorems das statistisch repräsentierte, recht hohe religiöse Engagement in religiös relativ homogen strukturierten Nationen wie etwa Irland oder Polen. Diesbezüglich behelfen sie sich durch die Einführung einer zusätzlichen Hypothese: „Even where competition is limited, religious firms can generate high levels of commitment to the extent that the firms serve as the primary organizational vehicles for social conflict“ (Finke/Stark, Dynamics, 99 [i. Orig. hervorgehoben]). 54 Vgl. etwa Bochinger u. a., Einführung, 13–19; Gabriel, Entkirchlichung, 54; Huber, Perspektiven, 73f; Wohlrab-Sahr, Religion, 175.
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und Religion stärker substanziell verstanden sowie an organisatorische Gemeinschaftsstrukturen gebunden wird, rechnen Vertreter des Individualisierungstheorems mit fluideren Formen religiöser Sozialität und operieren mit einem stärker funktional orientierten Religionsbegriff, wodurch qualitative Forschungsdesigns notwendig werden. Das Marktmodell verhält sich hierzu in gewisser Weise disparat.55 Zwar korrelieren viele markt- und individualisierungstheoretische Ansätze insofern, als sie mit einer anthropologisch verankerten religiösen Anlage rechnen. Die Erforschung von Religion wird innerhalb des Markttheorems aber in größerer Analogie zum Säkularisierungsansatz betrieben: Religion wird eng an spezifische substanzielle Überzeugungen gebunden und an organisationelle Sozialformen geknüpft. Vor diesem Hintergrund erklären sich auch die verschieden akzentuierten Pluralitätssemantiken der drei Ansätze. Sowohl im Rahmen des Säkularisierungs- als auch des Markttheorems wird Pluralität vor allem auf organisatorischer Ebene verortet. Es geht um die Diversifikation religiöser Bewegungen, kleinerer Religionsgemeinschaften und Kirchen.56 Demgegenüber rückt im Kontext des Individualisierungsansatzes die individuelle Ebene in den Fokus. Unter anderem durch die Beschreibung religiöser Kombinationspraktiken wird intrasubjekte Vielfalt thematisch. Diese differenten Bezugspunkte verweisen auf die Notwendigkeit eines präziser ausgearbeiteten Schemas der Pluralität. Im Folgenden soll auf ein solches hingearbeitet werden. Dazu ist zunächst der Pluralitätsbegriff präziser zu umreißen. Sodann werden unterschiedliche Referenzniveaus bestimmt und schließlich mögliche Effekte von Pluralität typologisch zu erfassen versucht.
2.2
Formen und Effekte der Pluralität
2.2.1 Differenzierungen im Blick auf den Begriff der Pluralität Terminologisch kann zwischen ‚Pluralität‘ und ‚Pluralismus‘ differenziert werden. Der Begriff des Pluralismus indiziert dann ein normatives Konzept, das vor allem in politikbezogenen Zusammenhängen Verwendung findet. Es orientiert den subjektiven, zivilgesellschaftlichen oder staatlichen Umgang mit pluralen gesellschaftlichen Verhältnissen, wobei diese in ihrer positiven Wertigkeit affirmiert werden.57 Der Begriff der Pluralität gibt demgegenüber eine deskriptive 55 Vgl. zum Folgenden Pickel, Religionssoziologie, 218–225. 56 Zum Problem der terminologischen Differenzierung zwischen unterschiedlichen Organisationsgraden religiöser Sozialformen vgl. Krech, Religionsgemeinschaften, 117–120. 57 Vgl. etwa Dehn, Identität, 419; Schweitzer, Pluralitätsfähigkeit, 298; Wolf, Konzepte, 17; zur Begriffsgeschichte vgl. Kerber/Samson, Pluralismus.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Kategorie, die auf Makro-, Meso- oder Mikroebene spezifische Zustände diagnostiziert. Charakterisiert sind diese Zustände durch das Beieinander von Unterschiedlichem. ‚Pluralität‘ meint die „Feststellung von Differenz“58. Aussagekräftig wird diese Feststellung freilich erst hinsichtlich eines gemeinsamen Referenzpunkts. Banal formuliert: Die Vielfalt von Obstprodukten ist von der Vielfalt von Milchprodukten zu unterscheiden, wobei in Bezug auf die Vielfalt angebotener Waren beide wiederum relevant sind. Insofern bedeutet ‚Pluralität‘ das Beieinander von Unterschiedlichem „in gewisser Hinsicht Gleichartigem“, „Dingen also, die etwa dieselbe Funktion ausüben oder demselben gesellschaftlichen Teilsystem zugerechnet werden können“ etc.59 Entsprechend bezeichnet ‚Pluralisierung‘ als Prozessbegriff die Entwicklung, in deren Verlauf Differenz im Blick auf ein Vergleichbares anwächst.
2.2.2 Differenzierungen im Blick auf die Ebenen der Pluralität Sofern Religion verschiedene Manifestationsbereiche besitzt, lässt sich religiöse Pluralität auf diversen Ebenen beschreiben; es existieren diverse religiöse Diversitäten. Um diese Ebenen zu ordnen, hat Christof Wolf eine Formaltypologie vorgeschlagen.60 Ihr zufolge erscheint religiöse Vielfalt (1) auf organisatorischer Ebene. Sie umfasst Gruppen, Bewegungen oder Gemeinschaften, die einen gewissen Organisationsgrad aufweisen. Davon zu unterscheiden ist (2) die personale Ebene. Religiöse Vielfalt besitzt stets auch eine subjektive Dimension.61 Zusätzlich führt Wolf auf beiden Ebenen eine weitere Differenzierung ein. So kann es auf der ersten Ebene zunächst zu Differenzen zwischen verschiedenen Organisationen kommen. Die aktuelle Aufmerksamkeit für Prozesse religiöser Diversifizierung dürfte sich vor allem Veränderungen in diesem Phänomenbe58 Salzbrunn, Vielfalt, 377. 59 Vgl. Wolf, Pluralisierung, 321; ferner Hero/Krech, Pluralisierung, 28. Damit ist deutlich, dass die Semantik des Religionsbegriffs die Diagnose religiöser Pluralität entscheidend mitbeeinflusst, legt er doch den Raum des Vergleichbaren fest. 60 Vgl. Wolf, Pluralisierung, 321ff; Ders., Konzepte, 17.34f. Ein Vorteil des Schemas von Wolf liegt in der Unabhängigkeit gegenüber Religionsdefinitionen: „Wird der Untersuchung ein substantieller Religionsbegriff zugrunde gelegt […], bestehen die interessierenden religiösen Organisationen beispielsweise aus Kirchen oder neuen religiösen Bewegungen, soweit diese eine übernatürliche Macht kennen. Wird dagegen ein funktionalistischer Religionsbegriff bevorzugt […], so muss die Menge ‚religiöser‘ Organisationen entsprechend erweitert werden um politische Parteien, psychoanalytische Zirkel etc. Dasselbe gilt auch für die Mikroebene ‚religiöser‘ Überzeugungen und Praktiken“ (Ders., Pluralisierung, 323). Rezipiert ist Wolfs Typologie unter anderem bei Gabriel, Entkirchlichung; Ders., Pluralisierung; Hero/Krech, Pluralisierung. 61 Vgl. Berger/Luckmann, Secularization, 74: „[P]luralism has both a social-structural and a subjective dimension“.
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reich verdanken (P1.1). Davon zu unterscheiden sind Differenzen, die innerhalb einer religiösen Gruppe, Bewegung oder Gemeinschaft bestehen. Religiöse Organisationen scheinen nur in den seltensten Fällen streng homogen strukturiert zu sein. In ihnen konstituieren sich heterogene Kulte, Frömmigkeitsstile, Lehrtraditionen, kirchenpolitische Parteien etc. Entsprechend kann religionswissenschaftlich etwa auch von „Christentümern“, „Judentümern“ oder „Spielarten des Islam“ gesprochen werden (P1.2).62 Diese Differenzlinie greift auch auf der personalen Ebene. Das Individualisierungstheorem konstituiert einen durch die Herauslösung des Individuums aus traditionalen Verbindlichkeitsstrukturen gesteigerten bzw. in erhöhtem Maße wahrgenommenen und erlebten Distinktionsgrad zwischen den praktischen Lebensformen und kognitiven Orientierungen verschiedener Personen. Mit Rekurs auf die vierte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung illustrieren dies beispielhaft Hero und Krech an den diversen Partizipationsmustern, Verbundenheitsgefühlen und Transzendenzkonzepten der Kirchenmitglieder (P2.1).63 Zuletzt grenzt Wolf typologisch die Sphäre binnenpersonaler Pluralität ab. So indiziert die unter dem Begriff des Patchworks beschriebene Rekombination von Ritual- und Sinnelementen, die auf heterogenen religiösen Traditionen beruhen, eine die praktischen Lebensformen und kognitiven Orientierungen intern betreffende Diversität (P2.2). Wolfs vierstellige Typologie ließe sich freilich erweitern bzw. verfeinern. Knoblauch etwa differenziert zwischen einer diachronen und synchronen Perspektivierung religiöser Pluralität. Während Wolfs Typologie lediglich die synchronen Diversitätsaspekte strukturiert, rückt Knoblauch die historischen Transformationen in den Blick, denen verfasste Religionen – und individuelle religiöse Überzeugungen – unterliegen und in deren Horizont sie als plurale Entitäten erscheinen.64 In eine analoge, aber anders akzentuierte Richtung weist Manfred Pirner, wenn er zwischen „horizontaler“ und „vertikaler“ Pluralität unterscheidet:65 Während die horizontale Perspektive mit der interorganisatorischen Differenz (P1.1) koinzidiert, bezeichnet vertikale Pluralität nicht nur den historischen Wandel organisierter Religionsformen wie bei Knoblauch, sondern die in diesem Prozess sedimentierten Schichten. Solche durch historische Wandlungsprozesse akkumulierten Strata sind auch auf individueller Ebene denkbar. Einen über die organisatorischen und personalen Aspekte hinausgehenden dritten Manifestationsbereich deutet schließlich Gabriel an: Religion sei nicht nur auf den Ebenen ihrer institutionalisierten Formen und individuellen Stile zu analysieren, sondern zudem in Gestalt kultureller Muster. Diese Diffe62 63 64 65
Vgl. Synek, Pluralität, 743–749. Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 30f; ferner Höhmann/Krech, Feld. Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, 120, Anm. 17. Vgl. Pirner, Religiosität, 35.
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renzierung aufnehmend wäre die Untersuchung religiöser Pluralität auch auf Ebene dieser Muster zu leisten und zwischen intrakulturellen (P3.2) und interkulturellen Diversitätsstrukturen (P3.1) zu unterscheiden.66 Unter Einbezug dieser Erweiterungen stellt sich Wolfs Typologie religiöser Vielfalt wie folgt dar:67
Abb. 5: Formaltypologie religiöser Pluralität
2.2.3 Differenzierungen im Blick auf die Effekte der Pluralität Über die letzten Jahre ist religionssoziologisch vor allem die Frage nach den Effekten religiöser Pluralität in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei werden die diskutierten Hypothesen zunehmend empirisch getestet.68 Im Anschluss sollen keine inhaltlichen Ergebnisse dieser Studien vorgestellt werden; vielmehr stehen die diesen zugrundeliegenden Schemata im Vordergrund, mit deren Hilfe das Feld möglicher Pluralitätseffekte strukturiert wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den subjektiven Konsequenzen.
66 Vgl. Gabriel, Modernisierung, 831. Gerade wenn die Rolle der Medien stark gemacht wird und man davon ausgeht, dass dem Einzelnen religiöses Wissen und die Erfahrung religiöser Symbolisierung wesentlich durch das mediale System vermittelt wird, wäre diese Ebene in die Reflexion zu integrieren (vgl. Knoblauch, Religion; Nassehi, Kompetenz). Auf in interkultureller Perspektive manifest werdende religiöse Pluralitätsphänomene verweist auch Wolf, der diese Dimension insbesondere für den „internationalen oder historischen Vergleich bedeutsam“ hält (vgl. Ders., Pluralisierung, 322, Anm. 2). 67 Eine stärker substanziell bestimmte, auf das Christentum konzentrierte und an religionspädagogischen Fragestellungen orientierte Typologie entwirft Englert, Dimensionen, 18–31. 68 Dies zumeist im Modus der Meinungsumfrage. Vgl. etwa Hero/Krech, Pluralisierung; Krech, Exklusivität; Pollack/Friedrichs, Wahrnehmung; Pollack, Pluralisierung; Smith, Attitudes; Stolz, Pluralität.
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Für Hero und Krech provoziert religiöse Pluralität zunächst eine Zunahme öffentlicher Aufmerksamkeit für religionsbezogene Fragestellungen.69 Im Medium gesteigerter Diversität akkumuliert Religion ein vielschichtiges Interesse: Exemplarisch wäre an die politischen und juridischen Herausforderungen zu denken, die Fragen der Religionsfreiheit betreffen; im Kontext der Kirchen rückte vor Jahren das Thema des interreligiösen Dialogs auf die Tagesordnung; zivilgesellschaftlich werden Fragen kultureller Identität thematisch; Individuen bilden ein „Bewusstsein für die Besonderheit und Relativität der eigenen religiösen Prägung“70 aus. All dies konstituiert ein neues Interesse an religionsbezogenen Fragestellungen. Sodann wird nach quantitativen Pluralitätseffekten gefragt. Wie die Bewertungen religiöser Diversifikation im Rahmen des Säkularisierungstheorems einerseits und des Markttheorems andererseits deutlich machen, stehen sich dabei zwei konträre Antwortversuche gegenüber: Während die einen von religionsdegenerierenden Effekten ausgehen, unterstellen die anderen religionsvitalisierende Konsequenzen. Aufgrund der Komplexität degenerierender bzw. vitalisierender Faktoren und der erforderlichen Langzeitperspektive für die Analyse quantitativer Folgewirkungen fordern Hero und Krech, den Forschungsschwerpunkt zu verlagern. Auswirkungen religiöser Pluralität sollten zunächst primär „auf der Mikroebene“ untersucht werden.71 Damit kommen die subjektiven Pluralitätseffekte in den Blick. Präziser wäre von den „sozialpsychologischen Implikationen religiöser Pluralisierung“72 zu sprechen, sofern sich den Individuen religiöse Pluralität in der Regel nicht als Abstraktum präsentiert, sondern als konkrete – medial vermittelte oder face to face erfahrene – Haltung, Meinung oder Verhaltensweise, die Alteritäts- und Alienitätserfahrungen evoziert und als solche die intrapsychischen wie intersubjektiven Bezüge des Subjekts beeinflusst. Entsprechend stehen auf dieser Ebene die identitätsrelevanten Einstellungen, die gegenüber anderen und in Bezug auf sich selbst im Kontext religiöser Pluralität eingenommen werden, im Zentrum des Interesses.73 Folgende Einstellungsmuster werden dabei diskutiert.
69 70 71 72 73
Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 28. Hero/Krech, Pluralisierung, 28. Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 35. Hero/Krech, Pluralisierung, 35. Damit wird eine leicht andere Akzentsetzung vorgenommen, als dies etwa bei Pollack/ Friedrichs, Wahrnehmung; Pollack, Pluralisierung oder auch Smith, Attitudes geschieht. Dort wird primär nach der Wahrnehmung anderer religiöser Sinnsysteme, den „options for viewing the other“ (Smith, Attitudes, 336) in ihrer Bedeutung für die soziale Kohäsion gefragt. Nun implizieren freilich solche Sichtweisen auf Andere immer schon Interpretationen des Selbst, wie etwa xenologische Überlegungen deutlich machen können (vgl. exemplarisch Wierlacher/Albrecht, Xenologie, 284). In diesem Kapitel soll vor allem nach diesem Selbst-
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Unter dem Stichwort des Exklusivismus74 werden Einstellungen rubriziert, welche die Superiorität der eigenen Bedeutungs- und Relevanzsysteme akzentuieren. Andere Orientierungen fungieren hier als kontrastive ‚Gegenbilder‘75. Im Zuge der Identitätsarbeit werden sie distanziert. In den anderen Haltungen, Meinungen und Verhaltensweisen werden Formen und Inhalte wahrgenommen, welche die eigenen stark transzendieren und insofern als bedrohlich erscheinen. Unter dem Stichwort der Offenheit76 werden Einstellungen versammelt, die sich zu anderen Orientierungen nicht in ein stark negatives Verhältnis setzen. Je nach Offenheitsgrad wird das Andere respektiert, akzeptiert oder als Bereicherung empfunden77 und so gegenüber den eigenen Bedeutungs- und Relevanzsystemen in zunehmender ‚Nähe‘ positioniert. Besonders auf Basis einer Bereicherungserwartung fungieren andere Orientierungen als „Spielraum[-], der entwicklungsfördernde Impulse und strukturelle Lernanlässe erschließen hilft“; das Andere wird als ‚Faszinosum‘ erlebt.78 In Bezug auf ein solch extensiv gelebtes Offenheitsverhältnis charakterisiert Krech ein drittes Muster, das den durch das Andere konstituierten ‚Spielraum‘ insofern als bereichernd wahrnimmt, als Bedeutungselemente und Praxisformen partiell übernommen werden. Dieses Muster kann mit dem Stichwort der Bricolage oder des Patchwork bezeichnet werden.79 Andere Orientierungen werden hier nicht nur nicht abgelehnt oder ‚lediglich‘ geduldet und geachtet, sondern als „Ergänzung“ erfahren, die im Wechselspiel assimilatorischer und akkommodativer Abgleichungsprozesse „Selbstveränderung“ provoziert.80 Eine zu den bisher genannten Mustern quer liegende, da potenziell mit allen verbundene Reaktionsform beschreibt Krech mit dem Begriff der Reflexivität.81
74 75 76 77
78 79 80 81
bezug in der Pluralitätserfahrung gefragt werden und danach, welche Effekte die in der Erfahrung von Pluralität eingelassene Alteritäts- und Alienitätserfahrung auf diesen zeitigt. Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 36; Krech, Exklusivität, 37f; vgl. auch Pollack, Pluralisierung, 15ff. Zum Begriff des Gegenbildes im Kontext von Fremdheitserfahrungen vgl. Schäffter, Modi, 19–22. Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 36; Krech, Exklusivität, 38ff. In Anlehnung an die philosophische Toleranzdebatte bestimmen Friedrichs und Pollack vier typische Einstellungen gegenüber dem Anderen, die anhand von drei Kriterien („Respekt“, „Akzeptanz“, „Bereicherung“) charakterisiert werden: Die Einstellung der „Ablehnung“ impliziert keine der drei Kriterien; die Einstellung der „bedingten Duldung“ impliziert „Respekt“; die Einstellung der „unbedingten Achtung“ impliziert „Respekt“ und „Akzeptanz“; die Einstellung der „(partiellen) Annahme“ impliziert alle drei Kriterien (vgl. Dies., Wahrnehmung, 158). Vgl. Schäffter, Modi, 22ff, hier 22. Analog bestimmen Wierlacher und Albrecht die Erfahrung des Fremden als „Erprobungsfeld des Ichs“ (Dies., Xenologie, 298). Vgl. Krech, Exklusivität, 39f; Hero/Krech, Pluralisierung, 31f. Vgl. Schäffter, Modi, 22. Dieses explizit auf den Selbstbezug des Subjekts abhebende Reaktionsmuster wird bei Pollack/Friedrichs, Wahrnehmung; Pollack, Pluralisierung; Smith, Attitudes nicht beschrieben,
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Pluralitätserfahrungen führen hier in eine Auseinandersetzung mit den eigenen Orientierungen. Insofern fungiert Alterität bzw. Alienität als Reflexionsraum, der bestehende Haltungen, Meinungen und Verhaltensweisen „etwas oder stark“ hinterfragen und „kritisch“ begutachten lässt.82 Alois Wierlacher und Corinna Albrecht sprechen daher auch von der „Iniativ[-]“ bzw. „fermentive[n] Kraft des Fremden“, die Irritationen provoziert. Besonders in Verbindung mit den Haltungen der ‚Offenheit‘ und ‚Bricolage‘ wirken diese produktiv und innovativ, indem sie „uns […] auf andere Gedanken, Ansichten und Überzeugungen zu bringen“ vermögen.83 2.2.4 Resümee Mit den zurückliegenden Differenzierungen wurde eine schematische Annäherung an das Phänomen religiöser Pluralität versucht. Auf Basis einer Skizzierung der Begriffe des Pluralismus, der Pluralisierung und Pluralität wurden mögliche Manifestationsebenen und Wirkungsweisen religiöser Diversität typologisch bestimmt. Orientierte sich die Beschreibung der Erscheinungsweisen an einem möglichst weiten Raster, konzentrierte sich die Konsequenztypologie auf die Mikroebene des Subjektes. Dabei richtete sich die zentrale Frage auf Einflüsse, die religiöse Pluralität auf den Selbstbezug des Subjekts nimmt: Was folgt aus religiösen Diversifikationsprozessen für das Selbstverhältnis und Selbstverständnis des Subjekts?
vermag aber eine wichtige Erfahrungsform religiöser Pluralität freizulegen, da es mit den übrigen Haltungen gerade einhergehen kann. Natürlich ist es fraglich, ob sich exklusivistische Einstellungen mit Reflexivitätsaspekten im folgend zu beschreibenden Sinne verbinden können. Sofern die Distanz anderer Orientierungen in so striktem Grad konstruiert wird, dass ihnen gegenüber allein Blockadehaltungen eingenommen werden, werden die von ihnen potenziell ausgehenden Infragestellungsimpulse sicherlich verunmöglicht. Wesche, Reflexion, 193–199, 198f nennt als Beispiel die „Simplifikation“, welche „beunruhigende Unübersichtlichkeiten kraft eines (vermeintlich) gesicherten Welt- und Lebensverständnisses zu bannen“ versucht, indem die „Ambivalenzen der modernen Welt“ mithilfe eines simplen „binären Code“ „voreilig“ aufgelöst werden; Pollack und Friedrichs kommen auf fundamentalistische und dogmatistische Einstellungsfacetten zu sprechen (vgl. Dies., Wahrnehmung, 160). Weniger streng exklusivistische Haltungen dürften freilich durchaus reflexivitätskompatibel sein, ob im Sinne einer temporären Episode, die in umso deutlichere Affirmationen der eigenen Orientierungen führt oder bei Einstellungen, die sich auf der Grenze zu den von Smith sog. ‚inklusivistischen‘ Mustern befinden (vgl. Ders., Attitudes, 336f). Empirisch dokumentieren sich diese weniger radialen Exklusivismen etwa in der simultanen Zustimmung zu Aussagen wie ‚Ich bin davon überzeugt, dass vor allem die Mitglieder meiner eigenen Religion zum Heil gelangen‘ und ‚Für mich hat jede Religion einen wahren Kern‘ (vgl. Krech, Exklusivität, 37–40). 82 Vgl. Krech, Exklusivität, 36; Hero/Krech, Pluralisierung, 36. 83 Vgl. Wierlacher/Albrecht, Xenologie, 298 (i. Orig. teils hervorgehoben).
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In seinen rezenten Schriften hat Charles Taylor auf diese Frage eine pointierte Antwort formuliert. Sie soll im Folgenden nachvollzogen werden. Das umrissene Schema der Pluralität dient diesbezüglich als Rahmen, in dem Taylors Beschreibung rekonstruiert werden kann. Des Weiteren wird die Skizze der aktuell dominanten religionssoziologischen Erklärungs- und Deutungstheoreme seine Position profilieren helfen.
3
Charles Taylors Phänomenologie moralisch-spiritueller Selbsterfahrung
Spätestens mit der Veröffentlichung seiner 2000 am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehaltenen Vorlesungen über William James wurde einer breiteren akademischen Öffentlichkeit Taylors Interesse am Thema der Religion bekannt.84 Seither sind mehrere Aufsätze zum ‚Ort‘ der Religion in der modernen Gesellschaft erschienen,85 die schließlich in die materialreich ausgeführte Studie zur Säkularisierung der nordatlantischen Welt A Secular Age aus dem Jahr 2007 münden.86 Methodisch an das Verfahren von Sources of the Self anknüpfend verfolgt Taylor eine historisch breit angelegte Rekonstruktion der Genese nichttheistischer Wirklichkeitsinterpretationen, wobei die Pointe darin besteht, diese Entwicklung nicht als unilinearen Subtraktionsprozess aufzufassen, sondern als einen komplex verzweigten, Gegenläufigkeiten implizierenden Verlauf, der Neues produktiv hervorbringt.87 Es liegt in der inneren Logik dieser 84 Vgl. Taylor, Varieties. Die Wiener Vorlesungen beruhen auf Taylors Edinburgher GiffordLectures von 1999 zur Frage „Living in a Secular Age?“ Freilich belegen auch schon frühere Texte Taylors religionsbezogenes Interesse. Vgl. etwa seine berühmt gewordene Studie Sources of the Self, in der wichtige Motive und Rekonstruktionslinien auch seiner rezenten, die Religionsthematik fokussiert entfaltenden Schriften schon angelegt sind. Zur Rolle der Religion für Taylors Philosophie überhaupt vgl. Wittekind, Persistenz; Kühnlein, Religion. 85 Vgl. etwa Taylor, Religion; Ders., Ort; Ders., Gegenaufklärung. 86 Aktuelle Arbeiten Taylors beziehen sich primär auf Klärungen der Frage, wie auf die Persistenz des Religiösen staatlich und zivilgesellschaftlich angemessen zu reagieren sei, mithin was unter ‚Religionsfreiheit‘, ‚Laizität‘ und ‚Säkularismus‘ verstanden werden könne (vgl. etwa Maclure/Ders., Laizität; Ders., Redefinition). 87 Unter einer subtraction story versteht Taylor ein Beschreibungsmuster, das die Entstehung der Moderne im Allgemeinen und den Vorgang der Säkularisierung im Besonderen als einen Prozess qualifiziert, der die eigentlichen Potenziale des Humanum durch ein sukzessives ‚Abstreifen‘ depravierender Überformungen und Verzerrungen lediglich freilegt. Demgegenüber zielt sein Ansatz auf die Erschließung des konstruktiven und innovativen Charakters der Heraufkunft der Moderne (vgl. Taylor, Age, 22; Ders., Gegenaufklärung, 61f). Zur Charakteristik der Taylorschen Methodik allgemein vgl. Rentsch, Transzendenz, 244: „Die dialektischen Verhältnisse dürfen […] nie auf schematische, dualistische, dichotomische, kontradiktorisch-antithetische Simplifikakationsmodelle [sic] reduziert werden. Vielmehr entbergen sie in ihrer geschichtlichen Entfaltung Modi der Ausdifferenzierung in Sprache,
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Auffassung, dass als „Zielpunkt“ dieses Verlaufs nicht das „tendenzielle Verschwinden der Religion“ angesetzt werden kann, sondern „eher ein zunehmend hoch entwickelter Pluralismus“ – „nicht […] ein Pluralismus auf der normativen Ebene, sondern ein immer verzweigterer spiritueller Pluralismus, in dem verschiedene Arten, das Spirituelle zu leben, sowohl im Inneren des Christentums […] als auch außerhalb desselben entstehen […]; die spirituellen Familien differenzieren und multiplizieren sich“.88
Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, welche genauere Struktur Taylor dieser ‚hoch entwickelten‘ Pluralität beimisst und welche subjektiven Konsequenzen er ihr zuschreibt. Dazu ist vorab sein Säkularitäts- und Religionsverständnis zu klären.
3.1
Terminologische Klärungen
Im Zuge der Ausarbeitung und Kritik der Säkularisierungsthese kam es zur Ausdifferenzierung diverser Semantiken der Säkularität. Wie Hans Joas zu Recht festhält, beruht ein nicht unbedeutender Teil der Kontroversen um die Säkularisierungsdiagnose auf dieser Polysemie. Joas dokumentiert sieben Bedeutungslinien.89 Als juristischer Begriff bezeichnet ‚Säkularisierung‘ zunächst einerseits einen Statuswechsel (Mönchstum → Weltgeistlichkeit) und andererseits einen Besitzwechsel (Kirche → Staat).90 Als evaluativ-normativer Begriff markiert er sodann in der Debatte um die Kompatibilität von ‚Religion‘ und ‚Moderne‘ eine affirmativ-wertende (Säkularisierung als kulturelle Befreiung) oder kritischwertende (Säkularisierung als kultureller Verfall) Grundhaltung. Als sozialwissenschaftlich-deskriptiver Begriff kann er sich schließlich auf verschiedene Gesellschaftsebenen beziehen: auf die soziostrukturell-institutionelle Ebene, die kulturell-symbolische Ebene oder auf die individuell-alltagsweltliche Ebene.91
88 89 90 91
Kultur, Institutionen und Reflexionsformen, die als Fortsetzung, Entgegensetzung, Entzweiung, Ersetzung, als gleichzeitige Ungleichzeitigkeit, als Nebeneinander und in vielen anderen Formen selbst ein komplexes Vermittlungsverhältnis treten.“ Taylor selbst spricht von einem „zig-zag account“ (Ders., Age, 95). Vgl. dazu ferner Nagl, Space, 117, Anm. 2. Vgl. Taylor, Gegenaufklärung, 82 (i. Orig. teils hervorgehoben). Vgl. Joas, Option, 231; Ders., Glaube, 25–28. Vgl. dazu auch Conze u. a., Säkularisation, 792–809. Vgl. dazu in je variierender Akzentuierung Berger, Dialektik, 103f (Säkularisierung der Gesellschaft, der Kultur oder des Bewusstseins); Casanova, Religion, 1f (Säkularisierung als funktionale Ausdifferenzierung, Privatisierung oder Bedeutungsverlust der Religion); Dobbelaere, Secularization (gesellschaftliche, organisatorische oder individuelle Säkularisierung); Ebertz, Säkularisierung, 20 (Säkularisierung auf Ebene der Sozialstruktur, Kultur oder Einzelperson).
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Taylor ergänzt diese Semantiken um eine weitere.92 Insgesamt geht Taylor von drei Sinndimensionen aus. In der ersten Dimension bezieht er den Säkularitätsbegriff auf die Ebene der Öffentlichkeit, wobei er die soziostrukturell-institutionelle und kulturell-symbolische Ebene zusammenfasst. Säkularisierung bedeutet in diesem Sinn die sukzessive Emanzipation vor allem der politischen, ökonomischen und bildungsbezogenen Sphären aus dem direkten Zugriff religiöser Institutionen. In der zweiten Dimension rekurriert der Säkularitätsbegriff primär auf die individuell-alltagsweltliche Ebene. Säkularisierung bedeutet hier den allmählichen Rückgang religiöser Selbstverständnisse und Praktiken. Bei der dritten Dimension handelt es sich schließlich um das neue semantische Moment, das Taylor in den Säkularisierungsdiskurs einbringt. Anders als in der zweiten Dimension wird der Säkularitätsbegriff hier nicht direkt auf die religiösen Deutungs- und Praxisvollzüge bezogen, sondern auf deren Bedingungen: die „conditions of belief“93. Taylor verwendet den Begriff der Bedingung nicht beiläufig, sondern geprägt. Mit den synonym gebrauchten Vorstellungen des ‚Kontextes‘ oder ‚Rahmens‘ verweist er auf das in der phänomenologischen Tradition verankerte Konzept des Hintergrunds.94 Dabei geht es um ein historisch spezifisches Set an Bedeutungen und Wertungen, die tief in die sozialen Praktiken und Institutionen eingelassen sind, meistens implizit bleiben, aber interpretatorisch artikuliert werden können, und festlegen, was einem Subjekt überhaupt als wichtig, denkmöglich und erfahrbar erscheinen kann. In anderer Terminologie kann Taylor auf diesen Rahmen auch mit dem Konzept des Vorstellungsschemas (‚imaginary‘) eingehen. Ob in Bezug auf die Auffassung unserer Mitwelt (‚social imaginary‘)95 oder die Auffassung unserer Umwelt (‚cosmic imaginary‘)96 markiert es das Hintergrundverständnis, im Lichte dessen die Einzelnen ihr Leben führen, deuten, entwerfen und erleben. Ihm eignet dabei der Charakter der Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit (‚taken-for-grantedness‘).
Für die Fragestellung dieses Kapitels ist Taylors dritter Begriff der Säkularität insofern interessant, als er im Blick auf die conditions of belief einen tiefgreifenden Transformationsprozess indiziert, für dessen Explikation der Verweis auf 92 Vgl. zum Folgenden Taylor, Age, 1–22; dazu auch Gabriel, Pluralismus, 139f; Winkler, Identität, 318–322; Stetter, Predigt, 167f. 93 Taylor, Age, 3 u. ö. 94 Vgl. Taylor, Age, 13, Anm. 14 sowie ferner den konzisen Überblick über das Konzept des Hintergrunds bei Gordon, Place, 656ff. 95 Vgl. Taylor, Age, 171–176. 96 Vgl. Taylor, Age, 323. Taylor macht deutlich, dass ein Vorstellungsschema nicht einfach mit einer Theorie gleichzusetzen ist. Anders als ein theoretischer Diskurs artikulieren sich Vorstellungsschemata in Form von „images, stories, legends, etc.“, werden geteilt von „large groups of people, if not the whole society“ und sind in die sozialen Praktiken eingelassen (vgl. a. a. O., 171f). Das heißt nicht, dass wissenschaftliche Ideen die sozialen und kosmischen Vorstellungsschemata nicht mitbeeinflussen können. Eine reduktionistische Deutung, wonach etwa der Säkularisierungsprozess monokausal auf wissenschaftliche Innovationen zurückgeführt werden kann, ist nach Taylor aber abzulehnen (vgl. etwa a. a. O., 270–275).
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Pluralität zentral ist. Genauer sind es zwei voneinander abhängige Charakteristika, die diesen Wandel kennzeichnen: zum einen eine sukzessive Zunahme der Diversität der moralisch-spirituellen Optionen und zum anderen – und damit einhergehend – eine sukzessive Zunahme der ‚Fraglichkeit‘ dieser Optionen. Säkularität in Taylors dritter Bedeutung meint, dass sich der Erfahrungskontext und Denkrahmen religiöser Subjektivität insofern gewandelt hat, als das Verfolgen bestimmter religiöser Intuitionen nur noch in einem pluralen Horizont auch anderer Möglichkeiten vollzogen werden kann und damit per se umstritten ist: Im Verlauf der Pluralisierung rückt sozusagen die Nicht-Selbstverständlichkeit moralisch-spiritueller Optionen in den selbstverständlichen Hintergrund gegenwärtiger Lebenserfahrung ein. Mit Bezug auf den Gottesglauben formuliert: „The shift to secularity in this sense consists, among other things, of a move from a society where belief in god is unchallenged and indeed, unproblematic, to one in which it is understood to be one option among others, and frequently not the easiest to embrace“;
folglich bedeute es heute etwas anderes, an Gott zu glauben bzw. religiös zu sein als vor 500 Jahren; der Erfahrungsmodus hat sich grundlegend verändert.97 Bisher wurde zwischen ‚Gottesglaube‘, ‚Religion‘ und dem ‚Moralisch-Spirituellem‘ nur vage unterschieden. Im Folgenden ist genauer zu umreißen, was Taylor unter Religion verstanden wissen möchte. Dabei kann von der grundlegenden Bestimmung ausgegangen werden, wonach Religion eine Möglichkeit darstellt, unser moralisch-spirituelles Leben zu führen.98 Angeordnet um den Begriff der Fülle unterzieht Taylor in A Secular Age seine Vorstellung des Moralisch-Spirituellen einer stärker phänomenologischen Betrachtung.99 Unter den drei unter A.1.4.3 skizzierten ‚Achsen‘ tritt dabei die mittlere in den Vordergrund und wird in ihrem Erfahrungscharakter akzentuiert. Taylor unterstellt, dass jeder Mensch Tätigkeiten und Zustände kenne, in denen ihm das Leben als „voller, reicher, tiefer, lohnender, bewundernswerter und in höherem Maße [als] das, was es sein sollte“ erscheine.100 In ihnen wird das Leben in einer höheren Potenz erfahren. Als places of fullness oder auch power motivieren und orientieren sie; sie verleihen dem Leben Elan und Richtung.101 Vor dem Hintergrund von A.1.4.3 markieren diese Tätigkeiten und Zustände ‚Orte‘, an denen Menschen in einen erfahrungsmäßigen Kontakt mit dem kommen, was sie als Wert und Sinn in ihrem Leben auffassen. Sie erleben sich in dem, was ihnen 97 98 99 100 101
Vgl. Taylor, Age, 3.13, hier 3. Vgl. Taylor, Age, 4f. Vgl. Taylor, Age, 4–10. Vgl. Taylor, Zeitalter, 18. Joachim Schulte übersetzt treffend mit: Orte der „Belebung“ (Taylor, Zeitalter, 18).
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von ausschlaggebender Bedeutung ist, sie unbedingt angeht, kurzum: „worauf es [ihnen] ankommt“102. So besehen sind places of fullness Orte, an denen unser Selbstverständnis erfahrungsmäßig aufruht. Für Taylor ist dabei klar, dass diese moralisch-spirituellen Erfahrungen nicht interpretationsunabhängig sind. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit William James etwa macht er geltend, dass „schon die Idee einer Erfahrung, die ohne jede Formulierung auskommt, unmöglich ist.“103 Erfahrungen beruhen auf Vokabularen und Semantiken, in deren Licht ein gehaltvolles Erleben überhaupt erst möglich wird. Diese Vokabulare und Semantiken sind sozial vermittelt; erst innerhalb spezifischer webs of interlocution gelangt der Einzelne zu einer Deutung dessen, was er als Sinn und Wert in seinem Leben geltend macht und zur interpretativen Bestimmung seines Selbst. Die Relevanz des propositionalen Aspekts deutet an, dass Taylor die Dimension des Moralisch-Spirituellen nicht nur erfahrungsbezogen ausdrücken, sondern zugleich in stärker kognitivistischer Diktion adressieren kann. Was Menschen an ‚Orten der Fülle‘ erfahrbar wird, ist in Form von Überzeugungen artikulierbar. In der gemeinsam mit Jocelyn Maclure verfassten Studie Laizität und Gewissensfreiheit bezeichnet Taylor die identitätsrelevanten Sinn- und Wertdeutungen als „Grundüberzeugungen“ oder „Gewissensüberzeugungen“. Sie markieren die tiefsitzenden subjektiven Bedeutungen und Wertungen, über die sich eine Person identifiziert und mit deren Hilfe sie ihre Lebensführung orientiert.104 Taylor geht davon aus, dass diese Grund- und Gewissensüberzeugungen und der erfahrungsmäßige Kontakt mit ihren Inhalten an ‚Orten der Fülle‘ anthropologische Konstanten markieren; das Moralisch-Spirituelle ist ein Existenzial. Davon zu unterscheiden ist der spezifisch religiöse Modus, diese Lebensdimension zu erfahren und auszudeuten. Taylor bestimmt ihn über die religionstheoretisch etablierte Transzendenz-Immanenz-Unterscheidung. Im religiösen Modus interpretieren sich Subjekte unter Rekurs auf Transzendenz. 102 Rosa, Selbstthematisierungszwang, 291; Taylor, Quellen, 46. 103 Taylor, Formen, 29ff, hier 29. 104 Vgl. Maclure/Taylor, Laizität, 21f.99–105.121–131. Insgesamt besehen kommt Taylors Verständnis des Moralisch-Spirituellen dem nahe, was Luckmann als ‚individuelle Systeme letzter Relevanzen‘ oder Tillich als ‚ultimate concern‘ bezeichnet und womit sie Religion „aufs engste mit personaler Identität verbunden“ haben (vgl. Wohlrab-Sahr/Krüggeler, Individualisierung, 241). Im Unterschied zu ihnen hebt Taylor in A Secular Age den Religionsbegriff davon aber analytisch nochmals ab, wie im Folgenden deutlich werden wird. Dass Taylors anthropologische Überlegungen zum Moralisch-Spirituellen und sein Personund Identitätsverständnis für den Religionsbegriff fruchtbar gemacht werden können, zeigt Danz, Religion. Er knüpft dabei nicht an Taylors substanziellen Religionsbegriff aus A Secular Age an, sondern nimmt Taylors Deutung des Jamesschen Verständnisses von Religion zum Ausgangspunkt.
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Anders als etwa bei Luckmann105 wird Transzendenz von Taylor dabei traditionell, das heißt „dualistisch-antithetisch[-]“ und substanziell, verstanden.106 Transzendenz markiert eine dreifach dimensionierte Sphäre jenseits der natürlichen Wirklichkeit: Religion bezieht sich auf eine höhere Macht, artikuliert einen Wert und Sinn, der über das menschliche Gedeihen hinausreicht, und hofft auf ewiges Leben.107 Diese klassische Konzipierung der Transzendenz wurde mit Recht mehrfach kritisiert.108 Der Haupteinwand richtet sich gegen seine Statik. Vielleicht zu zugespitzt formuliert Peter Gordon: „For Taylor, the sacred is historically invariant, always and only God.“109 Indem das Transzendenzkonzept auf ein recht enges semantisches Spektrum festgelegt wird, wird ein Wandel dessen, was in einer spezifischen historischen Konstellation jeweils unter Transzendenz verstanden wird, ab ovo mehr oder weniger ausgeschlossen. Zumindest können diese veränderten Vorstellungen gegenüber dem geprägten Transzendenzbegriff lediglich als defizitäre Devianzen beschrieben werden. Die Entstehung neuer authentischer Transzendenzvorstellungen und damit einhergehender neuer authentischer Transzendenzerfahrungen vermag nur schwerlich in Betracht gezogen werden. Selbstverständlich nimmt Taylor die Entstehung solcher innovativen Religionsformen wahr. Dass er ein Sensorium und ein erschließungskräftiges Beschreibungsinstrumentarium für sie besitzt, liegt vor allem an seinem weiten Begriff des Moralisch-Spirituellen.110 Durch ihn gelingt es ihm, die heterogenen Erfahrungen der Fülle und die reichhaltige Landschaft aktueller Wert- und 105 Vgl. Luckmann, Nachtrag. Zu einem im Anschluss an Luckmann ausgearbeiteten Modell, das den „Begriff der Transzendenz [ebenfalls] nicht binär auf[-]baut“, sondern als Transzendierungsprozess begreift, vgl. Knoblauch, Religion, 43–80, hier 55. 106 Vgl. Rentsch, Thesen, 575. Zu einer konzisen Zusammenschau verschiedener Transzendenzverständnisse insbesondere sozialphänomenologischer Theorieansätze vgl. Meyer, Predigt, 472–482. 107 Vgl. Taylor, Age, 14–20. Taylor sollte dabei freilich nicht als emphatischer Vertreter eines substanziellen Religionskonzeptes verstanden werden. Er konstatiert, dass substanzielle wie funktionale Konzipierungen pragmatisch je nach Untersuchungsabsicht eingesetzt werden sollten. Da er selbst letztlich am Schicksal theistischer Wirklichkeitsinterpretationen interessiert ist, operiert er mit einem substanziellen Begriff. Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass die Religionsbegrifflichkeit auch die Deutung der religiösen Gegenwart mitbestimmt: „What is religion? If one identifies this with the great historic faiths, or even with explicit belief in supernatural beings, then it seems to have declined. But if you include a wide range of spiritual and semi-spiritual beliefs; or if you cast your net even wider and think of someone’s religion as the shape of their ultimate concern, then indeed, one can make a case that religion is as present as ever“ (vgl. a. a. O., 427). 108 M.W. zunächst von Gordon, Place und in Anknüpfung an die dortigen Überlegungen dann auch etwa von Joas, Option und vor allem Rentsch, Transzendenz; Ders., Thesen. 109 Gordon, Place, 670 (i. Orig. hervorgehoben). 110 Zudem ist sich Taylor bewusst, dass er mit seinem Religionsbegriff eine „Extremposition“ formuliert, unterhalb derer Myriaden aktuell erkundeter religiöser Möglichkeiten existieren (vgl. Ders., Zeitalter, 45).
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Sinndeutungen in vielen Facetten nachzuzeichnen. Entgegen der Behauptung von Gordon verleitet ihn sein klassisches Transzendenzkonzept auch nicht dazu, diesen Phänomenen ihre Authentizität rundweg abzusprechen. In der Tendenz schlägt aber die Orientierung an einem starken Transzendenzbegriff in der Bewertung tatsächlich immer wieder durch.
3.2
Individualisierung und Pluralisierung
Taylors Gespür für die Dynamik der moralisch-spirituellen Selbstinterpretationen zeigt sich in seiner Rekonstruktion der Gegenwart des Religiösen. Auf ihr liegt folgend der Fokus.111 Schon in seiner Studie zu James erkennt Taylor die formative Phase aktueller Religiosität in Entwicklungen, die sich in den 1960er Jahren abgespielt haben.112 Hier etablieren sich stärker individualisierte Formen moralisch-spirituellen Lebens in der Breite der Gesellschaft; auch auf dem religiösen Feld setzt sich eine Kultur durch, die Taylor als ‚Ethik der Authentizität‘ und ‚expressiven Individualismus‘ bezeichnet. Entwickelt in der Romantik113 und seitdem im Raum der Eliten vielseitig erkundet, wird die Suche nach einer dem individuellen Selbst authentisch entsprechenden Lebensform in der Nachkriegszeit zu einem „Massenphänomen“114. Im Kern verbindet sich mit diesem Individualisierungsschub eine Maxime, die Taylor paradigmatisch in der Aussage „Only accept what rings true to you own 111 Die Genese der aktuellen religiösen Situation westlicher Gesellschaften zeichnet Taylor über rund zwei Drittel von A Secular Age materialreich nach (vgl. Ders., Age, 23–504). Fokussiert man die groben Entwicklungslinien, ergeben sich folgende Etappen (vgl. zu folgendem Überblick Ders., Ort): Entzauberung einer Welt, in der das Göttliche in der alltäglichen Sozialitäts- und Naturerfahrung präsent war – Erfahrung des Gottesbezugs in der Achtung und Realisierung der von ihm geschaffenen und garantierten sozialen und kosmischen Ordnung – Erfindung eines Transzendenzen ‚ausgrenzenden Humanismus‘ – Entwicklung eines Vorstellungsschemas, das die Welt nicht mehr als einen geordnet strukturierten und für die moralische Selbstinterpretation relevanten ‚Kosmos‘, sondern als ein unergründlich tiefes und für die moralische Selbstinterpretation weitgehend unbedeutendes ‚Universum‘ begreift – zunehmend radikalere Individualisierung des religiösen Feldes. Taylor unterstellt, dass diese Prozesse, wenn sie hinreichend typologisch zugespitzt aufgefasst werden, tatsächlich chronologisch aufeinander folgende Etappen darstellen. Seinem zig-zag account entsprechend weiß er freilich um die vielschichtigen Überlagerungen und Fortwirkungen dieser Entwicklungsstufen. So halten sich z. B. auch gegenwärtig durchaus magische Vorstellungen, die an Erfahrungsformen der ‚verzauberten Welt‘ anknüpfen, doch „bilden diese Vorstellungen nicht länger ein System; sie werden nicht länger von allen geteilt“ (a. a. O., 7). 112 Vgl. Taylor, Formen, 71–96; vgl. dazu auch Ders., Religion, 93; Ders., Ort, 12; Ders., Age, 473. 113 Vgl. dazu auch Reckwitz’ Skizzierung des „romantischen Subjekts“, worin er zu ähnlichen Beschreibungen wie Taylor gelangt (Ders., Subjekt, 204–242). 114 Taylor, Religion, 93.
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inner Self“115 verdichtet sieht. Für Taylor werden darin zwei Facetten der oben im Anschluss an Knoblauch beschriebenen Subjektivierungstriade manifest. Im Rahmen einer Ethik der Authentizität hat sich zunächst der Modus religiöser Vollzüge gewandelt. Religiöse Ideen und Praktiken müssen nicht nur selbst gewählt sein, sondern das Individuum persönlich „ansprechen“116. In ihnen muss sich das Subjekt in seiner Eigenart wiederfinden können: „[T]he idea of adhering to a spirituality that doesn’t present itself als your path, the one that moves and inspires you“ muss im Rahmen einer Ethik der Authentizität nicht nur als falsch, sondern als absurd erscheinen.117 Taylor artikuliert diesen Modus-Aspekt der Subjektivierung auch mit seinem Begriff der „subtler languages“.118 Er verweist ursprünglich auf einen Wandel der Ästhetik in der Romantik, wonach Kunst nicht mehr als repräsentative, sondern als performative Äußerung verstanden wird. Kunst bezieht sich nicht mehr auf außerhalb ihrer selbst liegende, kulturell etablierte Bedeutungsordnungen, die sie lediglich nachbildet. Sie konstituiert ihre Bedeutungswelt in schöpferischer Weise selbst, womit sie etwas zur Anschauung bringt und zu verstehen gibt, was ohne sie nicht zugänglich wäre. Dabei setzt sie auf die Entwicklung ‚subtilerer Sprachen‘, die dem Rezipienten nicht nur als Gegenüber erscheinen, sondern ihn involvieren, ihn in seiner Selbsterfahrung innerlich ansprechen sollen. Dem Abschlusskapitel von Sources of the Self zufolge können diese ‚subtileren Sprachen‘ als das „Leitbild modernen Selbstverständnisses“ angesehen werden; die Quellen des Selbst „wirken nicht mehr an sich, sondern nur noch in Verbindung mit einem eigenen Aneignungsvorgang.“119 Für Taylor gilt dies auch für den Transzendenzbezug. Auch der Rekurs auf eine höhere Macht kann unter den Bedingungen der Gegenwart allein mit einem subjektiven Vektor ausgesagt werden: Die „Suche nach Moralquellen außerhalb des Subjekts“ bedarf „Sprachen, die im Inneren des Subjekts Resonanz finden“; sie ist „unabtrennbar mit dem Index einer persönlichen Sichtweise versehen“.120 Neben diesem gewandelten Modus religiöser Vollzüge, ist die religiöse Gegenwart zudem durch die zweite Facette der Subjektivierung bestimmt: den SachAspekt. Demnach rückt vielerorts das Subjekt so in den Gegenstandsbereich der 115 Taylor, Varieties, 101. Taylor entnimmt sie einer Ansprache auf einem New-Age-Festival, hält sie aber nicht für eine allein die New-Age-Bewegung repräsentierende Forderung, sondern für den charakteristischen Ausdruck einer Sichtweise, die sehr viel breiter in der rezenten Kultur verankert ist. Zur These einer diffundierenden Verbreitung ursprünglich in den Alternativzirkeln des New Age und der Esoterik kultivierten Einstellungen in den Alltagskosmos der kulturellen Gegenwart vgl. auch Knoblauch, New Age. 116 Taylor, Religion, 96. 117 Vgl. Taylor, Varieties, 101 (Hervorhebung M.S.). 118 Vgl. zum Folgenden Taylor, Quellen, 655–664.729–788; Ders., Age, 352–361.755–765. 119 Vgl. Wittekind, Taylor, 313 (Hervorhebung M.S.); Ders., Persistenz, 285f. 120 Vgl. Taylor, Quellen, 880; ferner Ders., Age, 758.
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Religion ein, dass auf größere Transzendenzen oder auf ein mit dem Begriff ‚Gott‘ codiertes Jenseits, nicht mehr ausgegriffen wird. Taylor verweist etwa auf die alternativmedizinische Szene, in der sich das Streben nach Einheit und Ganzheit des Selbst mit kurativen Themen verknüpft.121 Mit diesem doppelten Subjektivierungsschub geht eine Reihe weiterer Aspekte einher, die Taylor unter Rezeption verschiedener religionssoziologischer Studien zu sammeln versucht, ohne sie freilich am Ende in eine integrale Perspektive zu überführen.122 Im Folgenden sollen zumindest einige kurz aufgerufen werden. Mit der doppelten Subjektivierung gehen Deinstitutionalisierungsprozesse einher. Indem er sich auf das Stichwort des believing without belonging von Davie bezieht, deutet Taylor eine verbreitete Distanzierung von den Dogmen und Praxisformen ‚offizieller‘ Religion an.123 Um diese außerhalb des Prägekreises der organisierten Religionsgemeinschaften erkundeten Wege moralisch-spirituellen Lebens zu kennzeichnen, rekurriert Taylor auf das Motiv der Suche. In der Sozialfigur des seeker verkörpert sich eine religiöse Einstellung, die sich von extern Vorgegebenem kritisch abwendet und sich von institutionellen Autoritätsansprüchen zugunsten einer selbstbestimmten Kultivierung der eigenen religiösen Intuitionen emanzipiert. Ausdruck verschafft sich diese in der kreativen Rekombination diverser Sinn- und Praxiselemente.124 Ebenfalls Teil der Deinstitutionalisierungsprozesse ist die Entstehung von religiösen Erfahrungsräumen, die durch kulturelle Formen getragen werden, die nicht den konventionell mit dem Begriff der Religion identifizierten Kultursphären angehören. So bilden etwa Erfahrungsräume, die im Bereich des ‚Festlichen‘ und im Bereich der Kunst zu stehen kommen, Orte, an denen nach dem ‚Sinn des Sinns‘125 und nach „sources of deeper meaning in our lives“126 gesucht wird. Erörterungen zur Kategorie des ‚Festlichen‘ ziehen sich durch den kompletten Band von A Secular Age. Sie setzen ein bei der Beschreibung karnevalesker Kollektivereignisse im Kontext der ‚verzauberten‘ Welt und münden in der Analyse aktueller cultural performances. Zur Ausdeutung dieser ‚Fest‘-Phänomene bezieht sich Taylor primär auf Turners Liminalitätskonzept, wodurch sie als polyvalente Suspensionsprovinzen in den Blick 121 Vgl. Taylor, Age, 507; vgl. dazu auch nochmals die Überlegungen von Nassehi, wonach sich das Bezugsproblem der Religion von der Frage nach der Kohärenz der Gesellschaft auf die Frage nach der Kohärenz des Subjekts verlagert hat (vgl. E.2.1.2). 122 So zu Recht Joas, Option, 238. 123 Vgl. Taylor, Age, 513f. 124 Taylor denkt dabei sowohl an Varianten des Patchworking, die im Rahmen einer einheitlichen Tradition verbleiben, als auch an Varianten, die auf heterogene Traditionen rekurrieren (vgl. Taylor, Age, 513). 125 So Taylor im Anschluss an Luc Ferry: „‚the meaning of life‘, Luc Ferry’s ‚le sens du sens‘, the basic point which gives real significance to our lives“ (Taylor, Age, 308). 126 Vgl. Taylor, Age, 711.
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kommen, die Prozesse der Selbsttranszendierung auszulösen vermögen und damit ‚Orte der Fülle‘ repräsentieren: „[T]hey often generate a powerful phenomenological sense that we are in contact with something greater, [a] sense of something beyond“127. Als solche festiven resp. liminalen Orte gelten Taylor gerade auch Gelegenheiten der Kunstrezeption. Verstanden als performative Artefakte, die nicht mehr einfach außerhalb ihrer selbst bestehende, öffentlich etablierte Semantiken repräsentieren, entbehrt Kunst, was Taylor „ontic commitment[-]“ nennt. Zwar vermögen sie ein Gefühl zu vermitteln, dass man im Moment der Rezeption mit etwas Bedeutsamen und Sinnhaftem in Kontakt gebracht wird, mit etwas, das im Gedränge der alltäglichen Wirklichkeit zu kurz kommt. Dessen inhaltliche Präzisierung übereignen sie aber in das Deutungsspiel des rezipierenden Subjekts. Kunst konstituiert damit einen „middle“ oder „ambigous space“; sie wird zu einer Form ‚unbestimmter‘ Spiritualität, die unter Bezug auf unterschiedliche Transzendenzgrade ausgelegt werden kann.128
Neben solchen jenseits der ‚offiziellen‘ Religion angesiedelten moralisch-spirituellen Praktiken, bleiben aber auch die organisierten Religionsgemeinschaften ein prägender Teil der religiösen Gegenwartslandschaft. Dies gilt zunächst in der von Davie beschriebenen ‚Stellvertreter‘-Funktion.129 Darüber hinaus vertritt Taylor seit seiner Studie zu James die These, dass sich neben den in der Sozialfigur des seeker verkörperten moralisch-spirituellen Haltungen auch ein religiöses Leben halten wird, das sich im Rahmen der von den organisierten Religionsgemeinschaften bereitgestellten Praxisformen und Bedeutungssystemen bewegt.130 Taylor deutet dabei an, dass sich der Gegensatz zwischen diesen idealtypisch über den Bezug auf religiöse Institutionen einerseits und außerorganisatorische Strukturen andererseits definierten Spiritualitätsformen empirisch häufig verwischt sein wird, so dass damit zu rechnen ist, dass sich auch innerhalb religiöser Organisationen vielfältige Muster der Suche etablieren. Die Rekonstruktion der Überlegungen Taylors zeigt, dass sich seine Beschreibung der religiösen Gegenwart merklich in den Bahnen des religionssoziologischen Individualisierungstheorems bewegt. Sosehr er an der Relevanz institutionalisierter Religion auch für das religiöse Alltagsleben Einzelner festhält, diagnostiziert er doch eine spätestens mit den Entwicklungen der 1960er 127 Taylor, Age, 518; vgl. Ders., Age, 43–54; Ders., Moderne, 166–179. Mit dem Konzept des Festlichen arbeitet Taylor Erfahrungsformen heraus, die in der Religionssoziologie unter anderem unter der Kategorie der „Eventisierung“ rubrizieren. „Events sind Veranstaltungsformen, die […] unterschiedlichste Erlebnisinhalte und Erlebnisformen zu einem nach primär ästhetischen Kriterien konstruierten Ganzen zusammenbinden. In einer sich zunehmend differenzierenden, ja partikularisierenden Welt scheinen Events eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, die es noch erlauben, die Erfahrung von ‚Einheit‘ und ‚Ganzheit‘ zu machen, weil sie Erlebnisformen anbieten, die nicht nur den Intellekt, sondern alle Sinne ansprechen“ (vgl. Gebhardt, Transformation, 14f; ferner Ders. u. a. [Hg.], Events). 128 Vgl. Taylor, Age, 359f. 129 Vgl. Taylor, Age, 514.521f. 130 Vgl. Taylor, Formen, 97–102.
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Jahre verknüpfte Ausbreitung subjektivierter Lebensweisen, die auch das religiöse Feld bestimmen. Dem Rückgang der Prägekraft etablierter Religionsgemeinschaften korrespondiert dabei eine Vervielfältigung der moralisch-spirituellen Optionen. Um die Potenz dieser Vielfalt anzudeuten, gebraucht Taylor die Metapher der Supernova: „We are now living in a spiritual super-nova, a kind of galloping pluralism on the spiritual plane.“131 Diese pluralisierende Dynamik betrifft nicht nur die intraorganisatorischen Aneignungsformen,132 sondern generiert auch jenseits der etablierten Religionssysteme eine Fülle neuer Interpretations- und Praxisvarianten. „[T]he interesting story is not simply one of decline, but also of a new placement of the sacred or spiritual in relation to individual and social life. This new placement is now the occasion for recompositions of spiritual life in new forms, and for new ways of existing both in and out of relation to God.“133
Teil dieser Rekomposition des spirituellen Lebens sind zunächst in interorganisatorischer Perspektive die zunehmende Präsenz nichtchristlicher Religionen wie Islam oder Buddhismus, aber auch die Konstituierung neureligiöser Gemeinschaften, in denen sich häufig therapeutische und spirituelle Aspirationen überlagern.134 Die von Taylor anhand der Kategorie des ‚Festlichen‘ erörterten kulturell getragenen Erfahrungsbereiche des Moralisch-Spirituellen könnten als ein Hinweis gewertet werden, dass im Zuge des expressiven Individualismus auch auf intrakultureller Ebene neue Möglichkeiten religiöser Erfahrung erprobt werden. Wichtiger scheinen Taylor freilich die Pluralisierungsprozesse auf personaler, genauerhin interpersonaler Ebene zu sein. Zwar vermag er ebenfalls Phänomene intrapersonaler Diversität zu beschreiben; für seine Überlegungen relevanter ist aber die Feststellung interpersonaler Vielfalt. Taylor stimmt ganz der Vermutung von Wolf zu, wonach für „das individuelle Erleben […] nicht das Ausmaß der in einer Gesellschaft insgesamt beobachtbaren Heterogenität entscheidend [sein dürfte], sondern v. a. diejenige Heterogenität, die in der sozialen Umwelt bzw. im sozialen Netzwerk einer Person vorhanden ist.“135
Entsprechend sieht Taylor das entscheidende Merkmal aktueller Pluralität weniger in der bloßen Koexistenz heterogener Selbstinterpretationen; das entscheidende Merkmal liegt im Eindringen des Anderen und Fremden in den
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Taylor, Age, 300. Vgl. etwa Taylor, Age, 513. Taylor, Age, 437. Für Taylor ruht überhaupt der ganze Multikulturalismusdiskurs auf Phänomenen der ‚Supernova‘ auf (vgl. Taylor, Age, 513, Anm. 23; vgl. dazu auch Ders., Politik). 135 Wolf, Pluralisierung, 336.
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Radius der sozialen Interaktionen.136 Für Taylor zeichnet sich die religiöse Gegenwart dadurch aus, dass im Nahbereich des Subjekts mit der Präsenz anderer und fremder Selbstinterpretationen zu rechnen ist: „Der, der für eine andere spirituelle Sicht optiert, kann dein Bruder, deine Schwester, dein Sohn, deine Tochter sein“137; und abgekoppelt vom familiären Kontext notiert er, dass es im Rahmen der Pluralitätsproblematik heute um die Tatsache gehe, „dass man in einer Welt mit anderen Menschen lebt, die nicht bösen Willens sind, die genauso intelligent, genauso scharfsinnig sind wie man selbst, und dass man trotzdem tiefe Differenzen der spirituellen Option lebt“138; „[w]e live in a condition where we cannot help but be aware that there are a number of different construals, views which intelligent, reasonably undeluded people, of good will, can and do disagree on.“139
Worauf Taylor mit diesen Formulierungen verweist, ist, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen das Andere und Fremde uns so ‚nahe‘ kommt, dass einfache Distanzierungshaltungen nicht mehr ohne Weiteres möglich sind. In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen Immanenz- und Transzendenzaspekt könnte man sagen, dass die familiären oder freundschaftlichen Bande, Sympathie oder schlicht der Respekt vor den intellektuellen Fähigkeiten oder der moralischen Integrität einer Person der differenten Selbstinterpretation nach der Logik des rhetorischen ἦθος Immanenz verleiht, vermittels derer ihr initiative und fermentive Kräfte zuwachsen.140 Welche Effekte Taylor dabei vorsieht, ist nun 136 Vgl. Taylor, Age, 304. Diesen Aspekt unterstreicht auch Berger, Sehnsucht, 43. Entsprechend halten Hero und Krech im Blick auf Fragen der empirische Erforschung von religiösen Pluralitätskonsequenzen dazu an, von der statistisch erfassten Pluralität nicht vorschnell auf deren Effekte zurückzuschließen. Entscheidend sei vielmehr der „subjektive Zugang“ zu Phänomenen der Pluralität, also die Frage, inwieweit die Subjekte ihr Umfeld einerseits als ein plurales wahrnehmen und andererseits mit anderen moralisch-spirituellen Sichtweisen in Kontakt stehen: „Eine eigenmächtige Wirkung können religiöse Pluralisierungsprozesse nur dann entfalten, wenn die gesellschaftlichen Akteure die Pluralität wahrnehmen und in ihr (religiöses) Handeln mit einbeziehen“ (vgl. Dies., Drei-Länder-Vergleich, 139–142 u. ö., hier 141). Auf denselben Sachverhalt hat Beck verwiesen, wenn er ‚Globalisierung‘ als einen Prozess interpretiert, der zunehmend nicht mehr ‚dort draußen‘, sondern ‚im Inneren‘ stattfindet. 137 Taylor, Gegenaufklärung, 83. 138 Taylor, Gegenaufklärung, 82. 139 Taylor, Age, 11; vgl. ferner Ders., Formen, 53. In etwas anderer Akzentuierung kann Taylor die Näherung des Anderen und Fremden auch durch den Hinweis auf die diachron-synchrone Perspektivierung religiöser Pluralität anzeigen: „But it is clear that we have moved into a world where spiritual vocabularies have more and more travelled, in which more than one is available to each person, where each vocabulary hat already been influenced by many others; where, in short, the rather abrupt differences between the religious lives of people living far from each other are being eroded“ (Taylor, Age, 148). 140 Vgl. dazu ausführlich Taylor, Age, 304: „The fact is that this kind of multiplicity of faiths has little effect as long as it is neutralized by the sense that being like them is not really an option for me. As long as the alternative is strange and other, perhaps despised, but perhaps just too different, too weird, too incomprehensible, so that becoming that isn’t really conceivable for
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nachzuzeichnen. Der Überlegungsgang nähert sich damit der „Tiefenstruktur“141 des Erfahrungskontextes und Denkrahmens, den Taylor mit seinem dritten Säkularitätsbegriff freizulegen sucht.
3.3
Effekte der Pluralität
Taylor zufolge bewirkt die Diversifikation der moralisch-spirituellen Optionen einen strukturellen Wandel des Erfahrungsmodus religiöser Subjektivität. Das Verfolgen religiöser Intuitionen wird unter den Bedingungen einer „Welt der Differenz“142 in grundsätzlich anderer Weise erlebt als in weltanschaulich stärker homogen strukturierten Gesellschaften. Um sich diesem veränderten Erfahrungsmodus anzunähern, könnte man mit der Kategorie der Fraglichkeit operieren: Das Subjekt erlebt seine Wirklichkeitsorientierung als Komplex von Bedeutungen und Werten, der nicht selbstverständlich ist; Taylor spricht daher auch von einem „breach of naïveté“143. Was durch die Idee der Fraglichkeit grob aufgerufen ist, präzisiert Taylor mehrfach. Er beschreibt dazu den Selbstbezug des Subjekts. Wo im Kontext pluraler Wirklichkeitsorientierungen die Selbstverständlichkeit des eigenen moralisch-spirituellen Weges prekär wird, verändert sich der Selbstbezug des Subjekts in mindestens drei Hinsichten, die miteinander verflochten sind. Der Selbstbezug wird (1) reflexiv. Das Subjekt gerät in eine ‚Auseinandersetzung‘ mit sich selbst. Selbstbefragungsprozesse werden lanciert, in denen das Subjekt sich in seiner spezifischen Form des Selbstbezugs zum Thema wird. Es wird sich der Eigenart seiner Selbstinterpretation bewusst. Diese Eigenart erfährt das Subjekt (2) als Option. Seine besondere Weise der Wirklichkeitsorientierung nimmt es als eine Möglichkeit unter mehreren wahr. Taylor leitet daraus eine weitreichende Konsequenz ab. Mit der Optionalisierung seiner Wirklichkeitsorientierung erlebe das Subjekt diese zugleich als Interpretation („construal“). Um diese Pluralisierungskonsequenz herauszuarbeiten, rekurriert er auf außermoderne Erfahrungsformen. An neutestamentlichen, me, so long will their difference not undermine my embedding in my own faith. This changes when through increased contact, interchange, even perhaps intermarriage, the other becomes more and more like me, in everything else but faith: same activities, professions, opinions, tastes, etc. Then the issue posed by difference becomes more insistent: why my way, and not hers? There is no other difference left to make the shift preposterous or unimaginable“ (Hervorhebung i. Orig.). 141 Nagl, Space, 123. 142 Taylor, Gegenaufklärung, 83. 143 Taylor, Age, 13. Das Konzept der Naivität stellt Taylor in den Zusammenhang der Überlegungen Friedrich Schillers in seiner ästhetischen Abhandlung Über naive und sentimentalistische Dichtung.
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mediävalen oder aktuellen Geisternarrativen aus dem afrikanischen Kulturkreis exemplifiziert Taylor einen Zustand des Erlebens, „where what we might call a construal of the moral/spiritual is lived not as such, but as immediate reality, like stones, rivers and mountains.“144 Der Komplex an Bedeutungen und Werten, an dem sich das Subjekt orientiert, erscheint ihm als realitätsverbürgte Gegebenheit und erhält so den Charakter unmittelbarer Gewissheit. „Die religiöse Weltanschauung, um die es sich hier handelt, ist in einem solchen ‚Zustand des Erlebens‘ eben keine Anschauung, sondern eine Welteinstellung. Sie ist eben nicht der Ausdruck einer Auffassung, sondern die Verfasstheit einer Existenzweise. Man könnte – kulturpsychologisch und nicht epistemologisch gemeint – von einem unmittelbaren Für-Wahr-Halten sprechen, von einer Einbettung in eine Welt, deren Glaubwürdigkeit durch die Weise ihres Erscheinens, durch ihre phänomenologische Naivität verbürgt ist.“145
Eine solche moralisch-spirituelle Selbsterfahrung ist unter pluralisierten Bedingungen nicht mehr erschwinglich. Hier präsentiert sich die Wirklichkeitsorientierung immer schon als Auslegung. Für Taylor kommt es dadurch zu einer Art Verdopplung des Selbstbezugs: „We all learn to navigate between two standpoints: an ‚engaged‘ one in which we live as best we can the reality our standpoint opens us to; and a ‚disengaged‘ one in which we are able to see ourselves as occupying one standpoint among a range of possible ones, with which we have in various ways to coexist.“146
Insofern inkorporiert sich dem moralisch-spirituellen Leben eine Außenperspektive. Das Subjekt sieht sich immer auch im Spiegel alteritärer Perspektiven mit. Damit erhält der Selbstbezug des Subjekts (3) eine kritische Komponente. Als Selbst-, Welt- und Transzendenz-Interpretation werden moralisch-spirituelle Wirklichkeitsorientierungen streitbar. Was das Subjekt als Sinn seines Lebens artikuliert, steht im Angesicht differenter Auslegungen in Frage. Der eigene Sinnentwurf verliert seinen „unchallengeable status“147. Darin wurzeln zumindest potenziell Erfahrungen des Zweifels und der Ungewissheit. „But I am never, or only rarely, really sure, free of all doubt, untroubled by some objection – by some experience which won’t fit, some lives which exhibit fullness on another basis, some alternative mode of fullness which sometimes draws me, etc.“148 144 145 146 147 148
Vgl. Taylor, Age, 11f, hier 12. Wils, Wahl, 303 (Hervorhebung i. Orig.). Taylor, Age, 12. Taylor, Age, 530. Taylor, Age, 13f; ferner a. a. O., 308.556.591; Ders., Varieties, 57 und analog Berger, Sehnsucht, 45: „Irgendwie drängt sich einem der Gedanke auf, dass das eigene traditionelle Weltverständnis vielleicht doch nicht das einzig richtige ist und dass die anderen mögli-
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Diese drei ineinander verschränkten Facetten indizieren eine Komplexitätssteigerung des Selbstbezugs. In der Erfahrung von Pluralität wird er ‚reflexiv‘, ‚dupliziert‘ und ‚kritisch‘.149 Zwischen den Polen der Selbstdistanz und der Selbstnähe gerät das moralisch-spirituelle Leben in gewisser Weise in ‚Spannung‘. Der Selbstbezug wird dynamisiert. Er besteht in einer manövrierenden Bewegung zwischen Identifizierung, Kultivierung und Realisierung des je eigenen moralisch-spirituellen Weges und seiner kritischen Herausforderung durch differente Wert- und Sinnsysteme. Unter pluralisierten Bedingungen schreibt sich meiner Wirklichkeitsorientierung eine Außenperspektive intern ein. Im Blick auf die sozialpsychologischen Implikationen religiöser Diversifikation akzentuiert Taylor damit das von Krech mit dem Reflexivitätsbegriff markierte Konsequenzmuster. Die differenten Wirklichkeitsorientierungen erscheinen als initiative und fermentive Kräfte, die das Subjekt in Auseinandersetzungen mit der eigenen Selbstinterpretation führen. Bestehende Haltungen, Ansichten und Verhaltensweisen werden in ihrer Spezifizität und Optionalität wahrgenommen und kritisch begutachtet.150 Welcher Grad der Offenheit sich mit dieser Reaktionsweise verknüpft, lässt Taylor weitgehend offen. Schon in Varieties of Religion Today laufen seine Interpretationen der religiösen Gegenwartslage aber wiederholt auf einen Punkt zu, den man in einem bestimmten Sinn als Ort ‚radikaler‘ Offenheit bezeichnen könnte. Taylor nennt ihn den Ort „andauernde[r] Ambivalenz“151; metaphorisch kann er auch vom ‚Stehen auf einer Schwelle‘, einem simultanen ‚Drang in zwei Richtungen‘ oder einer ‚freien Fläche, auf der man sich vom Wind mal hierhin, mal dorthin bewegt erfährt‘, sprechen.152 Taylor prägt dafür den Ausdruck des „Jamesian open space“153. Wer auf ihm steht, erfährt die initiative und fermentive
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cherweise auch diesen oder jenen guten Gedanken haben. Die bislang für selbstverständlich genommene Weltsicht wird aufgebrochen, wenn es auch zunächst nur ein winziger Spalt ist, der sich auftut und durch den der Schimmer des Zweifels eindringt.“ Vgl. dazu auch Wils, Wahl, 312: Das „Maß an reflektierenden, problematisierenden und interpretierenden Selbst- und Weltzugängen“ ist angewachsen. Seine Profilierung der Kritik als soziale Praxis fundiert Robin Celikates in einem ganz ähnlichen Zusammenhang. Auch hier ist der Gedanke leitend, dass die plurale und heterogene Verfasstheit der alltäglichen Lebenswelt die sozialen Akteure zu reflexiven, kritischen und distanzierenden Einstellungen herausfordert, wobei die Distanzierungsbewegung wie bei Taylor insofern gebrochen erscheint, als sie besser als ein Oszillieren zwischen ‚Engagement und Distanzierung‘ zu beschreiben ist. Vor diesem Hintergrund ist die Praxis der Kritik nicht als das simple Gegenüber einer reflexionsfreien, distanzlosen und akritischen Alltagspraxis zu begreifen, sondern als ein spezifisch ausgeformten Teil derselben (vgl. Ders., Kritik, bes. 81–94.116–136). Taylor, Formen, 55. Vgl. Taylor, Varieties, 56–60. In A Secular Age fasst Taylor diesen Ort auch in das Bild von cross pressures (vgl. a. a. O., Kap. V.16). Vgl. Taylor, Age, 549.592. Für Taylor war James einer der ersten, der die subjektiven Auswirkungen der veränderten conditions of belief subtil erkundet hat: „The sense I had of
Charles Taylors Phänomenologie moralisch-spiritueller Selbsterfahrung
343
Kraft des Fremden in potenzierter Form. Das Andere erscheint nicht nur als eine respektable oder akzeptable Form des moralisch-spirituellen Lebens. Es zeigt sich als rezipierbare Option. Mit seinem Interesse an der ambigen Schwellenkonstellation zwischen zwei Sinndeutungsformen fokussiert Taylor diejenigen Orte innerhalb einer pluralisierten Gesellschaft, an denen die kritische Infragestellung der eigenen Sinndeutungsform durch die Erfahrung von Alterität in partielle Adaptionspraktiken, aus denen innovative Rekombinationen hervorgehen, oder Konversionsphänomene umschlagen kann. Tatsächlich geht Taylor davon aus, dass in der ‚Supernova‘ das Phänomen von Einstellungs-, Überzeugungs- und Verhaltenswechseln zunehmen wird: „[The] greater proxemity of alternatives has led to a society in which more people change their positions, that is, ‚convert‘ in their lifetimes, and/or adopt a different position than their parents. Life-time and intergenerational switches become more common.“154
Um diese Wechseldynamik zu markieren, kann Taylor auch auf die Chiffre der „fragilization“155 zurückgreifen. Indem er ihn auf diese Bedeutung hin definiert, versucht sich Taylor von der These des frühen Bergers zu distanzieren, wonach sich Pluralisierungsprozesse degenerativ auf die moralisch-spirituellen Bindungen auswirken. Demgegenüber konstatiert Taylor, dass die von ihm beschriebenen Pluralitätseffekte nicht notwendig mit einer Reduktion der „firmness“ oder „depth“ von Sinn- und Wertbindungen gleichzusetzen sei. Er begründet diese Sicht mit einer Episodierung der Konsequenzen. So muss der Grad kritischer Infragestellung, der Ungewissheit oder des Zweifels an Übergängen zu neuen Wirklichkeitsorientierungen besonders hoch sein. Daraus folgt aber nicht, dass es der „schließlich angenommene[n]“ Position an Bestimmtheit und Tiefe fehle; auch sind Episoden potenzierter Infragestellung denkbar, die nicht in einen Wechsel des Orientierungssystems führen, sondern in eine bekräftigte und vertiefte Bindung an die „beibehaltene[n]“ Werte und Bedeutungen. So geht treading in the footsteps of this trail-blazing predecessor was enhanced by the powerful recurring impression, in passage after passage of James’s work, that (style and topical references aside) it could have been written yesterday, as against almost a hundred years ago“ (Taylor, Varieties, V). Vgl. dazu auch Nagl, Space. 154 Taylor, Age, 556, Anm. 19; vgl. auch a. a. O., 304, Anm. 4; a. a. O., 437.594. Mit dem Schlusskapitel Conversions drückt sich Taylors Interesse an der Dynamik der religiösen Landschaft in besonders markanter Weise aus. Freilich geht es darin „nicht (wie der Kenner der früheren Werke Taylors und teilweise auch der Leser der vorangehenden Kapitel des Buches erwarten könnte) um Bekehrungserlebnisse in verschiedenen Richtungen, d. h. um Erfahrungen des inner-modernen Paradigmenwechsels als Folge der ‚cross-pressures‘ […], die sich aus der multi-paradigmatischen Verfasstheit der Moderne ergeben, sondern ausschließlich um Beispiele der biografischen Rückkehr zu einem konservativ-religiösen Credo“ (Rosa, Selbst, 6). 155 Vgl. Taylor, Age, 304, Anm. 4; a. a. O., 556, Anm. 19; a. a. O., 437.594.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Taylor davon aus, dass gerade das Durchleben solcher Episoden, in denen man sich dem Anderen und Fremden in seinem authentischen Attraktionspotenzial stellt, das moralisch-spirituelle Leben stärke. Denn damit ist es auf das Andere und Fremde nicht mehr als ‚Krücke‘ – in der oben genannten Diktion formuliert: als kontrastives ‚Gegenbild‘ – angewiesen, indem es ex negativo dem eigenen Selbstverständnis Halt und Stütze verleiht. Ein Sinnbezug der ohne solchen Halt und Stütze auskommt, ist stärker, sofern er sich „in höherem Maße aus den eigenen Quellen“ speist.156
4
Ausgewählte empirische Befunde
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass die Begriffe der Pluralität und der Pluralisierung „key concepts“ aktueller Religionsforschung darstellen.157 Alle drei religionssoziologischen Theoreme sehen sich herausgefordert, Prozesse religiöser Pluralisierung zu interpretieren; und in Taylors Phänomenologie religiöser Erfahrung gibt die Pluralität moralisch-spiritueller Vokabulare das entscheidende Signum des aktuellen Erlebnis- und Verstehenshintergrundes. Im Folgenden soll die Rede von Pluralität und Pluralisierung anhand einiger ausgewählter Befunde empirisch kontextualisiert werden. Die Befunde können nicht ausgiebig diskutiert werden, was freilich zu einer hinreichend angemessenen Einordnung erforderlich wäre, ist doch nicht nur ihre Auswertung und Darbietung stets positionell mitbedingt und notwendig konzeptionell gesättigt; vielmehr gehen schon in ihre Erhebung immer auch Vorannahmen und Theorieimplikationen ein, die ihrer Aussagekräftigkeit einen bestimmten Rahmen setzen.158 Folglich gelangt der anschließende Verweis auf rezente Erhebungen zur Frage religiöser Vielfalt über einige Fingerzeige nicht hinaus. Er soll lediglich eine erste Idee liefern helfen, wie sich die bisherigen Überlegungen im Spiegel empirischer Befunde darstellen. Dass religiöse Vielfalt dabei vor allem in Bezug auf ihre subjektiven Auswirkungen überwiegend über die wahrgenommene Präsenz etablierter Religionen erforscht wird, gilt es ferner zu berücksichtigen. Die Präsenz heterogener moralisch-spiritueller Selbstverständnisse ist damit auf eine sehr spezifische Weise im Blick.
156 Vgl. Taylor, Zeitalter, 928f, Anm. 20. Vgl. dazu auch Joas’ kritische Auseinandersetzung mit Berger in Ders., Kontingenz. 157 Vgl. Stausberg, Introduction, 103. 158 Vgl. dazu auch Weyel/Hermelink, Vielfalt, 16f.
Ausgewählte empirische Befunde
4.1
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Ebenen der Pluralität
Für eine statistische Erfassung der überhaupt vorfindlichen religiösen Gemeinschaften einschlägig ist nach wie vor die von Volkhard Krech und Helmut Zander konzipierte und koordinierte Studie zur religiösen Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Sie leistet eine Vollerhebung aller in Nordrhein-Westfalen angesiedelten Religionsgruppen und zählt dabei 228 Organisationen. Das Spektrum reicht „von den christlichen Großkirchen sowie den islamischen Verbänden und Moscheevereinen über kleine christliche Gemeinschaften, die Orthodoxe Kirche und jüdische Gemeinden bis zu den östlichen Religionen, neureligiösen Strömungen und esoterischen Praktiken.“159
Bundesweit gehören ‚derzeit‘ 31,50 % der Bevölkerung der Römisch-katholischen Kirche, 30,80 % der Evangelischen Kirche und 4 % dem Islam an; 1,80 % sind Mitglied der orthodoxen Kirchen und 1,42 % Mitglied kleinerer christlicher Religionsgemeinschaften; neureligiösen und esoterisch inspirierten Bewegungen und Gruppen gehören 0,80 % an; auf den Buddhismus entfallen 0,30 %, auf das Judentum 0,22 % und auf die Hindu-Religionen 0,12 %. Der Anteil der Menschen ohne Zugehörigkeit beträgt 29,04 %.160 Die Zahlen zeigen, dass im Blick auf die Mitgliedschaftsverhältnisse den christlichen Großkirchen nach wie ein dominanter Status zukommt und lediglich rund 5 % der deutschen Bevölkerung sog. nichtchristlichen Religionsgemeinschaften angehören. In diesem Sinne spricht Baumann bezüglich der aktuellen Situation in Deutschland von einer „kleinen Religionspluralität“161. Stellt man den Befund in eine historische Vergleichsperspektive, lassen sich gleichwohl Pluralisierungsprozesse identifizieren. Insbesondere seit den 1970er Jahren ist im Blick auf die Zugehörigkeit ein signifikanter Pluralitätsanstieg zu verzeichnen, der zum einen auf Immigrationsprozessen und zum anderen auf einer Zunahme der Zahl der Konfessionslosen beruht und nach Hero und Krech in der Tendenz anhält.162 159 Krech, Bewegungen, 31. Zu einer detaillierten Auflistung der verschiedenen Gemeinschaften vgl. Hero u. a., Vielfalt; www.religion-plural.org (25. 10. 2015). Vgl. dazu auch die Daten des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst e.V. unter www.remid.de (25. 10. 2015). Einen Überblick zu Literatur über stärker lokal fokussierte Erhebungen interorganisatorischer Religionsdiversität bieten Hero/Krech, Pluralisierung, 28f. 160 Angaben nach Krech, Lage, 207f. Zu den kleineren christlichen und neureligiösen Gemeinschaften vgl. auch Ders., Religionsgemeinschaften; zur Geschichte buddhistischer und hinduistischer Religion in Deutschland vgl. Baumann, Religionspluralität. 161 Baumann, Religionspluralität, 124. Anders stellt sich der Befund freilich dar, wenn der Anteil der Menschen ohne Zugehörigkeit mit in Betracht gezogen wird. 162 Vgl. Wolf, Pluralisierung, 326; Hero/Krech, Pluralisierung, 30. Neben der Kirchenaustrittswelle im Kontext der 1960er Jahre verweist Wolf auf die deutsche Wiedervereinigung, wodurch die „konfessionelle Heterogenität über Nacht angestiegen“ ist (vgl. Ders., Plurali-
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Wie am Beispiel Taylors gezeigt, ist die Feststellung einer Koexistenz verschiedener Religionsgemeinschaften wenig aussagekräftig, gerade wenn sich die Frage auf potenzielle Effekte religiöser Pluralität richtet. Wichtiger erscheinen diesbezüglich Phänomene interpersonaler Pluralität, werden Diversifikationsprozesse hier doch subjektiv wahrnehmbar. Wie schon Wolf festgestellt hat, sind vor allem im Blick auf eine historische Vergleichsperspektive empirische Daten zu dieser Frage rar. Er selbst rekurriert auf Befunde zu interkonfessionellen Eheschließungen und auf eine Mitte der 1990er Jahren auf die Stadt Köln bezogene Studie, in der soziale Netzwerke auf konfessionelle Heterogenität hin untersucht wurden. Er kommt zu dem Schluss, dass auf Verwandtschaftsebene konfessionelle Homogenität sich nur langsam aufzulösen beginne, gerade jüngere Personen aber zunehmend konfessionell gemischte Ehen eingingen und die sozialen Relationen zu „Freunden, Kollegen, Nachbarn und anderen nicht-verwandten Personen“ schließlich deutlich konfessionell divers seien.163 Wolf resümiert: „Insgesamt belegen diese Ergebnisse, dass die religiöse Heterogenität nicht nur im Aggregat, sondern auch auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen größer geworden ist. Religiöse Pluralisierung in Form religiöser Individualisierung […] ist heute eine ganz alltägliche Erfahrung.“164
Im Versuch, die Lücke in der Wahrnehmung interpersonaler Religionsdiversität zu schließen, wurde im Religionsmonitor 2013 dezidiert nach der „religiösen Zusammensetzung sozialer Netzwerke“ gefragt, wobei die Kontexte der Familie, der Nachbarschaft, der Arbeit bzw. Ausbildung sowie der Freizeit im Fokus standen.165 Die Befunde stimmen mit dem Resümee von Wolf überein, wonach
sierung, 327). Vgl. zum Ganzen auch Gabriel, Entkirchlichung, 49f sowie Weyel, Praxis, die dabei zu Bedenken gibt, „dass eine gesamtdeutsche Statistik keinen Aufschluss über einzelnen Regionen Deutschlands bietet. Tatsächlich gibt es bedeutende religionskulturelle Unterschiede zwischen einzelnen Bundesländern, Regionen und Landeskirchen. Während in Sachsen-Anhalt 17,4 % und in Brandenburg 20,1 % der Bevölkerung Mitglieder der beiden christlichen Kirchen sind, sind es im Saarland 82 % und in Bayern 73,9 %. Sowohl das Verhältnis zwischen der Zahl der kirchlich gebundenen Christen und der Gesamtbevölkerung schwankt erheblich als auch das Verhältnis von evangelischen und katholischen Christen. Diese regionale Unterschiedlichkeit gerät regelmäßig aus dem Blick, wenn es um die Entwicklung u¨ bergreifender Perspektiven geht.“ Zum Erfordernis einer nuancierten religionsempirischen Wahrnehmung, gerade wenn es um die Propagierung längerfristiger Prozessmuster geht, vgl. auch Huber, Anzeichen, der nicht allein regionale und generationelle Differenzierungen anmahnt, sondern mit seinem Modell der Religiosität ein multidimensionales Perzeptionsraster einschärft. 163 Vgl. Wolf, Pluralisierung, 338. Für die Konfessionslosen zeige sich, dass „ihre Verkehrskreise ganz allgemein in einem hohen Maße konfessionell gemischt“ (ebd.) seien. 164 Wolf, Pluralisierung, 338. 165 Vgl. Traunmüller, Vielfalt, 12–29, hier 12. Die Frage richtete sich dabei auf Sozialkontakte zu
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347
interreligiöse Kontakte zu einem selbstverständlichen Bestandteil des sozialen Alltagslebens vieler Menschen avanciert sind, vor allem wenn der Blick auf die außerverwandtschaftlichen Relationen fällt. Nach Auskunft der Befragten weist der berufliche Zusammenhang den größten Grad an Heterogenität auf. Nur 23 % geben an, über Arbeit und Ausbildung mit keinen Personen in Kontakt zu stehen, die einer anderen Religion angehören. In Bezug auf die freizeitlichen Beziehungen beträgt dieser Anteil 34 %, in Bezug auf die nachbarschaftlichen Beziehungen 35 % und in Bezug auf die familiären Beziehungen 55 %.166 Hinsichtlich der Ebene intrapersonaler Pluralität lassen sich zunächst Befunde beibringen, die auf Einstellungsumfragen beruhen. So wurde im Religionsmonitor 2008 die Frage gestellt, ob man für sich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurückgreife. Den Ergebnissen zufolge weisen 22 % der Deutschen eine „hohe ‚Patchwork-Religiosität‘“ auf.167 Dabei fällt auf, dass nur 28 % derjenigen, die sich gegenüber anderen Religionen als „sehr offen“ eingestellt beschreiben, synkretistische Kombinationspraktiken vollziehen. Hero und Krech schlussfolgern daraus: „Die individuelle Amalgamierung unterschiedlicher religiöser Ideen bleibt […] noch weit hinter der pluralistischen Disposition zurück, sich gegenüber verschiedenen religiösen Traditionen offen zu zeigen […] Die Offenheit gegenüber anderen Religionen ist in absoluten Zahlen relativ hoch, während die faktische Inanspruchnahme unterschiedlicher religiöser Ideen in ‚synkretistischer‘ Absicht nur bei rund einem Viertel der Befragten auszumachen ist. Die Diskrepanz zwischen Einstellung und Praxis mag ein Hinweis darauf sein, dass der ideellen Bereitschaft, sich gegenüber unterschiedlichen Religionen zu öffnen, bisher noch keine praktische Gelegenheitsstruktur gegenübersteht.“168
Angehörigen der großen Religionsgemeinschaften, nicht etwa zu Angehörigen bestimmter Konfessionen innerhalb derselben oder zu Menschen ohne Religionszugehörigkeit. 166 Ergänzend kann auf eine ländervergleichend angelegte Studie aus dem Jahr 2010 hingewiesen werden, in der speziell der Kontakt zu Muslimen fokussiert wird. Den Ergebnissen zufolge geben auf die Frage ‚Haben Sie viel Kontakt zu Muslimen?‘ in Westdeutschland 40,20 % an, „sehr viel“ oder „etwas“ Kontakt zu haben, während dies in Ostdeutschland auf 16,10 % der Befragten zutrifft. Zum Vergleich: In Dänemark sind es 56,70 %, in Frankreich 65,60 %, in den Niederlanden 51 % und in Portugal 15,40 % (vgl. Pollack/Friedrichs, Wahrnehmung, 173f). Auf Basis der Daten des Religionsmonitors 2013 vgl. dazu auch Hafez/Schmidt, Wahrnehmung, 51–58. 167 Vgl. Krech, Exklusivität, 39f. Nach dem Religionsmonitor 2013 stimmen 26 % der Befragten derselben Frage „eher“ bzw. „voll und ganz“ zu, so zumindest in den alten Bundesländern (Ost: 13 %) (vgl. Pollack/Müller, Religionsmonitor, 12). Die Fragestellung macht deutlich, dass hier ‚Patchwork-Religiosität‘ in der zweiten der oben notierten drei semantischen Varianten zu verstehen ist: Es geht nicht lediglich um eine subjektspezifische Aneignung von Sinnelementen einer religiösen Tradition, sondern um den Rekurs auf mehrere Traditionen. Ferner ist den Befragten die Heterogenität der Quellorte dieser Sinnelemente bewusst. 168 Hero/Krech, Pluralisierung, 32.
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Einen ähnlichen Befund macht Pollack unter Rekurs auf eine 2006 durchgeführte Repräsentativbefragung in zehn europäischen Ländern geltend. Demnach stimmen in Westdeutschland 26,80 % und in Ostdeutschland 16 % dem Item ‚Ich fühle mich frei, auf Lehren aus verschiedenen religiösen Traditionen zurückzugreifen‘ „voll“ oder „etwas“ zu.169 Dabei ließen sich unter denen, die angeben, konfessionell gebunden zu sein, wöchentlich den Gottesdienst zu besuchen und an Gott als Person zu glauben, bei rund 15 % Affinitäten zu magischen, okkulten und spiritualistischen Praktiken nachweisen und bei 15 bis 25 % affirmative Haltungen gegenüber astrologischen Vorstellungen sowie der Heilkraft von Amuletten, Kristallen und Steinen.170 Im Rahmen der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung171 geben 39,20 % der evangelischen Befragten an, an „Engel und gute Geister“ zu glauben (Konfessionslose: 20 %), 22 % gehen von einem Einfluss der „Sterne und ihrer Konstellationen“ auf das eigene Leben aus (Konfessionslose: 20,50 %) und 14,80 % stimmen der Aussage ‚Ich glaube, dass Amulette, Steine oder Kristalle hilfreich sein können‘ „stark“ oder „eher“ zu (Konfessionslose: 13,40 %); in Bezug auf die letzte Aussage sind es primär die häufigen Gottesdienstbesucher, die ihr beipflichten. Für immerhin 57 % der befragten Evangelischen lässt sich auf Basis ihrer Selbsteinschätzung eine Haltung beschreiben, die allen Religionen „Stärken und Schwächen“ bemisst und sich bereit zeigt, „sich das jeweils Beste daraus [zu] holen“ (Konfessionslose: 49 %). Einen emphatischeren Hinweis auf Phänomene moralisch-spiritueller Kombinatorik formulieren die Herausgeber der 1988/89 in der Schweiz durchgeführten und zehn Jahre später wiederholten sog. Sonderfall-Studie.172 Die im Horizont des Individualisierungstheorems erarbeiteten Untersuchungen173 markieren die „‚Bricolage‘ als dominante Sozialform von Religion“: „Synkretismus erweist sich als die gesellschaftlich verbreitetste Form des Umgangs mit religiöser Pluralität.“ Zwar gebe nach wie vor das Christentum die „Hauptquelle 169 Vgl. Pollack, Pluralisierung, 26. Zum Vergleich: In Kroatien sind es 40,60 %, in Estland 59 %, in Finnland 37,90 %, in Ungarn 38,30 %, in Irland 62,30 %, in Polen 39,20 %, in Portugal 59,50 % und in Russland 23,30 %. 170 Vgl. Pollack, Pluralisierung, 26f. 171 Vgl. zum Folgenden Laube/Pollack, Vielfalt, 36.40ff. 172 Vgl. Dubach/Campiche, Sonderfall; Dubach/Fuchs, Modell. Eine starke Verbreitung moralisch-spiritueller Kombinatorik sieht auch Wolf: „Ein erheblicher Anteil der konfessionell Gebundenen stimmt sowohl den Glaubensüberzeugungen mit christlicher Herkunft als auch den Aussagen zu paranormalen Phänomenen überdurchschnittlich häufig zu. Darüber hinaus ist dieser Anteil in Westdeutschland unter den Jüngeren, v. a. den jüngeren Katholiken, höher als unter den Älteren. Unter den westdeutschen Kirchenmitgliedern ist somit eine deutlich ausgeprägte Tendenz zu religiösen ‚Fleckerlteppich-Näherei‘ zu verzeichnen, die unter den Jüngeren stärker ausgeprägt ist als unter den Älteren und unter Katholiken weiter verbreitet als unter Protestanten“ (Ders., Pluralisierung, 341). 173 Vgl. Krüggeler/Voll, Individualisierung.
Ausgewählte empirische Befunde
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religiöser Orientierung“. Vielfach individuell gebrochen werden die christlich konnotierten Interpretationsmuster aber mit einer Reihe nichtkirchlich geprägter Sinnelemente verknüpft, die im gesellschaftlich vorrätigen Bedeutungskosmos kursieren.174 Zehn Jahre später bestätigt Dubach diese Ausführungen und bezeichnet „collageförmige Sinnmontagen“ als den „Normalfall“ aktueller Religiosität, wobei sich in ihr die ‚äußere‘ Pluralität gewissermaßen intrapersonal spiegele: „Religiöse Pluralität führt fast zwangsläufig zu weltanschaulichen Collagen.“175 Als Beispiele aufgeführt werden Kombinationen zwischen christlich ‚orthodoxen‘ Vorstellungen wie der Auferstehungshoffnung oder einem monotheistischen Gottesbild und außerchristlich-religiösen Todesdeutungen (z. B. „Wiedergeburt“), neureligiös-humanistischen Vorstellungen (z. B. „kosmischer Kreislauf“, „Gott als das Wertvolle im Menschen“), allgemeinen Transzendenzdeutungen (z. B. „übersinnliche Kräfte“, „Das Heute zählt“) und Sinnmomente die einem sog. „Zukunftsethos“ zugeschrieben werden (z. B. „Zukunft durch Moral“, „Zukunft durch Technik und Wissenschaft“). Ebenfalls im Rahmen des individualisierungstheoretischen Ansatzes operierend versuchen Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt auch für den deutschen Raum diese Emphase der Patchworkpraxis zu plausibilisieren. Auf der Grundlage von Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Kirchenmitgliedern in Oberfranken präparieren sie im Modus dichter Beschreibung einen Idealtypus, den sie mit dem Begriff des ‚spirituellen Wanderers‘ belegen. Vermöge dieser zwar nicht alle Muster aktueller Religiosität zu repräsentieren, spiegele er doch auch nicht „nur eine (vielleicht zahlenmäßig kleine) Gruppe oder gar Schwundstufe innerhalb der gegenwärtigen Vielfalt an Religiositätsformen“, sondern erlaube die Bestimmung von „weiterführende[n] Konsequenzen für die Charakterisierung der religiösen Gegenwartskultur im Ganzen“. Er sei ein „‚Prototyp‘ spätmoderner Religiosität“, dessen in ihm verdichteten Facetten sich „noch mehr ausbreiten werden, als sie es bis jetzt schon getan haben“.176 Eines der wesentlichen Charakteristika dieses Idealtypus ist seine experimentelle, wahl- und kombinationsgeprägte Einstellung gegenüber moralischspirituellen Bedeutungen und Praktiken. Aus diversen Sinnsystemen und Praxismodellen werden Elemente ausprobiert, ausgewählt und verknüpft. ‚Theoretisch‘ fundiert wird diese Einstellung zweifach. Zunächst eröffnet die sog. „Konvergenzvorstellung“ einen experimentellen Umgang mit heterogenen Sinnentwürfen:
174 Vgl. Dubach, Nachwort, 304f. 175 Vgl. hier und zum Folgenden Dubach, Religiosität, 49ff. 176 Vgl. Bochinger u. a., Einführung, 9–34, 33f.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
„Erst die grundlegende Gewissheit der Konvergenz aller Traditionen im Göttlichen ermöglicht den Wanderern ihren pragmatisch-selektiven und gleichzeitig verknüpfenden Umgang mit den unterschiedlichen Traditionen und Wissensgebieten“.177
Sodann ruht die „kombinierende Freizügigkeit“178 auf dem Anspruch moralischspiritueller Autonomie auf. „Wanderer gestehen die soziale Deutungshoheit über die eigene Spiritualität und Religiosität niemand anderem zu als ausschließlich sich selbst“179. Wie auch schon Dubach und Campiche angemerkt haben, geht mit dieser Verlagerung des Moralisch-Spirituellen in den „Rezeptions- und Geltungsbereich der Individuen“180 eine bestimmte Kriteriologie einher. Maßstab der konkret realisierten Kombinationen ist nicht eine innere, an den Gesetzen rationaler Logik bemessene semantische Konsistenz der Sinnelemente. Die Kombinationen beruhen auf einer stärker erfahrungsbezogenen Logik. Tatjana Schnell spricht vom „Primat der experientiellen Validität“181. Dieser umfasst zunächst das Kriterium der ‚Authentizität‘. In der Art einer ‚subtilen Sprache‘ hat das moralisch-spirituelle Vokabular einen Resonanzraum für meine Erfahrungen und Aspirationen aufzuspannen.182 Er umfasst zudem das Kriterium der ‚Fruchtbarkeit‘. Die rezipierten Symbole, Rituale, Erzählungen und Metaphern haben sich produktiv auf den von mir eingeschlagenen moralisch-spirituellen Weg auszuwirken; entscheidend ist, „ob es ‚weiterbringt‘“183. Die erfahrungsbezogene Logik umfasst sodann ein situatives Element. Der Rekurs auf ein Bedeutungssystem vollzieht sich weniger nach Maßgabe einer auf Dauer konstant angelegten Sinnorientierung als vielmehr auf der Basis eines situativ verankerten Bedürfnisses. Zuletzt betonen Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt den mit dem Erfahrungsbezug gesetzten emotionalen Vektor religiöser Kombinatorik; konsistent ist, was als stimmig gefühlt wird.184
177 Vgl. Engelbrecht, Spiritualität, 45–49, 48. 178 Engelbrecht, Spiritualität, 47. 179 Engelbrecht, Spiritualität, 78 (i. Orig. hervorgehoben). Engelbricht adressiert diesen Zug mit der Kategorie der „Selbstermächtigung“ (vgl. a. a. O., 77–81). Ihnen eignet der von Taylor an der Sozialfigur des Suchenden erläuterte autoritätskritische Impetus. 180 Dubach, Religiosität, 49. 181 Schnell, Religiosität, 114ff. 182 Knoblauch, Religion, 271 mahnt zu Recht zur Differenzierung zwischen Authentizitäts- und Individualitätsbestrebungen. So gehe es bei Phänomenen der Spiritualität weder darum, dass das Subjekt sich in seinen Erfahrungen als einzigartig erleben könnte, noch darum, dass es einzigartige Erfahrungen mache. Vielmehr gehe es um die „‚Authentizität‘ der Erfahrung in dem Sinne, dass sie selbst am eigenen Leib gemacht werden – also subjektiv sind.“ 183 Engelbrecht, Spiritualität, 46. 184 Vgl. Engelbrecht, Spiritualität, 50–63. Bezogen auf intrapersonale Pluralitätsaspekte arbeiten die Schweizer und Bayerische Studie Facetten heraus, die Davie mit dem Begriff des „‚feel-good‘ factor“ adressiert. Dabei liegt bei ihr die Pointe darin, dass dieser nicht nur das religiöse Leben der spirituell Hochengagierten bestimme, sondern eine Art Grundzug der aktuellen religiösen Gegenwart überhaupt ausmache. So vereine die Akzentuierung der Erfahrung und die Orientierung eher an partikularen und situativen als an allgemeinen Bedürfnissen so unterschiedliche Phänomene wie die Partizipation an kirchlichen Kasualund Bildungsangeboten, die Zugehörigkeit zu moralisch anspruchsvolleren und dogmatisch
Ausgewählte empirische Befunde
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Dass der Typus des ‚spirituellen Wanderers‘ auf Grundlage einer Befragung von Kirchenmitgliedern herausgearbeitet wurde, zeigt, dass stärker individualisierte Religionsformen, wie zu erwarten, nicht einfach außerorganisatorische Phänomene darstellen. Wie Taylor unter Hinweis auf Mischformen zwischen der durch die Sozialfigur des Suchenden typisierten und der durch eine ‚Option für Autorität‘ geprägten Religionsmuster angedeutet hat, prägt der dreifache Subjektivierungsschub auch die Mitglieder religiöser Institutionen.185 Dies erklärt intraorganisatorische Formen religiöser Pluralität. Neben der Ausprägung stärker individualisierter moralisch-spiritueller Vokabulare gilt auf dieser Ebene vor allem die Vervielfältigung der Partizipationsmuster als Diversitätsindikator. So bestimmen etwa Höhmann und Krech auf Basis der 4. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung fünf verschiedene Mitgliedschaftstypen: den ‚christlich-religiös und kirchennahen‘, den ‚christlich-religiös und kirchenfernen‘, den ‚mittleren‘ und den ‚weder christlich-religiös noch kirchennahen‘. Neben Unterschieden in der Strukturierung der persönlichen Weltsicht, im Vollzug religiöser Praktiken, in der Begründung der Mitgliedschaft und in den an die Institution gestellten Erwartungen spiegelt sich in den Typen auch ein heterogenes Teilnahmeverhalten gegenüber kirchlichen Ritual- und Veranstaltungsangeboten, so dass die Typen insgesamt auf ein pluriforme Ausgestaltung kirchlicher Mitgliedschaft verweisen können.186
rigideren Gemeinschaftsformen aus dem evangelikalen Milieu sowie den kulturreligiös geprägten Besuch von ästhetisch ansprechenden Gottesdiensten in urbanen Großkirchen (vgl. Dies., Europe, 67ff). 185 Getreu Detlef Pollacks skeptischer Einschätzung, was den Bestand an außerkirchlicher Religionspraxis anbelangt, sind es für ihn und Martin Laube unter Bezugnahme auf die Daten der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gerade die kirchlich stärker geprägten Personen, die auf die Vokabulare verschiedener religiöser Traditionen zugreifen: „Die Menschen sagen nicht nur, dass sie in ihrem religiösen Haushalt unterschiedliche Religionstraditionen mischen und sich aus jeder Religion das Beste nehmen – es ist etwa die Hälfte der Befragten, die das sagt – sie tun es auch. Aber sie tun es vor allem dann, wenn sie über ihre religiöse Praxis eine Bindung an die christliche Religion haben. Die innere Vielfalt der Religion ist auf eine merkwürdige Weise um die Kirche herum gruppiert“ (vgl. Dies., Vielfalt, 42 [Hervorhebung i. Orig.]; analog Wolf, Pluralisierung, 341). Wie die Sonderfall-Studie und die Untersuchungen von Bochinger u. a. zeigen, ist dies freilich kein neuer Befund, aus dem akute Wandlungstendenzen abzuleiten wären (vgl. Hermelink u. a., Herde, 13). 186 Vgl. Höhmann/Krech, Feld; vgl. dazu auch Hero/Krech, Pluralisierung, 30f; Gabriel, Entkirchlichung, 50: „Die intraorganisatorische Pluralisierung macht sich in den beiden großen Kirchen durch eine Differenzierung und Auseinanderentwicklung der Muster bemerkbar, in denen jeweils die Mitgliedschaft praktiziert wird“ (Hervorhebung i. Orig.). Auch Wolf konstatiert eine „Zunahme der innerkirchlichen Pluralisierung“. Dabei verweist er insbesondere auf individualisierte Inanspruchnahmen der kirchlichen Übergangsriten wie Taufe und Trauung hin. Was „früher eine Selbstverständlichkeit war und ‚einfach dazu gehörte‘, ist zunehmend eine Frage der persönlichen Entscheidung geworden, auch dann, wenn die Betroffenen zur selben Kirche gehören“ (vgl. Ders., Pluralisierung, 332).
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Diese Ausdifferenzierungstendenz der Mitgliedschaftsmuster könnte als ein Beleg für die Ausbreitung fluiderer Sozialformen auch auf dem religiösen Feld gewertet werden. Am Beispiel von institutionellen Arrangements im Kontext der Spiritualitätsszene hat etwa Hero ein Partizipationsverhalten herausgearbeitet, das nicht mehr um die Vorstellungen der ‚Mitgliedschaft‘ und ‚Zugehörigkeit‘ herum organisiert sei, sondern einer ‚Access‘-Logik folge. Anstelle konstanter Zugehörigkeitsverhältnisse treten „befristete, episodenhafte Interaktionsformen“; diesen Umschlag interpretiert er als einen „Entwicklungstrend“ über die spirituellen Alternativkulturen hinaus.187 Zwar ist im Blick auf die Mietgliederzahlen der evangelischen und katholischen Kirchen deutlich, dass Mitgliedschaftsverhältnisse vielerorts nach wie vor aufrecht erhalten werden und nicht rapide erodieren. Im Rahmen der Kirchenzugehörigkeit scheinen dem Access-Prinzip folgende Interaktionsformen aber zugenommen zu haben. Deutlich wird dies insbesondere dort, wo ‚Mitgliedschaft‘ nicht lediglich als fixes Attribut, sondern als variabel gestaltbare Größe in Betracht gezogen wird, die in Abhängigkeit von Biographie und Situation divers gelebt wird.188 Diesen Blickwinkel akzentuierend fundiert die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ihren Ansatz in einem Verständnis von ‚Mitgliedschaft‘, das diese als „soziale Praxis“ begreift: „Die Beziehung zur Kirche wird somit nicht mehr primär als ein ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ an Verbundenheit, Beteiligung oder Überzeugung hinsichtlich einer immer schon feststehenden Größe verstanden, sondern als eine Praxis der beteiligten Menschen, die diese als ihre je eigene Mitgliedschaft gestalten. Der Einzelne wird so als ein Akteur gesehen, der stets in vielfältigen Beziehungsgefügen steht, in die seine Mitgliedschaftspraxis eingebettet ist.“189
So perspektiviert wird Mitgliedschaft nicht nur als ein Phänomen beforschbar, das sich ganz entscheidend aus dem Zusammenhang der konkreten personalen webs of interlocution heraus aufbaut; ebenso vermag seine biographisch-situative Dynamik und innere Vielfältigkeit schon am Ort des Subjekts selbst zutage treten, womit die je eigene Mitgliedschaftspraxis auch zum Marker intrapersonaler Diversität avancieren könnte.
187 Vgl. Hero, Kommune, 51ff. 188 Vgl. dazu Kretzschmar, Kirchenbindung, 305–331; Ders., Schatten; Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 354ff; Hermelink, Organisation 175–206. 189 Weyel u. a., Kommunikation, 24; ferner Weyel, Kirchenmitgliedschaft; Dies., Praxis; Dies./ Hermelink, Vielfalt, 17–23.
Ausgewählte empirische Befunde
4.2
353
Effekte der Pluralität
Im Zuge der Debatte um das Markttheorem rückte die Frage nach den vitalisierenden und säkularisierenden Folgewirkungen religiöser Pluralisierung lange Zeit in das Zentrum der empirischen Erforschung von Pluralitätseffekten.190 Die in Europa und Deutschland durchgeführten quantitativen Untersuchungen fallen dabei allesamt skeptisch gegenüber der Annahme einer vitalisierenden Wirkung religiöser Pluralität aus. Exemplarisch mag hierfür das Urteil von Hero und Krech stehen: „‚Religiöse Pluralität‘ (gemessen als ökologische Variable) gehört in den erhobenen europäischen Regionen nicht zu den dominierenden Bestimmungsfaktoren religiöser Vitalität. Die theoretische Debatte unter Zuhilfenahme von ‚säkularisierungs‘ oder ‚supply-side‘ Argumenten [sic] im Rahmen einer sich pluralisierenden religiösen Infrastruktur erweist sich damit als vorschnell. Für keinen der unterstellten Effekte lassen sich robuste Belege finden. Im Hinblick auf die religionssoziologische Debatte muss festgehalten werden, dass die postulierten Wirkungen in Folge von Pluralisierungsprozessen kaum nachweisbar sind. Sozialstrukturelle Variablen wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand und vor allem die Zugehörigkeit zu einer minoritären religiösen Organisationen [sic] üben einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Zentralität religiöser Einstellungsmuster aus als eine regional variierende religiöse Pluralität.“191
Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass eine quantitative Analyse religiöser Pluralitätseffekte insofern „problematisch“ ist, als quantifizierbare Auswirkungen sich erst über längere historische Perioden hinweg bemerkbar machen, also erst weiterreichende Langzeitstudien aussagekräftiges Material liefern können.192 Wie angedeutet schlagen Hero und Krech vor diesem Hintergrund vor, die sozialpsychologischen Implikationen religiöser Pluralität in den Blick zu nehmen. Hinzuweisen wäre hier zunächst auf die Befunde der schon angesprochenen ländervergleichenden Studie von Pollack und Friedrichs. Als „zentrale[s] Ergebnis“ halten sie fest, dass die
190 Dabei führte diese Fragestellung zu methodologischen Reflexionen, die nicht nur die Messbarkeit religiöser Vitalität, sondern überhaupt auch die Messbarkeit religiöser Pluralität betraf. Vgl. dazu Wolf, Konzepte; Hero/Krech, Drei-Länder-Vergleich. Als Pluralitätsindikatoren werden unter anderem diskutiert: Mitgliedschafts- und Zugehörigkeitswerte zu religiösen Organisationen (Diversitätsindex D) der Grad der Trennung von Staat und Kirche (‚Regulierungsindex‘), Präsenz religiöser Organisationen innerhalb eines bestimmten Gebietes (Organizational Diversity Index ODI), subjektiver Zugang zu religiöser Pluralität („Mit wie vielen unterschiedlichen religiösen Traditionen sind sie im Verlaufe des vergangen Jahres in Kontakt gekommen?“). 191 Hero/Krech, Drei-Länder-Vergleich, 148; vgl. auch Pickel, Religionen; Pollack, Pluralisierung; Stolz, Pluralität. 192 Vgl. Hero/Krech, Pluralisierung, 35.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
„Haltung der Deutschen gegenüber fremden Religionsgemeinschaften, vor allem gegenüber dem Islam […] deutlich kritischer als in allen anderen untersuchten Ländern [sc. Dänemark, Frankreich, Niederlande, Portugal]“ ausfällt; die „Länderdifferenzen lassen sich auch in der Einstellung zum Judentum, Buddhismus und Hinduismus beobachten, wenn auch abgeschwächt. Besonders ausgeprägt ist die Länderdifferenz aber bezüglich des Islam.“193
So sähen 40,70 % der Befragten in Westdeutschland und 50,10 % der Befragten in Ostdeutschland ihr „Land durch fremde Kulturen/Nationen bedroht“. Ein Gefühl, durch religiöse Vielfalt bereichert zu werden, bestätigten „ungefähr 50 %“, wobei dieser Wert in anderen Ländern bei 70 bis 80 % liege. Im Blick auf Respektund Akzeptanz-Haltungen zeigt sich ein deutlich anderes Bild. So bejahen 80,80 % (West) und 75 % (Ost) das Item ‚Man muss alle Religionen respektieren‘, 91,70 % (West) und 89,8 % (Ost) halten die Aussage ‚Sofern sich die Ausländer an unsere Gesetze halten, kommt es nicht darauf an, welche Religion sie haben‘ für richtig, Religionsfreiheit fordern 93,90 % (West) und 87,10 % (Ost), wobei einer Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften nur 48,50 % (West) und 53,40 % (Ost) zustimmen.194 Im Zusammenhang des Religionsmonitor 2008 werden die Reaktionen auf religiöse Vielfalt stärker auf den Selbstbezug der Befragten hin fokussiert.195 Erfragt werden zunächst ‚exklusivistische‘ Haltungen. Demnach stimmen 10 % der Befragten den Aussagen ‚Ich bin davon überzeugt, dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene Religion Recht hat und andere Religionen eher Unrecht haben‘ und ‚Ich bin davon überzeugt, dass vor allem die Mitglieder meiner eigenen Religion zum Heil gelangen‘ in hohem Maße, 29 % in moderaterer Form zu. Von den als ‚hoch religiös‘ Typisierten liegt der Anteil derer, die diesen Aussagen zustimmen bei 26 % (‚hoch exklusiv‘) und bei 34 % (‚etwas exklusiv‘) und damit deutlich höher als bei den ‚Religiösen‘ und ‚Nichtreligiösen‘. Analog zu den Befunden von Pollack und Friedrichs wird freilich auch hier deutlich, dass kritische oder superiorische Haltungen gegenüber anderen Religionen nicht notwendig mit Respektlosigkeit oder Nichtakzeptanz einhergehen müssen. So stimmen 73 % der ‚Hochreligiösen‘ den Items ‚Für mich hat jede Religion einen wahren Kern‘ und ‚Ich finde, man sollte gegenüber allen Religionen offen sein‘ in hohem Maße zu (17 % in moderaterer Form). Insgesamt liegt die Affirmationsquote zu diesen Aussagen bei 68 % (‚sehr offen‘) bzw. 26 % (‚etwas offen‘).196 193 Vgl. Pollack/Friedrichs, Wahrnehmung, 162. 194 Vgl. Pollack/Friedrichs, Wahrnehmung, 162–169. Zu analogen Ergebnissen vgl. auch Pollack, Pluralisierung, 24–35. 195 Vgl. zum Folgenden Krech, Exklusivität, 37ff. 196 Weniger ausdifferenziert halten Pollack und Müller für die Befunde des Religionsmonitor 2013 fest, dass 87 % der Befragten der Aussage ‚Man sollte gegenüber allen Religion offen sein‘ „eher“ und „voll und ganz“ zustimmen (Ost: 78 %), 61 % die zunehmende Diversität
Ausgewählte empirische Befunde
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Eine als ‚offen‘ beschreibbare Einstellung repräsentieren auch die Befunde der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.197 So gibt zwar – oder: nur – eine knappe Mehrheit der evangelischen Kirchenmitglieder an, das Christentum sei für sie die „einzig akzeptable Religion“ (53 %), allerdings können, wie gesehen, 57 % der Aussage beipflichten, dass jede Religion „Stärken wie Schwächen“ besitze und man sich „das jeweils Beste daraus holen“ sollte; auch gehen 55 % davon aus, das „feste Glaubensüberzeugungen“ nicht „intolerant machen“.198 Um auf den Religionsmonitor 2008 zurückzukommen, sind schließlich im Blick auf Taylors phänomenologische Annäherung an den Erfahrungsmodus gegenwärtiger Religiosität die Fragen nach der reflexiven Einstellung (‚Wie oft setzen Sie sich kritisch mit religiösen Lehren auseinander, denen Sie grundsätzlich zustimmen?‘ ‚Wie oft überdenken Sie einzelne Punkte Ihrer religiösen Einstellung?‘) interessant. Den Ergebnissen zufolge neigen 12 % dazu, ihre eigenen moralisch-spirituellen Überzeugungen ‚stark‘, 56 % ‚etwas‘ zu hinterfragen. Dabei ist der Anteil unter den Hochreligiösen besonders hoch: 38 % hegen stark reflexive Einstellungen, 59 % etwas reflexive Einstellungen.199 Die Befunde resümierend notiert Krech: „Die zunehmende religiöse Vielfalt verändert die Haltung der Menschen gegenüber religiösen Fragen. Dadurch, dass verschiedene religiöse Überzeugungen nicht nur auf der politischen Weltbühne, sondern auch durch religionsinterne Differenzierung und Migration miteinander in Kontakt kommen und dass die Folgen religiöser Vielfalt zu Medienereignissen avancieren, wird Religion zu einem Thema, zu dem man sich verhalten muss. Dabei ist die Bereitschaft, über die eigene Religiosität kritisch nachzudenken, unter den Deutschen stärker ausgebildet als die Haltung eines Exklusivität beanspruchenden Glaubens.“200
197 198
199 200
„religiöser Gruppen“ als eine „kulturelle Bereicherung“ ansehen (Ost: 57 %), zugleich jedoch 65 % darin auch eine „Ursache für Konflikte“ erkennen (Ost: 59 %). Richard Traunmüller hat in seiner Auswertung, den Einfluss der interreligiösen Sozialkontakte auf diese Einstellungsmuster zu erheben versucht, wobei er die Haltung der Offenheit gegenüber anderen Religion primär durch religiöse Pluralität im familiären Kontext bedingt sieht, Korrelationen zwischen einer nichtexklusivistischen Einstellung und der Wahrnehmung religiöser Vielfalt aber auch in den Kontexten der Freizeit und der Nachbarschaft ausmacht, wobei der kausale Zusammenhang jedoch offen bleiben müsse. Religiöse Pluralität am Arbeitsplatz wirke – in Deutschland – dagegen als „Verstärkung für religiöses Exklusivitätsdenken“ (vgl. Ders., 73–76, hier 73). Vgl. zum Folgenden Laube/Pollack, Vielfalt, 36. Die Aussage ‚Alle religiösen Gruppen sollten die gleichen Rechte haben‘ lehnen 35 % der evangelischen Befragten ab (Konfessionslose: 43 %), wobei unter der Voraussetzung, dass „sich jemand an die Gesetze hält“, von 83 % die jeweilige Religionszugehörigkeit als etwas angesehen wird, das keinerlei Rolle spielt. Unter den ‚Religiösen‘ können 9 % als ‚stark‘ und 69 % als ‚etwas‘ reflexiv beschrieben werden, unter den ‚Nichtreligiösen‘ 1 % als ‚stark‘ und 29 % als ‚etwas‘ reflexiv. Krech, Religion, 140. Differenzierend fügt er hinzu: „Interessanterweise denken nicht nur ältere Menschen kritisch über Religion nach, sondern auch rund 10 Prozent der unter 50-
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5
Teil E: Dynamiken der Diversität
Anschlussreflexionen
Mit den zurückliegenden Überlegungen verlagerte sich der Untersuchungsfokus auf den kontextuellen Problemaspekt der transformativen Predigtdimension. Dass die sozialen und kulturellen Strukturbedingungen auch für das Verständnis von Praktiken bedeutsam sind, die nicht eigentlich auf den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sind, sondern das Subjekt in seiner Selbstverständigung adressieren und anzuregen versuchen, klang im Verlauf der Untersuchung wiederholt an. Namentlich Walzer hat der Einsicht Ausdruck zu geben versucht, dass die Struktur des Kontextes, in dem die Subjekte ihr Leben führen, auf die Akte ihrer Selbstinterpretation durchschlägt und für die Konzipierung transformativer Praxis Relevanz besitzt. So bestimme der Grad der kulturellen, sozialen und subjektiven Diversität die Ausgestaltung des Transzendenzaspekts wesentlich mit; die Chancen, immanent anzusetzen und kritische Perspektiven aus den sozial vertrauten Vokabularen heraus zu entwickeln, seien von der Verteilung heterogener Wirklichkeitsorientierungen abhängig. Mit seinem Konzept kritischer Praxis knüpft er damit an ein Zentralmotiv der aktuellen Selbstbeschreibungsdiskurse westlicher Gesellschaften an, geben diese doch vielfach Beleg dafür, dass die Idee der Homogenität für die Deutung der subjektiven, sozialen und kulturellen Wirklichkeit zunehmend als obsolet erscheint. Nicht nur werden in normativer Hinsicht pluralitätstaugliche Handlungsperspektiven diskutiert, die den politischen und rechtlichen, aber auch zivilgesellschaftlichen Umgang mit einer divers verfassten Gegenwart orientieren sollen; ‚Pluralität‘ und ‚Pluralisierung‘ avancierten ebenso zu key concepts der an der deskriptiven Wirklichkeitserfassung interessierten Sozialwissenschaften – einschließlich der mit Religion befassten Disziplinen. Erreicht auf dem religiösen Feld der Bundesrepublik interorganisatorische Vielfalt, vor allem wenn sie über den Diversitätsindex und damit in Bezug auf Zugehörigkeitsquoten gemessen wird, noch einen relativ geringen Grad,201 signalisieren die Beobachtungen auf der inter- und intrapersonalen sowie der intraorganisatorischen Ebene Aspekte einer moralisch-spirituell stark ausgefalteten Kultur. Wie alle gesellschaftsdeskriptiven Großkonzepte sollte freilich auch das Pluralitätsinterpretament nicht vorschnell überstrapaziert werden. Gegenläufigkeiten sowie milieu- und regionalspezifische Pfadabhängigkeiten sind zu berücksichtigen. Indes: Dass Predigtpraxis heute nicht mehr auf die christlich geprägte Kultur, „die eine Vernunft“ oder „das neuzeitliche WirklichkeitsverJährigen in einem hohen und etwa 30 Prozent in einem durchschnittlichen Maß“ (a. a. O., 136). 201 Wie gesehen trifft diese Bewertung letztlich nur zu, wenn der große Anteil der Menschen ohne konfessionelle Zugehörigkeit ausgeklammert wird.
Anschlussreflexionen
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ständnis“ bezogen werden kann, ist kaum kontrovers.202 Die Predigthörer haben sich in einem pluraleren Rahmen zu deuten und zu entwerfen. Welche konkreten Konsequenzen daraus für den Selbstbezug der Adressaten abzuleiten sind, ist schwer zu sagen. Folgt man den Überlegungen Taylors und nimmt seine Analyse als eine Art Brennglas, das bestimmte Züge, auch wenn sie real vermutlich weitaus diffuser auftreten, im Medium der Verdichtung und Pointierung gleichwohl zu erschließen hilft, erhöht sich der Grad seiner Reflexivität. Durch die Präsenz vielfältiger Deutungen der ‚Fülle‘ ist den Akteuren eine ‚naive‘ Einstellung zu ihren Sinn- und Wertbezügen nur bedingt erschwinglich. In die Bestimmung, Kultivierung und Realisierung ihrer moralisch-spirituellen Intuitionen blendet sich eine Außenperspektive ein; der Selbstbezug erhält ein distanzierendes Moment. Wie Krech zeigt, lassen sich empirische Befunde beibringen, die diese phänomenologische Ausdeutung religiöser Selbsterfahrung stützen können. Während Taylor dabei mit zunehmenden Konversionen durchaus auch im herkömmlichen Sinn des Wortes rechnet, lassen sich für den deutschen Raum kaum Phänomene eines solch dezidierten religiösen Wechsels namhaft machen. „Eine Akkommodation des Selbst- und Weltbilds an eine andere Tradition […] ist […] selten.“203 In nuancierterer Einstellung und im Licht der Befunde zu intrapersonaler Diversität sowie auf Grundlage der Einsicht in die Dynamik und Situativik des Sichselbstverstehens dürften partielle Adaptionen jedoch recht verbreitet sein, gerade wenn damit gerechnet wird, dass Kombinationen moralisch-spiritueller Sinnelemente häufig im Rahmen einer bestimmten „elastischen“204 Grundorientierung gelebt werden. Damit sind Orte in der aktuellen religiösen Landschaft markiert, an denen die Initiativ- und fermentive Kraft des ‚Anderen‘ und ‚Fremden‘ nicht allein zur kritischen Reflexion herausfordert, sondern alterierend wirkt. Es kommt zum „Zusammenspiel von Aneignung von Fremdem mit struktureller Selbstveränderung“205. Vor diesem Hintergrund lassen sich für die Analyse der transformativen Predigtdimension folgende Gesichtspunkte gewinnen. Deutlich ist zunächst die heute breit akzeptierte Einsicht, dass die Stimme christlicher Rede nur innerhalb eines polyphonen Konzerts ergeht. Auf dem Umweg des Sichselbstverstehens der sozialen Akteure besitzt sie kein Monopol. Sie ist Teil eines mannigfaltigen Bestands an Reflexionspraktiken, mittels derer Subjekte zu sich Stellung nehmen und sich in ihren Sichtweisen vergewissern und variieren. Wie Walzer und Turner metaphorisch ausführen, existiert nicht der eine Spiegel, in dem sich Menschen 202 Vgl. Gräb, Pluralisierung, 182; ferner Ders., Predigtlehre, 23–27; Grözinger, Homiletik, 15– 19; Luther, Einleitung. 203 Schnell, Religiosität, 114. 204 Schnell, Religiosität, 113. 205 Schäffter, Modi, 22.
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Teil E: Dynamiken der Diversität
zu Gesicht zu bringen vermögen, sondern ein Spiegelsaal, der diverse Bilder bereit hält. Dabei entspricht es dann nur Taylors Hyperbel der Supernova, dass nicht lediglich mehr oder minder organisierte Reflexionspraktiken zu solch einer Selbstauseinandersetzung anregen, sondern die Präsenz des Anderen im Lebensalltag selbst vielfältige Gelegenheiten der reflexiven Bezugnahme und des Ausgriffs auf transzendierende Perspektiven erzeugt. Zur Wahrnehmung der spezifischen Facetten des eigenen Weltzugangs, seiner Kontingenz, zur Einnahme distanzierender und kritischer Einstellungen und Variation eingespielter Selbstinterpretationen sind unter pluralisierten Bedingungen dezidierte Reflexionspraktiken nicht erforderlich. Folglich kommt auch die Predigt nicht als das initiative und fermentive Gegenüber eines ansonsten ‚naiven‘ und trägen moralisch-spirituellen Lebens zu stehen. Impulse moralisch-spiritueller Reflexion bringt nicht erst die Predigerin in die Kommunikation ein; sie sind in den Selbstverständigungsprozessen ihrer Adressaten schon vielfach präsent. Und je nach Einschätzung der Verbreitung moralisch-spiritueller Kombinatorik sind ebenfalls transformative Aneignungsprozesse vorauszusetzen, in denen sich die Adressaten immer wieder variieren. Als Medium der Selbsterweiterung ist die Predigt nicht Gegenüber, sondern Teil einer vielfältig angeregten reflexiven und dynamischen Alltagskultur der Selbstverständigung. In Hinsicht auf den ethischen Problemaspekt ergibt sich daraus ein quasi empiriegestütztes Argument, die Hörer dezidiert als Akteure zu adressieren.206 Im Zeichen einer Pluralität, die nicht ‚dort draußen‘, sondern ‚im Inneren‘ manifest wird, erscheint schon das gewöhnliche Leben als viel zu heterogen, als dass sich das Selbstverhältnis exklusiv im Modus eines „unreflektierten Routinehandelns“ meistern ließe und nicht als dezidiert aktives zu gestalten wäre.207 Bestärkt wird diese Sichtweise, insofern mit der Verfügbarkeit diverser Sinnangebote verbindliche Vorgaben an das moralisch-spirituelle Leben ausbleiben müssen. Der Einzelne sieht sich herausgefordert, „sein eigenes Sinnsystem zu konstruieren“208, reklamiert eine solche Souveränität auch häufig emphatisch, mindestens aber wird die Bestimmung dessen, worauf es im Leben ankommt, seiner Eigenregie sozial attribuiert. Damit erscheint der Autonomieanspruch der
206 Vgl. dazu Hermelink/Weyel, Vielfalt, 18: „Je mehr die reale Vielfalt der Lebens-, Bildungsund Kommunikationsmöglichkeiten ins Bewusstsein der Menschen rückt, umso mehr werden sie selbst zu Akteuren, die zum einen als verantwortliche Gestalter ihres eigenen Lebens und ihrer eigenen Lebensgeschichte verstanden werden können, zugleich aber immer auch auf soziale Ordnungen und gesellschaftliche Vorgaben reagieren“ (Hervorhebung i. Orig.). 207 Vgl. Celikates, Kritik, 89–94, hier 91. 208 Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 65 (i. Orig. teils hervorgehoben).
Anschlussreflexionen
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Rezipienten religiöser Rede tief in den gegenwärtigen conditions of belief verankert. Folgt man dieser insbesondere durch das Individualisierungstheorem frei gelegten Spur weiter, lassen sich auch die bisher als Reaktion auf den ethischen Problemaspekt vorgeschlagenen Perspektiven mit der Analyse der Struktur des soziokulturellen Predigtkontextes ins Gespräch bringen. So hängt die Ausdifferenzierung des religiösen Lebens besonders in seinen intraorganisatorischen sowie inter- und intrapersonalen Dimensionen eng mit dem beschriebenen triadischen Subjektivierungsschub zusammen, der wenigstens symbolisch mit den 1960er Jahren in Verbindung steht und mutmaßlich durch den Medienwandel der rezenten Jahre noch verstärkt wurde. Ihm zufolge erfahren sich die Subjekte notorisch als individuell Adressierte (Adress-Aspekt), rücken sie mit unmittelbar auf ihr Selbst bezogenen Themen in den Gegenstandsbereich der Religion ein (Sach-Aspekt) und wirken ihre moralisch-spirituellen Vokabulare auch dort, wo sie auf große Transzendenzen ausgreifen, allein im Modus subtiler, „persönliche Resonanz“209 erzeugenden Sprachen (Modus-Aspekt). Sollten diese Aspekte einen Grundzug gegenwärtiger Religiosität erschließen, untermauern sie (1) die rekursive Dynamik transformativer Praxis aus genuin religiöser Perspektive. Sofern die Adressaten sich in den religiösen Sprachen wiederfinden wollen, religiöse Kommunikationen auf Fragen biographischer Kohärenz bezogen sind und die Hörer der Predigt daran gewöhnt sind als Individuen adressiert zu werden, hat sich auch Predigt in ihren Argumentationen, Narrativen und Bildsprachen konsequent von den Adressaten her zu entwerfen. Dabei mag Taylors Konzept der subtilen Sprache als Hinweis genommen werden, dass die religiöse parole im Zeichen der Subjektivierung (2) nicht innerhalb eines emotionsbereinigten Raums verortet ist. Zumindest klingt in seiner Explikation der persönlichen Resonanz ein deutlich affektiver Zug an, so dass auch der Predigt unter pluralisierten Bedingungen in der Tat die Herausforderung erwächst, „gute Gründe“210 zu geben – Gründe also, die, um das Zitat mit Cooke auszulegen, eigene werden können insofern, als sie im Zusammenhang meiner „affectively imbued constellations of reasons“211 Sinn machen müssen, und damit vom Zusammenspiel „bildhafter Sinnkonstitution und rationaler Sinnrechtfertigung“ leben, das die Leistungen „des distanzierten begriffssprachlichen Thematisierens“ und „poesieaffine Vermögen“ zu integrieren weiß.212 209 210 211 212
Taylor, Quellen, 867–887, passim. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 65 (Hervorhebung M.S.). Cooke, Society, 17 (Hervorhebung M.S.). Oesterreich, Fundamentalrhetorik, 125. Dass im Raum des Moralisch-Spirituellen keine ‚apodiktischen‘ Beweise erschwinglich sind, sondern Argumentationen ‚ad hominem‘ geführt werden dergestalt, dass sich die Adressaten in ihnen in Facetten ihres komplexen
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Teil E: Dynamiken der Diversität
Zuletzt findet (3) auch die herausgearbeitete Relevanz des Predigtsubjekts einen Widerhall in der Subjektivierungsthese. Sie gibt religiöse Kommunikation nicht nur vonseiten der Rezipienten als ein Sprechen zu verstehen, das einen subjektiven Vektor besitzt. Vielmehr stützt sie – nun aus dezidiert religiöser Richtung – die in der Verbindlichkeitsstruktur der Predigt verankerte Erwartung, dass hier ein Diskurs geführt wird, der nicht von seinem Subjekt zu abstrahieren ist, sondern etwas von dessen Selbstverständnis präsent macht: „Wer im Medium des Glaubens spricht, setzt sich selbst in eine Position des authentischen Sprechers.“213 So besehen ließe sich die Predigt auch im Zusammenhang einer Analyse der aktuellen conditions of belief als ein Diskurs plausibilisieren, der insofern auf Aneignung zielt, als er konsequent an die Adressaten anschließt, dabei emotional wie rational anspricht und „mit dem Index einer persönlichen Sichtweise versehen ist“214. Gerade im Zeichen der Pluralität müssen die potenziellen Wirkungen eines solchen Diskurses zwischen der Alternative von Affirmation und Transformation gleichsam ‚hindurchfallen‘. Sofern das Selbstbild unter Diversitätsbedingungen nur schwerlich als ein starrer Besitzstand zu verstehen ist, wonach moralisch-spirituelle Überzeugungen erst gebildet, dann gehabt und endlich wieder preisgegeben oder umstrukturiert werden, sondern entsprechend der Dynamik und Situativik des Sichselbstverstehens als prozessuales Bestimmungsgeschehen in den Blick kommt, dürften sich auch die Wirkungen der Predigt nach der Logik ‚permanenter Persuasion‘ vollziehen und in ihren Formierungs-, Vertiefungs-, und Umbildungseffekten vielfach überlagern.
affektiv-kognitiven Selbstvollzugs wiedererkennen können müssen, legt Taylor ausführlicher dar in Ders., Explanation; knapp auch Ders., Quellen, 871. 213 Nassehi, Kompetenz, 121. Vgl. dazu auch Kumlehn, Erneuerung, 40 der eine „Subjektivierung des Predigtgeschehens“ anmahnt, wonach sich die Predigtarbeit „von Anfang an im beständigen Abschreiten des Zirkels von Textauslegung und Selbstdeutung“ vollziehe. 214 Taylor, Quellen, 880.
Teil F: Resümee
Die zurückliegenden Untersuchungsgänge hatten zum Ziel, eine Dimension des Predigtgeschehens in den Blick zu nehmen, der homiletisch ein ambivalenter Status zukommt. Dass die Rezeption einer Predigt zum Ort einer Erfahrung werden soll, in der unser Denken, Fühlen oder Wollen nicht dupliert wird, sondern Anstöße erhält, gilt als eine Elementarfunktion der Kanzelrede. Über divergente Ansätze hinweg wird sie in diversen Wendungen adressiert, unter denen nicht wenige einen Grad an Geläufigkeit erlangt haben, der den mit ihnen gesetzten Problemzusammenhang nicht mehr ohne Weiteres mitvermittelt. Die Rede von einer ‚Unterbrechung‘, ‚Verfremdung‘, ‚Störung‘, ‚Sprengung‘ oder ‚Infragestellung‘ bestehender Orientierungen oder der Ausarbeitung von Diskursen, die ‚Anstoß zum Denken‘ geben, ‚überraschende Perspektiven‘ eröffnen, ‚neue Sehweisen‘ evozieren, ‚Ereignis‘ werden und ‚weiter bringen‘, verweist nicht automatisch auf die Komplexität der damit verbunden Fragen. Entsprechend selten werden diese Fragen explizit adressiert und zum Thema eingehenderer Erörterung. Hierzu suchte die Studie einen Beitrag zu erarbeiten, dessen Erhellungschancen, aber auch -grenzen durch einen dreifach abgesteckten Grundrahmen vordefiniert sind. So wurde die transformative Dimension der Predigt als praktisches, nicht als logisches Problem bedacht, konzentrierte sich die Untersuchung auf das Subjekt, nicht die Gesellschaft als Gegenstand der Veränderung und zog diese als Wirkungsfunktion und -interesse bzw. Wirkungsoption und -potenzial in Betracht, nicht als faktischen Effekt. Überhaupt wurde das interaktive Geschehen der Predigt senderseitig anvisiert; die es beeinflussenden Faktoren kamen nicht als eigenständige Größen in den Blick, sondern als Bedingungsmatrix, in deren Zusammenhang die Predigenden als kommunikative Akteure operieren. Auf Grundlage dieses Ansatzes orientierte sich die Untersuchung an acht Problemaspekten, die aus der Rekonstruktion rezenter Zugänge zur transformativen Dimension der Predigt heraus entwickelt wurden; die Sondierung dieser Zugänge musste dabei über eine bloße Erhebung des Forschungsstands insofern
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Teil F: Resümee
hinausreichen, als die themarelevanten Aspekte im Fall der Veränderungsproblematik häufig nicht offen zutage liegen, sondern erst kenntlich zu machen sind (Teil A). Der Bearbeitung des ‚strukturellen‘, ‚begrifflichen‘, ‚technischen‘, ‚konditionalen‘, ‚modalen‘, ‚ethischen‘, ‚kontextuellen‘ und ‚konzeptionellen‘ Problemaspekts diente ein vierseitiger Reflexionsraum, der sich im Kern aus Theorietraditionen aufbaut, die mit der Erörterung dreier kulturell etablierter Praktiken befasst sind, denen gemeinhin Veränderungsfunktion und Anregungspotenzial zugeschrieben werden: der Kritiktheorie als Reflexionsgestalt kritischer Praxis (Teil B), der Ästhetik als Reflexionsgestalt künstlerischer Praxis (Teil C) sowie der Rhetorik als Reflexionsgestalt persuasiver Praxis (Teil D). Diese Orientierung an lebensweltlich situierten Praktiken forderte sodann die Berücksichtigung ihres soziokulturellen Kontexts. Nach Maßgabe des verschiedentlich indizierten Zusammenhangs zwischen Veränderung und Vielfalt komplettierte der Rekurs auf Dynamiken der Diversität (Teil E) den Analyserahmen, innerhalb dessen die Problemaspekte der transformativen Predigtdimension erörtert wurden. Da diese komplex ineinander liegen, vollzog sich die Untersuchung nicht nach einem linearen Modell, demzufolge die einzelnen Problemaspekte nacheinander abschließend zu behandeln wären. Vielmehr schritt die Analyse im Sinne einer sich sukzessive anreichernden Schleifenbewegung fort, in der Fokusverlagerungen, Wiederaufnahmen, Verfeinerungen und Vertiefungen sowie Variationen und Ergänzungen peu à peu einen bestenfalls weiterführenden Ertrag einbrachten, der nun in seinen Grundzügen nochmals zu bündeln ist.
1
Leithorizont: Die Predigt als Reflexionspraxis
Den Leithorizont der Studie bildet ein Verständnis der Predigt, das diese als Reflexionspraxis begreift. Im Anschluss an Bertram können darunter kulturell mehr oder weniger institutionalisierte Vollzüge verstanden werden, die von den Mitgliedern einer sozialen Formation in Gebrauch genommen werden, um sich zu sich ins Verhältnis zu setzen, sich zu befragen und zu bestimmen. Reflexionspraktiken sind Medien der affektiv bestimmten, praktisch virulenten und situativ vermittelten Selbstverständigung. Sie geben einen der möglichen ‚Umwege‘, auf die der Mensch als self-interpreting animal nach Ricœur angewiesen ist; sie fungieren als einer der möglichen ‚Spiegel‘, ohne die er sich nach Danto nicht selbst zu Gesicht zu bringen in der Lage wäre. Wird Religion als ein Moment der Selbstverständigung angesehen, ist die Predigt als eine solche Reflexionspraxis beschreibbar. Im Kontext einer divers ausgefalteten Kultur der moralisch-spirituellen Selbsterkundung stellt auch sie ein Kommunikationsereignis dar, das ihre Teilnehmer in die Lage versetzt, sich in
Problemaspekte
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ihrer Selbstdeutung und ihrem Selbstentwurf zu thematisieren und in dem auszulegen, worauf es ihnen ankommt. Dass der Predigt darin homiletischerseits auch transformative Potenziale beigemessen werden, korrespondiert dann nur sowohl dem Bertramschen Begriff der Reflexionspraxis als auch den gegenwärtigen Einsichten in die Dynamik subjektiver Selbstverständigung wie einer beispielhaft mit Luther, Ricœur und Latour aufgerufenen Auffassung, wonach in Religion mehr zu erblicken sei als eine Instanz der Stabilisierung.
2
Problemaspekte
2.1
Zum strukturellen Problemaspekt: Die Dialektik von Transgression und Rekursion
In der Analyse des transformativen Potenzials der Predigt hat sich der strukturelle Problemaspekt als zentral erwiesen. Veränderungsprovokative Praktiken bestehen im Zusammenspiel zweier gegenläufiger Bewegungen: der Dynamik der Transgression wie der Dynamik der Rekursion. Konnte diese Dialektik schon durch die Annäherungen und Sondierungen des Einführungskapitels namhaft gemacht werden, bot insbesondere die Kritiktheorie ein begriffliches Instrumentarium an, um sie detaillierter zu entfalten. Eine anregungspotente Predigt ist als eine doppelte Kunst zu beschreiben. Als Kunst, Abstand zu nehmen, arbeitet sie an einem Diskurs, der es den Adressaten ermöglicht, ihr aktuelles Selbstverständnis zu transzendieren. Im Versuch, einen Spielraum der Veränderung zu etablieren, besitzt die transgressive Dynamik die Funktion, ‚Anderes‘, ‚Neues‘ und ‚Fremdes‘ situativ präsent zu machen. Um transformativ wirksam zu werden, müssen diese innovativen Komponenten zugleich situativ zugänglich sein. Dieser Funktion dient die rekursive Dynamik. Als Kunst, Bezug zu nehmen, arbeitet die Predigt an einem Diskurs, der es den Adressaten ermöglicht, sich die präsentierte Sicht auf Welt zu eigen zu machen. Ein solcher Diskurs unterliegt drei konkreteren Konditionen: Im Anschluss an Latour und Walzer formuliert ist er bestenfalls verständlich, relevant und plausibel. Der Erfüllung dieser Bedingungstrias, die prominent schon in der Niebergallschen Predigtlehre angedeutet ist, dient die Bewegung der Bezugnahme. Wo sie ausbleibt und Veränderung über ein Vokabular erörtert wird, das sich exklusiv über die Stichworte des Abstands, des Anderen, Neuen oder Fremden organisiert, würde der Transformationsbegriff halbiert. Eine Predigt mit Anregungspotenzial besteht folglich in der Kunst, simultan Abstand wie Bezug zu nehmen. Erst dadurch vermag sie einen Diskurs zu etablieren, in dem sich ihr Auditorium in einem verfremdenden Sinn (Transzendenzaspekt) wiederzuerkennen (Immanenzaspekt) vermag.
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Teil F: Resümee
Dass es sich dabei in der Tat um eine Kunst handelt, hat die rhetorische Besinnung unterstrichen. Die Dialektik von Überschreitung und Rekurs gibt keine starre Strukturvorgabe, sondern eine vielfach modulierbare Gestaltungsaufgabe, die kommunikativ je neu zu bewältigen ist. Die prinzipielle Variabilität des Verhältnisses von Nähe und Distanz bezieht sich dabei auf jeden das Predigtgeschehen bestimmenden Einzelfaktor, deren Arrangement sowie dessen temporalen Verlauf als eines event-in-time. Damit ist zum einen festgehalten, dass die diversen Bedingungsmomente der Predigtwirkung nicht per se als Instanzen der Transzendierung oder der Immanentisierung fungieren, sondern in der interpretativen Einschätzung der Predigerin und ihrer praktischen Ausgestaltung zu solchen werden. Zum anderen sind die Dynamiken der Transgression und Rekursion im Wortsinn als Dynamiken aufgerufen, die sich im Blick auf die Zeitspanne der Predigt periodisieren lassen sind. Um die Dialektik von Transgression und Rekursion in diesen Hinsichten auszuhandeln, stellt die rhetorische Tradition im Gedanken des aptum eine produktive Reflexionsfigur bereit. Sie weist in einen verzweigten Abstimmungsprozess ein, in dem die Verschränkung von Transzendenz und Immanenz nach Maßgabe der interpretativen Einschätzung und rednerischen Ausgestaltung eines multifaktoriellen Gesamtzusammenhangs praktisch je neu zu vollziehen ist. Wenn mit dem Gedanken des aptum innerhalb dieses Gesamtzusammenhangs das Auditorium als richtunggebende Instanz firmiert, stimmt dies mit der Akzentsetzung überein, die der Immanenzaspekt in Gestalt des Anschlussprinzips im Zusammenhang des rhetorischen Nachdenkens wie in Walzers Konzeption eines connected criticism erfährt. Je kommen die Hörer nicht erst ex post im Horizont von Vermittlungsfragen in den Blick, um die Kommunikativität eines vorgefassten Textes zu sichern; sie bestimmen den Prozess seiner Konzeption und Aufführung ab ovo. Mit Kopperschmidt formuliert lanciert ein immanenter Ansatz ein Reden, das nicht nur zu oder gar bloß vor, sondern aus seinem Publikum heraus spricht. Mit dem kritiktheoretischen Entwurf von Walzer und dem persuasionstheoretisch ausgewiesenen Prinzip des Anschließens ist ein Hintergrund gewonnen, vor dem die Predigt auch dann in ihren transformativen Potenzialen nicht nur behauptet, sondern plausibilisiert werden kann, wenn sie im Paradigma der Deutung konzipiert wird. Anders als Bohrens berühmte Einwände gegen Lange insinuieren, muss ein konsequenter Anschluss an die Lebenswelt der Hörer nicht mit streng affirmativen Wirkungen einhergehen, schließen sich Situationsbezug und Situationsdistanz nicht aus. Im Gegenteil: Eine Predigt, die ‚mit dem Hörer über sein Leben spricht‘ und seine Erfahrungen insofern nicht nur als Zielpunkt begreift, sondern als Ausgangspunkt und permanenten Gegenstandsbereich ihrer interpretativen Tätigkeit, stellt
Problemaspekte
365
sich als Medium der Selbsterweiterung nicht ins Abseits, sondern setzt sich als solches ins Werk.
2.2
Zum begrifflichen Problemaspekt: Jenseits der Sensationen der Veränderung
Angesichts der vielschichtigen Dialektik transgressiver und rekursiver Dynamiken stellt sich eine Dichotomisierung von Affirmation und Transformation für die Erörterung der Wirkungsdimension des Predigtgeschehens als wenig hilfreich dar. Sosehr die Kompetenz, beide Wirkungsmodi zu unterscheiden, mit Streib für eine hermeneutisch behutsame Praktische Theologie einzufordern ist, sosehr verwehrt ihre Entgegensetzung hinreichend differenzierte Analysen. Schon jenseits einer empirischen Erkundung der faktischen Effekte einer Predigt, legt der Begriff transformativer Praxis nahe, das Verhältnis zwischen Veränderung und Bestätigung nuanciert im Sinne eines relationalen Kontinuums zu beschreiben. Untersuchungsimmanent empfahl sich jedenfalls – ausgehend von der homiletischen Erörterung von Hermelink und Müske, über Walzers kritiktheoretische Überlegungen und die Seelsche Explikation eines existenziellen Begriffs ästhetischer Erfahrung bis zu Millers klassischer Differenzierung persuasiver Effekte – eine Typologie, die Affirmation und Transformation nicht als krude Alternativen begreift. Nach wie vor analytisch-abstrakt lassen sich dabei unter den Chiffren des ‚Revolutionären‘ oder des ‚Umsturzes‘ radikalere Veränderungserfahrungen heuristisch von moderateren abheben, in denen unsere bisherigen Orientierungen lediglich einen Stoß erfahren, sich ‚reformieren‘ oder ‚umstellen‘. An den kohibitiven Zug in der predigttheoretischen Beschreibung transformativer Effekte anknüpfend sowie den Immanenzaspekt transformativer Praxis stark machend hat die Studie immer wieder versucht, das Spektrum gerade der moderateren Wirkungen exemplarisch auszuloten, um damit die leicht übersehbaren Anregungschancen auch konsequent adressatenrelativer Verfahren auszuweisen. Mit der Analyse von Reframingprozessen, der Eigenart argumentativer Praxis und des Sich-Wiederkennens in einer Darstellung richtete sich der Fokus auf Transformationen im kleineren Maßstab: auf die subtilen, partiellen, unscharfen Veränderungseffekte, die in der dichotomischen Rede von Affirmation und Transformation aus dem Blickfeld geraten müssen. Gleichwohl verharren auch diese nicht notwendig im schmalen Innenraum eines ansonsten starren Rahmens; sie können an Komponenten desselben heranreichen, um dadurch auch ihn in Bewegung zu bringen. Auf der Skala der Veränderung kamen ferner Erfahrungen zu stehen, die wir als Vergewisserung oder Vertiefung erleben, in denen die Überschreitung also inwärts gerichtet ist und sich intransitiv vollzieht. Wie immer man die Auswei-
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Teil F: Resümee
tung des Transformationsbegriffs auf solche Erfahrungen bewerten mag, stellt sie doch markant heraus, dass auch hier etwas ‚geschieht‘. Erfahrungen, in denen wir in einer Sichtweise, einer Stimmung oder einem Handlungsmuster bekräftigt werden, ‚machen‘ etwas mit uns. Daraus ist zunächst zu folgern, dass nicht allein im geläufigen Sinne auf Veränderung zielende Praktiken einen normativ bedeutsamen Anspruch mit sich führen. Einen Diskurs anzustreben, der meinen Gesprächspartner in einer bestimmten Facette seines Selbstbilds bestärkt, ist ebenso ein Wertungsakt, der stets mit der Frage konfrontiert werden kann, weshalb genau diese Facette der Vergewisserung oder Vertiefung würdig ist. Sodann meldet sich in dieser Betrachtung der Bekräftigung ein dynamisches Verständnis des Bewusstseins an. An den Kategorien der Überzeugung, des Selbstverständnisses oder der Religion wurde wiederholt der Gedanke durchgespielt, dass uns unsere Sicht auf Welt nicht im Sinne eines Besitzstandes zu eigen ist, den man wie ein Ding ‚erhält‘, ‚hat‘ und ‚abgibt‘. In Abhängigkeit einer Fülle von Einflüssen ist sie permanent im Werden begriffen, wobei sich Prozesse der Formierung, Bewährung, Vertiefung, Umbildung oder des Umsturzes komplex überlagern.
2.3
Zum technischen Problemaspekt: Die Predigt als Integrationstypus
Wie namentlich Walzers kritiktheoretischer Entwurf deutlich gemacht hat, befördert eine nichtdichotomische Explikation des Verhältnisses von Affirmation und Transformation ein Konzept veränderungsinteressierter Praxis, das auf einen Sinn fürs Detail auch in der Wirklichkeitswahrnehmung abstellt. Wenn Effekte der Veränderung Momente der Bestätigung einschließen und die Bewegung der Distanznahme mit der Bewegung der Bezugnahme verschränkt bleibt, avanciert ein spezifischer Realitätssinn zur Voraussetzung erweiternder Rede: Sie bedarf eines genauen Blicks, der pauschale Beurteilungen zugunsten differenzierter Beobachtungen vermeidet, sich die Neugier für das Besondere bewahrt und die ‚Dinge‘ nach dem Modell der Geertzschen thick description oder der soziologischen Doppelhermeneutik nicht als bruta facta, sondern im lebensweltlichen Bewandtniszusammenhang der sozialen Akteure wahrzunehmen vermag. Auch als veränderungsinteressierte Praxis ruht die Predigt auf einer sensiblen Situationshermeneutik auf. Die Kultivierung einer solchen Wahrnehmung erschwert es, die homiletische Rede von Veränderung in ein dualistisches Schema einzupassen, demzufolge die ‚Wirklichkeit des Menschen‘ oder die ‚Situation der Hörer‘ en bloc als defizitär und zu Veränderndes erscheint. Überhaupt lanciert sie die Ausarbeitung einer Rede, in der sich die Veränderungsfunktion in spezifische Ziele umsetzt und von
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einem Bewusstsein getragen ist, „was warum woraufhin verändert werden soll“1. Andernfalls droht das Motiv der Veränderung zu einem Klischee zu degenerieren, das dem predigttheoretischen Selbstverständnis zwar noch floskelhaft aufsitzt, sich aber nicht mehr in eine kommunikative Praxis überträgt, in der konkrete Lebensbelange verständlich, relevant und überzeugend thematisch werden. Jenseits einer religiös motivierten Pauschalisierung des Bestehenden kann der Blick dann überhaupt frei werden für die Mehrdeutigkeiten unserer Erfahrung, der biographischen und situativen Bedingtheit unserer Weltansicht, den heterogenen Bezügen, in denen wir unser Leben auslegen, und den Tensionen in unserer Selbstinterpretation. Aus dieser Perspektive stellt sich das Bestehende nicht als pure Faktizität dar, sondern als ein durch die sozialen Akteure komplex hervorgebrachter Zusammenhang, in dem sie selbst über sich immer auch schon hinaus sind. Die Doppelstruktur der Selbstinterpretation schärft den Blick für den Möglichkeitshorizont, in dem sich das Leben der Hörer je schon vollzieht. Einer Rede, die Überschreitung und Rekurs zugleich sucht, gibt diese ‚reale Virtualität‘ einen elementaren Gegenstand, kommt hier der rekursiven Bewegung eine transgressive doch sozusagen schon entgegen. Eine sensible Situationshermeneutik hätte daher einen Sinn gerade für die topischen Utopien und immanenten Transzendenzen zu entwickeln, um – in Anlehnung an Grözinger gesprochen – die Hörer nicht nur in dem zu ‚entdecken‘, was sie sind, sondern auch in dem, was sie sein möchten. So betrachtet ist eine veränderungsinteressierte Predigt immer auch ganz wesentlich ein Beitrag zur Arbeit am Selbstentwurf – und dies nicht nur dahingehend, dass sie kraft ihrer transgressiven Funktion ihre Adressaten ganz unvermeidlich in ihrem Möglichkeitssinn engagiert, sondern auch insofern, als sie in ihrer rekursiven Funktion die lebensweltlich kursierenden Ideale und Werte, Aspirationen und Hoffnungen aufspürt und kommunikativ bearbeitet. Sie zielt auf den semantischen Überschuss in den Sprachen der Selbstverständigung, um von ihm her die Hörer zu ‚erfinden‘ und ihre positiven Gegenbilder zu entwerfen. Folglich gibt ein differenzsensibler Realitätssinn insgesamt die notwendige Voraussetzung, um aus dem Auditorium heraus zu sprechen und die Überschreitungsbewegung im Sinne einer Fortkonstruktion – nicht als Konfrontation – zu realisieren bzw. Veränderung in der Figur des Übergangs – nicht eines Bruchs – zu begreifen: Mit Taylor formuliert wäre auch die Predigt in ihrer Veränderungsfunktion eher als proposition of transition zu beschreiben denn als cut, der Vertrautes und Unvertrautes konfrontiert. Auf Verfahrensebene standen zunächst drei Prozeduren im Fokus, die sich am Modell einer solchen Fortentwicklung resp. Transition orientieren: Verfahren der Darstellung, Argumentation und (Re-)Interpretation. Ausgehend von Walzer 1 Weyel, Ostern, 249.
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Teil F: Resümee
wurden sie in den Reflexionskontexten der Ästhetik und Rhetorik näher untersucht. Ohne die einzelnen Analysen hier nochmals rekapitulieren zu können, wurden alle drei Prozeduren als Operationen kenntlich, die, obgleich sie aus einem konsequenten Anschluss an die Erfahrungskontexte der Adressaten heraus leben, Transzendierungspotenziale entfalten und rekursive wie transgressive Dynamiken verschränken: Ob in der Vergegenwärtigung von Seinsweisen, der Exemplifikation von Erfahrungsschemata, im argumentativen ‚Diskutieren von Existenzmöglichkeiten‘ oder ihrer interpretativen Erschließung – je muss die Predigt nicht einfach auf Anderes ausgreifen, um ihre Hörer sich gleichwohl anders zu Gesicht zu bringen. Aufgrund seiner eher marginalen Stellung innerhalb der homiletischen Diskussion lag ein besonderes Augenmerk auf der Praxis der Argumentation. Nicht zuletzt an ihrem Beispiel ist deutlich geworden, dass die drei Verfahren vielfältig zusammenspielen können, sich nicht gegenüberstehen und daher, wie schon Wilson gezeigt hat, auch nicht zu grundsätzlichen Predigtalternativen hochstilisiert werden sollten, um einer bestimmten homiletischen Programmatik Stoßkraft zu verleihen. Gerade wenn solche Stilisierungen ausbleiben, kommt auch unter dem Begriff der Argumentation ein vitaler Kommunikationsmodus zum Vorschein, der nicht auf definitorisch eingehegte Sprachsysteme, formalisierte Schlussketten, streng deduktive Logik oder Emotionsfreiheit zu reduzieren ist, sondern am nur interpretativ zugänglichen und notwendig affektiv bestimmten Ort lebensweltlicher parole im Rückgriff auf den ganzen Reichtum des sprachlichen Ausdrucks und seiner Arrangierungsmöglichkeiten nach Gründen sucht, die den Gesprächspartner auch rational zu überzeugen vermögen. So verstanden sollte Argumentation als genuines Verfahren auch der Predigt betrachtet werden können. An diesem Zusammenspiel partizipieren ebenfalls Verfahren, mittels derer sich das Predigtsubjekt in das Predigtgeschehen kommunikativ einbringt. Sosehr die expressive Funktion häufig weniger durch konkrete Einzelprozeduren zu realisieren ist, sondern sich über die Art der Vorbereitung, Ausgestaltung und Aufführung der Predigt insgesamt umsetzt, sosehr ist sie doch als Operationsmodus in den Blick zu rücken. Besonders wenn das Predigtsubjekt so akzentuiert wird, wie es im Verlauf der Untersuchung geschehen ist, kann seine wie auch immer vermittelte Wahrnehmbarkeit im Predigtgeschehen nicht als unweigerlicher Effekt begriffen werden, sondern ist als Gestaltungsaufgabe herauszustellen. Im Horizont des technischen Problemaspekts zeigt sich Predigt folglich nicht allein als Kunst der Darstellung, Argumentation und (Re-)Interpretation; sie ist ebenfalls eine Kunst der Subjektivierung. Als solche korrespondiert sie ihrer Verbindlichkeitsstruktur sowie ihrer aktuellen Aufführungsgestalt und trägt auch ihrer religiösen Eigenart Rechnung, sofern religiöser Kommunikation im Sinne von Nassehi weithin ein Authentizitätsimperativ unterliegt. Analog zu den
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anderen drei Verfahren kann auch das Einbringen der eigenen Subjektivität in rekursiver wie transgressiver Funktion erfolgen; sie dient der Evokation von Vertrauensgefühlen oder Relevanzempfinden wie dem Aufbau eines Eigensinns, der die Hörer herauszufordern vermag. In der Metaphorik von Walzer formuliert ist die Predigt demzufolge nicht nur insofern eine komplexe Spiegelungskunst, als der Betrachter sich in ihr sowohl in seinen Selbstdeutungen und Selbstentwürfen wiedererkennen als auch in einem verfremdeten Sinn ansichtig werden soll und darin sowohl Momente seiner durch Deutung und Entwurf konstituierten Wirklichkeit als veränderungswürdig begreifen als auch die Idee oder das Bild einer darüber hinaus gehenden wünschenswerten Existenz entdecken soll. Sie ist komplex auch dahingehend, als zum Aufbau dieses Spiegels diverse Verfahren zu integrieren sind: Ihr Spiegel vergegenwärtigt, gibt Gründe, interpretiert und zeigt immer auch etwas von dem, der ihn vorhält.
2.4
Zum konditionalen Problemaspekt: Die Signifikanz des Predigtsubjekts
Das Predigtgeschehen, verstanden als aktuelle Interaktion zwischen Predigerin und Auditorium, ereignet sich in einem mannigfach bestimmten Bedingungsraum, der sich aus einer Reihe von situativen, medialen und textuellen Faktoren konstituiert. Im Verlauf der Untersuchung wurden einzelne Komponenten dieses Bedingungsraums ausgiebiger bedacht, so wenn auf textueller Ebene die Funktionslogik bestimmter Predigtverfahren erörtert wurde, im Zusammenhang des Aufführungskonzepts Strukturen primärmedialer Kommunikation ins Blickfeld rückten oder mit der Analyse des soziokulturellen Kontexts sowie des gottesdienstlichen Settings peristatische Facetten des Predigtgeschehens in die Reflexion Eingang fanden. Ohne die Homiletik programmatisch auf die gottesdienstliche Rede einschränken zu wollen, stand der Untersuchung die Predigt pragmatisch primär als Element eines liturgischen Zusammenhangs vor Augen. In Bezug auf die Frage ihrer transformativen Dimension liegt dies insofern nahe, als rituelle Phänomene lange Zeit überwiegend als affirmative Instanzen in Betracht gezogen wurden und sonach auch die Predigt entweder in ihrem Anregungspotenzial desavouiert werden musste oder allein gegen ihr liturgisches Setting als erweiternde Rede aufzuweisen war. Anknüpfend an rezente Entwicklungen innerhalb der liturgiewissenschaftlichen Debatte wurde im Horizont des Turnerschen Liminalitätskonzepts sowie Fischer-Lichtes Konzeption ästhetischer Erfahrung demgegenüber eine Perspektive herausgearbeitet, in der das gottesdienstliche Ritual nicht auf seine stabilisierenden Funktionen reduziert werden muss, sondern als Medium auch der Selbsterweiterung firmieren kann. Sowohl ein ritualtheoreti-
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Teil F: Resümee
scher Zugriff als auch aufführungsbezogene Überlegungen sowie die Interpretamente des Spiels oder Festes erlauben es, den Gottesdienst nach Boltanskis Modell des metapragmatischen Registers auszulegen. Demzufolge erschließt der Gottesdienst als außeralltägliche Suspensionsprovinz gerade neue Bezugnahmen auf den Alltag und involviert damit transgressive wie rekursive Dynamiken. Entsprechend muss das liturgische Setting nicht als Hindernis, sondern kann als Ferment der Transformativität der Predigt interpretiert werden. Nach Maßgabe des Untersuchungsansatzes, der das Predigtgeschehen vom Beitrag seines rednerischen Subjekts aus anvisiert und die Predigerin als Aktionszentrum voraussetzt, kommt auch das liturgische Setting nicht als objektive Determinante in Betracht. Im Verbund mit allen anderen Faktoren zeigt es sich als Teil einer komplexen Bedingungsmatrix, die der Predigerin nicht einfach vorgegeben ist, sondern zu der sie sich verstehend wie gestaltend verhält. Aus dieser Perspektive erscheint der konditionale Zusammenhang als hermeneutische Herausforderung und praktischer Möglichkeitsraum, dessen Komponenten nicht per se wirken, sondern vermittelt durch die interpretative Einschätzung und rednerische Ausgestaltung der religiösen Sprecherin. Sie sind Teil des durch das aptum angeleiteten Abstimmungsprozesses, in dem sie nach Maßgabe des Anliegens der Predigerin in ihren rekursiven und transgressiven Potenzialen erschlossen und ausgemünzt werden. Vor diesem Hintergrund muss die Instanz des Predigtsubjekts für die Frage nach der transformativen Dimension der Predigt entscheidend an Relevanz gewinnen, prägen seine erkenntnisleitenden Interessen, persönlichen Plausibilitätsannahmen, stilistischen Präferenzen und andere Charakteristika die Einschätzung und Ausgestaltung der multifaktoriell bestimmten Predigtaufgabe doch je mit. Freilich muss mit der Herausstellung der Predigenden als Akteure keine renitente Subjektivität unterstellt werden, an der sich die verschiedenen Predigtfaktoren widerstandslos brächen. Im Gegenteil: Als Verstehens- und Gestaltungsaufgabe konstituieren sie einen Bildungsraum, in dem sich die Subjektivität der Predigerin potenziell mitformiert. In Auseinandersetzung mit der Überlieferung, der Wahrnehmung der agendarischen Skripte, dem Aufmerken auf aktuelle Erfahrungssituationen, der Sondierung mutmaßlicher Plausibilitätsressourcen, der Suche nach attraktiven Formulierungen etc. entstehen Möglichkeiten neuer Einsichtnahme, wird das Predigtsubjekt affektiv spezifisch gestimmt oder in dem, was ihm bis dato als relevant erschien, herausgefordert. Als Niederschlag eines solchen Verstehens- und Gestaltungsprozesses kommt die Predigt als eminent subjektiv bestimmter Diskurs zu stehen. Dass ein engagiertes Entsprechen dieser Bestimmtheit auch in transformativer Hinsicht besondere Potenziale besitzt, hat vor allem der Rekurs auf die Rhetorik erwiesen. Als Kunst der Subjektivierung verspricht die Predigt, in einem die Aspekte der Immanenz und Transzendenz ineinander zu blenden: Wo Predi-
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gende sich mit der eigentümlichen Perspektivität ihres Weltzugangs nicht aus dem Predigtgeschehen herauszuhalten suchen, sondern ihren Beitrag so konzipieren und zur Aufführung bringen, dass er als Reflex eigenen Verstehens, persönlicher Relevanz und subjektiver Überzeugung rezipiert werden kann und merklich etwas von ihrem Selbstverständnis mitteilt, erhält dieser nicht nur (1) einen herausfordernden Idiolekt, sondern trägt (2) zum Relevanzempfinden auch der Hörer bei, arbeitet (3) dem Glaubwürdigkeitswert der ἀρετή zu, der unter ethischen Gesichtspunkten (4) der Ermöglichung von Aneignungsprozessen dient – in corpore Komponenten, die für einen lebendigen Austausch über Religion unterstellt werden können.
2.5
Zum modalen Problemaspekt: Die Intentionalität der Predigt
Dass die Signifikanz des Predigtsubjekts nicht nur dem Ansatz der Studie geschuldet ist, sondern einen Anhalt in der Kommunikationsstruktur des Predigtgeschehens besitzt, wurde primär über die ihm eigentümliche Verbindlichkeitsstruktur zu plausibilisieren versucht, die vor dem Hintergrund einer Analyse der Spezifik ästhetischer Erfahrung oder unserer Reaktionen auf fiktionale Größen auffällig wird. So dürften wir die Predigt für gewöhnlich als einen Diskurs voraussetzen, dessen Sprecher insgesamt besehen auf unser believe zielt und nicht ein make-believe intendiert; wir unterstellen, dass er von der Plausibilität seiner Botschaft subjektiv überzeugt ist und halten es nicht für belanglos, welches Verhältnis er selbst zu ihr unterhält; wir behaften ihn auf die Verteidigungsregel und finden es nicht absurd, ihn für das Vernommene verantwortlich zu zeichnen; folglich stellen wir den präsentieren Sinn als Sichtweisenangebot eines lebensweltlich konkreten Akteurs in Rechnung, von dessen Anspruch wir uns nicht nach Gutdünken unter Berufung auf das Bloß des Spiels dispensieren. Insofern eignet der Predigt ein prägnanter Verweisungsbezug auf ihr Subjekt, der dann nur noch nachdrücklicher zutage tritt, wenn die Predigt im Horizont des Aufführungskonzepts als aktueller Vollzug perspektiviert wird, in dem uns ihr Subjekt personal gegenübertritt und leibhaft präsent wird. Anders als beim schriftlichen Diskurs nehmen wir die Bedeutung des Gesagten unter dieser Bedingung ohne größere Vorbehalte als Ausdruck des von ihm gemeinten Sinns. Unterstützt werden diese kommunikationsstrukturellen Anhalte durch ein in Teil E kenntlich gewordenes religionsstrukturelles Argument. Nimmt man die Diagnose einer Subjektivierung als ein charakteristisches Merkmal der aktuellen conditions of belief, zeigt sich die Predigt als religiöse Rede auch in dieser Perspektive als ein Sprechakt, der der Erwartung unterliegt, etwas vom Selbstverständnis seines Subjekts mitzuteilen.
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Teil F: Resümee
Da uns im Fall der Predigt diese Mitteilung nicht im Modus freier Expression, sondern direkter Adressierung begegnet, schreiben wir diesem Subjekt gemeinhin eine doppelte Intention zu: Wer sich als Angesprochener erfährt, schließt auf einen Sprecher, der kommunizieren möchte und durch diesen Kommunikationsakt etwas zu erreichen sucht. Als Form direkter Adressierung wird die Predigt folglich als ein gerichtetes Reden beschreibbar, dessen Subjekt nicht absichtslos, sondern intentional agiert und in inszenatorischer Einstellung Strategien und Taktiken erkundet, um Kommunikation herzustellen (1) zum Zweck, dadurch etwas zu bewirken (2). Dass es dabei auch um die Akzeptanz eines unterbreiteten Deutungsangebots gehen kann, wurde gezeigt; auch der Zustimmungserfolg als das persuasionsspezifische Telos kann als ein genuines Predigtinteresse konstatiert werden – zumindest wenn die Näherbestimmungen berücksichtigt werden, die die Zustimmungskategorie sukzessive erhalten hat. Zustimmung ist nicht nur Reflex einer Restrukturierung des Bewusstsein, die variierende Grade annehmen kann, sondern auch: Ausdruck einer Plausibilitätserfahrung, nicht Reaktion auf unmittelbare Evidenz oder strikten Beweis; Bilanz einer Differenzierung, nicht ein Nullsummenspiel, demzufolge Beiträge entweder abgelehnt oder akzeptiert werden; Momentum einer komplexeren Erfahrungsgeschichte, nicht ein temporales Absolutum, das Ansichten einfach auf Dauer stellt; sowie Resultat einer Aneignungstätigkeit, die allenfalls provoziert, nicht produziert wird. Die letzten drei Bestimmungen sind überhaupt typisch für die Qualität des Wirkungseffekts, der von einer Predigt als veränderungsinteressierter Praxis zu erwarten ist: Indem die Adressaten nach Maßgabe der Einsichten der Rezeptionsästhetik wie der Wahrnehmung der aufführungstheoretisch ausgewiesenen Feedbackschleifenstruktur nicht als passive receiver, sondern als dezidiert aktive, kreativ rezipierende und sinndeutende Instanzen firmieren, basieren die Effekte der Predigt schon in unmittelbarer Vollzugsperspektive auf subjektiven Verarbeitungsleistungen, die das vermeintliche Ideal einer verlustfreien Wirkungsübertragung bzw. einer Identität von intentionalem Reiz und faktischer Reaktion als hinfällig markieren. Die Effekte der Predigt bestehen notwendig in individuellen, biographisch und situativ bestimmten Selektionen, Umdeutungen, Konkretisierungen etc. Dies gilt analog in längerfristiger Perspektive. Wie gesehen steht insbesondere das Interesse an Plausibilisierung einer Einklammerung der temporal externen Predigteffekte entgegen, können so dezidiert überzeugungsinteressierte Verfahren doch nur eingeschränkt begründet werden und droht überhaupt eine Ausdünnung der rekursiven Dynamiken. Auch für diese nachgängigen Wirkungen ist allerdings kein simplifizierendes Kontinuitätsmodell zu unterstellen. In gewisser Weise ist schon der Begriff der Längerfristigkeit irreführend, legt er doch nahe, dass ein seinem Gehalt und seiner Stärke nach identischer Effekt sich
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einfach länger oder kürzer durchhält. Die extrinsischen Wirkungen sind vielmehr als Fortwirkungen zu verstehen: als Effekte, die in der Weite und Dichte der vollzugsexternen Lebenspraxis durch eine Fülle an Faktoren – unter denen nicht zuletzt dem personalen web of interlocution eine wichtige Rolle zukommen dürfte – permanent fortbestimmt werden. Folglich ist das Wirkungspotenzial der Predigt nicht deterministisch oder poietisch auszudeuten. Sosehr die Effekte einer Predigt vom Handeln der Predigerin abhängig sind und von ihren Inszenierungskalkülen bestimmt werden, sowenig sind sie vollständig kontrollierbar. Die Lenkungskapazität der Predigenden ist kein Produktions-, sondern ein Provokationsvermögen, das, gleichwohl es am eigenen Gelingen orientiert ist, dasselbe doch nicht garantieren kann. Die intendierten Effekte sind kontingente Effekte; auch wo das intentionale Moment stark gemacht wird, bleibt die Predigt stets „wirkungsunsicher“2 und lässt sich nicht im Rahmen eines behavioristischen Erklärungsansatzes verständlich machen. So besehen existieren im Übrigen überhaupt keine mit der Predigt per se schon gesetzten Effekte – zumindest nicht solche, die gemeinhin in der Reflexion auf ihre Aufgabe erörtert werden. Erbauung, Ermutigung, Belehrung, Vergewisserung, Verständigung etc. sind stets Wirkungen, die ihr nicht wie das ‚Nasswerden‘ dem ‚Schwimmen‘ durch puren Vollzug zukommen. In diesem Sinne besitzt die Predigt ihren Zweck nicht in sich selbst. Stets kommt es auf die Art und Weise ihrer Gestaltung an und dann auf eine Fülle von Faktoren, ob Predigten einen Beitrag zu der ihr prinzipiell oder konkret zugewiesenen Aufgabe leisten.
2.6
Zum ethischen Problemaspekt: Das Kriterium der Aneignungstauglichkeit
Wird der intentionale Charakter in Rechnung gestellt, muss der ethische Problemaspekt mit Nachdruck in den Vordergrund treten. Er lässt sich in der Frage zuspitzen, ob ein dezidiertes Wirkungsinteresse aufseiten der Predigenden das Autonomieinteresse aufseiten der Hörenden nicht konterkarieren muss. In der Entwicklung einer Antwortperspektive gab Walzers Behauptung den Ausgangspunkt, Gesichtspunkte der Effektivität wie Gesichtspunkte der Symmetrie in der Emphase der Immanenz angemessen berücksichtigen zu können. Während ein sorgsam ausgearbeiteter Adressatenbezug einerseits ein erfolgreiches Sprechen zwar nicht garantiere, aber doch entscheidend bedinge, insofern sich erst über ihn ein Diskurs aufzubauen vermag, der Verständlichkeit, Bedeutsamkeit und Plausibilität beanspruchen kann, steht er andererseits – in2 Kramer, Politik, 103.
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Teil F: Resümee
terpretiert im Licht des zweiseitigen Autoritarismuskonzepts von Cooke – für ein nichtrepressives Sprechen ein, das die Rezipienten in ihrem eigenen Urteil engagiert und die Gültigkeit der propagierten Sicht auf Welt nicht abseits der Sprachen, in denen sie sich auslegen, der Themen, die ihnen dringlich erscheinen und der Plausibilitätsressourcen, die ihnen zugänglich sind, ausweist bzw. gegenüber ihren kritischen Rückfragen immunisiert. Im Gespräch mit Bieri wurde diese Behauptung im Horizont rhetorischer Erwägungen aufgenommen und weitergeführt. Dabei erwies sich die schon von Ricœur im Kontext der Texthermeneutik und von Jaeggi im Zusammenhang des Sichselbstverstehens aufgerufene Kategorie der Aneignung als fruchtbar. Gemäß ihrer reziproken Transformativitätsstruktur signalisiert die Aneignungsvorstellung nicht allein eine Veränderung des Aneignenden durch das Angeeignete, wodurch die Wirkungsintention eines veränderungsinteressierten Akteurs eingeholt werden kann, derzufolge die präsentierte Sicht auf Welt dem Gesprächspartner bestenfalls nicht fremd bleibt, sondern zu einem relevanten Faktor seiner Selbstverständigung wird. Vielmehr verweist das Aneignungskonzept zugleich ebenso auf eine Veränderung des Angeeigneten durch den Aneignenden. Das Aneignungskonzept wird damit transparent auf den Autonomiegedanken. Der Aneignende tritt als dezidiert aktive Instanz in Erscheinung, nicht als Spielball externer Kräfte. In den Prozess seiner Veränderung ist er als perzeptiver, verstehender und wertender Akteur involviert: Transformation vollzieht sich mit ihm, nicht an ihm. Versucht man, die Absicht auf Wirkung und den Anspruch auf Autonomie in diesem Sinne über die Aneignungskategorie zu assoziieren, erfährt Walzers Verweis auf die Rekursivität eine spezifische Qualifizierung. Sofern die Erfahrung, aktiv am Diskursgeschehen beteiligt zu sein, dort erodieren muss, wo der Eindruck entsteht, mein Gesprächspartner gebe bestimmte Gründe allein zum Schein, simuliere nur Dringlichkeiten, hinter denen er selbst nicht zu stehen vermag oder mimt einen Sprachgestus lediglich, muss die Anschlussbewegung ihre Grenze in der Aufrichtigkeits- oder Wahrhaftigkeitsregel finden. Der Sprecher vermag an das Auditorium immer nur soweit anzuschließen, als er den daraus entwickelten Text selbst zu verantworten vermag. Pointierter als bei Walzer lässt sich über die Aneignungskategorie auch das Zusammenspiel kognitiver und emotiver Prozesse ausweisen. Indem das Predigtgeschehen im komplex bestimmten Raum des real talk zu stehen kommt, in dem die Subjekte im Sinne des konkreten Subjekts von Ueding und Steinbrink kommunikativ aufeinander bezogen sind, wirken auch strenger auf unsere rationalen Vermögen abgestellte Verfahren nie in Reinform, sondern im Verbund mit Affekten diverser Art; und mit der Kategorie der Aufrichtigkeit steht dann überhaupt die Empfindung des Vertrauens im Zentrum eines Diskursgeschehens, in dem man sich als selbstständig erfahren kann. In der Tat dürften wir
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Rezeptionen auch dort als Vollzug persönlicher Freiheit erleben können, wo wir emotional angesprochen sind; andererseits hemmen oder sabotieren exklusiv auf emotionale Appelle getrimmte Beiträge, die uns als denkende, verstehen wollende und nach Gründen fragende Wesen übergehen, Aneignungsprozesse. Im Blick auf den ‚ethischen‘ Problemaspekt wäre das intentional eingestellte Subjekt der Predigt also auf das Kriterium der Aneignungstauglichkeit zu behaften – und damit auf ein rhetorisches Handeln, das über eine mehrschichtige rekursiven Dynamik organisiert ist, die dem rational-emotionalen Doppelcharakter der Aneignung Rechnung trägt und ihre Grenze in einer gelingenden Aufrichtigkeitspräsentation besitzt.
2.7
Zum kontextuellen Problemaspekt: Die Predigt als Teil einer dynamischen Kultur moralisch-spiritueller Selbstverständigung
Im Gespräch mit soziologischen und philosophischen Reflexionsansätzen, die sich der heute breit akzeptierten Annahme einer Pluralisierung auch des religiösen Feldes stellen und sie in ihren Strukturen und Konsequenzen aufzuhellen suchen, wurde deutlich, dass diese drei Bedingungskomponenten einen Widerhall in den aktuellen conditions of belief finden können. Namentlich im Horizont einer individualisierungstheoretisch informierten Analyse der Dynamiken der Diversität werden die Bedingungen des moralischspirituellen Lebens nicht nur überhaupt auf die in ihnen verankerten Autonomieansprüche transparent, insofern die Bestimmung dessen, was im Leben von ausschlaggebender Bedeutung sein soll, der Eigenregie der Subjekte wenigstens sozial attribuiert wird. Ebenso kann die in ihrer triadischen Struktur herausgearbeitete Tendenz auf Subjektivierung die rekursive Dynamik der Predigtpraxis stützen. So wirkt nach Taylor der religiöse Diskurs auch dort, wo er auf große Transzendenzen ausgreift, allein im Modus subtiler Sprachen, die den Subjekten nicht äußerlich bleiben, sondern persönliche Resonanzen erzeugen; auch in der Rede von Gott müssen die Subjekte sich wiederfinden können (Modus-Aspekt). Mit Nassehi wäre das dominante Bezugsproblem religiöser Kommunikation in der Kohärenz des Selbst zu behaupten; in ihr wird weniger der Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens als der Zusammenhang des subjektiven Lebens in der Vielfalt seiner biographischen Erfahrungen bearbeitet (Sach-Aspekt). Nach Knoblauch schließlich haben sich gerade im Rahmen der Digitalisierung Kommunikationsstrukturen herausgebildet, in denen es Personen zur Gewohnheit geworden ist, als Individuum adressiert zu werden (Adress-Aspekt). Vor diesem Hintergrund ist der Ruf nach Rekursion gewissermaßen soziostrukturell abgestützt: An die religiöse Rede ergeht die Erwartung, sich in den eigenen Sprachen der Weltauslegung, den Themen, die einem selbst bedeutsam erscheinen, und
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den Plausibilitäten, die aus der persönlichen Lebenserfahrung heraus zugänglich sind, zu Gesicht zu kommen. Taylors Konzept der subtilen Sprache ist sodann als Hinweis auf die rationalemotionale Doppelstruktur der Aneignung lesbar. Zumindest klingt in seiner Explikation die Idee einer Argumentation an, die sich insofern in einem ad hominem mode vollzieht, als sich die Subjekte in den vorgebrachten Gründen immer auch stimmungsmäßig wiederfinden können müssen, wie überhaupt die Quellen des Selbst auf einen Artikulationsmodus angewiesen sind, der ebenso affektive Resonanzen zu erzeugen vermag. Mit Taylors Konzept der subtilen Sprache ließen sich damit Beschreibungslinien aufnehmen, die einerseits davon ausgehen, dass Plausibilisierungsverfahren gerade dort an Bedeutsamkeit gewinnen müssen, wo Selbstverständlichkeiten pluralitätsbedingt fraglich werden, andererseits aber hervorheben, dass die Plausibilität moralisch-spiritueller Selbstdeutungen nur selten nach streng rationalen Gesichtspunkten beurteilt wird, sondern im Sinne von Schnells Primat der experentiellen Validität erfahrungsbezogenen Logiken folgt, in denen sich gedankliche und gefühlte Stimmigkeiten komplex verzahnen. Zuletzt kann auch die Relevanz des Verhältnisses, das ein Sprecher zu seinem Diskurs unterhält, mit der Subjektivierungsthese ins Gespräch gebracht werden. Sie gibt die religiöse Rede als ein Sprechen zu verstehen, in dem sich etwas von dem mitteilt, was eine Person für sich selbst als wichtig und sinnig erachtet. Aus diesem Blickwinkel disponiert Religion zu einem authentischen Diskurs in dem Sinne, dass über das, was als religiös valent gedeutet wird, nur unter Einschluss der eigenen Subjektivität gesprochen werden kann, ein Subjekt sich darin also immer auch selbst auslegt, der Redegegenstand es ‚mit meint‘. Der Prozess der Subjektivierung ist mit einem Konsequenzmuster der Pluralisierung verwoben, das namentlich Taylor präziser herauspräpariert hat. Demnach schlagen sich die Dynamiken der Diversität am Ort des Subjekts im Sinne einer Reflexivierung und Dynamisierung der Selbstverständigung durch. Wo das Andere und Fremde nicht mehr ‚dort draußen‘, sondern im Innenraum der Alltagspraxis in Erscheinung tritt, wird eine ‚naive‘ Einstellung den eigenen Sinndeutungen und Wertsetzungen gegenüber zunehmend prekär. Sie treten in ihrer Spezifik, Kontingenz, Deutungsstruktur und Fraglichkeit ins Bewusstsein und versetzen das Subjekt in eine oszillierende Bewegung zwischen Engagement und Distanz, in der es sich in seinem Selbstbild immer wieder auch variiert und anreichert. In überspitzter und verdichteter Form indiziert Taylors Analyse damit eine Kultur der Selbstverständigung, die schon abseits institutionalisierter Reflexionspraktiken reflexive und dynamische Züge trägt. Für die Stellung der Predigt folgt daraus nicht nur die heute selbstverständlich gewordene Einsicht, dass sie im Horizont einer pluralisierten Gesellschaft lediglich eine unter vielen Reflexionspraktiken gibt und ihr auf dem Umweg des Sichselbstverstehens der
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sozialen Akteure kein Primat zukommt. Wie alle Reflexionspraktiken ist sie ferner auch nicht als das fermentive und initiative Gegenüber eines ansonsten ‚naiven‘ und starren moralischen-spirituellen Lebens aufzufassen. Stimulanzen moralisch-spiritueller Reflexion und Präsenzen des Neuen bringt nicht erst die Predigt in die subjektiven Selbstverständigungsprozesse ein; sie sind hier schon vielfach präsent. Insofern bleibt die Predigt auch in ihrer transformativen Dimension Teil einer divers affizierten, dynamischen und reflexiven Alltagskultur der Selbstverständigung.
2.8
Zum konzeptionellen Problemaspekt: Die Predigt als rhetorischer Fall
Die spezifische Kommunikationsform, die der Predigt als Reflexionspraxis hier zukommt, dürfte am komprimiertesten mit der Chiffre der Rede aufgerufen werden können. Gilt dies bezüglich ihrer äußeren Standardgestalt schon in einem theoretisch nicht weiter präzisierten Sinn, demzufolge der Predigtbegriff gemeinhin ein Geschehen assoziieren lässt, in dem sich eine Person im Medium der Worte, in Gestalt des Monologs und im Modus der Adressierung an ein Auditorium wendet, wurde im Verlauf der Studie deutlich, dass der traditionell auf Fragen der Rede abgestellte Reflexionszusammenhang der Rhetorik auch in einem konzeptionell anspruchsvolleren Sinn das homiletische Nachdenken zu bereichern vermag. Tatsächlich eignet der Studie nicht nur durch ihre dispositionelle Anordnung ein rhetorisches Gefälle; wie die inhaltliche Erörterung verdeutlicht hat, trägt unter den zunächst einmal in heuristischer Absicht gewählten Reflexionskontexten der Kritiktheorie, der Ästhetik und der Rhetorik Letzterer insofern einen Akzent, als die in ihm in den Vordergrund tretenden Strukturmerkmale transformativer Praxis und die durch ihn offerierten Reflexionschancen als besonders erhellend eingeschätzt wurden und entsprechend die Klärung der Problemaspekte maßgeblich angeleitet haben. Mit dieser rhetorisch inspirierten Durcharbeitung der Problemaspekte kann die Untersuchung auch als ein Beitrag zu der eingangs angemerkten neuerlichen Tendenz auf ein Gespräch mit der Rhetorik gelesen werden, der am Gegenstand der transformativen Predigtdimension zentrale Kategorien – wie allen voran das Persuasionskonzept, aber auch den Argumentationsbegriff oder die Idee der Zustimmung – bestimmte Reflexionsfiguren, typische Verständnisoptionen und maßgebliche Ansatzpointen rhetorischen Nachdenkens eingehender zu bedenken und in ihren homiletischen Potenzialen auszuweisen und zu begründen versucht hat. Die Leistungskraft dieses Nachdenkens besteht zunächst in der Möglichkeit, den intentionalen Charakter der transformativen Dimension der Predigt prägnant herauszustreichen und damit ihrer Adressierungsstruktur Geltung zu
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verschaffen. Gegenüber stärker rezeptionsästhetisch fokussierten Ansätzen lenkt der rhetorische Diskurs den homiletischen Blick überhaupt mit Nachdruck auf die Rolle, die das Predigtsubjekt für das Interaktionsgeschehen ‚Predigt‘ besitzt. Sowenig es die Rezeption seines Beitrags poietisch zu erzeugen vermag, sosehr nimmt es in der Inszenierungs- und Aufführungsphase doch entscheidend auf sie Einfluss. Die Emphase der Bedeutsamkeit der Predigenden entspricht aber nicht nur dem Gestaltungseinfluss, den sie als Autoren und Performer auf das Predigtgeschehen nehmen; ebenso schlägt sich in ihm der markante Verweisungsbezug nieder, den die Predigt kommunikationsstrukturell wie religionsstrukturell auf ihr Subjekt besitzt. Durch die Betonung der intentional handelnden Rednerin, die einem persönlichen Anliegen Geltung zu schaffen sucht, steht mit dem rhetorischen Nachdenken eine gewisse Erfolgsorientierung im Raum. Dass mit dem Interesse an Akzeptanz als persuasionsspezifisches Telos nicht notwendigerweise ein der Predigt fremdes Moment in den homiletischen Diskurs Eingang findet, wurde versucht plausibel zu machen. Im Gegenteil: Das Predigthandeln wird in dieser Perspektive auf seine innere Anspruchslogik hin reflektierbar, die ihr aus ihrer spezifischen Verbindlichkeitsstruktur erwächst. Während Beschreibungen der transformativen Predigtdimension, die ihre Attraktivität und Plausibilität aus einem Reflexionszusammenhang beziehen, für den die Strukturmerkmale ästhetischer Erfahrung in Geltung stehen, diese Anspruchslogik eher zu kaschieren als aufzudecken drohen, tritt sie mit dem Hinweis auf Intentionalität offen zutage, wird reflektierbar und kann kommunikativ berücksichtigt werden. Durch diesen Zugang, der die Predigt als Kommunikationsereignis perspektiviert, in dem sich Predigende gegenüber den Wirkungen ihrer Praxis nicht gleichgültig verhalten, sondern daran interessiert sind, dass ihr Beitrag in bestimmter Weise verstanden, als relevant erfahren und plausibel beurteilt wird, steht das rhetorischen Nachdenken für einen konsequenten Adressatenbezug ein. Für eine Homiletik, die die Predigt im Paradigma der Deutung begreift, ist dies besonders virulent, sind doch auch hier die Hörer nicht erst ex post im Blick, um lediglich die Vermittlung einer vorgefassten Ansicht zu sichern; sie geben ab ovo die richtunggebende Instanz. Rhetorisch besehen geht es in der Praxis der Predigt nicht um die Darstellung einer ‚Welt für sich‘ – sei sie expressiver Ausdruck einer subjektiven Weltansicht, ästhetischer Anmutungsraum eines Kunstwerks oder Kerygma vom ganz Anderen. Ihr geht es um die Darstellung einer ‚Welt für andere‘. Ihr Subjektbezug, Sprachraum und Glaubensgehalt sind von Beginn an aus ihrem Adressatenbezug heraus zu bedenken. Folglich markiert die rekursive Dynamik einen genuinen rhetorischen Reflexionsort und kommt als Kardinalaufgabe des Redners in Betracht. Schließlich eröffnet die Rhetorik eine Perspektive, in der das Predigtgeschehen konsequent als Teil der lebensweltlich konkreten parole wahrgenommen werden
Schluss: Die Predigt als Aneignungspraxis
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kann. Daraus resultiert zum einen die Chance, die Predigt als Integrationstypus zu plausibilisieren. Ihr operationales Spektrum kann bewusst offen gehalten und in seinen vielfältigen Überlappungszonen und Kombinationsoptionen ausgewiesen werden. Dass in rhetorischer Perspektive dabei neben stärker poetisch inspirierten Verfahren präsenzprovokativer Darstellung und ihre argumentative Funktion markanter hervorkehrenden Sprachformen auch Techniken der Subjektivierung in den Fokus rücken, ist dann nur als ein weiterer Gewinn zu verbuchen – gerade auch, wie gesehen, was die Reflexion auf die transformative Predigtdimension anbelangt. Zum anderen verbindet sich mit der Einholung des Predigtgeschehens in den Raum des real talk ein bewusster Fokus auf die diversen kommunikativ relevanten Faktoren, die dabei nicht lediglich als Determinanten in den Blick kommen, sondern als ein selbstbildungsrelevanter Verstehens- und Gestaltungsraum. Sehr viel nachdrücklicher als im Horizont der Kritiktheorie und abgestimmt auf die Belange konkreter Rede kommt somit die Dialektik von Transgression und Rekursion in ihrem operationalen Charakter und ihrer Vielschichtigkeit in den Blick. Gemäß des aptum ist sie Resultat eines je neu zu vollziehenden, mehrschichtigen Abstimmungsprozesses.
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Schluss: Die Predigt als Aneignungspraxis
Folgt man der hier vorgeschlagenen Spur der Erörterung, ließe sich die Reflexion der transformativen Dimension der Predigt zum Ende hin begrifflich auch nochmals leicht wenden. Genauerhin eröffnet das Konzept der Aneignung, das sich schon für die Klärung des ethischen Problemaspekts als hilfreich erwies, eine Perspektive, in der sich zentrale Achsen, an denen sich die Untersuchung immer wieder entlang bewegte, einholen ließen. (1) Wie dargelegt markiert der Aneignungsbegriff einen konzeptionellen Rahmen, in dem die Absicht auf Wirkung und der Anspruch auf Autonomie in Kontakt gehalten werden können. Er steht für eine Idee der Predigt ein, in der ein religiöser Akteur Sichtweisen entwickelt, die sich einer eigenen hermeneutischen Durcharbeitung verdanken, die ihm wichtig sind und von deren Plausibilität er subjektiv überzeugt ist, für die er folglich Partei ergreift, gegenüber deren Rezeptionsweise er sich deshalb nicht indifferent verhält und Verstehen, Relevanz und Akzeptanz intendiert – mit denen er aber gleichwohl nicht so identifiziert ist, dass er nicht in der Lage wäre, sie in den Raum der Aneignung zu freizugeben. (2) Diese Beschreibung legt nahe, dass nicht allein der Prozess der Predigtrezeption als Aneignungsgeschehen zu beschreiben ist, sondern auch das Predigtsubjekt als Subjekt eines solchen Geschehens agiert. Sofern sein Reden Reflex eigenen Verstehens, persönlicher Relevanz und subjektiver Überzeugung ist und
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Teil F: Resümee
etwas von seinem Selbstverständnis mitteilt, vollzieht sich auch die Predigtproduktion im Modus aneignenden Handelns. Der Aneignungsbegriff erhellt nicht nur die Struktur der Rezeption, sondern auch die Struktur der Produktion der Predigt. (3) Darüber hinaus erlaubt er, das Ineinander von Transgression und Rekursion begrifflich zu umfassen. Sofern ‚Aneignung Fremdheit braucht‘3 und nur das angeeignet werden muss, was mir bis dato nicht zugehörig war, erscheint die Bewegung der Abstandnahme als Voraussetzung und Impuls eines Aneignungsgeschehens. Sofern man sich das ‚Fremde‘ freilich aneignen können muss, avanciert zugleich die Bewegung der Bezugnahme zur Bedingung und zum Stimulus aneignenden Handelns. Das „nur Eigene brauche ich mir nicht anzueignen und das nur Fremde vermag ich mir nicht anzueignen.“4 Folglich kommt der Aneignungsbegriff auch als Explikat einer Predigt in Betracht, die als doppelte Kunst Überschreitung wie Rekurs sucht. (4) Zuletzt schlägt der Begriff der Aneignung nochmals eine Brücke zwischen Predigt und Selbstverständigung. Wenn mit Jaeggi und Bieri der Prozess des Sichselbstverstehens ganz wesentlich als Aneignungsgeschehen aufzufassen ist, fügt sich das Predigtgeschehen, wie es hier angenähert worden ist, auch seiner inneren Struktur nach in diesen Prozess ein. In ihm bildet sich die Verfasstheit der Selbstinterpretation ab. Vor diesem Hintergrund kann die Predigt in der Tat als Reflexionspraxis begriffen werden, die ebenfalls als eminent subjektiv und intentional bestimmte Überschreitungs- und Rekursionskunst am Prozess der Selbstverständigung ihrer Hörer partizipiert und einen der vielen möglichen ‚Umwege‘ bereitstellt, über den sich die sozialen Akteure auf sich beziehen, um sich in ihren Selbstdeutungen und Selbstentwürfen zu vertiefen und zu variieren.
3 Vgl. hier und zum Folgenden Jaeggi, Aneignung. 4 Michael Theunissen, zit. n. Jaeggi, Aneignung.
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Namensregister
Abramovic, Marina 178 Adorno, Theodor W. 19, 94 f. Albert, Hans 285 Albrecht, Corinna 325–327 Allport, Gordon 233 Ambos, Claus 147 Anderegg, Johannes 48, 137, 188, 205 Angehrn, Emil 30, 32, 34 f., 40, 85, 115, 255 Arendt, Hannah 119, 233 Aristoteles 118, 187, 189, 200, 215–217, 219, 228, 233, 240, 245, 251–253, 264, 273, 276 Austin, John L. 25 f., 165–168, 171 Bäder-Butschle, Ivo 80, 86, 114, 121–123, 128, 303 Bainbridge, William 318 Barth, Karl 43 f., 46 f. Bastian, Hans-Dieter 42, 49, 51 Bateson, Gregory 294, 296 Bauman, Zygmunt 36 Baumann, Martin 309, 345 Beck, Ulrich 310, 314, 339 Benesch, Hellmuth 49 Benkel, Thorsten 188 f. Berger, Peter L. 147, 186, 313, 319, 322, 329, 339, 341, 343 f. Bertram, Georg 38 f., 137, 141, 144, 207, 213, 362 f. Bieler, Andrea 15, 62, 64, 130 Bieri, Peter 36 f., 126, 195, 218, 260–266, 275, 305, 374, 380 Black, Max 257, 289–292, 294–298 Bloch, Ernst 126 f.
Blumenberg, Hans 218, 224 Bochinger, Christoph 320, 349–351 Bohren, Rudolf 45–47, 53, 58, 67, 79, 364 Bohrer, Karl Heinz 95, 98 f. Boltanski, Luc 78, 108, 148, 154–157, 370 Bourdieu, Pierre 158 Bräunlein, Peter J. 149–152, 157, 161 Brecht, Berthold 51 Brown, David M. 62 Bruce, Steve 312 f. Brueggemann, Walter 16, 54, 57, 61 Brunkhorst, Hauke 94 Brunner, Emil 46 Buchstein, Hubertus 88, 106, 116 Bultmann, Rudolf 22, 39, 46 Burkart, Günter 34, 315 Cacioppo, John 274 Campbell, Charles 62, 131, 294 Campiche, Roland J. 348, 350 Camus, Albert 88 f., 92 Celikates, Robin 50, 78, 81 f., 94, 104, 115, 342, 358 Chomsky, Naom 166–168, 170 Cialdini, Robert 233 Cicero 219, 277 Cilliers, Johann 62, 131, 294 Cohen, Joshua 80 Coleridge, Samuel 191 Cooke, Maeve 70, 78, 81 f., 94 f., 105, 127 f., 226, 264, 286, 359, 374 Craddock, Fred B. 54, 59–61, 207 Crawshay-Williams, Rupert 276 Currie, Gregory 188, 190–193
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Namensregister
Dahm, Karl-Wilhelm 49–52, 54 Danto, Arthur C. 141, 144, 158, 179, 209, 362 Davie, Grace 315–317, 336 f., 350 Davis, H. Grady 61 Deeg, Alexander 51, 55, 58 f., 62 f., 182, 266 Deines, Stefan 122, 131, 138, 141, 286 f. Dewey, John 138 Dobbelaere, Karel 312, 329 Dubach, Alfred 348–350 Dücker, Burckhard 145–150, 153 f., 156 f., 168, 213 Düwell, Marcus 138, 141 f., 197, 199, 212 Durkheim, Émile 154 Dworkin, Ronald 80, 113 f., 116 f. Ebeling, Gerhard 40, 61 Eco, Umberto 53, 173, 187 f., 191, 202 Eggs, Eckehard 231, 253, 276, 278, 281, 284, 289 Engelbrecht, Martin 349 f. Engemann, Wilfried 46, 53–55, 57–59, 69, 130 f., 134, 269 f., 275, 308 Epiktet 291–293 Erikson, Erik H. 35, 301 Esposito, Elena 190, 202 f. Fechtner, Kristian 19, 42, 59, 65, 182 Festinger, Leon 50 Figal, Günther 32, 85 Finke, Roger 318–320 Fisch, Richard 137, 301 Fischer-Lichte, Erika 62, 64, 74, 137, 143– 147, 149, 153, 157, 161–185, 206–208, 237, 256, 369 Frank, Manfred 85 Freud, Sigmund 146, 175, 189, 202–204 Friedrichs, Nils 309, 324–327, 347, 353 f. Fröhlich, Gerhard 100 Fuchs, Ernst 61 Fuchs, Ottmar 47, 270 Gabriel, Gottfried 222, 283
187, 201, 205, 214, 218,
Gabriel, Karl 316, 320, 322–324, 330, 346, 351 Gadamer, Hans-Georg 15, 85, 101, 138, 287 Gall, Sieghard 52, 214 Gass, Robert 233, 251–253 Gebauer, Gunter 146 Gebhardt, Winfried 317, 337, 349 f. Geertz, Clifford 94, 99–101, 158, 366 Genette, Gérard 194, 220 Gordon, Peter 330, 333 f. Gorgias 217 Gräb, Wilhelm 18, 27, 39, 45, 58, 66, 69, 134, 208, 269–271, 308, 357 Gramsci, Antonio 108, 112 Grice, Herbert Paul 247 f., 253 f. Grimes, Ronald 150 Grotowski, Jerzy 161 Grözinger, Albrecht 44, 46–48, 50, 54–57, 66, 68 f., 130 f., 137, 208, 211, 271, 308, 357, 367 Gutmann, Hans-Martin 15, 62, 64, 130 Habermas, Jürgen 83, 85, 223, 228, 231, 244 Hahn, Alois 32 f. Hamburger, Käte 194 Harding, David W. 193, 195 f., 198–200, 205 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 118, 138, 245 Heidegger, Martin 21 f., 30, 225, 240, 252 f., 294 Hempfer, Klaus W. 164–166, 190, 193 f., 205 Henning, Tim 31 f., 36 f. Hermann, Max 167 Hermelink, Jan 15 f., 45, 51, 56 f., 66, 213, 309, 344, 351 f., 358, 365 Hero, Markus 308–310, 313, 317 f., 322– 327, 339, 345, 347, 351–353 Honneth, Axel 33, 78, 82 f., 88, 95, 99, 103, 108 Horkheimer, Max 19, 78 Hovland, Carl 233 Huizinga, Johan 159 f., 178, 192 f., 211 Husserl, Edmund 282
425
Namensregister
Iannaccone, Laurence 318–320 Ilias, Norbert 271 Iser, Matthias 78, 81–83, 86, 88, 95, 97, 103, 109, 117, 119–121 Iser, Wolfgang 56, 188, 201 Jäckel, Michael 50, 69, 213 Jaeggi, Rahel 30 f., 33, 35–37, 78 f., 81 f., 88, 104, 109, 121, 124, 126 f., 131 f., 157, 262, 266, 374, 380 James, William 328, 332, 334, 337, 342 f. Jens, Walter 47 Joas, Hans 32, 35, 154, 286, 319, 329, 333, 336, 344 Johnson, Mark 257, 291, 296–298, 300 Jones, Jean 215, 227, 233, 235, 241, 256– 258, 265, 267, 295, 299 f., 302 Josuttis, Manfred 42, 47, 53, 64, 130, 182 Kablitz, Andreas 185, 188–190, 192, 194, 200, 205 Kafka, Franz 263 Kallscheuer, Otto 80, 88, 96, 106, 108 Kant, Immanuel 77, 141, 201, 221–223, 230–233, 248, 257, 262, 282 Keddi, Barbara 37 Keupp, Heiner 33, 35 Kienpointner, Manfred 276, 278 f., 282, 288, 292 Kierkegaard, Søren 266 Kleimann, Bernd 138–144 Knape, Joachim 74, 216, 219 f., 223, 227, 229, 235–256, 258 f., 263, 265, 267, 270 f., 281, 283, 307 Knoblauch, Hubert 39, 314, 316–318, 323 f., 333, 335, 350, 375 Kohut, Heinz 100 König, Ekkehard 165, 170 Kopperschmidt, Josef 56, 74, 215 f., 218– 220, 223–237, 241 f., 244–248, 251, 255, 259, 263, 266, 269 f., 276, 279 f., 284, 286 f., 307, 364 Krech, Volkhard 308–310, 312 f., 316 f., 321–327, 339, 342, 345, 347, 351, 353– 355, 357 Krüggeler, Michael 314, 332, 348
Küchenhoff, Joachim 122 f.
85, 105, 118,
Lakoff, George 257, 291, 296–298, 300 Lämmermann, Godwin 47 Lange, Ernst 44–47, 51 f., 55, 57 f., 63, 68, 79, 254, 364 Lasswell, Harold 233 Latour, Bruno 17 f., 24–29, 45 f., 59, 73, 97, 129, 243, 363 Lazarsfeld, Paul 233 Locke, John 89 f., 92 Lorenzer, Alfred 173, 175 Luckmann, Thomas 32, 39, 147, 186, 282, 314, 316 f., 322, 332 f. Luhmann, Niklas 229 Lütze, Frank M. 15, 25, 42, 64 f., 67, 130, 208, 270 Luther, Henning 17–21, 26–30, 35, 39, 41 f., 44, 46, 56, 73, 130, 208, 269 f., 363 Maclure, Jocelyn 328, 332 Marcuse, Herbert 19, 98, 126 Marquard, Odo 207 Martin, Gerhard Marcel 53–56, 68 Marx, Karl 17, 94, 107 f., 112 Mead, George Herbert 33 Mengel, Peter 288 f., 291 f. Merzyn, Konrad 52 Meyer, Peter 52, 333 Meyer-Blanck, Michael 48, 51, 54, 63, 66, 76, 137, 182 f., 207–210, 269 f., 275 Meyers, Robin R. 50, 265, 269 Miller, Gerald 249 f., 303, 365 Mörth, Ingo 100 Mukarˇovský, Jan 173 Müller, Adam 229 f., 281 Musil, Robert 203 Müske, Eberhard 16, 56 f., 66, 365 Naess, Arne 276 Nagel, Thomas 83 Nassehi, Armin 39, 316 f., 324, 336, 360, 368, 375 Neurath, Otto 37, 122, 286 Nicol, Martin 53–55, 58–61, 63, 182, 207
426 Niebergall, Friedrich 27, 42, 129, 254, 269, 363 Oesterreich, Peter 111, 214 f., 217, 225, 237 f., 282, 304, 359 Olbrechts-Tyteca, Lucie 221, 229, 231, 250, 256, 264, 266, 271, 276–278, 280–283, 287–289, 291–293, 295, 301 Ottmers, Clemens 216, 219, 222, 276–278, 288 Otto, Gert 16, 44, 47–49, 52 f., 56, 65 f., 270 Parsons, Terence 187 f. Paulus 62, 229 Perelman, Chaim 221, 229, 231, 250, 252, 256 f., 264, 266, 271, 276–278, 280–283, 285, 287–289, 291–293, 295, 301 Petty, Richard 274 Pickel, Gert 308 f., 311 f., 319–321, 353 Pirner, Manfred 323 Platon 217, 219, 223 Platvoet, Jan 145–149, 152 Pohl-Patalong, Uta 52, 207, 254, 309, 352, 358 f. Pollack, Detlef 308 f., 311 f., 324–327, 347 f., 351, 353–355 Quack, Johannes 148 Quintilian 273, 284 Ramus, Petrus 220 Rapp, Uri 153, 193, 199, 272 Rawls, John 83 Reckwitz, Andreas 69, 89, 334 Reese-Schäfer, Walter 83, 85, 91, 97 f., 101, 107, 124 Ricoeur, Paul 188, 257 Ringleben, Joachim 266 Rosa, Hartmut 30–32, 34 f., 89, 92, 109, 115, 123 f., 332, 343 Rose, Lucy 42, 54, 61 f. Roth, Ursula 16, 62–64, 70, 137, 164, 181– 185, 205, 211, 275 Ryle, Gilbert 100
Namensregister
Saar, Martin 78, 81, 94 f., 97, 99, 105, 129 f. Sammet, Kornelia 308 Saussure, Ferdinand de 92, 166 Schaff, Adam 173 Schanze, Helmut 229 Schleiermacher, Friedrich 40, 42, 85, 184, 206, 210 Schmalz-Bruns, Reiner 88, 106, 116 Schmandt, Walther 49 Schneider, Hans-Dieter 49–52, 54 Schott, Heinrich 70, 214, 302 Schütz, Alfred 129, 186, 225, 261, 282 Schweizer, Alexander 76 Schwier, Helmut 52, 182, 214 Searle, John 190–192 Seel, Martin 126, 128, 132, 137–144, 151, 161, 172, 174, 176, 194, 196, 199, 208, 241, 256, 365 Seibert, Christoph 80 f., 84, 109, 112–116, 123, 259 Seiter, John 233, 251–253 Simons, Herbert 215, 227, 233, 235, 241, 256–258, 265, 267, 295, 299 f., 302 Sˇklovskij, Viktor 48 Sloterdijk, Peter 210 Sokrates 118, 217, 245 Stark, Rodney 318–320 Steffensky, Fulbert 283 f. Steinbrink, Bernd 93, 118, 216 f., 219, 245, 255, 258 f., 264, 374 Stierle, Karlheinz 188, 192, 201 f., 204 Stoellger, Philipp 15, 54, 257, 283 Stollberg-Rilinger, Barbara 145–149 Straub, Jürgen 31 f., 35, 38, 89 Streib, Heinz 27 f., 156, 365 Ströker, Elisabeth 188 Sutterlüty, Ferdinand 28 Tambiah, Stanley 146 Taylor, Charles 30–35, 75, 91 f., 96, 112, 114 f., 131, 266, 286, 310, 318, 328–344, 346, 350 f., 355, 357–360, 367, 375 f. Theremin, Franz 214, 302 Thurneysen, Eduard 43 f., 46 f., 63 Till, Dietmar 219, 222, 252, 256 f., 273, 280, 298 f.
Namensregister
Töbelmann, Paul 148 Toulmin, Stephen 276–279, 286, 293 Traunmüller, Richard 346, 355 Tucker, Robert 282, 294, 300 Turner, Victor 62, 74, 144–164, 166, 170– 172, 179, 181 f., 185, 189, 191 f., 206 f., 212, 307, 336, 357, 369 Ueding, Gert 93, 118, 216 f., 219, 245, 255, 258 f., 264, 374 Van Gennep, Arnold 150, 207 Vinet, Alexandre 302 Voll, Peter 314, 348 Von den Steinen, Ulrich 49 Waldenfels, Bernhard 208, 282 Walzer, Michael 74, 78–136, 140, 158 f., 185, 189, 209 f., 219, 245, 251, 253–256, 259, 265, 275, 281, 287, 294, 301–304, 307, 356 f., 363–367, 369, 373 f. Warner, Steven 318–320 Warnke, Georgia 96, 114, 116–118 Watzlawick, Paul 127, 295, 299, 301
427 Weakland, John 301 Weber, Max 311 Weinhold, Jan 147 Wesche, Tilo 78 f., 81 f., 93–95, 105, 122, 126 f., 131, 141, 327 Weyel, Birgit 34, 44, 55, 58, 63, 66, 131, 137, 182, 213, 269 f., 302, 309, 344, 346, 352, 358, 367 Wierlacher, Alois 325–327 Wilson, Bryan 312 Wilson, Paul Scott 50, 60 f., 63, 269, 368 Wittgenstein, Ludwig 33, 228, 286, 294 f. Wohlrab-Sahr, Monika 314–316, 320, 332 Wohlrapp, Harald 32, 157, 231, 243, 271, 276, 278, 285–288, 294 f., 299 f. Wolf, Christof 308, 321–324, 338, 345 f., 348, 351, 353 Wulf, Christoph 145 f., 148 f., 164 Zander, Helmut 345 Zipfel, Frank 160, 185–188, 190–194, 200, 204 f.
Sachregister
Absicht (s. Intention) Accesslogik 317, 352 actio 59, 214, 220 Adaption (s. auch Anpassung; Anschlussbewegung; Rekursion) 229, 255 f., 258, 266 f., 343 Adressat, Adressatin (s. auch Hörer, Hörerin) 16, 22 f., 26, 29, 41–43, 45, 49, 52, 54–56, 60–62, 65–67, 71, 78 f., 81–84, 86, 88–90, 93–97, 102, 104–106, 116–118, 121 f., 126–135, 161, 170, 174 f., 178, 181, 193, 203, 210, 221, 227–231, 234, 237– 239, 244, 246–256, 258 f., 263–267, 271– 273, 278–282, 284 f., 287 f., 293, 301–307, 318, 357–360, 363–365, 367–369, 372– 374, 377 f. – konsequente Adressatenorientierung (s. auch Anschlussbewegung) 45, 55 f., 67, 93, 95, 130, 135 f., 251, 255–259, 280, 304, 359 f., 364 f., 368, 378 Adressierung 22, 27, 268, 372, 377 Affirmation 15, 17, 27–29, 38 f., 41, 45, 48, 52, 57, 63, 67, 71, 79, 85 f., 115, 131, 133, 140, 146, 148 f., 154 f., 182, 196 f., 208, 303, 313, 327, 360, 364–366, 369 Akzeptanz (s. auch Zustimmung) 41, 81 f., 84, 88–94, 98, 101 f., 106, 113, 117–119, 122, 135, 147, 208, 217, 224, 227, 230, 232, 237, 243, 245 f., 250–253, 255, 270, 272 f., 275, 280, 285–288, 293, 301 f., 306, 313, 319, 326, 372, 378 f. Alienität (s. auch Fremdheit) 310, 325–327 Alltag 18 f., 27 f., 33 f., 41, 48, 53, 56 f., 63 f., 78, 81, 89, 95, 98, 104, 118, 141–143,
147, 150–157, 160 f., 172 f., 179, 186–189, 193, 198 f., 202, 207, 213, 275, 279, 285, 296, 298, 310, 313, 329 f., 334 f., 337, 342, 346 f., 358, 370, 376 f. – Alltagsbezug 146, 155, 207, 212, 370 – Alltagsdistanz 63, 146, 150, 155 f., 159, 161, 172, 207 – Alltagswirklichkeit 142, 160, 162 f., 184, 186–189, 191 – Außeralltäglichkeit 150, 153–155, 160, 178, 206 ‚als ob‘ 128, 143, 160 f., 178 f., 181, 184 f., 190, 192, 204, 211 Alterität 40, 127, 188, 310, 325–327, 343 Amt und Person 269 Aneignung 23 f., 29, 36–38, 50, 53, 58, 106, 110, 130, 132, 135, 145, 183, 186, 190, 201, 203, 211–213, 249 f., 259–267, 271, 273, 275, 306, 316, 335, 338, 357 f., 360, 371– 376, 379 f. – Aneignungstauglichkeit 259–263, 271, 305, 373–375 Anerkennung 33, 50, 108 f., 113, 155, 217, 226, 243, 271 Anknüpfung 46, 55, 104 Anmutung 56, 378 Anpassung (s. auch Adaption; Anschlussbewegung; Rekursion) 45 f., 67 f., 228– 231, 255 f., 281, 302 Anschaulichkeit 48, 117, 143, 154, 198, 209, 214, 257, 281, 283, 289 f., 293–295, 297 Anschlussbewegung (s. auch Adaption; Anpassung; Rekursion) 45, 52, 55 f., 60, 67, 95, 104, 136, 228–232, 243, 246, 248,
430 255 f., 258 f., 264–266, 285–287, 293, 301 f., 364, 368, 374 Prinzip des Anschließens 228 f., 231 f., 246, 248, 255, 258 f., 264–266, 285, 302, 364 Antizipation 63, 126, 132, 246, 259 Applikation 55, 68, 83, 101 f., 121, 287 aptum 247, 258 f., 303, 364, 370, 379 αρετή 253, 271, 371 Argumentation (s. auch Begründung; Gründe) 56, 59 f., 63, 65 f., 69, 72, 81– 83, 90, 93–95, 97 f., 102–107, 114, 119, 131–133, 135, 213, 215, 219, 221, 224, 227–229, 231, 242, 244 f., 250, 252, 254, 256–259, 263, 266, 271, 274–294, 299, 301, 303 f., 359, 365, 367 f., 376 f., 379 – analogische Argumentation 288–293 – Argumentationstheorie 60, 72, 221, 227, 229–231, 242, 250, 266, 271, 276, 278, 280–285, 304 – argumentum ad hominem 266, 359, 376 ars combinatoria 76 Artikulation 32 f., 35, 38, 41, 47, 68, 89, 101, 126, 160, 195, 216, 256, 262, 264, 278, 283, 288, 376 Assoziation 48, 172, 176–178, 195, 277 Ästhetik (s. auch Kunst; poetisch) 18, 36, 42, 48, 53–59, 61, 63–67, 69, 71–74, 95, 126 f., 133–214, 220, 222, 239, 246, 250, 255, 257, 295, 302, 307, 335, 337, 340, 351, 362, 365, 368 f., 371, 377 f. – Ästhetik des Performativen 67, 164, 172, 179 Asymmetrie 104–106, 152, 234, 265 attentum parare 259 Auditorium (s. Adressat, Adressatin) Aufführung (s. auch performance) 60, 63 f., 70, 137, 146, 150, 153, 158, 161 f., 167–185, 206 f., 211, 237 f., 255, 267, 305 f., 364, 368, 369–372, 378 ‚auf Probe‘ (s. auch Probehandeln) 127 f., 161, 163, 176, 181, 183 f., 192 f., 202 f., 205, 211 Aufrichtigkeit 99, 221, 248, 253 f., 266, 281, 305, 374 f.
Sachregister
– Aufrichtigkeitsmaxime 248, 266, 268– 270, 306, 374 Authentizität 34, 232, 237, 246 f., 255, 263, 269 f., 317 f., 344, 350, 360, 368, 376 – Ethik der Authentizität 334 f. Autonomie (s. auch Selbstständigkeit) 22, 34, 41, 48 f., 54 f., 57, 105, 126, 159, 163, 179, 212, 221 f., 260, 262, 265–267, 272, 305, 314, 317, 350, 358, 373–375, 379 autoritär 41, 48 f., 102, 105 f., 162 Autoritarismus 60, 105 f., 374 – epistemological authoritarianism 105 f. – ethical authoritarianism 105 f. Bedeutsamkeit (s. auch Relevanz) 27, 37, 39, 45, 51, 66, 83, 96 f., 99, 133, 143, 198, 225, 274, 305 f., 337, 373, 375 f. Begründung (s. auch Argumentation; Gründe) 83, 89–93, 102, 132, 176, 263, 271 f., 276 f., 279–281, 284–286, 288, 292 Behaviorismus 50, 55, 100, 207, 233, 239 f., 265, 273, 373 Bekräftigung 28, 67, 140, 208 f., 242–244, 250, 278, 287, 303, 343, 366 Beschleunigung 34, 310 Bestätigung (s. Affirmation) Beunruhigung 18, 20, 41 Bevormundung 52, 68 Bewusstsein 17–21, 26, 28, 89, 117, 128, 138, 154, 203 f., 273, 282–284, 288, 294 f., 329, 358, 366, 372, 376 Bezugnahme 18, 29, 46 f., 50, 55 f., 61, 67, 79, 106 f., 129, 154, 206, 212 f., 264–266, 302, 358, 363, 366, 370, 380 – bezugnehmende Differenz 19, 29 – Kunst der Bezugnahme 106, 129, 302, 363 Bibel 21, 23 f., 39, 43 f., 46–48, 57 f., 60 f., 63 f., 67, 80, 134, 141, 258, 297, 302 bildhaft 65, 180, 214, 275, 293, 359 Biographie 33, 37, 134, 174, 265, 310, 352, 359, 367, 372, 375 – Biographiegenerator 33 Bruch (s. auch cut) 36, 98, 104, 131, 152, 157, 284, 367 Buddhismus 338, 345, 354
Sachregister
Christentum 15 f., 24, 28, 41, 45, 49, 69, 89, 184, 211, 270, 283, 311, 323 f., 329, 345 f., 348 f., 351, 355–357 coactive approach (s. auch Kooperation) 258, 265, 302 communitas 151 f. conditions of belief 330, 342, 359 f., 371, 375 cue 147, 154 cut (s. auch Bruch) 60, 367 deduktiv 60, 275, 277, 286, 368 – deductive preaching 60 Destabilisierung 20, 27 f., 133, 178 f., 181, 243, Deutung (s. auch Hermeneutik; Interpretation; Verstehen) 16, 19 f., 22, 24, 29– 32, 34, 45, 64, 68, 85, 88, 92, 94, 100, 102, 105, 109, 111, 113–124, 128, 130, 133 f., 139, 141–143, 151–154, 158, 171–175, 178, 189, 195–206, 208–210, 212, 216, 225, 228, 239, 251, 255 f., 272, 276, 283 f., 293–301, 308, 313 f., 316, 330, 332, 334, 337, 343, 360, 363 f., 369, 372, 376, 378, 380 – Deutungsparadigma 45, 68, 88, 130, 209 f., 364, 378 Dialektik 19, 25, 29, 46–48, 56 f., 59 f., 67 f., 71, 79, 82, 86, 129, 131, 136, 189, 206 f., 221 f., 254, 259, 271 f., 276, 285, 303, 306, 313, 328 f., 363–365, 379 Dialektische Theologie 19, 42–44, 46, 53, 59, 61, 63, 67, 69 Dialogizität 69, 229, 278 Dichte 68, 83, 86, 94–102, 106, 113, 117, 127, 156, 212, 230, 349, 373 – dichte Beschreibung 94, 99 f., 117, 349, 366 diskursiv 32 f., 40, 56, 60, 63, 65, 82, 89, 116, 123, 148, 255, 257 dispositio 53, 60, 123, 207, 220, 239, 256, 278, 281, 377 disruptiv 19, 21, 62 Distanz, Distanzierung (s. auch Transzendenz, Transzendierung; Überschreitung) 18–20, 43, 45 f., 49, 57 f., 60, 63,
431 67 f., 79 f., 85 f., 90, 97 f., 102–104, 107, 121, 123, 130, 144, 146, 150, 155 f., 161 f., 193, 199, 207, 214, 258, 261, 264, 271 f., 305 f., 326 f., 339, 342, 357–359, 364, 376 Distanznahme (s. auch Transzendenz, Transzendierung) 18, 20, 29, 47, 107, 206, 366 – Kunst der Abstandnahme 129, 363 Diversität (s. Pluralität, Pluralisierung) Diversitätsindex 353, 356 doppelte Kunst 129, 363, 380 δόξαι 216 Dualismus 44, 51, 57, 256, 328, 333, 366 Efferveszenz 154 Eigensinn (s. auch Idiolekt) 55, 134, 210, 305, 369 Einstellung 18, 28, 36, 45, 51 f., 139 f., 143, 151, 174, 176, 186, 195, 200, 208, 216, 218, 225, 237, 241, 243, 246, 299, 325–327, 335 f., 342 f., 347, 349, 353–355, 357 f., 372, 376 Elaboration Likelihood Model 274 elocutio (s. auch λέξις; Sprache; Stilistik) 48, 52, 66–68, 94 f., 97, 104, 220 f., 227, 239, 256 f., 264, 273, 278, 283 f. Emotion (s. auch πάθος) 15 f., 24, 32, 36, 38, 40, 51, 62, 66, 73, 83 f., 105 f., 118 f., 124, 127, 135, 137, 139 f., 147 f., 151 f., 154 f., 158, 161, 174–177, 179, 193, 195, 198, 202 f., 208 f., 215, 221 f., 226 f., 236, 243, 245 f., 253, 256–258, 260 f., 264–266, 271–275, 278, 295, 297 f., 300, 304, 306, 337, 350, 354, 359–362, 264, 366, 368, 370, 374–376 – rational-emotional 263 f., 306, 375 f. empirisch 22, 36, 49 f., 52, 56, 61, 64, 72, 74, 76, 78, 89, 91, 99, 105, 116 f., 119, 126, 130, 188, 192 f., 201, 205, 207, 216, 227, 233 f., 240, 244, 247 f., 274, 276, 311, 317, 320, 324, 327, 337, 339, 344, 346, 353, 357 f., 365 – empirische Wende 19, 44, 47, 69 Engagement 49, 70, 86, 88, 97, 102 f., 134, 193, 210, 239, 243, 254, 269, 271 f., 306, 342, 370, 374, 376 Entdeckung 130, 197
432 Enthymem 276 Entsicherung 18, 20, 41 Entzauberung 312, 334 Epicheirem 277 Epideixis 250 Ereignis 24, 42, 59–65, 168, 337, 361 Erfahrung – ästhetische 54, 137 f., 141–144, 161, 163 f., 176, 178–181, 184, 194, 199, 206, 210–212, 250, 365, 369, 371, 378 – hermeneutische 22 f. – Erfahrungsschemata 200–205, 368 Erfindung (s. auch Fiktion) 85, 90, 130, 186, 286, 290 f., 367 Erfolgsorientierung 49, 94, 228, 231, 233 f., 237 f., 265, 267–273, 372 f., 378 Ermäßigungstendenz 51, 63 f., 68, 72, 365 Erschütterung 24 f. Erzählung (s. Narration) eskapistisch 18, 27 Ethik (s. auch Moral) 39, 41, 48 f., 52, 54 f., 57, 67–69, 72, 83, 91 f., 102–104, 106, 132, 135 f., 162, 170, 210, 217, 226, 244, 247 f., 259–274, 305 f., 334 f., 358 f., 362, 371, 373–375, 379 ethnologisch 94, 98–100, 104, 117, 150 εὔνοια 253 f., 271, 304 evaluativ 97, 132 f., 139 f., 208, 257, 261, 264, 284, 292 f., 295, 297 f., 319, 329 Evangelium 44, 54, 57, 61, 65 event-in-time 207, 364 evidentia (s. auch Präsenz; Vergegenwärtigung) 257 Exemplifikation 158, 200–205, 368 Exklusivismus 326 f., 354 f. experientielle Validität 350 experimentieren 63, 127, 149, 159, 161, 163, 167, 176, 181, 183 f., 192, 205, 222, 349 Expressionismus 69 expressiv 65, 148, 151 f., 251, 302, 306, 334, 338, 368, 378 Externität 34, 40, 72, 109 ἦθος 51, 94, 118 f., 225, 245, 251–254, 256, 258, 265, 269, 271, 273, 280, 304, 339
Sachregister
– Image 51, 103, 119, 156, 247, 252–254, 256, 263, 330 feedback-Schleife 146, 168–170, 207, 372 Ferment 72, 206, 254, 295, 327, 339, 342, 357 f., 370, 377 Fest 167, 180, 206 f., 335–338, 370 Fiktion 22 f., 127, 135, 144, 159, 163, 170, 181, 184–206, 211, 371 – fictive intention 191, 194, 201 – Fiktionalität 189–194, 211 – Fiktionssignal 194 – Fiktivität 143 f., 160, 170, 175, 177, 184– 191, 193–195, 202–204, 292 Fortkonstruktion 286, 367 Frame, Framing (s. auch Reframing) 45, 74, 122, 147, 154, 159, 254, 284, 287, 289– 292, 294–301, 330 f., 340, 365 Freiheit 13, 38, 67, 142, 178, 203, 215, 221, 228, 230, 242 f., 260, 262, 284, 306, 325, 328, 332, 354, 375 Freiwilligkeit 142, 159–163, 170, 191–193, 205, 211, 222, 317 Fremdheit (s. auch Alienität) 23, 29, 36 f., 40, 56–58, 60 f., 67, 84, 130, 183, 194 f., 213, 230, 261 f., 307, 310, 326 f., 338 f., 343 f., 354, 357, 363, 374, 376, 378, 380 Fülle 32, 331–333, 337, 341, 357 – places of fullness 331 f. Gegebenheit 17–20, 22 f., 30, 37, 48, 83 f., 101, 148, 152, 154, 187, 192, 201, 207, 287, 300 f., 341, 370 Gegenbild 126 f., 132, 326, 344, 367 Geltung 55, 78, 81, 105, 192, 224 f., 229, 231–236, 238, 245, 247 f., 266 f., 277, 279, 286, 320 gerecht 31 f., 36, 79, 108, 297, 300 Gerichtetheit 51, 65, 180 f., 184, 190, 214, 224, 251, 255, 302, 372 – gerichtetes Reden 251, 302, 372 Glaube 15 f., 24, 44, 47 f. 51, 59 f., 63, 184, 270, 331, 348, 355, 360, 378 – believing without belonging 316, 336 Glaubwürdigkeit 252 f., 280, 285, 304 f., 371 Gleichnis 56, 126
Sachregister
Globalisierung 69, 310, 339 Glückensbedingungen 26, 45 Gott 25, 39, 42–44, 48, 57, 59, 63, 82, 89, 126, 146, 297–300, 313, 318, 331, 333 f., 336, 338, 348–350, 375 Gottesdienst (s. auch Liturgie) 16, 24, 48, 52 f., 57, 63, 67, 74, 137, 181–185, 205– 208, 211, 213 f., 259, 348, 351, 369 f. Gründe (s. auch Argumentation; Begründung) 28, 81–83, 90–93, 104 f., 109, 132, 227–229, 232 f., 244 f., 263 f., 266, 275– 293, 301, 304, 306, 359, 368 f., 374–376 – λόγον διδόναι 244, 276 Handeln 15, 22 f., 31, 39, 42, 73, 92, 110, 116, 127, 141, 143, 146–148, 151, 154 f., 159, 173, 184, 190, 203 f., 210, 215–217, 226, 229, 232–234, 236, 239, 247, 252, 256 f., 262, 267, 279–281, 284, 293, 295 f., 298, 339, 358, 373, 375, 378, 380 – wirksames Handeln 42, 184, 210 Hermeneutik (s. auch Deutung; Interpretation; Verstehen) 18, 21–23, 27, 29, 35, 37, 47, 58, 61, 85, 96 f., 99, 100 f., 114 f., 117, 119, 121, 124, 144, 166, 172 f., 175, 181, 185, 233, 236, 238, 254, 261, 263 f., 275, 280, 283 f., 290 f., 294, 306, 365 f., 367, 370, 374, 379 – hermeneutische Als-Struktur 283, 290 f., 294 – hermeneutische Erfahrung 22 f. – hermeneutischer Zirkel 23, 100 heroisch 37, 103 f. heuristisch 17, 49, 72, 140, 146, 156, 167, 187, 225, 274, 365, 377 historisch 21, 40, 43, 46, 50, 58, 65, 67, 76 f., 81, 83, 94, 96, 101, 103, 105, 145, 156, 166, 169, 187 f., 191, 194 f., 201, 300, 312, 319, 323 f., 328, 330, 333, 345 f., 353 Hoffnung 20, 24, 52, 87, 109, 111, 120, 125 f., 130, 157, 367 Homiletik 15–18, 27, 39, 41–70, 72–74, 76, 129–131, 133 f., 137, 164, 183 f., 207, 210–214, 265–271, 275, 294, 304–306, 308, 361, 363, 365 f., 368 f., 377 f.
433 – Dramaturgische Homiletik 58 f., 61, 63, 212 homo rhetoricus 225 Hörer, Hörerin (s. auch Adressat, Adressatin) 16, 24–26, 44–48, 53–56, 58, 60, 70 f., 89, 97, 104, 129–131, 133–136, 166, 182, 184, 212 f., 228–231, 253 f., 259, 271 f., 281 f., 302, 304, 357–359, 364, 366–369, 371, 378, 380 Identifikation 34, 36, 84, 89, 104, 110–112, 127, 161, 172, 175–178, 195–197, 199 f., 202–205, 228, 246, 249, 262 f., 265 f., 269, 271, 306, 332, 342 Identität 19 f., 39–41, 50, 62, 88 f., 91, 94, 105, 110 f., 113 f., 118, 143, 176, 178, 263, 310, 317, 325 f., 332, 372 – numerische Identität 31 – qualitative Identität 31 Idiolekt (s. auch Eigensinn) 134, 305, 371 Imagination 23, 40, 62, 126, 128, 132, 138, 140, 142, 144, 172, 184, 188, 205, 209, 214, 330 Immanenz, Immanentisierung 78–83, 86– 107, 115, 121–124, 126, 128–130, 134– 136, 189, 200, 207, 213, 253–255, 258 f., 265, 285, 287, 293, 298, 301–303, 305, 332, 339, 356, 363–365, 367, 370, 373 Immersion 172, 175 f., 178 impliziter Leser 56 In-der-Welt-Sein 22 f., 195, 209, 301 Individualisierung 34, 69, 311, 309, 314– 318, 321, 323, 332, 334–340, 346, 348 f., 359, 375 – Individualisierungstheorem 311, 314– 318, 321, 323, 337, 348, 359 Individualität 34, 112, 146, 312, 317, 350 inductive preaching 60 Informieren 25–27, 60, 279, 287, 308 – informationelle Verdopplung 197, 199, 208 Inkohärenz 107–114, 120, 136 Innovation 25, 56, 86, 121 f., 126 f., 130, 146, 149, 152, 155, 161, 167, 177, 199, 255, 285, 293, 300 f., 310, 327 f., 330, 333, 343, 363
434 – Innovationsforschung 74 Institution 20, 33, 70, 82 f., 87, 89, 92, 108, 116 f., 119, 121, 124, 163, 171, 179 f., 223, 238, 242, 269, 309, 313, 315–317, 319, 323, 329 f., 336 f., 351 f., 362, 376 – Deinstitutionalisierung 315, 336 instrumentalisiert 262 instrumentell 48 f., 233, 236, 240, 247 Inszenierung 60, 107 f., 132, 147, 164, 169– 171, 176, 178, 195, 198, 204 f., 207, 213, 237, 249 f., 253, 259, 264, 269, 302, 372 f., 378 Integrationstypus 214, 282, 304, 366–369, 379 Intelligibilität 95 f., 104, 129 Intention 15, 22 f., 25, 42, 48, 50 f., 54 f., 57, 64 f., 67, 70, 72, 81, 88, 93, 130, 132, 139 f., 150, 169, 177, 191, 194, 201, 208, 210, 213–215, 218, 220 f., 224–226, 232, 235–237, 239 f., 250–255, 262, 267 f., 270, 272 f., 302, 305, 347, 371–375, 377 f., 379 f. – intentio lectoris 58 – intentio operis 58 Interaktion 20, 33, 38, 70 f., 167, 170, 220, 267, 278, 339, 369 Interessantheit (s. Relevanz) Interesselosigkeit (s. auch Selbstzweck) 141, 222, 297 f. Interpretation (s. auch Deutung; Hermeneutik; Verstehen) 21, 23 f., 30, 32 f., 38, 45 f., 58, 68 f., 71, 80, 82, 84–86, 88– 90, 93–97, 100 f., 103 f., 106–108, 113– 124, 128, 130 f., 140 f., 143, 147, 15 f., 172, 174–178, 186, 188, 201, 205, 225, 230, 256, 261, 276, 279, 283, 287, 293– 295, 300 f., 303 f., 312, 315, 325, 332, 338, 340–342, 349, 364, 367 f., 370 – interpretative turn 30 – Reinterpretation (s. auch Reframing) 86, 108 f., 131 f., 219, 253, 275, 294, 300 interreligiös 16, 325, 347, 355 intersubjektiv 21, 26, 40, 94, 109, 112, 224, 248, 250, 325 intrinsisch 64, 141, 220, 226 inventio 220
Sachregister
involvement 41, 86 f., 135, 203, 212, 235, 260 f., 266, 271, 306, 335, 374 Irritation 20, 41, 47f f., 52, 57, 68, 122, 126, 133, 137–139, 151 f., 157, 178 f., 207, 234, 259, 286 f., 327 Islam 309, 323, 338, 345, 347, 354 Jamesian open space 342 Judentum 323, 345, 354 καιρός 99, 119 katholisch 17, 47, 345 f., 352 Kirche 15, 28, 42 f., 46, 309, 315–317, 321– 323, 325, 329, 345 f., 349–353, 355 Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 213, 309, 323, 348, 351 f., 355 kognitiv 36, 50 f., 62, 70, 106, 113, 139, 148, 150 f., 154, 157, 174 f., 179, 193, 203, 229, 231, 236, 244, 246, 257, 264, 266, 272– 274, 290 f., 295–297, 299, 323, 360, 374 Kohärenz 33–36, 106–114, 117, 263, 298, 317, 336, 359, 375 Kommunikation 17, 21, 25–28, 42–53, 55, 57, 62–66, 69, 71–73, 79, 81 f., 87, 97, 105, 107, 117, 119, 122, 129, 132–135, 144, 147 f., 152, 162, 173, 185, 189 f., 193–195, 200–202, 204–206, 210–221, 223 f., 226 f., 232–240, 243–256, 258, 261–275, 278, 280, 283 f., 292 f., 300, 303 f., 308, 310, 317 f., 352, 358–362, 364, 367–369, 372, 374 f., 378 f. Konfessionslosigkeit 309, 345 f., 348, 355 Konformismus 18, 28, 41, 50 Konsens 66, 216, 223–225, 227 f., 230 Kontemplation 103, 142–144, 176, 216 Kontextprinzip 96, 99 Kontingenzbewältigung 27 Kontinuität 20, 34–37, 111, 146, 155, 284 Kooperation (s. auch coactive approach) 65, 226, 229, 253 f., 265 Kooperationsprinzip 247 f. Körper 59, 62 f., 100, 124, 134, 147, 150, 152, 168 f., 176–179, 194 f., 207 Korrespondenz 142 f., 194, 196 f., 199
Sachregister
Kritik 17–19, 27, 33, 39 f., 42–53, 58, 63, 65, 69 f., 73, 77–136, 141, 147–150, 154 f., 157–159, 161, 163, 183, 185, 189, 191, 207, 209, 212, 217 f., 220–222, 231–234, 240, 243, 248, 253 f., 257, 260, 265, 272, 274, 280, 283, 286, 299, 304, 306 f., 327, 329, 332, 336, 341–344, 354–358, 362, 374 – connected criticism 78 f., 88, 107, 119, 122 f., 133, 254, 281, 304, 364 – critical force 80, 82–86 – externe und interne Kritik 78, 81 f. – Gesellschaftskritik 28, 70, 78, 80 f., 86, 92, 94, 96, 99, 107, 109, 115, 120, 126 – Ideologiekritik 85, 121 – immanente Kritik 82 – total critique 98 Kritikabilität 74, 106, 133 Kritiktheorie 18 f., 50, 73 f., 77–136, 141, 189, 210, 212, 244, 302, 307, 362–366, 377, 379 Kritische Theorie 18 f., 78, 82, 108 – Frankfurter Schule 78 Kulturprotestantismus 43 Kulturwissenschaft 16, 30, 35, 42, 59, 76, 115 Kunst (s. auch Ästhetik; poetisch) 25, 35, 39, 48 f., 54, 66 f., 69, 73, 94 f., 99, 105, 129, 137–214, 219–222, 230, 281, 299, 304, 335–337, 362–364, 368 – Kunstwerk 53–56, 66, 124, 144, 158, 168, 172, 210, 378 langue 21, 92, 166 Lebenswelt 19, 21, 29, 36, 45 f., 55, 57, 69, 78, 82, 89, 92 f., 98, 101, 104, 116 f., 122, 127, 130, 132, 135, 151 f., 157, 206, 212 f., 216, 220 f., 230, 235, 240, 245 f., 264, 268, 274–276, 292, 342, 362, 364, 366–368, 371, 378 leibhafte Kopräsenz 70 Lenkung 48, 54, 57, 67, 207, 234, 315, 260, 315, 373 λέξις (s. auch elocutio; Sprache; Stilistik) 220, 253, 257 f. Liebe 24–26, 108, 113, 202, 241, 252, 273
435 Liminalität (s. auch Schwellenerfahrung) 62, 144, 150–164, 171–178, 181–184, 189, 192, 206 f., 212, 307, 336 f., 369 – liminoid 162 f., 307 Linguistik 64, 166, 247, 296 literarisch 18, 56, 127, 169, 172, 176, 194– 196, 200, 203, 211 f. Literaturtheorie 48, 58, 73 Liturgie (s. auch Gottesdienst) 16, 25, 62 f., 137, 144, 169, 181–184, 206, 213, 259, 369 f. Logik 31, 52, 60, 69, 74 f., 106, 112, 119, 122, 135, 142, 147, 157, 176, 178, 181, 185, 187 f., 194, 214, 217 f., 222, 229, 231, 247, 253, 256 f., 276–278, 281–283, 288, 292, 304, 317, 328, 339, 350, 360 f., 368, 376 λόγος 93, 118, 133, 215, 253, 258, 273–275 Ludizität (s. auch Spiel) 156, 159–162, 179, 191–193 make-believe 160 f., 185, 191–194, 201, 203–205, 211, 371 Manipulation 49, 54, 67, 104, 162, 170, 227, 247 f., 260, 264 Marketing 241, 267 Markttheorem 311, 314, 318–321, 325, 353 memoria 220 mentale Differenz 224, 249, 279, 302 mentales Bild 57 Metapher 60, 64, 164, 198, 257, 289–298, 300 f., 350 metapragmatisches Register 154, 156, 206, 370 Mimesis 146, 191 Mitgliedschaft 213, 317, 345, 351–353 Moderne 27, 35, 110, 151, 155, 157 f., 162 f., 224, 257, 269, 276, 309, 312, 317 f., 327–329, 335, 337, 343 Modifikationspraxis 78, 93, 149, 286 Möglichkeit 15, 20, 22 f., 39 f., 45, 65, 70, 87 f., 92, 95, 126–128, 133, 142 f., 151– 153, 155 f., 159–161, 163, 174–176, 178 f., 189, 194–205, 209, 212, 215, 240, 251, 302, 331, 340, 358, 367 f., 370 – Daseinsmöglichkeit 20, 65, 143, 194– 200, 202–205, 368
436 – Möglichkeitsform 161 – Möglichkeitssinn 99, 203–205, 367 Moral (s. auch Ethik) 31 f., 81, 84 f., 87, 89, 96, 103, 119, 126, 139, 142, 222, 248, 279, 331–334, 338 f., 341, 349 f., 359, 377 moralisch-spirituell 32, 75, 328, 331–334, 336–344, 348–351, 355–360, 362, 375– 377 Mündlichkeit 22, 24, 70, 281 Nähe 57, 60, 67 f., 79 f., 86, 88 f., 100, 130, 253 f., 258, 302, 305, 326, 339, 342, 364 Narration 15, 17, 24, 36 f., 39, 46, 59 f., 62, 83, 94, 96, 101, 105, 128, 140, 145, 158, 176, 184 f., 192 f., 195, 197 f., 200, 202– 204, 209, 215, 218 f., 222, 243, 275, 289, 345, 350, 359 Negativität 126, 128, 138, 244 neu sehen 19, 48, 133, 209 neues Sein 23 – καινὴ κτíσις 61 New Age 335 New Homiletic 17, 42, 61 f., 207 nichtformalisiertes Denken 252, 278 normativ 19, 31, 36, 38, 49, 60, 81, 83, 108 f., 111, 113 f., 126 f., 131–133, 157, 196, 212, 226 f., 229, 233 f., 242, 245, 247 f., 267 f., 292, 321, 329, 356, 366 Nouvelle Rhétorique 221, 257, 276, 280, 282 Offenheit 53–55, 65, 99, 326 f., 342, 347, 355 – offenes Kunstwerk 53, 55 Öffentlichkeit 41, 51, 69, 95, 102, 118 f., 147 f., 231 f., 249, 278, 309, 313, 325, 328, 330, 337 Orator (s. Redner, Rednerin) Organizational Diversity Index 353 ostensiv 22 f. pädagogisch 47 f., 66, 74, 105 parole 21 f., 24, 26–28, 41, 58, 64, 66, 92, 166, 221, 264, 304, 359, 368, 378 Patchwork 35, 316, 323, 326 f., 336, 347 f.
Sachregister
πάθος (s. auch Emotion) 62, 118, 245, 252 f., 256–258, 273 performance (s. auch Aufführung) 59, 63 f., 113, 145, 147 f., 154 f., 158, 164– 158, 191, 229, 238, 264, 336 performativ 25 f., 36, 42, 58 f., 62–65, 70, 121, 135, 145 f., 148, 161, 164–185, 206 f., 214, 216, 266, 335, 337 – Performativitätsdiskurs 59, 62 persönliche Einsicht 134, 174, 227, 230– 233, 236 f., 246, 254, 269 f., 305, 370 Persuasion (s. auch Überzeugung, überzeugen) 50, 55, 59, 62, 66, 73, 90, 94, 104, 141, 189, 215–306, 360, 362, 364 f., 372, 377 f. – ars persuadendi 235 – permanente Persuasion 242, 360 Phantasie 40, 126, 159, 189, 276, 282, 300 philosophisch 21 f., 35, 43, 80, 82 f., 88, 110, 165, 185, 216 f., 245, 267, 285, 326, 375 Plausibilität, Plausibilisierung 55 f., 83, 90, 102, 106, 112, 117, 129 f., 132–134, 190, 205, 208, 213, 217 f., 226, 228–230, 236 f., 242, 251, 258 f., 269, 271–273, 276, 278– 281, 283–288, 292–294, 298, 301 f., 306, 313, 320, 363, 370–374, 376, 378 f. Pluralismus 88, 96, 313, 321, 327, 329 f. Pluralität, Pluralisierung 34–37, 41, 45, 75, 100, 109–112, 124, 136, 213, 242, 281, 307–360, 362, 375 f. – Begriff der Pluralität 321f – Ebenen der Pluralität 322–324, 345– 352 – Effekte der Pluralität 308, 310, 321, 324–327, 340–344, 353–355 – interorganisatorische Pluralität 322– 324, 338, 345, 356 – interpersonale Pluralität 322–324, 338, 346 – intraorganisatorische Pluralität 322– 324, 338, 351, 356, 359 – intrapersonale Pluralität 322–324, 338, 347, 349 f., 352, 356 f., 359
Sachregister
poetisch (s. auch Ästhetik; Kunst) 22, 48, 53 f., 56, 61–63, 67, 72, 95, 99, 134 f., 160, 214, 222, 282, 379 poietisch 234, 265, 267, 300, 373, 378 Positivität 126, 128, 138, 244 Pragmatik 26, 28, 33, 39, 42, 59, 64, 67, 81 f., 100, 118, 127, 154, 156, 165, 173, 186, 206, 218, 220 f., 223, 239, 247 f., 266, 268, 290, 302, 333, 350, 369 Pragmatismus 32, 285 Praktische Theologie 18 f., 27, 42, 71, 76, 156, 365 Präsenz (s. auch evidentia; Vergegenwärtigung) 25, 65, 116, 169, 176–178, 214, 238, 257, 282 f., 289, 294, 377, 379 – présence 282 f. Prediger, Predigerin (s. auch Redner, Rednerin) 42 f., 45, 47, 49, 51, 54–56, 61 f., 71, 76, 131, 133 f., 182, 258, 267–272, 305 f., 358, 361, 364, 369, 370, 373, 378 – Predigtsubjekt 134, 305, 360, 368–371, 378 f. Predigtreformbewegung 27, 269 pretense theory 190 f. Probehandeln (s. auch ‚auf Probe‘) 161, 202–205 Probeleben 195 Problemaspekt 17, 71, 73–76, 79, 95, 129, 133, 135, 144, 162, 170, 208, 212, 219, 305, 307 f., 356, 358 f., 361–379 Problem der Motivation 83, 91 φρόνησις 253, 271 Prophetie 43, 61, 80, 89, 95 f. Protest 28, 87 Protestantismus 17, 39, 64, 76, 270 psychologisch 35, 38, 49 f., 233, 242, 254, 282 Publikum (s. Adressat, Adressatin) radikale Warum-Frage 91 Räsonnement 49, 59, 105, 154 f. rational (s. auch Vernunft) 81, 91, 118 f., 145, 214, 222, 227, 231, 244–246, 252, 263 f., 286, 304, 319, 350, 359 f., 368, 374, 376 – rational-emotional 263 f., 306, 375 f.
437 Realitätsprinzip 188 f. Realitätssinn 99, 131, 366 f. real talk 119, 132, 135, 245, 252, 263, 276, 304, 374, 379 Rechtfertigung 15, 64 f. Rede 15, 21, 25–27, 39, 41 f., 45, 47–49, 51 f., 59, 61–63, 67 f., 70–73., 96, 134 f., 182, 210, 214–306, 357, 361, 364, 366 f., 369, 372, 377–379 – religiöse Rede 17, 24–26, 30, 41 f., 47, 51, 56, 66, 68, 129, 214, 267, 317, 359, 371, 375 f. – unterbrechende Rede 41, 62 Redner, Rednerin (s. auch Prediger, Predigerin) 47, 49, 51, 55, 65, 71, 205, 213 f., 218, 221, 224, 229 f., 234–240, 242–244, 246–248, 251–254, 256, 270, 278, 280, 282, 304–306, 378 Referenz 21 f., 26, 173, 185, 201 reflektierende Urteilskraft 201 Reflexionskontext 18, 73–76, 90, 129, 135 f., 167, 214, 255, 303 f., 307, 368, 377 Reflexionsperspektive 17, 58, 73, 75, 164, 238 f., 268 Reflexionspraxis 38–41, 307, 357 f., 362 f., 376 f., 380 Reflexivität 30, 104, 154, 156 f., 185, 206, 326, 357 Reform 122, 208, 286, 303 Reformation 15, 65 Reframing (s. auch Frame, Framing) 108, 120, 135, 294–301, 303 365 Regulierungsindex 353 Rekursion (s. auch Adaption; Anpassung; Anschlussbewegung) 19, 29, 34, 37, 46, 48, 51, 55–57, 67 f., 71, 79, 82, 85–106, 123, 129, 131, 136, 206 f., 212–214, 228, 246, 255, 258 f., 264–267, 302 f., 306, 350, 359, 363–365, 367–370, 372, 374 f., 378– 380 Relevanz (s. auch Bedeutsamkeit) 16, 21, 25, 27, 31 f., 39, 45, 47 f., 52, 58, 66–68, 70–76, 79, 84, 92 f., 95, 97, 101, 104, 106, 108, 101, 104, 117 f., 122, 128–130, 132 f., 135, 139, 166, 171 f., 190, 196 f., 213, 215, 225, 237, 247, 250–255, 257–259, 269,
438 271, 274 f., 278 f., 282–284, 288, 301 f., 304–306, 309 f., 312, 322, 332, 334, 337 f., 356, 360, 363, 367, 370 f., 374, 376, 378 f. Religion 16–43, 45, 47, 51 f., 54, 56, 58, 63 f., 66, 71, 73, 75 f., 80, 82, 89–91, 100, 126, 130, 136, 156, 184, 186, 210 f., 213, 243, 266, 269 f., 297 f., 302, 306, 308–325, 327–357, 359 f., 362 f., 366–368, 370 f., 375 f., 378 f. – Religionsmonitor 346 f., 354 f. – Religionssoziologie 75, 242, 307–360 – vicarious religion 232, 317, 337 Resonanz 62, 215, 223, 228 f., 231 f., 314, 335, 359, 375 f. Retroflexibilität 288 Revolution (s. auch Umsturz) 122, 131, 140, 208, 286, 365 Rezeption 18, 22, 50, 52 f., 54 f., 57, 70, 73, 97, 119, 129, 150, 161, 168, 173–177, 180, 182, 185, 188–193, 196, 201–205, 266 f., 271, 278, 294, 306, 313, 336 f., 350, 361, 375, 378, 380 Rezeptionsästhetik 53–56, 58 f., 62, 70, 267, 372, 378 Rezipient, Rezipientin (s. auch Adressat, Adressatin; Hörer, Hörerin) 22, 24, 29, 39, 48, 50, 55, 57, 69, 80, 83 f., 89, 95, 97, 104, 106, 117, 127, 143 f., 161–163, 168, 170, 172 f., 175, 177, 179, 187–197, 199– 202, 204, 209 f., 213, 215, 229, 251 f., 256, 266, 270, 273 f., 300, 305, 335, 359 f., 374 Rhetorik 15 f., 18, 26, 42–52, 54 f., 59, 62, 65 f., 70, 73 f., 99, 107, 111, 118, 135 f., 184, 205, 207, 213–307, 317, 319, 339, 362, 362, 368, 370, 374 f., 377–379 – ars oratoria 221 f., 230 – rhetorischer Fall 235 f., 377–379 Ritual 27, 62–64, 67, 134 f., 144–160, 163, 166–168, 171, 182, 184, 205–207, 213 f., 313, 317, 319, 323, 350 f., 369 f. – Initiationsritual 151–153, 155 f., 162 f. – rites de passage 148, 150, 180, 207 – ritual studies 145, 148
Sachregister
Rolle 33, 36, 49, 109–112, 114, 143, 147, 200, 207, 221, 237, 242, 252, 270, 278– 280, 304, 310, Roman 22, 175, 180, 185, 190, 196, 198, 206 Romantik 334 f. sakramental 25 Säkularisierung 309, 311–314, 320 f., 328– 331, 340, 353 – Säkularisierungstheorem 311–313, 318–320, 325 Schein 221 f., 227, 374 – Scheindiskurs 237 Schiff-Allegorie 37, 122, 165, 286 Schlussregel 276 f., 279 f., 287, 291–293 – warrant 277, 279, 287 f. schöpferisch 58–60, 65, 85, 95, 115, 169, 335 Schriftlichkeit 21–23, 29, 70, 150, 239, 268, 371 Schwellenerfahrung (s. auch Liminalität) 19–21, 164, 171, 178–181, 183 f., 342 f. seeker (s. auch spirituelle Wanderer) 350 f., 336 f. Sehnsucht 20, 69, 84, 100, 125 f., 130, 143, 157, 162, 196, 208, 292, 338 f., 341, 350, 367 Seinsweise 22, 32, 127, 132, 143, 196, 209, 368 Selbst 20–23, 29–41, 43, 56, 70, 85, 92, 103, 105, 109–112,127, 134, 143, 176, 179, 183, 199, 209, 263, 265 f., 308, 317 f., 325 f., 332, 334–336, 341, 357, 359, 375 f. – divided self 110, 112, 124, 133 – erweitertes Selbst 23 – multiples Selbst 111 Selbstbehauptung 225 f., 243, 247, 351, 268 Selbstbild 31, 36, 86, 88 f., 102, 104, 116, 131, 137, 195–197, 199, 204, 209, 256, 261, 307, 360, 366, 376 Selbstdeutung und Selbstentwurf 29–41, 128, 130 f., 143, 158, 176, 195–197, 199, 209, 314, 360, 363, 367, 369, 376, 380 Selbsterweiterung 23, 40 f., 44, 53, 57, 76, 130, 196–198, 202, 204, 209, 251, 358, 365, 369
Sachregister
Selbstinterpretation (s. auch Selbstverständnis, Selbstverständigung) 30–35, 37, 70, 75, 82, 91–93, 98, 109, 111, 118, 123 f., 131, 136, 152, 154, 195 f., 199, 209, 253, 260 f., 302, 334, 338–340, 342, 356, 358, 367, 380 Selbstintransparenz 35, 40 Selbstkonzept 20, 91, 102, 106, 133, 240, 268, 272, 304 Selbstkritik 63, 105, 110 Selbstnegation 44 Selbstoptimierung 37 Selbstständigkeit (s. auch Autonomie) 38, 111, 170, 260–262, 271, 374 Selbstthematisierung 19 f., 29, 33–35, 39, 92, 109 Selbstverständlichkeit 19, 41, 77, 154, 230, 307, 330 f., 340, 351, 376 – taken-for-grantedness 330 Selbstverständnis, Selbstverständigung 15, 20, 23, 39–41, 48, 56, 70, 72, 75, 78–82, 84, 87, 89, 92–94, 97, 101, 104, 107, 109, 110–112, 115, 121 f., 126, 129 f., 133, 145, 152, 154–156, 158, 162, 197, 209, 261, 265, 303, 307–310, 317, 327, 330, 332, 335, 344, 356, 358, 360, 362 f., 366 f., 371, 374–377, 380 – self-interpreting animal 30, 362 – Sichselbstverstehen 23, 29 f., 33 f., 107, 111, 125, 159, 185, 194, 209 f., 357, 360, 374, 376, 380 Selbstzweck (s. auch Interesselosigkeit) 141 f., 161, 180 f., 183, 211, 222, 250 Semiotik 42, 172 f., 177, 218, 239 Sender 50, 53 f., 71, 134, 193, 237, 240, 251, 265–267, 272, 361 seriell (s. auch permanente Persuasion) 74 shared understandings 112, 114 – shared meanings 113 f. Sich-bestimmen-Lassen 161 f., 191 Sichtbarmachung 147, 154, 158, 162, 197, 209 Sich-Wiedererkennen 36, 93, 108, 130, 133, 159, 183, 196–200, 204, 209, 246, 259, 318, 335, 359 f., 369, 375 f.
439 Simplifikation 26, 58, 60, 99, 238, 327 f., 372 Simulation 127 f., 163, 185, 190–193, 204 f., 210, 280, 374 Sinn 21, 24 f., 31 f., 36 f., 39, 41, 47, 51, 58, 81, 84, 92, 94, 96 f., 99, 101, 108, 113–115, 117, 121, 123 f., 128, 130–133, 143, 147 f., 154, 156, 158, 173, 175–177, 196, 200– 202, 214, 220, 225, 234, 243, 249, 255, 261, 265, 268 f., 305 f., 310, 316, 318 f., 323, 325, 331–333, 336 f., 341–344, 347, 349 f., 357–359, 363, 369, 371 – Sinn des Sinns 336 – Sinndeutung 32, 50, 53, 313, 316, 334, 343, 372, 376 – sinnig 269, 272, 376 Sistierung (s. auch Unterbrechung) 63, 141, 153 f., 157, 159, 206 f. Situation 19, 22, 26 f., 33, 35 f., 45–47, 55, 57 f., 68 f., 91, 100–102, 105, 114, 118 f., 121 f., 130, 134, 138–140, 146, 154–156, 166 f., 169 f., 179, 192–194, 198, 200–202, 204, 210, 212, 215, 217, 220, 226, 235– 241, 243, 245–247, 249, 252–254, 258, 263–265, 267 f., 274, 288, 298, 302, 317, 319, 350, 352, 357, 360, 362–364, 366 f., 369, 370, 372 – forensische Situation 225 f. – Situationsbezug 45, 57 f., 68, 364 – Situationsdistanz 45, 57, 364 – Situationshermeneutik 237 f., 366 f. Sophistik 216–218, 224, 233 Sozialität 28, 40, 72, 149, 155, 186, 226, 247, 321, 334 soziokulturell 68, 73, 92 f., 110–112, 133, 136, 145, 156, 171, 242, 268, 307, 310, 314, 318 f., 359, 362, 369 Soziologie der Kritik 78 Spiegel 43, 60, 109, 120, 125, 128, 130 f., 134, 158 f., 204, 209, 313, 341, 357 f., 362, 369 – Spiegelungskunst 125–128, 185, 209, 369 Spiel (s. auch Ludizität) 23, 56, 60, 63, 65, 69, 126, 142, 145, 149 f., 159–161, 170, 178 f., 181, 184 f., 189, 191–193, 195 f.,
440 199, 202 f., 205–207, 211 f., 221 f., 337, 370 f. spirituelle Wanderer 349–351 Sprache (s. auch elocutio; λέξις; Stilistik) 15, 21, 24–26, 29, 32 f., 41 f., 45, 48, 56 f., 61, 63, 65–67, 72, 77, 82, 84, 92, 95–97, 102–104, 107, 129 f., 134 f., 147, 165–167, 183, 186, 188, 209, 213–216, 218, 220, 223 f., 226 f., 232, 234 f., 238–240, 245, 253, 256–258, 264, 275, 282 f., 293, 297, 301, 304, 318, 328, 335, 359, 367 f., 374 f., 378 f. – subtler language 335, 350, 359, 375 f. Sprechakttheorie 25 f., 42, 59–66, 166 f., 190 Sprecher, Sprecherin (s. auch Redner, Rednerin) 27, 32, 89, 97, 118, 134, 165 f., 229, 236 f., 245, 249, 252–255, 259, 264, 266, 268, 273, 286, 298, 302, 304, 317, 360, 370–372, 374, 376 Stabilisierung 18, 28, 145, 173, 176, 295, 304, 363, 369 starke Wertungen 32, 91 f. status novus 65, 68, 126, 132 status quo 28, 47, 62, 65, 68, 83, 87, 120, 126, 128, 132, 158 Stilistik (s. auch elocutio; λέξις; Sprache) 60, 95, 104, 106, 133–135, 221, 239, 275, 282–284, 370 – Stilrhetorik 220–222 Stimulus-Response-Modell 50, 234, 240, 247, 265 Störung 18, 20, 28, 41, 43, 50, 57, 91, 133, 152, 157, 179, 181, 183, 236, 361 Strategie 55, 60, 65, 68, 148, 169 f., 176, 231, 234, 236 f., 240, 280, 372 Struktur/Praxis-Prinzip 92, 112 Subjektivierung 34, 318, 335 f., 351, 359 f., 368, 370 f., 375 f., 379 – Kunst der Subjektivierung 368, 370 – triadische Subjektivierung 318, 335, 359, 375 Subjektivität 17–21, 53, 111, 134, 195, 240, 272, 305, 331, 340, 369, 370, 376 – Kenntlichmachung der Subjektivität 272
Sachregister
– konkretes Subjekt 93, 105, 118, 135, 245 f., 258, 374 Subtraktion 315, 328 Subversion 18, 20, 28 f., 38, 43–45, 50–52, 61, 64, 67 f., 82 f., 95, 99, 102, 107, 122, 129, 155, 163 super-nova 338, 343, 358 Symbol 20, 24, 42, 63 f., 94, 100, 147, 149– 154, 159 f., 162, 171 f., 174, 178, 184, 186, 217, 269, 313, 317, 319, 324, 329 f., 350, 359 Symmetrie 86, 102–106, 170, 265, 373 Systemische Therapie 299 Taktik 55, 236 f., 372 Text 16 f., 21–24, 34, 39, 46–48, 56–58, 60 f., 64, 67, 70, 85, 89 f., 93, 95, 97, 101 f., 106, 113, 124, 129, 134, 150, 169–171, 180, 183, 185, 189–192, 194 f., 201, 203– 205, 220 f., 229, 238 f., 245, 253–259, 264, 266, 276, 284, 302, 360, 364, 369, 374 Theater 42, 59, 71, 153, 157–185, 193 These 256, 271, 277, 279–281, 283–285, 287 f. topisch 127, 130, 135, 298, 367 – topische Utopie 127, 130, 367 Transgression 47, 51, 62 f., 67 f., 71, 79, 106–125, 129, 131, 158, 207, 258 f., 303, 363–365, 367–370, 379 f. Transzendenz, Transzendierung (s. auch Distanz, Distanzierung; Distanznahme; Überschreitung) 19, 23, 38 f., 41, 43, 46– 48, 52, 57 f., 61, 63 f., 67, 72, 77–136, 140 f., 152–154, 159, 161–163, 183 f. 188 f., 200, 204, 206 f., 209 f., 212, 251, 254, 256, 258 f., 281, 285–288, 293, 301– 305, 307, 326, 337., 339, 356, 358, 363 f., 367 f., 370 Trost 17, 28, 52, 208 tua res agitur 26, 259 Typensprung 277, 288, 293 Übergang 19, 121, 123, 131, 150 f., 165, 180 f., 197, 277, 285, 287 f., 298, 317, 343, 351, 367 Überredung 221, 232–235, 236, 245, 301,
441
Sachregister
Überschreitung (s. auch Distanz, Distanzierung; Transzendenz, Transzendierung) 29, 38, 45 f., 53, 56–58, 63, 67, 129 f., 134, 152, 162, 183–185, 188, 198, 206–208, 210 f., 256, 258, 364 f., 367, 380 Übersetzung 24, 26, 115 Überzeugung, überzeugen (s. auch Persuasion) 27, 49, 51, 55, 60, 70, 81, 83 f., 90, 92 f., 104, 117 f., 122, 124, 127, 133– 135, 148, 208,190, 192, 205, 208, 211, 213, 215–307, 313, 321–323, 327, 332, 343, 348, 352, 355, 360, 366–368, 371 f., 379 – Selbst-Überzeugung 228, 265 – Überzeugungskraft 223, 225, 227, 229, 273, 278–284, 287, 304, 313 ultimate concern 23, 32, 332 f. Umstellung 140, 208, 249, 365 Umstrukturierung 20, 23, 36 f., 57, 78, 110, 122, 126, 139, 173, 175, 177, 243, 260 f., 273, 275, 287 f., 293, 317, 360, 372 Umsturz (s. auch Revolution) 140, 208, 365 f. Umweg, Umweglichkeit 34, 38, 40, 159, 185, 189, 195, 209, 357, 362, 376, 380 Universalisierungsmaxime 231 f., 245 Unterbrechung (s. auch Sistierung) 41, 62, 65, 133, 157, 159, 172, 206 f., 361 Unverfügbarkeit 15 Unvorhersehbarkeit 169 f. Utopie 126–128, 130, 132, 135, 149, 158, 160, 367 – topische Utopie 127, 130, 367 Verbindlichkeitsstruktur 142, 189, 204 f., 210–212, 214, 267 f., 270, 323, 360, 368, 371, 378 verdoppeln 25, 37, 48, 56, 128 f., 162, 197– 199, 208 f., 261, – informationelle Verdopplung 197, 199, 208 Verfremdung (s. auch Fremdheit) 23, 47, 51, 58, 131, 133, 143, 147, 152, 159 f., 163, 188, 189, 196, 200, 361, 363, 369 Vergegenwärtigung (s. auch evidentia; Präsenz) 66, 157, 194–200, 202 f., 205, 257, 282, 293, 304, 368 f.
Vergewisserung 27 f., 39 f., 81, 109, 112, 133, 140, 152, 208, 230, 241–244, 249 f., 357, 365 f., 373 Verklärung 198, 209 Verkündigungsparadigma 45 Vernunft (s. auch rational) 77, 224, 231– 234, 245 f., 257, 285, 299, 356 Verstehen (s. auch Deutung; Hermeneutik; Interpretation) 17, 21–24, 29–41, 47, 72, 85, 97, 99, 101, 104, 106 f., 111, 115, 125, 130, 132 f., 149, 159, 172 f., 185, 189 f., 194, 209 f., 213, 238, 243, 253, 258, 261–263, 271, 275, 295 f., 305 f., 335, 344, 357, 360, 370 f., 374–376, 379 f. – Verständlichkeit 26 f., 37, 45, 51, 83, 95–97, 99, 129, 256 f., 363, 367, 373 Vertiefung 25, 29, 140, 208, 210, 216 f., 241 f., 249, 272, 303, 343, 360, 365 f., 380 Verweisungsbezug 22, 214, 227, 267, 305, 371, 378 virtuell 22, 87, 126, 130, 367 vorfindlich 20, 23, 130, 248, 345 web of interlocution 33, 332, 352, 373 Weltabstand 18–20 Wirkung 15, 17 f., 24–28, 41 f., 46, 48–54, 56, 58 f., 64 f., 68–73, 75, 86, 88–93, 95– 97, 117, 122, 129, 136, 145, 148, 153, 155, 161–163, 165, 171, 180, 183, 206–211, 213, 215, 217, 220 f., 226 f., 233 f., 238– 240, 251, 256, 259 f., 263, 265–273, 287, 289, 296 f., 299, 301, 303, 305 f., 335, 359–361, 363–365, 372–374, 378 f. – Effektivität 28, 55, 86–94, 102, 106, 129, 171, 207, 217, 240, 265, 373 – Medienwirkungsforschung 69 – wirksames Handeln 42, 184, 210 Wunsch 20, 31 f., 34, 36, 38, 44, 51 f., 109, 111, 124, 126–128, 158–160, 195, 198, 203, 208, 256, 261, 263, 268, 369 Xenologie
325
Zerrbild 131, 159 Zertum 236 f., 242, 244 f., 247, 251 Zukunft 20, 31, 84, 87, 89, 150
442 Zur-Darstellung-Bringen 197–199, 209 f. Zustimmung (s. auch Akzeptanz) 41, 83, 88, 90, 93, 98, 105, 113, 118 f., 132, 135, 190, 217 f., 223 f., 227 f., 231–233, 243, 246, 250 f., 254, 256, 263, 270, 272 f.,
Sachregister
278 f., 285, 293, 302, 305, 327, 354 f., 372, 377 zwangloser Zwang 54, 227 f., 245, 263 Zweifel 28, 186 f., 242, 244, 252, 259, 284– 286, 341–343 – Dubium 242, 244